Dietrich von Schweinitz Benno Ure Kinderchirurgie Viszerale und allgemeine Chirurgie des Kindesalters
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Dietrich von Schweinitz Benno Ure Kinderchirurgie Viszerale und allgemeine Chirurgie des Kindesalters
Dietrich von Schweinitz Benno Ure
Kinderchirurgie Viszerale und allgemeine Chirurgie des Kindesalters
Mit 332 Abbildungen und 130 Tabellen
123
“This page left intentionally blank.”
Prof. Dr. med. Dietrich von Schweinitz Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Prof. Dr. med. Benno Ure Kinderchirurgische Klinik Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover
ISBN 978-3-540-89031-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2009 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Dr. Fritz Krämer, Heidelberg Projektmanagement: Willi Bischoff, Heidelberg Lektorat: Ursula Illig, Stockdorf Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz und Digitalisierung der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 11739500 Gedruckt auf säurefreiem Papier
106/2111 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Kinderchirurgie von einer Subspezialisierung der Chirurgie zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt. Sie ist die Allgemeinchirurgie für Kinder und ihre altersentsprechenden Erkrankungen und Verletzungen. Während im angloamerikanischen Raum in dieser Zeit eine große Anzahl umfassender Kinderchirurgie-Lehrbücher aufgelegt wurde, war dies für den deutschsprachigen Raum zuletzt im Jahr 1985 der Fall. So erschien es uns überfällig, diese Lücke zu füllen. Da aber in letzter Zeit mehrere deutschsprachige Werke zu den Teilgebieten der Kindertraumatologie und der Kinderurologie erschienen sind, haben wir uns nach einer Analyse der Literatur gemeinsam mit dem Springer-Verlag dazu entschlossen, uns auf die allgemeine und viszerale Chirurgie des Kindesalters zu beschränken. Dieses Lehrbuch sollte so ausgelegt sein, dass es für diesen Zentralbereich der Chirurgie beim Kind eine umfassende und auch in die Tiefe gehende Darstellung unseres Wissens über die Erkrankungen mit ihren Grundlagen, der Diagnostik, Therapie und Prognose liefert. Wert wurde deshalb auch auf Differenzialdiagnostik, konservative Therapiemöglichkeiten, chirurgische Indikation und Operationsverfahren gelegt, wobei es nicht die vorhandenen englischsprachigen Operationsatlanten ersetzen soll. Wichtig war für uns dabei, dem Leser nicht nur Inhalte anzubieten, die über das notwendige kinderchirurgische Facharztwissen hinausgehen, sondern auch solche, die für Pädiater und Allgemeinchirurgen bei der Behandlung von Kindern eine Hilfe sein können. Wir freuen uns, dass es uns gelungen ist, als Autoren der jeweiligen Kapitel jeweils die renommiertesten Experten des deutschsprachigen Raumes zu gewinnen. Diese haben alle zügig ihre Texte erstellt und der Springer-Verlag war dann in der Lage, das Buch in wenigen Monaten fertig zu stellen. So sind alle Inhalte hochaktuell und entsprechend dem neuesten Stand der Forschung. Wir danken allen Co-Autoren für ihre engagierte und speditive Mitarbeit sowie Herrn Dr. Fritz Kraemer, Herrn Willi Bischoff vom Springer-Verlag und der Lektorin, Frau Ursula Illig für ihren großen Einsatz und die rasche und professionelle Fertigstellung des Buches. Wir hoffen, dass unser Buch vielen Lesern, vor allem aus der Kinderchirurgie, Pädiatrie und Allgemeinchirurgie eine Quelle für neues Wissen und eine Hilfe bei der Behandlung ihrer kindlichen Patienten wird. Dietrich von Schweinitz Benno Ure
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VII
Inhaltsverzeichnis 1 Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1
H.-G. Dietz
C. Bührer
2 Physiologie des Verdauungstraktes im Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18 Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea . . . . . . . . . . . 167 11
R. Grantzow
M.J. Lentze
3 Grundlagen der Kinderanästhesie . . . . . . . . . .
17
F. Frei
4 Spezielle enterale und parenterale Ernährung
19 Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 R. Grantzow
37
S. Koletzko, B. Koletzko
20 Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums . . . . . . . . . . 191 S. Glüer, D. von Schweinitz
5 Perioperatives Management von Gerinnungsstörungen . . . . . . . . . . . . . .
53
K. Kurnik, C. Bidlingmaier
6 Chirurgische Aspekte bei hämatologischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 Zwerchfellhernie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 K.-L. Waag
22 Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand 59
229
C. Petersen
U.B. Graubner
23 Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen 7 Pädiatrische Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . .
65
239
B. Ure, J. Dingemann
T. Nicolai
8 Chirurgische Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . .
73
D. Roesner, G. Fitze
9 Gefäßzugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
M. Höllwarth 87
A. Heger
10 Pränatale Diagnostik und Interventionen . . . .
24 Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
25 Hypertrophe Pylorusstenose . . . . . . . . . . . . . 279 M. Metzelder, B. Ure
93
E. Visca, O. Lapaire, W. Holzgreve
26 Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms . . . . . . . . . . . . 283 D. von Schweinitz
11 Fetale Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 S. Böttcher, M. Meuli
27 Nekrotisierende Enterokolitis . . . . . . . . . . . . . 313 M. Höllwarth
12 Fremdkörperingestionen . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. Häberle, A. Heger, T. Nicolai
28 Kurzdarmsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 K.L. Waag
13 Minimalinvasive Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . 119 B. Ure, M. Metzelder
14 Verbrennungen und Verbrühungen . . . . . . . . 129
29 Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 A.M. Holschneider
C. Schiestl, M. Meuli
30 Anorektale Malformationen . . . . . . . . . . . . . 369 15 Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie . . 139
A.M. Holschneider
H.-G. Dietz
16 Wundversorgung und Bisswunden . . . . . . . . . 151 R. Boehm
31 Obstipation und erworbene anorektale Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 M. Heinrich
VIII
Inhaltsverzeichnis
32 Invaginationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Z. Zachariou
33 Appendizitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Z. Zachariou
34 Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen . . 421 T. Lang, B. Ure, M. Melter
35 Erkrankungen der Leber und Gallenwege . . . . 441 C. Petersen
36 Chirurgie des Pankreas . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 D. von Schweinitz
37 Chirurgische Erkrankungen der Milz . . . . . . . . 467 A.M. Rokitansky
38 Bauchwanddefekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 T. Boemers
39 Hernienchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 A.M. Rokitansky
40 Erkrankungen des Hodens . . . . . . . . . . . . . . . 501 M. Stehr
41 Erkrankungen der weiblichen inneren Genitalorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 S. Glüer
42 Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 J. Ritter
43 Neuroblastom und andere Nebennierentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 E. Horcher, R. Ladenstein
44 Nierentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 M. Stehr
45 Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes . . . . . . . . . . . 571 D. von Schweinitz
46 Keimzelltumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 R.-B. Tröbs
47 Weichteiltumoren aller Lokalitäten . . . . . . . . . 603 D.C. Aronson
48 Maligne Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 D. Wendling, D. von Schweinitz
49 Spezielle Aspekte der Organtransplantation . . 627 T. Becker
50 Siamesische Zwillinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 R. Grantzow
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
IX
Autorenverzeichnis Aronson, D.C., Prof. Dr. med
Dingemann, J., Dr. med.
Department of Surgery/Pediatric Surgery Radbout University Nijmegen Medical Center PO Box 9101 NL-6500 HB Nijmegen
Kinderchirurgische Klinik Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover
Becker, T., Prof. Dr. med
Fitze, G., PD Dr. med.
Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover
Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstraße 74 01307 Dresden
Bidlingmaier, C., Dr. med.
Frei, F., Prof. Dr. med.
Kinderklinik und Kinderpoliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Universitäts-Kinderspital beider Basel Abteilung Anästhesie Postfach CH-4005 Basel
Boehm, R., Dr. med.
Glüer, S., Prof. Dr. med.
Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie Universitätsklinikum Leipzig AöR Liebigstraße 20a 04103 Leipzig
Klinik für Kinderchirurgie St. Bernward Krankenhaus Treibestraße 9 31134 Hildesheim
Boemers, T., Prof. Dr. med.
Grantzow, R., Prof. Dr. med.
Kinderchirurgie Kliniken der Stadt Köln Amsterdamer Straße 59 50735 Köln
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Böttcher, S., PD Dr. med.
Graubner, U.B., Dr. med.
Universitäts-Kinderklinik Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 CH-8032 Zürich
Kinderklinik und Kinderpoliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Bührer, C., Prof. Dr. med.
Häberle, B., Dr. med.
Klinik für Neonatologie Charité Universitätsmedizin Berlin Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Dietz, H.-G., Prof. Dr. med.
Heger, A., Dr. med.
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
X
Autorenverzeichnis
Heinrich, M., Dr. med.
Lang, T., Dr. med.
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Regensburg Pruefeninger Straße 86 93049 Regensburg
Höllwarth, M., Univ.-Prof. Dr. med.
Lapaire, O., Dr. med.
Universitätsklinik für Kinderchirurgie Landeskrankenhaus Graz Auenbruggerplatz 34 A-8036 Graz
Frauenklinik Universitätsspital Basel Spitalstrasse 21 CH-4031 Basel
Holschneider, A.M., Prof. Dr. med.
Lentze, M.J., Prof. Dr. med.
Immenzaun 6 A 51429 Bergisch-Gladbach
Zentrum für Kinderheilkunde, Allgemeine Pädiatrie/Poliklinik Universitätsklinikum Bonn Adenauerallee 119 53113 Bonn
Holzgreve, W., Prof. Dr. med. Frauenklinik Universitätsspital Basel Spitalstrasse 21 CH-4031 Basel
Horcher, E.P., Univ.-Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Chirurgie Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Koletzko, S., Prof. Dr. med. Kinderklinik und Kinderpoliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Koletzko, B., Prof. Dr. med. Kinderklinik und Kinderpoliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Kurnik, K., Dr. med. Kinderklinik und Kinderpoliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Ladenstein, R., Dozentin Dr. med. St. Anna-Kinderspital Kinderspitalgasse 6 A-1090 Wien
Melter, M., Prof. Dr. med. Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Regensburg Pruefeninger Straße 86 93049 Regensburg
Metzelder, M., PD Dr. med. Kinderchirurgische Klinik Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover
Meuli, M., Prof. Dr. med. Universitäts-Kinderklinik Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 CH-8032 Zürich
Nicolai, T., Prof. Dr. med. Kinderklinik und Kinderpoliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Petersen, C., Prof. Dr. med. Kinderchirurgische Klinik Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover
Ritter, J., Prof. Dr. med. Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Universitätsklinikum Münste Gerhardtstraße 24 48145 Münster
XI Autorenverzeichnis
Roesner, D., Prof. Dr. med.
Visca, E., Dr. med.
Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstraße 74 01307 Dresden
Frauenklinik Universitätsspital Basel Spitalstrasse 21 CH-4031 Basel
Rokitansky, A.M., Univ.-Prof. Dr.
von Schweinitz, D., Prof. Dr. med.
Kinderchirurgische Abteilung Donauspital Langobardenstraße 122 A-1220 Wien
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Schiestl, C., PD Dr. med.
Waag, K.-L., Prof. Dr. med.
Zentrum für brandverletzte Kinder Universitäts-Kinderkliniken Zürich Steinwiesstrasse 75 CH-8032 Zürich
Kinderchirurgische Klinik Universitätsklinikum Mannheim Theodor-Kutzer-Ufer 1–3 68167 Mannheim
Stehr, M., Prof. Dr. med.
Wendling, D., Dr. med.
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Kinderchirurgische Klinik und Poliklinik Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Lindwurmstraße 4 80337 München
Tröbs, R.-B., Prof. Dr. med.
Zachariou, Z., Prof. Dr. med.
Kinderchirurgische Klinik Marienhospital Herne, Klinikum der Ruhr-Universtität Bochum Postfach 101880 44621 Herne
Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie Inselspital CH-3010 Bern
Ure, B., Prof. Dr. med. Kinderchirurgische Klinik Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover
1
1 Kapitel 1 · Grundlagen der Zellphysiologie
1 Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen C. Bührer
1.1
Sauerstoffversorgung
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Kreislaufumstellung bei der Geburt – 1 Entfaltung der Alveolen – 2 Atemantrieb – 3 Persistierender Ductus arteriosus – 3 Sauerstofftoxizität – 4
1.2
Temperaturregulation
1.3
Ernährung
1.3.1 1.3.2 1.3.3
Glukosehomöostase – 4 Parenterale Zufuhr – 4 Enterale Zufuhr – 4
1.4
–1
Blutbildung und Bilirubinstoffwechsel
1.5.1
Besonderheiten der Blutbildung beim Neugeborenen – 5 Hämolyse – 6 Bilirubinstoffwechsel – 6
1.5.2 1.5.3
–4
–4
Ausscheidung und Elektrolytregulation
1.5
1.6
Infektabwehr
1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4
Vertikale Infektionen – 7 Nosokomiale (horizontale) Infektionen Septischer Schock – 7 Andere Schockformen – 8
–6 –7
1.7
Gehirnläsionen
1.7.1
Keimlagerblutungen und intraventrikuläre Hämorrhagien – 9 Periventrikuläre Leukomalazie – 9
–5
–5
–9
1.4.1 Nierenfunktion – 5 1.4.2 Einwertige Kationen (Na+, K+) – 5 1.4.3 Zweiwertige Kationen (Ca++, Mg++) – 5
1.7.2
> Die operative Versorgung angeborener Fehlbildungen gehört zu den Schlüsselkompetenzen der Kinderchirurgie. Bei bestimmten Fehlbildungen müssen die erforderlichen Eingriffe in den ersten Stunden oder Tagen nach der Geburt erfolgen, zu einem Zeitpunkt, an dem die perinatalen Umstellungsvorgänge noch nicht zur Gänze abgeschlossen sind. Die Kenntnis dieser Vorgänge ist deshalb wichtig für die Wahl des Operationszeitpunkts, die intraoperative Narkoseführung und das postoperative Management auf der Neugeborenen-Intensivstation. Frühgeborene sind darüber hinaus für die Anpassung auf das postnatale Leben im Bereich vieler Organsysteme nur unzureichend vorbereitet. In Abhängigkeit vom Grad dieser Unreife ergeben sich Komplikationen, die der Kinderchirurg kennen und manchmal auch behandeln muss.
erfolgt die Oxygenierung des kindlichen Blutes an der fetomaternalen Grenzfläche in der Plazenta. Sauerstoffhaltiges Blut mit einem pO2 von ca. 30 mmHg gelangt über die V. umbilicalis in den rechten und (via Foramen ovale) linken Vorhof des Kindes. Über die Atrioventrikularklappen (Trikuspidal- bzw. Mitralklappe) gelangt das oxygenierte Blut in beide Ventrikel, wobei der Auswurf des linken Ventrikels vornehmlich über die Aorta zur A. subclavia dextra und den Kopf-Hals-Gefäßen gelangt, während der Auswurf des rechten Ventrikels über den Pulmonalis-Hauptstamm und den Ductus arteriosus in die untere Körperhälfte fließt. Hingegen ist der Durchfluss durch die beiden Lungenarterien gering. Dies ändert sich mit der Geburt grundlegend, so dass ein großer Teil des Auswurfs des rechten Ventrikels durch die Lungen fließt. Das in der Lunge oxygenierte Blut gelangt über die Lungenvenen in den linken Vorhof. Dadurch steigt der Druck im linken Vorhof an und übersteigt bald denjenigen im rechten Vorhof, so dass sich das Foramen ovale funktionell weitgehend schließt. Die untere Körperhälfte wird jetzt sowohl von gut oxygeniertem Blut aus der Aorta als auch weniger gut oxygeniertem Blut aus der Pulmonalarteria (via Ductus arteriosus) versorgt, wohingegen rechte obere Extremität, Kopf und Hals ausschließlich von gut oxygeniertem Blut aus der Aorta versorgt werden.
1.1
Sauerstoffversorgung
1.1.1 Kreislaufumstellung bei der Geburt Bei der Geburt verlagert sich in dramatischer Weise die Zuständigkeit für die Sauerstoffversorgung des Organismus von der Plazenta zu den Lungen des Kindes. Vor der Geburt
Literatur – 9
2
1
Kapitel 1 · Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen
Typisch für diese Umstellungsphase ist deshalb eine Sättigungsdifferenz zwischen präduktalen Werten (rechte
obere Extremität, Kopf und Hals) und postduktalen Werten (untere Extremitäten). Diese Sättigungsdifferenz ist auch bei völlig gesunden Neugeborenen fast durchweg in den ersten 10 Lebensminuten nachweisbar und kann gelegentlich über mehrere Tage lang anhalten, wenn der Gefäßwiderstand im kleinen Kreislauf nur verzögert abfällt. Man spricht von einer »primären pulmonalen Hypertension des Neugeborenen« (PPHN) oder etwas unzutreffend »persistierende fetale Zirkulation« (PFC). ! Cave Viele Erkrankungen des Neugeborenen können eine pulmonale Hypertonie auslösen oder unterhalten (Asphyxie, Sepsis, Mekoniumaspiration).
Besonders dramatisch ist es, wenn sich der funktionellen Engstellung der Pulmonalarterien ein verringerter Gefäßquerschnitt des pulmonalen Strombetts hinzugesellt, was regelhaft bei einer Lungenhypoplasie nach längerem Anhydramnion oder bei einer kongenitalen Zwerchfelllücke bzw. -hernie (7 Kap. 21) der Fall ist. Die funktionelle Komponente ist durch den pulmoselektiven Vasodilatator NO medikamentös behandelbar, das Ansprechen auf diese Therapie ist aber sehr variabel und im Einzelfall nicht vorhersehbar.
1.1.2 Entfaltung der Alveolen Wet lung – »nasse Lunge« Die Voraussetzung für eine Oxygenierung des Blutes bei der Passage durch die Lungen ist, dass die Alveolen mit Luft gefüllt sind. Bis zur Geburt findet sich dort Fruchtwasser, wobei die mechanische Kompression beim Durchtritt durch den Geburtskanal den Flüssigkeitsgehalt der Lungen vor dem ersten Atemzug verringert. Mit den ersten Atemzügen gelangt Luft in die Alveolen, das Fruchtwasser wird in das Interstitium verdrängt. Läuft dieser Vorgang verlangsamt ab, z. B. nach einer Geburt via Kaiserschnitt, spricht man von einer »wet lung«. Sie ist gekennzeichnet durch eine erschwerte Sauerstoffaufnahme und vermehrte mechanische Atemarbeit. Die Symptome können dadurch abgemildert werden, dass man in den Alveolen den Luftdruck durch CPAP (»continuous positive airway pressure«) erhöht. Damit beschleunigt sich die Resorption der Flüssigkeit in das Interstitium. Eine »wet lung« klingt normalerweise innerhalb von 2 Tagen ab. > Eine verzögerte postnatale Flüssigkeitsresorption in der Lunge (»wet lung«) nach einem Kaiserschnitt kann für eine Operation und die dazu erforderliche Narkose ein ernsthaftes Hindernis darstellen. Dies ist bei einer Entscheidung, ein Kind mit einer Fehlbildung durch Kaiserschnitt auf die Welt zu bringen, zu bedenken.
Surfactant-Mangel Da am Ende der Exspiration der Druck in den Alveolen auf Werte nahe Null absinkt, bestünde die Gefahr, dass die Alveolen dann kollabieren. Dass dies normalerweise nicht der Fall ist, ist einem speziellen Substanzgemisch zu verdanken, dem sog. Surfactant, mit dem die Innenoberfläche der Alveolen ausgekleidet ist. Surfactant besteht zu etwa 90% aus oberflächenaktiven Lipiden wie Lezithin und zu 10% aus speziellen Eiweißen (Surfactant-Protein A, B, C und D). Während die Surfactant-Proteine A und D im Wesentlichen der unspezifischen Infektabwehr dienen (von der Funktion her vergleichbar dem C-reaktiven Protein im Blut), sind die Surfactant-Proteine B und C für die Oberflächenwirksamkeit essenziell. Surfactant wird normalerweise ab einem Gestationsalter von 33–34 Schwangerschaftswochen in ausreichender Menge in den sog. Typ-II-Zellen in den Alveolen hergestellt. Wird ein Kind vor dieser Zeit geboren, kann es infolge unzureichender Surfactant-Auskleidung der Alveolen zum endexspiratorischen Kollaps kommen. Die kollabierten Alveolen öffnen sich erst wieder mit erhöhtem Inspirationsdruck. Das wiederholte Auf und Zu der Alveolen führt zu Mikrozerreißungen der Alveolarwand, durch die Plasma aus dem Blut in die Alveolen austritt. Das Plasmaeiweiß gerinnt, es bilden sich die sog. hyalinen Membranen. Die hyalinen Membranen vergrößern die Diffusionsstrecke für den Sauerstoff, die effektive Oxygenierung des Blutes nimmt ab. Der klinische Verlauf ist durch eine zunehmende Zyanose gekennzeichnet, die bis zu einem gewissen Grad durch Erhöhung der Sauerstoffkonzentration in der Einatemluft kompensiert werden kann, d. h., der Sauerstoffbedarf für eine als adäquat erachtete Sättigung steigt. Die kontrollierte Sauerstoffgabe gehört deshalb auch zu den wesentlichen symptomatischen Therapien des Surfactant-Mangels. Die kausale Therapie des Surfactant-Mangelsyndroms, auch RDS (»respiratory distress syndrome«) genannt, ist zum einen die pneumatische Schienung der Alveolen mittels CPAP, um den endexspiratorischen Kollaps der Alveolen zu verhindern, zum anderen die intratracheale Applikation von exogenem Surfactant. Sie wird für gewöhnlich vorgenommen, wenn der Sauerstoffbedarf 40% übersteigt. Sehr unreife Frühgeborene erhalten darüber hinaus Surfactant oft prophylaktisch, d. h. innerhalb der ersten Lebensstunde noch im Kreißsaal. Die Surfactant-Applikation erfordert entweder die Intubation des Kindes oder die Einlage einer dünnen Magensonde in die Trachea unter Sicht bei einem unter CPAP spontan atmenden Kind. Ohne diese kausale Therapie ist für die ausreichende kindliche Surfactant-Eigenproduktion ein Zeitraum von 3–5 Tagen zu veranschlagen, nur mit CPAP behandelte Fälle heilen nach dieser Zeit meist aus. Während das RDS bis zu Beginn der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts auf den Neugeborenen-Intensivstationen eine dominierende Stellung einnahm, hat sich das Bild durch die
3 1.1 · Sauerstoffversorgung
fetale Lungenreifeinduktion grundlegend gewandelt. Diese beruht darauf, dass sich der Zeitpunkt einer ausreichenden Surfactant-Produktion (ab 33–34 Schwangerschaftswochen) durch zweimalige Gabe von Betamethason an die Mutter im Abstand von 24 h bis zu 10 Wochen nach vorne verlegen lässt. Diese Maßnahme hat Häufigkeit und Schweregrad des RDS bei Frühgeborenen sehr gesenkt. > Durch die fetale Lungenreifeinduktion lässt sich das Auftreten eines Atemnotsyndroms infolge SurfactantMangel (RDS) in vielen Fällen verhindern. Die Effektivität dieser Maßnahme ist aber, insbesondere bei Mehrlingen, im Einzelfall schlecht vorherzusehen.
1.1.3 Atemantrieb Der als physiologisch anzusehende Anstieg des CO2-Partialdrucks unter der Geburt stellt in vielen Fällen einen starken Stimulus für den ersten Atemzug des Kindes dar. Eine sehr starke pCO2-Erhöhung nach einer schwierigen Geburt kann allerdings genau das Gegenteil bewirken (CO2-Narkose). Das Neugeborene muss dann stimuliert, ggf. auch mit einer Maske beatmet werden. Bei pCO2-Werten von 40–55 mmHg weisen reife Neugeborene und auch viele Frühgeborene in der Folgezeit einen ausreichenden Atemantrieb auf, wobei Tiefe und Frequenz der Atemzüge regelmäßigen Schwankungen ausgesetzt sind (sog. periodische Atmung). Bei Frühgeborenen kommt es darüber hinaus nach einigen Tagen im Tiefschlaf zu Atemaussetzern (Apnoen), die zu einem Absinken der arteriellen Sauerstoffsättigung und schließlich vagal vermittelt zu einer Bradykardie führen können. Apnoen und Bradykardien sind bei Frühgeborenen unter 34 Schwangerschaftswochen häufig und als physiologisch zu betrachten. Diese Kinder müssen deshalb obligat stationär mit einem Monitor überwacht werden. Häufigkeit und Schwere von Apnoen und Bradykardien sprechen sowohl auf physikalische Maßnahmen (CPAP) als auch auf die Gabe von Coffein an. Die Häufigkeit von Apnoen mit Bradykardien bei Frühgeborenen bedingt, dass Coffein zu den am besten untersuchten und am meisten eingesetzten Pharmaka bei Frühgeborenen zählt, obwohl es in den meisten Ländern nicht als Arzneimittel formal zugelassen ist. ! Cave Apnoen und Bradykardien können, obwohl in den meisten Fällen unreifebedingt, unspezifisches und frühes Symptom einer eigenständigen Erkrankung sein (Sepsis, nekrotisierende Enterokolitis, Pneumonie, Lungenüberflutung bei persistierendem Ductus arteriosus).
1.1.4 Persistierender Ductus arteriosus Vorgeburtlich fließt über den Ductus arteriosus Blut aus dem rechten Ventrikel in die untere Körperhälfte. Mit der Abnahme des Lungengefäßwiderstandes nach der Geburt fließt das aus dem rechten Ventrikel kommende Blut stattdessen in die Lungenarterien. Der Duktus beginnt sich zu verschließen. Bei weiterem Absinken des Drucks im kleinen Kreislauf kann es, wenn sich der Duktus noch nicht verschlossen hat, zu einer Shunt-Umkehr kommen, d. h. Blut aus der Aorta fließt durch den noch offenen Duktus in die Pulmonalarterien. Je weiter der Lungengefäßwiderstand abgesunken ist, desto größer der Links-rechts-Shunt. Das hat für 3 Organsysteme Konsequenzen: 1. Die vermehrte Lungendurchblutung erhöht den Wassergehalt der Lunge. Die Lunge wird dadurch steifer (die Atemarbeit steigt), die Diffusionstrecke zwischen Alveole und Kapillare nimmt zu (der Gasaustausch wird beeinträchtigt). 2. Da der Duktus keine Klappe hat, die sich in der Diastole schließen könnte, versackt in der Diastole Blut aus der Aorta im kleinen Kreislauf. Während die Lungendurchblutung ansteigt, sinkt die diastolische Perfusion sämtlicher Gewebe im Körper, was sich durch Doppler-Ultraschall z. B. in der Arteria mesenterica superior oder in der Arteria cerebri anterior über den erhöhten Resistance-Index (Ri) nachweisen lässt. 3. Vom linken Ventrikel in die Aorta ausgeworfenes Blut rezirkuliert über Duktus, Lungenarterien, Lungenvenen und linken Vorhof. Das Ausmaß dieser Volumenbelastung, die längerfristig Symptome einer Herzinsuffizienz hervorrufen kann, lässt sich echokardiographisch durch die Vergrößerung des linken Vorhofs (LA/Ao-Ratio) beschreiben. Die klinischen Symptome des persistierenden Ductus arteriosus sind dementsprechend ein »respiratory step back« (1), ein Pulsus celer et altus mit systolisch-diastolischem Maschinengeräusch bei der Thoraxauskultation (2) sowie sicht- und fühlbare Herzaktionen mit hyperaktivem Präkordium (3). Obwohl die Diagnose eines offenen Ductus arteriosus im Allgemeinen wenig Schwierigkeiten bereitet, gibt es keine evidenzbasierten Empfehlungen bezüglich der Indikation eines medikamentösen oder chirurgischen Verschlusses. Zur Verfügung stehen die pharmakologische Hemmung der Prostaglandinsynthese mit CyclooxygenaseInhibitoren (Indomethacin, Ibuprofen) und die operative Ligatur bzw. der Clip, die heutzutage vielerorts direkt auf der Neugeborenen-Intensivstation durch ein mobiles Operationsteam durchgeführt wird.
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Kapitel 1 · Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen
1.1.5 Sauerstofftoxizität Intrauterin betragen die arteriellen Sauerstoffpartialdrucke nur ca. 25–30 mmHg, die postnatalen Werte liegen demgegenüber wesentlich höher, selbst bei Atmung gewöhnlicher Raumluft mit einer Sauerstoffkonzentration von 21%. Jede zusätzliche Sauerstoffzufuhr kann diese relative Hyperoxie verstärken. Bei sehr unreifen Frühgeborenen supprimiert ein relatives Sauerstoffüberangebot die endogene Produktion von VEGF (»vascular endothelial growth factor«) und blockiert damit VEGF-abhängige Ausreifungsprozesse, wie die Vaskularisation der Netzhaut oder die pulmonale Alveolisierung. Die gravierendste Folge ist eine erst 4–6 Wochen später sichtbare aberrante Gefäßproliferation am Augenhintergrund, die ähnlich einer diabetischen Retinopathie zur Netzhautablösung führen kann.
> Die Vermeidung einer Hypothermie nach der Geburt, aber auch während Operationen, stellt eine der wirksamsten mortalitätssenkenden Maßnahmen dar.
Die Thermoneutralpflege hat das Ziel, eine Körperkerntemperatur von 36,5–37°C aufrechtzuerhalten. Ausnahme von dieser Regel sind die induzierte moderate Hypothermie (33–34°C für 72 h) nach einer schwerer Geburtsasphyxie und die tiefe Hypothermie (19°C für 30–60 min) bei Kreislaufstillstand während der operativen Korrektur eines unterbrochenen Aortenbogens oder eines anderen Vitiums. Während bei älteren Säuglingen, Kindern und Erwachsenen es im Rahmen einer Infektion oft zu einem Anstieg der Körpertemperatur kommt (Fieber), sinkt diese beim Neugeborenen oft ab. Der periphere Temperaturverlust ist dabei stärker als der zentrale, die Temperaturdifferenz zentral-peripher nimmt dadurch zu.
! Cave Bei allen Frühgeborenen, deren Atemgase in den ersten Lebenswochen mit Sauerstoff supplementiert werden, ist deshalb eine strenge Überwachung mittels präduktaler Pulsoxymetrie und intermittierenden Blutgasanalysen erforderlich. Bei sehr unreifen Frühgeborenen und Frühgeborenen, die über einige Stunden oder länger mit zusätzlichem Sauerstoff behandelt worden sind, werden ab dem Alter von 5 Wochen regelmäßig Funduskopien durchgeführt, um eine sich entwickelnde Retinopathie rechtzeitig diagnostizieren und ggf. behandeln zu können (Laserkoagulation aberrant proliferierender Netzhautgefäße).
1.2
1.3
Ernährung
1.3.1 Glukosehomöostase Während der Schwangerschaft erhält der Fet eine kontinuierliche Glukosezufuhr via Plazenta und Nabelschnur. Infolge der Durchtrennung der Nabelschnur kommt es bei allen Neugeborenen zu einem erheblichen Abfall des Blutzuckers in den ersten Lebensstunden. Besonders hypoglykämiegefährdet in dieser Situation sind hypotrophe Neugeborene (geringe Glykogenreserven) und Kinder von Müttern mit Diabetes oder gestationsbedingt pathologischer Glukosetolerenz (fetaler Hyperinsulinismus).
Temperaturregulation 1.3.2 Parenterale Zufuhr
Unmittelbar nach der Geburt stellt sich erstmalig für den kindlichen Organismus die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur als Aufgabe dar. Die dafür nötige Wärme wird in den Muskeln und im braunen Fettgewebe erzeugt. Zur Isolation besitzen reife Neugeborene eine dicke subkutane Speckschicht. (Menschen gehören als Neugeborene zu den fettesten Landsäugern, nur Meeressäuger wie Robben, Wale oder Delphine haben zum Zeitpunkt der Geburt einen deutlich höheren Körperfettgehalt.) Frühgeborenen fehlt diese Speckschicht, wodurch sie weitaus stärker auskühlungsgefährdet sind. Bei einem unbekleideten Neugeborenen droht eine Unterkühlung, sobald sich die Umgebungstemperatur unterhalb der Thermoneutralzone befindet; diese ist abhängig vom Gestationsalter, dem Lebensalter, der Luftfeuchtigkeit und dem Allgemeinzustand des Kindes. Die Thermoneutralzone hat bei kleinen Frühgeborenen in den ersten Lebenstagen eine Breite von weniger als 0,5°C. Außerhalb dieser Thermoneutralzone kommt es zur Auslösung von Stresskaskaden, die fatale Folgen haben können.
Der Basisbedarf eines Neugeborenen beinhaltet eine tägliche Glukosezufuhr von mindestens 7 g/kg KG und 2 g Aminosäuren/kg KG, bei schnellem Wachstum können sich diese Werte verdoppeln. Ein stabil wachsendes Neugeborenes weist einen Energiebedarf von 110–145 kcal/kg/d auf. Dies ist nur durch die Gabe von Lipiden als Energieträger zu erreichen, möglichst enteral in Form von Muttermilch. Bei einer über mehrere Wochen fortgesetzten parenteralen Lipidgabe kann sich eine progrediente cholestatische Hepatopathie herausbilden. Durch Beimischung geeigneter Triglyzeride mit Omega3-mehrfachungesättigten Fettsäuren lässt sich der Entwicklung dieser Lebererkrankung entgegenwirken oder sogar eine Umkehr bewirken (Gura et al. 2008).
1.3.3 Enterale Zufuhr Schon kurze Zeit nach der Geburt kann ein reifes Neugeborenes an der Brust seiner Mutter anfangen zu saugen. Das
5 1.5 · Blutbildung und Bilirubinstoffwechsel
dort zunächst abgesonderte Kolostrum besteht zum Teil aus Serum und trägt so zur Infektabwehr (Immunglobuline) bei. Die vom Kind oral aufgenommene Flüssigkeitsmenge kann in den ersten Tagen die Verluste über die Haut (transepidermaler Wasserverlust), Atmung und Ausscheidung nicht kompensieren, das Neugeborene nimmt physiologischerweise rund 5% seines Geburtsgewichts ab. Innerhalb weniger Tage steigt die getrunkene Milchmenge stetig an, gleichzeitig wandelt sich die Zusammensetzung der Milch (steigender Laktose- und Fettgehalt, sinkende Eiweißkonzentration). Der vergleichsweise niedrige Eiweißgehalt der menschlichen Milch begünstigt die Etablierung einer Flora aus apathogenen Keimen. Der Gehalt der menschlichen Milch an Eiweiß, Kalzium und Phosphat ist für eine stabil wachsendes sehr unreifes Frühgeborenes nicht ausreichend: Diese Kinder verdoppeln ihr Geburtsgewicht in rund 60 Tagen, wofür ein reifes Neugeborenes ein halbes Jahr benötigt. Die deshalb durchgeführte Supplementierung der Muttermilch mit Eiweiß führt allerdings zu einer Verschiebung der intestinalen Flora hin zu potenziell pathogenen gramnegativen Enterobacteriaceae.
parenteraler Zufuhr ist zur Steuerung der Zufuhr eine tägliche Messung der Konzentrationen im Serum erforderlich. Die renale Ausscheidung von Kalium kommt bei sehr unreifen Frühgeborenen in den ersten Tagen nur verzögert in Gang, so dass bei einigen dieser Frühgeborenen am zweiten Lebenstag auch bei hoher Urinproduktion ein steiler Anstieg des Serumkaliums zu verzeichnen ist (sog. nicht-oligurische Hyperkaliämie des Frühgeborenen). Aus diesem Grund sollte in den ersten 24–36 Lebensstunden auf eine parenterale Kaliumzufuhr bei Frühgeborenen verzichtet werden. Hingegen besteht bei einem stabil wachsenden Frühgeborenen mit einer Nettozunahme der Zellzahl des Körpers ein erhöhter Kaliumbedarf, da Kalium das intrazellulär dominante Kation ist. ! Cave Hypokaliämien können durch Schleifen- und Thiaziddiuretika und andere diuretisch wirksame Pharmaka wie Coffein ausgelöst oder unterhalten werden und wirken sich hemmend auf die Darmperistaltik aus.
1.4.3 Zweiwertige Kationen (Ca++, Mg++) 1.4
Ausscheidung und Elektrolytregulation
1.4.1 Nierenfunktion Die intrauterine Urinproduktion ist wesentlich für die Produktion des Fruchtwassers (Anhydramnion bei urethralen Harnklappen). Bei einer Volumenüberlastung des fetalen Kreislaufs (z. B. bei einem fetofetalen Transfusionssyndrom) entsteht folgerichtig ein Polyhydramnion. Für die Elimination harnpflichtiger Substanzen spielen die fetalen Nieren jedoch keine Rolle, weil der Fet über die Plazenta hämodialysiert ist. Unmittelbar nach der Geburt entsprechen die Konzentrationen von Elektrolyten, Harnstoff und Kreatinin im Blut des Neugeborenen derjenigen der Mutter. Erst am Ende der ersten Lebenswoche reflektieren die im Serum gemessenen Harnstoff- und Kreatininwerte tatsächlich die Verhältnisse im Kind. Da das Neugeborene eine viel kleinere Muskelmasse als die Mutter hat, sinkt das Kreatinin im Serum nach der Geburt deutlich ab, obwohl die KreatininClearance des Neugeborenen viel kleiner ist als die der Mutter. Die Fähigkeit, den Urin zu konzentrieren und damit Wasser zu konservieren, ist beim Neugeborenen wesentlich geringer ausgeprägt als beim Erwachsenen oder größeren Säugling, das Neugeborene kann den Urin jedoch ausreichend verdünnen.
1.4.2 Einwertige Kationen (Na+, K+) Der Natrium- und Kaliumbedarf des Neugeborenen wird im Allgemeinen über die Milch gedeckt, bei überwiegend
Die Konzentration des ionisierten Kalziums wird normalerweise in engen Grenzen von der Parathyreoidea reguliert (Ausnahmen: schwere diabetische Fetopathie, schwere Asphyxie), wobei der Knochen des Kindes als Reservoir dient. Selbst bei lang anhaltender Unterversorgung mit Kalzium kann der Körper deshalb den Kalziumspiegel im Serum aufrechterhalten. Dies geschieht auf Kosten des Kalksalzgehalts der Knochen, die Knochendichte nimmt ab (Osteopenie). Für eine effektive Kalziumaufnahme aus der Milch ist im ersten Lebensjahr die Gabe von Vitamin D sinnvoll (seit der flächendeckenden Einführung dieser Maßnahme ist die Rachitis nahezu ausgestorben). Bei sehr unreifen Frühgeborenen muss zudem eine Anreicherung der Muttermilch mit Kalzium und Phosphat erfolgen. Klinisch bedeutsame Hypomagnesiämien, die sich insbesondere durch Krampfanfälle äußern, werden vor allem bei längere Zeit ausschließlich parenteral ernährten Neugeborenen beobachtet und sind durch niedrig dosierte Magnesiumzufuhr zu beheben.
1.5
Blutbildung und Bilirubinstoffwechsel
1.5.1 Besonderheiten der Blutbildung
beim Neugeborenen Die Hämatopoese findet intrauterin nicht nur im Knochenmark, sondern auch in Leber und Milz statt. Bei stark gesteigerter Hämatopoese können auch Blutbildungsinseln in anderen Organen, etwa der Haut, auftreten (»blueberry
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Kapitel 1 · Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen
muffin baby«). Die fetalen Erythrozyten enthalten überwiegend HbF, das eine höhere O2-Affinität aufweist als
adultes HbA. Im Gegensatz zu HbA behält HbF bei Alkalisierung seine rote Farbe, während HbA bei Zugabe von Natron- oder Kalilauge braun wird (Apt-Test zur Unterscheidung von kindlichem und mütterlichem Blut). Als Reaktion auf den intrauterin niedrigen Sauerstoffpartialdruck liegen die Hämoglobinnormwerte beim Neugeborenen deutlich höher als beim Erwachsenen. Eine intrauterine absolute (z. B. bei chronischer Plazentainsuffizienz) oder relative (z. B. bei mütterlichem Diabetes) O2-Minderversorgung führt über eine Ausschüttung von Erythropoetin zu einem weiteren Hämoglobinanstieg. Nach der Geburt herrscht verglichen mit den intrauterinen Verhältnissen ein Überangebot an Sauerstoff, die Erythropoetinkonzentrationen im Blut sinken stark ab. Die durchschnittlichen Hämoglobinkonzentrationen sinken infolgedessen im Laufe der ersten 3 Monate um über ein Drittel ab (Trimenonreduktion). Durch Blutentnahmen beschleunigt sich diese Form der Anämie (die Gesamtblutmenge eines reifen Neugeborenen beträgt ca. 280 ml, bei einem Frühgeborenen von 750 g nur ca. 65 ml).
1.5.2 Hämolyse Immunglobulin G (IgG) wird aktiv über einen speziellen Mechanismus aus dem Blut der Mutter in das kindliche Blut transportiert. Damit erhält das Kind für die ersten Lebensmonate die komplette IgG-Ausstattung der Mutter und ist dadurch gegen zahlreiche im Lebensbereich der Mutter vorkommende Keime passiv immunisiert (Nestschutz). Entwickelt die Mutter Antikörper, die gegen Blutgruppeneigenschaften des Kindes gerichtet sind, können diese infolge des diaplazentaren Transfers beim Kind eine Hämolyse auslösen. Antikörper im AB0-System sind normalerweise IgM, die nicht die Plazenta passieren. Bei Kindern von Frauen mit der Blutgruppe 0, die zusätzlich anti-A oder anti-B der IgG-Klasse bilden, kann es jedoch zu einer Coombs-positiven Hämolyse kommen, wenn die Kinder die entsprechenden Blutgruppen aufweisen. Sind Mutter und Kind für andere Blutgruppeneigenschaften (z. B. im Rhesus- oder Kell-System) different und wird die Mutter vor (z. B. durch Bluttransfusionen) oder während der Schwangerschaft (z. B. infolge einer Amniozentese) sensibilisiert, kann die Mütter IgG-Antikörper bilden, die die kindlichen Erythrozyten agglutinieren (Coombs-Test) und zerstören. Zur Vermeidung einer möglichen Sensibilisierung infolge von Mikroblutübertritten aus dem fetalen Kreislauf in das mütterliche Blut erhalten deshalb Rhesusnegative Mütter während der Schwangerschaft passiv antiD-Antikörper, die möglicherweise übergetretene Rhesuspositive (D+) fetale Erythorozyten maskieren und so die mütterliche Antikörperbildung verhindern. Die Hämolyse neonataler Erythrozyten durch anhaftende Antikörper
kann durch unspezifische Blockierung von Fc-Rezeptoren im retikuloendothelialen System der Milz und der Leber mittels intravenöser IgG-Gabe verlangsamt werden.
1.5.3 Bilirubinstoffwechsel Beim Zerfall bzw. Abbau von Erythrozyten werden die darin enthaltenen Hämgruppen zu Bilirubin metabolisiert. Bilirubin ist nicht wasserlöslich und deshalb im Blut an Albumin gebunden. Als lipophile Substanz ist es frei membrangängig und findet sich deshalb in allen Körperflüssigkeiten (einschließlich Liquor) in ähnlichen Konzentrationen. Zur Ausscheidung des Bilirubins wird es in der Leber durch kovalente Bindung an 2 Glukuronsäureeinheiten wasserlöslich gemacht. Das glukuronidierte Bilirubin (»direktes« Bilirubin) wird in die Galle ausgeschieden, gelangt in den Darm und ist letztlich für die Färbung des Stuhls verantwortlich (zementgraues Aussehen acholischer Stühle bei intra- oder extrahepatischer Cholestase). Die für die Bilirubin-Glukuronidierung benötigten Enzyme in der Leber werden in den ersten Lebenstagen noch nicht ausreichend gebildet, es kommt vorübergehend zu einem sichtbaren Ikterus. Diese Hyperbilirubinämie tritt bei allen Neugeborenen mit einem Maximum zwischen dem 4. und 7. Lebenstag auf und ist als physiologisch zu betrachten (antioxidative Schutzwirkung des Bilirubins?). Das nicht konjugierte (indirekte) Bilirubin lagert sich als lipophile Substanz stark in Nervenzellen ab und kann diese bei sehr hohen Konzentrationen schädigen (Kernikterus). > Bei allen sichtbar ikterischen Neugeborenen muss die Bilirubinkonzentration überwacht werden. Bei Überschreiten bestimmter Grenzwerte, deren Höhe vom Lebensalter, der Reife des Kindes und seinem Zustand abhängig ist, erfolgt eine Phototherapie mit blauem Licht (kein UV-Licht). In Extremfällen muss ein Blutaustausch über einen Nabelvenenkatheter erfolgen.
1.6
Infektabwehr
Systemische, vor allem bakterielle Infektionen gehören zu den wichtigsten Todesursachen von Neugeborenen. Die Symptomatik einer Infektion beim Neugeborenen ist umso unspezifischer, je unreifer das Kind ist. Leitsymptome sind graufahles Kolorit, verlängerte Rekapillarisierungszeit, Temperaturinstabilität (Hypo- oder Hyperthermie), Irritabilität, vermehrte Apnoen und Bradykardien, Magenreste und vorgewölbtes Abdomen. Entscheidend für eine erfolgreiche Therapie sind vor allem die frühzeitig eingeleitete Diagnostik und Therapie mit Antibiotika und intravasaler Volumenstützung. Aufgrund der unspezifischen Symptomatik ist zu Beginn einer Infektion ein breites Spektrum an Differenzial-
7 1.6 · Infektabwehr
diagnosen zu berücksichtigen (insbesondere Stoffwechseldefekte mit metabolischer Azidose und Herzfehler mit Obstruktion der linken Ausflussbahn oder duktusabhängiger Lungen- oder Systemperfusion). Die antibiotische Therapie muss – nach Sicherung von Material für die mikrobiologische Diagnostik – bereits bei Verdacht auf eine Infektion eingeleitet werden. Frühzeichen im Labor sind Linksverschiebung, Leukopenie, Thrombopenie, Erhöhung von Interleukin-6, Interleukin-8, oder Prokalzitonin. Das C-reaktive Protein steigt hingegen erst relativ spät (nach 12–18 Stunden an. Seine Bestimmung hilft deshalb nicht bei der Entscheidung, mit einer antibiotischen Behandlung zu beginnen, wohl aber, um eine begonnene Antibiotikagabe wieder zu beenden: Nach vollständigem Abklingen der Symptome kann bei Normalisierung des C-reaktiven Proteins die Antibiotikagabe gestoppt werden, selbst bei Sepsis mit positiver Blutkultur, Meningitis oder nekrotisierender Enterokolitis (Pourcyrous et al. 2005). Hingegen ist bei einem anhaltend erhöhten C-reaktiven Protein ein Strategiewechsel zu erwägen (Wechsel der Antibiotika, Abszesssuche).
1.6.1 Vertikale Infektionen Prä-, peri- oder postnatal kann es zur Besiedlung und dann Infektion mit Keimen aus dem mütterlichen Anogenitalbereich kommen (insbesondere Streptokokken der Gruppe B oder gramnegative Keime wie E. coli). Bei einer pränatalen Infektion vermehren sich die Bakterien zunächst im Fruchtwasser. Die Fruchtwasserinfektion kann bei der Mutter Fieber, vorzeitige Wehen und einen Blasensprung auslösen, sie ist die häufigste Ursache der spontanen Frühgeburt (Amnioninfektionssyndrom). Über das Fruchtwasser gelangen die Keime in die Alveolen, das postnatale klinische Bild ist gekennzeichnet durch eine Pneumonie mit zunehmender Atemstörung (radiologisch u. U. nicht von einem Surfactant-Mangelsyndrom zu unterscheiden). Wird das Kind erst unmittelbar beim Durchtritt durch den Geburtskanal besiedelt, kommt es hingegen viel später, nach einer hämatogenen Aussaat im Gefolge einer Haut- oder Schleimhautläsion, zu einer Sepsis, gelegentlich auch Meningitis (sog. late-onset infection). Das Intervall zwischen Besiedlung und Infektion kann mehrere Wochen betragen. Nur ein kleiner Teil der peri- oder postnatal mit mütterlichen Keimen besiedelten Neugeborenen entwickelt eine Infektion.
1.6.2 Nosokomiale (horizontale) Infektionen Für den Kinderchirurgen sind vor allem Infektionen wichtig, die ein Neugeborenes auf der (Intensiv-)Station erwirbt. Dabei wird ein breites Keimspektrum beobachtet, das von koagulasenegativen Staphylokokken (typisch für Katheterinfektionen) über Enterokokken und gramnegative Entero-
bacteriaceae (E. coli, Klebsiellen, Enterobacter, Proteus, Pseudomonas) bis hin zu Pilzen reicht. Prädisponierende Faktoren sind Unreife, Gefäßzugänge (insbesondere zentrale mit langer Liegedauer), längerfristige parenterale Ernährung, großzügiger Einsatz von Breitbandantibiotika, mangelnde Händedesinfektion und hohe Patientendichte.
Übersicht Vermeidungsstrategien gegenüber nosokomialen Infektion auf Neugeborenen-Intensivstationen 4 Zeitliche Begrenzung einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe 4 Gabe von Breitbandantibiotika nur in begründeten Fällen (Schelonka et al. 2006) 4 Restriktive Indikationsstellung und penibler Umgang mit zentralen Kathetern 4 Hautpflege bei Frühgeborenen mit Sonnenblumenöl (Darmstadt et al. 2005) 4 Konsequente Händedesinfektion des medizinischen Personals vor und nach jedem Patientenkontakt 4 Zügiger enteraler Nahrungsaufbau mit Muttermilch (Markestad et al. 2005) 4 Präbiotika d. h. lebende apathogene Keime wie Lactobacillus acidophilus und Bifidusbakterien (Deshpande et al. 2007; Alfaleh u. Bassler 2008)
1.6.3 Septischer Schock Pathophysiologie Bei jeder lokalen Entzündung kommt es typischer Weise zur Ausschüttung von Mediatoren, die eine arterielle und venöse Gefäßerweiterung, eine erhöhte Gefäßpermeabilität mit Exsudation von Plasma und Extravasation von Leukozyten sowie eine verstärkte Gerinnbarkeit des Blutes bewirken. Diese bei der lokalen Infektabwehr für den Organismus an sich sinnvollen Mechanismen wirken sich deletär aus, wenn die Infektionserreger, ihre Toxine oder die im Rahmen der Infektabwehr ausgeschütteten Entzündungsmediatoren im systemischen Blutkreislauf zirkulieren. Analog zur lokalen Entzündung kommt es dann zu einer – nun generellen – Gefäßdilatation mit erhöhter Gefäßpermeabilität und im Blut diffus ablaufender Gerinnungsaktivierung. Die Folge sind arterielle Hypotension, Kapillarleck und Verbrauchskoagulaopathie (»disseminated intravascular coagulation«, DIC). Die Gefäßdilatation und das Kapillarleck bewirken einen intravasalen Volumenmangel, den der Organismus zum einen mit einer Steigerung des Herz-Zeit-Volumens, zum anderen mit einer peripheren arteriellen Vasokonstriktion zu beantworten sucht. Da das Neugeborene sein Herz-Zeit-Volumen fast nur über die Erhöhung der Herzfrequenz steigern kann, kommt es in dieser Situation zu
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Kapitel 1 · Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen
einer Tachykardie, während die periphere Vasokonstriktion sich in Blässe und verlängerter Rekapillarisierungszeit niederschlägt. Betrifft das Kapillarleck auch die pulmonalen Gefäße, erschwert das resultierende interstitielle Lungenödem den Gasaustausch, die Folge sind Zyanose bzw. steigender Sauerstoffbedarf und Tachydyspnoe. Das Vollbild des pulmonalen Kapillarlecks im Rahmen eines Schocks wird ARDS (»acute respiratory distress syndrome«) genannt. Als Folge des Kapillarlecks in den Glomeruli (renales Nierenversagen) und der arteriellen Hypotension (prärenales Nierenversagen) kommt es zur Oligurie und zur Retention harnpflichtiger Substanzen. Auch die Ausscheidung hepatisch eliminierter Stoffe ist beeinträchtigt, im Serum steigt das direkte (konjugierte) Bilirubin an. Die Kombination aus Blässe, Zyanose und Ikterus ergibt beim Neugeborenen das für die Sepsis typische »graue« Kolorit. > Das erheblichen Kapillarleck mit starker Kreislaufzentralisierung im Rahmen einer Sepsis erfordert eine zügige intravasale Volumengabe (ca. 20–40 ml/kg KG, beim Neugeborenen initial physiologische Kochsalzlösung, dann sobald als möglich Erythrozytenkonzentrat).
Therapie Die zügige Behebung des intravasalen Volumenmangels muss in der Regel ausschließlich aufgrund des klinischen Bildes begonnen werden. Physiologische Kochsalzlösung hat den Vorteil, dass sie rasch verfügbar ist und schnell anzuwärmen ist. Allerdings wird ein Teil der infundierten Menge durch die porösen Kapillaren wieder ins Interstitium verloren gehen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für kolloidale Lösungen (z. B. Humanalbumin), da die Größe der kolloidalen Teilchen unter der der Poren der Kapillaren liegt (ca. 0,1 μm). In das Interstitium gelangte kolloidale Teilchen wirken dort onkotisch und prolongieren so das Kapillarleck. Lediglich bei Erythrozyten (Durchmesser 7 μm) ist ein intravasaler Verbleib des Infusats gesichert. Während die Blutdruckamplitude, d. h. die Differenz zwischen systolischem und diastolischem Blutdruck, im Schock vermindert ist, kann der mittlere Blutdruck selbst bei schwersten septischen Schockzuständen im Neugeborenenalter normal sein und eignet sich deshalb nicht zur Einschätzung des Schweregrads. Das einfachste hämodynamische Monitoring besteht in einer kursorischen Echokardiographie, die mit auf Neugeborenen-Intensivstationen üblichen Sonographiegeräten auch von Nicht-Kinderkardiologen durchgeführt werden kann. Damit lässt sich insbesondere erfassen, ob zusätzlich zur Volumengabe eine medikamentöse Steigerung der myokardialen Kontraktilität (mit kontinuierlicher Infusion von Dobutamin, ggf. Adrenalin [Epinephrin]) sinnvoll ist. Die Sequenz 4 rasche Behebung des intravasalen Volumenmangels mit physiologischer Kochsalzlösung,
4 bei unzureichendem Ansprechen Gabe von Erythrozytenkonzentrat, 4 bei Fortbestehen des Schocks Erhöhung der myokardialen Kontraktilität mit Dobutamin entspricht der sog. »early goal-directed therapy«, die sich bei erwachsenen (Rivers et al. 2001) wie auch bei pädiatrischen Patienten (de Oliviera et al. 2008) mit akutem Schock als eine der wenigen evidenzbasierten Vorgehensweisen etabliert hat. Es muss betont werden, dass gerade bei Neugeborenen die Aufrechterhaltung eines bestimmten Blutdruckes in ihrer Bedeutung hinter die Sicherung der Perfusion zurücktritt. Dementsprechend sind Vasopressoren in der Behandlung des septischen Schocks beim Neugeborenen eher zweitrangig. In bestimmten klinischen Situationen kann im Gegenteil versucht werden, gleichzeitig mit der Steigerung der myokardialen Kontraktilität durch die Senkung des Gefäßwiderstandes das Herz-Zeit-Volumen zu erhöhen. Dies geschieht im pulmonalen Kreislauf zweckmäßigerweise durch inhalatives Stickstoffmonoxid (NO), das dort über den »second messenger« cGMP wirkt, im großen Kreislauf durch Phosphodiesterase-Inhibitoren wie Milrinone, die das in den Gefäßwänden gebildete cGMP stabilisieren (sog. Inodilatatoren, die gleichzeitig positiv-inotrop und peripher vasodilatierend wirken). Bei extrem unreifen Frühgeborenen mit sehr niedrigen mittleren Blutdruckwerten (<20 mmHg) selbst unter Katecholamininfusion kann eine Gabe von Hydrokortison den Gefäßtonus u. U. rasch stabilisieren. Die Therapiepfeiler der Therapie des septischen Schocks sind die Elimination des Erregers durch wirksame antimikrobielle Substanzen und ggf. Entfernung einer Infektquelle (infizierter Katheter, nekrotisches Gewebe) sowie die zügige Kreislaufstabilisierung. Demgegenüber haben sich zahlreiche sog. adjunktive Therapien, wie aktiviertes Protein C, Antithrombin III, C1-Esterase-Inhibitor oder neutralisierende TNF-Antikörper in randomisierten Studien nicht als wirksam erwiesen. Einen nachgewiesenen Nutzen bei der Neugeborenensepsis hat lediglich die Gabe von polyvalentem Immunglobulin und von Pentoxifyllin (Haque u. Mohan 2003).
1.6.4 Andere Schockformen Ein hämorrhagischer Schock kann durch intraoperative Blutverluste oder perinatal durch einen Blutverlust aus der Plazenta in ein retroplazentares Hämatom, in die Mutter (fetomaternale Transfusion) oder in einen eineiigen Zwilling (fetofetale Transfusion) ausgelöst werden, seltener durch eine akute Blutung aus der Nabelschnur bei Abriss oder Klemmendislokation. In diesen Situationen ist u. U. die rasche Gabe von Erythrozytenkonzentrat in einer am geschätzten kindlichen Blutvolumen (85 ml/k KG) ausgerichteten Menge lebensrettend. Wichtig ist, dass beim
9 1.7 · Gehirnläsionen
Neugeborenen bei einem Blutverlust mittlerer Blutdruck, Hämoglobin und Hämatokrit lange Zeit längere Zeit stabil bleiben, diese Werte sich also nicht zur Diagnose oder Abschätzung des Schweregrades eignen. Der kardiogene Schock ist beim Neugeborenen außer nach kardiochirurgischen Eingriffen zur Korrektur oder Palliation komplexer Vitien sehr selten. Bei strukturell herzgesunden Neugeborenen sind mögliche Ursachen die koronare Luftembolie und sowie anhaltende brady- oder tachykarde Herzrhythmusstörungen. Bei einem AV-Block dritten Grades muss unverzüglich eine ventrikuläre Stimulation über einen externen Schrittmacher erfolgen, eine paroxysmale supraventrikuläre Tachykardie kann meist durch rasche intravenöse Gabe von Adenosin unterbrochen werden.
nes mit einem Gestationsalter von 24 Wochen hat ein rund 10-mal höheres Risiko dafür als ein Frühgeborenes von 30 Wochen Gestationsdauer). ! Cave Entscheidende Maßnahmen zur Vermeidung von intraventrikulären Blutungen sind die frühzeitige Verlegung von Schwangeren mit Frühgeburtlichkeitsbestrebungen in ein Perinatalzentrum, die fetale Lungenreifung mit Betamethason, das späte Abnabeln bei der Geburt und die strikte Vermeidung von pCO2- und Blutdruckschwankungen während der ersten Lebenstage. Jeglicher Transport sehr unreifer Frühgeborener während der ersten Lebenstage muss vermieden werden.
1.7.2 Periventrikuläre Leukomalazie 1.7
Gehirnläsionen
Psychomotorische Entwicklungsdefizite und Zerebralparesen stellen die größte Bürde überlebender sehr unreifer Frühgeborener dar. Diese haben in vielen Fällen ein sonographisch fassbares Korrelat in Form von Blutungen aus dem Keimlager in die Seitenventrikel hinein (intraventrikuläre Hämorrhagie, IVH) und in Form von zystischen Nekrosen in der weißen Substanz lateral der Seitenventrikel (periventrikuläre Leukomalazie, PVL).
1.7.1 Keimlagerblutungen und intra-
ventrikuläre Hämorrhagien Die Keimlager (germinale Matrix) am Boden der Seitenventrikel im Bereich der thalamokaudalen Furche stellen eine Art Großbaustelle für die intrauterine, komplexe Entwicklung der Nerven- und Gefäßstrukturen des Großhirns dar. Bei der Geburt und während der ersten Woche nach der Geburt kann es hier akut zu Blutungen kommen. Kleinere Blutungen werden durch das darüber liegende Ependym begrenzt (subependymale Blutungen, Grad I). Bei größeren Blutungen erfolgt ein Einbruch in das Ventrikelsystem (intraventrikuläre Blutungen – IVH – im engeren Sinne). In Abhängigkeit von der Ausfüllung der Seitenventrikel unterscheidet man Grad-II-Blutungen (<50% des Lumens ausgefüllt) und Grad-III-Blutungen (>50% des Lumens ausgefüllt). Größere Blutungen können mit einer Schocksymptomatik einhergehen, aber auch klinisch diskret verlaufen. Die Behinderung des Liquorabflusses durch die Blutkoagel kann sekundär zu einem posthämorrhagischen Hydrozephalus führen. Darüber hinaus kann es durch Kompression venöser Gefäße lateral eines tamponierten Ventrikels dort zu einem hämorrhagischen Infarkt kommen (früher als Grad-IV-Blutung bezeichnet). Der Hauptrisikofaktor für die Ausbildung von Keimlagerblutungen ist die Unreife des Frühgeborenen (ein Frühgebore-
Die periventrikuläre Leukomalazie (PVL) entwickelt sich klinisch stumm während der zweiten bis vierten Lebenswoche in der weißen Substanz lateral der Seitenventrikel. Sonographisch kommen Zysten unterschiedlicher Größe zur Darstellung, die im Gegensatz zur multizystischen Enzephalopathie die Mark-Rinden-Grenze respektieren. Anders als die IVH zeigt die PVL keine steile Zunahme mit abnehmendem Gestationsalter und keine Korrelation mit niedrigen Apgar-Werten. Als einzige nachgewiesene Vermeidbarkeitsfaktoren gelten Infektionen (prä- wie postnatal) und Hypokapnien (pCO2 <35 mmHg) unter kontrollierter mechanischer Beatmung. Die PVL betrifft vor allem die langen motorischen Bahnen und verursacht eine sich im Laufe des ersten Lebensjahres abzeichnende beinbetonte spastische Zerebralparese.
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Kapitel 1 · Physiologie und Pathophysiologie des Neugeborenen
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11 Kapitel 1 · Grundlagen der Zellphysiologie
2 Physiologie des Verdauungstraktes im Kindesalter M.J. Lentze
2.1
Entwicklung des Gastrointestinaltraktes: Digestion und Absorption von Nahrungsmitteln – 11
2.2
Entwicklung der Motilität des Gastrointestinaltrakts – 14
2.3
Intestinale Barrierefunktion und Kolonisation des Gastrointestinaltraktes – 15 Literatur – 16
> Die Physiologie des Verdauungstraktes von Neugeborenen, Säuglingen und Kindern unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der des Erwachsenen. Lediglich die Besonderheiten des Alters und damit der Entwicklung und die Ausreifung physiologischer Funktionen sind hier zu berücksichtigen. Daher wird in diesem Kapitel auf die altersabhängige Entwicklung physiologischer Funktionen eingegangen. Diese spielt vor allem bei Frühgeborenen Neugeborenen und jungen Säuglingen eine herausragende Rolle.
2.1
Entwicklung des Gastrointestinaltraktes: Digestion und Absorption von Nahrungsmitteln
Die Entwicklung des Gastrointestinaltraktes während der fetalen Reifung in utero ist die Voraussetzung für das Überleben nach der Geburt. Die digestive und absorptive Kapazität der intestinalen Organe als auch der Kontakt mit pathogenen Keimen durch ein aktives Immunsystem garantiert normales Wachstum und Gedeihen im frühen Leben des Neugeborenen und Säuglings. Da die Zahl von Frühgeborenen mit sehr niedrigem Geburtsgewicht zunimmt, ist die Kenntnis der Ausreifung gastrointestinaler Funktionen von vitalem Interesse für die in diesem Lebensalter befassten Ärzte. Der Gastrointestinaltrakt hat digestive, absorptive und sekretorische Eigenschaften sowie eine Barrierefunktion. Er ist auch Teil des endokrinen Systems und stellt das größ-
te immunologische Organ im Menschen dar. Der Fetus bereitet den Gastrointestinaltrakt für das extrauterine Leben vor. Hierbei müssen Nahrungsmittel verdaut und aufgenommen werden, der Transport durch den Darm bewerkstelligt und eine Barriere errichtet werden für die diversen pathogenen und apathogenen Keime und dem symbiotischen Leben mit ihnen im Dickdarm. Antigene müssen erkannt und verarbeitet werden ohne den ganzen Körper krank zu machen. Der menschliche Darm entwickelt sich aus dem Endoderm des Embryos durch Inkorporation des dorsalen Anteils des Dottersackes während des Einfaltens der Embryonalscheibe. In der 3. Gestationswoche kann man dann den Vordarm, den Mitteldarm und den Enddarm unterscheiden. Ösophagus und Magen entwickeln sich aus dem Vordarm, beginnend in der 4. Gestationswoche. An der Grenze zwischen Vordarm und Mitteldarm entwickeln sich das Pankreas, die Gallenwege und die Leber durch Ausstülpung in der 5. Gestationswoche. Der Dünndarm verlängert sich in der 6. bis 7. Gestationswoche, und führt seine Rotation von 270° gegen den Uhrzeigersinn durch. Ein Ausbleiben dieser Rotation ist mit verschiedenen Ausprägungen der Malrotation verbunden. Die Funktionen des Gastrointestinaltraktes entwickeln sich parallel zu den morphologischen Veränderungen.
Ösophagus und Magen Ösophagus und Magen entwickeln sich aus dem Vordarm in der 4. Gestationswoche und sind in der 10. Woche soweit
2
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Kapitel 2 · Physiologie des Verdauungstraktes im Kindesalter
morphologisch entwickelt, dass sie auch ihre Funktion übernehmen können, denn der Fetus beginnt ja ab der 16. Gestationswoche, Fruchtwasser zu schlucken. Das Volumen des verschluckten Fruchtwassers beträgt bei Beginn 2–7 ml/Tag, später etwa 20 ml/Tag in der 20. Gestationswoche und etwa 450 ml/Tag am Termin. Die funktionelle Entwicklung des Magens, insbesondere die Säureproduktion, sind zwar gut studiert, aber die Ergebnisse widersprüchlich. Einigkeit besteht darüber, dass die Säureproduktion über die ersten Monate nach der Geburt erst heranreift. Die genaue Abfolge dieser Entwicklung ist aber nicht genau bekannt. Gut etabliert ist die Tatsache, dass die basale Säureproduktion und die Pentagastrin-stimulierte Säureproduktion bis zum 8. Lebensmonat langsam zunimmt und dann ihr Plateau erreicht hat. Bei Neugeborenen besteht eine Hypergastrinämie. Die Konzentrationen des Gastrins im Blut sind höher als bei Erwachsenen. Die Ursache und die Bedeutung dieser Hypergastrinämie sind nicht bekannt. Möglicherweise dient Gastrin als Wachstumsfaktor für die Dünndarmschleimhaut und damit zur Verbesserung der intestinalen Verdauungsfunktion. Pepsin erreicht seine volle hydrolytische Aktivität um den Geburttermin herum, ist aber bereits auch schon bei Frühgeborenen von 1000 g nachweisbar und hat bereits die halbe Aktivität verglichen mit der bei reifen Termingeborenen.
Dünndarm Zwischen der 9. und der 26. Gestationswoche entwickelt auch der Dünndarm seine digestive und absorptive Kapazität ausgehend von einem primitiven undifferenzierten Epithel zu einem voll differenzierten Organ mit Krypten und Villi, was zu einer enormen Vergrößerung der absorptiven Oberfläche führt (Moxey u. Trier 1974). In der 10. Gestationswoche sind die meisten absorptiven Mechanismen wie Enzyme und Transporter erstmals messbar. Sie reifen bis zur 25. Woche zur vollen Aktivität heran. Dies ist wichtig für die Bewältigung der „Abfälle“ aus dem Turnover der Zellen, die sich ab der 11. bis 12. Woche alle 5 Tage erneuern und auch durch Apoptose absterben. Die gesamte Oberfläche des Dünndarms muss demnach alle 5 Tage rezirkuliert werden. Der Gastrointestinaltrakt ist in der Lage, Abfälle aus dem Turnover der Zellen zu verdauen und zu rezirkulieren. Außerdem können Substanzen, die mit dem Fruchtwasser verschluckt werden, verdaut und absorbiert werden. Dies trifft sowohl für die Kohlenhydrate als auch für die Proteine zu. Kohlenhydrate. Die Saccharase-Isomaltase, die ab der 10. Woche messbar wird, kann bereits komplexe Kohlenhydrate sowohl in α1-4-glykosidischer Verknüpfung als auch in α1-6-glykosidischer Verbindung hydrolysieren (. Abb. 2.1). Sie übernimmt damit die Funktion der sehr viel später aktiv werdenden α-Amylase des Pankreas. Körpereigenes Glyko-
gen kann durch die Saccharase-Isomaltase bereits hydrolysiert werden. Laktose kann ebenfalls fetal hydrolysiert werden, allerdings fehlt hierfür das Substrat Laktose, die erst postnatal über die Muttermilch zugeführt wird. Die volle Aktivität der Laktase wird mit 32. Wochen erreicht. Da einige Frühgeborene bereits zwischen der 23. und 32. Woche geboren werden, könnte man annehmen, dass hier ein Problem entsteht. Die Gabe von Muttermilch oder einer Frühgeborenenmilch in diesem frühen Alter ist aber aus Sicht der Laktaseaktivität kein Problem, da die Gesamtaktivität der Laktase im Dünndarm groß genug ist, die Laktose in der Milch zu hydrolysieren (Lentze 1986). Die Produkte Glukose und Galaktose werden über den Natrium abhängigen Glukose-Transporter 1 (SGLT 1) aufgenommen, der bereits in der 10. Woche erscheint (Davidson et al. 1992). Die Kapazität der Saccharase-Isomaltase für die Hydrolyse von Stärke ist begrenzt. Damit können Frühgeborene und Neugeborene ein gewisses Maß an Stärke abbauen, aber nicht große Mengen. Proteine. Was die Digestion von Proteinen angeht, so wird Trypsinogen in der 24. Woche und aktives Trypsin in der 26. Woche festgestellt. Die für die Aktivierung des Trypsinogens erforderliche Enterokinase der Bürstensaummembran erscheint in der 24. Woche. Die durch die Digestion anfallenden Produkte wie Peptide und Aminosäuren können durch die Peptidasen der Bürstensaummembran hydrolysiert werden und anschließend über die AminosäureTransporter bzw. die Dipeptid-Transporter aufgenommen werden, die wie die Zuckertransporter in der 10. Woche messbar sind und bis zur 25. Woche ihre volle Aktivität entfalten (. Abb. 2.1; Adibi 2003). Lipide. Was die Fettverdauung angeht, so werden die MagenLipase und Pankreas-Lipase zwischen der 24. und 26. Woche voll aktiv (Menard 1994). Die durch Gallensäuren stimulierte Muttermilch-Lipase hilft nach der Geburt im Konzert der anderen Lipasen, das Fett zu verdauen (. Abb. 2.2; Boehm et al. 1991). Einzig die α-Amylase des Pankreas reift sehr viel später heran. Ihre volle Aktivität reift erst bis zum Alter von 6 Monaten nach der Geburt heran. Größere Mengen von Stärke können erst dann gut verdaut werden. Bis dahin übernehmen die Saccharase-Isomaltase und Maltase-Glucoamylase diese Funktion (Terada et al. 1995). Digestive Kapazität. Im Dünndarm selbst besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Duodenum und Ileum, was die Länge der Zotten und ihre digestive Kapazität angeht. Während die Zotten im Duodenum etwa 0,8 mm lang sind, sind die des Ileums nur ca. 0,5 mm lang. Damit vermindert sich die digestive Kapazität und die Oberfläche von proximal nach distal. Positiv beeinflusst wird dieser Gradient im Duodenum durch die Nahrung, negativ durch Hungern und durch parenterale Ernährung. Im Ileum dagegen besteht dagegen eine höhere adapta-
13 2.1 · Entwicklung des Gastrointestinaltraktes: Digestion und Absorption von Nahrungsmitteln
. Abb. 2.1. Entwicklung von Bürstensaummembran-Enzymen und -Transportern während der Schwangerschaft. ---- Nachweis der ersten Aktivität, ––– volle Aktivität
. Abb. 2.2. Entwicklung von Pankreas-Enzymen, Magen-Lipase und von Enterokinase während der Schwangerschaft. ---- Nachweis der ersten Aktivität, ––– volle Aktivität
tive Kapazität. Bei Verlust von proximalem Dünndarm, wie z. B. bei Operation eines Volvulus mit konsekutivem Kurzdarmsyndrom, kann das Ileum die digestive und absorptive Kapazität deutlich erhöhen. Hier kann das Ileum zur erhöhten Adaptation gebracht werden (. Abb. 2.3). Die Mechanismen, die zur Adaptation führen sind vielfältig. Die oral aufgenommen Nahrung hat hierbei den
Haupteinfluss auf die Adaptation. Freie Fettsäuren, kurzkettige Fettsäuren, eine Diät mit hohem Proteinanteil, fraglich Glutamin und Kohlenhydrate sind die wesentlichen Faktoren, die die Adaptation positiv beeinflussen. Disaccharide sind hierbei wirksamer als Monosaccharide. Außerdem beeinflussen die Sekretionen aus Pankreas und Galle die Adaptation sowie Hormone und Wachstumsfaktoren. Ein dem Enteroglukagon ähnliches Peptid, das »glucagon-
2
14
Kapitel 2 · Physiologie des Verdauungstraktes im Kindesalter
2
. Abb. 2.3. Vergleich der Strukturen und Funktionen von Duodenum und Ileum
. Abb. 2.4. Faktoren zur Beeinflussung der Adaptationsfähigkeit des Ileums
like peptide 2« (GLP2) hat hierbei die stärkste adaptative
Wirkung gezeigt. Es wird bald als Medikament zur Verfügung stehen und helfen, die Adaptation des Ileums bei Kurzdarmsyndrom zu verbessern (. Abb. 2.4; Tappenden 2006, Alpers 2006).
2.2
Entwicklung der Motilität des Gastrointestinaltrakts
Obwohl Feten in utero bereits Fruchtwasser schlucken, ist ein Frühgeborenes vor der 34. Woche nicht in der Lage, genügend Milch zu trinken. Versuche, jüngere Frühgeborene zum Trinken zu stimulieren, scheitern meistens und führen zur Erschöpfung des Kindes mit dem Risiko der Aspiration. Daher müssen die meisten Frühgeborenen vor der 34. Woche zusätzlich mit nasogastrischen Sonden ernährt werden.
Ösophagus- und Magenmotilität Eine wesentliche Voraussetzung zum extrauterinen Leben eines Früh- oder Neugeborenen ist die Fähigkeit zu saugen und zu schlucken. Daneben muss die geschluckte Nahrung auch den Gastrointestinaltrakt passieren. Hierzu ist eine von proximal nach distal gerichtete Peristaltik notwendig.
Frühere Studien haben suggeriert, dass das Neugeborene einen niedrigen Sphinkterdruck des unteren Ösophagussphinkters bei Geburt aufweise und dass Frühgeborene demnach überhaupt keine Antirefluxbarriere besitzen. Inzwischen wissen wir aber, dass der Druck des unteren
15 2.3 · Intestinale Barrierefunktion und Kolonisation des Gastrointestinaltraktes
Ösophagussphinkters auch bei Frühgeborenen vorhanden ist und gegen den errechneten Geburtstermin und auch danach noch stetig ansteigt. Die Magenentleerung hängt eindeutig von der Art der Nahrung ab. Muttermilch wird beim Frühgeborenen schneller entleert als Frühgeborenenmilch. Der Mechanismus ist wiederum wenig studiert, grundsätzlich hat aber die klinische Beobachtung gezeigt, dass unreife Frühgeborene den Magen langsamer entleerten als am Termin geborene Neugeborene.
Dünndarmmotilität Bei der motorischen Aktivität unterscheiden wir die Nüchternaktivität von der postprandialen Aktivität. Vor der 31. Woche kann kaum eine geordnete Nüchternaktivität beobachtet werden, sondern nur einige zufällige Kontraktionen. Zwischen 31. und 34. Woche können dann etwas besser koordinierte Muskelkontraktionen gefunden werden. Am Termin finden sich schließlich gut unterscheidbare Phase-I-, -II- und –III-Kontraktionen des migrierenden Motorkomplexes als Ausdruck gereifter Nüchternaktivität (Bisset et al. 1989). Die postprandiale Aktivität entwickelt sich dementsprechend. Bei Frühgeborenen der 31. Woche konnte keine postprandiale Aktivität gemessen werden (Bisset et al. 1988). Zwischen der 31. und 35. Woche kommt es zu einer leichten postprandialen Aktivität und nach der 35. Woche zu einer geordneten typischen postprandialen Aktivität (Bisset et al. 1988) > Die Motilität und ihre Entwicklung stellen somit den limitierenden Faktor für die Ernährung von Frühgeborenen dar, da die digestiven und absorptiven Funktionen bereits früher und in ihrer Aktivität besser entwickelt sind.
Die fehlende oder nur wenig ausgeprägte Motilität zwischen der 24. und 35. Gestationswoche macht in diesem Zeitabschnitt die Ernährung von Frühgeborenen zu einer schwierigen und durch mannigfache Rückschläge gekennzeichnete Zeitperiode, in der dann auch die typischen Komplikationen wie die nekrotisierende Enterokolitis auftreten. Derzeit sind wir aber nicht in der Lage, die Entwicklung der Motilität zu beschleunigen. Es bleibt künftigen Untersuchungen vorbehalten, hier eine Möglichkeit zu finden.
2.3
Intestinale Barrierefunktion und Kolonisation des Gastrointestinaltraktes
Der Gastrointestinaltrakt stellt eine Barriere für verschluckte oder durch die Nahrung zugeführte Antigene dar. Es werden unterschieden: 4 Die nicht-immunologischen Abwehrmechanismen beinhalten die Magensäure, Pankreas- und Gallesekretionen, die Schleimschicht auf der Mukosa, der Zellturnover und der Blutfluss im Darm.
4 Zu den immunologischen Abwehrmechanismen zählen wir Komponenten der Muttermilch wie sIgA, Lymphozyten, Makrophagen, Leukozyten und Komplement. Laktoferrin, Lysozym, Lipasen, Laktoperoxidase, Oligosaccharide dagegen sind nicht-immunologische Faktoren der Muttermilch, die zur Barrierefunktion beitragen. Die Entwicklung des intestinalen Immunsystems erfolgt während der Schwangerschaft. Es besteht aus 3 Komponenten: 4 Lymphfollikeln der Peyer-Plaques: Die ersten Anlagen der Peyer-Plaques finden sich in der 11. Woche, jedoch noch ohne Lymphozyten (Owen et al. 1974). In der 24. Woche finden sich 45, in der 29. Woche 60 und bei Geburt 120 Peyer-Plaques. Die Zahl steigt im Teenageralter auf 250, um dann graduell bis zum 90. Lebensjahr wieder auf 100 abzufallen. Die Lymphfollikel werden ab der 16. Woche mit T- und B-Lymphozyten besiedelt. 4 Lymphoide Zellen in der Lamina propria: Vor der Geburt sind keine IgA-positiven Zellen nachzuweisen. Sie finden sich in den ersten 12 Tagen nach der Geburt in der Mukosa ein. T-Zellen sind bereits ab der 12. Woche vorhanden. 4 Intraepitheliale Lymphozyten: Sie finden sich ebenfalls schon in der 12. Woche der Gestation. Die Dündarmmukosa exprimiert Rezeptoren für enterale Infektionen, z. B. Cholera. Studien an neugeborenen Tieren, z. B. Ratten, konnten zeigen, dass sie auf zugeführte Toxine wie Shiga-Toxin oder Vero-Toxin weniger reagierten als adulte Tiere. Eine geringere Rezeptordichte wird hier als Ursache diskutiert. So konnte auch gezeigt werden, dass eine Besiedlung mit Clostridium difficile vom Neugeborenen besser vertragen wird als bei älteren Kindern auf Grund der geringeren Rezeptordichte für das bakterielle Toxin. Die Kolonisation des Gastrointestinaltrakts beginnt unmittelbar nach der Geburt und hängt von der Geburt ab. Vaginal entbundene Neugeborene weisen eine andere Flora auf als durch Kaiserschnitt entbundene. Die Ernährung mit Muttermilch führt zu einer Flora reich an B. bifidum und Laktobazillen. Diese Flora schützt Neugeborene und Säuglinge vor enteralen Infektionen. Auch Probiotika dieses Typs haben diesen Effekt gezeigt und bei präventiver Gabe vor enteralen Infektionen, insbesondere Rotavirusinfektionen geschützt. Während im Säuglingsalter die Bifidusflora bei gestillten Kindern dominiert, haben künstliche ernährte Säuglinge eine Flora, die vornehmlich aus Anaerobiern besteht. Nach der Säuglingsperiode stellt sich langsam die Erwachsenenflora ein. Diese ist für jeden Menschen individuell und sehr beständig. Sie ist wie ein Fingerabdruck und stellt sich auch nach exogenen Einflüssen wie Antibiotika oder Chemotherapie immer wieder ein.
2
16
Kapitel 2 · Physiologie des Verdauungstraktes im Kindesalter
Literatur
2
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3
17 Kapitel 1 · Grundlagen der Zellphysiologie
3 Grundlagen der Kinderanästhesie F. Frei 3.1
Allgemeine Betreuung von Kindern und notwendige Infrastruktur – 17
3.6.2 3.6.3
Eingriffe bei Früh- und Neugeborenen Thoraxchirurgische Eingriffe – 27
3.2
Physiologische Grundlagen – 18
3.7
Vaskuläre Zugänge
3.2.1 3.2.2 3.2.3
Herz-Kreislauf-System – 18 Atemsystem – 18 Thermoregulation – 18
3.8
Flüssigkeitstherapie
– 29 – 30
3.3
Präoperative Maßnahmen
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Ambulante – stationäre Eingriffe – 19 Akute Infekt der oberen Luftwege – 19 Medikamentöse Prämedikation – 19
– 18
3.4
Anästhesieführung
3.4.1 3.4.2 3.4.3
Anästhesieeinleitung – 20 Aufrechterhalten der Anästhesie Beenden der Anästhesie – 21
– 28
3.9
Regionalanästhesie
3.9.1 3.9.2 3.9.3 3.9.4 3.9.5
Kaudalanästhesie – 30 Epiduralanästhesie – 30 Penisblockade – 30 Ileoinguinalblockade – 31 Infiltrationsanästhesie – 31
3.10
Postoperative Überwachung und Schmerztherapie – 31
– 20 – 21
3.5
Anästhesieausrüstung
3.5.1 3.5.2 3.5.3
Anästhesiegeräte – 21 Material für Atemwegsmanagement Monitoring – 23
– 21 – 21
3.6
Techniken für spezielle Eingriffe – 23
3.6.1
Notfälle
3.10.1 Postoperative Überwachung – 31 3.10.2 Laboruntersuchungen – 32 3.10.3 Schmerzkonzept, Schmerzmessung und Schmerzdienst – 33 3.10.4 Unspezifische Schmerztherapie – 33 3.10.5 Medikamentöse Schmerztherapie – 33 Literatur – 35
– 23
> Die Qualität der anästhesiologischen Betreuung von Kindern hängt nicht vom Vorhandensein eines Kinderkrankenhauses ab, sondern von situationsgerechter Planung und kompetenter Durchführung von Narkosen sowie korrekter Nachbetreuung in einer kindgerechten Infrastruktur. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, sollte das Kind in ein dafür eingerichtetes Zentrum überwiesen werden
3.1
– 24
Allgemeine Betreuung von Kindern und notwendige Infrastruktur
Kompetente Betreuung bedeutet, dass die Sicherheit des Kindes vor, während und unmittelbar nach dem Eingriff gewährleistet wird und dem Kind durch die invasiven Maßnahmen kein Schaden zugefügt wird. Dazu gehört die Möglichkeit, eine präoperative Evaluation zur Abschätzung des perioperativen Risikos durchführen zu können. Nach dem Eingriff muss Personal zur Verfügung stehen, das für die
Betreuung und die Überwachung der Kinder ausgebildet ist. Der Anästhesiearzt trägt auch dann eine Mitverantwortung, wenn dieses Personal organisatorisch nicht der Anästhesieabteilung unterstellt ist. Zur angepassten Infrastruktur gehört auch die Möglichkeit, einen Pädiater hinzuziehen zu können. Röntgen- und Laboruntersuchungen müssen von Personal durchgeführt werden, das im Umgang mit Kindern ausgebildet ist und über die notwendigen Apparate und entsprechenden Techniken verfügt. Auf Grund dieser Überlegungen muss entschieden werden, ob der geplante Eingriff im betreffenden Krankenhaus durchgeführt werden kann, oder ob das Kind in eine geeignete Klinik überwiesen werden soll (Keenan 1991; Frei 1993; Morray 2000). > Jeder ausgebildete Anästhesist muss selbst abschätzen, ob die eigene Kompetenz und die vorhandene Infrastruktur ausreichen, ein bestimmtes Kind perioperativ verantwortlich zu betreuen, oder ob er damit nachlässig oder gar fahrlässig handelt.
18
Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
3.2
3
Physiologische Grundlagen
Anatomisch betrachtet unterscheiden sich pädiatrische Patienten von Erwachsenen lediglich bezüglich Gewicht und Größe. Diese Größenunterschiede haben jedoch grundlegende Folgen bezüglich Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakodynamik und Pharmakokinetik. Diese Folgen sind umso bedeutungsvoller je kleiner das Kind ist. Während ein 10-jähriges Kind sich bezüglich anästhesiologischer Betreuung kaum von einem Erwachsenen unterscheidet, benötigen Kinder im Vorschulalter meistens eine spezielle Behandlung. Die perioperative Betreuung von Säuglingen im Alter unter einem Jahr und insbesondere von Früh- und Neugeborenen unterscheidet sich grundsätzlich von derjenigen von älteren Kindern und Erwachsenen (für Details s. Frei 2009).
3.2.1 Herz-Kreislauf-System Während und unmittelbar nach der Geburt ändern sich die Kreislaufverhältnisse grundsätzlich (Clarke 1990). Damit die Sauerstoffversorgung gewährleistet ist, fließt nun das gesamte Herz-Minutenvolumen durch die Lungen. Der Widerstand im Lungengefäßgebiet sinkt im Verlauf der ersten postnatalen Tage auf Erwachsenenwerte ab. Der Ductus arteriosus verschließt sich vorerst nur funktionell, und es dauert einige Wochen, bis der Verschluss auch anatomisch vollständig ist. Faktoren, die zu einem Anstieg des pulmonalarteriellen Widerstandes führen, wie Hypoxie, Hyperkapnie, Azidose, Überwässerung, Hypothermie und mechanische Stimulationen der Luftwege oder Faktoren, die den systemvaskulären Widerstand senken, wie Anämie, arterielle Hypotension und hohe Dosen von Anästhetika, können eine erneute Durchgängigkeit des Duktus mit Rechts-links-Shunt verursachen. Bei einem normalen Kind ist der Kreislauf bereits im Alter von 1 Monat dem extrauterinen Leben gut angepasst. Bei reifen Neugeborenen variiert der systolische Blutdruck normalerweise zwischen 55 und 70 mmHg. Bei Säuglingen unter 1 Jahr liegt der systolische Blutdruck in Ruhe normalerweise unter 100 mmHg und die Herzfrequenz beträgt in Ruhe ca. 120 Schläge/min, aber die Variationsbreite ist groß. Die Herzfrequenz fällt mit zunehmendem Alter ab. Atemabhängige Schwankungen der Herzfrequenz sind normal (Sinusarrhythmie) und können bei einzelnen Säuglingen und Kindern, insbesondere im Schlaf, ausgeprägt sein.
3.2.2 Atemsystem Der Kehlkopf des Säuglings unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von demjenigen des älteren Kindes. Die Epiglottis ist lang, weich und Ω-förmig; die Arytenoidknorpel sind groß. Der engste Teil der Luftwege liegt unmittelbar
subglottisch in Höhe des Krikoidknorpels. Die Trachea ist im 1. Lebensjahr 4–5 cm lang, weshalb die Intubationstiefe sorgfältig angepasst und der Tubus gut fixiert werden muss. Der Durchmesser beträgt nur 4–6 mm, was zur Folge hat, dass bereits minimale Schleimhautschwellungen zu Atemnot führen können. Die Säuglingslunge ist, im Verhältnis zum Körpergewicht, kleiner als bei älteren Kindern. Die Anzahl der Alveolen erhöht sich zwischen dem Neugeborenenalter bis 5 Jahre um den Faktor 10. Anschließend nimmt das Wachstum des Lungenvolumens ungefähr im Verhältnis zum Körpergewicht zu, dies infolge des kontinuierlichen Wachstums der einzelnen Alveolen. Werden die Resultate von Lungenfunktionstests auf die Größe der Lunge extrapoliert, zeigt sich, dass kleine Säuglinge eine kleinere elastische Retraktionskraft aufweisen als ältere Kinder. Der Brustkorb eines Säuglings ist weich. Es können leicht paradoxe Thoraxbewegungen bei Atemwegsobstruktionen unter Spontanatmung auftreten, die den irreführenden Eindruck hervorrufen können, die Lungen seien belüftet. Wenn der Säugling beatmet wird, können die Thoraxbewegungen gut gesehen werden. Während der Maskenbeatmung kann Luft leicht in den Magen gelangen, man sieht dies daran, dass sich das Abdomen im oberen linken Quadranten vorwölbt. Das Atemzentrum ist während der ersten Lebensmonate gegenüber Opiaten empfindlich. Sie müssen deshalb beim spontan atmenden jungen Säugling vorsichtig dosiert werden.
3.2.3 Thermoregulation Beim 3 kg schweren Neugeborenen ist der Quotient Körperoberfläche/Körpergewicht ungefähr 3-mal größer als beim Erwachsenen. Die isolierende Fettschicht ist dünn und die Haut ist gut durchblutet. Die Wärmeabgabe bzw. -aufnahme und die konsekutive Hypo- bzw. eine Hyperthermie erfolgt deshalb rascher als bei Erwachsenen. Seit dem routinemäßigen Einsatz von Warmluftgeräten ist die Gefahr der intraoperativen Hypothermie allerdings auch bei kleinen Kindern deutlich gesunken.
3.3
Präoperative Maßnahmen
Grundsätzlich soll der Anästhesist vor jeder Anästhesie die Möglichkeit zum Gespräch mit Eltern und Kind haben und das Kind untersuchen können. So erhält er wesentliche Informationen für die geplante Narkose: aktueller Gesundheitszustand des Kindes, Vorgeschichte, Allergien, Medikamentengebrauch, frühere Anästhesieerfahrungen des Patienten und der Familie. Bei gesunden Kindern kann auf routinemäßig durchgeführte Laboruntersuchungen verzichtet werden. Liegen aufgrund der Voruntersuchung irgendwelche Anhalts-
19 3.3 · Präoperative Maßnahmen
. Tab. 3.1. Ambulante versus stationäre Betreuung: Kriterien aus anästhesiologischer Sicht Kriterien
Geeignet
Ungeeignet
Dauer des Eingriffs
Minuten bis mehrere Stunden
>4 h
Gesundheitszustand
Gesunde Patienten Chronische, stabile Erkrankung. z. B. Epilepsie, zystische Fibrose, Zerebralparese, Herzvitium
Schwere oder unstabile Erkrankung. z. B. Herz- oder respiratorische Insuffizienz, generalisierter Infekt, schwere Anämie
Ausdehnung des Eingriffs
Oberflächlich
Eröffnung einer Körperhöhle
Lebensalter (Termingeborene)
>1–6 Monate (je nach Klinik)
<1 Monat
Gestationsalter bei ehemaligen Frühgeburten
>48– 60 Gestationwochen
<48 Gestationwochen
Notfälle
Oberflächliche Verletzungen, Frakturen der Gliedmaßen, Verbrennungen <10%
ZNS-Trauma, unstabile vitale Funktionen; schwere Thorax- oder Abdominalverletzungen
punkte für relevante Begleiterkrankungen vor, so sollen gezielt Blut- oder Urinuntersuchungen durchgeführt werden. Ist ein großer Eingriff geplant, sollten Blut- und Gerinnungswerte vorliegen, eventuell müssen Blutkonserven getestet werden. Die präoperative Nüchternzeiten für elektive Eingriffe beträgt 6 h für feste Speisen und 2 h für klare Flüssigkeit unabhängig davon ob der Eingriff stationär oder ambulant stattfindet. Ist ein Eingriff erst am Nachmittag geplant, so sollten die Kinder bis 6 h vorher eine leichte Mahlzeit zu sich nehmen. Säuglinge können bis 4 h vor dem Eingriff noch Muttermilch zu sich nehmen. Abschließend müssen die Eltern über die Risiken mündlich und schriftlich informiert werden. Falls vom Gesetzgeber verlangt, muss eine Einwilligungserklärung unterschrieben werden.
25% der Eingriffe verschoben werden. Zudem hat sich gezeigt, dass mögliche Komplikationen in der Regel rechtzeitig antizipiert und behandelt werden können und dass schwere Komplikationen äußerst selten sind. Kinder mit oberen Atemwegsinfekten können für elektive Eingriffe anästhesiert werden, wenn 4 keine Zeichen oder anamnestische Hinweise für eine generalisierte Erkrankung vorliegen, 4 kein Fieber (>38°C) besteht, 4 keine Zeichen einer obstruktiven Atemwegserkrankung oder eines Infektes der unteren Luftwege vorliegen.
3.3.1 Ambulante – stationäre Eingriffe
3.3.3 Medikamentöse Prämedikation
Die meisten Anästhesien für diagnostische, interventionelle oder operative Eingriffe werden heutzutage ambulant durchgeführt (. Tab. 3.1).
Eine effiziente Prämedikation reduziert die Trennungsangst, induziert eine partielle anterograde Amnesie, erleichtert die stressarme Einleitung der Anästhesie und reduziert die Inzidenz von unerwünschten postoperativen Verhaltensstörungen. Während bei jungen Säuglingen eine medikamentöse Prämedikation im Allgemeinen nicht notwendig ist, wird bei Säuglingen über 6 Monaten, Kleinkindern und Schulkindern in der Regel ein Anxiolytikum, meist Midazolam verabreicht. Bei älteren Kindern oder Adoleszenten kann bei guter Kooperation unter Umständen auch auf eine Medikamentengabe vor Anästhesie verzichtet werden. Die Zufuhr von Midazolam kann rektal oder oral erfolgen. Selten wird das Medikament auch nasal oder intramuskulär verabreicht. Anticholinergika (Atropin, Glycopyrrolat, Scopolamin) werden heutzutage nur noch selten peroral vor einer Anästhesie verabreicht, da die Resorption unzuverlässig ist und Nebenwirkungen (trockene Schleimhäute) häufig auftreten und unangenehm sind.
3.3.2 Akute Infekt der oberen Luftwege Infektionen sind bei Kindern häufig. Beispielsweise treten bei Kleinkindern alleine im Bereich der oberen Luftwege durchschnittlich 6–8 Infekte pro Jahr auf. Entsprechend oft ist der pädiatrisch tätige Anästhesist mit der Frage konfrontiert, wie bei floriden oder erst vor kurzer Zeit durchgemachten Infekten der oberen Luftwege vorgegangen werden soll. Obwohl auch neuere Untersuchungen das erhöhte Risiko von perioperativen respiratorischen Komplikationen bestätigen, hat vielerorts die Praxis Einzug gehalten, elektive Eingriffe unter gewissen Voraussetzungen auch bei Vorliegen eines Infektes durchzuführen (Tait 2005). Aufgrund der hohen Prävalenz an Atemwegsinfekten müssten sonst bis zu
Zudem ist die elterliche Beurteilung wegweisend: Falls die Eltern ihr Kind als krank beurteilen, empfiehlt es sich, den Eingriff zu verschieben. Generell ist die Dringlichkeit der Intervention ein weiterer bestimmender Faktor.
3
20
Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
3.4
Anästhesieführung
3.4.1 Anästhesieeinleitung
3
Der Anästhesiebeginn ist für alle Beteiligten, Kind, Angehörige und oft auch das Anästhesieteam mit besonderer Spannung verbunden. Der Beginn der Anästhesie sollte deshalb in einer ruhigen Atmosphäre erfolgen und die Vorbereitungen sollten vor Eintreffen des Kindes abgeschlossen sein. Die Mehrzahl der Eltern möchte bei der Narkoseeinleitung ihres Kindes anwesend sein, wenn ihnen dazu Gelegenheit geboten wird. Sofern dies aus logistischen Gründen möglich ist, soll diesem Wunsch nachgekommen werden; andernfalls können die Eltern beruhigt werden, dass das Kind keine Nachteile hat, wenn sie bei der Narkoseeinleitung nicht anwesend sein dürfen. Vor allem bei Kindern im Vorschulalter wird die Anästhesie vielerorts inhalativ mit Sevofluran eingeleitet und die Venenverweilkanüle wird erst nach Bewusstseinsverlust eingelegt. Andere Anästhesieärzte ziehen eine intravenöse Einleitung mit Thiopental oder Propofol auch bei kleinen Kindern vor. Als Vorbereitung für das Einführen einer Kanüle im Wachzustand kann die betreffende Haut mit einem lokalanästhesiehaltigen Pflaster unempfindlich gemacht werden. Die intramuskuläre Einleitung mit Ketamin wird nur bei gänzlich unkooperativen Kindern eingesetzt. . Abb. 3.1. Ausrüstung für Routineanästhesien: intravenöser Zugang (i.v.), Blutdruckmessung (BD), Pulsoxymeter (SpO2), Elektrokardiogramm (EKG), Cuff-Druckmessgerät (CDM), Feuchtigkeits-Wärmeaustauscher (FWA). Anstelle des Seitenstrom-CO2-Analyzers (CO2) kann auch ein Hauptstromanalyzer verwendet werden. Die Temperatur (Temp) kann nasopharyngeal, ösophageal oder rektal gemessen werden. Der Nervenstimulator (nicht abgebildet) wird eingesetzt, wenn Muskelrelaxanzien gebraucht werden
Bei Notfalleingriffen ist das Kind meistens als nicht nüchtern zu betrachten; das Aspirationsrisiko ist erhöht (Warner 1999). Eine spezielle Einleitungstechniken, die sog. »schnelle oder Ileus-Einleitung« soll dieses Risiko so klein wie möglich halten. Wenn möglich sollte mit dem Eingriff zugewartet werden (Details 7 Kap. 3.6.1). Während der gesamten Anästhesie muss größte Aufmerksamkeit auf das Offenhalten der Atemwege gerichtet werden, damit kein Sauerstoffmangel eintritt. Dies ist umso wichtiger, als die O2-Reserven bei Kleinkindern geringer sind, der O2-Verbrauch jedoch höher ist und damit eine lebensbedrohlich Hypoxie schneller auftritt als bei Erwachsenen (von Ungern-Sternberg 2006a). Die Atemwege können manuell (Maskenanästhesie) oder mit speziellen Hilfsmitteln (Guedel- oder Wendel-Tubus, Larynxmaske, endotrachealer Tubus) offen gehalten werden. Da das Einleiten der Anästhesie zusammen mit einer Relaxation immer eine Abnahme der funktionellen Residualkapazität zur Folge hat, wird bei der Beatmung die Gabe von PEEP, 6 cm H2O, empfohlen (von Ungern-Sternberg 2006b). Das Routinemonitoring (. Abb. 3.1) wird, falls vom Kind toleriert, vor Beginn der Anästhesieeinleitung installiert. Das Einlegen einer venösen Verweilkanüle ist in den meisten Fällen indiziert: allerdings ist es bei kleinen Eingriffen nicht eine unbedingte Notwendigkeit (z. B. bei einem einfachen Verbandwechsel oder einer Fadenentfer-
21 3.5 · Anästhesieausrüstung
nung). Was die minimalen Sicherheitsstandards betrifft existieren nationale Richtlinien. Zusätzlich hat im Allgemeinen jede Anästhesieabteilung eigene abteilungsinterne Vorschriften. In geeigneten Fällen wird nach der Anästhesieeinleitung eine regionale Anästhesie durchgeführt (7 Kap. 3.9). Dies reduziert den Anästhetikaverbrauch und begünstigt die postoperative Analgesie.
3.4.2 Aufrechterhalten der Anästhesie Die Aufrechterhaltung der Anästhesie hat zum Ziel, ideale Bedingungen für Diagnostik oder Therapie und ein rasches und schmerzfreies Erwachen nach Beendigung der Intervention zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, werden meistens verschiedene Medikamente gleichzeitig verabreicht. Inhalationsanästhetika (Sevofluran, Isofluran, Desfluran) und Hypnotika (Propofol) garantieren bei korrekter Dosierung die Bewusstlosigkeit, während Opioide (Fentanyl, Alfentanil, Remifentanil, Morphin) die Schmerzperzeption herabsetzen. Zur Intubation oder für bestimmte chirurgische Eingriffe werden häufig nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien verabreicht (Atracurium, Rocuronium, Pancuronium u. a.). > Insbesondere bei großen Eingriffen sind die Optimierung des Flüssigkeitshaushalts und die Temperaturkontrolle zentrale Aufgaben.
3.4.3 Beenden der Anästhesie Wie die Anästhesieeinleitung ist auch die Ausleitung eine kritische Phase der Narkoseführung. Um Patienten in den Aufwachraum oder auf die Abteilung verlegen zu können, müssen Kreislauf und Atmung stabil sein. Während dies für den Kreislauf nur in seltenen Fällen ein Problem darstellt, ist die Atmung durch Anästhetika und Schmerzmittel in dieser Phase häufig kompromittiert, die Atemschutzreflexe haben sich noch nicht normalisiert und Atemwegsobstruktion oder Apnoe sind mögliche Komplikationen. Auch nimmt die Überwachungsintensität in dieser Phase ab; der Anästhesist übergibt das Kind einer Pflegefachfrau, die meistens mehrere Kinder zu überwachen hat.
3.5
Anästhesieausrüstung
3.5.1 Anästhesiegeräte Die wichtigsten Anforderungen an Narkosesysteme sind minimaler Totraum, geringer Atemwiderstand und Fehlen von Rückatmung von Atemgasen. Mit modernen Anästhe-
siegeräten und angepassten Kinderkreissystemen kön-
nen diese Bedingungen erfüllt und Kinder fast aller Gewichtsklassen beatmet werden. Für Kinder mit einem Gewicht unter 1–2 kg sowie für lungenkranke Kleinkinder sollte man sich nicht scheuen, spezielle Geräte, die in der neonatologischen Intensivstationen zum Einsatz kommen, in den Operationssaal zu transferieren (Hochfrequenzventilatoren, Geräte zur Verabreichung von Stickoxid, etc.) und die notwendige Unterstützung von geschultem Personal anzufordern. Die früher häufig verwendeten halboffenen Systeme werden heutzutage nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt (Ayre-T-Stück, Mapleson-System A und D, Jackson-Rees-System, Bain-System, Kuhn-System).
3.5.2 Material für Atemwegsmanagement Es wird grundsätzlich dasselbe Material wie bei Erwachsenen eingesetzt, wobei im Allgemeinen 4–6 verschiedene Größen verfügbar sind. Atemmasken sollten durchsichtig sein und besitzen vorzugsweise einen weichen, luftgefüllten Plastikring mit dem der luftdichte Abschluss zum Gesicht besser erreicht wird. Guedel-Tuben werden oft verwendet, da sie den oropharyngealen Luftweg offen halten. Allerdings muss beachtet werden, dass zu große Tuben Obstruktionen oder Verletzungen des Kehlkopfes verursachen können. Zu kleine Guedel-Tuben können die Zunge zusätzlich nach hinten drücken und damit die Durchgängigkeit des Atemweges verschlechtern. Nasopharyngeale Tuben werden in der Kinderanästhesie seltener verwendet, da beim Einlegen vor allem im Alter zwischen 2–6 Jahren häufig Blutungen durch Verletzung der Adenoide hervorgerufen werden können. Laryngealmasken in den Größen 1–4 eignen sich besonders gut für Eingriffe in Allgemeinanästhesie und sind als Ersatz für eine Intubations- oder konventionelle Maskennarkose einsetzbar. Endotrachealtuben müssen dünnwandig sein, damit ein großes Lumen zur Verfügung steht. Gummituben oder Tuben, die sich an der Spitze verjüngen (sog. Cole Tuben) sollten nicht mehr verwendet werden. Die meisten Tuben bestehen aus durchsichtigem Kunststoff und haben Längenmarkierungen in Abständen von 1 cm. Vorgeformte RAETuben (Ring-Adair-Elwyn) ermöglichen ein leichteres Ableiten der Narkoseschläuche nach unten und haben sich besonders für Hals-, Nasen-, Ohren-, Mund-, Kiefer-, Gesichts-, Augen- und neurochirurgische Eingriffe bewährt. Traditionell werden von den meisten Kinderanästhesisten bis zum 8. Lebensjahr Tuben ohne Cuff verwendet. Inzwischen sind jedoch auch für Kinder Tuben mit Cuff in allen Größen verfügbar und verschiedene Studien haben gezeigt, dass bei sachgerechter Anwendung Komplikationen nicht häufiger auftreten. Vorteile von blockbaren Tuben sind das Wegfallen des Luftlecks und damit eine besser kontrollierbare Beatmung, die Verringerung der Narkose-
3
22
Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
tens primär nicht bekannt ist, haben sich blockbare Tuben bewährt. > Faustregeln: 4 Tubusgröße (Innendurchmesser) = Alter (Jahre)/ 4 + 4 mm (gültig für Kinder > 1 Jahr) 4 Tubuslänge von der Zahnreihe an = Körperlänge/10 + 5 cm (Körperlänge/10 + 4 cm für Säuglinge < ca. 3 Monaten) 4 Tubuslänge von der Nasenöffnung an: 20% mehr als oben angegeben
3
. Abb. 3.2. Endotrachealer Tubus mit distal gelegenem »high-volumelow-pressure-cuff”
gasbelastung der Raumluft und das Vermeiden von wiederholten Intubationen, wenn zu kleine Tuben gewählt werden (und damit zu große Leckagen bestehen). Eine Cuff-Druckmessung sollte durchgeführt werden. Neuere Produkte eignen sich speziell für Kinder, indem die Manschetten wie bei Erwachsenentuben ein großes Volumen besitzen. Damit kann der Cuff-Druck zum Abdichten niedrig gehalten werden. Zusätzlich liegt die Manschette weiter distal als bei herkömmlichen Tuben, was eine sicherere Platzierung möglich macht (. Abb. 3.2). Ein Nachteil von blockbaren Tuben liegt darin, dass meist ein Tubus mit einem Innendurchmesser gewählt werden muss, der verglichen mit einem ungecufftem Tubus 0,5 mm kleiner ist (. Tab. 3.2). Auch in der Notfallmedizin, wo das Alter des Kindes meis-
Die Auswahl des Laryngoskopiespatels hängt von der Neigung des Anästhesisten ab. Für Neugeborene und Kleinkinder wird der gerade Spatel bevorzugt, weil damit die beim Kleinkind relativ große Epiglottis aufgeladen werden kann und damit die Stimmbänder besser visualisiert werden können. Gebogene Spatel werden meistens bei Kindern >4 Jahren eingesetzt, können aber auch bei Säuglingen und Neugeborenen verwendet werden. Seit dem routinemäßigen Einsatz von Warmluftgeräten ist die Gefahr der intraoperativen Hypothermie auch bei kleinen Kindern deutlich gesunken und die Operationssäle können mit normaler Raumtemperatur (20–22 C) betrieben werden. Die Temperatur der eingeblasenen Luft kann in verschiedenen Stufen zwischen Raumlufttemperatur und 40°C variiert werden, das System kann damit zum Kühlen oder zum Aufwärmen benützt werden. Wärmedecken werden in verschiedenen Größen und Formen angeboten, so dass bei verschiedenartigen Eingriffen die durchströmende Luft mit mehr oder weniger großen Arealen der Haut in Kontakt steht und damit
. Tab. 3.2. Tubusgröße (Innendurchmesser) und Intubationstiefe in Abhängigkeit von Alter und Gewicht Alter
Körpergewicht (kg)
Tubus ungecufft Innendurchmesser (mm)
Tubusgecufft Innendurchmesser (mm)
Länge der Trachea, Stimmbandkarina (cm)
Ideale Lage der Tubusspitze unterhalb Stimmritze(cm)
Tubuslänge vom Alveolarkamm bzw. Zahnreihe (cm)
Tubuslänge von Nasenöffnung (cm)
Neugeborene
<1
2,5
–
2,5
2
7
8
Neugeborene
1–2,5
3,0
–
3
2,5
8
9
Neugeborene
>2,5
3,5
3,0
4
3
9
11
2 Monate
5
3,5
3,0
4,5
3,5
11
13
1 Jahr
10
4,0
3,5
5
4
12
14
2 Jahre
13
4,5
4,0
5,5
4,5
13
15
4 Jahre
16
5,0
4,5
6
4,5
14
17
6 Jahre
20
5,5
5,0
6,5
5
16
19
8 Jahre
25
6,0
5,5
7
5,5
18
21
10 Jahre
30
6,5
6.0
7,5
6
19
23
12 Jahre
40
7,0
6,5
8
6,5
21
25
23 3.6 · Techniken für spezielle Eingriffe
seine konvektive temperaturregulatorische Wirkung erzielt. > Erfahrungsgemäß ist es möglich, eine normale Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, wenn lediglich ein Drittel der Haut mit der Wärmedecke abgedeckt wird.
3.5.3 Monitoring (. Abb. 3.1) Das EKG ist für die zuverlässige Anzeige der Herzfrequenz und die Diagnostik von Arrhythmien auch in der Kinderanästhesie ein wertvoller Monitor auf den nicht ohne gute Gründe verzichtet werden sollte. Arrhythmien treten v. a. bei Kindern auf, die ein vorbestehendes kongenitales Herzvitium haben. Bei sonst gesunden Kindern sind schwerwiegende Arrhythmien oder ST-Veränderungen selten, können aber unter bestimmten Umständen, z. B. bei akzidenteller intravenöser Injektion von Lokalanästhetika, auftreten. Ischämisch bedingte ST-Veränderungen sind bei herzgesunden Patienten selten; bei ausgeprägter Hämodilution können sie aber als Warnzeichen einer ausgeschöpften myokardialen O2-Reserve dienen. Die Blutdruckmessung ergibt wesentliche Informationen über den Kreislaufstatus des Patienten. Eine nichtinvasive (unblutige) Messung mit einer Manschette über dem Oberarm bzw. am Ober- oder Unterschenkel ist meistens ausreichend. Bei der Wahl der Manschette muss weniger auf die Breite als auf die Länge des aufblasbaren Teils geachtet werden. Dieser muss den Oberarm vollumfänglich umfassen ansonsten falsch hohe Blutdruckwerte gemessen werden. Die invasive Blutdruckmessung kann in allen Altersstufen durchgeführt werden. Meistens wird die A. radialis, seltener die A. femoralis punktiert. Sowohl die Pulsoxymetrie als auch die Kapnographie gehören wie in der Erwachsenenanästhesie zu den festen Bestandteilen des Routinemonitorings.
3.6
Techniken für spezielle Eingriffe
In diesem Kapitel werden allgemeine anästhesierelevante Probleme erwähnt, die im Rahmen der verschiedenen Kapitel dieses Lehrbuchs aus chirurgischer Sicht diskutiert werden. Entsprechend wird nicht auf herz- oder neurochirurgische Eingriffe eingegangen.
3.6.1 Notfälle Extremitätenfrakturen Generell wird die Indikation zur notfallmäßigen Versorgung von Frakturen im Kindesalter großzügiger gestellt als bei Erwachsenen. Die Dringlichkeit einer Frakturbehandlung sollte in Absprache mit dem Operateur beurteilt wer-
den. Handelt es sich um eine dislozierte Fraktur, eine Luxation oder ist gar die Durchblutung oder die neuronale Integrität gefährdet, sollte der Eingriff so schnell wie möglich durchgeführt werden. Auch starke Schmerzen können ein Grund zur raschen operativen Versorgung sein. Bei stabilen Frakturen kann zugewartet werden, bis der Patient nüchtern ist, was aber nicht gleichbedeutend mit dem Einhalten einer 6-h-Grenze ist. Vielmehr ist zu empfehlen, dass der Patient am nachfolgenden Tag ins elektive Programm aufgenommen wird. Bei Fehlen von neuralen Läsionen ist die Regionalanästhesie bei älteren Kindern oftmals eine geeignete Technik. Sie setzt aber eine gute Kooperation voraus. Bei jüngeren Kindern wird meist eine Allgemeinanästhesie gewählt. Wenn der Eingriff kurz ist (z. B. eine Reposition), kann i.v. Ketamin ohne tracheale Intubation auch beim nicht nüchternen Kind eine gute Alternative sein (Krauss 2000). Bei längeren Eingriffen erachten wir es als empfehlenswert, eine tracheale Intubation vorzunehmen.
Der abdominale Notfall Das Spektrum der Krankheiten, die zu einer notfallmäßigen Intervention Anlass geben, ist groß. Es reicht von der akuten Appendizitis beim sonst gesunden Jugendlichen in gutem Allgemeinzustand bis zum entgleisten Ileus beim Neugeborenen oder zum schweren Abdominaltrauma. Entsprechend muss sich der Anästhesist vor der Narkoseeinleitung ein Bild vom Zustand des Patienten machen. Flüssigkeitsdefizite, Elektrolytentgleisungen oder schwere Anämie sollten, wenn möglich, vor der Einleitung korrigiert werden. Patienten mit Ileus oder Magenausgangsobstruktion (Pylorusstenose) sollten eine Magensonde bereits im Wachzustand erhalten, um die Flüssigkeit im Magen zu entleeren und damit das Aspirationsrisiko zu reduzieren. Je nach Schweregrad und Art der Erkrankung sollte in Absprache mit dem Operateur ein Blasenkatheter und/oder ein zentralvenöser Venenkatheter eingelegt werden.
Fremdkörper (Nase bis Magen bzw. Bronchus; 7 Kap. 11) Mit dem Entfernen von Fremdkörpern sollte in der Regel nicht zugewartet werden. Das Risiko einer Komplikation (vollständige Obstruktion der Atemwege, Schleimhautläsion mit Mediastinitisgefahr etc.) übersteigt dasjenige einer Aspiration wegen vollem Magen. Liegt ein Fremdkörper im Ösophagus, so wird zuerst der Atemweg mit einem endotrachealen Tubus gesichert und anschließend der Fremdkörper meistens mittels flexiblem Gastroskop entfernt. Fremdkörper, die am Ösophaguseingang liegen, können manchmal vom Anästhesisten mit einer Magill-Zange entfernt werden, eine endotracheale Intubation im Anschluss ist aber meistens zu empfehlen, um eine korrekte Abklärung residueller Fremdkörper oder Läsionen zu erfassen. Fremdkörper im Bereich der Atemwege stellen besondere Anforderungen an den Anästhesisten. Die Anästhesie-
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24
3
Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
technik wird den lokalen Gepflogenheiten angepasst. Liegt der Fremdkörper intra- oder supraglottisch, kann er eventuell laryngoskopisch entfernt werden; subglottisch gelegene Fremdkörper werden meistens mit dem starren Bronchoskop entfernt. Idealerweise wird die Narkose intravenös eingeleitet. Eine inhalative Einleitung ist jedoch bei schwierigen Venenverhältnissen und stabiler respiratorischer Situation ebenfalls möglich. Zur Laryngoskopie und zum Einführen des starren Bronchoskops empfiehlt sich die Verabreichung eines Muskelrelaxans. Die weitere Anästhesie kann mit Propofol und je nach Bedarf mit einem Opioid weitergeführt werden. Die Beatmung erfolgt über ein Seitenstück des Bronchoskops, über das via einer flexiblen »Gänsegurgel« das Kreissystem des Anästhesisten angeschlossen werden kann. Die notwendigen Manipulationen des Operateurs können eine korrekte O2-Zufuhr bzw. CO2-Elimination beeinträchtigen, eine optimale Zusammenarbeit ist Voraussetzung für die erfolgreiche Entfernung des Fremdkörpers. Falls entsprechende Erfahrung besteht kann die Jet-Beatmung eingesetzt werden. Dabei wird Sauerstoff intermittierend durch eine dünne Metallkanüle in das Laryngoskop bzw. das Bronchoskop hineingeblasen. Der Sauerstoff strömt mit großer Geschwindigkeit aus der Kanüle und nimmt das umgebende Gas mit sich (Venturi-Effekt), so dass die Lunge mit einem O2-Luft-Gemisch beatmet wird. Der Vorteil dieser Methode liegt in der Möglichkeit der ununterbrochenen Arbeit durch den Operateur, der Nachteil das potenzielle Risiko des Barotraumas, wenn die Exspiration durch irgendeinen Grund behindert ist.
Schädel-Hirm-Trauma Nicht selten wird zur Durchführung einer computertomographischen Untersuchung von unkooperativen Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma die Hilfe der Anästhesie angefordert. Liegt ein normaler oder nur leicht verminderter Glasgow-Coma-Score (GCS) vor, besteht das Dilemma in der Entscheidung, ob der (wahrscheinlich nicht nüchterne) Patient für die Untersuchung intubiert werden soll oder nicht. Da es bei dieser Untersuchung nicht um eine differenzierte radiologische Feindiagnostik geht, sondern um den Ausschluss einer intrakraniellen Blutung, können leichte Bewegungsartefakte durchaus toleriert werden. Das Festhalten des Patienten für die nur wenige Minuten dauernde Untersuchung kann deshalb durchaus eine Alternative zu einer tiefen Sedation oder Anästhesie mit dem Risiko der Aspiration oder des Ansteigens eines erhöhten Hirndrucks sein. > Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, die bewusstseinsmäßig kritisch sind (GCS <8), müssen im Allgemeinen intubiert werden. Maßnahmen zum Verhindern eines potenziell erhöhten Hirndrucks sind in dieser Situation zu treffen. Dazu gehören das Vermeiden einer Hyperkapnie, das Vermeiden von Husten und Pressen sowie das Anstreben einer ausreichend tiefen Anästhesie, ohne damit eine Kreislaufinstabilität zu erzeugen.
3.6.2 Eingriffe bei Früh- und Neugeborenen Früh- und Neugeborene sind wegen der Unreife der Organe speziell empfindlich auf Medikamente. Die interindividuelle Variabilität gegenüber bestimmten Dosierungen ist deutlich höher als bei älteren Kindern. Weil zusätzlich spezielle Kenntnisse, Material und Gerätschaften notwendig sind, sollten Patienten in dieser Alterskategorie nur an Zentren operiert werden, die entsprechende Erfahrungen und Einrichtungen haben.
Leistenhernienoperation bei ehemals Frühgeborenen Säuglinge, die vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen sind, gelten definitionsgemäß als Frühgeborene. Es ist bekannt, dass Apnoeanfälle bei diesen Patienten postoperativ gehäuft auftreten. Je kleiner das postkonzeptionelle Alter ist, desto größer ist die Gefahr der Apnoeanfälle. Ein Frühgeborenes mit einem postkonzeptionellen Alter unter 48 Wochen, das eine Anästhesie erhält, sollte postoperativ mindestens 24 h auf einer Station überwacht werden, die so eingerichtet ist, dass Apnoeanfälle entdeckt und entsprechend behandelt werden können. Vielerorts werden diese Eingriffe mit einer Regionalanästhesie durchgeführt (Gerber 2002). Dazu eignet sich sowohl die Spinal- als auch die Kaudalanästhesie. Es konnte gezeigt werden, dass Apnoeanfälle mit dieser Anästhesietechnik seltener auftreten. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Techniken bei wachen, sich wehrenden Kindern anspruchsvoll sind. Zudem muss eine reibungslose zeitliche Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Chirurgen bestehen, da die Wirkung der Anästhesie nach ungefähr einer Stunde wieder nachlässt. Vorausgesetzt, es besteht eine gute postoperative Überwachung, kann für diesen Eingriff durchaus auch eine Intubationsanästhesie kombiniert mit einem Kaudalblock durchgeführt werden, ohne dass eine erhöhte Morbidität für die Patienten bestehen würde.
Ösophagusatresie Die häufigste Variante der Ösophagusatresie ist gekennzeichnet durch eine Fistel zwischen Trachea und distalem Ösophagus und einem oberen, blind endenden Ösophagusstumpf. Ungefähr 30% aller Kinder mit einer Ösophagusatresie haben zusätzliche Missbildungen, die v. a. das Herz und den Gastrointestinaltrakt betreffen. Für den Anästhesisten ist wichtig zu wissen, dass die Knorpelspangen der Trachea im Bereich des Fistelganges häufig unvollständig ausgebildet sind. Damit besteht die Gefahr, dass die stützende Funktion dieser Spangen nicht mehr gewährleistet ist und die Trachea dort zum Kollabieren neigt (Tracheomalazie). Dieses Problem tritt weniger intraals vielmehr postoperativ nach Wiedereinsetzen der Spontanatmung auf.
25 3.6 · Techniken für spezielle Eingriffe
! Cave Wegen der Aspirationsgefahr sollte die Ösophagusatresie während den ersten 24 h nach Geburt operiert werden.
In seltenen Fällen existiert eine zusätzliche Fistel im oberen Bereich der Trachea. Um eine solche Fistel zu diagnostizieren, wird empfohlen, jedes Kind mit Ösophagusatresie, am einfachsten unmittelbar vor dem operativen Eingriff, mit einem starren Bronchoskop zu endoskopieren. Nach Einleiten des Neugeborenen mittels Hypnotikum und Relaxation ist es möglich, dass der Magen durch die Überdruckbeatmung durch die Fistel überdehnt wird, insbesondere dann, wenn nach einer Aspiration oder bei RDS die Lungencompliance niedrig ist. In den allermeisten Fällen besteht das Problem jedoch nur, wenn die Spitze des Tubus direkt vor der Fistel liegt; so kann eine Lageveränderung des Tubus, sei es als Rotation, Vorschieben oder Zurückziehen, das Problem lösen. Erste Erfahrungen bestehen auch mit geblockten Tuben, deren Spitze unmittelbar oberhalb der Karina positioniert wird, und deren Manschette damit die Fistelöffnung obstruiert. Bei offenem Thorax kann die Fistel vom Chirurgen durch Kompression von außen verschlossen werden. Die Position der Fistel und der Tubusspitze bzw. der Tubusmanschette kann während der Beatmung bronchoskopisch identifiziert und optimal positioniert werden. Da kein großer Blutverlust zu erwarten ist, kann die Anästhesie mittels Routinemonitoring überwacht werden. Während der chirurgischen intrathorakalen Manipulationen ist es möglich, dass die großen Atemwege intermittierend obstruiert werden. Ebenso können Zug- und Scherkräfte die Koronarperfusion beeinträchtigen, was sich durch ST-Veränderungen bemerkbar macht. Diese Probleme müssen antizipiert und dem Operateur mitgeteilt werden. Während der Operation sollte man sich vergewissern, dass man einen guten Zugang zu Mund und Nase des Kindes hat, um intraoperativ die gewünschte Magensonde manipulieren zu können. In einzelnen Fällen kann es für den Operateur nützlich sein, die Fistel von oben darzustellen. Dies kann der Anästhesist ermöglichen, indem er während der mechanischen Beatmung eine 2,1-mm-Fiberoptik durch den Trachealtubus vorschiebt und die Fistel sondiert. Postoperativ bleibt das Kind meistens intubiert, da damit die Lungenfunktion und die Analgesie besser kontrolliert werden können.
Zwerchfellhernie Die kongenitale Diaphragmahernie ist eine der am schwierigsten zu behandelnden angeborenen Anomalien. Trotz großer Anstrengungen in der Behandlung (Stickstoffoxid, Hochfrequenzventilation, extrakorporale Membranoxygenation) besteht weiterhin eine bedeutende Mortalität. Funktionell resultiert die Lungenhypoplasie, die Atemwege,
Alveolen und Gefäße betrifft, in einer niedrigen Compliance der Lungen. Die Beatmung ist deshalb schwierig, die Gefahr eines Pneumothorax immer vorhanden. Häufig stellt der ungenügende Gasaustausch den limitierenden Faktor für das Überleben dar. Die Lungengefäße sind nicht nur zahlenmäßig verringert, sie haben auch den physiologischen Prozess der postnatalen Regression der Muskelschicht nicht durchgangen und sind zudem sehr reaktiv. Der resultierende hohe pulmonale Gefäßwiderstand bedeutet in vielen Fällen ein Offenbleiben des Ductus arteriosus mit Rechts-links-Shunt, der die bereits vorhandene Hypoxämie noch verstärkt. Es folgt ein Circulus vitiosus mit Zunahme der Hypoxämie and vermindertem Herzminutenvolumen, der zu einer Azidose führt, die wiederum den pulmonalen Widerstand erhöht und die Zunahme des Rechts-links-Shunts fördert. Dieser hämodynamische Zustand entspricht dem Krankheitsbild der persistierenden fetalen Zirkulation und ist nur schwierig zu beeinflussen. Vor dem chirurgischen Verschluss der Hernie wird das Kind auf der Neugeborenenintensivstation pulmonal und hämodynamisch während einem bis mehrere Tage stabilisiert. Im Idealfall sollte es vor dem Eingriff einen gut kontrollierten pulmonalen Gefäßwiderstand, einen normalen pH und einen verschlossenen Ductus arteriosus haben. Dies kann in vielen Fällen mittels konventioneller Beatmung erfolgen, häufig werden jedoch auch Stickoxid und/ oder die Hochfrequezventilation eingesetzt. Wenn es nicht gelingt, die erwähnten Parameter zu normalisieren sollte die Verlegung in ein Zentrum mit einer ECMO-Einrichtung in Betracht gezogen werden. Meistens ist das Kind schon intubiert, wenn es zur Operation kommt. Ist dies nicht der Fall, muss vermieden werden, dass bei der Beatmung Luft in den Magen gelangt. Zur Sicherheit sollte eine Magensonde für die Elimination von Luft platziert werden, damit der im Thorax zur Verfügung stehende Raum nicht durch luftgefüllte Därme verdrängt wird. > Hauptziel der Anästhesie ist die Vermeidung eines zusätzlichen Anstiegs des pulmonalen Gefäßwiderstandes, deshalb soll jeder mögliche Stressfaktor eliminiert werden: Die Anästhesie sollte tief und das Kind relaxiert sein.
Opiate, z. B. Fentanyl 20–50 μg/kg KG, sollten großzügig verwendet werden. Um die Hypnose sicherzustellen, kann z. B. Midazolam i.v. (0,1 mg/kg KG) wiederholt verabreicht werden. Alternativ wird Propofol (1–3 mg/kg KG/h) infundiert. Auf Inhalationsanästhetika wird meist verzichtet, da bei einem hohen pulmonalen Widerstand die Funktion einer kritisch belasteten rechten Kammer zusätzlich verschlechtert wird. Lachgas ist wegen der Volumenzunahme der gashaltigen Darmabschnitte kontraindiziert. Idealerweise wird versucht, eine Normo- oder Hyperventilation mit möglichst tiefen Atemwegsdrücken zu erreichen, was trotz hoher Atemfrequenzen häufig nicht gelingt. Aus diesem Grund ist ein Respirator hilfreich, der die Verabrei-
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Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
chung von NO und Hochfrequenzoszillation zulässt. Dazu wird das Gerät, mit dem das Kind auf der Intensivstation beatmet wurde, im Operationssaal eingesetzt. Das Monitoring entspricht dem bei andern größeren Eingriffen in der Neugeborenenperiode. Eine intraarterielle Kanüle soll, wenn möglich, eingelegt werden. Eröffnet der Chirurg das Abdomen über einen Längsschnitt, besteht die Möglichkeit, einen liegenden Nabelarterien- oder Nabelvenenkatheter, intraoperativ für Monitoring und Flüssigkeitszufuhr zu belassen. Der Blutverlust ist meist gering, Transfusionen sind selten notwendig. Postoperativ werden die Patienten in anästhesiertem und relaxiertem Zustand auf die Intensivstation zurückverlegt. Die postoperative Behandlung unterscheidet sich nicht wesentlich von der präoperativen.
Omphalozele und Gastroschisis Die Gastroschisis ist ein Defekt in der Abdominalwand, der von der Nabelschnur durch eine Hautbrücke getrennt ist. Embryologisch gesehen ist die Omphalozele immer von einer Membran bedeckt, bei Geburt kann sie aber rupturiert sein. Die Omphalozele ist häufig mit anderen Fehlbildungen assoziiert, wie Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, kongenitale Herzvitien und urogenitalen Fehlbildungen. Im Operationssaal besteht die Gefahr von Temperatur- und Flüssigkeitsverlusten. Entsprechend müssen Vorkehrungen zur Erhaltung von Normothermie und Normovolämie getroffen werden. Die üblichen präoperativen Tests müssen durchgeführt werden, wobei v. a. eine metabolische Azidose diagnostiziert und vermieden bzw. mit Volumensubstitution und eventuell Bikarbonat korrigiert werden muss. Venöser Zugang, Magensonde und Urinkatheter gehören zu den obligaten Vorbereitungen. Liegt ein großer Defekt vor, kann nach Einleitung der Anästhesie eine arterielle Kanüle eingeführt werden. Obwohl der Magen in jedem Fall abgesaugt werden soll, darf nicht davon ausgegangen werden, dass kein Aspirationsrisiko mehr besteht. Es soll deshalb eine »schnelle Einleitung« durchgeführt werden. Wenn mit einer postoperativen Nachbeatmung gerechnet werden muss, kann Fentanyl großzügig dosiert werden (20–50 μg/kg KG). Als Hypnotikum können Benzodiazepine oder niedrige Konzentrationen von Inhalationsanästhetika (z. B. Sevofluran 1–2% oder Desflurane 3–5%) eingesetzt werden. Der Blutverlust ist im Allgemeinen klein, hingegen kann der Drittraumverlust groß sein. Er sollte mit Vollelektrolyt- (z. B. Ringer-Laktat) und Eiweißlösungen (diese Neugeborenen sind häufig hypoproteinämisch) entsprechend den gemessenen Parametern ersetzt werden. Zur Beurteilung des intravasalen Volumens ist der Blutdruckverlauf die wichtigste Messgröße. Die Lautstärke der Herztöne und der Grad der metabolischen Azidose sind weitere Parameter, die zu dieser Beurteilung herangezogen werden können. Die Urinausscheidung ist intraoperativ trotz adäquater Volumentherapie häufig gering oder gar nicht vor-
handen; falls mehr als 1 ml/kg KG/h ausgeschieden wird, deutet dies auf einen adäquaten Volumenstatus hin. Das Zurückverlagern der eventrierten Organe erhöht den intraabdominalen Druck und beeinträchtigt die Atmung des Patienten. Eine gute Relaxation ist deshalb wichtig. Der intraabdominale Druck kann über eine Magensonde, einen Blasenkatheter oder eine intraperitoneal liegende kleine Drucksonde gemessen werden; steigt er stark an, kann der venöse Rückfluss behindert sein. In solchen Fällen verbietet sich ein primärer Verschluss der Abdominalwand und es muss eine Erweiterungsplastik durchgeführt werden.
Darmobstruktion Ungefähr 25% aller Eingriffe im Neugeborenenalter werden wegen einer Darmobstruktion durchgeführt. Das Hindernis kann partiell oder komplett (= Atresie) sein. Am häufigsten sind Duodenum (Duodenalatresie), Jejunum, Kolon oder Rektum (Rektum- bzw. Analatresie) betroffen. Darmvolvulus, Mekoniumileus im distalen Ileum oder Morbus Hirschsprung werden auf ähnliche Weise symptomatisch. Im Allgemeinen sind die betroffenen Neugeborenen kurz nach der Geburt in einem guten Allgemeinzustand. Wird jedoch die Diagnose nicht sofort gestellt, kann sich der Zustand verschlechtern. Dabei sind die typischen Symptome des Ileus zu beobachten: Dehydratation, Volumenzunahme des Abdomens mit venöser Abflussbehinderung, Elektrolytund Blutgasentgleisung und die Gefahr der Darmruptur mit Mekoniumperitonitis. Zudem besteht Aspirationsgefahr infolge Regurgitation. Die einzelnen speziellen Erkrankungen sind mit einer deutlich erhöhten Inzidenz anderer Anomalien assoziiert. So werden bei der Duodenalatresie in bis zu 70% der Fälle andere Anomalien (z. B. Herzfehler) festgestellt. Wird die Diagnose früh gestellt und sind keine zusätzlichen Fehlbildungen vorhanden, ist die Mortalität klein. Bevor das Kind in den Operationssaal kommt, sollten Elektrolyt- und Blutgasentgleisungen korrigiert werden. Normovolämie sollte aber in jedem Fall vor Operationsbeginn bestehen. Eine Magensonde muss gelegt und der Magen vor der Anästhesieeinleitung sorgfältig abgesaugt werden. Die Anästhesie kann nach Präoxygenierung mit der intravenösen Verabreichung von Thiopental und Succinylcholin eingeleitet werden. Es ist von Vorteil, während der Anästhesie Sevofluran, Desfluran oder Isofluran zu verwenden und auf lang wirksame Opiate zu verzichten, da im Allgemeinen das Kind postoperativ sofort extubiert werden kann. Sind die Därme längere Zeit gegenüber der Umgebungsluft exponiert, kann der Volumenverlust groß sein, entsprechend ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Da eine Überdehnung der Därme mit Luft bestehen kann, verzichtet man normalerweise auf Lachgas. Postoperativ kann zusätzlich Morphin titriert werden.
Nekrotisierende Enterokolitis Frühgeborene sind vorwiegend betroffen. Die nekrotisierende Enterokolitis (NEC) ist durch eine Entzündung der
27 3.6 · Techniken für spezielle Eingriffe
Darmwand gekennzeichnet; in Extremfällen kommt es zu Infarkten und Nekrosen der Darmwand mit anschließender Perforation. Die Krankheit kann häufig konservativ behandelt werden (enterale Nahrungskarenz, Korrektur von Flüssigkeitsdefiziten, optimale Oxygenierung, Antibiotika etc.); nur beim Auftreten von Nekrosen und Perforationen ist eine chirurgische Intervention notwendig. Da diese Patienten fast immer vor der Operation auf einer Intensivstation liegen, sind im Allgemeinen keine speziellen Vorbereitungen notwendig. Manchmal ist es nicht möglich, die Kinder präoperativ zu stabilisieren. Sie müssen dann trotz schlechtem Allgemeinzustand operiert werden. Ist ein Transport in den Operationssaal unzumutbar, wird der Eingriff vielerorts auch in der Intensivstation durchgeführt. Eine bestehende Hypovolämie ist vor dem Eingriff zu korrigieren. Meistens sind die Patienten bereits intubiert, sonst muss eine Ileuseinleitung durchgeführt werden. Ist das Kind hämodynamisch instabil, kann Ketamin dem Thiopenthal vorgezogen werden. Während der Anästhesie sollen die Regeln der Betreuung von Frühgeborenen eingehalten werden, d. h. es wird besonders auf die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur und auf die Vermeidung einer Hyperoxie geachtet. Da diese Kinder immer nachbeatmet werden, können für die Analgesie Opioide (Fentanyl) großzügig eingesetzt werden. Niedrige Konzentrationen von Inhalationsanästhetika (Sevoflurane 0,5–1% oder Desflurane, 2–3%) sichern eine ausreichende Hypnose. Auf Lachgas wird wegen der Überdehnung der Därme verzichtet. Intraoperativ ist das Hauptproblem die Aufrechterhaltung der hämodynamischen Stabilität und Temperatur. > Regelmäßige Blutdruckmessung, Kontrolle der Urinausscheidung, Pulsoxymetrie sowie häufige Messung der Blutgase sind unabdingbare Voraussetzungen für eine optimale Betreuung. Große Mengen Flüssigkeit (20 ml/kg/h oder mehr) müssen je nach Befund in Form von Elektrolytlösung und Eiweiß zugeführt werden.
Zudem sollte eine Erhaltungsinfusion kontinuierlich verabreicht werden. Blut sollte bereitstehen und eine Azidose sofort mit Natriumbikarbonat korrigiert werden. Das Kind wird beatmet im Inkubator zurück auf die Intensivstation transportiert. Die Ligatur eines offenen, hämodynamisch signifikanten Ductus arteriosus kann in derselben Operation erfolgen.
3.6.3 Thoraxchirurgische Eingriffe Bei der präoperativen Visite muss sich der Anästhesist sorgfältig über Art und Schweregrad der Lungenerkrankung informieren und außerdem gezielt nach Begleiterkrankungen suchen. Röntgenbilder, Blutgasanalysen und Lungenfunktionstests sind die wichtigsten Informationsquellen. Aus klinischer Sicht gibt neben der obligaten Auskultation
der forcierte Hustenstoß einen nützlichen Hinweis auf die respiratorischen Reserven eines lungenkranken Patienten. Für die Durchführung der Anästhesie sollte die Indikation der arteriellen Kanülierung großzügig gestellt werden. Bei der Auswahl des Narkoseverfahrens sollte auf Lachgas verzichtet werden, zudem muss man sich bei der Planung der Anästhesie Gedanken darüber machen, ob der Patient unmittelbar postoperativ extubiert werden soll oder nicht. In vielen Fällen wird vom Operateur wie bei Erwachsenen eine Ein-Lungen-Anästhesie gewünscht. Dies ist bei großen Kindern im Allgemeinen kein Problem, da Doppellumentuben verschiedener Größen zur Verfügung stehen. Bei kleinen Kindern unterhalb des 8. Lebensjahres werden spezielle Bronchusblocker benötigt. Diese werden unter kontrollierter Beatmung fiberoptisch am gewünschten Ort eingelegt. Die Ein-Lungen-Anästhesie ist bei Neugeborenen und Säuglingen möglich. Allerdings existiert kein »Standardverfahren« und die angewandten Methoden (einseitige Intubation, Bronchusblocker) sind meistens zeitaufwändig und führen nicht immer zum erwünschten Erfolg. In vielen Fällen sind sie aber auch nicht absolut notwendig, da der Operateur Lungenanteile, die ins Operationsgebit prolabieren, ohne große Probleme komprimieren kann. Die postoperative Analgesie kann mit einem Periduralkatheter sichergestellt werden. Das Einlegen eines thorakalen Katheters beim schlafenden Kind ist mit Risiken verbunden und nicht unumstritten. Man kann alternativ den Katheter lumbal einführen und Morphin epidural verabreichen, das durch die Ausbreitung im Periduralraum bis nach thorakal meistens zu einer ausreichenden postoperativen Analgesie führt. Allerdings sollten solche Patienten auf einer Intensivpflegestation überwacht werden.
Kongenitales lobäres Emphysem, kongenitale Lungenzysten Beide Erkrankungen, obwohl embryologisch und pathologisch-anatomisch unterschiedlich, können im Neugeborenalter auftreten und zu ähnlichen Symptomen und anästhesiologischen Problemen führen. Beide Krankheiten können sich sofort nach der Geburt als schweres Atemnotsyndrom mit einseitigem Auskultationsbefund manifestieren, aber auch über Monate asymptomatisch bleiben. Die Entfernung der befallenen Lungenabschnitte per Thorakotomie stellt meist die Therapie der Wahl dar. Das Ausmaß der Atmungsbeeinträchtigung hängt davon ab, ob und wie stark die befallenen Lungenabschnitte überbläht sind. Dies kann einerseits zu einer Kompression und Atelektasen der ipsilateralen normalen Lungenlappen führen und andererseits zu einer Mediastinalverschiebung und Beeinträchtigung der Expansion der kontralateralen Lunge. Die Ursache der Überblähung ist ein Ventilmechanismus, der sowohl bei Spontanatmung als auch bei kontrollierter Beatmung vorkommt und beim Lobäremphysem häufiger auftritt als bei Lungenzysten
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Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
Präoperativ sind die Kinder im Allgemeinen nicht intubiert, sodass sich der Anästhesist gut ein Bild über die Atemmechanik und den Schweregrad der Dyspnoe machen kann. Neben den üblichen präoperativen Maßnahmen sind Blutgase, Thoraxbild sowie der Ausschluss eines kongenitalen Herzvitiums die wichtigsten Untersuchungen. Eine Bronchoskopie trägt in der Regel nichts zur Diagnosestellung bei und hat kaum therapeutische Konsequenzen. Die kontrollierte Beatmung ist wegen des Risikos der Überblähung potenziell gefährlich. Es wurde deshalb vorgeschlagen, diese Kinder in Spontanatmung unter Sevofluran zu intubieren und zu operieren. Erfahrungsgemäß ist dies ein schwieriges Unterfangen, wenn Hypoxämie und starke Kreislaufdepression vermieden werden sollen. Eine eventuelle Zunahme der Hyperinflation ist nur gefährlich, solange der Thorax noch geschlossen ist. > Es wird deswegen empfohlen, das Kind erst in Anwesenheit des Chirurgen zu relaxieren, zu intubieren und manuell zu beatmen. Das Vermeiden von hohen Beatmungsdrucken reduziert das Risiko einer Volumenzunahme der Zyste bzw. der Emphysemblase und damit einer Kompression der restlichen Lungenabschnitte.
Die Anästhesie sollte ohne Lachgas mit Inhalationsanästhetika und einem Opioid durchgeführt werden. Evtl. flüssigkeitsgefüllte Lungenzysten können sich bei der Präparation in den Bronchialbaum entleeren und sollten dann raschmöglichst abgesaugt werden. Postoperativ muss entschieden werden, ob man das Kind intubiert auf der Intensivpflegestation weiter betreuen möchte oder ob man die sofortige Extubation, die häufig möglich ist, anstreben sollte.
Mediastinale Raumforderungen Die häufigste mediastinale Tumorform ist das Lymphom, das mit Chemotherapie behandelt werden kann. Zur Sicherstellung der histologischen Diagnose ist manchmal eine Thorakotomie mit Probeexzision notwendig. Durch die Kompression der großen Luftwege können diese Tumoren Obstruktionen der großen Atemwege verursachen (Hammer 2004; Erdös 2005). Es ist wichtig, den Schweregrad dieser Obstruktionen und die dadurch hervorgerufenen Symptome abzuschätzen. Wenn Rückenlage wegen Zunahme der Atembeschwerden nicht mehr toleriert wird, liegt eine hochgradige Obstruktion vor. Eine Sprechdyspnoe im Sitzen sollte für den Anästhesisten ein Alarmzeichen sein. Bildgebende Verfahren (Lungenröntgen, Computertomographie usw.) geben Aufschluss darüber, wo und in welchem Ausmaß der Tumor die Atemwege komprimiert. Dies ist wesentlich für die Beurteilung, ob die Obstruktion mit Hilfe eines Tubus überbrückt werden kann, falls nach der Anästhesieeinleitung Probleme auftreten sollten. In dieser Phase muss immer damit gerechnet werden, dass sich die
Symptome verschlechtern, da der Tonus der Atemmuskulatur wegfällt, der noch dazu beigetragen hat, die intrathorakal gelegenen Atemwege offen zu halten. Ist die Atmung stark eingeschränkt und obstruiert der Tumor große Teile der Trachea und der Hauptbronchien, muss u. U. ganz auf eine Anästhesie verzichtet werden. Die Chemotherapie oder die Strahlentherapie muss in solchen Fällen ohne histologische Diagnose begonnen werden. Eine Maskeneinleitung mit Sevofluran, Lachgas und Sauerstoff kann gewählt werden. Die Atmung wird möglichst bald unterstützt und allmählich ganz übernommen. Ist die Beatmung unter Kontrolle, wird ein Relaxans gegeben, um die Laryngoskopie und Intubation zu erleichtern. Man strebt im Allgemeinen nicht an, die Verengung mit dem Trachealtubus zu passieren; er sollte jedoch nicht gekürzt werden, damit immer die Möglichkeit besteht, ihn am Hindernis vorbeizuschieben. Ist damit zu rechnen, dass der operative Eingriff nicht zum Lungenkollaps führt (Biopsie aus dem vorderen Mediastinum), kann eine Ketamin-Anästhesie in Spontanatmung ein gangbarer Weg sein. Bei schweren Obstruktionen kann es unter Umständen ratsam sein, das Kind während der ersten Tage der Therapie intubiert zu lassen. Die Wirkung der Therapie ist oft dramatisch, der Tumor kann schnell an Größe abnehmen.
3.7
Vaskuläre Zugänge
Gefäßzugänge sind ein wichtiger Bestandteil der anästhesiologischen Versorgung und können mit geeigneten Techniken und Materialien auch bei sehr kleinen Kindern fast immer perkutan gelegt werden. Damit wachen Kindern die Angst vor Nadelstichen erspart werden kann, besteht die Möglichkeit, Punktionen nach medikamentöser Prämedikation, topischer Lokalanästhetikaapplikation (z. B. EMLA) oder Lachgas-Sauerstoff-Inhalation durchzuführen. Ein peripherer Zugang wird bei fast allen anästhesierten Kindern gelegt, damit Wirkstoffe, Infusionen oder Transfusionen zugeführt werden können, und um postoperativ eine systemische Schmerztherapie durchzuführen. Sehr kurze Maskennarkosen, z. B. für Paukendrainagen oder Fädenentfernungen, werden manchmal auch ohne Venenzugang durchgeführt. Zentralvenöse Katheter können bei Kindern aller Altersklassen perioperativ und während intensivmedizinischer Behandlung eingelegt werden, um den zentralvenösen Druck zu messen, vasoaktive Wirkstoffe zu verabreichen, Blutproben abzunehmen, die Kinder postoperativ parenteral zu ernähren und die Verabreichung von Antibiotika über längere Zeit zu vereinfachen. In einzelnen Fällen stellen zentralvenöse Zugänge bei Kindern mit schlechten oder thrombosierten peripheren Venen die einzige Möglichkeit eines Venenzuganges dar. Bei adäquater Technik, Erfahrung und Material können zentralvenöse
29 3.8 · Flüssigkeitstherapie
Katheter bei Kindern aller Altersklassen fast immer perkutan angelegt werden, wenn sie zeitlich befristet notwendig sind. Bei chronisch kranken Kindern oder Kindern mit malignen Erkrankungen, die einen zentralvenösen Zugang längerfristig, z. B. für eine Chemotherapie benötigen, werden zentralvenöse Zugänge häufig nach perkutaner Venenpunktion durch ein Peel-Away-Schleusensystem subkutan getunnelt implantiert (Portsysteme, Broviac-Katheter). Zentralvenöse Katheter können bei Kindern wie bei Erwachsenen über die Vv. jugularis interna und externa, die V. subclavia, die V. femoralis eingelegt oder über periphere Venen nach zentral vorgeschoben werden. Die intraossäre Punktion ist ein einfacher Zugang in Notfallsituationen, in denen ein intravenöser Zugang nicht schnell genug gefunden werden kann. Das rote Knochenmark steht über Sinusoide in direkter Verbindung zum venösen System und kann deshalb zur Verabreichung von Medikamenten und Flüssigkeiten benutzt werden. Die korrekte Lage der Nadelspitze kann durch Aspiration von Knochenmark verifiziert werden. Das aspirierte Knochenmark kann auch für Laboruntersuchungen verwendet werden, was in Notfällen nützlich sein kann. Natrium-, Kalium-, Harnstoff-, Kreatinin-, Glukose- und Hämoglobinkonzentrationen, pH-Wert, CO2-Partialdruck und Basenüberschuss weichen nur geringfügig von Werten im Venenblut ab, lediglich die Leuko- und Thrombozytenzahlen unterscheiden sich deutlich. Eine intraossäre Punktion wird am häufigsten im Bereich des proximalen medialen Tibiaplateaus, 1–2 cm unterhalb der Tuberositas tibiae und medial der Mittellinie durchgeführt. Zur Punktion sind spezielle intraossäre Nadeln verfügbar, es können aber auch gewöhnliche Knochenmarknadeln, wie sie für diagnostische Punktionen gebräuchlich sind oder kurze, kräftige Spinalnadeln mit Mandrin verwendet werden. Bei der Punktion der Tibia wird die Nadel leicht nach kaudal, weg von der Epiphysenfuge gerichtet.
3.8
Flüssigkeitstherapie
Bei kleinen Operationen kann eine Infusionstherapie überflüssig sein, bei großen Operationen muss sie den speziellen Erfordernissen des Kindes angepasst werden. Die größten Unterschiede im Wasser- Elektrolyt-Haushalt betreffen das erste Lebensjahr. Je kleiner ein Kind ist, desto größer ist sein Flüssigkeitsbedarf im Verhältnis zum Körpergewicht. Das Blutvolumen beträgt bei Frühgeborenen 90 ml/kg KG, bei Neugeborenen und Säuglingen 80 ml/kg KG und bei älteren Kindern und Erwachsenen 60–70 ml/kg KG. Der perioperative Flüssigkeitsbedarf setzt sich aus den 4 Teilmengen zusammen: 4 Präoperative Defizite 4 Erhaltungsbedarf 4 Intraoperativer Korrekturbedarf 4 Blutverlust
Präoperatives Flüssigkeitsdefizit. Vorausgesetzt, die prä-
operative Nüchternzeit ist kurz, liegt bei einem gesunden Kind kein präoperatives Flüssigkeitsdefizit vor. Lang dauernde Nüchternzeiten sind unnötig und sollten vermieden werden, da die Kinder sonst unzufrieden werden und schwieriger zu betreuen sind. Es wird empfohlen, nach einer normalen Mahlzeit eine Karenz von 6 h einzuhalten, bevor mit einer Anästhesieeinleitung für einen elektiven Eingriff begonnen wird. Klare Flüssigkeiten können für elektive Eingriffe bis 2 h vor Anästhesieeinleitung verabreicht werden. Das Flüssigkeitsdefizit kann bei kranken oder verunfallten Kindern aufgrund verschiedener Parameter abgeschätzt werden. Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen einem langsam (über Tage) sich entwickelnden Volumenverlust (z. B. Gastroenteritis, Ileus) oder einem plötzlich auftretenden Volumenverlust (z. B. Trauma). Unabhängig von der Ätiologie muss zuerst die Hypovolämie und in zweiter Linie eine Elektrolytentgleisung korrigiert werden. Besteht eine Hypovolämie, so muss mit der initialen Flüssigkeitstherapie mit Vollelektrolytlösung (NaCl oder Ringerlaktat) sofort begonnen werden, ohne dass Laborresultate vorliegen. Im Allgemeinen werden 10 ml/kg rasch zugeführt und wiederholt, bis die Zeichen der Hypovolämie verschwunden sind. Besteht eine ausgeprägte Hypovolämie, kann ein künstliches Kolloid (Hydroxyethylstärke oder Gelatine) verwendet werden. Blut soll nur transfundiert werden, wenn ein großer Blutverlust offensichtlich ist. Wenn immer möglich, sollten präoperative Defizite bereits vor Narkosebeginn ausgeglichen werden. ! Cave Keinesfalls darf ein präoperatives Defizit mit Infusionen mit einem niedrigen Natriumgehalt (unter 130 mmol/l) ersetzt werden, da sonst die Gefahr einer Wasserintoxikation droht.
Erhaltungsbedarf. Der Erhaltungsbedarf ersetzt die unter normalen Verhältnissen entstehenden Flüssigkeitsverluste. Weil kleinere Kinder größere Wasserverluste haben, hat sich die 4–2–1-Regel bewährt: 4 ml/kg KG/h für die ersten 10 kg (<10 kg), zusätzlich 2 ml/kg/h für die zweiten 10 kg (10–20 kg) und zusätzlich 1 ml/kg KG/h für jedes weitere Kilogramm über 20 kg. Ein Vorschulkind mit 25 kg hat demnach einen Erhaltungsbedarf von 65 ml/h (10 × 4 ml/ kg KG/h + 10 × 2 ml/kg KG/h + 5 × 1 ml/kg KG/h). Für den Erhaltungsbedarf werden meistens Vollelektrolytlösungen, bei über einjährigen Kindern ohne und bei Neugeborenen mit 1–2% Glukose verwendet. Intraoperativer Korrekturbedarf. Während der Operation entstehen zusätzliche Flüssigkeitsverluste durch Gewebetraumata, Verdunstung und Drittraumverluste. Zum Ausgleich des intraoperativen Korrekturbedarfs können nach grober Schätzung 2 ml/kg KG/h für Operationen mit gerin-
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Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
gem Gewebetrauma und 4–6 ml/kg/h für Operationen mit mittlerem bzw. hohem Gewebetrauma angesetzt werden. Der intraoperative Korrekturbedarf ist bei thorako- oder laparoskopisch durchgeführten Operationen niedriger und bei offen durchgeführten Operationen höher anzusetzen (Verdunstungsverluste). Besonders bei abdominellen Eingriffen mit Darmexposition kann der intraoperative Korrekturbedarf auch wesentlich höher liegen. Der Ersatz des intraoperativen Korrekturbedarfs erfolgt mit Vollelektrolytlösungen. Blutverlust. Eine direkte Messung des Blutvolumens ist mit
einfachen Methoden nicht möglich. Der Blutverlust wird deshalb perioperativ indirekt durch Beobachten des Operationsfeldes, der Füllung des Auffangbehälters, der Gewichtszunahme von Tupfern und Tüchern und aus Kreislaufparametern abgeschätzt. Bei höhergradigem chirurgischem Blutverlust wird das Blutvolumen zunächst mit Vollelektrolytlösungen in der dreifachen Menge oder mit einer Kolloidlösung (Plasmaproteine oder Proteinersatzlösungen) in derselben Menge des geschätzten Verlustes aufrechterhalten. Gleichzeitig werden die Hämoglobinkonzentrationen engmaschig kontrolliert. Die Indikation zur Bluttransfusion wird individuell gestellt. Wenn Normovolämie erhalten wird, tolerieren Kinder auch sehr niedrige Hämoglobinkonzentrationen gut.
3.9.1 Kaudalanästhesie > Die Kaudalanästhesie ist das am häufigsten bei Kindern eingesetzte rückenmarksnahe Blockadeverfahren. Sie ist technisch einfach und sehr sicher, weil die Punktion in großem Abstand von vulnerablen Nervenstrukturen durchgeführt wird. Die größte Gefahr besteht in einer nicht erkannten systemischen Injektion von Lokalanästhetika.
Meistens wird die Kaudalanästhesie als Ergänzung zur Allgemeinanästhesie und zur postoperativen Schmerzbekämpfung eingesetzt, in selteneren Fällen (z. B. bei ehemaligen Frühgeborenen, 7 Kap. 3.6.2) auch als alleiniges Anästhesieverfahren. Über den Kaudalkanal kann der Epiduralraum mit Lokalanästhetika gefüllt werden, wobei die erreichte Höhe in etwa proportional dem applizierten Injektionsvolumen ist. Katheter können von kaudal her in den Epiduralraum nach oben geschoben werden. In der Regel reicht es aus, wenn die Katheter nur wenige cm in den Epiduralraum eingeführt werden. Wegen der anatomischen Nähe zum Anus ist das Infektionsrisiko für Kaudalkatheter erhöht. Deshalb ist es günstig, die Liegedauer der Katheter auf 24 h zu begrenzen oder die Katheter subkutan zu tunneln.
3.9.2 Epiduralanästhesie 3.9
Regionalanästhesie
Besonders Kinder im Vorschul- und frühen Schulalter fürchten punktionsbedingte Schmerzen und schätzen es, wenn sie während einer Operation schlafen können. Eine Regionalanästhesie wird deshalb bei Kindern fast immer in Kombination mit einer Allgemeinanästhesie eingesetzt. Bei kooperativen Kindern ist auch eine Regionalanästhesie ohne Allgemeinanästhesie möglich. Eine bereits präoperativ nach der Anästhesieeinleitung angelegte Blockade mit langwirkenden Lokalanästhetika führt zu einer guten intra- und postoperativen Schmerzdämpfung und zu einer Verminderung des Verbrauchs von Anästhetika und zusätzlichen Analgetika. Die Kinder wachen postoperativ schneller auf und sind im Aufwachraum weitestgehend schmerzfrei. Im Vergleich zu einer systemischen Opioidtherapie treten unerwünschte Wirkungen, z. B. Übelkeit und Erbrechen, Sedierung und Atemdepression seltener auf und besonders nach großen thorakalen oder abdominellen Operationen kann die Lungen- und Darmfunktion günstig beeinflusst und die postoperative Stressreaktion gedämpft werden.
Die Epiduralanästhesie eignet sich vor allem für orthopädische Eingriffe der unteren Extremitäten sowie für Abdominaleingriffe. Wenn für einen Epiduralkatheter eine längere Liegedauer geplant ist, hat der lumbale Zugang wegen der größeren Entfernung des Punktionsortes zum Anus aus hygienischen Gründen Vorteile. Die postoperative Verabreichung von Lokalanästhetika über den Epiduralkatheter garantiert eine gute Analgesie für Unterbaucheingriffe, reicht jedoch häufig für Oberbaucheingriffe nicht aus. Ähnlich wie für thorakale Eingriffe kann in diesen Fällen Morphin epidural verabreicht werden (7 Kap. 3.6.3).
3.9.3 Penisblockade Diese Blockade wird häufig für Zirkumzisionen oder Hypospadieoperationen angewendet. Die Technik ist einfach und die Blockade wird nach Einleitung der Anästhesie durchgeführt. Die beiden Penisnerven liegen ungefähr bei 2 und 10 Uhr, also auf beiden Seiten der dorsalen Mittellinie. Sie werden an der Basis des Penisschafts im subpubischen Raum blockiert. Die Einstichstellen der Nadel befinden sich knapp unterhalb der Symphyse ungefähr 0,5–1 cm seitlich der Mittellinie (je nach Größe des Patienten). Eine dünne Nadel (25 G oder 27 G) wird in leicht kaudaler und medialer Richtung (je ca. 80°) vorgeschoben.
31 3.10 · Postoperative Überwachung und Schmerztherapie
Nach Durchstechen der Haut kann vorerst ein leichter Widerstand überwunden werden, der aber nicht immer spürbar ist (oberflächliche Schicht der Abdominalfaszie). Wird die Nadel weiter vorgeschoben, spürt man regelmäßig den Durchtritt durch die tiefe Schicht der Abdominalfaszie, wonach die Nadelspitze sich im subpubischen Raum befindet. Es wird jeweils 0,1 ml/kg KG 0,5 %-iges Bupivacain ohne Adrenalin beidseits der Mittellinie gespritzt
3.9.4
Ileoinguinalblockade
Die Ileoinguinalblockade kann zur intra- und postoperativen Schmerzlinderung bei Leistenschnitt angewendet werden und wird deshalb in Allgemeinanästhesie durchgeführt. Die Blockade ist eine Alternative zur Kaudalanästhesie. Als Lokalanästhetikum wird z. B. Bupivacain 0,25% verwendet; man gibt 0,5ml/kg KG pro Seite. Das Ziel ist, den N. ilioinguinalis und den N. iliohypogastricus bei ihrem Durchtritt durch die Faszien bzw. Muskeln der lateralen unteren Bauchwand zu blockieren. Damit man ein gutes Gefühl für die Strukturen hat, empfiehlt es sich, eine Kanüle mit kurzem Schliff zu verwenden. Der Einstich erfolgt 1–2 cm medial der Spina iliaca anterior superior. Zuerst wird die Nadel nach lateral und etwas inferior gerichtet und weiter eingestochen, bis man das Os ileum erreicht. Die halbe Dosis des Lokalanästhetikums wird dann langsam injiziert, während die Nadelspitze zurückgezogen wird, bis sie subkutan liegt. Nun wird von derselben Einstichstelle aus die Nadel nach inferior und medial vorgeschoben. Die beiden Nerven durchtreten in diesem Bereich den M. obliquus internus. Um in die richtige Schicht zu gelangen, muss deshalb der M. obliquus externus durchstochen werden, was im Allgemeinen als diskreter Klick empfunden wird. Der Rest des Anästhetikums wird nun fächerförmig verteilt.
3.9.5
Infiltrationsanästhesie
Vor der Hautnaht kann die Wunde z. B. mit 0,2–0,5 ml/ kg KG Bupivacain 0,5% infiltriert werden. Die entstehende analgetische Wirkung ist nach kleineren Eingriffen fast immer ausreichend. Die Wundinfiltration ist besonders bei kleineren, oberflächlichen Eingriffen, z. B. Leistenherniotomien eine effektive und fast risikolose Methode.
3.10
Postoperative Überwachung und Schmerztherapie
Nach Operation und Narkose können die Patienten in den Aufwachraum verlegt werden, wenn sie suffizient spontan atmen und die Kreislaufverhältnisse stabil sind. Mit den modernen volatilen und intravenösen Anästhetika sind die
Aufwachzeiten kurz, deshalb ist eine präventive Analgesie mit lokal- oder regionalanästhesiologischen Verfahren, Opioiden oder Nichtopioid-Analgetika besonders wichtig. Weil respiratorische und hämodynamische Komplikationen am ehesten in der frühen postoperativen Phase entstehen, muss eine gute postoperative Überwachung auch nach kleinen operativen oder diagnostischen Eingriffen sichergestellt sein. An den Schnittstellen Operationssaal – Aufwachraum – Kinderstation muss ein guter Informationsfluss über relevante Vorerkrankungen, Besonderheiten der Operation bzw. Anästhesie oder mögliche postoperative Probleme sichergestellt sein.
3.10.1
Postoperative Überwachung
Der Aufwachraum in unmittelbarer Nähe zum Operationsbereich ist günstig, damit Anästhesisten und Chirurgen schnellen Zugang zum Patienten haben. Betreuung und Überwachung der Patienten soll durch speziell geschultes Pflegepersonal erfolgen. An jedem Überwachungsplatz müssen ein Pulsoxymeter, ein Blutdruckmessgerät, ein Absauggerät und eine manuelle Beatmungsmöglichkeit mit Sauerstoffanschluss vorgehalten werden. Bei Bedarf sollte ein Monitor für die Registrierung von EKG und Temperatur verfügbar sein. Die wichtigsten Arzneimittel, insbesondere Notfallmedikamente und Analgetika, sowie Notfallzubehör inklusive Defibrillator müssen schnell verfügbar sein. Die Eltern sollten eine Zutrittsmöglichkeit zum Aufwachraum haben, um ihr Kind beruhigen zu können. > Eine adäquate postanästhesiologische Überwachung muss in jedem Fall gewährleistet sein, auch wenn kein speziell gekennzeichneter Aufwachraum zur Verfügung steht.
Nach Aufnahme in den Aufwachraum werden die vitalen Funktionen klinisch und mit apparativem Monitoring registriert und dokumentiert. Die klinische Überwachung beginnt mit der Einschätzung von Atmung und Kreislauffunktion: 4 Sind Atemexkursionen sichtbar? 4 Ist der Atemweg offen und ein Luftstrom festzustellen? 4 Wie ist die Hautfarbe und die Rekapillarisierungszeit (<1–2 sec)? 4 Fühlen sich die Extremitäten warm an? Stridor, interkostale Einziehungen und paradoxe Atembewegungen werden bei noch schlafenden Kindern nicht selten durch eine Obstruktion der oberen Atemwege verursacht, die durch Seitenlage und Vorziehen des Unterkiefers behoben werden kann. Ist die Atemfrequenz niedrig oder treten Apnoen auf, so muss an einen Opioidüberhang gedacht werden. Können die Kinder nicht richtig strampeln oder ihren Kopf nicht richtig anheben, so kann das an einer
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32
Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
Restwirkung von Muskelrelaxanzien liegen. Bei Kindern mit externer Urinableitung muss sichergestellt sein, dass diese auch richtig fördert. Verbände und Drainagen müssen auf Bluttrockenheit überprüft werden. ! Cave
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Die Hypoxämie wird am einfachsten durch die Pulsoxymetrie erkannt. Routinemäßige und unreflektierte Verabreichung von Sauerstoff kann die zugrunde liegende Ursache der Hypoxie verbergen und die Diagnose verzögern. Atemwegsobstruktionen und durch Hypoventilationen hervorgerufene Atelektasen sind die häufigsten und gefährlichsten unmittelbar postoperativ auftretenden Probleme.
Die wichtigste apparative Überwachungsmethode im Aufwachraum ist die Pulsoxymetrie, mit der respiratorische Probleme frühzeitig erkannt werden können. Arrhythmien und koronare Ischämien sind bei Kindern äußerst selten, deshalb wird ein EKG-Monitoring im Aufwachraum nur in speziellen Fällen durchgeführt. Die nichtinvasive Blutdruckmessung wird von Säuglingen und Kleinkindern in der Aufwachphase oft schlecht toleriert, meistens reicht es aus, wenn sie bei möglicher Kreislaufinstabilität gezielt eingesetzt wird. Kinder können nach der initialen Phase des Aufwachens wieder einschlafen und dann hypoxämisch werden. Klinisch relevante Hypoxämien (SpO2 <90%) werden meistens innerhalb der ersten Stunde beobachtet (. Tab. 3.3). Früh- und Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder sind davon häufiger betroffen als ältere Kinder. Ebenso ist die Inzidenz bei Kindern erhöht, die einen Atemwegsinfekt haben oder deren Eltern rauchen. Bei einer hohen inspiratorischen Sauerstoffkonzentration kann eine Hypoventilation zu einer Kohlendioxidretention mit respiratorischer Azidose führen, dabei können die pulsoxymetrisch gemessenen Sauerstoffsättigungswerte normal bleiben. Dem Pflegepersonal sollte deshalb bewusst sein, dass die routinemäßige Sauerstoffzufuhr eine eventuelle Hypoventilation verschleiern kann. Sinkt die Sauerstoffsättigung unter Raumluftatmung auf Werte unter 90% ab, sollte ein Arzt hinzugerufen und mögliche Ursachen eruiert und behoben werden. Verbesserte Lagerung des Kopfes, Absaugen, Stimulation zum Husten und (selten) Naloxonapplikation sind neben der Gabe von Sauerstoff mögliche Behandlungsansätze.
3.10.2
Laboruntersuchungen
Respiratorische, kardiovaskuläre oder metabolische Probleme lassen sich im Aufwachraum am besten durch Blutgasanalysen objektivieren. Behandlungsbedürftige postoperative Störungen äußern sich meistens durch einen Abfall des pH-Wertes. Kohlendioxidretention infolge schlechter Ventilation und metabolische Azidosen mit niedriger Basenabweichung und erhöhter Laktatkonzentration infol-
. Tab. 3.3. Mögliche Ursachen und Therapieoptionen bei postoperativen Sauerstoffsättigungsabfällen Ursache
Erste Therapieoption
Obstruktion der oberen Atemwege
Stimulation, Aufwecken
4 durch Kehldeckel oder Zunge
Unterkiefer nach vorne schieben
4 durch Sekret
Absaugen
Atelektasen
Stimulieren (Husten provozieren)
Hypoventilation
Stimulation, Aufwecken
4 durch Inhalationsanästhetika
Stimulation, Abwarten wenn möglich
4 durch Muskelrelaxanzien
Reversion mit Neostigmin/Atropin
4 durch Opioide
Reversion durch Naloxon
Messartefakte
Korrektur
Laryngospasmus
Unterkiefer nach vorne schieben, O2 Zufuhr, Maske dicht halten
Bronchospasmus
Beta2-Stimulanzien
Subglottisches Ödem
Adrenalin-Vernebler
Aspiration
Absaugen, evtl. Bronchoskopie
Pneumothorax
Diagnose sicherstellen, Entlastung
Lungenödem
O2-Zufuhr, Diuretika
Herzfehler
Hypoxämie vorbestehend?
Pneumonie
O2-Zufuhr, Diagnostik, evtl. Antibiotika
ge von relativer Hypovolämie und schlechter Gewebeperfusion sind die häufigsten Ursachen. Nach großen Operationen mit ausgedehnten Wundflächen und Volumenverschiebungen ist eine Kontrolle der Hämoglobin- oder der Hämatokritwerte wichtig. Bei Neugeborenen und kleinen Säuglingen, nach langen Nüchternzeiten und bei diabetischen Kindern sollten auch Blutglukosekonzentrationen gemessen werden. Mit modernen Blutgasoxymetrie- und Elektrolytsystemen können die genannten Parameter aus einer kapillären oder venösen Blutprobe (Probenvolumen <100 μl) innerhalb von wenigen Minuten bestimmt werden. Der so gemessene Kohlendioxidpartialdruck ist etwa 5 mmHg höher als der arterielle Wert; der pH-Wert und die Basenabweichung unterscheiden sich nur unwesentlich vom arteriellen Wert. Zur exakten Beurteilung der Oxygenierung ist eine arterielle Blutgasanalyse am besten geeignet. > Der Schweregrad einer respiratorischen, kardiovaskulären oder metabolischen Entgleisung kann man sehr gut mit einer Blutgasanalyse quantifizieren.
3
33 3.10 · Postoperative Überwachung und Schmerztherapie
3.10.3
Schmerzkonzept, Schmerzmessung und Schmerzdienst
Schmerzen sollten generell aus ethischen und medizinischen Gründen möglichst präventiv behandelt werden. Kinder, die während längerer Zeit starke Schmerzen gehabt haben, benötigen im Allgemeinen mehr Schmerzmittel. Dies könnte auch daran liegen, dass repetitive starke Schmerzreize das Rückenmark sensibilisieren und die Schmerzschwelle herabsetzen. Bevor eine medikamentöse Therapie eingeleitet wird, soll beurteilt werden, warum das Kind Schmerzen hat. So kann z. B. eine übervolle Blase extreme Unruhe und Schmerzen verursachen. Die Therapie eines Kompartmentsyndroms nach einer Unterschenkeloperation besteht primär nicht in der Verabreichung von Schmerzmitteln; ebenso müssen Druckstellen nach einem Gipsverband zuerst entlastet werden, bevor andere Mittel eingesetzt werden. Bei der Einschätzung von Schmerzen sollen systematisch verschiedene Parameter berücksichtigt werden. Nicht nur die Kinder sollen befragt werden, sondern auch die Eltern, da diese ihr Kind am besten kennen und bei der Beurteilung manchmal sehr hilfreich sind. Physiologische Messgrößen wie Pulsfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz sollen zur Beurteilung hinzugezogen werden. Zur Erfassung der Schmerzstärke sollen Schmerzskalen eingesetzt werden. Für Kinder <4 Jahren eignet sich die Unbehagensund Schmerzskala »KUSS« (. Tab. 3.4). Ab dem 4. Lebensjahr können Kinder häufig ihre Schmerzen schon selbst einschätzen, z. B. mit der bekannten Smiley-Skala. Spätestens ab dem 8. Lebensjahr haben Kinder eine gute Vorstellung von Zahlen und Dimensionen, so dass auch numerische Skalen (0 – keine Schmerzen, 10 – stärkste Schmerzen) oder visuelle Analogskalen verwendet werden können. Damit Schmerzen korrekt erfasst, beurteilt und behandelt werden, haben viele Krankenhäuser einen »Schmerzdienst« eingerichtet. Speziell ausgebildetes Pflegpersonal spielt im Bereich der postoperativen Schmerzen, in der Organisation, dem Setzen von spitaleigenen Standards und dem Durchführen von regelmäßigen Besuchen auf den Abteilungen eine zentrale Rolle. Im Zentrum der Bemühungen muss die Schulung und Ausbildung des gesamten operativ und postoperativ tätigen Personals (Ärzte und Schwestern) stehen.
3.10.4
Unspezifische Schmerztherapie
Verschiedene Einflüsse können das Schmerzempfinden modulieren. Diesen Einflüssen ist genügend Rechnung zu tragen. Im Aufwachraum soll eine ruhige, gelassene Atmosphäre herrschen. Die Eltern sollen die Möglichkeit haben, jederzeit beim Kind zu sein, um es beruhigen zu können. Sobald das Kind ganz wach ist, darf es geeignete Flüssigkeit
. Tab. 3.4. Schmerzmessung bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern unter 4 Jahren Parameter
Ausmaß
Punkte
Weinen
Gar nicht Stöhnen, Jammern Wimmern, Schreien
0 1 2
Gesichtsausdruck
Entspannt, lächelnd Mund verzerrt Grimassieren
0 1 2
Rumpfhaltung
Neutral Unstet Aufbäumen/Krümmen
0 1 2
Beinhaltung
Neutral Strampelnd, tretend An den Körper gezogen
0 1 2
Motorische Unruhe
Nicht vorhanden Mäßig Ruhelos
0 1 2
Gesamt
0–10
und feste Nahrung zu sich nehmen. Allerdings soll darauf geachtet werden, dass das Kind nicht zu viel und nicht zu hastig trinkt oder isst, da sonst Erbrechen häufiger auftritt. Konzentrierte Saccharoselösung wirkt bei Säuglingen analgetisch. Bei starker Unruhe wirkt ein Sedativum manchmal besser als ein Schmerzmittel. Midazolam 0,05–0,1 mg/kg KG i.v. oder 0,3 mg/kg KG rektal kann empfohlen werden. Kleinkinder regen sich manchmal wegen einer Infusion an der Hand auf. Wird sie nicht mehr gebraucht, soll sie entfernt werden.
3.10.5
Medikamentöse Schmerztherapie
Die wichtigsten Wirkstoffgruppen sind Nichtopioid-Analgetika, Opioide und Lokalanästhetika. Nichtopioid-Analgetika, z. B. Paracetamol, sind als Monotherapie bei stärkeren Schmerzen oft nicht ausreichend wirksam. Opioide werden auch bei Kindern am besten bedarfsadaptiert pfleger- oder patientenkontrolliert verabreicht. Durch eine Kombination von verschiedenen Medikamenten mit verschiedenen Wirkmechanismen werden die analgetischen Wirkungen optimiert und die unerwünschten Wirkungen minimiert (multimodale Schmerzbehandlung). In vielen Fällen ist es deshalb günstig, wenn bei einem Patienten mehrere Verfahren verwendet werden, z. B. zunächst ein Nichtopioid-Analgetikum, intraoperativ ein lokales oder regionales Verfahren und postoperativ bei Bedarf zusätzlich Opioide. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit und Sicherheit empfiehlt es sich, auf wenige Wirkstoffe aus jeder Wirkstoffgruppe zu beschränken.
34
Kapitel 3 · Grundlagen der Kinderanästhesie
. Tab. 3.5. Nichtsteroidale Antirheumatika
3
Substanz
Einzeldosis (mg/kg KG)
Dosisintervall (h)
Darreichungsform
Paracetamol
Initial: 40; Folgedosis: 15; Höchstdosis/Tag: 100
6
Oral, rektal, intravenös
Diclofenac
1–2 p.o.
8
Oral, rektal
Ibuprofen
10 p.o.
8
Oral
Mefenaminsäure
15 p.o.
8
Oral, rektal
Ketorolac
0,5 i.v.
6
Oral, rektal, intravenös
> Kinder haben große Angst vor punktionsbedingten Schmerzen; deshalb sollten Analgetika immer schmerzfrei, also intravenös, oral oder rektal, keinesfalls aber subkutan oder gar intramuskulär appliziert werden.
Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR, . Tab. 3.5) Paracetamol ist das am weitesten verbreitete Analgetikum
in dieser Gruppe. Nach rektaler Applikation ist die Resorption verzögert (Stunden) und sehr variabel. Deshalb hat es sich bewährt, Paracetamol bereits präoperativ oral oder rektal zu verabreichen. Mit einer ausreichenden Initialdosis (z. B. 40 mg/kg KG) ist Paracetamol besonders als Basisanalgetikum geeignet. Wegen möglicher Lebertoxizität sollen Tageshöchstdosen von 100 mg/kg KG nicht überschritten werden. Paracetamol ist inzwischen auch in intravenöser Applikationsform verfügbar (z. B. Perfalgan). Andere nichtsteroidale Antirheumatika (z. B. Diclofenac, Ibuprofen, Mefenaminsäure, Ketorolac) hemmen die Prostazyklinsynthese und sind analgetisch und antientzündlich wirksam. Die Applikation nach orthopädischen Eingriffen ist weit verbreitet. Bei Säuglingen werden nichtsteroidale Antirheumatika eher zurückhaltend und bei Neugeborenen wegen der noch eingeschränkten Nierenfunktion nur in begründeten Ausnahmefällen eingesetzt. Wegen einer möglichen vorübergehenden Beeinträchtigung der Thrombozytenfunktion sollten NSAR bei Eingriffen mit erhöhter Blutungsgefahr wie z. B. bei neurochirurgischen Eingriffen möglichst nicht verwendet werden. Die gute analgesiche Wirksamkeit der NSAR nach Tonsillektomien ist unbestritten, sie werden deshalb an vielen Kliniken eingesetzt.
Morphin als Prototyp eines Opiods ist ein reiner μ-Agonist. Seine analgetische Wirkung wie auch seine Nebenwirkungen (Atemdepression) sind dosisabhängig. Dieselben Eigenschaften haben auch Piritramid, Methadon und Pethidin. Tramadol ist weniger stark anagetisch und atemdepressorisch wirksam als Morphin und kann neben der intravenösen Gabe auch in Tropfenform verabreicht werden. Beim Nalbuphin handelt es sich um einen Agonisten-Antagonisten. Diese Substanzklasse ist durch einen »ceiling effect« charakterisiert, was bedeutet, dass trotz Dosissteigerung keine zusätzliche atemdepressorische Wirkung zu erwarten ist, dass allerdings in dem betreffenden Dosisbereich auch die analgetische Wirkung nicht mehr zunimmt. Aus diesem Grund ist Nalbuphin als »sicherer«, aber auch als weniger wirksam als die reinen μ-Agonisten zu betrachten. Verschiedene Verabreichungsformen können unterschieden werden. Grundsätzlich sollte auf intramuskuläre oder subkutane Gabe verzichtet werden. Der postoperative Opioidbedarf ist auch bei Kindern interindividuell sehr variabel. Mit einer bedarfsadaptierten Titration von intravenös verabreichten kleinen Einzeldosen werden diese Unterschiede besser berücksichtigt als mit einer intermittierenden Applikation nach einem starren Schema. Die Opioidtitration kann bei postoperativen Schmerzen von der Anästhesieschwester, -pfleger im Aufwachraum mit Piritramid (Bolusgröße 30 μg/kg KG), Morphin (Bolusgröße 20 μg/kg KG) oder Nalbuphin (100 μg/kg KG) begonnen werden. Nach zwei bis fünf Einzeldosen entsteht fast immer eine ausreichende Analgesie. Nach der letzten Opioidgabe werden die Kinder noch 30 min im Aufwachraum überwacht und können dann auf die Normalstation verlegt werden. Für die Bolusapplikation auf den Abteilungen eignet sich vor allem das Nalbuphin (100 μg/kg KG intravenös) oder das Tramadol (1 mg/kg intravenös oder peroral), da diese Medikamente weniger potent sind als reine μ-Agonisten. Für voraussehbare starke Schmerzen nach großen Eingriffen ist allerdings die Dauerinfusion oder die patientenkontrollierte Analgesie vorzuziehen (. Tab. 3.6). Steht nur
. Tab. 3.6. Patientenkontrollierte Analgesie und Dauerinfusion: verschiedene Standardeinstellungen Wirkstoff
Bolus (μg/kg KG)
Sperrzeit (min)
4-h-Maximaldosis (μg/kg/4 h)
Infusion (μg/kg KG/h)
Morphin
20
10
350
Kein oder 4–20
Piritramid
30
10
500
Keine oder 6–30
Nalbuphin
20
10
Keine
Keine oder 20
Opioide Opioide können bei starken Schmerzzuständen in allen Altersgruppen eingesetzt werden. Allerdings soll der Einsatz bedarfsgerecht erfolgen. Das beinhaltet die richtige Wahl des Mittels, die richtige Dosierung und Applikationsart sowie die adäquate Überwachung.
35 3.10 · Postoperative Überwachung und Schmerztherapie
eine Dauerinfusion zur Verfügung, kann Morphin in einer Dosierung von 20–30 μg/kg KG/h oder Piritramid 30– 40 μg/kg KG/h infundiert werden. Die Opioidapplikation über eine PCA-Pumpe (»patient controlled analgesia«; PCA) ist besonders sicher, wenn die Pumpe von den Kindern selbst bedient wird. Bei sehr häufigen Bolusanforderungen tritt neben dem analgetischen Effekt auch eine sedierende Wirkung auf, so dass die Kinder müde werden und die Pumpe nicht mehr so oft auslösen. Die Plasmakonzentrationen fallen dann wieder ab und eine Überdosierung wird vermieden. Die klinische Überwachung beinhaltet die regelmäßige Registrierung der Atemfrequenz und des Sedationsgrads durch gut ausgebildetes Pflegepersonal. Aus Angst vor Überdosierung werden Opioide häufig nicht in ausreichender Menge verabreicht. Es ist aber bekannt, dass einer ausgeprägten Atemdepression immer eine Zunahme der Sedation vorausgeht. Wache bzw. ansprechbare oder weckbare Kinder jenseits des Säuglingsalters haben nicht plötzlich einen Atemstillstand. Die kontinuierliche Pulsoxymetrie wird vielerorts routinemäßig eingesetzt. Als weitere technische Voraussetzung muss bei einer Schwerkraftinfusion ein Rückschlagventil eingesetzt werden. ! Cave Frühgeborenen und Neugeborenen sollten potente Opioide nur auf einer Intensivpflegestation verabreicht werden, da in dieser Alterskategorie die atemdepressorische Wirkung sehr stark variieren kann und deshalb im Einzelfall nicht voraussehbar ist.
Metamizol Metamizol wirkt analgetisch, antipyretisch und spasmolytisch und wirkt besonders gut bei kolikartigen Schmerzen im Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt. Die spasmolytische Wirkung beruht auf einer Herabsetzung der Erregbarkeit der peripheren glatten Muskulatur und die antipyretische Wirkung kommt durch Beeinflussung des hypothalamischen Wärmezentrums und vermehrte Wärmeabgabe zustande. Metamizol (z. B. 10–20 mg/kg KG) kann peroral oder langsam intravenös verabreicht werden. Da in sehr seltenen Fällen eine Agranulozytose auftreten kann, soll es nicht als Schmerzmittel erster Wahl eingesetzt werden.
Regionalanästhesien Die kontinuierliche Zufuhr von Lokalanästhetika via Katheter ist von großer Bedeutung für die postoperative Schmerzbekämpfung nach großen orthopädischen, urologischen und abdominalchirurgischen Eingriffen. Die Periduralanästhesie schaltet die sympathische Innervation des Darms teilweise aus. Dadurch resultiert ein Überwiegen der parasympathischen Innervation, was sich durch vermehrte Peristaltik äußert. Dieser Nebeneffekt kann für viele Eingriffe erwünscht sein.
Ein häufig verwendetes Dosierungsschema beinhaltet die Gabe von Bupivacain oder Levobupivacain 0,125% in einer maximalen Dosierung von 0,5 mg/kg KG/h (entsprechend 0,4 ml/kg KG/h; Höchstdosis 25 ml/h). Diese Dosierung führt nicht selten zu einer motorischen Beeinträchtigung der unteren Extremitäten und wird von einigen Patienten als unangenehm empfunden. In solchen Fällen kann die Konzentration auf 0,1% oder noch tiefer reduziert werden.
Literatur Clarke WR (1990) The transitional circulation: physiology and anesthetic implications. J Clin Anest 2:192–211 Erdös G, Kunde M, Tzanova I, Werner C (2005) Anästhesiologisches Management bei mediastinaler Raumforderung. Der Anästhesist 54:1215–1228 Frei FJ, Erb T, Jonmarker C, Sümpelmann R, Werner O (2009) Kinderanästhesie, 4. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 1–350 Frei F, Dangel P, Gemperle G et al. (1993) In welchen Spitälern sollen Säuglinge und Kleinkinder operiert werden? Schweizerische Aerztezeitung 74:140–4 Gerber AC, Weiss M (2002) Das ehemalige Frühgerborene mit Leistenhernien: Welches Anästhesieverfahren? Anaesthesist 51:448-56 Hammer GB (2004) Anaesthetic management for the child with a mediastinal mass. Paediatr Anaesth 14:95–7 Jöhr M (1998) Postoperative Schmerztherapie bei Kindern. Anaesthesist 47:889–899 Keenean RL, Shapiro JH, Dawson K (1991) Frequency of anesthetic cardiac arrests in infants: effect of pediatric anesthesiologists. J Clin Anesth 3:433–437 Krauss B, Green S (2000) Sedation and analgesia for procedures in children. N Engl J Med 342:938–45 Morray JP, Geiduschek JM, Ramamoorthy C et al. (2000) Anesthesia related cardiac arrest in children. Anesthesiology 93:6–14 Tait AR, Malviya S (2005) Anesthesia for the child with an upper respiratory tract infection: still a dilemma? Anesth Analg 100:59–65 von Ungern-Sternberg BS, Erb TO, Frei FJ (2006a) Management der oberen Atemwege beim spontan atmenden Kind. Anaesthesist 55:164–70 von Ungern-Sternberg BS, Hammer J, Schibler A (2006b) Decrease of functional residual capacity and ventilation homogeneity after neuromuscular blockade in anesthetized young infants and preschool children. Anesthesiology 105:670–5 Warner MA, Warner ME, Warner DO et al. (1999) Perioperative pulmonary aspiration during the perioperative period. Anesthesiology 90:66–71
3
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4
4 Spezielle enterale und parenterale Ernährung S. Koletzko, B. Koletzko
4.1
Enterale Ernährung – 37
4.2
Parenterale Ernährung – 44
4.1.1 4.1.2 4.1.3
Definition und Kernaussagen – 37 Indikationen und Kontraindikationen – 38 Nährstoffzusammensetzung und Eigenschaften von Trink- und Sondennahrungen – 38 Applikation der EE – 38 Überwachung und Komplikationen – 42 Perioperative Ernährung – 42 Akute Pankreatitis – 43 Darminsuffizienz einschließlich Kurzdarmsyndrom – 43
4.2.1 4.2.2 4.2.3
Definition und Kernaussagen – 44 Indikationen und Kontraindikationen – 45 Zugangswege, Infusionssysteme und Katheterposition – 45 Katheterpflege – 46 Anforderungen – 46 Zubereitung und Applikation der Lösungen – 46 Hauptbestandteile der parenteralen Ernährung – 47 Komplikationen und Überwachung – 50 Überwachungsmaßnahmen bei einer parenteralen Ernährung – 51
4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8
4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7 4.2.8 4.2.9
Literatur – 52
> Die klinische Ernährung spielt in der Kinderchirurgie eine größere Rolle als in der Erwachsenenchirurgie. Bei Kindern und Jugendlichen kommt neben dem Erhaltungsbedarf für die Organfunktionen und dem Bedarf für körperliche Aktivität zusätzlich der hohe Energie- und Substratbedarf für das Körperwachstum hinzu. Das gerade in den ersten Lebensmonaten enorm rasche Wachstum mit einer Verdopplung des Körpergewichtes bei reifen Neugeborenen in nur 4–5 Monaten nach der Geburt und bei Frühgeborenen sogar in nur 6 Wochen, und auch die rasante Differenzierung der Gewebe und Organe hängen von einer auf das Körpergewicht bezogen sehr hohen und ausgewogenenen Substratzufuhr ab. Besonders im frühen Kindesalter kontrastiert dabei der hohe Energieund Substratbedarf mit nur geringen körpereigenen Substratreserven sowie stark limitierten Kompensationsmöglichkeiten durch noch unreife metabolische und renale Funktionen. Auch kurzfristige Nahrungskarenzen in der prä- und postoperativen Phase werden oft nicht gut toleriert. Zahlreiche Studien belegen, dass die postoperative Prognose von der präoperativen Ernährungssituation abhängt. Bezüglich der Nährstoffzufuhr in der postoperativen Phase und bei akuter Pankreatitis hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden: weg von der prolongierten Nahrungskarenz hin zu einer frühen enteralen Ernährung.
4.1
Enterale Ernährung
4.1.1 Definition und Kernaussagen Die enterale Ernährung (EE) ist definiert als Zufuhr von Nährstoffen jenseits des Ösophagus, d. h. direkt in den Magen oder das Jejunum über eine nasogastrale/nasojejunale Sonde oder über eine Gastrojejunostomie. Eine erweiterte Definition umfasst auch die orale Zufuhr von chemisch definierten Trinknahrungen als ausschließliche Ernährungsform, besonders wenn sie zur Therapie einer Krankheit eingesetzt wird. 4 Die EE ist eine sichere und effektive Form der Ernährungstherapie bei pädiatrischen Patienten. 4 Die zur Verfügung stehenden enteralen Formelnahrungen unterscheiden sich erheblich in ihrer Zusammensetzung bzgl. Eiweiß- und Fettkomponenten, Fasergehalt und Nährstoffrelation. Die Wahl muss das Alter und die Grundkrankheit des Patienten berücksichtigen. 4 Eine intragastralen Applikation sollte gegenüber einer jejunalen Gabe bevorzugt werden, da Toleranz und Komplikationsraten niedriger liegen. 4 Technische, metabolische, infektiologische, gastrointestinale und psychologische Komplikationen können während einer EE auftreten. Daher sind eine entsprechende Überwachung, Kompetenz und Protokolle zur Vorgehensweise unabdingbar.
38
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
4 Die Hauptvorteile der EE im Vergleich zur parenteralen Ernährung (PE) sind der Erhalt der gastrointestinalen Funktion, die geringeren Kosten, die einfachere Durchführbarkeit und die höhere Sicherheit.
4.1.2 Indikationen und Kontraindikationen
4
> Eine EE sollte grundsätzlich dann initiiert werden, wenn noch eine Restfunktion des Magendarmtraktes zu erwarten ist, aber eine vollständige orale Ernährung nicht möglich ist.
Absolute Kontraindikationen für eine EE sind: NEC, intes-
tinale Perforation oder Obstruktion, paralytischer Ileus, schwerste intestinale Entzündung, schwere intraabdominell bedingte Sepsis. Relative Kontraindikationen sind eine schwere intestinale Dysmotilität, schwere intestinale Blutung, Darmfistel mit starker Sekretion, unklares schweres Erbrechen oder Durchfall, kurz nach großer abdomineller Operation.
4.1.3 Nährstoffzusammensetzung
und Eigenschaften von Trinkund Sondennahrungen Krankheitsspezifische und individuelle Faktoren müssen bei der Auswahl der Formeldiät berücksichtigt werden. Für Patienten mit diabetischer Stoffwechsellage, Nieren- und Leberinsuffizienz stehen Nahrungen mit spezieller Zusammensetzung zur Verfügung. Bei Nahrungsmittelallergien oder Stoffwechselkrankheiten ist eine besonders genaue Kenntnis der Nahrungszusammensetzung und der individuellen Bedürfnisse des Patienten notwendig (. Tab. 4.1). Voll bilanzierte Formeldiäten stellen die Bedarfsdeckung essenzieller Nährstoffe sicher. Unterschieden werden Säuglingsnahrungen, hochmolekulare, nährstoffdefinierte (Standardnahrungen) und niedermolekulare, chemisch definierte Nahrungen (Aminosäure- und Peptidnahrungen). Eine darüber hinausgehend Unterteilung der bilanzierten Formelnahrungen beruht auf weiteren Charakteristika ihrer Zusammensetzung. Die Standardnahrungen werden zumeist auf der Basis des biologisch hochwertigen Milcheiweißes (Molke, Casein) hergestellt und haben eine Energiedichte von 1,0 kcal/ ml. Sie enthalten keine mittelkettigen Triglyzeride (MCT) und sind meist cholesterinarm, gluten- und fruktosefrei sowie laktosearm. Als Standardnahrungen werden auch mit Ballaststoffen angereicherte Formeldiäten eingesetzt, die etwa 10–15 g Ballaststoffe pro 1000 kcal enthalten. Die Zugabe von Ballaststoffen hat regulierende Einflüsse auf die Darmfunktion und -motilität, die Darmflora und eine trophische Funktion auf die Kolonmukosa. Trotz Erhöhung der Viskosität sind selbst bei Verwendung dünnlumiger Er-
nährungssonden mechanische Komplikationen kaum gehäuft. Die bilanzierten Formeldiäten werden mit verschiedenen Geschmacksrichtungen auch als Trinknahrungen recht gut akzeptiert. Hochkalorische Nahrungen mit einer Energiedichte von meist 1,5 kcal/ml enthalten einen deutlich höheren Fettanteil, so dass die Osmolarität meist nur geringfügig höher ist. Bei Fettassimilationsstörungen werden die fettreichen, hochkalorischen Nahrungen trotz eines meist hohen Anteils an MCT nicht immer gut vertragen. Nahrungen mit einem hohen Anteil an mittelkettigen Triglyzeriden (MCT) werden sowohl als hochkalorische als auch als normokalorische Nahrungen angeboten. MCT sind stärker wasserlöslich als langkettige Triglyzeride, und ihre Hydrolyse zu freien Fettsäuren durch die Pankreaslipase sowie die intestinale Resorption erfolgt rascher und effektiver, so dass sie mit Erfolg bei Patienten mit schwerer Fettmalabsorption eingesetzt werden. Allerdings ist der biologische Brennwert von MCT um mehr als 15% geringer als der von langkettigen Triglyzeriden. ! Cave Bei Gabe sehr großer MCT-Mengen kann es durch die rasche Hydrolyse zu osmotischen Durchfällen, Blähungen und Bauchschmerzen kommen. Deshalb sollte die Zufuhrrate nicht zu schnell gesteigert werden.
Ein hoher Fettanteil an der Energiezufuhr bedingt aufgrund des niedrigen respiratorischen Quotienten (RQ, Quotient zwischen CO2-Produktion und O2-Verbrauch) bei der Oxidation von Fett (RQ~0,7) im Vergleich zur Kohlenhydratverbrennung (RQ ~1,0) bei gleicher Energiezufuhr eine deutlich geringere Kohlendioxidproduktion. Im Falle einer pulmonalen Funktionsstörung mit beeinträchtigter CO2-Abatmung und konsekutiver Hyperkapnie kann deshalb eine Ernährung mit hohem Fettanteil vorteilhaft sein und beispielsweise die Entwöhnung von einer mechanischen Ventilation erleichtern. Eine hochkalorische Ernährung sollte in dieser Situation vermieden werden. Die Osmolarität ist definiert als Konzentration von osmotisch aktiven Teilchen pro Liter. Isotone Formulierungen mit ~300 mOsm/l werden besser vertragen als hochosmolare Lösungen, die einen Wasserflux in den Magen, bzw. das Darmlumen bewirken und so Kreislaufprobleme, Übelkeit, Reflux oder Durchfall verursachen können.
4.1.4 Applikation der EE Wahl der Sonde Die preisgünstigen Sonden aus Polyvinylchlorid (PVC) sind für die Langzeitsondierung nicht geeignet. Sie enthalten Weichmacher, die sich binnen 1–2 Tagen im Körper herauslösen. Die Sonden werden dann hart und spröde und können Drucknekrosen und Verletzungen hervorrufen. Weiche Polyurethan- und Silikonkautschuksonden kön-
39 4.1 · Enterale Ernährung
. Tab. 4.1. Vollbilanzierte Formelnahrungen im Säuglings- und Kindesalter Firma
Name
Geschmack
Energie. Nährstoffrelation, MCT, Ballaststoffe (BST), Osmolarität
Fresenius
Frebini orginal
Neutral
1,0 kcal/ml; 10% P:40% F:50% KH; 18% MCT, 0 g BST/100ml; 185 mosmol/l
Fresenius
Frebini orginal fibre
Neutral
1,0 kcal/ml; 10% P:40% F:50% KH; 18% MCT, 0,75 g BST/100ml; 180 mosmol/l
Fresenius
Frebini energy
Neutral
1,5 kcal/ml; 10% P:40% F:50% KH; 19% MCT, 0 g BLS/100 ml; 285 mosmol/l
Fresenius
Frebini energy fibre
Neutral
1,5 kcal/ml; 10% P:40% F:50% KH; 19% MCT; 1,125 g BLS/100 ml; 275 mosml/l
Fresenius
Frebini energy/ energy fibre Drink
Kakao* Erdbeere Banane Vanille
1,5 kcal/ml; 10% P:40% F:50% KH; 18% MCT, *1,13 g BST/100 ml; 330 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Infatrini 0–1 Jahr
Neutral
1,0 kcal/ml; 10% P:49% F:41% KH; 260 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini L.EN MultiFibre
Neutral
0,75 kcal/ml, 9% P:36% F:55% KH; Keine MCT, 0,8 g BST/100 ml; 190 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini
Neutral
1,0 kcal/ml; 11% P:40% F:49% KH; Keine MCT, 0 g BST/100 ml; 215 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini MultiFibre
Neutral
1,0 kcal/ml; 11% P:40% F:49% KH; Keine MCT, 0,8 g BST/100 ml; 215mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Energy
Neutral
1,5 kcal/ml; 11% P:40% F:49% KH; keine MCT, 0g BST/100ml; 320 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Energy MultiFibre
Neutral
1,5 kcal/ml; 11% P:40% F:49% KH; Keine MCT, 0,8 g BST/100 ml; 320 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Max 7–12 Jahre
Neutral
1,0 kcal/ml; 13% P:38% F:49% KH; keine MCT, 0 g BST/100 ml; 245 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Max MultiFibre
Neutral
1,0 kcal/ml; 13% P:38% F:49% KH; Keine MCT, 1,1 g BST/100 ml; 235 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Max Energy
Neutral
1,5 kcal/ml; 13% P:38% F:49% KH; Keine MCT, 0 g BST/100 ml; 335 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Max Energy MultiFibre
Neutral
1,5 kcal/ml; 13% P:38% F:49% KH; Keine MCT, 1,1 g BST/100 ml; 330 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Alicalm
Vanille
13% P:35% F:52% KH; 1,35 kcal/ml (30%ig); 48% MCT, 0 g BST/100 ml; Mosmol/l (30%ig)
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Drink MultiFibre
Kakao Vanille Erdbeere Banane
1,5 kcal/ml; 9% P:41% F:50% KH; Keine MCT, 1,5 g BST/100 ml; 390 mosmol/l
Novartis
Isosource Junior
Vanille Multifrucht
1,2 kcal/ml; 9% P:35% F:56% KH; 15% MCT, 0 g BST/100 ml; 222 mosmol/l
Nestlé
Clinutren Junior
Vanille
1,0 kcal/ml; 12% P:35% F:53% KH; 20% MCT, 0 g BST/100 ml
Nestlé
Modulen IBD
Neutral Ab 5 Jahren Für M. Crohn (mit TGF-β)
1,0 kcal/ml; 14% P:42% F:44% KH; 26% MCT, 0 g BST/100 ml; 315 mosmol/l
Hipp
Hipp Trink- und Sondennahrung
Huhn in Karotte & Kürbis Rind mit Zucchinigemüse Milch mit Apfel & Birne Milch Banane Ab 1 Jahr Pute mit Mais & Karotte (bei KMPA geeignet)
1,0 kcal/ml; 13% P:36% F:51% KH; Keine MCT, 1 g BLS/100 ml; 357–454 mosmol/l
6
4
40
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
. Tab. 4.1 (Fortsetzung) Firma
Name
Geschmack
Energie. Nährstoffrelation, MCT, Ballaststoffe (BST), Osmolarität
Hydrolysierte vollbilanzierte Sonden- und Trinknahrungen
4
Nestle
Peptamen Junior
Neutral plus Geschmackstoffe Oligopeptiddiät Ab 1 Jahr
1,0 kcal/ml; 12% P:35% F:53% KH; 60% MCT, BST-frei; 270 mosmol/l
Nestlé
Alfaré
Neutral 0–1 Jahr bei KMPA geeignet
0,70 kcal/ml (14,2% -ig); 12% P:43% F:45% KH; 40% MCT, 0 g BST/100 ml; 194 mosmol/l
Nestlé
Althéra
Neutral 0–1 Jahr Bei KMPA geeignet
0,67 kcal/ml; 10% P:46% F:44% KH; Keine MCT, 0 g BLS/100 ml; 302 mosmol/l
Milupa
Aptamil Pregomin
Neutral 0–1 Jahr Bei KMPA geeignet
0,66 kcal/ml; 11% P:41% :48% KH; 50% MCT, 0 g BLS/100 ml; 190 mosmol/l
Milupa
Aptamil Pepti
Neutral 1-1 Jahr Bei KMPA geeignet
0,66 kcal/ml; 10% P:43% :47% KH; 9% MCT, 0 g BLS/100 ml; 250 mosmol/l
Pfrimmer Nutricia
Nutrini Peptisorb
Neutral Oligopeptiddiät für Kinder mit Gewicht von 8–20 kg
1,0 kcal/ml; 11% P:35% F:54% KH; 46% MCT, 0 g BST/100 ml; 295 mosmol/l
Vollbilanzierte Sonden- und Trinknahrung auf Aminosäurenbasis, bei KMPA geeignet Pfrimmer Nutricia
Elemental 028
Freie Aminosäuren Ab 6 Jahren Grapefruit Sommerfrüchte Orange-Ananas
0,86 kcal/ml; 12% P:37% F:51% KH; 30% MCT, 0 g BLS/100 ml; ca. 687–725 mosmol/l
Pfrimmer Nutritica
Neocate infant
Neutral 0–1 Jahre
0,71 kcal/ml; 11% P:44% F:45% KH; Keine MCT, 0 g BLS/100 ml; 360 mosm/kg
Pfrimmer Nutricia
Neocate active
Neutral 1–4 Jahre
1,0 kcal/ml; 11% P:44% F:45% KH; Keine MCT, 0 g BLS/100 ml; 520 mosm/kg
Pfrimmer Nutricia
Neocate junior
Neutral Ab 4 Jahre
1,0 kcal/ml; 13% P:45% F:42% KH; 35% MCT, 0 g BLS/100 ml; 590 mosm/kg
Pfrimmer Nutricia
Neocate junior mit Geschmack
Schoko Tropenfrüchte
1,0 kcal/ml; 14% P:42% F:44% KH; 35% MCT, 0 g BLS/100 ml; 680–700 mosm/kg
Milupa
Aptamil Pregomin AS
Neutral 0–1 Jahr
0,74 kcal/ml; 11% P:42% F:47% KH; Keine MCT, 0 g BLS/100 ml; 300–320 mosmol/l
KMPA Kuhmilchproteinallergie, P Protein, F Fett, KH Kohlenhydrate, MCT mittelkettige Triglyzeride, BLS Ballaststoffe
nen Wochen und selbst mehrere Monate lang liegen bleiben. Polyurethan ermöglicht geringe Wandstärken und ist daher besonders für dünne Sonden geeignet. Nachteile der noch weicheren Silikonsonden sind der höhere Preis, die leichte Verletzlichkeit des Materials und der geringere Innendurchmesser bei dickerer Wandstärke. Sehr dünne und weiche Sonden sind für den Patienten am angenehmsten. Sie werden aber leichter herausgehustet oder -gewürgt, kollabieren bei Aspiration von Magen- oder Duodenalsaft und
eine tracheale Fehlplatzierung kann insbesondere bei fehlendem Hustenreflex unbemerkt bleiben. Sehr weiche Sonden sind oft nur mit Mandrin zu legen. Als Gleitmittel kann z. B. MCT-Öl verwendet werden.
Platzierung Bei gastraler Platzierung kann die Lage auskultatorisch nach Eingabe von Luft oder durch Aspiration von Magensaft mit pH-Kontrolle überprüft werden. Die transpylo-
41 4.1 · Enterale Ernährung
rische Platzierung ist schwieriger und gelingt oft nur mit
Mandrin unter Durchleuchtung oder endoskopisch. Die Sondenlage kann zuverlässig nur radiologisch kontrolliert werden. Da die für Erwachsene angebotenen Spiralsonden (Bengmark-Sonden) für sehr kleine Kinder nicht geeignet sind und Drucknekrosen induzieren können, muss hier bei längerfristiger Sondierung in den Dünndarm eine operative Jejunostomie erwogen werden.
Gastrale versus jejunale Applikation Wenn immer möglich sollte eine gastrale Applikation gewählt werden, sie hat folgende Vorteile: 4 Physiologische Stimulation der Verdauung und der hormonellen Antwort 4 Weniger infektiologische Probleme 4 Hyperosmolare Formulierungen werden besser vertragen 4 Bolusapplikation möglich 4 Sonden einfacher platzierbar und zu wechseln 4 Der Magen dient als Reservoir und gibt die Nährstoffe graduell an das Duodenum weiter 4 Weniger Unverträglichkeiten wie Früh- und Spätdumping Indikationen für eine jejunale Applikation sind eine Gastroparese, rezidivierende Aspirationen durch Reflux oder Magenausgangsobstruktion sowie eine schwere Pankreatitis
Gastrostomie und Jejunostomie Bei mindestens 3-monatiger enteraler Ernährung kann die Indikation für die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) gestellt werden. Die PEG wird heute meist mit dem sog. »Durchzugverfahren« gelegt, wozu fertige Sets zur Verfügung stehen. Eine fehlende Diaphanoskopie vor Punktion des Magens ist eine Kontraindikation. Die Technik des Durchzugverfahrens wurde gegenüber anderen, wie der »Durchschubtechnik« oder nicht endoskopischen Techniken, insbesondere bei kleineren Kindern als vorteilhaft bewertet. Bei sehr kleinen Kindern kann allerdings der Durchzug der Sonde mit der inneren Halteplatte durch den Ösophagus problematisch sein. Daher empfiehlt sich bei jüngeren Kindern die Anlage in Intubationsnarkose. Die Ernährung über die Sonde kann nach 12 h begonnen werden. Die Katheteraustrittstelle wird mit einer sterilen Kompresse abgedeckt. Die Kinder können mit der liegenden PEG duschen, baden und auch Schwimmen gehen, wenn anschließend der Wundverband erneuert wird. Auch bei Säuglingen und kleineren Kindern sollten möglichst Sonden mit einer Größe von Ch 14–16 gelegt werden, da bei Verwendung kleinerer Sondendurchmesser (Ch 9) ein deutlich höheres Risiko der Verstopfung besteht, insbesondere auch bei der Sondierung von Medikamenten, und zudem eine spätere Buttonanlage nicht ohne weiteres möglich ist.
Komplikationen bei und nach der Anlage der PEG im Kindesalter sind nicht selten (10–20%). Die PEG-Anlage sollte daher nur von in der Kinderendoskopie erfahrenen Endoskopikern durchgeführt werden. Komplikationen beinhalten von der Eintrittsstelle ausgehende Infektionen, Bildung von Granulationsgewebe, Blutungen, Sondenleckagen, -dislokationen oder -obstruktionen, aber auch Perforation des Kolons bei Fehlanlage. Dabei erscheinen Patienten mit Multimorbidität hinsichtlich des Auftretens ernster Komplikationen besonders gefährdet. Die Jejunostomie gelingt endoskopisch nur bei größeren Kindern, alternativ muss eine chirurgische Anlage erfolgen.
Bolus versus kontinuierliche Zufuhr ! Cave Bei jejunaler Applikation verbietet sich eine Bolusgabe.
Bei im Magen platzierter Sonde ist bei Verträglichkeit immer eine Bolusgabe physiologischer und erlaubt dem Patienten mehr Flexibilität. Bei Säuglingen und Kindern mit stark beeinträchtigtem Verdauungstrakt, besonders bei Säuglingen mit Ultrakurzdarm, ist eine kontinuierliche Applikation vorteilhafter, da ein geringerer thermogenetischer Effekt und eine bessere Ausnutzung die Gewichtszunahme und Toleranz größerer Tagesvolumina begünstigen. Die Zufuhr bei kontinuierlicher Gabe sollte <2 kcal/min betragen. Eine höhere Energiedichte und damit oft auch Osmolarität führt in der Regel zu keiner erhöhten Energiezufuhr. Kinder mit Herzfehlern oder Kurzdarm tolerieren unter kontinuierlicher Sondierung eine höhere Energiezufuhr. Bestimmte Medikamente werden bei kontinuierlicher Sondenernährung anders resorbiert (z. B. Antiepileptika), so dass zu Beginn Spiegelkontrollen notwendig sind. Eine nächtliche kontinuierliche Applikation kann mit einer oralen oder Bolusgabe tagsüber kombiniert werden.
Ernährungspumpen Die kontinuierliche Sondierung sollte bei Kindern immer über Ernährungspumpen erfolgen. Bei der Auswahl der Ernährungspumpe ist u. a. auch auf den einstellbaren Bereich der Pumprate und die Einstellintervalle zu achten. Die verfügbaren Pumpen unterscheiden sich in Größe und Preis. Die meisten sind mit Ladegerät und Akku versehen. Die Alarmsysteme sind von unterschiedlicher Güte, was z. B. bei absoluter Dringlichkeit einer ununterbrochenen und konstanten Zufuhr bei nächtlicher Sondierung (z. B. bei Stoffwechselpatienten) zu beachten ist. Einige Pumpen haben auch einen Modus zur Bolusapplikation. Die Firmen bieten für die Pumpen passende Leitungen mit Beuteln für die Nahrung an, die meisten können über Adapter mit anderen auf dem Markt befindlichen Sonden konnektiert werden.
4
42
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
4.1.5 Überwachung und Komplikationen > Kinder mit EE sollten regelmäßig bezüglich Wachstum und Gewichtszunahme, Flüssigkeits- und Energiezufuhr überwacht werden. Nach Nebenwirkungen muss gezielt gefragt werden, da zahlreiche Komplikationen auftreten, die die Eltern und Pflegepersonen nicht unbedingt in den Zusammenhang mit der EE bringen.
4
Während der Aufbauphase sollte die Sondenernährung mit geringen Volumina und niedriger Nahrungskonzentration begonnen werden, um das Risiko gastrointestinaler und metabolischer Komplikationen zu mindern. Volumen und Konzentration sollten nicht gleichzeitig erhöht werden. Bei Unverträglichkeit oder Aspirationsgefahr müssen anfangs Magenreste kontrolliert werden. Die Bolusapplikation der Sondennahrung in etwa 5–7 pro 24 h wird als physiologisch günstig angesehen. Technische Komplikationen. Während der Sonden- oder
Stomaanlage und danach können zahlreiche Komplikationen in Form von Fehlplatzierung, Dislokation, Obstruktion oder Undichtigkeiten auftreten. Die Sondenlänge wird für den Fall der Dislokation und Legen einer neuen Sonde dokumentiert und den Eltern mitgeteilt. Eine Fehlplatzierung in die Trachea droht besonders bei neurologisch kranken oder bewusstseinsgestörten Patienten. Durch PVCSonden, aber auch durch Halteplatten der PEG können Druckulzera, Blutungen oder eine Perforation entstehen. PEG Platten müssen mindestens 2-mal pro Woche ~2 cm in den Magen vorgeschoben und gedreht werden, um ein Einwachsen zu verhindern.
vorübergehend reduziert werden. Bei zerebralparetischen Kindern mit Gastrostomie zeigte sich nach Sondierung von Molkeformula im Vergleich zu Kaseinformula eine raschere Magenentleerung und bessere Verträglichkeit. Durchfälle sind eines der häufigsten Probleme bei einer Sondenernährung. Sie können ebenfalls durch hyperosmolare oder zu kalte Nahrungen bedingt sein. Durchfälle können auch durch Medikamente, insbesondere durch Antibiotika, hervorgerufen werden. Schließlich ist eine chronische Obstipation mit Überlaufstühlen auszuschließen. Infektiöse Komplikationen. Kontamination der Nahrung,
besonders bei jejunaler Dauersondierung, können durch strenge Hygienestandards mit täglichem Wechsel der Infusionsleitungen und Verwendung von fertiger Flüssignahrung vermindert werden. Infektionen im HNO Bereich wird durch nasal platzierte Sonden Vorschub geleistet. Psychologische Konsequenzen. Bei nasogastraler Sondierung ist das Risiko für eine orale Aversion und Fütterstörung besonders groß. Wenn immer möglich sollten bei Säuglingen kleine Mengen an Flüssigkeiten oral verabreicht werden, damit die Fähigkeit zum Saugen nicht verloren geht. Beikost und Löffeltraining sollte besonders bei Kurzdarmkindern zeitgerecht spätestens ab dem 6. Monat begonnen werden. Das frühzeitige Einbinden von Ess- und Sprachtherapeuten sind wichtige Maßnahmen zur Vermeidung und zur Therapie von Essstörungen
4.1.6 Perioperative Ernährung Präoperative Ernährung
Metabolische Komplikationen. Metabolische Probleme
wie insbesondere Elektrolytimbalancen und Hypo- oder Hyperglykämien sind bei Kindern mit intakten Organfunktionen selten. Ein Re-feeding-Syndrom nach langer Kachexie mit lebensbedrohlichem Phosphatabfall oder Spurenelementmangel bei Aufholwachstum oder hohen Verlusten können auftreten. Regelmäßige Überwachung, Mitbetreuung durch eine Ernährungsfachkraft, die richtige Auswahl der Sondennahrung und die Meidung selbstgefertigter Sondennahrungen können die meisten metabolischen Komplikationen verhindern. Gastrointestinale Beschwerden. Auftretende Übelkeit und Erbrechen können durch Aversion gegen den ständigen Geruch und Aufstoßen bedingt sein. Häufiger sind sie Folge einer verzögerten Magenentleerung bei Gabe zu großer Mengen, Verwendung hyperosmolarer oder hochkalorischer Nahrungen, oder sie können durch die Grunderkrankung bedingt sein. Langsame initiale Steigerung, kontinuierliche statt Bolusapplikation und eine Schräglagerung mit 30° Neigung sind oft hilfreich, auch bei vermehrten gastroösophagealen Refluxen; ggf. muss die Zufuhrrate
Bei Patienten mit schwerer Malnutrition und elektiver Operation ist eine präoperative Ernährungstherapie (enteral, wenn nicht möglich, auch parenteral) zu erwägen, um das perioperative Risiko zu senken. Vor jedem operativen Eingriff sollte eine enterale Ernährung nur so kurz wie möglich ausgesetzt, d. h. präoperatives Fasten vermieden werden. Isoosmolare Flüssigkeiten (Tee oder Wasser mit Zucker oder Maltodextrin) bis zu 4 h, in Einzelfällen auch 2 h vor dem Eingriff, reduzieren die postoperative Insulinresistenz mit Hyperglykämien. Klare Flüssigkeiten entleeren sich exponentiell aus dem Magen, d. h. nach einer Stunde ist >90% bereits entleert (7 Kap. 3).
Postoperative Ernährung In der ummittelbar postoperativen Phase (1–3 Tage, je nach Schwere des Eingriffs) besteht häufig eine Glukoseintoleranz durch das Überwiegen der Insulin kontraagierenden Stresshormone. Eine Hyperalimentation in dieser Phase ist zu vermeiden, da eine Hyperglykämie das Risiko für infektiöse Komplikationen signifikant erhöht. Bestehen keine Kontraindikationen (akutes Abdomen, Ileus/Subileus mit Aspirationsgefahr, aktive obere gastroin-
43 4.1 · Enterale Ernährung
. Tab. 4.2. Metaanalyse von randomisierten Studien bei Erwachsenen mit kolorektalen Operationen, Vergleich der frühen im Vergleich zur späten enteralen Ernährung (Anderssen u. Lewis 2007) Parameter
Zahl der Studien
Zahl der Patienten
Relatives Risiko (95%-KI)
Wundinfektion
9
879
0,77 (0,48–1,22)
Intraabdomineller Abzess
10
907
0,87 (0,31–2,42)
Anastomosenundichtigkeit
10
907
0,69 (0,36–1,32)
Mortalität
10
907
0,41 (0,18–0,93)
Pneumonie
9
877
0,76 (0,36–1,58)
Krankenhaustage
13
1081
–0,89 (-1,58 bis –0,20)
Erbrechen
6
618
1,27 (1,01–1,61)
testinale Blutung) gegen eine enterale Ernährung, sollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt, d. h. innerhalb von 12– 24 h, die Nährstoffzufuhr über den physiologischen enteralen Weg erfolgen. Die Vorteile mit Erhalt der Darmintegrität und einer daraus resultierenden Reduktion einer möglichen bakteriellen Translokation sind inzwischen in der Erwachsenenmedizin umgesetzt. Ein Cochrane-Review zum Vergleich einer frühen versus einer späten enteralen Ernährung zeigte eine signifikante Senkung der Mortalität und Verkürzung der Krankenhausdauer bei früher enteraler Ernährung (. Tab. 4.2). Die wenigen pädiatrischen Studien weisen darauf hin, dass eine frühe postoperative EE (»fast-track surgery«) bei der Mehrzahl der pädiatrischen Patienten ohne Eingriff am Gastrointestinaltrakt, aber auch nach Appendektomie oder Darmresektion möglich ist (Reismann et al 2007). Eine nasogastrale Sonde zur Dekompression war über Jahre Routine nach gastrointestinalen Eingriffen. Eine Metaanalyse zeigte jedoch, dass dieses Vorgehen mit einer verzögerten Normalisierung der Darmfunktion und einer erhöhten Rate pulmonaler Komplikationen einherging (Nelson et al. 2005). In einer kürzlich randomisierten Studie bei Erwachsenen mit kolorektaler Resektion bestätigte sich, dass postoperatives Entfernen der Magensonde mit frühem oralen Nahrungsaufbau sicher ist und der routinemäßigen Dekompression mit verspäteter oraler/enteraler Ernährung überlegen ist (Zhou et al 2006).
Lösung verabreicht werden und eine Schmerztherapie durchgeführt werden. Der orale Kostaufbau erfolgt auch bei noch erhöhten Lipasewerten und richtet sich nach den Beschwerden des Patienten. In der Regel kann nach einem Kostaufbau mit einer an Kohlenhydraten reichen Kost und einer moderaten Zufuhr an Eiweiß und Fett nach 7–10 Tagen auf eine Normalkost übergangen werden. Ist ein oraler Kostaufbau wegen der Schmerzen nicht möglich, sollte einer EE über eine Jejunalsonde einer parenteralen Ernährung den Vorzug gegeben werden.
Schwere (nekrotisierende) Pankreatitis
4.1.7 Akute Pankreatitis
Bei der schweren Pankreatitis (7 Kap. 36) ist eine frühe EE über eine nasojejunale Sonde mit Applikation der Sondennahrung kontinuierlich über 24 h bei allen Patienten, die dies tolerieren, indiziert. Eine kontinuierliche nasogastrale Zufuhr kann versucht werden. Drei Studien bei Erwachsenen mit schwerer Pankreatitis (n=131) verglichen die frühe nasogastrale Ernährung mit der konventionellen (jejunale Gabe oder totale parenterale Ernährung). Sie fanden keinen signifikanten Unterschied bezüglich Mortalität und verschiedener Komplikationen oder Krankenhausdauer. Wegen der geringen Patientenzahlen sind jedoch noch keine endgültigen Empfehlungen möglich (Jiang et al. 2007). Niedermolekulare Sondennahrungen mit einem Teil der Lipide als MCT können problemlos verwendet werden, Standardnahrung können versucht werden, sind aber oft schlechter verträglich. Bei Besserung der Pankreatitis kann auf einen oralen Kostaufbau übergegangen werden.
Leichte bis mäßig schwere (ödematöse) Pankreatitis
4.1.8 Darminsuffizienz einschließlich
Bei leichter bis mäßig schwerer Pankreatitis (7 Kap. 36) ist eine EE nicht notwendig, da ein oraler Kostaufbau meist nach 2–3 Tagen problemlos möglich ist. Die Fastenperiode sollte nur solange durchgeführt werden, bis das Kind schmerzfrei ist, i. d. R. nach 2–4 Tagen. In der Zeit sollte parenteral ausreichend Flüssigkeit als Glukose-Elektrolyt-
Kurzdarmsyndrom Nach extensiver Resektion des Dünndarmes entstehen durch Störung von Motilität, Sekretion, Digestion und Absorption multiple Probleme, die unter dem Begriff Kurzdarmsyndrom (7 Kap. 28) zusammengefasst werden.
4
44
4
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
Bei Resektion des Jejunums kann das Ileum nach einer Phase der Adaptation seine Resorptionskapazität deutlich steigern. Dieser Adaptationsvorgang, der zu einer Hyperplasie und damit vergrößerten resorptiven Oberfläche führt, kann durch eine enterale Gabe von Nährstoffen wie Fett und Eiweiß beschleunigt werden. Eine enterale Nahrungskarenz führt dagegen bereits innerhalb weniger Tage zu einer Zottenhypoplasie und dem erhöhten Risiko einer bakteriellen Translokation. Auch der Dickdarm trägt zur Energieversorgung bei: Unverdaute Kohlenhydrate aus Zuckern, Stärke und Ballaststoffen werden von der Dickdarmflora zu kurzkettigen Fettsäuren abgebaut. Diese dienen nicht nur als Energielieferanten für die Kolonschleimhaut, sondern tragen nach Resorption erheblich zur Kalorienversorgung des Körpers bei. Bei Verlust der Bauhin-Klappe ist regelmäßig mit einer bakteriellen Fehlbesiedlung des verbleibenden Dünndarms mit den negativen Auswirkungen auf Schleimhaut, Absorption und Gallensäurenmetabolismus zu rechnen. Auch der Zustrom des Speisenchymus erfolgt rascher in den Dickdarm und kann eine osmotische Diarrhö begünstigen. > Die enterale Ernährung sollte so früh wie möglich begonnen werden (»minimal enteral feeding«). Wünschenswert ist die Anlage einer Gastrostomie bei der ersten Operation.
Bei massiver Darmresektion (<10% Restdünndarm) empfiehlt sich die langsame Dauersondierung von pasteurisierter Muttermilch oder einer hydrolysierten Säuglingsnahrung oder entsprechend viele einzelne kleine Boli (dann auch frische Muttermilch) oder eine Kombination von beidem. Bei kontinuierlicher Gabe sind im Vergleich zur Bolusgabe die Toleranz (Erbrechen) und die Energieverwertung besser und die Stuhlvolumina geringer. Ist bei nicht so exzessiver Darmresektion mit einem rascheren Nahrungsaufbau zu rechnen, kann die Nahrung auch oral angeboten werden, um spätere Fütterungsprobleme durch langfristige Sondierung zu vermeiden. Eine Hydrolysatnahrung mit MCT-Anteil kann bei niedriger Einlaufgeschwindigkeit (0,2–1 ml/kg KG/h) innerhalb von Tagen von einer 7,5%igen Konzentration über eine 10%-ige Mischung auf die normale Konzentration von 13,6% gesteigert werden, um dann das zugeführte Volumen zu steigern. Bei schwerer Malabsorption muss eine kohlenhydratreduzierte Bausteindiät zubereitet werden. Unterstützend kann enteral Taurin gegeben werden, das an Gallensäuren bindet und somit die Resorption der Nahrungsfette verbessert. Glutamin ist eine essenzielle Aminosäure und wichtiges Substrat für die schnell proliferierenden Zellen der Darmmukosa. Es kann als trophischer Faktor appliziert werden. Der Energiebedarf hängt vom Ausmaß der Malabsorption ab, wobei die Absorption von Energie sich proportional zur noch vorhandenen Dünndarmlänge (v. a. Jejunum)
verhält. Da die Hälfte und mehr der zugeführten Energie beim Kurzdarmsyndrom im Stuhl verloren gehen kann, muss die enterale Zufuhr entsprechend hoch gewählt oder durch eine parenterale Ernährung ergänzt werden. Mit einer kontinuierlichen enteralen Ernährung gelingt es jedoch, bis zu 180 kcal/kg KG/Tag und bis zu 275 ml Flüssigkeit/ kg KG/Tag zuzuführen. Die Steigerung der Nahrungszufuhr ist im Wesentlichen von der Kohlenhydrattoleranz abhängig, eine zu rasche Steigerung resultiert in schweren osmotischen Diarrhöen. Steigen die Verluste aus dem Stoma auf >50% an oder finden sich deutlich vermehrt reduzierende Substanzen im Stuhl (pH im Stuhl meist <6), sollte die enterale Zufuhr reduziert werden. Eine Kohlenhydratmalabsorption verstärkt die osmotische Diarrhö, führt zu einem sauren, aggressiven Stuhl und damit perianalen Hautmazerationen. 1 g Kohlenhydrate im Stuhl erhöht das Stuhlgewicht um ~32 g. Als Kontrollparameter empfiehlt sich neben den Elektrolyten im Serum und des Säure-Basen-Haushalts die Bestimmung von Natrium und Kalium im Urin. Sehr niedrige Werte (<20 mmol/l) weisen auch bei normalen Serumwerten auf eine Mangelversorgung hin. Vitamine und Spurenelemente werden in der Anfangsphase parenteral gegeben. Nach Beendigung der parenteralen Zufuhr sind die Serumspiegel der fettlöslichen Vitamine A, D und E und von Vitamin B12 regelmäßig zu kontrollieren und ggf. wasserlösliche Präparationen bzw. eine parenterale Zufuhr einzusetzen. Die orale Eisenzufuhr muss gut überwacht werden, sie begünstigt die bakterielle Fehlbesiedlung im Dünndarm. Wegen erhöhter Verluste kommt es gelegentlich zu einem substitutionsbedürftigen Mangel an Zink (auf Haut- und Haarveränderungen achten), Selen oder anderen Spurenelementen.
4.2
Parenterale Ernährung
4.2.1 Definition und Kernaussagen 4 Die intravenöse Nährstoffzufuhr kann als ergänzende oder partielle parenterale Ernährung eine zwar vorhandene, aber insgesamt unzureichende enterale Nährstoffzufuhr ergänzen. 4 Die totale parenterale Ernährung (TPE) kann eine ausschließliche intravenöse Nährstoffzufuhr gewährleisten, z. B. nach operativen Eingriffen im Abdominalraum oder bei akuten bzw. chronischen Darmkrankheiten mit gestörter Nahrungstoleranz oder schwerer Malassimilation (Darminsuffizienz). 4 Neben der PE sollte soweit als möglich eine minimale enterale Nahrungszufuhr angestrebt werden, um das Risiko potenzieller Komplikationen wie einer Mukosaatrophie, bakterieller Translokation mit septischen Komplikationen oder einer Cholestase zu vermindern.
45 4.2 · Parenterale Ernährung
4 Durchführung und Überwachung der PE sollten definierten Standards und Protokollen folgen, um die Sicherheit und Lebensqualität für den Patienten zu optimieren. 4 In der Anfangsphase sollten Kinder mit PE 2- bis 3mal/Woche evaluiert werden. 4 Für Kinder mit Langzeit-PE, die nicht aus anderen Gründen stationär bleiben müssen, ist die Heim-PE die bessere Option. 4 Es wird dringend empfohlen, dass Patienten mit Langzeit-PE in Zentren betreut werden, die über ein multidisziplinäres Team mit ausreichend Erfahrung durch Betreuung zahlreicher PE-Patienten verfügen. 4 Die evidenzbasierten Leitlinien der ESPGHAN (European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition) und der ESPEN (European Society for Parenteral and Enteral Nutrition) sollten als Grundlage für die praktische Durchführung einschließlich Dosierung der Substratzufuhr dienen.
4.2.2 Indikationen und Kontraindikationen > Eine parenterale Nährstoffzufuhr durch intravenöse Infusionen wird notwendig, wenn eine bedarfsgerechte Nährstoffzufuhr auf enteralem Wege über einen längeren Zeitraum nicht realisiert werden kann.
Eine PE ist nicht indiziert bei Patienten mit einer ausreichenden Darmfunktion, die enteral (oral oder per Sonde) ernährt werden können.
4.2.3 Zugangswege, Infusionssysteme
und Katheterposition Die Wahl und die Pflege des Venenzuganges sind von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der parenteralen Ernährung. Wenn nur eine ergänzende, partielle parenterale Ernährung für einen begrenzten Zeitraum von nicht mehr als etwa 5–7 Tagen Dauer vorgesehen ist und der Patient über ausreichende Venenverhältnisse verfügt, kann eine Infusion über wechselnde periphere Venenzugänge versucht werden. ! Cave Bei Infusion in periphere Venen soll die Osmolalität der infundierten Lösungen 700 mosmol/l nicht überschreiten. Eine Osmolalität der Infusionslösungen >800 mosmol/l erfordert einen zentralvenösen Zugang.
Vergleichende Studien bei Frühgeborenen haben belegt, dass die Lebensdauer peripherer Venenzugänge bei einem höheren Anteil der Energiezufuhr durch Lipidemulsionen und entsprechend geringerer Glukosezufuhr deutlich zunimmt.
Für die längerfristige partielle parenterale Ernährung einschließlich der heimparenteralen Ernährung sowie für eine vollständige parenterale Ernährung ist jedoch ein zentralvenöser Zugang notwendig. Einfache, durch Punktion eingeführte Katheter müssen je nach Pflege und Lokalbefund sowie ggf. vorhandenen allgemeinen Zeichen für das Vorliegen einer Entzündungsreaktion in der Regel nach 1–3 Wochen gewechselt werden. Längerfristig nutzbare Kathetersysteme werden durch chirurgische Freilegung der Gefäße oder durch Punktion der Gefäße in Seldinger-Technik implantiert. Für die langfristige parenterale Ernährung werden weichere Kathetersysteme aus Silikon und Polyurethankatheter mit hydromerer Beschichtung bevorzugt, da sie weniger thrombogen und weniger traumatisch sind. Zur Minderung des Infektionsrisikos sind sie mit einer DacronManschette ausgestattet und über eine möglichst lange Distanz untertunnelt unter der Haut nach außen geführt (z. B. Broviac-, Hickman- oder Groshong-Katheter). Die Dacron-Manschette fördert eine Fibroblastenproliferation und bewirkt einen besseren Katheterhalt sowie einen zusätzlichen Schutz vor an der Außenwand des Katheters aszendierenden Infektionen (7 Kap. 9). Um das Risiko von katheterbedingten Infektionen zu vermindern, sollten möglichst einlumige Katheter verwandt werden. Bei einem Multi-Lumen Katheter sollte ein Lumen ausschließlich für die PE genutzt werden. > Die Blutentnahme aus zentralen Kathetern erhöht das Risiko für Katheterinfektion. Dieses Risiko muss gegenüber der Verschlechterung der Lebensqualität des Kindes durch periphere Blutabnahmen individuell abgewogen werden. In jedem Fall muss unter streng aseptischen Bedingungen vorgegangen werden.
Implantierte Portsysteme mit transkutaner Punktionsmöglichkeit eines kleinen, subkutanen Vorratsbehälters durch eine Silikonmembran können mit einer speziellen, gebogenen Punktionsnadel mit dem Infusionssystem verbunden werden. Sie werden im Kindes- und Jugendalter wegen der oft angstbesetzten Notwendigkeit zu wiederholten Punktionen und vor allem wegen des erhöhten Okklusionsrisikos bei langfristiger parenteraler Ernährung nicht bevorzugt. Für die parenterale Ernährung in der Pädiatrie sollten für die parenterale Zufuhr lipophiler Medikamentenzubereitungen ausschließlich Mischbeutel und Schlauchsysteme verwendet werden, die nicht aus PVC gefertigt sind und damit den Weichmacher Diethylhexylphthalat (DEHP) enthalten. Verfügbare und empfehlenswerte Alternativen sind aus Ethylenvinylacetat (EVA) hergestellte Mischbeutel bzw. mit Polyäthylen ausgekleidete Infusionsleitungen. Verschiedene Systeme aus Silikon oder Polyurethan werden in jeweils unterschiedlichen Größen für jede Altersgruppe angeboten. Die Lage jedes neu angelegten zentralen Venenkatheters muss radiologisch überprüft werden. Die Katheter-
4
46
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
spitze soll in der V. cava superior außerhalb des Herzbeutels liegen. Das bedeutet bei jungen Säuglingen mindestens 0,5 cm, bei älteren Säuglingen und Kindern >1 cm außerhalb des Herzschattens auf einer a.p. Röntgenaufnahme. Die V. cava inferior hat eine vergleichbare Größe und Flussgeschwindigkeit und eignet sich damit ebenfalls für eine Katheterpositionierung (gerade unterhalb des rechten Vorhofes).
4
4.2.4 Katheterpflege Wegen des hohen Infektionsrisikos ist sowohl bei der Anlage als auch bei der Pflege und Versorgung der Zugangswege eine strengstens aseptische Vorgehensweise zwingend notwendig. > Die Katheterpflege und das An- und Abhängen von Lösungen oder Medikamenten sollten nach Möglichkeit nicht durch häufig wechselnde Personen, sondern durch wenige Personen (Ärzte oder Pflegepersonal) oder durch die gut geschulten Eltern durchgeführt werden, die oft sorgfältiger als das Krankenhauspersonal vorgehen.
Ein Verbandwechsel im Bereich des Katheteraustrittes wird unter sterilen Bedingungen bei kurzfristigen zentralen Kathetern alle 2 Tage durchgeführt. Bei langfristiger PE und transparenten Abdeckungen ist ein wöchentlicher Verbandwechsel ausreichend. Dabei wird die den Katheteraustritt umgebende Haut mit einer antiseptischen Lösung (bevorzugt 2%-iges Chlorhexidin) gereinigt und nach vollständiger Lufttrocknung ein frischer, steriler Verband (sterile Tupfer mit Pflaster oder transparente Folien) angelegt. Topische antibiotische Salben sollten nicht angewandt werden. Mit getunnelten Kathetern ist Duschen und Schwimmen möglich, wenn der Katheter durch einen wasserdichten Verband gesichert ist. > Die routinemäßige Gabe von Heparin bei zentralen Kathetern, die täglich genutzt werden, hat keinen Nutzen bezüglich einer Prävention von Thrombosen oder Okklusionen gezeigt und wird daher nicht empfohlen.
Bei Blocken des Katheters über mehr als 24 h sollte dies mit einer Heparin-Kochsalzlösung (5–10 Einheiten Heparin/ ml 0,9% NaCl) erfolgen.
4.2.5 Anforderungen
nur eine optimale individuelle Betreuung sicherstellen, sondern auch Richtlinien erstellen, Personal und betroffene Eltern schulen und den überflüssigen oder unnötig langen Einsatz einer totalen oder partiellen PE durch konsequenten Einsatz einer oralen oder enteralen Ernährung reduzieren. Vor Beginn der PE sollte die Dauer abgeschätzt und die Ziele definiert sein. Der Patient muss bezüglicher potenzieller Defizite evaluiert (medizinische und Ernährungsanamnese, körperliche Untersuchung, Laborwerte) und unter der PE überwacht werden.
4.2.6 Zubereitung und Applikation
der Lösungen Die Herstellung der dem Patienten applizierten Infusionslösungen ist mit erheblichen Risiken behaftet, insbesondere einer Kontamination mit Infektionserregern, dem möglichen Auftreten von Mischungsfehlern sowie einer Inkompatibilität verschiedener Infusionsbestandteile untereinander oder mit gleichzeitig parenteral applizierten Medikamenten. Die Zubereitung erfordert deshalb besondere Sorgfalt und Erfahrung. > Wenn immer möglich sollten Infusionslösungen durch hierfür entsprechend ausgestattete und erfahrene Apotheken bzw. Krankenhausapotheken oder pharmazeutische Hersteller zubereitet werden.
Aufgrund der besonderen Erfordernisse der pädiatrischen Patienten wird jedoch eine Selbstzubereitung auf Krankenstationen und Intensivstationen in vielen Fällen nicht vollständig zu vermeiden sein. Die hier auftretenden Risiken können vermindert werden, wenn alterspezifisch zusammengesetzte Standardlösungen mit einer für viele pädiatrische Patienten angemessenen Deckung des Nährstoffbedarfes eingesetzt werden. Die Erfahrung in vielen Kliniken zeigt, dass der größte Teil pädiatrischer Krankenhauspatienten einschließlich der intensivbehandelten Frühgeborenen mit einigen wenigen, alterspezifisch zusammengesetzten Standardlösungen mit festen Mischungen aus Glukose, Aminosäuren und Elektrolyten sehr gut versorgt werden können, wodurch gleichzeitig eine Risikominderung gegenüber einer individuellen freien Mischung von Infusionslösungen auf einer Krankenstation erreicht wird kann. Bei individuellen Mischungen sollte der Anwendung von computergestützten Programmen bei der Verschreibung der Vorzug gegeben werden, da sich dadurch Fehler und Zeitaufwand reduzieren lassen. ! Cave
Die Qualität der klinischen Ernährung und besonders der PE kann durch ein multidisziplinäres pädiatrisches Ernährungsteam (bestehend aus Pädiater, Kinderchirurg, Schwester, Ernährungsfachkraft, Pharmazeut und ggf. andere) deutlich verbessert werden. Dieses Team sollte nicht
Die Zugabe von Medikamenten zu einer Infusionslösung oder die Applikation im Bypass oder das Zuspritzen von Nährstoffen oder Elektrolyten in eine Infusionslösung sollte nur nach Überprüfung der Mischbarkeit erfolgen.
47 4.2 · Parenterale Ernährung
Ausgenommen sind gemischte Infusionslösungen, deren Kompatibilität und Stabilität durch angemessene Prüfungen gesichert ist. Generell sollten alle wasserlöslichen Infusionslösungen durch einen patientennah im Infusionssystem angebrachten Mikrofilter mit einer Porengröße von 0,2 μm infundiert werden, das Partikel und Mirkoorganismen zurückhält. Lipidemulsionen und Mischungen von Lösungen mit Lipidemulsionen werden durch einen Filter mit einer Porengröße von 1,0–1,5 μm infundiert. Die Lösungen sollten regelmäßig visuell inspiziert und bei Ausflockung oder Trübung nicht verwendet werden. Dies gilt auch für Unterbrechungen der PE bei Applikation von Medikamenten über einlumigen Kathetern. > Bei Langzeit-PE sollte frühzeitig auf eine zyklische Applikation umgestellt werden. Besonders bei Säuglingen und Patienten ohne enterale Zufuhr sollten Infusionsbeginn und -ende mit schrittweise abgestufter Veränderung der Infusionsgeschwindigkeit durchgeführt werden, um das Risiko metabolischer Nebenwirkungen (beispielsweise Hyperglykämien bei Infusionsbeginn, reaktive Hypoglykämien bei Infusionsende) zu vermindern.
Eine zyklische PE gelingt umso früher, je mehr enterale Zufuhr möglich ist. Es wird mit einer Stunde Pause begonnen, die dann zügig auf 4 h und länger gesteigert werden kann. Dabei müssen die maximal verträglichen Infusionsgeschwindigkeiten für Glukose und Fett berücksichtigt werden (s. unten). Vor dem An- und Abschluss der Infusionslösung ist eine Katheterspülung nach einem festgelegten Protokoll durchzuführen. Das Volumen richtet sich nach dem Alter des Kindes.
4.2.7 Hauptbestandteile der parenteralen
Ernährung Flüssigkeit (. Tab. 4.3) Kinder und besonders Säuglinge haben im Vergleich zu Erwachsenen einen deutlich höheren prozentualen Wassergehalt des Körpers und einen deutlich größeren Anteil des Extrazellularraums an der Körpermasse. Gleichzeitig ist der relative Flüssigkeitsumsatz gerade bei jungen Kindern wesentlich höher als bei Erwachsenen. Während beim gesunden Erwachsenen der Flüssigkeitsumsatz pro Tag nur etwa 1/7 der Extrazellularflüssigkeit entspricht, sind es beim Säugling etwa 1/3 des Extrazellularraums. Die Fähigkeit zur Kompensation bei nicht angemessener Flüssigkeitszufuhr ist bei jungen Säuglingen und Frühgeborenen stark eingeschränkt. Bis zum Alter von etwa 6 Monaten ist die Konzentrationsfähigkeit der Niere vermindert, das Neugeborene kann den Urin auch bei hoher Salz- oder niedriger Wasserzufuhr nur bis zu etwa 700 mosmol/l konzentrieren. Hierdurch kann bei Säuglingen der Flüssigkeitsbedarf im
Falle der Notwendigkeit zur vermehrten Elimination harnpflichtiger Substanzen erheblich ansteigen, etwa bei überhöhter Proteinzufuhr oder bei ausgeprägtem Katabolismus. Andererseits führt eine akute Flüssigkeitsbelastung im Säuglingsalter und besonders bei Frühgeborenen schneller zur Wassereinlagerung mit Ödemneigung. Die Flüssigkeitszufuhr muss den individuellen Bedingungen angepasst werden, z. B. bei bestimmten Herz- oder Nierenerkrankungen vermindert, bei erhöhten Verlusten durch Fieber, Wundsekretion, Hyperventilation, aber vor allem bei gastrointestinalen Verlusten erhöht werden. In den ersten 12–24 h der postoperativen Phase sowie nach schweren Traumen besteht oft eine erhöhte ADHWirkung mit Tendenz zur Wasserretention, so dass hier die Flüssigkeitsdosierung an der unteren und die Natriumzufuhr an der oberen Grenze der Richtwerte orientiert werden. Frühgeborene neigen in besonderem Maße zur Überwässerung. Eine hohe Flüssigkeitszufuhr in den ersten Lebenstagen ist hier mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten intrakranieller Blutungen und für eine Persistenz des Ductus arteriosus Botalli assoziiert. Bei unreifen Frühgeborenen erfolgt deshalb abhängig vom Geburtsgewicht in den ersten Tagen eine besonders sorgfältig begrenzte Flüssigkeitszufuhr. Erwünscht ist hier in den ersten Tagen nach der Geburt ein Flüssigkeitsverlust mit einer Gewichtsabnahme von bis zu 10%.
Energie Die Energiezufuhr sollte die notwendigen Bedürfnisse für Grundumsatz, körperliche Aktivität, Wachstum und ggf. Aufholwachstum ausgleichen. Eine exzessive Energiezufuhr resultiert in Hyperglykämie, vermehrter Fettdeposition, Fettleber und anderen Komplikationen, während eine mangelnde Zufuhr zu Malnutrition, schlechter Immunfunktion und vermindertem Wachstum führt. Die parenterale Energiezufuhr liegt meistens niedriger als bei enteraler Applikation, besonders bei Frühgeborenen und darmkranken Kindern. Die individuelle Energiezufuhr
. Tab. 4.3. Erwünschte Flüssigkeitszufuhr bei klinisch stabilen Säuglingen und Kindern (ml/kg KG/24 h). Beachte: Der Bedarf einzelner Patienten kann von diesen Richtlinien stark abweichen! Ein deutlich erhöhter Flüssigkeitsbedarf entsteht durch vermehrte Sekretverluste, Hyperventilation oder Temperaturerhöhung (Zusatzbedarf ca. 5 ml/kg KG/1°C Temperaturerhöhung >37,5°C) >5. Lebenstag
100–130 ml
1. Lebensjahr
100–140 ml
2. Lebensjahr
80–120 ml
3.–5. Lebensjahr
80–100 ml
6.–10. Lebensjahr
60–80 ml
10.–14. Lebensjahr
50–70 ml
4
48
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
. Tab. 4.4. Empfehlungen für die mittlere Zufuhr an Makronährstoffen und Energie pro kg KG und Tag bei parenteraler Ernährung (der Bedarf einzelner Patienten kann je nach Ernährungszustand und Krankheitsbedingungen ganz erheblich von diesen Richtzahlen abweichen!) und für die Zufuhr von Energie, Aminosäuren, Lipiden, Na, K, Ca, P und Mg (die individuellen Bedürfnisse können je nach Verlusten stark davon abweichen, z. B. bei Erbrechen, Durchfall, Fisteln!)
4
Alter
Energie (kcal/kg)
Aminosäuren (g/kg)
Glukose (g/kg)
Lipide (g trigl./kg)
Na (mmol/kg)
K (mmol/kg)
Ca (mmol/kg)
P (mmol/kg)
Mg (mmol/kg)
Frühgeborene
110–120
1,5–4
Bis 18
Bis 3–4
3–5 (–7)
2–5
Neugeborene (1.Monat)
90–100
1,5–3
Bis 18
Bis 3–4
2–3
1,5–3
0–1 Jahre
90–100
1–2,5
Bis 16
Bis 3–4
2–3
1–3
0–6 Monate: 0,8 7–12 Monate: 0,5
0,5
0,2
1–2 Jahre
75–90
1–2
Bis 12–14
Bis 2–3
1–3
1–3
0,2
0,2
0,1
3–6 Jahre
75–90
1–2
Bis 10–12
Bis 2–3
1–3
1–3
0,2
0,2
0,1
7–12 Jahre
60–75
1–2
<12
Bis 2–3
1–3
1–3
0,2
0,2
0,1
13–18 Jahre
30–60
1–2
<10
Bis 2–3
1–3
1–3
0,2
0,2
0,1
muss unter entsprechendem Monitoring des Gewichts und des Längensollgewichts ständig angepasst werden. Unkomplizierte Operationen, auch größere abdominelle Eingriffe gehen nicht mit einer längerfristigen Erhöhung des Energieverbrauchs einher. Anders sind dagegen schwere Traumata zu werten, besonders wenn sie von Sepsis und Perotonitis gefolgt werden. Diesem sog. Postagressionsstoffwechsel muss ab dem 2–3 Tag durch eine vermehrte Energiezufuhr Rechnung getragen werden, um einen Abbau des körpereigenen Eiweißes zu verhindern (. Tab. 4.4).
Aminosäuren Zur Deckung des Stickstoffbedarfes wird für Säuglinge und Kleinkindern die Verwendung pädiatrischer Aminosäurelösungen empfohlen, die den Besonderheiten des Bedarfes in diesem Lebensalter angepasst sind, d. h. auch adäquate Mengen an konditionell essenziellen Aminosäuren wie Cystein, Taurin und Tyrosin erhalten. Die Zusammensetzung der Aminosäuren soll sich an der eines hochwertigen Proteins (z. B. Muttermilchprotein) orientieren. Der Bedarf parenteral zugeführter Aminosäuren liegt niedriger als bei enteraler Eiweißgabe. Infundierte Aminosäuren können nur dann zur Proteinsynthese genutzt werden, wenn sie gleichzeitig mit einer ausreichenden Menge an Nichtproteinenergie infundiert werden. Als Richtgröße kann gelten, dass mit jedem Gramm Aminosäuren etwa 30–40 kcal Energie infundiert werden sollen. Bei zu hoher Dosierung einer Aminosäureninfusion bzw. eingeschränkter Metabolisierbarkeit der infundierten Aminosäuren kommt es typischerweise zum Anstieg der Harnstoff- und Ammoniakkonzentrationen im Plasma.
Glukose > Glukose ist das einzige Kohlenhydrat für die pädiatrische PE und sollte 60–75% der Nichteiweißenergie ausmachen.
Glukose wird von allen Geweben metabolisiert, allerdings ist die Utilisation in den meisten Geweben (nicht im Zentralnervensystem) insulinabhängig. Während der ersten PE-Tage sollte die Glukosezufuhr graduell gesteigert werden bis die Enddosis erreicht ist. Bei kritisch kranken Kindern sollte die Glukosezufuhr 5 mg/kg KG/min (7,2 g/ kg KG/Tag) nicht übersteigen, um Hyperglykämien zu vermeiden. Bei reifen Neugeborenen und Kindern bis 2 Jahren liegt die maximale Glukosezufuhr bei 18 g/kg KG/Tag (13 mg/kg KG/min), bei älteren Kindern entsprechend geringer. Bei der zyklischen parenteralen Ernährung darf die Glukosezufuhr nicht die maximale Infusionsrate von 1,2 g/ kg KG/h (20 mg/kg KG/min) überschreiten. Eine übermäßig hohe Kohlenhydratzufuhr kann zur Nettolipogenese mit Fettdeposition und Steatose der Leber führen. Durch Zufuhr eines höheren Kalorienanteils aus Fettemulsionen kann dem vorgebeugt werden (. Tab. 4.5; . Tab. 4.4).
Lipidemulsionen Die Infusion von Lipidemulsionen erlaubt die Zufuhr einer hohen Energiedichte (bei 20%-igen Emulsionen ca. 20 kcal/ ml) mit isoosmolaren Lösungen. In der Praxis kann eine Deckung des bei Säuglingen und Kindern hohen Energiebedarfes unter parenteraler Ernährung nur durch die regelmäßige Fettinfusion erreicht werden. Ein angemessener Anteil Fett (. Tab. 4.4) an der Energiezufuhr ermöglicht darüber hinaus die Vermeidung zu hoher Glukoseinfusionsraten und beugt so einer Leberverfettung vor. Zudem
49 4.2 · Parenterale Ernährung
. Tab. 4.5. Übersicht über die Empfehlung zur Glukosezufuhr bei Kindern ohne Komplikationen oder Indikationen für reduzierte oder erhöhte Zufuhr
. Tab. 4.6. Maximale Lipidzufuhrmenge
Glukose pro kg KG pro Tag
Tag 1
Tag 2
Tag 3
Tag 4+
<10 kg
8
12
14
16–18
<15 kg
6
8
10
12–14
15–20 kg
4
6
8
10–12
20–30 kg
4
6
8
<12
>30 kg
3
5
8
<10
sind Lipidemulsionen zur Deckung des Bedarfes an essenziellen Fettsäuren unverzichtbar notwendig, da sich bei fettfreier parenteraler Ernährung bereits innerhalb einer Woche ein klinisch manifester Mangel an essenziellen Fettsäuren einstellen kann. Bei Säuglingen und Kindern werden in der Regel nur Emulsionen mit niedrigem Lezithin-Triglyzerid-Verhältnis eingesetzt, wie es in üblichen 20%-igen Emulsionen gegeben ist. In Deutschland sind für die Anwendung im Kindesalter derzeit Emulsionen aus Sojaöl, Sojaöl mit mittelkettigen Triglyzeriden (MCT) sowie eine Emulsion aus Olivenöl und Sojaöl zugelassen, die alle Hühnereiweißlezithin als Emulgator sowie Glyzerin zur Anpassung der Osmolarität enthalten. Für Sojaölemulsionen liegen langjährige Erfahrungen und sehr umfangreiche Daten zur Sicherheit und Nebenwirkungsarmut bei Säuglingen und Kindern vor. Allerdings ist ihre Zusammensetzung dem kindlichen Bedarf nicht optimal angepasst, da sie bei üblicher Dosierung zu einer übermäßig hohen Zufuhr an mehrfach ungesättigten Fettsäuren führen. Hier besteht Besorgnis hinsichtlich einer möglichen vermehrten Lipidperoxidation und daraus resultierender Gewebeschädigung insbesondere bei Patienten mit hohem oxidativen Stress (z. B. bei Infektionen) und schlechter antioxidativer Abwehr (z. B. Frühgeborene). Da Sojaölemulsionen gleichzeitig nur geringe Konzentrationen der biologisch wirksamen Form des antioxidativen Vitamin E (Tocopherol) enthalten und ein niedriges Verhältnis zwischen diesem Antioxidans und den durch das Antioxidans zu schützenden Doppelbindungen der mehrfach ungesättigten Fettsäuren entsteht, sollte mit der Infusion von Sojaölemulsionen stets gleichzeitig Vitamin E supplementiert werden. Die für die pädiatrische Anwendung zugelassene, überwiegend auf Olivenöl basierende Emulsion weist eine günstiger erscheinende Fettsäurezusammensetzung und einen höheren Vitamin-E-Gehalt auf. Sie ist daher zu bevorzugen. Für die Zukunft werden weitere Entwicklungen und eine Verbreiterung des Angebotes verfügbarer Fettemulsionen erwartet, beispielsweise Emulsionen mit langkettigen Omega-3-Fettsäuren, die möglicherweise auch für Säuglinge vorteilhaft sein könnten.
Maximale Zufuhr
Maximale Infusionsrate
Säuglinge
3–4 g/kg/Tag
0,13–0,17 g/kg/h
Ältere Kinder
2–3 g/kg/Tag
0,08–0,13 g/kg/h
> Lipidemulsionen sollten ca. 25–40% der Nichteiweißenergie bei totaler PE betragen.
Um einen Mangel an essenziellen Fettsäuren zu vermeiden, wird eine Mindestzufuhr von 0,25 g/kg KG & Tag an Linolsäure bei Frühgeborenen und 0,1 g/kg KG/Tag bei reifen Neugeborenen und Kindern empfohlen. Lipidinfusionen sollten bei Neugeborenen und jungen Säuglingen über 24 h, mit Beginn einer zyklischen Infusion währen der Dauer der übrigen PE verabreicht werden (. Tab. 4.6). Die Triglyzeridkonzentrationen im Serum oder Plasma sind in regelmäßigen Abständen unter laufender Infusion zu bestimmen. Sie sollten 250 mg/dl (2,8 mmol/l) bei Säuglingen und 400 mg/dl (2,4 mmol/l) bei älteren Kindern nicht überschreiten. Carnitin spielt eine große Rolle beim Transport von langkettigen Fettsäuren in die Mitochondrien und ist dadurch unerlässlich für die β-Oxidation. Carnitin ist kein Bestandteil der kommerziellen Lipidemulsionslösungen. Der Carnitinspiegel sinkt während einer langen carnitinfreien parenteralen Ernährung. Die Supplementierung von Carnitin wird aufgrund von Carnitin-Bestimmungen im Blut und Urin individuell entschieden.
Elektrolyte Der Bedarf an Natrium und Kalium ist besonders bei Neugeborenen stark von der Diurese abhängig (. Tab. 4.4). Bei geringer Wasserzufuhr kann z. B. der Kaliumbedarf auf 0,5 mmol/kg KG/Tag absinken. Intraoperativ werden natriumreiche Lösungen mit einem Natriumgehalt >70 mmol/l infundiert, während die intraoperativ zugeführten Lösungen in der Regel kein Kalium enthalten. Der Bedarf an Kalzium und Phosphor ist stark altersabhängig und besonders hoch bei Frühgeborenen. Die parenterale Zufuhr von Kalzium ist durch die Unlösbarkeit limitiert. Bei Flüssigkeitsrestriktion, sollte auf das Kalzium-/ Phosphat-Verhältnis in der Flüssigkeit geachtet werden, da eine Erhöhung der Konzentration zu einer Ausfällung führen kann. Durch die Wahl geeigneter organischer Verbindungen (z. B. Kalziumglukonat, Natriumglyzerophosphat) kann eine für die meisten Patienten adäquate Kalzium- und Phosphatkonzentration in Lösung gebracht werden. Die Zufuhr von Kalzium sollte anhand der renalen Ausscheidung gesteuert werden, um eine Hyper- bzw. eine Hypokalziurie zu vermeiden.
4
50
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
Vitamine und Spurenelemente (. Tab. 4.7)
4
Eine über mehr als wenige Tage durchgeführte parenterale Ernährung wird grundsätzlich durch die Gabe von wasserlöslichen und fettlöslichen Vitaminen ergänzt. Wasserlösliche Vitamine werden im Organismus kaum retiniert und sollten deshalb spätestens nach wenigen Tagen einer parenteralen Ernährung zugeführt werden. Fettlösliche Vitamine werden zwar im Organismus gespeichert, so dass beispielsweise ein manifester Vitamin-A-Mangel bei einem zuvor Gesunden erst nach langer parenteraler Ernährung ohne Retinolzufuhr auftritt. Dennoch sollte bei vollständig parenteral ernährten Patienten von Beginn an ein Präparat mit fettlöslichen Vitaminen einschließlich des Antioxidans Vitamin E zugeführt werden, da parenteral ernährte Patienten ein hohes Risiko für die vermehrte Bildung von reaktiven Sauerstoffradikalen mit konsekutiver peroxidativer Membranschädigung aufweisen. Zur Dosierung bei Säuglingen und Kindern bestehen kontroverse Meinungen. Die allgemein empfohlene Dosis bei Säuglingen und Kleinkindern ist 1 ml/kg KG (maximal10 ml) der pädiatrische Formulierungen (Soluvit N und Vitalipid infant) > Die Verluste (durch Anhaften an Infusionsleitungen oder Zerstörung durch Licht) der verabreichten Vitamine sind geringer, wenn diese mit Lipidemulsionen anstatt mit Glukose-Aminosäuren-Mischlösungen infundiert wurden
Bei längerfristiger parenteraler Ernährung ist eine Supplementierung mit für pädiatrische Patienten konzipierten Spurenelementpräparaten empfehlenswert. Bei spurenelementfreier Infusion wird häufig ein Mangel an Zink und Kupfer offensichtlich. Zusätzlich werden die Spurenelemente Chrom, Eisen, Jod, Kobalt, und Selen als sicher essenziell sowie die Elemente Mangan und Molybdän als wahrscheinlich essenziell angesehen. Allerdings fehlen ausreichende Daten, um den tatsächlich notwendigen, altersbezogenen Bedarf bei parenteraler Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern zu definieren. Pragmatisch wird man einer über mehr als nur wenige Tage andauernden parenteralen Ernährung eines der für Kinder zugelassenen Spurenelementpräparate (z. B. Inzolen Infantibus [Köhler]}, Peditrace [Baxter]) in einer Dosierung von 1 ml/kg KG/ Tag, maximal 10 ml, zugeben.
4.2.8 Komplikationen und Überwachung Zu den möglichen katheterbedingten Komplikationen gehören Dislokationen, Leckagen und Abrisse, bei denen ggf. auch Fehlinfusionen (z. B. Infusothorax) auftreten können, und nicht zuletzt das Auftreten von Venenthrombosen. Okklusionen können nicht nur durch thrombotische Ablagerungen, sondern auch durch das Ausfallen von In-
. Tab. 4.7. Übersicht über die Zusammensetzung der Spurenelement-Kombinationspräparate Peditrace
Inzolen-Infantibus*
Tracitrans plus
Addel N
μg/ml
μmol/ml
μg/ml
μmol/ml
μg/ml
μmol/ml
μg/ml
μmol/ml
Zn2+
250
3,82
97
1,49
650
10,0
650
10
Cu2+
20
0,32
32
0,5
130
2,0
130
2,0
Mn2+
1
0,018
27
0,5
27
0,5
27
0,5
Cr3+
0
0
80
0,16
1
0,02
1
0,02
Se4+
2
0,025
0
0
3,2
0,04
3,2
0,04
Spurenelmente
F–
57
3,0
0
0
95
5,0
95
5,0
I–
1
7,88
0
0
13
0,1
13
0,1
Mo6+
0
0
0
0
Fe3+
0
0
91
1,63
1,9 110
0,02 2,0
1,9 110
Elektrolyte
μmol/ml
μmol/ml
μmol/ml
μmol/ml
Na+
0
500
<6,5
0
K+
0
500
<1,0
0
Mg2+
0
250
0
0
Ca2+
0
250
0
0
Cl–
0
0
35,1
0
0,02 2,0
51 4.2 · Parenterale Ernährung
fusionsbestandteilen insbesondere bei Mischungen inkompatibler Lösungen auftreten (z. B. hohe Kalziumkonzentrationen in Kombination mit Heparin und Lipidemulsionen). Besonders gefürchtete, vergleichsweise häufig auftretende Komplikationen sind Katheterinfektion und Kathetersepsis. Zu den metabolischen Komplikationen bei parenteraler Ernährung gehören u. a. Hyper- und Hypoglykämie, osmotische Diurese besonders bei starker Hyperglykämie, Hyperlipidämie, Dysproteinämie, metabolische Azidose, Akkumulation von Harnstoff und Ammoniak, hepatozelluläre Schäden, Cholestase, Cholelithiasis sowie das Auftreten einer Mangelversorgung beispielsweise von Elektrolyten, essenziellen Aminosäuren, essenziellen Fettsäuren, Vitaminen, Spurenelementen und Carnitin. Die Überwachung des einzelnen Patienten und die zur Erkennung möglicher infektiöser und metabolischer Risiken durchgeführten Laboruntersuchungen müssen sich nach Art und Dauer der parenteralen Ernährung, nach der vorliegenden Grundkrankheit und der aktuellen Situation des einzelnen Patienten und seines Krankheitsbildes richten. Die unten aufgeführte Übersicht kann nur eine Orientierung für ein mögliches diagnostisches Vorgehen bei parenteraler Ernährung geben, die jeweils an die Bedingungen des Einzelfalles angepasst werden muss. ! Cave Wegen der zahlreichen und z. T. irreversiblen Risiken und Komplikationen sollten pädiatrische Patienten, besonders Säuglinge, mit der Notwendigkeit einer PE über 3 Monate so früh wie möglich in Zentren mit ausreichender Erfahrung und einem entsprechendem Team überwiesen werden
PE-assoziierte Lebererkrankung. Besonders Früh- und Neugeborene mit Kurzdarmsyndrom sind wegen Unreife von Gallensäurenstoffwechsel und biliärer Exkretion gefährdet, eine cholestatische Hepatopathie zu entwickeln. Einer der Hauptrisikofaktoren sind eine fehlende Darmkontinuität (möglichst initiale Anastomose) und rezidivierende Sepsen durch bakterielle Translokation und Katheterinfektion in den ersten Lebensmonaten.
Durch folgende Maßnahmen kann das Risiko einer Hepatopathie durch parenterale Ernährung gering gehalten werden: 4 Ausgewogenes Verhältnis zwischen Kohlenhydrat- und Aminosäurenzufuhr (nicht höher als 2,5 g/kg KG/Tag bei reifen Neugeborenen). 4 Fettzufuhr (20%-ige Lösung) in Abhängigkeit vom Alter 30–45% der Kalorienzufuhr, bei Eintritt einer Cholestase evtl. Reduktion der i.v. Fettzufuhr. 4 Infusionslösungen vor Licht schützen, um eine Photooxidation von Aminosäuren zu vermeiden. 4 Frühestmöglicher Beginn der enteralen Nahrungszufuhr mit dem Ziel, möglichst 20–30% der Energiezufuhr über den Darm zu gewährleisten. 4 Zyklische PE. 4 Defizienzen an Taurin, Carnitin, Antioxidanzien wie Vitamin E und Selen leisten einer Hepatopathie Vorschub und müssen ausgeglichen werden. 4 Eine bakterielle Fehlbesiedlung konsequent behandeln (z. B. intermittierende orale Gabe von Metronidazol). 4 Zubereitung der Ernährungsinfusion unter strengsten hygienischen Bedingungen, kein Mischen oder Hinzufügen von Zusätzen in die Lösung auf Station, möglichst Heim-PE. 4 Bei Verdacht auf Sepsis frühzeitiger Antibiotikaeinsatz. 4 Bei eingetretener Cholestase Versuch mit oral Ursodesoxycholsäure: 15–20 mg/kg KG verteilt auf 3-4 Einzeldosen, Dosis langsam einschleichen. Falls keine Besserung: komplettes Absetzen der Lipidinfusionen unter Kontrolle des Fettsäurestatus.
4.2.9 Überwachungsmaßnahmen bei einer
parenteralen Ernährung Das Vorgehen ist jeweils an die Bedingungen des Einzelfalles anzupassen und insbesondere bei pathologischen Befunden oder klinischen Besonderheiten zu ergänzen!
4
52
Kapitel 4 · Spezielle enterale und parenterale Ernährung
Übersicht Überwachungsmaßnahmen in der Initialphase
4
4 Woche 1: ca. 2-mal/Woche – Körperliche Untersuchung, Anthropometrie. BB, BZ, Elektrolyte incl. Ca, P, Mg, Harnstoff, Creatinin, GOT, GPT, GLDH, γGT, AP, Bilirubin, Albumin, Triglyzeride (unter laufender Lipidzufuhr), Quick, PTT, Säurenbasenhaushalt – Urin: Ca, P, Na, K, Cl, Kreatinin 4 Woche 2–4: ca. 1-mal/Woche – Körperliche Untersuchung. BB, BZ, Elektrolyte incl. Ca, P, Mg, Harnstoff, Creatinin, GOT, GPT, GLDH, γGT, AP, Bilirubin, Albumin, Triglyzeride, Cholesterin, Quick, PTT
Überwachungsmaßnahmen bei Langzeit-PE 4 Alle 4–6 Wochen – Körperliche Untersuchung mit RR, Anthropometrie, Kontrolle Katheter und Kathetereintrittsstelle, Systemdruckmessung
Literatur Andersen HK, Lewis SJ, Thomas S (2007) Early enteral nutrition within 24h of colorectal surgery versus later commencement of feeding for postoperative complication (review). The Cochrane Library American Society for Parenteral and Enteral Nutrition (2001) Guidelines for the use of parenteral and enteral nutrition in adult and pediatric patients. JPEN 26;Suppl:1SA–138SA Ayers J, Graves SA (2001) Perioperative management of total parenteral nutrition, glucose containing solutions, and intraoperative glucose monitoring in paediatric patients: a survey of clinical practice. Paediatr Anaesth 11:41–4 Colomb V, Fabeiro M, Dabbas M, Goulet O, Merckx J, Ricour C (2000) Central venous catheter-related infections in children on long-term home parenteral nutrition: incidence and risk factors. Clin-Nutr 19:355–9 Jiang K, Chen XZ, Xia Q, Tang WF, Wang L (2007) Early nasogastric enteral nutrition for severe acute pancreatitis: a systematic review. World J Gastroenterol 13(39):5253–5260 Kaufman S (2002) Prevention of parenteral nutrition-associated liver disease in children. Pediatr-Transplant 6:37-42 Koletzko B (2007) Parenterale Ernährung. In: Reinhardt D (Hrsg.) Therapie der Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, 8. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 1976–1987 Koletzko S (2007) Erkrankungen des Dünn- und Dickdarms. In: Reinhardt D (Hrsg.) Therapie der Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, 8. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 1092–1142 Koletzko S, Koletzko B (2003) Aspekte der enteralen Ernährung im Kindes- und Jugendalter. In: Stein J, Jauch K-W (Hrsg.) Klinische Ernährung und Infusionstherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 343–357 Koletzko B, Goulet O, Hunt J, Krohn K, Shamir R; Parenteral Nutrition Guidelines Working Group; European Society for Clinical Nutrition and Metabolism; ESPGHAN, ESPR (2005) 1. Guidelines on Paediatric Parenteral Nutrition of ESPGHAN and ESPEN, Supported by the ESPR. J Pediatr Gastroenterol Nutr 41:Suppl 2:S1–S87.
– BB, BZ, Elektrolyte incl. Ca, P, Mg, Harnstoff, Creatinin, GOT, GPT, GLDH, γGT, AP, Bilirubin ges., Albumin, Triglyzeride, Quick, PTT – Urin: Ca, P, Na, K, Cl, Kreatinin 4 Etwa alle 3 Monate – Perzentilenkurven für Länge, Gewicht, Kopfumfang, ggf. Oberarmumfang, Hautfaltendicken – Blutgasanalyse, Harnsäure, LDH, Serum-Eisen, Ferritin, Zink, Carnitin, Gesamteiweiß, Eiweißelektrophorese, Folsäure, Vitamin B12, B6, A, E, Selen, Kupfer, Ammoniak, Laktat, ggf. Albumin, essenzielle Fettsäuren), TSH, Säurenbasenhaushalt – Urin: Ca, P, Na, K, Cl, Jod, Kreatinin – Ultraschall Abdomen mit Bestimmung der Lage der Katheterspitze – Überprüfung der enteralen Ernährung, Überprüfung und Anpassung der PN-Verordnung 4 Etwa alle 12 Monate – Entwicklungsdiagnostik, Röntgen-Knochenalter, IgFBP3
Koletzko B, Krohn K, Goulet O, Shamir R (2008) Paediatric parenteral nutrition. A practical reference guide. Karger, Basel Koletzko B, Cooper P, Garza C, Marides M, Uauy R, Wang W (2008) Pediatric nutrition in practice. Karger, Basel Michaud L, Guimber D, Mention K, Neuville S, Froger H, Gottrand F, Turck D (2002) Tolerance and efficacy of intravenous iron saccharate for iron deficiency anemia in children and adolescents receiving longterm parenteral nutrition. Clin Nutr 21 (5):403–7. Nelson R, Tse B, Edwards S (2005) Systematic review of prophylactic nasogastric decompression after abdominal operations. Br J Surg 92:673–680 Petrov MS, Zagainov VE (2007) Influence of enteral versus parenteral nutrition on blood glucose control in acute pancreatitis: A systematic review. Clin Nutr 26(5):514–523 Reismann M, von Kampen M, Laupichler B, Suempelmann R, Schmidt AI, Ure BM (2007) Fast-track surgery in infants and children. J Pediatr Surg 42(1):234–8 Zhou T, Wu XT, Zhou YJ, Huang X, Fan W, Li YC (2006) Early removing gastrointestinal decompression and early oral feeding improve patients’ rehabilitation after colorectostomy. World J Gastroenterol 12(15):2459–2463
5
5 Perioperatives Management von Gerinnungsstörungen K. Kurnik, C. Bidlingmaier
5.1
Präoperatives Vorgehen
5.1.1 5.1.2
Anamnese – 53 Präoperative Gerinnungsdiagnostik
– 53
5.3
5.2
Perioperative Therapieoptionen bei Gerinnungsstörungen mit Blutungsneigung – 55
5.2.1 5.2.2 5.2.3
Angeborene Blutungsneigung – 55 Erworbene Blutungsneigung – 56 Intraoperative Gerinnungsstörungen – 56
– 54
> Bei operativen Eingriffen gilt im Kindesalter die Sorge vorwiegend der Entwicklung von Blutungskomplikationen und nur in einem geringeren Maß der Entwicklung von thromboembolischen Komplikationen. Gerinnungsstörungen können sowohl angeboren als auch durch Grunderkrankungen erworben sein. Das Blutungsrisiko wird zudem in einem nicht zu unterschätzenden Maß durch die Art und dem Schweregrad sowie durch die Lokalisation der Operation beeinflusst. Bei allen angeborenen und bekannten erworbenen, aber auch akut aufgetretenen Störungen empfiehlt es sich, einen pädiatrischen Hämostaseologen hinzuzuziehen. Vorsichtsmaßnahmen sollten bereits präoperativ bedacht werden.
5.1
Präoperatives Vorgehen
5.1.1 Anamnese Eine exakte Anamnese, erhoben in einer standardisierten Form hinsichtlich der Eigen- und der Familienanamnese, gilt generell als das wichtigste Instrument zur Beurteilung des Blutungsrisikos. Jedoch ist die Sensitivität nicht hoch genug, um ein Blutungsrisiko sicher vorherzusagen. Bei Kindern kommt erschwerend hinzu, dass gerade in jüngerem Alter kaum anamnestisch verwertbare Situationen, wie z. B. vorausgegangene Operationen oder Verletzungen, zu eruieren sind. Allerdings sind Sekundäreinflüsse z. B. durch Einnahme von gerinnungsaktiven Substanzen (u. a. Antikoagulan-
Perioperative Thromboseprophylaxe – 56 Literatur – 57
zien, Thrombozytenaggragationhemmer) bei Kindern selten. Vom Wissenschaftlichen Arbeitskreis Kinderanästhesie der »Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin« wurde eine Empfehlung veröffentlicht, nach der eine Laboruntersuchung nur bei Unsicherheiten oder anamestisch-klinischem Verdacht auf eine Gerinnungsstörung nach Erhebung der Eigen- und Familienanamnese indiziert sei.
Übersicht Eigenanamnese des Kindes 4 Hat Ihr Kind vermehrt Nasenbluten ohne erkennbaren Grund? 4 Treten bei Ihrem Kind vermehrt blaue Flecken auf, auch am Körperstamm oder ungewöhnlichen Stellen? 4 Haben Sie Zahnfleischbluten ohne erkennbare Ursache festgestellt? 4 Wurde Ihr Kind schon einmal operiert? 4 Kam es während oder nach der Operation zu verstärktem oder anhaltendem Bluten? 4 Kam es beim Zahnwechsel oder beim Zahnziehen zu längerem oder verstärkten Nachbluten? 4 Hat Ihr Kind schon einmal Blutkonserven oder Blutprodukte bekommen? 4 Hat Ihr Kind in den letzten Tagen Schmerzmittel, wie z. B. Aspirin, eingenommen? 6
54
Kapitel 5 · Perioperatives Management von Gerinnungsstörungen
5.1.2 Präoperative Gerinnungsdiagnostik 4 Bekommt Ihr Kind überhaupt Medikamente, z. B. Valproat, Marcumar usw.? 4 Ist bei Ihrem Kind eine Grunderkrankung, z. B. eine Leber- oder Nierenerkrankung, bekannt?
Familienanamnese, getrennt für Mutter und Vater
5
4 Haben Sie vermehrt Nasenbluten, auch ohne erkennbaren Grund? 4 Treten bei Ihnen vermehrt blaue Flecken auf, auch ohne sich zu stoßen? 4 Haben Sie bei sich Zahnfleischbluten ohne ersichtlichen Grund festgestellt? 4 Haben Sie den Eindruck, dass Sie bei Schnittwunden (z. B. beim Rasieren) länger nachbluten? 4 Gab es bei Ihnen nach Operationen längere oder verstärkte Nachblutungen? 4 Gab es bei Ihnen beim Zahnziehen längere oder verstärkte Nachblutungen? 4 Haben Sie schon einmal Blutkonserven oder Blutprodukte erhalten? 4 Gibt es oder gab es in Ihrer Familie vermehrte Blutungsneigung?
Zusatzfragen für die Mutter 4 Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Regelblutung verlängert oder verstärkt ist oder war? 4 Kam es bei oder nach der Geburt eines Kindes bei Ihnen zu verstärkten Blutungen?
Die primäre Hämostase, bei der die Thrombozyten die entscheidende Rolle spielen, wird meist nur durch Messung der Thrombozytenzahl im Rahmen einer Blutbilduntersuchung überprüft. Die Zahl lässt aber keine Aussage zur Funktion der Thrombozyten zu. Diese versucht man heutzutage mittels der in vielen Einrichtungen vorhandenen und einfach durchzuführenden Methode der »In-vitro-Blutungszeit« am PFA-Analyzer zu testen. Allerdings liegen hier die Sensitivität und Spezifität jeweils bei maximal 80%, so dass der positive Vorhersagewert bezüglich einer Blutung niedrig ist. ! Cave Bei jedem Verdacht auf eine Thrombozytopathie (Petechien, Hämatome) sollte eine ausführliche Testung in einem spezialisierten Labor erfolgen.
Als Methoden zum präoperativen Screening der plasmatischen Gerinnung (»sekundäre Hämostase«) stehen die Globaltests – Quickwert und aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) – zur Verfügung. Mit ihrer Hilfe können vorwiegend die (seltenen) schweren Formen von Einzelfaktormängeln ausgeschlossen werden. Die Screeningtests geben allerdings wenig Sicherheit hinsichtlich milderer Mangelsituationen. Dies gilt in einem besonders hohen Maß für die milderen Formen eines Von-Willebrand-Syndroms (Typ 1, Typ 2), die zu den häufigsten Gerinnungsstörungen mit Blutungsneigung gehören (. Tab. 5.1). Zusätzlich muss die Altersabhängigkeit der einiger Einzelfaktoren, aber auch des aPTT-Wertes beachtet werden. Normalwerte finden sich bei Geburt nur für die Faktoren (F) VIII, V und I
. Tab. 5.1. Häufigkeit zu erwartender angeborener Gerinnungsstörungen Gerinnungsstörung
Anteil
Hämophilie A/B
Häufigkeit
Quick (%)
PTT (sec)
1:5000
4 Schwere Formen (<1%)
43%
n
↑↑↑
4 Mittelschwere Formen (1–5%)
26%
n
↑↑
4 Leichte Formen (6–30%)
31%
n
↑
Von-Willebrand-Syndrom
1:500
4 Typ 1
56%
n
n – (↑)
4 Typ 2
43%
n
n–↑
4 Typ 3
1%
n
↑↑
Schwerer Mangel an sonstigen Faktoren
1:100.000
n – pathologisch
n – pathologisch
Heterozygoter Mangel an sonstigen Faktoren
1:1000
n – pathologisch
n – pathologisch
Hereditäre Thrombozytopathie
1:250.000
n
n
n = Normalwert, ↑ = verlängerter Messwert
55 5.2 · Perioperative Therapieoptionen bei Gerinnungsstörungen mit Blutungsneigung
(Fibrinogen). Die anfänglich (leicht) erniedrigten Faktoren II, VII, IX, X, XI, XII, XIII steigen innerhalb der ersten 12 Lebensmonate an, der postpartal hohe Von-WillebrandFaktor normalisiert sich ebenfalls im 1. Lebensjahr. Milde Formen einer Blutungsneigung können also bei Neugeborenen und Säuglingen nicht sicher diagnostiziert werden. Zwischenzeitlich ist hinreichend belegt, dass die Ergebnisse der bisher üblichen präoperativen Diagnostik (Thrombozytenzahl, Quick, PTT) nicht mit der postoperativen Blutungsrate korrelieren. Aus diesen Gründen wird in den meisten kinderchirurgischen Einrichtungen bei kleineren (ambulanten) Operationen (u. a. Herniotomie, Zirkumzision, Adenotomie) kein Screening mehr durchgeführt. Leitlinien hierzu existieren bis heute nicht. > Eine sorgfältige Anamneseerhebung ist unerlässlich. Risikopatienten sind mittels erweiteter Gerinnungsdiagnostik gezielt zu untersuchen.
5.2
Perioperative Therapieoptionen bei Gerinnungsstörungen mit Blutungsneigung
5.2.1 Angeborene Blutungsneigung Das perioperative Gerinnungsmanagement bei Patienten mit angeborenen Formen einer Blutungsneigung sollte immer durch hämostaseologisch versierte und erfahrene Ärzte erfolgen und immer – wenn irgend möglich – in einem spezialisierten Zentrum (ausreichendes Notfalldepot, 24-Stunden-Rufbereitschaft von Ärzten und Speziallabor) durchgeführt werden. Zur Therapie bzw. zur Prophylaxe von Blutungen stehen für die meisten Einzelfaktormängel verschiedene (z. T. auch kombinierte), hinsichtlich der Wirksamkeit gleichwertige, plasmatisch oder gentechnisch (rekombinant) hergestellte Produkte, sog. Gerinnungskonzentrate zur Verfügung. Nur bei Mangel an Faktor V und Faktor XI muss auf Frischplasma (FFP), evtl. auch auf rekombinantes FaktorVIIa-Konzentrat (NovoSeven) ausgewichen werden. Es empfiehlt sich, präoperativ einen sog. Substitutionsplan zu erstellen, der zumindest auf folgende Punkte eingeht: 4 Name/Firma des einzusetzenden Gerinnungskonzentrates (z. B. Haemate HS, Fa. CSL Behring) mit Hinweis auf: 5 Lagerungsbedingungen (z. B. Kühlschrank) 5 Angaben über Ort des Depots 5 Pflicht zur Chargendokumentation (jede einzelne Ampulle muss extra dokumentiert werden!) mit Angabe von Uhrzeit der Gaben 5 Vermeidung zusätzlicher Bakterienfilter 4 Dosis und Dosierungsintervall der Präparate mit Angabe des Zeitpunktes der Initialdosis präoperativ (z. B. 1 h vor Operationsbeginn 1000 E i.v. über 5 min)
4 Dauer der Substitutionstherapie (meist bis zur abgeschlossenen Wundheilung, d. h. 8 – 10 – 14 Tage) 4 Labormonitoring (wann?, was?) 4 Vermeidung von thrombozytenaggregationshemmenden Schmerzmitteln (z. B. kein ASS) 4 Vermeidung von gerinnungshemmenden Substanzen (z. B. Heparin, nur in Ausnahmefällen nach Rücksprache mit Hämostaseologen) 4 Keine i.m. Injektionen (z. B. bei Prämedikation) 4 Notfall – Telefonnummern Im Allgemeinen richten sich bei allen angeborenen Blutungserkrankungen die Dosis und das Dosierungsintervall (Applikationsfrequenz) nach der Art und dem Schweregrad des zu Grunde liegenden Mangels sowie nach der Halbwertszeit des entsprechenden Gerinnungsfaktors. Angestrebt werden in der Regel sog. Normalwerte, die auch nach Ablauf der jeweiligen Halbwertszeit nicht wesentlich unterschritten werden sollten. Die Therapie sollte die gesamte Wundheilungsphase andauern. > Die Berechnung der Dosis der Gerinnungskonzentrate erfolgt nach einer einfachen Regel: 1 Einheit Konzentrat/kg KG erhöht die Restaktivität um 1–2%.
Eine Einheit ist definiert als diejenige Aktivität, die in 1 ml FFP enthalten ist. Zusätzlich kann bei allen Blutungsformen (insbesondere bei Schleimhautblutungen) die adjuvante Gabe eines Antihyperfibrinolytikums diskutiert werden (Tranexamsäure, Cyclokapron, 10–20 mg/kg alle 6–8 h, i.v., p.o., topisch). Nachdem das häufige Von-Willebrand-Syndrom ein sehr heterogenes Krankheitsbild beschreibt, ist hier präoperativ die Kenntnis der exakten Diagnose (Typ 1, Typ 2, Typ 3) und der individuellen Blutungsneigung (Anamnese!) unbedingt notwendig. Bei der Therapie muss entschieden werden zwischen der Gabe von von-Willebrand-Faktorhaltigen Faktor-VIII-Konzentrat oder der Gabe von Minirin, einem ADH-Analogon (alle 12–24 h, Dosis: i.v.: 0,2–0,4 μg/kg KG in 50 ml NaCl 0,9% über 30 min, nasal: 150– 300 μg Octostim). Wegen der ausgeprägten Tachyphylaxie von Minirin/Octostim ist nach 2–4 Gaben kein Effekt mehr nachweisbar. Diese Medikamente stellen also nur eine Therapieoption für milde Von-Willebrand-Formen mit kleinen Eingriffen (z. B. Zahnextraktionen) dar. ! Cave Minirin sollte wegen der Gefahr einer Hyponatriämie und zerebraler Krampfanfälle nicht an Kinder unter dem 3. bis 4. Lebensjahr verabreicht werden. Auf eine erhöhte Flüssigkeitszufuhr ist zu verzichten. Die Wirkung von Minirin sollte präoperativ getestet werden (Bestimmung von aPTT, Faktor VIII, Von-Willebrand-Faktor nach 30 und 60 min, nach 2 h und 4 h. nach Beendigung der Gabe).
5
56
Kapitel 5 · Perioperatives Management von Gerinnungsstörungen
Die perioperative Therapie von angeborenen Thrombozytopathien muss sorgfältig überdacht werden, da die Gefahr der Immunisierung durch die Gabe von Thrombozytenkonzentraten hoch ist. Dieses Risiko kann durch die Verabreichung von HLA-kompatiblen Thrombozyten vermindert werden. Als Alternative für manches Thrombozytenkonzentrat steht seit einiger Zeit das rekombinante Faktor VIIa – Präparat (NovoSeven) zur Verfügung, das für die Behandlung von Patienten mit einem M. Glanzmann und zusätzlichem Antikörpernachweis die Zulassung besitzt. Die empfohlene Dosis ist mit 90 μg/kg i.v. alle 1,5–2,5 h angegeben.
5
wertes sowie der Thrombozytenzahl, fallen pathologisch aus. In vielen Situationen hat sich aber gezeigt, dass alleinige Substitutionen von Gerinnungsfaktoren durch FFP-Gaben die Blutungen nicht suffizient kontrollieren. Gezielte Hinweise auf eine optimale Therapie kann heutzutage die moderne Form der Weiterentwicklung des Thrombelastogramms (»ROTEM«) bieten. Mangels der Häufigkeit an schweren, bedrohlichen, intraoperativen Blutungskomplikationen steht diese Methode, die eine gezielte Therapie mit Gerinnungsprodukten (PPSB, Einzelfaktorkonzentrate wie u. a. Fibrinogen oder Faktor XIII, Thrombozyten) erleichtert, nur wenigen kinderchirurgischen Einrichtungen zur Verfügung.
5.2.2 Erworbene Blutungsneigung 5.3 Bereits präoperativ können anamnestisch zu eruierende erworbene Gerinnungs- und Thrombozytenstörungen mit Blutungsneigung vorliegen. Ursachen hierfür können sein: die Gabe von Medikamenten mit bekannten Auswirkungen auf die Gerinnung oder Thrombozyten (z. B. Antikonvulsiva – Valproat! –, Antikoagulanzien, Immunsuppressiva) sowie zugrunde liegende Erkrankungen (z. B. Hepatopathien jeglicher Genese, Tumor- und Gefäßerkrankungen). Therapeutisch wird hier ähnlich wie bei den angeborenen Störungen vorgegangen. Wegen der höheren Virussicherheit und des geringeren Volumens ist entsprechend der vorliegenden Störung die Gabe von Faktorenkonzentraten zu bevorzugen. Nur bei fehlender Alternative sollte auf die Gabe von FFP ausgewichen werden.
5.2.3 Intraoperative Gerinnungsstörungen Im Kindesalter ist bei fast allen Operationen ein unkomplizierter Verlauf ohne vermehrten Blutverlust zu erwarten. In manchen Fällen (Eingriffe mit hohem Blutverlust, Operationen bei Mehrfachverletzten, Herz-, Neuro-, Tumorchirurgie) ist ein höherer Blutverlust vorhersehbar. Gelegentlich treten jedoch auch unerwartete Blutungsereignisse auf. Daraus kann sehr schnell das Bild einer »Dilutionskoagulopathie« entstehen. Dieser Begriff beschreibt das Nebeneinander von durch die Operation und die Blutung bedingten Verlust und gesteigerten Verbrauch an Gerinnungsfaktoren (entsprechend ihrer jeweiligen Halbwertszeiten). Hinzu kommt die Verdünnung (»Dilution«) der Plasmafraktion durch Transfusion von Erythrozytenkonzentraten und kristallinen Lösungen (oder Plasmaexpandern). Je nach Eingriff (insbesondere bei HNO-, Trauma- oder neurochirurgischen Eingriffen) wird zusätzlich die Fibrinolyse vermehrt aktiviert. Laboranalytisch präsentiert sich die Dilutionskoagulopathie wie eine Verbrauchskoagulopathie (DIC). Die Gerinnungsglobalteste, evtl. einschließlich des Fibrinogen-
Perioperative Thromboseprophylaxe
Im Verlauf der letzten Jahre ist trotz der im Vergleich zu Erwachsenen geringen Thromboserate zunehmend die Bedeutung einer perioperativen Thromboseprophylaxe auch bei Kindern gestiegen. Die Begründung liegt darin, dass sich zum einen vermehrt Kinder mit diagnostizierten, abgelaufenen Thrombosen zu einer Operation vorstellen, und zum anderen darin, dass Jugendliche heutzutage viel früher somatisch den Erwachsenen gleichgestellt werden müssen. Die Ursachen für Thrombosen sind vielfältig, sie können angeboren (. Tab. 5.2) und/oder erworben (u. a. entzündlich/rheumatisch, maligne) sein. Das perioperativ erworbene Thromboserisiko ist vor allem in Abhängigkeit von Operation, Gefäßkathetern und Immobilisation zu sehen. Angeborene Risikofaktoren werden in der Regel erst im Rahmen einer aufgetretenen Thrombose identifiziert, sind also im Kindesalter präoperativ meist unbekannt. Auch hier kann eine exakte Familienanamnese wertvolle Hinweise liefern. In die chirurgischen Leitlinien für Erwachsene wurde in Bezug auf Kinder und Jugendliche aufgenommen, dass eine stationäre und ambulante Thromboseprophylaxe in der Chirurgien und perioperativen Medizin nur in »Ausnahmefällen erforderlich ist. Bei Jugendlichen mit beginnenden Pubertätszeichen (Tanner II) sind expositionelle und dispositionelle Risikofaktoren wie bei Erwachsenen zu bewerten; ggf. sollte eine risiko- und dosisadaptierte medikamentöse Thromboembolieprophylaxe durchgeführt werden.« Dies ist auch bei präpubertierenden Kindern ab einem Gewicht über 50 kg (bzw. Body-Mass-Index >25 kg/m2) sowie bei bekannten, angeborenen und/oder zusätzlich erworbenen Risikofaktoren zu bedenken. Eine »Pflicht« zur Thromboseprophylaxe besteht in der Regel nach vorausgegangen, nicht mehr therapierten thrombotischen Ereignissen. > Bei allen Jugendlichen wird insbesondere bei großen Wirbelsäulen-, Thorax-, Abdomen- und Hüft-/BeinOperationen eine perioperative Thromboseprophylaxe empfohlen.
57 5.3 · Perioperative Thromboseprophylaxe
. Tab. 5.2. Prävalenz und Thromboserisiko bei angeborenen thrombophilen Risikofaktoren Angeborener Defekt
Prävalenz Normalbevölkerung
Prävalenz Thrombosepatienten
Thromboserisiko (erhöht)
Faktor-V-Leiden (G1691A)
2–7%
20–30%
3- bis 5-fach (heterozygot) 50- bis 80-fach (homozygot)
Prothrombinmutation (G20210A)
2–4%
5–15%
3-fach (heterozygot)
Antithrombinmangel
0,02%
1%
10- bis 20-fach
Protein-C-Mangel
0,2–0,3%
2–3%
10-fach
Protein-S-Mangel
0,1–0,2%
1–2%
10-fach
Lipoprotein(a)-Erhöhung
~7%
~20%
Erhöht, wenn >30 mg/dl oder wenn > 1 Jahr
. Tab. 5.3. Dosierungsempfehlung für eine Prophylaxe mit niedermolekularen Heparinen bei Kindern/Jugendlichen
<2 Monate
Zielspiegel (Anti-Faktor Xa, E/ml)
Enoxaparin (s.c.) (Clexane)
Dalteparin (s.c.) (Fragmin)
0,2–0,4
0,75 mg/kg KG/12 h oder 1,5 mg/kg KG/24 h
50–100 E/kg/24 h
>2 Monate
0,5 mg/kg KG/12 h oder 1,0 mg/kg KG/24 h
Jugendliche
20 mg/40 mg
Therapeutische Optionen. Zur Prophylaxe, aber auch zur Therapie von Thrombosen haben sich auch in der Pädiatrie seit Mitte der 90er-Jahre die niedermolekularen Heparine (NMH) in ihrer subkutanen Darreichungsform durchgesetzt. Allerdings müssen die Eltern der Patienten wegen der fehlenden Zulassung für Kinder <18 Jahre mit dem Einsatz einverstanden sein. Selbstverständlich müssen zuvor sämtliche Kontraindikationen für eine Antikoagulation (z. B. hämorrhagische Diathesen) ausgeschlossen sein. Bei Kindern und Jugendlich wird mit der Prophylaxe meist erst postoperativ (nach 6–8 h) begonnen. In . Tab. 5.3 sind die in der pädiatrischen Literatur dokumentierten Präparate mit ihren jeweiligen Dosierungen aufgelistet. Bei notwendiger präoperativer Gabe von NMH sollte der Abstand zwischen Gabe und Operationsbeginn (12–)24 h betragen. Ein Monitoring der prophylaktischen Therapie mit NMH wird nur in Ausnahmefällen (z. B. Nieren-, Leberinsuffizienz) empfohlen. Das Procedere bei Kindern unter einer selten indizierten oralen Antikoagulation bedarf eines individuell angepassten Vorgehens, das in Absprache mit dem Hämostaseologen zu treffen ist.
Literatur Bidlingmaier C, Eberl W, Kurnik K (2007) Präoperative Gerinnungsdiagnostik im Kindesalter. pädiat prax 70:41–47 Bidlingmaier C, Eberl W, Kurnik K (2007) Perioperatives Gerinnungsmanagement im Kindesalter, 1. Auflage, UNIMED Verlag
2500 E/5000 E
Bolton-Maggs PH, et al. (2004) The rare coagulation disorders – review with guidelines for management from the united kingdom haemophilia centre doctors’ organisation. Haemophilia 10:593–628 Enke A, Haas S, Riess H, et al. (2003) Stationäre und ambulante Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie und der perioperativen Medizin. Interdisziplinäre Leitlinie. Phlebologie 32:164–169 Frederici AB, et al. (2002) Guidelines for the diagnosis and managemant of von Willebrand disease in Italy. Haemophilia 8:607-621 Innerhofer P, Streif W, Kuhbacher G, Fries D (2004) Monitoring of perioperative dilutional coagulopathy using the ROTEM Analyzer: Basic principals and clinical examples. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther. 12:739–744 Kitchens CS (2005) To bleed or not to bleed? Is that the question for the PTT? J Thromb Haemost. 12:2607–11 Kurnik K, Bidlingmaier C (2004) Moderne Antikoagulation im Kindesalter. Monatsschr Kinderheilkd 152(5): 581-593 Nowak-Göttl U, Duering C, Kempf-Bielack B, et al. (2003) Thromboembolic diseases in neonates and children. Pathophysiol Haemost Thromb 33 (5-6): 269–274 Nowak-Göttl U, Heller C, Knöfler R, et al. (2004) Thrombosen im Kindesalter. In: Deutsche Gesllschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (Hrsg.) Leitlinien Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Urban & Fischer, München Patel RI, et al. (1997) Preoperative laboratory testing in children undergoing elective surgery: Analysis of current practice. J Clin Anesth 9:569–575 Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Hämotherapie) gemäß §§ 12 und 18 des Transfusionsgesetzes (Novelle 2005). www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/Richtidx/Blutprodukte2005Nov/index.html Strauß J, Becke K, Schmidt J (2006) Gerinnungsstörungen: Auf die Anamnese kommt es an. Dtsch Ärztebl 103:B1670
5
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6
6 Chirurgische Aspekte bei hämatologischen Erkrankungen U.B. Graubner
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3
Kongenitale hämolytische Anämien mit möglichen Indikationen zur Splenektomie Anämien bei Membrandefekten – 59 Anämien bei Synthesestörungen des Hämoglobins – 61 Anämien bei Erythrozytenenzymdefekten
6.2
Erworbene Autoimmunerkrankungen mit möglichen Indikationen zur Splenektomie
6.2.1 6.2.2
Idiopathische thrombozytopenische Purpura Autoimmunhämolytische Anämien – 63
6.3
Infektionsprophylaxe bei Splenektomie – 63
6.3.1 6.3.2
Impfungen – 64 Chemoprophylaxe
– 59
– 63
– 63 – 63
– 64
Literatur – 64
> Im Vordergrund der chirurgischen Aspekte bei hämatologischen Erkrankungen stehen Splenektomie und Cholezystektomie. Die Milz ist der primäre Ort des frühzeitigen Abbaus von entweder defekten Erythrozyten bei kongenitalen hämolytischen Anämien oder von Antikörper-beladenen Erythrozyten (bzw. Thrombozyten) bei Autoimmunerkrankungen. Sie kann dadurch kontinuierlich an Größe zunehmen und zu hämatologischen sowie mechanischen Beeinträchtigungen des Patienten führen. Durch vermehrten Abbau von Hämoglobin entstehen Gallensteine (Bilirubinsteine), die bei Patienten mit hämolytischen Anämien oftmals schon ab dem Schulkindalter nachweisbar sind. Die Indikation zur Splenektomie und ggf. Cholezystektomie ist nicht nur abhängig von der individuellen Ausprägung der Grunderkrankung, sondern ebenfalls vom Alter und hämatologischen Status des Patienten. Auch im Hinblick auf das lebenslang erhöhte Infektionsrisiko nach Splenektomie muss sie deshalb unbedingt gemeinsam von Kinderchirurgen und pädiatrischen Hämatologen gestellt werden. Im folgenden Kapitel sollen diejenigen hämatologischen Erkrankungen dargestellt werden, deren Klinik und/oder Therapie Besonderheiten für den Kinderchirurgen aufweisen. Auf die Infektionsprophylaktischen Maßnahmen vor und nach Splenektomie wird detailliert eingegangen.
6.1
Kongenitale hämolytische Anämien mit möglichen Indikationen zur Splenektomie
6.1.1 Anämien bei Membrandefekten Hereditäre Sphärozytose (Kugelzellanämie) Sie ist in Mitteleuropa die häufigste angeborene hämolytische Anämie (Häufigkeit 1:5000); 75% der Patienten haben eine positive Familienanamnese mit einem dominanten Erbgang, bei 25% liegt entweder eine Neumutation oder ein rezessiver Erbgang vor. Ursache der Erkrankung sind genetisch bedingte Defekte der Erythrozytenmembranproteine Ankyrin, Bande 3, Spektrin u. a. Sie führen zu einer verminderten Verformbarkeit der Membran und einem frühzeitigen Abbau der Erythrozyten in der Milz.
Klinik Die klinischen Zeichen Anämie, Milzvergrößerung und hämolytischer Ikterus (. Abb. 6.1) weisen eine große Variabilität auf; deshalb hat sich die Einteilung in 3 Schweregrade durchgesetzt: leichte (keine Anämie, kein Transfusionsbedarf), mittelschwere (Hämoglobinwerte zwischen 8 und 11 g/dl, transfusionsbedürftige Krisen möglich) und schwere Sphärozytose (Hämoglobinwerte <6 g/dl, regelmäßige Transfusionen notwendig). Im Labor finden sich Zeichen der gesteigerten Hämolyse: Retikulozytose, erhöhtes indirektes Bilirubin, erhöhte LDH und vermindertes Haptoglobin. Die mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration (MCHC) ist erhöht.
60
Kapitel 6 · Chirurgische Aspekte bei hämatologischen Erkrankungen
. Abb. 6.1. Sklerenikterus bei hereditärer Sphärozytose
6
. Abb. 6.2. Kugelzellen
Diagnose Entscheidend in der Diagnostik sind die Beurteilung des Blutausstrichs mit Nachweis von Kugelzellen (. Abb. 6.2), die nur in ganz leichten Fällen einer hereditären Sphärozytose fehlen können, und die Testung der osmotischen Fragilität, die obligatorisch erhöht ist. Die Analyse der Erythrozytenmembranproteine ist fakultativ möglich. Differenzialdiagnostisch muss eine immunhämolytische Anämie ausgeschlossen werden.
Therapie Eine kausale Therapie der genetisch bedingten Erythrozytenmembrandefekte steht nicht zur Verfügung. Bei schweren hämolytischen Krisen und bei aplastischen Krisen infolge einer Infektion mit Parvovirus B19 sind Erythrozytenkonzentrattransfusionen erforderlich, üblicherweise bei einem Hb-Abfall unter 6 g/dl, bei Säuglingen bei Hb-Werten <7 g/dl. Die Splenektomie führt zu einer Normalisierung der Hämoglobinkonzentration und der Retikulozytenzahlen. Sie ist indiziert bei mittelschwerer und schwerer HS, nicht dagegen bei leichter HS. Sie sollte grundsätzlich nur in Ausnahmefällen vor dem Schulalter durchgeführt werden, da junge Kinder ein besonders hohes Risiko für eine in bis zu 50% letale Postsplenektomiesepsis haben. Das Risiko für eine späte Sepsis ist lebenslang erhöht (Eber 2006).
Seit Mitte der 90er-Jahre sammelten mehrere Arbeitsgruppen Erfahrungen mit der subtotalen Splenektomie bei Patienten mit hereditärer Sphärozytose (Bader-Meunier et al. 2001; Eber et al. 2001; Stoehr et al. 2006). Dabei wird ein unterschiedlich großer Milzrest belassen in der Absicht, die immunologische Funktion der Milz zu erhalten und gleichzeitig die hämolytische Anämie zu verbessern. 40 Patienten mit einer subtotalen Resektion von 80–90% der vergrößerten Milz und einer Nachbeobachtungszeit zwischen einem und 14 Jahren zeigten postoperativ einen signifikanten und persistierenden Anstieg des Hämoglobins; bei 31 dieser 40 Patienten konnte eine persistierende phagozytische Funktion der Milz nachgewiesen werden; ein starkes Wachstum des Milzrestes führte bei 3 der 40 Patienten zu einer sekundären totalen Splenektomie (Bader-Meunier et al. 2001). Bei weiteren 16 Patienten wurde nach subtotaler Splenektomie (70–90%) ebenfalls eine Verbesserung der Hämolyse sowie ein Erhalt der Milzfunktion nachgewiesen, allerdings kam es bei 4/16 Kinder in den darauffolgenden Jahren zu einem deutlichen Nachwachsen der Milz (Rice et al. 2003). 1995 wurde die Technik der nahezu vollständigen Splenektomie eingeführt, wobei das Restvolumen der Milz nur ca. 10 cm3 beträgt. 30 Patienten wurden nach nahezu vollständiger Splenektomie zwischen einem und acht Jahren nachbeobachtet; neben einem signifikanten Anstieg des Hb-Wertes insbesondere bei Kindern mit schwerer Form einer hereditären Sphärozytose fiel ein nur geringes Nachwachsen des Milzrestes auf (28–71 cm3; Stoehr et al. 2006). Die Bildung von Gallensteinen wird weder durch subtotale noch durch nahezu vollständige Splenektomie verhindert. In den aktuellen nationalen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin zur Therapie der hereditären Sphärozytose (Eber 2007) wird die Durchführung einer nahezu vollständigen Splenektomie bei folgenden Patienten empfohlen: 4 Patienten, die eine schwere oder sehr schwere Sphärozytose haben 4 Patienten, bei denen die Milz vor dem 6. Lebensjahr entfernt werden muss 4 Patienten, die zusätzlich an einer Immunschwäche leiden 4 Patienten, bei denen die Compliance für eine postoperative Antibiotikaprophylaxe nicht gegeben ist 4 Patienten, die ein erhöhtes Infektionsrisiko aufweisen > Die Splenektomie bei hereditärer Sphärozytose ist ab dem Schulalter indiziert bei schweren Formen mit häufigem oder regelmäßigem Transfusionsbedarf. Die nahezu vollständige Splenektomie stellt eine vielversprechende Methode dar, die in kinderchirurgischen Zentren in den kommenden Jahren weiterhin überprüft werden muss.
Die Cholezystektomie ist indiziert bei Patienten mit Gallensteinen und dadurch bedingten rezidivierenden Koliken. Liegt gleichzeitig eine mittelschwere oder schwere transfu-
61 6.1 · Kongenitale hämolytische Anämien mit möglichen Indikationen zur Splenektomie
sionsbedürftige HS vor, kann die Cholezystektomie mit einer Splenektomie kombiniert werden. Bei leichter HS sollte lediglich cholezystektomiert werden.
Hereditäre Elliptozytose Bei diesem ebenfalls häufigen Erythrozytenembrandefekt erkranken nur ca. 10% der Patienten an einer Hämolyse. Typisch sind die stäbchenförmigen Elliptozyten im Differenzialblutbild. Klinisch und genetisch werden 4 Formen unterschieden. Wie bei der HS ist die Splenektomie nur bei mittelschwerer und schwerer Form der Elliptozytose indiziert (Eber 2006).
6.1.2 Anämien bei Synthesestörungen
des Hämoglobins β-Thalassämie β-Thalassämien sind autosomal-rezessiv vererbte quantitative Störungen der Hämoglobinsynthese mit stark verminderter oder fehlender Bildung der β-Globinketten. Sie kommen endemisch überwiegend im Mittelmeerraum und in Afrika vor, spielen aber auch in Deutschland durch den Zuzug von Menschen aus den genannten Ländern bzw. Kontinenten eine zunehmend große Rolle.
Klinik Die homozygote β-Thalassämie gilt als klinisch schwerste Form der Erkrankung. Betroffene Kinder werden im ersten Lebensjahr auffällig mit Blässe, Ikterus, Gedeihstörung und Hepatosplenomegalie. Ohne gezielte, lebenslang notwendige Transfusionstherapie kommt es zu Wachstumsstörungen und Knochenverformungen. Eine besondere Gefährdung stellt mit zunehmendem Lebensalter die sekundäre Hämosiderose dar, die ohne adäquate Eisenchelattherapie in ihren schwersten Ausprägungen zu Veränderungen im Bereich des Herzmuskels (Kardiomyopathie), der Leber (Leberfibrose) und des Pankreas (Diabetes mellitus) führen kann.
Diagnose Hämatologisch dominiert eine schwere hämolytische Anämie mit ineffektiver Erythropoese (d. h. es findet Hämolyse bereits im Knochenmark statt). Im Blutbild zeigen sich eine ausgeprägte Anisozytose und Poikilozytose sowie Targetzellen und Erythroblasten. Entscheidend ist die Durchführung einer Hämoglobinelektrophorese, die bei der β-Thalassämie eine fehlende oder stark verminderte Synthese der ß-Globinketten aufweist.
Therapie Eine kausale Therapie ist noch nicht möglich. Als kurative Maßnahme steht die Knochenmarktransplantation bei vorhandenem HLA-identischem Familienspender, ggf. auch Fremdspender, für Patienten ohne schwere sekundäre Hämosiderose zur Verfügung. Die symptomatische Therapie
umfasst regelmäßige (und lebenslange) Transfusionen von Erythrozytenkonzentraten und eine Chelattherapie zur Verhütung bzw. Abschwächung der krankheits- und therapiebedingten sekundären Hämosiderose (Kulozik 2006). Die Hauptindikation zur Splenektomie ist die Zunahme des Transfusionsbedarfs von >200–250 ml Erythrozyten/kg KG und Jahr; nach Splenektomie kann dieser und die zugeführte Eisenmenge um ca. 20% gesenkt werden. Seltenere Indikationen sind ein Hyperspleniesyndrom (vermehrter Abbau auch von Thrombozyten und Leukozyten) sowie mechanische Behinderung bei Splenomegalie. Gallensteine sollten – sobald sie Symptome verursachen – über eine Cholezystektomie entfernt werden. > Die wichtigste Indikation zur Splenektomie bei Patienten mit homozygoter β-Thalassämie ist die Zunahme des jährlichen Transfusionsbedarfs auf >200 ml/kg KG/Jahr.
Sichelzellerkrankungen Diesen weltweit verbreiteten Erkrankungen liegt eine autosomal-rezessiv vererbte qualitative Störung der Hämoglobinsynthese zugrunde. Eine Punktmutation im β-GlobinGen führt durch Austausch einer Aminosäure zu dem pathologischen Hämoglobin S (HbS), das entweder in homozygoter Form (HbSS) oder, durch Kombination mit anderen Mutationen im ß-Globinlokus, in doppelt heterozygoter Form vorliegt (z. B. HbSβ+, HbSC).
Klinik Sichelzellerkrankungen (SZ) sind gekennzeichnet durch eine chronisch hämolytische Anämie, schmerzhafte Gefäßverschlusskrisen (Vasookklusion), akute und chronische Organschäden und, aufgrund eines partiellen Immundefektes, eine Neigung zu schweren Infektionen. Besonderheiten der Milz. Eine häufige Komplikation bei Säuglingen und Kleinkindern ist die nicht selten letale Milzsequestrationskrise (MS), gekennzeichnet durch rasche Größenzunahme der Milz, abdominelle Schmerzen, Hb-Abfall, Retikulozytose und Schock. Sie entsteht durch plötzliches »Versacken« großer Anteile des Blutvolumens in den erweiterten Milzsinus. Die entscheidende Therapiemaßnahme ist die sofortige Transfusion von Erythrozytenkonzentrat. Da Milzsequestrationskrisen zu Rezidiven neigen, ist nach einer schweren Milzsequestrationskrise (definiert durch einen Hb-Abfall >3g /dl) auch bei jungen Kindern eine Splenektomie indiziert (Dickerhoff 2002). Bei Patienten mit homozygoter Sichelzellerkrankung (HbSS) atrophiert die Milz typischerweise bis zum Beginn des Schulalters (Autosplenektomie), so dass das Risiko für eine Milzsequestrationskrise ab dem 6. Lebensjahr nur noch gering ist. Patienten mit compound-heterozygoter Sichelzellerkrankung (HbSβThal, HbSC) hingegen können
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62
Kapitel 6 · Chirurgische Aspekte bei hämatologischen Erkrankungen
bis ins Erwachsenenalter eine große Milz aufweisen und somit auch spät noch eine MS erleiden. > Die Milzsequestrationskrise bei Patienten mit Sichelzellerkrankung ist gekennzeichnet durch plötzliche Größenzunahme der Milz, Bauchschmerzen, Hb-Abfall, Retikulozytose und Schock. Ihre schwere Verlaufsform mit Hb-Abfall >3 g/dl ist wegen der Rezidivgefahr eine Indikation zur Splenektomie.
Besonderheiten des Gastrointestinaltraktes. Die mög-
6
lichen Ursachen für Bauchschmerzen bei SZ-Patienten sind zahlreich: Milzsequestrationen, Gallensteine, Lebersequestrationen und das sog. Girdle-Syndrom, das durch Infarkte in Mesenterialgefäßen entsteht und sich als extrem schmerzhafter paralytischer Ileus äußert. ! Cave Bei SZ-Patienten können vasookklusive Krisen der Mesenterialgefäße ein extrem schmerzhaftes akutes Abdomen mit paralytischem Ileus verursachen (GirdleSyndrom). Eine Laparatomie ist nicht indiziert, die Therapie ist konservativ. Entscheidend sind Nahrungskarenz, Flüssigkeitssubstitution, intravenöse Schmerztherapie, Transfusion, eventuell Durchführung einer partiellen Austauschtransfusion.
alters. Bei Fieber sind Antibiotika immer indiziert; bei Verdacht auf Sepsis müssen Pneumokokken und H. influenzae berücksichtigt werden, Salmonellen bei Verdacht auf Osteomyelitis.
Übersicht Therapeutische Optionen bei Patienten mit Sichezellerkrankungen 4 Indikationen für Transfusionen – Schwere Milzsequestrationskrise – Aplastische Krise durch Parvovirus B19 4 Indikationen für eine partielle Austauschtransfusion zur Senkung des HbS-Anteils im Blut – Akutes Organversagen durch Gefäßverschlusskrisen, z. B. akutes Thoraxsyndrom, schweres Girdle-Syndom – Geplante große chirurgische Eingriffe (Dickerhoff u. Kulozik 2006) 4 Indikationen zur Cholezystektomie – Rezidivierende Bauchschmerzen und Koliken aufgrund von Gallensteinen 4 Indikationen der Splenektomie – Schwere Milzsequestrationskrise
Akutes Thoraxsyndrom. Klinische Zeichen sind Fieber,
Supportive perioperative Therapiemaßnahmen. Um Kin-
Thoraxschmerzen, Tachy-Dyspnoe, Husten und Hypoxie. Das Thorax-Röntgenbild zeigt neue Verschattungen. Differenzialdiagnostisch ist es meist nicht möglich, zwischen einer Pneumonie und einer Vasookklusion der Pulmonalgefäße zu entscheiden.
der mit Sichelzellerkrankung sicher zu operieren sind folgende Regeln sorgfältig zu beachten (Dover u. Platt 2003; Watanabe et al. 2005): 4 Eine Auskühlung des Patienten ist zu vermeiden, dafür sollten Operation sowie Aufwachraum eine Temperatur zwischen 25°C und 29°C haben. 4 Unmittelbar vor und nach Intubation und Extubation ist für einige Minuten die Ventilation mit 100% Sauerstoff empfohlen. 4 Intra- und postoperativ sind Oxygenierung, Hydrierung und der Ausgleich des Säure-Basen-Haushalts besonders zu beachten
Diagnose Die Diagnosesicherung erfolgt durch eine Hämoglobinelektrophorese oder molekulargenetisch. Das Neugeborenenscreening ist in Deutschland – im Gegegensatz zu USA, England, Frankreich – noch nicht etabliert, sollte aber in Risikogruppen durchgeführt werden.
Therapie Als kurative Maßnahme steht die Knochenmarktransplantation bei HLA-identischem Familienspender für Patienten mit besonders schwerer Manifestation einer Sichelzellerkrankung zur Verfügung. In der symptomatischen Behandlung von Schmerzkrisen werden Hydrierung und Analgetika eingesetzt. In Abhängigkeit von der Schmerzintensität folgt die analgetische Therapie einem Stufenplan, der für starke Schmerzen den Einsatz von Morphinum hydrochloricum als Dauerinfusion vorsieht. Aufgrund ihrer funktionellen Asplenie erhalten Patienten mit Sichelzellerkrankung zur Infektionsprophylaxe regelmäßige Pneumokokkenimpfungen sowie eine orale Penicillinprophylaxe bis zum Erreichen des Erwachsenen-
Zur Beantwortung der Frage, welches präoperative Transfusionsregime die postoperative Komplikationsrate bei Sichelzellpatienten senken kann, wurde in USA eine prospektive, randomisierte Studie mit mehr als 600 HbSS-Patienten durchgeführt (»Preoperative Transfusion in Sickle Cell Disease Study Group«; Vichinsky 1995). Die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Vergleich zwischen einer einfachen Transfusion (Anheben des präoperativen Hb-Wertes auf 10 g/dl) mit einer partiellen Austauschtransfusion (Senkung des HbS-Anteils auf <30%) waren die folgenden: 4 In beiden Gruppen betrug die postoperative Komplikationsrate 30%. 4 Die häufigste und schwerste Komplikation war das akute Thoraxsyndrom (10% in jedem der beiden Studienarmen) mit Beginn am 3. postoperativen Tag und einer
63 6.3 · Infektionsprophylaxe bei Splenektomie
durchschnittlichen Länge von 8 Tagen. Eine Intubation erforderten 11% der Patienten, 2 Patienten starben. 4 Eine höhere postoperative Komplikationsrate hatten Patienten mit größeren chirurgischen Eingriffen und einer Anamnese mit akutem Thoraxsyndrom sowie häufigen stationären Behandlungen.
kosteroide; auch Immunsuppressiva können in besonderen Fällen zum Einsatz kommen. Die Splenektomie ist im Kindesalter nur ausnahmsweise bei chronischer ITP mit unkontrollierbaren Blutungen indiziert (Imbach et al. 2006).
> Die Konsequenzen aus dieser Analyse ist die Indikation zur präoperativen Anhebung des Hb-Wertes auf 10 g/dl bei allen Sichelzellpatienten. Postoperative Sauerstoffgabe über mindestens 12 h sowie intravenöse Hydrierung sind bei allen Patienten mit erhöhtem Risiko für ein akutes Thoraxsyndrom indiziert.
6.2.2 Autoimmunhämolytische Anämien
6.1.3 Anämien bei
Erythrozytenenzymdefekten Zahlreiche vererbbare Enzymdefekte sind für angeborene nicht-sphärozytäre hämolytische Anämien verantwortlich. Die meisten Erkrankungen sind sehr selten. Kausale Therapien stehen bisher nicht zur Verfügung. Als symptomatische Therapie ist die Vermeidung von Hämolyse-auslösenden Substanzen bei Patienten mit Glukose-6-PhosphatDehydrogenase-Mangel (G-6PD-Mangel) wichtig. Patienten mit Pyruvatkinasemangel (und auch anderen, selteneren Enzymdefekten) profitieren von einer Splenektomie bei schwerer hämolytischen Anämie mit Transfusionsabhängigkeit, nicht jedoch bei milder Anämie (Pekrun et al. 2006).
6.2
Autoimmunhämolytische Anämien (AIHA) entstehen durch Bildung von Autoantikörpern gegen Erythrozytenantigene: Autoantikörper vom Wärmetyp reagieren bei einer Körpertemperatur von 37°C am stärksten mit Erythrozyten, Kälte-Autoantikörpern haben ihr Wirkungsoptimum bei Temperaturen von 0–4°C. Kälteautoantikörper vom Donath-Landsteiner-Typ lösen die paroxysmale Kältehämoglobinurie aus, die häufigste akute AIHA im Kindesalter, die ebenso wie die AIHA vom Wärmetyp mit Infektionen assoziiert sein kann (Salama u. Gaedicke 2006). Die Splenektomie ist im Kindesalter nur ausnahmsweise bei schwerer chronischer AIHA indiziert. Patienten mit IgG-Autoantikörpern sprechen besser auf eine Splenektomie an als Patienten mit IgM-Autoantikörpern, da IgGAntikörper-beladene Erythrozyten fast ausschließlich in der Milz abgebaut werden (Ware 2003). ! Cave Aufgrund des nach Splenektomie lebenslang bestehenden Risikos für schwere Infektionen muss jede Indikation zur Splenektomie bei Kindern und Jugendlichen mit hämatologischen Erkrankungen gemeinsam vom Kinderchirurgen und pädiatrischen Hämatologen gestellt werden.
Erworbene Autoimmunerkrankungen mit möglichen Indikationen zur Splenektomie
6.2.1 Idiopathische thrombozytopenische
Purpura Klinik Die idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP) ist charakterisiert durch erniedrigte Thrombozytenzahlen und mukokutane Blutungen. Sie wird unterteilt in eine akute (≤6 Monate) und eine chronische Form (> 6 Monate). Ihre Inzidenz wird mit 4–5 auf 100.000 Kinder angegeben.
Therapie Gemäß einer Stadieneinteilung und Behandlungsempfehlung von Imbach (Imbach 2003) ist in den häufigen Stadien I und II mit fehlender oder schwacher Blutungsneigung keine Behandlung indiziert; im Stadium III (= wiederholte Schleimhautblutungen ohne Hb-Abfall) kann individuell medikamentös, im Stadium IV mit manifester Blutung und Hb-Abfall muss medikamentös behandelt werden. Zur Verfügung stehen in erster Linie Immunglobuline und Korti-
6.3
Infektionsprophylaxe bei Splenektomie
Wichtigstes Risiko nach Splenektomie ist eine Postsplenektomie-Infektion (»overwhelming postsplenectomy infection«; OPSI) in Form einer fulminanten bakteriellen Sepsis oder/und Meningitis mit einer Letalität von 50–80%. Die Sepsisletalität ist gegenüber einem gesunden Kind mit intakter Milz 350-fach größer nach Splenektomie bei Patienten mit Sichelzellanämie und 1000-fach größer nach Splenektomie bei Thalassämie. Bis zu 70% der Postsplenektomie-Infektionen treten in den ersten 2–3 Jahren nach Splenektomie auf, eine Sepsis kann aber bis zu 40 Jahren nach Splenektomie vorkommen (Weiß 2007; Eber et al. 1999). Die häufigsten Erreger sind Streptococcus pneumoniae (etwa 60%), Haemophilus influenzae und Neisseria meningitidis mit 30%, seltener Staphylococcus aureus, Escherichia coli und andere gramnegative Erreger.
6
64
6
Kapitel 6 · Chirurgische Aspekte bei hämatologischen Erkrankungen
6.3.1 Impfungen
Literatur
Die Pneumokokkenimpfung ist eine unverzichtbare Prophylaxemaßnahme bei jeder elektiven Splenektomie. Es sollte spätestens 2 Wochen vor dem Eingriff geimpft werden. Wird die präoperative Impfung versäumt, muss 2–4 Wochen nach Splenektomie geimpft werden. Für Kinder >2 Jahre steht der 23-polyvalente Polysaccharidimpfstoff zur Verfügung, für Kinder<2 Jahre die Pneumokokken-Konjugatvakzine (7-valent). Für asplene Kinder und Patienten mit Sichelzellerkrankung gilt, dass sie nach Abschluss des 2. Lebensjahres wegen ihrer erhöhten Gefährdung zusätzlich zur bereits durchgeführten Pneumokokken-Konjugatvakzine eine Impfung mit der 23-valenten Polysaccharidvakzine erhalten. Diese Impfung muss alle 3–6 Jahre aufgefrischt werden. Durch Asplenie bzw. Splenektomie gefährdete Patienten sollen auch mit der Meningokokken-Konjugatvakzine (Serotyp C, monovalent) geimpft werden, auch diese Impfung wird ca. 3jährlich wiederholt. Die Impfung gegen Haemophilus influenzae Typ b (Hib) gehört inzwischen bei allen Kindern zur Grundimmunisierung. Bei Kindern nach dem 18. Lebensmonat und bei Erwachsenen ist eine Hib-Impfung ausreichend (Weiß 2007; Stiko 2006).
Bader-Meunier B, Gauthier F, Archambaud F, et al. (2001) Long-term evaluation of the beneficial effect of subtotal splenectomy for management of hereditary spherocytosis. Blood 97:399–403 Dickerhoff R, Kulozik AE (2006) Sichelzellkrankheit. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.): Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 179–185 Dickerhoff R (2002) Milzsequestrationen bei Patienten mit Sichelzellerkrankungen. Klin Pädiatr 214:70–73 Dover GJ, Platt OS (2003) Sickle cell disease. In: Nathan DG, Orkin SH, Ginsbury D. Look AT (eds) Nathan and Oski´s hematology of infancy and childhood, 6th ed. Saunders, Philadelphia, S. 790–841 Eber SW, Bolkenius M, Heidemann P, et al. (2001) Subtotale Splenektomie bei hereditärer Sphärozytose im Kindesalter. Chir Gastroenterol 17:12–17 Eber SW (2006) Angeborene Erythrozytenmembrandefekte. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.): Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 123–138 Eber S (2007) Hereditäre Sphärozytose. In: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (Hrsg.) Leitlinien Kinder-und Jugendmedizin. Urban & Fischer, München Gladwin MT, Lottenberg R, Walters C (2005) Sickle cell disease: advances in pathogenesis and management. hematology. Am Soc Hematol Educ Program, pp 51–73 Imbach P (2003) Refractory idiopathic immune thrombocytopenic purpura in children – current and future treatment options. Ped Drugs 5:795–801 Imbach P, Kühne T, Gaedicke G (2006) Idiopathische thrombozypenische Purpura. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.): Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg Bew York, S. 357–367 Kulozik AE (2006) Thalassämien. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.): Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 169–178 Mitteilungen der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut (2006) Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert-Koch-Institut. Epidemiol Bulletin 30/2006, S.235–254 Reliene R, Mariani M, Zanella A, et al. (2002) Splenectomy prolongs in vivo survival of erythrocytes differently in spectrin/ankyrin- and band 3-deficient hereditary spherocytosis. Blood 100:2208–2215 Rice HE, Oldham KT, Hillery CA, et al. (2002) Clinical and Hematologic Benefits of Partial Splenectomy for Congenital Hemolytic Anemias in Children. Ann Surg 237:281–287 Stoehr GA, Sobh JN, Luecken J, et al. (2006) Near total splenectomy for hereditary spherocytosis: clinical prospects in relation to disease severity. Br J Heamatol 132:791–793 Vichinsky EP, Neumayr LD, Haberkern C, et al. (1995) A comparison of conservative and aggressive transfusion regiments in the perioperative management of sickle cell disease. The Preoperative Transfusion in Sickle Cell Disease Study Group. N Engl J Med 333:206–213 Ware RE (2003) Sickle Cell Disease, in: Nathan DG, Orkin SH, Ginsbury D. Look AT (ED) Nathan and Oski´s hematology of infancy and childhood, 6th ed. Saunders, Philadelphia, S. 790–841 Watanabe M, Wicklund BM, Woods GM (2005) Coagulopathies and sickle cell disease. In: Ashcraft KW, Holcomb III GW, Murphy JP (eds) Pediatric surgery, 4th ed. Elsevier Saunders, Philadelphia, pp 51–63 Weiß M, Bartmann P, Belohradsky BH, et al. (2008) Infektionsprophylaxe bei Asplenie. In: Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (Hrsg.) Handbuch Infektionen bei Kindern und Jugendlichen, 5. Auflage, im Druck
6.3.2 Chemoprophylaxe Für splenektomierte Kinder wird die Penicillin-V-Prophylaxe empfohlen: 2×200.000 I.E./Tag= 2×125 mg/Tag bis zum 5. Lebensjahr; 2×400 000 I.E./Tag = 2×250mg/Tag ab dem 5. Lebensjahr. In den ersten 2 Lebensjahren kann alternativ auch Amoxicillin (20 mg/kg KG/Tag) eingesetzt werden. Bei Penicillinunverträglichkeit wird ein Makrolid (Erythromycin oder Clarithromycin) verabreicht (Weiß 2007) Diese Empfehlungen gelten für Patienten mit Thalassämie und Sichelzellerkrankung mit vergleichsweise hohem Infektionsrisiko bis zum Erwachsenenalter (Weiß 2007). Splenektomierte Patienten mit hereditärer Sphärozytose und Elliptozytose sollten eine mindestens 3-jährige Penicillinprophylaxe erhalten; bei Splenektomie vor dem 10. Lebensjahr muss sie in jedem Fall bis zum Erreichen des 10. Lebensjahres durchgeführt werden (Eber 2006). ! Cave Unverzichtbare Infektionsprophylaxemaßnahmen vor und nach Splenektomie sind: 4 Impfungen gegen Pneumokokken, Meningokokken (Typ C) und Haemophilus influenzae 4 Tägliche orale Penicillin-V-Prophylaxe möglichst bis zum Erreichen des Erwachsenenalters
7
7 Pädiatrische Intensivmedizin T. Nicolai 7.1
Prinzipien der Pädiatrischen Intensivmedizin – 65
7.2
Monitoring
7.3
Organersatzverfahren – 66
7.3.1 7.3.2
Beatmung – 66 Schocktherapie, differenzierte Kreislauftherapie – 70 Nierenversagen: Dialyse, Hämofiltration – 71 Leberversagen – 71 Mangelnde enterale Ernährbarkeit – 71
7.3.3 7.3.4 7.3.5
– 66
> Die pädiatrische Intensivmedizin ermöglicht gegenüber der Versorgung auf einer Normalstation erheblich intensivierte klinische Überwachungs- und Therapieverfahren. Hierzu gehören unter anderem die Beatmung, invasive Kreislauftherapie, aber auch Nierenersatzverfahren, ECMO, Leberdialyse, Plasmapherese, kardiale »assist devices« etc. Durch intensivmedizinische Maßnahmen und die dadurch erreichbare Stabilisierung des Patienten wird das Risiko großer chirurgischer Eingriffe entscheidend gesenkt. Die postoperative Intensivtherapie hat viele Eingriffe auch im Kindesalter überhaupt erst möglich gemacht. Im vorliegenden Kapitel werden wesentliche intensivmedizinische Maßnahmen wie künstliche Beatmung oder differenzierte Kreislauftherapie beim Schock dargestellt.
7.1
Prinzipien der Pädiatrischen Intensivmedizin
Die grundlegende Funktion der pädiatrischen Intensivmedizin besteht in der Bereitstellung von gegenüber der Versorgung auf einer Normalstation erheblich intensivierter klinischer Überwachungsmöglichkeiten einschließlich besonderer apparativer Verfahren. Hierdurch wird die rechtzeitige Erkennung lebensbedrohlicher Entwicklungen und Komplikationen möglich. Ihre Behandlung erfolgt dann unter Einschluss von Verfahren, die auf einer Normalstation nicht zum Einsatz kommen können:
7.4
Therapie von Begleiterkrankungen und -problemen – 72
7.4.1 7.4.2 7.4.3
Frühgeburtlichkeit – 72 Fehlbildungssyndrome – 72 Pädiatrische Grunderkrankungen, die zu chirurgischen Interventionen Anlass geben
– 72
Literatur – 72
4 Die Anwendung hochpotenter Kreislaufmedikamente aus der Gruppe der Adrenergika, der Nachlastsenker etc., deren Einsatz nur unter strengster klinischer und auch invasiver Überwachung erlaubt ist. 4 Die künstliche Beatmung, die in vielen Fällen das wesentliche Kriterium der Intensivpflichtigkeit eines Kindes sein wird, ist die zweite Säule der Intensivmedizin. 4 Verschiedene organersetzende Verfahren sind im Akuteinsatz ebenfalls nur in der intensivmedizinischen Umgebung möglich. Hierzu gehören unter anderem die Nierenersatzverfahren, ECMO, Leberdialyse, Plasmapherese, kardiale »assist devices« etc. Der Einsatz dieser Maßnahmen ermöglicht es, z. B. bei schweren chirurgischen Erkrankungen, einschließlich Polytraumen genügend Zeit zu gewinnen, um eine problemzentrierte Diagnostik soweit voranzutreiben, dass die Entscheidung für oder gegen einen bestimmten chirurgischen Eingriff gefällt werden kann. Gleichzeitig wird durch intensivmedizinische Maßnahmen und Stabilisierung des Patienten das Risiko großer chirurgischer Eingriffe entscheidend gesenkt (z. B. bei Gerinnungsstörungen, Kreislaufinsuffizienz, septischen Zuständen). Die zweite wesentliche Rolle der Intensivmedizin für die Kinderchirurgie besteht in der postoperativen Aufrechterhaltung der Homöostase und damit häufig der Übernahme von vitalen Funktionen. Die besonderen Anforderungen der pädiatrischen Intensivmedizin im kinderchirurgischen Kontext bestehen in
66
7
Kapitel 7 · Pädiatrische Intensivmedizin
der engen Kooperation zwischen dem Intensivteam (Ärzte und Schwestern) und dem verantwortlichen Chirurgen sowie den für diagnostische Maßnahmen jeweils erforderlichen zusätzlichen Abteilungen (Radiologie, Organspezialisten etc.). Infolge der Breite des in der Kinderchirurgie möglichen Krankheitsspektrums ist es in diesem Rahmen nicht möglich, auf alle für einzelne Krankheitsbilder jeweils spezifisch zugeschnittenen intensivmedizinische Abläufe und Maßnahmen einzugehen. Insbesondere die präoperative diagnostische Abklärung und Einschätzung des Patienten erfordert viel Erfahrung und kann nicht in schematischer Weise erfolgen. Ebenso wird die Erkennung von Komplikationen bei postoperativen Patienten davon abhängen, dass einerseits Vitalparameter und andere Messwerte breit und systematisch überwacht werden, andererseits aber auch die jeweils operationsspezifischen Gefährdungen und Probleme antizipiert werden. Im vorliegenden Kapitel werden wesentliche intensivmedizinische Maßnahmen wie künstliche Beatmung oder differenzierte Kreislauftherapie beim Schock dargestellt. Bezüglich spezifischer Krankheitsbilder mit teilweise sehr komplizierten und speziellen Therapieabläufen muss auf die entsprechende Spezialliteratur verwiesen werden (z. B. Flüssigkeitstherapie bei Schwerverbrannten; Nicolai 2007). Auf die im Bereich der Intensivmedizin außerordentlich wichtige Thematik der Analgosedierung wird hier nicht eingegangen (7 Kap. 2).
7.2
Monitoring
Durch die höhere Personaldichte und apparative Ausstattung lässt sich ein intensives Monitoring auf Intensivstationen durchführen. Insbesondere invasive Verfahren, wie eine arterielle Blutdruck- und Blutgaskontrolle, wiederholte Messungen des Herz-Zeit-Volumens sowie des Lungenwassers lassen sich mit speziellen Kathetern und Monitoren auch bei kleinen Kindern durchführen. Die Beatmung kann durch endexspiratorische CO2-Messung, Pulsoxymetrie oder kontinuierliche Blutgasanalyse über einen liegenden arteriellen Spezialkatheter überwacht werden. Die physiologischen und pathophysiologischen Grenzen der Methoden müssen jedoch in Betracht gezogen und durch eigene Erfahrung im Kontext bewertet werden. So ist z. B. eine nichtinvasive Herz-Zeit-Volumenmessung bei Vorliegen eines Vitium cordis mit Rezirkulation oder Shunt ebenso problematisch zu bewerten wie bei schweren Allgemeinerkrankungen, z. B. bei septischem Schock. Therapeutische Entscheidungen dürfen nicht an einem einzelnen Messwert oder an einer einzelnen Methodik festgemacht werden. Die Beurteilung der Validität einzelner gemessener Werte stellt eine der wesentlichen Leistungen der pädiatrischen Intensivmedizin dar und hängt von der Erfahrung der Ärzte ab.
Andere Monitoringverfahren, wie z. B. das kontinuierliche EEG mit einer Auswertung der Sedierungstiefe, sind prinzipiell zwar auch im Kindesalter installierbar; häufig fehlt jedoch eine Validierung der Messergebnisse für Kinder, insbesondere unter den spezifischen intensivmedizinischen Bedingungen und bei einzelnen Krankheitsbildern. Auch hier kann keine schematische Interpretation gemessener Einzelwerte erfolgen, ohne zu falschen Entscheidungen zu kommen.
7.3
Organersatzverfahren
Intensivmedizin stellt per se kein heilendes Verfahren dar, sondern zielt auf den Gewinn wertvoller Zeit ab. Dies erlaubt es, spontane Heilungsprozesse des Patienten zur Wirkung kommen zu lassen oder durch chirurgische bzw. medikamentöse Interventionen pathologische Prozesse zu bessern, während die gestörten Organfunktionen durch intensivmedizinische Maßnahmen ganz oder teilweise ersetzt werden. Typische Verfahren der Intensivtherapie umfassen die medikamentöse Behandlung der Kreislaufinsuffizienz, die oft schwierige genaue Titrierung der Volumenzufuhr für den individuellen und zeitlich variierenden Bedarf des schwerst kranken Patienten sowie spezifische Organunterstützungen oder Ersatzverfahren. Hier stehen die Beatmung (einschließlich nichtinvasiver Verfahren zur Atemunterstützung) sowie der Ersatz von Nieren- und teilweise der Leberfunktion, die Stützung oder Manipulation des Gerinnungssystems sowie die parenterale Energiezufuhr im Mittelpunkt. In der Folge sollen einige wesentliche Prinzipien der intensivmedizinisch am häufigsten angewandten Maßnahmen (insbesondere der Kreislaufunterstützung und der Beatmung) in der Folge in einer pathophysiologisch orientierten Darstellungsweise abgehandelt werden.
7.3.1 Beatmung Indikationen Die Indikation zu einer künstlichen Beatmung kann aus ganz verschiedenen Gründen gegeben sein (. Abb. 7.1; Nicolai 2006): 4 Verminderte Bewusstseinslage. Sie führt zum Verlust der Schutzreflexe (Schutz vor Aspiration). 4 Versagen der Thoraxpumpe bei normaler Lunge dar. Dies kann einerseits durch einen inadäquaten Atemantrieb, z. B. bei Schädel-Hirn-Trauma, Sepsis oder als Folge von Sedierung und Schmerztherapie verursacht sein. Andererseits kann bei multiplen Rippenfrakturen, Zwerchfellhernien, Zwerchfellrupturen sowie pleuralen Schmerzen nach Verletzungen und Operationen die mechanische Integrität oder Funktion des Thorax gestört sein.
67 7.3 · Organersatzverfahren
. Abb. 7.1. Invasive Beatmung bei schwerem Lungenversagen
4 Lungenerkrankungen. Eine Beatmungsindikation stellen Lungenerkankungen dar, die trotz im Prinzip intakter Thoraxpumpe und intakter neurologischer Atemkontrolle eine ausreichende Spontanatmung mit erfolgreicher Oxygenierung und CO2-Elimination nicht zulassen. Hierzu zählen einerseits die primären Lungenerkrankungen wie z. B. Pneumonien, obstruktive Lungenerkrankungen und traumatische Lungenschädigungen, andererseits jedoch auch sekundäre Lungenschädigungen, wie zum Beispiel nach einem Kreislaufschock (ARDS), nach intrathorakalen Eingriffen sowie ein kardiogenes Lungenödem in Betracht (Chang 2005). 4 Atemwegsobstruktion. Eine weitere Patientengruppe benötigt eine künstliche Atemhilfe, weil die oberen oder unteren Atemwege obstruiert sind. Hierzu gehören Kinder mit Schädel- und Halsweichteilverletzungen, aber auch solche mit postoperativen Schwellungszuständen nach Eingriffen im Kopf- und Halsbereich. In den tiefen Atemwegen kommen Traumafolgen oder (z. B. bei rekonstruktiven Eingriffen an den tiefen Atemwegen) eine postoperative Ödemphase in Betracht. 4 Intrakranieller Druckanstieg. Eine vom Zustand der Lunge und der Thoraxpumpe unabhängige Indikation
. Abb. 7.2. ECMO bei einem Säugling
besteht beim intrakraniellen Druckanstieg zur gezielten Hyperventilation, z. B. bei akuter Hirnstammeinklemmung. Hier liegt jedoch wegen des begleitenden tiefen Komas ohnehin eine Indikation zumindest zur Intubation vor (GCS <8). Gelingt eine Beatmung trotz des Einsatzes der in der Folge dargestellten Verfahren nicht, kann eine Indikation zur extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) gegeben sein, die bereits beim Neugeborenen möglich ist (. Abb. 7.2; Peek u. Sosnowski 1997).
Praktische Durchführung Beatmungstrategien Die Beatmung kann im Prinzip invasiv oder nichtinvasiv erfolgen. In den letzten Jahren ist der Wert nichtinvasiver Beatmungsformen erkannt worden, insbesondere auch zur chronischen Atemunterstützung. Dennoch wird die Beatmung in den meisten akuten Situationen zunächst invasiv erfolgen müssen. Die nichtinvasive Beatmung kann mittels Masken (. Abb. 7.3), »nasal prongs« oder auch Unterdruck wie bei der eisernen Lunge oder dem Kürass erfolgen. Bei Kindern hat sich insbesondere im Neugeborenen- und
7
68
Kapitel 7 · Pädiatrische Intensivmedizin
4 Die CO2-Elimination wird durch die Einstellung des Atemminutenvolumens reguliert; ein etwaiger Anstieg des pCO2 wird also mit eine Erhöhung der Frequenz oder/und des Tidalvolumens beantwortet. 4 Davon praktisch unabhängig wird die Oxygenierung durch die Einstellung des mittleren Atemwegsdruckes (der vom PEEP stärker beeinflusst wird als vom Spitzendruck) sowie der fraktionellen Sauerstoffkonzentration in der Atemluft bestimmt.
Druckkontrollierte Beatmung In den meisten Fällen wird nicht nur in der Pädiatrie, sondern auch bei Erwachsenen eine druckkontrollierte Beatmung eingesetzt. Vorteil ist, dass der eingestellte Maximaldruck nicht überschritten werden kann, so dass eine Druckschädigung der Lunge limitiert werden kann. Schwierigkeiten können entstehen, wenn z. B. beim wachen Patienten und bei assistierter druckkontrollierter Beatmung keine ausreichende Koordination zwischen den Eigenanstrengungen des Patienten und den maschinengesteuerten Atemzügen besteht und dadurch eine Unter- oder Überbeatmung entsteht.
7
. Abb. 7.3. Nichtinvasive Maskenbeatmung als Brücke zum Weaning
Säuglingsalter auch die Rachenbeatmung über einen nicht nach endotracheal vorgeschobenen Tubus bewährt, über den zumindest ein positiver Blähdruck oder sogar eine Beatmung angeboten werden kann. Die genaue Titrierung erfordert erhebliche Erfahrung, um nicht Sekundärschäden in Kauf zu nehmen (beispielsweise durch gastrale Blähung bei zu hohen Spitzendrucken, Hypoventilation bei unzureichender Überwachung und schlechter Synchronisation oder obstruktive Zwischenfälle bei nicht ausreichender Pflege eines Rachentubus). Die viel häufiger angewandte invasive Beatmung erfordert die Intubation oder gegebenenfalls die Tracheotomie. Die künstliche Beatmung kinderchirurgischer Patienten dient oft dazu, die Zeit bis zum Wiedereinsetzen der Spontanatmung zu überbrücken, sei es postoperativ, nach einem Polytrauma oder einer anderen schweren Erkrankung. Wenn Thoraxskelett und Lunge normal sind, so können die Beatmungseinstellungen so gewählt werden, dass sie einen natürlichen Atemrhythmus nachbilden. Sind jedoch Lunge oder Thoraxwand pathologisch verändert, müssen manchmal Atemmuster gewählt werden, die unter natürlichen Bedingungen beim Menschen nicht vorkommen. Im Extremfall werden hier auch Sonderformen wie die oszillatorische oder Jet-Beatmung zum Einsatz gebracht. Die Steuerung der Beatmung erfolgt über 2 grundsätzliche Mechanismen:
> Eine genaue Adaptation der Triggerschwelle für die Auslösung von Atemzügen an die gegebenen physiologischen Verhältnisse ist erforderlich und kann im Einzelfall erhebliche Erfahrung erfordern. Wird dies nicht beachtet, kann durch eine Aufschaukelung der Beatmung mit folgender Überblähung am Ende der Exspiration eine bedrohliche Situation entstehen, obwohl durch die druckbegrenzte Beatmung der Spitzendruck nicht unkontrolliert ansteigen kann.
Andererseits kann ein zu geringes Atemminutenvolumen resultieren, wenn bei an sich ausreichend hohem Beatmungsdruck durch entgegengerichtete Atemanstrengungen des Patienten kein ausreichendes Tidalvolumen zustande kommt.
Volumenkontrollierte Beatmung Hier wird ein festes Tidalvolumen vorgegeben. Es ist immer erforderlich, gleichzeitig eine Druckgrenze einzustellen, um Schäden durch einen zu hohen Spitzendruck zu vermeiden. Der Vorteil dieser Beatmungsform liegt in dem garantierten Tidal- und damit Minutenvolumen bei entsprechender Frequenzeinstellung. Dies kann zum Beispiel bei wechselnden Obstruktionen durch Sekret oder bei Patienten mit hoher Querschnittslähmung sinnvoll sein. Ansonsten ist diese Beatmungsform in letzter Zeit in den Hintergrund getreten.
Assistierte Beatmungsformen Wo immer möglich, wird eine assistierte Beatmungsform gewählt. Im Minimalfall werden nur ein fest voreingestellter endexspiratorischer Druck sowie eine nach Anforderung des Patienten variierte inspiratorische Atemluftzufuhr
69 7.3 · Organersatzverfahren
angeboten. Diese Einstellung entspricht dem sog. CPAP und erlaubt eine vollständig freie Variation der Atmung durch den Patienten. Sollte diese Atemunterstützung nicht ausreichen, kann bei der assistierten Beatmung z. B. eine feste Anzahl von mindestens zu assistierenden Atemzügen vorgegeben werden. Löst der Patient selbst einen Atemzug aus, wird er mit der voreingestellten Druckunterstützung assistiert. Bei fehlender Eigenanstrengung werden dann die eingestellten Atemzüge zwangsweise von der Maschine appliziert. Eine assistierte Beatmungsform ist nicht sinnvoll, wenn der Patient keine Eigenanstrengungen zur Atmung unternimmt oder unternehmen kann.
Besondere Beatmungsformen Besondere Beatmungsformen bieten sich an, wenn der Patient aufgrund einer pulmonalen oder thorakalen pathophysiologischen Veränderung mit normalen Atemmustern nicht beatmet werden kann; d. h., wenn kein ausreichender Gasaustausch stattfindet, obwohl die Beatmungsparameter bis an die Grenze des noch Sicheren erhöht worden sind. Typisches kinderchirurgisches Problem ist hier die Entwicklung einer Schocklunge, entweder nach einem Trauma, hämorrhagischem Schock, Aspiration von Magensäure oder einer systemischen Sepsis. Hier hat sich die Prognose entscheidend verbessert durch die sog. lungenschonende oder »Low-tidal-volume«-Beatmung, die die Vermeidung eines Volumentraumas erlaubt. Der Mechanismus hinter diesem therapeutischen Konzept besteht darin, dass bei einer Schocklunge eine inhomogene Lungenschädigung vorliegt, bei der eine gewisse Menge an Restalveolen für eine Ventilation weiter zur Verfügung steht, während andere Lungenanteile nicht am Gasaustausch teilnehmen. Um diese sozusagen in der kranken Lunge versteckte, kleine gesunde Restlunge nicht zu zerstören, dürfen keine übermäßig großen Tidalvolumina angewendet werden, da es sonst insbesondere an den Grenzen zwischen gesundem und erkranktem Lungengewebe zu dem Auftreten extrem hoher Scherkräfte mit Zerstörungswirkung auf das an sich noch gesund gebliebene Gewebe kommt. Diese Beatmung mit besonders niedrigen Tidalvolumina erfordert oft eine permissive Hyperkapnie. Unter diesem Begriff ist das Prinzip zu verstehen, dass die Beatmungsdrucke und vor allem die Tidalvolumina nicht über ein Maß von 5–6 ml/kg hinaus gesteigert werden, auch wenn in der Folge das arterielle CO2 ansteigt. Dieser CO2Anstieg führt zu einer höheren Differenz zwischen pulmonalarteriellem und alveolärem CO2 (wobei letzteres im Wesentlichen wie in Raumluft 0 beträgt), so dass bei gleichem Atemminutenvolumen (AMV) eine höhere Anzahl von CO2-Molekülen pro Lungenoberfläche eliminiert werden können. Dies erlaubt die Abatmung der im Rahmen der Stoffwechselaktivität des Patienten pro Minute generierten CO2-Moleküle im Sinne eines »steady state« trotz niedrigerem AMV (und Tidalvolumen). Möglicherweise ist auch die entstehende Azidose protektiv für die Lunge.
Durch diese Methode (lungenschonende Beatmung unter Inkaufnahme höherer CO2-Werte) ist es gelungen, die Mortalität der Schocklunge entscheidend zu senken. Das Verfahren setzt jedoch eine sehr engmaschige Kontrolle des Patienten voraus, da sich die Tidalvolumina meist am Rande der Totraumventilation befinden und bereits kleine Änderungen der klinischen Situation zu raschen weiteren CO2Anstiege in unakzeptable Höhen führen können. Atelektasen müssen durch das gleichzeitig anzuwendende Prinzip der »offenen Lunge« mit manchmal extrem hohen PEEPWerten vermieden werden. Bei letzterem wiederum ist eine kontinuierliche genaue Kontrolle dieser hohen intrathorakalen Drücke und ihrer Wirkung auf den Kreislauf nötig. Die Parameter müssen dem sich ändernden klinischen Zustand des Patienten jeweils rasch angepasst werden. Reicht diese Beatmungsform nicht aus, kommt eine Beatmung mit NO sowie verschiedene Hochfrequenz-Beatmungsverfahren in Betracht. Bei all diesen Techniken ist in Studien keine eindeutige Verbesserung des Überlebens nachgewiesen. Dennoch können sie in der Hand des Erfahrenen im Einzelfall die Rettung eines Patienten ermöglichen. Weitere Aspekte bei der Beatmung betreffen die Lagerung des Patienten. Insbesondere die Bauchlage führt zu einer wesentlich verbesserten Ventilation der dorsalen kaudalen Lungenabschnitte, die beim gesunden, spontan atmenden Patienten die am meisten genutzten Lungenanteile sind. Diese Lungenabschnitte werden in Rückenlage durch die davor liegenden abdominellen Organe und die Thoraxorgane komprimiert, so dass sie zur Atmung nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Die Anwendung der Bauchlagerung ist insbesondere bei schwer kranken oder frisch operierten Patienten ein nicht ungefährliches Manöver. Auch für diese Lagerungsverfahren ist ein statistisch signifikanter Effekt auf das Überleben nicht nachgewiesen, dennoch kann im Einzelfall eine dramatische Besserung erzielt werden.
Adjunkte Maßnahmen Entscheidend für das Überleben von Patienten mit schweren Lungenschäden unter Beatmung ist, dass die sonstige Intensivtherapie (Wasserhaushalt, Hämodynamik, parenterale Ernährung, Infektionskontrolle und Pflege) bis ins Detail hinein auf den Patienten zugeschnitten ist. Fehler in einem der genannten Gebiete können entscheidender für das Überleben oder des Outcome des Patienten sein als etwa die Beatmungsform. Die Indikation zur Beatmung muss fortlaufend überprüft werden, da durch die zu ihrer Durchführung notwendige Intubation und die für invasive Blutgas- und sonstiges Monitoring benützten Katheter und Geräte eine zusätzliche Gefährdung durch Infektionen, Fehlbedienung etc. implizieren. Andererseits ist eine zu frühe Entwöhnung von der Beatmung unter Umständen außerordentlich schädlich, wenn dadurch ein erneutes Aufflammen des Lungenversagens provoziert wird.
7
70
Kapitel 7 · Pädiatrische Intensivmedizin
7.3.2 Schocktherapie, differenzierte
Kreislauftherapie
7
Gerade Patienten nach Polytraumen, aber auch solche mit nosokomialen Infektionen und septischem Verlauf können einen Kreislaufschock erleiden. Seine rasche Erkennung erfordert eine intensive Überwachung und ausreichende Erfahrung des Behandelnden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass als Indikator weniger der Blutdruck als andere Zeichen einer verminderten Perfusion herangezogen werden sollen. Hierzu gehört zum Beispiel eine anders nicht erklärbare Verwirrtheit, schlechte Rekapillarisierungszeit, verminderte Diurese. Der arterielle Blutdruck ist oft ein später Indikator einer eingetretenen Kreislaufinsuffizienz. Die Dauer der Kreislaufinsuffizienz korreliert direkt mit der Mortalität, so dass eine rasche Durchbrechung unbedingt angestrebt werden muss. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass eine aggressive und nach dem Erfolg (d. h. der Wiederherstellung einer guten Perfusion) gesteuerte Volumentherapie zu einer entscheidenden Besserung nicht nur des primär hypovolämen, sondern auch des septischen Schocks geführt hat (Bindl u. Nicolai 2005). Bei Kapillarundichtigkeit im Rahmen eines allgemeinen Schockzustandes oder einer Sepsis können hier durchaus in kürzester Zeit Volumina zwischen 20–160 ml/kg KG erforderlich sein. Bei der Therapiesteuerung muss stets zwischen Intravasalvolumen und extravasalen Volumeneffekten unterschieden werden. Beim Patienten mit Schocklunge kann eine übermäßige Hydrierung fatal sein. Beim Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma und Hirnödem kann andererseits eine zu zurückhaltende Volumengabe aus Sorge um eine Verschlimmerung des Hirnödems zu einem verschlechtertem Outcome führen, wenn dadurch der mittlere arterielle Druck und damit der zerebrale Perfusionsdruck in suboptimale Bereiche fällt. Es gibt jedoch Schockformen, in denen eine aggressive Volumensubstitution besonders schwierig zu titrieren ist. Hierzu gehören myokardiale Funktionsstörungen, die jedoch im kinderchirurgischen Bereich nicht allzu häufig vorkommen – typisches Beispiel wäre die besonders bei Säuglingen gelegentlich auftretende myokardiale Depression bei schweren Verbrennungen. Dennoch ist gerade bei der Behandlung von Schwerbrandverletzten eine ausreichende Volumenzufuhr die entscheidende Therapie. Hier erlaubt nur die korrekte Beurteilung des Intravasalvolumens die Steuerung der Volumentherapie. Wie in der pädiatrischen Intensivmedizin häufig, kann die Therapieentscheidung nicht von einem einzelnen Parameter der Kreislaufüberwachung oder der Klinik abhängig gemacht werden, sondern es muss unter Zusammenschau aller verfügbaren Informationen eine Bewertung der Situation vorgenommen werden.
Differenzierte Pharmakotherapie der Kreislaufinsuffizienz Volumenresistente Kreislaufschocks treten oft dadurch auf, dass es zu einer Paralyse des arteriolären Gefäßtonus gekommen ist. Dieser kann durch die Gabe von Vasokonstriktoren wie etwa Noradrenalin begegnet werden. Besteht gleichzeitig eine myokardiale Funktionsstörung im Sinne einer verminderten Kontraktilität, kann die Gabe von Adrenalin sowohl alpha- wie auch betamimetisch wirken. In weniger kritischen Situationen kann eine kardiale Funktionsunterstützung durch Dobutamin erfolgen. Hierbei ist jedoch nicht selten ein Abfall des Blutdruckes durch periphere Vasodilatation zu beobachten, so dass ein Vasopressor, wie Dopamin oder Noradrenalin zusätzlich erforderlich werden kann. Der Volumenstatus muss ständig überprüft und adjustiert werden, damit nicht ein hypovolämischer Schock mit Adrenergika therapiert wird, die zwar scheinbar zu einer Verbesserung des Blutdruckes führen, in Wirklichkeit jedoch die klinische Situation verschleiern und die Gewebshypoxie verstärken. Stets ist in Betracht zu ziehen, ob die Kreislaufsituation nicht auch durch einen relativen Steroidmangel hervorgerufen sein könnte. Im Einzelfall kann auch die Senkung der Nachlast durch Medikamente wie Milrinon und in Zukunft möglicherweise Kalzium-Sensitizer sinnvoll sein, die zu einer besseren Kontraktilität führen und gleichzeitig den peripheren Widerstand senken. Typische Indikation wäre ein volumenrefraktärer und adrenalinrefraktärer Kreislaufschock mit niedrigem »cardiac output«, hohem peripherem Widerstand und schlechter Kapillarperfusion trotz relativ normalem Blutdruck. Gegebenenfalls werden hier zusätzlich Volumenboli erforderlich, um das durch die Senkung des peripheren Widerstandes größer gewordene Gefäßgebiet ausreichend aufzufüllen. > Die differenzierte Kreislauftherapie ist nicht ungefährlich und bedarf einer ständigen Überwachung und Korrektur. Hierzu sollen möglichst vorher Zielblutdrucke oder Ausscheidungsvolumina festgelegt werden, um entsprechend die Therapie modifizieren zu können. Ein invasives Monitoring ist häufig erforderlich.
Andere Organersatzverfahren Im Gefolge einer Kreislaufinsuffizienz, aber auch unabhängig davon, kann es zum Versagen verschiedener Organsysteme kommen. Am häufigsten trifft dies für die Niere zu, obwohl dieses Problem seltener auftritt als bei erwachsenen Intensivpatienten, zumindest wenn eine intravasale Hypovolämie und längere Hypotoniephasen vermieden werden können (Moghal et al. 1998).
71 7.3 · Organersatzverfahren
7.3.3 Nierenversagen:
Dialyse, Hämofiltration Das Standardverfahren zur vorübergehenden (auch längerfristigen) Überbrückung einer Niereninsuffizienz beim Säugling und Kleinkind ist die Peritonealdialyse. Hier wird in der Regel ein chirurgisch gelegter Tenckhoff-Katheter verwendet, der zu einer wesentlichen Reduktion von Leckagen und peritonealen Infektionen beigetragen hat. Die Dialyse wird meist in manuell durchgeführten Zyklen begonnen, die sehr personalaufwändig sind, jedoch eine besonders gute Steuerbarkeit erlauben. Bei länger dauernden Dialysen kommen auch automatisierte Geräte zum Einsatz. Die Zusammensetzung der Dialyseflüssigkeit wird je nach erforderlichem Effekt (Wasserentzug, Elektrolytkorrektur) verändert, eine genaue Bilanzierung des gesamten Flüssigkeitshaushaltes ist erforderlich. Eine Peritonealdialyse ist manchmal jedoch nicht möglich (nach abdominellen Operationen, bei Peritonitis) oder zur Entgiftung bei bestimmten Substanzen nicht geeignet. Mit Hilfe neuer Kathetertypen und sehr fein steuerbarer Blutpumpen ist dann die Durchführung der Hämofiltration, Hämodiafiltration oder Hämodialyse auch bei kleinen Kindern gut möglich. Wegen der Invasivität, des Risikos rascher Volumen- oder Elektrolytverschiebungen sowie der erforderlichen Antikoagulation ist die Durchführung jedoch an eine genaue Überwachung aller Vitalparameter sowie des apparativen Aufbaues während der Blutwäsche gebunden. Kleine Kinder müssen eventuell sediert werden, um eine gefährliche Dislokation der zentralen Gefäßkatheter zu vermeiden. Wegen der Kleinheit der Katheter können sich besondere Schwierigkeiten in der Durchführung ergeben (Ansaugen des venösen Schenkels, Gerinnselbildung im System bei zu niedrigen Blutflüssen). Eine genaue Geräteeinweisung und -beherrschung einschließlich des Managements von Komplikationen und
. Abb. 7.4. Leberdialyse bei einem Kind vor Lebertransplantation
akuten technischen Problemen ist erforderlich, eine Person muss in der Nähe des Kindes präsent sein.
7.3.4 Leberversagen Das zum Glück seltene Leberversagen stellt außerordentlich hohe Anforderungen an das intensivmedizinische Monitoring und die Therapie der verschiedenen Sekundärprobleme. Fast alle anderen Organe können beim schweren Leberversagen mitbetroffen sein (Lungenversagen, Hypoxie durch Shunt-Entwicklung, Nierenversagen, pulmonale Hypertonie, Hirnödem, Blutungsneigung etc.). Mittels spezieller, an die Hämofiltration angelehnter Entgiftungsverfahren (MARS etc.; . Abb. 7.4) hofft man, vorübergehend oder als Brücke zur Lebertransplantation die Sekundärschäden so weit zu vermindern, dass ein Überleben möglich wird. Diese Verfahren sind auch beim Kind einsetzbar, der letzte Beweis der Nützlichkeit dieser Methoden steht jedoch bisher aus. Die Indikationsstellung und Durchführung stellt wie generell die Behandlung des Kindes mit Leberversagen hohe Anforderungen an das behandelnde Team.
7.3.5 Mangelnde enterale Ernährbarkeit Ein sehr häufiges Problem stellt das postoperative oder z. B. posttraumatische Versagen des Verdauungssystems dar. Eine Heilung und Konsolidierung des Operationsergebnisses erfordert oft Reparationsvorgänge, für die eine anabole Stoffwechsellage und die Bereitstellung ausreichender Nährstoffe notwendig sind. Beim Kind mit seinen stark vom Körpergewicht, Reifealter und ggf. Begleiterkrankungen abhängigen Bedarf an Kalorien, Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, Wasser und Spurenelementen sowie Vitaminen ist die Durchführung einer ganz oder teilweise parenteralen
7
72
Kapitel 7 · Pädiatrische Intensivmedizin
Ernährung eine anspruchsvolle Detailarbeit. Einen Sonderfall stellen Kinder mit Vorerkrankungen wie z. B. Mukoviszidose, entzündlichen Darmerkrankungen oder Kurzdarmsyndrom nach nekrotisierender Enterokolitis dar. Hier muss oft konsiliarischer Rat der Organspezialisten eingeholt werden.
postoperative Betreuung zu ermöglichen. Insbesondere sind eine enge Abstimmung mit der Infektiologie und eine Antizipation der möglichen Komplikationen der jeweiligen Grunderkrankungen für die perioperative Phase entscheidend.
Literatur 7.4
Therapie von Begleiterkrankungen und -problemen
7.4.1 Frühgeburtlichkeit
7
Bei der Diagnostik und Therapie dieser besonderen Patientengruppe sind erfahrene, das gesamte Spektrum der Neonatologie beherrschende Behandler erforderlich, um chirurgische Eingriffe in diesem Lebensalter zu ermöglichen. Da die chirurgischen Eingriffe in der Regel entweder durch angeborene Fehlbildungen notwendig (Herzfehler, Darmunwegsamkeiten und andere lebensbedrohliche Fehlbildungen) oder zur Therapie sekundärer Probleme im Rahmen der Frühgeburtlichkeit (nekrotisierende Enterokolitis mit Perforation) erforderlich werden, erfolgt in vielen Kliniken die prä- und postoperative Pflege durch die Neonatologen, während der Kinderchirurg die notwendigen chirurgische Maßnahmen festlegt. Diese Aufgabenteilung hat sich wegen der extremen Spezialisierung der modernen Neonatologie in vielen Kinderkliniken bewährt.
7.4.2 Fehlbildungssyndrome Manche Kinder mit angeborenen Fehlbildungssyndromen oder z. B. Stoffwechselerkrankungen bedürfen nicht nur einer chirurgischen Versorgung, sondern auch medizinischer Maßnahmen zum Überleben. Die Kooperation zwischen Kinderintensivmedizinern und Kinderchirurgen zum Management hat sich sehr bewährt. Anders als in der Erwachsenenmedizin sind diese Kinder nur schwer rein unter den Gesichtspunkten z. B. des anästhesiologischen postoperativen Managements ausreichend zu therapieren. Häufig muss das gesamte Spektrum der pädiatrischen Diagnostik und Therapie (einschließlich endoskopischer Verfahren (Manna 2006) mit herangezogen werden, um den komplexen Problemen gerecht zu werden.
7.4.3 Pädiatrische Grunderkrankungen,
die zu chirurgischen Interventionen Anlass geben Hier sind onkologische Erkrankungen zu nennen, aber auch respiratorische Erkrankungen wie z. B. die zystische Fibrose. Wiederum ist die interdisziplinäre KinderIntensivmedizin erforderlich, um eine gute prä- und
Bindl L, Nicolai T (2005) Management of septic shock and acquired respiratory distress syndrome in pediatric cancer patients. Klin Padiatr 217:S130–42 Chang AC (2005) Common problems and their solutions in paediatric cardiac intensive care. Cardiol Young 15:169–73 Moghal NE, Brocklebank JT, Meadow SR (1998) A review of acute renal failure in children: incidence, etiology and outcome. Clin Nephrol 49:91–5 Nicolai T (2006) The physiological basis of respiratory support. Paediatric Respiratory Reviews 7:97–102 Nicolai T (2007) Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Peek GJ, Sosnowski AW (1997) Extra-corporeal membrane oxygenation for paediatric respiratory failure. Br Med Bull 53:745–56
8
8 Chirurgische Infektionen D. Roesner, G. Fitze 8.1
Allgemeine Infektionslehre – 73
8.1.1 8.1.2 8.1.3
Art, Menge und Virulenz der Keime – 74 Beschaffenheit der Wunde – 74 Abwehrkraft des Organismus – 74
8.2
Ursachen von Infektionen – 75
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5
Virogene Infektionen – 75 Bakterielle Infektionen – 75 Mykogene Infektionen – 77 Epizootien – 77 Helminthen – 78
8.3
Entzündungsausbreitung – 78
8.3.1 8.3.2
Lokale Entzündung – 78 Systemische Entzündung – 79
8.4
Infektionsarten
8.4.1 8.4.2
Weichteilinfektionen – 79 Nosokomiale Infektionen – 80
8.4.3 8.4.4 8.4.5 8.4.6
Katheterinfektionen – 81 Infektionen bei immunsupprimierten Patienten – 81 Peritonitis – 82 Pleuraempyem – 83
8.5
Grundsätze der chirurgischen Infektionsbehandlung – 84
8.6
Prävention von Infektionen – 84
8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.6.4
Chirurgische Wundversorgung Antibiotikaprophylaxe – 84 Endokarditisprophylaxe – 85 Impfungen – 86
– 84
Literatur – 86
– 79
> Der menschliche Organismus ist von einer unzähligen Menge von Mikroorganismen umgeben. Dringen diese Krankheitserreger in uns ein, dann laufen Wechselbeziehungen zwischen dem Eindringling und dem Wirtsorganismus ab. Krankheit resultiert, wenn die Mikroorganismen aufgrund ihrer verschiedenen Determinanten der Pathogenität und Virulenz den Wettlauf mit der Infektabwehr des Makroorganismus gewonnen haben. Mit diesem Problem hatten sich Chirurgen zu allen Zeiten auseinanderzusetzen – und es hat bis heute nicht an Aktualität verloren.
8.1
Allgemeine Infektionslehre
Chirurgisch relevante Infektionen werden überwiegend durch Bakterien hervorgerufen. Als Krankheitserreger müssen aber auch Viren, Pilze, Protozoen sowie Würmer in Betracht gezogen werden. Davon abzugrenzen sind entzündliche Reaktionen, die durch Toxine anderer Organismen wie Insekten oder Schlangen hervorgerufen werden. Die Besiedlung einer Wunde mit pathogenen Keimen führt nicht zwangsläufig zu einer Infektion. Dieser Vorgang wird allgemein als Kolonisation bezeichnet und erfolgt meist als Schmierinfektion, selten aerogen oder hämatogen. Entscheidend für den Übergang in eine krankheitsrelevante Wundinfektion sind:
4 Art, Menge und Virulenz der pathogenen Keime 4 Beschaffenheit der Wunde 4 Abwehrkraft des Organismus Die Zeitspanne zwischen der stattfindenden Kolonisation und der klinischen Manifestation einer Wundinfektion wird als Inkubationszeit bezeichnet. Ihre Länge hängt wiederum von der Art, Virulenz und Zahl der Erreger, aber auch von der Beschaffenheit der Wunde sowie der Abwehrsituation des Wirtsorganismus ab. Häufig imponieren Infektionen als Mischinfektionen, bei der Keime unterschiedlicher Erregergruppen beteiligt sind. So können in einer Wunde aerob wachsende Bakterien durch ihren Verbrauch von Sauerstoff die Vermehrung anaerober Bakterien fördern und somit parallel die Infektion unterhalten. Sind verschiedene Bakterien im infizierten Gewebe nachweisbar, die allerdings einer Erregergruppe angehören, so spricht man von einer Polyinfektion. Dagegen liegt eine Monoinfektion vor, wenn nur ein Erreger nachgewiesen wird. Das klinische Erscheinungsbild einer lokalen Infektion wird in den meisten Fällen durch die klassischen Kardinalsymptome einer Entzündung charakterisiert: Rötung (rubor), Schwellung (tumor), Überwärmung (calor), Schmerz (dolor) sowie Funktionsstörung (functio laesa). Während bei einer akuten bakteriellen Infektion diese
74
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
Symptome meist ausgeprägt sind, können sie bei chronischen Infektionen oder aber auch bei speziellen Infektionen (bakteriell-toxische Infektion wie dem Tetanus oder Pilzinfektionen) weniger eindrucksvoll auftreten oder aber sogar ganz fehlen.
8.1.1 Art, Menge und Virulenz der Keime
8
Art und Menge der pathogenen Keime sind entscheidend für das Auftreten von bestimmten Infektionen des Körpers. So wurde in Experimenten gezeigt, dass eine Keimzahl von mindestens 5 Millionen Keimen von Staphylococcus aureus auf einer oberflächlichen Wunde zu einer manifesten Infektion führen kann. Eine andere Betrachtungsweise setzt eine bestimmte Keimlast für ein Gewebe voraus, um eine Infektion hervorrufen zu können. Dabei wird für bakterielle Infektionen allgemein eine Keimzahl von 100.000 Bakterien pro Gramm Gewebe als Schwellenwert angesehen. Als Beispiel sei hier das Waterhouse-Friderichsen-Syndrom genannt; hier führt die Virulenz der verursachenden Keime (Meningokokken) zu einer Überschwemmung des Organismus mit diesen pathogenen Keimen innerhalb von wenigen Stunden. Die Virulenz der pathogenen Keime kann sich durch die Änderung der Umwelt wesentlich verstärken. So kann das normalerweise in der Ostsee vorkommende Bakterium Vibrio vulnificus, das schon immer in der Ostsee als nicht-pathogener Keim vorkommt, durch die Erhöhung der Wassertemperatur über 20°C aktiv und somit für den Menschen auch gefährlich werden. Eine vermehrte Wundinfektion an der Haut konnte durch diese Bakterien in heißen Sommern nachgewiesen werden.
8.1.2 Beschaffenheit der Wunde Neben dem Verschmutzungsgrad einer Wunde und den vorhandenen Gewebetrümmern infolge einer traumatischen Verletzung spielt auch die lokale Durchblutung der Wunde eine wesentliche Rolle. Das heißt, Risswunden sind für Infektionen empfänglicher als Wunden mit glatten Wundrändern. In situ verbleibende Nekrosen und Gewebetrümmer begünstigen das Auftreten von Infektionen. Auch die Lokalisation der Wunden spielt eine wesentliche Rolle. So heilen Wunden im besser durchbluteten Bereich wie im Gesicht oder Kopfhaut außerordentlich gut, dagegen an der Fußsohle wesentlich schlechter. Außerdem steigt die Keimzahl, die zur Infektion einer Wunde führen kann, um mehrere Zehnerpotenzen, wenn sich in der Wunde Fremdkörper befinden. Dies gilt nicht nur für solche, die durch eine mögliche Verletzung von außen eingetragen wurden, sondern auch für solche, die durch chirurgische Maßnahmen in die Wunde gelangt sind (Nahtmaterial, Drainagen oder Katheter).
8.1.3 Abwehrkraft des Organismus Bei immunsupprimierten Patienten ist durch die entsprechend durchgeführte Therapie die allgemeine Abwehrlage des Patienten verschlechtert. Auch bekannte Nebenerkrankungen wie der Diabetes mellitus führen zu vermehrten Wundinfektionen bzw. zu chronischen Wundheilungsstörungen. Ebenso verhindert eine intakte anatomische Barriere, d. h. eine intakte Haut bzw. Schleimhaut das Eindringen von pathogenen Keimen. So vermindern der niedrigere pH-Wert (ca. 5,5) auf unserer Haut sowie die um ca. 5°C niedrigere Temperatur auf unserer Körperoberfläche im Vergleich zur physiologischen Körperkerntemperatur das Wachstum der Bakterien. Eine wichtige Voraussetzung für die Vermeidung von Infektionen stellt die im menschlichen Organismus natürlich existierende Homöostase der saprophytisch kolonisierenden Keime dar. Wird diese durch meist medizinisches Eingreifen – beispielsweise durch eine Antibiotikagabe – verändert, kann dies wiederum eine Infektion induzieren. Als Beispiel ist hier die nahezu ausnahmslos im Zusammenhang mit einer Antibiotikatherapie auftretende Infektion mit toxinbildendem Clostridium difficile genannt, die in bis zu 20% aller antibiotikaassoziierten Diarrhöen und in 90% aller antibiotikaassoziierten pseudomembranösen Kolitiden die Ursache darstellt. Nahezu jedes in Verwendung befindliche Antibiotikum kann diese Erkrankung auslösen. Nur in Einzelfällen können diese Bakterien auch bei nicht antibiotisch vorbehandelten Kindern eine Kolitis auslösen, jedoch haben diese Patienten in aller Regel eine andere Grunderkrankung wie den Morbus Hirschsprung. Problematisch ist das weite klinische Spektrum der durch Clostridium difficile ausgelösten Erkrankungen, das von einer milden, selbstlimitierenden Diarrhö über eine behandlungsbedürftige Enterokolitis bis hin zum schweren toxischen Megakolon mit Darmperforation reicht, wobei letztere in 35–50% der Fälle wegen eines septischen Multiorganversagens letal verlaufen kann. Auch ist eine intakte humorale und zelluläre Abwehr zur Infektionsprophylaxe unbedingt erforderlich. So gilt allgemein eine Verminderung der Granulozyten unter eine absolute Zahl von 0,5 Mpt/ml als infektionsgefährdend und bedingt eine systemische Antibiose als Infektionsprophylaxe. Eine systemische Infektion bei asplenischem Zustand kann zu einer schweren allgemeinen Infektion (OPSI-Syndrom) führen. Die häufigsten Erreger für eine solche Sepsis sind mit ca. 60% der Streptococcus pneumoniae und mit etwa 30% der Haemophilus influenzae und Neisseria meningitidis. Dagegen spielen Staphylococcus aureus, Escherichia coli und andere gramnegative Erreger eher eine untergeordnete Rolle. Erleiden asplenische Kinder eine Malaria, verläuft diese wesentlich schwerer. Nach Hundebissverletzungen wurden bei diesen schwere Sepsisfälle, ausgelöst durch Capnocytophaga canimorsus, beobachtet. Deswegen ist dem Milzerhalt im Kindesalter uneinge-
75 8.2 · Ursachen von Infektionen
schränkte Beachtung zu schenken. Nach erlittenem Trauma sollten alle konservativen und milzerhaltenden operativen Maßnahmen einschließlich der Teilresektion ausgeschöpft werden. Nach heutiger Ansicht reichen etwa 30% erhaltenen Milzgewebes aus, um eine normale Milzfunktion zu ermöglichen, da die Milz für die primäre Immunantwort im Wesentlichen verantwortlich ist (Reid 1994). Bei den Immundefekten unterscheiden wir einen primären von einem sekundären Immundefekt. Erstmals beschrieb Bruton im Jahre 1952 eine Patientin mit einem Antikörpermangel. Laut aktueller Version der Europäischen Immundefektdatenbank (Esid 2006) sind 120 Immundefekte bekannt, wobei die Antikörpermangelerkrankungen mit einem Anteil von ca. 70% die größte Gruppe einnehmen, gefolgt von Phagozyten/Wund-T-Zelldefekten. Die betroffenen Patienten sind anfällig für eine Vielfalt rezidivierender Infektionen. Die Ursachen für diese Immundefekte sind entweder angeborener Natur, d. h. primär genetisch bedingt, oder erworben durch andere Krankheiten, Medikamente und auch Umwelteinflüsse. Für erworbene Immundefekte seien als Beispiele genannt die malignen Lymphome, die chronische lymphatische Leukämie, die bakterielle Sepsis bei immunsupprimierten Patienten, die HIV-Infektion, aber auch Hypogammaglobulinämien beim nephrotischen Syndrom oder ausgelöst durch schwere Verbrennungen. > Im Gegensatz zum Erwachsenen ist das Immunsystem bei Kindern unreif. Sie weisen auch keinen großen Pool von Plasmazellen auf. Aus dieser damit verbundenen relativen B-Zell-Defizienz, wobei das Spektrum der molekularen B-Zell-Defekte groß ist, resultiert ein erhöhtes bakterielles Infektionsrisiko.
Weiterhin ist auch im Kindesalter bei kombinierten Immundefekten (SCID und CVID) ein Antikörpermangel vorhanden. Einige Patienten verfügen auch nur über Vorläufer und keine reifen B-Zellen. Die Ursache dafür liegt in Mutationen verschiedener Gene, die in der Entwicklung und Differenzierung der B-Zellen von Bedeutung sind. Klassische pathogene Erreger, die infektassoziierte Immundefekte auslösen sowie das Immunsystem modulieren können, sind häufig Viren, z. B. Masern-Virus, CMV, EBV, Röteln-Virus und natürlich das HIV-Virus. Bei bakteriellen Infektionen stehen die Borrelien, Pneumokokken und Streptokokken im Vordergrund, seltener dagegen die Tuberkulose- und die Lepra-Erreger. Auch Parasiten wie die Plasmodien (Malaria), Leishmanien und Trypanosomen, d. h. sog. vektorassoziierte Erkrankungen, die im Rahmen der globalen Erwärmung zukünftig auch in Europa durchaus auftreten könnten, dürften zu Immundefekten führen. Bei der HIV-Infektion handelt es sich primär um einen TZell-Defekt, aber auch um ein sog. Antikörperparadox. In diesem Fall liegt trotz einer Hypergammaglobulinämie (IgG und IgA) eine humorale Immundefizienz vor. Diese Immunstörungen sind charakterisiert durch eine ungenü-
gende Bildung von neutralisierenden Antikörpern gegen HIV und CMV, durch ein schlechtes Ansprechen auf Impfungen sowie durch eine gestörte De-novo-Immunantwort gegen neue Erreger. Eine Substitution mit IgG muss generell bei einer Serumkonzentration unter 200 mg/dl vorgenommen werden. Dabei sollte ein Plasmaspiegel von 600–800 mg/dl angestrebt werden (Bjorkander et al. 2006).
8.2
Ursachen von Infektionen
8.2.1 Virogene Infektionen Wichtige virogene Infektionen sind die vulgären Warzen mit bevorzugtem Sitz an Händen, Füßen und Fußsohlen. Die Spitzenkondylome kommen im intertriginösen Bereich sowie an der Genital- und Analschleimhaut vor. Prädisponierender Faktor ist unter anderem eine bestehende Oxyuriasis. Auch an die Übertragung durch sexuellen Missbrauch bei Kindern ist zu denken.
8.2.2 Bakterielle Infektionen Eine bakterielle Infektion erfolgt über eine Kontakt- oder Schmierinfektion, wesentlich seltener aerogen oder hämatogen. Je nach Bakterientypen unterscheiden wir pyogene, putride, anaerobe, bakteriell-toxische und spezifische Wundinfektionen. Diese gehen mit einer entsprechenden Eiterbildung mit typischer Farbe, Konsistenz und Geruch einher.
Pyogene Infektion Der wichtigste Erreger für eine pyogene Wundinfektion aerober Natur ist Staphylococcus aureus. Der Eiter ist dabei gelblich, geruchlos, aber rahmig. Bei einer Infektion mit Streptococcus pyogenes ist der Eiter dagegen gelblichgrauer Natur und dünnflüssig. Eine Pseudomonas-aeruginosa-Infektion weist einen süßlich riechenden, grünlichblauen, dünnflüssigen Eiter auf. Die Staphylococcus-aureus-Infektion ist häufig lokal begrenzt und führt meist zu einem Abszess. Andere Erreger für typische Wundinfektionen sind Escherichia coli, Enterokokken, Proteus und Klebsiellen. Eine Sonderform nimmt die Infektion mit dem Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus ein (MRSA). Hier sind spezielle therapeutische und prophylaktische Maßnahmen vorzunehmen. Es muss eine räumliche Isolierung des Patienten erfolgen. Die Untersuchung bzw. die Pflege des Patienten sind mit Kitteln und Handschuhen durchzuführen, die im Zimmer des Patienten verbleiben. Unter bestimmten Umständen (nasopharyngeale Kolonisation der MRSA) muss Mund- und Nasenschutz getragen werden. Es ist eine tägliche Wischdesinfektion der Kontaktgegenstände mit den vorgeschriebenen Flächendesinfektionslösungen durchzuführen und die Wäsche- und Müll-
8
76
8
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
entsorgung erfolgt in separaten Sammelbehältern im Patientenzimmer. Eine Antibiotikabehandlung sollte nur bei klinischen Anzeichen einer Infektion durchgeführt werden. Unabhängig davon muss der Patient einmal täglich mit antiseptischer Seife einschließlich der Kopfhaare gewaschen werden. Sobald es der Zustand des Patienten erlaubt, sollte dieser aus dem Krankenhaus entlassen werden. Das Auftreten der MRSA muss deutlich sichtbar in der Patientenakte vermerkt und ein mögliches Zielkrankenhaus bei einer Verlegung im Vorfeld informiert werden. Abschließend sollte eine Schlussdesinfektion des Patientenzimmers erfolgen.
und fleischwasserfarbenes Wundsekret. Durch die lokale Gasbildung wird das typische Knistern im Wundbereich hervorgerufen. Der Befund zeigt eine schnelle Progredienz. Systemische Symptome sind Schock, Ikterus und akutes Nierenversagen. Therapeutisch steht die großzügige Freilegung der Wunde mit einer radikalen Abtragung aller Nekrosen im Vordergrund. Ergänzt wird diese chirurgische Maßnahme von einer Antibiotikatherapie (Penicillin und Metronidazol). Außerdem sollte eine hyperbare Sauerstofftherapie in Erwägung gezogen werden, als Ultima ratio auch eine Amputation der betroffenen Extremität.
Putride Wundinfektion
Tetanus. Neben dem Gasbrand zählt der Tetanus ebenfalls
Putride Wundinfektionen werden häufig verursacht durch Mischinfektionen von anaeroben und aeroben Keimen. Im Gegensatz zur pyogenen Infektion handelt es sich in der Regel um eine fortschreitende phlegmonöse Entzündung. Die wichtigsten Erreger sind Proteus vulgaris, Streptococcus anaerobicus, Streptococcus putridus und Clostridien. Diese führen zu einer serösen Exsudation mit einer übel riechenden fauligen Nekrose, in der Regel zu einer Gangrän oder zu einer phlegmonösen Entzündung. Differenzialdiagnostisch muss in diesem Fall der Gasbrand ausgeschlossen werden.
zur Gruppe der bakteriell-toxischen Wundinfektionen. Diese Wundinfektion wird durch das ubiquitär vorkommende, sporenbildende Clostridium tetani hervorgerufen. Voraussetzung für den Übergang der Sporen in die vegetative Form sind anaerobe Verhältnisse. Die Inkubationszeit beträgt bis zu 60 Tage. Durch die Freisetzung der Toxine (Tetanospasmin, Tetanolysil) wird eine fortschreitende Lähmung der quergestreiften Muskulatur hervorgerufen. Unspezifische Symptome sind Lichtscheu, Opisthotonus, Risus sardonicus, Unruhe und eine zunehmende absteigende tonische Muskelstarre. Später treten generalisierte Krampfanfälle, eine Hyperthermie und eine Atemlähmung mit begleitender Aspirationspneumonie auf. Schließlich führt der Verlauf zum Herzstillstand. Die Therapie basiert auf einer ausgiebigen Wundausschneidung, Gabe von Tetanus-Hyperimmunglobulin, simultane Aktivimpfung, Antibiotikatherapie (Penicillin) und einer Intensivtherapie mit Abdunklung, Hyperalimentation, Sedierung, Muskelrelaxation, Beatmung.
Anaerobe Wundinfektion Die wichtigsten Erreger für eine anaerobe Wundinfektion sind Escherichia coli, Bacteroidis fragilis, anaerobe Kokken und Fusobakterien. Diese führen zu einem fäkulent stinkenden, gelblich-rötlichen bis blau-schwarz gefärbten, rahmig-eitrigen Exsudat und werden in der Praxis häufig als sog. stinkende Abszesse bezeichnet. Unbehandelt schreitet die Entzündung fort.
Bakteriell-toxische Wundinfektion Die typischen Erreger bakteriell-toxischer Wundinfektionen sind die obligat anaerob lebenden Clostridium tetani und Clostridium perfringens sowie Corynebacterium diphtheriae. Im Gegensatz zu den anderen Erregern führen sie kaum zu einer lokalen Reaktion, obwohl die Eintrittspforte eine gestörte anatomische Barriere darstellt, haben aber dafür eine allgemeine toxische Wirkung. Gasbrand. Clostridium perfringens ist der Haupterreger
für den Gasbrand. Die Infektion wird begünstigt durch eine ausgeprägte Gewebstraumatisierung und Ischämie. In sauerstoffarmen und nekrotischen Wunden vermehren sich die exotoxinbildenden Bakterien sehr rasch. Die lokale Weichteilinfektion geht mit einer Gasbildung einher, die Toxinbildung führt zu einer toxischen Kapillarschädigung mit foudroyant verlaufender Gewebenekrose und konsekutiver Toxinämie sowie frühzeitiger Hämolyse. Der Lokalbefund ist charakterisiert durch eine deutliche Schwellung, starken Schmerz, violett-schwarze Wundfarbe
! Cave Trotz rechtzeitiger Therapie ist die Letalität hoch (bis zu 50%, bei Neugeborenen bis 100%). Daher ist die prophylaktische aktive Tetanusimmunisierung dringend zu empfehlen.
Spezifische Wundinfektion Erreger für typische spezifische Wundinfektionen, die häufig Fisteln bilden und chronisch-rezidivierende Verläufe zeigen, sind atypische Mykobakterien. Diese Infektionen manifestieren sich häufig in den zervikalen Lymphknoten und den angrenzenden Weichteilen (. Abb. 8.1 und 8.2). Als Therapie der Wahl gilt die radikale Lymphknotenexstirpation aller betroffenen Areale. Wenn dies nicht möglich ist, z. B. bei Befall von Lymphknoten innerer Körperregionen, kann eine mindestens 6-monatige konservative, dreifache antimykobakterielle Therapie erfolgreich sein. Weitere Erreger für spezifische Wundinfektionen stellen das Mycobacterium leprae und das Mycobakterium tuberculosis sowie das Actinomyces israelii dar.
77 8.2 · Ursachen von Infektionen
a
b
. Abb. 8.1a, b. Atypische Mykobakteriose zervikal rechts bei einem 23 Monate alten Knaben. a Magnetresonanztomogramm. b Abszedierung mit Fistelbildung
8.2.3 Mykogene Infektionen
8.2.4 Epizootien
Bedeutungsvoll sind hier die Candida-Mykosen, der Soor. Er kann besonders im Mundbereich vorkommen. In diesem Fall stellt er bei ausgeprägtem Befall eine Kontraindikation zu einer Narkose dar. Aber auch beim Auftreten im Windelbereich (Windeldermatitis) findet sich die Infektion häufig in einem zu operierenden Gebiet, z. B. bei einer Leistenhernie, so dass auch hier eine Kontraindikation zu einem operativen Eingriff besteht. Die lokale Behandlung dieser Candida-Mykose steht dann präoperativ im Vordergrund. Neben dieser relativ harmlosen Infektion wird dagegen eine Candida-Sepsis im Rahmen einer nosokomialen Infektion auf pädiatrisch-onkologischen und Intensivstationen beobachtet, begünstigt durch eine Immunsuppression bzw. durch den Einsatz intensivmedizinischer Technik und breiter Antibiotikatherapie, aber auch bei Vorhandensein zentralvenöser Katheter. Auch auftretende Aspergillosen komplizieren nicht selten den Verlauf der Grunderkrankung bei diesen Patienten. Diese sind vor allem im Lungenbereich nachweisbar und erfordern neben einer systemischen antimykotischen Therapie oft eine chirurgische Sanierung (. Abb. 8.3 und 8.4).
Als bedeutungsvollste Epizootie seien genannt die Skabies (die Krätze) und der Zeckenbiss durch den Holzbock. Bei letzterem kommt in Europa die Spezies Ixodes ricinus vor, die durch den Biss das FSME-Virus übertragen kann. Dies ist in den Endemiegebieten (in Deutschland Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Thüringen und RheinlandPfalz) epidemiologisch von Bedeutung. Die Durchseuchung der Zecken mit dem Virus beträgt momentan in diesen Gebieten bis zu 1% und die Infektion mit diesem Virus kann zur Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) führen. Zur Prophylaxe dieser viralen Erkrankung steht eine aktive Immunisierung zur Verfügung, die Personen in den Endemiegebieten empfohlen wird, die sich oft in der freien Natur aufhalten. Neben dem FSME-Virus übertragen die Zecken jedoch einen zweiten Krankheitserreger – das Bakterium Borrelia burgdorferi, den Erreger der Lyme-Borreliose. Primäraffektion für diese Infektion stellt das Erythema chronicum migrans dar. Unbehandelt kann das Bakterium über Blutund Lymphbahnen im Körper disseminieren, verschiedene Organmanifestationen zeigen (Arthritiden, Neuroborreliose, Karditiden) und später chronifizieren. In Abhängigkeit des Stadiums und der klinischen Ausprägung der Erkrankung wird eine zwei- bis dreiwöchige Antibiotikatherapie
8
78
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
. Abb. 8.2a, b. Aspergillose der linken Lunge beim immunsupprimierten Patienten wegen akuter Lymphoblastenleukämie. a Röntgenübersichtsaufnahme. b Thorax-CT
a
8 mit Doxycyclin oder Ceftriaxon empfohlen. Unabhängig einer durchgemachten Borreliose kann jeder neue Zeckenbiss jedoch wieder zu einer Neuinfektion führen. Auch Infektionen nach Insektenstichen sind gerade im Kleinkindesalter häufig zu beobachten, so zum Beispiel durch Hautflügler, wozu Bienen und Wespen gehören, aber auch die Zweiflügler, z. B. die Stechmücken und die Bremsen. Bei multiplem Auftreten dieser Stiche muss differenzialdiagnostisch an Varizellen gedacht werden. Im Rahmen sog. Urlaubsdermatosen sind auch exotische Krankheiten in die Differenzialdiagnose unklarer Weichteilinfektionen einzubeziehen. Die Myiasis migrans (Hautmaulwurf) wird durch Eindringen von Larven bestimmter Stechmücken (Drasselfliege) in die Haut erzeugt. Die Larven (Larva migrans) wandern in gewundenen Gängen durch die Haut.
8.2.5 Helminthen In die Differenzialdiagnose bestimmter Hauterkrankungen bzw. Weichteilinfektionen sind auch Helminthen, d. h. Würmer einzubeziehen.
8.3
Entzündungsausbreitung
Hinsichtlich der Entzündungsausbreitung von Weichteilinfektionen unterscheiden wir einmal die lokale Aussaat, wie den Abszess, das Empyem, die Phlegmone und die Lymphangitis sowie die systemische Ausbreitung. Letztere wird charakterisiert durch eine Pyämie bzw. die Sepsis.
b
8.3.1 Lokale Entzündung Abszess. Der Abszess grenzt sich gegen die Umgebung
durch eine Granulationsschicht ab. Beim Abszess sollte nach der Inzision gerade bei Kindern nach Fremdkörpern gesucht und diese entfernt werden, was sich teilweise schwierig gestalten kann und zu mehrfachen Revisionen zwingt. Eine Drainage des Abszesses ist zu empfehlen. Eine Antibiotikagabe ist in der Regel nicht erforderlich. Der periproktische Abszess sollte radiär bis zum Darm inzidiert werden. Er entsteht häufig im Gefolge von inkompletten Analfisteln, die gleichzeitig mit exzidiert werden sollten. Differenzialdiagnostisch ist bei älteren Kindern auch an einen Morbus Crohn zu denken. Die abszedierende Lymphadenitis colli muss inzidiert und gegeninzidiert werden. Eine zusätzliche Drainage ist sinnvoll. Antibiotika sollten je
79 8.4 · Infektionsarten
nach Ausdehnung des Befundes in der Regel staphylokokkenwirksam gegeben werden. Bei der nicht tuberkulösen mykobakteriellen Lymphadenitis ist die Exzision des häufig vorkommenden granulomatösen Gewebes mit Entfernung des Lymphknotens ein essenzielles therapeutisches Erfordernis. Begleitet wird dieses Vorgehen von einer spezifischen medikamentösen Therapie. Die Mastitis des Neugeborenen erfordert primär eine lokale antiseptische Behandlung, unter Umständen eine vorsichtige radiäre Inzision. Eine Antibiotikagabe sollte durchgeführt werden.
hoch-infektiös. Eine lokale Behandlung genügt in der Regel. Antibiotika sind nur bei ausgedehntem Fall (Staphylokokken, selten Streptokokken) notwendig. Als Sonderformen gelten das staphylogene Pemphigoid bzw. das LyellSyndrom.
Pyodermie der Haarfollikel
Empyem. Ein Empyem stellt eine Eiteransammlung in anatomisch präformierten Hohlräumen dar, wie z. B. der Pleura (siehe unten), der Gallenblase oder auch dem Gelenk. Hier steht neben der gezielten antibiotischen Therapie die chirurgische Entlastung durch Punktion oder Drainage, gegebenenfalls auch durch eine Spülung im Vordergrund.
Betreffen die Pyodermien die Haarfollikel, sprechen wir von einer Osteofollikulitis, die mit Pusteln einhergeht. Schreitet eine solche Osteofollikulitis fort, d. h. die Erreger dringen tief in den Haarfollikel ein und führen zur nachfolgenden Einschmelzung, sprechen wir von einem Furunkel. Eine Furunkulose liegt vor, wenn chronisch-rezidivierend über Monate und Jahre Furunkel in multiplen Lokalisationen auftreten. Hier muss an einen Diabetes mellitus, an eine chronische Nephritis, aber auch an eine Immunschwäche gedacht werden. Treten Furunkel im Gesicht oberhalb der Oberlippe auf, befinden sie sich im Abfluss der Venae angularis und Vena ophthalmica mit Verbindung zum venösen Sinus des Gehirns. Prinzipiell müssen Furunkel inzidiert und der zentrale Nekrosepfropf entfernt werden. Der Gesichtsfurunkel sollte stationär behandelt werden. Hier sind lokale Manipulationen weitgehend zu vermeiden. Ein Kauverbot mit einer zusätzlichen Antibiotikagabe ist notwendig. Konfluieren mehrere benachbarte Furunkel, sprechen wir von einem Karbunkel. Hier muss neben der lokalen Behandlung dieser Karbunkel exzidiert werden.
Lymphangitis. Bei der Lymphangitis breitet sich die Entzün-
Erysipel
dung (»roter Streifen«) entlang der Lymphbahnen infolge infizierter Verletzung der Füße und Hände aus. Die Gefahr einer systemischen Ausbreitung mit Bakteriämie und Sepsis ist möglich. Deshalb ist hier primär eine antibiotische Behandlung z. B. mit einem Breitband-Cephalosporin indiziert.
Ein Erysipel (Wundrose) wird durch Streptokokken der Gruppe A, selten der Gruppe G verursacht. Die Erreger breiten sich in den Lymphspalten der Dermis aus. Die Krankheit verläuft mit Ausbildung von asymmetrischen, gleichförmigen Erythemen, die eine bogige Begrenzung mit Überwärmung und ödematöser Schwellung aufweisen. Das Erysipel soll mit Bettruhe, lokal antiseptischen Verbänden und einer systemischen Antibiotikatherapie (Penicillin) behandelt werden.
Phlegmone. Die Phlegmone ist eine Infektion, bei der die
Zwischenräume des Bindegewebes infiltriert werden und die auf diesem Wege auch fulminant fortschreiten kann. Sie grenzt sich im Allgemeinen nicht durch eine Membran ab. Häufigste Erreger sind im Gegensatz zum Abszess hier die Streptokokken. Letztere bilden Hyaluronidase und Streptokinase, wodurch die flächenhafte Ausdehnung der Entzündung gefördert wird. Die Phlegmone muss mehrfach inzidiert und mit Drainagen versehen werden. Eine Immobilisierung und eine Antibiotikatherapie sind erforderlich.
8.3.2 Systemische Entzündung Eine Bakteriämie (Pyämie) ist die Folge einer passageren Einschwemmung von Bakterien in das Blut ohne allgemeine Krankheitsgefühle, kann aber von Schüttelfrost begleitet werden. Bei der Sepsis dagegen vermehren sich die Keime im strömenden Blut, vor allem im Kapillargebiet. Die Folgen der Sepsis werden im Rahmen der Peritonitis dargestellt.
8.4
Infektionsarten
8.4.1 Weichteilinfektionen Pyodermie der Haut Als bakterielle Pyodermien der Haut sind die kleinblasige Impetigo contagiosa, auftretend an asymmetrischen Körperstellen, und die bullöse Form zu nennen. Beide sind
Panaritium Panaritien sind pyogene Infektionen an der Palmarseite der Finger. Je nach Tiefenausdehnung unterscheiden wir verschiedene Formen des Panaritiums: 4 Panaritium cutaneum 4 Panaritium subcutaneum 4 Panaritium tendinosum, wobei bei Befall des I. und des V. Fingers infolge der besonderen Anatomie eine VPhlegmone entstehen kann 4 Panaritium articulare 4 Panaritium ossale > Panaritien mit Einschmelzung benötigen ein chirurgisches Vorgehen mit Inzision und ggf. einer Lascheneinlage.
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80
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
Paronychie Dagegen treten an der Dorsalseite häufig Paronychien auf. Es besteht eine Eiterstraße entlang des Hautrandes der Fingernägel (Umlauf). Je nach Ausdehnung und vor allem bei Einschmelzung sollte die Paronychie inzidiert und der Nagel entfernt werden. Meistens wird eine Antibiotikabehandlung erforderlich.
8.4.2 Nosokomiale Infektionen > Unter einer nosokomialen Infektion wird eine Infektion verstanden, die zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme in ein Krankenhaus nicht manifest oder inkubiert war und die frühestens 48 h nach Aufnahme erste Symptome zeigt.
8
Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern stellt sie eine schwere Komplikation während einer stationären Behandlung dar. Sie erhöht substanziell die Morbidität der Patienten, verlängert den stationären Aufenthalt, erhöht die Behandlungskosten und stellt letztlich einen nicht unwesentlichen Faktor für die Mortalitätsrate in einem Krankenhaus dar. Epidemiologie. In Europa und den USA sind zwischen 5 und 10% aller stationär behandelten, erwachsenen Patienten von einer nosokomialen Infektion betroffen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Frequenz nosokomialer Infektionen im Kindesalter niedriger ist. In einer aktuellen europäischen Multicenterstudie liegt diese bei 2,5% und ist damit mit denen in Kanada und den USA vergleichbar. Bezogen auf das Alter der Kinder stellt sich jedoch keine homogene Verteilung dar, sondern es besteht eine reziproke Korrelation zwischen Infektionshäufigkeit und Alter. Jenseits des 10. Lebensjahres liegt die Frequenz zwischen 1,5 und 4%, aber im Säuglingsalter dagegen zwischen 7 und 9%. Das größte Risiko für das Auftreten einer nosokomialen Infektion (bis zu 30%) haben Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 800 g, aber auch reife Neugeborene mit einem zentralen Venenkatheter (Raymond 2000). Im Wesentlichen werden im Kindesalter 5 verschiedene Typen von nosokomialen Infektionen beobachtet: 4 Bakteriämie, meist im Zusammenhang mit einem zentralen Venenkatheter (35%) 4 Infektionen der unteren Atemwege (33%) 4 Harnwegsinfekte (11%) 4 Postoperative Wundinfekte (7%) 4 Gastrointestinale Infekte (14%)
Dabei ist jedoch zu beobachten, dass die Frequenzen der jeweiligen Infektionen sowohl zwischen verschiedenen Krankenhäusern als auch zwischen den jeweiligen pädiatrischen Abteilungen eine große Variabilität zeigen
(Raymond 2000). In einer retrospektiven Analyse einer kinderchirurgischen Abteilung, in der an 537 Kindern 575 Operationen durchgeführt wurden, lag die Rate der postoperativen Wundinfektionen bei 6,7%. Aseptische Operationen hatten dabei eine Infektionsrate von 2,7%, während diese bei den unsauberen Operationen auf 14,6% anstieg. Interessanterweise war die Infektionsrate beispielsweise unabhängig von einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe. Es bestand lediglich ein signifikanter Zusammenhang zur Länge der Operation, zum Kontaminationsgrad und zum Ausbildungsstand des Operateurs (Duque-Estrada 2003). Erregerspektrum. Als Erreger nosokomialer Infektionen
werden in der überwiegenden Mehrzahl Bakterien nachgewiesen. Aber auch Viren (Rotavirus, RSV, CMV, Adenovirus) sind insbesondere bei pulmonalen und gastrointestinalen Infektionen zu finden. Außerdem gewinnt Candida albicans als Ursache für Mykosen eine zunehmende Bedeutung. Unter den bakteriell bedingten nosokomialen Infektionen werden bei den postoperativen Wundinfektionen in der überwiegenden Zahl Staphylococcus aureus nachgewiesen (12–37%), aber auch koagulasenegative Staphylokokken, Enterobacter cloacae sowie Pseudomonas aeruginosa. Dagegen sind für die katheterassoziierten Bakteriämien in der Hälfte aller Fälle koagulasenegative Staphylokokken und für die Infektion der tieferen Atemwege in 35% Pseudomonas aeruginosa verantwortlich. Antibiotikaassoziierte Diarrhö. Eine in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung haben gastrointestinale Infektionen durch Clostridium difficile, das in bis zu 20% aller antibiotikaassoziierten Diarrhöen als ursächlich angesehen werden muss. Die Infektionsrate korreliert mit der Dauer der Antibiotikatherapie und prinzipiell stellt jedes Antibiotikum ein potenzielles Risiko für eine Clostridium-difficileInfektion dar. Daher muss die Indikation zu einer Antibiotikatherapie streng gestellt und das optimale Antibiotikum ausgewählt werden. Dazu sollte nicht nur die aktuelle Resistenzlage der häufigsten Keime Berücksichtigung finden, sondern auch das jeweilige Keimspektrum einschließlich Resistenzlage beispielsweise auf Intensivtherapiestationen bekannt sein. Methicillin-resistente Staphylococcus aureus. Infektionen mit MRSA-Stämmen gewinnen rapide an Bedeutung. In den USA sind aktuell bereits 20% aller nosokomialen Bakteriämien durch MRSA hervorgerufen. Dies erfordert neue Strategien insbesondere bei der adjuvanten Antibiotikatherapie, wobei die Frage nach dem optimalen Antibiotikum diskutiert werden muss. Aber auch die Einführung Antibiotika-, Antiseptika- oder Metallionen beschichteter Kathetersysteme wird diskutiert, wodurch beispielsweise katheterassoziierte Bakteriämien bis zu 90% reduziert werden können.
81 8.4 · Infektionsarten
> Letztlich sind elementare hygienische Maßnahmen die wesentlichste Grundlage zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen. So sollten im Säuglingsalter nur hitzesterilisierte Sauger und Glasflaschen Verwendung finden. Zubereitete Flaschennahrung wird unverzüglich gefüttert. Reste werden verworfen, um einer Keimvermehrung und somit dem Infektionsrisiko vorzubeugen. Und schließlich konnte gezeigt werden, dass eine optimale Händedesinfektion auf Intensivstationen zur Reduzierung von katheterassoziierten Bakteriämien um 25% geführt hat (Wenzel 2007).
8.4.3 Katheterinfektionen Im Kindesalter spielen Infektionen zentralvenöser Katheter, aber auch von Shunts bei ventrikulo-peritonealen bzw. ventrikulo-atrialen Drainagen sowie externer Ventrikeldrainagen eine bedeutende Rolle. Im Rahmen von Qualitätsmanagementmaßnahmen ist die Erfassung von katheterassoziierten Infektionen ein etabliertes Instrument. Bei Verdacht auf eine ZVK-assoziierte Infektion sollten mindestens 2 Blutkulturpärchen – die erste über den Katheter und die zweite über eine periphere Vene – entnommen werden. Eine Katheterinfektion kann als gesichert gelten, wenn eine positive Blutkultur aus dem zentralen Katheter bei gleichzeitig negativer, zeitlich verzögerter positiver oder mit geringer Keimzahl positiver Blutkultur aus einer peripheren Vene oder mindestens 2 peripheren Blutkulturen nachgewiesen werden kann. Diagnostik. Als zuverlässigste Methode zur Diagnostik einer katheterassoziierten Blutstrominfektion gilt die quantitative Blutkulturdiagnostik. Sie ist aber aufwendig und
relativ teuer und leider in den meisten Laboratorien nicht etabliert. Als relativ neue Methode zur In-situ-Diagnostik wird daher die »differential time to positivity« (DTPMethode) favorisiert, wobei nach oben beschriebener Entnahme von Blutkulturen die Zeit bis zum positiven Wachstumssignal in Blutkulturautomaten ermittelt wird (Seifert et al. 2007). > Bei Entfernung bzw. Wechsel des zentralvenösen Katheters sollte die Katheterspitze nur bei Verdacht auf eine Katheterinfektion zur mikrobiologischen Untersuchung eingesandt werden, da sehr häufig beim Ziehen die Spitze des Katheters kontaminiert wird. Folglich korreliert ein Keimnachweis keinesfalls mit einer vorliegenden Infektion.
Katheterwechsel. Zur Vorgehensweise gibt es eindeutige
Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene und Infektiologie (Scholz et al. 2003). Ein routinemäßiger Wechsel von zentralen Venenkathetern senkt nicht das Risiko einer katheterinduzierten Sepsis. Deswegen ist bei jeglicher Versorgung mit solchen Kathetern auf
Asepsis und Sterilität zu achten. Infusionssysteme werden nach den aktuellen HCPAC-Richtlinien im Intervall von etwa 72 h gewechselt, außer bei anderer klinischer Indikation. Dagegen sollten Infusionsschläuche, über die Blutprodukte oder Fettlösungen verabreicht werden, innerhalb von 24 h gewechselt werden. Antibiotika zur Prophylaxe einer Kathetersepsis vor dem Legen oder während des Gebrauchs werden in der Regel nicht verabreicht – außer bei immunsupprimierten Patienten (7 Kap. 8.4.4). Therapie. In der Therapie katheterassoziierter Infektionen werden die lokalen Infektionen mit Rötung, Induration und Exsudation an den Katheteraustrittsstellen von den sog. »Tunnelinfektionen« mit der Rötung entlang des subkutanen Kanals unterschieden. Bei ersteren reicht in der Regel eine lokale Wundbehandlung aus. Im Einzelfall muss über eine systemische Antibiotikagabe entschieden werden. Bei einer Infektion entlang des subkutan liegenden Katheters sollten generell systemische Antibiotika unter klinischer und laborchemischer Kontrolle, später entsprechend des Keimspektrums, verabreicht werden. Sind die o. g. Maßnahmen nicht erfolgreich, so muss der Katheter entfernt werden (Fätkenheuer et al. 2002; Mermel et al. 2001). Mit der Implantation neu entwickelter silberimprägnierter Katheter, die die Adhärenz von Mikroorganismen und die Proliferation an der Katheterwand verringern sollten, könnte dagegen nach neueren Studien die Infektionsrate gesenkt werden (Carbon et al.1999). Liquor-Shunt-Operation. Bei Liquor-Shunt-Operationen existieren derzeit keine gesicherten Studien, die zur perioperativen Antibiotikaprophylaxe eindeutig Stellung beziehen. Eine englische Studie aus dem Jahr 1994 (Brown et al.) empfiehlt die antimikrobielle Prophylaxe, andere Studien dagegen zeigten, dass mit einer solchen Prophylaxe – sei sie systemisch oder lokal subkutan verabreicht – eine Ventrikulitis und damit eine Katheterinfektion nicht signifikant verhindert werden konnte. Dagegen wird bei Anlage einer externen Ventrikeldrainage entweder primär bei hohen Liquoreiweißwerten oder nach Shunt-Infektionen eine Antibiotikagabe empfohlen – auch wenn damit eine spätere Ventrikelinfektion nicht immer verhindert, wohl aber die Wundinfektionsrate gesenkt werden kann.
8.4.4 Infektionen bei immunsupprimierten
Patienten Neutropenie. Die Neutropenie (drohender Abfall der Neu-
trophilen unter 500 Granulozyten/mm3) ist der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten einer Infektion bei immunsupprimierten Patienten, wobei die Gefahr mit der Dauer der Neutropenie (über 10 Tage beginnt ein hohes Risiko) steigt. Gleichzeitig auftretendes Fieber spricht in der Regel für eine solche Infektion, wobei die Zeichen einer Inflam-
8
82
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
mation nur selten ausgeprägt sind, unter Umständen sogar völlig fehlen können (z. B. Fehlen ausgeprägter Infiltrationen im Röntgenbild des Thorax, Fehlen des Erythems oder Induration der Haut). Weitere Risikofaktoren für das Auftreten einer Infektion sind eine veränderte Granulozytenfunktion, besonders der Phagozytose, Defekte im Bereich der normalen physikalischen Abwehrbarrieren wie Haut und Schleimhäute, pathologische Veränderungen der endogenen Mikroflora, notwendige zentrale Venenkatheter (7 Kap. 8.4.3) und eine ausgebliebene Remission der Grundkrankheit. Primäre Infektionen werden überwiegend durch grampositive und gramnegative Bakterien, selten durch anaerobe und Viren verursacht, während in der Phase länger dauernder Neutropenien im Verlauf einer Therapie der Grundkrankheit vor allem Pilzinfektionen (Aspergillose, Candidose) eine bedeutende Rolle spielen (. Abb. 8.2).
8
Therapie. Die Standardtherapie bei fiebernden immunsupprimierten Patienten ist die unverzügliche intravenöse Antibiotikagabe. Das gilt auch für fieberfreie Patienten, die andere Zeichen einer Infektion aufweisen, bei Hochrisikopatienten sind im Gegensatz zu Niedrigrisikopatienten schwerere Verläufe auch unter entsprechender Therapie zu erwarten. Deswegen sind strenge Richtlinien zur Infektionsprophylaxe bei immunsupprimierten und somit auch bei pädiatrisch-onkologischen Patienten unverzichtbar. Diese betreffen Empfehlungen zur nicht medikamentösen, antibakteriellen, antimykotischen und antiviralen Prophylaxe sowie zur Infektionsprävention durch Einsatz hämatopoetischer Wachstumsfaktoren, was auch die Impfempfehlungen für die genannte Patientengruppe einschließt (Graubner et al. 2001). Operative Eingriffe im Rahmen der Grundkrankheit sind bei einer Neutropenie unter 1000/ mm3 wenn irgend vermeidbar nicht vorzunehmen.
8.4.5 Peritonitis
sudat kann sowohl serös, fibrinös, purulent, hämorrhagisch, putrid, gallig, mekoniumhaltig bzw. kotig – je nach Ursache und Alter des Kindes sein. Pathophysiologie. Über die enorme Resorptions- und Transsudationsfähigkeit, auch die biologische Barriere des Peritoneums, wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts von Wegener berichtet und damit auch schon über festgelegte Therapieschemata, die im Grundsatz heute noch Gültigkeit haben. Infolge der Infektion reagiert der Organismus mit einer systemischen Entzündungsreaktion (»systemic inflammatory response syndrome«), die bei nachgewiesener Infektion zu einer Sepsis führt. Bakterien und bakterielle Stoffwechselprodukte (Endotoxine) bewirken nach Kontakt mit Leukozyten oder Endothelzellen eine Aktivierung derselben, die dann Mediatoren wie Prostaglandine, Leukozyten, Elastase, Sauerstoffradikale, Histamine, Kinine und andere freisetzen. Diese führen zu systemischen Effekten wie Fieber sowie vermehrtem Volumenbedarf bei weit gestellter Gefäßperipherie. Wir sprechen dabei von einem distributiven Schock, der über die inflammatorische Aktivierung der Gerinnungskaskade zur disseminierten intravasalen Koagulation (DIC), zum ARDS und letztendlich zum septischen Schock mit einem Multiorganversagen führen kann. Vieles ist noch unklar im Zusammenwirken der Mediatoren, vor allem auch, welche Faktoren zum Nachweis einer Sepsis führen. Sensibler als die Thrombozyten reagieren die Gerinnungsfaktoren wie Fibrinogene und besonders AT3, die frühzeitig eine einlaufende Verbrauchskoagulation anzeigen. Verlauf. Der Verlauf einer Sepsis im Kindesalter ist durch eine frühe proinflammatorische Allgemeinreaktion und eine ab dem zweiten Erkrankungstag gezielt einsetzende antiinflammatorische Reaktion gekennzeichnet. Aus diesem Grund ist im Kindesalter der septische Schock mit einem folgenden tödlichen Ausgang eher eine Rarität.
Definition. Im Vordergrund der septischen Bauchchirurgie steht das Krankheitsbild der Peritonitis. Sie stellt per definitionem eine diffuse oder lokalisiert auftretende, in der Regel akut verlaufende Entzündung des Peritoneums dar, die meist bakteriell, aber auch chemisch-toxisch bedingt sein kann. Demnach gehört die Peritonitis zum klinischen Bild des akuten Abdomens. Im eigentlichen Sinn handelt es sich bei der Peritonitis nur um einen Sammelbegriff für ätiologisch, pathophysiologisch und morphologisch unterschiedliche Erkrankungen.
Primäre Peritonitis. Als primäre Peritonitis wird die Infektion der Abdominalhöhle durch eine hämatogene Aussaat der Erreger in das Abdomen verstanden. Wichtigste Formen sind die Pneumo- und Streptokokkenperitonitis.
Einteilung. Nach der Ätiologie unterscheiden wir im Kin-
Therapie. Wichtig ist eine frühzeitige Diagnostik einer jeden Form der Peritonitis, noch besser die Beseitigung der Ursache für eine fortschreitende Peritonitis. Ist die Diagnose einer Peritonitis gestellt, sind präoperativ Maßnahmen einzuleiten, die den Zustand des Kindes bessern helfen. Bestehende Elektrolytveränderungen, Störungen des Säure-
desalter eine primäre, eine sekundäre, eine chemische und eine physikalische Form, nach der Ausbreitung eine lokale, die zur Abszedierung führen kann, eine auf den Unterbauch begrenzte oder im schwersten Fall eine im ganzen Bauchraum ausgebreitete Peritonitis. Das dabei vorhandene Ex-
Sekundäre Peritonitis. Die Hauptursachen der sekundären
Peritonitis altersabhängig im Kindesalter sind: 4 Durchwanderungsperitonitis 4 Perforationsperitonitis 4 Aszendierende Entzündung bei großen Mädchen
83 8.4 · Infektionsarten
Basen-Haushaltes und ein Volumenmangel sind zu beseitigen. Im Vordergrund der Therapie der Peritonitis steht die operative Therapie begleitet von einer konservativen Behandlung. Die Grundsätze der septischen Bauchchirurgie liegen in der Beseitigung der Infektionsursache, der Entfernung des entzündlichen Exsudates und der Drainage des Abdomens zur weiteren Ableitung des noch entstehenden Exsudates. Die Schnittführung sollte in der Mittellinie des Abdomens für eine gute Übersicht erfolgen. Nur bei eindeutigem Nachweis einer perforierten Appendizitis ist ein Schnitt im rechten Unterbauch erlaubt. Drainagen dürfen nicht aus der Wunde heraus geleitet werden. Der DouglasRaum als tiefster Punkt der Bauchhöhle muss drainiert werden. Eine 30°-Schräglage des Patienten ist postoperativ zu empfehlen. Auch lokale und Flankendrains können zusätzlich eingebracht werden. ! Cave Bei einer nachgewiesenen Nahtinsuffizienz oder Perforation eines Darmabschnittes, außer bei der Appendix oder eines Meckel-Divertikels, sind Anastomosen oder Übernähungen kontraindiziert.
Besser ist eine direkte Vorlagerung der Perforation oder der Nahtinsuffizienz oder im Einzelfall auch eine vorgeschaltete Entlastung im Sinne einer Darmfistel. Eine innere Schienung zwecks Ileusprophylaxe ist wegen der Vulnerabilität der entzündeten Darmwand abzulehnen. Nur in Ausnahmefällen können im Kindesalter eine geschlossene kontinuierliche Peritonealspülung oder andere Spülbehandlungen erforderlich werden. Zu letzteren gehört das offen gelassene Abdomen mit Spülung oder die offene kontinuierliche Peritonealspülung als dorsoventrale Bauchspülung bei Abdomen apertum. Wegen der sog. Straßenbildung ist eine solche Spül-/Saugbehandlung nur über 2–3 Tage mit maximal 6 l/Tag durchzuführen. Besser geeignet scheint die geplante programmierte Relaparotomie in zwei bis dreitägigen Abständen, die sog. Etappenlavage, zur Beurteilung der Bauchhöhle zu sein, die vom gleichen Operateur vorgenommen werden sollte. Die zusätzliche konservative Therapie im Rahmen der postoperativen Phase beinhaltet eine intensivmedizinische Behandlung mit einer zunächst unspezifischen kombinierten Antibiotikagabe der in der Regel vorliegenden Mischinfektion von aeroben und anaeroben Keimen. Besonderes Augenmerk sollte auf die AT3-Substitution gelegt werden. Ob Selen, das bei der Peritonitis generell erniedrigt ist, zur Verbesserung der antiinflammatorischen Reaktion gegeben werden soll, ist umstritten. Selen soll angeblich den Organismus effizient vor einer erhöhten Sauerstoffradikalbelastung schützen. Nach Kenntnis des Erregerspektrums und des Resistogramms muss dann unverzüglich in eine gezielte Antibiotikagabe gewechselt werden. Komplikationen. Als Komplikationen der Peritonitis sind
zu nennen:
4 Abszedierungen der Bauchdecke und des DouglasRaums 4 Interenterische Abszesse (sog. Schlingenabszess), subphrenisch, subhepatisch 4 Nahtinsuffizienzen mit entsprechenden Stuhlfisteln Als schwerste systemische Komplikation gilt die Sepsis, die wie bereits dargestellt, zum septischen Schock und Multiorganversagen führen kann. Im Gegensatz zum Erwachsenen ist letzteres im Kindesalter äußerst selten. Infolge erheblicher Adhäsionen, aber auch Bridenbildungen können Subileuserscheinungen bis hin zum Vollbild des Ileus Monate bis Jahre später auftreten. Bei weiblichen Patienten sind Verklebungen im Bereich der Fimbrien der Tube möglich, die sehr oft zu einer späteren Sterilität führen können. Häufig stellt eine Appendicitis perforata im Kindesalter die Ursache dafür dar.
8.4.6 Pleuraempyem Definition. Das Pleuraempyem stellt eine Eiteransammlung
in der anatomisch präformierten Pleurahöhle bei fehlender primärer Gewebenekrose dar. Ätiologie. Als Ursache für ein Pleuraempyem wird im Kindesalter meist die para- oder metapneumonische Ruptur eines Lungenabszesses beobachtet. Aber auch postoperativ bei Stumpfinsuffizienz einer Lungenresektion oder Anastomoseninsuffizienz einer Ösophagusanastomose, bei Superinfektion eines Hämatothorax oder bei Ausbreitung eines entzündlichen Oberbauchprozesses wie eines subphrenischen Abszesses kann es zu einem Pleuraempyem kommen. Klinik. Das Pleuraempyem kann per continuitatem die Tho-
raxwand oder das Diaphragma infiltrieren und durchbrechen. Im Verlauf bildet sich häufig eine Pleuraschwarte aus, die zu einer restriktiven Atemfunktionsstörung führt. Die Patienten zeigen die typischen Symptome einer schweren systemischen Infektion verbunden mit einer ausgeprägten Dyspnoe, Klopfschalldämpfung und Abschwächung des Atemgeräusches auf der Seite der erkrankten Lunge. Therapie. Präoperativ ist die Darstellung in einem Schnitt-
bildverfahren zu empfehlen (CT, MRT). Ziel der chirurgischen Intervention ist die komplette Entfernung des Eiters, gegebenenfalls verbunden mit einer frühzeitigen Dekortikation über eine kleine Thorakotomie oder eine Thorakoskopie, um so die volle Wiederentfaltung der Lunge zu ermöglichen. Das Legen einer Thoraxsaugdrainage (evtl. auch Spül-Saug-Drainage) ist obligat. Begleitet wird dieses Vorgehen durch eine hochdosierte Antibiotikatherapie nach Resistogramm und durch physiotherapeutische Maßnahmen, die die Belüftung der Lunge verbessern.
8
84
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
8.5
Grundsätze der chirurgischen Infektionsbehandlung
> Der schon seit Jahrhunderten bekannte Leitsatz »ubi pus ibi evacua« stellt unverändert das therapeutische Grundkonzept bei jeder Infektion dar. Das heißt, jede eitrige Infektion sollte chirurgisch behandelt werden, notfalls mit einer Inzision bzw. Exzision mit Beseitigung der Infektionsursachen. Primäre Wundverschlüsse sind bei allen Infektionen zu vermeiden.
von Infektionen von großer Bedeutung. Weiterhin ist auf einen richtigen adaptierenden Wundverschluss zu achten. Um eine ungestörte Wundheilung zu ermöglichen, sollten tägliche Verbandswechsel bei sog. aseptischen Wunden nicht vorgenommen werden. Allgemeine hygienische Maßnahmen, die in einer jeweils gültigen Krankenhausordnung fixiert sind, müssen in der Klinik bzw. auch in der Praxis eingehalten werden.
8.6.2 Antibiotikaprophylaxe
8
Bei Verdacht auf das Vorliegen eines Fremdkörpers muss nach diesem gesucht und unbedingt entfernt werden. Eine Abstrichentnahme zwecks mikrobiologischen Nachweises von Erregern ist unbedingt erforderlich. Um einen frühzeitigen Verschluss zu verhindern und damit eine sog. Eiteransammlung subkutan auszuschließen, sollte kein primärer Wundverschluss vorgenommen werden. Es ist durchaus möglich, eine Wunde mit Einlegen einer Drainage zu behandeln. Eine Immobilisierung der betroffenen Extremität entweder in einer Schiene oder Gipsschalenbehandlung ist erforderlich. Bei betroffenem Gesicht bzw. Stirn ist Bettruhe einzuhalten. Ähnliches trifft auf die Lymphangitis zu. Die lokale Wundbehandlung ist fortzusetzen durch Säuberung, durch regelmäßige Verbände, notfalls auch mit einer sog. Vac-Therapie. Dabei wird durch eine luftdichte Versiegelung eines Wundgebietes mit gleichzeitig pulsativ angelegtem Unterdruck in dieser Wundkammer quasi kontinuierlich über dem gesamten Wundgebiet putrides Wundsekret abgesaugt. Dadurch wird die Wunde gereinigt aber gleichzeitig die Durchblutungssituation verbessert und somit die körpereigene lokale Infektabwehr stimuliert sowie die Wundheilung gefördert. Eine systemische Antibiotikagabe ist bei jeder ausgedehnten lokalen Infektion zu empfehlen, zunächst ungezielt, später nach Erregernachweis gezielt. Bei Verdacht auf Virus- bzw. Pilzbefall ist eine entsprechende antivirale bzw. antimykotische Therapie sowohl lokal als auch i.v. notwendig. Auf die Vollständigkeit der Impfung, besonders Tetanus-Schutzimpfung ist zu achten, notfalls müsste eine passive Immunisierung erfolgen. Spezielle Maßnahmen sind bei MRSA- oder HIVinfizierten Patienten entsprechend der Hygieneordnung einzuhalten.
8.6
Prävention von Infektionen
8.6.1 Chirurgische Wundversorgung Neben der Beachtung von Asepsis und Antisepsis, wozu auch die hygienischen Maßnahmen, die Desinfektion und die Sterilisation gehören, ist die Einhaltung etablierter chirurgischer Techniken, so z. B. die typische Friedrich-Wundversorgung bei der Notfallversorgung, bei der Prävention
Ein wesentlicher Anteil der Antibiotikagabe in der Kinderchirurgie dient der Prophylaxe postoperativer Infektionen. Dazu gehören eine präoperative, die perioperative sowie die postoperative Gabe, die in Abhängigkeit des vorgesehenen Eingriffes, der Lokalisation und des Alters des Patienten verabreicht werden muss. Im Vordergrund steht hierbei die perioperative Antibiotikagabe. Da im Kindesalter prospektive Studien, die eine Reduktion postoperativer Wundinfektionen zeigen könnten, nicht existieren, werden wegen der ähnlichen Pathomechanismen des Auftretens von Wundinfektionen die bekannten Studien für Erwachsene berücksichtigt. Das Ziel einer solchen Antibiotikagabe soll die Reduktion bzw. Elimination von Keimen sein, die bei der Operation die Wunde kontaminieren und zu nachfolgenden Infektionen führen können. So genannte nosokomiale Infektionen, die die Lunge bzw. die Harnwege betreffen, werden dagegen nicht beeinflusst und stellen die Domäne sowohl der präoperativen als auch der postoperativen Antibiotikagabe dar. > Das Risiko einer Infektionsentstehung und Ausbreitung einer solchen ist besonders erhöht bei Kindern, bei denen Implantate aller Art eingebracht werden, bei immunsupprimierten Kindern und bei Kindern, bei denen bereits kontaminierte Organe und Regionen bei der Operation eröffnet werden müssen. Zu letzteren gehören insbesondere Eingriffe am Dickdarm bzw. am Urogenitalsystem. Primär aseptische Eingriffe, bei denen der bakterielle Kontaminationsgrad durch Einhaltung aller Hygienestandards nicht negativ beeinflusst wird, erfordern im Kindesalter keine Antibiotikaprophylaxe.
Der Erfolg einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe wird einerseits durch den Zeitpunkt und die Zeitdauer der Applikation und andererseits vom gewählten Antibiotika und dessen Dosis beeinflusst. Das benutzte Antibiotikum sollte dabei die häufigsten Infektionserreger in Abhängigkeit des vorgesehenen Eingriffes erfassen, aber auch gut verträglich für das Kind und kostengünstig sein. In der Regel erfolgt die Gabe über einen intravenösen Zugang. Um eine effiziente Konzentration des Antibiotikums sowohl im Blut als auch im Gewebe zum Zeitpunkt des operativen Eingriffes zu erreichen, sollte dieses etwa 30 min
85 8.6 · Prävention von Infektionen
vor der Hauteröffnung gegeben werden. Bei längerer Operationsdauer sollte alle 4 h eine weitere Gabe vorgenommen werden, diese in der Regel aber nicht über 24 h (Mangram et al.1999). Unter Umständen kann es aber durchaus sinnvoll sein, die Antibiotikatherapie in Abhängigkeit des klinischen Verlaufes und der Entzündungsparameter im Blut weiterzuführen, so auch bei großen Operationen am Knochen. In der elektiven Kolonchirurgie hat es sich auch im Kindesalter bewährt, bereits präoperativ durch eine intraluminale Antibiotikagabe, kombiniert auch mit einer Spülbehandlung je nach Art des Eingriffes eine Keimreduktion zu erreichen.
8.6.3 Endokarditisprophylaxe Es besteht die Hypothese, dass Bakteriämien, die im Rahmen medizinischer Eingriffe entstehen, bei Patienten mit entsprechenden Risikofaktoren zu infektiösen Endokarditiden führen können. Dabei wird angenommen, dass eine prophylaktische Gabe von Antibiotika diese Erkrankungen effizient verhindern kann. Die bisherigen Empfehlungen beruhen auf diesen theoretischen Überlegungen, auf Tierversuchen und Kasuistiken, auch wenn bekannt ist, dass mit einer solchen Prophylaxe nicht in jedem Fall eine Endokarditis wirkungsvoll verhindert werden kann. Das Ziel der bisherigen Leitlinien zur Prophylaxe der infektiösen Endokarditis war es, möglichst bei allen Patienten mit einem erhöhten Risiko die Entstehung einer infektiösen Endokarditis durch Bakteriämien im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen zu verhindern. Für die Effektivität und Effizienz dieses Vorgehens liegt nur eine unzureichende Evidenz vor. In Anlehnung an die Empfehlungen der American Heart Association (AHA) orientieren sich die aktuellen Empfehlungen zur Endokarditisprophylaxe der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie allerdings mehr an der Frage, welche Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Antibiotikaprophlaxe profitieren werden. Unter diesem Aspekt ließe sich der bisherige Einsatz der Prophylaxe sinnvoll eingrenzen (Naber 2007). Diesen aktuellen Empfehlungen kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie nicht einheitlich folgen, und so gelten momentan noch die bisherigen Standards. Danach werden Patienten mit einem erhöhten Risiko von Patienten mit einem hohen Risiko hinsichtlich einer bakteriellen Endokarditis unterschieden. Für diese Patienten sollte bei allen chirurgischen Interventionen einschließlich Endoskopien am Oropharynx, des Respirations- und Gastrointestinaltraktes, des Urogenitaltraktes sowie bei Eingriffen an Haut und Weichteilgeweben eine antibiotische Endokarditisprophylaxe erfolgen.
Übersicht Patienten mit einem erhöhten Endokarditisrisiko 4 Die meisten angeborenen Herzfehler (außer Vorhofseptumdefekt vom Sekundum-Typ) 4 Operierte Herzfehler mit einem Restbefund (ohne Restbefund 1 Jahr) 4 Hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie 4 Erworbene Herzklappenfehler
Patienten mit einem hohen Endokarditisrisiko 4 Zustand nach mikrobieller Endokarditis 4 Zyanotische Herzfehler 4 Zustand nach Implantation einer Herzklappe (aus Kunststoff oder Biomaterial) 4 Chirurgisch etablierte Shunts oder implantierte Konduits
Bei Patienten mit einem besonders hohen Endokarditisrisiko wird die Prophylaxe bereits bei einer nasotrachealen Intubation sowie bei Herzkatheteruntersuchungen empfohlen. Eine Antibiotikaprophylaxe sollte generell 60 min vor einem Eingriff verabreicht werden (. Tab. 8.1). Für Patienten mit einem erhöhten Endokarditisrisiko wird die einmalige präoperative Antibiotikaapplikation als hinreichend angesehen. Patienten mit einem hohen Endokarditisrisiko sollen bei Anwendung von Amoxicillin oder Clindamycin dagegen 6 h nach dem Eingriff eine weitere Dosis (Amoxicillin 15 mg/kg; Clindamycin 7,5 mg/kg) erhalten. Üblicherweise ist jeder der betroffenen Patienten im Besitz eines »Herzpasses für Kinder«, aus dem alle Informationen für den behandelnden Arzt zu entnehmen sind. Da jedoch eine Modifikation der Empfehlungen im oben dargestellten Sinn wahrscheinlich ist, wird auf die Website der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie (www. p-e-g.org) verwiesen, auf der alle aktuellen Standards nachzulesen sind.
. Tab. 8.1. Dosierung einiger empfohlener Antibiotika Antibiotikum
Dosierung
Orale Einahme
Amoxicillin
50 mg/kg KG
Orale Einnahme nicht möglich
Ampicillin
50 mg/kg KG i.v.
Penicillin- oder Ampicillinallergie
Clindamycin
15 mg/kg KG p.o. oder i.v.
Vancomycin
20 mg/kg KG i.v.
Teicoplanin
10 mg/kg KG i.v.
8
86
8
Kapitel 8 · Chirurgische Infektionen
8.6.4 Impfungen
Literatur
Um eine bakterielle toxische Infektion auszuschließen, ist laut Impfkalender eine Tetanus-Schutzimpfung empfohlen, die in der Regel als eine Mehrfachimpfung verabreicht werden kann z. B. in Kombination mit Diphtherie- bzw. Mumps- und Keuchhustenimpfung. Eine Tollwut-Schutzimpfung ist nur bei entsprechendem Verdacht erforderlich. Eine Pneumokokken-Impfung sowie eine Haemophilusinfluenza-Impfung sollten bei vorgesehenen Milzteilresektionen bzw. Splenektomien erfolgen. Sie können auch im Rahmen einer notwendigen Milzteilresektion bzw. Splenektomie z. B. nach Unfall postoperativ noch nachgeholt werden. Eine entsprechende Titerbestimmung ist auf jeden Fall erforderlich. Dagegen können Kinder mit Immundefizienz (7 Kap. 8.1.3) auf Schutzimpfungen nicht adäquat reagieren, da Patienten mit B-Zell-Defekten in ihrer Fähigkeit, spezifische Antikörper nach Impfungen zu bilden, beeinträchtigt sind. Diese Kinder sollten mittels passiver Immunisierung geschützt werden, wobei aber die Effizienz einer solchen Impfung bezweifelt werden muss. Eine aktive Immunisierung kann dagegen fatale Folgen für solche Kinder haben, bei Kindern mit einem selektiven IgAMangel, einem IgG-Subklassenmangel, mit Komplementund Phagozytose-Defekten sowie mit einer Asplenie dagegen nicht.
Bjorkander J, et al. (2006) Prospective open-label study ofo pharmacokinetcs, efficacy and safety of a new 10% liquid intravenous immunoglobulin in patients with hypo- or agammaglobulinemia. Vox Sang 90:286–293 Brown EM, de Louvois J, Bayston R et al. (1994) Antimicrobial prophylaxis in neurosurgery and after head injury. Lancet 344:1547–1551 Carbon RT, Lugauer S, Geitner U, et al. (1999) Reducing catheter-associated infections with silver-impregnated catheters in long-term therapy of children. Infection 27 (Suppl. 1):69–73 Duque-Estrada EO, Duarte MR, Rodrigues DM, Raphael MD (2003) Wound infections in pediatric surgery: a study of 575 patients in a university hospital. Pediatr Surg Int 19:436–438 Fätkenheuer G, Cornety O, Seifert H (2002) Clinical management of catheter-related infections. Review Clin Microbiol Infect 8:545–550 Graubner UB, et al. (2001) Vaccination. Klin Pädiatr 213 (Suppl. 1):A77–83 Mangram AJ.et al. (1999) Guidelines for prevention of surgical site infection. Infect Control Hosp Epidemiol 20:247–280 Mermel LA, Farr BM,Sheretz RJ (2001) Guidelines for the management of intravascular catheter-related infections. Clin Infect Dis 32:1249–1272 Naber CK, Al-Nawas B, Baumgartner H (2007) Prophylaxe der infektiösen Endokarditis. Kardiologe, DOI 10.1007/s12181-007-0037-x Seifert H, et al. (2007) MIQ 3a: Blutkulturdiagnostik – Sepsis, Endokarditis, Katheterinfektionen (Teil I), Qualitätsstandards in der mikrobiologisch-infektiologischen Diagnostik. 2. Aufl. Urban & Fischer/Elsevier, München Raymond J, Aujard Y, the European Study Group (2000) Nosocomial infections in pediatric patiants: A European, multicenter, prospectiv study. Infect Control Hosp Epidemiol 21:260–263 Reid MM (1994) Splenectomy, sepsis, immunisation and guidelines. Lancet 344:970–971 Scholz H, et al. (2003) Infektionen bei Kindern und Jugendlichen, Handbuch der Dt. Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie, 4. Auflage. Futuramed, München Wenzel RP (2007) Health care-associated infections: major Issues in the early Years of the 21st century. Clin Infect Dis 45:S85–88
9
9 Gefäßzugänge A. Heger 9.1
Peripherer Gefäßzugang
– 87
9.2
Zentraler Gefäßzugang – 88
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4
Zentraler Venenkatheter – 88 Langzeitimplantierter zentralvenöser Katheter – 89 Portsysteme – 90 Komplikationen – 91 Literatur – 91
> Sichere peripher- und zentralvenöse Gefäßzugänge sind in der perioperativen Behandlung und der Intensivtherapie kritisch kranker Kinder sowie in der Langzeittherapie von Kindern mit onkologischen, hämatologischen und metabolischen Erkrankungen unverzichtbar (Cook et al. 1997). Dieser Forderung kommt die Medizintechnik mit einem breiten Angebot an Kathetersystemen für Kinder jeden Alters und Gewichts entgegen. Dennoch stellt die Schaffung eines venösen Zugangs insbesondere bei Kleinkindern und Säuglingen häufig ein im Vergleich zum Erwachsenen riesiges Problem dar, dessen Ursache in der Kleinheit und Zartheit der Gefäßstrukturen liegt.
9.1
Peripherer Gefäßzugang
Periphere Gefäßzugänge sind bei allen Patienten indiziert, die i.v. Medikamente oder Infusionen benötigen, außerdem bei Kindern mit dem Risiko einer plötzlichen kardiopulmonalen Verschlechterung zur Vermeidung und Therapie von Notfallsituationen. In der Regel erfolgt die Schaffung eines periphervenösen Zugangs durch Punktion eines geeigneten Gefäßes mit einer Venenverweilkanüle, gelegentlich mit einer Butterfly-Kanüle. Der periphere Zugang gilt als sicher und risikoarm, vielfach wiederholbar, und die Technik ist für jeden Arzt erlernbar. Er gelingt abhängig von der Gefäßsituation des Kindes und der Erfahrung des Arztes in den allermeisten Situationen, kann aber die mehrfache Punk-
tion des Kindes bedeuten und in schwierigen Situationen wie kardiopulmonaler Depression oder bereits vielfach stattgehabter Punktionen zur echten Herausforderung auch für den Erfahrenen werden.
Übersicht Geeignete Venen für den peripherer Gefäßzugang 4 4 4 4 4 4 4
Handrückenvenen Kubitalvenen V. saphena am Sprunggelenk Fußrückenvenen Volare Handgelenksvenen V. jugularis externa Venen der Kopfhaut
Zur Erleichterung der Venenpunktion ist es immer sinnvoll, die zu punktierende Extremität mit einem Stauschlauch oder mir der Hand eines Helfers oder auch, bei Handrückenpunktion, mit der eigenen, haltenden Hand zu stauen. Eine kühle Extremität sollte angewärmt werden. Bei Neugeborenen und Säuglingen kann das Auffinden und Punktieren einer geeigneten Vene auch mit Hilfe einer Kaltlichttransillumination der entsprechenden Körperregion erleichtert werden; hierzu werden seitens der Industrie entsprechende Geräte angeboten. Abzuraten ist von der Transillumination z. B. mit dem Licht eines Otoskops, da
88
Kapitel 9 · Gefäßzugänge
Zentraler Gefäßzugang
9.2
9.2.1 Zentraler Venenkatheter
. Abb. 9.1. Intraossäre Kanüle
9
hierdurch erhebliche Verbrennungen der Haut und Weichteile auftreten können. Periphere Venenkanülierungen haben eine niedrige Komplikationsrate. Hierzu zählen Infektion des Zugangs bis zur Septikämie, arterielle Punktion (z. B. am Handgelenk und Ellbogen), Extravasation mit Gewebeirritation bis zur Phlebitis und Nekrose. Thrombosen und Embolien auf dem Boden einer peripheren Infusion stellen eine Rarität dar. Die chirurgische Gefäßfreilegung zur Schaffung eines periphervenösen Zugangs wurde vor der Ära der intraossären Kanüle in Notfallsituationen durchgeführt. Heute werden periphere Venen selten chirurgisch freigelegt, um beispielsweise zentrale Venenkatheter über die Ellbeuge einzuführen, jedoch nicht zur Anlage eines peripheren Venenzugangs. Ansonsten wird im Notfall bei unmöglich installierbarem peripherem Zugang der intraossäre Zugang favorisiert (. Abb. 9.1; (Kruse et al. 1994)). In einer Notfallsituation, in der die Zeit in der Behandlung des Patienten eine ganz wichtige Rolle spielt, sollte nicht gezögert werden, mit Hilfe spezieller Trokarnadeln den Markraum der großen Röhrenknochen zu punktieren. Dies gelingt beim Säugling am besten an der proximalen Tibia 2 cm distal der Tuberositas tibiae und beim Kleinkind und Kind an der distalen Tibia oberhalb des Malleolus medialis ventral der V. saphena magna, jeweils mit leichter Neigung der Trokarnadel zur Diaphyse hin. Auch andere ossäre Zugänge, z. B. die Punktion des distalen Femurmarkraums und der Beckenschaufel (wie zur Knochenmarkpunktion in der Onkologie) werden beschrieben. Über diese Notzugänge können jede Art von Infusionslösung, Plasmaersatz, Kreislaufmedikamente, Anagetika, Sedativa und Antikonvulsiva rasch appliziert werden. Die Risiken der intraossären Infusion wie Weichteilinfusion und Nekrose, Nervenschaden und Infektion sind gering.
Zentrale Venenkatheter erlauben die Verabreichung großer Flüssigkeitsmengen, auch hyperosmolar, zur Rehydrierung und zur Volumentherapie, die Behandlung mit aggressiven Medikamenten, z. B. bei der Chemotherapie und die hochkalorische parenterale Ernährung. Darüber hinaus kann mit ihnen ein erweitertes Kreislaufmonitoring durch Messung des zentralen Venendrucks durchgeführt werden und in Fällen kardiozirkulatorischer Depression ist die rasche Applikation kreislaufwirksamer Medikamente nahe an den Ort Ihrer Wirkung möglich. Zentrale Venenkatheter können in folgende Venen eingebracht werden:
Übersicht Geeignete Venen für den zentralen Gefäßzugang 4 4 4 4 4
V. femoralis V. jug. interna V. jug. externa V. subclavia V. axillaris
Das Legen eines zentralen Venenzugangs ist beim kleinen Kind und insbesondere beim Säugling aufgrund der kleinen Gefäßdurchmesser und auch wegen des gewundenen Verlaufs der Gefäße, besonders im oberen Einflussbereich, schwieriger als beim Erwachsenen. Die Wahl der Kathetergröße sollte insbesondere von Alter, Größe und Gewicht des Kindes bestimmt werden. Zentrale Katheter größer als 6 F sollten nach Möglichkeit nur Kindern implantiert werden, die älter als 1 Jahr, schwerer als 10 kg und größer als 75 cm sind (Janik et al. 2004). Zentrale Venenkatheter stehen auch für Kinder und Säuglinge als Mehrlumenkatheter zur Verfügung und erlauben damit die beim schwerkranken Patienten häufig notwendige parallele Infusion von parenteraler Ernährung und Medikamenten. Beim Kleinkind, Kind und Adoleszenten steht die vorrangig perkutane Einbringung des zentralen Venenkatheters außer Frage (Finck et al. 2002; Chiang u. Baskin 2000). In der Regel gelingt es zumindest dem Erfahrenen Intensivmediziner oder Anästhesisten, auf diese Weise einen zentralen Venenzugang zu schaffen. Die Erfolgsrate der perkutanen ZVK-Anlage liegt je nach punktiertem Gefäß und Alter des Kindes zwischen 75 und über 90% und lässt sich unter Zuhilfenahme der Sonographie auf bis zu 100% steigern (Orsi et al. 2000). Das Legen des Katheters erfolgt meistens in SeldingerTechnik: Punktion des Gefäßes mit einer Punktionsnadel, Einführen eines Führungdrahtes (Seldingerdrahtes) über
89 9.2 · Zentraler Gefäßzugang
die Nadel in das Gefäß, Entfernen der Punktionskanüle, Dilatation der Hautdurchtrittstelle mit einem speziellen, dem ZVK-Set beiliegendem Dilatator, Entfernen des Dilatators und Einführen des zentralen Venenkatheters, Enfernen des Seldingerdrahtes und Annaht des Katheters nach radiologischer Lagekontrolle (Röntgen-Thorax) und ggf. Lagekorrektur. Beim Einbringen eines zentralen Venenkatheters über die Leiste sollte das anschließende Röntgen-Thoraxbild bis zum Nabel aufgeblendet werden, um den möglicherweise nicht zentral liegenden Katheter dennoch abzubilden und über eine Lagekorrektur entscheiden zu können. Außerdem sollte die Lagedokumentation des Katheters mit Kontrastmittel erfolgen, da nur dadurch die sichere intravasale Lage der Katheterspitze dokumentiert werden kann. Bei Säuglingen und insbesondere bei Frühgeborenen kann ein zentraler Venenzugang durch Legen eines Silastikkatheters erfolgen. Silastikkatheter können aufgrund ihres sehr kleinen Durchmessers über eine ButterflyKanüle und sogar über eine liegende periphere Venenkanüle vom Handrücken, Handgelenk, der Ellenbeuge und von des Venen des Fußes und Sprunggelenks aus eingebracht und anschließend bis vor den rechten Vorhof vorgeschoben werden. Der Nachteill des Silastikkatheters liegt in seiner lumenbedingt begrenzten Infusionsrate, dem hohen Risiko der Katheterobstruktion (Silastikkatheter sollten niemals diskonnektiert und abgestöpselt werden) und in der erschwerten sicheren Fixierung des Katheters am Kind. In besonderen Situationen (Notfall, Nichtpunktierbarkeit oder Nichtkanülierbarkeit, Ödem, Hydrops, vorangegangene ZVK-Anlagen, Notwendigkeit von Mehrlumenkathetern bei Säuglingen) bleibt als letzte Möglichkeit die klassische Venae sectio zur Schaffung eines zentralvenösen Zugangs. Hierbei erfolgt meist die chirurgische Freilegung der Hals- oder Leistengefäße und das Vorschieben des Katheters nach Eröffnen der Vene mit Skalpell oder Schere. Auch die V. basilica und cephalica sowie die tiefen Venen des Oberarms können als Zugangsgefäße genutzt werden. Während es bei der Venae sectio der V. jug.interna in der Regel problemlos möglich ist, den Kathetereintritt durch eine Tabaksbeutelnaht zu sichern und die Durchgängigkeit der Vene zu erhalten, ist dies bei Kanülierung der V. saphena magna in der Leiste und der Brachialvenen am Oberarm aufgrund deren Durchmesser nicht möglich, sie sollten nach distal ligiert und der Katheter durch einen weiteren Ligaturfaden proximal der Gefäßeröffnung in die Vene eingebunden werden. Es kommt dadurch praktisch niemals zu einer dauerhaften venösen Stauung der betroffenen Extremität. Vorsicht ist allerdings bei der chirurgischen Kanülierung der V. femoralis geboten: Hier sollte die Ligatur der Vene in jedem Fall vermieden werden, da es dadurch tatsächlich zum gestörten venösen Abfluss aus dem betroffenen Bein kommen kann.
> Die V. femoralis sollte nach Möglichkeit nicht zur chirurgischen ZVK-Anlage benutzt werden. Falls dies unvermeidlich ist, sollte das Einbringen des Katheters auch bei chirurgischem Vorgehen in Seldinger-Technik nach Gefäßpunktion erfolgen, um den venösen Abfluss aus dem Bein so wenig wie möglich zu kompromittieren.
9.2.2 Langzeitimplantierter zentralvenöser
Katheter Hickman-Broviak-Katheter sind die ältesten Typen lang-
zeitimplantierter Kathetersysteme. Sie werden bis heute in großem Umfang eingesetzt (. Abb. 9.2). Diese Katheter werden von der Stelle des Gefäßeintritts bis zum Durchtritt durch die Haut getunnelt und bieten damit gegenüber perkutan eingebrachten zentralen Kathetern einen deutlich besseren Schutz vor Infektion und durch mindestens eine subkutan liegende Filzmuffe guten Schutz vor Dislokation. Sie werden bei Kindern meistens zur Therapie von Tumorerkrankungen und Leukämien implantiert, aber auch zur parenteralen Langzeiternährung bei vorübergehender oder dauerhafter enteraler Malabsorption und Malresorption, z. B. beim Kurzdarmsyndrom, zur medikamentösen Therapie angeborener Stoffwechselerkrankungen, der Hämophilie, verschiedener Formen der Anämie und immunologischer Erkrankungen und können bei guter Pflege Monate bis mehrere Jahre in situ verbleiben. Je nach Alter des Patienten und den Therapieerfordernissen können HickmanBroviak-Katheter als Ein- und Mehrlumenkatheter implantiert werden. Die Außendurchmesser liegen zwischen 2,7 und 15 F. Klassischerweise werden Hickman-Broviak- (und Portkatheter, s. unten) beim Kind, analog dem Vorgehen beim Erwachsenen, in die V. subclavia oder V. jugularis interna oder externa implantiert, subkutan getunnelt und
. Abb. 9.2. Korrekt liegender Hickman-Katheter
9
90
9
Kapitel 9 · Gefäßzugänge
ca. 2 3 cm infraklavikulär nach außen geleitet. Die Kathetermuffe sollte 2–3 cm proximal des Hautdurchtritts im Subktangewebe liegen. Die Hickman-Katheteranlage erfolgt bei Kindern in der Regel in Allgemeinanästhesie in offener chirurgischer Technik (Venae sectio), ist jedoch auch in perkutaner Seldinger-Technik möglich. Die Katheterspitze wird intraoperativ so positioniert, dass sie im Übergangsbereich der V. cava superior zum rechten Vorhoff zu liegen kommt, der Katheter muss bei Beendigung des Eingriffs auf allen Lumina einwandfrei spül- und aspirierbar sein. Der Zugang über die V. subclavia hat gegenüber dem Zugang über die Jugularvenen das erhöhte Risiko des Pneumothorax, einer ggf. schwerer zu kontrollierenden Blutungssituation und der erhöhten Gefahr der Katheterschädigung durch Einklemmung desselben zwischen Klavikula und erster Rippe (»pinch-off«). Bei Katheterplatzierung in der rechten V. subclavia wird ein höheres Risiko der Katheterfehllage und anderer Komplikationen beschrieben als bei Kanülierung der linken V. subclavia (Casado-Flores et al. 1991). In schwierigen Fällen mit bereits mehrfach stattgehabter Katheteranlage und entsprechend aufgebrauchtem Gefäßsystem ist es möglich, analog zur ZVK-Anlage HickmanBroviak-Katheter auch in die Venen des Oberarms zu implantieren, selbst die Iliakalvenen, die Gonadalvenen und die epigastrischen Venen sind als Zugangswege beschrieben und auch die Leistenregion ist zur Anlage eines langzeitvenösen Kathetersystems geeignet. Während die V. jugularis externa bei der Venae sectio und Katheterimplantation bedenkenlos ligiert werden kann, sollte die V. jugularis interna möglichst durchgängig gehalten werden und der recht lumenstarke Katheter über eine zu knüpfende Tabaksbeutelnaht in das Gefäß eingebracht werden. Vor der Eröffnung der V. jugularis interna sollte diese sauber und unter Schonung des N. vagus präpariert und mit Ligaturfäden oder Vessel-loops oberhalb und unterhalb der Eröffnungsstelle angeschlungen werden, um Blutungskomplikationen bei der Gefäßeröffnung vorzubeugen und leicht kontrollieren zu können.
. Abb. 9.3. Auswahl verschiedener Portsysteme
zystischer Fibrose, besonderen Formen der Hämophilie und Anämie und auch bei Tumorerkrankungen Adoleszenter. Ein venöses Portsystem besteht aus einem zentralen Silikon- oder Polyurethan-Venenkatheter sowie aus einer Titan- oder Kunststoff-Portkammer, in die ein Silikonstopfen eingelassen ist. Portkammer und -katheter werden bei der Implantation des Systems konnektiert und mit einer Muffe fest verbunden. Der Silikonstopfen der Portkammer kann mit speziellen Portnadeln (»Huber-Nadeln«), die ein Ausstanzen von Silikonzylindern bei der Punktion vermeiden, 2000- bis 3000-mal transkutan punktiert werden. Für besondere Indikationen in der Onkologie (z. B. anstehende Knochenmarkstransplantation) stehen auch Doppellumen-Portsysteme zur Verfügung. Die üblichen Außendurchmesser der Portkatheter liegen zwischen 4,8 F und 8 F. Die Implantation des Portkatheters erfolgt in gleicher Weise wie die des Hickman-/Broviakkatheters, meist in die V. jugularis externa oder interna, selten in andere Venen des oberen Einflussgebietes, in Allgemeinanästhesie des Kin-
9.2.3 Portsysteme Portsysteme sind seit etwa 25 Jahren im Einsatz und ihre Anwendung nimmt auch bei Kindern stark zu, da sie im Vergleich zu Hickman-Broviak-Kathetern durch ihre vollständige intrakorporale Lage weniger tägliche Pflege benötigen und den Patienten deutlich mehr Freiheit im täglichen Leben gewähren (. Abb. 9.3). Sie werden bei vielfältigen Krankheitsbildern (7 Kap. 9.2.2) und gelegentlich zur parenteralen Langzeiternährung implantiert. Ideal und vorteilhaft gegenüber Hickman-Broviakkathetern und zentralen Venenkathetern sind Portsysteme bei Krankheiten, die keine kontinuierliche, sondern eine intermittiernde oder Intervalltherapie erfordern, z. B. bei
. Abb. 9.4. Portlage am Oberarm, Zugang über die V. brachialis
91 9.2 · Zentraler Gefäßzugang
. Abb. 9.5. Thrombose der V. subclavia mit Ausbidung eines Umgehungskreislaufs
des. Die Implantation der Portkammer erfolgt in eine subkutane Tasche, die nach querer infraklavikulärer Hautinzision auf der Seite der Katheterimplantation gebildet wird, so dass die Portkammer auf dem M. pectoralis zu liegen kommt. Zur Vermeidung der Rotation der Portkammer in der Subkutantasche sollte die Kammer mit Nähten am umliegenden Weichteilgewebe fixiert werden. Eine Besonderheit stellt die Portsystemversorgung Jugendlicher ab 10 Jahren und adoleszenter Patienten mit Mukoviszidose dar. Bei diesen Patienten ist es bei entsprechender Kooperation möglich, die Implantation des Portsystems in Lokalanästhesie an der Oberarm-Innenseite durchzuführen (. Abb. 9.4). Damit kann diesen Patienten die für sie möglicherweise desaströse Allgemeinnarkose erspart werden, darüber hinaus fällt das Portsystem bei Verwendung sogenannter »Low-profile«-Portkammern kosmetisch in keiner Weise auf. Die Patienten werden in der Armbeweglichkeit und insbesondere in der Durchführung der für sie essenziellen Physiotherapie nicht eingeschränkt.
9.2.4 Komplikationen Die Implantation zentralvenöser Katheter sowie von Hickman-Kathetern und Portsystemen beinhaltet das Risiko von Komplikationen nicht nur intraoperativ (s. oben), sondern über die gesamte Liegezeit der Systeme (Fratino et al. 2005). Dazu gehören z. B. lebensbedrohliche Komplikationen wie Katheterabrisse und Embolie, Herzbeuteltamponaden durch Perforation tiefliegender Katheter (auch Silastikkatheter!) und Herzrhythmusstörungen. Allerdings sind bei Kindern Thrombose und Infektion die bei weitem häufigsten Komplikationen zentralvenöser Kathetersysteme. Die Inzidenz katheterbedingter Thrombosen beträgt nach der Literatur 0,4–61%, abhängig von der Untersuchungsmethode (Casado-Flores et al. 1991; Massicotte et al. 1998; Beck et al. 1998). Dabei sind die meisten Thrombosen klinisch inapparent. Eine erhöhte Thrombosegefahr wird
bei femoraler und Subclavia-Lage des Katheters beschrieben (. Abb. 9.5) (Male et al. 2005). Die Prophylaxe katheterassoziierter Thrombosen durch Heparin- und/oder Urokinasespülung gilt als nicht bewiesen (Revel-Vilk 2006). Die Behandlung klinisch symptomatischer Thrombosen erfolgt in der Regel durch Entfernung des Kathetersystems und antithrombotische Therapie. Das Risiko infektiöser Komplikationen hängt von verschiedenen Faktoren ab: Es steigt bei geschwächtem Immunstatus des Kindes, bei vollparenteraler Ernährung und mit steigender Liegezeit des Katheters, während ein Mehrlumenkatheter und die Insertionsstelle keinen Einfluss auf das Infektionsrisiko haben. Das Infektionsrisiko kann jedoch durch professionelle Pflege des Systems erheblich gesenkt werden (O’Grady et al. 2002).
Literatur Beck C, et al. (1998) Incidence and risk factors of catheter-related deep vein thrombosis in a pediatric intensive care unit: a prospective study. J Pediatr 133(2):237–41 Casado-Flores J, et al. (1991) Subclavian vein catheterization in critically ill children: analysis of 322 cannulations. Intensive Care Med 17(6):350–4 Chiang VW, Baskin MN (2000) Uses and complications of central venous catheters inserted in a pediatric emergency department. Pediatr Emerg Care 16(4):230–2 Cook D, et al. (1997) Central venous catheter replacement strategies: a systematic review of the literature. Crit Care Med 25(8):1417–24 Finck C, et al. (2002) Percutaneous subclavian central venous catheterization in children younger than one year of age. Am Surg 68(4):401–4 Fratino G, et al. (2005) Central venous catheter-related complications in children with oncological/hematological diseases: an observational study of 418 devices. Ann Oncol 16(4):648–54 Janik J.E, Conlon SJ, Janik JS (2004) Percutaneous central access in patients younger than 5 years: size does matter. J Pediatr Surg 39(8):1252–6 Kruse JA, Vyskocil JJ, Haupt MT (1994) Intraosseous infusions: a flexible option for the adult or child with delayed, difficult, or impossible conventional vascular access. Crit Care Med 22(5):728–9
9
92
Kapitel 9 · Gefäßzugänge
Male C, et al. (2005) Significant association with location of central venous line placement and risk of venous thrombosis in children. Thromb Haemost 94(3):516–21 Massicotte MP, et al. (1998) Central venous catheter related thrombosis in children: analysis of the Canadian Registry of Venous Thromboembolic Complications. J Pediatr 133(6):770–6 O‘Grady NP, et al. (2002) Guidelines for the prevention of intravascular catheter-related infections. The Hospital Infection Control Practices Advisory Committee, Center for Disese Control and Prevention, U. S. Pediatrics 110(5):e51 Orsi F, et al. (2000) Ultrasound guided versus direct vein puncture in central venous port placement. J Vasc Access 1(2):73–7 Revel-Vilk S (2006) Central venous line-related thrombosis in children. Acta Haematol 115(3-4):201–6
9
10
10 Pränatale Diagnostik und Interventionen E. Visca, O. Lapaire, W. Holzgreve
10.1
Fetale Fehlbildungen des Abdomens – 93
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5
Abdominale Oberflächendefekte – 93 Omphalozele – 94 Gastroschisis – 95 Obstruktionen des Gastrointestinaltraktes – 96 Sekundäre Veränderungen im Rahmen von anderen Malformationen – 96 Intraabdominale Zysten – 97 Fetale Tumoren – 97 Zwerchfellhernie – 97
10.1.6 10.1.7 10.1.8
> Die Ultraschall- und Dopplerdiagnostik erlaubt häufig zusammen mit laborchemischen Untersuchungen eine frühe und exakte pränatale Diagnosestellung von Pathologien des fetalen Abdomens. Neben einer adäquaten postnatalen Therapie ist die pränatale Diagnose eine wichtige Voraussetzung für die optimale interdisziplinäre Beratung der Eltern sowie die Wahl des Entbindungsortes, -zeitpunkts und -modus. Das vorliegende Kapitel liefert eine Übersicht der wichtigsten fetalen Fehlbildungen des Abdomens sowie der Lunge und deren diagnostische Charakteristika. Zu fetalen chirurgischen Interventionen wird auf 7 Kap. 11 wie auch auf weiterführende Literatur (Harrison et al. 2001) verwiesen.
10.1
Fetale Fehlbildungen des Abdomens
Ungefähr 9% aller fetalen Fehlbildungen sind im Abdomen lokalisiert. In der Pränataldiagnostik wird das fetale Abdomen nach folgenden sonographischen Kriterien beurteilt: 4 Zeichen abdominaler Oberflächendefekte 4 Hinweise auf eine intestinale Obstruktion 4 Sekundäre Veränderungen im Rahmen von anderen Malformationen 4 Nachweis intraabdominaler Zysten 4 Fetale Tumoren
10.2
Kongenitale zystisch-adenomatoide Lungenmalformation – 99 Literatur – 100
10.1.1
Abdominale Oberflächendefekte
Die Omphalozele sowie die Gastroschisis (7 Kap. 38) gehören zu den häufigsten anterioren Bauchwanddefekten, die beide schon am Ende des ersten Trimenons diagnostiziert werden können (. Abb. 10.1 und 10.2). Eine Kombination der Ultraschalluntersuchung mit der Messung des α-Fetoproteins (AFP) im mütterlichen Blut erhöht die Entdeckungsrate. Das Serum-AFP ist in 40% der Fälle signifikant (>2,5-facher Medianwert) erhöht (Langer 2003). Die Sensitivität des Ultraschalls beträgt über 90%. Europaweit bestehen jedoch große regionale Unterschiede, abhängig vom Ausbildungsstand und der Erfahrung des Untersuchers, der Qualität der eingesetzten Geräte sowie Art und Umfang der Schwangerschaftskontrollen (Barisic et al. 2001). Differenzialdiagnostisch muss ein anteriorer Bauchwanddefekt von einer physiologischen Nabelhernie abgegrenzt werden. Dabei handelt es sich um eine temporäre Ausstülpung fetaler Darmanteile in das extraembryonale Zölom, die mit einer Drehung des Darmes einhergeht. Die physiologische Nabelhernie weist einen Durchmesser von maximal 7 mm auf und kann zwischen der 8. und der 11. Schwangerschaftswoche (SSW) mittels Ultraschall dargestellt werden.
94
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik und Interventionen
. Abb. 10.1. Bereits im Ersttrimesterscreening aufgefallene fetale Omphalozele mit Eviszeration der Leber und unauffälligem Karyotyp
10.1.2
Omphalozele
Epidemiologie. Die Omphalozele (7 Kap. 38) tritt meist sporadisch mit einer Inzidenz von ca. 1:4000 Lebendgeburten auf. Das Widerholungsrisiko wird mit 1% angegeben.
10
Pränataldiagnostik. Sonographisch präsentiert sich an der
Basis des Nabelschnuransatzes ein Bruchsack, der Magen, Darm und Leber enthalten kann (. Abb. 10.1). Die vor die anteriore Bauchwand hervorgetretenen Organe sind vom parietalen Peritoneum bedeckt. Als charakteristisch gilt in der fetalen Biometrie der aufgrund der Organprotrusion zu kleine Abdomenumfang. Der Bruchsackinhalt sollte aufgrund der prognostischen Bedeutung auf das Vorhandensein von Leberanteilen untersucht werden. Assoziierte Fehlbildungen und Chromosomenanomalien (v. a. Trisomie 13 und 18) sind häufig und bestimmen wesentlich die Prognose. Das Risiko für eine fetale Aneuploidie beträgt 40–60% beim gleichzeitigen Nachweis einer Poly- bzw. Oligohydramnie und einer Omphalozele, die nur Darm (ohne Leberanteile) enthält. Eine invasive Diagnostik mittels Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie zum Ausschluss einer fetalen Aneuploidie sollte deshalb in einem ausführlichen Beratungsgespräch empfohlen werden.
Omphalozele mit unauffälligem Karyotyp Ist der fetale Karyotyp unauffällig, müssen assoziierte Fehlbildungen ausgeschlossen werden. In bis zu 30% finden sich Herzvitien. Urogenitale oder gastrointestinale Begleitdefekte wie eine Zwerchfellhernie, Malrotationen des Darmes oder Atresien sind ebenfalls häufig. Eine spezielle Kombination von Fehlbildungen am kranialen Pol wird als Cantrell-Pentalogie bezeichnet und
. Abb. 10.2. Dreidimensionale Sonographie einer fetalen Gastroschisis mit 12 SSW
umfasst außer der Omphalozele eine anteriore Zwerchfellhernie, sowie einen Defekt des diaphragmanahen Perikards, intrakardiale Fehlbildungen und einen kaudalen Sternumdefekt. Das OEIS-Syndrom (»omphalocele cloacal extrophy imperforate anus spinal defect«) ist durch eine Kombination von Malformationen kaudal der Omphalozele charakterisiert. Differenzialdiagnostisch muss die Body-stalk-Anomalie (sog. Syndrom der kurzen Nabelschnur) abgegrenzt werden, das außer einem ausgeprägten Bauchwanddefekt durch eine Skoliose, Extremitätenfehlbildungen und Assoziation mit fazialen Spalten, Enzephalozele sowie Amnionstrangsequenz charakterisiert ist. Infolge der kurzen bzw. fehlenden Nabelschnur sind die in einem von Amnion und Peritoneum begrenzten Sack extrakorporal gelegenen inneren Organe unmittelbar der Plazenta benachbart. Beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom (ExomphalosMakroglossie-Gigantismus-Syndrom) mit uniparentaler Disomie für die Region 11p15 sind Neugeborene durch einen Hyperinsulinismus mit Hypoglykämie und das erhöhte Malignomrisiko vital gefährdet.
95 10.1 · Fetale Fehlbildungen des Abdomens
Pränatales Prozedere Wurde eine Amniozentese zur Karyotypisierung durchgeführt, findet man in der Fruchtwasser-Elektrophorese typischerweise eine erniedrigte Acetylcholinesterase/Pseudocholinesterase-Ratio (<0,10) – im Gegensatz zu Neuralrohrdefekten, die eine Ratio von >0,25 aufweisen (Holzgreve u. Golbus 1983). > Da das Frühgeburtsrisiko (Geburt vor 37+0 SSW) deutlich erhöht ist (26–65%), sollten engmaschige Schwangerschaftskontrollen mit Messung der Zervixlänge und bei Bedarf Abnahme eines Fibronektin-Tests durchgeführt werden. Durch Ultraschalluntersuchungen im Intervall von 2–3 Wochen kann das erhöhte Risiko einer fetalen Wachstumsretardierung (6–35%) frühzeitig erkannt und der fetale Zustand dopplersonographisch überwacht werden.
In einem interdisziplinären Gespräch mit Geburtshelfern, Kinderchirurgen, Genetikern und Neonatologen sollte die Entbindung und postnatale Versorgung geplant werden. Die Geburt in einem Perinatalzentrum ist sinnvoll, da Studien gezeigt haben, dass der Transport Neugeborener mit einer Omphalozele aufgrund von Unterkühlung, Austrocknung und Zirkulationsbeeinträchtigung mit einem verschlechterten Outcome einhergehen kann (Kitchanan et al. 2000). Die Evidenz zum empfohlenen Geburtsmodus basiert auf retrospektiven Studien, die nicht zwischen Omphalozele und Gastroschisis unterschieden und keine Rückschlüsse auf das Vorgehen bei großen Defekten (>5 cm) mit signifikanter Eviszeration der Leber (>75%) erlauben (Segel et al. 2001; How et al. 2000). Ein eindeutiger Vorteil der Sectio caesarea konnte nicht gezeigt werden, die Auswirkungen einer besseren interdisziplinären Planbarkeit wurden nicht untersucht. Bei großen Defekten wird jedoch aufgrund der Gefahr der Dystokie, Ruptur, Infektion und Hämorrhagie die primäre Sectio favorisiert (Biard et al. 2004).
10.1.3
Gastroschisis
Bei der Gastroschisis (7 Kap. 38) handelt es sich um einen anderen Bauchwanddefekt mit Herniation von Darm und selten anderen Strukturen durch eine kleine (2–5 cm) Öffnung paramedian, üblicherweise rechts vom Nabelschnuransatz gelegen. Ätiologisch wird eine frühe intrauterine Unterbrechung der A. omphalomesenterica diskutiert. Pränataldiagnostik. Sonographisch findet sich im Gegensatz zur Omphalozele kein Bruchsack. Im ersten Trimenon stellen sich die Darmschlingen als hyperechogene Strukturen mit blumenkohlartigem Aspekt vor der anterioren Bauchwand dar (. Abb. 10.2), während sie später als flüssigkeitsgefüllte Konglomerate imponieren, die frei im
Fruchtwasser flottieren. Der Magen kann infolge von Traktion abnorm lokalisiert sein. Zusätzliche Obstruktionen können zur Poly- bzw. Oligohydramnie führen. Aufgrund der vermuteten vaskulären Komponente sind weitere Malformationen wie Malrotation, Darmatresie oder Darmstenose in bis zu 25% der Fälle zu beobachten. Charakteristischerweise finden sich im weiteren Verlauf verdickte Darmwände, welche als reaktive entzündliche Reaktion der in der Amnionflüssigkeit schwimmenden Darmabschnitte angesehen werden. Die zunehmende Dilatation des Magens als Zeichen der progredienten Obstruktion ist prognostisch ungünstig (Aina-Mumuney et al. 2004).
Pränatales Prozedere Assoziierte Chromosomenstörungen sind selten. Die fetale Karyotypisierung sollte jedoch v. a. beim Nachweis von begleitenden Strukturanomalien angeboten werden. Eine regelmäßige Verlaufskontrolle alle 2 Wochen sollte durchgeführt werden, um den Befund und das fetale Wachstum zu kontrollieren. Eine Wachstumsretardierung kann partiell mit einem Verlust von Proteinen durch die freien Darmschlingen erklärt werden (Dixon et al. 2000). Das peripartale Management entspricht dem bei Omphalozele. Zeigt der Darm sonographisch eine Zunahme der Wandverdickungen, sollte nach der 35. Schwangerschaftswoche eine primäre Sectio caesarea diskutiert werden, weil die evtl. durch Fibrin- oder andere Ablagerungen bedingte gewisse Starre des Darms offensichtlich die operative Prognose verschlechtert. Eine rasche postnatale Abdeckung des Darmes verhindert sekundäre Schäden durch Austrocknung.
Übersicht 5 Schlüsselpunkte zur sonographischenBeurteilung von vorderen Bauchwanddefekten 4 Ist der Defekt von einer Membran begrenzt? 4 Wo liegt die Insertion der Nabelschnur in Bezug auf den Defekt? – Omphalozele und Body-stalk-Anomalie weisen Defekt beim Nabelschnuransatz auf. – Exstrophie der Blase kaudal ist des Nabelschnuransatzes gelegen. – Ectopia cordis ist kranial des Nabelschnuransatzes sichtbar. – Gastroschisis liegt neben dem Nabelschnuransatz. 4 Sind andere Malformationen sichtbar? 4 Welche Organe sind betroffen? 4 Sonographischer Aspekt des Darmes (Wanddicke, Obstruktion, Aszites)
10
96
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik und Interventionen
10.1.4
Obstruktionen des Gastrointestinaltraktes
Obstruktive fetale Fehlbildungen (7 Kap. 26) sind im Ultraschall in der Regel nur durch indirekte Zeichen erkennbar. Da die Peristaltik des Magen-Darm-Traktes intrauterin erst nach der 20. Schwangerschaftswoche beginnt, manifestieren sich die obstruktiven Erkrankungen erst im späten 2. und 3. Trimenon (. Abb. 10.3 und 10.4). Duodenalatresie. Die häufigste Obstruktion findet sich im Duodenum. Ursächlich kommen eine fehlende bzw. unvollständige Rekanalisierung, erhöhter Druck von außen (z. B. Pancreas anulare) oder Peritonealstränge in Frage. > Da eine Duodenalatresie in 50% mit anderen Fehlbildungen assoziiert ist, sollte eine differenzierte Ultraschalluntersuchung erfolgen. In einem Beratungsgespräch muss auf das hohe Risiko einer Aneuploidie (in 40% einer Duodenalatresie findet sich eine Trisomie 21) hingewiesen und daher eine invasive Diagnostik angeboten werden.
10
. Abb. 10.3. Double-bubble-Phänomen im dritten Trimenon. Neben dem Magen kommt eine dilatierte Darmschlinge zur Darstellung
Übersicht Sonographische Hinweiszeichen bei obstruktiven Fehlbildungen 4 Polyhydramnie 4 Double-bubble-Phänomen (. Abb. 10.3) 4 Erweiterte Darmschlingen (. Abb. 10.4) mit Hyperperistaltik
10.1.5
Sekundäre Veränderungen im Rahmen von anderen Malformationen
Fetaler Aszites. Fetaler Aszites stellt sich sonographisch als eine intraabdominale, hypoechogene Raumforderung ohne klare Abgrenzung dar. Gleichzeitig sind die Darmschlingen klar visualisierbar. Differenzialdiagnostisch kommen lokale oder generalisierte Erkrankungen des Feten wie Infektionen, fetale Anämie, kardiale Fehlbildungen oder Arrhythmien, Pathologien des Gastrointestinal- oder Urogenitaltraktes, oder, wenn isoliert, ein Chylaskos als Ursache in Frage. Mekoniumperitonitis. Im Rahmen von obstruktiven
Darmerkrankungen oder bei Mekoniumileus (7 Kap. 26), häufig bei Mukoviszidose, kann eine Mekoniumperitonitis auftreten, die im Ultraschall folgende Formen aufweist: 4 Generalisierte Form: diffuse Verdickung des Peritoneums mit Kalkeinlagerungen, wenig Aszites und verringerter Darmperistaltik
. Abb. 10.4. Erweiterte Darmschlinge im dritten Trimenon bei Jejunalatresie
4 Fibroadhäsive Form: fixierter, hypomobiler Darm mit Kaliberschwankungen und wenig Aszites. Kalkablagerungen fehlen in der Regel. 4 Zystische Form: pseudozystische Strukturen intraabdominal mit Kalkeinlagerungen und wenig Aszites Zum Ausschluss einer Mukoviszidose sollte fetale DNA auf Mutationen geprüft werden. Eine vielversprechende Alternative zur invasiven Diagnostik stellt die Gewinnung zell-
97 10.1 · Fetale Fehlbildungen des Abdomens
freier fetaler DNA aus der mütterlichen Zirkulation dar (Hahn et al. 2008).
10.1.6
Intraabdominale Zysten
Neben Pathologien des Magen-Darm-Traktes, die aufgrund von Dilatationen zystisch imponieren, können zystische Veränderungen in anderen intraabdominalen Organen auftreten. Als häufigste intraabdominale Zyste nach den Nierenpathologien, die in diesem Kapitel nicht besprochen werden, finden sich meist einfache (. Abb. 10.5), selten komplexe Ovarialzysten (7 Kap. 41). Diese sind in der Regel benigne und treten ohne assoziierte Fehlbildungen auf. Sonographisch charakteristisch sind Spiegelbildungen. Die Mehrzahl der Ovarialzysten bildet sich spontan zurück. Als Komplikation kann eine Torsion auftreten, die postnatal eine akute Operationsindikation darstellt. Die operative Sanierung großer Ovarialzysten mit Verdrängungseffekten ist selten organerhaltend möglich und daher v. a. bei beidseitigen Befunden problematisch (Foley et al. 2005). Differenzialdiagnostisch kommen Mesenterialzysten, Choledochuszysten im Mittelbauch, Urachuszysten und intrahepatische Zysten in Frage. Eine vorgeburtliche Punktion solcher Ovarialzysten sollte nur in Erwägung gezogen werden, wenn diese sehr rasch wachsen oder sich bewegen (Holzgreve et al. 1989).
10.1.7
Fetale Tumoren
Selten finden sich als Auffälligkeit im fetalen Abdomen Tumoren, die sich je nach betroffenem Organ mit vorwiegend solidem, zystischem oder zystisch-solidem Wachstum prä-
sentieren. Teratome, ausgehend von den 3 Keimblättern, können gonadal und extragonadal auftreten (7 Kap. 46). In 80% der Fälle treten die Teratome am Steißbein auf (Holzgreve et al. 1985). Sonographisch finden sich solide und zystische Anteile (. Abb. 10.6). Bei schlechter Abgrenzung insbesondere von intrakorporalen Anteilen kann eine zusätzliche Untersuchung mittels MRT erwogen werden. Eine engmaschige Verlaufskontrolle mit Prüfung der fetalen Zirkulation ist notwendig, da aufgrund von arteriovenösen Shunts die Gefahr einer intrauterinen fetalen Herzinsuffizienz mit konsekutivem Hydrops fetalis besteht. Durch intratumorale Einblutungen und Erythrozytendestruktion kann es zur fetalen Anämie kommen, die dopplersonographisch mit der Messung der Blutflussgeschwindigkeit in der A. cerebri media überwachbar ist. In einem interdisziplinären Gespräch mit Geburtshelfern, Kinderchirurgen und Neonatologen sollte die Entbindung an einem Perinatalzentrum geplant werden (Hedrick et al. 2004).
10.1.8
Zwerchfellhernie
Epidemiologie. Zwerchfellhernien (7 Kap. 21) kommen mit einer Inzidenz von 1:2500–4000 Lebendgeburten vor, können jedoch pränatal in Assoziation mit Chromosomenanomalien, Syndromen und komplexen Fehlbildungen häufiger beobachtet werden (Deprest et al. 2006). Bei familiärem Auftreten beträgt das Wiederholungsrisiko 2%. In 80% der Fälle liegt ein linksseitiger, posterolateraler Defekt vor. Pränataldiagnostik. In der Pränatalsonographie kommt eine Zwerchfellhernie durch indirekte Zeichen zur Darstellung (. Abb. 10.7).
. Abb. 10.6. Transabdominalsonographie im zweiten Trimenon. Das fetale Sakralteratom ist vollständig extrakorporal lokalisiert und enthält zystische sowie solide Anteile (Typ I) . Abb. 10.5. Einfache Ovarialzyste (Pfeil) zwischen fetaler Harnblase (*) und fetaler Niere (**)
10
98
Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik und Interventionen
Übersicht Indirekte sonographische Zeichen einer Zwerchfellhernie 4 Im fetalen Thorax finden sich parakardial echoarme Strukturen, die in 90% der Fälle dem Magen und in 50% Darm, Milz, Leber entsprechen. 4 Intrathorakal verlagerte Darmschlingen fallen durch Peristaltik auf. 4 Aufgrund der intrathorakal gelegenen Abdominalorgane kann es zur Mediastinalverlagerung, abnormen Gefässverläufen und Polyhydramnie infolge einer ösophagealen Kompression mit Schluckbehinderung kommen. 4 Hämodynamische Auswirkungen der Mediastinalverlagerung, die zu Herzinsuffizienz, Hydrops fetalis und intrauterinem Fruchttod führen kann, zeigen sich in auffälligen dopplersonographischen Flussmustern.
Prognose. Die Prognose ist abhängig von den Auswir-
10
kungen der assoziierten Anomalien, den Kompressionseffekten, insbesondere der sekundären Lungenhypoplasie, und dem Entbindungszeitpunkt. Lokalisation und Größe des Defekts, sowie Gestationsalter bei Diagnose und intrauterine Progression sind relevante Einflussfaktoren. Ein rechtsseitiger Defekt, die intrathorakale Leberlage und eine »lung-to-head ratio« <1 sind prognostisch ungünstig (Jani et al. 2007). Letztere errechnet sich aus der residualen, kontralateralen Lungenfläche im Verhältnis zum Kopfumfang (sonographische Messung). Die Hälfte aller Zwerchfellhernien wird pränatal entdeckt. Die sonographischen Detektionsraten sind höher,
a . Abb. 10.7a, b. Linksseitige Zwerchfellhernie in der 19. SSW. a Thorakaler Transversalschnitt auf Höhe des sog. Vierkammerblicks mit links parakardial gelegenem Magen (Pfeil) und Dextroposition des fe-
wenn assoziierte Anomalien vorhanden sind. Die Angaben zu Überlebensraten zwischen 33–51% variieren in Abhängigkeit von den o. g. Prognosefaktoren, dem Entbindungsort und dem Beobachtungszeitraum.
Pränatales Prozedere bei Zwerchfellhernie Zwerchfellhernien sind in ca. 50% der Fälle mit Begleitfehlbildungen assoziiert, in 10–20% finden sich Chromosomenanomalien. Bei sonographischer Verdachtsdiagnose ist eine detaillierte Fehlbildungsdiagnostik inklusive fetaler Echokardiographie und fetaler Karyotypisierung indiziert. Eine fetale Magnetresonanztomographie kann Zusatzinformationen liefern. Die schwere, kompressionsbedingte Lungenhypoplasie verursacht die hohe postnatale Mortalität. In Tierversuchen konnte gezeigt werden, dass eine Trachealokklusion den Abfluss von Lungenflüssigkeit hemmt und gleichzeitig die Gewebsdehnung fördert, so dass das Lungenwachstum angeregt wird. Dies führte zur Entwicklung experimenteller Fetaltherapien (7 Kap. 11), die von offener Chirurgie bis zu den heute favorisierten, minimal invasiven, endoskopischen Techniken reichten. Die endoskopische Platzierung eines Ballons in die fetale Trachea mit 26. bis 28. SSW und Entfernung desselben mit 34. SSW führte bei Feten mit linksseitiger Zwerchfellhernie, LHR <1 und Leberherniation zu einem Anstieg der Überlebensrate von 10–20% auf 57% (Jani et al. 2006). Die Fetaltherapie wird unter maternaler Anästhesie, prophylaktischer Tokolyse, fetaler Analgesie und Paralyse durchgeführt. Der iatrogene Blasensprung sowie die iatrogene Frühgeburtlichkeit sind praxisrelevante Komplikationen und Einflussfaktoren auf die neonatale Morbidität und Mortalität. Künftige Studien müssen noch Klarheit schaffen über Methoden zur Prognoseeinschätzung, d. h. Identifikation der Feten, die von einer Fetalthe-
b talen Herzens infolge Mediastinalverlagerung. b Paramedianer Sagittalschnitt mit Darstellung der intrathorakalen Lage des Magens neben dem Herz (*)
99 10.2 · Kongenitale zystisch-adenomatoide Lungenmalformation
rapie profitieren, über Interventionszeitpunkt und -dauer, sowie über das optimale postnatale Management. > Eine vaginale Geburt ab der 38. SSW am Perinatalzentrum gefolgt von neonatologischer Stabilisierung sowie der operativen Sanierung des Zwerchfelldefekts ist Ziel der interdisziplinären Betreuung.
Hochspezialisierte Zentren erreichen postoperative EinJahres-Überlebensraten von 80–90%. Diese Erfolge täuschen über die hohe Verlustrate an Neugeborenen hinweg, die verstorben sind, bevor sie einer Operation zugeführt werden konnten und berücksichtigen nicht eine mögliche Langzeitmorbidität bedingt z. B. durch pulmonale Hypertension.
10.2
Kongenitale zystisch-adenomatoide Lungenmalformation
Bei sonographischem Verdacht auf eine Zwerchfellhernie muss differenzialdiagnostisch an einen Pleuraerguss, zystisch-adenomatoide Lungenmalformation, Lungensequester, bronchogene Zyste, Bronchialatresie oder Teratom gedacht werden. Hier soll lediglich auf die kongenitale, zystisch-adenomatoide Lungenmalformation (»congenital cystic adenomatoid malformation of the lung«; CCAML) eingegangen werden. Die CCAML (7 Kap. 20) tritt sporadisch und in 85% der Fälle unilateral auf, wobei sie meist auf einen Lungenlappen beschränkt ist. Nach Stocker (1977) wurden anhand von Autopsieresultaten je nach Größe der Zysten und histopathologischem Befund 3 Typen der CCAML unterschieden: 4 Typ 1 mit einfachen oder mehrkammerigen Zysten von >20 mm 4 Typ 2 mit gemischtem Aspekt und Zysten von 5–20 mm Größe 4 Typ 3 mit solidem Aspekt aufgrund mikroskopischer Zysten von <5 mm Diese auf postnatalen und Autopsieresultaten basierende Klassifikation korreliert jedoch nur schlecht mit pränatal diagnostizierten, durch Fetalchirurgie resezierten CCAML. Pränataldiagnostik. In der Pränatalsonographie imponiert
die CCAML als zystisch bzw. zystisch-solide, intrathorakale Raumforderung (. Abb. 10.8), die je nach Lokalisation, Größe und intrauteriner Progression zur Hypoplasie des Restlungengewebes, Mediastinalverlagerung, Einflussstauung und Herzinsuffizienz, gefolgt von Hydrops fetalis und in schweren Fällen intrauterinem Fruchttod führen kann. Plazentomegalie und eine kompressionsbedingte ösophageale Schluckbehinderung mit Ausbildung einer Polyhydramnie, die das Frühgeburtsrisiko erhöht, sind weitere mögliche Komplikationen.
. Abb. 10.8. Kongenitale zystisch-adenomatoide Lungenmalformation mit zystisch-soliden Anteilen
Prognose. Die CCAML Typ 1 hat häufig nach operativer
Resektion eine gute Prognose, während beim Typ 2 in ca. 50% der Fälle assoziierte Anomalien vorhanden sind, die den Schwangerschaftsausgang limitieren. Der Typ 3 betrifft fast ausschließlich Knaben, häufig ist die Lunge großflächig betroffen, ein Hydrops fetalis und die Lungenhypoplasie sind für die hohe Morbidität und Mortalität verantwortlich. Die Prognose ist in Abhängigkeit vom Typ, intrauterinem Verlauf und Entbindungszeitpunkt sehr variabel. Einerseits wurden in 15–76% der Fälle Spontanremissionen beobachtet, die jedoch in der postnatalen Computertomographie nicht immer bestätigt wurden (Ierullo et al. 2005). Andererseits können die Zystengröße und damit die Verdrängungseffekte progredient sein. Ein Wachstumsgipfel ist mit 25. bis 28. SSW zu erwarten. Die Ausbildung eines Hydrops fetalis ist mit erhöhter Mortalität verbunden und kann, je nach Gestationsalter, zur vorzeitigen Entbindung mit Folgemorbidität zwingen. Die Hälfte der Neugeborenen mit CCAML ist jedoch asymptomatisch.
Pränatales Prozedere Eine eingehende Fehlbildungsdiagnostik inklusive fetaler Echokardiographie und Dopplersonographie ist bei Verdacht auf CCAML indiziert. Die Gefässdarstellung mittels Farbdopplersonographie ist hilfreich für die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu einem Lungensequester mit systemischer Blutversorgung. Eine fetale Magnetresonanztomographie kann aus differenzialdiagnostischen Überlegungen und zur Operationsplanung sinnvoll sein. Das Risiko für Chromosomenanomalien ist nicht erhöht, die fetale Karyotypisierung sollte jedoch bei Vorliegen von Begleitfehlbildungen empfohlen werden. Vor Erreichen der Lebensfähigkeit kann bei ausgeprägten Befunden mit
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Kapitel 10 · Pränatale Diagnostik und Interventionen
Hydrops fetalis der Schwangerschaftsabbruch für die Eltern eine Option sein. > Je nach Ausprägung des Befundes sind serielle Ultraschalluntersuchungen im Intervall von mehreren Tagen bis Wochen nötig, um das Tumorwachstum und die fetale Entwicklung zu überwachen bzw. Hydropszeichen frühzeitig zu erkennen. Insbesondere die venöse Dopplersonographie ist hilfreich zur Beurteilung der kardialen Einflussstauung, die zum Hydrops führt. Die Schwangere kann spiegelbildlich zum Hydrops fetalis eine Präeklampsie entwickeln.
10
Das Hydropsrisiko steigt mit dem CCAML-Volumen, das in Relation zum fetalen Kopfumfang als CCAML-Volumen-Ratio (CVR) sonographisch ermittelt wird. Bei Feten mit überwiegend solider CCAML ohne dominante Zyste korreliert eine CVR ≤1,6 mit einer Überlebensrate von 94% und einem Hydropsrisiko unter 3% (Crombleholme et al. 2002). In Abhängigkeit vom Gestationsalter kann bei ungünstiger Progression aufgrund eines großen zystischen Befundes eine intrauterine Thorakozentese bzw. die Einlage eines thorakoamnialen Shunts erwogen werden (Mann et al. 2007). Fetalchirurgische Resektionen müssen weiterhin als experimentell gelten. Jenseits der 32. bis 34. SSW ist die Entbindung eine Alternative, die die operative Sanierung der CCAML ermöglicht. Die Geburt sollte am Perinatalzentrum in interdisziplinärer Zusammenarbeit erfolgen, eine vaginale Geburt ist möglich.
Literatur Aina-Mumuney AJ, Fischer AC, Blakemore KJ, Crino JP, Costigan K, Swenson K, Chisholm CA (2004) A dilated fetal stomach predicts a complicated postnatal course in cases of prenatally diagnosed gastroschisis. Am J Obstet Gynecol 190:1326–30 Barisic I Clementi M, Häusler M, Gjergja R, Kern J, Stoll C; Euroscan Study Group (2001) Evaluation of prenatal ultrasound diagnosis of fetal abdominal wall defects by 19 European registries. Ultrasound Obstet Gynecol 18:309–16 Biard JM, Wilson D, Johnson MP, Hedrick HL, Schwarz U, Flake AW, Crombleholme TM, Adzick NS (2004) Prenatally diagnosed giant omphaloceles: short- and long-term outcomes. Prenat Diagn 24:434–9 Crombleholme TM, Coleman B, Hedrick H, Liechty K, Howell L, Flake AW, Johnson M, Azick NS (2002) Cystic adenomatoid malformation volume ratio predicts outcome in prenatally diagnosed cystic adenomatoid malformation of the lung. J Pediatr Surg 37:331–8 Deprest J, Jani J, Cannie M, Debeer A, Vandevelde M, Done E, Gratacos E, Nicolaides K (2006) Prenatal intervention for isolated congenital diaphragmatic hernia. Curr Opin Obstet Gynecol 18:355–67 Dixon JC, Penman DM, Soothill PW (2000) The influence of bowel atresia in gastroschisis on fetal growth, cardiotocograph abnormalities and amniotic fluid staining. BJOG 107:472–5 Foley PT, Ford WDA, McEwing R, Furness M (2005) Is conservative management of prenatal and neonatal ovarian cysts justifiable? Fetal Diagn Ther 20:454–8 Hahn S, Zhong XY, Holzgreve W (2008) Recent progress in non-invasive prenatal diagnosis. Semin Fetal Neonatal Med 13:57–62
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11
11 Fetale Chirurgie S. Böttcher, M. Meuli 11.1
Einführung in die fetale Chirurgie – 101
11.3
Indikationen für fetalchirurgische Eingriffe – 103
11.2
Management rund um die fetale Chirurgie – 102
11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5
Selektionskriterien – 102 Perioperatives Management – 102 Offene fetale Chirurgie – 102 FETENDO – Fetoskopische Chirurgie – 103 Risiken und Komplikationen eines fetalchirurgischen Eingriffs – 103 Postoperatives und perinatales Management – 103
11.3.1 11.3.2 11.3.3
11.3.5 11.3.6
Myelomeningozele – 103 Kongenitale Zwerchfellhernie – 104 CHAOS (»congenital high airway obstruction syndrome«) – 105 Kongenitale zystisch-adenomatoide Malformation der Lunge – 105 Obstruktive Uropathie – 106 Steißbeinteratom – 106
11.4
Ethisch relevante Gesichtspunkte – 106
11.5
Zukunft der fetalen Chirurgie
11.2.6
11.3.4
– 107
Literatur – 107
> Die fetale Chirurgie ist eine innovative, teilweise noch experimentelle Therapie, die für angeborene Fehlbildungen mit hoher pränataler oder unmittelbar postnataler Mortalität, bzw. für Malformationen mit schweren Mehrfachbehinderungen entwickelt wurde. Mit der intrauterinen Intervention sollen reversible Organschäden behoben und irreversible zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestoppt werden. Dieses Kapitel zeigt auf, welche Fehlbildungen vorgeburtlich behandelt werden können, was die Resultate sind, und versucht, den Stellenwert der fetalen Chirurgie (inklusive fetal-endoskopischer Interventionen) als jüngster Subdisziplin der Kinderchirurgie im Kontext der gängigen Therapieoptionen aufzuzeigen.
11.1
Einführung in die fetale Chirurgie
Die meisten Feten mit schweren, bereits in utero festgestellten Fehlbildungen benötigen eine chirurgische Therapie. Diese erfolgt in aller Regel kurz nach Geburt und ist sehr oft in der Lage, das Problem im Sinne einer Restitutio ad integrum oder doch zumindest in suffizienter Weise zu lösen. Bei gewissen Zustandsbildern ist die fetale Chirurgie allerdings die einzige Option, um den intrauterinen Fruchttod abzuwenden (z. B. rasch wachsende zystisch-adenomatoide Malformation der Lunge mit Hydropsbildung), bei anderen (z. B. den schwersten Formen der kongenitalen Zwerchefellhernie) ist die postnatale Überlebenswahr-
scheinlichkeit nach fetaler Intervention möglicherweise höher und bei gewissen Formen der Spina bifida (Myelomeningozele, MMC) erscheinen die neurologischen Probleme durch eine vorgeburtliche Operation günstig beeinflussbar zu sein. > Das eine Ziel der fetalen Chirurgie ist es also, denjenigen Feten eine Überlebenschance zu bieten, die ohne vorgeburtlichen Eingriff bereits intrauterin oder kurz postnatal sterben würden. Das andere Ziel ist es, bei nicht letalen Malformationen, die zu schwersten, lebenslangen Mehrfachbehinderungen führen, diese durch eine bereits intrauterin vorgenommene Therapie signifikant zu mildern oder bestenfalls zu verhindern.
Die Einführung von hochauflösenden und aussagekräftigen vorgeburtlichen Screeningmethoden und Diagnosetechniken (Ultraschall, CT, MRI, Fruchtwasseruntersuchungen, Chorionzottenbiopsien u. a. m.) sowie eine Vielzahl produktiver tierexperimenteller Studien (Prinzip: Schaffung eines Tiermodells für eine bestimmte Kandidaten-Malformation und dann Studium des Spontanverlaufs versus Verlauf nach fetaler Operation) während der letzten 30 Jahre haben entscheidend zur Entwicklung der fetalen Chirurgie beigetragen. Es wurde dadurch möglich, Fehlbildungen frühzeitig in utero zu diagnostizieren, den Spontanverlauf während der verbleibenden Schwangerschaft engmaschig und präzis zu dokumentieren und eine datengestützte Prognose zu formulieren. Parallel dazu wurden am Tiermodell Methoden entwickelt, um am schwan-
102
Kapitel 11 · Fetale Chirurgie
geren Uterus überhaupt erfolgreich operieren zu können (Probleme: vorzeitige Wehen, Blutung, Fruchtwasserleck), außerdem wurden die bestehenden Techniken zur Korrektur kongenitaler Malformationen auf die fetale Situation adaptiert, teilweise auch neu erfunden. Die Fetalchirurgie wurde sowohl ideell als auch materiell am Fetal Treatment Center der University of California Medical Center in San Francisco, USA, vom Kinderchirurgen Michael R. Harrison begründet. Er hat dort 1983 den ersten fetalchirurischen Eingriff am Menschen durchgeführt und zusammen mit seinen Mitarbeitern N. Scott Adzick und Alan W. Flake die Fetalchirurgie über die nächsten zwei Jahrzehnte kontinuierlich aufgebaut und weiter entwickelt. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Meilensteine der fetalen Chirurgie auf (Harrison et al. 2001).
Übersicht Die wichtigsten Entwicklungsschritte der fetalen Chirurgie
11
4 1983 Erste offene fetale Chirurgie bei obstruktiver Uropathie 4 1989 Erster offener Verschluss einer kongenitalen Zwerchfellhernie 4 1992 Erste offene Resektion eines Steißbeinteratoms 4 1995 Erste EXIT-Prozedur bei Atemwegsobstruktion 4 1996 Erster fetoskopischer Eingriff (»FETENDO«) 4 1997 Erster offener Verschluss einer Myelomeningozele
11.2
Management rund um die fetale Chirurgie
11.2.1
Selektionskriterien
Ein vorgeburtlicher Eingriff ist nur zu rechtfertigen, wenn gewisse Grundvoraussetzungen erfüllt sind: 4 Die pränatale Diagnose muss genau und sicher gestellt werden können. 4 Der Spontanverlauf und die Pathophysiologie der Malformation müssen hinreichend bekannt sein, so dass die unterschiedlichen Prognosen mit (= besser) und ohne (= schlechter) fetale Intervention ausreichend zuverlässig einschätzbar sind. 4 Die pathophysiologischen Auswirkungen müssen im Falle der vorgeburtlichen Operation reversibel oder wenigstens deutlich zu mildern sein. 4 Ein therapeutischer Erfolg muss vorgängig am fetalen Tiermodell gezeigt worden sein. 4 Entscheidend ist auch, dass der Fetus keine weiteren signifikanten Fehlbildungen zeigt, zudem muss der Karyotyp normal sein.
4 Daneben existieren eine Reihe von maternalen Kriterien, die für eine fetalchirurgische Intervention erfüllt sein müssen (z. B. physisch und psychisch gesunde Mutter, kein Nikotin-, Medikamenten-, Alkohol- oder Drogenabusus, stabile soziale Einbettung). > Auf Grund der strengen Selektionskriterien qualifizieren nach der primären medizinischen Abklärung nur mehr 10–15% aller Feten für eine fetale Chirurgie. Dementsprechend groß muss das Einzugsgebiet eines fetalchirurgischen Zentrums sein, um über adäquate Fallzahlen zu verfügen.
11.2.2
Perioperatives Management
Nach Abschluss der Abklärung ist es imperativ, in erster Linie die Mutter, bzw. die werdenden Eltern in nicht direktiver Weise über alle Aspekte der Diagnostik, der fetalen, bzw. postnatalen Chirurgie, der möglichen Komplikationen sowie des mutmaßlichen Verlaufes bei fetaler bzw. postnataler Intervention ausführlich aufzuklären. Idealerweise sollten die Aufklärungsgespräche auch im Beisein der unten aufgeführten Spezialisten stattfinden. Der Weg zur Entscheidungsfindung ist ein gemeinsamer zwischen den Eltern und dem Behandlungsteam. Er ist meistens fachlich komplex, ethisch anspruchsvoll, oft besteht Zeitdruck, immer stehen die Eltern unter einem beträchtlichen psychischen Stress. So sehr der letztverantwortliche Kinderchirurg auch die Gesamtverantwortung für einen fetalchirurgischen Eingriff übernehmen muss, so klar ist allerdings auch, dass die letztliche Entscheidung dafür bei der Mutter liegt, die sich als »innocent bystander« immer auch einer Operation mit Allgemeinanästhesie unterziehen muss. Die perioperative Betreuung gilt immer gleichzeitig sowohl der Mutter als auch ihrem ungeborenen Kind. Spezialisten verschiedenster Fachgebiete tragen im Teamwork zum physischen und psychischen Wohl beider bei: Kinderchirurgen, Geburtshelfer, Anästhesisten, Intensivmediziner, Radiologen sowie Fachkräfte aus Pflege, Sozialdienst und anderen medizinischen Disziplinen. Intraoperativ werden sowohl Mutter als auch der Fetus kontinuierlich überwacht, bei letzterem stehen repetitive Echographien des Herzens, Monitoring der O2-Sättigung, Blutdruckmessungen und BGA-Bestimmungen im Vordergrund. Für das postoperative fetale Monitoring wird dem Feten ein Radiotelemetriegerät implantiert, das eine kontinuierliche Messung von fetaler Herzfrequenz, Temperatur und intrauterinem Druck erlaubt (Jennings et al. 1993).
11.2.3
Offene fetale Chirurgie
Prinzipiell wird hier bei den meisten Indikationen (außer Zwerchfellhernie, s. dort) die gleiche oder eine ähnliche
103 11.3 · Indikationen für fetalchirurgische Eingriffe
Operationstechnik eingesetzt wie für die postnatale Versorgung. Unter tiefer Intubationsnarkose wird zunächst das mütterliche Abdomen eröffnet (i. d. R. analog Kaiserschnitt), dann werden Plazenta und der Fetus sonographisch lokalisiert. Nach Eröffnen des Uterus wird der zu operierende Körperteil des Fetus in der Hysterotomieöffnung optimal exponiert. Die Operation wird unter ständigem Ausgleich des Fruchtwasserverlustes durchgeführt, um die natürliche Umgebung des Feten so gut wie möglich beizubehalten.
11.2.4
FETENDO – Fetoskopische Chirurgie
FETENDO (»fetal endoscopic«) bezeichnet die minimalinvasive Variante des fetalen Eingriffes und kann unter idealen Bedingungen sogar in Lokalanästhesie oder Analgosedation durchgeführt werden. Die fetoskopische Interventionstechnik wurde in den 90er-Jahren entwickelt, um die mütterliche Morbidität und die Gefahr der Frühgeburtlichkeit (vorzeitige Wehen, Amnionleckage, Amnioninfekt) zu senken. Das Risiko für einen vorzeitigen Blasensprung wurde dadurch auf 4–8% drastisch reduziert (Hecher et al. 1999). Die Abdominalwand der Mutter wird bei dieser Methode nur bei Bedarf eröffnet. Unter sonographischer Kontrolle wird das Instrumentarium in die Gebärmutter eingeführt und mit speziellen Installationen wird für einen ständigen Fruchtwasserersatz gesorgt. Unter konstanten intrauterinen Druckverhältnissen können somit endoskopische fetale Operationen durchgeführt werden.
11.2.5
Risiken und Komplikationen eines fetalchirurgischen Eingriffs
Die vorzeitige Wehentätigkeit nach einer Operation am schwangeren Uterus ist das Hauptproblem. Durch ständig verfeinerte Pharmakotherapie zur postoperativen Ruhigstellung der Uterusmuskulatur (Tokolyse) sowie durch minimalinvasive Vorgehensweisen konnten allerdings signifikante Fortschritte erzielt werden. Gelingt die Tokolyse nicht, muss das Kind vorzeitig entbunden werden, was oft zu schwerer Frühgeburtlichkeit (7 Kap. 1) mit gefürchteten Komplikationen führt (z. B. Hirnblutung, HMK, NEC). Eine frühzeitige Sectio kann auch bei vorzeitigem Blasensprung, bei schwerer Blutung, Dehiszenz der Hysterotomie, einer schweren Chorioamnionitis oder bei drohendem bzw. eingetretenem Fruchttod (»fetal-maternal mirror syndrome«!) nötig werden (Danzer et al. 2001). Die fetale Morbidität und Mortalität hängt von der Grundpathologie, der Größe und Schwere sowie vom intraoperativem Verlauf des fetalchirurgischen Eingriffs ab.
11.2.6
Postoperatives und perinatales Management
Postoperativ werden Mutter und Fet vorerst intensivmedizinisch, danach i. d. R. unter stationären Bedingungen multidisziplinär bis zum geplanten Geburtstermin betreut. Da bei einer Spontangeburt das Risiko für eine Uterusruptur wegen der stattgehabten Hysterotomie stark erhöht ist, muss das Kind per Sectio caesarea auf die Welt kommen (aus demselben Grund ist für jede weitere Entbindung ein Kaiserschnitt ebenfalls zwingend; Danzer et al. 2001). Die unmittelbar postnatale Betreuung des Neugeborenen erfolgt auf der Intensivstation durch ein problemorientiert zusammengesetztes, multidisziplinäres Team.
11.3
Indikationen für fetalchirurgische Eingriffe
Untenstehend wird nur auf spezifisch kinderchirurgische Malformationen eingegangen (. Tab. 10.1) und auch da nur soweit, dass die fetalchirurgisch relevanten Aspekte hinreichend dargelegt werden (die erwähnten Zustandsbilder werden andernorts spezifisch abgehandelt).
11.3.1
Myelomeningozele
Pathophysiologie. Grundlegende experimentelle Arbeiten von Meuli und Heffez haben in den letzten Jahren das Verständnis über die Pathogenese der MMC (Übersicht über das postnatale Krankheitsbild bei Cohen u. Robinson 2001) entscheidend erweitert und damit die Basis für die Indikation zur fetalen Chirurgie geschaffen. An fetalen Tiermodellen mit chirurgisch geschaffener MMC (am Schafmodell: Meuli et al. 1995, 1996; am Rattenmodell: Heffez et al. 1990, 1993; am Schweinmodell: Heffez et al. 1993) bzw. mit spontan auftretender MMC (Maus: Stiefel et al. 2003, 2007a, 2007b, 2008) sowie durch Untersuchungen an humanen Feten mit MMC (Hutchins et al. 1996; Meuli et al. 1997) konnte gezeigt werden, dass das meist sehr schwerwiegende neurologische Defizit durch sekundäre, d. h. in utero akquirierte Veränderungen am offen exponierten, nicht neurulierten Anteil des Rückenmarkes entsteht. Diese, während der Schwangerschaft kontinuierlich zunehmenden Rückenmarksschäden im Bereich der Läsion (Erosion, Avulsion, Blutung, Degeneration, toxische Effekte), sind durch eine möglichst frühzeitige intrauterine Deckung der MMC mindestens teilweise vermeidbar. Aufgrund dieser neuen Sicht auf die Pathogenese wurden in den späten 90er-Jahren die ersten humanen Feten mit MMC operiert. Diagnostik. Die initiale Diagnose geschieht sonographisch
(ab der 16. SSW) und wird durch ein MRT ergänzt.
11
104
Kapitel 11 · Fetale Chirurgie
. Tab. 11.1. Fehlbildungen mit Therapieoption »fetale Chirurgie« Malformation
Hauptprobleme
Fetalchirurgische Therapie
Myelomeningozele (MMC)
Neurologische Ausfälle (Paraparese) Chiari-Malformation mit Hydrozephalus
Offene Deckung
Kongenitale Zwerchfellhernie
Lungenhypoplasie Pulmonal arterielle Hypertension Respiratorische Insuffizienz
Fetoskopische endoluminale Tracheaokklusion
CHAOS (»congenital high airway obstruction syndrome«)
Lungenhyperplasie Hydrops fetalis, intrauteriner Fruchttod
Intrauterine Tracheostomie EXIT-Prozedere (»ex utero intra partum treatment«)
Kongenitale zystisch-adenomatoide Malformation der Lunge
Herzinsuffizienz (»low output failure«) Hydrops fetalis, intrauteriner Fruchttod
Offene Tumorresektion (Lobektomie) Thorakoamniotischer Shunt EXIT-Lobektomie
Obstruktive Uropathie
Niereninsuffizienz Lungeninsuffizienz
Dekompression der abführenden Harnwege: vesikoamnialer Shunt, Vesikostomie, fetoskopische Laserablation der Urethralklappen
Steißbeinteratom
Herzinsuffizienz (»high output failure«) Hydrops fetalis, intrauteriner Fruchttod
Offene Tumorresektion Radiofrequenzablation der Tumorgefäße
Indikationen. Operiert werden nur Feten mit lumbosakraler MMC, die eine normale Beinbeweglichkeit und keinen Hydrozephalus zeigen.
präzise Prognose bezüglich des Überlebens abgeleitet werden kann. Diagnostik. Die Diagnose wird ultrasonographisch gestellt
Fetale Chirurgie. Die offene pränatale Operation erfolgt
und mittels MRT ergänzt.
prinzipiell gleich wie die postnatale chirurgische Versorgung (Cohen u. Robinson 2001). Bis heute wurden seit 1997 weltweit etwa 400 Feten fetalchirurgisch behandelt.
Indikationen. Die aktuell besten Kriterien für eine Indika-
11 Ergebnisse. Die vorläufigen Resultate zeigen eine mögliche
Verbesserung der Funktion der unteren Extremitäten, vor allem aber, dass die Inzidenz eines shuntpflichtigen Hydrozephalus signifikant gesenkt werden konnte (von >90% bei postnatal versorgten Patienten auf etwa 40% bei pränatal operierten Patienten). Über Urin- und Stuhlkontinenz liegen noch keine schlüssigen Daten vor. Eine seit wenigen Jahren in den USA laufende randomisierte, prospektive Studie (MOMS-Trial) vergleicht je 100 pränatal und postnatal operierte Patienten und sollte in umfassender Weise Klarheit schaffen, ob fetale Chirurgie für gewisse Feten mit MMC die Therapie der Wahl darstellt (Sutton 2007).
11.3.2
Kongenitale Zwerchfellhernie
Pathophysiologie. Die quoad vitam entscheidende Proble-
matik ist bei der kongenitalen Zwerchfellhernie (7 Kap. 21) nicht der ursächliche Zwerchfelldefekt, sondern die durch die Herniation der Abdominalorgane in den Thoraxraum bedingte, schwere (auch kontralateral vorhandene!) Lungenhypoplasie und die immer damit assoziierte bilaterale pulmonal arterielle Hypertension. Schweregrad von Lungenhypoplasie und pulmonaler Hypertension sind weder pränatal noch postnatal so quantifizierbar, dass daraus eine
tion zur vorgeburtlichen Intervention sind: 4 Diagnose der Zwerchfellhernie vor der 24. SSW 4 Intrathorakale Position der fetalen Leber 4 »lung-to-head-circumference ratio« (LHR) <1 Man geht davon aus, dass Feten, die die obigen Kriterien erfüllen, eine deutlich über 90% liegende postnatale Sterbewahrscheinlichkeit haben. Fetale Chirurgie. In früheren Jahren wurde die pränatale
Operation analog zur klassischen postnatalen Vorgehensweise durchgeführt (7 Kap. 21). Diese Technik wurde wegen schlechter Resultate aufgeben und durch die temporäre tracheale Okklusion ersetzt. Bei dieser Technik wird die Trachea mittels fetal-endoskopisch eingeführtem Ballon bis kurz vor der Geburt okkludiert. Ergebnisse. Die Ballontechnik führt zu einem Rückstau der von der Lunge produzierten Flüssigkeit in die Luftwege und Lungen (. Abb. 11.1; Sydorak u. Harrison 2003). Dies wiederum bewirkt einen deutlichen Wachstumsschub der hypoplastischen Lungen und führt im besten Fall sogar zu einer (mindestens teilweisen) Reposition der herniierten Organe ins Abdomen zurück. Die konsekutive Milderung von Lungenhypoplasie und pulmonaler Hypertension erhöht die postnatale Überlebenswahrscheinlichkeit der so behandelten Feten.
105 11.3 · Indikationen für fetalchirurgische Eingriffe
. Abb. 11.1. Endoluminale Tracheaokklusion mittels Ballontechnik bei kongenitaler Zwerchfellhernie
11.3.3
CHAOS (»congenital high airway obstruction syndrome«)
Pathophysiologie. Durch eine Atresie des Larynx oder der Trachea kommt es im Gefolge des Lungenwasserrückstaus zur Dilatation der Atemwege und insbesondere zur Lungenhyperplasie. Dies kann zu Hydrops fetalis und intrauterinem Tod führen.
Diagnostik. Die Diagnose wird mittels Ultraschall und MRT gestellt. Indikationen. Bei Zeichen der kardialen Dekompensation (Hydrops!) ist eine Intervention indiziert. Fetale Chirurgie. Die pränatale Therapieoption besteht in der Anlage einer Tracheostomie. Ab der 32. SSW kommt das EXIT-Prozedere in Frage (»ex utero intra partum treatment«). Dabei wird das Kind via geplanter Sectio geboren, vorerst aber weiterhin durch die Plazenta versorgt, so dass in der Zwischenzeit (30–60 min stehen i. d. R. problemlos zur Verfügung) eine zuverlässige Kontrolle über die Atemwege (Tracheostomie) gewonnen werden kann (. Abb. 11.2; Sydorak u. Harrison 2003). Danach erst wird die Nabelschnur durchtrennt. Ergebnisse. Einzelne Patienten konnten durch das EXITProzedere gerettet werden (Lim et al. 2003).
11.3.4
Kongenitale zystisch-adenomatoide Malformation der Lunge
Pathophysiologie. Dieser hamartomatöse Fehlbildungstu-
. Abb. 11.2. Schematische Darstellung des EXIT-Prozedere
mor (7 Kap. 20) kann in utero dermaßen groß werden, dass eine massive Mediastinalverschiebung und Herzkompression resultiert. Als Folge davon wird der venöse Rückfluss zum Herzen behindert, es kommt zum Herzversagen (sog. »low output failure«), einem generalisierten fetalen Hydrops und zum intrauterinen Fruchttod. Bei dieser Verlaufsform stellt die pränatale Intervention die einzige Überlebenschance dar.
11
106
Kapitel 11 · Fetale Chirurgie
Diagnostik. Die Diagnose wird mittels Ultraschall und MRT gestellt.
außerdem die fetoskopische Laserablation der Urethralklappen evaluiert.
Indikationen. Eine Operationsindikation besteht, wenn
Ergebnisse. Im besten Fall führt die pränatale Intervention
sich bei rasch wachsendem Tumor Zeichen der kardialen Dekompensation, insbesondere eine Hydropsbildung abzuzeichnen beginnen. In dieser Situation muss die Operation rasch, d. h. vor Etablierung eines schweren Hydrops erfolgen.
zu einer Normalisierung des Oligohydramnions und der Lungenhypoplasie sowie zu einer (weitgehenden) Erholung der Nierenfunktion (Hosie et al. 2005).
11.3.6
Steißbeinteratom
Fetale Chirurgie. Die vorgeburtliche Operation besteht aus
der offenen Resektion des tumortragenden Lungenlappens, sofern die Läsion mehrheitlich solide bzw. kleinzystisch ist. Bei Vorliegen einer Läsion mit großen Zysten ist die ultraschallgesteuerte oder fetoskopische Einlage eines thorakoamniotischen Shunts eine valide Alternative. Ergebnisse. Die Prognose der intrauterin offen operierten Feten ist bemerkenswert gut, indem etwa 3 von 4 ohne signifikante Probleme und lungengesund überleben (Wilson et al. 2006).
11.3.5
Obstruktive Uropathie
Pathophysiologie. Die häufigste und potenziell letale Fehl-
11
bildung sind posteriore Urethralklappen, welche eine vollständige infravesikale Obstruktion verursachen (Übersicht über das postnatale Krankheitsbild bei Hohenfellner et al. 2000). Die konsekutive Abflussstörung führt zu einer massiven bilateralen Hydroureteronephrose mit progredienter und schließlich terminaler Niereninsuffizienz. Andererseits führt die fehlende Urinausscheidung zu einem schweren Oligohydramnion, das seinerseits zu einer Lungenhypoplasie führt. Unbehandelt haben diese Organschädigungen eine Mortalität von über 95%.
Pathophysiologie. Dieser während der Schwangerschaft in aller Regel noch nicht maligne entartete Keimzelltumor (7 Kap. 46) kann so groß werden, dass sein Gewebevolumen dem des Feten gleichkommt. Zudem bilden sich vor allem in soliden Tumoren arteriovenöse Shunts aus. Dadurch kommt es zu progredient hyperzirkulatorischen Kreislaufverhältnissen, die unbehandelt zum Herzversagen (sog. high output failure) mit Hydropsbildung und intrauterinem Fruchttod führen. Diagnostik. Die sonographische Diagnose ist ab der 13. SSW möglich und zeigt eine zystische, solide oder gemischt zystisch-solide sakrokokzygeale Raumforderung, die intraund/oder extrapelvin liegen kann. Sie wird durch ein MRT ergänzt. Mittels Dopplersonographie kann der fetotumorale Blutfluss quantitativ monitorisiert werden. Indikationen. Eine Indikation zur Operation besteht bei
vorwiegend exophytisch wachsenden Tumoren mit Zeichen der kardialen Dekompensation, namentlich beginnendem Hydrops. Fetale Chirurgie. Die fetale Operation besteht analog
zur postnatalen Technik in einer offenen Resektion des Tumors.
Diagnostik. Die sonographische Diagnose ist bereits ab der
Ergebnisse. Die Resultate zeigen, dass nur etwa einer von
15. SSW möglich.
drei Patienten diese schwere Operation überlebt. Auf Grund der durchzogenen Resultate wird zurzeit die minimalinvasive Radiofrequenzablation der Tumorgefäße evaluiert (Harrison et al. 2001).
Indikationen. Die Indikation zur pränatalen Intervention
hängt vom Verlauf (Oligohydramnion? Erhöhte Echogenität und zystischeVeränderungen beider Nieren?) sowie von den (sonographisch gesteuerten) entnommenen Urinproben ab (abnorme fetale Urinelektrolyte und Kreatininclearance?). Ein mit konklusiven Daten unterlegter Entscheidungsalgorithmus zur Indikationsstellung existiert allerdings nicht. Fetale Chirurgie. Die pränatalen Interventionsoptionen
bestehen aus einer offenen (heute weitgehend verlassenen) oder fetoskopisch angelegten Vesikostomie vor der 26. SSW. Nach diesem Zeitpunkt kommt alternativ eher die perkutane Anlage eines vesikoamniotischen Shunts mittels doppelten Pigtail-Katheters in Frage. Neuerdings wird
11.4
Ethisch relevante Gesichtspunkte
Die Disziplin »fetale Chirurgie« ist noch jung, befasst sich naturgemäß mit kleinen Fallzahlen und ist immer auch mit einer Operation/Intervention an der gesunden Mutter als »innocent bystander« verbunden. Die oben erwähnten, noch weitgehend experimentellen oder zumindest innovativen Therapien stellen nach heutigem Stand tatsächlich Möglichkeiten dar, einen sonst zum Tod verurteilten Patienten zu retten bzw. ihn vor schweren lebenslangen (Mehrfach-)Behinderungen zu bewahren. Daneben birgt die
107 11.5 · Zukunft der fetalen Chirurgie
Operation am schwangeren Uterus und an den noch äußerst fragilen Feten eine erhebliche eingriffsbedingte und im Einzelfall nicht voraussagbare Morbidität und Mortalität. Zudem reichen die vorhandenen Daten oft nicht wirklich aus, um die Frage schlüssig zu beantworten, ob in einer bestimmten Situation eine pränatale Intervention die Therapie der Wahl darstellt. Diese Gesichtspunkte sind charakteristisch für eine sich in Entwicklung befindliche Disziplin und sie werfen gezwungenermaßen eine Reihe von ethischen Fragestellungen auf (z. B. Darf ungeborenes Leben überhaupt operiert werden? Unter welchen Umständen darf operiert werden? Wer fällt die letzte Entscheidung? Wer trägt die letzte Verantwortung?), auf die in diesem Kontext nicht im Detail eingegangen werden kann. Zweifellos ist es aber so, dass im Rahmen der pränatalen Beratung den werdenden Eltern und namentlich der letztlich entscheidenden Mutter alle relevanten Fakten und Informationen in verständlicher und nicht direktiver Weise auseinandergesetzt werden müssen. Auf diese Art ist es möglich, eine im Rahmen des Möglichen datengestützte, situativ vernünftige und für die Eltern nachvollziehbare Nutzen-Risiko-Analyse vorzunehmen, die ein unverzichtbares Element für die Entscheidungsfindung darstellt.
11.5
Zukunft der fetalen Chirurgie
Die weitere Entwicklung der fetalen Chirurgie hängt wesentlich davon ab, was laufende (MOMS-Trial) und zukünftig durchzuführende prospektive randomisierte Studien ergeben. Selbstverständlich kann eine fetalchirurgische Intervention nur dann zur Therapie der Wahl werden, wenn sie im Vergleich mit allen anderen Therapieoptionen das beste oder zumindest ein bestechend hohes Nutzen-Risiko-Profil aufweist. FETENDOTechniken, allenfalls robotergestützt, werden mit der zu erwartenden Miniaturisierung von Instrumenten und Apparaten gewisse offene fetalchirurgische Techniken ersetzen. Schließlich ist es denkbar, dass fetalchirurgische Eingriffe durch fetal-interventionelle Eingriffe abgelöst werden, so wie wir das aktuell in gewissen Bereichen der Chirurgie erleben (z. B. katheterbasierter Herzklappenersatz anstelle einer Operation an der HerzLungen-Maschine!). > Im besten Fall wird die fetale Chirurgie einen festen Platz im faszinierenden Feld der hochspezialisierten Medizin einnehmen, im schlechtesten wird sie als eine Übergangsdisziplin in die Medizingeschichte eingehen, die auf dem langen Weg von spannenden initialen Arbeitshypothesen bis zur ernüchternden Erkenntnis ihrer klinischen Untauglichkeit unschätzbare Erkenntnisse zu Problemen der Menschwerdung während der Schwangerschaft geliefert hat.
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11
108
Kapitel 11 · Fetale Chirurgie
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11
12
12 Fremdkörperingestionen B. Häberle, A. Heger, T. Nicolai 12.1
Grundlagen – 109
12.6
Diagnostik – 114
12.1.1 12.1.2 12.1.3
Epidemiologie – 109 Art des Fremdkörper – 109 Lokalisation – 110
12.7
Fremdkörperextraktion
12.2
Fremdkörper im Oropharynx
12.7.1 12.7.2 12.7.3 12.7.4
Endoskopie – 116 Ballonkatheterentfernung – 116 Magnetsonde – 116 Bougierung – 116
12.3
Fremdkörper im Ösophagus
12.3.1 12.3.2
Klinik – 111 Komplikationen – 111
12.8
Fremdkörperaspiration
12.4
Fremdkörper im Magen und Dünndarm – 112
12.8.1 12.8.2 12.8.3 12.8.4
Epidemiologie – 117 Klinik und Diagnostik – 117 Komplikationen – 117 Therapie – 117
12.4.1
Komplikationen – 112
12.5
Spezielle Fremdkörper
12.5.1 12.5.2
Batterieingestion – 112 Ingestion scharfer Gegenstände
– 110
– 114
– 110 – 117
Literatur – 117
– 112 – 113
> Kinder untersuchen neugierig ihre gesamte Umgebung. Die Vorliebe Vieles in den Mund zu stecken führt immer wieder zu einer Fremdkörperingestion. Am häufigsten sind dabei Kleinkinder betroffen. Ein großer Teil an Fremdkörperingestionen bleibt vermutlich unbemerkt. Andere werden beobachtet und bleiben klinisch und therapeutisch ohne Konsequenzen. Bei einem kleinen Teil der Kinder ist die Entfernung des Fremdkörpers nötig, da ansonsten ein hohes Risiko für zum Teil schwere Komplikationen besteht.
12.1
Grundlagen
12.1.1
Epidemiologie
Die Fremdkörperingestion ist ein häufiges Problem in Kindernotfallambulanzen. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2001 wurde für die USA 115.320 Ingestionen gemeldet (Lelli 2005). Es wird angenommen, dass ca. 40% der Fremdkörperingestionen nicht beobachtet und bemerkt werden, da die Kinder meist asymptomatisch bleiben (Wahbeh et al. 2002). Das typische Alter liegt zwischen 6 Monaten und 3 Jahren, 70% der betroffenen Kinder sind unter 6 Jahre (Uyemura 2005; Arana et al. 2001; Lelli 2005; Crysdale et al. 1991). Jungen verschlucken Fremdkörper
etwas häufiger als Mädchen, dies gilt besonders bei Batterien (Litovitz u. Schmitz 1992). Bei nachgewiesenen Fremdkörpern wurde die Ingestion in den meisten Fällen (ca. 75%) beobachtet und liegt daher meist weniger als 24 h zurück (Crysdale et al. 1991). 80–90% der Fremdkörper passieren den Magen-Darm-Trakt auf natürlichem Wege. Nur in ca. 10–20% der Fälle ist die Entfernung des Fremdkörpers erforderlich (Uyemura 2005). In unter 1% der Fälle kommt es zu einer schweren Komplikation wie Perforationen des Ösophagus, Mediastinitis oder ösophagotracheale Fistel (Arana et al. 2001; Nandi u. Ong 1978). Ein höheres Risiko für eine Fremdkörperingestion haben Kinder mit anatomischen oder funktionellen Störungen des Ösophagus oder Larynx, vernachlässigte Kinder oder Kinder mit psychomotorischer Retardierung und Krampfleiden (Nolte 1993; Lelli 2005).
12.1.2
Art des Fremdkörper
Die Art des verschluckten Fremdkörpers ist stark regional und kulturell unterschiedlich. In Nordamerika und Europa sind Münzen mit 30–80% die am häufigsten verschluckten Fremdkörper. (Schunk et al. 1994; Shinhar et al. 2003; Arana et al. 2001; Münsterer u. Joppich 2004; Crysdale et al. 1991). In östlichen Ländern mit anderer Kultur und Ernäh-
110
Kapitel 12 · Fremdkörperingestionen
rung werden häufiger Fischgräten und Hünchenknochen gefunden (bis zu 60%; Nandi u. Ong 1978; Whabeh et al. 2002). Eine Untersuchung aus der Türkei ergab 46% ingestierte Nadeln (Yalçin 2007). Kleinere Kinder verschlucken etwas häufiger Münzen (median 3,8 Jahre), Knochen und Gräten werden von etwas älteren Kindern verschluckt (median 5,4 Jahre; Cheng u. Tam 1999). Folgende Gegenstände werden immer wieder beschrieben: Batterien, scharfe Gegenstände wie Nadeln, Sicherheitsnadeln und Nägel, Spielzeugteile, Schrauben, Schlüssel, Haarspangen, Stiftdeckel und Metallfedern. Zwischen 60 und 90% der Fremdkörper sind röntgendicht. Nicht-röntgendichte Fremdkörper können schwer zu erkennen oder auch nur mit einem Ösophagogramm nachweisbar sein (. Abb. 12.1). Nahrungsmittelboli können insbesondere bei Grunderkrankungen des Ösophagus in diesem hängen bleiben (7 Kap. 23).
12.1.3
Lokalisation
Fremdkörper, die verschluckt werden, passieren meistens ungehindert den gesamten Verdauungstrakt. Aufgrund der Größe oder Form eines Fremdkörpers kann dieser an verschiedenen anatomischen Engstellen hängen bleiben. Bei Diagnosestellung sind ca. 60% der Fremdkörper im Magen nachzuweisen, ca. 20% im Ösophagus, 10% im Dünndarm und 5–10% im Oropharynx (Arana et al. 2001; Cheng u. Tam 1999).
12
Übersicht Anatomische Engen des Verdauungstraktes 4 4 4 4 4 4 4
12.2
Obere Ösophaugsenge/M. cricopharyngeus Aortenenge/Überkreuzung des Aortenbogens Untere Ösophagusenge/Sphincter cardiae Pylorus Duodenales C Flexura duodenojejunalis (Treitz-Flexur) Valva ileocaecalis (Bauhin-Klappe)
Fremdkörper im Oropharynx
Fremdkörper im Oropharynx sind relativ selten (9%). Aufgrund der sensiblen Innervation der Schleimhaut verursachen Fremdkörper in diesem Bereich Symptome, meist ein Fremdkörpergefühl, aber auch Beieinträchtigung des Atemweges und Speicheln. In ca. 80% handelt es sich um Gräten oder Knochenstückchen. Durch diese meist spitzen und scharfen Fremdkörper kann es zu Verletzungen der Schleimhaut und Perforationen kommen. Dies kann zu retropharyngealen Abszessen führen. Ein Teil dieser Fremdkörper ist bei kooperativen Patienten direkt sichtbar und kann dann in der Regel mit der McGill-Zange entfernt werden (Arana et al. 2001). Bei von außen nicht sichtbaren Fremdkörpern sollte eine Röntgenuntersuchung angefertigt werden. Metall oder Glasfremdkörper können eventell dargestellt werden. Knochen und Gräten sind nur in ca 25% der Fälle radiologisch darstellbar (Cheng u. Tam 1999). Besteht anamnestisch und klinisch ein hochgradiger Verdacht auf eine Fremdkörperingestion und zeigen die klinische und radiologische Untersuchung keinen Fremdkörper, muss eine Laryngoskopie erwogen werden. Da die Empfindung eines Fremdkörpers im Oropharynx auch ohne Fremdkörper oft noch lange bestehen bleibt, wird je nach Symptomatik auch ein abwartendes Verhalten empfohlen. Bei Persistenz der Symptomatik über 12–24 h sollte dann eine Laryngoskopie durchgeführt werden (Cheng u. Tam 1999; Stack u. Munter 1996).
12.3
Fremdkörper im Ösophagus
> Fremdkörper im Ösophagus sollten aufgrund des hohen Komplikationsrisikos entfernt werden.
. Abb. 12.1. Ingestion einer Spielzeugkrabbe
Die Speiseröhre ist der engste Abschnitt des Verdauungstraktes. Es gibt 3 anatomische Engen, die obere Enge am M. cricopharyngeus, die mittlere im Bereich des Überkreuzens des Aortenbogens und linken Hauptbrochus und die untere am Sphincter cardiae. Ca. 60–70% der stecken gebliebenen Fremdkörper sind auf Höhe der oberen Ösophagusenge zu finden, 10–20% jeweils im Bereich der mittleren
111 12.3 · Fremdkörper im Ösophagus
und unteren Enge (Little et al. 2006; Wahbeh et al. 2002). Die meisten verschluckten Gegenstände, die den M. cricopharyngeus passieren, können weiter in den Magen und dann auf natürlichem Weg den gesamten Verdauungstrakt passieren. Ein Fremdköper bleibt im Ösophagus entweder aufgrund seiner Größe bzw. Struktur hängen oder aufgrund einer durch Vorerkrankung bedingten Enge des Ösophagus. Bei Kindern mit Ösophagusatresie (7 Kap. 23) kann eine Enge im Bereich der Anastomose vorliegen. Bei diesen Patienten ist zusätzlich die Motilität im unteren Ösophagus verändert. Auch nach Verätzungen kann es zu Strikturen und Motilitätsstörungen kommen die eine Passage erschweren können. Patienten nach Operation einer Fundoplikatio (7 Kap. 24) können rezidivierende Bolusingestionen haben. Eine mediastinale Raumforderung, Achalasie, Duplikaturen oder ein Gefäßring können zu einem Stopp eines Fremdkörpers oder Nahrungsbolus führen (Lelli 2005; Wahbeh et al. 2002). Fremdkörper im Ösophagus sollten aufgrund des Komplikationsrisikos entfernt werden (. Abb. 12.1). Bei Fremdkörpern im distalen Abschnitt besteht eine gewisse Chance, dass sie in den Magen passieren, so dass hier bei symptomlosen Patienten noch ca. 12 h abgewartet werden kann, wobei dann auch die erforderliche Nüchternheit für eine Narkose erreicht werden kann. Allerdings ist kurz vor dem Eingriff eine erneute Lagekontrolle des Fremdkörpers erforderlich (Wahbeh et al. 2002).
12.3.1
Übersicht Die häufigsten Symptome beim Kleinkind 4 4 4 4
12.3.2
Speicheln Würgen Nahrungsverweigerung Erbrechen
Komplikationen
Ein länger im Ösophagus verbliebener Fremdkörper kann zu schwerwiegenden Komplikationen führen (Crysdale et al. 1991). Es kann zu einer lokalen Nekrose und Perforation des Ösophagus kommen. Eine Mediastinitis oder ösophagotracheale Fistel kann entstehen (. Abb. 12.2). Eine fatale Komplikation ist die Arosion der Aorta mit Fistelbildung zur Aorta, die in Einzelfällen beschrieben ist. Eine Fremdkörperingestion kann auch erst mit Auftreten von Spätkomplikationen bemerkt werden. Die klinischen Zeichen hierfür können Hämatemesis, chro-
Klinik
Kinder bei denen der Verdacht einer Fremdkörperingestion besteht sind oft symptomlos. In ca. 50% der Fälle liegen außer einer entsprechenden Anamnese keine Beschwerden vor und auch die klinische Untersuchung ist unauffällig (Cheng u. Tam 1999). Die Ingestion eines Fremdkörpers wurde meist von Betreuungspersonen beobachtet oder vom Kind selbst berichtet. Folgende Symptome werden in absteigender Häufigkeit beschrieben: Dysphagie, Speicheln, Würgen, Nahrungsverweigerung, Erbrechen, Fieber, retrosternale Schmerzen, Atemnot, Giemen, Bauchschmerzen, Husten (Little et al. 2006). Die Symptome sind altersabhängig. Kleinkinder zeigen eher Symptome wie Speicheln, Würgen, Nahrungsverweigerung und Erbrechen. Ältere Kinder klagen über Dysphagie und retrosternale Schmerzen (Nandi u. Ong 1978). Bei länger bestehender Ingestion kann es zu einer perioesophagealen Entzündung mit Mediastinitis, und Hämatemesis sowie zu Atemwegssymptomen wie Giemen, Stridor, Atemnot, chronischem Husten und Aspirationspneumonie, kommen (Lelli 2005). Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die Fremdkörperaspiration. Die Entfernung kann bronchoskopisch erfolgen, allerdings nur durch einen in der Bronchoskopie von Kindern Erfahrenen (7 Kap. 12.8; Lelli 2005).
. Abb. 12.2. Kontrastmitteldarstellung einer ösophagotrachealen Fistel nach Fremdkörperingestion
12
112
Kapitel 12 · Fremdkörperingestionen
nischer Husten, Stridor und rezidivierende Aspirationspneumonien sein (Lelli 2005).
12.4
Fremdkörper im Magen und Dünndarm
Die meisten Fremdkörper werden bei Diagnosestellung im Magen lokalisiert. Die Mehrheit der Fremdkörper die den Magen erreichen, passiert den restlichen Verdauungstrakt ohne Probleme innerhalb von 4–6 Tagen. Die erfolgreiche Passage des Fremdkörpers kann durch Stuhlinspektion überprüft werden, wobei allerdings bis zu 40% der Fremdkörper nicht gefunden werden (Arana et al. 2001). In bestimmten Fällen kann es erforderlich sein, Fremdkörper aus dem Magen zu bergen. Weitere Engen (Pylorus, Duodenum, Treitz-Flexur, Bauhin-Klappe) können die Passage von Fremdkörpern behindern. > Ist nach ca. 1 Woche eine Passage durch den Pylorus nicht erfolgt, sollte der Fremdkörper entfernt werden.
12
Insbesondere lange Fremdkörper passieren nur schwierig das retroperitoneal fixierte Duodenum. Lange und relativ dicke Fremdkörper passieren nur schwer den Pylorus. Für Kinder gibt es keine dokumentierten Längen, die eine Passage durch das Duodenum verhindern. Empfohlen wird allerdings die Entfernung vom Fremdkörpern über 5 cm Länge oder über 2 cm Dicke bei Kindern und Fremdkörper über 3 cm Länge und über 2 cm Dicke bei Säuglingen unter 1 Jahr (Lelli 2005; Vijaysadan et a. 2006). Gegenstände, die aufgrund ihrer Form oder Art risikoreich sind, sollten ebenfalls geborgen werde. Hier sind sicherlich scharfe Gegenstände oder Magnete zu nennen (7 Kap. 12.5). Jenseits des Treitz-Bandes kommt es nur sehr selten zum Hängenbleiben eines Fremdkörpers. In vereinzelten Fällen bietet die Bauhinsche Klappe ein echtes Hindernis, wie nach eigener Beobachtung bei einem Kind mit mehreren abgebissenen und verschluckten Schnullern.
12.4.1
Komplikationen
Es kann im Darmbereich zur Penetration eines Gegenstandes mit konsekutiver Peritonitis und abdominellen Beschwerden kommen. Bei länger im Darm liegenden Gegenständen kann es durch Fibroseüberzug zu einer Migration des Gegenstandes in die Peritonealhöhle kommen mit dann ungewöhnlichen Lokalisationen der Fremdkörper (Vijaysadan et al. 2006). Besonders risikoreich sind scharfe Gegenstände und Magnete, auf die speziell im nächsten Kapitel eingegangen wird (7 Kap. 12.5).
12.5
Spezielle Fremdkörper
Es gibt einzelne Fremdkörper die ein höheres Risiko an Komplikationen mit sich bringen. Dazu zählen scharfe Gegenstände, Batterien und Magnete. Sind mehrere oder gefährliche Fremdkörper verschluckt worden sollte insbesondere bei Jugendlichen an eine eventuelle suizidale Absicht gedacht werden (. Abb. 12.3). Bei einer untersuchten Serie von 2382 Batterieingestionen in den USA lag in 1,3% der Fälle eine suizidale Absicht vor (Litovitz u. Schmitz 1992).
12.5.1
Batterieingestion
! Cave Eine im Ösophagus impaktierte Batterie muss so rasch wie möglich entfernt werden, da es schon nach wenigen Stunden zu einer Perforation kommen kann.
In der Regel werden Knopfbatterien verschluckt, zylindrische Batterien bei weitem seltener. Das typische Alter von 6 Monate bis 3 Jahre ist bei der Batterieingestion vergleichbar mit anderen Fremdkörpern. Die häufigsten Quellen der Batterien sind Hörgeräte, Uhren und elektronisches Spielzeug. Symptome sind selten (9%) und korrelieren nicht mit dem klinischen Verlauf (Litovitz u. Schmitz 1992). Batterien verursachen direkte Gewebeschäden durch Drucknekrose, Verätzung oder Verbrennung bei Entladung. Eine endoskopische oder chirurgische Entfernung ist dennoch nur in den wenigsten Fällen erforderlich (2,5%), da die Batterien den Verdauungstrakt meist innerhalb 4 Tagen (86%) passieren. Batterien beinhalten alkalische Substanzen und Schwermetalle, die bei Zerstörung austreten können. Der Anteil an zerstörten Batterien ist allerdings gering. In einer Serie aus 2382 Batterieingestionen zersplitterten während der Passage durch den Verdauungstrakt 2,3% der Batterien, überwiegend quecksilberhaltige Batterien. Eine Quecksilbervergiftung konnte jedoch nicht gezeigt werden. Eine minimaler Quecksilbernachweis im Urin oder Serum ist bei zerstörten Batterien vereinzelt möglich, jedoch ohne klinische Zeichen einer Intoxikation (Litovitz u. Schmitz 1992). Eine Kontrolle des Quecksilberspiegels wird dennoch bei zersplitterten quecksilberhaltigen Batterien empfohlen. Bei Symptomfreiheit und nicht toxischen Spiegeln ist jedoch keine Therapie erforderlich. Ösophagus. Im Ösophagus impaktierte Batterien sollten sofort entfernt werden, da in bis zu 40% schwere Komplikationen auftreten können (Litovitz u. Schmitz 1992) Hierzu zählen Strikturen, Perforationen und Mediastinitis sowie oesophagotracheale Fisteln. Diese Komplikationen können schon nach wenigen Stunden auftreten. Aufgrund ihrer Größe und höheren Spannung sind Lithium Batterien besonders komplikationsreich (Lelli 2005; Litovitz u. Schmitz
113 12.5 · Spezielle Fremdkörper
12.5.2
Ingestion scharfer Gegenstände
Verschiedenste scharfe Gegenstände werden verschluckt, unter anderem Stecknadeln, Sicherheitsnadeln, Nägel, Schrauben, Rasierklingen, aber auch nichtmetallische Gegenstände wie Gräten, Kochen und Zahnstocher. Knochen und Gräten bleiben in 95% im Oropharynx hängen (7 Kap. 12.2). Das Risiko für Perforationen ist bei scharfen Gegenständen mit ca. 35% deutlich erhöht. Scharfe Gegenstände im Ösophagus müssen sofort endoskopisch entfernt werden. Haben scharfe Gegenstände den Magen erreicht, können sie überwiegend je nach Form und Größe ohne weitere Probleme den restlichen Magendarmtrakt passieren. Insbesondere einzelne, nicht zu große Nägel und Nadeln passieren mit dem stumpfen Ende voraus in der Regel problemlos (Eisen et al. 2002; Wahbeh et al. 2002). Mehrere und beidseitig scharfe und spitze Gegenstände müssen aus dem Magen entfernt werden. Haben diese Gegenstände den Pylorus bereits passiert, muss engmaschig kontrolliert werden. Eine chirurgische Entfernung ist erforderlich bei Symptomen, nachgewiesener Perforation oder bei unveränderter Position in mehreren radiologischen Kontrollen. Kommt es zu einer Perforation, liegt diese in 75% im Bereich der Ileozökalklappe. . Abb. 12.3. Ingestion von ca. 80 Nägeln in suizidaler Absicht bei einer Jugendlichen, Passage ohne Perforation
Ingestion von Magneten ! Cave Die Ingestion mehrerer Magnete kann zu enteralen Fisteln oder Darmperforationen führen.
1992). Die Entfernung von Batterien aus dem Ösophagus sollte endoskopisch erfolgen, da nur so die genaue Beurteilung eventueller Gewebeschäden möglich ist (Litovitz u. Schmitz 1992). Magen. Batterien mit Passagestopp im Magen über 48 werden durch die Magensäure häufiger zerstört und die Patienten zeigten häufiger leichte Symptome wie Bauchschmerzen, Erbrechen oder okkultes Blut im Stuhl. Gelegentlich werden Exantheme beobachtet, vermutlich als Reaktion auf Nickel. Schwerwiegende Komplikationen sind in diesen Fällen nicht beschrieben. Daher wird bei einem Passagestop im Magen über 48 h oder beim Auftreten von Symptomen die endoskopische Entfernung empfohlen. Batterien mit einem Durchmesser über 15 mm passieren den Pylorus bei einem Kind unter 6 Jahre meist nicht mehr. Bei Symptomfreiheit kann bei kleineren Batterien noch abgewartet werden, wenn eine Passage noch möglich scheint (Litovitz u. Schmitz 1992). Distaler Gastrointestinaltrakt. Batterien im distalen Gas-
trointestinaltrakt führen auch bei langsamer Passage über mehrere Tage bis Wochen zu keinen schwerwiegenden Symptomen. Eine Intervention ist hier in der Regel nicht erforderlich (Litovitz u. Schmitz 1992).
Verschiedenste Magnete können von Kindern versehentlich verschluckt werden. Kleine Magnete kommen in weit verbreiteten Magnetkonstruktionsspielzeugen vor. In China und Japan werden Magnete in der traditionellen Medizin zur Behandlung eingesetzt. Dennoch sind Ingestionen von Magneten und deren Komplikationen selten (Anselmi et al. 2007). Die Ingestion eines einzelnen Magneten bedeutet kein Problem. Verschluckt das Kind jedoch 2 oder mehr Magnete oder zusätzlich einen metallenen Gegenstand, kann es zu schweren Komplikationen kommen. Durch die gegenseitige Anziehung auch durch die Darmwand hindurch entstehen enterale Fisteln oder Perforationen. Symptome treten nach 1–7 Tagen auf (Chung et al. 2003). Eine Röntgenaufnahme des Abdomens zeigt bei einer Ingestion mehrerer Magnete zwei oder mehrere röntgendichte Gegenstände relativ dicht beieinander. Freie Luft ist nur selten zu sehen, da meist eine gedeckte Perforation oder Fistel vorliegt. Liegen die ingestierten Magnete bei Diagnosestellung noch im Magen wird die sofortige endoskopische Entfernung empfohlen (Lee et al. 2005; Chung et al. 2003). Haben die Magnete den Pylorus passiert, wird von einzelnen Autoren auch ohne Symptome die sofortige chirurgische Entfernung empfohlen um Komplikationen zu vermeiden (Lee et al. 2005; Vijaysadan et al. 2006). Anderseits
12
114
Kapitel 12 · Fremdkörperingestionen
kann auch unter enger Beobachtung abgewartet werden und die chirurgische Intervention nur bei Symptomen erfolgen, oder bei unveränderter Position der Magnete in aufeinander folgenden Röntgenbildern (Chung et al. 2003).
12.6
Diagnostik
Untersuchungen mit der Frage nach einem Fremdkörper werden meist aufgrund einer beobachteten oder vermuteten Ingestion durchgeführt. Altere Kinder können auch den Gegenstand benennen und häufig eine Schmerzregion angeben. In ca. 20% der Fälle wird die Ingestion nicht beobachtet und erst spätere Symptome führen zu weiterer Diagnostik. Die klinische Untersuchung ist in 80% bei asymptomatischen Patienten normal (Hawkins, zitiert in Lelli 2005). > Bei jeder vermuteten Ingestion sollte eine Röntgenaufnahme des Abdomens und des Thorax mit Hals sowie eine seitliche Aufnahme des Thorax mit Hals angefertigt werden.
12
Bei klinischem Verdacht kann je nach Symptomatik und zeitlichem Abstand zur Ingestion zuerst nur eine Röntgenaufnahme des Thorax oder des Abdomens durchgeführt werden. Ein nicht-röntgendichter Fremdkörper kann bei einem Ösophagogramm als Kontrastmittelaussparung dargestellt werden (. Abb. 12.4). Gleichzeitig können eventuelle anatomische Anomalien wie Strikturen dargestellt werden. Bei hochgradigem Verdacht auf einen nicht-röntgendichten Fremdkörper im Ösophagus wird auch die sofortige Endoskopie ohne Kontrastmittelstudie empfohlen, um Komplikationen durch Aspiration oder verzögerte Extraktion zu minimieren (Eisen et al. 2002). In unklaren Fällen, insbesondere bei lange zurückliegenden Ingestionen kann auch eine CT- oder MRT-Untersuchung zur Darstellung eines in das umgebende Gewebe migrierten Fremdkörpers hilfreich sein. Mit Metalldetektoren kann in den meisten Fällen ein metallhaltiger Fremdkörper lokalisiert werden. Die Untersuchungstechnik eignet sich als Screening oder in der Verlaufskontrolle bei Kindern (Münsterer u. Joppich 2004; Lee et al. 2005). Eine Kontrolle im Verlauf nach 7–10 Tagen kann auch als Durchleuchtung erfolgen, die in diesem Fall eine etwas geringere Strahlenbelastung als die konventionelle Röntgenaufnahme darstellt. . Abb. 12.5 zeigt einen Algorithmus zum Management der Fremdkörperingestion.
12.7
Fremdkörperextraktion
Eine etablierte Methode der Fremdköperextraktion ist die starre oder auch flexible Endoskopie. Andere Techniken wie die Ballonkatheterentfernung, Bougierung oder Ma-
. Abb. 12.4. Kontrastmitteluntersuchung bei multiplen Fremdkörpern im Ösophagus
gnetsonde werden ebenso befürwortet. Die Wahl der Methode ist von mehreren Faktoren abhängig. Zum einen natürlich von der Verfügbarkeit der Technik und der Erfahrung der Behandelnden mit einer Technik. Zum anderen sollten Überlegungen bezüglich der Art des Fremdkörpers und der Lokalisation eine Rolle spielen. Wesentliche Faktoren bleiben die möglichst geringe Belastung und ein möglichst geringes Risiko für das Kind. Eine medikamentöse Therapie mit Prokinetika, spezieller Nahrung oder medikamentös ausgelöstes Erbrechen
12.7 · Fremdkörperextraktion 115
. Abb. 12.5. Algorithmus zum Management der Fremdkörperingestion
12
116
Kapitel 12 · Fremdkörperingestionen
zeigte keinen Effekt und kann sogar Komplikationen nach sich ziehen. Bei scharfen Gegenständen steigt das Risiko der Perforation. Wird Erbrechen ausgelöst, kann ein bereits im Magen liegender Fremdkörper im Ösophagus impaktieren (Litovitz u. Schmitz 1992; Vijaysadan et al. 2006; Wahbeh et al. 2002; Crysdale et al. 1991).
12.7.1
12
Endoskopie
Bei der endoskopischen Extraktion von Fremdkörpern aus dem Ösophagus und Magen werden die starre und die flexibel Endoskopie eingesetzt. Die Intervention wird je nach Alter in Narkose (starre Ösophagoskopie) oder auch in Sedierung durchgeführt. Die endoskopische Technik ermöglicht den Ösophagus und eventuelle durch den Fremdkörper verursachte Verletzungen zu beurteilen. Bei Grunderkrankungen wie z. B. Ösophagusatresie ist das Ausmaß einer Stenose beurteilbar. Bei der flexiblen Endoskopie kommen verschiedene Fasszangen (Alligator, Rattenzahn) und Biopsiezangen sowie Fangkörbchen oder Schlingen mit und ohne Netz für die Fremdkörperbergung zum Einsatz. Bei scharfen Gegenständen kann der Gegenstand in eine Hülse gezogen werden und sicher aus dem Ösophagus entfernt werden. Die starre Endoskopie ermöglicht insbesondere im oberen Ösophagus eine effektive Extraktion eines Fremdkörpers. Im distalen Abschnitt ist die starre Endoskopie weniger geeignet und eine Extraktion aus dem Magen ist nicht möglich. Die speziellen Zangen, die über eine starre Endoskopie genutzt werden können, ermöglichen aber gelegentlich auch bei schwierigen, flexibel nicht entfernbaren Fremdkörpern die Extraktion (Wahbeh et al. 2002; Gmeiner et al. 2007). Die Erfolgsraten liegen mit jeder Technik bei ca. 95% (Gmeiner et al. 2007). Komplikationen mit flexibler Endoskopie sind extrem selten. Bei der starren Endoskopie kann es selten zu Ösophagusverletzungen und Perforationen kommen (Gmeiner et al. 2007). Zu Dysphagie nach Ösophagoskopie kommt es durch die starre Ösophagoskopie häufiger und kann belastend für den Patienten sein (Gmeiner et al. 2007).
12.7.2
Ballonkatheterentfernung
Stumpfe Gegenstände können mit Hilfe eines Foley-Katheters unter Durchleuchtung entfernt werden. Bei der Technik wird der Patient mit dem Gesicht nach unten gelagert. Der Katheter wird über die Nase eingeführt und unter Durchleuchtung in den Ösophagus vorgeschoben und distal des Fremdkörpers platziert. Der Ballon wird mit 3–5 ml verdünntem Kontrastmittel gefüllt und unter Durchleuchtung zusammen mit dem Fremdkörper bis in den Oropharynx zurückgezogen, bis der Fremdkörper ausgespuckt oder manuell entfernt werden kann (Schunk et al. 1994). Die Metho-
de gilt als sicher und effektiv bei stumpfen Gegenständen und einer Ingestionszeit unter 1–3 Tage (Schunk et al. 1994; Lelli 2005; Morrow et al. 1998). Die Erfolgsrate liegt bei bis zu 96% mit Komplikationen in ca. 3% der Fälle. Am besten geeignet ist die Technik im oberen Ösophagus. Die beschriebenen Komplikationen wie Nasenbluten, Erbrechen oder pulmonale Probleme sind meist leicht und ohne Folgen für den Patienten. Vereinzelt kommt es insbesondere nach mehreren frustranen Versuchen zu Schleimhautverletzungen des Ösophagus bis zur Ösophagusperforation (1%; Schunk et al. 1994). Bei Vorerkrankungen des Ösophagus, Batterieingestionen, scharfen oder unbekannten Gegenständen und länger zurückliegender Ingestion sollte die Technik nicht angewendet werden. Mögliche Schäden durch den Fremdkörper am Ösophagus können bei dieser blinden Methode nicht beurteilt werden (Litovitz u. Schmitz 1992; Lelli 2005). Eine Narkose oder Sedierung ist nicht erforderlich, wodurch die Entfernung rasch und ambulant durchgeführt werden kann. Zugleich ist es aber sehr belastend für das Kind und nur mit dessen Fixierung möglich. Ein potenzielles Risiko besteht in der Verlegung der Atemwege durch den in den Oropharynx gezogenen Fremdköper, so dass empfohlen wird, diese Methode nur in Bauchlage beim wachen Kind und mit anästhesiologischer Bereitschaft durchzuführen (Wahbeh et al. 2002; Schunk et al. 1994). Alternativ kann die Technik der Fremdkörperextraktion mit Ballonkatheter auch mit der Endoskopie kombiniert werden, allerdings dann in Narkose. Hierbei wird ein Katheter parallel zum Endoskop unter Sicht am Fremdkörper vorbeigeschoben und mit ca. 3 ml Flüssigkeit gefüllt und zusammen mit dem Fremdkörper herausgezogen.
12.7.3
Magnetsonde
Eine magnetische Sonde zur Entfernung wird in ausgewählten Fällen zur Entfernung von magnetischen Gegenständen empfohlen (Arana et al. 2001). Die Sonde wird unter Durchleuchtung in den Ösophagus vorgeschoben und mit dem Fremdkörper wieder herausgezogen. Bei dieser Methode kann der Ösophagus bezüglich Gewebeschäden nicht beurteilt werden und die Entfernung erfolgt blind, daher sollte sie bei im Ösophagus impaktierten Batterien nicht angewendet werden (Litovitz u. Schmitz 1992). Auch andere, schon länger impaktierte oder scharfe Gegenstände eignen sich nicht.
12.7.4
Bougierung
Bei der Bougierung wird in ausgewählten Fällen ein stumpfer Fremdkörper mit einer Ingestionszeit unter 24 h mit einer Ösophagus-Bougie weiter in den Magen geschoben. Der Fremdkörper kann dann in der Regel über den natürlichen
117 12.8 · Fremdkörperaspiration
Weg ausgeschieden werden. Bei Ösophagusvorerkrankungen sollte diese ebenfalls blinde Methode nicht angewendet werden. Zu große Fremdkörper sollten ebenfalls nicht vorgeschoben werden da sie eventuell den Pylorus nicht passieren oder zu einer Obstruktion führen (Uyemura 2005).
12.8
Fremdkörperaspiration
! Cave Die Fremdkörperaspiration ist ein Notfall, die Kinder müssen unverzüglich einer Klinik mit entsprechender Einrichtung für Kinder zugewiesen werden.
12.8.1
Epidemiologie
Das Eindringen von Fremdkörpern in die Atemwege durch die Stimmritze bezeichnet man als Aspiration. Am häufigsten sind Kleininder im Alter von 1–4 Jahren betroffen. Nüsse und ähnliche Nahrungsbestandteile, Spielsachen, Stiftkappen etc. sind typische Aspirate bei Kindern (Thal u. von der Hardt 1999). In den Vereinigten Staaten kommt es jährlich zu etwa 2000 Fremdkörperaspirationen mit Todesfolge. Für Kinder unter 4 Jahren wird das Risiko einer tödlichen Fremdkörperaspiration mit 0,7 pro einer Bevölkerung von 100.000 Personen und Jahr angegeben (National Safety Council 1998).
12.8.2
Klinik und Diagnostik
Typisch ist der plötzliche Symptombeginn mit heftigem Husten, manchmal auch Stridor und Dyspnoe, Zyanose und Erstickungsangst nicht selten nach einem beobachteten Aspirationsereignis (AWMF-Leitlinien). Oft bringen jedoch die Eltern das Aspirationsereignis nicht mit den später auftretenden Symptomen (Husten, Fieber) in Verbindung, so dass bei der Anamneseerhebung gezielt nachgefragt werden muss (Schroeder u. Grundner 1984). Ein laryngeal oder tracheal liegender Fremdkörper führt zu einem biphasischen (in- und exspiratorischen) Stridor und stellt einen absoluten Notfall dar, der eine sofortige Intervention erfordert. In weniger klaren Fällen ist meist eine Röntgen-Thoraxaufnahme sinnvoll, um nach Seitendifferenzen, Atelektasen oder überblähten Lungenanteilen zu suchen. Typische Fremdkörperzeichen im Röntgenbild (lobäres Emphysem oder Atelektase) entwickeln sich jedoch meist erst nach 1–2 Tagen.
12.8.3
Komplikationen
Bei verspäteter Diagnosestellung ist oft eine chronisch-obstruktive Bronchitis oder eine Abfolge von mehreren Pneu-
monien mit Infiltrationen an derselben Stelle bei einem vorher unauffälligen Kleinkind die Folge. Schwerste Zerstörungen von Lungengewebe, Abszessbildungen, Pyothorax und Bronchiektasien etc. sind andere gefürchtete Komplikationen eines übersehenen Fremdkörpers. Bei typischer Anamnese muss deshalb die Indikation zur Bronchoskopie großzügig gestellt werden (AWMF-Leitlinien; Nicolai 2001).
12.8.4
Therapie
Kinder mit einer eindeutigen oder wahrscheinlichen Fremdkörperaspiration müssen stationär aufgenommen werden, da eine Verlagerung des Fremdkörpers mit akuter Erstickung auftreten kann (Czap et al. 1993). Mit der Extraktion wird bis zur Nüchternheit des Patienten gewartet, außer bei einer Notfallindikation. Besteht der Verdacht auf einen laryngealen oder trachealen Fremdkörper oder ist ein Säugling betroffen, erfordert dies eine sofortige Intervention. Die Komplikationshäufigkeit nimmt zu, wenn die Extraktion erst mehr als 1–2 Tage nach dem Aspirationsereignis erfolgen kann. Die Methode der Wahl für die Fremdkörperextraktion beim Kind ist die starre Bronchoskopie in Vollnarkose (Lelli 2005; Nicolai 2001). Wenn eine Aspiration nur ausgeschlossen werden soll, kann die Untersuchung mit einer flexiblen Bronchoskopie begonnen und dann ggf. bei Entdecken eines Fremdkörpers auf die starre Endoskopie übergegangen werden. Bei weichen Fremdkörpern bietet sich die Extraktion mittels Einhülsen an, ansonsten muss die Technik der Erfahrung des Operateurs überlassen bleiben. Ein umfangreiches Instrumentarium mit verschiedenen Bronchoskoprohren, Optiken, Zangen und anderen Hilfsmitteln muss vorhanden sein. Wenn die Extraktion nicht innerhalb 1– 2h Operationsdauer möglich ist, sollte der Eingriff beendet und entweder später unter besseren Bedingungen erneut versucht oder der Patient an eine Einrichtung mit besonders großer Erfahrung verlegt werden (Merkenschlager et al. 1993; Nicolai 2001).
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12
118
12
Kapitel 12 · Fremdkörperingestionen
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13
13 Minimalinvasive Chirurgie B. Ure, M. Metzelder 13.1
Einleitung – 119
13.6
Pneumoperitoneum und Trokarintroduktion – 122
13.2
Pathophysiologische Besonderheiten der laparoskopischen Kinderchirurgie – 120
13.7
Ergonomie
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.2.5
Kardiozirkulatorische Effekte – 120 Respiratorische Effekte und Gasaustausch – 120 Nierenfunktion – 121 Perfusion weiterer Organe – 121 Immunologische Effekte der minimalinvasiven Chirurgie – 121
13.8
Laparoskopische Kinderchirurgie: Indikationen und Eingriffe – 123
13.9
Laparoskopische Eingriffe nach Voroperationen – 125
13.3
Präoperative Vorbereitung
13.10
Thorakoskopische Kinderchirurgie: Indikationen und Eingriffe – 125
13.4
Lagerung
13.11 13.5
Gerätepositionierung
Minimalinvasive Eingriffe bei Malignomen – 126
– 122
– 123
– 122 – 122
Literatur – 127
> Das Spektrum der minimalinvasiven Chirurgie im Kindesalter beinhaltet mehr als 50 abdominelle, retroperitoneale und thorakale Eingriffstypen. Die Mehrzahl dieser Operationsverfahren ist heute standardisiert und etabliert. Grundsätzlich geht die minimalinvasive Chirurgie bei Neugeborenen und Kleinkindern mit technischen und pathophysiologischen Besonderheiten einher, die zu berücksichtigen sind.
13.1
Einleitung
Minimalinvasive Techniken wurden von Kinderchirurgen bereits in den 70er-Jahren und damit lange vor der revolutionären Verbreitung der minimalinvasiven Erwachsenenchirurgie angewendet. Zunächst erfolgten diagnostische und kleine therapeutische Eingriffe, da weder die verfügbaren Geräte, noch das Instrumentarium für komplexe minimalinvasive Operationen geeignet waren. Die breitere Entwicklung der minimalinvasiven Chirurgie von Neugeborenen und Kleinkindern fand zu Beginn der 90er-Jahre statt. Der Entwicklungsprozess ist nicht abgeschlossen. Wesentliche Bedeutung kam der Verfügbarkeit geeigneter Instrumente mit einem Durchmesser von 2–3 mm
und der Adaptation von Geräten wie beispielsweise der Insufflatoren an die speziellen Verhältnisse von Kleinkindern zu. Mit zunehmender kinderchirurgischer und anästhesiologischer Expertise sind in den letzten Jahren nahezu sämtliche Eingriffstypen im Abdomen, Retroperitoneum und Thorax minimalinvasiv durchgeführt worden (Holcomb et al. 1995; Holcomb 2005; Rothenberg 2005; Ure et al. 2000). Die Operationen sind standardisiert, wobei etablierte Verfahren mit belegter Machbarkeit und belegten Vorteilen von noch nicht etablierten Techniken zu unterscheiden sind. Für etablierte Verfahren sind Vorteile hinsichtlich des kosmetischen Ergebnisses, verminderter postoperativer Schmerzen und anderer Symptome sowie einer kürzeren Krankenhausverweildauer evidenzbasiert nachgewiesen, doch sind die zugrunde liegenden Mechanismen nicht bekannt. > Die Propagierung der minimalinvasiven Kinderchirurgie in den Medien und im Internet hat dazu beigetragen, dass Eltern und Patienten diese Techniken zunehmend einfordern. Grundsätzlich gilt für etablierte minimalinvasive Verfahren, dass diese in Aufklärungsgesprächen mit Eltern und Patienten als Option anzusprechen sind.
120
Kapitel 13 · Minimalinvasive Chirurgie
13.2
Pathophysiologische Besonderheiten der laparoskopischen Kinderchirurgie
Die Kenntnis der Besonderheiten von Neugeborenen und Kleinkindern hinsichtlich des Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Säure-Basenhaushalts und des immunologischen Verhaltens ist für die Anwendung minimalinvasiver Techniken von wesentlicher Bedeutung. Die im Weiteren dargestellten mikro- und makrozirkulatorischen Effekte des Pneumoperitoneums und die Modulation der Immunantwort sind bisher nicht umfassend untersucht, doch können aus den vorliegenden experimentellen und klinischen Arbeiten wichtige Empfehlungen abgeleitet werden.
13.2.1
13
Kardiozirkulatorische Effekte
Die kardiozirkulatorischen Effekte des CO2-Pneumoperitoneum sind überwiegend Folge der Erhöhung des intraabdominellen Druckes, der peritonealen Absorption von CO2 und der Stimulation des humoralen vasoaktiven Systems. Die Beeinflussung des Herz-Kreislauf-Systems ist abhängig vom Ausmaß und der Dauer des Pneumoperitoneums und der intraabdominellen Druckerhöhung. Bei Erwachsenen und älteren Kindern geht das CO2-Pneumoperitoneum mit einer Kompression des Splanchnikusgebietes, einer konsekutiven Verminderung des venösen Rückflusses aus dem Abdominalraum und einer dadurch bedingten Senkung der kardialen Vorlast und des Herz-Zeit-Volumens einher. Dies hat eine kompensatorische Erhöhung des mittleren arteriellen Blutdruckes, der Herzfrequenz und eine Erhöhung des systemischen und pulmonalen Gefäßwiderstandes zur Folge. Neugeborene und Kleinkinder weisen essenzielle Besonderheiten auf. Der Cardiac Index und der Sauerstoffbedarf sind höher, der mittlere arterielle Druck ist niedriger. Ein Volumendefizit macht sich auch wegen einer höheren Gewebeperfusion rascher bemerkbar. Beim Neugeborenen führt eine abdominelle Druckerhöhung durch direkte Kompression der Vena cava zu einer Verminderung des venösen
Rückflusses und des Cardiac Output (. Tab. 13.1). Der intraabdominelle Druck und der Druck in der Vena cava inferior sind identisch, der Druck in der oberen Vena cava dagegen ist deutlich niedriger. Die zentralvenösen Drucke spiegeln somit beim Neugeborenen den intraabdominellen und thorakalen Druck und nicht den Füllungszustand des Herzens wieder. Besonders zu beachten sind die Effekte des langdauernden Pneumoperitoneum mit metabolischer Azidose und Hypovolämie während des Eingriffs und einem massiven Rückfluss aus dem Thorax in das Splanchnikusgebiet nach Beendigung des Pneumoperitoneums. Kardiozirkulatorische Effekte des Pneumoperitoneums sind durch niedrige Insufflationsdrucke bis maximal 8– 10 mmHg zu minimieren. Für diesen Druckbereich ist bei Kleinkindern mit kurzdauernden Eingriffen keine relevante Änderung der Herzfrequenz, des Blutdruckprofils, der arteriellen O2-Sättigung und des Basenexzess zu erwarten. Bei minimalinvasiven Eingriffen mit einer Dauer von mehr als 2 h und bei allen Neugeboreneneingriffen kann es zu einem Abfall des zirkulierenden Blutvolumen mit Abfall der zentralvenösen Sauerstoffsättigung und konsekutiver metabolischer Azidose kommen (Osthaus et al. 2006). Zur Prävention und zur Plasmastabilisierung ist in diesen Fällen die Gabe kolloidaler gegenüber kristalloiden Volumenersatzflüssigkeiten vorzuziehen. ! Cave Grundsätzlich ist eine frühzeitige Optimierung des Volumenstatus zur Vermeidung einer postoperativer Hypovolämie und Azidose anzustreben.
13.2.2
Respiratorische Effekte und Gasaustausch
Bei Neugeborenen und Kleinkindern sind im Vergleich zu älteren Kindern und Erwachsenen der Sauerstoffbedarf, die Minutenventilation und der Atemwegswiderstand erhöht. Die funktionelle Residualkapazität ist erniedrigt. Veränderungen der Atemfunktion während der Laparoskopie sind
. Tab. 13.1. Kardiozirkulatorische Effekte des CO2-Pneumoperitoneum: Beim Neugeborenen und Kleinkind ist der Anstieg des zentralvenösen Drucks nicht als Zunahme der kardialen Vorlast zu interpretieren. Er ist unmittelbare Folge der intraabdominellen Druckerhöhung (IAP) und führt zum Abfall des Herz-Zeit-Volumens. Als Konsequenz ist beim Kleinkind ein niedriger Insufflationsdruck zu wählen Makrohämodynamische Effekte des CO2-Pneumoperitoneum
Erwachsener
Neugeborenes und Kleinkind (bzw. vergleichbares Tiermodell)
Unterer Hohlvenendruck (IVCP)
Linearer Anstieg
Linearer Anstieg
Oberer Hohlvenendruck (SVCP)
Anstieg mit Zunahme der Vorlast
Anstieg mit Zunahme des IVCP (IAP)
Herz-Zeit-Volumen (HZV)
Anstieg
Initialer Anstieg, dann Abfall
Beatmungsdruck (PAP)
Unverändert
Linearer Anstieg
Mittlerer arterieller Druck (MAD)
Anstieg
Unverändert
Urinproduktion
Leicht vermindert
Drastisch vermindert
121 13.2 · Pathophysiologische Besonderheiten der laparoskopischen Kinderchirurgie
bedingt durch die intraabdominelle Druckerhöhung und die Resorption von CO2. Eine Kopftieflagerung vermindert die Lungencompliance um ca. 20%, ein zusätzliches Pneumoperitoneum um weitere 30–50% (Bannister et al. 2003). Insbesondere bei kleinen Kindern kommt es zudem zu einer hypermetabolischen Antwort mit einem vermehrten Sauerstoffbedarf. ! Cave Das Pneumoperitoneum führt beim Kleinkind zur Abnahme der funktionellen Residualkapazität mit Zunahme des Sauerstoffverbrauchs, Atemwegswiderstandes und Ventilations-Minuten-Volumens. Die nach thorakal fortgeleitete abdominelle Druckerhöhung verschlechtert das Ventilations-Perfusions-Verhältnis. Deshalb ist frühzeitig eine gegenregulative Hyperventilation vorzunehmen.
Die Insufflation von CO2 hat beim Kind eine Abnahme der funktionellen Residualkapazität (FRC) bei gleichzeitiger Zunahme des Sauerstoffverbrauchs, Atemwegswiderstandes und Ventilations-Minuten-Volumens zu Folge. Die bei Kleinkindern höhere Absorption von CO2 führt dazu, dass bereits 10 min nach Anlage des Pneumoperitoneum 20% des abgeatmeten CO2 aus der Absorption stammen (Pacilli et al. 2006). Darüber hinaus führt die von intraabdominell nach thorakal fortgeleitete Druckerhöhung zu einer Verschlechterung des Ventilations-Perfusions-Verhältnisses mit Eröffnung intrapulmonaler arteriovenöser Shunts. Der hieraus resultierende zusätzliche Sauerstoffbedarf ist umgekehrt proportional zum Alter des Kindes und am ausgeprägtesten bei Neonaten. Anästhesiologischerseits ist deshalb frühzeitig eine gegenregulative Hyperventilation zu empfehlen.
13.2.3
Nierenfunktion
Bei Erwachsenen führt das Pneumoperitoneum zu einer reversiblen Beeinträchtigung der renalen Durchblutung und der glomeruläre Filtrationsrate mit konsekutiver Verminderung der Urinproduktion. Bei Kindern im Alter unter einem Jahr kommt es innerhalb der ersten 45 min regelhaft zur Anurie, bei älteren Kindern zur Oligurie, mit einer kompensatorisch erhöhten Urinproduktion in den ersten 6 h nach dem Einriff (Gomez Dammeier et al. 2005). Hieraus ist abzuleiten, dass die Flüssigkeitsbilanzierung während laparoskopischer Eingriffe nicht anhand der Urinproduktion erfolgen darf und die Gabe von Diuretika zur Stimulierung der Diurese nicht indiziert ist.
13.2.4
Perfusion weiterer Organe
Bei Kindern besteht im Vergleich zu Erwachsenen eine größere peritoneale Absorptionsfläche und ein größerer peritonealer Blutfluss, wodurch es zu einer höheren CO2-Absorption kommt. Auch auf diesem Hintergrund sind zur
Vermeidung einer Hyperkapnie und respiratorischen Azidose bei Kleinkindern frühzeitig die Frequenz und der Druck der Ventilation zu erhöhen, meist um 50–75% im Vergleich zur Ausgangsventilation. Die Erhöhung des endexspiratorisches Druckes unter Beatmung (PEEP) ist nur begrenzt wirksam, da es zu einer Potenzierung der thorakalen Druckerhöhung und einer damit verbundenen Abnahme des Herz-Zeit-Volumens kommen kann. Bei Erwachsenen führt das Pneumoperitoneum zu einer Halbierung der Magenperfusion und einer deutlichen Perfusionsminderung des Dünn- und Dickdarms. Die Splanchnikus- und insbesondere Leberperfusion ist bei Kindern nicht untersucht, so dass die Auswirkungen des Pneumoperitoneums bei Kindern mit portaler Hypertension oder anderen gastrointestinalen Komorbiditäten unklar bleibt. Bei Früh- und Neugeborenen besteht eine besondere Sensitivität hinsichtlich der Regulation des zerebralen Blutflusses bei Veränderungen der arteriellen CO2-Spannung. Ein Pneumoperitoneum geht mit einer anhaltenden Erhöhung des zerebralen Blutvolumens und der Sauerstoffsättigung einher, ohne dass die intrakranielle Compliance und der Druck verändert sind. Auch diesbezüglich bietet sich eine Hyperventilation zur Verminderung des Blutvolumens an. ! Cave Das Schädel-Hirn-Trauma ist eine Kontraindikation für eine Laparoskopie. Die laparoskopische Chirurgie wird von Kindern mit ventrikuloperitonealer Ableitung gut toleriert.
Bei Erwachsenen mit einem Schädel-Hirn-Trauma wurde während der diagnostischen Laparoskopie eine Erhöhung des intrakraniellen Drucks auf das bis zu Siebenfache beobachtet. Das Schädel-Hirn-Trauma ist deshalb eine Kontraindikation für eine diagnostische oder therapeutische Laparoskopie. Auch bei Kindern mit einer ventrikuloperitonealen Ableitung wurden während laparoskopischen Eingriffen intrakranielle Druckerhöhungen bis zu 35 mmHg beobachtet (Uzzo et al. 1997). Trotzdem wird die laparoskopische Chirurgie von Kindern mit ventrikuloperitonealer Ableitung gut toleriert, so dass hier keine Kontraindikation besteht.
13.2.5
Immunologische Effekte der minimalinvasiven Chirurgie
Minimalinvasive Verfahren haben im Vergleich zur konventionellen Chirurgie einen besonderen Einfluss auf die Funktion von immunologisch relevanten Zellpopulationen wie Monozyten-Makrophagen, polymorphnukleäre Leukozyten (PMN) und Lymphozyten. Die spezifischen immunologischen Effekte werden auf das mit minimalinvasiven Verfahren einhergehende geringere Trauma, auf metabolische Phänomene und insbesondere auf das Gas, das für das Pneumoperitoneum eingesetzt wird, zurückgeführt.
13
122
Kapitel 13 · Minimalinvasive Chirurgie
abgesehen von Eingriffen bei Innervationsstörungen des Darms nicht grundsätzlich erforderlich. Routineeingriffe im Bereich des Darms, inneren Genitals oder kleinen Beckens erfordern nur in Ausnahmefällen die Einlage eines Harnblasenkatheters.
13.4
. Abb. 13.1. CO2-assoziierte peritoneale Immunmodulation infolge peritonealer pH-Senkung
In diesem Zusammenhang kommt der lokalen Verminderung des pH-Werts, die mit der Applikation von
13
CO2 einhergeht, eine besondere Bedeutung zu. Einhergehend mit der lokalen Azidifizierung wird die Aktivität von Makrophagen und polymorphnukleären Zellen herabgesetzt, was konsekutiv eine verminderte Freisetzung von freien Sauerstoffradikalen und Zytokinen (. Abb. 13.1) nach sich zieht. Eine klinische Studie belegte zudem, dass die verminderte Zytokinfreisetzung durch lokale Ansäuerung auch ohne Veränderung der Phagozytose von Makrophagen stattfindet (Neuhaus et al. 2001). Ein immunologischer Vorteil bestand auch für die Laparoskopie im Vergleich zur Minilaparotomie mit identischer Inzisionslänge (Jesch et al. 2005). Somit sind die immunologischen Vorteile der minimalinvasiven Chirurgie im Sinne einer günstigen Modulation der Zellantwort nicht nur auf ein vermindertes Trauma, sondern auch auf direkte Effekte des CO2-Pneumoperitoneums zurückzuführen. > Bisher ist nicht belegt, dass die Modulation der Zellantwort durch minimalinvasive Eingriffe einen negativen Effekt bei Kindern mit einer lokalen Infektion oder Sepsis hat.
13.3
Präoperative Vorbereitung
Die Dauer der Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz vor minimalinvasiven Eingriffen entspricht derjenigen konventioneller Operationen. Eine Darmvorbereitung mit peroraler Gabe von Laxanzien oder orthograder Darmspülung ist
Lagerung
Die Lagerung des Patienten erfolgt in Abhängigkeit von seiner Größe und der Art des Eingriffs. Grundsätzlich sollte die Fixierung des Patienten Positionsänderungen des Operationstisches wie eine extreme Seitenlagerung sicher ermöglichen. Eine Unterlagerung ist bei Abdominaleingriffen nicht regelhaft erforderlich. Sie wird in der Laparoskopie lediglich bei der schrägen oder vollständigen Seitenlagerung für Eingriffe an den Nieren oder der Milz empfohlen. Bei abdominellen Eingriffen bei Neugeborenen und Säuglingen ist die Platzierung des Patienten am unteren Ende des Operationstisches in einer »Froschposition« angezeigt. Der Operateur befindet sich bei dieser Lagerung am Fußende des Tisches mit Sicht auf die Monitore an Seiten des Kopfendes. Patienten jenseits des Säuglingsalters, bei denen der Chirurg am unteren Ende des Operationstisches positioniert ist, werden mit gespreizten Beinen gelagert.
13.5
Gerätepositionierung
Minimalinvasive Eingriffe werden grundsätzlich mit 2 Monitoren ausgeführt, um dem Operateur und dem Assistenten beim Einbringen der Trokare und während der Operation eine gleichermaßen entspannte Position zu ermöglichen. Der Monitor befindet sich möglichst frontal vor dem Operateur. Bei Eingriffen, die von seitlich durchgeführt werden, befinden sich die Monitore seitlich, bei Oberbaucheingriffen am oberen (. Abb. 13.2) und bei Unterbaucheingriffen am unteren Operationstischende.
13.6
Pneumoperitoneum und Trokarintroduktion
Die Anlage des Pneumoperitoneums kann in offener Technik oder blind mithilfe einer Veress-Nadel vorgenommen werden. Beide Techniken sind zulässig, doch ist für die blinde Punktion eine höhere Komplikationsrate mit Verletzungen abdomineller Organe und Gefäße beschrieben. Stets erfolgt die Introduktion des ersten Trokars im Nabelbereich, meist infraumbilikal nach bogenförmiger Hauteröffnung. Die offene Introduktion des ersten Trokars erfolgt »unter Sicht«, wobei schrittweise mit Zuhilfenahme von Klemmen die Faszie und das Peritoneum eröffnet werden. Nach Vorlage einer Tabaksbeutelnaht in die Faszie unter
123 13.8 · Laparoskopische Kinderchirurgie: Indikationen und Eingriffe
. Abb. 13.3. Beschreibung (optional): Durch gekürzte 18 Ch. bzw. 27 Ch. Silikonhülse, die über gewindelose wieder verwendbare Trokare geschoben werden, kann die Fixation der Trokare an der Bauchwandfaszie mittels Naht erfolgen. Die Tokarjustierung bleibt dabei erhalten
. Abb. 13.2. Beschreibung (optional): Ergonomisch optimale Anordnung des Operationsteams bei Oberbaucheingriffen des Neugeborenen: der Operateur steht am Fußende des Operationstisches. O = Operateur; A1 = 1. Assistent; A2 = 2. Assistent; S = instrumentierende OP-Schwester; N = Anästhesist
Mitnahme des Peritoneums wird der Kameratrokar eingebracht und fixiert. Bei der geschlossenen Methode wird eine Veress-Nadel »blind« in die Abdominalhöhle eingebracht, wobei gleichzeitig die Bauchdecke manuell angehoben werden kann. Vor Anlage des Pneumoperitoneums erfolgt die Prüfung der korrekten Lage durch Nachweis des ungehinderten Abflusses von physiologischer Kochsalzlösung in die Abdominalhöhle über die liegende Veress-Nadel und den Aspirationstest zum Ausschluss eines Paravasats in der Bauchdecke (Najmaldin u. Grousseau 1999). Nach Anlage des CO2-Pneumoperitoneums werden die Arbeitstrokare unter videoskopischer Sicht eingebracht. Zur Fixation der Trokare an oder in der Bauchdecke können Nahttechniken, Gewinde oder Schraubvorrichtungen verwendet werden. Wir fixieren die Trokare mit einer Naht, die in der Bauchwand und einer um den Trokar liegenden Plastikhülse verankert ist. Besonders bei Kleinkindern ist aufgrund der elastischen Bauchwand darauf zu achten, dass Trokare nachjustiert werden können (. Abb. 13.3). Beim Einbringen der Arbeitstrokare sind Gefäße der Bauchwand durch Diaphanoskopie zu visualisieren, um deren Verletzung zu vermeiden. Stets erfolgt das Einbringen nach vorheriger Stichinzision unter videoskopischer Sicht. Die Introduktion von Instrumenten kann auch ohne Arbeitstrokar erfolgen, wenn ein häufiger Instrumentenwechsel nicht vorgesehen ist. Ein einheitlich optimaler Winkel der Optik besteht nicht. Unserer Erfahrung nach ist die 30°-Winkeloptik im Gegensatz zur 0°-Geradeausoptik insbesondere bei kleinen Arbeitsräumen vorteilhaft, da sie einen zusätzlichen Abstand von den Arbeitsinstrumenten und durch Rotation eine seitliche Einstellung ermöglicht. Die optimale Instru-
mentengröße beträgt in der Kinderchirurgie 3–3,5 mm und ist auch bei älteren Kindern gut einsetzbar. Insbesondere bei Säuglingen können laparoskopische Operationen mit 2mm Instrumenten durchgeführt werden.
13.7
Ergonomie
Die Fixierung der Trokare an der Bauchwand und das zweidimensional ausgerichtete Instrumentarium führen zu einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit und erschweren den adäquaten Umgang mit dem Gewebe. Ein wesentliches Prinzip einer ergonomisch gut durchgeführten minimalinvasiven Operation besteht darin, den Nachteil der Zweidimensionalität der Videoskopie durch eine optimale Sichteinstellung zu verbessern. Die Trokarplatzierung muss zudem einen ergonomisch günstigen Arbeitsraum sichern. Sie erfolgt deshalb in Dreiecksform optimalerweise mit einem Arbeitswinkel von etwa 90° (. Abb. 13.4), zumindest von 60°. Grundsätzlich sind vom Operateur eine optimale Höheneinstellung des Operationsfeldes und eine entspannte Körperhaltung anzustreben. Die Haltung des Operateurs sollte aufrecht stehend mit entspannt angewinkelten Armen sein. Untersuchungen haben zeigen können, dass operative Abläufe durch eine fixierende Unterstützung der Schulter- und Ellenbogengelenke weniger ermüdend und präziser durchgeführt werden können.
13.8
Laparoskopische Kinderchirurgie: Indikationen und Eingriffe
In kinderchirurgischen Zentren kann der überwiegende Anteil abdomineller und retroperitonealer Eingriffe heute minimalinvasiv durchgeführt werden. Das Spektrum laparoskopischer Eingriffe umfasst diagnostische, bioptische,
13
124
Kapitel 13 · Minimalinvasive Chirurgie
. Abb. 13.4. Ergonomisch optimale abdominelle 90°-Trokaranordnung
rekonstruktive und resezierende Eingriffe bei benignen und malignen Erkrankungen. Ein Konsens hinsichtlich der Akzeptanz einzelner minimalinvasiver Operationsverfahren besteht in der Kinderchirurgie noch nicht, doch sind in zahlreichen Zentren die in Tabelle (. Tab. 13.2) aufgeführten Indikationen etabliert und die Eingriffe weitgehend standardisiert. Für die in Tabelle (. Tab. 13.3) aufgeführten Eingriffe gilt eine belegte Machbarkeit, ohne dass Erfahrungen an größeren Patientenserien bestehen. Für einige in . Tab. 13.4 aufgeführten Eingriffe sind im Rahmen randomisierter Studien Vorteile belegt. Für
den laparoskopischen Leistenhernienverschluss ist festzustellen, dass möglicherweise ein Nachteil im Sinne einer höheren Rezidivrate besteht. Die Angaben sind widersprüchlich, so dass eine generelle Empfehlung zum laparoskopischen Leistenhernienverschluss noch nicht gegeben werden kann. Eindeutiger Vorteil der Laparoskopie ist die gleichzeitige Beurteilung der kontralateralen Leistenregion mit der Möglichkeit des simultanen Verschlusses, wobei die Unterscheidung von einem asymptomatischen offenen Processus vaginalis peritonei schwierig sein kann.
. Tab. 13.2. An zahlreichen Kliniken etablierte Indikationen und Techniken der laparoskopischen Kinderchirurgie
13
Organ
Indikation
Eingriff
Magen/Ösophagus
Gastroösophagealer Reflux Achalasie Pylorushypertrophie Ernährungsprobleme
Fundoplikatio Kardiomyotomie/Fundoplikatio Pyloromyotomie Gastrostomie
Zwerchfell
Morgagni-Hernie
Zwerchfellhernienverschluss
Leber/Gallenwege
Cholezystolithiasis Leberzysten Benigne Lebertumore Unklare Lebertumore
Cholezystektomie Zystenentdeckelung Atypische Leberresektion Biopsie/Staging
Milz
Hämolytische Anämie u. a. Milzzyste
Splenektomie Zystenentdeckelung*
Genitale/Harnwege
Bauchhoden Ovarialzysten/-tumoren Varikozele Funktionslose Niere/-Nierenpol Ureterabgangsstenose Urachuszyste Peritonealdialysekatheter Ventrikuloperitonealer Shunt
Fowler-Stephens-Operation I + II Resektion Varikozelenligatur (Hemi-)Nephro-Ureterektomie Pyeloplastik Urachusresektion Implantation/Revision Implantation/Revision
Bauchwand/Inguinalregion
Bauchwandhernie Leistenhernie
Hernienverschluss Leistenhernienverschluss**
*eventuell hohe Rezidivrate (Schier et al. 2006) **eventuell höhere Rezidivrate gegenüber konventionellem Hernienverschluss (Schier et al. 2007)
125 13.10 · Thorakoskopische Kinderchirurgie: Indikationen und Eingriffe
heit und Durchführbarkeit der minimalinvasiven Folgeoperation. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Erstoperation nimmt darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit der Konversion ab, wobei überwiegend unübersichtliche intraabdominelle Verhältnisse zur Konversion führen.
. Tab. 13.3. Indikationen und Techniken der laparoskopischen Kinderchirurgie mit belegter Sicherheit und Durchführbarkeit ohne Erfahrungen an größeren Patientenserien Organ
Indikation
Eingriff
Ösophagus
Langstreckige Ösophagusatresie
Laparoskopisch assistierter Magenhochzug
Zwerchfell
Bochdalek-Hernie
Zwerchfellhernienverschluss
Leber/ Gallenwege/Pankreas
Choledochuszyste
Resektion und Hepatikojejunostomie
Lebertumoren
Leberteilresektion
Pankreaspseudozyste
Zystojejunostomie
Pankreastumoren
Partielle Pankreatektomie
Vesikoureteraler Reflux
Transvesikale UreterNeuimplantation
PosttransplantationsLymphozele
Lymphozelenspaltung
Maligne Tumoren
Tumorresektion
Genitale/ Harnwege
Diverse Organe
13.9
> Voroperationen sind keine Kontraindikation für ein minimalinvasives Vorgehen im Abdominal- und Retroperitonealraum.
Die Durchführbarkeit der minimalinvasiven Re-Fundoplikatio gilt als belegt. Die Art der Erstoperation, ob konventionell oder minimalinvasiv, hat keinen Einfluss auf die Durchführbarkeit des laparoskopischen Rezidiveingriffs (Rothenberg 2006). Revisionen bei Leckagen der Gallenund Harnwege oder des Ösophagus sind minimalinvasiv durchführbar, doch liegen diesbezüglich lediglich Einzelberichte vor.
13.10
Laparoskopische Eingriffe nach Voroperationen
Generell gilt, dass Voroperationen keine Kontraindikation für ein minimalinvasives Vorgehen im Abdominal- und Retroperitonealraum darstellen. Zu unterscheiden sind unabhängige Folgeoperationen, beispielsweise eine Appendektomie nach einer Fundoplikatio, Rezidiveingriffe wie eine Re-Fundoplikatio, die eine gleichartige Operation darstellen, und Revisionseingriffe. Laparoskopische Zweiteingriffe sind unabhängig davon ausführbar, ob initial konventionell oder minimalinvasiv vorgegangen wurde (Metzelder et al. 2006). Zudem haben die Art des Voreingriffs und der Schwierigkeitsgrad der Folgeoperation einen unwesentlichen Einfluss auf die Sicher-
Thorakoskopische Kinderchirurgie: Indikationen und Eingriffe
Bereits in den 70er-Jahren wurden bei Kindern diagnostische und bioptische Thorakoskopien, thorakoskopische Dekortikation und Lungenzystenentdeckelungen vorgenommen. Für die Weiterentwicklung der thorakoskopischen Kinderchirurgie war neben der Entwicklung adäquater Geräte und Instrumente die Einführung von Versiegelungsgeräten wie dem Endo-Ligasure (Tyco Healthcare, USA) essenziell. Heute sind mehr als 20 thorakoskopische Operationsverfahren für Kinder und Jugendliche entwickelt (Engum 2007; Rothenberg 2005; Ure et al. 2005). Die Anordnung der Trokare erfolgt in der Thorakoskopie in Abhängigkeit von der Lokalisation des Operationsgebiets. Meist, aber nicht regelhaft, wird der erste Trokar für die Optik im Bereich der Skapulaspitze eingebracht. Die Introduktionstechnik des Optiktrokars unterscheidet sich von derjenigen der Laparoskopie dadurch, dass nach Inzision der Haut und Spreizen des Introduktionskanals der Trokar bei Atemstillstand mit einer stumpfen Hülse einge-
. Tab. 13.4. Vorteile der laparoskopischen Kinderchirurgie, die anhand einer Auswahl randomisierter kontrollierter Studien belegt sind Autor/Jahr
Prozedur
Vorteil der Laparoskopie
Olmi 2005
Appendektomie (laparoskopisch versus konventionell)
Kürzerer stationärer Aufenthalt, weniger intraoperative Komplikationen
Chan 2005
Leistenhernienverschluss (laparoskopisch versus konventionell)
Geringere postoperative Schmerzen, besseres kosmetisches Ergebnis
Podkamenev 2002
Varikozelenexzision (laparoskopisch versus konventionell)
Geringere postoperative Schmerzen, kürzerer stationärer Aufenthalt
St Peter 2006
Pyloromyotomie (laparoskopisch versus konventionell)
Geringere postoperative Schmerzen, weniger postoperatives Erbrechen
13
126
Kapitel 13 · Minimalinvasive Chirurgie
bracht wird. Die Positionen der Arbeitstrokare sind besonders sorgfältig zu bestimmen, da aufgrund der Rigidität der Thoraxwand eine geringere Flexibilität der Ausrichtung der Instrumente besteht. Das Spektrum der thorakoskopischen Kinderchirurgie umfasst Eingriffe an der Speiseröhre, den Lungen und Bronchien, der Pleura und Thoraxwand sowie die onkologische Chirurgie. In . Tab. 13.5 sind die weitgehend standardisierten und etablierten Eingriffstypen, in . Tab. 13.6 solche, für die eine ausreichende Sicherheit und Durchführbarkeit belegt, jedoch nicht an größeren Patienten-
. Tab. 13.5. An zahlreichen Kliniken etablierte Indikationen und Techniken der thorakoskopischen Kinderchirurgie Organ
Indikation
Eingriff
Lunge
Interstitielle Lungenerkrankung
Biopsie/Resektion
Kongenitale Lungenfehlbildung
Biopsie/Resektion Bullaresektion/ Fistelübernähung
Rezidivierender Pneumothorax (Bulla)
Pleurodese
Malignomverdacht
Biopsie
Pleuraempyem
Empyemausräumung
Pleuraschwarte
Dekortikation/Pleurodese Pleurektomie
Nervensystem
Hyperhydrosis
Partielle Sympathektomie
Mediastinum
Malignomverdacht
Biopsie
Ösophagus
Ösophagusatresie
Fistelverschluss/Ösophagusanastomose
Andere
Branchiogene Zyste
Resektion
Duplikatur
Resektion
Pleura
13
. Tab. 13.6. Indikationen und Techniken der thorakoskopischen Kinderchirurgie mit belegter Sicherheit und Durchführbarkeit ohne Erfahrungen an größeren Patientenserien Organ
Indikation
Eingriff
Trachea/Aorta
Tracheomalazie
Aortosternopexie
Lunge
Metastasenverdacht
Metastasenresektion
Zwerchfell
Kongenitale Zwerchfellhernie Relaxatio diaphragmatica
Zwerchfellhernienverschluss Zwerchfellraffung
Nervensystem
Neuroblastom
Resektion
Diverse Organe
Maligne Tumoren
Tumorresektion
serien untersucht ist, aufgeführt. Der Insufflationsdruck zur Schaffung des Arbeitsraums kann insbesondere bei älteren Kindern bis 8 mmHg betragen und ist der jeweiligen Herz-Kreislauf- und Beatmungssituation anzupassen.
13.11
Minimalinvasive Eingriffe bei Malignomen
Obwohl in derzeitigen Studienprotokollen der deutschsprachigen onkologischen Arbeitsgemeinschaften und der SIOP minimalinvasive Techniken noch nicht berücksichtigt sind, kommen sie in den letzten Jahren zunehmend zur Biopsie und Resektion maligner Tumoren bei Kindern zur Anwendung (Holcomb 1995; Metzelder et al. 2007). Das Spektrum der operierten Tumoren umfasst sämtliche abdominellen, retroperitonealen und thorakale Tumorarten des Kindes wie das Neuroblastom, Hepatoblastom,
Rhabdomyosarkom, Teratom, Lymphom und zahlreiche andere (Iwanaka et al. 2004; Spurbeck et al. 2004). Bedenken wurden für die minimalinvasive Resektion des Nephroblastoms geäußert, da die Tumorruptur potenziell zu einer Verschlechterung der Prognose führt (Leclair et al. 2007). Wir empfehlen grundsätzlich, dass die Entscheidung zur minimalinvasiven Biopsie oder Entfernung maligner Tumoren von einem interdisziplinären Gremium, bestehend aus Pädiatern, Radiologen und Kinderchirurgen getroffen wird. Biopsien maligner Tumoren gelten mit einer Konversionsrate von unter 5% als ausgezeichnet durchführbar (Metzelder et al. 2007). Die diagnostische Sicherheit beträgt nahezu 100%, ohne dass Berichte über relevante Komplikationen oder Trokarmetastasen vorliegen (Iwanaka et al. 2004; Spurbeck et al. 2004). > Die minimalinvasive Tumorbiopsie kann als Routineverfahren bezeichnet werden.
Erfahrungen mit der Resektion maligner kindlicher Tumoren sind limitiert. Dies ist darin begründet, dass die Ausdehnung und Lokalisation der Tumoren ein minimalinvasives Vorgehen häufig nicht zulässt. Unter Berücksichtigung einer hohen Konversionsrate sind schlussendlich lediglich 15% der Tumoren minimalinvasiv resezierbar (Metzelder et al. 2007), wobei Konversionen meist durch eine mangelnde Übersicht oder Blutungen aus zuführenden Gefäßen bedingt sind (Iwanaka et al. 2004). Das Neuroblastom ist heute der am häufigsten minimalinvasiv resezierte kindliche Tumor (de Lagausie et al. 2003; Metzelder et al. 2007; Spurbeck et al. 2004). Die publizierten Serien umfassen bislang jeweils weniger als 10 Patienten. Die Machbarkeit der Resektion von Tumoren der Leber, des Pankreas oder der Niere wurde an einzelnen Patienten belegt und bleibt weiterhin an Serien zu prüfen. Abdominelle und retroperitoneale Tumoren werden vorzugsweise über einen transperitonealen Zugang ange-
127 13.11 · Minimalinvasive Eingriffe bei Malignomen
gangen, doch wird von einigen Autoren insbesondere für linksseitige retroperitoneale Veränderungen der retroperitoneale Zugang favorisiert (Steyaert et al. 2003). Ein weiterer technischer Aspekt ist die Anwendung eines Niederdruck-Pneumoperitoneums, um die Integrität des Peritoneums zu erhalten und einer Tumorzellmigration vorzubeugen. Ungeklärt ist, inwiefern das CO2-Pneumoperitoneum das Verhalten von Tumorzellen direkt beeinflusst und durch die Alteration der lokalen und systemischen Immunantwort eine Tumoraussaat begünstigt. Ein direkter günstiger Einfluss von CO2 auf das Verhalten unterschiedlicher kindlicher Tumorzellen im Sinne Verminderung der Proliferation ist in vitro belegt. Trokarmetastasen sind lediglich nach thorakoskopischer Resektion von Lungenmetastasen des Osteosarkoms berichtet, so dass sich dieser Eingriff verbietet. In einem Survey der Japanischen Gesellschaft für Kinderchirurgie (Iwanaka et al. 2003) wurde eine Tumoraussaat nach Biopsien und Resektionen des Neuroblastoms, Hepatoblastoms, Nephroblastoms und anderer Tumoren nicht festgestellt.
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13
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14
14 Verbrennungen und Verbrühungen C. Schiestl, M. Meuli 14.1
Epidemiologie – 129
14.5
Chirurgische Therapie – 134
14.2
Grundlagen – 129
14.5.1 14.5.2
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4
Anatomie und der Haut – 129 Verbrennungstiefe – 130 Verbrennungsausdehnung – 131 Pathophysiologie der Verbrennung
Grundlagen – 134 Leichte und mittelschwere Verbrennungen und Verbrühungen (1–20% KOF) – 134 Schwere und massive Verbrennungen und Verbrühungen (21–100% KOF) – 134 Infektionsprophylaxe in der Verbrennungschirurgie – 136
14.3
Erstversorgung – 131
14.3.1 14.3.2 14.3.3
Unfallort – 131 Erstversorgende Klinik – 131 Initialbehandlung im Zentrum
14.5.3 – 131
– 132
14.4
Intensivmedizinische Therapie – 132
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
Flüssigkeitstherapie – 132 Beatmung – 133 Ernährung – 133 Schmerztherapie – 134
> Kinder erleiden häufig Verbrennungen und Verbrühungen. Leider sind diese oft großflächig und tiefgradig und sie betreffen nicht selten auch das Gesicht, Hals und die Hände. Mehrere Operationen, eine lange Hospitalisation und eine jahrelange Rehabilitation sind die Folge. Funktionell und kosmetisch störende Narben machen spätere rekonstruktive Eingriffe nötig und können doch nie ganz zum Verschwinden gebracht werden. Eine optimale und ganzheitliche (d. h. explizit auch psychosoziale!) Behandlung ist ebenso vielschichtig wie anspruchsvoll und erfordert ein Team sowie eine spezifische apparative und infrastrukturelle Ausrüstung in einer kindgerechten Umgebung: Idealerweise ein Zentrum für brandverletzte Kinder, dessen Spezialisten die Patienten vom Unfalltag bis zum Abschluss aller Behandlungen kontinuierlich betreut.
14.1
Epidemiologie
Für Europa treffen folgende Aussagen zur Epidemiologie von thermischen Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen zu (Bassey et al. 2006; Langer et al. 2006): 4 50–60% aller Menschen, die eine stationäre Behandlung wegen einer thermischen Verletzung benötigen, sind jünger als 16 Jahre. 4 60–70% aller Kinder und Jugendlichen (bis 16 Jahre) sind zum Zeitpunkt des Unfalles 0–4 Jahre alt und er-
14.5.4
14.6
Kindsmisshandlung
– 137
14.7
Rehabilitation
14.8
Rekonstruktive Chirurgie – 137
14.9
Das Team
– 137
– 137
Literatur – 137
leiden zu 90% ein Verbrühungstrauma. In dieser Patientengruppe ist die Anzahl an Kindsmisshandlungen am größten. 4 Stehen in der frühen Kindheit häusliche Unfälle mit heißen Flüssigkeiten im Vordergrund, so sind es bei älteren Kindern und Jugendlichen Freizeitunfälle, bedingt durch den natürlichen Spiel- und Experimentiertrieb. Eine Flammenverletzung ist hier die Regel. 4 Eine Besonderheit bei Kleinkindern stellt die Kontaktverbrennung der Hände dar.
14.2
Grundlagen
14.2.1
Anatomie und der Haut
Die Haut besteht mit Epidermis und Dermis aus 2 Schichten. Ein mehrschichtiges Plattenepithel aus Keratinozyten bildet die nicht-vaskularisierte Epidermis. Die Basalmembran trennt die Epidermis von der Dermis. Auf der Baselmembran befinden sich die epidermalen Stammzellen. Die Regenerationsfähigkeit der Epidermis nach einem Thermotrauma hängt vom Vorhandensein einer suffizienten Zahl intakter Stammzellen ab. Epidermis und Dermis sind durch sog. Reteleisten zapfenförmig ineinander verhakt. Die Dermis besteht aus einem azellulären Grundgerüst, der extrazellulären Matrix (verschiedene Kollagen-
130
Kapitel 14 · Verbrennungen und Verbrühungen
typen, Glykosaminoglykane u. a. m.), in der sich die dermalen Fibroblasten befinden, die den Auf- und Abbau der extrazellulären Matrix im Wesentlichen bewirtschaften. Die Dermis besteht aus 2 Schichten, dem Stratum papillare und dem Stratum reticulare. In der Dermis befinden sich die tiefen Anteile von Hautanhangsgebilden, namentlich der Haarfollikel, Schweiß- und Talgdrüsen. Ebenso ist die Dermis Sitz der sensorischen Nervenfasern der Haut (Schmerz-, Tast-, Druck- und Temperaturempfindung). Die Dermis enthält das gesamte Blutgefässnetz der Haut. Unterhalb der Dermis liegt das subkutane Fettgewebe.
14.2.2
Verbrennungstiefe
Diese wird im Allgemeinen in die Grade 1, 2a, 2b und 3 unterteilt. Eine Verbrennung Grad entspricht einem Sonnenbrand, es handelt sich um eine Hyperämie der Haut ohne Blasenbildung. ! Cave Obligatorisch: Verbrennungen Grad 2 und 3 von mehr als 15% Körperoberfläche (. Tab. 14.1) erfordern auf6
grund eines drohenden hypovolämen Schocks eine formelberechnete Flüssigkeitssubstitution. Verbrennungen Grad 1 (Typus »Sonnenbrand«) jeder Ausdehnung bedürfen keiner formellen Flüssigkeitssubstitution.
Die Tiefe einer Verbrennung muss klinisch beurteilt werden. Alle Versuche, mit technischen Hilfsmitteln (z. B. Laser-Doppler) eine zuverlässige und bezüglich der Therapie früh richtungsweisende Diagnostik zu realisieren, haben sich bis heute als nicht praxistauglich erwiesen. Wegen des immer stattfindenden Nachbrennvorgangs kann die Diagnose einer zweitgradig oberflächlichen Läsion nie innerhalb der ersten 72 h definitiv gestellt werden. Die Erfahrung lehrt, dass die Verbrennungstiefe von Unerfahrenen oft unterschätzt und deshalb eine zu günstige Prognose gestellt wird, die es im Nachhinein unter nicht immer optimalen Umständen zu korrigieren gilt. Andererseits erfährt eine bereits initial eindeutig als zweitgradig tiefe oder drittgradige Läsion beurteilte Verbrennung keine wesentliche Veränderung mehr, namentlich nicht in eine günstige Richtung. Somit ist die Indikation zur Hauttransplantation früh zu stellen.
. Tab. 14.1. Klinik, Histologie, Prognose und Therapie der Verbrennungsgrade 2 und 3 Verbrennung Grad 2a (oberflächlich)
Verbrennung Grad 2b (tief)
Verbrennung Grad 3
Klinik
Epidermale Abhebung, die, wenn sie geschlossen bleibt, eine mit Exsudat gefüllte Blase bildet Wundgrund zeigt starke Exsudation, sehr gute Rekapillarisierung (Hyperämie) Sehr starke Schmerzen
Epidermale Abhebung, die, wenn sie geschlossen bleibt eine mit Exsudat gefüllte Blase bildet Wundgrund trocken, keine oder wenig Exsudation, fixiertes Erythem, kaum Rekapillarisierung Geminderte Schmerzempfindung
Grauweiße, trockene, lederartige Läsion Wundgrund ohne Durchblutung Kaum schmerzhaft (cave: bei einem Patienten im Schock kann die Unterscheidung zur unverletzten Haut dem Unerfahrenen Schwierigkeiten bereiten)
Histologie
Die Epidermis ist weitgehend zerstört, jedoch sind große Anteile der Basalmembran noch erhalten. Die epidermalen Stammzellen nahe der Basalmembran sowie epitheliale Stammzellen der Hautanhangsgebilde ermöglichen eine Regeneration der Epidermis vom Wundgrund aus
Die Epidermis ist vollständig, die Dermis ist teilweise so zerstört, dass eine Regeneration der Epidermis vom Wundgrund aus nicht mehr möglich ist. Die Spontanheilung muss deshalb von den Wundrändern her erfolgen
Epidermis und Dermis sind vollständig zerstört. Oft ist auch das subkutane Fettgewebe teilweise betroffen
Prognose
Eine Abheilung ist nach 10–14 Tagen zu erwarten. Keine Narbenbildung, Hypopigmentation über einige Jahre ist die Regel
Eine spontane Abheilung immer mehr als 14 Tage, u. U. Wochen und Monate. Eine schwere Narbenbildung (hypertrophe Narben/Keloide) ist in über 70% der Fälle zu erwarten (Deitch et al. 1983). Gefahr der instabilen Narbe (maligne Entartung!)
Nach 2–3 Wochen kommt es zu einer entzündungsbedingten Abstoßung der Nekrosen (Fremdkörperreaktion!), fast immer Begleitinfekt. Langwierige Heilung nur von Wundrändern her (Wochen bis Monate). Hypertrophe Narben, bzw. Keloide sind die Regel
Therapie
Konservativ
Spalthauttransplantation erforderlich
Spalthauttransplantation immer erforderlich, Dermisersatz (INTEGRA Artificial Skin) sollte immer erwogen werden. Je nach Lokalisation und Größe der Läsion kann auch eine Vollhauttransplantation erfolgen (z. B. Gesicht, Hand)
14
131 14.3 · Erstversorgung
. Tab. 14.2. Anhaltspunkte für die Ausdehnung einer Verbrennung Region
Kind ≤1 Jahr
Kind ≤5 Jahre
Kind ≤14 Jahre
Kopf
20%
16%
14%
Arme
19% (2×9,5)
19% (2×9,5)
19% (2×9,5)
18% (2×9)
Rumpf
32% (4×8)
32% (4×8)
32% (4×8)
36% (4×9)
Beine
28% (4×7)
32% (4×8)
34% (4×8.5)
36% (4×9)
Damm/Genitale
14.2.3
1%
1%
Verbrennungsausdehnung
Die Einführung der »Neuner-Regel« durch Wallace gilt als einer der großen Fortschritte in der Verbrennungsmedizin, da damit eine Grundlage für die systematische Flüssigkeitsbedarfberechung geschaffen wurde. Diese Regel ist erst ab dem 14. Lebensjahr gültig, bei jüngeren Kindern erfolgt die Berechung nach Lund und Browder (. Tab. 14.2). > Für die einfache, schnelle und ausreichend zuverlässige Berechnung der Verbrennungsausdehnung gilt die Regel, dass die Handinnenfläche des verletzten Kindes (Handgelenk bis Fingerspitzen) 1% seiner Körperoberfläche entspricht.
14.2.4
Pathophysiologie der Verbrennung
Eine Verbrennung von >10–15% Körperoberfläche (KOF) hat neben der lokalen Schädigung der Haut (. Tab. 14.3) immer auch eine systemische Auswirkung auf den gesamten Organismus (= sog. Verbrennungskrankheit). In den ersten 48 h steht dabei der Flüssigkeitsverlust durch die Wunden und ins Interstitium (interstitielles Ödem des gesamten Organismus!) im Vordergrund (cave: Hypovolämie/Schock!). Dieser kommt aufgrund der erhöhten Gefäßpermeabilität (Kapillarleck) zustande. In den darauf folgenden 3–5 Tagen wird das Ödem langsam resorbiert. Weitere wichtige Elemente der Verbrennungskrankheit sind Fieber, hyperzirkulatorische Kreislaufverhältnisse, katabole Stoffwechsellage sowie eine lokale wie auch systemische (zelluläre und humorale) Immunsuppression.
14.3
Erstversorgung
14.3.1
Unfallort
Die rasche und korrekte Erstversorgung hat einen großen Einfluss auf die Prognose, stellt aber gleichzeitig eine enorme emotionale Belastung für das gesamte Rettungsteam dar. Die wichtigsten Punkte, die unbedingt berücksichtigt
Erwachsene 9% (1×9)
1%
1%
. Tab. 14.3. Art und Häufigkeit der thermischen Verletzungen im Kindesalter Agens
Temperatur
Häufigkeit im Kindesalter
Flamme/Feuer
1000°C
Ca. 25%
Heiße Flüssigkeit/Wasser
60–100°C
Ca. 65%
Kontaktverbrennungen
250–500°C
Ca. 8%
Elektrischer Strom (>3000 Volt)
Lichtbogen 1000°C
Ca. 1%
Chemikalien
Ca. 0,5%
werden müssen, sind in . Tab. 14.4 aufgelistet. Die Unterkühlung und die Verabreichung von zuviel Volumen am Unfallort, während des Transportes und im erstversorgenden Krankenhaus stellten in den letzten Jahren in unserem Zentrum die häufigsten und schwerwiegendsten iatrogenen Probleme dar (Lönnecker u. Schoder 2001; Trop u. Schiestl 2008). ! Cave Nach großflächiger Kühlung erfolgt Temperaturmonitoring am Unfallort und während des Transportes. Temperaturen unter 35° erfordern zwingend Gegenmaßnahmen (Trop u. Schiestl 2008).
14.3.2
Erstversorgende Klinik
Das Notfallteam der erstversorgenden Klinik entscheidet, ob das Kind in ein spezialisiertes Zentrum verlegt werden muss. Ist dies der Fall, muss unverzüglich mit dem nächsten Zentrum Kontakt aufgenommen werden, während gleichzeitig die Überwachung der Vitalparameter (cave Kerntemperatur!) installiert und ggf. eine Stabilisation der Vitalfunktionen vorgenommen wird. Wird das Kind in der erstversorgenden Klinik weiter behandelt, so gilt die gleiche Vorgehensweise wie im Zentrum.
14
132
Kapitel 14 · Verbrennungen und Verbrühungen
. Tab. 14.4. Rettung und Erstversorgung am Unfallort Unterbrechung der Hitzeeinwirkung und Entfernen der Gefahrenquelle
4 Verbrühungen: Kühlung durch die Kleidung hindurch, dann erst nasse Kleidung entfernen (Zeitgewinn entscheidend) 4 Flammenverbrennung: Flammen löschen oder ersticken, Patienten aus Gefahrenbereich entfernen
Kühlen
4 4 4 4
Venöser Zugang
Zugänge im verbrannten Gebiet immer erlaubt, bei Kindern großzügig intraossären Zugang legen
Schmerztherapie
Pethidin, Piritramid (Trop u. Schiestl 2008)
Berechung der Ausdehnung
Handfläche des Kindes = 1% KOF
Volumensubstitution
Initialer Bolus von 10 ml/kg KG und dann 10–15 ml/kg KG in der folgenden Stunde (24)
Bedeckung der Wunden
Sauberes Baumwolltuch ist ausreichend und wärmt (7 s. oben, »Kühlen«)
Einweisung in ein Zentrum
7 Kap. 14.3.3
Wassertemperatur: 20–25°C ist ausreichend Maximale Kühlungsdauer : 10–15 min Große Läsion: Dusche oder Badewanne Kleine Läsion: Wasserhahn oder feuchte Tücher
Übersicht Kriterien zur Verlegung in ein spezialisiertes Zentrum* 4 Alle Patienten mit Verbrennungen an Gesicht/Hals, Händen, Füßen, Anogenitalregion, Achselhöhlen, großen Gelenken oder sonstiger »komplizierter« Lokalisation, v. a. zirkuläre Läsionen 4 Patienten mit mehr als 15% zweitgradig verbrannter KOF 4 Patienten mit mehr als 10% drittgradig verbrannter KOF 4 Patienten mit relevanten Begleitverletzungen 4 Alle Patienten mit Inhalationstrauma 4 Patienten mit Vorerkrankungen oder Alter unter 8 Jahren (bzw. über 60 Jahren) 4 Patienten mit Elektrotrauma 4 Verdacht auf Kindsmisshandlung
14
*gemäß Deutsche Gesellschaft für Verbrennungsmedizin und American Burn Association
14.3.3
Initialbehandlung im Zentrum
Die Versorgung im Zentrum durch ein Team aus Chirurgie, Anästhesie und pädiatrischer Intensivmedizin beginnt mit der Sicherung der Vitalfunktionen und dem Ausschluss von Begleitverletzungen. Das Monotoring der Kerntemperatur während der gesamten Versorgung ist unabdingbar. Der Aufnahmeraum und der Operationssaal müssen geheizt sein, Maßnahmen wie z. B. warme Decken, Wärmedächer oder gewärmte Desinfektionsflüssigkeiten sind obligat. Nach Installation des Monitorings und Bestimmung der initialen Blutparameter erfolgt die Desinfektion und
das Débridement der Brandwunden = Entfernen aller Blasen) und ggf. eine Escharotomie bei zirkulären Läsionen mit vorhandener oder in den nächsten Zeit (Ödemphase der ersten 24–36 h mit einbeziehen!!) zu erwartender Perfusionseinschränkung (. Tab. 14.5). Im Zweifelsfall muss die Escharotomie gemacht werden (. Abb. 14.3). > Schnitttiefe und Schnittlänge überall bis ins gesunde Gewebe (Burd et al. 2006; Pruitt et al. 1968; Saffle 2001).
Ausdehnung und Tiefe werden exakt dokumentiert (Zeichnung/Foto). Nach erneuter Desinfektion werden saugfähige, voluminöse und lockere Verbände mit in der Regel silberhaltigen Salben angelegt. Die Lagerung hat das Ziel, die Durchblutung der betroffenen Körperteile nicht zu beinträchtigen, die Ödembildung zu minimieren, Kontrakturen vorzubeugen und Druckstellen zu vermeiden. Abschließend erfolgt die Information des Pflegeteams und der Eltern.
14.4
Intensivmedizinische Therapie
14.4.1
Flüssigkeitstherapie
Ziel der Flüssigkeitstherapie ist es, die mit der Ausdehnung der Verbrennung direkt proportional zunehmende Flüssigkeits- (4–6 ml/%KOF/kg KG 1.Tag und 1–3 ml am 2. Tag), Eiweiß- (v. a. Albumin) und Elektrolytverluste (v. a. Na+) auszugleichen. Angestrebt werden eine Normovolämie, eine Homöostase der wichtigsten Serumparameter und eine Urinausscheidung von mindestens 1 ml/kg KG/h. Eine formelgestützte Substitution ist ab 10–15% KOF indiziert. Es existieren mehrere Formeln mit jeweils formelspezifischen Vor- und Nachteilen, auf die nicht speziell eingegangen wird. In unserem Zentrum verwenden wir seit über 20 Jahren die von Monafo (Monafo et al. 1973) entwickelte hypertone Elektrolytlösung (HEL).
133 14.4 · Intensivmedizinische Therapie
. Tab. 14.5. Behandlungsschema: Verbrühungen und Verbrennungen ( = situativ, S = obligat) Leichte Verletzung 1–9% KOF*
Mittlere Verletzung 10–20% KOF*
Schwere Verletzung 21–60% KOF*
Massive Verletzung 61–100% KOF*
Cave
S
S
S
S
Escharotomie notwendig? Rasur notwendig? Tetanusschutz notwendig?
Zentraler Venenkatheter
S
S
Evt. doppellumiger Katheter Evt. silberbeschichteter Katheter
Blasenkatheter
S
S
Obligat bei Beteiligung der Anogenitalregion
Formelgestützte Flüssigkeitssubstitution
S
S
S
Zum Beispiel hypertone Elektrolytlösung (erste 24 h 4 ml/% KOF/kg KG; zweite 24 h 2 ml/% KOF/kg KG
Eiweißsubstitution
S
S
Nur bei Hypoproteinämie Beginn 24 h nach der Verbrennung
Magensonde
S
S
Ab 20% KOF zusätzlich Jejunalsonde
Ulkusprophylaxe
S
S
Sulgrafat via Magensonde
Hyperkalorische Ernährung
S
S
Immer über Jejunalsonde
Teilweise parenterale Ernährung
S
Initiales Débridement in Narkose
Antibiotikaprophlaxe
Übersicht Hypertone Elektrolytlösung (nach Monafo) 4 Zusammensetzung – Na: 268 mmol/l – K: 4 mmol/l – Cl: 218 mmol/l – Bikarbonat: 54 mmol/l 4 Dosierung – 1. Tag : 4 ml/kg KG/% verbrannte KOF – 2. Tag : 2 ml/kg KG/% verbrannte KOF – 3. Tag: Stop
Mit einer Eiweißsubstitution (Albumin) soll erst 24–48 h nach der Verbrennung begonnen werden, da vorher die Albuminmoleküle wegen des Kapillarlecks umgehend ins Interstitium gelangen und dort kontraproduktiv wirken (Ödem!).
14.4.2
Beatmung
Harte Indikationen für eine initiale Intubation und Beatmung sind ein schweres Inhalationstrauma, eine schwellungsbedingte Obstruktion des Larynx und der oberen Luftwege sowie eine respiratorische Insuffizienz jeder anderen Ursache (z. B. im Rahmen eines Polytraumas). Eine
Nur bei Infektabwehrstörung
schwere Verbrennung per se ohne respiratorische Beeinträchtigung stellt keine Indikation dar. Ebenso sollte die Indikation zur Intubation »für den Transport« mit äußerster Zurückhaltung gestellt werden. Im Rahmen der intensivmedizinischen Behandlung muss prinzipiell alles daran gesetzt werden, längere Phasen künstlicher Beatmung zu vermeiden. > Escharotomie bei zirkulären Verbrennungen des Halses und vor allem des Rumpfes ist bei respiratorischer Kompromittierung zwingend (. Abb. 14.3)!
Inhalationstrauma. Das schwere Inhalationstrauma ist bei Kindern selten und kommt praktisch nur dann vor, wenn das Kind über längere Zeit Rauch in einem abgeschlossenen Raum (klassisch: Hausbrand) eingeatmet hat. Klinisch finden sich Rauchpartikel im Bereich der Gesichtshaut, in Mund und Nase, evtl. eine Verbrennung im Bereich des Kopfes mit versengten Vibrissen, Brauen, Wimpern und Kopfhaaren. Der Nachweis einer Met-Hb-Erhöhung im Serum ist beweisend für ein Inhalationstrauma. Therapie der Wahl ist die sofortige Intubation und Beatmung mit 100% Sauerstoff.
14.4.3
Ernährung
Kinder mit kleinen Verbrennungen/Verbrühungen werden ausschließlich peroral (ggf. Sondierung über Magensonde) ernährt, bei Säuglingen kann die Mutter weiterhin stillen.
14
134
Kapitel 14 · Verbrennungen und Verbrühungen
Eine Indikation zu formeller hyperkalorischer Ernährung (bei >60% KOF auch in Form einer parenteralen Zusatzernährung) besteht bei Läsionen >20% KOF. Zur Berechnung des Kalorienbedarfs verwenden wir die HildrethFormel (Hildreth et al. 1989, 1993): 4 <12 Jahre 1800 kcal/m2 KOF plus 1300 kcal/m2 verbrannter KOF 4 <12 Jahre 1500 kcal/m2 KOF plus 1500 kcal/m2 verbrannter KOF ! Cave Die perorale/enterale Ernährung (ggf. Magen- oder Jejunalsonde) muss auch bei schweren Verbrennungen unverzüglich begonnen werden, um einem paralytischen Ileus zuvorzukommen. Gelegentliches Erbrechen ist dabei häufig und kein Grund, die perorale/enterale Ernährung abzubrechen.
14.5.2
Grundsätzlich werden zweitgradige tiefe und drittgradige Läsionen bis 20% KOF (= zahlenmäßig größte Gruppe der chirurgisch zu behandelnden Patienten) tangential nekrosektomiert und in der gleichen Sitzung mit ungemeshter autologer Spalthaut gedeckt (. Abb. 14.2; Schiestl 2007). Die Entnahmestelle der ersten Wahl ist dabei der Skalp (. Abb. 14.1; Klöti u. Pochon 1981; de Viragh et al. 1995). Die angeschnittenen Haarschäfte beschleunigen die Wundheilung, die Haare wachsen schnell nach und machen die Entnahmestelle (im Gegensatz zu jeder anderen Spenderzone!) unsichtbar. Außerdem kommt es hier nie zu Narbenbildung.
14.5.3 14.4.4
Schmerztherapie
Ein Nalbuphin-Dauertropf und eine Basismedikation mit Paracetamol haben sich sehr gut bewährt. Wichtig und ausgesprochen effizient sind außerdem sog. »standing orders«. Diese erlauben es den Pflegenden, nach Evaluation der Schmerzen (Schmerzindex!) selbst ein Schmerzmittel zu verabreichen oder eine bestehende Dosierung zu erhöhen.
14
14.5
Chirurgische Therapie
14.5.1
Grundlagen
Prinzipiell werden tiefe zweitgradige und drittgradige Läsionen chirurgisch behandelt. Die Standardmethode ist die Nekrosektomie und Deckung mit autologer Spalthaut (Deitch et al. 1983) Seit den grundlegenden Arbeiten von Janzekovic (1970) und des Jackson (1972) ist die Frühnekrosektomie (innerhalb der ersten 3–5 Tage nach Unfall) in der Verbrennungschirurgie Standard. Bei Verbrühungen allerdings kann die Tiefe einer Läsion gelegentlich erst zwischen dem 8. und 12. Tag eindeutig beurteilt werden (Nachbrennvorgang! Landkartenmuster der Läsion mit »fließenden« Übergängen!). Bei sehr ausgedehnten/tiefen Läsionen und bei gewissen Lokalisationen kommen besondere Techniken (s. unten), Hautkulturen und biosynthetische Produkte wie INTEGRA Artificial Skin (Burke et al. 1981) oder Matriderm (van Zuijlen et al. 2001) zum Einsatz.
Leichte und mittelschwere Verbrennungen und Verbrühungen (1–20% KOF)
Schwere und massive Verbrennungen und Verbrühungen (21–100% KOF)
Diese großflächigen Läsionen gehören zu den anspruchsvollsten chirurgischen Herausforderungen überhaupt (. Abb. 14.3). Sie erfordern wegen der mehreren bis vielen nötigen Operationen (80% KOF Grad 3 → 30–40 Operationen/Verbandswechsel/Interventionen in Narkose innerhalb von 2–3 Monaten), wegen der systemischen Auswirkungen und der damit verbundenen potenziellen Lebensgefahr und auch auf Grund logistischer Gesichtspunkte einen im Voraus und mit allen Beteiligten zusammen detailliert orchestrierten »Masterplan« (Tagesziele/Wochenziele/Monatsziele). Dieser muss auch die immer möglichen komplikativen Entwicklungen wie Sepsis, Wundinfekt, ThierschVerluste, vorübergehende Inoperabilität, (Multi-)Organversagen u. a. m. antizipierend berücksichtigen. Tägliche Standortbestimmungen und Festlegen des folgenden Tagesprogramms durch das involvierte Spezialistenteam sind ebenso unabdingbar wie standardisierte wöchentliche Situationsanalysen und allfällige Anpassungen des Masterplans. Die kompromisslos rasche (»no patient is too sick to have necroses removed«, David Heimbach) Entfernung aller Nekrosen (in 1- bis 2 täglichen Portionen von 20–30% KOF) ist die überlebenssichernde Behandlungsstrategie. Die Defektdeckung erfolgt mit Eigenhaut (s. Tabelle 6) bzw. Kadaverhaut(26) oder (bio)synthetischen Materialien (temporäre Deckung). Da die erwähnten Behandlungen naturgemäß einem hochspezialisierten Zentrum vorbehalten bleiben müssen, ist es nicht sinnvoll, in diesem Kontext weiterführende Detailbetrachtungen anzustellen. Hände. Die dorsale Seite wird mit ungemeshten Spalthauttransplantaten gedeckt, die palmare vorzugsweise mit Vollhauttransplantaten (Entnahmestelle = unbelastete Zone der Fußsohle).
135 14.5 · Chirurgische Therapie
a
b
c
d
. Abb. 14.1a–d. Verbrühung eines 2-jährigen Mädchens. a 10 Tage danach. Der zentrale Anteil der Verbrühung ist Grad 2 tief. b Eine Wo-
che nach Spalthauttransplantation vom Skalp. c Ein Jahr nach Spalthauttransplantation. d Zwei Jahre nach Spalthauttransplantation
14
136
Kapitel 14 · Verbrennungen und Verbrühungen
. Abb. 14.2. Spalthautentnahme vom Skalp
. Abb. 14.3. 3 jähriges Mädchen mit einer drittgradigen Verbrennung von 80% der KOF, 24 h nach dem Trauma, Escharotomien an allen Extremitäten, Abdomen und Thorax
. Tab. 14.6. Techniken zur Deckung großflächiger Verbrennungen
14
Technik
Beschreibung
Mesh-Technik (Tanner et al. 1964)
Die Spalthaut wird apparativ in ein Netz verwandelt, das je nach Maschengröße in auseinandergezogener Form das 1,5- bis 9-fache der ursprünglichen Fläche bedecken kann
Meek-Technik (Meek 1958)
Die Spalthaut wird apparativ in quadratische Stückchen von wenigen mm Seitenlänge geschnitten (Schachbrett), die dann auf ihrer Unterlage auseinandergezogen und als Mini-Hautinseln auf die Wunde gelegt werden (ähnliches Prinzip wie Mesh)
Sandwich-Technik (Phipps u. Clarke 1991)
Weitmaschige (1:3 bis 1:9) autologe Spalthauttransplantate und Spenderhauttransplantate (1:1,5) werden hierbei kombiniert.
Kultivierte Keratinozyten
Aus einer 5 cm2 großen Hautbiopsie werden im Labor innerhalb von 2–3 Wochen mehrschichtige Epidermistransplantate (20–30 Plätzchen à 50 cm2) gezüchtet
INTEGRA artificial skin (Burke et al. 1981)
Zweischichtiges biosynthetisches Hautersatzprodukt. In der unteren Schicht (Gerüst aus extrazellulärer Matrix) entsteht innerhalb von 3 Wochen eine Neodermis, die obere Silikonschutzschicht muss dann entfernt und durch ein (sehr dünnes) Spalthauttransplantat ersetzt werden
Gesicht und Hals. Immer werden ungemeshte Spalthauttransplantate vom Skalp unter Beachtung der sog. »ästhetischen Einheiten« verwendet. Anogenitalregion. Auf Grund der hohen und dauerhaften Infektgefahr müssen besondere Vorkehrungen getroffen werden: Transplantate eher gemesht als ungemesht verwenden, u. U. erst nach Vorbereiten der Wundfläche mit Spenderhaut, Analtamponade, Bausteinnahrung (produziert keinen Stuhl). Gelegentlich ist eine zweite Transplantation nötig. Die Anlage eines Anus praeter kann aber praktisch immer vermieden werden.
14.5.4
Infektionsprophylaxe in der Verbrennungschirurgie
Die an der »äußeren« Umwelt liegenden und deshalb immer bakteriell kontaminierten Läsionen sowie die kompromittierte Infektabwehr (s. Verbrennungskrankheit) machen
standardisierte Maßnahmen nötig. Diese bestehen in der Entfernung allen nicht vitalen Gewebes und autologen Defektdeckung (ggf. temporäre Deckung, s. oben) zum frühestmöglichen Zeitpunkt sowie in regelmäßigen (initial 1–2 täglichen) Verbandswechseln mit Wundreinigung und topischer Desinfektion. Ablaufsmäßig müssen alle Interventionen portioniert werden (z. B. Arm rechts, Thorax, Arm links, Bein links), zwischen denen das Team jeweils mindestens neue Handschuhe (ggf. Neueinkleidung) bekommt. Für »sterile« Einheiten sowie für routinemäßige Antibiotikaprophylaxe gibt es keine Evidenz. »Toxic shock syndrome« (TTS). Das TTS kommt typischerweise bei Kleinkindern mit kleinflächigen Läsionen vor und kann bei zu später Diagnose/Therapie zum Tod führen. Deshalb sind das Wissen über bzw. das Suchen nach den Prodromen zwingend erforderlich. Frühdiagnose und immediate Antibiotikatherapie (auch im Zweifelsfall!) führen zu rascher Besserung und Restitutio ad integrum. (Cole u. Shakespeare 1990; Frame et al. 1984).
137 14.9 · Das Team
Übersicht Zeichen des »toxic shock syndrome« 4 4 4 4
14.6
Fieber über 39°C Exanthem Erbrechen und/oder Durchfall Verschlechterung des Glasgow-Coma-Score
Kindsmisshandlung
Die Inzidenz liegt im einstelligen Prozentbereich, möglicherweise höher (Dunkelziffer!). Diskrepanzen zwischen Anamnese und Befunden, verspätete Vorstellung, vor allem aber ungewöhnliche Läsionen (z. B. sockenförmig, Bügeleisenabdruck u. a. m.) sind indikativ und müssen die Kinderschutzgruppe aktivieren.
14.7
Rehabilitation
Die Rehabilitation ist integraler und damit absolut unverzichtbarer Bestandteil des Behandlungssystems. Sie dient dazu, Körperfunktionen zu erhalten bzw. wieder aufzubauen Die wichtigsten Elemente sind Physiotherapie und Ergotherapie inklusive aller Hilfsmittel (Kompressionsanzug, Kontaktmedien, Schienen u. a. m.). Sie beginnt am Unfalltag und hört erst auf, wenn das funktionell und kosmetisch bestmögliche Langzeitresultat erzielt ist, was oft erst nach mehreren Jahren der Fall ist. In gleicher Weise wichtig ist die kontinuierliche psychosoziale Betreuung.
14.8
Rekonstruktive Chirurgie
Etwa 30% der operierten Kinder benötigen trotz optimaler chirurgischer und rehabilitativer Behandlung später eine Narbenkorrektur. Meistens entsteht die funktionelle Störung wie z. B. eine Flexionskontraktur im Ellbogen auf Grund der gegenläufigen Dynamiken von Wachstum des Kindes (Kleinkinder!) und Schrumpfen der sehr oft hypertrophen Narben: Die Haut wird zu eng/klein. Die häufigsten Korrekturtechniken sind lokale Verschiebelappen (z. B. Z-Plastik), (Voll-)Hauttransplantate, INTEGRA Artificial Skin (. Tab. 14.6) und Expander.
14.9
Das Team
Zur umfassenden und erfolgreichen Betreuung schwerund schwerstverbrannter Kinder muss ein aufeinander eingespieltes Team von erfahrenen und hochmotivierten Experten zur Verfügung stehen:
4 Auf Verbrennungs- und rekonstruktive Chirurgie spezialisierte Kinderchirurgen 4 Kinderanästhesisten 4 Pädiatrische Intensivmediziner 4 (Intensiv-)Pflegefachkräfte 4 Physiotherapeuten/Ergotherapeuten 4 Orthopädietechniker 4 Psychologe 4 Sozialdienst 4 Kindergarten/Schule Nur mit Teamwork und immer zusammen mit Patienten und ihren Angehörigen gelingt es, die lebensbedrohliche Akutphase zu überwinden, die jahrelange Rehabilitation effizient zu nutzen und die volle Reintegration in ein neues Leben zu bewerkstelligen. Ein Leben, das zwar von Narben gezeichnet, aber trotzdem durch eine hohe Qualität gekennzeichnet ist (Schiestl et al. 2008; Landolt et al. 2002).
Literatur Alexander JW, MacMillan BG, Law E, Kittur DS (1981) Treatment of severe burns with widely meshed skin autograft and meshed skin allograft overlay. J Trauma 21(6):433–8 Bassey PQ, Arons RR, DiMaggio CJ, et al. (2006) The vulnerabilities of age: burns in children and older adults. Surgery 140:705–717 Burd A, Noronha FV, Ahmed K, et al. (2006) Decompression not escharotomy in acute burns. Burns 32:284–292 Burke JF, Yannas IV, Quinby WC Jr, Bondoc CC, Jung WK (1981) Successful use of a physiologically acceptable artificial skin in the treatment of extensive burn injury.Ann Surg 194(4):413–28 Cole RP, Shakespeare PG (1990) Toxic shock syndrome in scalded children. Burns 16(3):221–4 Deitch EA, Wheelahan TM, Rose MP, et al. (1983) Hypertrophic burn scars: an analysis of variables. J Trauma 23:895–898 Frame JD, Eve MD, Hackett ME, Dowsett EG, Brain AN, Gault DT, Wilmshurst AD (1985) The toxic shock syndrome in burned children. Burns Incl Therm Inj 11(4):234–41 Hildreth MA, Herndon DN, Desai MH, et al. (1993) Caloric requirements of patients with burns under one year of age. J Burn Care Rehabil 14:108–112 Hildreth MA, Herndon DN, Desai MH (1989) Caloric needs of adolescent patients with burns. J Burn Care Rehabil 10:523–526 Jackson DM, Stone PA (1972) Tangential excision and grafting of burns. The method, and a report of 50 consecutive cases. Br J Plast Surg 25(4):416–26 Janzekovic Z (1970) A new concept in the early excision and immediate grafting of burns. J Trauma 10(12):1103–8 Klöti J, Pochon JP (1981) Split skin grafts from the scalp, Prog Pediatr Surg 14:111–22 Landolt MA, Grubenmann S, Meuli M (2002) Family impact greatest: predictors of quality of life and psychological adjustment in pediatric burn survivors. J Trauma 53(6):1146–51 Langer S, Hilburg M, Druecke D, Herweg-Becker A, Steinstrasser L, Steinau HU (2006) Analysis of burn treatment for children at Bochum University Hospital. Unfallchirurg 109:862–866 Lönnecker S, Schoder V (2001) Hypothermie bei brandverletzten Patienten – Einflüsse der präklinischen Behandlung. Chirurg 72:164–167 Meek CP (1958) Successful microdermagrafting using the Meek-Wall microdermatome, Am J Surg 96(4):557–8
14
138
Kapitel 14 · Verbrennungen und Verbrühungen
Monafo WW, Chuntrasakul C, Ayvasian V (1973) Hypertonic sodium solution in the treatment of burn shock. Am J Surg 126:778–783 Phipps AR, Clarke JA.The use of intermingled autograft and parental allograft skin in the treatment of major burns in children. Br J Plast Surg 1991 Nov-Dec;44(8):608–11. Pruitt BA, Dowling JA, Moncrief JA (1968) Escharotomy in early burns care. Arch Surg 96:502–507 Saffle J (2001) Escharotomy. In: Practice guidelines for burn care. J Burn Care Rehabil 11 (Suppl):53S–58S Schiestl C (2007) Treatment of scald injuries in infants and toddlers: the Zurich concept. Handchir Mikrochir Plast Chir 39(5):356–9 Schiestl C, Schlüer AB, Zikos I (2008) Schaut mich ruhig an – wie brandverletzte Kinder und Jugendliche ihr Leben meistern. Rüffer und Rub, Zürich Tanner JC Jr, Vandeput J, Olley JF (1964)The mesh skin graft.Plast Reconstr Surg 34:287–92 Trop M, Schiestl C (2007) Erstversorgung und initiale Intensivtherapie von Verbrennungen bei Kindern. Notfall Rettungsmedizin 10: 94–98 Viragh PA de, Meuli M (1995) Human scalp hair follicle development from birth to adulthood: statistical study with special regard to putative stem cells in the bulge and proliferating cells in the matrix. Arch Dermatol Res 287(3-4):279–84 Vloemans AF, Schreinemachers MC, Middelkoop E, Kreis RW (2002) The use of glycerol-preserved allografts in the Beverwijk Burn Centre: a retrospective study. Burns 28 Suppl 1:S2–9 Zuijlen PP van, Vloemans JF, van Trier AJ, Suijker MH, van Unen E, Groenevelt F, Kreis RW, Middelkoop E (2001) Dermal substitution in acute burns and reconstructive surgery: a subjective and objective long-term follow-up Plast Reconstr Surg 108(7):1938–46
14
15
15 Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie H.-G. Dietz
15.1
»Battered child«
– 139
15.2
Polytrauma
15.3
Thoraxtraumen – 145
15.4
Abdominaltrauma – 147
– 143
Literatur – 150
> Verletzungen im Kindesalter sind die häufigste Ursache für stationäre Behandlungen und bis zum 16. Lebensjahr auch die häufigste Todesursache. Die umfangreiche Problematik der Kindertraumatologie mit den Skelett- und Weichteilverletzungen soll hier nicht im Zentrum der Betrachtungen stehen, da Lehrbücher über die Skelettverletzungen, die Verletzungen der Muskeln, Sehnen und Nerven in ausreichender Zahl und Kompetenz zur Verfügung stehen. Wenn auch die Extremitätenverletzungen eine Versorgung durch unterschiedlich ausgebildete Fachkollegen wie Kinderchirurgen, Unfallchirurgen und Kinderorthopäden erfahren, so wird bei den zentralen Problemen wie beim »battered child«, beim Polytrauma, beim Thoraxtrauma und beim Abdominaltrauma immer ein Kinderchirurg mit in das Team der behandelnden Ärzte einbezogen werden müssen.
15.1
»Battered child«
Kindsmisshandlungen sind die grausamsten und zum Teil leider auch bisweilen am schwierigsten zu diagnostizierenden Verletzungen im Kindesalter (. Tab. 15.1). Entscheidende Tatsache bleibt, dass vor allem die Sensibilität der behandelnden Ärzte für die Situationen der Misshandlung geschärft werden muss.
. Tab. 15.1. Ursachen der Kindsmisshandlung Körperlich
31,5%
Sexuell
15,6%
Emotional
6,8%
Aussetzung
2,0%
Medizinische Vernachlässigung
4,7%
Körperliche Vernachlässigung
15,4%
> Der Hinweis auf eine Kindsmisshandlung ist immer dann gegeben, wenn die klinischen Befunde mit den Angaben der Eltern oder der Betreuer nicht in Einklang zu bringen sind. Beim geringsten Verdacht auf eine Kindsmisshandlung ist dieser unbedingt zu verfolgen, denn nur dann kann die Prävention vor weiteren Misshandlungen mit oftmals fatalem Ausgang wirksam werden.
Ein wesentlicher Aspekt bei den Kindsmisshandlungen ist, dass diese in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommen können. Bei dem Verdacht auf eine Kindsmisshandlung muss unbedingt und ohne zeitliche Verzögerung eine stationäre Aufnahme in einer Kinderklinik oder einer Kinderchirurgischen Klinik erfolgen. Es ist heute zu fordern, dass die damit konfrontierten Kliniken einen standardisierten Ablauf des betreuenden Teams von Kinderärzten, Kinderkrankenschwestern, Kinderpsychologen, Sozialarbeitern
140
Kapitel 15 · Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie
erarbeitet haben und auch dann unter Hinzuziehung der Polizei agieren.
Übersicht Familiäres Risiko 4 4 4 4 4 4 4 4
Arbeitslosigkeit Scheidung Tod von Angehörigen Häusliche Schwierigkeiten Finanzielle Probleme Ungeplante Geburt Eltern mit Alkohol- und Drogenproblemen »Misshandelte« Eltern
Die Folgen der körperlichen Misshandlung führen zu Verletzungen, die nicht oder nicht ausreichend durch die Eltern erklärt werden können, gelegentlich werden dann als Unfallverursacher Geschwisterkinder, Freunde, Spielkameraden oder andere Personen genannt. Im Verdachtsfalle ist neben der Untersuchung der angegebenen Verletzung immer eine Ganzkörperuntersuchung des Kindes durchzuführen. Unter Wahrung der Intimsphäre muss eine gründliche körperliche Untersuchung des vollständig entkleideten Kindes durchgeführt werden. Es versteht sich von selbst, dass in dieser ersten Phase der Vertrauensbildung zwischen Arzt und Kind bzw. dann auch den Eltern zunächst nur die Befunde »per se« erhoben werden und nicht über den Verdacht bzw. Verdachtsmomente gesprochen wird oder sogar Anschuldigungen formuliert werden. Neben der detaillierten Dokumentation im Krankenblatt sind aussagekräftige Fotos anzufertigen (. Abb. 15.1).
Übersicht Notwendige Untersuchungen
15
4 4 4 4 4 4
Neurologisch Haut! Verbrennungen Abdominalverletzungen Genitalverletzungen Frakturen
Übersicht Dokumentation beim »battered child« 4 4 4 4 4 4 4
Unfallhergang Familienanamnese Krankengeschichte Untersuchungsbefunde Röntgen- und Schnittbildbefunde Laborergebnisse Photographische Dokumentation
. Abb. 15.1. »Battered child« mit entsprechenden Gesichtsverletzungen
Hämatome. Bei Kindsmisshandlungen sind in ca. 90% der Fälle Manifestationen im Bereich der Haut und hier im Wesentlichen Hämatome nachzuweisen. Pathognomonisch ist das Vorliegen von Hämatomen in unterschiedlichen Farben (die den zeitlich unterschiedlichen Resorptionszustand zeigen), da hier die wiederholte, zeitlich differente Misshandlung nahe liegt. Wichtig ist auch die Lage der Hämatome, wobei Hämatome am Thorax, Rücken, Genitalien, dorsalem Oberschenkel und Kieferwinkel, Hals, Nacken, ventralen Unterarmen, Schultern und Oberarmen nicht typisch für die klassischen Verletzungen von Kindern beim Spielen und Sturz sind. Verbrennungen und Verbrühungen. Verbrennungen und
Verbrühungen sind in diesem Zusammenhang zwar deutlich seltener, können Hinweise für Kindsmisshandlungen sein. Sowohl Verbrühungen als auch Kontaktverbrennungen mit Herdplatte, Zigaretten oder Ähnlichem können hier richtungsweisend sein. Frakturen. Eine wichtige Manifestation bei den Kindsmisshandlungen ist das Skelettsystem, wobei ca. die Hälfte aller misshandelten Kinder Frakturen aufweisen. Die
141 15.1 · »Battered child«
Frakturtypen zeigen eine hohe Spezifität für das Vorliegen einer Misshandlung, da es im Wesentlichen im Säuglingsalter metaphysäre Frakturen mit periostalen Reaktionen sind, die normalerweise nur schlecht mit einem Unfallmechanismus logisch erklärt werden können. Abhängig natürlich von der einwirkenden Kraft kommt es zu kompletten oder inkompletten Abbrüchen im Bereich der Epiphysenfuge und diese Verletzungen werden als »corner fractures« bezeichnet. Im Säuglingsalter kann es vorkommen, dass bei den Röhrenknochen lediglich periostale Reaktionen auf die Gewalteinwirkung hinweisen. Weiterhin kann als klassische Extremitätenfraktur die quere Ulnafraktur in Schaftmitte bei größeren Kindern als eine sog. Parierfraktur gewertet werden. Grundsätzlich können alle Frakturen durch Gewalteinwirkung bei einer Misshandlung entstehen, so dass neben den »Klassikern« der Kindsmisshandlungen auch häufig behandelte Frakturen einer Kindsmisshandlung zu Grunde liegen können.
Übersicht Klassische radiologische Zeichen 4 4 4 4 4
»Corner fractures« Dorsale Rippenfrakturen Sternum-, Skapulafrakturen Dorsale Wirbelfrakturen Mandibulafrakturen
Kopfverletzungen (7 Kap. 17). Kopfverletzungen sind bei
10–20% der Kindsmisshandlungen anzutreffen, wobei im ersten Lebensjahr mit 80% die größte Zahl der Kinder davon betroffen ist. Zu den häufigsten Formen zählen Schläge auf den Kopf und das Schütteln des Kindes mit Hin- und Herpendeln des Kopfes (»shaken baby«; . Abb. 15.2): dies führt zu schwersten Verletzungen, wie Frakturen und intrakraniellen Blutungen!
Übersicht Die unterschiedlichen Kopfverletzungen 4 4 4 4 4
Multiple Schädelfrakturen Impressionsfrakturen Mandibulafrakturen Blutung: subdural, epidural, subarachnoidal Parenchymläsionen
> Wichtiges Zeichen für den Nachweis eines »shaken babies« sind retinale Blutungen, die bei der Augenhintergrundanalyse nachgewiesen werden können. Im Augenhintergrundbereich kann es aber auch zu Netzhautablösungen kommen.
. Abb. 15.2. Schema des »shaken baby« mit entsprechenden Verletzungen
Im Weiteren führen die Ultraschalluntersuchungen bei noch offener Fontanelle zum Verdacht, und das CCT ist dann beweisend zum Nachweis von intrakraniellen Blutungen einzusetzen. Im Verlauf bzw. im Residualzustand ist das MRT dann dem CCT aufgrund seiner Aussagekraft vorzuziehen, wobei nach 6–12 Wochen nach dem Ereignis exakt das ganze Ausmaß der Schädigung nachgewiesen werden kann (. Abb. 15.3). Die subduralen Hämatome werden durch Einriss von Brückenvenen hervorgerufen mit entsprechenden Folgen der Blutungen. Die Kopfverletzungen sind auch die gefährlichsten Verletzungen bei der Kindsmisshandlung und ein Drittel aller Säuglinge mit Schütteltrauma sterben an den ZNSVerletzungen, zwei Drittel weisen im Langzeitverlauf neurologische Defizite auf. Thorax-, Becken- und Wirbelsäulenverletzungen. Auch das Stammskelett kann durch Gewalteinwirkung verletzt werden. Bei Thoraxverletzungen handelt es sich meist um multiple Rippenbrüche sowie um Sternumfrakturen, im Bereich des Beckens kommt es zu den klassischen Verletzungen mit Impressionen, im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule zu Kompressionen (. Abb. 15.4) und in der HWS häufig zu Verdrehungsverletzungen.
15
142
Kapitel 15 · Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie
. Abb. 15.3. Kernspintomographie: chronische Ergüsse beim »shaken baby«
15 . Abb. 15.4. Thoraxkompression
Abdominalverletzungen. Im Bereich des Bauchraums kann
es zu stumpfen oder perforierenden Verletzungen kommen, die mit einer hohen Letalität verbunden sind. Bei Kleinkindern werden zunächst die Leber und die Milz sowie die Hohlorgane durch Schläge und Tritte verletzt. In der Regel kommt es dann zu massiven intraabdominellen Blutungen, die auf Grund des verspäteten Aufsuchens eines Arztes oder einer Klinik in 50% der Fälle letal verlaufen.
> Bei dem geringsten Verdacht auf eine Kindsmisshandlung muss in einer sorgfältigen Anamnese und dann einer körperlichen Untersuchung des ganzen Körpers diesem Verdacht nachgegangen werden. Multiple Hämatome im unterschiedlichen Zustand, Frakturen an ungewöhnlicher Stelle sowie nicht erklärte Ursachen der Verletzungen sind als wichtigste Verdachtsmomente zu nennen. Der erste Schritt ist die stationäre Aufnahme, dann folgt die Analyse des Augenhintergrunds um Retinablutungen und Netzhautablösungen zu diagnostizieren und weiterhin die Suche nach Schädelund Extremitätenfrakturen. 95% der misshandelten Kinder werden im eigenen familiären Bereich von Familienangehörigen verletzt.
Übersicht Risikokinder 4 4 4 4 4 4
Risikokinder <3 Jahre (<1 Jahr!) Erstgeborene Frühgeborene Stiefkinder Behinderte
143 15.2 · Polytrauma
15.2
Polytrauma
lich einen Blutverlust von 10% seines Gesamtblutvolumens bedeuten würde.
Polytraumatisierte Kinder stellen die behandelnde Klinik vor extreme Herausforderungen, da polytraumatisierte Kinder eine Seltenheit darstellen und daher die standardisierten und routinemäßig trainierten Algorithmen, wie sie in der Erwachsenentraumatologie gängig sind, nicht entsprechend in die tägliche Routine eingehen. Ursachen von Polytraumen bei Kindern sind Rasanztraumen sowie der Sturz aus großer Höhe bzw. bei älteren Kindern ab dem 5. Lebensjahr Unfälle als Verkehrsteilnehmer, Fußgänger oder Radfahrer. Zur Beurteilung der Patienten ist neben dem »Childrens Glasgow Coma Scale« für das Schädel-Hirn-Trauma der »PDTS«, der »Pediatric Trauma Score« von herausragender Bedeutung. Der PDTS ist eine Kombination aus physiologischen und anatomischen Parametern, der unter Berücksichtigung von 6 klinischen Variablen, nämlich des Gewichtes des verletzten Kindes, der Atmung, des systolischen Blutdrucks, der Bewusstseinslage, offener Wunden sowie an Hand von vorliegenden Frakturen erstellt wird. Den einzelnen Parametern werden Punkte zugeordnet und diese anschließend addiert. Die zu erreichenden Punkte reichen von Minus 6 (schlechteste Überlebensprognose) bis Plus 12 (gute Prognose; . Tab. 15.2). Aufgrund der unterschiedlichen Anatomie und Pathophysiologie zwischen einem Erwachsenen und einem Polytraumapatienten im Kindesalter ist es wichtig, die Gruppe der bis zu 14 Jahre alten Patienten besonders zu betrachten. Die Unterschiede sind umso größer, je jünger das Kind ist. Blutungen. Bei Säuglingen liegt ein deutlich geringeres
Blutvolumen vor, so dass bereits kleine Blutverluste zu einem schweren hypovolämischen Schock führen können. Verliert ein 4-jähriges Kind beispielsweise 500 ml Blut, bedeutet das einen anteiligen Blutverlust von ca. 42%, bei einem 8-jährigen Kind sind dies immerhin noch ein Verlust von 26%, während dies bei einem Erwachsenen ledig-
Übersicht Spezielle Aspekte beim Polytrauma bei Kindern 4 4 4 4 4 4 4 4
Kopf > Körper Gehirn: hohes Flüssigkeitsvolumen, weniger Fett Großes Oberfläche/Volumen-Verhältnis Weniger Fettmasse Weniger Muskelmasse Weniger Körpermasse Weniger Blutvolumen Späte Dekompensation des Herz-Kreislauf-Systems
Gefährlich sind in diesem Zusammenhang auch die Blutungen in die großen Körperhöhlen, in die Weichteile und in den noch weichen und daher dehnbaren Schädel. Das knöcherne Skelett, das beim Kind noch relativ weich und formbar ist, kann größere Gewaltanwendungen ausreichend kompensieren. Die Deformierbarkeit und Scherkräfte wirken dann auf die inneren Organe ein. Aus diesem Grunde muss einerseits von einer erheblichen Gewalteinwirkung ausgegangen werden, wenn Rippenfrakturen beim verletzten Kind vorliegen, anderseits darf nicht übersehen werden, dass es auch bei einer leicht verletzten Thoraxwand zu schwersten intrathorakalen Verletzungen gekommen sein kann. Da die Rippen beim Kind meist in Form einer Grünholzfraktur brechen, sind Pneumothoraces bzw. Hämathoraces eher selten. Schädelverletzungen. Die häufige Mitbeteiligung des Schädels und des Gehirns (Kap. 17) wird auf das Überwiegen des Kopfanteils bezogen und auf die Gesamtkörperlänge zurückgeführt. Weiterhin ist die Schädelkalotte dünner als beim Erwachsenen und die Schutzreflexe sind noch nicht ausreichend ausgebildet. Entscheidende Bedeutung hat die Tatsache, dass das Gehirn des Kindes weitaus anfälliger gegen Hypoxie und Hyperkapnie mit nachfolgender Ödembildung ist. Erschwerend kommt hierzu die noch nicht ausgereifte Blut-Hirn-Schranke.
. Tab. 15.2. Pediatric Trauma Score Wertungszahl
+2
+1
–1
Körpergewicht
>20 kg
10–20kg
<10 kg
Atmung/ Atemwege
Normal
Grenzwertig
Intubiert
RR systolisch
>90 mmHg
90–50 mmHg
<50 mmHg
Bewusstseinslage
Wach
Eingetrübt
Komatös
Weichteilverletzungen
Keine
Minimal
Erheblich
Frakturen
Keine
Geschlossen
Offen/ multipel
Thorax- und Abdomenverletzungen. Das Mediastinum bei Kindern ist weniger fixiert als beim Erwachsenen und kann dann zu einer raschen Unterbrechung der Hohlvenenflüsse bei einseitiger intrathorakaler Druckerhöhung führen. Die Bauchdecke und die abdominelle Muskulatur ist im Kindesalter dünner als bei einem Erwachsenen, die intraabdominellen Organe sind größer, bezogen auf die Gesamtkörpergröße, und es besteht ein physiologischer Tiefstand des Zwerchfelles. Das bedeutet zum einen, dass die Distanz der Organe zur Körperoberfläche geringer ist, zum anderen aber, dass die großen parenchymatösen Organe des Bauches, wie die Leber und die Milz, aus dem schützenden Rippenbereich verdrängt werden. Gewalteinwirkungen auf die
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144
Kapitel 15 · Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie
Bauchdecke treffen daher nahezu ungebremst auf die parenchymatösen Organe, was diese dann im Vergleich zu denen des Erwachsenen leichter verletzbar macht. Bei polytraumatisierten Kindern kommt es eher selten zu isolierten Verletzungen von Thorax und Abdomen mit Schädel-Hirn-Trauma und/oder Extremitätenverletzungen. Die meist vorliegenden Verletzungskombinationen sind im Sinne von Stammverletzungen anzusehen, bei denen sowohl Organe der einen wie auch die Organe der anderen Körperhöhlen betroffen sind. Pathophysiologie. Kinder haben einen erhöhten Flüssig-
keitsumsatz und einen intensiveren Gesamtstoffwechsel mit höherer Neigung zur metabolischen Azidose. Beim Kind fallen mehr saure Stoffwechselprodukte an und die Puffersysteme sind nach einem Trauma mit ausgeprägter Gewebszertrümmerung geringer. Die Labilität des Flüssigkeitshaushaltes begründet sich durch geringe Reserven an freiem Wasser bei einem hohen Anteil an extrazellulärer Flüssigkeit und der geringeren Konzentrierfähigkeit der Niere im Kindesalter. Durch die vergleichsweise große Körperoberfläche kommt es zu einem schnelleren Temperaturverlust, des weiteren ist die Aspirationsgefahr bei einem verletzten Kind größer, da sich mehr Sekret im Magen befindet als bei einem Erwachsenen. Indikation zu einer Intubation. Die Indikation sollte bei
schwer verletzten Kindern generell großzügig gestellt werden, da die oberen Atemwege häufig verlegt sind. Das liegt an dem in Relation zum Gesamtkörpermaß großen Kopf, der zu Anteflexion neigt und in der die Atemwege beeinträchtigende, vergleichsweise großen Zunge.
Übersicht Intensivmedizinische Besonderheiten
15
4 Volumengabe – Ausreichende Menge – Beste Substanz unklar, wahrscheinlich NaCl 0,9%, Ringerlaktat geeignet, evt. Eiweiß, Hydroxyethylstärke 4 Adrenergika, Vasopressin wie beim Erwachsenen, aber in anderen Dosen 4 Aktuelles Gewicht beachten, da die Dosierungen unbedingt angepasst werden müssen
Prognose. Erfreulicherweise erleiden Kinder wesentlich
seltener Verletzungen der Halswirbelsäule, da diese im Vergleich zum Erwachsenen noch mobiler und elastischer ist. Auch kann der Blutdruck beim Kind weitaus länger durch Autoregulationen, insbesondere durch die ausgeprägte Fähigkeit zur Vasokonstruktion aufrechterhalten werden. In der Regel muss bei einem Abfall des Blutdrucks als Folge einer Hypovolämie von einem Blutverlust von wenigstens
25%, im extremsten Fall sogar von 50% ausgegangen werden. Weitere Vorteile für die gute Prognose beim polytraumatisierten Kind sind die besseren Regulationsfähigkeiten des Gerinnungssystems und das Fehlen von kardiovaskulären Vorerkrankungen. > Die häufigsten Verletzungskombinationen sind Schädel-Hirn-Traumen mit Extremitätenverletzungen, gefolgt von Schädel-Hirn-Traumen mit Thorax-/Abdominalverletzungen und Extremitätenverletzungen.
Erstversorgung. Von herausragender Bedeutung ist es, auch dem Wärmehaushalt des Kindes Rechnung zu tragen. Das erhöhte Verhältnis von Oberfläche und Masse benötigt unbedingt den Einsatz von Wärmematten und Warmluftgeräten, wichtig ist es auch, die intravenösen Flüssigkeiten anzuwärmen; Luftbefeuchter, Beatmungsgerät und Kopf und Extremitäten sollten gezielt erwärmt werden. Der Transport sollte dann in jedem Falle in ein Kindertraumazentrum erfolgen, da nur hier beim Polytraumapatienten die höheren Überlebenschancen, insgesamt die niedrige Letalität und die besseren Ergebnisse vorliegen.
Übersicht Aufrechterhaltung des Wärmehaushaltes 4 4 4 4 4 4
Erhöhtes Verhältnis Oberfläche/Masse beachten Umgebungstemperatur erhöhen Wärmematten, Warmluftgeräte i.v. Flüssigkeiten anwärmen Luftbefeuchter am Beatmungsgerät Kopf und Extremitäten einpacken
Übersicht Transport/Hospitalisierung bei Polytraumakindern 4 Pediatric Trauma Center – Höhere Überlebenschance beim schweren Schädel-Hirn-Trauma – Geringere Letalität bei Polytraumapatienten – Bessere Ergebnisse beim stumpfen Bauchtrauma 4 Adäquate Bilanzierung 4 Adäquate Diagnostik 4 Adäquate Behandlung von Schädel-Hirn-Trauma, Abdomen- und Thoraxverletzungen 4 Adäquate Behandlung von Frakturen 4 Die Eltern sind beim Kind
Notfalldiagnostik. Die Dauer der Notfalldiagnostik muss
weniger als 30 min betragen und Information über sämtliche Verletzungen geben, wobei das Ganzkörper-CT hier zunehmend im Vordergrund steht. Folgenschwere Probleme können durch primär übersehene periphere Verlet-
145 15.3 · Thoraxtraumen
zungen entstehen. So kommt es bei ca. 5% der Patienten zur verzögerten Diagnose von Verletzungen, wobei dann in 76% Frakturen vorliegen, 68% davon sind auch therapierelevant.
Übersicht Notfalldiagnostik 4 4 4 4
Dauer <30 min Sonographie Abdomen Schädel-CT, bei Säuglingen Sonographie Schädel Röntgenaufnahme Thorax, Abdomenleeraufnahme (linke Seitenlage), Beckenübersicht, Wirbelsäule in 2 Ebenen 4 Wirbelsäulen-CT nach Befund 4 Ganzkörper-CT (ersetzt diesen Algorithmus)
Thromboseprophylaxe. Eine generelle Thromboseprophy-
laxe wird bei dem präpubertären Patienten auch bei Polytraumapatienten nicht empfohlen. Langzeitfolgen. Folgeprobleme bei Polytraumapatienten
sind funktionelle Defizite nach 1 Jahr in ca. 50% der Fälle, Beeinträchtigungen bei ca. 25% der Patienten, nach 10 Jahren bei ca. 12% und persistierende Behinderungen müssen bei 6% der überlebenden Patienten gesehen werden. Ein wesentlicher Faktor ist auch, dass ca. 60% der Patienten und die Familien im Verlauf soziale und finanzielle Probleme kalkulieren müssen. Letalität. Die Gesamtletalität bei Polytraumapatienten liegt derzeit bei 15–20%. Führend in der Letalität das SchädelHirn-Trauma, gefolgt vom Thoraxtrauma, Abdominaltrauma und an letzter Stelle dann die peripheren Verletzungen mit den Frakturen.
15.3
Thoraxtraumen
. Tab. 15.3. Ursachen des Thoraxtrauma Mechanische Ursache (Verkehrsunfall, Sturz aus großer Höhe)
50%
Knöcherne Verletzungen
25%
Innere Organverletzungen
25%
Perforierende Verletzungen
~1%
Polytrauma
50%
derte Atmung und hier muss bereits initial am Unfallort ein besonderes Augenmerk auf Inspektionen und Auskultation gerichtet werden. Fremdkörperentfernungen und die sofortige Sauerstoffgabe sind ohne Verzögerung notwendig. Dramatische Situationen mit Hautemphysem und paradoxer Atmung bedürfen nach der Intubation auch der entsprechenden Drainagebehandlung. Dyspnoe und Zyanose sind die ersten Anzeichen der Thoraxverletzung, gefolgt von der Ateminsuffizienz, die bei schwersten Thoraxverletzungen mit ggf. Organperforation von Ösophagus und Trachea vorkommen. Diese schwersten Verletzungen können durch Hautemphysem, Hämoptyse oder paradoxe Atembewegungen erkannt werden.
Übersicht Diagnostischer Ablauf 4 Unfallort – Inspektion – Palpation – Perkussion – Auskultation 4 Transportweg – Blutgasanalyse 4 Klinik – Röntgenaufnahme Thorax – Computertomographie Thorax – Sonographie, (Kernspintomographie)
Epidemiologie. Thoraxtraumen sind im Kindesalter zum
einen durch mechanische Ursachen hervorgerufen, zum anderen liegen aber in 50% der Fälle Verbrennungen, Verbrühungen, Verätzungen und Fremdkörperingestionen vor. Bei den mechanischen Ursachen sind es in 25% knöcherne Verletzungen, in 25% sind die Organe verletzt, in Mitteleuropa überwiegen die stumpfen Thoraxtraumen, nur in 1% kommt es zu penetrierenden Verletzungen (. Tab. 15.3). Das isolierte Thoraxtrauma ist relativ selten und nur bei 1% der Unfälle im Kindesalter betrifft es den Thorax. Bei Polytraumapatienten sind in 50% der Fälle Thoraxverletzungen mit vorhanden. Estversorgung. Die Erstversorgung ist von enormer Bedeutung. Das Leitsymptom der Thoraxverletzung ist die verän-
Diagnostik. Nach der Inspektion, der Palpation und der Auskultation erfolgt die Röntgenuntersuchung des Thorax in 2 Ebenen sowie die CT-Untersuchung. Die Röntgenuntersuchung zeigt die Skelettverletzungen wie auch Darstellung von Pneumothoraces und Hämatothoraces und Flüssigkeitsansammlungen. Problematisch ist beim Röntgenbild die Darstellung der Summation der unterschiedlichen Gewebeschichten, so dass eine subtile Analyse nur durch eine Computertomographie möglich ist. Hier kann dann rechtzeitig das gesamte Ausmaß des Schadens der Lungenkontusion, von Hämato- und Pneumatothoraces präzise erkannt werden. Ein weiterer Vorteil der CT-Untersuchung ist dann auch, dass mediastinalen Verletzungen, die im
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146
Kapitel 15 · Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie
b
c
a
d
. Abb. 15.5a–d. Zustand nach Fenstersturz: Thoraxtrauma mit Pneumothorax und Ergüssen. a Röntgenbild; b–d Computertomogramme
Röntgenbild oft maskiert sind, hier gut dargestellt werden können. Die Tendenz, thorakale Verletzungen zu unterschätzen, führt zu der absoluten Notwendigkeit, frühzeitig ein CT durchzuführen (. Abb. 15.5). Eine Labordiagnostik mit Blutuntersuchung, Blutgasanalyse und der Oxygenierungsindex sind von herausragender Bedeutung, da der Oxygenierungsindex vor allem für die Prognose mit herangezogen werden kann.
Übersicht Lungenkontusion – Pathophysiologie
15
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Gewebequetschung Ruptur der Zellmembranen Alveolar-kapilläre Lecks Interstitielles Ödem, Atelektase Entzündungsreaktion Ventilations-Perfusions-Störung Hypoxie Organversagen Fleckige Verschattung Unregelmäßige Ausdehnung Verspätetes Auftreten
Therapie. Mittelpunkt in der Therapie bei Patienten mit Thoraxverletzungen ist die Behandlung der Lungenkontu-
sion und der dann danach daraus resultierenden respirato-
rischen Insuffizienz. Der Lungenkontusion liegt eine Zerreißung von Parenchymanteilen zu Grunde, die durch die Gewalteinwirkung zustande kommt. Die Folge davon sind Leckagen kleinerer Gefäße mit Austritt von Blut in die Alveolen oder Luft im Pleuraspalt. Atelektasen und interstitielle Ödeme und proinflammatorische Reaktionen führen dann zu einem gestörten Ventilations-/Perfusionsverhältnis mit drohender Hypoxie. Nach Sicherung der Atemwege ist die Intubation die nötige Konsequenz, in ausweglosen Fällen kann dann die Tracheotomie bzw. die Punktionstracheotomie notwendig werden. Entsprechend der Diagnostik sind Drainagen effizient zu platzieren, zur Behandlung von Luftansammlung bzw. Ergüssen oder auch Hämatomen. Die ausschließliche Punktion ist bei Traumapatienten nicht zu empfehlen. Besonderes Augenmerk sollte auf den Hämatokritwert gerichtet werden, um den koloidosmotischen Druck nicht zu stark zu senken. Im Übrigen ist das klassische Intensivmonitoring anzuwenden. In der Beatmungstherapie sind neben konventionellen Techniken, die Hochfrequenzbeatmung, die oszillierende Beatmung, und in Ausnahmefällen die extrakorporale Therapie (ECLA) möglich und notwendig. Das Tidalvolumen muss gewichtsangepasst gewählt, die Hyperkapnie sollte vermieden werden. Die prinzipiellen Probleme der Sekretretention sowie der artifiziellen Extubation müssen unbedingt vermieden werden. Wichtig ist auch die Bedeutung
147 15.4 · Abdominaltrauma
des strengen Monitorings einer Infektion. Die zusätzliche Infektion bei Lungenkontusion kann zu einem deletären Organversagen führen. Von besonderem Augenmerk sind die Lagerung, die Physiotherapie, die letztlich einen wesentlichen Beitrag im gesamttherapeutischen Regime leisten. Die Speziallagerung und Rotationsanwendung ersetzt die einfache Seiten- oder Bauchlage bei Säuglingen und Kleinkindern und sollte routinemäßig eingesetzt werden. Bei unkomplizierten Verläufen können sich Kinder mit schweren Lungenkontusionen innerhalb von 3–7 Tagen unter optimaler Therapie stabilisieren. Als radiologisches Korrelat sollte eine Regredienz der Verschattungen nachweisbar sein. Frühzeitig müssen Komplikationen und die Entwicklung eines ARDS oder einer Pneumonie durch den Verlauf des Oxygenierungsindexes diagnostiziert werden. Problematisch sind dann Atelektasen und Pleuraergüsse und das ARDS. Man muss bei den Thoraxtraumapatienten von der Pneumonierate von bis zu 50% und von einer ARDS-Rate von 15–20% ausgehen.
dor und in einer radiologischen Untersuchung einer Exspirationsaufnahme lässt sich dann die Überblähung beweisen. Therapie der Wahl ist die bronchoskopische Entfernung der Fremdkörper. Eine fatale Problematik sind Verätzungen der Speiseröhre, wobei es hier oft durch Verwechslung von entsprechenden Flüssigkeiten zu dieser Verätzung kommt. Die Therapie der Wahl ist hier die unmittelbare Endoskopie zur Beurteilung des Ausmaßes der Schädigung, gefolgt von stationärer Behandlung, medikamentös kommen Antibiotika als Infektionsprophylaxe und die Kortisonsgabe zur Verhinderung von Stenosen zur Anwendung. Organverletzungen des Herzens und der großen Gefäße sind im Kindesalter extrem selten und sind bei größeren Läsionen mit entsprechenden Blutungen nicht mit dem Leben vereinbar.
15.4
Abdominaltrauma
Epidemiologie. Die Anteile der Abdominalverletzungen Übersicht Therapie des Thoraxtrauma 4 4 4 4 4 4 4
Intubation, PaO2/FiO2-Ratio <250 Ventilation, PEEP, NO Drainage Antibiose Volumenbilanz (restriktiv) Lagerung (Luftkissen-Schaukelbett) Chirurgische Intervention – Lungenlazeration, Fisteln – Trachea, Ösophagus, Zwerchfell – Herz/Gefäße
Prognose. Die Prognose von Kindern mit Thoraxtraumen
ist bei adäquater Therapie gut einzuschätzen, zwei Drittel der Patienten zeigen keine Residuen, 14% geringfügige bis schwere Beeinträchtigungen, die Letalität beim Thoraxtrauma liegt bei einer Verletzungen von Thorax und Abdomen bei 20%, bei zusätzlichem Schädel-Hirn-Trauma bei 35%.
im Kindesalter liegen zwischen 5 und 10% bei allen Unfällen. Wie auch bei den thorakalen Verletzungen überwiegt das stumpfe Bauchtrauma mit ca. 95% gegenüber dem des penetrierenden mit 5% in Mitteleuropa. Die Ursachen für stumpfe Bauchtraumen sind direkte Gewalteinwirkung durch Rasanztraumen, Sturz aus großer Höhe, oder hier auch ein Überrolltrauma, gelegentlich das Gurttrauma. Bei den Patienten mit isoliertem stumpfen Bauchtrauma sind die abdominellen Organe in unterschiedlicher Häufigkeit betroffen, führend die Milz mit 45%, Leber 32%, Niere 12%, Pankreas 6%, Duodenum 2%, Blase 1,5% und die Niere 1%, Darmverletzungen, Dünndarm, Dickdarm, Magen mit 0,5%. Klassifikation. Wichtig ist die Klassifikation der Organrupturen nach der AAST in bis zu 6 Graden, wobei diese Graduierung für Milz und Leber, Dünndarm und Nieren angewendet werden kann (. Tab. 15.4). Mit Zunahme des Verletzungsgrades steigt die Letalität, die bei einer Grad-VVerletzung bei der Leber bereits 50% beträgt. Diagnostik. Initial hat eine Inspektion auf Prellmarken zu
Weitere Verletzungen beim Thoraxtrauma. Frakturen der Wirbelsäule sind sehr selten, allerdings ist es sehr wichtig,
die Wirbelfrakturen zu diagnostizieren, um die Analyse der stabilen Kompressions- und der instabilen Distraktionsverletzungen zu differenzieren und entsprechend zu behandeln. Perforierende Lungenverletzungen müssen chirurgisch versorgt werden, wobei aber ihre Seltenheit betont werden muss. Tracheale und Bronchusverletzungen müssen, so sie nicht periphere Bronchusverletzungen sind, bei operativen Eingriffen versorgt werden. Tracheale Fremdkörper sind im Kindesalter ebenfalls sehr häufig, wobei vor allem Nüsse, Obstpartikel, Bonbons, Spielzeug aspiriert werden. Die Aspiration führt zum Stri-
erfolgen, da damit bereits erste Hinweise für Organverletzungen gesehen werden können (. Abb. 15.6). Die erste orientierende Untersuchung ist dann die Ultraschalluntersuchung, die bereits im Schockraum Hinweise auf parenchymatöse Verletzungen gibt (. Abb. 15.7). Von zunehmender Bedeutung ist die CT-Untersuchung auch im Schockraum, z. B. die Multislice-CT-Untersuchung, die die Ruptur der parenchymatösen Organe (. Abb. 15.8, 15.9) zeigt, aber auch Hämatome, wie hier um das Duodenum (. Abb. 15.10), nachweisen kann. Bei Verdacht auf Perforationen von Hohlorganen (. Abb. 15.11) ist eine Röntgenuntersuchung sinnvoll, die dann in der Linksseitenlage die freie Luft zeigt. Im Wesentlichen führt aber die
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148
Kapitel 15 · Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie
. Tab. 15.4. Stumpfes Bauchtrauma. Graduierung der Verletzungen nach der American Association for Surgery of Trauma (AAST): Milzruptur – Leberruptur – Dünndarmverletzungen – Nierenverletzungen Grad
Verletzung
Verletzungsmuster
I
Hämatom
Subkapsulär, nicht zunehmend, <10% der Oberfläche
Lazeration
Kapseleinriss, nicht blutend, <1 cm tief
Hämatom
Subkapsulär, nicht zunehmend, 10–50% der Oberfläche; intraparenchymal, nicht zunehmend, <2 cm Ø
Lazeration
Kapseleinriss, blutend, 1–3 cm tief ohne Verletzung von Trabekelgefäßen
Hämatom
Subkapsulär, >50% der Oberfläche oder zunehmend rupturiertes subkapsuläres Hämatom, aktiv blutend; intraparenchymatöses Hämatom >2 cm oder zunehmend
Lazeration
>3 cm tief oder mit Verletzung von Trabekelgefäßen
Hämatom
Intraparenchymale Ruptur, aktiv blutend
Lazeration
Segmentale oder hiläre Gefäßdestruktion mit ausgedehnter Devaskularisation (>25% der Milz)
Lazeration
Vollständige Destruktion der Milz
Gefäße
Verletzung der Hilusgefäße mit Devaskularisation der Milz
II
III
IV
V
. Abb. 15.7. Subkapsuläres Hämatom um die Milz
Computertomographie zur Klassifizierung und dann zur Verlaufsbeobachtung.
15
. Abb. 15.6. Prellmarken beim stumpfen Bauchtrauma
Therapie. Im Vordergrund steht die konservative Behandlung mit Monitoring und Stabilisierung im Vordergrund steht. Bei Verletzungen der Niere kann gelegentlich die Schienung des Harnleiters notwendig werden. Lediglich Patienten mit Kreislaufinstabilität, Zunahme der freien Flüssigkeit und progredienten Hb-Abfall unter 6–7 g/dl sollten heute noch laparotomiert werden. Bei der Notwendigkeit der Splenektomie kann eine Replantation des Restmilzgewebes in das Omentum majus durchgeführt werden. Die immunologische Kompetenz allerdings ist hier nicht entsprechend den Vorstellungen der 80er-Jahre gegeben. Wichtig ist nach Splenektomie, zur Prävention der OPSI eine Pneumokokkenimpfung sowie eine Antibioti-
149 15.4 · Abdominaltrauma
a
. Abb. 15.9. Milzruptur Grad IV mit erheblicher Lazeration
b
. Abb. 15.10. Duodenalwandhämatom mit massiver freier Flüssigkeit
. Abb. 15.8a, b. Nierenruptur Grad IV. a Das Röntgenbild zeigt ein intrarenales/extrarenales Hämatom. b Das i.v.Pyelogramm zeigt keine Ausscheidung
. Abb. 15.11. Dünndarmperforation
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Kapitel 15 · Prinzipien der pädiatrischen Traumatologie
kumprophylaxe mit Penicillin p. o. für 2 Jahre durchzuführen. Verletzungen der Hohlorgane oder der Gefäße sind dagegen seltener. > Entscheidend ist heute durch Fortschritte in der Diagnostik und Intensivmedizin die konservative Behandlung der parenchymatösen Organverletzungen. Lediglich bei nicht zu stabilisierenden Patienten und zunehmender Transfusionspflichtigkeit ist ein operatives Vorgehen sinnvoll. Erst die Kreislaufinstabilität, die in der Regel in den ersten 24 h auftritt, kann dann zusammen mit der Bildgebung die Indikation zur Laparotomie ergeben. Die Laparoskopie hat im Rahmen der Diagnostik des stumpfen Bauchtraumas keinen primären Stellenwert.
Literatur
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16
16 Wundversorgung und Bisswunden R. Boehm 16.1
Wundversorgung
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4
Allgemeines zur Wundversorgung – 151 Methoden zum Wundverschluss – 152 Typische Wund- und Verletzungsformen – 153 Wunden im Gesicht – 155
– 151
16.2
Bisswunden
16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4
Hundebissverletzungen – 156 Katzenbissverletzungen – 156 Wildtier- und Schlangenbissverletzungen Menschenbissverletzung – 157
– 155
– 156
Literatur – 157
> Die fachgerechte Versorgung von Verletzungen der Haut und Unterhaut bei Kindern und Jugendlichen ist eine der häufigsten Aufgaben in der kinderchirurgischen Ambulanz. Platz-, Quetsch- und Schürfwunden sowie Schnittverletzungen oder eingebrachte Fremdkörper erfordern auch bei offensichtlicher Harmlosigkeit stets eine gründlichste Exploration in adäquater Analgesie bis hin zur Narkose, um tieferreichende Verletzungen mit Läsionen von Sehen, Nerven und Gefäßen zu detektieren oder nach Bisswunden eine Wundreinigung und eine fachgerechte sowie kosmetisch optimierte Versorgung insbesondere bei Verletzungen im Gesichtsbereich zu gewährleisten. Diese Versorgung beinhaltet funktionelle Untersuchungsmethoden, adaptierte Techniken zum Wundverschluss bis hin zum prophylaktischen bzw. therapeutischen Einsatz von Antibiotika.
16.1
Wundversorgung
16.1.1
Allgemeines zur Wundversorgung
Verletzungen der Haut und Unterhaut bei Kindern und Jugendlichen sind häufig. Sie sind insbesondere im Kleinkindesalter durch die Neugier und Unsicherheit bei gleichzeitig mangelnder Erfahrung mit gefährlichen Situationen oder Gerätschaften bedingt. Bei älteren Kindern und Jugendlichen finden sich vermehrt Verletzungen durch handwerkliche Tätigkeiten, durch Spiel und Sport oder durch Verkehrsunfälle.
Als typische Verletzungen gelten Platz-, Quetsch- und Schürfwunden sowie Schnittverletzungen und die Einbringung von Fremdkörpern, wobei sich die Art der Hautverletzung in der Regel direkt aus dem Unfallmechanismus ableiten lässt. Die Wundkondition selbst hat durch die vorausgegangene mechanische Belastung des Gewebes und die daraus resultierende mehr oder weniger ausgeprägte Gewebeschädigung und durch die Kontaminierung einen direkten Einfluss auf den Heilungsverlauf. Dringlichkeit der Wundversorgung. Generell gilt, dass jede
Wunde unmittelbar, d. h. sobald wie möglich versorgt und verschlossen werden muss, um eine sekundäre Infektion mit den möglichen Folgen einer Wundheilungsstörung mit Lymphangitis, Phlegmone oder sogar Abszessbildung zu verhindern. Als Zeitfenster wird hier ein Intervall von 5–7 h nach dem Trauma gefordert, wobei Ausnahmen diese Regel bestätigen, z. B. bei der Versorgung von Verletzungen im Gesichtsbereich. Gesondert sind hier auch Bissverletzungen zu betrachten (7 Kap. 16.2). Wundreinigung. Unabdingbar ist aber in jedem Falle eine gründliche Reinigung und Desinfektion der Wunde, die immer als kontaminiert anzusehen ist, auch wenn sie makroskopisch und vom Aspekt her unverschmutzt erscheinen mag. Die Wundreinigung soll mechanisch und chemisch erfolgen, beispielsweise mit einer desinfizierenden Lösung aufgetragen auf einer Kompresse oder einem Tupfer. Bei grob verschmutzten Wunden muss zunächst eine minutiöse Entfer-
152
Kapitel 16 · Wundversorgung und Bisswunden
nung von aufliegenden oder eingedrungenen Fremdkörpern erfolgen mit nachfolgender Desinfektion. Die früher praktizierte Wundausschneidung ist nicht erforderlich. Infektionsprophylaxe und Tetanusschutz. Prinzipiell ist
keine systemische Infektionsprophylaxe in der Versorgung von Wunden notwendig, insbesondere wenn diese sich gut reinigen und desinfizieren lassen. Probleme können allerdings durch mit biologischem Material (z. B. Holz) stark verschmutzte Wunden bereiten. Hier kann der Wundverschluss unter einer einmaligen Antibiotikaprophylaxe mit einem Breitspektrumantibiotikum (z. B. einem Cephalosporin der 2. Generation o. ä.) vorgenommen werden. Ansonsten sollte eine Antibiotikabehandlung erst bei lokalen Infektionszeichen mit Phlegmone oder Lymphknotenschwellung erfolgen, die sich meist in den ersten 24–72 h zeigen; bei systemischen Infektionszeichen ist sie ohnehin nötig.
. Abb. 16.1. Platzwunde submental
> Heute kann in unseren Regionen prinzipiell von einer vollständigen Tetanus-Immunisierung der Kinder und Jugendlichen ausgegangen werden. Trotzdem sollte immer der Impfausweis eingesehen werden. Ist der Impfschutz nicht vorhanden oder nicht komplett, gelten die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO).
16.1.2
Methoden zum Wundverschluss
Für den Wundverschluss stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung. Sehr kleine Wunden, deren Wundränder sich schon spontan angenähert haben, können mit einem einfachen Pflaster abgedeckt werden.
. Abb. 16.2. Verschluss der Wunde mit Gewebekleber. Das Bild zeigt die Annäherung der Wundränder und den Auftrag des portionierten Klebers mit einer Einmalpipette
Wundverschluss mit Gewebekleber
16
Für kleinere Wunden bis ca. 4 cm Länge, insbesondere Platzwunden am behaarten Schädel oder im Gesicht, hat sich die Wundrandadaptation mit Gewebekleber etabliert. Diese setzt allerdings eine saubere, nicht mehr blutende und nicht infizierte Wunde voraus. Die Tiefe der Wunde, z. B. an der Kopfschwarte ist dabei eher unerheblich, allerdings müssen sich die Wundränder ohne Spannung annähern lassen (. Abb. 16.1 bis 16.3). Ein wesentlicher Vorteil dieses Verfahrens ist, dass keine Analgesie notwendig wird. Aber auch bei einer größeren Wunde kann ein Gewebekleber nach vorausgegangener subkutaner Adaptatation über eine Naht verwendet werden. Allerdings ist bei der Aufbringung dieses sehr rasch innerhalb von Sekunden abbindenden Klebstoffes peinlich darauf zu achten, dass insbesondere bei Wunden in der Nähe der Augen kein Klebstoff auf die Bindehaut oder zwischen die Lidkanten gerät.
Wundverschluss mit Naht Größere Wunden oder nur unter Spannung anzunähernde Wundränder z. B. bei Quetschverletzungen mit gleichzei-
. Abb. 16.3. Geschlossene Wunde
tiger Schwellung erfordern in der Regel einen mechanisch stabilen Hautverschluss mit einer Naht. Prinzipiell sollte hier der Einzelknopfnaht den Vorzug gegeben werden, da sie eher als eine fortlaufende Naht den Durchtritt von Wundsekret nach außen ermöglicht und weniger die Mi-
153 16.1 · Wundversorgung
krodurchblutung der ohnehin mechanisch belasteten Wundränder beeinträchtigt. Als Nähte wird in der Regel nicht-resorbierbares, monofiles Material verwendet, da dieses geringere Umgebungsreaktionen auslöst, was insbesondere bei Einzelknopfnähten zu einem kosmetisch besseren Ergebnis führt. Ein Nachteil ist, dass diese Nähte wieder entfernt werden müssen, was gerade bei Kleinkindern aufgrund der geringen Compliance erschwert sein kann. Im Einzelfall kann auch die Verwendung von resorbierbaren Fäden sinnvoll sein, beispielsweise an Verletzungen am Augenlid, um hier die Nahtentfernung zu vermeiden oder an Wunden im Bereich der Schleimhäute (Oral- oder Genitalbereich) oder am Lippenrot (7 Kap. 16.1.4). Im Gegensatz zur vorgenannten Wundklebung ist für eine Naht häufig eine Lokalanästhesie (topisch oder gegebenenfalls infiltrativ), eventuell sogar eine Allgemeinanästhesie erforderlich, insbesondere im Genitalbereich.
Wundverschluss mit alloplastischem Material Schürfwunden und ausgedehnte Verletzungen mit einer weiterreichenden Gewebezerstörung oder Gewebeverlust erfordern oftmals eine differenzierte und individuelle Behandlung. In der Regel ist kein primärer Wundverschluss im Sinne einer Wundrandadaptation mehr möglich. Hier muss nach einer gleichfalls gründlichen Wundreinigung eine sterile Abdeckung der Wundfläche erfolgen. Dabei können unterschiedliche Konzepte verfolgt werden. 4 Auflage von Fett-, Hydrokolloid- oder Silikongaze, die zum einen eine Feuchtigkeitsregulierung des abgedeckten Gewebes erlaubt und zum anderen durch die Gitterstruktur eine gute Drainage von Wundsekreten gewährleistet und vor Verklebungen schützt. 4 Besonders bei oberflächlichen Schürfwunden bietet sich die Auflage von selbstklebenden Hydrokolloidverbänden an, die in unterschiedlichen Stärken verfügbar sind. Ein Vorteil ist der gute mechanische Schutz und die Förderung der Epithelialisierung. Darüber hinaus sind diese Verbände bedingt flexibel und können somit gut über Gelenke angelegt werden. Eine zusätzliche Fixierung mit Pflasterfolien oder Bandagen wie bei Gazeverbänden ist nicht notwendig. 4 Bei komplexeren Wunden, die ohnehin eine chirurgische Rekonstruktion erfordern, bietet sich in der Pri-
märversorgung die Verwendung von einem gewebten Polyamidnetz (z. B. Tegapore) als temporärer Hautersatz an. Dieses erlaubt den Durchtritt von Wundexsudat, das dann in einer darüber liegenden Verbandsschicht aufgefangen werden muss und verklebt nicht mit dem Wundgrund, wobei ein Austrocknen vermieden werden sollte. Sämtliche genannte Verfahren der Wundversorgung erfordern eine gewisse Mitarbeit des Patienten. Zudem sind über die Gewebeklebung hinausgehende Maßnahmen schmerzhaft und machen eine entsprechende Analgesie unumgänglich. Diese ist bei älteren Kindern und Jugendlichen abhängig von der Wundart eventuell in Form einer Lokalanästhesie möglich. Ansonsten kann für eine gründliche Wundexploration und Wundversorgung eine Sedierung bzw. Allgemeinanästhesie notwendig werden. Da die betreffenden Kinder in der Regel nicht nüchtern sind, besteht hier ein gewisses Narkoserisiko, das immer mit den Eltern in Abwägung der Notwendigkeit der Wundversorgung diskutiert werden muss (. Tab. 16.1).
16.1.3
Typische Wundund Verletzungsformen
Platzwunden Lokalisation. Platzwunden werden in der Regel durch eine stumpfe Gewalteinwirkung auf die Haut gegen den harten Knochen hervorgerufen. Dies erklärt auch die typischen Lokalisationen dieser Verletzungen. So finden sich die häufigsten Platzwunden im Gesicht und hier bei Kleinkindern bedingt durch den Unfallmechanismus zumeist an der Stirn. Später folgen Verletzungen auch am Hinterkopf oder unter dem Kinn. Bei Jugendlichen treten diese Verletzungen vermehrt an den Streckseiten der Extremitäten und hier vor allem über den Gelenken auf. Platzwunden an den Wangen oder über dem Jochbein sind eher selten und zumeist durch direkte Schlageinwirkung bedingt (Faustschlag). Platzwunden am Schädel bluten zunächst oft stark, wobei eine alleinige Kompression hier schon eine Blutstillung bewirken kann. Wundversorgung. In den meisten Fällen lassen sich Platzwunden durch einen Gewebekleber verschließen, ansons-
. Tab. 16.1. Methoden des Wundverschlusses Form des Wundverschlusses
Einsatzgebiet
Pflaster
Kleine Wunden mit spontaner Wundrandadaptation
Gewebekleber
Kleine, saubere, nicht mehr blutende Wunden (<4 cm), ohne große Spannung
Naht
Wunden unter Spannung, über Gelenken (Konvexizitäten)
Alloplastisches Material
Flächige, verschmutzte Wunden mit Gewebeverlust
16
154
Kapitel 16 · Wundversorgung und Bisswunden
ten kann eine Naht der Wunde notwendig werden; im Zweifelsfall sollte immer genäht werden. Die Wundränder sind häufig unregelmäßig, so dass Narben verbleiben können. Das Infektionsrisiko ist bei adäquater Wundreinigung gering.
Quetschwunden Lokalisation. Quetschwunden sind zumeist durch das Einklemmen des betreffenden Hautareals zwischen harten Gegenständen oder letzterem und dem Patienten selbst bedingt, z. B. bei einem Sturz, vor allem an den Extremitäten, selten am Rumpf oder am Schädel. Nicht selten sind auch das Subkutangewebe und sogar tiefer gehende Strukturen betroffen; dies gilt insbesondere für Quetschwunden an der Hand, an den Fingern (7 Kap. 16.2) oder über den Gelenken aufgrund des hier verhältnismäßig dünnen Weichteilmantels. Typisches Beispiel hierfür ist die Einklemmverletzung des Sprungelenks in die Fahrradspeichen.
Gelegentlich können Schnittwunden im Gesicht geklebt werden, ansonsten ist auch hier die Naht der Wundränder die Methode der Wahl. Durch die relativ glatten Wundränder ist in der Regel der Wundverschluss gut möglich und die Infektionsrate sehr gering. Eine gewisse Sonderstellung nehmen die Fingerkuppenamputationen insbesondere bei kleinen Kindern ein. Sie können durch scharfe Metallkanten o. ä. aber auch durch Einklemmungen z. B. in der Türe hervorgerufen werden. Hier besteht die Therapie in der Readaptation des (Teil-)Amputates. Die Erholung des unter dem oftmals demarkiert erscheinenden Gewebes ist oft erstaunlich gut, kann aber viele Wochen benötigen. > Der äußere Aspekt einer Wunde kann über das tatsächliche Verletzungsausmaß hinwegtäuschen!
Schürfwunden Lokalisation. Ab dem Zeitpunkt, ab dem die Kinder laufen,
Wundversorgung. Diese Verletzungen gehen durch den
Mechanismus bedingt immer mit einer vermehrten Kompromittierung bis Zerstörung des Gewebes einher. Dies hat häufig Wundheilungsstörungen oder Infektionen durch sekundär absterbende Gewebeanteile zur Folge, so dass langfristige Heilungsverläufe. z. T. mit mehrfachen chirurgischen Interventionen im Sinne von Wunddébridements notwendig werden können. Gelegentlich müssen bei zugrunde gegangener Haut Hauttransplantationen durchgeführt werden. Die primäre Versorgung beinhaltet von einer Wundrandadaptation über eine Naht bis hin zu einer temporären Defektdeckung sämtliche genannten Verfahren, abhängig von dem Ausmaß der Verletzung, Häufig ist hier die Ausheilung mit einer Narbenbildung verbunden, die z. B. bei Verletzungen über Gelenken funktionell wirksam sein kann.
Schnittwunden Lokalisation. Schnittverletzungen bei kleinen Kindern sind
selten, sie finden sich eher ab dem Kindergartenalter, vor allem an den Händen oder Fingern durch Glas- und Keramikbruch bei Stürzen, seltener durch Messer, scharfe Gegenstände oder sonstige Werkzeuge. Derartige Verletzungen kommen bei Schulkindern oder Jugendlichen häufiger vor.
16
Wundversorgung. Allen Schnittverletzungen an den Hän-
den oder Fingern ist die Gefahr der Beteiligung von tiefer gehenden Strukturen, z. B. Sehnen, Nerven und Gefäßen gemeinsam, so dass hier immer eine gründliche Exploration in adäquater Analgesie oder in Narkose erfolgen muss; auch um Glas- oder Keramiksplitter zu bergen, die sehr tief eindringen können. Eine Röntgenuntersuchung kann Splitter darstellen, sofern letztere kontrastgebend sind, z. B. Bleiglas. Schnittverletzungen im Gesicht, am Rumpf oder an Armen und Beinen sind zumeist durch Verkehrsunfälle oder zersplittertes Fensterglas bedingt und weniger häufig.
bis zur Adoleszenz sind Schürfwunden sehr häufige Verletzungen. Sie entstehen durch tangentialen Abrieb der obersten Hautschicht (Epidermis) an einer rauen Oberfläche und finden sich unfalltechnisch bedingt an den Extremitäten, vor allem über den Streckseiten der großen Gelenke (Kniegelenk, Ellenbogen) aber auch am Schädel (Stirne, Jochbogen, Kinn). Wundversorgung. Schürfwunden bluten in der Regel we-
nig, sind aber schmerzhaft und nässen sehr häufig. Letzteres macht eine gründliche Wundreinigung und Desinfektion notwendig, gegebenenfalls auch eine Abdeckung, da Textilverbände rasch mit dem Wundgrund verkleben. So besteht die bestmögliche Therapie immer noch in einem Offenlassen der Wunde, die rasch eine Schutzschicht aus Fibrin bildet. Befinden sich Schürfwunden allerdings an normalerweise mit Kleidung bedeckten Lokalisationen, so bietet sich eine Abdeckung mit Hydrokolloidfolien an, die gleichzeitig einen mechanischen Schutz bietet. Schürfwunden heilen in der Regel folgenlos aus, die Infektionsrate ist nach gründlicher Reinigung und Desinfektion sehr gering.
Fremdkörper Fremdkörper werden in der Regel durch einen Sturz (Steine, Sand, Splitter etc.) oder durch Abrieb (Holz, Dornen) in oder unter die Haut eingetrieben. Die Entfernung dieses Fremdmaterials aus größerflächigen Wunden bereitet in der Regel keine Probleme. Lange und dünne Fremdkörper wie Holzspreißel oder Dornen sind oft nur erschwert zu bergen, gegebenenfalls nur unter adäquater Analgesie. Nicht selten verbleiben Reste, die dann z. T. sehr hartnäckige Weichteilinfektionen, sekundäre Abszesse und langwierige Heilungsverläufe zur Folge haben. ! Cave Prinzipiell ist jeder Fremdkörper als infektiös anzusehen.
155 16.2 · Bisswunden
Ein Wundverschluss sollte daher nur bei sauberen Wundverhältnissen erfolgen. Gerade nach Bergung von biologischen Fremdkörpern (Holz etc.) kann eine grobe Wundrandadaptation genügen, um den Sekretabfluss zu sichern; eventuell ist die Einlage einer Drainage sinnvoll.
16.1.4
Wunden im Gesicht
> Jede Verletzung, insbesondere Schnittwunde, muss sehr gründlich in adäquater Analgesie oder gegebenenfalls Narkose exploriert werden, um tiefer liegende Verletzungen von Gefäßen, Nerven und Sehnen zu erkennen.
16.2
Verletzungen im Gesicht nehmen eine Sonderstellung ein. Es sollte immer versucht werden, unter optimalen Bedingungen – womöglich unter Allgemeinanästhesie – ein kosmetisch bestmöglichstes Ergebnis zu erreichen. Dies betrifft vor allem Wunden, die aufgrund der Größe nicht geklebt werden können. Als Nahtmaterial sollten dünne Fadenstärken (4-0 bis 6-0) verwendet werden, am Augenlid und im Bereich des Lippenrotes bietet sich resorbierbares Material an. Bei Wunden im Gesicht kann zudem das vorgenannte Zeitfenster von 5–7 h überschritten werden, da einer offenen Wundbehandlung in der Regel eine kosmetische Wund- bzw. Narbenkorrektur folgt, die es zu vermeiden gilt. So kann nach Rücksprache mit den Eltern und einer Aufklärung über eine mögliche Sekundärinfektion mit Wundheilungsstörung hier auch noch ein Verschluss bis zu 24 h nach dem Unfallereignis erfolgen. Die Fadenentfernung im Gesicht sollte bereits nach 5 Tagen stattfinden, um Fremdkörperreaktionen an den Stichkanälen zu minimieren. Infizierte Wunden oder Wundabszesse im Gesicht müssen rasch chirurgisch saniert werden um eine Ausbreitung der Infektion zu vermeiden. In der Regel ist dann eine antibiotische Therapie – womöglich erregeradaptiert – nötig, gefolgt von einem Sekundärverschluss nach Ausheilung.
Bisswunden
Bisswunden bei Kindern und Jugendlichen können durch Hunde, Katzen und Menschen, seltener von Wildtieren oder Schlangen verursacht sein. Für die Therapie sind immer die Herkunft und der Mechanismus der Bissverletzung sowie die Lokalisation zu berücksichtigen; eine Einteilung in eine hieraus abzuleitende Risikogruppe hat sich bewährt (. Tab. 16.2). Diese Verletzungen sind immer als hochinfektiös zu betrachten, da durch die Zähne infektiöses oder toxisches Material tief in die Haut oder in darunter liegende Kompartimente eingebracht werden kann. Dies gilt insbesondere für die Hand, da hier bradytrophes Gewebe rasch kontaminiert werden kann, wodurch sich die hohe Infektionsrate von 15–20% erklärt. Somit muss jede Bissverletzung sehr genau exploriert und über eine Wundspülung gründlichst gereinigt werden – eventuell mit der Hilfe von Kanülen oder Sonden. Von Bedeutung ist auch ein primäres Débridement avitaler Gewebeanteile (Ausnahme Schlangenbiss, 7 Kap. 16.2.3) unter adäquater Analgesie bzw. Allgemeinanästhesie um die Infektionsrate zu senken und um gute klinisch-funktionelle und kosmetische Spätergebnisse zu erzielen. Die Entnahme eines primären Wundabstriches erbringt in der Regel keinen pathologischen Befund, so dass hierauf verzichtet werden kann.
. Tab. 16.2 Risikogruppe
High-risk-Bissverletzungen
Intermediate-risk-Bissverletzungen
Low-risk-Bissverletzungen
Herkunft
Unbekannt, Katzen
Menschen, Affen (besonderes Keimspektrum)
Hunde, Ratten, Mäuse
Lokalisation
Hand, Unterarm, Fuß, Schädel (Kleinkind, Säugling)
Rumpf, Gesicht (nicht bei Säuglingen und Kleinkindern)
Kopf (nicht bei Säuglingen, Kleinkindern), Rumpf, proximale Extremitäten
Ausmaß
Ausgedehntes Weichteiltrauma, Sehnen und Gelenkbeteiligung
Beschränktes Trauma, keine Sehnen und Gelenkbeteiligung
Schürfung, Ablederung, keine tiefe Verletzung
Zeit
>6 h nach Trauma
<6 h nach Trauma
<6 h nach Trauma
Patienten
Säuglinge und Kleinkinder (Schädel), Immunsuppression, Herzklappen
Jugendliche; Säuglinge und Kleinkinder (nicht am Schädel)
Jugendliche; Säuglinge und Kleinkinder (nicht am Schädel)
Wundbehandlung
Desinfektion, Débridement, offene Wundbehandlung Ausnahme: Gesicht
Desinfektion, Débridement, primärer Wundverschluss möglich, ansonsten offene Wundbehandlung
Desinfektion, Débridement, Wundabdeckung oder primärer Wundverschluss
Antibiotika
Obligat: Amoxicillin/Clavulansäure bzw. Erythromycin/Doxycyclin
Obligat: Amoxicillin/Clavulansäure bzw. Erythromycin/Doxycyclin
Keine primäre Therapie
16
156
Kapitel 16 · Wundversorgung und Bisswunden
Eine sog. prophylaktische Antibiotikagabe ist im Prinzip immer schon therapeutisch, da die Keiminokulation bereits stattgefunden hat. Sie wird uneinheitlich diskutiert, scheint aber vor allem bei Handverletzungen die Gesamtinfektionsrate abzusenken; bei Infektionszeichen im Verlauf ist die Therapie immer indiziert. Empfohlen werden hier β-Laktamase-stabile Kombinationspenicilline, z. B. Amoxicillin und Clavulansäure. Typische Keime sind Streptokokken, Staphylokokken, Capnozytophaga canimorsus, Pasteurella multicoda und Anaerobier; Francisella tularensis und Bartonella henselae (vor allem bei Katzen). Die menschliche Rachenflora zeigt zudem eine höhere Prävalenz für Staphylococcus aureus und Eikenella corrodens.
16.2.1
Hundebissverletzungen
Lokalisation. 50–75% aller Bissverletzungen werden durch Hunde verursacht und finden sich bei kleineren Kindern (<5 Jahren) vor allem im Gesicht, an den Unterarmen und Händen, weniger an den unteren Extremitäten (Unterschenkel, Knöchel); letzteres dann vermehrt bei älteren Kindern und Jugendlichen. Charakteristika. Diese Bisswunden sind meistens gekennzeichnet durch eine lokale Gewebedestruktion durch den sehr kräftigen Kieferschluss des Tieres, oberflächliche bis tiefe Bisskanäle durch die Reißzähne, Zerreißungen und Quetschungen sowie tiefe Einbringung von infektiösem Material. Das Ausmaß der Verletzungen reicht von kleinen Lazerationen bis hin zu großen Substanzdefekten. > Zunächst ist immer der Tollwut-Impfstatus des Tieres zu klären, eventuell mit polizeilicher Unterstützung, denn bei negativem oder unklarem Impfstatus muss eine aufwändige und belastende postexpositionelle Immunisierung gemäß der Vorgaben der STIKO erfolgen.
16
Wundversorgung. Der primäre Verschluss von Bisswunden am Rumpf und an den Extremitäten wird kontrovers diskutiert. Sinn macht sicherlich die offene Behandlung von tiefen Bisskanälen d. h. nach gründlichster Reinigung und evtl. Débridement werden die Wunden steril abgedeckt. Bei klaffenden Wunden oder Lazerationen kann eine »undichte« Wundrandadaptation, eventuell mit Drainageneinlage, erfolgen. Auf eine Subkutannaht sollte, wenn möglich, verzichtet werden. Große Defekte werden sekundär plastisch-chirurgisch geschlossen. Wunden im Gesicht sollen nach den genannten Kriterien gereinigt und unter einem Antibiotikaschutz ästhetisch adäquat verschlossen werden, welcher dann noch für 5–7 Tage womöglich intravenös fortgeführt werden sollte. Zudem ist die Infektionsrate im Gesicht niedriger als an den Extremitäten, wohl aufgrund der besseren Durchblutung des betroffenen Gewebes (2–5%). Ansonsten treten Komplikationen wie Wundheilungsstörungen und Infektionen oder Abszesse in
8–12% der Fälle auf und erfordern dann das bereits beschriebene Vorgehen (7 Kap. 16.1.1).
16.2.2
Katzenbissverletzungen
Lokalisation. Bissverletzungen durch eine Katze (3–5%) finden sich in der Regel an der Hand. Wundversorgung. Durch die langen Eckzähne der Tiere
werden Bakterien durch oft nur punktuelle Hautläsionen tief eingebracht, so dass immer von einer Kontaminierung der tiefen Handkompartimente, evtl. auch des Periostes und der Knochen ausgegangen werden muss (High-riskVerletzung). Die unmittelbare Antibiotikagabe ist daher obligat. Spätestens bei einer zunehmenden Schwellung des Handrückens oder der Handfläche muss dann von einer Hohlhandphlegmone ausgegangen werden, die zum einen durch den aggressiven Pus und zum andern durch den entstehenden Druck Nerven, Gefäße und Sehnen gefährdet. Hier muss die sofortige Spaltung der Kompartimente erfolgen. Der weitere Verlauf ist in der Regel sehr langwierig, auch bei negativem Keimnachweis kann das immer sehr starke Gewebeödem einen sekundären Wundverschluss lange hinauszögern. > Bei einer Hohlhandphlegmone ist eine rasch initiierte und konsequent durchzuführende Physio- und Ergotherapie wichtig, um die Funktion wieder herzustellen.
16.2.3
Wildtier- und Schlangenbissverletzungen
Wildtierbisse. Bisse durch Wildtiere (2–4%) sind zumeist durch überraschte und erschreckte Nager verursacht. Ein diesbezüglich auffälliges Tierverhalten, wie z. B. verlorene Scheu bei einem Fuchs, muss immer an eine Tollwutinfektion denken lassen und erfordert in Abstimmung mit den Vorgaben der STIKO eine postexpositionelle Impfung. Die Wunden selbst müssen wie die vorgenannten Bissverletzungen versorgt werden und gelten gleichfalls immer als infektiös. Abgesehen vom Gesicht wird in diesen Fällen auch eine offene Wundbehandlung durchgeführt. Schlangenbisse. Schlangenbisse in Mitteleuropa sind eher
selten (0,2–0,5%). Zumeist sind Jugendliche betroffen; die häufigsten Lokalisationen sind der Fuß und die Hand, die eine typische »Doppelpunkt«-Bissmarke aufweisen. Zunächst steht die intensivmedizinische Überwachung des Patienten, die Eruierung der Schlangenart und im Bedarfsfalle die Einleitung einer Antivenintherapie im Vordergrund. Nach Stabilisierung des Patienten, Wundreinigung und Desinfektion ist die weitere Wundtherapie immer sekundär. Oft zeigt sich erst nach Tagen das Ausmaß des
157 16.2 · Bisswunden
durch die Toxine bewirkten Gewebeuntergangs, das dann häufig aufwändige Rekonstruktionen nach sich ziehen kann (Hauttransplantationen, Schwenklappenplastiken etc.).
16.2.4
Menschenbissverletzung
Bissverletzungen durch Menschen erfolgen entweder durch einen direkten Biss, vor allem bei Kindern im Kindergartenalter oder indirekt durch einen Schlag gegen das Gebiss eines anderen, hier in der Regel bei Jugendlichen. Generell ist aufgrund der speziellen Mundflora des Menschen mit vor allem β-Laktamase-resistenten anaeroben Bakterien von einer hohen Infektionsrate auszugehen (20–25%), die eine offene Wundbehandlung nach gründlicher Desinfektion erfordert. Ein hohes Risiko für eine Infektion (55–60%), Abszessbildung und sogar Osteomyelitiden (20–25 %) haben insbesondere Schlagverletzungen, da aus der Streckung der Hand und der Finger nach einem Faustschlag eine Verschiebung der Wundflächen resultiert, mit einer Kontamination zunächst sauberen Gewebes mit Mundkeimen, die dann zudem in einem abgeschlossenen Kompartiment anaerobe Bedingungen vorfinden. Die Heilungsverläufe sind oft langfristig und beinhalten häufig chirurgische Débridements, Abszessspaltungen, Drainagen und schließlich sekundäre Wundverschlüsse oder Narbenkorrekturen.
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16
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17
17 Schädel-Hirn-Trauma H.-G. Dietz 17.1
Ursächliche Mechanismen
17.1.1 17.1.2
Geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma – 159 Penetrierendes Geschehen beim Schädel-HirnTrauma – 159
– 159
17.2
Pathophysiologie
17.3
Diagnostik
17.3.1 17.3.2
Neurologische Untersuchung – 160 Röntgenuntersuchung – 161
– 159
– 160
> Das Schädel-Hirn-Trauma ist im Kindesalter ein häufiges Ereignis und die Inzidenz wird auf 1–2/1000 Kinder beziffert (. Tab. 17.1). Die Einteilung in Commotio, Contusio und Compressio cerebri bzw. in leichtes, mittleres und schweres Schädel-Hirn-Trauma ist vor allem auch für den diagnostischen Algorithmus, die therapeutische Option und die Prognose von herausragender Bedeutung. Viele der Kinder mit Schädel-Hirn-Trauma erleiden ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma mit hervorragender Prognose. Allerdings sind ca. 6% der Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma schwerstverletzte Kinder, die eine maximale intensivmedizinische Therapie benötigen. Bei ca. 5% der Kinder mit Schädel-Hirn-Traumen kommt es zum tödlichen Ausgang oder aber zum »apallischen Syndrom«.
17.1
Ursächliche Mechanismen
Direktes oder indirektes Trauma führen zu Rotations- und Verschiebekräften in den neuronalen Strukturen und es kommt zu Scherkräften auf vaskuläre und parenchymatöse Strukturen mit nicht vorhersehbaren Zerstörungen. . Tab. 17.1. Unfallstatistik 0–15 Jahre
Etwa 1,5-2 Millionen Unfälle/Jahr
Davon
Etwa 1000 tödliche Unfälle
Schädel-Hirn-Trauma
50–55% aller Verletzungen
17.3.3 17.3.4 17.3.5
Ultraschalluntersuchung – 161 Kraniale Computertomographie – 161 Kernspintomographie – 161
17.4
Behandlungsrichtlinien
17.4.1 17.4.2 17.4.3
Leichtes Schädel-Hirn-Trauma – 161 Mittleres Schädel-Hirn-Trauma – 162 Schweres Schädel-Hirn-Trauma – 163
– 161
Literatur – 166
17.1.1
Geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma
Ein direktes Trauma durch direkte Gewalteinwirkung auf den Schädel führt zu fokalem Gewebsuntergang, aber auch bei einem »contre-coup« aufgrund eines »Rebound«-Mechanismus. Als Folge einer Beschleunigung oder abrupten Abbremsung in der Sagittalebene kommt es häufig zu Verletzungen der temporalen und frontalen Gehirnabschnitte.
17.1.2
Penetrierendes Geschehen beim Schädel-Hirn-Trauma
Das in Mitteleuropa sehr seltene penetrierende SchädelHirn-Trauma führt aufgrund einer direkten Zerstörung der intrazerebralen Strukturen zu Durchblutungsstörungen und metabolischen Ereignissen mit nachfolgender Abgabe von Neurotransmittern, die dann weitere Zerstörungen auf zellulärer Ebene provozieren.
17.2
Pathophysiologie
Grundlage der Zerstörung ist das Missverhältnis insbesondere jenseits des 5. Lebensjahres vom starren knöchernen Schädel und der Druckerhöhung intrakraniell. Jede Raumforderung, jede Volumenzunahme, sei sie hervorgerufen durch Hirnödem, Liquor oder Blut, führt zu einer Gesamtvolumenzunahme, die eine plötzliche Steigerung des intra-
160
Kapitel 17 · Schädel-Hirn-Trauma
zerebralen Druckes zur Folge hat. Abhängig von Alter und zeitlichem Ablauf kommt es zu einer Dekompensation der Zunahme des intrakraniellen Volumens mit Intoleranz der Volumenzunahme und Erhöhung des intrakraniellen Druckes (ICP). > Für das Kindesalter liegt die Grenze bei ICP-Werten von 33 cm H2O, eine Steigerung darüber hinaus führt zu gravierenden Beeinträchtigungen der zerebralen Durchblutung.
Die hohe Abhängigkeit der Oxygenierung des Gehirns mit 20% des Gesamtsauerstoffbedarfs des Körpers und das hohe Blutflussvolumen mit 15% des Herzminutenvolumens demonstrieren dies eindrücklich. Die zerebrale Ischämie und die dann folgende Hypoxie führen zu gravierenden Störungen in der Mikrostrombahn und letztendlich zu schweren Schäden auf zellulärer Ebene. Entscheidende Bedeutung kommt hier dem zerebralen Blutfluss zu. Der zerebrale Blutfluss wird als Differenz zwischen arteriellem Mitteldruck und dem intrakraniellen Druck bestimmt. Mit Zunahme des intrakraniellen Druckes kommt es bei ca. 10 mmHg Perfusionsdruck zum Erliegen der zerebralen Durchblutung. Nach derzeitigen Untersuchungen ist ein Perfusionsdruck von über 60 mmHg anzustreben, da dann deutlich weniger Folgeschäden zu befürchten sind. Hauptursache für die Steigerung des ICP ist das Hirnödem. Entweder ein direktes Trauma oder die Durchblutungsstörung führen zu einer Gewebeschwellung mit allen deletären Folgen der gestörten intra- und extrazellulären Homöostase. Infolgedessen kommt es zu einer dramatisch schnellen Entstehung des Hirnödems, das durchaus in kurzer Zeit zu lebensbedrohlichen Situationen führen kann. Speziell bei Patienten mit einem niedrigen GCS (<8) ist der Blutfluss in den ersten 24 h extrem niedrig. Zu einem späteren Zeitpunkt kann es – hervorgerufen durch Vasospasmen – zu zusätzlichen ischämischen Schäden am Gehirn kommen. Die komplizierten Zusammenhänge zwischen zerebralem Blutfluss und zerebralem Stoffwechsel sind noch nicht komplett verstanden und somit therapeutisch auch heute noch nicht eindeutig anzugehen. Dennoch kann fest-
gestellt werden, dass es bereits bei einer mäßiggradigen Erhöhung des zerebralen Blutflusses zu einem positiven Effekt bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma kommt. Die Vernetzung von Blutfluss, Perfusionsdruck und Blutvolumen kann über die Autoregulation in Grenzen zu Kompensationen führen. Die Compliance des Gehirns sowie die Beziehung zwischen Gewebedruck und Volumen zeigen sich in der Ausprägung der ICP-Kurve. Die pathologische Zunahme des ICP und der Verlust der Autoregulation in den Gefäßen und Kapillaren führen dann offensichtlich auch zu Störungen im Liquorsystem.
17.3
Diagnostik
17.3.1
Neurologische Untersuchung
Vordringlich in der Diagnostik bei Patienten mit SchädelHirn-Trauma ist die neurologische Untersuchung. Darüber darf allerdings nicht vergessen werden, dass Patienten mit isoliertem oder zusätzlichem Schädel-Hirn-Trauma auch unter systemischen Problemen wie Hypotonie und Hypoxie leiden können, und hier ist dringlichste Therapie für die Erhaltung und Stabilisierung der Vitalfunktionen geboten. Im Zentrum der klinischen Diagnostik steht der Glasgow Coma Scale; optimiert wird dieser durch den Childrens Glasgow Coma Scale mit Mitbeurteilung von Vitalfunktion, Atmung und Zirkulation (. Tab. 17.2 und 17.3). Beim Glasgow Coma Scale bedeuten 15 Punkte die regelrechte Okulomotorik, die adäquate Motorik und die unbeeinträchtigte Orientierung des Patienten, während 13 Punkte z. B. kurzfristige Einschränkungen der Orientierung zeigen mit gezielter Schmerzreaktion, die dann mit Augenöffnen auf Anruf erfolgt. Für die Klassifikation zu beachten ist, dass bei einem gesunden Säugling, bei dem die subkortikale Hirnstromfunktion im Vordergrund steht, die volle Punktzahl gar nicht erreicht werden kann. Beispielsweise wird der Säugling auf Schmerzreiz die Augen verzerrt verschließen, während der Zweijährige die Augen öffnen wird.
. Tab. 17.2. Glasgow Coma Scale
17
Augen öffnen
Verbale Antwort
Motorische Reaktion
Punkte
–
–
Befolgt Aufforderungen
6 Punkte
–
Spricht verständlich, orientiert
Gezielte Schmerzabwehr
5 Punkte
Spontan
Spricht unzusammenhängend, verwirrt, desorientiert
Beugebewegung bei Schmerzreiz
4 Punkte
Auf Anruf
Inadäquat
Auf Schmerzreiz Beugeabwehr (abnormale Beugung)
3 Punkte
Auf Schmerzreiz
Unverständliche Laute
Auf Schmerzreiz Strecksynergismen
2 Punkte
Keine Augenöffnung
Keine verbale Reaktion
Keine Reaktion auf Schmerzreiz
1 Punkt
Maximale Gesamtpunktzahl: 15; minimale Gesamtpunktzahl: 3
161 17.4 · Behandlungsrichtlinien
. Tab. 17.3. Childrens Glasgow Coma Scale Augen öffnen
Beste verbale Kommunikation
Beste motorische Reaktion
Punkte
–
–
Spontane Bewegungen
6 Punkte
–
Erkennen, plappern, brabbeln
Auf Schmerzreiz, gezielt
5 Punkte
Spontan
Schreien, aber tröstbar
Auf Schmerzreiz, normale Beugeabwehr
4 Punkte
Auf Anruf
Schreien, untröstbar, nur zeitweise erweckbar
Auf Schmerzreiz, abnorme Abwehr
3 Punkte
Auf Schmerzreiz
Stöhnen oder unverständliche Laute
Auf Schmerzreiz, Strecksynergismen
2 Punkte
Keine Reaktion
Kein Kontakt zur Umwelt
Keine Reaktion auf Schmerzreiz
1 Punkt
Für Kinder unter 3 Jahre empfohlen Maximale Gesamtpunktzahl: 15; minimale Gesamtpunktzahl: 3
Übersicht Differenzierung durch den Glasgow Coma Scale 4 Schweres Schädel-Hirn-Trauma GCS ≤8 4 Mittleres Schädel-Hirn-Trauma GCS 9–12 4 Leichtes Schädel-Hirn-Trauma GCS 13–15
17.3.2
gestellt werden wie die Veränderungen der Liquorräume (. Abb. 17.1). Während beim schweren Schädel-HirnTrauma (GCS <8) die CCT-Untersuchung obligat ist, ist beim mittleren Schädel-Hirn-Trauma die Untersuchung fakultativ aber durchaus wünschenswert. In jedem Falle ist die CCT-Untersuchung bei jedem Kind mit Schädel-HirnTrauma mit einer neurologischen Auffälligkeit von Notwendigkeit.
Röntgenuntersuchung 17.3.5
Die immer wiederkehrende Frage nach der Wertigkeit der Röntgenuntersuchung des Schädels ist noch im Fluss. Es kann jedoch festgestellt werden, dass die Röntgen-Schädeluntersuchung weit in den Hintergrund gedrängt ist. Es kommt ihr als erste und überall verfügbare Diagnostik nur noch z. B. bei tastbaren Stufen und bei vermuteten knöchernen Verletzungen beim leichten Schädel-Hirn-Trauma Bedeutung zu. Die häufig genannte forensische Indikation ist nicht ausschlaggebend, da immer die neurologische Untersuchung und das CCT von übergeordneter Bedeutung sind.
17.3.3
Ultraschalluntersuchung
Die Sonographie kann bei offener Fontanelle bei Kindern vor dem 1. Lebensjahr durchaus an erster Stelle eingesetzt werden und brauchbare Ergebnisse erzielen. Die hintere Schädelgrube entzieht sich allerdings der Beurteilung.
17.3.4
Kraniale Computertomographie
Die CCT-Untersuchung ist heute im Zentrum bei der Beurteilung des Schädel-Hirn-Traumas zu sehen. Sie zeigt neben den Frakturen insbesondere die intrakraniellen Blutungen, seien sie epi-, subdural oder parenchymatös. Kontusionen und Mittellinienverlagerung können ebenso dar-
Kernspintomographie
Die Kernspinuntersuchung hat im akuten Management des Schädel-Hirn-Traumas wenig Bedeutung, in der Verlaufsbeurteilung bzw. dann zur Bestandsaufnahme von Residuen der Verletzung ist das Kernspin von hohem Wert.
17.4
Behandlungsrichtlinien
17.4.1
Leichtes Schädel-Hirn-Trauma
Das leichte Schädel-Hirn-Trauma hat kein einheitliches Behandlungsschema. Insbesondere sind hier auch die Modalitäten der Überwachung sehr unterschiedlich. Während die intrakraniellen Probleme deutlich zurücktreten, können unkomplizierte Schädelfrakturen auftreten und im Säuglings- und Neugeborenenalter auch speziell in Form von sog. Ping-Pong-Frakturen vorliegen. Entsprechend den Kalottenfrakturen, die nur wenig Probleme mit sich bringen und lediglich in seltenen Fällen bei Einschlag von Periost und eingerissener Dura zur wachsenden Fraktur führen, sind die Ping-Pong-Frakturen bei Säuglingen nicht immer behandlungsbedürftig (. Abb. 17.2 und 17.3). Einerseits kann es durch den intrakraniellen Druck zu spontanem Remodelling kommen, andererseits sind nur Impressionen über doppelte Kalottenbreite wie auch die Impressionsfrakturen tiefer als 1 cm operativ zu heben.
17
162
Kapitel 17 · Schädel-Hirn-Trauma
. Abb. 17.1. Computertomographie: epidurales Hämatom
Eine notwendige Einschränkung besteht beim Gesichtsschädel. Vor allem bei Orbitabodenfrakturen muss nach Dünnschicht-CT notfalls die Stufenbildung oder Fehlstellung korrigiert werden. Frakturen der Schädelbasis können meist konservativ behandelt werden; in Ausnahmefällen erfolgt die neurochirurgische Rekonstruktion. Problembereich können Frakturen des Gesichtsschädels werden, die in interdisziplinärer Zusammenarbeit korrigiert werden.
17.4.2
Mittleres Schädel-Hirn-Trauma
Bei Patienten mit mittlerem Schädel-Hirn-Trauma ist die neurologische Situation entscheidend für die weiteren Maßnahmen, eine stationäre Überwachung aber unabdingbar. . Abb. 17.3a, b. Impressionsfraktur (Ping-Pong-Fraktur) bei einem Neugeborenen. a Röntgenbefund. b Computertomographischer Befund
17
a
. Abb. 17.2. Klinischer Aspekt einer Impressionsfraktur
b
163 17.4 · Behandlungsrichtlinien
17.4.3
Schweres Schädel-Hirn-Trauma
Bei Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma muss immer von einem erhöhten ICP ausgegangen werden. Somit sind die Senkung des ICP und die Erhaltung eines ausreichenden zerebralen Blutflusses von höchster Dringlichkeit. Die Hirndrucksteigerung kann unmittelbar nach dem Unfall vorliegen; normalerweise kommt es aber erst innerhalb der ersten Tage zu einem Maximaldruck, gelegentlich auch zu Spitzendrücken innerhalb der ersten Woche. Der erhöhte Hirndruck kann durchaus über einen längeren Zeitraum (Wochen) behandlungsbedürftig bleiben. Nach der Initialuntersuchung und der Stabilisierung der Vitalfunktion und der weiteren Diagnostik (insbesondere auch ist auf HWS-Verletzungen zu achten) wird entsprechend der CT-Untersuchung das Vorgehen gewählt. ! Cave Intrakranielle Blutungen mit bedeutenden Massenverschiebung und Mittellinienverlagerung müssen so schnell wie möglich ausgeräumt und entlastet werden (. Abb. 17.4).
So lange keine chirurgische Intervention wegen Blutungen oder Frakturen notwendig ist, ist die erste Maßnahme für die Einleitung der Behandlung des schweren SchädelHirn-Traumas die intrakranielle Druckmessung. Die intrakranielle Druckmessung erfolgt – wenn möglich – über einen Ventrikelkatheter (. Abb. 17.5). So das Ventrikelsystem aufgrund der Hirnschwellung nicht zu punktieren ist sollte ein Parenchymkatheter eingelegt werden. Erst die
Messung des Ventrikel- oder Parenchymdrucks und das Monitoring desselben lässt dann eine adäquate Hirndrucktherapie einleiten. Eine Hirndruckerhöhung auf 20mmHg oder höher ist als pathologisch zu werten.
Übersicht ICP-/CPP-Monitoring bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma 4 GCS ≤8, beatmet, analgosediert, relaxiert 4 Hirndrucksonde – Epidural – Parenchymatös – Intraventrikulär 4 Blutige arterielle Druckmessung 4 Zentralvenenkatheter
Zur Erhaltung der intrakraniellen Durchblutung sollten folgende therapeutische Maßnahmen ergriffen werden (. Tab. 17.5): Physikalische Maßnahmen. Entscheidende Bedeutung kommt dem Hochlagern des Oberkörpers (30°) wie auch der Regulierung der Körpertemperatur zu, die idealerweise auf 36,5° gebracht wird. Ventilation. Bei der Respiratorbeatmung sollen die exspiratorischen Drucke auf ein Minimum reduziert werden. Die Hyperventilation führt zu Hypokapnie und damit zu einem reduzierten zerebralen Blutfluss durch die Vasokonstruktion. Es wird eine moderate Hyperventilation mit
. Abb. 17.4. Osteoklastische Trepanation bei epiduralem Hämatom
17
164
Kapitel 17 · Schädel-Hirn-Trauma
a
b
. Abb. 17.5a, b. Intraventrikuläre Hirndruckmessung. a Klinischer Situs. b Computertomographischer Befund
17
einem PaCO2 von 35–40 mmHg angestrebt und ein PaO2 von 100–115 mmHg.
Pufferung. Die TRIS-Pufferung sollte mit einer Einzeldosierung in der 0,3 mOsmol-Lösung erfolgen.
Sedation, Analgesie und Relaxation. Eine adäquate Sedierung und Analgesie ist erforderlich, um schädliche Hirndruckerhöhungen zu unterdrücken. Die Analgosedierung mit Midazolam (0,05–0,1 mg/kg KG/h) und Piritramid (0,05–0,1 mg/kg KG/h) steht immer an erster Stelle. Weiterhin sollte eine Relaxierung mit z. B. Vecuronium in der Dosierung von 0,05–0,1 mg/kg KG/h) durchgeführt werden. Wichtig ist auch die Verhinderung von Muskelaktivitäten wie Husten bzw. Atmen gegen den Respirator, die den intrathorakalen, intraabdominellen und damit auch den intrazerebralen Druck erhöhen.
Osmotische Diuretikatherapie. Osmotische Diuretika wie
Barbiturattherapie. Eine hochdosierte Barbiturattherapie, wie z. B. Tiopental (Bolus 5 mg/kg KG oder Dauertherapie 1–3 mg/kg KG/h) kann den zerebralen Metabolismus senken und somit schädliche Spiegel von Glutamat, Asparat und Laktat im Gehirn verhindern. Barbiturate sollen auch einen protektiven Effekt auf den intrakraniellen Druck haben und durch Stoffwechselreduzierung und Reduzierung des regionalen Blutbedarfs bewirken. Beim hämodynamisch instabilen Patienten können allerdings Probleme auftauchen. Wesentlich ist, dass eine Hypotonie ausgeschlossen ist. Dann kann bei stabilen Kreislaufverhältnissen eine Flüssigkeitsrestriktion auf zwei Drittel bis drei Viertel des normalen Bedarfs gesenkt werden.
Mannit können erfolgreich mit Bolusinfusionen alle 4–6 h mit einer Dosis von 0,5–1,0 g/kg KG eingesetzt werden. Die Serumosmolarität sollte unter 320 mOsmol gehalten werden, um ein Nierenversagen zu vermeiden. Mannit hat einen rheologischen Effekt und verändert die Blutviskosität, erhöht die zerebrale Sauerstoffaufnahme und erhöht den zerebralen Blutfluss. Der Effekt ist verzögert und da Mannit in den Gehirnzellen akkumulieren kann, kann dies zu einem erneuten osmotischen Shift mit Hirnzellschwellung führen, weswegen man die Bolusinjektionen bevorzugt. Kortikosteroidtherapie. Für Kortikosteroide gibt es keine Indikation und es konnte auch bis heute kein protektiver Effekt nachgewiesen werden. Chirurgische Therapie. Als chirurgische Therapie kann neben der Liquordrainage mit Volumenreduzierung, die Dekompressionskraniektomie durchgeführt werden. Bei intraktablen Drucken kann die rechtzeitig durchgeführte, bifrontale Dekompressionskraniektomie, erfolgreich durchgeführt werden. Allerdings muss die Kraniektomie rechtzeitig vor Erreichen eines ireversiblen Schadens durchgeführt werden (. Abb. 17.6 und 17.7).
165 17.4 · Behandlungsrichtlinien
. Abb. 17.6. Exzessives Hirnödem
Übersicht Hirndrucktherapie 4 4 4 4 4 4 4
Hirndrucktherapie Kopf in Mittelstellung Oberkörperhochlagerung bis 30° Analgosedierung: Midazolam, Piritramid Evtl. Relaxierung: Vecuronium Flüssigkeitsrestriktion Temperatursenkung
4 Respiratortherapie – Moderate Hyperventilation PaCO2 30–35 mmHg – PaO2 ≥100 mmHg – Mannitol, Furosemid 4 Thiopental/Brevimytal 4 Tris-Puffer 4 Liquordrainage 4 Osteoklastische Trepanation
17
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Kapitel 17 · Schädel-Hirn-Trauma
a
c
Literatur
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18
18 Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea R. Grantzow
18.1
Halsfistel und Halszysten
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5
Embryologie und Anatomie – 167 Diagnostik – 168 Differenzialdiagnose – 168 Therapie – 168 Komplikationen und Prognose – 169
– 167
18.8
Venöse Malformationen
18.2
Mediane Halsspalten
18.3
Pterygium colli
18.4
Ranula
18.5
Dermoidzysten
18.6
– 172
18.9
Erkrankungen der Schilddrüse – 173
18.9.1 18.9.2 18.9.3
Embryologie und anatomische Besonderheiten – 173 Gutartige Erkrankungen – 173 Bösartige Erkrankungen – 173
18.10
Erkrankungen der Nebenschilddrüse
18.11
Entzündliche Erkrankungen des Halses – 174
18.12
Gutartige Tumoren
Hämangiome – 170
18.13
Maligne Tumoren
18.7
Lymphangiome – 171
18.14
Trachea
18.7.1 18.7.2 18.7.3 18.7.4
Embryologie und Anatomie – 171 Klinisches Bild und Diagnostik – 171 Therapie – 171 Postoperative Probleme und Prognose
18.14.1
Tracheostoma
– 169 – 174
– 169
– 170 – 170
– 175 – 175
– 176 – 176
Literatur – 177 – 172
> Fehlbildungen des Halses betreffen von den Kiemengängen und dem Ductus thyreoglossus ausgehend Fisteln und Zysten sowie die äußerst selten auftretenden medianen Halsspalten und Flügelfellbildungen (Pterygium colli). Pathologien der Gefäßsysteme hingegen werden in dieser Region häufiger gesehen und imponieren als Gefäßtumoren wie Hämangiome und kongenitale Gefäßmalformationen wie Lymphangiome und Blutgefäßdysplasien. Chirurgische Erkrankungen der Schilddrüse im Kindesalter sind selten und sollten daher in entsprechenden Zentren behandelt werden. Entzündliche Veränderungen betreffen überwiegend Lymphknoten; hier sei insbesondere auf den Befall mit atypischen Mykobakterien hingewiesen. Malignome der Halsregion sind in erster Linie Lymphknotenveränderungen beim M. Hodgkin oder Non-Hodgkin-Lymphom, seltener hingegen Sarkome oder Neuroblastome. Trotz besserer Infektionsprophylaxen kann auch in heutiger Zeit bei bestimmten Veränderungen der Trachea die Anlage von Tracheostomien notwendig sein.
18.1
Halsfistel und Halszysten
18.1.1
Embryologie und Anatomie
Aus embryologischen Gründen müssen Halsfisteln und -zysten in laterale und mediane unterschieden werden. Laterale Halsfisteln (. Abb. 18.1) haben ihren Ursprung in einer inkompletten Rückbildung des zweiten Kiemenganges, der während einer kurzen Zeit der embryonalen Entwicklung ausgebildet wird. Entsprechend sind die lateralen Fisteln an den Seiten des Halses zu finden. Ausgangspunkt ist in der Regel die seitliche Wand des Rachenraums. Gelegentlich kann eine gewisse Nähe zum Ramus marginalis des N. facialis, zum N. accessorius, N. hypoglossus und N. vagus bestehen. Völlig anders hingegen verläuft die Entwicklung der wesentlich häufiger auftretenden medianen Halsfisteln (. Abb. 18.2). Sie entstehen durch den mangelnden Verschluss des Ductus thyreoglossus, der temporär als Folge des Descensus der Schilddrüse vom Zungengrund in das
168
Kapitel 18 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea
graphie hilfreich sein und differenzialdiagnostisch ein zystisches Lymphangiom ausschließen. Bezüglich weiterführender Diagnostik bleibt aber stets zu bedenken, dass Halsfistelgänge äußerst klein sind und damit bei Schnittbildverfahren (Sonographie, MRT) nicht adäquat gesehen werden können. Dies gilt insbesondere bei Rezidiven, deren umliegendes Narbengewebe den Fistelgang zusätzlich verkleinert und verzieht. Auf die intraoperative Darstellung mit Blau wird später eingegangen. Bei Halszysten ohne Ausführungsgang hingegen kann eine Bildgebung sinnvoll sein um einerseits Beziehungen zu benachbarten Strukturen zu sehen und andererseits auch eine Artdiagnose treffen zu können.
. Abb. 18.1. Infizierte laterale Halszyste
untere Halsdrittel entsteht. Beginn der medianen Fisteln ist daher stets das Foramen caecum am Zungengrund. Im weiteren Verlauf führen diese Fisteln durch das Korpus des Zungenbeins zur Halsvorderseite.
18.1.2
Diagnostik
Unkomplizierte Halsfisteln stellen eine Blickdiagnose dar und bedürfen keiner weiteren technischen Untersuchung. Bei Zysten, also blind endenden Fisteln, kann eine Sono-
18.1.3
Differenzialdiagnose
Bei Halsfisteln mit entzündlich veränderten Mündungen kommen differenzialdiagnostisch in erster Linie spontan eröffnete eingeschmolzene Lymphknoten im Rahmen einer Lymphadenitis colli in Frage. Nichtentzündliche Alternativen stellen Ranula, zystische Lymphangiome und Zysten der Schilddrüse dar, ferner können in seltenen Fällen auch Dermoidzysten der Halsvorderseite in Frage kommen.
18.1.4
Therapie
Mit Diagnosestellung sollte die Indikation zur operativen Entfernung gestellt werden. Eine abwartende Haltung ist nicht zu empfehlen, da nach stattgehabter Infektion einer Halsfistel deren komplette Entfernung auf Grund von Verwachsungen sich ungleich schwieriger gestaltet und damit die Gefahr eines Rezidivs höher ist. > Nur die anatomisch komplette Entfernung einer lateralen und medianen Halsfistel verhindert ein Rezidiv.
Operation der medianen Halsfistel. Vor der Entfernung
18
. Abb. 18.2. Infizierte mediane Halsfistel
erfolgt die Füllung der Fistel mit blauem Farbstoff, um den kleinen Gang besser im umliegenden Gewebe identifizieren zu können. Nach Anlegen einer Tabaksbeutelnaht wird die Fistel mit einem dünnen Katheter (z. B. Abbocath ohne Mandrin) sondiert, der Tabaksbeutel verschlossen und der Farbstoff über eine 1-ml-Spritze vorsichtig in die Fistel gespritzt. Dies sollte nicht gegen einen Widerstand erfolgen, da ansonsten ein Paravasat den operativen Überblick massiv verschlechtert. Zurückfließende Farbe sollte sofort abgesaugt werden. Nach Entfernung des Katheters wird die Fistelmündung umschnitten und die Fistel sukzessiv entfernt. Da die Fistel stets durch das Korpus des Zungenbeins verläuft, ist dieses mit zu resezieren und die Fistel erst an der Mündung zum Zungengrund nach Durchstechungsligatur abzusetzen (Sistrunk-Operation). Benachbartes Gewebe sollte großzügig mit reseziert werden.
169 18.3 · Pterygium colli
Nach Readaptation durchtrennter Muskulatur wird die Haut intrakutan verschlossen. Operation der lateralen Halsfistel. Auch hier erfolgt zunächst die Füllung mit blauem Farbstoff. Da von der ursprünglichen Hautumschneidung der Fistelmündung eine laterale Halsfistel nicht in ihrer gesamten Länge dargestellt und entfernt werden kann, erfolgen weiter kranial weitere quere Inzisionen, von denen aus dann die Fistel über ihre Gesamtlänge exstirpiert werden kann. Im Bereich der Mündung in den Pharynx ist nach Durchstechungsligatur die Fistel abzusetzen.
18.1.5
Komplikationen und Prognose
Wichtigste Komplikation ist das Rezidiv einer Halsfistel nach nicht kompletter Entfernung. Diese Gefahr scheint erhöht nach vorangegangenen Infektionen oder nach Zweiteingriffen, so dass aus diesem Grund die »erste« Chance maximal genutzt werden muss. Ursache für Rezidive trotz »kompletter« Entfernung des Ductus thyreoglossus können aber auch astartige Aufzweigungen des Hauptganges in das benachbarte Gewebe sein (Horisawa 1991). Bei nicht akuter Entzündung liegt die Rezidivquote bei Thyreoglossusfisteln etwa bei 3–5%, nach Entfernung im Stadium einer akuten Entzündung steigt diese Rate auf etwa 25% an. Aus diesem Grund sollten infizierte Halsfisteln erst unter Antibiotikagabe abheilen und später sekundär entfernt werden. Gelegentlich muss bei Abszedierung einer infizierten Halsfistel bzw. -zyste zunächst erst eine Abszessspaltung erfolgen. Zwar wird in früheren Publikationen stets über eine erhöhte Rezidivquote bei vorangegangenen Infektionen berichtet, in einem jüngst erschienen Bericht über 100 Patienten (Ostlie 2004) konnte jedoch hier kein statistisch relevanter Zusammenhang gefunden werden. Belassene Thyreoglossusfisteln können in weniger als 1% der Fälle Karzinome entwickeln, so dass dieser Aspekt neben der Infektionsprophylaxe ebenfalls Grund für eine Entfernung im Kindesalter darstellt. In dieser Altergruppe jedoch stellt ein Karzinom eine ausgesprochene Rarität dar (PERETZ 2004).
18.2
. Abb. 18.3. Mediane Halsspalte
einer fortlaufenden Z-Plastik zu verschließen, da ansonsten ein Narbensegel entstehen wird.
18.3
Pterygium colli
Das gleichfalls äußerst seltene Pterygium colli (Flügelfell; . Abb. 18.4) tritt meistens im Rahmen des Turner-, Noonan- oder Klippel-Feil-Syndroms auf. Ziel einer Korrektur sollten ein normales Halsprofil und eine Verbesserung des zu tief liegenden Haaransatzes sein. Bei Anwendung einer fortlaufenden Z-Plastik kann zwar ein normales Profil erreicht werden, haartragende Hautlappen werden jedoch noch ventral verlagert. Daher werden immer wieder Modifikationen publiziert, die dieses Problem durch dorsale Zugänge vermeiden sollen (Hikade 2002).
Mediane Halsspalten
Die äußerst seltenen medianen Halsspalten (. Abb. 18.3) imponieren als bindegewebiger, nässender Strang mit Haudefekt in Halsmitte, meist mit einer kleinen knorpeligen Erhebung am kranialen Ende (AGAG 2007). Sie sind als mesodermale Fusionsstörung zu sehen und dürfen nicht mit medianen Halsfisteln verwechselt werden. Auch wenn funktionell nicht unbedingt eine Operationsindikation besteht, sollten aus optischen Gründen derartige Spalten im ersten Lebensjahr korrigiert werden. Dabei ist in jedem Fall nach Resektion des Bindegewebsstrangs die Haut im Sinne
. Abb. 18.4. Pterygium colli
18
170
Kapitel 18 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea
18.4
Ranula
Die Ranula (Froschgeschwulst) ist eine Pseudozyste unter der Zunge, die bis in die mylohyoidale Muskulatur reichen kann. Ursächlich besteht eine Obstruktion eines Ausführungsganges der sublingualen Speicheldrüse. Eine Ranula liegt meist oberflächlich unter der Zunge, kann diese unter Umständen zur Seite verdrängen und in ihrer Motilität kompromittieren. Der zystische Charakter ist in der Sonographie gut erkennbar; ebenfalls gut auch die Ausdehnung. Eventuell kann eine Kernspintomographie indiziert sein. Die komplette Entfernung der Zyste ist in jedem Fall anzustreben und gelingt in der Regel problemlos. Als Zugang wird ein horizontaler Schnitt unter der Zunge gewählt. Dabei sollte unbedingt ein ausreichend großer Schleimhautrand an der Zahnleiste stehen bleiben, um später einen sicheren Verschluss zu ermöglichen. Eventuell kann bei größerer kollarer Ausdehnung ein zweiter Zugang am Hals notwendig werden. Als alternative Methode ist die Marsupialisierung zu nennen, bei der eine Fensterung der Zyste in die Mundhöhle erfolgt. Angestrebt werden sollte aber immer die kurative Entfernung.
18.5
Dermoidzysten
Neben der klassischen Lokalisation im Bereich der Augenbraue können Dermoidzysten auch in der Mittellinie des Halses gefunden werden. Als Ergebnis eines »Fusionsfehlers« von Hautsegmenten stellen sie einen in die Tiefe verlagerten Epithelkeim dar, der Talg produziert. Ein langsames Wachstum ist typisch; die Diagnose wird oft erst intraoperativ gestellt, da differenzialdiagnostisch meist zunächst an Halszysten gedacht wird. Durch ihre subkutane Verschieblichkeit sind sie aber unterscheidbar. Schnittbildverfahren wie CT und MRT sind überflüssig. Über einen kleinen Querschnitt sind sie problemlos komplett entfernbar. Belassene Reste können wie bei allen Dermoidzysten ein Rezidiv verursachen.
18.6
18
Hämangiome
Hämangiome im Halsbereich (. Abb. 18.5) sind weit weniger häufig (4%) zu sehen als in der klassischen Hämangiomregion des Kopfes (60%). Sie zeigen gleiche Wachstumsund Rückbildungscharakteristiken wie Hämangiome an anderen Lokalisationen (7 Kap. 19), sind aber in der Regel optisch nicht so auffallend, so dass meistens die spontane Remission abgewartet werden kann. Bedingt durch die Faltenbildung der Haut können Hämangiome an der ventralen Halsseite häufig ulzerieren. Eine Abdeckung dieser offenen Stellen mit dünnen Hydrokolloidplatten kann die Abheilung beschleunigen.
. Abb. 18.5. Subkutanes Hämangiom ventraler Hals mit Ulzerationen
Eine Sonderform hingegen stellen Hämangiome im Bereich der Luftröhre dar, da hier schnell eine lebensbedrohliche Situation entstehen kann. Derartig lokalisierte Hämangiome können mit kutanen Hämangiomen der KopfHals-Region vergesellschaftet sein, insbesondere bei sog. »Barthämangiomen« im medianen Kinnbereich ist die Gefahr eines zusätzlichen Befalls der Trachea gehäuft zu sehen. Die geometrische Besonderheit trachealer Hämangiome liegt im geringen Durchmesser der Trachea, die im Neugeborenenalter bei 5mm liegt, entsprechend einem Querschnitt von 20 mm2. Dies hat zur Folge, dass bereits bei geringer Hämangiomgröße eine prozentual hohe Einengung der Trachea entsteht. Eine Kompensation ist lange möglich, ein zusätzlicher Infekt mit Schwellung der Schleimhaut kann jedoch schnell zur Dekompensation und lebensbedrohlichen Obstruktion führen. Leitsymptom ist der Stridor, der bei Persistenz im Säuglingsalter bronchoskopisch abgeklärt werden muss. War früher die Therapie der Wahl die Anlage eines Tracheostomas mit allen negativen Auswirkungen auf die Sprach- und psychomotorische Entwicklung, ist es in heutiger Zeit möglich durch den CO2-Laser bronchoskopisch das Hämangiom – eventuell in mehreren Sitzungen – abzutragen und damit ein Tracheostoma zu vermeiden (Nicolai 2005). Durch seine gute Dosierbarkeit und äußerst exakte Schneidwirkung ist hier der CO2-Laser dem Nd-YAG-Laser überlegen, da letzterer eine wesentlich größere Tiefenausdehnung besitzt und somit begleitende Strukturen leichter zerstören kann.
171 18.7 · Lymphangiome
18.7
Lymphangiome
18.7.1
Embryologie und Anatomie
Lymphangiome entstehen durch pathologische Erweiterungen der Lymphgefäße während der ersten vier Wochen der Schwangerschaft. Genaue Ursachen bleiben zwar unklar, es ist aber unstrittig, dass temporär der Abfluss über das venöse System unterbrochen ist und es zu einer Dilatation der lymphatischen Gefäße kommt (7 Kap. 19). Im Halsbereich gehen somit fast alle Lymphangiome von der Gefäßscheide aus, d. h. aus dem Bereich der A. carotis und V. jugularis. Wie bei anderen Lymphangiomen können kleinzystisch-solide Formen von multizystisch-großzystischen unterschieden werden. Dies ist im Hinblick auf die Operabilität wichtig, da die Möglichkeit einer kompletten Entfernung mit zunehmender Solidität des Lymphangioms abnimmt. Nur etwa zwei Drittel der Lymphangiome sind bei Geburt erkennbar, ein Drittel wird erst später klinisch manifest, da hier die Lymphangiomzysten kollabiert sind und eine Füllung erst später auftritt.
18.7.2
Klinisches Bild und Diagnostik
Das Lymphangioma colli (. Abb. 18.6) imponiert als weicher Tumor, der meistens von den Halsseiten ausgeht, seltener auch die ventrale Seite des Halses betreffen kann. Da nuchale zystische Hygrome in der Regel wegen weiterer Fehlbildungen nicht mit dem Leben vereinbar sind, werden sie als Rarität gesehen und stellen damit eine völlig andere Entität dar. Entdeckt werden sie nur intrauterin im Rahmen des Ultraschallscreenings und dürfen nicht mit dem meist
prognostisch guten Lymphangioma colli verwechselt werden. Größere und gefüllte Lymphangiome des Halses sind intrauterin im Ultraschall als flüssigkeitsgefüllte Zysten gut erkennbar, so dass es hier nicht zu peripartalen Überraschungsbefunden kommen sollte. Damit ist auch eine Schwangerschaftsberatung der Eltern möglich und eine spätere Versorgung gezielt planbar. Dieses präpartale Wissen wird retrospektiv von den Eltern äußerst angenehm empfunden, da genügend Zeit verbleibt, sich mit dieser Fehlbildung auseinander zu setzen und sich über Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Sehr große Lymphangioma colli stellen weiterhin eine Indikation zur Sectio dar, da ansonsten peripartal die Gefahr besteht, dass eine geburtsbedingte Traumatisierung zu einer Einblutung, Größenzunahme und eventueller Kompression der Trachea führen kann. Die Diagnostik von Lymphangiomen richtet sich nach ihrer Größe: Bei kleineren Formen reicht die Sonographie, um Ausdehnung und Zystengröße bestimmen zu können. Bei größeren Lymphangiomen hingegen ist eine Kernspintomographie mit Gefäßdarstellung unumgänglich, um ein genaues topographisches Bild präoperativ zu erhalten. Insbesondere die Lage zur Trachea und eventueller intramuraler Befall der Trachea sind zu evaluieren, damit eine mögliche Tracheaobstruktion bedacht werden kann. Sind in der MRT Hinweise für einen intramuralen Tracheabefall oder eine Verlagerung der Trachea zu erkennen, sollte als nächste Stufe eine Tracheo-Bronchoskopie durchgeführt werden. Liegt ein entsprechender Befund vor, muss an die Möglichkeit eines Tracheostomas gedacht werden. Eine Computertomographie ist nicht mehr indiziert, da die Kernspintomographie bessere Bilder hinsichtlich der Weichteile liefert.
18.7.3
. Abb. 18.6. Zystisches Lymphangioma colli
Therapie
Sehr kleine Lymphangiome, die gelegentlich durch eine diskrete Vorwölbung auffallen, stellen nicht unbedingt eine Operationsindikation dar, vorausgesetzt die Artdiagnose kann sonographisch gesichert werden. Da in diesen Fällen die Operation mehr aus ästhetischen Gründen indiziert ist, sollte auch das Erscheinungsbild einer eventuell unschönen Narbe mit in die Entscheidung fließen. Zwei Komplikationsmöglichkeiten bei bestehenden Lymphangiomen sollten aber stets besprochen werden: Einerseits können Lymphangiome im Rahmen systemischer oder regionaler Infektionen anschwellen, andererseits können durch Einblutungen in die Zysten Lymphangiome rasch an Größe zunehmen. Beide Größenzunahmen sind aber nach einigen Wochen regredient. Maligne Entartungen sind nicht bekannt. Lymphangiome, die nicht funktionell Probleme darstellen, können elektiv nach dem ersten Trimenon entfernt werden. Trotz alternativer Verfahren wie Sklerosierung mit
18
172
Kapitel 18 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea
OK 432 oder Bleomycin ist nach wie vor die operative Entfernung das etablierte Standardvorgehen. Angestrebt wird eine komplette Entfernung, die jedoch bei kleinzystischen und kapillären Lymphangiomen nur selten möglich ist. Hier ist eine Verstümmelung zu vermeiden, so dass zu Gunsten einer funktionellen Integrität stets Reste belassen werden müssen. Ursache ist der infiltrative Charakter derartiger Lymphangiome, die anatomische Trennstrukturen überschreiten und dabei auch Nerven und Gefäße involvieren. ! Cave Problematisch können peritracheale Lymphangiome sein, die die Trachealwand infiltrieren. Veränderte Lymphflüsse können hier postoperativ zu massiver Schwellung führen und die Anlage einer Tracheostomie erforderlich machen
Dies sollte mittels Tracheoskopie präoperativ evaluiert werden und gegebenenfalls ein Tracheostoma bereits vor der operativen Entfernung angelegt werden. Postoperative Extubationsprobleme sind damit vermeidbar. Eine Behandlung mit Interferon ist sinnlos, da ein Lymphangiom keinen proliferierenden Tumor darstellt.
18.7.4
18
Postoperative Probleme und Prognose
Entscheidenden Einfluss auf die postoperative Morbidität hat die Menge belassener Lymphangiomreste. Sie können im Rahmen von Infektionen und Einblutungen wie das ursprüngliche Lymphangiom anschwellen, können aber auch durch postoperativ veränderten Lymphfluss die ursprüngliche Größe überschreiten. Dieses in der Literatur oft fälschlich als »Rezidiv« bezeichnete erneute Auftreten kann gelegentlich zu weiteren Operationen Anlass geben. Ferner kann dieses Phänomen bei peritrachealen Lymphangiomen zu funktionellen Verschlechterungen führen, so dass es unter Umständen besser sein kann, dort lokalisierte Anteile zu belassen. Grundsätzlich bestimmt aber nicht nur die Art des Lymphangioms seine Prognose, sondern auch die Größe. Postoperative Infektionen, Ergüsse, Nervenschäden und Asymmetrien sind in hohem Maße von der Größe abhängig; insbesondere die Mittellinie überschreitende Lymphangiome sind vermehrt mit zunächst bleibenden Tracheostomien und Magenfisteln verbunden (Schuster 2003). Dennoch ist zu berücksichtigen, dass in der Regel in diesen schweren Fällen bis zum Schulalter auf die Tracheostomie und Magenfistel verzichtet werden kann. Bleibendes Problem stellen hingegen Asymmetrien des Gesichtes bei Infiltration der Wange durch solides Lymphangiomgewebe dar. Hier ist eine Restitutio ad integrum meist nicht möglich, da häufig auch Mandibula und Os maxillare involviert sind.
18.8
Venöse Malformationen
Vaskuläre Malformationen der Halsregion (. Abb. 18.7), als angeborene Gefäßfehlbildung des Blutgefäßsystems bei Geburt bereits bestehend, können als rein intrakutane Forme (Naevus flammeus) oder als Fehlbildungen der tiefen Gefäße auftreten. Während die intrakutanen Formen als Blickdiagnose imponieren, treten die tiefer liegenden Malformationen entweder als bläulicher, weicher Tumor in Erscheinung oder sind nur beim Pressen erkennbar. Intrakutane Anteile können aber auch hinweisend auf tiefer liegende Anteile sein. Häufig treten vaskuläre Malformationen erst im Rahmen der Pubertät auf, da die damit verbundenen Hormonänderungen eine gewisse Größenzunahme der Malformationen verursachen, so dass in der Tiefe liegende Gefäßdysplasien dann erst klinisch in Erscheinung treten. Alle Formen bedürfen einer diagnostischen Abklärung, deren erster Schritt die farbkodierte Dopplersonographie ist. Venöse Malformationen mit sehr langsamem Fluss können dabei leicht mit zystischen Lymphangiomen verwechselt werden, da sehr langsame Flüsse nicht mit dieser Technik dargestellt werden können. Als nächste diagnostische Maßnahme ist eine Kernspintomographie mit Gefäßdarstellung durchzuführen, die genau die Topographie und Flow-Phänomene wie AV-Fisteln erkennen lässt. Therapeutische Möglichkeiten bestehen in der operativen Entfernung und Sklerosierung. Eine Lasertherapie ist lediglich mit dem Blitzlampen-gepumpten Farbstofflaser bei Naevi flammei erfolgreich, ansonsten können mit dem Nd-YAG-Laser auch interstitiell Malformationen nicht mit bleibendem Ergebnis sinnvoll behandelt werden. Eine Sklerosierungstherapie mit Äthanol oder PolidocanolSchaum kann als alleinige Therapie oder operationsvorbereitend eingesetzt werden. Nebenwirkungen wie Hautnekrosen, transiente Nervenlähmungen, Infektionen u. ä. sind möglich, so dass diese Therapieform nur in entsprechend erfahrenen Institutionen durchgeführt werden sollte (Berenguer 1999). Bei gut abgegrenzten oder aneurysmatischen Malformationen ist eine operative Entfernung gut möglich, problematisch hingegen sind extratrunkuläre und intramuskuläre Formen, deren komplette Entfernung niemals ohne eine massive Verstümmelung möglich ist. So sind Indikationen zu einem aktiven Vorgehen kritisch zu sehen und sollten nur bei echten klinischen Problemen (Schmerzen, rezidivierende Thrombosen, Funktionseinschränkungen, Entstellungen) gestellt werden, nicht jedoch aus allein ästhetischen Gründen. Ferner ist zu bedenken, dass belassene Reste häufig postoperativ an Größe zunehmen und sich ein zunächst gutes Operationsergebnis wieder verschlechtert.
173 18.9 · Erkrankungen der Schilddrüse
18.9.2
Gutartige Erkrankungen
Entzündliche Veränderungen. Entzündliche Veränderungen der Schilddrüse bedürfen in der Regel keiner chirurgischen Therapie und betreffen drei Entzündungsursachen: 4 Virusinfektionen können eine subakute Schilddrüsenentzündung DeQuervain verursachen, die lediglich symptomatisch behandelt wird. 4 Eine bakteriell ausgelöste akute Entzündung der Schilddrüse hingegen kann kausal mit Antibiotika therapiert werden. 4 Als dritte Möglichkeit einer Schilddrüsenentzündung ist die auf Autoimmunprozesse zurückzuführende Thyreoiditis Hashimoto zu nennen. . Abb. 18.7. Venöse Malformation, Heraustreten während eines Pressversuchs
18.9
Erkrankungen der Schilddrüse
Chirurgisch relevante Erkrankungen der Schilddrüse sind im Kindesalter selten und betreffen Knoten, Zysten und Karzinome, die nur 1–3% aller pädiatrischen Malignome betreffen.
18.9.1
Embryologie und anatomische Besonderheiten
Die Schilddrüse entsteht als Ausstülpung des Gastrointestinaltraktes am Zungengrund im Bereich des späteren Foramen caecum und beginnt mit der 7. Woche zu deszendieren. Eventuelle Reste dieses Weges entsprechen dem Ductus thyreoglossus, der als mediane Halsfistel (siehe oben) klinische Relevanz besitzt. Bleibt der Descensus der Schilddrüse aus, kann sich eine Zungengrundstruma entwickeln und als Tumor unter der Zunge manifestieren. Die Blutversorgung erfolgt jeweils über zwei Arterien von kranial (A. thyreoidea superior), zwei Arterien von kaudal (A. thyreoidea inferior) und in ca. 10% einer mittelständigen A. thyreoidea ima, die in den unteren Rand der Schilddrüse mündet. Für operative Eingriffe an der Schilddrüse ist das Wissen um den Verlauf des N. recurrens wesentlich, da dieser dorsal der Drüse auf der Wand der Trachea verläuft und insbesondere bei einer radikalen Thyreiodektomie leicht verletzt werden kann. Die intraoperative elektrophysiologische Reizung des Nerven mit elektromyographischer Registrierung der Aktionen des M. vocalis (Neuromonitoring) über eine eingestochene Nadelelektrode in das Ligamentum cricothyroideum ist in heutiger Zeit Standard und kann weitgehend eine iatrogene Schädigung des N. recurrens verhindern. Alternativ können auch Potenzialableitungen des M. vocalis über Beatmungstuben mit integrierten Ableitelektroden erfolgen.
Gutartige Größenänderungen. Eine Vergrößerung der
Schilddrüse auf Grund ungenügender Jodaufnahme (Jodmangelstruma) ist in heutiger Zeit bei Kindern durch die prophylaktische Jodgabe (z. B. jodiertes Salz) eine Rarität und lässt sich durch Jodsubstitution behandeln. Eine chirurgische Intervention ist hier obsolet. Bei Schilddrüsenzysten, als kalte Knoten in der Szintigraphie imponierend, kann hingegen im Ultraschall und MRT der Flüssigkeitscharakter gut erkannt werden, so dass die Verdachtsdiagnose eines Malignoms nicht gestellt werden muss und eine Enukleation ausreicht. Differenzialdiagnostisch können bei zystischen Veränderungen der Schilddrüse auch Anteile medialer Halszysten oder -fisteln in Frage kommen. Solide Knoten hingegen sind stets zunächst als maligne einzustufen und müssen histologisch abgeklärt werden. Dabei muss intraoperativ durch Schnellschnittuntersuchung die Dignität festgestellt und entsprechend über das weitere Vorgehen entschieden werden.
18.9.3
Bösartige Erkrankungen
Maligne Veränderungen der Schilddrüse machen im Kindesalter nur etwa 3% aller Malignome aus. Dabei spielen Strahlenexpositionen für ein erhöhtes Karzinomrisiko gerade bei Kindern eine wesentliche Rolle. Bei richtiger Vorgehensweise haben Schilddrüsenkarzinome in heutiger Zeit eine gute Prognose, vorausgesetzt eine stadiengerechte Therapie gemäß den gültigen Studienvorgaben der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) wird durchgeführt. Einteilung. Schilddrüsenkarzinome werden in differenzierte (papillär und follikulär), medulläre und undifferenzierte Tumoren unterschieden. Dabei werden die differenzierten Karzinome, die lymphogen metastasieren, am häufigsten gesehen. Eine Sonderstelle nehmen medulläre, von den C-Zellen ausgehende Karzinome ein, da hier häufig eine genetische Ursache mit familiärer Häufung vorliegt. Deren Produktion von Kalzitonin kann als Tumormarker benutzt werden.
18
174
Kapitel 18 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea
Diagnostik. Klinische Hinweise für ein Schilddrüsenkarzi-
nom sind tastbare Knoten, die im Ultraschall oder MRT solide sind und in der Szintigraphie als »kalte« Areale erscheinen. Auf eine Feinnadelbiopsie kann bei einer derartigen Konstellation verzichtet werden, da hier immer eine komplette histologische Aufarbeitung erforderlich ist. Therapie. Standardvorgehen beim Verdacht auf ein Schilddrüsenkarzinom ist zunächst die ipsilaterale Thyreoidektomie einschließlich des Isthmus sowie die Entfernung der regionalen Lymphknoten. Nach Schnellschnittbestätigung erfolgt die Entfernung der kontralateralen Seite ebenfalls mit den regionalen Lymphknoten. Dieses Vorgehen ist durch das häufig multizentrische Auftreten des Schildrüsenkarzinoms notwendig. > Eine Hemithyreoidektomie allein ist nur möglich, wenn ein papilläres Karzinom mit einem Durchmesser unter 1 cm vorliegt und Lymphknotenmetastasen ausgeschlossen sind.
Bei hereditären medullären Karzinomen sollte in Abhängigkeit vom Mutationsrisiko eine Thyreoidektomie auch ohne klinische Manifestation im 1. Lebensjahr, bei hohem Risiko bis hin zum 20. Lebensjahr bei niedrigem Risiko erfolgen (Dralle 2005) In diesem Zusammenhang sei auch auf die Möglichkeit multipler endokriner Neoplasien (MEN 1 und 2) hingewiesen.
18.10
18
Erkrankungen der Nebenschilddrüse
Die Nebenschilddrüse liegt dorsokranial der Schilddrüse und besteht pro Seite aus zwei kleinen Drüsenkörpern. Sie werden in der Regel von der gleichen Bindegewebskapsel wie die Schilddrüse umgeben, so dass bei einer Thyreoidektomie die Gefahr ihrer ungewollten Resektion besteht. Die Nebenschilddrüse produziert das Parathormon, dass als Antagonist zum Kalzitonin der Schilddrüse durch Stimulation der Osteoklasten den Kalziumspiegel im Blut erhöht. Ein Hypoparathyreoidismus bedingt durch eine Unterfunktion der Nebenschilddrüse hat keine chirurgischen Maßnahmen zur Folge, hingegen kann es beim Hyperparathyreoidismus Operationsindikationen geben, wenn ursächlich ein Adenom, eine Hyperplasie oder eine Neoplasie MEN 1 oder 2 zugrunde liegt. Labortechnisches Leitsymptom ist die Hyperkalzämie. Adenome werden entfernt, was bei atypischer Lage aufwändig und langwierig sein kann. Bei einer Hyperplasie wird entweder bis auf die Hälfte eines Drüsenkörpers der Rest entfernt (subtotale Parathyreoidektomie) oder nach totaler Entfernung ein kleiner Rest heterotop in die Unterarmmuskulatur verpflanzt. Auch beim äußerst seltenen neonatalen primären Hyperparathyreoidismus ist die komplette Entfernung mit Autotransplantation indiziert (Safford 2006).
18.11
Entzündliche Erkrankungen des Halses
Entzündliche Erkrankungen des Halses betreffen die in dieser Region zahlreichen Lymphknoten, die den entsprechenden Abflusswegen und ersten Filterstationen aus dem Gesichtsund Mundbereich zuzuordnen sind. Da hier besonders häufig entzündliche Lymphknotenschwellungen im Rahmen von banalen Infekten beobachtet werden, kommt es hier auch gehäuft zu Lymphknotenabszessen. Schwierig sein kann gelegentlich die Abgrenzung eines entzündlich vergrößerten Lymphknotens von einem maligne veränderten Lymphknoten. Hier fehlen zwar meistens anamnestisch eine Entzündung sowie der Druckschmerz, dennoch kann eine Lymphknotenhyperplasie als Folgezustand nach einer Infektion die Differenzialdiagnose schwierig gestalten. Ferner kann durch Gabe von Antibiotika ein entzündlicher Verlauf prolongiert sein bis es zu einer Einschmelzung kommt und eine Spaltung erforderlich ist. Das Erkennen einer Einschmelzung kann durch Ultraschalluntersuchung erleichtert werden, insbesondere wenn es sich um tief liegende Lymphknoten handelt, die palpatorisch schwer zu beurteilen sind. Liegen Lymphknotenabszesse in der submentalen und submandibulären Region vor ist bei Spaltungen auf den Verlauf des Ramus marginalis des N. facialis zu achten. > Nach Spaltung des Lymphknotenabszesses, Entnahme eines Abstrichs, Spülung und Lascheneinlage ist eine komplikationslose Abheilung die Regel, wenn die Erreger aus der Gruppe der Staphylokokken und Streptokokken kommen.
Eine Sonderstellung hingegen nehmen Lymphknotenabszesse ein, deren Ursache atypische Mykobakterien (Mycobacterium avium) sind (. Abb. 18.8). Diese ubiquitär vorkommenden Bakterien können zu rezidivierenden Einschmelzungen der betroffenen Halslymphknoten führen und betreffen Kinder unter 5 Jahren. Therapie der Wahl ist die komplette Exstirpation der befallenen Lymphknoten, da wegen weitgehender Resistenz atypischer Mykobakterien ge-
. Abb. 18.8. Lymphknoteninfektion mit Mycobacterium avium
175 18.13 · Maligne Tumoren
genüber Antibiotika und Tuberkulostatika eine medikamentöse Therapie wenig erfolgreich ist. Die bloße Kürettage oder Abszessspaltung führt zu einer erhöhten Rate von Rezidivoperationen (Flint 2000). Gelegentlich kann dies zu technischen Problemen führen, da das Ausmaß der Entzündungsreaktion das umliegende Gewebe stark involviert und eine ausgedehnte Lymphknotenresektion verstümmelnd wäre und zu einer Defektheilung führen würde. In diesen Fällen sollte zunächst mit Tuberkulostatika eine Verbesserung der Ausgangssituation operationsvorbereitend erreicht werden.
18.12
Gutartige Tumoren
Gutartige Tumoren des Halses können Lipome, Fibrome (Myo-, Neuro-) sowie Teratome betreffen. Lipome. Lipome fallen klinisch durch auffallende Weich-
zystischen Lymphangiomen möglich. Palpatorisch hingegen imponieren Lymphangiome meist weicher als Teratome. Teratome können zu einer massiven Obstruktion der oberen Luftwege führen und damit lebensbedrohliche Situationen peripartal verursachen. Sollten durch intrauterine Diagnostik (Sonographie, evtl. fetale Kernspintomographie) Hinweise für eine komplette Obstruktion der oberen Luftwege bestehen, sollte ein sog. EXIT Vorgehen (»ex utero intrapartum treatment«) geplant werden (Tracy 2007). Dabei wird bei noch bestehender Verbindung des Kindes über die Nabelgefäße und einer entsprechenden utero-plazentären Unterstützung ein Tracheostoma angelegt.
18.13
Maligne Tumoren
heit bei der Palpation sowie sehr langsames, langjähriges Wachstum auf. Die Artdiagnose ist eindeutig in der Kernspintomographie zu stellen. Da Lipome keine spontane Remission aufweisen, ist eine operative Entfernung meist unumgänglich.
Maligne Neoplasien der Halsregion betreffen einerseits solide Tumoren wie Rhabdomyosarkome und äußerst seltene primäre Neuroblastome (<5% aller Neuroblastome), andererseits aber auch maligne Erkrankungen des lymphatischen Systems mit kollarer Lymphknotenmanifestation wie das Non-Hodgkin- und das Hodgkin-Lymphom.
Fibrome. Fibrome können sowohl von der Muskulatur
Rhabdomyosarkome. Rhabdomyosarkome fallen durch
(Myofibrome) als auch vom Nervengewebe (Neurofibome) ausgehen. Dabei sind aggressive Formen bekannt, bei deren radikaler Entfernung eine Verstümmelung gelegentlich nicht vermeidbar ist. Weiterhin sind bei Neurofibromen im Rahmen einer Neurofibromatose Entartungen zu malignen peripheren Nervenscheidentumoren in seltenen Fällen möglich.
harte, nicht verschiebliche Tumore auf, deren Anamnesedauer in der Regel kurz (<6 Wochen) ist. Etwa 35% der Rhabdomyosarkome sind im Kopf/Halsbereich lokalisiert; sie lassen sich in embryonale und alveoläre Untergruppen unterscheiden. Dabei haben die embryonalen Rhabdomyosarkome eine bessere Prognose als die alveolären Formen. Wenn bei derartigen Gewebevermehrungen durch Sonographie und MRT keine sichere Gewebezuordnung erfolgen kann, ist eine offene Gewebebiopsie zwingend erforderlich. Die operative Therapie der Rhabdomyosarkome ist stets in Kombination mit einer Chemotherapie und Radiatio entsprechend der Protokolle der GPOH zu sehen. Bei großen infiltrierenden Tumoren ist eine verstümmelnde
Teratome. Teratome der Halsregion (. Abb. 18.9) machen
höchstens 10% aller Teratome aus und sind in der Regel gutartig. Durch ihre Größe können sie bereits intrauterin gut im Ultraschall gesehen werden. Da Teratome häufig mit Zysten durchsetzt sind, ist eine Verwechslung mit
a
b
. Abb. 18.9a, b. Teratom des Halses. a Präoperativer Befund, b intraoperativer Befund
18
176
Kapitel 18 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Halsorgane und der Trachea
Operation nicht indiziert, sondern initial ist hier mit einer Chemotherapie zu beginnen. Neuroblastome. Neuroblastome der Halsregion sind als
Primärtumor äußerst selten und werden wie an anderen Lokalisationen entsprechend behandelt (siehe dort). Auch in der Halsregion sind verstümmelnde Eingriffe bei großer Tumorausdehnung jedoch zu vermeiden. Hodgkin-Lymphome. Hodgkin-Lymphome zeigen sich klinisch am häufigsten als schmerzlose, mit der Umgebung verbackene Lymphknotenschwellungen der seitlichen Halsregion. Bei entsprechender Größenausdehnung kann es zu Obstruktion benachbarter Strukturen (Trachea, Ösophagus) mit funktionellen Symptomen kommen. Die Diagnosestellung erfolgt durch eine offene Biopsie; die Therapie ist keine chirurgische, sondern konservativ mittels Chemotherapie und Radiatio bei einer Heilungsrate im Kindesalter von über 90%. Non-Hodgkin-Lymphome. Non-Hodgkin-Lymphome
verhalten sich in der Symptomatik ähnlich den Hodgkin Lymphomen, auch sie haben ihren Ursprung im lymphatischen Zellsystem. Non Hodgkin Lymphome reagieren äußerst sensibel auf Chemotherapeutika und sollen daher operativ nur behandelt werden, wenn eine risikolose komplette Resektion (R0-Resektion) möglich ist. Teilresektionen hingegen sind nicht sinnvoll. Insgesamt ist auch hier die Prognose mit einer Überlebensrate von über 80% sehr gut.
18.14
18
Trachea
Chirurgische Erkrankungen der Trachea betreffen ösophago-tracheale Fisteln isoliert oder kombiniert mit Ösophagusatresien, Malazien der Trachea und Stenosen entweder kongenital oder nach Entzündungen, Langzeitintubationen, Hämangiomen oder Lymphangiomen; ferner sind als angeborene Fehlbildungen Spaltbildungen des Larynx bis in die Trachea reichend zu nennen. Der wohl häufigste kinderchirurgische Eingriff in dieser Region stellt die Anlage eines Tracheostomas dar; hingegen reichen die definitiven Korrekturen der oben geschilderten Trachealpathologien oft in den Bereich der HNO-Heilkunde und werden je nach örtlichen Gegebenheiten auch entsprechend versorgt. Bestanden früher die Indikationen zur Tracheotomie überwiegend notfallmäßig im Rahmen von Entzündungen (Diphtherie, Haemophilus influenza), so sind durch bessere Vorsorge, Impfungen und Behandlung dieser Erkrankungen in heutiger Zeit hauptsächlich kongenitale Fehlbildungen, subglottische Stenosen nach Langzeitintubationen, Papillomatosen oder andere seltene Erkrankungen Grund für die Anlage von Tracheostomien.
18.14.1 Tracheostoma Die elektive Anlage eines Tracheostomas stellt in heutiger Zeit einen sicheren und komplikationsarmen Eingriff in Allgemeinnarkose dar. Im Kindesalter sollte der Zugang etwa einen Querfinger oberhalb der Jugulargrube liegen, so dass die Eröffnung der Trachea im Bereich zwischen 2. bis 4. Knorpelring erfolgen kann. Da der Isthmus der Schilddrüse in diesem Alter relativ kranial liegt, ist hier kein Problem zu erwarten und eine Trennung oder Abpräparation des Isthmus nicht notwendig. > Um perioperative Probleme wie Pneumothorax, Luftemphysem oder eine Via falsa nach Kanülendislokation zu vermeiden, sollte in jedem Fall eine genähte mukokutane Verbindung geschaffen werden.
Hier hat sich ein H-förmiger Hautschnitt (. Abb. 18.10) bewährt, dessen zwei Hautläppchen gut mit der Trachealwand zu anastomosieren sind. Nach dieser H-förmiger Hautinzision wird die Muskulatur über der Trachea längs durchtrennt und die Trachealwand dargestellt. Die Trachea wird dann ausreichend längs inzidiert, um ohne »Bohren« die Kanüle einführen zu können. ! Cave Die Resektion eines kleinen Lappens aus der Tracheavorderwand sollte im Kindesalter genauso unterlassen werden wie eine quere Inzision in die Trachealwand, da beide Techniken mit einer erhöhten Stenoserate und Instabilität der Trachea verbunden sind.
Die Ecken der Hautläppchen werden mit Nylonfäden an der Trachealwand verbunden und diese Eckfäden für 2 Wochen lang belassen. Damit ist auch während der Heilungsphase gewährleistet, dass ein Kanülenwechsel gefahrlos ohne Via falsa durchgeführt werden kann. Nach Einnähen der restlichen Hautränder an die Trachealwand wird nach
. Abb. 18.10. H-förmiger Hautschnitt zur Anlage eines Tracheostomas mit mukokutaner Anastomose
177 18.14 · Trachea
partiellem Zurückziehen des Tubus durch den Anästhesisten (keine Extubation vor richtiger Lage der Kanüle!) die Kanüle eingeführt. Erst dann wird der Tubus entfernt. Im weiteren Verlauf müssen die Eltern in die Pflege der Kanüle eingewiesen werden. Dabei hat sich ein fester Ansprechpartner in der Klinik für häusliche Probleme als äußerst sinnvoll erwiesen. Nicht unerwähnt bleiben soll der Einfluss einer Tracheostomie auf die Sprachentwicklung. Hier hat sich gezeigt, dass diese Beeinträchtigung umso größer ist, je früher eine Tracheostomie angelegt wurde und je länger sie bestand. Erschwerend kommen hier neurologische Störungen hinzu, die unter Umständen im Rahmen der Grunderkrankung vorliegen. Steht eine Dekanülierung an, wird zunächst schrittweise die Größe der Kanülen herabgesetzt. Nach Entfernung der letzten Kanüle verschließt sich das Stoma meistens spontan, so dass eine weitere chirurgische Intervention nicht notwendig ist. Gelegentlich kann aber dieser Verschluss nicht ausreichen sowie auch optische Gründe einen operativen Stomaverschluss erforderlich machen. Dabei sollte stets quer umschnitten werden und der epithelialisierte Stomakanal bis zur Trachealwand präpariert werden. Ohne die Trachealwand einzuengen, wird deren Öffnung durch invertierende Naht verschlossen und die benachbarten Muskeln als weitere Schichten adaptiert. Die Hautnaht sollte intrakutan exakt vernäht werden, um auch optisch den früheren »Makel« einer Tracheotomie zu überdecken.
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19 Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi R. Grantzow
19.1
Nomenklatur der Gefäßpathologien – 179
19.2
Gefäßtumoren
19.2.1 19.2.2
Hämangiome – 179 Kaposiformes Hämangioendotheliom
19.3
Gefäßmalformationen – 184
19.3.1 19.3.2
Einteilung – 184 Wachstum – 184
19.3.5
Venöse Malformationen – 184 Arterielle und arteriell-venöse Malformationen – 186 Lymphatische Fehlbildungen – 187
19.4
Nävi
– 179 – 184
> Hämangiome sind die häufigsten Gefäßtumore und kommen bei 2% aller Säuglinge vor. Sie durchlaufen typische drei Phasen der Entwicklung (Wachstum, Stagnation, Rückbildung) und können je nach Größe erhebliche Residuen hinterlassen. Daher ist unter bestimmten Bedingungen eine Therapie erforderlich. Gefäßfehlbildungen (vaskuläre Malformationen) sind angeboren, da sie am Anfang der Embryonalentwicklung entstehen. Sie können das Blutgefäßsystem und das lymphatische System betreffen. Malformationen zeigen keine spontane Remission. Melanozytäre Nävi sind erworben oder kongenital; dabei können kongenitale Nävi mit zunehmender Größe später zu Melanomen führen.
19.1
19.3.3 19.3.4
Nomenklatur der Gefäßpathologien
Bis zu Beginn der 80er-Jahre fehlte eine klare Unterscheidung zwischen den sehr häufigen Hämangiomen und den seltenen Gefäßmalformationen. Leider wurde oft allen roten Hautveränderungen der Begriff des Hämangioms zugeordnet, so dass daher auch frühere Publikationen in ihren Aussagen zum Teil nur eingeschränkt gültig sind. Ein Ende dieses Dilemmas ermöglichte erst die Abgrenzung der Gefäßtumoren von den Malformationen basierend auf den Proliferationscharakter des Endothels (Mulliken 1982). Hämangiome zeigen in der Wachstumsphase eine erhöhte Endothelproliferation im Sinne eines klassischen Tumor-
– 188
Literatur – 189
wachstums, hingegen findet sich bei vaskulären Malformationen ein völlig normaler Zellumsatz des Endothels. Diese biologische Einteilung berücksichtigt den dynamischen Charakter des Hämangioms (wächst – bleibt –verschwindet) im Vergleich zur Statik der Malformation (angeboren und bleibt). Eine Unterteilung nach morphologischen Gesichtpunkten (»Strawberry«-Hämangiom, kavernöses Hämangiom, kapilläres Hämangiom, »Port-wine-stain«Hämangiom usw.) ist somit nicht mehr zeitgemäß.
19.2
Gefäßtumoren
19.2.1
Hämangiome
Hämangiome sind gutartige Gefäßtumoren, die in typischer Weise zu 90% in den ersten Wochen nach der Geburt entstehen und nur in etwa 10% bereits bei Geburt vorhanden sind. Das üblicherweise bestehende Gleichgewicht zwischen Untergang und Neuwachstum von Kapillargefäßen ist hier zugunsten des Neuwachstums gestört, ohne dass konkret bisher Ursachen hierfür gefunden wurden. Diese Regulationsstörung findet in den Endothelzellen statt, die die funktionell wichtige Rolle bezüglich Aussprossung und Wachstum, Gerinnung nach Verletzung und Untergang durch Apoptose in den Blutgefäßen spielen. Dabei ist es unklar, ob angiogene Faktoren (Zytokine) oder die entsprechenden Rezeptoren die entscheidende Funktion bzw. Fehlfunktion bewirken.
180
Kapitel 19 · Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi
Inzidenz und Geschlechtsverteilung. Etwa 2% aller reifen Neugeborenen entwickeln ein Hämangiom; hingegen zeigt sich mit etwa 15% eine deutlich höhere Inzidenz bei Frühgeburten. Mit etwa 70% sind Mädchen doppelt so häufig betroffen als Buben. Lokalisation. Im optisch sensiblen Gesichtsbereich werden etwa 66% der Hämangiome gesehen; das übrige Drittel verteilt sich auf den Rumpf und die Extremitäten. Funktionell problematisch können Hämangiome in der Trachea werden, die meist subglottisch gelegen massive Atemwegsobstruktionen verursachen können (7 Kap. 18). Beteiligungen an inneren Organen werden hauptsächlich in der Leber gesehen und treten dann fast immer im Rahmen kutaner Hämangiomatosen auf. Isolierte »Hämangiome« der Leber ohne Hautbeteiligung sind verdächtig auf Hämangioendotheliome oder Hepatoblastome.
Formen
19
Hämangiome kommen in sehr vielen verschiedenen Formen vor und sind daher nur schwer in einzelne Gruppen zu unterteilen, ohne dass eine praktische Anwendbarkeit verloren geht. Ein wesentlicher Aspekt ist sicherlich die therapeutische Konsequenz, die sich aus einer Einteilung ableiten lässt und so hat die alte Unterscheidung in plane, tuberöse, subkutane und intrakutane Hämangiome sicherlich auch weiterhin ihre Daseinsberechtigung. Es lassen sich nämlich daraus die entsprechenden therapeutischen Optionen ableiten (s. unten) unter Berücksichtigung der Wirkungsweise und Wirkungsgrenzen der einzelnen Verfahren. Erwähnenswerte Sonderformen stellen die sog. segmentalen Hämangiome dar, die sich insbesondere im »Bartbereich« oft als äußerst therapieresistent erweisen. Welche pathologische Besonderheit hier zugrunde liegt ist nicht klar. Sind die segmentalen Hämangiome mit Fehlbildungen des Gehirns, des Herzens, der großen Gefäße und des Auges kombiniert wird auch vom »PHACE«-Syndrom gesprochen (. Abb. 19.1). Angeborene Hämangiome stellen eine weitere Hämangiomform dar und können in die überwiegend sich schnell zurückbildenden RICH (»rapid involuting congenital hemangioma«) und in die sich spontan nicht zurückbildenden NICH (»non involuting congenital hemangioma«) unterteilt werden. Beiden Formen ist im Gegensatz zu postpartal entstehenden Hämangiomen gemeinsam, dass ihnen das Glukose-Transport-1-Protein (GLUT1) fehlt, so dass für diese konnatalen Formen bereits eine andere Ursache und Entität diskutiert wird (Mulliken 2004). Eine weitere Sonderform stellen sog. Hämangiomatosen dar. Hier ist der Körper übersäht mit bis zu 100 oder mehr kleinen Hämangiomen, die sich in der Regel sehr zuverlässig zurückbilden. Komplikation bei dieser Form ist eine Leberbeteiligung, die gelegentlich durch ausgeprägte AV-Fisteln zu einer übermäßigen Linksherzbelastung füh-
. Abb. 19.1. 6 Wochen alter weiblicher Säugling mit PHACE-Syndrom
ren und entsprechend mit Kortison und Digitalis behandelt werden müssen. Eine begleitende Kasabach-Merritt-Symptomatik (hochgradige Thrombozytopenie) sollte nicht als spezielle Komplikation eines Hämangioms gesehen werden, sondern ist häufig vergesellschaftet mit einem kaposiformen Hämangioendotheliom (7 Kap. 19.2.2, . Abb. 19.5).
Natürlicher Verlauf Hämangiome entstehen zu 90% während der ersten Lebenswochen, nur etwa 10% sind angeboren. Damit stellt die Anamnese eine entscheidende Möglichkeit dar, zwischen Hämangiomen und Malformationen (sind angeboren) zu unterscheiden. Die klassische Entwicklung des Hämangioms lässt sich in 3 Phasen unterteilen: 4 Wachstumsphase bis maximal zum 6. Monat 4 Stagnationsphase bis zum Ende des ersten Lebensjahres 4 Anschließende Regressionsphase, die in Abhängigkeit der Endgröße bis hin zum Alter von 10–12 Jahren dauern kann Mulliken hat diese Entwicklung sehr treffend als Drama in drei Akten bezeichnet.
Diagnostik Blickdiagnose und Anamnese erlauben in der Regel eine klare Zuordnung. Problematisch können angeborene (10%) und subkutane Hämangiome sein. Hier kann aber mit der
181 19.2 · Gefäßtumoren
a
b
c
. Abb. 19.2a–c. Spontane Rückbildung eines Hämangioms. a Alter 4 Monate, b 4 Jahre, c 7 Jahre
farbkodierten Dopplersonographie eine sichere Artdiagnose getroffen werden. Eine Kernspintomographie ist bei Hämangiomen nur in Ausnahmen erforderlich; Angiographien hingegen sind nicht indiziert. Sollte bei subkutanen Hämangiomen eine genaue Diagnose nicht möglich sein, muss eine Probebiopsie in Erwägung gezogen werden, um einen malignen Prozess auszuschließen. Leider existieren keine objektiven Laborparameter, die die klinisch äußerst wichtige Unterscheidung zwischen Wachstums- und Stagnationsphase ermöglichen.
Therapie Da Hämangiome gutartige Tumoren sind und spontan verschwinden, wurden sie früher meistens nicht behandelt und ihre Rückbildung abgewartet (. Abb. 19.2). Dieses »wait and see« führte jedoch gelegentlich dazu, dass aus zunächst harmlosen Hämangiomen entstellende Riesenhämangiome entstanden, deren Rückbildung sich bis zur Pubertät erstreckte und die stets bleibende Residuen hinterließen. Weiterhin stellt die Entstellung für die betroffenen Kinder und Eltern eine starke psychische Belastung dar, da zu zwei Dritteln die optisch sensible Region des Gesichtes betroffen ist. Heute bestehen daher zwei Behandlungsziele in der Hämangiomtherapie: zum einen prophylaktische Maßnahmen zur Verhinderung von großen Hämangiomen und zum anderen Verfahren, die eine Beschleunigung der Rückbildung bewirken bzw. eine komplette Entfernung ermöglichen. Folgende Techniken haben sich bewährt und werden zum Erreichen beider Ziele benutzt: Kryotherapie. Das Vereisen von Hämangiomen ist ein altes
Verfahren, bei dem früher Kohlendioxidschnee benutzt wurde. Seit Beginn der 90er-Jahre wird flüssiger Stickstoff als kühlendes Medium eingesetzt, der einen Behandlungsstempel mit 3–7 mm Durchmesser auf –196°C abkühlt. Dieser Stempel wird dann für 10 sec auf das Hämangiom gedrückt. Im weiteren Verlauf entwickelt sich dann auf der Hämangiomoberfläche eine Kruste, die nach 10 Tagen abfällt. Die
Kälteempfindlichkeit der Hämangiomzellen führt zu deren Absterben, so dass das Hämangiom innerhalb von 2 Wochen verschwindet. Meist bleibt noch eine längere Rötung des Areals bestehen. Die Anwendung ist zwar nicht schmerzfrei, kann jedoch ohne Narkose durchgeführt werden und entspricht in der Schmerzintensität etwa einer Impfung. Nachteile der Kryotherapie sind zum einen die begrenzte Größe des Hämangioms: Da die Kälte nur etwa 2 mm wirksam in die Tiefe dringt, können nur mehr oder weniger flache Hämangiome damit behandelt werden. Für erhabene Formen ist diese Therapie daher nicht geeignet. Zum anderen sollte die Hämangiomfläche nicht mehr als 1 cm2 betragen, da ansonsten die Gefahr von Ulzerationen mit bleibenden Narben besteht. Eine weitere Nebenwirkung stellen Pigmentstörungen der Haut dar, die in etwa 25% der Fälle eintreten können und lange Zeit bestehen bleiben. Die Anwendung der Kryotherapie ist also nicht nebenwirkungsfrei, wie früher häufig behauptet wurde, und sollte daher nicht kritiklos angewandt werden. Ideal ist dieses Verfahren für kleine wachsende Hämangiome bei Frühgeborenen, da hier keine Narkose benötigt wird und die Anwendung vor Ort im Inkubator erfolgen kann. Lasertherapie. Zur Behandlung von Hämangiomen kom-
men prinzipiell der Farbstoff- und der Nd-YAG-Laser in Frage, deren Einsatzspektrum sich auf Grund ihrer verschiedenen Eindringtiefe stark unterscheidet. Beim Farbstofflaser wird der Laserstrahl selektiv von Hämoglobin absorbiert. Es entstehen in den Kapillaren ultrakurze (Nanosekundenbereiche) sehr hohe Energiespitzen, die zu einer Verdampfung des Gefäßes führen ohne jedoch benachbartes Gewebe zu schädigen. Da die gesamte Energie dieses Lasers innerhalb der obersten Kapillarschichten verbraucht wird, besitzt der Farbstofflaser nur eine äußerst geringe Eindringtiefe von etwa 0,4 mm. Damit kann dieser Lasertyp nur für plane Hämangiome mit beliebiger Fläche angewandt werden. Da die Anwendung schmerzhaft ist, sollten großflächige Hämangiome mit entsprechender Analgosedierung oder in Narkose erfolgen.
19
182
Kapitel 19 · Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi
a
b
c
. Abb. 19.3a–c. Rückbildung eines Hämangioms nach Nd-YAG-Lasertherapie. a Alter 3 Monate, b 7 Monate, c 2 Jahre
19
Der Neodym-YAG-Laser (. Abb. 19.3) hingegen besitzt keine selektive Absorption durch biologische Gewebebestandteile, sondern zeichnet sich durch eine geringe Absorption von Wasser aus. Bedingt durch den hohen Wassergehalt biologischer Gewebe ergibt sich daher die hohe Eindringtiefe des Nd-YAG-Laserstrahls bis etwa 7 mm. Es kann mit diesem Laser »Volumen« erwärmt werden, ohne dass jedoch eine gewisse Spezifität besteht. Die Erwärmung des Hämangioms auf etwa 50–60°C bewirkt eine Beschleunigung der Rückbildung; eine Koagulation ist nicht gewünscht, da dies mit bleibender Narbenbildung verbunden wäre. Die Wirkung dieses Lasers bedeutet also eine Abkürzung der normalen Rückbildungskurve, ohne dass aber die bekannten Residuen nach spontaner Rückbildung großer Hämangiome vermieden werden können, so dass das Endresultat gleich ist, aber gerade bei großen Hämangiomen erheblich früher eintritt (z. B. 3 Jahre statt 7–9 Jahre). Die Applikation des Nd-YAG-Lasers kann mit 2 Techniken erfolgen: Entweder bei Hämangiomen bis zu einer Dicke von etwa 1,5 cm mittels der Eiswürfeltechnik oder bei Hämangiomen mit einer Dicke von mehr als 1,5 cm mittels interstitieller Anwendung über eine Glasfiberfaser. Bei der Eiswürfeltechnik wird der Laserstrahl über einen klaren Eiswürfel in das Hämangiom geleitet; dabei kühlt der Eiswürfel die Haut und man kann mit ihm zusätzlich das Hämangiom komprimieren, so dass die effektive Eindringtiefe erhöht wird. Bei der interstitiellen Therapie wird eine Glasfaser über eine Punktionskanüle in das Hämangiom eingeführt und der Laserstrahl unter langsamem Zurückziehen der Faser in das Innere des Hämangioms geleitet. Beide Verfahren unterliegen einer gewissen Empirie, da es kein Messverfahren gibt, das »online« die erreichte Temperaturerhöhung messen kann. Da die Anwendung des Nd-YAG-Lasers schmerzhaft ist, muss die Therapie in Narkose erfolgen. Die anschließende Schwellung für maximal 7 Tage ist hingegen schmerzlos. Bei der Aufklärung der Eltern ist neben der Gefahr der Hitzeschädigung der Haut auch unbedingt die Wirkung (= Beschleunigung der natürlichen Rückbildung)
dieser Therapieform zu erklären, da ansonsten Enttäuschungen entstehen, wenn nach Lasertherapie das Hämangiom wie vor der Therapie aussieht. Es muss immer wieder betont werden, dass die Nd-YAG-Lasertherapie auch Zeit braucht. Operative Therapie. Die operative Therapie von Hämangiomen hat in heutiger Zeit nach wie vor ihre Daseinsberechtigung, unterliegt aber einschränkenden Indikationen. Wir können zwei Bereiche sehen und primäre und sekundäre Indikationen unterscheiden. Primäre Indikationen bestehen bei Hämangiomen der Augenlider, wenn das Auge verlegt ist und sehr schnell ein Sehen zur Verhinderung einer Amblyopie wieder möglich sein muss (. Abb. 19.4). Hier wäre die Anwendung des Nd-YAG-Lasers zu zeitraubend. Eine weitere primäre Indikation stellt die Entfernung von Hämangiomen im behaarten Kopfbereich dar. Da hier die spätere Allopezie durch Exzision operiert werden wird, kann dies auch gleich erfolgen und eine eventuelle Lasertherapie mit Narkose gespart werden. Primäre Operationen sollten in heutiger Zeit im optisch sensiblen Gesichtsbereich nicht mehr erfolgen, da dadurch bedingte Narben oder Defekte durch die Anwendung der Laser vermeidbar sind. Sekundäre Indikationen stellen alle Eingriffe dar, die Residuen der Rückbildung (spontan oder nach Lasertherapie) korrigieren. Derartige Eingriffe sollten erst dann erfolgen, wenn sicher ist, dass keine weitere Rückbildung mehr stattfindet. Dies ist in der Regel nicht vor dem 5. bis 6. Lebensjahr der Fall, also vor der Einschulung. Dabei sollte hinsichtlich der Wartezeit bedacht sein, dass das Problem der Hänseleien und Ausgrenzungen nicht im Kindergarten besteht, sondern frühestens erst in der Schule. Kortisontherapie. Die Kortisontherapie von Hämangiomen sollte auf Grund der erheblichen Nebenwirkungen und unsicherer Erfolge, insbesondere hinsichtlich des Rebound-Effektes nach Absetzen, nur in Ausnahmefällen angewandt werden. Diese Therapie sollte erst in Erwägung gezogen werden, wenn andere Verfahren ausgeschöpft sind
183 19.2 · Gefäßtumoren
. Abb. 19.4a, b. Hämangiom des Oberlids. a Präoperativer Befund im Alter von 3 Monaten, b postoperativer Befund im Alter von 10 Jahren
a
und eine unbedingte therapeutische Notwendigkeit besteht. Dies kann etwa bei segmentalen Hämangiomen des Gesichtes vorliegen, deren Wachstum häufig nicht anders zu beeinflussen ist. Eine Leberbeteiligung mit Linksherzbelastung bei Hämangiomatosen kann ebenfalls eine Kortisonindikation darstellen Es wird in der ersten Woche mit 5 mg/kg KG begonnen und nach einsetzender Rückbildung des Hämangioms die Dosis wöchentlich ausschleichend um 1 mg reduziert. Ein stationärer Aufenthalt kann in der ersten Anwendungswoche sinnvoll sein, um Änderungen des Blutdrucks, der Blutelektrolyte, des Blutzuckers und der Ausscheidung sicher zu erfassen. Nach Absetzen muss der Basiskortisolspiegel bestimmt werden und eine eventuell verbleibende Suppression durch Gabe von Hydrokortison ausgeglichen werden. Die Kooperation mit einem endokrinologisch orientierten Pädiater ist in diesen Fällen anzuraten.
Differenzialtherapie Die Vielfältigkeit der Hämangiome und die zahlreichen Therapieoptionen ergeben mitunter Probleme, einerseits überhaupt zu therapieren und andererseits die richtige Therapieform zu wählen. Dabei spielen für die richtige Therapiewahl folgende Parameter eine Rolle: 4 Art des Hämangioms (plan/intrakutan – tuberös/subkutan) 4 Fläche des Hämangioms (<1 cm – >1 cm) 4 Lokalisation (Gesicht – Auge – Haar – Extremitäten/ Rumpf) 4 Alter des Kindes (<6 Monate mit Wachstumsgefahr – >6 Monate ohne Wachstumsgefahr)
b
Laser, da hier durch ihre geringe Eindringtiefe Farbstofflaser und Kryotherapie nicht mehr wirken können. Lokalisation. Gesichtshämangiome sollten narbenlos abheilen, so dass hier die operative Therapie als Erstmaßnahme entfällt. Im Gesicht ist daher der Laser (Dye- oder NdYAG-Laser) oder die Vereisung erste Therapieoption. Reste nach sehr großen Hämangiomen hingegen können sekundär operativ korrigiert werden. Eine Ausnahme stellt die Augenregion dar. Sehr große Hämangiome, die das Sehen des betroffenen Auges unmöglich machen, müssen schnell entfernt sein, um eine lebenslange Deprivationsamblyopie zu verhindern. Eine Nd-YAG-Lasertherapie würde hier zu viel Zeit benötigen, so dass bei komplettem Verlegen des Auges nur eine operative Entfernung sinnvoll ist. Eine weitere primäre chirurgische Indikation stellen Hämangiome im Haarbereich dar. Die spätere Allopezie des intrakutanen Hämangiomsanteils ist als Spätschaden hochwahrscheinlich und kann nur durch Exzision und Adaptation der haartragenden Hautanteile korrigiert werden. Da der Laser diese Spätfolgen nicht verhindern kann, sollten bei Handlungsbedarf derartige Hämangiome primär ohne Vortherapie mit dem Laser operativ entfernt werden. Hämangiome am Rumpf oder den Extremitäten stellen optisch kein Problem dar und müssen daher nur in Ausnahmefällen therapiert werden. Auch die oft geschilderte Angst vor einem starken Blutverlust bei Sturz und Platzwunde im Hämangiom ist unbegründet, da auch eingerissene Hämangiome nach üblicher Kompression durch körpereigene Blutgerinnung aufhören zu bluten. Alter. Die Dringlichkeit einer Therapie ist abhängig vom
Art und Fläche des Hämangioms. Die Dicke bzw. Tiefe des
Hämangioms bestimmt die Einsatzmöglichkeit von Kryotherapie und Farbstoff- bzw. Nd-YAG Laser: Plane Hämangiome bis zu einem Durchmesser von 1 cm können kryotherapiert werden. Sind sie hingegen plan und größer als 1 cm, kann der Farbstofflaser benutzt werden. Hier ist die Kryotherapie wegen der Ulkusgefahr nicht sinnvoll. Bei Hämangiomen wiederum, die eine Tiefe von mehr als 2 mm aufweisen, besteht eine Indikation für den Nd-YAG-
Alter des Kindes: Hämangiome bei Kindern bis zu 6 Monaten können noch wachsen (je jünger, desto schneller), so dass in dieser Altersgruppe Indikationen dringlich zu sehen sind. Diese Wachstumsgefahr ist ab 6 Monaten nicht mehr relevant, so dass später alle Maßnahmen elektiv durchführbar sind. Während der Wachstumsphase von Hämangiomen im Gesichtsbereich ist es bei objektiv nachgewiesener Größenzunahme sinnvoll bereits prophylaktisch aktiv zu werden, um die Ausbildung großer entstellender Hämangi-
19
184
Kapitel 19 · Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi
ome zu vermeiden. Hier kommen je nach Ausdehnung Kryo- und Farbstofflasertherapie in Frage oder bei größeren Hämangiomen der Nd-YAG-Laser.
19.2.2
Kaposiformes Hämangioendotheliom
stehen in den ersten Wochen der Embryogenese und sind wohl ursächlich auf ein Weiterbestehen des ersten primitiven, netzartigen Gefäßsystems zurückzuführen, das sich normalerweise zurückbildet und durch das bleibende zentrale System ersetzt wird.
19.3.1 Diese seltenen Gefäßtumoren sind durch ihr infiltratives Wachstum als semimaligne einzustufen und metastasieren nicht. Bereits der äußere Aspekt mit der glatten Oberfläche und den unscharfen Rändern lässt sie meist von normalen Hämangiomen unterscheiden. Hämangioendotheliome gehen von den Endothelzellen aus und bilden kleine Tumorknötchen, die in die Umgebung infiltrieren. Im Unterschied zu klassischen Hämangiomen kann beim Hämangioendotheliom kein GLUT-1-Protein nachgewiesen werden (Lyons 2004). In etwa 50% der Fälle besteht ein Thrombozytenverbrauch (Kasabach-Merritt-Symptom), der unbehandelt zu lebensbedrohlichen Blutungen führen kann und eine rasche Therapie erforderlich macht. Hämangioendotheliome sollten, wenn technisch möglich, komplett operativ entfernt werden. Leider ist dies in der Mehrzahl der Fälle nicht möglich, da durch die Infiltration bedingt eine operative Sanierung unmöglich ist. Hier besteht dann eine Indikation zur Chemotherapie etwa mit Vincristin und Cyclophosphamid (. Abb. 19.5). Die Gabe von Interferon zeigt hingegen bei starken Nebenwirkungen (bleibende entwicklungsneurologische Defizite) wenig Erfolg. Ähnliches gilt für Kortison, das temporär aber die manchmal lebensbedrohliche Kasabach-Merritt-Symptomatik verbessern und damit bis zum Wirkungseintritt der Chemotherapie diese heikle Phase überbrücken kann.
19.3
Gefäßmalformationen
Entsprechend der Einteilung von Mulliken zeigen Gefäßmalformationen keinen erhöhten Zellumsatz und sind daher nicht proliferierenden Tumoren zuzuordnen. Sie ent-
Malformationen können das Blutgefäßsystem und das Lymphgefäßsystem betreffen und werden entsprechend der sog. »Hamburger Klassifikation« (Belov 1989) in folgende Gruppen unterteilt in: 4 Venöse Malformationen 4 Arterielle Malformationen 4 Arteriovenöse Malformationen mit AV-Fisteln 4 Lymphatische Malformationen Innerhalb jeder Gruppe wiederum wird noch zwischen trunkulär und extratrunkulär unterschieden: Dabei finden sich bei den trunkulären Formen Aplasien und Hypoplasien zentraler Gefäße, hingegen bei den vom embryonalen Gefäßnetz ausgehenden extratrunkulären Formen Infiltrationen aller Gewebearten, die in ihrer Ausdehnung jedoch begrenzt sind. Eine andere Unterteilung wird von Mulliken vorgeschlagen und bezieht sich auf die verschiedenen Strömungsmuster der betroffenen Gefäße. Hier wird grundsätzlich in »High-flow«- und »Low-flow«-Malformationen sowie kapilläre Formen unterschieden.
19.3.2
. Abb. 19.5. 3 Wochen alter Säugling mit kaposiformem Hämangiom und Kasabach-Merritt-Symptomatik vor Therapie mit Kortison und Cyclophosphamid
Wachstum
Malformationen zeigen zwar kein überproportionales Wachstum, nehmen aber im Laufe von vielen Jahren bzw. Jahrzehnten leicht an Größe zu. Dies ist erklärbar durch den dysplastischen Wandaufbau, der mit der Zeit dem intravasalen Druck nachgibt. Dieser Effekt ist bei arterialisierten Venen nach AV-Fisteln besonders stark ausgeprägt. Weiterhin werden bei Malformationen gewisse Größenzunahmen im Rahmen hormoneller Änderungen beobachtet. Dies trifft für Buben im Rahmen der Pubertät zu, für Mädchen neben der Pubertät später auch bei Schwangerschaften. Dies ist auch als Grund zu sehen, dass häufig vaskuläre Malformationen zunächst unbemerkt bleiben und sich erst im Rahmen der Pubertät klinisch erstmalig manifestieren
19.3.3
19
Einteilung
Venöse Malformationen
Klinik Venöse Malformationen sind die häufigste Form angeborener Gefäßfehlbildungen und können letztlich alle Körper-
185 19.3 · Gefäßmalformationen
regionen betreffen. Meistens treten sie als extratrunkuläre Variante auf und durchsetzen sowohl Haut als auch darunter liegende Gewebe wie Muskeln, Sehnen, Nerven usw. Durch diesen infiltrierenden Charakter sind chirurgische Entfernungen nicht immer möglich oder nur mit unzumutbaren Defekten verbunden. Eine trunkuläre Form venöser Malformationen stellt die Marginalvene an der Lateralseite des Ober- und Unterschenkels (»Generalsstreifen«) dar. Sie ist ein Residuum der sog. Embryonalvene, die sich normalerweise wieder zurückbildet. Ursächlich für das Weiterbestehen werden Hypoplasien oder andere Abflussstörungen des tiefen Venensystems diskutiert, da dann über die Embryonalvene ein alternativer Abfluss möglich ist. Besteht eine völlige Aplasie des tiefen Systems, so stellt die Embryonalvene den einzigen großlumigen Abfluss dar und darf auf keinen Fall entfernt werden. Häufig bestehen im Gebiet der Marginalvene Mikro-AV-Fisteln, die zu einem erhöhten intravasalen Druck (bis zu 40 cm H2O) führen und ein verstärktes Blutungsrisiko darstellen. Da diese Vene klappenlos und teils massiv erweitert ist, können hier beim Stehen große Mengen Blut versacken und zu orthostatischen Regulationsstörungen führen. In Kombination werden bei bestehender Marginalvene auch Längenänderungen des betroffenen Beins beobachtet (Mattassi 2007). Ursächlich werden veränderte Perfusionsmuster des Beins und der Epiphysenfugen diskutiert. Diese Kombination wird mit dem Begriff Klippel-Trenaunay-Syndrom (Megalie, intrakutane und andere Gefäßveränderungen; . Abb. 19.6) bezeichnet, sollte aber wegen seiner lediglich beschreibenden Aussage nicht mehr benutzt werden.
a
Ein Problem, das für alle venösen Malformationen zutreffen kann, sind Gerinnungsstörungen auf Grund von Verbrauchskoagulopathien in langsam durchströmten Gefäßkavernen. Diese Thrombenbildungen können in den betroffenen Gebieten starke, funktionell beeinträchtigende Schmerzen verursachen, die u. U. nur durch die Gabe von Antikoagulanzien (Heparin, Marcumar) therapierbar sind. Liegen diese chronisch entzündeten Areale intramuskulär, führt dies zur Sklerose der Muskelfasern mit sekundärer narbiger Verkürzung. Entsprechende nicht seltene Pathologien in der Gastrocnemiusmuskulatur bewirken eine Achillessehnenverkürzung mit Zehengang durch unzureichende Dorsalflexion des Fußes.
Diagnostik Um Art und Ausmaß venöser Malformationen richtig einschätzen zu können, kommen stufenweise folgende Verfahren zur Anwendung: 4 Erster Schritt ist unabhängig vom Alter die Farbdopplersonographie, mit der die Art (rein venös oder mit AV-Fisteln), die Gefäßgröße und die grobe Ausdehnung erkannt werden können. Bei sehr langsam fließendem Blut können Verwechslungen mit Lymphangiomen auftreten, da hier der Blutfluss unter der Geräteempfindlichkeit liegt. 4 Der nächste diagnostische Schritt ist die Magnetresonanztomographie (MRT), die in heutiger Zeit bereits sehr gute Aussagen über Gefäßverläufe erlaubt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei Kindern bis zum Schulalter eine Narkose erforderlich ist, um aussagekräftige Bilder zu erhalten. Diese Untersuchung sollte daher nur
b
. Abb. 19.6a, b. Junge im Alter von 2 Jahren mit Megalie, Naevus flammeus und Marginalvene des linken Beins. a Präoperativer Befund, b intraoperativer Befund der Marginalvene
19
186
Kapitel 19 · Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi
Chirurgische Therapie (. Abb. 19.7). Die chirurgisch-resezierende Therapie kann bei umschriebenen Gefäßkonvoluten und bei der Marginalvene gut eingesetzt werden (Loose 2007). Ein diffuser Befall ganzer Extremitätenabschnitte hingegen stellt keine Indikation dar, da ansonsten nur massiv verstümmelnd operiert werden kann. Dabei sollte bei Indikationsstellung einzig die persönliche Funktionsproblematik und Schmerzsituation des Patienten ausschlaggebend sein und nicht der optische Aspekt der Fehlbildung. Sowohl bei der interventionellen als auch chirurgischen Therapie sind zwangsläufig belassene Malformationsreste die Hauptursache für spätere sog. »Rezidive«. Diese sind nicht als neues Wachstum zu deuten, sondern sind durch Füllung ehemals kollabierter Areale erklärbar. Dabei spielen veränderte postoperative Flow-Muster eine wesentliche Rolle. Dieser Punkt sollte im Rahmen der präoperativen Aufklärung stets ausdrücklich betont werden.
durchgeführt werden, wenn eine therapeutische Konsequenz abgeleitet wird. 4 Ergeben sich aus der MRT unklare Befunde und aus klinischer Sicht wäre eine Operation indiziert, ist als nächster Schritt eine direkte Gefäßdarstellung erforderlich. Dabei erlauben die Größenverhältnisse eine gefahrlose Punktion und Katheterisierung der A. femoralis erst ab dem 6. Lebensjahr, so dass vorher nur in besonders gelagerten Fällen eine Angiographie indiziert ist.
Therapie Therapeutische Möglichkeiten sind konservativ, radiologisch-interventionell und chirurgisch resezierend. Konservative Therapie. Konservative Maßnahmen stellen eine Basistherapie dar und betreffen Kompressionsbekleidung der involvierten Extremitäten. Eine derartige
Kompression reduziert die pathologische Füllung und Thrombosegefahr der erweiterten Gefäße und reduziert die Tendenz zur Gefäßdilatation. Dabei sollten stets individuell maßgefertigte Teile getragen werden. Eine weitere konservative Maßnahme betrifft die Behandlung der Gerinnungspathologien bei chronischen Thromboseneigungen auf Grund unphysiologischer Strömungsverhalten bis hin zur Blutstase. Hier kommen weniger Thrombozytenaggregationshemmer (Azetylsalizylsäure), sondern niedermolekulare Heparine in Frage. Um die damit täglichen Injektionen zu vermeiden kann als Dauertherapie auch ein Vitamin-K-Antagonist eingesetzt werden.
19.3.4
Rein arterielle Malformationen sind selten und betreffen überwiegend Aneurysmen, die hauptsächlich im Kopf lokalisiert sind. Die Kombination von arteriell und venös mit arteriovenösen (AV-)Fisteln findet sich hingegen häufiger und werden auch als »High-flow«-Malformationen bezeichnet. Meistens sind sie infiltrierend und damit nur schwer abgrenzbar. Bezüglich der Diagnostik gilt hier ähnliches wie bei den venösen Malformationen, jedoch hat die direkte Angiographie zur genauen Darstellung der Fistel hier nach wie vor einen hohen Stellenwert. Die Therapie von AV-Malformationen kann interventionell durch Embolisation der zuführenden Arterien erfolgen und damit entweder als solitäre Maßnahme geplant sein oder als Vorbereitung für eine anschließende operative Entfernung. Derartige Resektionen müssen jedoch weitgehende komplett erfolgen, da sich Reste nach Teilent-
Sklerosierung. Eine radiologisch interventionelle Therapie beinhaltet die Sklerosierung betroffener Gefäße entweder durch hochprozentigen Äthanol oder durch sklerosierende Substanzen. Dabei müssen die systemischen Nebenwirkungen derartiger Substanzen insbesondere im Kindesalter berücksichtigt werden.
19
a
Arterielle und arteriell-venöse Malformationen
b
. Abb. 19.7a, b. Extratrunkuläre venöse Malformation der Hand. a Präoperativer Befund, b intraoperativer Befund
187 19.3 · Gefäßmalformationen
fernungen postoperativ massiv erweitern. Dabei sind häufig verstümmelnde Eingriffe mit hohem Blutverlust notwendig und zur Defektdeckung freie oder gestielte Lappenplastiken erforderlich.
19.3.5
Lymphatische Fehlbildungen
Trunkuläre Fehlbildungen. Fehlbildungen des lympha-
tischen Systems betreffen analog als trunkuläre Fehlbildungen die Hauptgefäßäste mit ihren Kollektoren. Hier kann es sich um konnatale Hypo- und Aplasien handeln mit konsekutiv entsprechenden Lymphödem distal davon. Bei Hypoplasien kann eine entsprechende klinische Symptomatik oft erst mit der Pubertät in Erscheinung treten, bei den Aplasien liegt dies in der Regel bereits bei Geburt vor. Die »Milroy disease« ist ein primäres hereditäres Lymphödem, liegt bereits bei Geburt vor und entsteht auf Grund einer vererbten Aplasie oder Hypoplasie der die Beine drainierenden großen Lymphgefäße. Extratrunkuläre Fehlbildungen. Extratrunkuläre lymphatische Erkrankungen sind Lymphangiome, die in zwei
Dritteln bei Geburt bereits vorliegen, in einem Drittel der Fälle aber erst später klinisch manifest werden, da sie vorher nicht mit Lymphflüssigkeit gefüllt sind. Auch Einblutungen in präformierte Lymphzysten nach banalen Traumen können erst später ein Lymphangiom erkennen lassen. Lymphangiome können in verschiedenen Formen vorliegen: großzystisch, kleinzystisch und kapillär-solide. Dabei liegen meistens Mischtypen vor. Je kleinzystischsolider Lymphangiome sind, umso mehr sind sie infiltrativ und können sämtliche Gewebsschichten durchsetzen. Lymphangiome sind in 66% der Fälle in der Halsregion
a
lokalisiert, die übrigen 33% können an allen anderen Stellen des Körpers lokalisiert sein.
Diagnostik Große Lymphangiome können im Ultraschall bereits intrauterin gut gesehen werden und entsprechend ihrer Größe den Geburtsmodus beeinflussen. ! Cave Start Kinder mit sehr großen kollaren Lymphangiomen sollten per Kaiserschnitt geboren werden, da das Trauma der Geburt eine Einblutung in das Lymphangiom mit möglicher Kompression der Trachea verursachen kann.
Sowohl prä- als auch postnatal ist der UItraschall die erste Untersuchung, in der bereits die Ausdehnung gut erkannt werden kann. Um bei großen Lymphangiomen die genaue Beziehung zu wichtigen Strukturen in der Tiefe (Gefäße, Nervenplexus, Trachea) zu erkennen, ist eine Kernspintomographie ggf. in Narkose indiziert. Trunkuläre Lymphfehlbildungen können mittels Lymphszintigraphie diagnostiziert werden, hingegen ist eine direkte Kontrastmitteldarstellung nicht mehr erforderlich.
Therapie Trunkuläre Fehlbildungen. Trunkuläre Fehlbildungen können in der Regel nicht chirurgisch korrigiert werden und müssen mit konservativen Maßnahmen wie Lymphdrainage und Kompression behandelt werden. Extratrunkuläre Fehlbildungen. Extratrunkuläre Formen, also typische Lymphangiome, sollten bei entsprechender klinischer Symptomatik reseziert werden (. Abb. 19.8). Dies gelingt bei großen Zysten gut, hingegen verbleiben bei klein-
b
. Abb. 19.8a, b. Weiblicher Säugling mit Lymphangioma colli. a Präoperativer Befund, b postoperativer Befund nach einem Jahr
19
188
Kapitel 19 · Gefäßtumoren, Gefäßmalformationen und Nävi
zystisch-kapillären Lymphangiomen stets Reste, die infiltrierend umliegende wichtige Gewebestrukturen involvieren. Zwar ist das Operationsziel die komplette Entfernung, jedoch kann bei den meisten Fällen dies eben nicht erreicht werden. Da es sich um einen gutartigen Tumor handelt, werden dann derartige Reste belassen. Diese Lymphangiomreste wiederum sind für spätere Komplikationen verantwortlich (Schuster 2003), da sie sich vermehrt füllen und dilatieren oder Ausgangspunkt von Entzündungen sein können. Eine alternative Möglichkeit stellt die Sklerosierungsbehandlung von zystischen Lymphangiomen dar, die jedoch nur bei großzystischen Lymphangiomen sinnvoll sein kann. Da eine Sklerosierungstherapie bei kapillärsoliden Lymphangiomen erfolglos bleibt und gerade diese Form auch bei der chirurgischen Resektion unbefriedigend ist, können leider auch mit dieser Behandlung die entscheidenden therapeutischen Probleme der Lymphangiome nicht gelöst werden. Bei dieser Therapieform werden die Lymphangiomzysten abpunktiert und die Zysten dann mit sklerosierenden Substanzen gefüllt. Die anschließende Entzündung führt zu Verklebungen der Zystenwände und damit zu einer Volumenreduktion. Kleinzystische und solide Anteile werden hier nicht erfasst und verhindern eine komplette Rückbildung, so dass eine operative Nachkorrektur erforderlich sein kann. Benutzt werden Bleomycin, ein Chemotherapeutikum mit entsprechenden systemischen Nebenwirkungen (Lungenfibrose), oder OK 432, ein Abkömmling von Streptococcus pyogenes (ohne Zulassung in Deutschland), das auch systemisch Entzündungsreaktionen hervorrufen kann (Hall 2003).
19.4
19
Nävi
Nävuszellnävi sind konglomeratartige Ansammlungen von Melanozyten, die entweder angeboren sein können oder erst nach der Geburt auftreten. Bis über 100 Nävi können post partum entstehen, ohne dass es einen entsprechenden Krankheitswert hat. Kongenitale Nävi hingegen können ab einer gewissen Größe (>7 cm bzw. 1–2% der KOF) später maligne entarten (1–3%); es können bei deren Trägern in 50% der Fälle aber auch an anderen Hautanteilen Melanome entstehen. Die komplette Entfernung eines großen Nävus reduziert das Entartungsrisiko also etwa um 50%. Zum Ausschluss neurokutaner Melanosen, d. h. eines Befalls der Meningen, wird bei großen kongenitalen Nävi die Durchführung einer Kernspintomographie des Schädels empfohlen (Agero 2005). Für die Entfernung von Nävi stehen verschiedene chirurgische Vorgehensweisen zur Verfügung, deren Ziel es ist, einerseits eine komplette Entfernung zu erreichen, anderseits aber auch ein optisch und ästhetisch befriedigendes Ergebnis zu erzielen.
Bei sog. Riesennävi, deren Entfernung funktionell oder optisch massive Defekte hinterlassen würde und praktisch nicht durchführbar ist, besteht die Möglichkeit, durch hochtouriges Abschleifen eine Verbesserung des optischen Eindrucks zu erreichen. Es muss aber hier berücksichtigt werden, dass die Melanozyten in der Dermis und subkutanen Schicht verbleiben und dieses Verfahren somit das Risiko einer späteren Entartung nur wenig verändert. Weiterhin muss diese Technik unmittelbar nach der Geburt erfolgen, da später die Pigmentnävi in die Tiefe wachsen. Für eine komplette Entfernung großer Nävi stehen mehrere Vorgehensweisen zur Verfügung: 4 Serielle Exzisionen können bis zu 3- bis 5-mal an einem Nävus durchgeführt werden und ermöglichen bei kleinen bis mittleren Nävi je nach Lokalisation eine komplette Entfernung oder sind als vorbereitende Maßnahme für andere Verfahren zu sehen. Weiterhin kann im Gesichtsbereich durch mehrere Teilentfernungen die Endlänge einer Narbe reduziert werden bzw. die Narbe in Richtung der Langerschen Spaltlinien positioniert werden. 4 Lappenplastiken ermöglichen die Verlagerung von Narben in weniger auffällige Bereiche oder werden nach Vordehnung gesunder Haut durch Expander zur Deckung größerer Defekte benutzt. Gerade die Verwendung von Hautexpandern ergibt sehr gute optische Ergebnisse, da der Nävus durch normale Haut ersetzt werden kann. Inzwischen gibt es Expander, die sich selbst durch Osmose aufdehnen und die bei Kindern ideal einsetzbar sind, da dadurch das schmerzhafte Aufdehnen und Punktieren entfällt. 4 Transplantationen von Voll- oder Spalthaut (Mesh) sind nach Entfernung sehr großer Nävi das zu wählende Verfahren (. Abb. 19.9). Vollhaut wird hier im Gesichtsbereich sowie an den Händen benutzt, da hier am wenigsten Narben entstehen und sowohl das funktionelle als auch optische Ergebnis am besten ist (Stephenson 2000). Ansonsten wird Spalthaut zur Defektdeckung benutzt, die durch entsprechendes Meshen bis zum 3-fachen der ursprünglichen Fläche gedehnt werden kann. Leider sind aber hier die optischen Ergebnisse am schlechtesten, da gemeshte Spalthaut stark zum Schrumpfen und zu Narbenbildungen neigt. Eine gewisse Verbesserung kann durch die Verwendung von Kollagenmatrix erreicht werden, die zwischen Wundgrund und Spalthaut eingebracht wird. Für die Nachsorge nach Spalthauttransplantationen ist eine entsprechende Kompressionsbehandlung mit individuell gefertigter Kompressionskleidung entscheidend für eine gute Narbenbildung. Diese Kompressionsanzüge sollte mindestens 1–2 Jahre getragen werden.
189 19.4 · Nävi
a
b
. Abb. 19.9a, b. Konnataler Nävus. a Präoperativer Befund im Säuglingsalter, b postoperativer Befund nach multiplen Vollhauttransplantationen im Alter von 3 Jahren
Eine weitere Form eines Nävus stellt der Naevus sebaceus dar, der als meist orangefarbene Hautläsion mit unregelmäßiger Oberfläche im Kopfbereich zu finden ist und ein kongenitales Hamartom darstellt. Verschiedene Neoplasien wie Trichoblastome, Syringozystadenome oder Basalzellkarzinome können von einem Naevus sebaceus aus entstehen, so dass eine prophylaktische Entfernung empfohlen werden kann. Andererseits fand Cribier (2000) in einer Studie von über 596 Fällen mit einem Naevus sebaceus, dass maligne Entartungen im Kindesalter nicht vorkamen, benigne Läsionen in nur 1,7% der Fälle beobachtet wurden und daher eine prophylaktische Entfernung im Kindesalter wenig Vorteile bringen würde. Da auf einem Naevus sebaceus keine Haare wachsen, spielt sicherlich aber auch die optische Komponente zur Indikationsstellung eine erhebliche Rolle. Ein Naevus flammeus stellt eine Form der kapillären Malformation dar und zeigt keinerlei Pigmentauffälligkeiten. Die Therapie der Wahl stellt hier der Blitzlampengepulste Farbstofflaser dar.
Literatur Agero AL, Benvenuto-Andrade C, Dusza SW, et al. (2005) Asymptomatic neurocutaneous melanocytosis in patients with large congenital melanocytic nevi: A study of cases from an internet-based registry. J Am Acad Dermatol 53:959–965 Belov St (1989) Classification, terminology and nosology of congenital vascular defects. In: Belov St, Loose DA, Weber J (eds ) Vascular malformations. Einhorn, Einbeck, S. 25–30 Cribier B, Scrivener Y, Grosshans E (2000) Tumors arising in nevus sebaceus: a study of 596 cases. J Am Acad Dermatol 42:263–268 Hall N, Ade-Ajayi N, Brewis C et al. (2003) Is intralesional injection of OK432 effective in the treatment of Lymphangioma in children? Surgery 133:238–242 Loose DA (2007) Surgical management of venous malformations. Phlebology 22:276–281 Lyons LL, North PE, Lai FM et al. (2004) Kaposiform hemangioendothelioma – a study of 33 cases emphasizing its pathologic, immunophenotypic, and biologic uniqueness from juvenile hemangioma. Am J Surg Path 28:559–568 Mattassi R, Vaghi M (2007) Management of the marginal vein: current issues. Phlebology 22:283–286 Mulliken JB, Glowacki J (1982) Hemangiomas and vascular malformations in infants and children: A classification based on endothelial characteristics. Plast Reconstr Surg 69:412–422 Mulliken JB, Enjolras O (2004) Congenital hemangiomas an infantile hemangiomas: Missing links. J Am Acad Dermatol 50:875–882 Schuster T, Grantzow R, Nicolai T (2003) Lymphangioma colli-A new classification contributing to prognosis. Eur J Pediatr Surg 13:97–102 Stephenson AJ, Griffiths RW, La Hausse-Brown TP (2000) Patterns of contraction in human full thickness skin grafts. Br J Plast Surg 53:397–402
19
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20
20 Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums S. Glüer, D. von Schweinitz 20.1
Fehlbildungen der Lunge
20.1.1 20.1.2
Die Entwicklung der gesunden Lunge – 191 Allgemeine Diagnostik und Chirurgie der Lungenfehlbildungen – 192 Kongenitale zystische Malformation der Lunge – 193 Lungensequestration – 196 Kongenitales lobäres Emphysem – 197 Bronchogene Zyste – 198 Spontanpneumothorax – 199 Vaskuläre Malformationen – 200 Lungenagenesie – 200
20.1.3 20.1.4 20.1.5 20.1.6 20.1.7 20.1.8 20.1.9
– 191
20.2
Erworbene und infektiöse Erkrankungen der Lunge und der Pleura – 200
20.2.1 20.2.2 20.2.3
Lungenabszess – 200 Pleuraempyem – 201 Pneumatozele – 202
> Intrathorakale Erkrankungen mit chirurgischer Relevanz sind im Kindesalter insgesamt nicht ungewöhnlich und haben ein vielfältiges Spektrum. Jede einzelne in diesem Kapitel beschriebene Entität für sich betrachtet kommt dabei eher selten vor. In diesem Kapitel wird nach einer kurzen Übersicht über die Embryologie der gesunden Lunge auf die wesentlichen kongenitalen Fehlbildungen und erworbenen Erkrankungen der Lunge, der Pleurahöhle und des Mediastinums eingegangen. Die Mehrzahl der chirurgisch relevanten Erkrankungen und Fehlbildungen kommen fast ausschließlich im Säuglings- und Kindesalter vor. Diese Tatsache sowie die vom Erwachsenen unterschiedlichen physiologischen Verhältnisse, die kleinen anatomischen Verhältnisse und die große Verletzlichkeit der Gewebestrukturen bedingen, dass die operative Versorgung der geschilderten Erkrankung unbedingt von Chirurgen durchgeführt werden sollte, die Erfahrung mit kindlicher Thoraxchirurgie besitzen.
20.2.4 20.2.5 20.2.6 20.2.7
Bronchiektasen – 202 Chylothorax – 203 Diffuse interstitielle Lungenerkrankungen – 204 Chirurgie bei spezifischen Infektionen – 205
20.3
Tumoren der Lunge und der Bronchien – 206
20.3.1 20.3.2
Primäre Tumoren – 206 Lungenmetastasen anderer Tumoren
20.4
Mediastinale Raumforderungen
20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4 20.4.5
Keimzelltumoren – 208 Thymom – 208 Lymphome – 208 Neurofibrome – 208 Zystische Raumforderungen
– 207
– 207
– 209
Literatur – 209
20.1
Fehlbildungen der Lunge
20.1.1
Die Entwicklung der gesunden Lunge
Am 26. Tag post conceptionem (p.c.) stülpt sich die Lungenanlage als entodermales Divertikel ventral aus dem Vorderdarm aus und wächst in das umliegende mesodermale Mesenchym vor. Gleichzeitig beginnt sich die Lungenknospe zu teilen und besteht am 32. Tag p.c. aus 5 kleinen Säckchen, die die Grundlage der zukünftigen Lungenlappen bilden (Joshi u. Kotecha 2007). Durch dichotome Teilungen der Epitheltubuli bilden sich nachfolgend die segmentalen und subsegmentalen Äste des Atemwegsbaumes. Hierbei ist die Interaktion zwischen Mesenchym und Epitheltubuli für die Gestaltung des Verzweigungsmusters von entscheidender Bedeutung. Störungen der Entwicklung der Lungenanlage in der Embryonalphase führen zur beidseitigen Lungenagenesie und werden klinisch nur sehr selten beobachtet, da sie für den Embryo deletär sind. Die eigentliche Lungenentwicklung beginnt in der 5. Woche und wird in mehrere Stadien unterteilt: Das pseu-
192
20
Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
doglanduläre Stadium (5. bis 17. Woche) ist durch eine
drüsenartige Morphologie des vorwachsenden Atemwegsbaums gekennzeichnet. Es differenzieren sich die zentralen leitenden Atemwege und beginnend auch mehrere Generationen des zukünftigen Parenchymbaums. Im kananikulären Stadium (16. bis 26. Woche) kommt es zu einer zunehmenden Dilatation der distalen Tubuli, die dadurch zu Cananiculi werden, das Mesenchym verdrängen und zu einer Kontaktaufnahme des zukünftigen respiratorischen Epithels mit dem gleichzeitig aussprossenden komplexen Kapillarnetz führen. Das Epithel der Cananiculi besteht aus zunehmend differenzierten Typ-I- (Blut-Luft-Schranke) und Typ-II-Zellen (Surfactant-Produktion), die am Ende dieses Stadiums eine erste Funktion als Gasaustauscher zulassen. Während des sakkulären Stadiums (24. Woche bis zur Geburt) kommt es zu einer massiven Erweiterung der Lufträume im Lungenparenchym und zur Entstehung der letzten Atemwegsgenerationen mit Bildung der Sacculi alveolares und den dazwischen liegenden Primärsepten. Das Stadium der Alveolenbildung erstreckt sich von der 36. Woche bis 18 Monate postnatal und ist durch die Bildung von Alveolen und Sekundärsepten gekennzeichnet. Es schließt sich das Stadium der mikrovaskulären Reifung an, das von der Geburt bis zum 3. Lebensjahr geht. Dieses letzte Entwicklungsstadium vor dem bloßen Organwachstum schließt die Alveolenbildung ab. Es kommt zu einer steten Abnahme des septalen Bindegewebes, am Ende dieses Stadiums besitzt die Lunge eine adulte Morphologie mit schlanken Septen mit sehr feiner Bindegewebsachse und zahlreichen Kapillarschlingen, die mäanderförmig von der einen zur anderen Septumseite verlaufen. Nach dem 3. Lebensjahr sind in der reifen Lunge keine bedeutenden strukturellen Veränderungen im Bereich der Septen mehr zu erwarten, die Lunge und insbesondere das Kapillarbett wachsen aber noch erheblich mindestens bis zum Abschluss des knöchernen Thoraxwachstums. Die Lunge ist intrauterin mit Flüssigkeit gefüllt, die von ihr produziert und über die Atemwege in die Amnionhöhle abgegeben wird. Die in der Lunge verbleibende Flüssigkeit beeinflusst die Lungenentwicklung ebenso wie der Raum, der ihr zur Verfügung steht. So können sowohl ein Oligohydramnion als auch intrathorakal raumfordernde Prozesse die Lungenentwicklung stören und zur Lungenhypoplasie führen (Whitsett 2006). > Die Lunge wird in der Fetalzeit angelegt und entwickelt sich danach kontinuierlich bis in das Kleinkindalter. Die Lungenentwicklung ist bei Geburt noch nicht abgeschlossen und kann u. a. durch raumfordernde intrathorakale Prozesse gestört werden.
20.1.2
Allgemeine Diagnostik und Chirurgie der Lungenfehlbildungen
Viele Lungenfehlbildungen werden heute in der pränatalen Sonographie diagnostiziert (7 Kap. 10). Sie fallen als hyperechogene, hypoechogene oder zystische, mehr oder weniger raumfordernde Befunde auf (Mann et al. 2007). Bei der Pränataldiagnostik sollte man sich nicht auf eine der Differenzialdiagnosen festlegen, um eine vorschnelle Wertung zu vermeiden. Günstiger ist es, den Befund und seine Auswirkungen deskriptiv zu erfassen und die exakte Diagnose erst postnatal, gelegentlich sogar erst nach der Resektion anhand der Histologie zu stellen (Achiron et al. 2004). Die Lungenmalformationen zeigen nämlich sowohl in der Bildgebung als auch klinisch und histologisch gemeinsame Charakteristika (Langston 2003). Der intrauterine Verlauf kann nicht aus einer einzelnen Untersuchung vorhergesagt werden. Einige, auch imposante Befunde sind intrauterin regredient, andere wachsen lediglich mit dem Feten mit und wieder andere führen zu intrauterinen Komplikationen wie ausgeprägtem Mediastinalshift, Herzinsuffizienz, Polyhydramnion und Hydrops fetalis. Bei ausgeprägten Befunden kann versucht werden, das Ausmaß der Lungenhypoplasie und damit der zu erwartenden respiratorischen Probleme nach der Geburt durch sonographische oder magnetresonanztomographische Messung der Läsion im Verhältnis zum Thoraxdurchmesser oder im Verhältnis zum Kopfumfang des Feten vorherzusagen und als Konsequenz hieraus z. B. eine vorübergehende Lungenersatztherapie (ECMO) vorzuhalten (Azizkan u. Cromblehome 2008). Für diese Fälle gibt es auch Berichte über erfolgreiche Platzierungen von Shunts in große Zysten, die dadurch in das Fruchtwasser drainiert wurden und weniger raumfordernd waren (Adzick 2003). Bei intrauterin regredienten Befunden sollte postnatal auch bei fehlender Symptomatik eine Computertomographie des Thorax erfolgen, da diese in den meisten Fällen auch bei fehlendem Nachweis in der pränatalen Sonographie pathologische Befunde ergibt (Shanmugan et al. 2005). > Neugeborene, die postnatal respiratorische Probleme aufweisen, sollten zügig operiert werden (Eber 2007). Bei asymptomatischen Kindern sollte die Diagnostik und Therapie im ersten Lebensjahr erfolgen, um der gesunden Restlunge möglichst viel Zeit zur Entwicklung zu geben (Adzick et al. 2003).
Die operative Therapie besteht bei Lungenfehlbildungen – wie auch bei den meisten erworbenen Lungenerkrankungen (7 Kap. 20.2) – in einer Resektion (Waldschmidt 2007). Prinzipiell werden Lungenresektionen bei Kindern mit denselben Techniken durchgeführt wie bei Erwachsenen. Der wichtigste Unterschied besteht in den kleineren anatomischen Verhältnissen (Pinkerton u. Oldham 2005). Deshalb soll hier auch nicht auf die technischen Details eingegangen, sondern auf die entsprechende Literatur verwiesen
193 20.1 · Fehlbildungen der Lunge
werden (Nohl-Oser u. Salzer 1985; Ravitch u. Steichen 1985). Jedoch ist auf eine ausgereifte Technik, angepasst an die kleinen Verhältnisse sowie das erhöhte Risiko bei Blutverlust und Shift des Mediastinums besonders bei Säuglingen, hinzuweisen. Deshalb sollten Lungenresektionen bei jungen Kindern nur von Chirurgen mit Erfahrung in kindlicher Thoraxchirurgie vorgenommen werden. Am häufigsten kommen auch bei Kindern konventionelle Lobektomien zum Einsatz. Hier muss ganz besonders darauf geachtet werden, dass bei kleinen anatomischen Verhältnissen im Hilusbereich nicht Gefäße und Bronchien benachbarter Lungenlappen verletzt, eingeengt oder verschlossen werden. Segmentresektionen kommen nur in ausgewählten Fällen – bevorzugt bei größeren Kindern – zum Einsatz. »Wedge«-Resektionen wiederum werden häufig, vor allem bei nodulären Veränderungen der Lunge (Tumormetastasen, Myzelien) durchgeführt. Bei genauer und sauberer Technik kann die akute Komplikationsrate im Kindesalter sehr niedrig gehalten werden. Bei Vermeidung von Infektionen u. a. durch eine perioperative Gabe eines Antibiotikums, z. B. eines Breitspektrumcephalosporins, ist bei Kindern in aller Regel eine rasche und komplikationslose Heilung zu beobachten. Insbesondere bei jungen Kindern kommt es nach einer Lungenresektion zu einem gewissen kompensatorischen Mehrwachstum der verbliebenen Lungenanteile, wobei dies für Alveolen und Bronchiolen stärker der Fall ist, als für zentrale Strukturen. Langfristig wird klinisch eine respiratorische Insuffizienz nach kindlicher Lungenresektion – außer nach Pneumonektomien – nur selten beobachtet und die Lebensqualität ist fast nie eingeschränkt. Deformitäten der Brustwand und Skoliosen sind jedoch eine relativ häufige Langzeitfolge vor allem nach offenen Thorakotomien. Nach frühkindlichen Pneumonektomien kann es zu ausgeprägten Veränderungen der thorakalen Anatomie kommen, weshalb hier oft das Einlegen einer (Ballon-)Prothese empfohlen wird (Pinkerton u. Oldham 2005). Prinzipiell können Lungenmalformationen minimalinvasiv angegangen werden (7 Kap. 13; Georgeson u. Robertson 2004). Die Methode hat sich auch bei kleinen Kindern und Säuglingen als sicher, effektiv und hinsichtlich der Liegedauer der Thoraxdrainage, der Dauer des stationären und des Intensivaufenthaltes und der Kosmetik als vorteilhaft gegenüber der offen chirurgischen Methode erwiesen. Der häufigste Grund zur Konversion auf eine konventionelle Thorakotomie ist der Mangel an Übersicht aufgrund der engen räumlichen Verhältnisse, was für den Patienten bei großzügiger Indikation zur Konversion nicht von Nachteil ist (Albanese et al. 2003). Bei der videoassistierten thorakoskopischen Operation (VATS) werden in Seitenlage der Videotrokar unterhalb der Skapulaspitze in der hinteren Axillarlinie und 2–3 Hilfstrokare unter Sicht eingebracht. Der intrathorakale Insufflationsdruck beträgt 5–8 mmHg. Für Säuglinge stehen 3-mm-Instrumente, für größere Kinder 5-mm-Instrumen-
te zur Verfügung. Die Parenchympräparation und Durchtrennung von Gefäßen bis 7 mm Durchmesser erfolgt mit dem Ligasure, größere Bronchien sollten durchstochen und ligiert werden. Die Entfernung des Präparates erfolgt aus der größten Trokareintrittstelle, notfalls nach geringer Erweiterung des Schnittes. Die Indikation zur Einlage einer Thoraxdrainage sollte sorgsam geprüft werden und nicht routinemäßig erfolgen. > Kongenitale Malformationen werden heute häufig pränatal in der Sonographie erkannt und können intrauterin einen unterschiedlichen Verlauf zeigen. Kinder, bei denen in der Sonographie kein pathologischer Befund mehr zu erheben ist, weisen in der überwiegenden Zahl der Fälle pathologische Befunde im CT auf und sollten auch bei Symptomfreiheit operiert werden. Die Resektion der Malformation sollte im ersten Lebensjahr erfolgen, um der gesunden Restlunge möglichst viel Zeit zur Entwicklung zu geben. Technisch können Lungenmalformationen auch bei kleinen Kindern und Säuglingen heute minimalinvasiv thorakoskopisch angegangen werden.
20.1.3
Kongenitale zystische Malformation der Lunge
Definition. Die kongenitale zystisch adenomatoide Malformation (CCAM) ist durch eine multizystische Veränderung des Lungengewebes mit abnormer Proliferation bronchialer Strukturen charakterisiert. Inzidenz. Die Häufigkeit wird mit 1:11.000 bis 1:35.000 Lebendgeborene mit leichter Knabenwendigkeit angegeben. Ätiopathogenese. Es besteht Einigkeit darüber, dass es
sich um eine echte, hamartöse Lungenfehlbildung handelt, die wahrscheinlich während der pseudoglandulären Phase der Lungenentwicklung (5. bis 17. Woche) entsteht. Durch eine mesenchymal bedingte Fehlentwicklung kommt es in diesem kritischen Stadium der Lungenentwicklung zu einer abnormen Differenzierung des Lungengewebes, die in einer zystischen Erweiterung der distalen Atemwege resultiert. Die zystische Malformation betrifft meistens nur einen Lungenlappen, in 60% die linke Seite. In bis zu 4% der Fälle wird über beidseitiges Auftreten der CCAM berichtet (Wilson et al. 2006). Diese Patienten müssen engmaschig kontrolliert werden, da sie eine Prädisposition zu weiteren Anomalien und zu maligner Entartung haben können. Klassifikation. Histopathologisch werden fünf unterschiedliche Typen unterschieden (MacSweeney et al. 2003). 4 Makrozystische CCAM (Stocker Typ I): eine oder mehrere große Zysten mit einem Durchmesser >2 cm; Aus-
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kleidung der Zysten mit einem zilientragenden respiratorischen Epithel und schleimbildenden Zellen; in der Zystenwand glatte Muskulatur und vermehrt elastisches Gewebe Mikrozystische CCAM (Stocker Typ II): zahlreiche kleine, mit einander kommunizierende Zysten bis 1 cm Durchmesser; die dünne Zystenwand enthält glatte Muskulatur und ist mit einem einreihigen kubischen Flimmerepithel ausgekleidet Solide CCAM (Stocker Typ III): solide, adenomatoide, luftleere Masse aus englumigen, bronchiolenartigen unreifen Strukturen mit Ansammlungen schleimbildender Zellen Peripher-zystischer Typ (Stocker Typ IV): ebenfalls sehr selten, repräsentiert möglicherweise eine niedrig maligne Form des pleuropulmonalen Blastoms (s. unten) Azinäre Dysplasie (Stocker Typ 0): sehr selten vorkommende beidseitig hypoplastische Lungen mit fehlender azinären Differenzierung und deshalb keiner Ausbildung von Alveolen, meist infauste Prognose (Davidson et al. 1998)
Klinik und Diagnostik. Pränatal imponiert die Malformation als klein-, mittel- oder großzystische Struktur mit im Vergleich zur übrigen Lunge echoreichem solidem Anteil (. Abb. 20.1). Die Blutversorgung erfolgt aus dem pulmonalen Kreislauf. Durch Raumforderung kann es zur Verdrängung der übrigen Lunge und zum Mediastinalshift mit Verlagerung des Herzens auf die Gegenseite kommen. Zwischen der 20. und 25. SSW zeigen die Malformationen die größte Wachstumstendenz, danach kommt es in 45–75% der Fälle zu einer relativen Verkleinerung oder auch zu einer echten Regression des Befundes. Selten (in ca. 10% der Fälle) kann sich ein Polyhydramnion oder eine fetale Herzinsuffizienz mit auch fatalem Hydrops fetalis entwickeln. Als Parameter zur Einschätzung des Verlaufs hat sich das Volumen der Malformation im Verhältnis zum Kopfumfang erwiesen, wo-
. Abb. 20.1. Pränatale Ultraschallbilder (26. SSW) eines Feten mit großzystischer Lungenmalformation: echoreiche Raumforderung mit einer großen und mehreren kleinen Zysten. Links Querschnitt, rechts Längsschnitt durch den kindlichen Thorax
bei eine Ratio >1,6 als prognostisch ungünstig gilt. Differenzialdiagnostisch kommen Lungensequester, bronchogene Zysten oder Zwerchfellhernien in Betracht (Wilson et al. 2006). Das Spektrum der Symptome postnatal reicht von pulmonal komplett unauffälligen Kindern über leichte Dysund Tachypnoe bis zum globalen Lungenversagen schon direkt nach der Geburt aufgrund einer schweren, beidseitigen Lungenhypoplasie. Beatmungspflichtige oder symptomatische Neugeborene sollten bald nach Stabilisierung operiert werden. Hier kann es nach rascher Thorakotomie und Herauslösen des betroffenen Lungenlappens zu einer Verbesserung der Beatmungsfähigkeit der Restlunge kommen, so dass dann die Lobektomie sicherer durchgeführt werden kann. Bei Kindern ohne Symptome wird am 1. Lebenstag (und ggf. erneut am Ende der 1. Lebenswoche) ein a.p. Röntgenbild des Thorax angefertigt, um einen Mediastinalshift zu erfassen (. Abb. 20.2). Bei minimalem oder fehlendem Shift und asymptomatischem Kind empfehlen wir im Alter von 3–6 Monaten eine Computertomographie des Thorax, in der man in den meisten Fällen (auch bei unauffälligem Röntgenbild perinatal) einen pathologischen Befund erheben kann (. Abb. 20.3). Therapie. Umstritten ist, ob zystische Malformationen bei asymptomatischen Kindern reseziert werden müssen (Sauvat et al. 2003). Argumente hierfür sind die Vermeidung von Komplikationen wie (Spannungs-) Pneumothorax durch spontane Ruptur einer der Zysten, Infektionen und eine mögliche Gefahr der malignen Entartung (Granata et al. 1998). Hinzu kommt eine schon pränatal bestehende Verunsicherung der Eltern. Ebenso umstritten ist der Zeitpunkt der Resektion bei asymptomatischen Kindern: Wir empfehlen eine Resektion im Alter von 6–9 Monaten unter anderem, um dem gesunden Lungengewebe möglichst frühzeitig die Gelegenheit zu geben, sich in den entstehenden Raum nachzuentwickeln. Einige Autoren empfehlen eine Resektion in der Neonatalzeit, andere warten bis zum Alter von 2 Jahren.
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a . Abb. 20.3a, b. Kongenitale zystische Malformation der Lunge. a Unauffälliges Nativröntgenbild des Thorax am 1. Lebenstag, nachdem pränatal eine zystische Lungenmalformation gesehen worden
b
. Abb. 20.2a–c. Kongenitale zystische Malformation der Lunge. a Röntgenbild des Thorax a.p. wenige Stunden nach Geburt: mehrere bullöse Aufhellungen im linken Ober- bis Mittelfeld, die kaum einen Mediastinalshift verursachen. b Am 6. Lebenstag multizystische Veränderungen im linken Ober- bis Mittelfeld mit mäßiger Verschiebung des Mediastinums nach rechts. c CT des Thorax mit Darstellung der großen bullösen Formationen im linken apikalen Oberlappen
b war. b CT des Thorax im Alter von 6 Monaten: links basal sind Residuen des Befundes zu sehen, gleichzeitig eine leichte Überblähung der angrenzenden Lungenabschnitte
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> Die CCAM ist die häufigste kongenitale zystische Lungenmalformation. Sie wird heute überwiegend bereits pränatal diagnostiziert und betrifft meistens nur einen Lungenlappen. Viele CCAM stagnieren im Wachstum nach dem zweiten Schwangerschaftstrimester, nur selten kommt es intrauterin zu Komplikationen wie Polyhydramnion und Hydrops fetalis. Postnatal können die Kinder komplett unauffällig sein, leichte respiratorische Symptome oder sehr selten auch eine respiratorische Globalinsuffizienz aufweisen. Mittelfristige Komplikationen können rezidivierende Infektionen und ein (Spannungs-)Pneumothorax sein. CCAM sollte bei symptomatischen Kindern bald nach Diagnosestellung reseziert werden. Nicht geklärt ist, ob eine Indikation zur Resektion auch bei nicht symptomatischen Kindern mit fehlendem raumfordernden Charakter der Malformation besteht.
20.1.4
Lungensequestration
Definition. Als bronchopulmonaler Sequester (LS) wird abnormes, nicht funktionierendes Lungengewebe bezeichnet, das keine normale Verbindung zum Tracheobronchialbaum und zum Pulmonalarteriensystem besitzt. Die arterielle Versorgung erfolgt aus atypischen systemischen Arterien, z. B. aus der thorakalen oder abdominellen Aorta, der venöse Abfluss in das Azygossystem, die Pulmonalvenen oder die inferiore V. cava. Ätiopathogenese. Zur Entstehungsweise von LS gibt es unterschiedliche Theorien: Er wird als Folge der Entwicklung einer akzessorischen Lungenknospe mit Blutversorgung aus der Aorta diskutiert oder alternativ als Folge eines akzessorischen Gefäßes, das Anschluss an Lungengewebe gewinnt und dieses durch mechanischen Zug während des weiterem Wachstums separiert. Intrapulmonale Lungensequester sind möglicherweise erworben in der Folge rezidivierender pulmonaler Infektionen und bronchialer Obstruktion (Salmons 2000). Klinik und Diagnostik. Es werden zwei Formen von Lungensequestrationen unterschieden, die sich histologisch allerdings nicht unterscheiden und auch gleichzeitig vorkommen können (Salmons 2000): 4 Extralobäre Sequester (ELS) sind vom übrigen Lungengewebe getrennt und haben einen eigenen Pleuraüberzug. Sie finden sich fast immer im hinteren unteren Hemithorax neben der Wirbelsäule, in 90% der Fälle linksseitig. Es gibt auch extrathorakale Lokalisationen, typischerweise in der Nähe der linken Nebenniere und sehr selten bilaterale Lungensequestrationen. ELS findet man assoziiert mit Zwerchfellhernie, angeborenen Herzfehlern und kongenitaler zystischer Malformation der Lunge. ELS treten häufiger bei Jungen auf (m:f = 4:1).
4 Intrapulmonale Sequester (ILS) befinden sich innerhalb normalen Lungengewebes (in 90% im Unterlappen) und können Luft enthalten. ELS werden typischerweise pränatal im Ultraschall oder zufällig im Röntgenbild gefunden, während ILS häufig erst im Kleinkindalter im Rahmen der Diagnostik von rezidivierenden einseitigen basalen Pneumonien auffallen. Pränatal stellt sich ein LS als hyperechogene, gelegentlich auch zystische Struktur im basalen posterioren Hemithorax dar (. Abb. 20.4). Im Röntgenbild des Thorax sieht man eine gut begrenzte weichteildichte Formation im Unterfeld. Beweisend ist dabei der Nachweis der systemischen arteriellen Versorgung. Diese Gefäße können sonographisch, angiographisch, im Angio-MRT oder Angio-CT dargestellt werden. Gelegentlich kann es zu signifikanten arteriovenösen Shunt-Volumina mit Herzinsuffizienz kommen. Weitere Komplikationen können rezidivierende pulmonale Infektionen und Blutungen mit Hämoptysis oder Hämatothorax sein. Selten bestehen Verbindungen zum Gastrointestinaltrakt, dann gehören zur vollständigen Diagnostik Kontrastdarstellungen von Ösophagus und Magen (Corbett u. Humphrey 2004). Therapie. Asymptomatische LS ohne raumfordernden Charakter können belassen werden. Symptomatische LS müssen therapiert werden. Auch neuere Lehrbücher empfehlen zum Teil noch die prophylaktische Entfernung eines LS (Pinkerton u. Oldham 2005; Sylvester u. Albanese 2005) und es gibt derzeit noch keine Erfahrung zu Langzeitverläufen an großen Kollektiven mit belassenem LS. Deshalb muss hier ganz besonders auf eine gute Nachsorge mit regelmäßigen Kontrollen geachtet werden. Neben der chirurgischen Resektion besteht die Möglichkeit, hämodynamisch wirksame LS interventionell zu verschließen. Dabei ist dieses Verfahren nicht überall anerkannt, weil auch hier Erkenntnisse über Langzeitverläufe fehlen. Üblicherweise
. Abb. 20.4. Pränatales Sonogramm (Längsschnitt) mit Darstellung eines großen Gefäßes aus der Aorta, das eine homogen echoreiche Struktur im Thorax (Sequester) versorgt
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werden ELS direkt, ILS über eine Lobektomie oder seltener eine Segmentektomie reseziert. ! Cave Beim ELS muss der Chirurg darauf achten, besonders den abnormen arteriellen Zufluss vollständig zu verschließen. Vor allem bei einer transdiaphragmalen arteriellen Versorgung besteht sonst die Gefahr einer schweren abdominellen Nachblutung. Deshalb ist auch eine präoperative aussagekräftige Bildgebung mit Darstellung der Gefäßversorgung des ELS unverzichtbar.
Der Zugang kann dabei offen oder über eine Thorakoskopie gewählt werden. Bei fachgerechtem Vorgehen ist die Komplikationsrate der LS-Chirurgie sehr niedrig; die Überlebenswahrscheinlichkeit mit dieser Fehlbildung beträgt quasi 100% (Pinkerton u. Oldham 2005). > Lungensequester sind nicht funktionierende Anteile der Lunge, die durch eine abnorme, systemische arterielle Versorgung gekennzeichnet sind und die keine normale Verbindung zum bronchialen System besitzen. Kleine, nicht raumfordernde Lungensequester, die keine Symptome verursachen, können belassen werden. Eine Indikation zur Therapie besteht bei Komplikationen wie rezidivierenden Infektionen, »High-output«Herzversagen durch arteriovenöse Shunts und Blutungen.
20.1.5
Kongenitales lobäres Emphysem
Definition. Beim kongenitalen lobären Emphysem (LE)
Klinik und Diagnostik. Pränatal kann man ein lobäres Emphysem im Ultraschall vermuten, wenn ein einzelner Oberlappen oder der Mittellappen eine gleichmäßig erhöhte Echogenität aufweist, durch »gefangene« Amnionflüssigkeit raumfordernd ist und weder Zysten noch atypische arterielle Versorgung (Charakteristika von CCAM und Sequestern) nachweisbar sind (Babu et al. 2001). In der Spätschwangerschaft kann der raumfordernde Charakter und die Echogenitätsveränderung zurückgehen und der emphysematöse Lungenlappen nicht mehr von der normalen Lunge zu unterscheiden sein. Unmittelbar postnatal stellt sich das LE als diffuse Verschattung eines Lungenlappens durch verzögerte Resorption des Fruchtwassers dar. Auch bei asymptomatischen Kindern sollte spätestens am Ende der ersten Lebenswoche eine Röntgenkontrolle erfolgen, um eine zunehmende Überblähung des betroffenen Lappens nicht zu verpassen. Wegen eines möglicherweise begleitenden Herzvitiums sollte zusätzlich eine Herzechokardiographie durchgeführt werden. 25% der Kinder sind bei Geburt, 50% bis zum Alter von einem Monat mit Dys- und Tachypnoe symptomatisch. Jenseits des 6. Lebensmonats wird ein lobäres Emphysem nur sporadisch diagnostiziert. Im Röntgenbild sieht man den überblähten Lungenlappen mit Herniierung auf die Gegenseite und Kompression der übrigen Lunge, eine Verbreiterung der Interkostalräume, einen Tiefstand der ipsilateralen Zwerchfellhälfte und Verdrängung von Mediastinalstrukturen auf die Gegenseite (. Abb. 20.5). Im Gegensatz zu einem Spontanpneumothorax finden sich dabei aber immer Lungenstrukturen auf der betroffenen Seite. Die anatomische Zuordnung kann im CT erfolgen und zur Diagnosesicherung eine Ventilations-/Perfusionsszintigra-
handelt es sich um eine progressive Überblähung eines Lungenlappens. Inzidenz. Am häufigsten sind der linke Oberlappen (42%),
der rechte Mittellappen (35%) und der rechte Oberlappen (21%) betroffen. Die restlichen Fälle verteilen sich auf die beiden Lungenunterlappen (je 1%) und multiple Lokalisationen (sehr selten). Ätiopathogenese. Als Ursache für das »air trapping« in dem betroffenen Lungenlappen findet sich in etwa der Hälfte der Fälle ein Ventilmechanismus auf bronchialer Ebene: malazische oder stenosierende bronchiale Knorpel, diffuse bronchiale Anomalien, endobronchiale Obstruktion durch Schleim oder Gewebe oder extrinsische Kompression der Bronchien durch z. B. atypische Gefäße. In etwa der Hälfte der Fälle findet man keine Ursache für das lobäre Emphysem. Histologisch sieht man eine Überblähung der ansonsten normalen Lunge ohne Destruktion der Alveolen. LE kommt kombiniert mit anderen Fehlbildungen, in 12–14% der Fälle mit kardiovaskulären Anomalien, vor und tritt häufiger bei Jungs als bei Mädchen auf (Sylvester u. Albanese 2005).
. Abb. 20.5. Röntgenbild des Thorax a.p. eines Kindes mit lobärem Emphysem des linken Oberlappens. Man sieht den überblähten Lungenlappen mit Hernierung auf die Gegenseite, eine Verbreiterung der Interkostalräume und Verdrängung von Mediastinalstrukturen auf die Gegenseite
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phie durchgeführt werden, in der man eine verminderte Aufnahme und Auswaschung des Radioisotops und eine verminderte Perfusion des betroffenen Lappens sehen kann.
histologisch keine Vorderdarmderivate enthalten. Weitere Lokalisationen sind im Halsbereich oder sogar infradiaphragmal. Klinik und Diagnostik. Bronchogene Zysten sind dünnwan-
Therapie. Bei symptomatischen Kindern ist die Lobekto-
mie des betroffenen Lappens indiziert. 10–15% der betroffenen Säuglinge geraten rasch in eine schwere Asphyxie und sind als absolute Notfälle zu betrachten. Bei diesen kann eine Beatmung zu einer massiven weiteren Überblähung des betroffenen Lungenlappens (»air trapping«) mit konsekutiver Verschiebung des Mediastinums und Verschlechterung des venösen Rückstroms zum Herzen führen. In solchen Fällen kann eine Notfalloperation mit Hervorluxieren des Lungenlappens und anschließender Resektion notwendig werden. Bei weniger dramatischen Fällen kann die Operation elektiv geplant werden. Diese kann in geeigneten Fällen auch thorakoskopisch erfolgen. Hier sollte die präoperative Diagnostik die möglichen Differenzialdiagnosen wie erworbenes Emphysem (z. B. nach Frühgeburt und Beatmung), eine CCAM oder ein Emphysem durch eine externe Bronchuseinengung abgeklärt haben. Die postoperative Komplikationsrate liegt heute unter 10%, Todesfälle werden quasi nie mehr beobachtet. Die Langzeitprognose für Kinder mit reseziertem lobärem Emphysem ist exzellent, bei Kindern mit einem Herzfehler von diesem abhängig (Pinkerton u. Oldham 2005). > Das kongenitale lobäre Emphysem ist eine progrediente Überblähung des meist linken Oberlappens. In der Hälfte der Fälle findet man einen Ventilmechanismus durch Bronchusanomalien, intrinsische oder extrinsische Obstruktion. Die Kinder werden fast immer in der frühen Säuglingszeit mit Tachy- und Dyspnoe symptomatisch. Dann besteht eine Indikation zur Resektion des betroffenen Lungenlappens.
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dig, mit respiratorischem Epithel ausgekleidet und enthalten schleimiges Material. In der Wand kann glatte Muskulatur und Knorpelgewebe enthalten sein. Es besteht keine Verbindung zum Tracheobronchialbaum, daher sind die Zysten nicht lufthaltig. Sind sie doch lufthaltig, ist das Ausdruck rezidivierender Infektionen (Freedom et al. 2006). Bronchogene Zysten werden bei älteren Kindern häufig inzidentell auf Röntgenbildern, die aus anderen Gründen angefertigt werden, entdeckt. Etwa 2/3 aller Patienten entwickeln Probleme im Säuglingsalter, die sich aus der Lage und Größe der Zyste ergeben: Husten, Stridor, Dyspnoe und rez. Pneumonien gehören zu den gängigen Symptomen. Gelegentlich gelingt die Diagnose bereits pränatal, wenn im Ultraschall eine unilokuläre zystische Struktur im mittleren oder posterioren Mediastinum gesehen wird (. Abb. 20.6). Postnatal sieht man in 3/4 der Fälle auf der Nativröntgenaufnahme eine weichteildichte, rundliche Struktur im Oberfeld. Im CT oder MRT stellt sich die bronchogene Zyste als schleimgefüllte Struktur ohne KontrastEnhancement dar. Therapie. Bronchogene Zysten sollten wegen der Gefahr von Komplikationen wie Infektion und maligner Entartung der Zystenwand auch bei asymptomatischen Kindern komplett reseziert werden. Hierbei ist wo möglich auch bei intrapulmonalen Zysten eine lokale Exzision unter Schonung des umgebenden Lungengewebes anzustreben. Eine Lobektomie, Segmentektomie oder »Wedge«-Resektion ist nur selten notwendig. Die Resektion gelingt in einer großen Zahl der Fälle thorakoskopisch. Der postoperative Verlauf
Bronchogene Zyste
Definition. Bronchogene Zysten entstehen infolge abnormer Knospung bronchialen Gewebes vom Trachealdivertikel oder vom ventralen Anteil des Vorderdarms. Weitere Vertreter dieser Vorderdarm-Fehlbildungen sind enterische Zysten, die mit intestinalem Epithel ausgekleidet sind und neurenterische Zysten, die mit Wirbelsäulenfehlbildungen assoziiert sind und eine Verbindung zum Nervensystem haben. Inzidenz. Bronchogene Zysten sind zwar selten, machen aber immerhin 40–50% aller mediastinalen Raumforderungen aus. Sie sind leicht knabenwendig. 2/3 aller bronchogenen Zysten finden sich mediastinal (meist im mittleren Mediastinum rechts paratracheal/paraösophageal), 1/3 intrapulmonal. Bei letzteren kann klinisch kein Unterschied zu den sog. einfachen Lungezysten festgestellt werden, die
. Abb. 20.6. Sonographischer Querschnitt durch das obere Mediastinum bei einem Neugeborenen mit pränatal diagnostizierter bronchogener Zyste. Man sieht links hinter den supraaortalen Gefäßabgängen eine echoarme Zyste
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sollte komplikationsfrei sein. Die Langzeitprognose ist quasi immer exzellent. > Bronchogene Zysten sind selten und finden sich meistens im mittleren Mediastinum paratracheal, seltener intrapulmonal. Durch Verdrängung benachbarter Strukturen können sie symptomatisch werden. Sie sollten komplett reseziert werden.
20.1.7
Spontanpneumothorax
Definition. Beim spontanen Pneumothorax gelangt ohne
äußere Einwirkung Luft in den Pleuraraum. Es wird zwischen primärem Pneumothorax bei Lungengesunden und sekundärem Pneumothorax bei zugrunde liegender Lungenerkrankung unterschieden. Inzidenz. Die jährliche Inzidenz liegt bei 18–28/100.000 für Männer und 1–6/100.000 für Frauen. Ein Spontanpneumothorax ist bei Säuglingen und Kleinkindern selten, typischerweise tritt er bei Adoleszenten oder Erwachsenen auf. Trotz fehlender Grunderkrankung findet man in 80% (im CT) bis 90% (in der Thorakoskopie) der Fälle subpleurale Bullae, gehäuft in der Lungenspitze, deren Ruptur wahrscheinlich zu dem primären Spontanpneumothorax geführt hat.
. Abb. 20.7. Spannungspneumothorax rechts mit Mediastinalshift nach links, Zwerchfelltiefstand, erweiterten Interkostalräumen und fehlender Lungenzeichnung rechts
Ätiopathogenese. Die Ätiologie dieser bullösen Lungenveränderungen ist nicht klar, Rauchen spielt aber offensichtlich eine Rolle: so ist das Risiko für ansonsten gesunde männliche Raucher, einen Spontanpneumothorax zu erleiden 12%, für Nichtraucher 0,1%. Ein weiterer Risikofaktor für einen primären Pneumothorax ist die Körpergröße, was mit dem höheren negativen Druck im apikalen Pleuraspalt erklärt wird, der bei größeren Patienten möglicherweise vermehrt zu subpleuraler Bläschenbildung prädisponiert. Klinik und Diagnostik. Klinische Zeichen eines Pneumotho-
rax sind Atemnot, Schmerzen, Husten und Tachypnoe. Die Größe des korreliert dabei nicht mit der Symptomatik. Sekundäre Spontanpneumothoraces sind klinisch häufig eindrucksvoller als primäre: 46% der Patienten mit primärem Spontanpneumothorax gehen erst mehr als 2 Tagen nach Beginn der Symptomatik zum Arzt. Aufgrund der erheblichen Kompensationsmechanismen Lungengesunder mit Spontanpneumothorax haben diese in den Blutgasanalysen trotz ausgeprägtem Befund häufig keine Veränderungen. Die Diagnose erfolgt durch ein a.p. Röntgenbild des Thorax (. Abb. 20.7). Bei Unklarheiten und auf der Suche nach bullösen Lungenveränderungen ist ein Computertomogramm des Brustkorbs indiziert (. Abb. 20.8). Therapie. Kleine Spontanpneumothoraces bei asymptomatischen Patienten bedürfen keiner Therapie (Baumann 2006). Die spontane Resorptionsrate eines Pneumothorax
. Abb. 20.8. Thorax-CT nach Drainage eines Spontanpneumothorax. Apikal rechts bullöse Veränderungen als Ursache für den Pneumothorax
wird mit 1,25–1,8% des Volumens in 24 h angegeben und kann durch Gabe von Sauerstoff (10 l/min) auf das 4-fache gesteigert werden. Haben die Patienten Atemnot, ist zunächst eine Einmalpunktion des Pneumothorax mit Aspiration der Luft indiziert. Bei Versagen/Rezidiv ist die Einlage einer Thoraxdrainage angezeigt (Zehtabchi u. Rios 2008). Wegen der hohen Rate an bullösen Veränderungen vornehmlich im Bereich der Lungenspitze beim primären Spontanpneumothorax sollte spätestens nach dem 1. Rezi-
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Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
div ein CT des Thorax angefertigt werden. Rezidive sind besonders häufig bei Rauchern. Spontanpneumothoraces können auch metachron auf der anderen Seite auftreten. Werden bullöse Veränderungen nachgewiesen, sollten diese per Thorakoskopie reseziert werden (Treasure 2007). > Spontane primäre Pneumothoraces treten typischerweise bei Adoleszenten und Erwachsenen auf. Klinische Symptome sind Atemnot und Schmerzen, die Diagnose wird durch ein einfaches Röntgenbild gestellt. Im CT sieht man fast immer bullöse Veränderungen im Bereich der Lungenspitze, die per Thorakoskopie reseziert werden sollten.
20.1.8
Vaskuläre Malformationen
Vaskuläre Malformationen der Lunge sind sehr selten. Sie können – wie in anderen Organen und in der Haut (7 Kap. 19) – als Hämangiome, als venöse oder arteriovenöser (AV) Malformationen und als Lymphangiome auftreten (Waldschmidt 2007). 4 Hämangiome können als pulmonale Rundherde im Röntgenbild, ggf. im Rahmen einer multiplen Hämangiomatose auffallen. Sie sind in aller Regel spontan regressiv (7 Kap. 19) und können ansonsten anlässlich einer diagnostischen Thorakoskopie koaguliert (z. B. mit dem Laser) werden. 4 Venöse und AV-Malformationen bilden sich dagegen nicht zurück, sondern können an Größe zunehmen. Sie fallen unter Umständen nach einer Einblutung in die Lunge auf, AV-Malformationen des Pulmonalkreislaufs auch durch Dyspnoe, Zyanose und Uhrglasnägel. Sie liegen oft peripher in der Lunge und lassen sich im CT mit Kontrastmittel gut darstellen. Spontane AV-Malformationen sind oft groß und solitär, solche bei Morbus Osler kleiner und multipel. > Mögliche schwerwiegende Komplikationen von pulmonalen AV-Malformationen sind eine Herzinsuffizienz sowie eine Thrombenbildung mit konsekutiven peripheren, auch zerebralen Embolien. Deshalb sollten diese Gefäßanomalien über eine Resektion des betroffenen Lungenabschnittes (meist Lobektomie) entfernt werden.
In seltenen Fällen ist auch eine interventionelle Embolisierung möglich (Sylvester u. Albanese 2005). Von den AVMalformationen, aber auch vom Lungensequester ist das Scimitar-Syndrom abzugrenzen, das durch eine hypoplastische und fehlgebildete, meistens rechte Lunge mit einer abnormen arteriellen und venösen Versorgung aus dem großen Kreislauf gekennzeichnet ist, die dabei jedoch eine normale Verbindung zu einem Bronchus hat (Liechty u. Flake 2008). Lymphangiome (7 Kap. 19) in der Lunge sind im Gegensatz zu solchen im Mediastinum (s. unten) extrem
selten. Sie imponieren als zystische Malformation und sollten reseziert werden (Waldschmidt 2007).
20.1.9
Lungenagenesie
Primäre Agenesien beider Lungen sind beschrieben und mit einem extrauterinen Leben nicht vereinbar. In der Literatur finden sich einige hundert Fälle mit unilateraler Lungenagenesie (Pinkerton u. Oldham 2005). Hier wird eine fehlende Lungenausknospung als Ursache vermutet (Whitsett 2006). Über die Hälfte der betroffenen Kinder haben weitere Fehlbildungen, bevorzugt am Herz-Kreislauf-System und am Ösophagus mit häufigen ösophagotrachealen Fisteln. Diese kommen bei rechtsseitiger Lungenagenesie öfter vor als bei linksseitiger. Manche betroffenen Kinder sind symptomlos und fallen per Zufall auf, andere haben Symptome von Seiten einer Begleitfehlbildung. Eine Reihe von Patienten entwickeln jedoch auch pulmonale Symptome mit Infekten, Belastungsdyspnoe und mangelndem Gedeihen. Im Laufe der Kindheit fallen dann eine Thoraxasymmetrie und eine Skoliose auf. Die Diagnose lässt sich mittels radiologischer Bildgebung (Röntgen, CT, MRT) und über eine Bronchoskopie sichern. Die Behandlung ist quasi immer konservativ und symptomatisch. Die Prognose ist langfristig abhängig von der Lungenfunktion und von den Begleitfehlbildungen.
20.2
Erworbene und infektiöse Erkrankungen der Lunge und der Pleura
Aufgrund hoher Impfraten und der Verfügbarkeit eines breiten Spektrums an potenten Antibiotika, Antimykotika und antiparasitärer Mittel sind chirurgisch relevante Infektionen der Lunge im Vergleich zum letzten Jahrhundert selten geworden. Dem entgegen gibt es einen zunehmenden Anteil durch Transplantation oder intensive Chemotherapie immunsupprimierter Patienten und Patienten mit angeborenen oder erworbenen Immundefekten, die sich mit Infektionen durch möglicherweise auch atypische Erreger präsentieren (Übersicht bei Feigin u. Cherry 2004). Auf diese Patientengruppe, bei denen Biopsien oder auch Resektionen von Befunden erforderlich werden können, soll hier nur kurz eingegangen werden. Typische, kinderchirurgisch relevante Komplikationen pulmonaler Infektionen sind Lungenabszesse, Pleuraempyeme und Pneumatozelen.
20.2.1
Lungenabszess
Klinik und Diagnostik. Ein Lungenabszess entwickelt sich, wenn es im Bereich einer lokalisierten Entzündung des Lungenparenchyms zu Nekrose und Einschmelzung
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kommt. Häufige Erreger sind Anaerobier, Staph. aureus, Pseudomonas, Streptokokken, Pneumokokken, Haemophilus influenzae und E. coli. Klinisch fallen die Kinder mit Fieber, reduziertem Allgemeinzustand, Husten mit oder ohne eitrigen Auswurf, Hämoptoe, Dys- und Tachypnoe auf. Im Blut findet man eine Leukozytose mit Linksverschiebung und hohe Zytokinspiegel. Nativ-radiologisch stellt sich ein Abszess typischerweise als rundliche Struktur mit Spiegelbildung auf einer aufrecht angefertigten Aufnahme dar. Differenzialdiagnostisch muss man an superinfizierte kongenitale Lungenmalformationen wie CCAM oder bronchogene Zyste denken. In fraglichen Fällen ist für eine Differenzierung ein CT oder ein MRT hilfreich. Lungenabszesse finden sich vermehrt in der Lungenperipherie und sind daher oft einer perkutanen Punktion bzw. Drainage gut zugänglich. Therapie. Die Therapie eines Lungenabszesses erfolgt 2–4 Wochen intravenös mit einer Kombinationstherapie aus gut gewebegängigen Antibiotika (z. B. Clindamycin und ein Breitspektrumcephalosporin), wobei man sich unbedingt um einen Erregernachweis aus Blutkultur, Sputum, bronchoskopisch oder durch Nadelaspiration des Befundes bemühen sollte. Nach der intravenösen Therapie muss für 6–8 Wochen bis zur vollständigen klinischen, radiologischen und laborchemischen Rekonstitution eine orale Antibiotikatherapie angeschlossen werden. Lediglich bei Versagen der antibiotischen Therapie kommen invasive Maßnahmen in Frage (Puligandla u. Laberge 2008). In aller Regel können Lungenabzesse dann mit einer Drainage zusätzlich zur Antibiotikatherapie zu Abheilung gebracht werden. Die von einigen Autoren beschriebene endoskopische Drainage in einen großen Bronchus über eine Bronchoskopie ist bei uns selten geübt und nur bei zentral liegenden Abzessen möglich. Lediglich bei langfristig fehlende Abheilung (hier Verdacht auf eine vorbestehende zystische Fehlbildung) oder schweren Komplikationen wie Einblutung oder bronchopleurale Fistel ist eine operative Sanierung durch Resektion des abzesstragenden Lungenabschnittes indiziert (Michalsky u. Rodgers 2005).
20.2.2
Pleuraempyem
Parapneumonische Pleuraergüsse sind relativ häufig und in ihrer Inzidenz tendenziell zunehmend. Bei ansonsten gesunden Kindern ist der Pleuraerguss Folge einer bakteriellen Pneumonie und entsteht durch eine Imbalance zwischen Produktion und Resorption von Pleuraflüssigkeit (Puligandla u. Laberge 2008). Es werden 3 Stadien unterschieden: 4 Im exsudativen Stadium ist der Erguss klar und enthält nur wenige Granulozyten. 4 Im fibropurulenten Stadium kommt es zu Fibrinablagerungen und Granulozytose bis hin zum eitrigen Pleuraerguss, dem Empyem.
4 Das Endstadium ist durch Invasion von Fibroblasten in den Pleuraspalt und zunehmende Organisation des Ergusses gekennzeichnet. Dies führt zur Ausbildung einer Pleuraschwarte, die im Verlauf persistieren oder auch komplett resorbiert werden und ausheilen kann. Weitere Komplikationen einer bakteriellen Pneumonie wie Lungenabszess, bronchopleurale Fistel, chronisches Empyem oder spontane Perforation durch die Thoraxwand (Empyema necessitatis) sind im Kindesalter selten. Das Keimspektrum entspricht dem oben beschriebenen bei Lungenabzessen. Klinik und Diagnostik. Klinisch fallen die Kinder durch
mangelnde Besserung oder Verschlechterung der Symptome ihrer Pneumonie wie reduziertem Allgemeinzustand, mangelnde O2-Sättigung, Fieber, Husten, Atemnot und thorakale oder abdominelle Schmerzen auf. So sollte bei jedem Kind, das keine Besserung dieser Symptome innerhalb 48 h nach Beginn der Antibiose zeigt, nach einem parapneumonischen Pleuraerguss gesucht werden. Bei der klinischen Untersuchung fällt die Schonatmung auf der betroffenen Seite, ein vermindertes Atemgeräusch und eine Dämpfung bei der Perkussion auf. Die Diagnose wird im Nativröntgenbild des Thorax und im Ultraschall gestellt (. Abb. 20.9), der gleichzeitig Auskunft über die Beschaffenheit des Pleuraergusses (Echogenität, Kammerung) und der Pleura geben und andere Auffälligkeiten wie z. B. einen Lungenabszess darstellen kann. Weitergehende radiologische Diagnostik wie ein Thorax-CT sind im Verlauf komplizierten Fällen vorbehalten. Es sollte ein Differenzialblutbild, C-reaktives Protein, Blutkulturen, Elektrolyte und Serumalbumin bestimmt werden. Nach Möglichkeit sollte eine Kultur aus dem Sputum, auf jeden Fall aber aus der Pleuraflüssigkeit angelegt werden, um den ursächlichen Keim zu identifizieren. Außerdem sollte ein Direktpräparat der Pleuraflüssigkeit angefertigt und die Zellen darin differenziert werden. Therapie. Die Therapie eines Pleuraempyems umfasst neben supportiven Maßnahmen wie Analgetika, i.v. Flüssigkeitszufuhr, O2-Gabe bei Sättigungswerten <92% eine möglichst keimgerechte i.v. Antibiose. Pleuraergüsse, die zunehmen, die gesunde Lunge wesentlich komprimieren oder gar einen Mediastinalshift verursachen, sollten drainiert werden. Sollten wiederholte Punktionen zur Drainage erforderlich werden, wird die Einlage einer dauerhaften Pleuradrainage empfohlen. Zähflüssige, eitrige Pleuraflüssigkeit oder septierte Ergüsse können durch intrapleurale Applikation von Fibrinolytika (z. B. Urokinase 2-mal täglich für 3 Tage) aufgelöst und ihre Drainage damit erleichtert werden. Spricht ein Patient auf i.v. Antibiose, Drainage und Fibrinolyse nicht an, sollte frühzeitig die Indikation zu einer thorakoskopischen Empyemausräumung gestellt werden. Selten wird eine Dekortikation der Pleura per Thorakotomie erforderlich (Balfour-Lynn et al. 2005).
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Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
brinolytika erleichtert werden kann. Führen diese Maßnahmen nicht zu einer Besserung der Symptomatik, ist frühzeitig eine thorakoskopische Empyemausräumung indiziert.
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20.2.3
a
Pneumatozelen sind dünnwandige, luftgefüllte Zysten, die als Folge alveolärer oder bronchiolärer Nekrosen entstehen. Sie können postinfektiös insbesondere nach Pneumonien durch Staph. aureus und bevorzugt bei Frühgeburtlichkeit und bei beatmeten Kindern entstehen und mit kongenitalen zystischen Lungenmalformationen verwechselt werden. Im Gegensatz zu diesen haben Pneumatozelen eine sehr hohe Spontanheilungstendenz. Gelegentlich vergrößern sich Pneumatozelen im Verlauf, werden raumfordernd und führen zu respiratorischen Beeinträchtigungen (. Abb. 20.10). Dann müssen sie drainiert (Fuji u. Moulton 2003) oder in seltenen Fällen reseziert (Imamoglu et al. 2005) werden.
20.2.4
b . Abb. 20.9a, b. Pleuraempyem bei 2-jährigem Jungen, der seit 1 Woche hohes Fieber und Husten hatte. a Das Röntgenbild zeigt eine komplette Verschattung der rechten Thoraxhälfte mit Verdrängung der Trachea und Bifurkation nach links. b. Nach Anlage der Pleuradrainage und Ablassen des eitrigen Ergusses wird deutlich, dass das Pleuraempyem von einer Pneumonie des rechten Oberlappens ausgeht, geringer Seropneumothorax
Prognose. Trotz der geschilderten Komplikationsmöglichkeiten ist die Prognose eines Pleuraempyems im Kindesalter sehr gut: nach 3 Monaten weisen 60–80%, nach 6 Monaten 90% und nach 18 Monaten alle Kinder unauffällige Befunde im Röntgenbild des Thorax auf (Kunyoshi et al. 2006). > Bei Kindern, die nach 2 Tagen auf die antibiotische Therapie ihrer Pneumonie nicht ansprechen, muss man nach einem Pleuraerguss suchen. Kinder mit parapneumonischem Erguss müssen stationär i.v. antibiotisch behandelt werden. Obwohl die Kinder meist schon anbehandelt sind, sollte man versuchen, aus Sputum oder Pleuraflüssgkeit den ursächlichen Keim zu isolieren. Raumfordernde Pleuraergüsse müssen drainiert werden, was bei zähflüssigem Sekret durch Zugabe von Fi6
Pneumatozele
Bronchiektasen
Bronchiektasen stellen eine irreversible Erweiterung der Atemwege als Folge entzündlicher Destruktion von Bronchien und des peribronchialen Gewebes dar. Während Bronchiektasen Mitte des letzten Jahrhunderts die führende Indikationen zu Lungenresektionen im Kindesalter waren, ist diese Erkrankung aufgrund hoher Impfraten gegen prädisponierende Kinderkrankheiten wie Masern und Pertussis und der heute weit verbreiteten Verfügbarkeit von Antibiotika in entwickelten Ländern nur noch selten zu beobachten. Bronchiektasen treten nach wie vor bei Kindern mit zystischer Fibrose, Immundefekten, α1-Antitrypsinmangel, gestörter mukoziliärer Clearance, langjähriger rezidivierender Aspiration durch gastroösophagealen Reflux und nach verschleppter Fremdkörperaspiration oder durch eine chronische Verlegung eines Bronchus aus anderer Ursache auf. Klinik und Diagnostik. Klinisch fallen die Patienten durch
chronischen, profus produktiven Husten, pfeifende Atemgeräusche und Thoraxschmerzen auf. Lebensbedrohlich können profuse akute Arrosionsblutungen sein. Infizierte Bronchiektasen können pulmonal streuen und bis dahin gesunde Lungenabschnitte gefährden. Die Diagnose kann im Nativröntgenbild vermutet werden und wird im CT der Lunge bestätigt. Charakteristischerweise finden sich im Dünnschicht-CT fokale Regionen der Lunge mit erhöhter Dichte und Bronchien und Gefäße, ringfömige Schatten durch erweiterte Bronchien sowie erweiterte Bronchien in der Peripherie der Lunge. CT-Aufnahmen in Inspiration und Exspiration können die Aussagekraft hinsichtlich der
203 20.2 · Erworbene und infektiöse Erkrankungen der Lunge und der Pleura
Arrosionsblutung die Indikation für eine Resektion des betroffenen Lungenabschnittes sein. Meistens wird die Indikation jedoch bei allmählicher Verschlechterung der Erkrankung trotz intensiver konservativer Therapie gestellt. Dies macht vor allem dann Sinn, wenn lokalisierte Lungenbezirke besonders stark betroffen sind neben anderen, wenig veränderten Bezirken, wie es z. B. beim sog. Mittellappensyndrom vorkommt. > In Fällen mit lokalisierten Bronchiektasen kann die gezielte Entfernung eines umgrenzten Lungenteils, z. B. eines Segmentes oder Lappens den Zustand des Patienten verbessern und einen bakteriellen Streuherd in andere Lungenabschnitte beseitigen.
a
b . Abb. 20.10a, b. Multimorbides Frühgeborenes mit Pneumatozelen im rechten Unterlappen. a Initial sah die Lunge bis auf ein Atemnotsyndrom unauffällig aus. a CT des Thorax
genese erhöhen. Somit macht heute eine gute CT-Technik die früher geübte Bronchographie weitgehend überflüssig. Bei Kindern und Jugendlichen mit lokalisierten Bronchiektasen ohne gleichzeitige Grundkrankheit sollte jedoch die Indikation zu einer Bronchoskopie zur Suche eines Fremdkörpers oder auch eines Tumors (s. unten) großzügig gestellt werden (Michalsky u. Rodgers 2005).
Besonders schwierig ist hier die Indikationsstellung bei der zystischen Fibrose, aber auch bei anderen zugrunde liegenden kongenitalen Defekten des Immunsystems (IgA-Mangel, α1-Antitrypsinmangel etc.). Hier wird mit einer Resektion von besonders betroffenen Lungenabschnitten oft zwar nicht die langfristige Gesamtprognose verbessert, den Patienten aber eine Frist für ein besseres Gedeihen, Aufholwachstum und auch Eintritt in die Pubertät ermöglicht (Lucas et al. 1996). Grundsätzlich sollte hier möglichst selektiv reseziert werden, oft sind Segmentresektionen einer Lobektomie vorzuziehen. Nicht-anatomische »Wedge«-Resektionen sind ungünstig, da bei diesen ein Parenchymverschluss unsicherer ist und mehr gesundes Gewebe verbraucht. Eine chirurgisch relevante Komplikation bei Patienten mit chronisch generalisierten Bronchiektasen, vor allem bei der zystischen Fibrose ist auch das rezidivierende Auftreten eines Pneumothorax. Dieser wird jedes Mal – wie andere Pneumotharaces auch – mit einer Drainage behandelt. Kommt er jedoch hiermit nicht zum Stillstand, muss eine Pleurodese erwogen werden. Hier kann versucht werden, mit sklerosierenden Substanzen (z. B. Neomycin), über die Drainage in die Pleurahöhle eingebracht, eine Verklebung der Lunge mit der Thoraxwand zu erreichen. Jedoch ist dies oft unvollständig und verhindert nicht erneute Rezidive. Statt der früher geübten offenen, chirurgischen Pleurodese sollte heute das thorakoskopische Vorgehen bevorzugt werden, bei dem eine Abrasion der Pleura visceralis und parietalis, ggf. kombiniert mit Einbringen von Talkumpuder vorgenommen wird (Ng et al. 2006). Nach Einlage einer Drainage mit Sog kann so meistens ein gutes Verkleben der Lunge mit der Thoraxwand erzielt werden. Bei der Indikationsstellung für eine Pleurodese sollte aber auch bedacht werden, dass diese eine eventuell später notwendige Lungentransplantation erschweren kann.
20.2.5
Chylothorax
Therapie. Die Therapie wird bei zugrunde liegender syste-
mischer Erkrankung primär konservativ sein mit intensiver Physiotherapie zur Drainage des Sekrets und oft langfristiger Gabe von Antibiotika. Selten kann einmal eine schwere
Ein Chylothorax kann bereits pränatal aufgrund von Anomalien des Ductus thoracicus oder postnatal als Folge des Geburtstraumas auftreten. Bei älteren Kindern entsteht ein
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Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
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Therapie. Therapeutisch kann neben der Ableitung der Lymphe über eine Thoraxdrainage versucht werden, den Lymphfluss im D. thoracicus durch enterale Nahrungskarenz, Beschränkung auf mittelkettige Triglyzeride und Vermeidung langkettiger Triglyzeride in der Nahrung, PEEP-Beatmung bei intubierten Patienten und Somatostatin bzw. sein Analogon Octeotrid zu vermindern (Roehr et al. 2006). Dadurch kann ein spontaner Verschluss des Lymphlecks erreicht werden. Als weitere Maßnahme ist eine totale parenterale Ernährung indiziert. Insgesamt führt die konservative Therapie in 70–80% der Fälle zu einem Erfolg. Führen diese Maßnahmen innerhalb von 3–4 Wochen nicht zum Erfolg, besteht die Indikation zum operativen Verschluss des Lecks bzw. Ligatur des D. thoracicus. Dieses kann thorakoskopisch oder offen chirurgisch erfolgen. Sollte dies nicht gelingen und es wieder zu einem Rezidiv kommen, kann ein pleuroperitonealer Shunt eingelegt werden. Dies hat in einigen Fällen zu einem Erfolg geführt (Michalsky u. Rodgers 2005). Manchmal kommt es aber vor allem bei jungen Säuglingen dann zu einem nicht tolerablen Chylaszites. Bei einem eigenen Patienten ließ sich in einer solchen Situation der Lymphfluss mit einer Vernähung des Lymphlecks kombiniert mit einer Pleurodese und Fibrinklebung des umgebenden Pleuraspaltes permanent unterbrechen. Diese Maßnahmen führen in den meisten Fällen zum Erfolg. Es gibt allerdings auch therapieresistente Fälle mit letztendlich infaustem Verlauf durch den massiven Verlust an Chylus, bei denen sämtliche Maßnahmen inklusive thorakoabdominellem Shunt und Pleurodese nicht erfolgreich sind (Rodgers u. McGahren 2005).
20.2.6
Diffuse interstitielle Lungenerkrankungen
b . Abb. 20.11a, b. Röntgen- (a) und Ultraschallbild (b) eines Jungen mit Chylothorax
Chylothorax fast immer traumatisch oder iatrogen nach intrathorakalen Eingriffen. Andere Gründe sind Obstruktionen des D. thoracicus durch Tumore (Lymphom, Neuroblastom) und Anomalien der Lunge wie Lymphangiektasien oder Lymphangiomatosen. Klinik und Diagnostik. Klinisch wird ein Chylothorax durch die intrathorakal raumfordernde Wirkung mit Dyspnoe, Tachypnoe und Zyanose offensichtlich. Im Nativröntgenbild und Ultraschall des Thorax sieht man den Erguss und die Verdrängung der Lunge und der Mediastinalstrukturen (. Abb. 20.11). Die Diagnose wird durch Nachweis von Chylomikronen (Sudanrot-Färbung) und einer Lymphozytose von >80% im Aspirat der Pleuraflüssigkeit gestellt.
Chronische interstitielle Erkrankungen der Lunge können aufgrund einer Vielzahl infektiöser und nicht infektiöser Erkrankungen entstehen. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es zu relativ gleichförmigen, fibrosierenden Veränderungen der Lunge mit respiratorischer Insuffizienz. Die chirurgische Relevanz dieser Erkrankungen liegt in der fast immer irgendwann entstehenden Notwendigkeit für die Entnahme einer Lungenbiopsie (Michalsky u. Rodgers 2005). Hier ist das Vorgehen bei den meist ateminsuffizienten und oft immunkompromittierten Patienten genau zu planen. Es gilt, mit geringem Trauma so rasch wie möglich und ohne längere weitere Beeinträchtigung der Atmung ein genügend großes und repräsentatives Gewebestück aus der Lunge zu gewinnen. Bei größeren Kindern und Jugendlichen wird man dies in der Regel über eine Thorakoskopie bewerkstelligen und dabei ein kleines Lungenstück mit dem Stapler entfernen (Langenburg u. Lelli 2008). Bei Säuglingen und Kleinkindern kann als einfache Alternative auch über eine kurze Inzision in der Axillarlinie, offenes Einge-
205 20.2 · Erworbene und infektiöse Erkrankungen der Lunge und der Pleura
hen durch den 5. ICR und Hervorheben des Oberlappenunterrandes sehr einfach eine genügend große Biopsie entnommen werden. Der Defekt kann dann sicher und luftdicht verschlossen werden, eine Thoraxdrainage ist nicht routinemäßig nötig.
20.2.7
Chirurgie bei spezifischen Infektionen
Eine Reihe von spezifischen Infektionen kann im Kindesalter die Lunge befallen. Viele von diesen sind opportunistische Infektionen, wie unter anderem solche mit Pneumocystis jiroveci, Toxoplasma gondii sowie einer Reihe von Viren (Übersicht bei Feigin u. Cherry 2004). Bei diesen ist die Therapie stets konservativ und die Chirurgie hat nur sehr selten einmal eine Bedeutung, wenn eine Lungenbiopsie gebraucht wird. Im Folgenden werden die chirurgisch relevanten, spezifischen Infektionen aufgeführt.
Echinococcuszysten Neben der Leber können vor allem bei Kindern sowohl der in Mitteleuropa häufigere Hundebandwurm (Echinococcus granulosus) als auch der Fuchsbandwurm (Echinococcus multilocularis) die Lunge befallen und dort zu einer oder mehreren Skolices enthaltenden Zysten führen. Beim E. granulosus liegen in der Regel eine oder wenige große Zysten vor, beim E. multilocularis multiple sich vermehrende und infiltrierend wachsende kleine Zysten.
Infektionen durch Mykobakterien Aus der Gruppe der Mykobakterien ist die Lunge in aller Regel von Infektionen mit dem Mycobacterium tuberculosis betroffen. Obwohl die Tuberkulose in Mitteleuropa über viele Jahre als quasi ausgerottet betrachtet werden konnte, ist sie seit einigen Jahren allmählich wieder auf dem Vormarsch. Prinzipiell wird sie erfolgreich medikamentös behandelt und so obliegt die Diagnostik und Therapie dem pädiatrischen Pulmonologen und Infektiologen (Übersicht bei Feigin u. Cherry 2004). Die Rolle der Chirurgie liegt zum einen in einer gelegentlich notwendigen Entnahme von Biopsien, besonders aus Hiluslymphknoten, zur Klärung der Differenzialdiagnose zu atypischen Mykobakteriosen sowie anderen Lymphknotenerkrankungen. Oft ist eine solche Biopsie thorakoskopisch möglich. Zum anderen ist die Chirurgie in seltenen Fällen von konservativ nicht beherrschbaren Komplikationen gefragt. Hier kann einmal die Resektion von Hiluslymphknoten zur Beseitigung einer Bronchusobstruktion indiziert sein. Bei über mehr als 6 Monate unter Therapie persistierenden Kavernen oder Bronchiektasen mit bakteriellen Superinfektionen, wie auch bei massiver Hämoptysis kann sich die Indikation zu einer Drainage bzw. einer Resektion des betroffenen Lungenanteils ergeben (Rodgers u. McGahren 2005). Hier sollte so sparsam wie möglich vorgegangen werden. Technisch sind derartige Einriffe wegen oft schwerer Entzündung und Verwachsungen recht schwierig und mit einem erheblichen Blutungsrisiko behaftet (Michalsky u. Rodgers 2005).
Pilzerkrankungen Klinik und Diagnostik. Die klinische Symptomatik kann
sehr blende sein, jedoch auch in Husten, Dyspnoe, Fieber und Thoraxschmerzen bestehen. Die Diagnostik besteht aus Thorax-Röntgenaufnahmen, einem CT und der spezifischen Echinococcus-Serologie. Therapie. Immer sollte zunächst eine medikamentöse Therapie mit Menendazol oder auch Albendazol eingeleitet werden. Häufiger als beim Leberechinococcus (7 Kap. 35) muss quasi immer zusätzlich auch chirurgisch vorgegangen werden. Die Desinfektion der Zysten mittels Einbringen von z. B. hypertoner NaCl-Lösung oder Äthylalkohol, um danach lediglich die Endozyste mit den abgetöteten Skolices zu entfernen, ist in der Lunge wegen möglicher bronchialer Verbindungen riskant. Deshalb wird in der Regel die komplette Resektion der Zysten durchgeführt. ! Cave Zysten sollten nicht eröffnet werden, um eine Kontamination der Pleurahöhle mit Skolices zu vermeiden.
Diese Vorgehensweise gilt immer für den E. multilocularis, hier sind gelegentlich auch umfassendere Resektionen indiziert. Bei korrektem Vorgehen und genügend langer medikamentöser Therapie ist die Prognose sehr gut (Arroud et al. 2008).
Aufgrund des heutzutage deutliche längeren Überlebens von Kindern mit angeborenen Immundefekten, der Erfolge der onkologischen Therapien und des vermehrten Einsatzes von Knochenmarkstransplantationen kommt es auch in vermehrtem Maße zu nosokomialen Infektionen bei diesen Patienten. Hier spielen Pilzerkrankungen eine große Rolle (7 Kap. 8; Feigin u. Cherry 2004). Am häufigsten kommen oberflächliche und systemische Candida-Infektionen vor, die eine nahezu ausschließliche Domäne der konservativen antimykotischen Therapie sind. Als invasive Mykose der Lunge hat bei uns vor allem die Aspergillose eine Bedeutung. Aspergillen gehören zu den Schimmelpilzen und führen oft zu nodulären Infiltraten. Gerade bei onkologischen Patienten bedeuten sie auch ein differenzialdiagnostisches Problem gegenüber Lungenmetastasen. Die Aspergillose wird zunächst konservativ behandelt. Die Mittel der ersten Wahl sind Voriconazol (12 mg/kg in 2 Einzeldosen ab dem 2. Lebensjahr) und Amphotericin B (1,0–1,5 mg/kg KG; Groll et al. 2006). Sollten sich hierunter lokalisierte Infektionsherde nicht zurückbilden oder eine invasive pulmonale Aspergillose bestehen, kann die Indikation zu einer chirurgischen Sanierung gestellt werden. Ähnliches gilt für Infektionen mit Kryptokokken, Zygomyzeten, wie auch für die hauptsächlich auf dem amerikanischen Kontinent vorkommenden Pilze His-
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Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
toplasma capsulatum, Blastomyces dematitides und Coccidioides immitis (Pinkerton u. Oldham 2005).
20.3
Tumoren der Lunge und der Bronchien
20.3.1
Primäre Tumoren
Primäre Tumoren der Lunge und der Bronchien sind bei Kindern und Jugendlichen sehr selten. Von diesen sind ca. zwei Drittel maligne und ein Drittel benigne. Neben vereinzelt auftretenden Tumoren aus der großen Gruppe der Weichteiltumoren (7 Kap. 47) werden die im Folgenden aufgeführten Entitäten etwas häufiger beobachtet.
Maligne Tumoren An häufigsten kommen vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen niedrig maligne Adenokarzinome der Bronchien vor. Mit verschiedenen Histologien sind diese vor allem Karzinoide (80% dieser Gruppe), mukoepitheliale Karzinome und adenoid-zystische Karzinome (sog. Zylindrome). Sie alle wachsen relativ langsam und haben ein niedriges Potenzial für eine Metastasierung. Bei den Karzinoiden können oft erhöhte Serumspiegel von Serotonin und 5-Hydroxyindolessigsäure gemessen werden (Bucsky et al. 2006). Anders als bei den intestinalen Karzinoiden (7 Kap. 45) werden spezielle klinische Symptome aber selten beobachtet. Die bei Erwachsenen häufigen, hoch malignen Bronchuskarzinome kommen bei Kindern extrem selten vor (Pinkerton u. Oldham 2005). Klinisch fallen die Bronchustumoren meist früh durch die Bronchusobstruktion mit Pneumonien auf. In der Regel sind sie im Thoraxröntgenbild nicht zu erkennen. Sie lassen sich jedoch oft im CT und so gut wie immer bei einer Bronchoskopie sichern und lokalisieren. Von einer Biopsie wird dabei jedoch abgeraten, da diese zu einer schweren Blutung führen kann, die histologische Differenzierung aus kleinen Proben oft sehr schwierig ist und weil ein den Bronchus obstruierender Tumor sowieso reseziert werden muss. So ist auch die komplette Resektion des Tumors die Therapie der Wahl. In seltenen Fällen ist diese über eine Bronchussegmentresektion möglich. Meistens ist aber eine Lobektomie, selten eine Pneumonektomie nötig. Immer sollte eine minutiöse Lymphknotendissektion angeschlossen werden. Bei inkompletter Resektion oder Lymphknotenmetastasen ist eine anschließende Radiotherapie indiziert. Insgesamt liegt die Langzeitüberlebensrate für diese Tumoren bei über 90% (Pinkerton u. Oldham 2005). Das Pulmoblastom ist ein sehr seltener, von der Entstehung wohl embryonaler, maligner Tumor der Lunge vor allem bei jungen Kindern. Histologisch enthalten Pulmoblastome Gewebeanteile sowohl mesenchymalen Ursprungs mit Verwandtschaft zu den Weichteilsarkomen (7 Kap. 47) als auch Blastome epithelialen Ursprungs (Cohen u. Ka-
. Abb. 20.12. CT eines 2-jähigen Mädchens mit einem großen Pulmoblastom der linken Lunge. Nach Chemotherapie war eine Resektion möglich, das Kind verstarb aber einige Monate später an multifokalen Tumorrezidiven
schula 1992). Oft sind diese Tumoren bereits sehr groß, bevor sie mit Husten, Hämoptysis, Thoraxschmerzen und Atemnot auffallen (. Abb. 20.12). So ist der Tumor mit einer Thoraxröntgenaufnahme und einem CT bzw. MRT gut sichtbar zu machen. Die Therapie der Wahl ist eine komplette Resektion. Sollte diese nicht möglich sein, kann mit einer neoadjuvanten Chemotherapie versucht werden, eine Größenreduktion zu errechen. Hier liegt es nahe, die Medikamente nach den Schemata der Weichteilsarkomstudien (CWS; 7 Kap. 47) zu verwenden. Größere Erfahrungen hiermit liegen jedoch bis dato nicht vor. Angesichts des oft fortgeschrittenen Wachstums und eines wohl relativ großen Metastasierungspotenzials liegt die Überlebensrate allerdings nur bei 40–50% (Pinkerton u. Oldham 2005).
Benigne Tumoren So genannte inflammatorische Pseudotumoren können, wie auch im Gastrointestinaltrakt und in den parenchymatösen Bauchorganen (7 Kap. 45) auch in der Lunge auftreten und sind hier im Kindesalter die häufigsten benignen Tumoren. Sie sind nicht eigentliche Neoplasien, wachsen aber infiltrativ und weisen histologisch eine Vielzahl von unterschiedlichen Entzündungszellen auf. Die meisten Patienten sind älter als 5 Jahre, bei 30% der Fälle wird der Tumor als Zufallsbefund entdeckt (Cohen und Kaschula 1992). Die Bildgebung erfolgt mit Röntgen und CT bzw. MRT: Hier erscheint die Läsion als ein solider Tumor mit gelegentlich starker Verkalkung. Therapeutisch sollte der Tumor reseziert werden, was gleichzeitig auch zur endgültigen Diagnose führt. Hier ist das technische Vorgehen je nach Lage und Ausdehnung des Tumors zu wählen. Wenn eine Resektion nicht möglich ist, kann eine medikamentöse Therapie mit Antiphlogistika, aber auch mit einer Chemotherapie nach einem Weichteilsarkomschema einmal zu einer Verkleinerung des Tumors führen (7 Kap. 45).
207 20.4 · Mediastinale Raumforderungen
Wie an der Thoraxwand (7 Kap. 22) und in Organen des Bauchraums (7 Kap. 45) können Hamartome bei Kindern auch einmal in der Lunge gefunden werden (Cohen u. Kaschula 1992). Kongenital abgelegt, können sie wahrscheinlich sowohl von den Bronchien als auch vom Lungenparenchym ausgehen und enthalten fibröses Gewebe, Knorpel und respiratorisches Epithel. Ihre Wachstumstendenz ist in aller Regel sehr niedrig. Da sie jedoch als Raumforderung wirken und ihr langfristiges Verhalten unklar ist, sollten sie möglichst komplett reseziert werden. Wenn dies gelingt, haben die Patienten eine exzellente Prognose.
20.3.2
Lungenmetastasen anderer Tumoren
Eine Vielzahl von bösartigen Tumoren des Kindesalters können in die Lunge metastasieren (7 Kap. 42–48). Am häufigsten treten dabei Metastasen des Nephroblastoms (Wilms-Tumors) bei jungen Kindern (7 Kap. 44) und solche des Osteosarkoms bei Jugendlichen (. Abb. 20.13) auf (Pinkerton u. Oldham 2005). Klinik und Diagnostik. Lungenmetastasen treten sehr selten
durch eigene klinische Symptome in Erscheinung, sondern werden in aller Regel im Rahmen der Staging-Untersuchungen für einen malignen Tumor diagnostiziert. Wichtig ist hier die Anwendung eines hochauflösenden Spiral-CT, mit dem Knoten von 2–3 mm Größe entdeckt werden können. Von großer Bedeutung ist auch die gleichmäßige Belüftung beider Lungen (z. B. in Narkose), damit Metastasen nicht durch Atelektasen verdeckt werden. Therapie. In aller Regel stehen zunächst die Chemotherapie und ggf. auch die Bestrahlung des Primärtumors bei der Bekämpfung der Tumorerkrankung im Vordergrund. Wenn hierbei die Metastasen nicht komplett verschwinden, kann eine Resektion derselben indiziert sein. Generelle Voraussetzungen hierfür sind, dass die Fernmetastasen auf die Lunge beschränkt sind und dass die Gesamtprognose und der Zustand des Patienten die Operation rechtfertigen. Technisch sollten alle Metastasen so parenchymsparend wie möglich entfernt werden. So kommen hier häufig eine oder mehrere »Wedge«-Resektionen, z. B. mit dem Stapler, zur Anwendung. > Immer wieder zeigt die Erfahrung, dass die bimanuelle Palpation des Lungengewebes sensibler ist als ein gutes hochauflösendes CT zusammen mit der thorakoskopischen Inspektion, weshalb die meisten Chirurgen für eine kurative Metastasenresektion die offene Thorakotomie gegenüber der Thorakoskopie bevorzugen. Dabei können bilaterale Metastasen in ausgesuchten Fällen auch in einer Operation über eine Sternotomie oder über 2 laterale Thorakotomien mit Umlagerung des Patienten reseziert werden.
. Abb. 20.13. Osteosarkommetastasen in de rechten Lunge bei einem 14-jährigen Mädchen, das nach Chemotherapie und mehrfachen Resektionen in eine dauerhafte Remission gebracht werden konnte
Insgesamt kann die Resektion von Lungenmetastasen bei richtiger Indikationsstellung einen wichtigen Beitrag zum Heilungserfolg liefern. Es können so gelegentlich Remissionsraten von bis zu 80% auch bei metastasierenden kindlichen Tumoren erreicht werden (Häcker et al. 2007).
20.4
Mediastinale Raumforderungen
Das Mediastinum ist der häufigste Ort für intrathorakale Raumforderungen im Kindesalter (Jaggers u. Balsara 2004). Anatomisch kann man das Mediastinum in 4 Kompartimente aufteilen, nämlich das superiore, das anteriore, das mittlere und das posteriore. Das superiore Kompartiment enthält die großen Gefäße und den Thymus, hier wachsen Thymome und Keimzelltumoren (7 Kap. 46) und es finden sich Thymuszysten wie auch Lymphangiome. Im anterioren Kompartiment mit den kaudalen Thymusanteilen und Lymphgewebe treten Tumoren des Thymus und Lymphome (7 Kap. 48) auf. Im mittleren Kompartiment entwickeln sich am häufigsten bronchogene Zysten und im posterioren Kompartiment mit dem Ösophagus, der Aorta descendens und dem Grenzstrang vor allem Neuroblastome (7 Kap. 43; auf diese wird hier nicht näher eingegangen) und Ösophagusduplikaturen (7 Kap. 23). Manche Raumforderungen erstrecken sich natürlich auch über mehrere dieser Kompartimente. Bei fast der Hälfte der Kinder mit einer mediastinalen Raumforderung hat diese bei Diagnosestellung noch nicht zu klinischen Symptomen geführt. Bei den anderen stehen respiratorische Symptome oder Brustschmerzen im Vordergrund. Schon ein Thoraxröntgenbild zeigt häufig eine Raumforderung an, im CT ist diese dann wesentlich genauer darstellbar. Das MRT kann oft die Struktur der Läsion, die Zuordnung zu den großen Gefäßen und bei Neuroblastomen und Neurofibromen eine allfällige Beteiligung
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Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
des Spinalkanals (7 Kap. 43) besser darstellen. Im Ultraschall lässt sich sofern einsehbar besonders gut zwischen zystischen und soliden Tumoren unterscheiden.
20.4.1
Keimzelltumoren
Keimzelltumoren können im Mediastinum in allen Differenzierungsformen (7 Kap. 46) vorkommen und damit sowohl gutartig als auch bösartig sein. 80% dieser Tumoren sind Teratome, deren zweithäufigste Lokalisation nach dem Steißbein wiederum das Mediastinum ist. Sie sind dort überwiegend zystisch und liegen bevorzugt in den anterioren und superioren Kompartimenten (Jaggers u. Balsara 2004). Klinik und Diagnostik. Die Mehrzahl der Teratome macht
in der frühen Kindheit keine Symptome und wird deshalb erst bei älteren Kindern und Jugendlichen entdeckt. Neben der Bildgebung mit CT und/oder MRT gehört zur Diagnostik die Bestimmung der Tumormarker α-Fetoprotein und β-hCG. > Wenn immer möglich sollten Teratome wegen ihres malignen Potenzials komplett entfernt werden. Ist dies nicht möglich und ist ein Teratom bereits maligne entartet, kann eine Tumorreduktion mit Chemotherapie (MAKEI, 7 Kap. 46) versucht werden. In diesen Fällen ist die Prognose jedoch schlecht. Immer ist eine Langzeitnachsorge über mindestens 5 Jahre durchzuführen.
20.4.2
Nadelbiopsie oder von anderen Tumorlokalisationen (Hals) möglich, ist ein thorakaler operativer Eingriff nötig. Hier kann die Biopsie oft über eine kleine Inzision eines Interkostalraumes direkt neben dem Sternum erfolgen. Ansonsten kommt eine Thorakoskopie in Betracht. Eine offene Thorakotomie oder gar Sternotomie ist nur sehr selten indiziert. ! Cave Bei Anwendung einer Vollnarkose mit Relaxation durch Kompression der unteren Atemwege kann es zu akuten Zwischenfällen mit fehlender Beatmungsmöglichkeit kommen. Hier kann eine rasche starre Bronchoskopie notwendig werden.
Eine Vorbehandlung des Lymphoms mit Steroiden oder Zytostatika zur Reduktion der Tumormasse kann diese Gefahr vermindern, wird dann allerdings auch die Auswertbarkeit der Biopsie bedeutend verschlechtern.
20.4.4
Neurofibrome
Klinik und Diagnostik. Vor allem im Rahmen einer Neurofibromatose Typ I von Recklinghausen kommen Neurofibrome auch im Mediastinum vor (Übersicht bei Plon u. Malkin 2002). Durch ihr langsames Wachstum machen sie oft erst spät Beschwerden. So haben sie bei Diagnosestellung oft eine beträchtliche Größe (. Abb. 20.14). Sie können sich im ganzen Mediastinum ausbreiten und
Thymom
Thymome kommen bei Kindern sehr viel seltener vor als bei Erwachsenen und sind auch seltener mit einer Myasthenia gravis assoziiert. Gelegentlich treten sie bei Immundefektsyndromen auf. Thymome sind epithelialen oder lymphatischen Ursprungs und haben ein malignes Potenzial (Rodgers u. McGahren 2005). Bei Malignität müssen sie von malignen Lymphomen unterschieden werden. Thymome sollten komplett reseziert werden. Oft gelingt dies auch über eine Thorakoskopie, so dass dann eine Sternotomie vermieden werden kann (Ng u. Yim 2008).
20.4.3
Lymphome
Die häufigsten Tumoren des vorderen und mittleren Mediastinums sind Lymphome (ausführlich 7 Kap. 48). Sowohl der Morbus Hodgkin als auch die Non-Hodgkin-Lymphome sind bevorzugt hier lokalisiert. Für den Chirurgen ist wichtig, dass vor Beginn einer Therapie möglichst immer Tumorgewebe zur Sicherung der Diagnose und Subtypisierung gewonnen werden soll. Ist dieses nicht mit einer
. Abb. 20.14. MRT eines 2-jährigen Knaben mit einer Neurofibromatose Typ I und ausgedehnten Neurofibromen im Mediastinum, an der Thoraxwand und im Hals, die zu einer zunehmenden Ateminsuffizienz führten und deshalb partiell reseziert wurden
209 20.4 · Mediastinale Raumforderungen
auch in den Spinalkanal einwachsen. Sehr große Neurofibrome haben ein erhöhtes malignes Potenzial mit Übergang in einen malignen peripheren Nervenscheidentumor (7 Kap. 47). Die Ausdehnung der Tumoren kann gut mit einem MRT dargestellt werden (. Abb. 20.14). Nach eigener Erfahrung kann eine positive Speicherung im FDGPPET als Hinweis auf eine maligne Transformation gedeutet werden. Therapie. Es wird empfohlen, die Neurofibrome chirur-
gisch zu entfernen. Bei manchen Patienten ist dies allerdings nicht möglich, so dass man sich hier auf die Resektion von mechanisch störenden und malignitätsverdächtigen Knoten beschränken muss. Eine engmaschige und langfristige Nachsorge ist dann besonders wichtig.
20.4.5
Zystische Raumforderungen
Im Kindesalter können eine Reihe verschiedener rein zystischer und gutartiger Raumforderungen im Mediastinum beobachtet werden. Thymuszysten entstehen entweder durch eine Entwicklungsstörung oder durch entzündliche Vorgänge (Rodgers u. McGahren 2005). Sie sind mit Flimmerepithel und einer Wand, die Thymusgewebe enthält, ausgekleidet. Die Diagnostik kann mit Ultraschall und CT erfolgen, eine Feinnadelaspiration mit Untersuchung des Inhalts kann hilfreich sein. In der Regel lassen sie sich gut über eine Thorakoskopie exzidieren. Lymphangiome sind im Mediastinum sehr viel seltener als in anderen Körperregionen, vor allem als im Halsbereich (ausführlich 7 Kap. 19). Bei Wachstum, Infektion oder Einblutung werden sie symptomatisch. In diesen Fällen kann eine chirurgische Exzision indiziert sein. Oft ist dies jedoch nicht komplett möglich, so dass sie in 10–15% der Fälle rezidivieren. Wir halten dennoch im Gegensatz zu anderen Autoren (Rodgers u. McGahren 2005) Injektionstherapien mit Bleomycin oder dem entzündungsinduzierenden Stoff OK-432 wegen der möglichen Komplikationen und der später stark erschwerten und riskanteren Operation für keine günstige Option. Eine Bestrahlung ist in keinem Fall indiziert. Bronchogene Zysten (s. oben, 7 Kap. 20.1.6), Perikardzysten und zystische Ösophagusduplikaturen (7 Kap. 23) sind zystische Fehlbildungen der jeweiligen Organe bzw. Gewebe. Ihre Größe, Lage und Zuordnung lassen sich in der Regel mit Hilfe der modernen Bildgebung zweifelsfrei feststellen. Für alle gilt, dass sie chirurgisch entfernt werden sollten, auch wenn sie bei Diagnosestellung keine schweren Symptome verursachen, um möglichen Komplikationen wie Infektion, Einblutung und Kompression umliegender Strukturen vorzubeugen. Eine chirurgische Entfernung ist fast immer gut möglich, in einigen Fällen auch thorakoskopisch. Die Langzeitprognose ist fast immer gut (Rodgers u. McGahlen 2005).
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20
210
20
Kapitel 20 · Fehlbildungen und Erkrankungen der Lunge, der Pleura und des Mediastinums
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21
21 Zwerchfellhernie K.-L. Waag 21.1
Embryologie und Entstehung – 211
21.7
Therapie
21.2
Pathophysiologie – 212
21.7.1 21.7.2 21.7.3
Intrauterine Therapie – 218 Postnatale Therapie – 218 ECMO – 220
21.3
Inzidenz
21.8 21.4
Klinik
Operativer Zwerchfellhernienverschluss – 222
21.5
Pränatale Diagnostik – 215
21.8.1 21.8.2 21.8.3
Operationstechnik – 222 Postoperative Komplikationen Ergebnisse – 225
21.6
Postpartale Diagnostik – 217
21.6.1 21.6.2
Klinische Untersuchung – 217 Radiologische Diagnostik – 217
– 214
– 214
> Die kongenitale Zwerchfellhernie besteht in der Regel aus einer angeborenen Zwerchfelllücke mit in den Thoraxraum prolabierten Bauchorganen und einer vor allem ipsilateralen Lungenhypoplasie. In den meisten Fällen findet sie sich links. Aufgrund der Lungenhypoplasie mit Einschränkung der Atemfläche wie, auch einem pulmonal-arteriellen Hochdruck und deshalb persistierenden fetalen Kreislaufverhältnissen ist die Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Neugeborenen immer noch sehr eingeschränkt. Deshalb ist eine frühzeitige intrauterine Diagnosestellung wichtig. Versuche, einer fetalchirurgischen Korrektur haben keinen Erfolg gebracht. Postnatal ist eine hoch differenzierte Beatmungstherapie der wichtigste Baustein der Therapie, in einigen Fällen wird auch eine ECMO-Therapie (extrakorporale Membranoxygenierung) notwendig. Die chirurgische Korrektur mit Verschluss der Zwerchfelllücke erfolgt nach Stabilisierung des Kindes meist über eine Laparotomie, in ausgesuchten Fällen auch über eine Thorakotomie oder eine Thorakoskopie.
21.1
– 218
Embryologie und Entstehung
Embryologisch entwickelt sich das Diaphragma zwischen der 8. und 12. SSW, indem eine Membran die Teilung der Zölomhöhle von dem intrathorakalen und abdominellen Raum abtrennt. Dies geschieht zeitgleich mit dem Beginn der Darmrotation. Im Thorax wächst das Septum transversum nach dorsal und teilt so die pleuroperikardiale von der
– 224
Literatur – 226
peritonealen Höhle. Diese pleuroperitonealen Falten bestehen aus membranöser Pleura und Peritoneum und erst später wandert hier Muskulatur ein. Die häufiger linksseitige Hernie (87%) erklärt sich dadurch, dass der Verschluss auf der linken Seite später vervollständigt wird, und auch dorsal später als in der anterioren Region. Dieses Dreieck, das sich entwicklungsgeschichtlich zuletzt verschließt, wird pleuroperitonealer Kanal genannt. Bei Persistenz dieses pleuroperitonealen Kanals verbleibt die Bochdalek-Hernie. Aus der gleichen Erklärung heraus ist ein anteriorer Defekt (Morgagni-Hernie) deutlich seltener. Die rechtsseitige Hernie wird in 11% der Fälle gefunden, noch seltener ist und die beidseitige in 2% der Fälle (sternokostaler Larrey-Defekt; Dahlheim et al. 2003; Deprest et al. 2005). Die Fehlbildung sollte deshalb korrekterweise als Zwerchfelllücke bezeichnet werden. Der üblicherweise vergesellschaftete weite Hiatus entsteht durch die Elongation des Ösophagus gleichzeitig mit der Bildung des Septum transversum. Verlangsamt sich das ösophageale Wachstum im Rahmen der Entwicklungsverzögerung des pleuroperitonealen Kanals, resultiert hier ein weiter Hiatus, kombiniert mit einem Brachyösophagus. Generell reduziertes oder fehlendes Einwachsen von Muskelzellen in die pleuroperitoneale Membran führt zu einer echten Zwerchfellhernie mit Herniensack oder in einer Variante mit hypoplastischer Muskulatur zur kongenitalen Zwerchfellrelaxation. Das Ausmaß der behinderten Lungenentwicklung hängt mit dem Zeitpunkt der Kompression der ipsi-late-
212
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
. Tab. 21.1. Ätiologie der kongenitalen Zwerchfellhernie
21
Ursache
Häufigkeit
Isolierter Defekt
70%
Multiple Fehlbildungen
20%
Syndrome
8%
Familiäre Häufung
2%
ralen Lunge zusammen und diese wiederum korreliert mit der Größe des Zwerchfelldefektes. Je größer der Defekt, desto früher tritt der Darm in den Thorax, je eher sind auch linke Leber, Magen, Milz im Thorax und umso ausgeprägter ist die ipsilaterale Lungenkompression. In . Tab. 21.1 sind die für eine kongenitale Zwerchfellhernie bisher bekannten Ursachen aufgelistet. Ätiologisch entstehen die meisten Zwerchfellhernien als isolierter Defekt, d. h. sporadisch (70%). Zwerchfellhernien hängen in ca. 20% auch mit anderen Faktoren zusammen, wie dies im Rahmen von Versuchen bekannt geworden ist, so z. B. durch den Medikamenteneinfluss von Thalidomid oder Nitrofen; auch Vitamin-A-Mangel ist bekannt (González-Reyes et al. 2005). Typische Syndrome wie Trisomie 13, 18 oder 21 sind in 8% mit einer Zwerchfellhernie kombiniert. Das Beckwith-Wiedemann-Syndrom oder Denys-Drash-Syndrom ist mit einer Zwerchfellhernie kombiniert. In 2% der Fälle ist eine familiäre Häufung bekannt. Dabei finden sich Veränderungen im Chromosom 15q26. Die Genmutation zeigt sich in einer Deletion 4p8q,15q oder in der Duplikatur 8p und in einer Tetrasomie 12p.
21.2
Pathophysiologie
Übersicht Organbeteiligungen der kongenitalen Zwerchfellhernie 4 Thorax – Lungenhypoplasie – Rarifizierung der Lungengefäße – Reduzierte Teilung der Bronchi – Verdickung der Alveolarwand – Gefäßwandmuskulatur bis in die Peripherie – Pulmonale Hypertension – Surfactantmangel? – Kontralaterale Lunge strukturell gleichermaßen betroffen – Intrathorakale Abdominalorgane – Mediastinalverschiebung 6
4 Herz – Niedriges Auswurfvolumen linker Ventrikel 4 Abdomen – Abdominalhöhle zu klein – Darm-Nonrotation – Winkelfehlbildungen des Duodenums – Oft hypoplastischer dorsaler Zwerchfellmuskelrand
Lunge. Der Funktionsverlust wird einerseits durch den
reinen Platzmangel erklärt. Andererseits ist gleichzeitig eine Reduzierung der Teilung der Bronchi nachgewiesen und ebenfalls eine Rarifizierung der Lungengefäße während dieser frühen Entwicklungsphasen der ipsilateralen Lunge. Histologisch ist eine Verdickung der Alveolarwand verifiziert. Die Muskulatur in den Gefäßwänden als Mediahypertrophie reicht weit bis in die Peripherie, die in der gesunden Lunge nur die großen Gefäße zentral reguliert, in der Peripherie aber in einer gesunden Lunge nicht zu finden sind. Alle diese strukturellen Veränderungen finden sich in gleicher Form histologisch in der kontralateralen Lunge, so dass nicht nur ein mechanisches Ereignis in der Schwangerschaft zur Lungenhypoplasie und zu diesen Lungenveränderungen führt, sondern anderweitig erklärt werden müssten. Eine bisher schlüssige Erklärung für diese Veränderungen auf der kontralateralen Seite liegt bisher nicht vor. Es wird deshalb auch diskutiert, ob nicht die Lungenhypoplasie die primäre Fehlbildung und die Zwerchfelllücke nur eine konsekutive Störung darstellen (. Abb. 21.1). Die Kinder leiden durch die Strukturstörungen der Lunge alle an einer pulmonalen Hypertension, die klinisch einen wesentlichen Faktor bei der Behandlung dieser Kinder ausmacht (. Abb. 21.2). Im Rahmen der Lungenhypoplasie bei Patienten mit Zwerchfellhernie wird ein kongenitaler Surfactantmangel (7 Kap. 2) kontrovers diskutiert, wobei momentan die Argumente dagegen überwiegen. Es spricht mehr für eine sekundäre Inaktivierung unter der Beatmung (Greenspan u. Shaffer 2006; Migliazza et al. 2007). Herz. Messungen des enddiastolischen und linksventrikulären Volumens sprechen für eine verminderte Auswurfleistung der linken Herzkammer, wenn die arteriellen Pulmonalgefäße gleichzeitig gemessen werden. Dies kann erfolgreich dadurch kompensiert werden, dass der D. arteriosus mit Hilfe von NO und Prostaglandin offen gehalten wird; die Leistung des rechten Ventrikels verbessert den Fluss (Inamura et al. 2005). Abdomen. Die Abdominalhöhle ist grundsätzlich zu klein, da je nach Zeitpunkt des Abwanderns des Darms und der abdominellen Organe, wie Leber, Milz und Magen, in die Thoraxhöhle, die vis a tergo fehlt, und das Abdomen grundsätzlich nicht ausreichend wächst. Dies ist bei der Reposi-
213 21.2 · Pathophysiologie
. Abb. 21.1. Durch Nitrophen, das experimentell zu einer Zwerchfellhernie führt, wird auch die Entwicklung der Lunge massiv beeinträchtigt, wie hier im Tierexperiment an Ratten demonstriert
a
b
. Abb. 21.2a, b. Strukturstörungen der Lunge. a Die Bronchusmuskulatur reicht pathologisch weit in die Peripherie. b Histologisch wird bei CDH fetal wie bei Geburt eine deutliche Verdickung der Media in der
Bronchenmuskulatur gefunden. Unter ECMO werden die Bronchiolen wieder erweitert und aufgedehnt
tion des Darmes in die Bauchhöhle mit anschließendem Verschluss zu respektieren.
was bei der Reposition in den Bauch berücksichtigt werden muss. Durch diese Fehllage und fehlende Fixation erklärt sich auch, dass das Duodenum sehr häufig nicht korrekt ausgespannt in einem duodenalen C liegt, sondern hier multiple Abknickungen möglich sind, was die Phase nach dem Zwerchfellverschluss für den Nahrungsaufbau komplikationsreich gestalten kann. Bei vielen Patienten ist der dorsale Muskelrand des Defektes nur hypoplastisch angelegt, analog zur Lokalisation des spätesten Verschlusses des Zwerchfells und der muskulären Zelleinwanderung. Bei kompletter dorsaler Aplasie ist allerdings ein solcher Muskelrand auch prä-
! Cave Folge des Zwerchfellverschlusses ist oft eine intraabdominelle Druckerhöhung im Abdomen mit Problemen des Rückstromes aus der Vena cava inferior und der mesenterialen Darmdurchblutung.
Durch das Abwandern des Darmes in die Thoraxhöhle entfällt die übliche Darmrotation, so dass eine Nonrotation resultiert. Gleichzeitig fehlt aber auch die sekundäre dorsale Fixation der Mesenterialwurzel am Retroperitoneum,
21
214
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
paratorisch nicht zu finden, obwohl grundsätzlich hiernach gesucht werden muss.
21
21.3
Inzidenz
Die Häufigkeit einer Zwerchfellhernie ist in der Literatur mit 1:2500–3000 Lebendgeburten angegeben. Diese Zahlen sind möglicherweise nicht korrekt, da es eine Anzahl von versteckten Todesfällen gibt, die in dieser Rechnung nicht berücksichtigt werden konnten. Der Anteil der intrauterin Verstorbenen und als fetaler Abgang nicht diagnostizierten Schwangerschaften ist im Dunkeln. In einer Meta-Analyse (Skari et al. 2000) wurde diese sog. »hidden mortality« bei Zwerchfellhernien inklusive assoziierter Fehlbildungen beziffert (. Tab. 21.2). Nach diesen Angaben überleben nur 42 von 100 Kindern, die in utero diagnostiziert wurden, so dass 58% in utero versterben. Durch die frühzeitigeren Überweisungen und durch die Absenkung der Letalität auch bei niedrigen Geburtsgewichten unter 1000 g sind über Jahrzehnte die Überlebensraten bei Zwerchfellhernien bei ca. 50% geblieben, so dass rein statistisch in den letzen Jahrzehnten kaum Erfolge erzielt wurden. Für das Überleben spielt auch immer die erfolgreiche Therapie bei Begleiterkrankungen (in ca. 40%) eine Rolle (siehe Begleitfehlbildungen).
21.4
Klinik
Übersicht Symptomatik der Zwerchfellhernie 4 Postpartale Symptome (kongenitale symptomatische Hernie) – Dyspnoe – Zyanose – Inspiratorischer Stridor – Eingefallenes Abdomen – Persistierende pulmonale Hypertension – Auskultatorische Darmgeräusche im Thorax – Fehlendes Atemgeräusch in der unteren Hälfte der betroffenen Thoraxhälfte 4 Symptome im Säuglingsalter (sekundär symptomatische Hernie) – Plötzlicher Schmerz – Darmpassage-Störungen – Auskultatorische Darmgeräusche im Thorax – Mediastinumverlagerung mit Auskultation und Perkussion der Herzverlagerung – Fehlendes Atemgeräusch in der unteren Hälfte der betroffenen Thoraxhälfte
. Tab. 21.2. Meta-Analyse pränatal diagnostizierter kongenitaler Zwerchfellhernien (Skari et al. 2000) Summe der diagnostizierten
676
100%
Interruptio
142
21%
Intrauteriner Fruchttod
36
5,3%
Postnatal verstorben
333
46,9%
Überleben
165
24,4%
Der Zeitpunkt der Verlagerung des Darmes intrathorakal spielt für die Symptomatik eine wesentliche Rolle und ist zusätzlich abhängig von der Größe des Defektes. Bei Neugeborenen ist postpartal die Darmpassagestörung primär natürlich nicht zu beurteilen, wohl aber das Ausmaß des eingefallenen Abdomens durch die Verlagerung abdomineller Organe in den Thorax. Ein untrügliches Zeichen für eine postpartal zu diagnostizierende Zwerchfellhernie ist die unmittelbare Verschlechterung der Zyanose und der Atemnot durch eine Maskenbeatmung, da hierbei über die Maske Luft in den Magen und den Darm eingepresst wird, was die Mediastinalverlagerung und die Lungenkompression auf der kontraleralen Lunge verstärkt. Zudem besteht bei der Maskenbeatmung ein relativ hohes Risiko für einen Pneumothorax auf der kontralateralen Seite. Kleinere, meist schlitzförmige Zwerchfelldefekte können postpartal klinisch nicht in Erscheinung treten, wenn kein Darm hindurchgewandert ist. Erst anlässlich einer intraabdominellen Druckerhöhung, wie typischerweise bei der ersten Bronchitis oder bei einem Sturz, wird der Darm durch den Schlitz intrathorakal gepresst, wodurch der Patient erst jetzt symptomatisch wird. Dies ist oft mit einem plötzlichen Schmerz verbunden. Hauptsächlich schließt sich die Darmpassagestörung im Sinne von Subileus oder Ileus durch die Abklemmung des Darmes in dem schmalen Defektrand an. Nur bei Durchtritt von viel Darm ist das typische Darmgeräusch im Thorax auskultierbar und selten kommt es zu Mediastinalverlagerung und Herzverlagerung. Diese Sonderform ist durch eine ringförmige luftgefüllte Struktur über dem Zwerchfell gekennzeichnet – fast ausnahmslos linksseitig –, die differenzialdiagnostisch schwer von einer Lungenzyste abgrenzbar sein kann. ! Cave Vor einer Blindpunktion dieser zystischen Struktur muss aus diesen Gründen dringend gewarnt werden.
Andererseits kann eine Magen-Darm-Passage die Zugehörigkeit zum Darm bzw. den Grund der Transportstörungen recht unproblematisch klären.
215 21.5 · Pränatale Diagnostik
21.5
Pränatale Diagnostik
Eine hoch auflösende Sonographie, aber erst recht eine Magnet-Kernspinuntersuchung in der Schwangerschaft können heute frühzeitig eine Zwerchfellhernie bei dem Föten darstellen. Die Abgrenzung der Leber kann in der Sonographie Schwierigkeiten bereiten. In der Kernspinuntersuchung ist jedoch eindeutig zu klären, ob der linke Leberlappen intrathorakal liegt, was als prognostischer Faktor von Bedeutung ist (. Abb. 21.3). Bei fast gleicher Echodichte von Leber und Lunge lässt sich eine rechtsseitige kongenitale Zwechfellhernie oft nur an der Position der Gallenblase festmachen. Die Relationen des Kopfdurchmessers zur Lungengröße hat in der Sonographie ebenfalls eine prognostisch sehr
a
wichtige Bedeutung erlangt (Graham u. Devine 2005; Hendrick et al. 2004). In Grenzbereichen ist die Lungenvolumenbestimmung des Föten über die Kernspinuntersuchung noch aussagekräftiger. Durch diese Untersuchungen können die Weichen gestellt werden, wo und auf welchem Wege mit welchen Möglichkeiten die Kinder zu entbinden sind, um ihr Risiko zu minimieren (Frenckner et al. 2007). Die Auswertung von Sonographie und MRT ist ab der 20. SSW bereits möglich.
Übersicht Präpartale Prognosefaktoren (Hochrisikogruppe) 4 Defekt vor der 25. Schwangerschaftswoche diagnostiziert 4 Intrathorakale Leberanteile 4 Niedrige Lungen-Kopfumfangs-Relation (»lung to head ratio«) bzw. niedriges Lungenvolumen 4 Kleiner linker Ventrikel 4 Niedriges Geburtsgewicht 4 Hydrops
Wie bereits ausgeführt, weist eine Diagnose einer Zwerchfellhernie vor der 25. SSW auf einen großen Defekt hin, wobei meist auch linke Leberanteile und Magen im Thorax als schlechte Prognosefaktoren begleitend vorhanden sind. So überleben 93%, wenn die komplette Leber intraabdominell liegt. Ist der linke Leberlappen intrathorakal, sinkt die Überlebensrate von 93% auf 43% (Albanese et al. 1998). Die Relation von Kopfumfang zum Lungendurchmesser ist in Abhängigkeit des Alters des Kindes gut untersucht (Hedrick et al. 2004). Nach der 28. SSW liegt die Grenze für eine Hochrisikogruppe bei <0,2±0,34 für die Lungen-HerzRelation. Für das planimetrische erfasste Lungenvolumen der betroffenen Seite ist im Kernspin eine Grenze bei ca. 10 ml statistisch erfasst (Loff et al. 2005).
Übersicht Prognosewerte für die Spätschwangerschaft (ca. 34 Wochen)
b . Abb. 21.3a, b. Besonders bei schwer auswertbaren Ultraschallbildern oder in Grenzfällen zeigt das MRT exakt die Lungengröße. Gleichermaßen ist die Lage des linken Leberlappens – ob »liver up« oder »liver down« – prognostisch von großer Bedeutung. a Normale Lunge in der 34. SSW, b Lunge bei linksseitigem Zwechfellhernie in der 34. SSW
4 LHR (»lung head ratio«) in der 34. Woche (normal 1,8–3,0) 4 Grenzwert der LHR bei Patienten ohne ECMOBedarf (meist ohne intrathorakale linke Leber) in der Sonographie >1,5 4 Durchschnittliche LHR bei ECMO-Patienten 1,2 4 Fragliches Überleben bei LHR-Faktor unter 0,90 4 Lungenvolumen im MRT normal für beide Lungenhälften 70 ml 4 Grenzwert zu ECMO-Bedarf bei Lungenvolumen <25 ml 4 Fragliches Überleben bei Lungenvolumen <9 ml
21
216
21
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
Mortalität und Morbidität sind bei rechts- und linksseitigen Hernien nicht grundsätzlich verschieden, werden aber in der Literatur unterschiedlich beurteilt (Graham u. Devine 2005). Die differenzierte echokardiographische Diagnostik mit Beurteilung der fetalen Hämodynamik könnte sich als prognostischer Parameter entwickeln. Bei massiver Dextroposition des fetalen Herzens, die meist mit einer intrathorakalen Leber einhergeht, mündet der Ductus venosus atypisch im rechten Vorhof und das führt zu einer Volumenbelastung der Pulmonalarterie und zu einer mangelhaften Füllung der linken Herzseite mit konsekutiv kleinem linken Ventrikel. Deshalb werden ein kleiner linker Ventrikel und eine im Verhältnis zur Aorta weite Pulmonalarterie prognostisch für problematisch erachtet. Die pulmonale Perfusion liegt im letzten Trimenon physiologisch bei ungefähr 15% Herz-Zeit-Volumen. Feten, bei denen sich im letzten Trimenon, die Perfusion nach Sauerstoffgabe an die Mutter verbessert, scheinen eine günstigere Prognose zu haben als Feten, die nicht mit einer verbesserten pulmonalen Perfusion reagieren. Bisher fehlen jedoch prospektive Untersuchungen an größeren Kollektiven. Niedriges Geburtgewicht ist vor allem im Rahmen von Syndromen zu erwarten; hierbei spielen die Begleitfehlbildungen für das Outcome eine größere Rolle als die Lungenhypoplasie. Ein niedriges Geburtsgewicht und ein kleiner linker Ventrikel sowie ein Polyhydramion kommen als weitere Faktoren der Hochrisikogruppe hinzu. Ein Hydrops überlebt fast kein Kind (Albanese et al. 1998; Fumino et al. 2005; Graham u. Devine 2005; Hedrick et al. 2004). Ein Polyhydramion entsteht am ehesten durch Abknickungen am Magenausgang oder Duodenum und scheint auf die pulmonale Funktion keinen eindeutigen negativen Effekt zu haben. Eher sind dadurch Ernährungsprobleme zu erwarten. > Grundsätzlich sind die assoziierten Fehlbildungen zu erfassen und eine persistierende pulmonale Hypertonie einzukalkulieren, um eine Prognose für das Kind zu bestimmen. Damit muss gleichzeitig festgelegt werden, ob das Kind nicht in einem tertiären Zentrum mit ECMO-Möglichkeit vor der Geburt in utero zu transportieren ist. Logistische Vorteile bei »in born«, d. h. im Haus geborenen Zwerchfellkindern sind statistisch positiv nachgewiesen.
Aus der Schwierigkeit, in der Sonographie Leber gegen umliegendes Gewebe intrathorakal zu bestimmen und ebenfalls bei dicken Bauchdecken empfiehlt sich eine pränatale Kernspinuntersuchung immer bei einer »lung-head-ratio« unter 1,4. Eine Wahrscheinlichkeit für den Bedarf von postpartalem ECMO ergibt sich bei einer LHR von dem LungenKopfumfang-Faktor bei 1,2 bzw. bei einem gemessenen Lungenvolumen von weniger als 25 ml.
In der eigenen Serie wurden die Kinder mit der 37. Woche per sectio entbunden. Patienten mit einem Lungenvolumen von durchschnittlich 31,8 ml benötigten kein ECMO. Die Hochrisikogruppe, wie sie oben definiert ist, lag mit ihrer LHR bei 0,92 bzw. 10,38 ml. Die korrekte Beurteilung der präpartalen Prognose spiegelt sich in den Ergebnissen wieder. 86,5% aller Operierten überlebten; von allen Patienten, die eine extrakorporale Membranoxygenation nötig hatten, überlebten 71%. In Zukunft benötigt man für die Option einer intrauterinen Therapie frühere diagnostische Daten ab der 24. Schwangerschaftswoche (. Tab. 21.3 und 21.4; . Abb. 21.4).
. Tab. 21.3. Die prospektive Wahrscheinlichkeit des Bedarfes von Patch zum Defektverschluss und damit zur Größe des zu erwartenden Defektes in Relation zur Lage des linken Leberlappens ist hier anhand des Mannheimer Krankengutes (n=179) dargestellt. Bei im Thorax liegendem Leberlappen erhöht sich gleichfalls deutlich der Bedarf an extrakorporaler Membranoxigenation bzw. es ist daher eine frühe Verlegung der Mutter in ein entsprechendes Zentrum zu fordern Häufigkeit 144 linksseitige Zwerchfellhernien
79%
35 rechtsseitige Zwerchfellhernien
20%
»Liver up« linksseitig
56%
4 ECMO-Bedarf
70%
4 Patch-Bedarf
82%
»Liver down« linksseitig
44%
4 ECMO-Bedarf
25%
4 Patch-Bedarf
38%
. Tab. 21.4. Durch Planimetrie kann die Lungengröße intrauterin berechnet werden. Daraus lassen sich die Patienten ermitteln, die postpartal voraussichtlich nur grenzwertig zu beatmen sein werden bzw. bei denen ECMO eingesetzt werden muss Patienten
Anzahl Patienten
Normalpopulation
Lungenvolumen in der 34. SSW Durchschnitt 70 ml
CDH-Patienten ohne ECMO
15
27,15±10 ml (p=0,0022)
CDH-Patienten mit ECMO
17
18,16±10,1 ml
CDH-Patienten mit schlechter Prognose CDH = kongenitale Zwerchfellhernie
10,38±6,2 ml
217 21.6 · Postpartale Diagnostik
. Abb. 21.4. Die Entscheidung, welcher Behandlungspfad den Eltern anzuraten ist, welche Risiken zu erwarten sind und wo die Entbindung geplant werden kann, muss spätestens in der 34. SSW fallen. Aufwändige Primärbehandlung schließt ECMO-Möglichkeit und sogar in Grenzfällen einen vorübergehenden Trachealverschluss (»plugging«) zur besseren Lungenentwicklung beim Feten ein
21.6
Postpartale Diagnostik
21.6.1
Klinische Untersuchung
Auskultatorisch fällt ein fehlendes Atemgeräusch über der Hernie auf. Das heißt, bei dem meist linksseitigen Defekt wird auf der linken basalen Region Darmperistaltik über dem Thorax auskultierbar. Nur die Oberlappenregion zeigt Atemgeräusche. Die Auskultation der Herztöne zeigt die Verschiebung des Herzens bei linksseitigen Defekten nach rechts an durch den mediastinalen Shift. Bei der Perkussion sind ebenfalls das nach rechts verlagerte Herz nachweisbar sowie ein dumpfer Klopfschall über der betroffenen kaudalen Lungenhälfte. Die postpartale Diagnostik stützt sich hauptsächlich auf den Ultraschall und die Röntgenübersichtsaufnahme. Es ist hier zu klären, wie groß die Restlunge auf der ipsilateralen Seite ist. Es ist ebenfalls unschwer zu erkennen, ob jetzt Leber und Magen intrathorakal liegen und wieweit das Mediastinum nach einer Seite verlagert ist. Die Platzierung einer Ernährungssonde erleichtert dabei die Positionsbestimmung des Magens. Ebenfalls sind die Herzposition und das Ausmaß der Kompression der kontralateralen Lungenhälfte gut zu bestimmen.
21.6.2
Radiologische Diagnostik
In der Thoraxübersichtsaufnahme zeigen sich gasgefüllte Darmschlingen anstatt von Lungenstrukturen kaudal in der betroffenen Thoraxhälfte. Eine größere Luftansammlung entspricht dem intrathorakal liegenden Magen. Dies kann verifiziert werden, in dem eine Magensonde vorgeschoben wird und sich diese entsprechend intrathorakal nachweisen lässt. Die Restlunge ist in den proximalen Abschnitten des Thorax entsprechend klein. Die Mediastinalverschiebung zur Gegenseite ist erklärbar durch das große gasgefüllte
Darmvolumen, wobei gleichzeitig radiologisch die Tracheaverlagerung inklusive Verziehung des Ösophagus und des Herzschattens darstellbar ist. Eine Röntgenkontrastmitteldarstellung ist im Regelfall nicht nötig. Eine sekundäre Inkarzeration von Darm durch einen schmalen Schlitz bei primärer postpartaler Unauffälligkeit macht eine Ausnahme. Wenngleich dies sehr selten ist, ist hier die Magen-Darm-Passage geeignet zur Differenzierung von Pneumatozelen, postpneumonischen Luftansammlungen oder paraösophagealen Hiatushernien bzw. Lungen- oder Pleuraabszessen. Begleitfehlbildungen (. Tab. 21.5). Aus der Literatur sind in 30–40% kardiale Begleitfehlbildungen beschrieben, so dass bei dieser Häufigkeit grundsätzlich danach gesucht werden muss. Dabei handelte es sich hauptsächlich um ASD und VSD sowie Pulmonalstenosen, die wesentlich den Verlauf mitbestimmen, wenn sie klinisch relevant sind. Zentrale Nervensystemveränderungen finden sich vor allem bei chromosomalen Aberrationen inklusive Mikrodeletionen (z. B. bei Pallister-Kilian, bei Beckwith-Wiedemann-Syndrom und Denys-Drash-Syndrom). In unserer eigenen Serie fanden sich durch die Embryologie erklärbare Probleme im Sinne der postoperativen
. Tab. 21.5. Begleitmalformationen der kongenitalen Zwerchfellhernie Fehlbildung
Häufigkeit
Kardiale Fehlbildung
30–40%
ZNS
10–15%
Chromosomale Aberrationen
10–15%
Duodenalabknickungen
30%
Gastroösophagealer Reflux
20%
21
218
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
Duodenalpassagestörungen und des gastroösophagealen Refluxes ebenfalls relativ häufig (20–30%; Loff et al.
21
2006). Aus einer Serie von 177 Zwerchfellhernien fanden wir zusätzlich 5-mal Lungensequester, akzessorische Milzen bei 5 Patienten und jeweils 3-mal eine Darmduplikatur bzw. Meckel-Divertikel, aber auch vereinzelt polyzystische Nieren und Hydronephrosen (Dahlheim et al. 2003).
21.7
Therapie (7 Kap. 11)
21.7.1
Intrauterine Therapie
Historisch hatten die Untersuchungen von Harrison und Soper (Harrison et al. 2003) große Aufmerksamkeit erregt, die als erste offene chirurgische Korrekturen im Tierversuch, aber später auch vereinzelt bei Patienten durchführten. Sie entwickelten verschiedene Techniken an Lämmern, um die Probleme der technischen Seite, aber auch vor allen Dingen dem Erhalt der Schwangerschaft postoperativ näher zu kommen. Der vorzeitige Abgang des Feten trotz Tokolyse stellte sich als hauptsächliches Problem dar. So ergab sich im Laufe der weiteren Verbesserung der Neugeborenen-Intensivmedizin, dass der Effekt der vorzeitigen offenen Korrektur in utero beim Menschen schlechtere Ergebnisse zeigt als die weiter konservative Führung dieser Schwangerschaften. Wegen dieser großen Zahl der vorzeitigen Spätaborte musste dieses Projekt aufgegeben werden (Harrison et al. 2003; Kohl et al. 2006; Kunisaki et al. 2006). Experimentell konnte dabei allerdings bewiesen werden, dass ein Verschluss der Trachea bei fötalen Lämmern den Abstrom von Amnionflüssigkeit und intrapulmonalem Sekret, das in den Lungen kräftig produziert wird, verhindert und so zu einer deutlichen Lungen-Volumen-Vergrößerung führt (Cass 2005; Deprest et al. 2005) Es ist nach heutigen Gesichtspunkten eher eine Lungen-VolumenVergrößerung durch Flüssigkeitsfüllung emphysematöser Art als eine tatsächliche Alveolenvermehrung. Dafür spricht ebenfalls ein Plug (Ballon-Verschluss), der in der 24. oder 28. Schwangerschaftswoche implantiert wird und nachweisbar nur vorübergehend zu einer Lungenvergrößerung führt (LHR 0,7 auf 1,8). Dieses Volumen wird nach PlugEntfernung wieder deutlich reduziert wird. Trotzdem konnte sich dieses Plug-Verfahren zu einem neuen Konzept entwickeln. Deprest (Deprest et al. 2005) ist es gelungen, rein endoskopisch durch die Bauchwand der Schwangeren und durch den Uterus hindurch die Mundhöhle endoskopisch bei 20 Feten darzustellen und dort intratracheal einen kleinen Ballon zu implantieren, der die Trachea verschließt (»fetoscopic endoluminal tracheal occlusion«, FETO: Frenckner et al. 2007; Harrison et al. 2003; Kohl et al. 2006). Nach entsprechender Lungenvolumenvergrößerung in einem Zeitraum von ca. 2–3 Wochen wird in der letzten Fassung seines Konzeptes auch endoskopisch dieser Ballon in der 34. SSW wieder entfernt und nicht bis
zur Geburt gewartet (persönliche Mitteilung 2006). Wird der Ballon intrapartal entfernt, so wird in der Literatur dies »ex utero intrapartum therapy« (EXIT) genannt. Das Konzept ist viel versprechend, technisch sehr aufwendig und bisher nur von einzelnen praktiziert. Deprest konnte damit in dieser schlechtesten Gruppe das Überleben auf 47% anheben. Leider gibt es bis heute noch keine größeren Erfahrungen, die publiziert sind. Für die Option einer intrauterinen Therapie benötigt man frühere prognostische Daten ab der 24. SSW. In der bisher einzigen kontrollierten Studie wurden Feten mit linksseitiger Zwerchfellhernie, der Leber teilweise im Thorax und einer LHR kleiner 1,0 vor der 28. SSW eingeschlossen. Noch nicht eindeutig beantwortet ist die Frage in der prognostischen Beurteilung, ob eine frühe oder späte Ballonimplantation die Prognose beeinflusst. Daher werden in der deutschen Arbeitsgruppe um Kohl (Kohl et al. 2006) ein späteres Einsetzen und ein kürzerer Verbleib des Ballons praktiziert, die ersten Ergebnisse sind ebenfalls Erfolg versprechend. Unbedingt muss diesen Kindern ein postpartaler Behandlungsplatz in einem tertiären Zentrum garantiert werden.
21.7.2
Postnatale Therapie
Übersicht Algorhythmus für die postnatale Therapie 4 Spontanentbindung bei unproblematischen Fällen, Sectio caesarea ab der 38. SSW bei problematischen Fällen 4 Primäre Intubation 4 Konventionelle »gentle Ventilation« 4 Inhalation mit NO bei PaO2 postduktal <80 mmHg 4 HFOV, wenn PaCO2 nicht unter 75 mmHg 4 ECMO bei PaO2 <40 mmHg postduktal oder <50 präduktal für mehr als 2–4 h 4 Operativer Primärverschluss nach Stabilisierung 4 Primärverschluss nach ECMO
Bei entsprechend unproblematischen Fällen mit bekannter guter Relation von Lunge-/Kopfumfang steht einer Spontangeburt nichts im Wege. Anders verhält es sich bei entsprechenden Grenzwerten in der »lung head ratio« bzw. bei dem Lungenvolumen, bei denen ein Kaiserschnitt indiziert sein kann (7 Kap. 1). Von besonderer Wichtigkeit ist hier die unmittelbare postpartale Intubation, damit verhindert wird, dass bei der Maskenbeatmung Luft in den Magen und in den Darm hineingepresst wird, was die Symptomatik der Dyspnoe und Azidose mit Medistinalverschiebung verstärkt. Auch für eine eventuelle thoraskopische Reduktion der Darmschlingen behindert die Luftfüllung der Darmschlingen die Sicht erheblich. Nur die Frühgeborenen mit
219 21.7 · Therapie
Zwerchfelldefekt haben gesichert einen Surfactantmangel, so dass dieser unmittelbar postpartal zu ersetzen ist. Eine Überdruckbeatmung (mehr als 25 cm/H2O) hinterlässt erhebliche dauerhafte Schäden an der Lungenstruktur, so dass die konventionelle Beatmung einen maximalen Druck von 25–28 cm H2O cm nicht übersteigen soll. Ein positiver endexspiratorischer Druck von 3–5 (maximal 8) cm H2O erscheint bei hohen Frequenzen bis 80/min ausreichend. AutoPEEP ist zu vermeiden, das Verhältnis Inspiration:Expiration sollte 1:2 betragen (Baquero et al. 2006; Boloker et al. 2002; Greenspan u. Shaffer 2006; Migliazza et al. 2007). Das Monitoring der Tidalvolumina unter diesen Einstellungen kann prognostisch verwertet werden; unter 3 ml/kg KG wird das CO2 kaum zu kontrollieren sein. Wenn diese Art der Ventilation nicht ausreicht, gehen viele Zentren heute auf eine Hochfrequenzoszillation (HFOV) über. Dabei wird eine Hyperkapnie soweit toleriert, dass PaCO2 auf 70 mmHg limitiert wird, um nicht eine respiratorische Azidose mit pH-Werten unter 7,20 zu riskieren. Kontrollierte Studien hierzu stehen jedoch aus. In der Übersicht ist das stufenweise Vorgehen zur Beatmung dargestellt, wie es in Mannheim praktiziert wird. »Gentle ventilation« mit den Limitierungen beim Beatmungsdruck soll die Spätschäden einer Langzeitbeatmung verhindern. Nicht nur Überleben sondern die Qualität des Überlebens muss in den Vordergrund gerückt werden.
Übersicht Postnataler Therapiealgorhythmus in Mannheim 4 Primär Intubation – Sofortige Gabe von Surfactantfaktor – Konventionelle »gentle ventilation« : – Pmax nie über 25-28cm H2O – paO2 < 50 mmHg, – Inhalation mit NO – Tidales Volumen (mindestens 3–5 ml/kg) 4 Bei insuffizienter Ventilation nächste Stufe: HFOV (Sensormedics): Limit PaCO2 100 mmHg 4 Bei weiterer Insuffizienz/Oxygenierung: ECMO 4 Korrekturoperation als »late repair« (FiO2 <0,5)
Für eine prophylaktische Surfactantgabe gibt es keine Evidenz (Zimmermann et al. 2005). Lediglich bei einer Frühgeburtlichkeit unter 34. SSW und im Rahmen eines sekundären Verbrauchs, den man z. B. bei blutig tingiertem Trachealsekret annehmen kann, ist eine Substitution empfehlenswert. Ebenfalls gibt es keine Evidenz für eine Lungenreifungstherapie bei Feten mit Zwerchfellhernie und bei Geburt nach der 34. SSW. Die Inhalation von Stickstoffmonoxid (NO, Dosierung 10 ppm) wird in unserem Regime quasi bei allen Nicht Honeymoon-Patienten versucht, d. h. dann, wenn der Sauerstoffpartialdruck postduktal unter 80 mmHg zu liegen
kommt. Wir beobachten lediglich in ca. 20% der Fälle eine verbesserte Oxygenierung. Eine Evidenz aus Studien gibt es für diese Therapie nicht (Dahlheim et al. 2003). Für ein optimales Monitoring benötigt man eine präund postduktale Sauerstoffsättigung sowie einen Arterienkatheter für die kontinuierliche Blutdruckmessung und für die Blutgasanalysen. Es hat sich bewährt, schon bei der Erstversorgung im Kreißsaal einen Nabelarterienkatheter einzuführen. Bei kritisch kranken Kindern kann ein zusätzlicher präduktaler peripherer Arterienkatheter hilfreich sein. Ein sicherer venöser Zugang ist ebenfalls schon im Kreißsaal zu legen. ! Cave Nabelvenenkatheter sind dabei meist nicht sinnvoll, da durch die Organverlagerungen sehr häufig Fehlpositionen im intrahepatischen Ductus venosus oder in Lebervenen resultieren. Insbesondere Katecholamingaben über solche Katheter können Lebernekrosen verursachen. Für die differenzierte Kreislauftherapie ist aber ein zentraler Venenkatheter anzustreben.
Zur Kreislaufstabilisierung sind nicht selten reichlich Infusionslösung (70–120 ml/kg KG/Tag) und isotonische Kochsalzlösung (10–40 ml/kg KG/Tag) erforderlich. Katecholamine sollten sehr vorsichtig angewandt werden. Suprarenin scheint am geeignetsten, weil es den systemarteriellen Widerstand erhöht, ohne nennenswert den pulmonalen Gefäßwiderstand zu erhöhen (in geringen Dosierungen kann dieser sogar gesenkt werden). Als Nebeneffekt tritt nicht selten eine Laktatazidose auf. Daher sollte man Suprarenin nicht höher als 0,2 μg/kg KG/min dosieren. Alle anderen Katecholamine scheinen eher ungeeignet. Eine kontinuierliche Analgosedierung mit Fentanyl (2–3 μg/kg KG/h) und Midazolam (0,05 μg/kg KG/h) vermögen den Sauerstoffverbrauch abzusenken. Eine Muskelrelaxierung mit Vecuronium (0,05 mg/kg/h) kann in der Initialphase (Tag 1–3) auch den pulmonalen Gefäßtonus reduzieren helfen, kann aber auch als Nebenwirkung eine systemische Hypotension nach sich ziehen. Sprechen die Patienten auf dieses Therapieregime an und erreichen sog. Honeymoon-Kriterien (präduktale PaO2-Werte über 80 mmHg und rückläufiger Shunt über den Ductus arteriosus Botalli), sollten diese mit diesem Regime gehalten werden. Ebenso vorsichtig sollte die Ventilation erst reduziert werden, wenn man Normokapnie erreicht wurde, sonst riskiert man Rebound Phänomene. Gelingt bis zu diesem Therapielevel immer noch keine ausreichende Oxygenierung, so dass damit eine hypoxische Schädigung vor allem des Gehirns vermieden wird, sehen wir heute als letzte Möglichkeit den Einsatz der extrakorporaler Membranoxygenation (ECMO). Die exakte Indikation zum Übergang auf ECMO ist im 7 Kap. 21.7.3 beschrieben. Der operative Primärverschluss der Hernie wird grundsätzlich erst nach 24–48 h nach einer möglichen Ho-
21
220
21
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
neymoon-Phase der Konsolidierung durchgeführt. Darunter versteht man die Zeitspanne, in der primär das Neugeborene keine Ventilationsprobleme zu haben scheint, aber anschließend einbricht. Die Erklärung hierfür ist nicht in der Ventilation zu suchen, sondern in der erschöpften Ventrikel-Pumpleistung (Inamura et al. 2005). Bei an ECMO angeschlossene Patienten ist dieser Zeitpunkt des operativen Zwerchfellverschlusses meist erst der 8. oder maximal 10. Tag, wenn der Patient von ECMO wieder abgehängt ist und mit seinem FiO2 <0,5 die schwierigen Beatmungszeiten überwunden hat (Loff et al. 2006).
21.7.3
ECMO
Indikationen Der Einsatz von ECMO ist in den kinderchirurgischen Zentren der Welt nicht unumstritten. Tatsächliche vergleichbare Ergebnisse mit und ohne ECMO sind allerdings schwer erhältlich, da einerseits in vielen Kliniken weniger schwere Zwerchfellhernien gesammelt werden, während andere Zentren vornehmlich nur die komplizierten Patienten erfassen, so dass insgesamt eine Vergleichbarkeit des Krankengutes so gut wie nie vorliegt. Auch der Einsatz von Patches zur Defektdeckung unterliegt keinen systematischen Vorgaben, so dass auch dieses nicht wirklich als Vergleichbarkeit der Schwere der Patienten in den Serien angesehen werden kann. Die Indikation zu einer Notwendigkeit für ECMO haben wir anhand unserer 15-jährigen Erfahrung bis Ende 2004 mit 244 Patienten mit Zwerchfellhernie und 127 ECMO-therapierten Neugeborenen in wie folgt festgelegt. 4 Sinkt der postduktal gemessene Sauerstoffpartialdruck unter 5 mmHg für mehr als 12 h, ist ECMO-indiziert. Fällt der postduktale Sauerstoffpartialdruck sogar unter 4 mmHg über einen Zeitraum von 2–4, sollte aufgrund der akuten Hypoxiegefahr mit ECMO begonnen werden. 4 Präduktal sollte der PaO2 mindestens 10 mmHg höher liegen; hier ist bei Werten unter 50 mmHg ein akutes Eintrittskriterium erreicht. 4 Postduktale Werte scheinen aufgrund der Praktikabilität der Nabelarterie akzeptabel und lassen das Ausmaß des Shunts über den Ductus arteriosus Botalli abschätzen. 4 Parallel zur arteriellen Messung der Sauerstoffspannung kann man auch die pulsoxymetrisch gemessene Sättigungsdifferenz beachten. Wenn sich der prä- und postduktale Gradient nicht innerhalb von 12 h auf weniger als 5 Punkte annähert, wird nach unserer Erfahrung ECMO fast immer erforderlich. 4 Parallel dazu kann bei ausgeprägter pulmonaler Hypertension der PaCO2. trotz Hochfrequenzventilation über 70 mmHg ansteigen (Boloker et al. 2002). Dann kann der Patient von der zusätzlichen ECMO profitieren (Amir et al. 2005; Dahlheim et al. 2003; Muratore et al. 2001).
Übersicht ECMO-Indikationen 4 4 4 4
PaO2 postduktale Werte <40 mmHg >2 h PaO2 präduktale Werte <50 mmHg >2–4 h PaO2 postduktale Werte <50 mmHg >12 h PaCO2 >70 mmHg unter HFOV
Kontraindikationen Ein Überleben des Kindes ist erfahrungsgemäß nicht zu erwarten, wenn ein permanenter PaO2 von unter 40 mmHg oder ein permanenter PaCO2 von über 100 mmHg trotz optimaler Ventilation erreicht wird. Kinder unter der 34. SSW bzw. unter 1800 g haben die größten Probleme bei der Kanülierung bzw. bei Ausschluss und Flow an der ECMO-Maschine. Ebenfalls sind schwere Begleitfehlbildungen in der Summe, wenn sie vorhanden sind, nicht geeignet, die Patienten mit einem ECMO-Versuch am Leben zu erhalten. Vor ECMO-Beginn sind eine schwere Hirnblutung sowie Zeichen einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie als weitere Kontraindikationen auszuschließen.
Risiken (. Tab. 21.6) Das korrekte Platzieren der Kanülen ist oft eine diffizile operative Angelegenheit, erst recht, wenn die Gefäße relativ klein sind und damit kein ausreichender Fluss zustande kommt. Auch die Positionierung der Kanülen im rechten Vorhof ist unmittelbar radiologisch zu kontrollieren. Perforationen bzw. Längseinrisse in den Gefäßen mit anschließender Unmöglichkeit, weitere Kanülen zu implantieren bzw. lokale Blutungen sind möglich (7,5%). Koagel oder Luftblasen im System führen zu Embolien oder Infarkten von Lunge oder Hirn. Die grundsätzliche Heparinisierung, die bei ECMO nötig ist, kann zu intrazerebralen Blutungen (9%) oder Blutungen in der Lunge (14%) führen. Konvulsionen als Reaktionen des zentralen Nervensystems sind ebenfalls beschrieben (16%). Trotz der Rekonstruktion der Arteria carotis nach dem Ende von ECMO ist eine späte Thrombosierung der Arteria carotis zu überwachen (Dahlheim et al. 2003; Loff et al. 2006).
Durchführung Der vorbereitete und mit Spenderblut gefüllte extrakorporale Kreislauf wird an die Kanülen angeschlossenen und die
. Tab. 21.6. Komplikationen der ECMO-Therapie Komplikation
Häufigkeit
Blutungen im Katheterbereich
7,5%
Intrazerebrale Blutung
9%
Lungenblutung
14%
Konvulsionen
16%
21
221 21.7 · Therapie
ECMO-Pumpe gestartet (. Abb. 21.5a). Die hier dargestellten veno-arteriellen ECMO (VA-ECMO) wird dann zunächst mit dem halben Herz-Zeit-Volumen (60 ml/kg KG/min HZV) über den ECMO-Kreislauf gestartet und im weiteren Verlauf nach Bedarf angepasst. Beim pulmonalen ECMO achten wir durch Beobachtung der Blutdruckamplitude darauf, dass das Herz noch ausreichend Schlagvolumen hat, was für die Koronarperfusion wichtig ist. Wenn die Beatmung nicht zu schnell reduziert wird und damit die Funktion der kindlichen Lunge zumindest noch teilweise gegeben ist, reichen praktisch immer ECMO-Flüsse von maximal zwei Drittel des HZV. Prinzipiell funktioniert ECMO auch mittels der venovenösen Technik (VV-ECMO) mit einer Doppellumenkanüle, d. h. das oxygenierte Blut wird vor der Patientenlunge wieder zum rechten Vorhof zurückgeführt. Die mögliche Sauerstoffabgabe ist dabei geringer und man ist auf eine gute Pumpfunktion des rechten Ventrikels angewiesen. Bei der Zwerchfellhernie mit hohen pulmonalen Widerständen im Rahmen der PPHN reicht die VV-Technik daher praktisch kaum je aus.
Die Heparinisierung erfolgt über den ECMO-Kreislauf und wird anhand der aktivierten Gerinnungszeit (ACT, Zielbereich 160–180 sec) gesteuert, zudem wird die Thrombozytenzahl durch Substitution über 100 000/μl gehalten. Die Oxgenierung und Kohlendioxidelimination wird über das durch die Membranlunge (Silkonmembran mit einer Oberfläche von 0,6 m2) gepumpte Blut gewährleistet und nach Blutgasen gesteuert. Der Durchfluss beträgt 2 l/min Sauerstoff/Druckluftgemisch (FiO2=0,7) und wird mit 0,05–0,2 l/min Kohlendioxid versehen wird. Vor Rückführung des Blutes wird es über einen Wärmetauscher angewärmt, welcher für die Thermoregulation des Patienten verantwortlich ist. Unter laufender ECMO kann dann die Beatmung und die Kreislaufunterstützung reduziert werden und die Erholung von der Grunderkrankung beginnen. Durch die Reduktion der Beatmung (Atemwegsmitteldruck 10–12 cm H2O, FiO2=0,5) und eine Aktivierung von Zytokinen durch die Oberfläche des ECMO-Kreislaufes (der genaue Mechanismus ist nicht im Detail erforscht), kommt es zum Weißwerden der Patientenlunge, dem sog.
. Abb. 21.5a, b. ECMO-Prinzip. a Vereinfachte Darstellung des Prinzips von ECMO mit Rollerpumpe und Oxygenierung mit den Anschlüssen. b Im klinischen Gebrauch stellt ECMO eine äußerst aufwändige Methode dar
a
b
222
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
»white out« innerhalb der ersten 24 h an der ECMO.
21
. Abb. 21.5b zeigt eine Patienten an ECMO im »white out«. Gleichzeitig ist ein Kapillarleck mit teilweise ausgeprägter generalisierter Ödemneigung zu beobachten, das den Einsatz von zusätzlichem Volumen und aber auch Diuretika erforderlich macht, die schonend kontinuierlich verabreicht werden. Sind dann die Fremdoberflächen quasi versiegelt, bessern sich auch die radiologische Transparenzminderung der Lunge und die Ödemneigung. Oft beginnt schon ab dem 3. Behandlungstag eine deutliche Erholung der Lungenfunktion, so dass die extrakorporale Unterstützung wieder reduziert werden kann. Auch ein Wiederanstieg des unter der »White-out«-Phase verringerten Tidalvolumens kündigt die Stabilisierung an. Wenn der ECMO-Blutfluss auf 20% des Herz-Zeit-Volumens reduziert werden kann, ohne dass die im venösen ECMO- Abschnitt kontinuierlich gemessene systemvenöse Sättigung (SvO2) unter 70% geht, tritt man in die so genannte »idling phase« ein und hält diese noch für weitere 24 h aufrecht, dann kann man die ECMO erfolgreich abklemmen. Die Therapieerfolge lagen in den letzten Jahren für diese ECMO-Gruppe bei ca. 70% Überleben (Dahlheim et al. 2003; Loff et al. 2006).
ECMO-Kanülierung Das klassische Verfahren nach Bartlett verlangt ein venoarterielles Kanülieren für ECMO-Therapie. Als Standardzugang gelten beim Neugeborenen die rechtsseitigen Halsgefäße. Die Vena jugularis interna und die Carotis communis werden proximal der Bifurkation freipräpariert. Dabei ist der Nervus vagus von den Gefäßen abzupräparieren und zu schonen, ebenso wie die Ansa cervicalis. Aufgrund des besseren Überblicks und für die spätere Gefäßrekonstruktion sind wir wieder zur vertikalen Inzision am Vorderrand des Musculus sternocleidomastoiedus zurückgekehrt. Im Einzelnen wird das Gefäß distal ligiert und proximal mit einem Tourniquet (»vessel loop«) und einer Gefäßklemme vorgelegt und anschließend das Gefäß quer inzidiert. Eine vorsichtige Dilatation des Gefäßes erlaubt anschließend das Einführen einer größtmöglichen Kanüle (Vene 10–12 Ch., Arterie 8–10 Ch.) dosiertes Knoten am Tourniquet reduziert Intimaschäden der Gefäße. Der Rückfluss aus den Kanälen wird geprüft und die Kanülen und Zweitligaturen gelegt (. Abb. 21.6). Die Lagerung des Patienten bei der intraoperativen Röntgenkontrolle ist wichtig. Es muss berücksichtigt werden, dass der Kopf rekliniert und in Links-Seitenlage ist und dann entsprechend durch Rücklagerung des Kopfes die Kanüle noch etwas weiter nach zentral vorgeschoben wird. Nach ECMO-Entwöhnung werden die Kanülen entfernt, die Gefäße durchgespült und mit doppelt armierter 7-0-Prolene-Einzelknopftechnik reanastomisiert.
. Abb. 21.6. Die Kanülen müssen möglichst dick sein, um den nötigen Flow zu gewährleisten. Daraus ergeben sich die klinisch-operativen Probleme, dass die Gefäße leicht einreißen und später bluten, Kanülen schwer vorzuschieben sein können oder an der Sitze möglicherweise perforieren – erst recht durch die häufige, massive Mediastinalverschiebung mit Gefäßdeviation, wie auf dem Bild dargestellt.
21.8
Operativer Zwerchfellhernienverschluss
21.8.1
Operationstechnik
Abdomineller Zugang Übersicht Operatiosschritte bei abdominellen Zugang 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Laparotomie Defektdarstellung Reposition von Darm, Milz, Omentum, Leber, Magen Präparation dorsaler Zwerchfellmuskelrand Anfrischen der Defektränder Primärer Defektverschluss Alternativ kegelförmiger Goretex-Patch Patchränder überlappen den Defekt Bei Bedarf Kocher-Manöver und Schienung des Duodenums 4 Bei Bedarf Fundoösophagopexie 4 Keine Thoraxdrainage
Laparotomie. Bewährt hat sich der Oberbauchmittelschnitt mit Linksumschneidung des Nabels. Dieser Zugang ist meistenteils völlig ausreichend, kann jedoch bei Bedarf zur Präparation eines Muskelflaps aus dem Musculus obliquus internus verwendet werden. Dies ist bei einem Rippenrandschnitt links oder bei einem queren Oberbauchschnitt nicht möglich. Auch ein linker Obebauchquerschnitt ist möglich und lässt eine Plastik mit den M. transversus zu. Ansonsten kann ein großer Defekt des Zwerchfells auch immer mittels eines Musculus-latissimus-dorsi-Lappens gedeckt werden.
223 21.8 · Operativer Zwerchfellhernienverschluss
Defektdarstellung und Reposition. Der Defekt liegt meistenteils in den linken, dorsalen Abschnitten und ist dort primär einstellbar, so dass unter Sicht jetzt die intrathorakalen Organe aus dem Thorax luxiert werden können. Dies gelingt meistenteils leicht für den Darm, das Omentum und dem Magen sowie den linken Leberlappen. Bei kleinen Defekten muss eine intrathorakale Milz mit Vorsicht durch einen kleinen Schlitz heruntergeholt werden. Präparation des dorsalen Zwerchfellmuskelrandes. Der dorsale Zwerchfellmuskelrand ist oft primär wenig zu sehen, kann aber in den meisten Fällen doch präpariert werden. Nur bei einer tatsächlichen Aplasie des dorsalen Zwerchfellmuskelrandes ist die Verankerung des Patches dorsal perikostal nötig. Anfrischen der Defektränder. Das Anfrischen der De-
fektränder garantiert eine bessere narbige Verheilung. Ist ein primärer Verschluss möglich, kann der Defekt mit Einzelknopfnähten direkt verschlossen werden. Hierzu verwenden wir nicht-resorbierbares Material der Stärke 3-0 oder 4-0 (. Abb. 21.7). Primärer Defektverschluss. Eine unter Spannung geknüpfte
Primärnaht hat den Nachteil, dass der intrathorakale Raum massiv vergrößert wird, was sich im postoperativen Übersichtsbild gut demonstrieren lässt. Der intraabdominelle Raum wird durch diese Naht unter Spannung verkleinert, obwohl gerade hier mehr Platz in dem primär zu kleinen Abdomen zum Bauchdeckenverschluss ohne Druckerhö-
a . Abb. 21.8a, b. Ein straff zusammengezogenes Zwerchfell bzw. ein glatt eingenähter Defekt vergrößern den Thoaxraum und verkleinern das Abdomen (a). Beides ist kontraproduktiv, weil die kleine
. Abb. 21.7. Intraoperativ wird der Defekt dargestellt. Hier ist der dorsale Diaphragmarand gut sichtbar, was bei großen Defekten Schwierigkeiten bereiten kann. Die Lunge ist maximal gebläht, aber deutlich zu klein
hung nötig wäre. Es ist deshalb sinnvoll, sobald diese Primärnaht nicht völlig ohne Spannung gelingt, eher einen Patch einzusetzen (. Abb. 21.8). Durch die medizintechnischen Vorgaben ist das Verwenden von Kollagenen, Perikard oder Faszienpräparaten nicht mehr erlaubt, sofern diese Materialien nicht völlig denaturiert sind. Ein dünnes Dualmesh aus Goretex hat sich sehr bewährt. Um den intrathorakalen Raum zu verkleinern und den abdominellen Raum zu vergrößern, empfiehlt es sich den Patch in einer Kegelform einzunähen (Loff et al. 2005). Die Fixation im medialen Bereich nahe der Aorta und des Ösophagus ist oft schwierig, so dass es vorteilhaft ist, die Ränder des Patches überlappend mit Matratzennähten in den Defekt einzunähen (. Abb. 21.8).
b Lunge den Thorax nicht füllen kann. Dies wird durch den Konus-Patch reguliert (b)
21
224
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
21
a
b
. Abb. 21.9a, b. Goretex-Patch. a Der Patch ist kegelförmig mit Nähten geformt. b Er wird locker mit überlappenden Rändern eingenäht,
um die Rezidivgefahr bei dem nicht dehnbaren Goretex-Material zu reduzieren
Bei Bedarf ist der Nonrotation primär Rechnung zu tragen, in dem das oft abgeknickte Duodenum durch ein Kocher-Manöver mobilisiert und bei Bedarf zusätzlich intraluminal geschient wird. Aufgrund der häufigen postoperativen gastroösophagealen Refluxproblematiken ist diskutiert, ob gleich primär eine Fundoösophagopexie analog einer Thal-Operation (7 Kap. 24) geführt werden soll (Chen et al. 2007; Dahlheim et al. 2003; Loff et al. 2006; Moss et al. 2001). Die früher routinemäßig eingelegten Thoraxdrainage, die bereits einige Jahre ohne Sog praktiziert wurde, hat sich in der Zwischenzeit als überflüssig erwiesen.
Defekt selbst darstellbar ist. Der intrathorakale Überdruck, der bei der Thorakoskopie angelegt wird, hilft bei der Reposition von Darm. Bisher liegen keine größeren Serien für den minimalinvasiven Verschluss mit seinen Ergebnissen vor, wobei der Erfolg wesentlich von der Qualität der Hernie und der Auswahl der Patienten bestimmt wird. Larreyund Morgagni-Hernien können leichter als BochdalekHernien minimalinvasiv erfolgreich angegangen werden (Hirschl, persönliche Mitteilung). Aus der bisherigen Literatur ist hervorzuheben, dass ein minimalinvasiver Verschluss einer Zwerchfellhernie mit einer höheren Rezidivrate beim Neugeborenen verbunden ist (Arca et al. 2003).
Thorakaler Zugang Bei einer offenen Thorakotomie muss der Darm durch den Defekt zurückgeschoben werden, was durchaus in einfachen Fällen gelingt, um dann unter Sicht den Diaphragmadefekt operativ zu verschließen. Es ist dabei jedoch zu bedenken, dass ein Volumenproblem im Bauchraum keineswegs selten ist. Bei dem thorakalen Zugang können weder der Darm intraoperativ entleert werden, noch Begleitfehlbildungen wie z. B. duodenale Abknickungen in gleicher Sitzung angegangen werden. Auch ein Dehnen der Bauchdecken oder eine abdominelle Druckentlastung durch Verwendung von einem zusätzlichen Patch beim Bauchverschluss können beim thorakalen Zugang keine Option sein. > Bei kleinen und bei spät auftretenden Zwerchfellhernien ist der thorakale Zugang durchaus möglich, wohingegen der abdominelle Zugang in den einschlägigen Zentren bei großen Defekten klar bevorzugt wird.
Minimalinvasive thorakoskopische Korrektur Hierbei gelten im Prinzip die gleichen Vorbehalte wie bei der Thorakotomie zum Verschluss des Defektes. Die Darstellung des Defektes gelingt thorakoskopisch am ehesten, wenn der Darm möglichst wenig Luft gefüllt ist und der
21.8.2
Postoperative Komplikationen (. Tab. 21.7)
In der unmittelbaren postoperativen Nachsorge ist bei einer plötzlichen Verschlechterung unter maschineller Beatmung an einen Pneumothorax der kontralateralen Seite zu denken, der unmittelbar mit einer Bülaudrainage versorgt werden muss. Bei Defekten, die an den medialen Rand heranreichen, ist wie bei Herzoperationen mit einer Verletzung der Lymphwege zu rechnen, so dass wir in unserer eigenen Serie in 28% (Dahlmann et al. 2003; Loff et al. 2006) einen postoperativen Chylothorax registrierten. Meistenteils wird durch weiteren Volumen- und Eiweißersatz und Drainage der Defekt spontan verschlossen, führte aber auch in Einzelfällen durch langzeitigen massiven Chylothorax mit erheblichen Sekretionsmengen über ein kapilläres Leck-Syndrom zum Tode der Kinder. Der Hiatus ist bei großen Defekten ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, so dass bei gleichzeitigem Brachyösophagus ein gastroösophagealer Reflux in ca. 20% registriert wurde. Es ist Gegenstand momentaner Untersuchung, inwiefern eine bereits intraoperative, prophylaktische Thalähnliche Fundoösophagopexie hier Abhilfe schafft.
225 21.8 · Operativer Zwerchfellhernienverschluss
Ist bei dem abdominellen Zugang das Duodenum nicht primär revidiert und begradigt, ergeben sich häufig postoperative Transportstörungen durch das Duodenum aufgrund der Nonrotation oder im übrigen Subileus oder Ileus durch Verwachsungen. In dem Zeitraum bis zum Ende des 2. Lebensjahres, gehäuft in den Monaten zwischen 12 und 14 Monaten, können Hernienrezidive auftreten, indem der muskuläre Anteil nicht genügend mitgewachsen ist und der undehnbare Goretex-Patch ausreißt. Die Lokalisation hierfür ist am ehesten im Bereich des Mediastinums in der Region einer paraösopagealen Hernie zu suchen. Dies kann symptomatisch sein, aber auch nur radiologisch als zusätzliche Luftblase paraösophageal dargestellt werden. Als Korrektur empfehlen sich die Revision und ein Einbringen eines zusätzlichen Patches in dem neuerlichen Defektbereich, ohne dass der alte Patch entfernt werden muss. Grundsätzlich muss klar sein, dass je mehr Kinder mit einem Zwerchfelldefekt überleben, desto mehr Kinder mit entsprechender Morbidität werden zu erwarten sein. Die Nachuntersuchung ist im 1. Lebensjahr alle 3 Monate empfohlen und wird danach jährlich fortgeführt.
21.8.3
Ergebnisse
Über viele Jahrzehnte wurde die Mortalität der Zwerchfellhernien mit 50% beziffert. Mit zunehmender Expertise in der neonatologischen Intensivmedizin kamen langsam immer mehr Kinder zur Therapie, die vorher Intensivstationen nicht erreicht haben. Mit »gentle ventilation« und Operation erst in einer stabilisierten Phase und nicht zuletzt mit ECMO sind diese Ergebnisse in den letzten Jahren verbessert worden. Die Zahlen schwanken aufgrund der nicht vergleichbaren Patienten in den jeweiligen Serien. Wilson, einer der Experten in USA, berichtet von einer Gesamtüberlebenszeit von 69% (Chen et al. 2007). 2005 wurde eine Übersichtsserie von 50 Zentren in USA von Lally und Mitarbeitern publiziert, die von 83% Überleben bei 2204 zusammengesammelten Patienten berichtet (Cass 2005; Javid et al. 2004). Unsere eigenen Zahlen bei 244 Patienten bis zum Jahr 2004 als tertiäres Center für schwierige Patienten ergeben ein Überleben aller operierten Patienten mit 86,5% (Dahlheim et al. 2003; Loff et al. 2006). Vorausgegangen waren 16,4% ohne operative Korrektur verstorben; davon verstarben 14 Patienten vor ECMO, 9 während ECMO und 6 nach ECMO. Von allen Patienten, die zusätzlich mit ECMO therapiert worden waren, überlebten insgesamt 71%. Aufgrund unserer Patientenauswahl der zugewiesenen Patienten war der ECMO-Anteil mit 56% im Vergleich zu anderen Serien anfangs recht hoch, sinkt mittlerweile jedoch auf ca. 36%. Der heutige Anspruch bei den Ergebnissen für ein Kind mit einem Zwerchfelldefekt kann nicht nur am reinen
. Tab. 21.7. Postoperative Komplikationen nach Defektverschluss Komplikation
Häufigkeit
Chylothorax
28%
Gastroösophagealer Reflux
20%
Postoperative Darmpassagestörung
16%
Hernienrezidiv
14%
. Tab. 21.8. Spätergebnisse des operativen Zwerchfellverschlusses Häufigkeit Überlebensrate insgesamt
86%
Überlebensrate ECMO-Patienten
71%
Neurologisches Defizit
45%
Untergewicht <5er Perzentile
39%
Hodenerkrankung
26%
Bauchwandschwäche
16%
Pectus excavatum
33–50%
Skoliose
19%
Chronische Lungenerkrankung ohne ECMO
16%
Chronische Lungenerkrankung mit ECMO
54%
Überleben gemessen werden, sondern auch an der Lebensqualität der Überlebenden, weshalb in Zukunft ECMO eher als bisher indiziert sein könnte.
Spätergebnisse Die Spätergebnisse (. Tab. 21.8) werden nicht zuletzt wesentlich beeinflusst durch die zusätzliche Morbidität, die diese Patienten kongenital mitbringen (Chen et al. 2007; Cortes et al. 2004; Heling et al. 2003; Loff et al. 2006; Moss et al. 2001; Stolar et al. 1990). Das Lungenvolumen bleibt ein Leben lang auf der ipsilateralen Seite reduziert, da ein Zuwachs von Alveolaren nicht stattfindet. Spirometrisch fallen evtl. obstruktive und restriktive Funktionsbeeinträchtigungen auf (Stefanutti et al. 2004). Die pulmonale Hypertension verschwindet nur langsam. Viele Patienten leiden zusätzlich an einer Skoliose und entwickeln eine Trichterbrust. Bei Patienten mit einem großen Defekt und Patch muss verstärkt auf eine sekundäre Symptomatik des gastroösophagealen Refluxes geachtet werden. Mit einem neurologischen Entwicklungsdefizit muss in 45% der Fälle gerechnet werden. Das Gewicht der Kinder bleibt unter der 5. Perzentile in 39% der Fälle (Dahlheim et al. 2003). In der Literatur wird eine Entwicklung eines Pectus excavatum von 33% registriert (Muratore et al. 2001). In
21
226
Kapitel 21 · Zwerchfellhernie
26% der Fälle war ein Hodenhochstand beteiligt, und auch in 22% der Fälle zeigte sich ein gastroösophagealer Reflux.
21
Pulmonale Morbidität Neben der beatmungsassoziierten Traumatisierung und sekundärer Inflammation ist vor allem die pulmonale Hypertension (PHT) für die pulmonale Morbidität verantwortlich (Greenough u. Khetriwal 2005; Greenspan u. Shaffer 2006; Muratore et al. 2001). Multiple Faktoren wie der reduzierte Querschnitt der Pulmonalarterien in der hypoplastischen Lunge, die Mediahyperplasie, eine fehlende Vasodilatation mittels Sauerstoff und eine verstärkte Endothelin-A-Rezeptor-Expression wurden ursächlich identifiziert. Wir unterscheiden eine akute und eine chronische pulmonale Hypertension. Die akute PHT in der Initialphase wird durch Hypoxie und Azidose verstärkt. Durch optimierte Erstversorgung und Beatmungsstrategien wie oben beschrieben sollten diese Faktoren eliminiert werden (Baquero et al. 2006; Dahlheim et al. 2003; Dakshinamurti 2005; Greenough u. Khetriwal 2005; Karatza et al. 2004; Keller et al. 2004; McNamara et al. 2006). Eine medikamentöse Beeinflussung ist möglich. Neben der erwähnten Therapie mit inhalativem Stickstoffmonoxid können noch Phosphodiesterasehemmer wie Milrinon und Sildenafil eingesetzt werden. Milrinon hemmt selektiv die Phosphodiesterase Typ 3 und kann somit frühe und anhaltende Verbesserung der Oxygenierung erzielen, ohne die Hämodynamik negativ zu beeinträchtigen. Es wird kontinuierlich intravenös in einer Dosierung kontinuierlich 0,1–0,2 μg/kg KG/min verabreicht, prospektiv kontrollierte Studien über Akut- und Langzeiteffekte fehlen jedoch bisher. Sildenafil (Viagra) wird oral verabreicht und hemmt die Phosphodiesterase vom Typ 5 (PDE5) und reduziert damit selektiv den pulmonal vaskulären Widerstand, weil die PDE5 als Schlüsselenzym der NO-vermittelten pulmonalen Vasodilatation fungiert. Zumindest im neonatalen Tiermodell als auch bei Erwachsenen mit primärer PHT wurden hierbei Erfolge aufgezeigt. Sildenafil wurde in einer Pilotstudie auch schon zur Behandlung der chronischen pulmonalen Hypertension eingesetzt. Chronische HPT bedeutet, dass ein Patient mit Zwerchfellhernie nach Ablauf des ersten Lebensmonats noch Sauerstoff benötigt. Das sind nach unserer Erfahrung noch 16% der Kinder ohne ECMO und 54% der Kinder mit ECMO-Therapie. Immerhin reduziert sich der Sauerstoffbedarf bei Entlassung auf 12% bei Patienten ohne ECMO und auf 25% bei den ECMO-Patienten. Wenn keine Tendenz zur Entwöhnung zu erkennen ist, empfehlen wir spätestens nach 6 Lebensmonaten mittels standardisierter Testung im Herzkatheterlabor zu klären, ob die medikamentöse Therapie noch zu optimieren ist. Akute Rebound-Situationen werden vor allem durch Infekte getriggert. Vorbeugend sollten daher vorrangig die
Patienten mit Sauerstoffbedarf nach dem ersten Lebensmonat möglichst vor Infekten geschützt werden. Wir sehen bei diesen Kindern z. B. eine Indikation zur passiven Immunisierung gegen den RS-Virus mit Palivizum ab. Wenn ein ausgeprägter gastroösophagealer Reflux für Aspirationsereignisse und Infekt verantwortlich ist, sollte neben der konservativen Therapie auch eine frühzeitige Antirefluxplastik (7 Kap. 24) noch im ersten Lebensjahr angegangen werden. Inwieweit und bis zu welchem Lebensjahr vor allem auf der hypoplastischen Seite eine Alveolarisierung noch erfolgen kann, müssen weitere Langzeitstudien untersuchen. Wir beobachten im eigenen Krankengut zwar eine langsame Besserung der pulmonalen Hypertension in fast allen Fällen, eine Transparenzminderung der hypoplastischen Lunge im Röntgen-Thoraxbild bleibt jedoch häufiger noch bei 6-Jährigen erkennbar. Bei ca. jedem dritten Patienten, der mit ECMO behandelt wurde, sehen wir im Alter von 6 Jahren eine Einschränkung in der Lungenfunktion, vor allem in der forcierten Ausatmung (FEV1). Wir nehmen an, dass sich die erweiterten und in ihrer Zahl reduzierten Alveolen bei diesen Kindern langsamer entleeren (Dahlheim et al. 2003). Eine weitere Folge der Lungenhypoplasie kann der erhöhte Energieverbrauch durch die vermehrte Atemarbeit vor allem in den ersten 2 Lebensjahren sein. So lag das durchschnittliche Gewicht der mit ECMO therapierten Kinder noch mit 2 Jahren im Mittel nur knapp oberhalb der 10. Perzentile.
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227 21.8 · Operativer Zwerchfellhernienverschluss
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21
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22
22 Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand C. Petersen
22.1
Trichterbrust – 229
22.3
Weitere Toraxdeformitäten
22.1.1 22.1.2 22.1.3
Klinisches Bild und Indikation – 229 Operative Behandlung – 230 Alternative Verfahren – 234
22.3.1 22.3.2 22.3.3
Poland-Syndrom – 235 Jeune-Syndrom – 235 Sternumdefekte – 235
22.2
Kielbrust
22.4
Tumoren der Thoraxwand
– 234
– 235
– 236
Literatur – 237
> Mit der Einführung und raschen Verbreitung einer neuen Operationstechnik rückt die Trichterbrust, eine häufige Skelettdeformität des heranwachsenden Menschen, in den Bereich öffentlicher Aufmerksamkeit. Dieses Phänomen ist zum einen den Mechanismen unserer modernen Informationsgesellschaft geschuldet und trifft zum anderen den Zeitgeist, der das Streben nach vermeintlich körperlicher Perfektion diktiert. Daraus resultiert im Fall der Trichterbrustbehandlung ein Wandel des traditionellen Arzt-Patienten-Verhältnisses. Dieser wird im Folgenden ebenso beleuchtet, wie die klinischen und chirurgischen Aspekte diverser anderer Thoraxwanddeformitäten. Tumoren der Brustwand sind bei Kindern dagegen selten und werden darum an dieser Stelle auch nur unter speziell chirurgischen Aspekten gestreift. Deren Behandlung richtet sich ausschließlich nach den Vorgaben der kinderonkologischen Behandlungsprotokolle, die in den entsprechenden Kapiteln beschrieben werden.
22.1
Trichterbrust
22.1.1
Klinisches Bild und Indikation
kungen gibt (Skoliose, Marfan-Syndrom u. a.). In der Literatur wird die Inzidenz mit ca. 4:1000 angegeben, wobei die Informationen zur Ätiologie nur spekulativ sind. Entwicklung. Der Zeitpunkt, zu dem eine Trichterbrust entsteht, ist sehr variabel; viele Eltern berichten, dass sie schon während des ersten Lebensjahres ihres Kindes ein leichtes Einsinken der vorderen Thoraxwand beobachtet haben. Diese Veränderung kann in den folgenden Jahren kontinuierlich fortschreiten oder zu einem beliebigen Zeitpunkt sistieren. Im Gegensatz dazu gibt es Patienten mit ausgeprägter Trichterbrust, deren Thorax bis zum Beginn der Pubertät nahezu normal konfiguriert gewesen ist. Deren Eltern schildern, dass sie irgendwann lediglich eine leichte Einziehung der Sternumspitze beobachtet hätten, die jahrelang unverändert geblieben sei und sich erst mit Einsetzen des Wachstums kontinuierlich zur Trichterbrust ausgebildet habe. Die Frage nach einer individuellen Prognose lässt sich zu keinem Zeitpunkt beantworten, da die Progredienz der Deformierung keinem nachvollziehbaren Muster folgt. Eine spontane Rückbildung ist allerdings nicht zu erwarten. Kardiopulmonale Probleme? Die Annahme, dass vor allem
Epidemiologie. Die Trichterbrust tritt bei Jungen etwa drei-
mal so oft auf wie bei Mädchen und ist die häufigste Deformität des Thorax. Offensichtlich besteht für das Pectus excavatum eine erbliche Disposition, da es sowohl familiäre Häufungen als auch Assoziationen mit anderen Erkran-
ausgeprägte Formen der Trichterbrust auch kardiopulmonale Auswirkungen haben, die sich nach einer Korrektur verbessern, konnte bis heute nicht belegt werden und ist weiterhin Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. In der Regel findet man nur bei wenigen Betroffenen eine Vermin-
230
22
Kapitel 22 · Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand
derung des Lungenvolumens und/oder der Vitalkapazität. Sollte die Lungenfunktion allerdings tatsächlich pathologische Ergebnisse zeigen, dann ist es immer noch fraglich, ob hier ein ursächlicher Zusammenhang mit der Trichterbrust besteht. Zumindest konnte bisher nicht schlüssig gezeigt werden, dass diese pulmonalen Veränderungen durch eine Operation der Trichterbrust verbessert werden. Allerdings wurden diese Studien bisher nur bei Patienten durchgeführt, deren Trichterbrust offen korrigiert wurde. Man muss darum diskutieren, ob der positive Effekt einer verbesserten Thoraxkonfiguration durch eine postoperative Versteifung der Thoraxvorderwand wieder aufgehoben wird. Aussagekräftige Studien bei Patienten, deren Trichterbrust minimalinvasiv korrigiert wurde, stehen dagegen noch aus. Kardiovaskuläre Probleme? Auch zur Frage, ob die Trich-
terbrust mit kardiovaskulären Begleiterscheinungen assoziiert ist, gibt es keine eindeutigen Aussagen. Postoperative Untersuchungen konnten zeigen, dass verminderte Schlagvolumina des Herzens sich nach der Korrektur verbesserten und auch ein bis dahin klinisch nicht relevanter Mitralklappenprolaps war bei einigen Patienten mit stark ausgeprägter Trichterbrust nach der Operation nicht mehr nachweisbar. Aber auch hier sind die wenigen Studien nicht aussagekräftig, da positive Trainingseffekte auf die Herzleistung nicht ausreichend berücksichtigt wurden. > Legt man ausschließlich pathologische Funktionswerte von Herz und Lunge als harte Indikatoren zugrunde, so muss man akzeptieren, dass nur bei wenigen Menschen mit Trichterbrust eine medizinische Indikation zur operativen Korrektur besteht.
Operationsindikation. Somit bleibt die Frage offen, welche
Patienten eine Korrektur der Trichterbrust benötigen und worauf die Indikation sich letztendlich stützen darf. Dabei gilt es zu beachten, dass der Wunsch nach einer Operation immer öfter von den Betroffenen selbst ausgeht. Früher waren es meistens die behandelnden Kinderärzte, die in Übereinstimmung mit den Eltern eine vor allem medizinische Notwendigkeit zur Korrektur sahen. Heute sind es meist die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich bereits im Internet über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten informiert haben. Ihre individuelle Vorgeschichte und Selbstwahrnehmung sind oftmals sehr ähnlich. Denn viele Betroffene entwickeln mit Einsetzen der Pubertät eine neue und intensivere Körperwahrnehmung und empfinden die bis dahin kaum beachtete Trichterbrust als einen körperlichen Makel. Die negativen Auswirkungen auf ihr Selbstbewusstsein können so stark sein, dass diese Jugendlichen alle Situationen meiden, in denen sie ihren Oberkörper zeigen müssen. Dass bedeutet, dass sie sportliche Aktivitäten reduzieren, auf keinen Fall öffentlich Baden oder Schwimmen gehen, soziale Kontakte auf Situationen reduzieren, in denen sie kaschierende Kleidung
tragen können oder sich schlimmstenfalls sozial weitgehend isolieren. Hier kann die Grenze zur psychopathologischen Auffälligkeit bereits überschritten sein und manche Patienten bedürfen zunächst einer verhaltenstherapeutischen Betreuung. Auf der anderen Seite leben wir in einer Zeit, in der körperliche Perfektion eine gesellschaftlich diktierte Zielvorstellung geworden ist. Das führt dazu, dass manche Menschen sogar nur gering ausgeprägte Formen der Trichterbrust unbedingt operieren lassen möchten. Natürlich sind die Übergänge zwischen diesen beiden Gruppen fließend und mit medizinischen oder objektiven Kriterien nicht sicher beurteilbar. Darum ist die individuelle Motivation bei jedem Patienten mit Trichterbrust extrem sorgfältig zu prüfen. In speziellen Fällen kann auch das Einholen einer Zweitmeinung sowohl für den Betroffenen als auch für den Operateur hilfreich sein. Denn es ist offensichtlich, dass sich zumindest bei der Behandlung der Trichterbrust die Art und Weise des Arzt-Patienten-Kontakts bereits gewandelt hat. Dieser Paradigmenwechsel hat mit der Einführung der minimalinvasiven Korrektur der Trichterbrust und deren schnelle Verbreitung in der Laienpresse und im Internet eingesetzt. Und wenn die Indikation zu einer Operation nicht mehr primär von den behandelnden Ärzten, sondern vom Betroffenen selber ausgeht, dann ist vom Chirurgen eine besondere Aufmerksamkeit gefordert. Hier gilt es zu beachten, dass der geplante Eingriff nicht ausschließlich der Verschönerung des Körpers dient, sondern dass die anatomische Korrektur der Thoraxkonfiguration auch dazu dient, die psychosoziale Selbstwahrnehmung zu verbessern und auf diese Weise künftige Fehlentwicklungen zu verhindern. > Die Indikation zur operativen Korrektur der Trichterbrust wird nahezu ausschließlich durch den Betroffenen selber gestellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch schwerwiegende Entscheidungen, die in dieser Lebensphase der Neuorientierung getroffen werden, nicht immer konstant sind. Darum sollte die Motivation für diesen Schritt durch wiederholte Arzt-Patienten-Gespräche geprüft und die Entscheidung somit gefestigt werden.
22.1.2
Operative Behandlung
Die Geschichte der operativen Behandlung der Trichterbrust reicht weit zurück; in Deutschland hat Sauerbruch bereits 1913 eine der ersten Methoden vorgestellt. In den folgenden Jahrzehnten wurden zahlreiche Verfahren erprobt und erst in den 50er-Jahren setzte sich eine Technik durch, die bis heute mit den Namen Ravitch und Rehbein verbunden ist. Beide entwickelten eigene Operationsmethoden, die aber auf einem vergleichbaren Ansatz beruhen. Zunächst werden das Sternum und die kartilaginären Anteile der Rippen freigelegt. Die Rippenknorpel werden ent-
231 22.1 · Trichterbrust
. Abb. 22.1. Schematische Darstellung des offenen Verfahrens zur Korrektur der Trichterbrust
sprechend gekürzt und die Trichterbrust durch Anheben des Sternums korrigiert. Das Operationsergebnis fixieren unterschiedliche Metallimplantate, wobei viele Chirurgen eigene Systeme entwickelt haben (. Abb. 22.1).
Offene Operation Die offenen Verfahren zur Korrektur der Trichterbrust können in jedem Alter durchgeführt werden und sind auch bei erwachsenen Patienten etabliert. Die Komplikationen beschränken sich auf lokale Wundinfektionen und Pneumothoraces. Die Rezidivrate liegt zwischen 5% und 15%. Ein wesentlicher Vorteil dieser Technik besteht darin, dass zusätzliche Deformationen der vorderen Thoraxwand in der selben Sitzung korrigiert werden können; das sind vor allem asymmetrisch ausgebildete Trichter mit Rotation des Sternums, zusätzliche Knickbildungen im Corpus sterni und auffällige Knickbildungen entlang der Rippen in der unteren Thoraxapertur. Die Nachteile aller offenen Verfahren sind die Narben auf der vorderen Thoraxseite, das operative Trauma und die längere postoperative Nachbehandlung.
Minimalinvasive Operation Um die Nachteile des offenen Vorgehens zu vermeiden, hat Nuss im Jahr 1998 erstmals ein Verfahren zur minimalinvasiven Korrektur der Trichterbrust vorgestellt. Die Erstbeschreibung dieser von ihm selbst entwickelten Operationsmethode war bemerkenswert, da sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits einen Beobachtungszeitraum von
a
10 Jahren einschloss. Er konnte zeigen, dass seine Technik bei Kindern erfolgreich ist und dass Rezidive der Trichterbrust nicht höher sind als beim offenen Vorgehen. Das Prinzip dieser neuen Technik (MIRPE – »minimal invasive repair of pectus excavatum«) basiert auf der Beobachtung, dass der kindliche Thorax sehr elastisch und damit noch formbar ist. Als Voruntersuchungen forderte Nuss eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs in 2 Ebenen, eine Untersuchung der Lungenfunktion, EKG und Echokardiographie und ein CT des Thorax (. Abb. 22.2). Die Indikation zur Operation hat er eng mit dem Haller-Index (Quotient aus transversalem und anterior-posteriorem Thoraxdurchmesser) verbunden, der in seiner ersten Serie größer als 4 sein sollte. Operationsprinzip. Das Prinzip der MIRPE-Technik ist in . Abb. 22.3 dargestellt. Unter ständiger thorakoskopischer Kontrolle wird ein speziell entwickeltes Präparierinstrument von der Seite in den Thorax eingeführt, unter dem Sternum auf die Gegenseite vorgeschoben und dort wieder herausgeleitet. Dieses Instrument ist so geformt, dass es während des Vorschiebens mit seiner konvexen Seite das Sternum hebt und der Trichter dabei verstreicht. Anschließend wird das Präparierinstrument durch einen individuell vorgebogenen Bügel ersetzt, der das Brustbein in der korrigierten Position fixiert. Bei älteren Patienten können die Rückstellkräfte der Thoraxwand so stark sein, dass das Repositionsergebnis mit einem einzelnen Bügel nicht gehalten werden kann. Dann wird die Platzierung einer zweiten Stange notwendig, die diese Kräfte nicht nur gemeinsam aufnehmen, sondern sich auch gegenseitig stabilisieren können. Die Fixierung an der seitlichen Thoraxwand erfolgt in jedem Fall durch nicht-resorbierbare Nähte. Auf Thoraxdrainagen kann in der Regel verzichtet werden; auch eine Nachbeatmung des Patienten ist nicht notwendig. Zur Schmerzbehandlung stehen optional die Einlage eines thorakalen Periduralkatheters oder die patientenkontrollierte Analgesie zur Verfügung. Je nach Alter des Patienten wird der implantierte Bügel nach 2–3 Jahren wieder entfernt. Dieser Eingriff erfolgt ebenfalls in Allgemeinanästhesie und bedarf nur eines kurzen Krankenhausaufenthaltes.
b
. Abb. 22.2a, b. Thorax-CT bei symmetrischer (a) und asymmetrischer Trichterbrust (b)
22
232
22
Kapitel 22 · Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand
. Abb. 22.3. Schematische Darstellung des minimalinvasiven Verfahrens zur Korrektur der Trichterbrust: 1 = Anmodellieren der Schablone, 2 = Formen des Implantats, 3 = Markierung der Orientierungspunkte auf der Vorderseite des Thorax, 4 = Einführen des Präparierinstruments unter thorakoskopischer Kontrolle (nicht dargestellt), 5 = Vorschieben der Präparierinstruments und Reposition des Sternums, 6 und 7 = Entfernen des Präparierinstruments und Einführen des vorgebogenen Bügels, 8 = Umwenden des Bügels
Komplikationen. Die kritische Schwachstelle der MIRPE ist die Fixierung des Bügels an der seitlichen Thoraxwand. Erst nach etwa 3 Monaten ist das Fremdmaterial von Bindewebe so fest eingescheidet, dass eine sekundäre Dislokation unwahrscheinlich ist. Von diesem Zeitpunkt kann der Patient wieder seine volle körperliche Aktivität aufnehmen. Als weitere Komplikationen der MIRPE sind bisher Verletzungen von Lunge und Herzen sowie Sero- und Pneumothoraces berichtet worden. In der Literatur wurden schwerwiegende Zwischenfälle nur in der Anfangsphase von größeren Serien berichtet und insgesamt hat sich die Sicherheit für die Patienten seit Einführung dieser Technik kontinuierlich verbessert. Nach Abschluss der Wundheilung sind postoperative Routineuntersuchungen in der Regel bis zur Metallentfernung nicht notwendig. Mögliche Spätdislokationen werden durch aktuelle Röntgenaufnahmen des Thorax in 2 Ebenen beurteilt, die mit unmittelbar postoperativ erstellten Aufnahmen verglichen werden (. Abb. 22.4). Eine relevante Komplikation, die nicht nur unmittelbar postoperativ, sondern auch während der ganzen Verweil-
dauer des Implantats auftreten kann, ist eine wahrscheinlich hämatogen gestreute Infektion, die sich entlang des Implantats manifestiert. Diese äußert sich durch Schmerzen, Atemnot und allgemeine Infektzeichen. In den meisten Fällen sind Antibiotika erfolgreich, wobei die Medikamente bis zur Normalisierung der Infektparameter zunächst intravenös und danach noch für mehrere Wochen oral gegeben werden sollten. Eine Explantation des Bügels ist aus diesem Grund in der Regel nicht notwendig. Die Frage, ob eine erneute Infektion durch eine Dauerprophylaxe vermieden wird, ist bisher nicht beantwortet und eine langfristige Gabe von Antibiotika ist nach eigenen Erfahrungen nicht notwendig > Nachdem die MIRPE-Technik weltweit bekannt wurde, hat sich diese Technik sehr schnell zum neuen Goldstandard für die Behandlung der Trichterbrust etabliert.
Wertung offene versus minimalinvasive Operation Die anfängliche Zurückhaltung mancher Chirurgen wurde vor allem durch den ausdrücklichen Wunsch der Patienten
233 22.1 · Trichterbrust
a
b
. Abb. 22.4a, b. Thoraxaufnahme nach MIRPE-Operation in 2 Ebenen
nach diesem neuen Verfahren kompensiert. Seitdem begleiteten internationale Studien diese Entwicklung und sie bestätigten die seit Beginn vorherrschende Euphorie. Die Nachbeobachtungszeiten sind mittlerweile lang genug, um auch die Rezidivrate besser einschätzen zu können. Sie scheint sich nicht von derjenigen bei den offenen Verfahren zu unterscheiden. Erste Nachuntersuchungen bei älteren Patienten, deren Bügel nach 3 Jahren Verweildauer bereits wieder entfernt worden war, zeigen auch Jahre nach der Operation ein hohes Maß an Zufriedenheit, das in diversen Studien zwischen 85% und 95% liegt (. Abb. 22.5). Trotz der ungebrochenen Begeisterung für die MIRPE bleiben einige Aspekte immer noch strittig: ein bisher un-
a
aufgelöster Widerspruch ist die Diskrepanz zwischen dem chirurgisch optimalen chronologischen Alter der Patienten und dem realen Lebensalter, an dem der Operationswunsch entsteht. Wenn man den optimalen Operationszeitpunkt nach chirurgischen Kriterien an der Flexibilität des Thorax orientiert, so empfiehlt es sich, den Eingriff zwischen dem zehnten und vierzehnten Lebensjahr durchzuführen. In diesem Alter sind die dynamischen Kräfte noch gering und Dislokationen sowie Blutungs- und Infektionskomplikationen sind relativ selten. Mit zunehmendem Alter nehmen diese ebenso wie die postoperativen Schmerzen ständig zu. Dem steht nun der patienteninitiierte Operationswunsch entgegen, der erst während bzw. nach der Pubertät entsteht
b
. Abb. 22.5a, b. Patient 16 Jahre nach Minimalinvasive Korrektur einer asymmetrischen Trichterbrust. a Präoperativer Befund, b 16 Jahre postoperativ
22
234
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Kapitel 22 · Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand
und damit nicht in das oben genannte Zeitfenster fällt, das nach medizinischen Kriterien zu empfehlen wäre. Dieses Dilemma lässt sich nach dem heutigen Stand der Dinge nicht auflösen. Ein weiteres Problem ist, dass bei asymmetrischen Formen der Trichterbrust bzw. bei deutlich vorstehenden Rippen in der unteren Thoraxapertur das Korrekturergebnis zumindest für den Chirurgen unbefriedigend ist. Denn hier sind die Korrekturmöglichkeiten der geschlossen durchgeführten MIRPE begrenzt. Diese Deformitäten würden sich mit den offenen Operationsverfahren besser korrigieren lassen. Und obwohl die Patienten über diese Tatsache ausführlich aufgeklärt werden, wünschen sie kein anderes Verfahren, als die MIRPE. Allerdings sollte hier betont werden, dass die Patienten auch langfristig mit einem chirurgisch suboptimalen Gesamtergebnis zufrieden sind, da für sie die Anhebung des Trichters von elementarer Bedeutung ist, während die persistierende Asymmetrie nicht als störend empfunden wird. Auch die Warnung, dass im Falle von Wiederbelebungsmaßnahmen der implantierte Bügel eine Herzdruckmassage erheblich behindern bis unmöglich machen kann, bewirkt bei den meisten Patienten keinen Sinneswandel. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Behandlung der Trichterbrust ein aktuelles Beispiel für den durchgreifenden Wandel im Medizinverständnis ist. Der Ansatz, schonende und in diesem Fall auch kosmetisch und funktionell vorteilhaftere Therapieverfahren einzuführen, wird von den Patienten nicht nur unterstützt, sondern zunehmend auch eingefordert. Dabei spielen die Medien und hier besonders das Internet eine wesentliche Rolle. Allerdings birgt dieses Phänomen eines unkritischen Informationsangebots auch die Risiken der Fehlinformation. Hier entsteht für den behandelnden Arzt eine neue Aufgabe. Er muss die Informationsflut für den Patienten sortieren und mit dem Patienten gemeinsam eine Entscheidung erarbeiten, die beiden Seiten gerecht wird. Zusätzlich muss er aber auch den Patientenauftrag annehmen, bestehende Techniken kritisch zu bewerten, die Operationsverfahren technisch optimal umzusetzen und, wenn nötig, an deren Verbesserung zu arbeiten.
22.1.3
Alternative Verfahren
Bereits vor dem Siegeszug der MIRPE gab es alternative Behandlungsformen der Trichterbrust, die sich aber gegen die offenen Operationsverfahren nicht durchgesetzt haben. Krankengymnastische Übungen werden auch heute noch empfohlen und bewirken eine bessere Körperspannung und damit eine aufrechtere Körperhaltung. Dadurch werden die typischen Haltungsanomalien der Trichterbrustpatienten (nach vorne hängende Schulter und ein gebeugter Oberkörper) günstig beeinflusst und das Erscheinungsbild des Betroffenen verbessert. Und obwohl diese Maßnahmen
auf die Tiefe des Trichters weder eine therapeutische noch eine prophylaktische Wirkung haben, sind solche Übungen jedem Trichterbrustpatienten zu empfehlen; unabhängig davon, ob sie sich einer chirurgischen Behandlung unterziehen möchten oder nicht. Die Möglichkeit, den Trichter auf der Thoraxvorderwand mit Silikon aufzufüllen, wird von Seiten der rekonstruktiven Chirurgie schon sehr lange angeboten. Die Ergebnisse dieser auch minimalinvasiv durchzuführenden Verfahren lassen sich mangels aussagekräftiger Studien nicht objektivieren und werden darum an dieser Stelle auch nicht kommentiert. Das gleiche gilt für den zumindest in Deutschland oft diskutierten Einsatz einer Saugglocke, die mittels Unterdruck die Deformierung des Thorax ausgleichen soll. Unmittelbare Effekte dieser Maßnahme lassen sich zweifelsfrei beobachten, wobei die tatsächliche und vor allem nachhaltige Korrektur der knöchernen Deformität bisher noch nicht gezeigt werden konnte.
22.2
Kielbrust
Pectus carinatum oder auch Hühner- bzw. Kielbrust ist das geometrische Gegenteil der Trichterbrust. Diese Deformität ist zwar viel seltener, tritt aber genau wie Pectus excavatum bei Jungen häufiger auf als bei Mädchen. Außerdem unterscheidet sich die Kielbrust von der Trichterbrust auch dadurch, dass sie meistens erst mit Einsetzen der Pubertät sichtbar wird. Aber auch ihre Ätiologie ist unbekannt und prophylaktische Maßnahmen darum nicht möglich. Pathogenese. Der Pathomechanismus, der zur Deformierung der Thoraxvorderwand führt, ist bei beiden Formen prinzipiell ähnlich, verläuft aber bei der Kielbrust invers zur Trichterbrust. Das Wachstum entlang der sternokostalen Knorpelverbindung verläuft inadäquat und führt im Gegensatz zum Pectus excavatum zu einer nach außen gerichteten Verschiebung des Sternums. Wenn das überschießende Wachstum nicht seitengleich erfolgt, rotiert das Brustbein in seiner Längsachse und die Deformität erscheint asymmetrisch. Derselbe Mechanismus kann auch eine Rotation des Corpus sterni in der Querachse bedingen, was dann zu einer stärkeren Protrusion der Sternumspitze führt. Begleitprobleme. Mechanische Beeinträchtigungen der kardiopulmonalen Funktion werden bei der Kielbrust nicht beschrieben und darum für eine Indikation zur Korrektur auch nicht diskutiert. Allerdings werden bei diesen Patienten häufiger kongenitale Herzvitien beobachtet. Therapie. Die Therapie der Kielbrust indiziert sich ausschließlich nach kosmetischen Kriterien und sollte erst nach Abschluss des Wachstumsschubs erfolgen. Es darf dabei nicht unterschätzt werden, dass genau wie bei Patienten
235 22.3 · Weitere Toraxdeformitäten
mit Pectus excavatum auch die Kielbrust einen erheblichen und nachteiligen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung des Betroffenen haben kann, sodass die formal kosmetisch indizierte Operation im Leben des Patienten meistens einen wesentlich höheren Stellenwert hat. Die Operationsverfahren sind im Gegensatz zur Trichterbrust nicht so variabel. Minimalinvasive Techniken werden bereits beschrieben, die auf dem von Nuss entwickelten Vorgehen – Reposition des Sternums bei erhaltener knöcherner Kontinuität – beruhen und dieses Verwahren quasi invers anwenden. Allerdings gibt es dazu bisher weder ein geeignetes Instrumentarium, noch aussagekräftige Berichte oder Studien, so dass offene Verfahren der aktuelle Standard sind. Dabei ist das Prinzip der Korrektur mit dem der offenen Operation einer Trichterbrust vergleichbar. Operationstechnik. Nachdem die Muskeln der vorderen
Thoraxwand von den Rippen abgelöst worden sind, werden diese vom Sternum getrennt und je nach Befund so gekürzt, dass sich das Sternum in der korrekten Position einfügen lässt. Dabei müssen bei der Kielbrust allerdings Rotationsfehler und Knickbildungen des Brustbeins häufiger korrigiert werden, so dass eine zusätzliche quere Sternotomie notwendig werden kann. Die Operation richtet sich im speziellen Fall nach Art und Ausmaß der Deformität und lässt dem Operateur einen entsprechenden Spielraum. Nach Kürzung der sternokostalen Verbindungen und der Rekonfiguration des Sternums wird das Ergebnis mit Metallimplantaten fixiert. Der postoperative Verlauf erfolgt dann analog zum Vorgehen bei der Trichterbrust. Die intra- und postoperativen Komplikationen sind ebenfalls mit denen der Trichterbrustkorrektur vergleichbar, allerdings sind Rezidive seltener und scheinen nur dann aufzutreten, wenn die Deformität falsch oder zu früh operiert worden ist. Konservative Maßnahmen. Auch konservative Verfahren erfahren eine Renaissance. Sie basieren auf dem Prinzip der externen Kompression und verwenden individuell angefertigte orthopädische Hilfsmittel (Brace-Behandlung).
22.3
Weitere Toraxdeformitäten
22.3.1
Poland-Syndrom
Diese seltene klinische Entität wird primär durch eine Hypo- oder Aplasie von Anteilen des Musculus pectoralis major definiert und manifestiert sich gemeinsam mit einer oder mehreren anatomischen Veränderungen des ipsilateralen Arms, der Hand oder der Thoraxwand. Wenn beim Poland-Syndrom eine oder mehrere Rippen fehlen, beginnt die numerische Aplasie immer an der zweiten Rippe und führt dazu, dass die betroffene Seite des Thorax mehr oder weniger stark eingesunken ist. Die Funktion der Lungen ist
meistens nicht betroffen, so dass die Indikation zur operativen Korrektur wie bei den meisten Brustwanddeformitäten überwiegend aus ästhetischen Gründen gestellt wird. Operative Korrektur. Die stets offen durchzuführende Korrektur sollte nur in solchen Zentren vorgenommen werden, die über entsprechende Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen. Nicht angelegte Rippen können durch autologen Knochen ersetzt und partiell mit dem Musculus latissimus dorsi plastisch gedeckt werden. Die Korrektur von kontralateralen Deformitäten des Thorax und Rotationsfehlstellungen des Sternums muss sich dabei an der jeweiligen Konstellation orientieren und bedarf einer individuellen Operationsplanung. Der richtige Zeitpunkt für diese komplexe Korrektur ist erst nach Abschluss des Wachstums gegeben. Außerdem sollten sich Patient und Operateur vorher darüber verständigen, dass gerade ausgeprägte Deformitäten nur partiell korrigiert werden können. Die Erwartungshaltungen beider beteiligter Parteien müssen vorher gut aufeinander abgestimmt sein, um mögliche Enttäuschungen über das definitive Operationsergebnis zu vermeiden.
22.3.2
Jeune-Syndrom
Die wesentliche Fehlbildung dieses seltenen Syndroms besteht neben gelegentlicher Nierendysplasie, Retinadegeneration, Malabsorption, Leberdysplasie, Herzfehlern und Zwergwuchs in einem zu kleinen und steifen knöchernen Thorax schon intrauterin durch mangelndes Wachstum aufgrund einer Chondrodysplasie. Sekundär besteht bereits früh eine Hypoplasie beider Lungen, so dass die Mehrzahl der betroffenen Kinder in der frühen Säuglingszeit verstirbt. Operative Korrektur. Bei länger lebenden Kindern mit weniger ausgeprägter Form geht es darum, chirurgisch eine Erweiterung des knöchernen Thorax zu bewerkstelligen. Die wurde bisher vor allem durch wiederholte Sternotomien oder ventrale Durchtrennung der Rippenansätze versucht. Neuerdings besteht die Möglichkeit, durch verstellbare, an den Rippen angebrachte Implantate (»vertical expandable prosthetic titanium rib«, VEPTR) allmählich den knöchernen Thorax aufzudehnen, um mehr Platz für die wachsende Lunge zu schaffen. Es bleibt zu hoffen, dass hiermit in Zukunft ein längeres Überleben dieser Kinder erreicht werden kann.
22.3.3
Sternumdefekte
Im Vergleich zu den anderen thorakalen Deformitäten sind Defekte des Sternums eher selten. Die ausgeprägteste Form dieses Mittelliniendefekts ist die sog. Cantrell-Penta-
22
236
Kapitel 22 · Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand
logie, bei der die Sternumspalte eine Ektopie des Herzens
22
bedingt. Außerdem bestehen Defekte des Perikards, des vorderen Zwerchfells und der Bauchwand sowie diverse kongenitale Herzfehlern. Diese schwere Missbildung ist allerdings die Ausnahme, bei der mehrere klinische Manifestationen der Sternumspalte gleichzeitig auftreten. Prinzipiell unterscheidet man 4 verschiedene Typen, die allerdings auch kombiniert auftreten oder sich partiell überlappen können. Thorakale Ektopie des Herzens. Bei der isolierten thoraka-
len Ektopie besteht eine partielle oder auch komplette Spalte des distalen Sternums, wobei das Herz ohne Deckung durch anderes Gewebe frei liegt. Mögliche Herzfehler können die ohnehin ungünstige Prognose dieser Patienten verschlechtern. Ziel der Behandlung ist die zunächst plastische Deckung des freiliegenden Herzens, ohne dass dieses durch Druck von außen in seiner Funktion behindert wird. Paradoxerweise kann es auch bei der thorakalen Ectopia cordis zu einem Prolaps von intraabdominellen Organen kommen, die aber von einer assoziierten Omphalozele unterschieden werden müssen, da in diesen Fällen kein abdomineller Defekt assoziiert ist. Zervikale Ektopie des Herzens. Eine eigenständige Form
der Sternumspalte ist die zervikale Ectopia cordis, bei der das Herz über eine proximalen Fusionsdefekt des Brustbeins prolabiert und dabei gemeinsam mit kraniofazialen Missbildungen auftreten kann. Dieser Defekt ist so schwerwiegend, dass eine erfolgreiche Therapie sehr unwahrscheinlich ist. Thorakoabdominelle Ektopie des Herzens. Die thorako-
abdominelle Ectopia cordis ist ein ausgedehnter Mittelliniendefekt und imponiert wie eine kraniale Omphalozele, die sich in die untere Thoraxapertur erstreckt. Dabei ist das Herz ebenso wie die abdominellen Organe mit einem Omphalozelensack bzw. häutigen Anteilen bedeckt. Auch bei diesen Kindern können kongenitale Herzfehler vorliegen. Das Therapiekonzept entspricht dem Vorgehen bei der klassischen Omphalozele. Es wird zunächst ein primärer Verschluss der Haut angestrebt, um Infektionen zu vermeiden. Mögliche Herzfehler werden erst sekundär operiert und auch die plastische Rekonstruktion der Bauchwand ist erst dann indiziert, wenn die Kinder sich langfristig stabilisiert haben. Die Prognose dieser kombinierten Form eines Mittelliniendefekts ist besser als bei den isolierten Sternumspalten. Sternum bifidum. Die unkomplizierte Sternumspalte oder
auch Sternum bifidum ist der Defekt mit der günstigsten Prognose. In dieser Gruppe ist immer nur der kraniale Teil des Brustbeins betroffen, wobei sich das Herz, im Gegensatz zu der oben genannten zervikalen Ectopia cordis, in seiner typischen Position befindet und der Defekt mit
Haut gedeckt ist. Assoziierte Herzfehler sind eher selten, klinische Symptome bestehen in der Regel nicht. Die operative Korrektur sollte zwischen dem 1. und 12. Lebensmonat erfolgen und verläuft meistens ohne weitere Komplikationen.
22.4
Tumoren der Thoraxwand
Bei Kindern sind primäre Tumoren der Thoraxwand meisten mesenchymalen Ursprungs und in der Regel benigne. Dennoch werden sie zur definitiven Beurteilung ihrer Dignität und bei großen Tumoren auch aus funktionellen und kosmetischen Gründen meistens reseziert.
Gutartige Tumoren In der Neugeborenenperiode hat hier vor allem das mesenchymale Hamartom der Thoraxwand eine gewisse Bedeutung. Dieses tritt meist als großer, ein- oder beidseitiger Tumor in Erscheinung, der die Atmung deutlich beeinträchtigen kann. Mesenchymale Hamartome können solide oder zystische Areale haben, wachsen vor allem während der Fetalzeit und der frühen Säuglingsperiode, scheinen danach aber meistens eine konstante Größe zu behalten. In den meisten Fällen werden sie reseziert. Erscheint dieses Vorgehen jedoch beim jungen Säugling zu gefährlich und besteht eine ausreichende Atmung, kann auch abgewartet werden, bis das Kind älter und größer wird, so dass das Hamartom bei gleichbleibender Größe weniger riskant entfernt werden kann. Wegen einzelner bekannter Fälle von später maligner Entartung sollte jedoch irgendwann eine Resektion erfolgen. Weitere gutartige Veränderungen sind Lipome und Lipoblastome sowie Hämangio- und Lymphangiome, deren Behandlung von der Lokalisation unabhängig ist und sich prinzipiell nicht von den jeweiligen Therapierichtlinien unterscheidet (7 Kap. 19).
Bösartige Tumoren Für ein primäres Auftreten maligner Tumoren ist die Thoraxwand eine untypische Lokalisation. Trotzdem werden primitive neuroektodermale Tumoren (Askin-Tumoren), Rhabdomyo-, Ewing-, Osteo-, Klarzell und Chondrosarkome beschrieben (7 Kap. 47). Außerdem können lokale Manifestationen von Burkitt-Lymphome (7 Kap. 48) und Leukämien auch an der Thoraxwand auftreten. Das gleiche gilt auch für hämatogen streuende sowie Kontaktmetastasen vieler anderer Tumoren im Kindesalter. Deren Diagnose und Therapie soll an dieser Stelle nicht erörtert werden und findet sich in den entsprechenden onkologischen Kapiteln. Ewing-Sarkom. Das Ewing-Sarkom ist jedoch der häufigste
maligne Rippentumor des Kindes- und Jugendalters vor allem zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr. Dabei kom-
237 22.4 · Tumoren der Thoraxwand
men über 10% aller Ewing-Sarkome in der Thoraxwand vor. Die bildgebende Diagnostik mit Sonographie, Röntgen, CT und ggf. MRT kann bereits den Verdacht auf einen malignen Tumor nahe legen, jedoch bedarf es wegen der wichtigen Differenzialdiagnose zur unspezifisch bakteriellen oder zur tuberkulösen Osteomyelitis, wie auch für die histologische Diagnose immer einer Biopsie. Das EwingSarkom gehört zu den rasch wachsenden, embryonalen, klein-rundzelligen Malignomen und spricht gut auf Chemotherapie und Bestrahlung an. > Eine primäre Resektion des Ewing-Sarkoms erscheint nur selten indiziert, sie wird in der Regel nach einer Induktionschemotherapie gemäß dem entsprechenden Therapieprotokoll durchgeführt. Dann sollte sie aber radikal erfolgen, um eine Strahlentherapie mit hoher Dosis (Lungenschäden!) zu vermeiden.
Hierfür sollte unbedingt der initiale Biopsiekanal sowie die ursprünglich befallenen Rippen komplett reseziert werden. Deshalb ist für die Operationsplanung immer auch die initiale Tumorausdehnung zu berücksichtigen. Osteosarkome. Primäre Osteosarkome von Rippen, Skapu-
la und Klavikula sind sehr viel seltener und kommen nur bei ca. 1% aller Osteosarkompatienten vor. Auch bei diesem Tumor ist die radikale Resektion die wirksamste therapeutische Maßnahme, jedoch wird diese ebenfalls in den meisten Fällen nach einer in der Regel wirksamen neoadjuvanten Chemotherapie und entsprechender Tumorregression durchgeführt. Heute liegen bei beiden Tumoren die 5-Jahres-Überlebensraten für Patienten ohne Fernmetastasen bei 60–70%. Operative Therapie. Prinzipiell erfolgt die operative Therapie bei benignen und malignen Tumoren den allgemeinen Empfehlungen chirurgischen Vorgehens. Die gutartigen Tumoren sollen so entfernt werden, dass der verbleibende Defekt möglichst klein bleibt, während bei malignen Prozessen die chirurgische Radikalität das Ziel der Intervention ist. Kleine Defekte werden entweder durch die Mobilisation benachbarten Gewebes verschlossen, während ausgedehnte Resektionen mit Fremdmaterial und/ oder mobilisierten Muskellappen wie dem Musculus latissimus dorsi gedeckt werden. Leider gibt es keine allgemeinverbindlichen Empfehlungen, wie viele benachbarte Rippen entfernt werden dürfen, ohne die Stabilität des Thorax und damit auch die Atmung zu kompromittieren. Eigene Erfahrungen haben gezeigt, dass auch nach der Resektion von 4 benachbarten Rippen langfristig keine Komplikationen auftreten und ein zur Deckung verwendeter Goretex-Patch durch Bindegewebe sekundär überwachsen und stabilisiert wird und dass die Thoraxwand an der betreffenden Stelle auch nach Jahren fest und widerstandsfähig war.
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Kapitel 22 · Fehlbildungen und Tumoren der Thoraxwand
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23
23 Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen B. Ure, J. Dingemann
23.1
Embryologie und Anatomie des Ösophagus – 239
23.2
Angeborene Fehlbildungen – 240
23.2.1 23.2.2
Ösophagusatresie – 240 Ösophagusatresie mit distaler tracheoösophagealer Fistel – 242 Ösophagusatresie ohne Fistel/langstreckige Atresie – 246 H-Fistel ohne Atresie – 247 Lanryngotracheoösophageale Spalte – 247 Kongenitale Ösophagusstenose – 248 Ösophagusduplikatur – 249 Gefäßring/doppelter Aortenbogen – 249
23.2.3 23.2.4 23.2.5 23.2.6 23.2.7 23.2.8
23.3
Funktionelle Erkrankungen des Ösophagus – 249
> Fehlbildungen und andere Erkrankungen der Speiseröhre im Kindesalter sind außerordentlich vielfältig. Für den Kinderchirurgen steht die rekonstruktive Ösophaguschirurgie im Vordergrund. Meist gilt die Maxime, dass der eigene Ösophagus die beste Lösung für das Kind darstellt.
23.1
Embryologie und Anatomie des Ösophagus
Embryogenese. Der Ösophagus geht embryologisch aus dem Vorderdarm hervor. Um den 26. Gestationstag kommt es zu einer Aussprossung aus seiner ventralen Seite, die sich zum Tracheobronchialbaum entwickelt. Durch die Interaktion zwischen Entoderm, Mesoderm, zahlreichen Genen und Transkriptions- und Wachstumsfaktoren kommt es zur Differenzierung des Entoderms in tracheobronchiale Strukturen und den Ösophagus. Nicht eindeutig geklärt ist, ob die Trennung beider Organe auf rasches Wachstum des respiratorischen Entoderms oder – nach initial gemeinsamem Wachstum – auf einen aktiven Separationsprozess zurückzuführen ist. Durch Fehlsteuerungen dieses Prozesses sind die verschiedenen Formen der Ösophagusatresie, tracheale Knorpelanlagen im Ösophagus, zystische Ösophagusduplikaturen und bronchogene Zysten erklärbar.
23.3.1 23.3.2 23.3.3
Divertikel – 249 Achalasie – 249 Sklerodermie – 250
23.4
Erworbene Erkrankungen des Ösophagus – 251
23.4.1
Chemische und mechanische Schädigungen des Ösophagus – 251 Ösophagusstriktur – 252 Ösophagusperforation und -ruptur – 252
23.4.2 23.4.3
23.5
Ösophagusersatzverfahren
23.5.1 23.5.2 23.5.3
Koloninterponat – 254 Magenhochzug – 255 Weitere Ösophagusersatzverfahren – 255
– 253
Literatur – 256
Histologie. Der histologische Aufbau der Ösophaguswand,
bestehend aus Tunica mucosa, Tela submucosa, Tunica muscularis und Tunica adventitia, entspricht im Wesentlichen dem des übrigen Verdauungsapparates. Lediglich eine nicht im gesamten Ösophagus vorliegende Tunica serosa unterscheidet das Organ im Aufbau von Magen und Darm. Zudem besteht die Tunica muscularis im oberen Drittel des muskulären Organs aus quergestreifter und damit willkürlich innervierter Muskulatur und erst in den unteren zwei Dritteln aus glatter Muskulatur mit autonomer Kontrolle. Anatomische Einteilung. Die Einteilung des Ösophagus in Pars cervicalis, thoracica und abdominalis ergibt sich aus dem anatomischen Verlauf des Organs in diesen Kompartimenten. Direkte topographische Lagebeziehungen bestehen in der Pars cervicalis zur Trachea, der Gl. thyroidea und dem N. laryngeus recurrens, in der Pars thoracica zur Trachea, der Wirbelsäule dorsal, der rechten Lunge auf der rechten Seite, der Herzhinterwand ventral und der Aorta descendens auf der linken Seite, so dass Erosionen oder Penetrationen durch Fremdkörper oder Verätzungen typischerweise in diese Strukturen erfolgen. Nach dem Zwerchfelldurchtritt am Hiatus oesophageus unterkreuzt die Pars abdominalis den linken Leberlappen.
240
23
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
Innervation. Die Innervation des Ösophagus erfolgt im Halsteil über die Rr. oesophagei des N. laryngeus recurrens, in den distalen Anteilen durch den N. vagus und den Truncus sympathicus. Der Halsanteil des Ösophagus erhält arterielles Blut aus der A. subclavia und der A. thyroidea inferior, der thorakale Anteil aus den Rr. oesophagei aortae und der abdominale Anteil aus der A. phrenica inferior und A. gastrica sinistra. Ausgedehnte Mobilisationen des mittleren Organanteils im Rahmen chirurgischer Eingriffe sind deshalb mit dem Risiko einer Minderdurchblutung verbunden. Das venöse Blut fließt, analog zum arteriellen System, über die Vv. thyroiedea inferiores, die V. azygos und V. hemiazygos und die V. gastrica sinistra ab. > Die drei physiologischen Engstellen des Ösophagus, der Ösophagusmund, die Aorten- und Zwerchfellenge sind die Prädilektionsstellen für den Verhalt von Fremdkörpern oder Nahrungsmittelboli.
23.2
Angeborene Fehlbildungen
23.2.1
Ösophagusatresie
Pathogenese, Epidemiologie, Klassifikation Pathogenese. Die Pathogenese der Ösophagusatresie ist
ungeklärt. Meist handelt es sich um eine spontan auftretende Fehlbildung, so dass ein multifokales Geschehen anzunehmen ist, an dem verschiedene Gene beteiligt sind. Anhand von Tiermodellen wie dem Adriamycin Rattenmodell und einem Mausmodell ist es gelungen, die Stadien der Fehlbildungsentwicklung besser zu verstehen. Angenommen wird, dass bei der Ösophagusatresie der Teilungsprozess von Trachea und Ösophagus unvollständig erfolgt. Diskutiert werden ursächlich ein vermindertes Auswachsen der beiden Organe und das Ausbleiben eines aktiven Trennungsprozesses. In diesem Prozess scheint einer fehlenden Expression des Entwicklungsgens »sonic hedghog« (SHH) und Apoptosevorgängen eine besondere Bedeutung zuzukommen. Epidemiologie. Mit einer Inzidenz von 1 auf 2500–3000 Neugeborene handelt es sich um eine häufigere Fehlbildung. Der Anteil an syndromalen und familiären Formen beträgt unter 1%, doch gehen Chromosomenanomalien (Trisomie 18 und 21) sowie Deletionen auf den Chromosomen 17 und 22 mit einem erhöhten Risiko für eine Ösophagusatresie einher (Spitz 2005). Assoziierte Fehlbildungen bestehen bei etwa 50% der betroffenen Patienten und werden unter dem Begriff VACTERL-Assoziation zusammengefasst (. Tab. 23.1). Diese typische Kombination von Fehlbildungen ist selten in vollem Umfang ausgebildet (. Tab. 23.2), so dass die VACTERL-Assoziation meist nur zwei oder drei der aufgeführten Organysteme betrifft.
. Tab. 23.1. Assoziierte Fehlbildungen bei Ösophagusatresie Betroffenes Organsystem
% Patienten
Kardiovaskuläres System
35
Gastrointestinaltrakt
15
Nervensystem
5
Urogenitaltrakt
5
Skelett
2
Insgesamt
50
. Tab. 23.2. VACTERL-Assoziation: Typische Kombination von Fehlbildungen folgender Bereiche V
Vertebral
A
Anorektal
C
Cardial
T
Tracheal
E
(O)esophageal
R
Renal
L
Extremitäten (»limb«)
Klassifikation. Mehrere Klassifikationen der Ösophagusatresie kommen zur Anwendung. In der Einteilung, die Vogt 1929 vorstellte, werden die Typen I–III mit unterschiedlichen Fistelverläufen unterschieden (. Abb. 23.1). Weitere Klassifikationen definieren bis zu 10 Haupt- und zahlreiche Untertypen. In der angelsächsichen Literatur wird häufig die Klassifikation von Gross verwendet, die als wesentliche Aspekte die Distanz der Stümpfe und den Verlauf einer oberen und unteren tracheoösophagealen Fistel berücksichtigt (Gross 1953). Bei etwa 90% der betroffen Neugeborenen besteht eine proximale Atresie mit ausschließlich distaler tracheoösophagealer Fistel, wobei die Fistel im mittleren bis unteren Drittel der Trachea bis zu Karina und in seltenen Fällen weiter distal in einen Bronchus mündet. Die isolierte Atresie ohne Fistel und mit meist großer Distanz, stellt die zweithäufigste Form bei 5% der Neugeborenen dar. Eine langstreckige Ösophagusatresie ist am zutreffendsten definiert durch eine Distanz der Stümpfe von mehr als 4 Wirbelkörpern. Die tracheoösophageale Fistel ohne Atresie, die sog. H-Fistel, wird in 2–4% der Fälle verzeichnet. Andere Formen, insbesondere solche mit einer oberen und unteren Fistel, machen weniger als 1% der Ösophagusatresien aus. Eine weitere Klassifikation etablierte Spitz durch eine Einteilung in Risikogruppen (Spitz 1994). Die Überlebensprognose wird anhand des Geburtsgewichts und kardialer Fehlbildungen eingeschätzt (. Tab. 23.3). Die Überlebens-
241 23.2 · Angeborene Fehlbildungen
. Abb. 23.1. Einteilung der Ösophagusatresie nach Vogt. (Aus Höllwarth u. Zaupa 2006)
wahrscheinlichkeit für die Gruppe I mit einem Geburtsgewicht >1500 g ohne kardiale Fehlbildungen beträgt 97%, dagegen für die Gruppe III mit einem Geburtsgewicht <1500 g und einer schweren kardiale Fehlbildungen lediglich 22%.
Klinik und Diagnostik Der Verdacht auf eine Ösophagusatresie ergibt sich sonographisch ab der 18. Gestationswoche aufgrund einer fehlenden Magenblase. Hinweisend ist zudem ein Polyhydramnion und ein sonographisch erweitert darstellbarer oberer Ösophagusblindsack. In über 80% der Fälle wird die Verdachtsdiagnose während der Schwangerschaft nicht gestellt. Postnatal kommt es innerhalb der ersten Lebensstunden zu schaumigem Speicheln aus Mund und Nase. Husten und Anzeichen einer respiratorischen Insuffizienz sind be-
. Tab. 23.3. Klassifikation der Ösophagusatresie anhand von Risikogruppen nach Spitz Gruppe I
Geburtsgewicht >1500 g, keine kardialen Fehlbildungen
Gruppe II
Geburtsgewicht <1500 g oder schwere kardiale Fehlbildung
Gruppe III
Geburtsgewicht <1500 g und schwere kardiale Fehlbildung
dingt durch die Aspiration von Speichel und Magensaft. Das Abdomen kann durch die Luftfüllung des Magens über die distale tracheoösophageale Fistel gebläht imponieren. Eine Zyanose weist auf eine respiratorische Insuffizienz oder eine kardiale Fehlbildung hin. Die Diagnose wird durch einen federnden Widerstand beim Vorschieben einer Magensonde gestellt, wobei eine rigide Sonde zu bevorzugen ist, um ein Aufrollen der Sonde im oberen Ösophagusstumpf zu verhindern. In sehr seltenen Fällen kann die Sonde über die Trachea und die untere Fistel in den Magen gelangen und so einen intakten Ösophagus vortäuschen. ! Cave Bei Verdacht auf eine Ösophagusatresie ist die Sondierung des Ösophagus mit einer rigiden Magensonde obligat. Das Aufrollen einer flexiblen Sonde im oberen Ösophagusstumpf oder eine Fehlplatzierung über die Trachea und die untere Fistel in den Magen kann einen intakten Ösophagus vortäuschen.
Die Röntgendiagnostik umfasst ein thorakales und abdominelles Röntgenübersichtsbild mit liegender röntgendichter Magensonde, deren Spitze das untere Ende des oberen Blindsacks markiert. Der Nachweis einer distalen tracheoösophagealen Fistel erfolgt indirekt durch die Luftfüllung des Magens (. Abb. 23.2). Bei einer Atresie ohne Fistel sind in der Übersichtsaufnahme der Magen und Darm gaslos darstellbar (. Abb. 23.3). Eine Applikation wasserlöslichen
23
242
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
23
. Abb. 23.2. Ösophagusatresie mit unterer Fistel. Die Röntgenübersichtsaufnahme zeigt den oberen Blindsack und die Luftfüllung des Magens
. Abb. 23.3. Ösophagusatresie ohne Fistel. Die Röntgenübersichtsaufnahme zeigt die Sonde im oberen Blindsack ohne Luftfüllung des Magens
Kontrastmittels in den oberen Blindsack ist nicht indiziert und lediglich bei zweifelhaften Befunden zu diskutieren. Der Nachweis assoziierter Fehlbildungen des Skelettsystems, insbesondere der Wirbelsäule und der Rippen gelingt anhand der Röntgenübersichtsaufnahme. Obligat ist eine Echokardiographie zum Ausschluss kardialer Fehlbildungen und einer rechtsseitig deszendierenden Aorta, die bei etwa 2% der Fälle vorliegt. Die Abdominal- und Urogenitalorgane sind sonographisch hinsichtlich assoziierter Fehlbildungen zu beurteilen.
Distension des Magens vermindert. Die routinemäßige Intubation und maschinelle Beatmung sind nicht indiziert, doch
Übersicht Diagnostik bei Verdacht auf Ösophagusatresie 4 Röntgen Thorax/Abdomenübersicht mit liegender Ösophagussonde 4 Echokardiographie 4 Sonographie der Abdominalorgane, Nieren und ableitenden Harnwege
Praöperatives Management Das präoperative Management beinhaltet die Einlage einer »Schlürfdrainage« mit kontinuierlichem Sog von 10–15 cm H2O in den oberen Blindsack, um der Aspiration von Speichel und Magensaft und einer konsekutiven Pneumonie vorzubeugen. Eine intravenöse antibiotische Therapie ist obligat. Es wird postuliert, dass eine Bauchlage die luftbedingte
bei Frühgeborenen mit respiratorischer Insuffizienz frühzeitig einzuleiten. Hierbei ist der Trachealtubus möglichst distal der tracheoösophagealen Fistel zu platzieren.
23.2.2
Ösophagusatresie mit distaler tracheoösophagealer Fistel
Erste operative Therapieversuche der Ösophagusatresie wurden ab 1920 berichtet, der erste überlebende Patient mit Gastrostomie, zervikaler Ösophagostomie und sekundärer Fistelligatur durch Leven und Ladd 1939. Die erste primäre Anastomose publizierte Haight 1943. Der Zeitpunkt der Operation richtet sich nach dem Typ der Fehlbildung und dem Zustand des Kindes. Bei kardiorespiratorisch stabilem Kind erfolgt die Operation elektiv innerhalb der ersten 24 Lebensstunden. Eine Notfallindikation zur Thorakotomie und unverzüglichen Fistelligatur besteht bei massiver Luftfüllung des Magens und Darms über die distale Fistel mit Verschlechterung der respiratorischen Situation und der Gefahr einer Magenruptur. Das Prinzip der operativen Therapie besteht aus der Ligatur der Fistel und der primären Rekonstruktion des Ösophagus. Der Eingriff kann über eine Thorakotomie oder minimalinvasiv erfolgen. Eine präoperative Bronchoskopie zum Ausschluss einer oberen Fistel ist zu empfehlen,
243 23.2 · Angeborene Fehlbildungen
doch gelingt der bronchoskopische Fistelnachweis nicht immer. Stets erfolgt der Zugang von rechts thorakal, lediglich bei einer rechts deszendierenden Aorta, die bei ca. 2% der Neugeborenen besteht, von der linken Körperseite.
Konventionelle Fisteldurchtrennung und Ösophagusanastomose Vorbereitung. Der Patient wird auf der linken Körperseite gelagert. Der rechte Arm kann in Abduktionstellung und 90°-Flexion im Ellenbogengelenk über dem Kopf fixiert werden. Über einen posterolateralen Zugang werden Brustund Schultermuskulatur knapp unterhalb der Skapulaspitze unter Schonung des N. thoracicus longus durchtrennt. Der Zugang zum Thorax erfolgt durch den vierten Interkostalraum. Alternativ kann das vordere Periost der vierten Rippe durchtrennt, die Rippe aus dem Periostschlauch gelöst und reseziert werden, wonach durch das hintere Periost in die Thoraxhöhle eingegangen wird. Operationstechnik. Das weitere Vorgehen geschieht in der Regel extrapleural durch stumpfes Abschieben der Pleura parietalis von der Thoraxwand und den Wirbelkörpern bis zur Darstellung des Mediastinums. Als Vorteil des extrapleuralen Vorgehens gilt die Verhinderung der Ausbreitung einer Infektion in der Pleurahöhle bei einer Leckage, doch ist dieser nicht belegt. Eine Ligatur und Durchtrennung der V. azygos erleichtert die Exposition, muss aber nicht regelhaft erfolgen. Es wird postuliert, dass die Durchtrennung der V. azygos mit einer erhöhten Rate an postoperativen pulmonalen Infektionen einhergeht (Upadhyaya et al. 2007). Der distale Ösophagus mit der tracheoöosophagelen Fistel wird dorsal der V. azygos dargestellt und unter Erhaltung des N. vagus, der als Leitstruktur fungiert, sparsam mobilisiert. Die Identifikation des proximalen Blindsacks im oberen Mediastinum wird durch das Vorschieben der von oral eingebrachten Sonde durch den Anästhesisten erleichtert. Bei der Trennung des oberen Blindsacks von der Trachea ist eine obere tracheoösophageale Fistel auszuschließen. . Abb. 23.4. Ösophagusanastomose. Zirkuläre Einzelknopfnähte mit Vorlegung der Hinterwandnähte
> Leitstrukturen bei der Darstellung des distalen Ösophagus sind die V. azygos und der N. vagus.
Die Mobilisation des distalen Ösophagus erfolgt sparsam, bis eine weitgehend spannungsfreie Ösophagusanastomose möglich ist. Die tracheoösophageale Fistel wird trachealseits mit einer resorbierbaren Durchstichligatur versorgt, danach kann der Ösophagus abgetrennt werden. Nach Eröffnung des oberen Blindsackes wird eine End-zu-EndAnastomose mit resorbierbarem Nahtmaterial der Stärke 5-0 oder 6-0 in Einzelknopftechnik zunächst im Bereich der Hinterwand ausgeführt. Die Vorderwand wird nach Vorbringen der im oberen Stumpf liegenden Sonde bis in den Magen vervollständigt (. Abb. 23.4). Die Anlage einer Throraxdrainage ist nicht obligat, aber bei einer unter Spannung stehenden Anastomose empfehlenswert. Zur Verbesserung der Adaptation der Ösophagusstümpfe bei großer Spannung sind Methoden wie die zirkuläre Myotomie des oberen Ösophagus oder die Lappenplastik des oberen Blindsackes beschrieben. Inwiefern diese Techniken tatsächlich eine Ösophagusverlängerung erzielen und nicht mit einer erhöhten Leckage- und Stenoserate einhergehen, ist ungeklärt, so dass diese nicht grundsätzlich empfohlen werden können. Bei großer Spannung der Anastomose ist eine Muskelrelaxation und Nachbeatmung für bis zu 5 Tagen ratsam.
Thorakoskopische Fisteldurchtrennung und Ösophagusanastomose In Kliniken mit entsprechender Expertise kann die Operation thorakoskopisch erfolgen. Die operative Strategie unterscheidet sich abgesehen vom Zugang prinzipiell nicht von der konventionellen Operation. Eine seitengetrennte Beatmung ist nicht erforderlich. Eine Lagerung des Neugeborenen mit hoch- und 30° ventralseitig gelagertem Oberkörper erleichtert die Exposition. Der 3- oder 5-mm-Optiktrokar wird kaudal der Skapulaspitze eingebracht (. Abb. 23.5). Der CO2-Insufflati-
23
244
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
bedingter funktioneller Beeinträchtigungen, wie Bewegungseinschränkungen der Schulter oder Wirbelsäulendeformitäten (Holcomb et al. 2005).
Postoperatives Vorgehen
23 . Abb. 23.5. Trokar- und Instrumentenpositionierung bei der thorakoskopischen Versorgung einer Ösophagusatresie. (Aus Bax et al. 2008)
Eine perioperative antibiotische Prophylaxe ist für 5 Tage postoperativ zu empfehlen. Ab dem ersten postoperativen Tag kann über die transanastomotische Magensonde Nahrung appliziert und ab dem 3. bis 5. Tag mit der oralen Nahrungsapplikation begonnen werden. Falls die Anastomosierung unter großer Spannung erfolgte, kann eine Muskelrelaxation und Nachbeatmung für bis zu 5 Tagen mit verzögertem Nahrungsaufbau indiziert sein. Eine Routinekontrastdarstellung zum Ausschluss einer Leckage oder Stenose ist nicht erforderlich. Der Krankenhausaufenthalt beträgt bei unkompliziertem Verlauf 10–14 Tage.
Komplikationen
. Abb. 23.6. Die thorakoskopische Ösophagusanastomose wird mit intrakorporaler Knotentechnik ausgeführt
onsdruck kann in Abhängigkeit vom kardiozirkulatorischen Zustand des Kindes 5–8 mmHg betragen. Häufig bedarf es einer Adaptationsphase von mehreren Minuten, bis ein ausreichender Kollaps der Lunge eintritt und der Kapnothorax toleriert wird. Über zwei Arbeitstrokare, welche in Form eines gleichschenkligen Dreiecks in kranialer Richtung brust- und rückenwärts zu positionieren sind, werden die Ösophagusstümpfe mobilisiert, wobei auch bei der thorakoskopischen Technik eine Durchtrennung der V. azygos nicht obligat ist. Analog zum konventionellen Vorgehen erfolgt die Durchstichligatur und Durchtrennung der Fistel. Die ersten Nähte der Anastomose können vor der Eröffnung des oberen Blindsackes vorgelegt werden, um ein Adaptation der Stümpfe zu erleichtern. Die Anastomose wird über der in den Magen vorgeschobenen Sonde mit intrakorporaler Knotentechnik vervollständigt (. Abb. 23.6). Die Anlage einer Thoraxdrainage ist ebenfalls nicht obligat. Die postulierten Vorteile des thorakoskopischen Vorgehens sind eine raschere Rekonvaleszenz, ein besseres kosmetische Ergebnis und die Vermeidung thorakotomie-
Hauptkomplikationen im frühen postoperativen Verlauf sind die Anastomosenleckage, die Ösophagusstenose und das Fistelrezidiv. Im Langzeitverlauf stehen die gastroösophageale Refluxkrankheit, die Tracheomalazie und die Motilitätsstörung des Ösophagus mit Dysphagie im Vordergrund (. Tab. 23.4). Zu einer Anastomosenleckage mit Mediastinitis und Thoraxempyem kommt es innerhalb der ersten postoperativen Tage bei bis zu 10–20% der Patienten. Die Diagnose wird radiologisch mittels Kontrastmittelapplikation gestellt (. Abb. 23.7). Nahezu immer gelingt eine konservative Therapie, die eine vollständige parenterale Ernährung über 2–3 Wochen und eine antibiotische Therapie beinhaltet. Empyeme erfordern die Einlage einer Thoraxdrainage. Lediglich bei ausgedehntem Defekt der Anastomose ist in Ausnahmefällen eine Revision und der Versuch eine Rekonstruktion oder die Anlage eines Ösophagostomas zu diskutieren. Eine Ösophagusstenose mit unzureichender Nahrungsaufnahme, Gedeihstörung und aspirationsbedingten pulmonalen Symptomen kann bei mehr als der Hälfte der Fälle auftreten (. Abb. 23.8). Die Diagnose wird ebenfalls mittels Röntgenkontrastdarstellung gesichert. Die endoskopische Bougierung, gegebenenfalls im Rahmen wiederholter Sitzungen im Abstand von 2 oder mehr Wochen, ist die Therapie der Wahl. Ösophagusstenosen können auch im Langzeitverlauf Bougierungen erfordern, weshalb von zahlreichen Autoren in regelmäßigen Abständen, z. B. zunächst jährlich, eine Routineendoskopie empfohlen wird. Fistelrezidive sind bei bis zu 5–15% der Patienten beschrieben und häufig durch eine Anastomosenleckage mit Erosion des Ligaturbereichs bedingt. Die klinischen Zeichen beinhalten schaumiges Speicheln, Hustenattacken bei der Nahrungsaufnahme und rezidivierende Aspirationspneumonien. Ein Fistelrezidiv kann sich auch nach initial unkompliziertem Nahrungsaufbau einstellen und wird bisweilen über Jahre nicht erkannt. Die Fistel bleibt bei bis zu
245 23.2 · Angeborene Fehlbildungen
. Abb. 23.7. Ösophagusleckage 5 Tage nach primärer Anastomose (anschließend erfolgreiche konservativer Therapie)
50% der Kinder im Rahmen einer radiologischen Kontrastuntersuchung unerkannt, so dass bei Fistelverdacht stets eine bronchoskopische Diagnostik zu erfolgen hat. Die Rezidivfistel bedarf des operativen Fistelverschlusses, wobei intraoperativ die Identifikation der Fistel durch einen zuvor bronchoskopisch eingelegten Katheter erleichtert wird. Die Interposition eines Pleura- oder Perikardlappens zwischen Trachea und Ösophagus ist zur Rezidivprophylaxe zu empfehlen. Einzelerfolge sind für die endoskopische Fibrinkle-
. Tab. 23.4. Komplikationen nach primärer Anastomose einer Ösophagusatresie Inzidenz Frühkomplikationen
Spätkomplikationen
Anastomosenleckage
10–20%
Ösophagusstriktur
Bis 50%
Fistelrezidiv
5–15%
Gastroösophageale Refluxkrankheit
30–70%
Tracheomalazie
~10%
Motilitätsstörung des Ösophagus und Bolusereignisse
~60%
. Abb. 23.8. Ösophagusstenose 4 Wochen nach Anastomose einer Ösophagusatresie
bung nach vorheriger Anfrischung des Fistelkanals beschrieben, doch kann dieses Vorgehen mangels ausreichender Erfahrungen nicht generell empfohlen werden. Im Langzeitverlauf ist der gastroösophageale Reflux die häufigste Problematik. Er wird bei 30–70% der Patienten symptomatisch. Ursächlich wird eine Verkürzung des intraabdominellen Ösophagus durch die Anastomosenspannung und eine gleichzeitig bestehende Motilitätsstörung der Speiseröhre angeschuldigt. Hierdurch kommt es zur typischen Refluxsymptomatik mit Erbrechen, Dysphagie, rezidivierenden Atemwegsinfekten, Gedeihstörung und insbesondere Strikturen im Bereich der Anastomose. Die Standarddiagnostik beinhaltet eine Röntgenkontrastdarstellung, die 24-h-pH-Metrie und die Endoskopie mit Biopsieentnahme, da im Langzeitverlauf eine Barrett-Metaplasie des Ösophagus auszuschließen ist. Meist ist eine konservative Therapie mit Protonenpumpeninhibitoren oder H2-Blockern nicht erfolgreich, so dass eine Fundoplikatio erforderlich wird. Hinsichtlich der optimalen Manschettenform besteht Uneinigkeit. Die Nissen-Fundoplika-
23
246
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
tio geht mit einem höheren Risiko der Dysphagie und thorakalen Manschettendislokation einher, die partielle Manschettenbildung in der Technik nach Thal oder Toupet mit einem höheren Rezidivrisiko. ! Cave
23
Bei einer postoperativen Gedeihstörung nach primärer Ösophagusanastomose sind eine Anastomosenstenose und eine gastroösophageale Refluxkrankheit auszuschließen.
Die Tracheomalazie ist definiert durch einen bronchoskopisch gesicherten exspiratorischen Kollaps der Trachea von mehr als zwei Dritteln des Lumens bei Spontanatmung (Spitz 1999). Ursächlich wird eine strukturelle Anomalie des knorpeligen Anteils der Trachea angeschuldigt, die bei bis zu 2/3 der Patienten mit Ösophagusatresie besteht. Zudem wird eine Kompression durch die anterior liegende Aorta oder einen dorsal liegenden dilatierten Ösophaguspouch diskutiert. Die Tracheomalazie führt zu einem typischen »bellenden« Husten, zu rezidivierenden Atemwegsinfekten und zum exspiratorischen Stridor mit Zyanoseanfällen bis hin zu lebensbedrohlichen Apnoezuständen. Sie weist im Laufe von Jahren eine spontane Regressionstendenz auf, so dass in den meisten Fällen keine Intervention erforderlich ist. Bei rezidivierenden Zyanosanfällen mit lebensbedrohlichen Zuständen wird überwiegend eine Aortosternopexie vorgenommen. Bei diesem Eingriff erfolgt die Pexie der vorderen Aorta an das dorsale Sternum, die über eine linksseitige Thorakotomie oder thorakoskopisch durchgeführt werden kann. Dies führt zur Anhebung des Aortenbogens mit einer Kompressionsentlastung der Trachea. Alternativ werden die passagere Einlage von Trachealstents und die Glossopexie diskutiert, doch liegen diesbezüglich keine Erfahrungen an ausreichenden Fallzahlen vor.
. Abb. 23.9. Röntgenkontrastdarstellung über die Gastrostomie. Darstellung des kurzen unteren Ösophagusstumpfes mit einer Distanz der Ösophagusstümpfe von >4 Wirbelkörpern
23.2.3
Ösophagusatresie ohne Fistel/langstreckige Atresie
Langzeitergebnisse/Lebensqualität Die Gesamtüberlebensrate von Kindern mit Ösophagusatresie und primärer Anastomose beträgt abhängig von der Risikokategorie weit über 90% (Spitz 1994). Die Prognose ist in erster Linie vom Schweregrad der assoziierten kardialen Fehlbildungen und einer etwaigen Frühgeburtlichkeit abhängig. Systematische Untersuchungen belegen, dass Erwachsene nach primärer Ösophagusanastomose eine ausgezeichnete Lebensqualität aufweisen (Ure et al. 1998). Spezifische Symptome wie Dysphagie, Bolusgefühl und rezidivierende Atemwegsinfekte sind innerhalb der ersten 10 Jahre bei bis zu 2/3 der Kinder nachweisbar und bilden sich hiernach in der Regel spontan zurück. Die im Langzeitverlauf gemessene Lebensqualität entspricht derjenigen der Normalbevölkerung, so dass in der Regel ein in allen Aspekten normales Leben geführt werden kann. Dennoch sollten alle Patienten mit einer Ösophagusatresie bis in das Erwachsenenalter einem Nachsorgeprogramm mit einer jährlichen klinischen Untersuchung und gegebenenfalls endoskopischen Diagnostik zugeführt werden.
Klinik und Diagnostik Erfahrungsgemäß liegt bei Neugeborenen mit einer Ösophagusatresie ohne radiologischen Nachweis von Luft im Magen-Darm-Trakt eine lange Distanz der Stümpfe vor (. Abb. 23.9). Die Definition einer langstreckigen Atresie ist nicht einheitlich. Sie wird meist mit einer Distanz von mehr als 4 Wirbelkörpern angegeben (Spitz et al. 1993). Das klinische Bild der langstreckigen Atresie gleicht, abgesehen von der fehlenden Distension des Magens, dem der kurzstreckigen Ösophagusatresie mit ösophagotrachealer Fistel. Die initiale Diagnostik sollte äquivalent erfolgen.
Initiales Vorgehen bis zur definitiven Rekonstruktion Innerhalb der ersten 24–48 Lebensstunden erfolgt die konventionelle oder laparoskopisch assistierte Anlage einer Gastrostomie zur Einleitung einer enteralen Ernährung. Eine Bronchoskopie zum Ausschluss einer oberen oder unteren Fistel im Rahmen derselben Narkose ist zu empfeh-
247 23.2 · Angeborene Fehlbildungen
len. Die Ableitung des Speichels aus dem oberen Blindsack bis zur definitiven Versorgung erfolgt über eine »Schlürfsonde« mit einem Sog von 10–15 cm H2O. Alternativ kann ein kollares Ösophagostoma, vorzugsweise linksseitig (Spitz et al. 1993), angelegt werden. Vorteil dieser Lösung ist die Stimulierung der oralen Nahrungsaufnahme und des Schluckvorgangs durch die Möglichkeit von »Scheinfütterungen«. Hierdurch lässt sich das häufig nach der definitiven Rekonstruktion über Monate notwendig werdende Esstraining verkürzen. Nachteilig ist der potenzielle Verlust eines Teils des oberen Ösophagus bei der Rekonstruktion. Die Distanz der beiden Stümpfe ist vor dem Rekonstruktionseingriff durch ihre Darstellung auszumessen. Hierzu dient eine Kontrastdarstellung oder die Positionierung eines Bougies in den unteren Stumpf unter Röntgendurchleuchtung. Es ist sicherzustellen, dass der Bougie tatsächlich den unteren Stumpf und nicht den nach kranial in die Hiatusregion gehaltenen Magenfundus darstellt. In den folgenden Wochen kann es zu einer spontanen »Annäherung« der Stümpfe kommen. Mehrere Techniken zur Stimulierung des Wachstums sind beschrieben, insbesondere »Bougierungen« des oberen Stumpfes oder beider Blindsäcke, ohne dass hierfür ein Vorteil gegenüber der spontanen Annäherung belegt ist. Techniken zur primären und verzögert primären Rekonstruktion haben sich nicht bewährt, so dass heute Einigkeit über den optimalen Zeitpunkt der definitiven Rekonstruktion nach 8–12 Wochen besteht. Beträgt die Distanz der Stümpfe weniger als 4–6 Wirbelkörper, ist stets von thorakal zu explorieren und eine Anastomose zu anzustreben. Die Technik entspricht derjenigen der primären Rekonstruktion, da für die zahlreich beschrieben Verfahren zur Verlängerung des Ösophagus ein Vorteil bisher nicht belegt ist. Gelingt die Anastomose nicht oder erscheint diese von vornherein unmöglich, kommt eines der in 7 Kap. 23.5 dargestellten Ösophagusersatzverfahren unter Verwendung von Magen, Kolon oder Dünndarm zur Anwendung. Foker stellte zudem eine Traktionsmethode vor, die ein Wachstum der Stümpfe durch Fadenzug erzielen soll (Foker et al. 2006). Der Zug an den Traktionsfäden, die durch die Thoraxwand ausgeleitet werden, ist über einen Zeitraum von 2 Wochen schrittweise zu erhöhen. Aufgrund der unzureichenden Datenlage kann die Foker-Methode aber bisher nicht allgemein empfohlen werden.
23.2.4
H-Fistel ohne Atresie
Klinik und Diagnostik Die Diagnose dieser dritthäufigsten ösophagotrachealen Fehlbildung wird nicht immer in der Neonatalperiode gestellt. Patienten mit einer ösophagotrachealen Fistel und durchgängigem Ösophagus fallen durch vermehrtes Husten,
insbesondere während der Nahrungsaufnahme und durch rezidivierende Pneumonien auf. Die Symptome können einen gastroösophagealen Reflux vortäuschen. Die Diagnose wird anhand der Darstellung der Fistel im Rahmen einer Röntgenuntersuchung des Ösophagus mit wasserlöslichem Kontrastmittel gestellt. Eine Erhöhung des Drucks der Kontrastmittelapplikation durch Abdichtung des distalen Ösophagus mittels eines Ballonkatheters kann hilfreich sein. Gelingt die Kontrastdarstellung nicht, ist bei jeglichem Verdacht auf eine H-Fistel eine Bronchoskopie durchzuführen. ! Cave Bei Säuglingen mit Husten während der Nahrungsaufnahme ist eine H-Fistel auszuschließen.
Therapie Die Therapie beinhaltet die Ligatur und Durchtrennung der Fistel, wobei die präoperative bronchoskopische Einlage eines Katheters in die Fistel deren Identifikation während des Eingriffs erleichtert. Typischerweise befindet sich die Fistel im zervikothorakalen Übergangbereich der Trachea und zieht in kranialwärtiger Richtung von der Trachea zum Ösophagus. Der zervikale Zugang ist vorzugsweise von rechts zu wählen, die Inzision erfolgt anterior des M. sternocleidomastoideus. Bei der weiteren Präparation dienen die Vv. thyroideae mediae als Leitsrukturen, der N. laryngeus recurrens ist zu schonen. Nach beidseitiger Durchstichligatur wird der Fistelgang durchtrennt. Die Fistelligatur kann thorakoskopisch erfolgen, wobei die Zugangswege und die Technik der Fisteldurchtrennung im Wesentlichen dem Vorgehen bei der Ösophagusatresie mit ösophagotrachealer Fistel entsprechen (Aziz u. Schier 2005). Bisher liegen diesbezüglich lediglich Fallberichte vor, so dass eine generelle Empfehlung zur thorakoskopischen Ligatur noch nicht erfolgen kann. Die Ergebnisse der Fisteldurchtrennung sind ausgezeichnet, da Rezidive äußerst selten sind. Als Komplikation sind der Chylothorax und die Verletzung des N. laryngeus recurrens zu erwähnen.
23.2.5
Lanryngotracheoösophageale Spalte
Die Spalte stellt die schwerste laryngotracheoösophageale Fehlbildung dar. Auch hier wird eine fehlerhafte Trennung der Trachea und des Ösophagus zwischen der vierten und sechsten Gestationswoche postuliert. Die Spaltbildung beinhaltet einen gemeinsamen Verlauf der beiden Strukturen, wobei die Ausprägung der Spalte in Abhängigkeit von der Länge nach Petterson (Petterson 1955) in 3 Typen eingeteilt wird: 4 Spalte vom Larynx bis zum Krikroid (I) 4 Spalte bis in die zervikale Trachea (II) 4 Spalte der gesamten Trachea bis zur Karina (III)
23
248
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
Ein vierter Typ nach Ryan (Ryan et al. 1991) beschreibt Spalten mit einer Ausdehnung über die Karina hinaus bis in einen Hauptbronchus. Häufig bestehen assoziierte Fehlbildungen, insbesondere in Form kardialer Malformationen oder eines Situs inversus. Syndromale Formen der laryngotracheoösophagealen Spalte sind beschrieben.
Klinik und Diagnostik
23
Die Symptomatik ist abhängig von der Ausprägung der Spalte und ähnelt prinzipiell derjenigen der Ösophagusatresie. Sie beinhaltet Zyanoseanfälle und Attacken respiratorischer Insuffizienz im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme, die lebensbedrohliche Ausmaße annehmen können. Auffällig ist zudem ein vermindertes, heiseres oder fehlendes Schreien aufgrund der Beteiligung der Stimmritze. Die Röntgendiagnostik belegt die Aspiration von Kontrastmittel, kann aber die Diagnose nicht sichern. Der Nachweis der Spalte gelingt laryngobronchoskopisch, prolabierende Schleimhautfalten können jedoch die bronchoskopische Diagnose erschweren.
Therapie Die Versorgung dieser komplexen Fehlbildung erfordert ein multidisziplinäres Vorgehen unter Einbeziehung der Kinderchirurgie, Otorhinolaryngologie und Intensivmedizin. Mit der Diagnosestellung ist eine Intubation und Stabilisierung des Patienten anzustreben. Initial kann neben der Anlage einer Gastrostomie in Abhängigkeit vom Befund eine Tracheostomie erforderlich werden. Der Zugang zur definitiven Rekonstruktion erfolgt von zervikal, wenn erforderlich auch von thorakal. Das Prinzip der Korrektur beinhaltet die Separation des gemeinsam verlaufenden Anteils der Organe. Im Rahmen der Präparation der Trachea kann ein Teil der Ösophaguswand an der Trachea belassen werden, um hiermit deren Rückwand zu verschließen. Anschließend wird der Ösophagus über einer Magensonde rekonstruiert. Die zusätzliche Verwendung von körpereigenem Material wie Tibiaperiost oder der Faszie des M. temporalis kann die Nähte sichern. In Abhängigkeit von der Komplexität der Fehlbildung ist nach der Rekonstruktion eine kurzzeitige maschinelle Beatmung, eine Langzeiternährung über die Gastrostomie und ein Esstraining über mehrere Monate erforderlich. Die Komplikationsrate ist hoch mit Rezidiv-Spaltbildungen bei bis zu 30% der Patienten. Zu erwarten sind persistierende Schluckstörungen und rezidivierende Aspirationspneumonien. Die Mortalität ist abhängig von dem Typ der Fehlbildung und beträgt für den Typ I ca. 15% und für den Typ IV bis zu 100%.
23.2.6
Kongenitale Ösophagusstenose
Die kongenitale Ösophagusstenose ist selten. Histomorphologisch lassen sich nach Nihoul-Fékété (Nihoul-Fékété et al. 1987) 3 Typen differenzieren:
4 Knorpelige Stenose/tracheobronchiale Reste 4 Fibromuskuläre Stenose 4 Membranöse- oder netzartige Stenose Die ersten beiden Typen befinden sich meist im mittleren oder distalen Ösophagusdrittel, membranöse Stenosen liegen im oberen Drittel. Am häufigsten ist die knorpelige Stenose im distalen Ösophagusdrittel, die mit einer Ösophagusatresie vergesellschaftet sein kann. Meist tritt die Ösophagusstenose jedoch ohne assoziierte Fehlbildungen auf.
Klinik und Diagnostik Säuglinge mit kongenitaler Ösophagusstenose werden, typischerweise bei Umstellung der Ernährung auf feste Kost, mit Dysphagie und Erbrechen unverdauter Nahrung auffällig. Hinweisend kann ein Bolusereignis sein. Unspezifische Symptome sind Gedeihstörung, Gewichtsverlust, Unterernährung und Dehydratation. Analog zur H-Fistel wird häufig zunächst ein gastroösophagealer Reflux vermutet. Die Verdachtsdiagnose wird durch eine Röntgenkontrastmitteldarstellung des Ösophagus erhärtet, im Rahmen derer sich bei der membranösen Stenose im mittleren Ösophagus eine kurzstreckige Einengung des Lumens mit zentraler Öffnung darstellt. Fibromuskuläre oder knorpelige Stenosen sind unschärfer begrenzt, ausgedehnter und im unteren Ösophagusdrittel gelegen. Die Diagnose wird ösophagoskopisch gesichert und ist in der Regel für das Endoskop passierbar. Bei älteren Kindern kann eine endosonographische Diagnostik hilfreich sein.
Therapie Zunächst ist eine endoskopische Dilatation der Stenose mittels Ballonkatheter oder Bougies anzustreben, wobei in der Regel mehrere Sitzungen erforderlich sind. Membranöse Stenosen können zudem endoskopisch mittels Laser oder elektrokoagulatorisch eröffnet werden. Bei ausgeprägten Befunden oder Rezidivstenosen nach endoskopischer Dilatation ist die Resektion der Stenose mit Endzu-End-Anastomose des Ösophagus indiziert. Der Engriff kann über eine rechtsseitige Thorakotomie oder thorakoskopisch erfolgen, bei Stenosen im unteren Ösophagusbereich auch über einen linksseitigen Zugang. Zur Identifikation des zu resezierenden Bereichs ist es hilfreich, die Stenose von intraluminal durch die vorherige Einlage eines Ballonkatheters zu markieren. Bei distalen Stenosen ist zudem die simultane Durchführung einer Fundoplikatio zu diskutieren. Grundsätzlich besteht bei der endoskopischen Dilatation das Risiko einer Ösophagusruptur und einer Rezidivstenose. Auch nach der Resektion sind Rezidivstenosen beschrieben, weshalb 6 Monate nach einer Dilatation oder Resektion eine Kontrastmitteldarstellung erfolgen sollte. Im Langzeitverlauf sind Motilitätsstörungen analog zur Öso-
249 23.3 · Funktionelle Erkrankungen des Ösophagus
phagusatresie nicht zu erwarten, so dass sich in der Regel eine normale Funktion des Ösophagus einstellt.
23.2.7
Ösophagusduplikatur
Duplikaturen des Ösophagus imponieren meist als zystische Struktur mit oder ohne Kommunikation zur Speiseröhre. Sie sind überwiegend rechtsseitig im Bereich des thorakalen Ösophgus im hinteren Mediastinum, selten zervikal lokalisiert. Meist besteht eine zystische Formation ohne eine gemeinsame Muskelwand oder Kommunikation mit der Speiseröhre, die ektopische Magenmukosa enthalten kann.
Klinik und Diagnostik Ösophagusduplikaturen werden als Zufallsbefund im Rahmen einer Röntgenaufnahme oder durch spezifische Symptome auffällig. Im Vordergrund stehen verdrängungsbedingte Symptome wie Stridor, Dyspnoe oder Dysphagie. Neben einer Röntgenkontrastdarstellung des Ösophagus ist eine Computer- oder Kernspintomographie hilfreich, um vor der operativen Therapie die Ausdehnung und Lokalisation zu sichern. Zu beachten sind hierbei die mögliche Kommunikation mit dem Spinalkanal und die Ausdehnung bis in den Abdominalraum im Sinne einer thorakoabdominalen Duplikatur.
Therapie Die Therapie beinhaltet die Exstirpation der Duplikatur, die heute zunehmend auf thorakoskopischen Weg erfolgen kann. Bei großen Befunden oder unübersichtlichen Verhältnissen wird der Eingriff über eine rechtsseitige Thorakotomie vorgenommen.
23.2.8
Gefäßring/doppelter Aortenbogen
Angeborene Fehlbildungen der Aorta und deren Hauptäste können zu einer Ösophaguskompression führen. Der Obstruktion kann ein kompletter Gefäßring im Sinne eines doppelten Aortenbogens oder ein inkompletter Gefäßring zugrunde liegen. Letzterer wird meist durch aberrierende dorsal des Ösophagus verlaufende Arteriae subclaviae oder einen atypisch verlaufenden einfachen Aortenbogen gebildet.
Klinik und Diagnostik Die Gefäßringe verursachen in erster Linie eine Dysphagie, die in Abhängigkeit der Ausprägung der funktionellen Stenose, häufig nach Umstellung der Nahrung auf festere Kost auftritt. In der Röntgenkontrastuntersuchung der Speiseröhre zeigt der doppelte Aortenbogen typischerweise eine rechtsseitige Achsenabweichung des poststenotischen vom prästenotischen Ösophagus. Bei inkompletten Gefäßringen
kann lediglich eine Einkerbung des Ösophagus im Verlauf des Gefäßes imponieren (Bonnard et al. 2003). Die Diagnose kann kernspintomographisch gesichert werden.
Therapie Die chirurgische Therapie des doppelten Aortenbogens besteht in der Durchtrennung des linken Bogens, der den anterioren Anteil des kompletten Ringes bildet, an seiner engsten Stelle über eine linksseitige Thorakotomie. Zudem werden die Trachea und der Ösophagus von den umgebenden Gefäßstrukturen freipräpariert und das Ligamentum arteriosum durchtrennt, um eine effektive Dekompression zu erreichen. Eine Durchtrennung und Reimplantation einer aberrierenden A. subclavia ist in den meisten Fällen nicht notwendig, da die Mobilisation des Gefäßes mit Veränderung des Verlaufs meist ausreicht, um die Dysphagiesymptomatik zu beheben (Roberts et al. 1994).
23.3
Funktionelle Erkrankungen des Ösophagus
23.3.1
Divertikel
Divertikel des Ösophagus sind bei Kindern äußerst selten. Sie treten in der Regel sekundär im Rahmen einer funktionellen Ösophaguserkrankung wie dem Ösophagusspasmus auf und sind als Folge einer prästenotischer Druckerhöhung anzusehen. Beim Ehlers-Danlos-Syndrom kann eine generalisierte intestinale Divertikulose den Ösophagus mitbetreffen. Klinik und Diagnostik. Klinisch führt das Ösophagusdiver-
tikel zur Dysphagie, zum Bolusgefühl und Foetor ex ore. Die Diagnose wird radiologisch durch eine Kontrastdarstellung des Ösophagus gestellt, wobei differenzialdiagnostisch die Ösophagusduplikatur in Frage kommt. Therapie. Die operative Therapie beinhaltet die Resektion des Divertikels und die Übernähung der Speiseröhre über eine rechtsseitige Thorakotomie oder Thorakoskopie.
23.3.2
Achalasie
Die Ösophagusachalasie ist eine bei Kindern seltene motorische Störung des distalen Ösophagus, bei der es zu einer mangelnden Relaxation des unteren Ösophgaussphinkters mit distaler Engstellung und einer kranial davon bestehenden Dilatation und Hypoperistaltik kommt. Pathophysiologisch besteht eine progressive Innervationsstörung mit verminderter Aktivität der »nitric oxide synthase« (NOS). Ein verminderter Spiegel an Stickstoffmonooxid (NO) geht mit einer verminderten Relaxation der unwillkürlich innervierten Ösophagusmuskulatur einher (Mearin et al. 2006).
23
250
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
Eine Vergesellschaftung mit einer adrenokortikalen Insuffizienz und Alakrimie (Triple A) liegt beim Algrove-Syndrom vor.
23
Klinik und Diagnostik. Kinder mit einer Ösophagusachalasie fallen in der Regel durch unzureichende Nahrungsaufnahme, Erbrechen unverdauter Nahrung und Dystrophie auf. Das radiologische Bild ist eindeutig und zeigt eine filiforme Stenose des distalen Ösophagus vor der Kardia mit konischer Weitstellung des hypoperistaltisch imponierenden, kranial davon gelegenen Ösophagusabschnittes (. Abb. 23.10). Eine Ösophagusmanometrie, die bei Erwachsenen regelhaft zu Sicherung der Diagnose durchgeführt wird, kann auch Kindern eine Hochdruckzone im distalen Ösophagus nachweisen. Endoskopisch imponieren oberhalb der Achalasie eine Retention von Nahrungsresten und häufig aufgrund von gastroösophagealem Reflux und retinierter Magensäure eine Ösophagitis. Therapie. Für die orale Applikation von Nifedipin, das
durch eine Blockade der Kalziumkanäle zur Erschlaffung der distalen Ösophagusmuskulatur führt, konnte kein anhaltender Erfolg belegt werden. Gleiches gilt für die lokale
. Abb. 23.11. Laparoskopische Kardiamyotomie. Die Spaltung der Ösophagusmuskulatur erfolgt über eine Strecke von etwa 5 cm bis über die Kardia hin, wobei die Mukosa intakt bleibt
Injektion von Botulinustoxin. Auch endoskopische Bougierungsversuche mittels einer Ballonsonde sind in der Regel langfristig nicht erfolgreich. Daher ist die operative Therapie die Methode der Wahl. Das Prinzip der Ösophagomyotomie nach Heller beinhaltet die Durchtrennung sämtlicher Muskelschichten des distalen Ösophagus einschließlich der Kardia unter Erhalt der Mukosa. Die Muskulatur wird hierbei über eine Strecke von etwa 5 cm bis über die Kardia hin gespreizt. Der Eingriff kann von thorakal oder abdominal vorgenommen werden, wobei sich das laparoskopische Vorgehen in einer 4- bis 5-Trokar-Technik aufgrund der optimalen Exposition der Kardiaregion durchgesetzt hat (. Abb. 23.11; Rothenberg et al. 2001). Zuvor stattgehabte Bougierungen sind keine Kontraindikation für das laparoskopische Vorgehen. Einigkeit besteht darüber, dass in derselben Sitzung eine Fundoplikatio zur Prävention eines gastroösophagealen Refluxes vorzunehmen ist, wobei nach partieller im Vergleich zur vollständigen Fundoplikatio eine Dysphagie seltener sein soll. Die motorische Störung des gesamten Ösophagus bleibt nach der Myotomie bestehen und kann im Langzeitverlauf problematisch werden. Aufgrund der Motilitätsstörung der Speiseröhre und der Möglichkeit von Rezidiven sind Kinder nach einer Myotomie einem jährlichen Nachsorgeprogramm zuzuführen. Minimalinvasive Re-Operationen eines Achalasierezidivs wurden erfolgreich durchgeführt.
23.3.3
. Abb. 23.10. Filiforme Stenose des distalen Ösophagus vor der Kardia mit konischer Weitstellung eines hypoperistaltisch imponierenden, kranial davon gelegenen Ösophagusabschnittes
Sklerodermie
Die fehlerhafte Kollagensynthese der Skelerodermie kann auch den Ösophagus betreffen und als Rarität auch bei Kindern zu einem bindegewebigen Umbau der glatten Muskulatur mit einem resultierenden rigiden, hypoperistaltisch imponierenden distalen Ösophagus führen. Ein gastroöso-
251 23.4 · Erworbene Erkrankungen des Ösophagus
phagealer Reflux mit massiver Ösophagitis und peptischen Strikturen sind die Folge und können eine Fundoplikatio erforderlich machen. Hierdurch wird die Grunderkrankung zwar nicht beeinflusst, aber dem Fortschreiten einer refluxbedingten Stenosierung entgegengewirkt.
23.4
Erworbene Erkrankungen des Ösophagus
23.4.1
Chemische und mechanische Schädigungen des Ösophagus
Chemische Schädigungen der Speiseröhre sind meist das Ergebnis einer akzidentellen Laugen- oder Säureingestion des Kleinkindes und selten einer Ingestion von Chemikalien bei Jugendlichen in suizidaler Absicht. In der Regel handelt es sich um flüssige, laugenhaltige Reinigungsmittel, die in Abhängigkeit von der Kontaktzeit, der Art der Chemikalie und der Viskosität der Flüssigkeit eine langstreckige Schädigung des Organs hervorrufen und zu einer schweren Schädigung des Ösophagusepithels mit verflüssigten Nekrosen führt. Ist die gesamte Ösophaguswand betroffen, kann es zur Perforation kommen. Säureingestionen verursachen dagegen Koagulationsnekrosen, die meist die inneren Wandschichten des Ösophagus betreffen oder den Ösophagus aussparen und erst im Magen zur Schädigung führen. Trockensubstanzen schädigen eher den Mund, Rachen und oberen Ösophagus. Batterien können nach Laugenaustritt lokal begrenzte Befunde verursachen, passieren jedoch in der Regel den Ösophagus, ohne dort Schäden zu verursachen. Eine lokalisierte mechanische Schädigung des Ösophagus wird typischerweise durch retinierte Fremdkörper wie Münzen oder Spielzeugteile verursacht. Prädilektionsstellen der fremdkörperbedingten Schädigung sind die natürlichen Engen des Ösophagus. > Die Laugeningestion ist im Vergleich zur Säureingestion häufiger und geht mit einer schwereren Schädigung der gesamten Ösophaguswand einher
Klinik und Diagnostik Bei der chemischen Ösophagusläsion liegt meist gleichzeitig eine oropharyngeale Verletzung vor, die bei der initialen Untersuchung auffällt und den Verdacht auf eine Ingestion nahe legt. Ösophagusschädigungen können jedoch auch ohne sichtbare oropharyngeale Affektion auftreten. Generell gilt, dass bei jedem Verdacht auf eine Ingestion einer laugen- oder säurehaltigen Substanz eine ösophagoskopische Diagnostik einzuleiten ist. Diese sollte innerhalb der ersten 24 h nach dem Ereignis erfolgen und zeigt in Abhängigkeit vom Ausmaß der Schädigung des Ösophagus eine Rötung mit Schleimhautödem bis hin zu Ulzerationen und Nekrosen. Eine für Erwachsene etablierte Graduierung der Schädigung von 0 bis III gilt auch für Kinder (. Tab. 23.5;
Miller et al. 1993). Bei Verätzungen weisen längsgerichtete Ulzera im Gegensatz zu zirkulären Befunden eine günstigere Prognose hinsichtlich einer späteren Strikturbildung auf. Initial ist der Schweregrad der Schädigung nicht immer zuverlässig einzuschätzen, doch kann eine fehlende Ösophagusperistaltik bei der ersten Untersuchung ein Hinweis auf eine transmurale Schädigung sein. Zur Beurteilung der Ösophagusmotilität kann zudem innerhalb der ersten 48 h eine Röntgenkontrastmitteldarstellung erfolgen. Der nuklearmedizinische Nachweis einer Schleimhautschädigung mit 99mTechnetium markiertem Sukralfat lässt keine sichere Aussage über die Schwere des Epithelschadens zu. ! Cave Eine initial fehlende Symptomatik und fehlende oropharyngeale Läsionen schließen eine schwere chemische Ösophagusschädigung nicht aus.
Die Ingestion von Fremdkörpern führt zur Dysphagie mit Nahrungsverweigerung und zum »Speicheln« als typischem Symptom. Ist der Fremdkörper bekannt und röntgendicht, kann mittels einer Röntgenübersichtsaufnahme der Verhalt im Ösophgaus gesichert werden. Jeder Fremdkörper im Ösophagus ist unverzüglich zu entfernen, so dass bei radiologischem Fremdkörpernachweis und bei jeglichem Verdacht auf die Ingestion eines nicht röntgendichten Fremdkörpers eine Endoskopie zu erfolgen hat. Alternativ kann bei Verdacht auf den Verhalt eines nicht röntgendichten Fremdkörpers eine Röntgenkontrastdarstellung der Speiseröhre durchgeführt werden.
Therapie Das Auslösen von Erbrechen nach Säure- oder Laugeningestion ist kontraindiziert, da im Magen eine rasche Laugenneutralisierung eintritt und eine erneute Passage von Säure durch den Ösophagus zur weiteren Epithelschädigung führen kann. Eine »Neutralisierung« durch orale Applikation von Milch oder pH-neutralisierenden Lösungen sollte unterbleiben, um reflektorischem Erbrechen vorzubeugen.
. Tab. 23.5. Endoskopische Graduierung der Ösophagusschädigung (Miller et al. 1993) Grad
Befunde
0
Normal
I
Ödem und Hyperämie der Schleimhaut
IIa
Blutung, Erosion, Blasen, weiße Beläge, oberflächliche Ulzerationen
IIb
Grad IIa und tiefe Ulzerationen, auch über die gesamte Zirkumferenz
IIIa
Nekroseareale mit brauner oder grauer Verfärbung
IIIb
Ausgedehnte Nekrosen
23
252
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
! Cave Das Auslösen von Erbrechen und die Gabe pH-neutralisierender Lösungen sind nach Säure- oder Laugeningestion kontraindiziert.
23
Die intravenöse Flüssigkeitssubstitution zur Schockprophylaxe oder -therapie und die intravenöse Applikation von Analgetika gehören zum Standardvorgehen. Bei Patienten mit Grad-I-Läsionen kann rasch mit dem oralen Nahrungsaufbau begonnen werden, so dass weitere Maßnahmen nicht erforderlich sind. Bei Grad-II- und Grad-III-Verletzungen kann eine systemische Steroidtherapie, z. B. mit Prednison 2 mg/kg KG/24 h eingeleitet werden. Hinsichtlich der Verminderung des Auftretens von Strikturen besteht jedoch kaum Evidenz (Ashcraft 2005). Bei Nekrosenbildung und Motilitätsverlust erfolgt die enterale Ernährung entweder über eine nasal eingebrachte Magensonde oder in schweren Fällen über eine Gastrostomie, die vorzugsweise laparoskopisch assistiert angelegt wird. Zudem ist eine Therapie mit Protonenpumpenhemmern oder H2Blockern einzuleiten. Die gefürchtete Frühkomplikation der Ösophagusverätzung ist die Ösophagusperforation mit konsekutiver Mediastinitis, Beteiligung des Tracheobronchialsystems oder Penetration in die Aorta. Insbesondere nach Ingestionsverletzungen in suizidaler Absicht können aufgrund der Menge der aufgenommenen Chemikalien und einer ausgedehnten Gewebeschädigung rasche chirurgische Maßnahmen bis zur Ösophagektomie und Gastrektomie erforderlich werden.
23.4.2
Ösophagusstriktur
dilatation (möglicherweise effektiver) der Vorzug zu geben ist. Stets ist das Behandlungsergebnis nach einer Bougierung radiologisch oder endoskopisch engmaschig zu kontrollieren, um Rezidive rechtzeitig zu erkennen. Sind multiple Bougierungen über einen Zeitraum von 6–12 Monaten nicht erfolgreich, kann im Falle einer kurzstreckigen Striktur eine Resektion des Bereiches mit Reanastomosierung des gesunden Ösophagus notwendig werden. In der Regel ist bei Kindern mit langstreckigen therapieresistenten Strikturen oder unzureichender Funktion des Ösophagus ein Ösophagusersatzverfahren zu diskutieren. ! Cave Gefürchtete Komplikationen der Ösophagusläsion durch Laugen- oder Säureingestion: Ösophagusperforation, Mediastinitis, Penetration in das Tracheobronchialsystem oder die Aorta.
23.4.3
Ösophagusperforation und -ruptur
Als Ursachen der Ösophagusperforation kommen iatrogene Manipulationen und intraluminale Fremdkörper in Betracht. Iatrogene Faktoren sind die Fehlintubation, die Fehlplatzierung einer Magensonde und insbesondere die Endoskopie mit oder ohne Probenentnahme oder Bougierung. Traumatische Rupturen können zudem durch Fremdkörperpenetration von außen, chemische Verletzung oder durch ein stumpfes Thorax- oder Halstrauma entstehen. Selten kann bei Neugeborenen, Säuglingen oder Kleinkindern heftiges Erbrechen zu einer Ösophagusruptur führen (Boerhaave-Syndrom).
Klinik und Diagnostik
Klinik und Diagnostik
Ösophagusstrikuren sind meist auf einen gastroösophagealen Reflux (peptische Striktur), die Ingestion von säureoder laugenhaltigen Lösungen, oder eine frühere Ösophagusanastomose zurückzuführen. Der Nachweis einer Striktur erfolgt radiologisch und endoskopisch. Da ein gastroösophagealer Reflux eine Ösophagusstriktur unterhalten oder aggravieren kann, ist gegebenenfalls eine entsprechende Diagnostik und Therapie vorzunehmen.
Die Symptomatik einer Perforation oder Ruptur des Ösophagus ist Folge der Leckage von Speichel und Nahrungsbestandteilen und eines gestörten Ösophagustransportes. Neben respiratorischen Symptomen wie Husten und Luftnot, die bei Nahrungsaufnahme zunehmen, stellen sich rasch Fieber und ein septisches Krankheitsbild als Zeichen einer Mediastinitis ein. Ältere Kinder klagen über heftige retrosternale Schmerzen und Dysphagie. Zudem kann ein Hautemphysem auffallen. Die Röntgenübersichtsaufnahme in 2 Ebenen zeigt in Abhängigkeit vom Ausmaß und der Lokalisation der Verletzung ein verbreitertes Mediastinum, ein Pneumomediastinum und einen meist rechtsseitigen Pneumothorax. Bei der spontanen Perforation des Neugeborenen findet dagegen typischerweise eine Drainage in den linken Thorax statt. Zur Perforation durch eine Magensonde kommt es meist im oberen Ösophagus, wobei die radiologisch erkennbare Fehllage hinweisend ist. In allen übrigen Fällen wird die Diagnose durch Applikation wasserlöslichen Kontrastmittels in den Ösophagus gesichert und gleichzeitig
Therapie Die Therapie der peptischen Ösophagusstriktur beinhaltet die Applikation von Protonenpumpenhemmern oder H2Blockern und Bougierungen, die zunächst in 1- bis 2-wöchentlichen Abständen vorgenommen werden. Bougierungen sollten unter antibiotischer Prophylaxe erfolgen, um einer Bakteriämie vorzubeugen. Bei Strikturen durch eine chemische Ösophagusverletzung kann eine Bougierungstherapie bereits 2–3 Wochen nach der Ingestion eingeleitet werden. Unklar ist hierbei, ob der Bougierung mittels Dilatatoren (möglicherweise sicherer) oder der Ballon-
253 23.5 · Ösophagusersatzverfahren
die Perforationsstelle lokalisiert. Neugeborenen und Kleinkindern wird das Kontrastmittel über eine in den oberen Ösophagus platzierte Sonde appliziert. Zu beachten ist, dass bei bis zu 10% der Fälle die Diagnosestellung radiologisch nicht gelingt. Bei unklaren Befunden kann daher eine obere Intestinoskopie indiziert sein, diese geht aber mit dem Risiko der Vergrößerung der Perforationsstelle einher. > Bei Verdacht auf eine Ösophagusperforation erfolgt eine Röntgenuntersuchung des Thorax in 2 Ebenen und eine Kontrastmitteldarstellung des Ösophagus.
verlauf mit dem Risiko einer Striktur einher, weshalb Follow-up-Untersuchungen einschließlich einer Kontrastdarstellung der Speiseröhre im Verlauf indiziert sind. Selbst schwere Mediastinitiden und Thoraxempyeme heilen in der Regel folgenlos aus, so dass die Langzeitprognose ausgezeichnet ist. > Die frühe Diagnosestellung hat bei der Ösophagusruptur entscheidende prognostische Bedeutung.
23.5
Ösophagusersatzverfahren
Therapie Eine Perforation oder Ruptur des Ösophagus ist ein absoluter Notfall, der in der Regel einer intensivmedizinischen Überwachung und Behandlung bedarf. Das Behandlungskonzept ist abhängig von der Lokalisation der Perforation, dem Ausmaß der Läsion, der zeitlichen Distanz zum Perforationsereignis und den systemischen Effekten. In den letzten Jahren hat sich das konservative Vorgehen ohne Rekonstruktion oder Übernähung der Speiseröhre durchgesetzt. Dies gilt insbesondere für Patienten mit einem zeitlichen Abstand zum Verletzungsereignis. Das initiale Therapiekonzept umfasst die intravenöse Applikation von Breitbandantibiotika, die Einleitung einer parenteralen Ernährung über einen zentralvenösen Zugang und die Applikation von Protonenpumpeninhibitoren oder H2-Blockern. Bei kleinen Defekten erfolgt das vorsichtige Einlegen einer Magensonde, um nach Beherrschung der septischen Komplikationen früh eine enterale Ernährung einleiten zu können. Bei Anzeichen einer Leckage in die Thoraxhöhle oder einem Pleuraempyem ist die Einlage einer Thoraxdrainage obligat. Diese wird vorzugsweise thorakoskopisch vorgenommen um die Drainage gezielt in der Region der Perforation platzieren zu können und einen direkten Sekretabfluss zu gewährleisten. Gleichzeitig kann eine thorakoskopische Empyemausräumung vorgenommen werden. Lediglich für die Ösophagusruptur des Neugeborenen, insbesondere bei endoskopisch gesichertem großem Defekt, wird ein sofortiges chirurgisches Vorgehen mit Thorakotomie und Übernähung der Speiseröhre empfohlen, wobei zur Sicherung des Verschlusses ein Pleura- oder Perikardflap aufgelegt werden kann. Bei größeren Kindern können ausgedehnte Befunde mit Diskontinuität des Ösophagus ein zweizeitiges operatives Vorgehen mit initialer Gastrostomie und/oder Ösophagostomie und sekundärer Reanastomosierung oder sekundärem Ösophagusersatz erforderlich machen. Nach Beherrschung der Mediastinitis, der Sepsis und des Thoraxempyems kommt es in Abhängigkeit vom Ausmaß der lokalen Infektion innerhalb von 1–3 Wochen zum spontanen Verschluss des Defekts. Die orale Nahrungsaufnahme kann nach radiologischer Sicherung der Ausheilung eingeleitet werden. Jede Ösophagusläsion geht im Langzeit-
Die häufigsten Indikationen für einen Ersatz der Speiseröhre sind die langstreckige Ösophagusatresie und chemische Verletzungen. Peptische Strikturen, die trotz medikamentöser Therapie, Fundoplikatio und Bougierungen eine Ernährung nicht zulassen und einen Ersatz erfordern, sind in der westlichen Welt selten geworden. Spitz stellte die für alle Ersatzverfahren geltenden Erfordernisse zusammen (Spitz 2006): 4 Das Conduit muss langfristig die orale Ernährung sichern. 4 Das Conduit muss adäquat zum Wachstum des Patienten mitwachsen und gleichzeitig seine Form behalten. 4 Ein gastroösophagealer Reflux sollte durch das Operationsverfahren minimiert bzw. vom Transponat toleriert werden. 4 Pulmonale, kardiale und kosmetische Beeinträchtigungen sind zu minimieren. 4 Das Verfahren sollte auch bei kleinen Kindern technisch möglichst einfach durchführbar sein. Die im Weiteren aufgeführten Techniken haben hinsichtlich dieser Erfordernisse unterschiedliche Vor- und Nachteile. Prinzipiell kann das Transponat retrosternal oder transpleural durch das hintere Mediastinum platziert werden. Das transpleurale Vorgehen erfolgt auf dem direkten Weg im natürlichen Ösophagusbett ohne Abknickung des Transponats. Es geht im Vergleich zum retrosternalen Vorgehen mit einer geringeren Verdrängung der Lunge einher, erfordert nicht regelhaft eine Thorakotomie, ist aber nach mediastinalen Entzündungen nicht immer durchführbar und mit einer höheren Gefahr der Verletzung von Gefäßen verbunden. Das retrosternale Vorgehen ist sicherer, doch wird ein längerer Weg benötigt und zudem eine Abwinkelung des Transponats in Kauf genommen. Der optimale Zeitpunkt für einen Ösophagusersatz ist abhängig von der Indikation. Bei langstreckiger Ösophagusatresie sollte das Kind ein Gewicht von 5 kg und damit in der Regel ein Alter von 3 Monaten erreicht haben. Bei langstreckigen Verätzungen wird die Indikation zum Ösophagusersatz nach 6–12 Monaten erfolgloser Bougierungstherapie gestellt.
23
254
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
23.5.1
23
Koloninterponat
Die erste Koloninterposition bei Kindern mit Ösophagusatresie wurde 1955 beschrieben. Seitdem ist die Interposition von Kolon in den USA und zahlreichen anderen Ländern zu dem am häufigsten durchgeführten Ösophagusersatzverfahren avanciert (Hamza et al. 2003; Lindahl et al. 1983). Prinzipiell kann das Interponat aus dem Colon ascendens mit Blutversorgung durch die A. colica media und bei Erhalt des Ileozökalbereichs retrograd durch die ileokolischen Gefäße oder aus dem linken Kolon mit Versorgung durch die linksseitigen Gefäße des Dickdarms gebildet werden. Das Interponat kann iso- oder antiperistaltisch eingesetzt werden, wobei meist das Colon ascendens retrosternal oder das linke Kolon retrohilär eingebracht wird. Interponat aus dem rechten Kolon. Die Interposition des
rechten Kolon erfolgt über eine quere Oberbauchlaparotomie (Gross u. Firestone 1967). Nach Mobilisation und Abschätzung der erforderlichen Länge des Interponats werden die zu ligierenden Gefäße temporär abgeklemmt, um die ausreichende Durchblutung zu überprüfen. Bei Resektion der Ileozökalregion erfolgt die Durchblutung ausschließlich aus der A. colica sinistra. Beim ileozökalerhaltenden Vorgehen ist eine Appendektomie vorzunehmen. Der obere Ösophagusstumpf wird über eine linksseitige kollare Inzision mobilisiert und mittels stumpfer Präparation ein retrosternaler Tunnel ventral des Thymus und des Perikards
. Abb. 23.12. Koloninterponat
angefertigt. Das Interponat wird hinter dem Magen hochgezogen und mit seinem kaudalen Ende im Bereich der kleinen Kurvatur mit der Vorderwand des Magens anastomosiert. Nach Ausführung der kollaren Anastomose wird die Anlage einer Gastrostomie für die initiale Ernährung empfohlen. Interponat aus dem linken Kolon. Die ursprünglich von Waterston beschriebene Interposition des linken Kolon wurde von Hamza (Hamza et al. 2003) modifiziert. Die Mobilisation des thorakalen Ösophagus erfolgt von abdominal durch den Hiatus oesophageus, in Ausnahmefällen über einen zusätzlichen thorakalen Zugang. Die obere Speiseröhre wird von zervikal mobilisiert und ein transhiataler Tunnel präpariert, durch den das Interponat nach kranial verbracht wird. Die gastrokolische Anastomose wird im Bereich der Kardia angefertigt. Abschließend erfolgen Antirefluxplastik und Pyloroplastik (. Abb. 23.12). Vergleich linkes versus rechtes Kolon. Mehrere Analysen
belegten für die retrohiläre Transposition des linken Kolon im Vergleich zur retrosternalen Verwendung des rechten Kolon Vorteile im Sinne einer niedrigeren Leckagerate, verminderter Refluxprobleme und besserer funktioneller Ergebnisse. Generell beträgt die Mortalität nach Koloninterposition heute unter 5%. Für die häufigste perioperative Komplikation, die Leckage, wird eine verminderte Durchblutung des Transponats oder des oberen Ösophagus-
255 23.5 · Ösophagusersatzverfahren
. Tab. 23.6. Inzidenz von Symptomen im Langzeitverlauf nach Koloninterposition bei langstreckiger Ösophagusatresie (Ure et al. 1998) Symptom
%
Dyspnoe
100
Diarrhö
62
Sodbrennen/Reflux von Nahrung
38
Erbrechen
12
Schmerzen
12
Husten/chronische Bronchitis
25
stumpfes verantwortlich gemacht. Sie tritt bei 10–20% der Eingriffe an der oberen Anastomose auf und heilt unter parenteraler Ernährung in der Regel spontan aus. Anastomosenstrikturen weisen eine ähnliche Inzidenz auf und sprechen gut auf Bougierungen an. Im Langzeitverlauf kann es im Interponat zu refluxbedingten Erosionen und Ulzerationen mit Blutungen und zur Barett-Metaplasie kommen. Komplikationen. Das Koloninterponat weist keine Peristal-
tik auf (Ure et al. 1997), so dass der Transport ausschließlich über die Gravitation erfolgt. Dies führt zu einer deutlich verlängerten Passagezeit, häufig mit Dysphagie und Bolusgefühl. Aufgrund des mangelnden Tonus kommt es zu Aussackungen bis zur grotesken Formation des Interponats mit Verhalt und Regurgitation der Nahrung. In diesen Fällen kann eine Nachresektion zur Streckung des Interponats indiziert sein. Nachsorge. Im Langzeitverlauf ist ein Eisenmangel auszu-
schließen, der bei bis zu 50% der Patienten eintritt. Persistierende Symptome können nach einer Koloninterposition die Lebensqualität bis in das Erwachsenenalter beeinträchtigen, haben aber in der Regel keinen Einfluss auf soziale, emotionale und physische Lebensqualitätsparameter (. Tab. 23.6; Ure et al. 1997, 1998).
23.5.2
Magenhochzug
Die thorakale Transposition des Magens als Ösophagusersatz für Kinder mit langstreckiger Ösophagusatresie oder Verätzungen wurde erstmals in den 80er-Jahren von Spitz beschrieben (Spitz et al. 1987). Hierbei wird der Magen durch die anatomisch vorgegebenene Zwerchfelllücke, den Hiatus oesophageus, in das obere Mediastinum hochgezogen und dort mit dem oberen Ösophagusstumpf anastomosiert, ohne dass regelhaft eine Thorakotomie erforderlich ist. Letztere ist lediglich bei thorakalen Verwachsungen
nach vorheriger Operation, Infektion oder Entzündung indiziert, um eine sichere Transposition zu gewährleisten. Die vollständige Mobilisation des Magens erfolgt über eine Oberbauchlaparotomie, wobei die gastro-epiploischen Gefäße und die A. gastrica dextra erhalten bleiben. Die Gastrostomie ist auszulösen, zu verschließen und der Ösophagusstumpf abzutragen. Eine Pyloromyotomie oder Pyloroplastik wird empfohlen, ist aber nicht obligat. Nach Auslösung des kollaren Ösophagostomas bzw. der Mobilisierung des oberen Ösophagusstumpfes wird von abdominal durch den Hiatus oesophageus stumpf digital und vom kollaren Zugang retrohilär präpariert. Der Magen wird hiernach an Haltefäden bis zum Hals hochgezogen und mit dem oberen Ösophagusstumpf vom Hals aus anastomosiert. Zur postoperativen Ernährung erfolgt die Einlage eines temporären Jejunostomiekatheters. Die Mobilisation des Magens, die stumpfe thorakale Präparation und die Pyloroplastik können laparoskopisch erfolgen (. Abb. 23.13; Ure et al. 2003). Die Präparation im Bereich des Thorax und des Halses kann zur ödematösen Schwellung der Regionen mit Kompromittierung der Belüftung führen, weshalb eine Beatmung über 2–3 Tage empfohlen wird. Das weitere Vorgehen beinhaltet eine enterale Ernährung über das Jejunostoma ab dem 2. postoperativen Tag und eine Röntgenkontrastdarstellung des Magens vor Einleitung des oralen Nahrungsaufbaus nach einer Woche. Komplikationen. Die häufigste initiale Komplikation des Magenhochzugs ist die Leckage der oberen Anastomose,
mit der bei 10–30% der Fälle zu rechnen ist. In der Serie von Spitz et al. (Spitz et al. 2004) heilten alle bis auf eine Leckage spontan aus. Anastomosenstrikturen, die bei 20% der Patienten auftraten, konnten in der Regel erfolgreich bougiert werden. Die Früh- und Spätmortalität des Eingriffs beträgt heute unter 5%. Im Langzeitverlauf persistiert gewöhnlich eine verminderte Lungenkapazität, wobei ungeklärt ist, inwiefern diese auf die Verdrängung im Thorax zurückzuführen ist oder ein allgemeines Phänomen bei Kindern mit langstreckiger Ösophagusatresie darstellt. Eine gute bis exzellente Langzeitlebensqualität wurde in kleinen Serien für 90% der Patienten belegt (Ludman u. Spitz 2003), es ist jedoch mit der Persistenz zahlreicher Symptome zu rechnen (. Tab. 23.7).
23.5.3
Weitere Ösophagusersatzverfahren
Jejunuminterposition. Im Vergleich zum Koloninterponat
und Magenhochzug sind die Erfahrungen mit Jejunuminterponaten im Kindesalter begrenzt. Prinzip der Operationstechnik ist die Verlagerung eines Jejenumanteils mit einem mesenterialen Gefäßstiel in den Thorax und die Anastomosierung mit dem oberen und unteren Ösophagusstumpf oder dem Magen (Saeki et al. 1988). Vorteile des
23
256
Kapitel 23 · Ösophagusfehlbildungen und -erkrankungen
. Abb. 23.13. Magenhochzug
23
. Tab. 23.7. Inzidenz von Symptomen im Langzeitverlauf nach Magenhochzug bei langstreckiger Ösopahgusatresie (Ludman u. Spitz 2003) Symptom
Häufigkeit (%)
Dyspnoe
58
Diarrhö
53
Sodbrennen/Reflux von Nahrung
37
Erbrechen
63
Schmerzen
63
Husten/chronische Bronchitis
21
Jejunuminterponats sind ein dem Ösophagus entsprechendes Kaliber, eine Peristaltik und eine im Vergleich zum Kolon größere Stabilität. Die Technik hat sich aufgrund des höheren operativen Schwierigkeitsgrades und einer möglicherweise höheren Komplikationsrate bisher nicht allgemein durchgesetzt. Nekrosen, Perforationen und Leckagen wurden bei bis zu 25% der Patienten berichtet. Zudem ist das Jejunum möglicherweise vulnerabler für peptische Strikturen und Ulzerationen. Magenschlauch. Das Verfahren beinhaltet die Bildung
eines Magenschlauchs aus der großen Kurvatur, der substernal oder retrohilär in den Thorax verbracht und mit dem oberen Ösophagusstumpf anastomosiert wird (Ein et al.
1987). Durch Zuhilfenahme eines Klammerstaplers für die Schlauchbildung kann die Operationszeit im Vergleich zu den anderen Verfahren drastisch verkürzt werden. Problematisch ist bei kleinen Kindern, insbesondere mit Ösophagusatresie, dass die Größe des Magens die Bildung eines adäquaten Schlauches nicht immer zulässt. Auffällig ist eine hohe Rate an Leckagen und Strikturen bei bis zu 75% der Patienten (Spitz 2006).
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257 23.5 · Ösophagusersatzverfahren
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23
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24
24 Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens M. Höllwarth
24.1
Die normale Speiseröhre
24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4 24.1.5 24.1.6
Anatomie – 259 Innervation – 260 Peristaltik – 260 Unterer Ösophagussphinkter – 261 Refluxgeschehen – 261 Oberer Ösophagusspinkter – 261
– 259
24.2
Refluxdiagnostik – 262
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5 24.2.6
Radiologische Ösophaguspassage – 262 24-Stunden-pH-Metrie – 262 Kombinierte Impedanz-/pH-Messung – 263 Manometrie – 263 Endoskopie und Histologie – 264 Nuklearmedizinische Untersuchungsmethoden – 265
24.3
Symptome des pathologischen Refluxes – 265
24.4
Entwicklung der Speiseröhrenfunktion
24.5
Therapie der Refluxkrankheit
24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5 24.5.6 24.5.7 24.5.8 24.5.9 24.5.10
Konservative Therapie – 267 Operative Therapie – 268 Laryngopharyngealer Reflux – 269 Refluxassoziierte Atemwegsinfekte – 270 Reflux und Asthma – 270 Eosinophile Ösophagitis – 271 Hiatushernie und andere Fehlbildungen – 271 Ösophagusatresie – 272 Zwerchfellhernie – 272 Barrett-Ösophagus – 272
– 266
24.6
Andere Erkrankungen des Magens – 273
24.6.1 24.6.2 24.6.3 24.6.4 24.6.5
Magenvolvulus – 273 Spontane Magenperforation – 274 Magenausgangsstenosen – 275 Magenduplikaturen – 275 Angeborene Mikrogastrie – 276 Literatur – 276
– 265
> Gastroösophageale Refluxereignisse sind physiologische Vorkommnisse, die sich bei allen Altersgruppen ereignen, häufiger besonders nach flüssiger Nahrung (Suppe) oder sonstiger Flüssigkeitszufuhr (Softdrinks, Kaffee, Alkohol). Von einem pathologischen Reflux oder einer Refluxkrankheit spricht man erst, wenn die Zahl und/oder die Dauer der Refluxereignisse Normwerte überschreiten. Die Häufigkeit der Refluxkrankheit in der Bevölkerung ist jedoch schwer zu bestimmen, da die meisten Refluxe asymptomatisch ablaufen und die Erkrankung erst bei Auftreten von Komplikationen mit entsprechenden Symptomen klinisch manifest wird. Die Inzidenz wird bei Erwachsenen mit 4–30% und im Kindesalter mit 5–9% geschätzt. Im Säuglingsalter wird aber die Häufigkeit mit ca. 50% angegeben. Dies ist jedoch auch auf Grund der überwiegenden Milchernährung in den meisten Fällen als physiologisch zu werten (Nelson et al.1997). Die Bedeutung des gastroösophagealen Refluxes bzw. der Refluxkrankheit ist vor allem an der sehr großen Zahl einschlägiger Publikationen zu erkennen, die sich mit den
diagnostischen und therapeutischen Fragestellungen befassen. Im Folgenden werden die normale Funktion der Speiseröhre, die Entwicklung der Speiseröhrenfunktion beim Neugeborenen und Säugling, die Symptome, Untersuchungsmethoden und Befunde beim pathologischen Reflux, die therapeutischen Möglichkeiten sowie die Komplikationen der Refluxkrankheit und ihre möglichen Spätfolgen dargestellt, sowie alle Anomalien des Magens.
24.1
Die normale Speiseröhre
24.1.1
Anatomie
Die Speiseröhre (7 Kap. 23) ist ein muskuläres Schlauchorgan im dorsalen Mediastinum, das für den Transport der Nahrung aus der Mundhöhle bzw. aus dem Pharynx in den Magen verantwortlich ist. Die Länge der Speiseröhre ist im Neugeborenenalter bei etwa 8 cm, beim Erwachsenen bei 25 cm. In der oberen Hälfte liegt quergestreifte, in der
260
24
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
unteren Hälfte glatte Muskulatur vor. Das Lumen bedeckt ein nicht verhornendes, geschichtetes Plattenepithel mit einer papillenartigen Basalzellschicht. Der Übergang zum einschichtigen Zylinderepithel der Kardia ist bei der Endoskopie durch eine irregulär verlaufende Linie, der sog. Z-Linie erkennbar, die zum Teil zungenartig in die Speiseröhre hineinreicht und in Bezug auf ihre Lokalisation oft nicht mit dem anatomischen unteren Speiseröhrensphinkter korrespondiert. Die Speiseröhre wird beim Durchtritt durch die Zwerchfellzwinge (Hiatus oesophagicus) mittels der Membrana phrenico-oesophagea am Zwerchfell fixiert. Während sich die mediale Wand der Speiseröhre im Bereich des ösophagogastrischen Überganges direkt in die kleine Kurvatur des Magens fortsetzt, entsteht an der lateralen Zirkumferenz eine Art Inzisur – der sog. His-Winkel, der sich beim Neugeborenen im Röntgenbild infolge des tiefstehenden Zwerchfells eher flach, beim Erwachsenen aber deutlich spitzwinkelig darstellt. Innerhalb des Lumens findet sich an dieser Stelle eine Schleimhautfalte (Flatterklappe nach Gubaroff), die bei Füllung des Magenfundus passiv gegen den Ösophagus gedrückt wird und somit eine refluxverhindernde Wirkung hat (. Abb. 24.1). Je flacher der His-Winkel, desto geringer ist die Flatterklappe ausgebildet und desto leichter kann es daher zum Reflux kommen.
24.1.2
ges. Plexus myentericus und Plexus submucosus enthalten non-adrenerge und non-cholinerge Nerven und sind über einer Reihe von Neurotransmittern für die komplexe Aktivität der Speiseröhre zuständig. Die zentrale Steuerung erfolgt durch das im Hirnstamm lokalisierten Schluckzentrum sowie den in Reihe geschalteten Kerngebieten für Peristaltik. Es soll bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass bei Säuglingen mit zentralen Apnoen sowie bei zerebral behinderten Patienten Störungen der zentralen Koordination der Speiseröhrenmotorik eine wesentliche Rolle in der Ätiogenese des Refluxgeschehens spielen.
24.1.3
Peristaltik
Die Nahrung wird, einmal in die Speiseröhre gelangt, mittels einer geordneten propulsiven peristaltischen Welle (Druckwerte zwischen 60 und 100 mmHg, Geschwindigkeit von 2–4 cm/sec) in den Magen befördert (primäre Peristaltik; . Abb. 24.2). Bei lokalisierter Dehnung der Speiseröhre, z. B. auch beim Reflux, entsteht vor Ort eine propulsive peristaltische Welle, die den Speiseröhreninhalt wieder in den Magen zurückbefördert (sekundäre Peristal-
Innervation
Die parasympathische Innervation der Speiseröhre erfolgt durch den Nervus vagus, der entlang des Ösophagus verläuft und Fasern an diesen abgibt. Die sympathische Innervation kommt von postganglionären Nervenzellen des Grenzstran-
. Abb. 24.1. Typische »Flatterklappe« am Eingang des Ösophagus in den Magen
. Abb. 24.2. Propulsive Peristaltik bei einer 3-Punkt-Messung in der Speiseröhre und eine singuläre (tertiäre) Kontraktion
261 24.1 · Die normale Speiseröhre
tik). Isolierte und ungeordnete Kontraktionen werden als tertiäre Peristaltik oder als pathologische Kontraktionen
bezeichnet.
24.1.4
Unterer Ösophagussphinkter
Der Rückfluss von Mageninhalt in die Speiseröhre wird durch einen unteren Ösophagussphinkter (UOS) verhindert. Die Länge des UOS ist beim Neugeborenen ca. 1,0 cm, beim Erwachsenen ca. 2,5–3,5 cm. Wenngleich die Verdickung der Muskulatur des UOS anatomisch nur durch eine spezielle Präparationmethode erkennbar ist, so liegen seine Druckwerte doch zwischen 12 und 15 bzw. 25 mmHg. Manometrisch ist es auf Grund der Druckzone leicht möglich, die Lage des UOS – und damit die Lage des unteren Speiseröhrenendes – genau zu bestimmen. Die Untersuchungen zeigen, dass der UOS exakt innerhalb der Zwerchfellzwinge des Hiatus oesophagicus liegt, wobei der untere Teil der Druckzone manometrisch noch dem Abdomen, der obere Teil dem Thorax zugerechnet werden kann
(. Abb. 24.3). Der oft beschriebene abdominelle Ösophagus liegt daher manometrisch beim Normalen eindeutig nicht vor. Die Zwerchfellzwinge selbst trägt zum Gesamttonus des ösophagogastrischen Überganges ebenfalls bei, was bei einer fixierten Hiatushernie manometrisch differenziert werden kann. > Manometrische Untersuchungen zeigen eindeutig, dass bei normaler Anatomie der Druckumkehrbereich des UOS, der den Übergang vom Abdomen zum Thorax markiert, meist in der Mitte der Druckzone liegt. Ein intraabdomineller Ösophagus liegt daher nicht vor, es sei denn, dass man den untersten Abschnitt des UOS einbezieht, der jedoch in der Zwerchfellzwinge lokalisiert werden kann.
24.1.5
Ein wesentliches Charakteristikum des UOS ist, dass sein Tonus nicht nur beim Antreffen der Nahrung mit der propulsiven Welle relaxiert, sondern schon beim Gesunden, auch ohne jegliche andere motorische Speiseröhrenaktivität, regelmäßige 5–10 sec andauernden spontane Relaxationen auftreten (transiente Sphinkterrelaxation). Dadurch entsteht physikalisch ein gemeinsamer Raum zwischen Magen und Speiseröhre mit dem manometrischen Auftreten einer typisch abdominellen Druckkurve in der Speiseröhre (. Abb. 24.4). Auf Grund des höheren abdominellen Druckes einerseits und der thorakalen Sogwirkung bei Inspiration andererseits kommt es bei diesen spontanen Relaxationen in der Regel zum Reflux von Mageninhalt und – je nach pH des Mageninhaltes – zum Abfall, Anstieg oder Geichbleiben der pH-Werte in der Speiseröhre. Das refluxierte Volumen wird durch eine sekundäre propulsive Peristaltik in den Magen zurückbefördert (Volumenclearance), die Neutralisierung eines pH-Abfalls erfolgt aber erst schrittweise durch Speichel bei nachfolgenden Schluckakten (Säureclearance; 7 Kap. 24.2.4). Es wird später beschrieben werden, dass im Gegensatz zum Gesunden bei der Refluxkrankheit sowohl die Zahl und Dauer der spontanen Relaxationen sowie die Säureclearancezeit signifikant ansteigen.
24.1.6
. Abb. 24.3. Durchzugsmanometrie durch den UOS eines Neugeborenen. Der Pfeil markiert die Druckumkehr – Übergang vom abdominellen Druckprofil zum thorakalen Druckprofil. Durch die simultane Aufzeichnung der Atmung ist die Position des Messpunktes eindeutig dem abdominellen Bereich (Druckanstieg bei Inspiration) bzw. dem thorakalen Bereich (Druckabfall bei Inspiration) zuzuordnen
Refluxgeschehen
Oberer Ösophagusspinkter
Die Druckwerte Werte im oberen Ösophagusspinkter (OOS) sind mit 40–80 mmHg deutlich höher als im UOS, was darauf hinweist, dass ein Reflux in den Ösophagus sich leichter ereignen kann als ein solcher in den Rachen bzw. in die Mundhöhle. Der OOS relaxiert bei der Propulsion der Nahrung aus der Mundhöhle, und eine kräftige Kontraktion des Hypopharynx befördert den Bolus mit hoher Ge-
24
262
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
24.2
Refluxdiagnostik
In diesem Abschnitt werden die wichtigsten diagnostischen Tests zur Feststellung eines pathologischen gastroösophagealen Refluxes (GÖR) dargestellt. > Für die Feststellung des Refluxausmaßes sind die 24Stunden-pH-Metrie, für die Beurteilung des pharyngoösophagealen Schluckaktes, der Morphologie und der peristaltischen Funktion die radiologische Ösophaguspassage mit Kontrastmittel, und für den Nachweis einer Ösophagitis die Endoskopie mit Biopsie und Histologie ausreichend.
24
24.2.1
. Abb. 24.4. Spontane Relaxation des UOS mit Druckumkehr in der Speiseröhre. Beendigung durch eine sekundäre (im Ösophagus entstehende) Peristaltik. Das »common cavity phenomenon« entspricht dem manometrischen Nachweis von Reflux
schwindigkeit in die Speiseröhre. Aber auch beim Herankommen eines Refluxes von unten relaxiert der OOS und damit kann der Reflux den Hypopharynx und schließlich auch die Mundhöhle erreichen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass trotz der scheinbar einfachen Aufgabe der Speiseröhre eine sehr komplexe neuronale intrinsische Funktion nicht nur den Transport der Nahrung von der Mundhöhle in den Magen garantiert, sondern auch den Rückfluss von Mageninhalt verhindert. Wie oben erwähnt, besteht eine übergeordnete neuronale Steuerung dieses Systems über mehrere Vaguskerngebiete, die tief im Hirnstamm lokalisiert sind. Strörungen dieser Koordination spielen, besonders bei Patienten mit zerebralen Problemen, eine wesentliche pathogenetische Rolle.
Radiologische Ösophaguspassage
Die Röntgendarstellung dient in erster Linie dazu, die Morphologie und peristaltische Funktion der Speiseröhre zu untersuchen. Die Darstellung des ösophagogastrischen Überganges oder der Nachweis einer gleitenden oder gar fixierten Hiatushernie, die Beurteilung des His-Winkels, der Befund eines ungestörten oder pathologischen pharyngoösophagealen Schluckaktes, der Ablauf der Speiseröhrenperistaltik und allfällige Unregelmäßigkeiten des Epithels als Zeichen der Entzündung sind die wichtigsten Informationen, die durch eine radiologische Untersuchung gewonnen werden müssen. Ein weiterer Befund ist der Nachweis einer etwaigen Aspiration von Kontrastmittel während der Untersuchung. Der eigentliche Refluxnachweis an sich ist dagegen von geringerer Bedeutung, da die radiologische Untersuchung eine Kurzzeituntersuchung darstellt, wobei während der wenigen Minuten der Durchleuchtung ein deutliches Refluxgeschehen, aber auch kein Reflux auftreten kann. Indirekte Zeichen eines pathologischen Refluxes sind gehäufter Luftreflux während der Untersuchung, ein positiver Wassersiphontest (Reflux nach Trinken eines großen Wasserschluckes als Refluxprovokation) und die Höhe allfälliger Refluxe. Daraus kann sich ein Bewertungsschema ergeben, das aber nur bei entsprechender Übereinstimmung mit der 24-Stunden-pH-Metrie gewertet werden sollte (. Tab. 24.1).
24.2.2
24-Stunden-pH-Metrie
Diese ambulante Untersuchung stellt heute noch den Goldstandard der Funktionsbeurteilung der Speiseröhre dar. Als Elektroden werden möglichst dünne, über die Nase eingeführte Glas- oder Antimonelektroden verwendet und die laufend gemessenen pH-Werte über einen batteriebetriebenen Recorder aufgezeichnet. Am Ende der Untersuchungszeit werden die gespeicherten Werte mittels einer geeigneten Software ausgewertet. Idealerweise werden Mehrkanalson-
263 24.2 · Refluxdiagnostik
den verwendet, wobei die pH-Werte im Magen, im unteren Ösophagus und im oberen Ösophagus aufgezeichnet werden. So können die pH-Abfälle in der Speiseröhre mit dem pH des Magens korreliert und auch die Zahl der Refluxe, die die obere Speiseröhre erreichen, bestimmt werden. Alle pH-Abfälle unter 4 von mindestens 15 sec Dauer (Refluxanzahl), die Dauer bis zur Normalisierung des pH bzw. des Anstieges zu pH 4 (Refluxclearance), die Zahl der Refluxe mit einer Clearance über 5 min und der längste Reflux werden ausgewertet. Die Art und der Zeitpunkt jeder Nahrungsaufnahme sowie die Zeit im Liegen oder in aufrechter Körperhaltung werden ebenfalls registriert. Leider verwenden verschiedene Labors auch unterschiedliche »cut-off values«, die zum Teil auch von Normwerten bei Erwachsenen beeinflusst werden. In unserer gastrointestinalen Untersuchungsstelle verwenden wir die in . Tab. 24.1 angegebenen Grenzwerte. Der niedrige Grenzwert von 3% bei überwiegend mit Milch ernährten Säuglingen berücksichtigt die geringere Zahl an Refluxen, bei denen der pH unter 4 abfällt. Es besteht kein Zweifel, dass die 24-Stunden-pH-Metrie auch heute noch die am häufigsten verwendete Methode zum Nachweis saurer Refluxe darstellt. Die Schwäche der Methode liegt aber darin, dass Refluxe mit neutralem pH oder leicht alkalische Refluxe mit einem pH-Anstieg nicht nachgewiesen werden können.
24.2.3
Kombinierte Impedanz-/pH-Messung
Diese Vielkanalmethode erlaubt durch die mit der pH-Metrie kombinierte Impedanzmessung, mittels der alle Spannungsänderungen bei Dehnung der Speiseröhre an den Messpunkten aufgezeichnet werden, nicht nur den pH der Refluxe, sondern auch die Richtung des Bolus festzustellen und somit auch alle neutralen und alkalischen Refluxe über 24 h zu messen (. Abb. 24.5). Die Aussagekraft und die Beurteilungen des wahren Refluxgeschehens werden dadurch gegenüber der reinen pH-Metrie wesentlich erweitert (Vela et al. 2001). Da bei rezidivierenden Atemwegsinfekten Mikroaspirationen von nicht sauren Refluxen eine wichtige Rolle spielen können, ist abzusehen, dass die kombinierte Impedanz-/pH-Messung bald die reine pH-Metrie als neuer Goldstandard ablösen wird.
. Abb. 24.5. Reflux und abschließende Peristaltik unterscheiden sich durch die Richtung des Impedanzänderung. Gleichzeitig wird die Änderung des pH-Wertes angezeigt
> Die 24-Stunden-Impedanzmessung kombiniert mit der pH-Metrie stellt den neuen Goldstandard zur Diagnose der Refluxkrankheit dar, da nicht nur die sauren, sondern auch die neutralen und alkalischen Refluxe erfasst werden, und so Hinweise auf mögliche andere Folgen des Refluxgeschehens, wie z. B. auf rezidivierende Aspirationen gegeben werden.
24.2.4
Manometrie
Manometrische Untersuchungen der Speiseröhrenfunktion wurden schon in den späten 60er-Jahren als diagnostische Methode eingeführt, in erster Linie, um den Druck im UOS zu messen. Die damalige Annahme war, dass niedrige Druckwerte für den Reflux verantwortlich sind. Erste manometrische Untersuchungen bei Neugeborenen und
. Tab. 24.1. In unserer Klinik verwendete Grenzwerte. Der Schwellenwert bei überwiegend mit Milch ernährten Kindern ist deutlich niedriger wegen der hohen Pufferkapazität der Milch Alter
pH<4 in %
Zahl der Refluxe
Refluxe >5 min
Refluxzahl
Clearance
<1 Jahr
<3%
<30
<5
<50
<1
>1 Jahr
<5%
<35
<5
<50
<1
Die Refluxzahl errechnet sich aus der Anzahl der Reflux + dreimal die Zahl der Refluxe >5 min Clearance = Gesamtzeit des pH <4 durch die Refluxanzahl
24
264
24
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
Säuglingen schienen dies zu bestätigen. Jedoch erst mit der Verwendung von niedrig perfundierten Low-compliance-Pumpen wurde es möglich, relevante Druckwerte zu erfassen. Wie oben erwähnt, zeigten unsere Untersuchungen bereits in den 70er-Jahren, dass auch in diesem Lebensalter im UOS normale Druckwerte vorliegen (Höllwarth 1979). Die Manometrie ist ausgezeichnet geeignet zur Darstellung der Speiseröhrenmotorik bzw. der Peristaltik. Sie zeigt, dass Reflux von Mageninhalt durch spontane transiente Relaxationen des UOS ermöglicht wird, die beim pathologischen Refluxgeschehen zu häufig sind und zu lange dauern. Manometrisch führen diese Relaxationen des UOS im Speiseröhrenlumen zum sog. »common cavity phenomenon« (CCP), gekennzeichnet durch einen Anstieg des Druckes auf abdominelles Niveau und zu Umkehr der atembedingten Druckschwankungen. Durch eine sekundäre Peristaltik wird das refluxierte Volumen wieder in den Magen zurückbefördert, wogegen die Normalisierung des pH-Abfalles erst durch Schlucken von Speichel stufenweise erfolgt (. Abb. 24.6). Das CCP erlaubt zusammen mit der kombinierten pH-Metrie auch den Nachweis von nicht-sauren neutralen oder alkalischen Refluxen und somit Aussagen wie die Impedanzmessung. Der Nachteil der Manometrie liegt aber vor allem darin, dass sie im Gegensatz zur pH-Metrie und zur Impedanzuntersuchung bewegungsabhängig ist und ruhige Untersuchungsbedingungen benötigt werden. Sie ist daher als Routineuntersuchungsmethode, insbesondere für 24-StundenUntersuchungen, schlecht geeignet. > Kombiniert mit der pH-Metrie und dem Atemmonitoring können mit der Manometrie exzellente Speiseröhrenfunktionsuntersuchungen durchgeführt werden, weshalb diese Technik auch heute noch für wissenschaftliche Fragestellungen unabdingbar ist.
24.2.5
Endoskopie und Histologie
Untersuchungen mit flexiblen fiberoptischen Endoskopen gehören zur Standardabklärung beim Refluxpatienten. Wir untersuchen nahezu ausschließlich in Allgemeinnarkose, ausgenommen ältere Jugendliche, die sich die Untersuchung in Sedierung wünschen. Das Gerät wird unter Sicht in die Speiseröhre eingeführt und meist bis in das Duodenum vorgeführt. Regelmäßig werden Biopsien aus dem Duodenum und Antrum des Magens entnommen, bei pathologischen Befunden auch an den auffälligen Stellen. Im Magen erfolgt eine Inversion der Gerätespitze, um den ösophagogastrischen Übergang von unten einzusehen. Im Normalfall schließt sich der Ösophagus eng um das Gerät, und an der lateralen Zirkumferenz ist die oben genannte Flatterklappe zu sehen (. Abb. 24.1). Im Gegensatz dazu öffnet sich bei einer Hiatushernie die
. Abb. 24.6. Spontane Relaxation mit pH-Abfall und schrittweisem pH-Anstieg durch Schlucken von Speichel. Die Volumenclearance erfolgt durch die peristaltische Kontraktion am Ende der Refluxphase, die Säureclearance erfolgt dagegen schrittweise durch nachfolgende Schluckakte mit Speichel
Speiseröhre etwas und gibt den Blick nach weiter oben frei, wo sich erst der UOS um das Gerät schließt. Beim weiteren Zurückziehen wird der ösophagogastrische Übergang mit der Z-Linie genau inspiziert. Das darüber gelegene Speiseröhrenepithel ist im Normalfall glatt und von milchig-rötlicher Farbe (Grad 0). Beim Vorliegen einer Ösophagitis kommt es zu Rötung, Schwellung (Grade 1 und 2), zu streifiger Erosion (Grad 3), zu tiefer Ulzeration (Grad 4) oder zur Stenose (Grad 5). Eine leichte Rötung der Schleimhaut im distalen Ösophagus ist normal. Die Grade 0–2 unterliegen einer sehr subjektiven Beurteilung und gehen oft nicht mit dem histologischen Ergebnis einher. Daher ist grundsätzlich immer die Entnahme von mehrfachen Biopsien, beginnend 1–2 cm proximal der Z-Linie bis hinauf in den oberen Ösophagus erforderlich. > Die Qualität des bioptisch gewonnenen Materials ist für eine gute histologische Diagnostik entscheidend. Daher sollte immer der größtmögliche äußere Endoskopdurchmesser verwendet werden, um mit der größten Biopsiezange auch das beste Material gewinnen zu können.
265 24.4 · Symptome des pathologischen Refluxes
Günstig ist es, die Biopsien unmittelbar nach der Entnahme auf einem Korkstück in der richtigen Orientierung aufzubringen und in Formalin einzulegen. Ein optimales Biopsat besteht aus der gesamten Epithelschicht einschließlich der Basalzellschicht. Eine Verdickung der Basalzellschicht und eine relative Verlängerung der Papillen (infolge einer dünneren Epithelzone) gelten als Hinweis auf einen gesteigerten Zellturnover und pathologischen Reflux. Der Nachweis von intraepithelialen Eosinophilen bestätigt dann das Vorliegen einer manifesten Ösophagitis, auch wenn keine entsprechende Symptomatik vorliegt. Erosionen und Ulzerationen sind naturgemäß Hinweise auf eine schwere chronische Ösophagitis, die aber im Kindesalter nicht immer mit eindeutigen Symptomen vergesellschaftet ist. Das Vorkommen von mehr als 20 Eosinophilen/»High-power«Feld gilt dagegen als Hinweis eine andere nicht refluxbedingte allergisch/atopische Erkrankung, der sog. eosinophilen Ösophagitis.
24.2.6
Nuklearmedizinische Untersuchungsmethoden
Szintigraphische Untersuchungsmethoden ermöglichen die Beobachtung der Boluswanderung durch den Ösophagus, die allfällige refluxbedingte Aspiration von nuklearmedizinischem Tracer in die Lungen und die Messung der Magenentleerungszeit mit standardisierten Mahlzeiten. Diese bestehen aus einem festen und liquiden Anteil, z. B. einer Eimahlzeit mit Wasser. 99mTc-Schwefelkolloid wird als Tracer verwendet. Durch dynamische Sequenzen wird der Schluckakt dargestellt. Nach Einstellen von »regions of interest« (ROI) werden einerseits Refluxe erfasst und andererseits die mittlere Magenentleerungszeit als Zeit/Aktivitätskurve gemessen. Untersuchungen nach 24 h erlauben den Nachweis des Tracers in die Lunge, vorausgesetzt dass eine Aspiration stattgefunden hat.
24.3
Entwicklung der Speiseröhrenfunktion
Geringfügiges Spucken, schlaffes Herausrinnen oder Erbrechen von Milchnahrung als Zeichen eines gehäuften gastroösophagealen Refluxes ist bei etwa der Hälfte aller Neugeborenen und kleinen Säugling zu beobachten und wird mit Recht bei sonst unauffälliger Entwicklung als normal angesehen (»Speihkinder sind Gedeihkinder«). Da Flüssigkeiten auch beim Erwachsenen häufiger zu Refluxepisoden führen, sollte nicht verwundern, dass die überwiegend flüssige Ernährung in diesem Lebensabschnitt ebenfalls zum gehäuften Refluxgeschehen Anlass geben kann. Die weitere Entwicklung zeigt auch, dass diese Symptome nach den ersten 4–6 Lebensmonaten seltener werden und am Ende des ersten Lebensjahres nicht mehr zu beob-
achten sind. Die Umstellung auf breiige und später feste Kost spielt dabei sicherlich auch eine Rolle. In früheren Jahren war man der Auffassung, dass gehäufter Reflux in diesem frühen Lebensabschnitt durch einen fehlenden oder sehr niedrigen Tonus im UOS – und wohl auch im OOS – verursacht wird, dass aber mit fortschreitender Entwicklung eine Reifung dieser Sphinkterstrukturen eintritt und der damit entstehende Tonus den weiteren Reflux verhindert. Wir konnten dagegen in den 70er-Jahren erstmals zeigen, dass Neu- und Frühgeborene normale, den Erwachsenen entsprechende Druckwerte im UOS aufweisen, und dass der Reflux in dieser Altersgruppe nicht durch einen fehlenden UOS-Tonus, sondern durch zu häufige und zu lange andauernde transiente Relaxationen des UOS verursacht wird (Höllwarth et al. 1986). Da unsere Untersuchungen weiterhin zeigten, dass damit auch eine Störung der normalen propulsiven Peristaltik der Speiseröhre verbunden sein kann, haben wir den Reflux als Folge einer zentral bedingten Reifungsverzögerung der motorischen Koordination der Speiseröhre angesehen. Die besonders hohe Refluxinzidenz bei Säuglingen mit zentralen Apnoen deutet ebenfalls darauf hin, dass noch unreife zentrale Steuerungsstrukturen für die häufigen transienten Relaxationen verantwortlich sind (Landler et al. 1990). Wie schon oben erwähnt, kommt es bei den meisten Säuglingen spätestens bis zum Ende des ersten Lebensjahres nicht nur zum Sistieren der typischen Refluxsymptome, sondern auch zur effektiven Normalisierung der Speiseröhrenfunktion, bestätigt durch die 24-Stunden-pH-Metrie. Unsere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass das Verschwinden der klinischen Refluxzeichen um das erste Lebensjahr herum nicht zwangsläufig die Normalisierung der Funktion bedeuten muss, sondern dass es auch erst im Alter von 3–5 Jahren zu einer pH-metrisch nachweisbaren spontanen Ausheilung kommen kann. Die Problematik besteht immer darin, dass die klinischen Refluxzeichen jenseits des ersten Lebensjahres eher selten und geringfügig sind und daher solange nicht beachtet werden, bis nach Jahren schließlich die Spätfolgen eines chronischen pathologischen Refluxgeschehens manifest werden. Neue Untersuchungen an Erwachsenen haben gezeigt, dass etwa die Hälfte junger Erwachsener mit Refluxkrankheit deutliche Symptome bereits im Kindesalter hatten (El-Serag et al. 2007).
24.4
Symptome des pathologischen Refluxes
Neugeborene und Säuglinge. Die Symptome des GÖR ändern sich in Abhängigkeit vom Lebensalter. Beim Neugeborenen und Säugling ist wie oben erwähnt der Reflux durchaus noch physiologisch. Typisch ist schlaffes Herausrinnen von Nahrung nach dem Essen aber auch zwischen den Mahlzeiten und im Schlaf. Ein feuchter Kopfpolster ist ein weiterer Hinweis. Eine Abklärung bei Verdacht auf patholo-
24
266
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
24
. Abb. 24.7. Stenose im unteren Speiseröhrendrittel nach unbehandeltem Reflux mit angedeuteter Hiatushernie
gischen Reflux besteht, wenn Gedeihstörungen, rezidivierende respiratorische Infekte durch Mikroaspirationen, gesteigerte Irritabilität, Unruhe, besonders unruhiger Schlaf mit Aufwachen bzw. Aufschreien und »Near-miss-infantdeath«-Anfälle vorliegen. Infolge der oft bestehenden Fütterungsschwierigkeiten kann eine gestörte Mutter-Kind-Interaktion entstehen. Durch massives rezidivierendes Erbrechen bzw. Regurgitation von Nahrung kommt es zu Malnutrition mit unzureichender Gewichtzunahme. Da der Magensaft bei überwiegender Milchernährung in den ersten 2 h nach der Nahrungsaufnahme ausreichend gepuffert wird, kommt es sehr selten zu einer manifesten Ösophagitis.
Kindesalter sehr selten. Unverträglichkeit saurer oder süßer Speisen, saurer Mundgeruch, gurgelnde Geräusche im Thorax nach dem Essen, rezidivierende Atemwegsinfekte und Heiserkeit sind typische Symptome. Auch asthmatische Beschwerden können durch chronische Mikroaspirationen hervorgerufen werden. Ein sehr seltenes aber charakteristisches Symptom des Refluxes ist das »Sandifer-Syndrom«, bei dem es zu rezidivierendem, ticartigem Seitwärtsneigen des Kopfes nach links kommt, was möglicherweise als eine Unterstützung der passiven Refluxverhinderung gedeutet werden kann (Lee et al. 1999). Die wichtigste Komplikation des gastroösophagealen Refluxes ist die Ösophagitis, die durch zu häufige und zu lange Relaxationen des UOS mit chronischer Säureexposition der Speiseröhre verursacht wird. Die resultierende Entzündung hat Mikroblutungen aus der Schleimhaut und in chronischen Fällen eine Blutungsanämie zur Folge. Von besonderer Bedeutung für den weiteren Verlauf ist aber, dass es durch die Speiseröhrenentzündung zu einem Circulus vitiosus kommt, charakterisiert einerseits durch eine Störung der sekundären Peristaltik und damit zur Verlängerung der Säureclearance, andererseits treten infolge der Entzündung nun reflektorisch gehäufte UOS-Relaxationen auf. Im weiteren Verlauf greift die Entzündung auf tiefere Wandschichten über, was schließlich durch die gleichzeitig ablaufende Narbenbildung zur Stenose Anlass gibt (. Abb. 24.7). Die Symptome beim Auftreten einer manifesten Ösophagitis sind im Kindesalter neben rezidivierende Oberbauchschmerzen häufigeres und zum Teil blutig tingiertes Erbrechen – durch chronischen Blutverlust kommt es zur Anämie – und schließlich bei Vorliegen einer manifesten Ösophagusstenose zu Schluckbeschwerden und Regurgitation von Nahrung. Heute sind solche gravierende Komplikationen in der Regel selten, da die Symptome des pathologischen Refluxes schon weit früher zur Diagnose führen. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass zerebral behinderte Kinder eine Ausnahme darstellen und schweren Refluxfolgen oft erst spät entdeckt werden, da die Patienten ihre Beschwerden nicht artikulieren können. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass das Symptom der Autoaggression bei diesen Kindern einen wichtigen Hinweis auf eine bestehende, schmerzhafte Ösophagitis darstellen kann und immer zur Refluxabklärung führen sollte. Wir haben aber auch sonst normale Kinder beobachtet, die erst mit manifesten Schluckbeschwerden durch eine entzündliche Stenose zur Untersuchung kamen.
Therapie der Refluxkrankheit
Kindesalter. Wie schon oben erwähnt treten jenseits des
24.5
Säuglingsalters Spucken und Erbrechen als häufiges Refluxsymptom immer seltener auf. Dies kann eine Normalisierung der Funktion vortäuschen. Typische Symptome sind rezidivierende Oberbauchschmerzen, dagegen ist retrosternales Brennen, wie es vom Erwachsenen bekannt ist, im
Pathologischer Reflux kann konservativ oder operativ behandelt werden. Eine konservative Therapie kommt vor allem im Säuglings- und Kleinkindesalter in Frage, da die Möglichkeit der spontanen Normalisierung des gehäuften Refluxgesche-
267 24.5 · Therapie der Refluxkrankheit
hens noch sehr hoch ist. Aber auch wenn zunächst Zeit gewonnen werden soll oder wenn eine Ösophagitis oder eine refluxbedingte Stenose vor einer geplanten Operation behandelt werden muss ist die konservative Behandlung indiziert. Hinzu kommen jene seltenen Patienten denen ein operativer Eingriff nicht zugemutet werden kann.
24.5.1
Konservative Therapie
Beim Säugling Von einem pathologischen Reflux in diesem Lebensalter kann man erst sprechen, wenn rezidivierendes Erbrechen mit Gedeihstörungen oder die Unmöglichkeit der oralen Ernährung, rezidivierende Infekte der Atemwege und/oder Schmerzen, nächtliche Unruhe oder refluxbedingte »Nearmiss«-Anfälle auftreten. Da das Risiko einer Ösophagitis in diesem Lebensalter sehr niedrig ist, kann man durchaus auf eine endoskopische Untersuchung verzichten, wenn nicht besondere Indikationen vorliegen. Neben der 24-StundenpH-Metrie oder Impedanzuntersuchung ist jedoch eine Röntgendarstellung der Speiseröhre (und Ultraschalluntersuchung des Pylorus) erforderlich, um allfällige Pathologien, die eine spontane Refluxausheilung nicht erwarten lassen, auszuschließen wie z. B. Hiatushernie, chronisch rezidivierender organo-axialer Magenvolvulus, Magenausgangsstenosen, Pylorushypertrophie. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Bauchlage, allenfalls mit erhöhtem Oberkörper, den Reflux am wirkungsvollsten verhindert. Allerdings steigt damit das Risiko des plötzlichen Säuglingstodes deutlich an, verursacht durch Erbrechen im Schlaf und Apnoeereignissen. Daher empfehlen wir Rückenlagerung mit erhöhtem Oberkörper, vermehrte Mahlzeiten mit geringerer Fütterungsmenge und ein Eindicken der Nahrung mit Reisschleim. In den meisten Fällen normalisiert sich die Symptomatik innerhalb der folgenden Monate. Einzelne Nahrungsmittelfirmen bieten auch spezielle refluxverhindernde Formulamilchen an. Gegen Ende des ersten Lebensjahres sollte auch bei scheinbarer Ausheilung mit Normalisierung der Symptome immer eine pH-Metrie-Kontrolle erfolgen, um ein Weiterbestehen eines pathologischen Refluxes auszuschließen. Wie schon oben erwähnt kann die veränderte Ernährung zur Folge haben, dass Reflux nur mehr selten in den Mund gelangt, nicht mehr beobachtbar wird und daher eine Ausheilung vorgetäuscht wird. Aber aus eben diesem Grund ist die Compliance der Eltern für die Kontrolluntersuchungen meist gering. Nur bei etwa 10% der Kinder besteht weiterhin eine deutliche Refluxsymptomatik und erfordert neben der Behandlung auch jährliche Verlaufskontrollen. Nach unserer Erfahrung ist eine spontane Normalisierung der Speiseröhrenfunktion bis zum 4. bis 5. Lebensjahr möglich, danach aber nicht mehr zu erwarten.
Beim älteren Kind Mit zunehmender Angleichung der Ernährung an die der Erwachsenen sehen wir nach den Mahlzeiten eine vermehrte Säuresekretion des Magens. Daher gehen nun die Mehrzahl der postprandialen Refluxe mit pH-Abfall <4 einher und bei pathologischem Reflux steigt die Möglichkeit einer Ösophagitis. Neben Röntgenpassage und pH-Metrie/Impedanz sind daher in diesem Lebensalter zur vollständigen Abklärung auch Endoskopie und Biopsie erforderlich. Eine längerfristige konservative Behandlung ist nur sinnvoll, wenn eine spontane Normalisierung noch zu erwarten ist. Bei Zustand nach Ösophagusatresie, Zwerchfellhernie, aber auch bei schwer zerebral behinderten Kindern ist dagegen eine Ausheilung nicht zu erwarten und die konservative Behandlung als Dauertherapie nur ausnahmsweise zu empfehlen. In diesen Fällen ist die operative Refluxbehandlung indiziert. Liegt bioptisch keine Ösophagitis vor, so können einen entsprechenden Diät – Vermeidung saurer und süßer Speisen oder anderer Refluxlocker (Kaffee, Tee, Softdrinks), wenig Flüssigkeit am Abend – und ein Schleimhautschutz (z. B. Suevalfat) durchaus genügen. Bei Vorliegen einer Ösophagitis ist präoperativ immer eine medikamentöse Refluxbehandlung indiziert. Bei einer refluxbedingten Speiseröhrenstenose ist immer – unter Säureblockade – die Bougierungsbehandlung erforderlich, bis sich der Befund normalisiert hat und der Lokalbefund stabil geworden ist. Erst danach sollte der operative Eingriff geplant werden. Da der pathophysiologische Prozess der Stenosenbildung aber auch nach Abheilung der Entzündung noch 6–8 Wochen dauern kann, sollte man unter Säureblockade mit einer geplanten Operation solange warten und präoperativ das Nichtvorliegen einer Stenose durch eine Röntgenpassage verifizieren um postoperative Bougierungen zu vermeiden.
Medikamentöse Therapie > Bei jeder Form der medikamentösen Refluxbehandlung ist zu beachten, dass zwar die Magensäureproduktion weitgehend reduziert wird, dass die Zahl der Refluxereignisse aber nicht unbedingt gesenkt wird. Nicht-saure Refluxepisoden können weiter vorkommen und insbesondere im Schlaf zu Aspirationen und damit zu chronischen Atemwegsinfekten führen. Daher ist gerade in diesen Fällen die Impedanzuntersuchung hervorragend geeignet, das Ausmaß der nichtsauren Refluxe zu erheben.
Das Ziel der medikamentösen Therapie ist es, die Säurexpositionszeit der Speiseröhre zu reduzieren und so eine Ösophagitis zu verhindern oder zu behandeln. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen Medikamenten, die die Schleimhautoberfläche schützen, und solchen, die die Magensäureproduktion reduzieren oder verhindern. Sucralfat ist ein Aluminiumkomplex als Gel und gehört zur ersten Gruppe. Es bessert Ösophagitis bedingte Symptome und reduziert entzündliche Veränderungen.
24
268
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
Zur zweiten Gruppe der Medikamente, die die Magensäureproduktion blockieren, gehören entweder H2-Rezeptor-Antagonisten oder Protonenpumpeninhibitoren (PPI). 4 H2-Rezeptor Antagonisten reduzieren die Säuresekretion durch Blockieren des H2-Rezeptors an der Oberfläche der Parietalzellen des Magens, versagen aber oft bei der durch Mahlzeiten induzierten Magensäuresekretion. 4 Protonenpumpeninhibitoren (PPI) hemmen die H+/K+ATPase in den Parietalzellen.
24
> Wegen des unterschiedlichen Ansprechens auf eine Behandlung mit H2-Rezeptor-Antagonisten und auf Grund der höheren Effektivität empfehlen wir heute, keine medikamentöse Refluxbehandlung gleich mit einem PPI zu beginnen. Omeprazol und Lanzoprazol sind für das Kindesalter zugelassen, das letztgenannte auch in den ersten 12 Monaten.
In der Vergangenheit wurden auch verschiedene prokinetische Medikamente eingesetzt um die Peristaltik und Reinigungsfunktion der Speiseröhre zu verbessern. Die Erfahrungen haben aber gezeigt, dass keines dieser Medikamente (Metoclopramid, Cisapride, Bethanechol) eine gesicherte refluxverhindernde Wirkung hat, und dass die Nebenwirkungen allfällige positive Effekte überlagern. Wir sehen daher heute keine Indikation für diese Medikamente beim Reflux. Im Säuglingsalter kommt es nur in Ausnahmefälle zu einer Ösophagitis, weil die Magensäure durch die Milchernährung für mindestens 2 h sehr effektiv gepuffert wird. Daher ist in diesem Alter eine medikamentöse Refluxbehandlung meist nicht erforderlich. Ausnahmen sind dann gegeben, wenn die Peristaltik der Speiseröhre massiv gestört ist und die pH- bzw. die Volumenclearance daher sehr lange dauert. Dies ist der Fall bei Kindern nach operierter Ösophagusatresie (7 Kap. 23), insbesondere, wenn das untere Segment sehr ausgedehnt mobilisiert werden musste, bei Kindern mit Zustand nach Zwerchfellhernie (7 Kap. 21) und inkompetentem ösophagogastrischen Übergang und auch bei Kindern mit schweren zerebralen Störungen. Bei Kindern jenseits des Säuglingsalters ist die Indikation zur medikamentösen Refluxbehandlung entweder auf Grund der belastenden Symptome gegeben, bei hochpathologischer pH-Metrie mit schlechter Säureclearance oder bei histologischem Nachweis einer Ösophagitis. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sehen wir im Kindesalter die medikamentöse Refluxbehandlung jedoch nur als ein temporäres Therapieverfahren an, das bis zur operativen Behandlung des Refluxes indiziert ist. Häufig reichen eine ein-malige Dosis am Abend sowie die zusätzliche Gabe eines Schleimhautschutzes untertags aus. Allerdings muss durch pH-Metrie die Effektivität der Magensäureblockade etwa 2 Wochen nach Therapiebeginn kontrolliert werden, da die Dosierung individuell oft sehr unterschiedlich gestaltet werden muss. Untersuchungen nach Langzeitthera-
pie mit Protonenpumpenhemmern bei Erwachsenen ergaben eine bis zu 30% Reduktion des Vitamin B12-Spiegels, atrophe Gastritis und mehrwöchige Säurehypersekretion nach Absetzen der Medikation. Wie bereits erwähnt erscheint uns eine Langzeittherapie mit Säurehemmern im Kindesalter nur ausnahmsweise indiziert, wenngleich auch positive Berichte in der Literatur vorliegen (Hassal 2007; Tolia 2008). > Die medikamentöse Behandlung als Dauertherapie anstelle einer Operation erscheint uns im Kindesalter nur in Ausnahmefällen geeignet, zumal auch die Langzeitfolgen einer unphysiologischen Neutralisierung der Magensäure problematisch sind.
24.5.2
Operative Therapie
Fundoplikation Die strategischen Prinzipien der operativen Refluxbehandlung sind die Herstellung eines intraabdominellen Ösophagusabschnittes sowie die komplette (Nissen) oder partielle Plikation (dorsal Toupet, ventral Thal oder BoixOchoa) des Magenfundus um die Speiseröhre (Georgeson 2006). Der erste Schritt erfordert ein Freimachen der Speiseröhre aus dem Hiatus, um einen längeren intraabdominellen Abschnitt zu erhalten, weshalb eine Hiatuspfeilerraffung mit ein oder zwei Nähten zusätzlich erforderlich wird. Die Wahl der Fundoplikation hängt vom Chirurgen ab, wobei mit den 3 Methoden gute Ergebnisse erzielt werden. Standard ist heute die laparoskopische Operation. Bei der Fundoplikation nach Nissen sollte der Magenfundus nur mit 2–3 Nähten und sehr locker um den Ösophagus zirkulär geschlossen werden, um die Passage nicht zu behindern und auch Erbrechen noch zu ermöglichen. Komplikationen. Die häufigste Komplikation ist das Refluxrezidiv, das bei allen 3 operativen Methoden beobach-
tet werden muss (. Tab. 24.2; Dalla Vechia et al. 1997; Fonkalsrud et al. 1998). Dies hat sicherlich auch mit der natürlichen Unruhe in dieser Region zu tun, zum einen durch die normale Atmung und Zwerchfellmotilität, zum anderen dadurch, dass sich die Speiseröhre bei jedem Schluckakt in der Länge verkürzt, beim Erwachsenen bis zu ca. 5 cm, beim Kind je nach Alter entsprechend weniger. Weitere bekannte Risikofaktoren für Refluxrezidive sind Alter unter 6 Jahre, Vorliegen einer Hiatushernie, zerebrale Behinderung mit häufigem Würgen und Aufstoßen sowie präoperative Dystrophie wie sie gerade auch zerebral behinderten Kindern oft vorliegt (Ngercham et al. 2007; Weber 1995). Aus diesem Grund werden bei uns Kinder mit zerebraler Behinderung und mit deutlicher Katabolie solange zusätzlich ernährt, bis sie eindeutig in einen anabolen Stoffwechsel übergeführt sind, ehe wir die Fundoplika-
24
269 24.5 · Therapie der Refluxkrankheit
. Tab. 24.2. Komplikationen nach Refluxoperation in der Literatur. Sehr unterschiedliche Qualität der Nachuntersuchungsdarstellung, daher auch zum Teil sehr verschiedene Ergebnisse Autor
n
Methode
Fonkalsrud 1998
7467
Nissen/Thal/Toupet
Kimber 1998
66
Nissen/Thal
Rezidive (%) 7,1
621
Nissen/Toupet
8,5
Esposito 2000
289
Endoskopisch Nissen/Toupet
2,1
Pessaux 2000
1470
Nissen/Toupet
5,4
109
Nissen/Boix
Lafullarde 2001
176
Holzinger 2001
Gasbloat (%)
–
39,3
Zaninotto 2000
Subramiam 2000
Dysphagie (%)
3,0 26 1,0 –
Andere (%)
3,5
7,0
10,6
50,0
14,7
–
–
2,4
–
19,4
20,0
3,0
Endoskopisch Nissen
1,7
3,9
–
100
Toupet
3,0
5,0
–
–
Van der Zee 2002
149
Endoskopisch Thal
5,4
–
–
19,4
Gilger 2004
178
Nissen/Boix
18,0
22,7
–
–
Diaz 2005
456
Endoskopisch Nissen
12,1
–
–
–
tion durchführen. Epilepsie ist dagegen kein zusätzlicher Risikofaktor für eine Refluxrezidiv nach Fundoplikation (Goessler et al. 2006). An weiteren Komplikationen kommt es nach der Nissen-Operation etwas häufiger zur Unmöglichkeit von Erbrechen, zum Gasbloat-Syndrom oder zum Dumping, insbesondere bei sehr kleinem Magen oder langem Fundoplikat. Das Problem, nicht erbrechen zu können, besteht selten bei der Toupet-Operation, bei der der Fundus um ca. 270° dorsal um den Ösophagus gelegt wird, und bei der Thal-Operation. > Die relativ hohe Rate an Rezidiven nach Refluxoperation erfordert daher immer langfristige Kontrollen, da ein neuerlicher pathologischer Reflux oft erst nach 1–3 Jahren auftritt. Erfolgsergebnisse nach nur 6–12 Monaten sollten daher nur mit Einschränkungen und als vorläufige Ergebnisse beurteilt werden.
Andere chirurgische Methoden Eine selten verwendete Methode ist die Collis-Gastroplastik, bei der mittels Stapler der Fundus parallel zum Ösophagus im His-Winkel abgetrennt und anschließend als Fundoplikat an der so verlängerten Speiseröhre entweder nach Nissen oder nach Toupet/Thal fixiert wird. In den letzten Jahren wurden eine Reihe neuer technischer Methoden bei Erwachsenen zur Refluxbehandlung eingeführt, mit dem aber für das Kindesalter noch keine ausreichenden Erfahrungen bestehen (Katz 2002). Bei einer Methode wird mittels eines speziellen endoskopischen intraluminalen Staplers eine Art Schleimhautfalte im Kardiabereich erzeugt, die eine refluxverhindernde Fuktion haben soll. Eine weitere endoskopische Methode, die auch bei
2,0
– 7,3
Kindern mit Erfolg angewandt wurde, ist das sog. StrettaVerfahren, bei dem eine definierte thermische Schädigung mittels Radiowellen im Kardiabereich appliziert wird (Liu et al. 2005). Schließlich werden bei einer dritten Technik, ähnlich wie bei der Unterspritzung eines vesikouretralen Refluxes, endoskopisch submuköse Implantate in den Kardiabereich injiziert (Enteryx), um den Reflux zu verhindern. Langzeiterfahrungen mit diesen Methoden fehlen und bei Kindern bestehen keine oder nur geringe Erfahrungen (Johnson et al. 2003). Bei zerebral behinderten Kindern sollte immer versucht werden, eine, wenn auch bescheidene, orale Ernährung zu ermöglichen. Bei unzureichender Nahrungszufuhr sollte die Fundoplikation mit einer Button-Gastrostomie kombiniert werden, so dass die fehlende Nahrungsmenge über die Gastrostomie ergänzt werden kann. In sehr schweren Fällen zerebraler Behinderung kommt es manchmal infolge ausgeprägter Rumination zu mehrfachen Refluxrezidiven. Um die orale Nahrungszufuhr weiterhin zu ermöglichen, empfiehlt sich für diese Patienten die von Bianchi beschriebene ösophagogastrische Dissektionsoperation (Bianchi 1997). Dabei wird der Magen vom Ösophagus abgetrennt und verschlossen. Zur Herstellung der Kontinuität wird eine Ösophagojejunostomie (als Roux-Schlinge) angelegt. Die orale Nahrung gelangt somit direkt in das Jejunum und Refluxrezidive oder Rumination sind nicht mehr möglich (Morabito et al. 2006).
24.5.3
Laryngopharyngealer Reflux
Gastroösophagealer Reflux wird häufig mit laryngealen Symptomen wie Heiserkeit, Hustenreiz und Globusgefühl sowie Dysphagie in Zusammenhang gebracht; man spricht
270
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
gibt keine der beiden Methoden klare Hinweise, ob sich die vermutete Aspiration im Rahmen des Schluckaktes oder durch Reflux zustande gekommen ist. Die pH-Metrie mit einem Messpunkt im oberen und einem im unteren Ösophagus liefert auch nur dann einen indirekten Hinweis, wenn sich sehr viele Refluxe bis in die oberer Speiseröhre ereignen. Bei nachgewiesener refluxbedingter Aspiration ist die Operation indiziert.
24.5.5
24 . Abb. 24.8. Laryngealer Polyp, verursacht durch chronischen laryngopharyngealen Reflux. Die konservative Therapie brachte den laryngealen Befund zur völligen Abheilung
dann von laryngopharyngealem Reflux. Rötungen, Ulzerationen oder Pseudopolypen an den Stimmbändern (. Abb. 24.8) sind typische Veränderungen, die bei positivem Refluxnachweis diesem zugeordnet werden. Naturgemäß sind damit oft auch chronische Mikroaspirationen verbunden. Differenzialdiagnostisch sind andere Ursachen wie allergische Erkrankungen, Rauchen, Verletzungen etc. auszuschließen. Therapeutisch wird daher empfohlen zunächst einen Behandlungsversuch mit PPI für 1–2 Monate durchzuführen. Wenn sich das Symptom und der laryngeale Befund dann deutlich bessern ist eine refluxbedingte Ursache anzunehmen, anderenfalls müssen die differenzialdiagnostischen Möglichkeiten abgeklärt werden (Vaezi 2007).
24.5.4
Refluxassoziierte Atemwegsinfekte
Refluxassoziierte Atemwegsinfekte und Pneumonien können durch Aspiration von saurem, aber auch nicht-saurem Reflux verursacht werden. Die anamnestische Frage nach diesem Symptom ist daher auch bei Kindern ohne Ösophagitis wichtig. Differenzialdiagnostisch sind andere Ursachen wie z. B. zystische Fibrose, aspirierte Fremdkörper, Fehlbildungen der Atemwege oder der Lungen auszuschließen. Bei zerebral Behinderten können auch Störungen des pharyngoösophagealen Transportes – des Schluckaktes – neben dem Reflux eine Ursache für rezidivierende Atemwegsinfekte sein. Die Diagnose ist nicht einfach, es sei denn, dass die radiologische Untersuchung mit Kontrastmittel die Aspiration eindeutig zeigt. Weder die bronchoalveoläre Lavage noch nuklearmedizinische Untersuchungen sind eindeutig: Bei der Lavage wird der Fettgehalt von 100 Makrophagen beurteilt, aber es besteht eine breite Überlappung mit normalen Kontrollen. Ein negativer szintigraphischer Test schließt eine Aspiration nicht aus, da sich in dieser Phase gerade keine Aspiration ereignet haben kann. Schließlich
Reflux und Asthma
Symptome eines GOR sind häufig bei Asthma, allerdings ist die wahre Inzidenz eines Refluxes bei asthmatischen Kindern nicht bekannt. Entsprechende Untersuchungen haben gezeigt, dass zwischen 25% und 75% der Kinder mit Asthma tatsächlich einen pathologischen Reflux haben, dass aber nur 50% davon auch entsprechende Symptome wie Aufstoßen, Erbrechen oder Oberbauchschmerzen aufweisen. Daher ist auch bei Kindern mit Asthma ohne Refluxsymptome eine 24-Stunden-pH-Metrie indiziert. Es wird angenommen, dass Mikroaspirationen und sogar Ansäuerung der Speiseröhre bei Asthmatikern eine Hyperreaktivität der Atemwege triggern können. Dies erklärt auch, dass eine medikamentöse Refluxbehandlung die Symptome des Asthmas verringert bzw. geringere Behandlungsdosen erforderlich macht. Bei diesen Patienten führt die chirurgische Refluxbehandlung in bis zu 85% der Fälle zu einer klinisch nachweisbaren Verbesserung der Asthmasymptome (Field et al. 2007).
Reflux und Apnoesyndrom Der plötzliche Kindestod (»sudden infant death syndrome«; SIDS) ist die häufigste Todesursache im Säuglingsalter mit besonderer Inzidenz im 2. bis 4. Lebensmonat. In den letzten Jahren wurde der Zusammenhang von Apnoeepisoden einerseits und gastroösophagealem Reflux andererseits untersucht. Dabei wurden unterschiedliche Ergebnisse berichtet, die einmal den sauren Refluxe als Auslöser von Apnoeepisoden nachzuweisen glaubten, wogegen andere Autoren diesen Zusammenhang nicht zeigen konnten. Bei unseren eigenen kombinierten manometrischen und pH-metrischen Untersuchungen bei Säuglingen mit pathologischen Schlafapnoen konnten wir zwar gehäufte Refluxe und Apnoen beobachten, aber saure Refluxe als direkte Auslöser von Apnoenphasen konnten nicht nachgewiesen werden, wohl jedoch eine ausgeprägte Reifungsverzögerung der Ösophagusmotorik bei Kindern mit »Near-miss«-Vorfällen (Landler et al. 1990). In einer weiteren Studie konnte gezeigt werden, dass Säuglinge mit pathologischen Schlafapnoen häufig auch einen pathologischen Reflux aufweisen, wogegen Säuglinge mit primär pathologischem Reflux keine auffallenden Apnoeepisoden haben (. Tab. 24.3). Die Untersuchung unterstützt die Hypothese, dass Säuglinge mit Schlafapnoesyndrom (oder »near miss events«)
271 24.5 · Therapie der Refluxkrankheit
. Tab. 24.3. Säuglinge mit Schlafapnoen haben in zwei Drittel der Fälle auch einen hochgradigen Reflux, wogegen Säuglinge mit Refluxanamnese normale MA-Werte haben Patienten
n
MA (sec/min)
UOS Tonus (mm Hg)
Pathologischer Reflux
Propulsive Peristaltik
Kontrollen
10
3,2±1,3
21,6±11,6
1
9,2±1,6
Säuglinge mit Refluxanamnese
12
5,5±4,4
23,8±10,4
8
8,4±1,7
Säuglinge mit Schlafapnoeanamnese
21
13,7±7,9*
22±7,0
14
7,5±1,4
MA mittlerer Atemausfallwert in Sekunden/Minute; UOS unterer Ösophagussphinkter; propulsive Peristaltik Anzahl der propulsiven peristaltischen Wellen bei 10 induzierten Schluckakten
eine tieferliegende Regulationsunreife im Hirnstamm aufweisen, weshalb auch die höher gelegenen Zentren für die Speiseröhrenmotorik häufig mitbetroffen sind. Dagegen müssen die höherliegenden Reifungsverzögerungen der Speiseröhrenmotorik nicht mit Störungen der tieferliegenden Atemregulationszentren einhergehen. Die nicht seltene Koinzidenz von Reflux und Schlafapnoesyndrom scheint also durch eine tiefliegende Reifungsverzögerung beider Zentren im Hirnstamm verursacht zu werden.
24.5.6
Eosinophile Ösophagitis
Klinik. Die eosinophile Ösophagitis ist eine Erkrankung der
Speiseröhre, die durch eosinophile Infiltration der Speiseröhre gekennzeichnet ist und refluxähnliche Symptome zeigt. Im Kindesalter sind die typischen Symptome Nahrungsverweigerung und Dysphagie, Regurgitation von Nahrung, Erbrechen und Oberbauchschmerzen. Mit zunehmendem Alter kann es zu weiteren refluxähnlichen Beschwerden kommen, wie Dystrophie und retrosternale Schmerzen. Ätiologie. Die Ursache ist vermutlich eine abnorme Reak-
tion auf Nahrungsmittelallergene im Sinne einer zellulären Hyperreaktivität. Nicht selten ist die eosinophile Ösophagitis mit anderen atopischen Erkrankungen kombiniert. Diagnostik. Entscheidend für die Differenzialdiagnose zur Refluxkrankheit sind der Befund einer normalen 24-Stunden-pH-Metrie und das Nichtansprechen auf eine Therapie mit Säureblockern. In der Röntgenpassage findet sich bei nur ca. 6% der Kinder eine umschriebene Stenose, die aber in der Regel nicht gedehnt werden muss. Die endoskopische Untersuchung zeigt oft konzentrische Mukosaringe (tracheaähnlich)sowie weißliche zum Teil flockige Exsudate, verdickte Mukosafalten und bei Blähung der Speiseröhre auch langstreckige Längsfalten. Die Diagnose kann gestellt werden, wenn bei normaler 24-Stunden-pH-Metrie die histologische Untersuchung mehr als 20 Eosinophile/»Highpower«-Feld nachgewiesen werden. Therapeutisch müssen die mittels Testung als Allergene identifizierten Nahrungsmittel vermieden werden. Eine
Besserung der Symptome tritt aber oft erst nach 2–3 Wochen ein. Als medikamentöse Therapie werden orale Gaben von Methylprednisolon, Inhalationskortikosteroide und neuerdings auch Leuktrienrezeptorantagonisten empfohlen (Furuta et al. 2007).
24.5.7
Hiatushernie und andere Fehlbildungen
Jedes Hochgleiten von Magenanteilen in oder über den Hiatus oesophagicus wird als Hiatushernie (HH) bezeichnet. Man unterscheidet axiale und paraösophageale Hiatushernien (. Abb. 24.9). Axiale Hiatushernie. Die axiale HH ist in der radiologischen
Darstellung entweder gleitend oder im Thoraxbereich fixiert. Eine gleitende HH ist im Kindesalter deutlich seltener als bei älteren Erwachsenen (Vorkommen bei bis zu 60% der Erwachsenen). Eine fixierte HH kann man manchmal bei zerebral behinderten Kindern mit langdauerndem Reflux und ösophagitischer Stenose sowie narbiger Verkürzung der Speiseröhre – Endobrachyösophagus – vorfinden. Bei Säuglingen oder Kleinkindern mit Refluxkrankheit und HH kann man mit einer spontanen Normalisierung der Befunde nicht rechnen. Daher hat der Versuch einer konservativen Therapie in diesen Fällen keine Erfolgschance und die Operation ist in jedem Fall indiziert. In früheren Jahren hat es noch den Ausdruck der »forme mineure« für minimale HH bei kleinen Säuglingen gegeben, heute weiß man jedoch, dass es sich dabei um einen Normalbefund und nicht um eine echte HH handelt. Paraösophageale Hiatushernie. Paraösophageale Hernien finden sich nicht selten nach Fundoplikation als typische postoperative Komplikation. Dabei rutscht ein Teil des Magens durch den Hiatus in den Thorax seitlich von dem an normaler Stelle lokalisierten ösophagogastrischen Übergang, vermutlich durch Insuffizienz der Hiatuspfeilernähte oder der Fixationsnähte des Magens am Zwerchfell. Wenn eine paraösophageale Hernie nicht mit einem pathologischen Refluxrezidiv kombiniert ist und keine anderen Symptome – Druckgefühl, besonders nach dem Essen als
24
272
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
. Abb. 24.9a, b. Axiale Hiatushernie (a) und sog. »upside-down stomach« als Extremform einer großen paraösophagealen Hernie (b)
24
a
Zeichen der Einklemmung – bestehen, ist eine operative Korrektur nicht in jedem Fall erforderlich. Eine angeborene Form der parösophagealen Hernie ist der seltene »upside-down stomach« des Neugeborenen oder Säuglings, bei dem es zu einer mehr oder weniger kompletten Verlagerung des Magens in den Thorax kommt und der ösophagogastrische Übergang an normaler Stelle liegt (. Abb. 24.9; 7 Kap. 24.6.1).
24.5.8
Ösophagusatresie (7 Kap. 23)
Der untere Anteil der Speiseröhre zeigt auch bei problemloser Operation häufig eine gestörte bzw. nahezu fehlende propulsive Peristaltik. Mit den nicht selten damit verbundenen Ess- bzw. Schluckbeschwerden kommen die Kinder in der Regel zurecht, z. B. durch vermehrtes Trinken beim Essen. Refluxierte Magensaft bleibt aber wegen der fehlenden Peristaltik oft sehr lange in der Speiseröhre liegen, besonders im Schlaf, und die Säureclearance ist damit deutlich verlängert. Besonders ausgeprägt ist ein pathologischer Reflux, wenn es im Rahmen der Atresieoperation auf Grund der langen Distanz zwischen den Segmenten erforderlich war, den unteren Speiseröhrenabschnitt weit zu präparieren und nach oben zu ziehen. Dieser Säurereflux ist nicht selten die Ursache für eine anhaltende Stenosierung der Anastomose nach der Operation der Atresie. Später führt der Reflux häufig zu einer Ösophagitis im unteren Speiseröhrenbereich. Bei langanhaltendem Reflux wird im Erwachsenenalter, so z. B. auch bei Patienten nach Ösophagusatresie, signifikant häufiger die Entwicklung eines Barrett-Ösophagus beobachtet (Krug et al. 1999). Besonders in diesen Fällen ist, ähnlich wie bei Vorliegen einer HH, nicht mit einer spontanen Normalisierung der Speiseröhrenfunktion im
b
unteren Speiseröhrenabschnitt zu rechnen und daher ist die Fundoplikation schon im Säuglingsalter die Therapie der Wahl. Wir und andere bevorzugen bei diesen Kindern wegen der schlechten peristaltischen Funktion der unteren Speiseröhre als chirurgische Methode die Semifundoplikation nach Toupet, um eine zusätzliche Behinderung der Speiseröhrenentleerung durch ein zirkuläres Fundoplikat zu vermeiden (Holschneider et al. 2007).
24.5.9
Zwerchfellhernie (7 Kap. 21)
Auch Kinder mit angeborener Zwerchfellhernie leiden häufig unter pathologischen gastroösophagealen Reflux. Die Ursache ist in diesen Fälle die fehlerhafte Ausbildung der Zwerchfellzwinge, insbesondere bei weit nach medial reichenden Zwerchfellhernien oder der Zug an der Zwerchfellzwinge, der im Rahmen des Verschlusses der Hernie erforderlich wurde. Auch bei diesen Kindern ist die rasche Fundoplikation indiziert.
24.5.10 Barrett-Ösophagus Der Barrett-Ösophagus ist eine seltene Komplikation des gastroösophagealen Refluxes mit chronischer Ösophagitis. Histologisches Charakteristikum ist der Ersatz des geschichteten Plattenepithels der Speiseröhre durch metaplastisches Zylinderepithel der Kardiaregion oder des Intestinaltraktes. Man unterscheidet daher 2 Formen: 4 die harmlosere Variante des metaplastischen zylindrischen Kardiaepithels und 4 die problematische Variante der intestinalen Metaplasie mit Becherzellen, die ein erhöhtes Karzinomrisiko mit sich bringt.
273 24.6 · Andere Erkrankungen des Magens
In strengem Sinne wird nur diese zweite Form als BarrettÖsophagus bezeichnet (. Abb. 24.10). Eine mögliche Erklärung für das Vorliegen von »fremdem« Epithel in der Speiseröhre besteht darin, dass das säureresistente Epithel der Kardia rascher hochwächst als das durch die Entzündung zerstörte Plattenepithel. Die Zylinderepithelmetaplasien sind daher nicht selten knapp distal einer ösophagitischen Stenose lokalisiert und dehnen sich bis zur Kardia hin aus, weshalb man auch von einem Endobrachyösophagus spricht. Im Gegensatz zum sehr seltenen echten Brachyösophagus, bei dem die Speiseröhre effektiv zu kurz ist und der UOS im Thorax liegt, ist die Kardia beim Endobrachyösophagus an normaler Stelle, lediglich die Kardiaschleimhaut reicht weit hinauf. Bei intestinaler Metaplasie findet man auch eine abnorme Exposition mit Bilirubin als Hinweis, dass ein duodenogastroösophagealer Reflux vorliegt und intestinales Epithel das Plattenepithel der Speiseröhre ersetzt hat. Unbehandelter langdauernder Reflux bei Kindern mit zerebraler Behinderung, Ösophagusatresie, chronischen Lungenerkrankungen oder Chemotherapie kann in bis zu 13% zu einem BarrettÖsophagus führen (Hassall 1993; Krug et al. 1999). Klinik. Endoskopisch zeigt sich eine eher fleischfarbene leicht blutende Mukosa und unregelmäßigen Schleimhautveränderungen. Diese können inselartig auftreten oder auch zirkulär weite Bereiche bedecken. Durch Einbringen von Lugol’scher oder Indigokarmin-Lösung können die Schleimhautveränderungen besser gesehen und daher genauer biopsiert werden. Neuerdings werden spezielle Endoskope angeboten, die mittels einer besonderen Lichtquelle diese auffälligen Schleimhautveränderungen gut sichtbar machen. Die histologische Untersuchung differenziert wie schon erwähnt die harmlosere Kardiaepithelmetaplasie von der intestinalen Metaplasie mit den typischen Becherzellen. Bei nachgewiesener intestinaler Metaplasie ist die Entnahme von 4-Quadranten-Biopsien im Abstand von 2 cm
entlang des Ösophagus erforderlich. Bei Vorliegen von dysplastischen Epithel ist das Risiko eines späteren Carcinoma in situ oder eines Adenokarzinom 30- bis 125-mal höher als in der Normalbevölkerung (Kim et al. 1997). Das Intervall bis zum Auftreten des Karzinoms liegt jedoch bei 15–30 Jahren, daher sind Adenokarzinome nach Barrett-Ösophagus im Kindesalter selten. Die vom American College of Gastroenterology (Sampliner 1998) vorgeschlagenen Richtlinien bei Barrett-Ösophagus (intestinale Metaplasie) sehen daher folgende Überwachungsstrategie vor: 4 Bei 2-mal nicht nachweisbarer Dysplasie: Kontrollendoskopien alle 2–3 Jahre 4 Bei 2-mal Nachweis niedriggradiger Dysplasie: Kontrollendoskopien jährlich 4 Bei hochgradiger Dysplasie: selektive Resektion oder 3-monatliche Kontrollendoskopie Therapie. Die Behandlung des Barrett-Ösophagus ist iden-
tisch mit derjenigen des chronischen Refluxes: medikamentöse Säureblockade und Bougierung der Speiseröhre bis zur Beseitigung einer allfälligen Stenose und anschließend Fundoplikation (Chang et al. 2007). Das Vorliegen einer hochgradigen Dysplasie oder eines Adenokarzinoms ist im Kindesalter sehr selten und nur Einzelfälle wurden berichtet. Wir haben einen Fall von Adenokarzinom der Speiseröhre bei einer zerebral behinderten 19-jährigen Patientin mit hochgradigem, jahrelang unbehandeltem Reflux gesehen. Bei Erwachsenen ist der Goldstandard sicherlich die Ösophagektomie, wenngleich in der neueren Literatur zunehmend über endoskopische laserunterstützte ablative Schleimhautresektionen berichtet wird.
24.6
Andere Erkrankungen des Magens
Chirurgische Erkrankungen des Magens sind selten, umfassen aber sowohl angeborene Missbildungen als auch Funktionsstörungen sowie Tumore. Im folgenden Kapitel werden diese für den Kinderchirurgen wichtigen Erkrankungen dargestellt, ausgenommen die Tumore, die in einem eigenen Kapitel beschrieben werden.
24.6.1
. Abb. 24.10. Barrett-Ösophagus mit typischer intestinaler Metaplasie und Becherzellen
Magenvolvulus
Der Magen wird normalerweise durch die umgebenden Strukturen in seiner Position gehalten. In der Längsachse ist er durch verschiedene Bandstrukturen fixiert, wie z. B. das gastrohepatische, gastrokolische und gastrolienale Ligament und in der transversalen Achse durch das gastrophrenische Band. Ein Volvulus kann sich daher nur ereignen, wenn die Ligamente sehr locker ausgebildet sind oder zum Teil ganz fehlen. Nicht selten werden als Ursache noch zusätzliche
24
274
24
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
Auffälligkeiten beschrieben wie Störungen der Magenentleerung und/oder Magenmotilität, Relaxatio diaphragmatica, Zwerchfellhernien oder Aspleniesyndrome oder Polysplenie und Splenomegalie sowie Malrotation (Scheerer 2006). Auf Grund der oben beschriebenen anatomischen Gegebenheiten ist ein Volvulus des Magens ein seltenes Ereignis sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Der Volvolus kommt durch Rotation des Magen um die Längsachse oder um die transversale Achse zustande. Mehr als 50% der betroffenen Kinder sind jünger als 1 Jahr und mehr als ein Viertel ist jünger als 6 Monate (Cameron 1987, BautistaCasanovas 2002). Der organoaxialer Volvulus ist wesentlich häufiger. Der Magen rotiert dabei um seine Längsachse, so dass die große Kurvatur meist ventral, seltener dorsal nach oben geschlagen ist. Radiologisch sieht man die Fehllage an der kranial verlaufenden Kontur der großen Kurvatur mit der damit verbundenen verzögerten Magenentleerung (. Abb. 24.11). Ein Extremfall des organoaxialen Volvulus liegt bei der Kombination mit einer paraösophagealen Hernie vor, der typische »upside-down stomach« des Neugeborenen, bei dem der ganze Magen in den Thorax rotiert ist und die große Kurvatur kranial zu liegen kommt (. Abb. 24.9). Der mesenterioaxiale Volvulus ist deutlich seltener und oft mit akuten Durchblutungsstörungen des Magens kombiniert, da der Magen um die transversale Achse rotiert und so die zuführenden Gefäße um 180° rotiert sein können.
Klinik und Diagnostik Der Magenvolvulus kann akut oder chronisch verlaufen. Nach unserer Erfahrung ist die chronisch rezidivierende
Verlaufsform eines organoaxialen Volvulus beim Säugling deutlich häufiger und durch ähnliche Symptome wie beim gastroösophagealen Reflux gekennzeichnet: Nahrungsverweigerung nach bereits geringen Fütterungsmengen, rezidivierendes Erbrechen kurz nach der Fütterung, offensichtliche Hungergefühle und gelegentlich auch Malnutrition. Die Röntgenpassage ist beweisend durch die hochgeschlagene große Kurvatur. Der akute Magenvolvulus ist dagegen ein dramatisches Geschehen mit plötzlich einsetzenden heftigen epigastrischen Schmerzen, Brechreiz, ohne erbrechen zu können. Die Magensonde kann nicht in den Magen vorgeschoben werden. Radiologisch kreuzt beim mesenterioaxialen Volvulus die große Kurvatur den Magen. Es stellt sich ein deutlich geblähter Magen, entweder mit hochgeschlagener Kurvatur beim organoaxialen Volvulus, oder ein doppelter Flüssigkeitsspiegel mit dem sog. »Schnabelzeichen«, durch das umgeschlagene Antrum neben der Kardia, beim mesenterioaxialen Volvulus dar. Therapie. Unbehandelt kann die akute Form eines Magen-
volvulus rasch zur Perforation und Nekrose eines großen Teiles der Magenwand führen und stellt deshalb eine akute chirurgische Indikation dar. Im Notfall sollte zunächst versucht werden, durch eine Magensonde den intragastrischen Druck zu reduzieren. Beim chronisch rezidivierenden Volvulus dagegen ist, nach erfolglosem Versuch einer konservativen Behandlung wie bei Refluxkrankheit beim Säugling – häufigere kleine Mahlzeiten, Eindicken der Nahrung und Hochlagerung – die laparoskopische ventrale Gastropexie im Bereich der kleinen Kurvatur die Therapie der Wahl. Da postoperativ in der Regel, wohl begünstigt durch das Geschehen an sich, weiterhin ein pathologischer Reflux besteht, ist es sinnvoll, gleichzeitig eine Fundoplikation anzulegen, um so einen weiteren Eingriff zu vermeiden. Versuche, den Volvulus durch gastroskopische Manöver zu behandeln, sind heute nach unserer Auffassung obsolet.
24.6.2
Spontane Magenperforation
Magenperforationen sind seltene Ereignisse bei Neugeborenen und Säuglingen. Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen.
. Abb. 24.11. Organoaxialer Magenvolvulus mit hochgeschlagener großer Kurvatur, so dass die Magenentleerung dadurch deutlich behindert wird
Ätiologie. Es werden verschiedene Ursachen diskutiert. Bei Neu- und Frühgeborenen kann eine Magenperforation nach perinatalem Stress, hypoxischen Ereignis mit Schock oder Reanimation auftreten. Zum einen wird eine umschriebene hypoxische Schädigung der Magenwand in Form eines transmuralen Ulkus mit Nekrose vermutet, die nach einigen Tagen dann perforiert. Zum anderen werden eine Magenwandschädigung durch Überblähung des Magens bei Reanimation, Verletzung durch Magensonde oder auch Magenauslassbehinderung diskutiert. Auch nach Ver-
275 24.6 · Andere Erkrankungen des Magens
abreichung von Indomethacin im Rahmen der Behandlung eines offenen Ductus Botalli kann es zur Magenperforation kommen. Ohne vorausgehende dramatische Ereignisse scheint als Ursache einer spontanen Magenperforation auch eine umschriebene Magenwandschwäche durch abnorme Textur der Muskelschicht, meist an der großen Kurvaturseite lokalisiert, vorzuliegen. Andere Ursachen wie abnorme Bakterienbesiedelung, hyperosmolare intraluminale Substrate oder Unreife des Immunsystems werden auch beschrieben (Scheerer 2006). Klinik und Diagnostik. Die spontane Magenperforation ohne ersichtliche pathologische Vorgänge ereignet sich meist 3–5 Tage nach der Geburt. Bei vorangegangenen ischämischen Ereignissen tritt eine Perforation erst 5–15 Tage danach ein. Hauptsymptome sind ein aufgetriebenes Abdomen, Zeichen der Peritonitis, vor allem im Oberbauch und zunehmende Schocksymptomatik. Die Röntgenübersichtsaufnahme im Hängen zeigt die feie Luft unter dem Zwerchfell. Bei Frühgeborenen kann die freie Luft im Bauchraum auch mit Transillumination gut nachgewiesen werden. Therapie. Therapeutisch ist neben der Schockbehandlung vor allem die Laparotomie mit Übernähung der Perforationsstelle erforderlich. Nekrotische Abschnitte müssen exzidiert werden, bei sehr ausgedehnter Nekrose kann sogar eine Teilresektion des Magens mit Billroth-I- oder Billroth-II-Anastomose erforderlich sein. Bei rascher Diagnose einer isolierten Magenperforation und optimaler postoperativer Therapie ist die Überlebenschance der Kinder bei 90%, vorausgesetzt, dass keine anderen schweren Erkrankungen vorliegen.
24.6.3
Magenausgangsstenosen
Missbildungen des Magens durch Antrumatresie, präpylorische Schleimhautmembranen mit oder ohne Loch und Pylorusatresie sind selten und machen weit weniger als 1% aller intestinalen Atresien aus. Die Ursache dieser Fehlbildungen wird in einer frühen Störung der Endodermentwicklung gesehen. Eine intrauterine vaskuläre Durchblutungsstörung, wie sie bei intestinalen Atresien nachgewiesen wurde, ist beim Magen infolge seiner exzellenten Blutversorgung unwahrscheinlich. Pylorusschleimhautmembranen mit und ohne Loch sind mit 67% am häufigsten, Pylorusatresien mit 27% deutlich seltener. Antrumschleimhautmembranen werden nur in 5% und Antrumatresien in 1% dieser Fälle beschrieben (Kume et al. 1980). Syndromatisch kommen Pylorusatresien auch mit Epidermiolysis heriditeria bullosa kombiniert vor infolge Mutation des PLEC1-Gen (Dank et al 1999; Scheerer 2006). Klinik und Diagnostik. Bei vollständiger Magenausgangs-
stenose kann die Verdachtsdiagnose schon anlässlich der
pränatalen Ultraschalluntersuchung durch Hydramnion, auffällige Magenfüllung und gestörte Magenentleerung gestellt werden. Typisches Symptom bei Neugeborenen sind niedriges Geburtsgewicht, auffallend kleines Abdomen und nichtgalliges Erbrechen nach den Mahlzeiten. Weitere Symptome sind Dyspnoe, Tachypnoe und exzessives Speicheln. Bei Membranen mit Loch ist naturgemäß die Magenentleerung verzögert und ein pathologischer gastroösophagealer Reflux ist die Regel. Bei älteren Kindern sind epigastrische Schmerzen, Übelkeit und gehäuftes Erbrechen die typischen Symptome. Die Diagnose kann in der Regel bereits im Abdomenleerbild im Hängen gestellt werde. Es finden sich ein Flüssigkeitsspiegel oder »single bubble« im Gegensatz zu der »double bubble« bei Duodenalatresie. Das restliche Abdomen ist luftleer. Bei Membran mit Loch ist wenig Gas distal und die Kontrastmitteldarstellung zeigt den riesigen Magen mit der nach distal vorgewölbten Membran und geringem Übertritt von Kontrastmittel in das Duodenum. Bei kompletter Pylorusatresie findet sich bei der Ultraschalluntersuchung naturgemäß auch nicht das typische Pylorusbild. Therapie. Die Soforttherapie besteht im Einbringen einer ausreichend dicken Magensonde mit Absaugen des enormen Mageninhaltes. Bei reinen Membranen mit oder ohne Loch erlaubt die Gastroskopie nicht nur die Diagnose sondern auch die partielle Resektion des meist nur aus Mukosa und Submukosa bestehenden Schleimhautverschlusses mit dem Laser. Ansonsten bietet sich die offene Resektion mit Pyloroplastik nach Heineke-Mikulicz an. Bei vollständigen Atresien mit unterbrochener Kontinuität ist die Gastroduodenostomie mit temporärer Gastrostomie und transanastomotischer Sonde zur Frühernährung die beste Methode. Die Ergebnisse sind laut Literatur sehr gut (Moore 1989).
24.6.4
Magenduplikaturen
Duplikaturen sind unterschiedlich lange, teils zystische teil zylindrische Verdoppelungen des Intestinaltraktes. Die Magenduplikaturen sind meist im Bereich der großen Kurvatur lokalisiert und machen anteilsmäßig etwa 3–10% aller intestinalen Duplikaturen aus. Sie sind in über 80% zystischer Natur (. Abb. 24.12; Wieczorek et al. 1984; Scheerer 2006). Die Zystenwand kann in direkter Kontinuität mit dem Magen stehen und von gemeinsamer Muskulatur umgeben sein oder eben eine eigene Wand aufweisen. Häufig findet sich in der Duplikatur auch ektopes Pankreasgewebe zusammen mit der Magenmukosa. Ätiologie. Die Ursache der Magenduplikaturen ist unbekannt, zumal der Magen im Gegensatz zum übrigen Intestinaltrakt nicht temporär von Epithel ausgefüllt und einer Rekanalisation unterliegt. Wegen der in 35% der Fälle bestehenden Kombination einer Magenduplikatur mit Öso-
24
276
Kapitel 24 · Gastroösophagealer Reflux und Erkrankungen des Magens
Klinik und Diagnostik. Der kleine Magen kann schon bei der präpartalen Ultraschalluntersuchung auffallen. Symptome nach der Geburt sind rezidivierendes Erbrechen infolge des kleinen Magens und durch massiven Reflux, Aspirationen sowie Gedeihstörungen. Die Diagnose erfolgt durch die Röntgenkontrastmitteluntersuchung, die den ausgeweiteten Ösophagus und den kleinen tubulären Magen darstellt.
24
. Abb. 24.12. Großteils zystische Magenduplikatur mit Magenschleimhaut und Pankreasgewebe in der Zyste
phagus-, Duodenal- oder Pankreasduplikaturen sowie enterogenen Zysten im dorsalen Mediastinum wurde auch eine Störung in der Notochordentwicklung vermutet (Bartels 1976; Torma 1974). Klinik und Diagnostik. Magenduplikaturen werden meist schon im ersten Lebensjahr manifest. Sie sind beim männlichen Geschlecht zweimal häufiger als beim weiblichen. Die Symptome hängen von der Größe und Lokalisation der Zyste ab. Magenausgangsstenose, Gewichtsverlust, Trinkschwäche, Oberbauchschmerzen, palpabler Tumor und Blutungen sind mögliche Symptome bzw. Befunde. Bei Vorliegen von ektopen Pankreasgewebe in der Duplikatur kann es auch zur Perforation in die Umgebung kommen. In einem eigenen Fall kam es nach der Perforation zu einer Art Pseudozystenbildung im retroduodenalen Raum. Die Diagnose wird mittels Ultraschall, Kontrastmitteldarstellung des Magens oder Computertomographie gestellt. Therapie. Die Behandlung besteht in der Resektion der Zys-
te, entweder in Form einer Ausschälung aus der Magenwand oder als Resektion mit dem angrenzenden Magenanteil. Eine Ausschälung des Epithels bei sehr großen Zysten ist nur dann sinnvoll, wenn die Zyste mit großen Teilen des Magens verbunden ist und keine chronische Entzündung vorliegt. Bei gleichzeitig bestehender Duplikatur des Pankreas muss der akzessorische Pankreasanteil freipräpariert und gesondert reseziert werden. Die Ergebnisse sind in der Regel ausgezeichnet (Wiezorek 1984).
24.6.5
Angeborene Mikrogastrie
Die Mikrogastrie ist eine sehr seltene angeborenen Fehlbildung und charakterisiert durch einen kleinen inkomplett rotierten, tubulären Magen und Megaösophagus, häufig zusammen mit weiteren Fehlbildungen wie Malrotation, Asplenie, Ösophagusatresie, Situs inversus und Skelettfehlbildungen (Scheerer 2006).
Therapie. Die primäre Behandlung besteht in der kontinuierlichen Ernährung über eine Magensonde und allenfalls zusätzlicher Kalorienzufuhr über eine Jejunumsonde. In der Regel kommt es allmählich zu einer ausreichenden Vergrößerung des Magens, die schließlich eine volle orale Ernährung erlaubt. In seltenen Fällen, bei denen es zu keiner entsprechenden Vergrößerung des Magenvolumens kommt, wird eine Seit-zu-Seit-Gastrojejunostomie empfohlen um das Reservoir zu vergrößern (Menon et al. 2003).
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277 24.6 · Andere Erkrankungen des Magens
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24
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25
25 Hypertrophe Pylorusstenose M. Metzelder, B. Ure 25.1
Inzidenz, Anatomie und Pathophysiologie
– 279
25.2
Klinik und Diagnostik
– 279
25.3
Präoperative Maßnahmen
– 280
25.4
Operative Verfahren
25.4.1 25.4.2
Offen-chirurgische Techniken – 280 Minimalinvasive Technik – 280
Postoperative Behandlung, Nahrungsaufbau – 281
25.6
Ergebnisse und Komplikationen
25.7
Nicht-operative Behandlung
– 280
> Die hypertrophe Pylorusstenose ist eine ausschließlich im Säuglingsalter auftretende Erkrankung des Magenausgangs. Als Folge einer eingeschränkten Magenentleerung imponieren die Leitsymptome »schwallartiges Erbrechen« und »Gedeihstörung«. Die Diagnose wird klinisch gestellt und sonographisch gesichert. Therapeutisch erfolgt eine Pyloromyotomie, die über unterschiedliche Zugangswege erfolgen kann. Die Prognose der hypertrophen Pylorusstenose ist ausgezeichnet.
25.1
25.5
Inzidenz, Anatomie und Pathophysiologie
Die hypertrophe Pylorusstenose betrifft in westlichen Ländern 2–3 von 1000 Säuglingen und tritt typischerweise bei Säuglingen im Alter von 2–8 Wochen auf. Sie ist äußerst selten bei Kindern im Alter über 3 Monate. Die Gründe für ein 4-fach häufigeres Auftreten bei Knaben, eine niedrige Inzidenz bei Säuglingen afrikanischen oder asiatischen Ursprungs und ein gehäuftes Auftreten bei Nachkommen eines betroffenen Elternteils sind ungeklärt. Von der Hypertrophie ist besonders die Ring- und in geringerem Maße die Längsmuskulatur des Pylorus betroffen. Ursächlich wird eine abnormale Innervation oder ein Fehlen terminaler nervaler Strukturen in der Pylorusmuskulatur mit konsekutiv fehlender Relaxation diskutiert (Langer et al. 1995). Dies geht mit einer lokalen Erhöhung der Synthese von Wachstumsfaktoren (Oshiro u. Puri 1998)
– 281
– 281
Literatur – 282
und einer Verminderung der »nitric-oxide synthase« einher (Saur et al. 2004).
25.2
Klinik und Diagnostik
Leitsymptom der hypertrophen Pylorusstenose ist das »schwallartige« oder »projektilartige« Erbrechen nicht-
galligen Mageninhalts unmittelbar nach der Nahrungsaufnahme. Trotz guten Trinkverhaltens kommt es zur Gedeihstörung. Als Folge einer fortschreitenden Dehydratation und Elektrolytimbalance kann der Säugling adynam und exsikkiert imponieren, wobei inspektorisch häufig eine durch die Bauchdecke erkennbare Hyperperistaltik des Magens mit typischen wellenartigen Bewegungen auffällt. Der hypertrophierte Pylorusmuskel kann bisweilen als »Olive« palpiert werden. Bei Kindern mit hypertropher Pylorusstenose kann passager ein Haut- und Sklerenikterus imponieren. Die Diagnose der hypertrophen Pylorusstenose wird sonographisch durch Ausmessung der Länge, Gesamtdicke und Wanddicke des Pylorus gestellt (. Abb. 25.1). Sie gilt ab einer Länge des Pyloruskanals von >14 mm und einer Pyloruswanddicke von >3 mm als gesichert (Aspelund u. Langer 2007). Der Nachweis einer pathognomonisch fehlenden Pylorusrelaxation gelingt in der sonographischen »Real-time«-Beurteilung (Cohen et al. 1998). Da die Sensitivität der sonographischen Untersuchung 99% und die Spezitivität 100% beträgt (White et al. 1998), kann auf eine
280
Kapitel 25 · Hypertrophe Pylorusstenose
teilen ist. Die Flüssigkeitssubstitution erfolgt mittels halbisotoner Lösung (0,45% NaCl, Glukose 5%) mit 1½-facher Menge des Flüssigkeits-Tagesbedarfs. Bei ausgeprägter Dehydratation kann eine initiale intravenöse Bolusgabe von isotoner Kochsalzlösung erforderlich werden. Sobald eine ausreichende Urinproduktion von >1 ml/kg KG/h erreicht ist, kann zusätzlich Kaliumchlorid intravenös verabreicht werden (10–20 mmol/l). Als Voraussetzung für die Narkose und operative Therapie gilt ein adäquater Hydratationszustand mit regelrechtem Hautturgor, ausreichender Urinproduktion, ausgeglichenem Bikarbonat und Serum-Chloridwerten über 100 mmol/l. > Die Pyloromyotomie ist keine Notfalloperation. Die Korrektur des Elektrolyt- und Säure-Basen-Status und ein optimaler Hydratationszustand sind essenziell vor Einleitung der Narkose und der chirurgischen Therapie.
25 . Abb. 25.1. Sonographische Darstellung einer hypertrophen Pylorusstenose (Querschnitt rechter Oberbauch, Messung der Pyloruslänge und Pyloruswandddicke; M hypertrophierter Muskel
weiterführende Diagnostik verzichtet werden. Lediglich für Fälle mit einer untypischen Symptomatik und einem nicht eindeutigem Sonographiebefund ist eine Kontrastmitteldarstellung des Ösophagus, Magens und oberen Dünndarms zu diskutieren. Das Erbrechen sauren Mageninhaltes führt zu einem Verlust an Natrium, Kalium und Salzsäure mit Ausbildung einer hypochlorämischen metabolischen Alkalose. Durch eine renale Gegenregulation mit Retention von Natriumionen und vermehrter Ausscheidung saurer Valenzen kommt es zu einer paradoxen Azidurie. Mit fortschreitender Dehydratation werden vermehrt Kaliumionen über den Urin ausgeschieden, um den Verlust an Wasser und Natriumionen zu kompensieren. Dadurch entsteht ein Circulus vitiosus, der durch adäquate intravenöse Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution zu durchbrechen ist. Differenzialdiagnostisch kommen gastrointestinale Infektionen, ein gastroösophagealer Reflux mit oder ohne Hiatushernie und Erkrankungen des Magens und Duodenums, die mit einer Entleerungsstörung einhergehen, in Frage. Bei letzteren handelt es sich besonders um die Duodenalstenose und Malrotation.
25.3
Präoperative Maßnahmen
Zunächst wird der Magen durch eine nasogastrale Sonde und Nahrungskarenz entlastet. Die Flüssigkeits- und Elektrolytimbalance wird über einen peripheren Venenzugang ausgeglichen (Aspelund u. Langer 2007), wobei das Ausmaß der Dehydratation anhand des Allgemeinzustands des Kindes, der Urinausscheidung, dem Serum-Chloridspiegel, und den Bikarbonatwerten in der Blutgasanalyse zu beur-
25.4
Operative Verfahren
Prinzipiell sind offene von minimalinvasiven Techniken zu unterscheiden. Beiden gemeinsam ist die antimesenteriale vollständige Längsspaltung des Pylorusmuskels mit Erhaltung der Integrität der Mukosa.
25.4.1
Offen-chirurgische Techniken
Ramsted stellte 1912 die Technik der Pyloromyotomie vor, die bis heute das Standardverfahren ist. Nachdem er den Eingriff über eine mediane Laparotomie ausgeführt hatte, wurde der Zugang zum Pylorus in den folgenden Jahren im Sinne einer schrägen Inzision im rechten Oberbauch und einer queren rechtsseitigen Oberbauchlaparotomie modifiziert. Tan und Bianchi führten 1986 den supraumbilikalen bogenförmigen Zugang ein, der ein exzellentes kosmetisches Ergebnis erzielt. Dieser Zugang erfolgt 0,5 cm oberhalb der Nabelfalte mit vertikaler Eröffnung der Faszie und des Peritoneums innerhalb der Linea alba. Der Pylorus wird gefasst und unter vorsichtigem Zug vor die Bauchdecke verlagert. Nach antimesenterialer Längsinzision der Serosa über dem hypertrophierten Muskel ist der hypertrophierte Muskel in seiner gesamten Länge unter Verwendung eines Pylorotoms oder einer Klemme vollständig zu spreizen. Bei diesem Manöver ist eine akzidentelle Mukosaeröffnung auszuschließen. Zur Sicherung der Unversehrtheit der Mukosa kann Luft über eine Magensonde appliziert werden.
25.4.2
Minimalinvasive Technik
Alain stellte 1991 die laparoskopische Pyloromyotomie vor. Der Eingriff wird über 3 Zugänge, einen umbilikalen 5-
281 25.7 · Nicht-operative Behandlung
25.5
Postoperative Behandlung, Nahrungsaufbau
Die Sicherheit und Vorteile eines unverzüglichen postoperativen Nahrungsaufbaus sind im Rahmen zahlreicher Studien belegt (Wheeler et al. 1990; van der Bilt et al. 2004). Milchnahrung kann innerhalb von 2–4 h nach der Operation verabreicht und rasch ad libitum gesteigert werden. Bei Erbrechen ist der Nahrungsaufbau zurückzufahren. Die Applikation von Morphin verzögert aufgrund der Beeinträchtigung der Darmfunktion den Nahrungsaufbau, so dass zur Analgesie vorzugsweise nichtsteroidale Analgetika einzusetzen sind.
25.6 . Abb. 25.2. Laparoskopische Inzision der Serosa über der hypertrophierten Muskulatur
. Abb. 25.3. Laparoskopische Spreizung der Pylorusmuskulatur
mm-Trokar für die Optik und zwei 3,5-mm-Arbeitstrokare im Epigastrium und rechten Oberbauch mit einem maximalen Insufflationsdruck von 8 mmHg vorgenommen. Alternativ können die Arbeitsinstrumente »trokarfrei« unter Sicht in die Bauchhöhle eingebracht werden. Nach Fixation des postpylorischen Duodenum mit einer atraumatischen Zange und Exposition des Pylorus wird die Serosa über der hypertrophierten Muskulatur mit einem endoskopischen Messer inzidiert und mit einem Spreizer auseinandergedrängt (. Abb. 25.2 und 25.3). Die Dichtigkeitsprobe mit Luftapplikation in den Magen schließt den Eingriff ab. ! Cave Bei der Pylorommyotomie ist essenziell, dass sämtliche Fasern der hypertrophierten Pylorusmuskulatur durchtrennt werden und eine Mukosaperforation sicher ausgeschlossen ist.
Ergebnisse und Komplikationen
Die Ergebnisse der Pyloromyotomie sind aufgrund einer ausgesprochen niedrigen Morbidität und Mortalität ausgezeichnet. Die häufigste intraoperative Komplikation betrifft die akzidentelle Schleimhauteröffnung und ist bei <5% der Eingriffe zu erwarten (Hulka et al. 1997). Die Perforationsstelle wird mit resorbierbarem Nahtmaterial übernäht und kann mit einem Omentum-majus-Patch gesichert werden. Mit Wundinfektionen ist laut einer Metaanalyse (Hall et al. 2004) bei 0,3–12% der Patienten zu rechnen. Inkomplette Myotomien sind bei bis zu 2% konventionell operierten und bis zu 5,5% laparoskopisch operierten Kinder berichtet. Sie erfordern eine Re-Pyloromyotomie, die vorzugsweise über eine separate Inzision des Pylorus erfolgt. Die Mortalität, die unter 0,4% beträgt, ist meist auf eine unzureichende präoperative Korrektur der metabolischen Entgleisung zurückzuführen (O’Neill et al. 2004). Untersuchungen zum supraumbilikalen im Vergleich zum vertikalen Zugang konnten keinen Unterschied hinsichtlich des Operationserfolgs und der Komplikationsrate, doch ein besseres kosmetisches Ergebnis für den ersteren nachweisen (Mullassery et al. 2007). Die laparoskopische im Vergleich zur konventionellen Operation geht mit geringerem Erbrechen und niedrigeren Schmerzen, aber mit einer etwas höheren Rate an inkompletten Pyloromyotomien einher (Leclair et al. 2007, St Peter et al. 2006). Rezidive einer Pylorushypertrophie mehrere Wochen nach erfolgreicher Pyloromyotomie sind beschrieben und werden nicht als Folge einer inkompletten Pyloromyotomie angesehen (Ankermann et al. 2002). Häufiger liegt einem erneut auftretenden Erbrechen ein gastroösophagealer Reflux, seltener eine postpylorische duodenale Obstruktion zugrunde.
25.7
Nicht-operative Behandlung
Aufgrund der exzellenten Ergebnisse der Pyloromyotomie sind konservative medikamentöse Verfahren bisher nicht von Bedeutung. Die orale oder systemische Applikation von
25
282
Kapitel 25 · Hypertrophe Pylorusstenose
Atropinen erfolgte unter der Vorstellung einer Spasmolyse des hypertrophierten Pylorusmuskels. Kawahara et al. konnten 2005 bei 17 von 19 Säuglingen klinisch und sonographisch einen Therapieerfolg verzeichnen, doch verlängerte dieses Vorgehen den Krankenhausaufenthalt beträchtlich. Yamataka et al. berichteten 2000 über eine 85%-ige Erfolgsrate der Atropinapplikation. Die konservative Therapie kann daher alternativ bei Säuglingen mit einer Kontraindikation für die chirurgische Therapie zu Anwendung kommen.
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26
26 Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms D. von Schweinitz
26.1
Pylorus- und Duodenalatresien
26.1.1 26.1.2
Pylorusatresie – 283 Duodenalatresien und -stenosen
26.2
Atresien und Stenosen des Dünndarms – 286
26.2.1 26.2.2
Dünndarmatresien und -stenosen Kolonatresien – 291
26.3
Malrotationsfehlbildungen
26.4
Mekoniumileus
– 283
26.5
Meckel-Divertikel und persistierender Ductus omphaloentericus – 305
26.6
Darmduplikaturen
26.6.1 26.6.2 26.6.3 26.6.4
Duodenalduplikaturen – 309 Dünndarmduplikaturen – 309 Kolonduplikaturen – 309 Rektumduplikaturen – 310
– 284
– 286
– 291
– 307
Literatur – 310
– 299
> Obstruktive Fehlbildungen und Erkrankungen des Intestinaltraktes sind im Neugeborenen- und Säuglingsalter relativ häufig und bilden einen der Schwerpunkte der viszeralen Kinderchirurgie. In den ersten Lebenstagen machen sie bis zu einem Drittel der intensivpflichtigen Erkrankungen aus. Fehlender Abgang von Mekonium bzw. Stuhlgang, geblähtes und schmerzhaftes Abdomen sowie galliges Erbrechen sind die wichtigsten gemeinsamen Symptome, hinter denen sich eine Vielzahl Fehlbildungen und Erkrankungen verbirgt, die im Folgenden abgehandelt werden. Bei den meisten von diesen ist eine zielgerichtete Diagnostik und ggf. rasche chirurgische Intervention dringlich, um schwere Folgeschäden wie Sepsis und Kreislaufschock, insbesondere aber Verlust von Darmanteilen mit drohendem Kurzdarmsyndrom zu vermeiden. Die recht uniforme, klinisch zunächst nicht sehr ausgeprägte Symptomatik macht es aber oft schwierig, rasch die korrekte Diagnose zu stellen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Hierfür bedarf es der Zusammenarbeit von erfahrenen Neonatologen, Kinderradiologen und Kinderchirurgen, um optimale Behandlungsergebnisse zu erzielen und so schwere langfristige Funktionsstörungen zu vermeiden. Deshalb sollten junge Kinder mit den hier beschriebenen Entitäten in Zentren mit einer entsprechenden intensivmedizinischen Kapazität und Personalstruktur behandelt werden.
26.1
Pylorus- und Duodenalatresien
26.1.1
Pylorusatresie
Die angeborene Atresie des Pylorus ist eine extrem seltene Entität, die isoliert familiär auftritt oder mit einer Epidermolysis bullosa assoziiert sein kann. Das Lumen des Pyloruskanals ist entweder durch eine Membran oder solides Gewebe verlegt, oder der Pylorus ist überhaupt nicht angelegt. Pränatal fällt sonographisch der vergrößerte Magen bei einem Polyhydramnion der Mutter auf. Die Unterscheidung zu der wesentlich häufigeren Duodenalatresie ist dabei nicht immer sicher. Postnatal kommt es rasch zum Erbrechen klarer Magenflüssigkeit, und im Röntgenleerbild findet sich eine einzelne große Luftblase. Eine Perforation des Magens kann auftreten. Differenzialdiagnostisch kommen eine hohe Duodenalatresie oder ein kompletter hoher Ileus bei Dünndarmvolvulus in Betracht. Bei Verdacht besteht die Indikation zur Laparotomie. Hierbei kann eine Membran exzidiert, ansonsten eine Gastroduodenostomie angefertigt werden. Eine Gastrojejunostomie sollte möglichst vermieden werden. Die Prognose ist in der Regel gut, jedoch bei Vorliegen einer Epidermolysis bullosa von dieser Grundkrankheit abhängig und dann sehr schlecht (Al-Salem 2007).
284
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
26.1.2
Duodenalatresien und -stenosen
Vorkommen, Ätiologie und Pathologie
26
Kongenitale Duodenalatresien und -stenosen kommen bei einem auf ca. 2500 Lebendgeborenen vor. Besonders betroffen sind Kinder mit einer Trisomie 21 (Down-Syndrom, Mongolismus) in 40% der Fälle, auch anderweitig wird eine familiäre Häufung beobachtet. Bei 50% der Kinder mit Duodenalatresie oder -stenose liegen Fehlbildungen anderer Organsysteme vor (Herz, Ösophagus, Anorektalregion, Urogenitalsystem), gehäuft ist auch die Frühgeburtlichkeit (Jimenez et al. 2004). Die wahrscheinlichste Ursache für die Entstehung von Duodenalatresien und -stenosen liegt in einer Rekanalisierungsstörung der embryonalen Duodenalanlage. Zwischen der 3. und 7. Embryonalwoche, wenn die Knospen für das Pankreas und das hepatobiliäre System angelegt werden, besteht die Duodenalanlage aus solidem Gewebe, das in der 8. bis 10. Embryonalwoche durch Vakuolenbildung rekanalisiert wird. Eine Störung dieses Prozesses führt zu einer Duodenalatresie oder -stenose. Oft ist die Atresie mit einem zirkulären Ring aus Pankreasgewebe um das Duodenum (Pancreas anulare, 7 Kap. 36.2.3) umgeben. Es ist dabei unklar, ob hier die Rekanalisierungsstörung oder die fehlende Rotation der rechten Pankreasanlage die primäre Ursache dieser Fehlbildung darstellt. Relativ häufig zeigt auch der Gallengang Fehlbildungen. Gallengangsatresien und -stenosen sowie Agenesien der Gallenblase (7 Kap. 35) sind gehäuft mit duodenalen Fehlbildungen assoziiert, insbesondere mit der familiär auftretenden doppelten Duodenalatresie. Prinzipiell können 3 Formen der Fehlbildung vorliegen (. Abb. 26.1): 4 Verschluss oder weitgehende Stenosierung des Lumens mit einer Membran, die sich windsackartig in das distale Duodenum vorwölben kann 4 Echte Atresie mit oder ohne einer fibrösen Strangverbindung (selten) 4 Verschluss oder Stenose bei einem Pancreas anulare (häufigste Form) In der Mehrzahl der Fälle liegt die Atresie oder Stenose distal der Ampulla Vateri. Magen, Pyloruskanal und Bulbus
duodeni sind stark erweitert mit muskulärer Hypertrophie, das distale Duodenum und der Dünndarm schmallumig und gelegentlich dünnwandig.
Klinik und Diagnostik Pränatal führt die Duodenalatresie bzw. -stenose in mindestens der Hälfte der Fälle zu einem Polyhydramnion, in einem Drittel zu Frühgeburtlichkeit und häufig zu einer fetalen Wachstumsretardierung. In vielen Fällen kann im Ultraschall während der Schwangerschaft der erweiterte Magen und Bulbus duodeni festgestellt werden Innerhalb der ersten Stunden nach der Geburt kommt es zu meist galligem Erbrechen. Aspiration von über 20 ml Flüssigkeit über eine Magensonde ist beim Neugeborenen ein Zeichen für eine intestinale Obstruktion. Das Abdomen ist bei geblähtem Oberbauch ansonsten schlank, gelegentlich wird Mekonium abgesetzt. Die wichtigste diagnostische Maßnahme ist die Röntgenübersichtsaufnahme des Abdomens, die eine typische doppelte Spiegelbildung im Oberbauch mit luftleerem übrigen Abdomen zeigt (. Abb. 26.2). Bei Vorliegen einer Stenose ohne komplette Obstruktion findet sich gelegentlich Luft im Dünndarm. Dann kann auch ein Volvulus bei Malrotation (7 Kap. 26.4) vorliegen. Wenn nicht eine dringliche Operationsindikation vorliegt, kann dieser durch einen Röntgenkolonkontrasteinlauf und eine Magen-Darm-Passage dargestellt werden.
Therapie und Prognose Als erste Maßnahme erfolgen die Entlastung des Magens über eine kräftige Magensonde und eine Infusionstherapie zum Ausgleich einer eventuellen Dehydratation sowie von Elektrolyt- und Säure-Base-Haushaltsstörungen. Fehlbildungen weiterer Organe sollten mittels Sonographie und ggf. weiterer Röntgendiagnostik gesucht, eine Chromosomenanalyse eingeleitet werden. Nach Stabilisierung des Kindes kann die Korrekturoperation erfolgen. > Das Vorliegen einer passenden klinischen Symptomatik und eines typischen Röntgenübersichtsbildes sind ausreichend für eine Operationsindikation.
. Abb. 26.1a–c. Formen der Duodenalatresie. a Membranöse Form, b komplette Atresie, c Pancreas anulare. (Aus von Schweinitz 2006)
a
b
c
285 26.1 · Pylorus- und Duodenalatresien
zügig gespalten oder ihre lateroventralen Anteile exzidiert werden. Eine komplette Exzision sollte wegen der Möglichkeit der Lage einer Papille auf der Membran nicht erfolgen. Nach Einlage einer Ernährungssonde ins distale Duodenum wird die Duodenotomie durch queres Vernähen verschlossen. Ist eine genügende Weite der Passage so nicht gewährleistet, sollte eine Duodeno-Duodenostomie durchgeführt werden. Bei einer echten Atresie und einem Pancreas anulare wird die Kontinuität durch eine Duodeno-Duodenostomie hergestellt. Hierfür wird der obere Blindsack quer, der untere längs eröffnet. Bei der anschließenden Anastomosierung kommt es zu einer diamantförmigen Verbindung, die hinsichtlich Passage und Komplikationsfreiheit die besten Ergebnisse ergeben hat. Einige Zentren führen diesen Eingriff auch laparoskopisch durch (Spilde et al. 2008, van der Zee u. Bax 2008; . Abb. 26.3). ! Cave Keinesfalls darf bei der Exzision einer Membran eine Papille verletzt oder beim Pankreas anulare der Pankreasgewebering durchtrennt werden.
. Abb. 26.2. Röntgenabdomenleeraufnahme mit doppeltem Spiegel bei Duodenalatresie
Die Laparotomie erfolgt über einen queren Oberbauchschnitt. Dann werden die Bauchorgane genau auf weitere Fehlbildungen inspiziert, anschließend die rechte Kolonflexur und die Duodenalanteile mobilisiert. Bei nicht unterbrochener Kontinuität des Duodenums erfolgt eine laterale Längsinzision. Eine verschließende Membran kann groß-
Nach wenigen Tagen kann über die Sonde mit dem vorsichtigen Nahrungsaufbau begonnen werden. Die Passage über die duodenale Anastomose kommt jedoch oft erst nach 1–2 Wochen in Gang. Frühe Komplikationen ergeben sich aus einem Leck der Anastomose oder einer Sepsis sowie einer Verletzung der Gallengänge oder des Pankreas. Diese sind jedoch selten, ebenso die Langzeitkomplikationen. Hier kann es zu lange andauerndem duodenogastralem Reflux oder Stase im Duodenum kommen, die zu vielfältigen abdominellen Beschwerden führen. Gehäuft wurden Gallensteine nach Korrektur einer Duodenalatresie beschrieben (Millar et al. 2005).
. Abb. 26.3a, b. Duodeno-Duodenostomie bei Duodenalatresie mit Pancreas anulare. a Schnittführung. b Diamantförmige Anastomose
a
b
26
286
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
26.2
Atresien und Stenosen des Dünndarms
26.2.1
Dünndarmatresien und -stenosen
Vorkommen, Ätiologie und Pathologie Vorkommen. Wesentlich häufiger als Atresien und Steno-
sen des Duodenums sind solche des Dünndarms mit einem Fall auf ca. 1.000 Lebendgeborene.
lingsschwangerschaften, das vom Fetus geschluckt wurde (Nicolini u. Monni 1990). So finden sich bei Kindern mit Dünndarmatresie gehäuft Anheftungsstörungen des Mesenteriums sowie im distalen Darm Gallefarbstoff, Lanugohaare und Plattenepithelzellen als Hinweis auf eine späte Unterbrechung der Darmpassage. Schließlich konnte in Tierversuchen bei verschiedenen Spezies gezeigt werden, dass eine Gefäßokklusion oder Darmobstruktion während der Fetalzeit zu den gleichen Veränderungen führen, wie sie bei der Dünndarmatresie gefunden werden.
Ätiologie. Für diese Fehlbildung sind genetische Prädisposi-
26
tionen sehr selten, meistens haben die betroffenen Kinder keine weiteren Fehlbildungen. Dennoch wurden einzelne Fälle eines Syndroms mit hereditären, multiplen gastrointestinalen Atresien beschrieben, die vorwiegend bei Kindern konsanguiner Eltern auftraten. Ebenso sind vereinzelte Fälle mit Assoziationen zu Atresien des Ösophagus, Kolons, Rektums und der Gallengänge sowie zum Morbus Hirschsprung und der Meningomyelozele berichtet worden (Millar et al. 2005). Es besteht jedoch Einigkeit, dass die Ursache der Dünndarmatresien in Ereignissen der späteren Fetalzeit zu suchen sind, die mit einer lokalen, verschieden ausgedehnten Durchblutungsstörung mit Darmischämie und/oder einer schweren Entzündung des Darms einhergingen. Zu den ursächlichen Störungen zählen dabei die Laparochisis, intrauteriner Volvulus oder Invagination, aber auch Passagestörungen mit Darmperforation bei zystischer Fibrose oder Morbus Hirschsprung sowie auch entzündlich-toxische Alterationen, z. B. nach Gabe von Farbstoffen wie Methylenblau in das Fruchtwasser zur Markierung bei Zwil-
Pathologie. Pathologisch-anatomisch finden sich unter-
schiedliche Formen der Dünndarmatresie, die sich wie folgt klassifizieren lassen und eine Bedeutung für die Therapie und Prognose haben (Martin u. Zerella 1976). 4 Typ I: solitäre Membran bei ansonsten erhaltenem Darm (. Abb. 26.4a) 4 Typ II: solitäre Atresie mit fibrösem Strang (. Abb. 26.4b) 4 Typ IIIa: solitäre Atresie ohne Verbindung der Enden (. Abb. 26.4c) 4 Typ IIIb: solitäre Atresie mit sog. »Apple-peel«-Formation bei nicht fixiertem Mesenterium commune des abführenden Dünndarms (. Abb. 26.4d) 4 Typ IV: multiple, hintereinander liegende Atresien (. Abb. 26.4e) Sehr selten kommen auch Stenosen mit erhaltenem Restlumen vor. Immer ist der proximale Blindsack stark aufgeweitet und um ein Vielfaches größer, als der nicht genutzte postatretische Darm (. Abb. 26.5).
. Abb. 26.4a–e. Formen der angeborenen Dünndarmatresie. Erläuterungen 7 Text (Aus von Schweinitz 2006)
287 26.2 · Atresien und Stenosen des Dünndarms
. Abb. 26.5. Intraoperativer Aspekt einer solitären Dünndarmatresie, Atresie links im Bild
In 10% der Fälle münden beide Darmenden in eine große abgekapselte Höhle, die sich nach intrauteriner Perforation und nachfolgender Mekoniumperitonitis gebildet hat. Nach intrauterinem Volvulus können auch längere Darmabschnitte zugrunde gegangen sein und es besteht bereits primär ein Kurzdarmsyndrom. Bei der membranösen Atresie Typ I besteht eine Kontinuität der Darmwand, die Membran kann windsackförmig in den distalen Darmabschnitt hineinragen. Die Gesamtlänge des Darms ist nicht beeinträchtigt. Bei der Atresie Typ II mit einem fibrösen Strang ist der Abstand zwischen den blinden Enden meist nicht sehr groß und es fehlt nur wenig Dünndarm. Die Atresie Typ IIIa mit fehlender Verbindung der blinden Enden weist häufig auch einen Defekt im Mesenterium auf. Die Länge des verbliebenen Darms ist bei dieser Form variabel und abhängig von der Menge des zugrunde gegangenen Darms. Die Ursache für die Atresie Typ IIIb liegt am ehesten in einem Verschluss der Arteria mesenterica superior. Dies führt zu einer hohen Dünndarmatresie kurz hinter der Treitz-Flexur, einem Fehlen der Arteria iliocolica distal des Abganges der Arteria colica media sowie einer fehlenden dorsalen Anheftung des Dünndarmmesenteriums und dem Vorliegen eines Mesenterium commune des Dünndarms und des Colon ascendens. Es bestehen ein großer Defekt des Mesenteriums und ein signifikanter Verlust von Darmlänge. Der distale Dünndarm liegt frei im Abdomen und hat sich helixartig um ein einzelnes, zentral ernährendes Gefäß angeordnet (»Apple-peel«-Malformation, . Abb. 26.6). Oft finden sich weitere Typ-I- oder Typ-II-Atresien in diesem Abschnitt, die Darmdurchblutung dieses Dünndarms ist oft schon primär kompromittiert. Diese Atresieform kommt gehäuft bei den familiären Fällen vor. Kinder mit dieser Atresieform sind gehäuft Frühgeburten (70%) und haben eine Malrotation des Darms (54%). Sie leiden oft an einem Kurzdarmsyndrom (74%) und weisen eine erhöhte Mortalität (bis zu 54%) auf. Die Anzahl multipler Atresien Typ IV ist sehr variabel, es können aber über 20 kurz- bis mittelstreckige Atresien vorkommen (. Abb. 26.7).
. Abb. 26.6. »Apple-peel«-Malformation einer Dünndarmatresie
. Abb. 26.7. Intraoperativer Situs bei multiplen Dünndarmatresien (Typ IV)
Auch bei dieser Form sind familiäre Fälle beobachtet worden und es wird diskutiert, ob hier andere ätiologische Faktoren als bei den solitären Atresien eine Rolle spielen. Multiple Dünndarmatresien sind ebenfalls assoziiert mit Frühgeburtlichkeit, verminderter Darmlänge und erhöhter Mortalität (Baglaj et al. 2008). Die intrauterine Ischämie beeinflusst jedoch zusätzlich die Struktur der Darmwand und konsekutiv der Funktion. Der proximale Blindsack hat eine verdickte Wand mit atrophischen Ganglien und eine Defizienz der Schleimhautenzyme. Deshalb ist dieser Darmabschnitt nicht zu einer normalen Peristaltik und Resorption befähigt. Diese Veränderungen können zum Teil aszendierend bis zu 20 cm nach proximal nachgewiesen werden. Im distalen Abschnitt liegt ein Mikrodarm vor, dessen Mikrovilli hypertrophiert sind und teilweise das Lumen verlegen und dessen Motilität ebenfalls eingeschränkt ist. Zusätzlich weisen die beiden Darmenden oft eine Kaliberdifferenz von 1:20 oder mehr auf. So kommt es nach bloßer Anastomose der Darmenden im Regelfall trotz offener Anastomose zu einem funktionellen Ileus. Die erneute Dilatation des proximalen Darmabschnittes kann dann auch wieder
26
288
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
zu einer Verschlechterung der Durchblutung und erneuter Darmschädigung führen.
Klinik und Diagnostik
26
In ca. einem Viertel der Fälle mit Dünndarmatresie entsteht bei der Mutter ein Polyhydramnion. Im pränatalen Ultraschall können oft die erweiterten Darmschlingen als Zeichen des gestörten Transportes sichtbar sein, wie auch eine allfällige abgekapselte Höhle bei Perforation und Mekoniumperitonitis. Eine entsprechende positive Familienanamnese lässt dann an eine Dünndarmatresie Typ IIIb oder IV denken. Postnatal entwickeln die Neugeborenen in den ersten 3 Tagen ein zunehmend pralles Abdomen mit teilweise schwachen, teilweise auch hochgestellten Darmgeräuschen und meist galligem Erbrechen. 30% der Kinder setzen noch Mekonium ab, was jedoch in der Mehrzahl der Fälle hell schleimig bis gräulich und nicht wie normal tief grünschwarz gefärbt ist. Spannung, Ödem und Erythem der Bauchdecke sind Zeichen für eine Darmischämie und/oder Peritonitis. Hinzu kommen Dehydratation, Fieber, Hyperbilirubinämie und gelegentlich eine Aspirationspneumonie. Bei Vorliegen einer Dünndarmstenose können die Symptome weniger akut und gravierend auftreten. Beweisend für die Darmobstruktion ist das Röntgenabdomenübersichtsbild mit multiplen Darmspiegeln je nach Höhe der proximalsten Atresie und fehlender Luft im kleinen Becken (. Abb. 26.8).
. Abb. 26.8. Röntgenabdomenleerbild mit multiplen Dünndarmspiegeln und leerem Unterbauch bei Jejunalatresie
Beim vitalen Neugeborenen erreicht geschluckte Luft den distalen Dünndarm nach spätestens 3 h. Dies kann bei Frühgeborenen oder schwerkranken Neugeborenen verzögert sein. Nach Einlage einer Magensonde mit Rückfluss von Mageninhalt und Luft kann die Aussagekraft des Bildes reduziert sein, darum sollte noch einmal Luft insuffliert werden. Ein weniger klares Bild ergibt sich wiederum bei der Dünndarmstenose. In diesen seltenen Fällen können Kontrastmittelröntgenuntersuchungen mit Kolonkontrasteinlauf und Magen-Darm-Passage nötig werden. Eine peritoneale Pseudozyste nach intrauteriner Darmperforation stellt sich als Hohlraum mit einem Flüssigkeitsspiegel und diffusen Verkalkungen dar, eingedicktes Mekonium im distalen Ileum als perlschnurartige Verdichtung meist im rechten Unterbauch (7 Kap. 26.4). Differenzialdiagnostisch müssen eine Kolonatresie, ein Volvulus bei Malrotation, ein Mekoniumileus, Darmduplikaturen, innere Hernien, Morbus Hirschsprung und ein Ileus aufgrund von Sepsis, Geburtstrauma, mütterlicher Medikation oder von Hypothyreose bedacht werden. Wenn nicht die akute Symptomatik eine rasche chirurgische Intervention indiziert, können hier weitere Untersuchungen, wie Kontrastmittelröntgen (Kolonkontrasteinlauf, Magen-Darm-Passage), eine Rektumbiopsie sowie molekulargenetische Diagnostik und ein Schweißtest auf zystische Fibrose hilfreich sein.
Therapie und Prognose Die initiale Therapie besteht in Nahrungskarenz, Legen einer Magensonde und Infusionstherapie zum Ausgleich des Flüssigkeits-, Elektrolyt- und Säure-Base-Haushaltes. Bereits präoperativ wird mit einer Antibiotikatherapie begonnen. Bei Vorliegen der genannten Kriterien für eine Dünndarmatresie ist eine Laparotomie indiziert, die über einen queren Oberbauchschnitt erfolgt. Manche Kinderchirurgen bevorzugen hier zunächst eine Laparoskopie (van der Zee u. Bax 2008). Allfällige intraabdominelle Flüssigkeit sollte zur bakteriologischen Untersuchung entnommen werden. Bei einer Darmperforation sollte diese sofort vernäht und die Bauchhöhle gespült werden. Der gesamte Verlauf des Darms sollte freigelegt und vor die Bauchdecke verlagert werden, um eine genaue Beurteilung zu ermöglichen. Die Länge des erhaltenen Darms sollte entlang der antimesenterialen Zirkumferenz vermessen werden. Die Durchgängigkeit des Darms distal der Atresie ist mittels Spülung mit 0,9%-igem NaCl zu prüfen. Wenn nicht präoperativ mittels eines Röntgen-Kolon-Kontrasteinlauf gesichert, gilt dies auch für die Überprüfung der Durchgängigkeit des Kolons. Das weitere Vorgehen richtet sich dann nach dem individuellen Befund. Wenn der intakte Darm lange genug ist (>80 cm und vorhandene Ileozökalklappe) und die Länge des proximalen Darmendes dies ermöglicht, sollte der hypertrophierte proximale Blindsack so weit reseziert werden, dass eine End-zu-End-Anastomose ohne großen Kaliber-
289 26.2 · Atresien und Stenosen des Dünndarms
. Abb. 26.9. »End-to-back«-Anatsomose zum Ausgleich der Kaliberdifferenz bei Dünndarmatresie (a) und Anastomose durch Tapering (b)
a
sprung möglich ist. Dabei kann die Resektion auch bis ins distale Duodenum hineinreichen, wofür das Duodenum derotiert und das Kolon nach links mobilisiert werden muss. Für einen besseren Kaliberausgleich der Anastomose kann das distale Ende der Atresie schräg abgesetzt und zusätzlich antimesenteriell längs inzidiert werden, um dann die sog. End-to-back-Anastomose durchzuführen (. Abb. 26.9a). Die Anastomose wird ein- oder zweischichtig mit resorbierbaren Fäden der Größe 5-0 oder 6-0 ausgeführt. Hierbei kann gut auch die speziell für kleine Darmlumina entwickelte Nahttechnik nach Herzog (1974) zur Anwendung kommen, bei der mit einer Nahtreihe eine gute Stoß-auf-StoßLage der Darmwände zustande kommt (. Abb. 26.10). ! Cave Es ist besonders wichtig, bei der primären Anastomose der Dünndarmatresie keinen wesentlichen Kalibersprung zu belassen, da dieser zu einer funktionellen Störung des Darmtransportes führt.
Von einer Seit-zu-Seit-Anastomose mit dem Stapler wird abgeraten, da es nach dieser gehäuft zu schweren Komplikationen kommt (Jackson et al. 2007). Beim Verschluss des Mesenterialdefektes ist darauf zu achten, dass es dabei nicht zu einem Abknicken der Anastomose kommt. Wenn dies schwierig ist, kann das Restmesenterium des resezierten proximalen Darmanteils in den Defekt eingeschwenkt und vernäht werden. Die Anastomose ist auf Dichtigkeit und Durchgängigkeit zu prüfen. Anschließend wird der Darm vorsichtig in die Bauchhöhle zurückgeführt, um eine Abknickung oder einen Volvulus zu vermeiden. In ähnlicher Weise sollte bei Dünndarmstenosen oder der membranösen Atresie (Typ I) vorgegangen werden. Wegen der funktionellen Schädigung des direkt proximalen Darmabschnittes erscheint eine bloße Membranexzision oder eine lokale Erweiterungsplastik als nicht so günstig. Bei Ileumatresien sollte immer versucht werden, die Ileozökalklappe zu erhalten und nicht eine Ileozökalresektion durchzuführen. Die Anlage eines Gastrostomas ist – außer bei Vorliegen eines Kurzdarmsyndroms – meist
b
. Abb. 26.10. Einschichtige Nahttechnik nach Herzog
nicht notwendig. Ebenso sind transanastomotische Katheter kaum je sinnvoll. Bei kurzem proximalem Darmabschnitt ist gelegentlich eine ausreichende Resektion nicht möglich. Dann kann durch Exzision eines längeren, keilförmigen Stückes aus der antimesenterialen Darmwand mit anschließendem Vernähen in Längsrichtung der Darm konisch zulaufend eingeengt werden (Tapering), um sein Kaliber an das des schmallumigen abführenden Darms anzunähern (. Abb. 26.9b). Eigene Beobachtungen zeigen, dass hierdurch offensichtlich auch eine bessere Peristaltik erreicht werden kann. Es wurde das Tapering-Verfahren bis zu 35 cm Länge mit gutem Ergebnis beschrieben (Kimura et al. 1996). Manche Kinderchirurgen bevorzugen eine keilförmige, inverse Faltung der antimesenteriellen Darmwand, weil hiermit keine Gefahr einer Insuffizienz der Längsnaht besteht und mehr Mukosa erhalten bleibt (. Abb. 26.11). Eigene Erfahrungen mit dieser Technik liegen nicht vor. Wenn sich allerdings die Vernähung der Darmdoppelung löst, würde wieder ein großer Kalibersprung mit einem Passagehindernis entstehen. Bei Entfernung eines entsprechenden keilförmigen seromuskulären Streifens aus der antimesenterialen Darmwand kommt dies weniger leicht vor (Kizilkan et al. 1991). Eine primäre Anastomose ist kontraindiziert bei Vorliegen einer Peritonitis, von Darmwanddurchblutungsstö-
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290
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
26 . Abb. 26.11. Anastomose bei Dünndarmatresie mit Einfalten des proximalen Darmabschnittes
rungen bei Volvulus und Mekoniumileus (Millar et al. 2005). In diesen Fällen sollten beide Darmschenkel als Stomata zur Bauchdecke ausgeleitet werden. In allen anderen Fällen sollte jedoch eine Kunstafteranlage vermieden werden, da sie oft zu starkem Flüssigkeits- und Elektrolytverlust führt und die enterale Ernährung der Kinder erschwert. Zu einer spontanen Einengung des proximalen Darmschenkels kommt es dabei auch selten. Bei der Laparochisis (7 Kap. 38) mit einer oder mehreren Darmatresien ist häufig eine Anastomosierung ebenfalls nicht möglich. Auch hier ist eine Kunstafteranlage eine Option. Nicht immer können jedoch in dem schwer entzündeten Darm alle Atresien primär entdeckt werden. Nach primärer Reposition des Darmkonvoluts in das Abdomen kann dann bei fehlendem Ingangkommen einer Darmpassage bei einer zweiten Laparotomie die Anastomose nachgeholt werden. Ein besonderes Problem bietet die Typ-IIIb-Atresie mit »Apple-peal«-Malformation. Hier ist eine primäre Anastomose oft nicht möglich. Verwachsungen müssen hier oft vorsichtig gelöst werden, um eine ausreichende Darmdurchblutung über das einzige, marginale Gefäß zu ermöglichen. Besondere Vorsicht ist bei der Reposition des Darms in das Abdomen notwendig, um postoperative Durchblutungsstörungen zu vermeiden. Bei multiplen Atresien muss überlegt werden, wie viele Anastomosen mit eventueller funktioneller Störung angelegt werden müssen, um genügend Darmlänge zu erhalten. Bei der Erstoperation ist jedoch der Einsatz von Techniken zur Darmverlängerung (7 Kap. 28) in aller Regel nicht indiziert. Einige Kinderchirurgen führen bei einem Darmverschluss auch des Neugeborenen zunächst eine Laparosko-
pie mit 2,5-mm-Instrumenten durch, sofern der Allgemeinzustand des Kindes dies ermöglicht. Gelegentlich kann dann ein pathologischer Befund laparoskopisch behoben werden, bei einigen Kindern kann dies auch durch Herausführen eines betroffenen Darmabschnittes vor die Bauchdecke erfolgen (7 Kap. 13). Bei wenigen Kindern mit einer einfachen Anastomose oder einer Kunstafteranlage kann bereits nach einigen Tagen die enteralen Ernährung aufgebaut werden (7 Kap. 4). In der Regel jedoch ist die Aufnahme einer gerichteten Peristaltik durchaus protrahiert und es bedarf einer längeren Wartezeit, bis eine orale Ernährung in ausreichender Menge möglich ist. Deshalb ist bei diesen Kindern die Gabe einer parenteralen Ernährung (PN) über einen zentralvenösen Katheter unter antibiotischer Abschirmung (7 Kap. 4) indiziert. Zur Reduktion allfälliger, durch die TPN-bedingter Leberschäden mit intrahepatischer Cholestase und nachfolgender Leberfibrose sollte versucht werden, wenige Milliliter Muttermilch oder leicht spaltbare Säuglingsnahrung oral anzubieten. Die frühere Ernährung über eine lange, durch eine Gastrostomie und über die Anastomose gelegte Sonde hat demgegenüber keine besseren Ergebnisse gebracht (Millar et al. 2005). Wenn nach 2–3 Wochen der Darmtransport nicht einsetzt, ist eine Röntgen-Magen-Darm-Passage indiziert. Bei fehlender Durchgängigkeit ist dann eine operative Revision anzusetzen. Ein geblähtes schmerzhaftes Abdomen, Erbrechen, peritonitische Zeichen und ein Pneumoperitoneum sind Anzeichen für ein Anastomosenleck. Hier ist die sofortige chirurgische Revision mit Nachresektion und erneuter Anastomose oder Anlage eines künstlichen Darmausganges indiziert. Oft zeigt auch bei intakter Anastomose im weiteren Verlauf der Darm noch funktionelle Störungen. Insbesondere Kinder mit wenig verbliebenem Darm können unter Laktoseintoleranz, Stase mit bakterieller Fehlbesiedelung und Malabsorption oder auch Hypermotilität und Durchfall leiden. Hier ist eine intensive pädiatrisch-gastroenterologische Betreuung notwendig. Mögliche therapeutische Maßnahmen sind Fortführung der parenteralen Ernährung, vorsichtige Nahrungsumstellung und medikamentöse Therapie, z. B. mit Loperamid und Cholestyramin. In den letzten Jahrzehnten konnte die Prognose von Kindern mit Dünndarmatresie deutlich verbessert werden und die Sterblichkeit ließ sich auf unter 10% senken. Neben ungünstigen Faktoren wie Frühgeburtlichkeit, Fehlbildungen anderer Organe sowie postoperativem Volvulus, Darminfarkt, Verwachsungsileus und Anastomosendysfunktion und -leck ist vor allem die Länge des verbliebenen funktionell intakten Darms ausschlaggebend für die Heilungschance (Willmore 1972). Bei einer residualen Darmlänge von <75% und einer dauernden Malabsorption handelt es sich um ein Kurzdarmsyndrom (7 Kap. 28). Bei entsprechender Therapie ist jedoch ein Überleben von
291 26.3 · Malrotationsfehlbildungen
Säuglingen mit 10–15 cm Dünndarm und intakter Ileozökalklappe oder mit 25–40 cm Dünndarm ohne Ileozökalklappe möglich. Dies zeigt wiederum die Bedeutung der Ileozökalklappe, die eine bessere Adaptation des Dünndarms ermöglicht. > Der Erhalt der Ileozökalklappe und von möglichst viel intaktem Darm ist beim Neugeborenen mit initial ungünstiger Atresieform essenziell.
26.2.2
Kolonatresien
Vorkommen. Kongenitale Atresien des Kolons sind sehr
selten und machen nur wenige Prozent aller Darmatresien beim Neugeborenen aus. Es sind vor allem komplette Atresien (Typ III) im rechten und membranöse Atresien (Typ I) im linken Kolon beobachtet worden. Kolonatresien mit komplettem Fehlen distaler Kolonanteile und des Rektums kommen vor allem bei Kindern mit einer Fissura vesicointestinalis (Kloakalextrophie, 7 Kap. 38) und bei der ischiopagen Form von siamesischen Zwillingen (7 Kap. 50) vor. Nicht selten ist eine Kolonatresie assoziiert mit Dünndarmatresien, einer Laparochisis oder einem Morbus Hirschsprung. Als Ursachen werden eine lokale, mesenteriale Durchblutungsstörung oder ein Volvulus angenommen (Moore et al. 1990). Klinik und Diagnostik. Pränatal kann in der Sonographie
bei vielen erweiterten Darmschlingen der Verdacht geäußert werden. Postnatal fallen die Neugeborenen durch einen tiefen Ileus mit Blähung des Abdomens, Erbrechen und fehlendem Abgang von Mekonium auf. Differenzialdiagnostisch ist hier vor allem an das Vorliegen eines Morbus Hirschsprung (7 Kap. 29) zu denken. In der Röntgenübersichtsaufnahme sieht man weite Darmschlingen und vor allem ein partiell geblähtes Kolon. Mittels Röntgenkontrasteinlauf kann die Diagnose gesichert werden. Therapie. Bei Verdachtsdiagnose Kolonatresie ist die Lapa-
rotomie indiziert. Das Vorgehen hängt dann vom individuellen Befund ab. Bei isolierter Kolonatresie werden in der Regel die Atresie und der stark erweiterte Teil des proximalen Blindsackes reseziert. Beide Enden werden am besten als Kolostoma ausgeleitet und sekundär, nach Erholung des Kindes, reanastomosiert, da primäre Anastomosen eine erhöhte Komplikationsrate aufweisen. Weitere Fehlbildungen der Bauchorgane sind auszuschließen und eine Rektumbiopsie zum Ausschluss eines Morbus Hirschsprung sollte entnommen werden. Die Prognose ist bei der isolierten Form fast immer gut. Ansonsten ist sie abhängig von den assoziierten weiteren Fehlbildungen (Millar et al. 2005).
26.3
Malrotationsfehlbildungen
Vorkommen Inzidenz. Bei den Malrotationsfehlbildungen handelt es
sich um ein Spektrum von anatomischen Varianten von Darmlageanomalien, die durch unterschiedliche Störungen der mesenterialen Rotation und der Darmanheftung während der embryonalen Entwicklung entstehen. Die genaue Inzidenz der Malrotationen ist unbekannt, da nicht alle Formen zu klinischen Symptomen führen und diagnostiziert werden. Dies gilt sogar für ausgeprägte Malrotationsfehllagen, die gelegentlich asymptomatisch bleiben können. Malrotationsfehlbildungen mit klinisch relevanter Symptomatik kommen bei einem von 6000 Lebendgeborenen vor. In Autopsien wurde bei 0,5% aller Fälle eine Nonrotation gefunden (Skandalakis et al. 1994) und als Zufallsbefund bei 0,2% von Röntgenkontrastmitteluntersuchungen festgestellt. Bei letzteren könnten jedoch zum Teil die Beschwerden der Patienten, die zu den Röntgenuntersuchungen Anlass gaben, durchaus auch auf die Darmfehllage zurückzuführen sein. Bei symptomatischen Kindern unter einem Jahr finden sich Malrotationen häufiger, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Assoziation mit anderen Krankheitsbildern. Die Nonrota-
tion ist immer nachweisbar bei kongenitalen Zwerchfelldefekten (7 Kap. 21) sowie Defekten der vorderen Bauchdecke (Laparochisis, Omphalozele, 7 Kap. 38). Bei 30–60% der Patienten ist die Malrotation mit anderen Fehlbildungen assoziiert. Am häufigsten (bis 30%) ist die Assoziation mit einer Duodenal- oder Dünndarmatresie. Hier wird die Malrotationsfehlbildung mit Induktion eines Volvulus als Ursache der Atresie angenommen. Bei bis zu 10% der Fälle entsteht die Malrotation in Assoziation mit einer Trisomie 21 oder einer anderen nachweisbaren genetischen Störung. Ansonsten wurde in einzelnen Fällen ein Zusammentreffen mit Ösophagusatresie, Mesenterialzyste, Gallengangsatresie, Morbus Hirschsprung, Magen-Darmduplikaturen, Herzfehlern, Kraniosynostosen und Extremitätenfehlbildungen beschrieben. Eine membranöse Duodenalatresie findet sich in bis zu 12% der Kinder, weshalb nach dieser prä- oder intraoperativ speziell gefahndet werden sollte (Aiken u. Oldham 2005).
Entstehung und Pathologie Das Verständnis der embryonalen Entwicklung des Darms ist wichtig für die Diagnostik und chirurgische Korrektur der Malrotationsfehlbildungen. In der 4. Schwangerschaftswoche kann erstmals die Darmanlage als ein gerader Schlauch identifiziert werden. Nach ventral ist diese Darmanlage mit ihrem mittleren Anteil über den Ductus omphaloentericus mit dem Dottersack verbunden, was auch die spätere enge Verbindung mit dem Nabel erklärt. Während der nächsten 4 Wochen wächst der Darm sehr viel rascher als die Bauchhöhle, weshalb der Darm vorüber-
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292
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
. Abb. 26.12a–e. Phasen der normalen Darmrotation (Erläuterungen 7 Text)
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gehend in die Nabelschnur herniert (. Abb. 26.12a) und in der 10. Woche in die nun vergrößerte Bauchhöhle zurückrutscht. Gleichzeitig erfolgen eine Drehung und eine anschließende dorsale Fixation. Hier findet die Drehung von ventral aus gesehen gegen den Uhrzeigersinn in der Achse der Arteria mesenterica superior statt (. Abb. 26.12b). Der duodenojejunale und der ileokolische Anteil rotieren dabei getrennt, aber in paralleler Richtung. So kommt das Duodenum hinter der Arteria mesenterica superior, das proximale Kolon im rechten und das distale Kolon im linken Unterbauch zu liegen. Hierbei wird in 2 Phasen jeweils eine 90°-Rotation des duodenojejunalen und zökokolischen Darmanteils erreicht, wobei der proximale Darm sehr viel rascher wächst als der distale (. Abb. 26.12c). In diesem Zeitraum liegen die wesentlichen Anteile vor der Bauchhöhle. Während der Rückkehr des Darms in die Abdominalhöhle erfolgt die jeweils dritte 90°-Rotation der beiden Darmanteile, wodurch nach dieser insgesamt 270°Drehung die endgültige adulte Anordnung (. Abb. 26.12d) vollzogen ist. Danach deszendiert das Zökum in den rechten Unterbauch, was beim Neugeborenen meist noch nicht komplett erfolgt ist (. Abb. 26.12e). Die so geschaffene Lage des Darms ist die Voraussetzung für eine normale Anheftung an der hinteren Bauchwand. Diese beginnt ab der 12. Schwangerschaftswoche und ist erst nach der Geburt abgeschlossen. Es kommt zu einer Anheftung des Zökums in der rechten Fossa iliaca und des duodenojejunalen Überganges am Treitz-Band
links der Aorta und vor der Vena renalis sinistra. Zwischen diesen Punkten kann dann die breite Anheftung des Dünndarmmesenteriums an der hinteren Bauchhöhlenwand erfolgen. Ein Ausbleiben dieser beiden Anheftungen ist wegen der dann verbleibenden schmalen Basis des Mesenterialstiels der entscheidende Prädispositionsfaktor für einen Dünndarmvolvolus. Während des Anheftungsprozesses kommt es zusätzlich zur Ausbildungen von Adhäsionsbändern jeweils zwischen dem Colon ascendens und dem Colon descendens und deren Untergrund. Normalerweise wachsen diese zum Retroperitoneum hin. Bei einer dorsalen Anheftung des Kolons in einer Fehlposition kann es zu einer Obstruktion eines anderen Darmabschnittes kommen, wie z. B. bei dorsaler Anheftung des Colon ascendens im mittleren Oberbauch bei inkompletter Rotation, so dass hier durch die sog. Ladd-Bänder eine Obstruktion des Duodenums entsteht (Hinrichsen 1998). Ein Arrest oder Stillstand der Rotationsbewegungen kann zu jedem Zeitpunkt erfolgen, er kann einen oder beide Anteile betreffen, oder es können auch partielle inverse Drehungen auftreten. Daraus resultiert eine Vielzahl von verschiedenen Fehllagen mit jeweils sehr unterschiedlicher klinischer Bedeutung. Einige Grundtypen lassen sich dennoch beschreiben.
Nonrotation und inkomplette Rotation Die Nonrotation ist die häufigste Lageanomalie. Sie tritt auf, wenn die Drehung sowohl des duodenojejunalen, als auch
293 26.3 · Malrotationsfehlbildungen
. Abb. 26.13a–d. Hauptformen der Malrotation: a Nonrotation, b und c gemischte Rotationsanomalien mit Kompression des Duodenums durch Kolon (b) und Retroposition des Kolons (c), d rechtsseitige mesokolische Hernie
des zökokolischen Darmabschnittes ausbleibt oder vor Erreichen von 90° unterbrochen wird (. Abb. 26.13a). Hier findet sich ein verkürztes Duodenum mit dem Übergang ins Jejunum rechts der Mittellinie, das Duodenum unterkreuzt nicht den Mesenterialstiel. Der Kolonrahmen liegt im linken Abdomen, d.h. das Zökum und Colon ascendens links der Wirbelsäule. Das Ileum mündet von rechts in das Zökum. Das Mesenterium ist schmalbasig und nicht fixiert. Gelegentlich kommt es zu einer Adhäsion zwischen Duodenum und Colon ascendens vor der Mittellinie, durch die Arteria und Vena mesenterica superior hindurchtreten. Es kann vor allem bei der inkompletten Rotation des Kolonrahmens aber auch zu Ladd-Bändern und einer konsekutiven Obstruktion von Dünndarmanteilen kommen (Ladd
1936). Meistens bereitet die Nonrotationslage des Darms keine Beschwerden. Aufgrund des frei liegenden Mesenteriums besteht jedoch eine Prädisposition für einen Volvulus.
Gemischte Rotationsanomalien In dieser seltenen Gruppe sind Fehllagen zusammengefasst, die nach nur partieller Malrotation entweder des duodenojejunalen oder des zökokolischen Darmanteils entstehen. So findet sich hier eine Vielfalt von Formen. Die häufigste ist eine Nonrotation des proximalen Darmanteils bei normaler Rotation und Fixation des zökokolischen Anteils. Hier liegt zwar eine relativ breite mesenteriale Adhäsion vor, das Duodenum liegt jedoch ventral und kann durch Ladd-Bänder des rechten Kolons obstruiert werden (. Abb. 26.13b).
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
Selten findet man Darmlageanomalien nach inverser Rotation, bei der eine teilweise Rotation im Uhrzeigersinn
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stattgefunden hat. Eine inverse Rotation des duodenojejunalen Darmanteils führt zu einer Lage des Duodenums vor der Arteria mesenterica superior. Wenn nun auch der zökokolische Darmanteil eine inverse Drehung durchlaufen hat, kommt es zu einer Lage des Colon transversums hinter die Arteria mesenterica superior und kann zu einer Obstruktion Anlass geben (. Abb. 26.13c). Wenn allerdings der zökokolische Darmanteil in normaler Richtung rotiert, entsteht eine paraduodenale Tasche, die vom Mesocolon ascendens gebildet wird und in die der Dünndarm hinein herniert. Durch die dort sich aufbauende Obstruktion führt dieser Zustand postnatal zu einem Ileus. Eine inkomplette Rotation des duodenojejunalen Darmanteils wird relativ häufig entdeckt, wenn man z. B. bei einer Röntgenuntersuchung den duodenojejunalen Übergang zu weit rechts und kaudal sieht. Hierdurch entsteht in der Regel nicht eine Obstruktion. Diese Lage ist jedoch in einigen Fällen, abhängig von der Lage des Colon ascendens und von der Ausbildung des Treitz-Bandes, mit einem erhöhten Volvulusrisiko vergesellschaftet. Eine Nonrotation des zökokolischen Darmanteils kann mit einer normalen oder pathologischen Rotation des proximalen duodenojejunalen Darmanteils verbunden sein. In allen Fällen jedoch fehlt die normale Fixation des Dünndarmmesenteriums und es besteht hier immer eine erhöhte Neigung zu einem Volvulus. Außerdem entstehen hier in aller Regel pathologische Adhäsionen, wie Ladd-Bänder, die zu einer Obstruktion des Duodenums oder proximalen Dünndarms führen.
Mesokolische, paraduodenale Hernien Diese sind selten und entstehen bei fehlender Fixation des Colon ascendens oder descendens mit der jeweiligen lateralen Bauchwand. Wie oben angegeben, ist die rechtsseitige mesokolische Hernie mit einer Nonrotation des proximalen duodenojejunalen Darmanteils kombiniert. Durch die Drehung des Kolonrahmens gegen den Uhrzeigersinn kommt es zur Taschenbildung und Hernierung des Dünndarms in diese hinein (. Abb. 26.13d). Die linksseitige mesokolische Hernie entsteht, wenn durch die noch nicht verschlossene Fläche zwischen der Vena mesenterica inferior und der hinteren Bauchwand Dünndarm hindurchrutscht, während er allmählich in die obere linke Abdominalregion wandert. Hier sind die Arteria und Vena mesenterica inferior integraler Bestandteil der Wand des Herniensackes. Bei beiden Hernienformen kommt es fast immer zu einer Obstruktion, Strangulation und Inkarzeration des Dünndarms. Sie bedürfen daher immer einer operativen Korrektur (Stockmann 2005).
Klinik und Diagnostik Die Malrotation kann in verschiedenen Altersstufen und in verschiedenen Formen klinisch symptomatisch werden.
Dabei können die Beschwerden akut, chronisch oder intermittierend auftreten. Klassischerweise kommt es in der frühen Neugeborenenperiode akut zu Symptomen mit galligem Erbrechen durch einen Dünndarmvolvolus und/oder einen Strangulationsileus z. B. durch Ladd-Bänder. 50–75% der Patienten bekommen ihre Symptome während des ersten Lebensmonats, 90% der klinischen Symptome durch eine Malrotationsfehlbildung treten während des ersten Lebensjahres auf. ! Cave Wegen der schwerwiegenden Konsequenzen eines Volvulus mit oft kompletter Nekrose des gesamten Dünndarms, zum Teil auch des Kolons, muss dieser diagnostisch immer ins Kalkül gezogen werden.
Galliges Erbrechen ist beim Neugeborenen das Kardinalsymptom für eine hohe intestinale Obstruktion. Bei jedem Kind unter einem Jahr gilt dieses Symptom bis zum Beweis des Gegenteils als eindeutiger Hinweis auf einen Dünndarmvolvolus. Deshalb ist bei diesem Zeichen immer ein rasches Vorgehen notwendig. Alle weiteren Symptome können schon Spätzeichen der Erkrankung sein. Zu diesen zählen Irritabilität des Säuglings, geblähtes Abdomen und Dehydratation durch das Erbrechen und Flüssigkeitsverschiebung in den dritten Raum. Bei anhaltender Darmischämie werden die Säuglinge lethargisch und können die Zeichen eines septischen Schockes entwickeln. Hierzu gehören respiratorische Insuffizienz, Peritonitis, Bauchwanderythem, Hypotonie, Azidose, Thrombozytopenie und Leukozytose, oft jedoch auch Leukopenie. Hämatemesis und Meläna sind absolute Spätzeichen der Erkrankung. In der Anfangsphase der Erkrankung können die klinischen Zeichen oft noch wenig ausgeprägt sein, insbesondere, wenn die intestinale Obstruktion nicht komplett ist. Man muss daher schon zu diesem Zeitpunkt an die Möglichkeit eines Volvulus denken und im Zweifelsfall eine Röntgenuntersuchung durchführen. Bei einem Säugling mit galligem Erbrechen sollte die Indikation für ein operatives Vorgehen eher großzügig gestellt werden. Bei wenig ausgeprägten physikalischen Zeichen ist es besonders wichtig, das Kind und den Bauchbefund in kurzen Zeitabständen wiederholt zu beurteilen. Hierbei kann auch bei nicht komplettem Ileus die Persistenz einer abnormen Gasverteilung in wiederholt angefertigten Röntgenübersichtsaufnahmen hinweisend auf das Vorliegen eines Volvulus sein. Da auch beim initialen Fehlen eines kompletten Ileus trotzdem eine schwere und ausgeprägte Darmischämie vorliegen kann, ist hier ebenfalls im Zweifel eine operative Revision einzuleiten (Aiken u. Oldham 2005). Relativ häufig führen Malrotationsfehlbildungen zu einer duodenalen Obstruktion. Diese kann auch isoliert zu Symptomen führen. Sie kann komplett oder inkomplett vorliegen. Je nach Höhe der Obstruktion kommt es bei den meist sehr jungen Säuglingen zu klarem oder galligem Er-
295 26.3 · Malrotationsfehlbildungen
brechen. Auch die weitere Symptomatik der isolierten Obstruktion des Duodenums, z. B. durch Ladd-Bänder, gleicht der bei Duodenalatresie oder -stenose (7 Kap. 26.1.2). Die Röntgenabdomenübersichtsaufnahme ist hier wegweisend und ein wichtiges Element für die Indikationsstellung zur operativen Revision. In seltenen Fällen kann eine Malrotation die Ursache für chronisch-rezidivierende, krampfartige Bauchschmerzen sein. Hier handelt es sich meistens um ältere Kinder. Diese können zusätzliche Symptome, wie Gedeihstörung, rezidivierenden Durchfall und Meläna aufweisen. Gelegentlich fällt eine Malrotationsanomalie anlässlich einer Kontrastmittelröntgenuntersuchung auf. Wurde diese wegen chronischer, unspezifischer Symptome durchgeführt, kann es schwierig sein zu beurteilen, ob solche Symptome wirklich auf die Malrotation zurückzuführen sind. Hier ergibt sich die Frage, ob bei derartigen Patienten wegen des potenziellen Risikos eines Volvulus mit deletären Folgen grundsätzlich eine operative Korrektur indiziert ist (Moldrem et al. 2008). Die radiologische Bildgebung steht ganz im Vordergrund der weiterführenden Diagnostik bei Neugeborenen und Kindern mit galligem Erbrechen. Dabei ist die Abdomensonographie sicher eine der ersten Maßnahmen. Mit ihr kann gut eine hypertrophe Pylorusstenose (7 Kap. 25) und eine Invagination (7 Kap. 32) ausgeschlossen werden. Bei der Sonographie kann, insbesondere bei Benutzung der Farbdopplermethode, zumindest auch der Verdacht auf eine Malrotation festgehalten werden, wenn man – im Gegensatz zum Normalbefund – die Arteria mesenterica superior rechts von der Vena mesenterica superior findet, die man aufgrund ihrer Wandstruktur sowie der Flussrichtung und -geschwindigkeit identifizieren kann. Ganz im Vordergrund steht jedoch die Röntgenabdomenleeraufnahme in Rückenlage in a.p. Richtung, bei Verdacht auf eine Darmperforation zusätzlich in Seitenlage. Am häufigsten findet man beim akuten Volvulus die Zeichen einer proximalen Dünndarmobstruktion mit einem gestauten Magen, einem großen proximalen Duodenum und evtl. noch einem erweiterten Übergang in das Jejunum. Manchmal sieht man auch einen »double-bubble« wie bei der Duodenalatresie. Distal findet man oft ganz geringe Gasfüllung des Dünndarms, und gerade dieses ist ein starker Hinweis auf einen Volvulus als Ursache für die nicht ganz komplette Obstruktion (. Abb. 26.14). Ein Volvulus kann sich jedoch auch mit dem Röntgenbild einer tieferen Obstruktion mit mehreren Spiegeln und überblähten Jejunumschlingen präsentieren. > Auch eine quasi normale Darmgasverteilung schließt einen Volvulus bei Malrotation nicht aus. Oft kann ein klinischer Verdacht durch eine Persistenz einer Darmgasverteilung in einem Kontrollröntgenbild erhärtet werden.
Bei Patienten mit auffälligen Zeichen im Röntgenbild und entsprechendem klinischen Verdacht bedarf es keiner wei-
. Abb. 26.14. Röntgenabdomenleerbild eines Dünndarmvolvulus bei einem Neugeborenen mit Malrotation
teren Bildgebung, um die Indikation zu einer raschen operativen Revision mit der Verdachtsdiagnose Volvulus zu stellen. Bei weniger kranken Kindern und eher protrahiertem Verlauf sollte ein Kontrastmittelröntgen zur Klärung der Diagnose durchgeführt werden. Manche Autoren empfehlen zuerst die Durchführung einer antegraden MagenDarm-Passage (Applegate et al. 2006), die hinsichtlich der Diagnose einer proximalen Obstruktion des Dünndarms beim Volvolus und der Malrotation zielführend ist. Der Nachteil hierbei ist jedoch, dass es wegen des Kontrastmittels im Dünndarm sehr schwierig wird, in solchen Fällen noch eine Diagnose zu stellen, bei denen die MagenDarm-Passage keinen eindeutigen Befund ergeben hat (Sizemore et al. 2008). Deshalb ist bei Kindern mit unklarer Symptomatik und unklarem Befund in der Leeraufnahme jedes Mal zu überlegen, ob es nicht sinnvoller ist, zuvor einen Röntgenkolonkontrasteinlauf durchzuführen (. Abb. 26.15). Hiermit können eine Fehllage und Obstruktion des Dickdarms, eine Fehlbildung des Rektums oder auch ein Morbus Hirschsprung erkannt oder ausgeschlossen wer-
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
. Abb. 26.15. Röntgenkolonkontrasteinlauf und parallele MagenDarm-Passage bei einer Nonrotationsfehlbildung mit dem gesamten Dünndarm im rechten und dem Kolon im linken Abdomen. (Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Karl Schneider, Kinderradiologie, Dr. von Haunersches Kinderspital, München)
den, und das Kontrastmittel lässt sich rascher wieder entfernen, wenn weitere Röntgendiagnostik ansteht (Navarro et al. 2004). Mit der oberen Magen-Darm-Passage hingegen lässt sich eine proximale Dünndarmobstruktion bei Volvulus und Malrotation oft klar darstellen. Nachdem das Kontrastmittel über eine Magensonde vorsichtig eingeführt ist, um eine Aspiration zu vermeiden, werden der erweiterte Magen und das proximale Duodenum dargestellt. Meistens kommt es zu einem Stop des Kontrastmittelflusses im unteren Duodenum oder proximalen Jejunum, beides oft zu weit rechts und kaudal gelegen. Bei inkompletter Obstruktion imponiert der Volvulus als eine korkenzieherartige Formation im Bereich des unteren Duodenums und proximalen Dünndarms (Ortiz-Neira 2007). Eine Malrotationsanomalie stellt sich in der Röntgen-Magen-Darm-Passage auch ohne Vorliegen eines Volvulus an der pathologischen Position des duodenojejunalen Überganges rechts von der Wirbelsäule, unterhalb der Ebene des Bulbus duodeni und zu weit ventral liegend dar (. Abb. 26.16). Hier ist es wichtig, dass bei der Röntgen-Magen-DarmPassage auch im seitlichen Strahlengang durchleuchtet und geröntgt wird. Eine Malrotationsanomalie mit freiem Mesenterium commune kann auch vorhanden sein, wenn der Dickdarm und insbesondere das Zökum eine normale Lage zeigt (s. oben). Dann findet man nur in der Röntgen-MagenDarm-Passage, nicht aber im Kolonkontrasteinlauf die beschriebenen Veränderungen. Wenn sich bei der RöntgenMagen-Darm-Passage kein Volvulus, trotzdem aber eine Dilatation des Duodenums zeigt, sollte der Chirurg daran denken, dass zusätzlich auch eine innere (membranöse) duo-
. Abb. 26.16. Röntgen obere Magen-Darm-Passage bei einer Malrotation mit dem duodeno-jejunalen Übergang zu tief und rechts neben der Wirbelsäule gelegen. (Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Karl Schneider, Kinderradiologie, Dr. von Haunersches Kinderspital, München)
denale Obstruktion vorliegen kann, die bei der Operation gesucht und beseitigt werden muss (7 Kap. 26.2.2). Das Abdomen-CT und das MRT sind nicht die radiologischen Methoden der Wahl zur Diagnostik von Malrotationsfehlbildungen, da sie keine dynamische Beurteilung wie bei einer Röntgendurchleuchtung erlauben. Sollte unter anderer Verdachtsdiagnose jedoch eine dieser Untersuchungen bei Kindern durchgeführt werden, muss stets auch auf Hinweise auf eine Malrotationsfehlbildung geachtet werden, vor allem auf die Anordnung der großen Mesenterialgefäße. Die Lage des duodenojejunalen Überganges, die Weite des Duodenums und die Lage des Zökums und der Appendix sind ebenso wichtig.
Therapie und Prognose Bei akuter Symptomatik und sich rasch verschlechterndem Allgemeinzustand ist immer rasches Handeln geboten. Sofort sind Maßnahmen zur Stabilisierung des Kindes zu ergreifen. Zu diesen gehört die intravenöse Flüssigkeitszufuhr mit Ausgleich der Elektrolyt- und Säure-Base-Störung, das Einlegen einer Magensonde und die Gabe von Breitspektrumantibiotika, z. B. Cefotaxim und Metronidazol. Gleichzeitig sollte eine Röntgenabdomenleeraufnahme und ggf. eine Sonographie durchgeführt werden. Dabei ist der Zeitfaktor absolut kritisch, da bei Vorliegen eines Volvulus wenige Stunden über den Erhalt oder
297 26.3 · Malrotationsfehlbildungen
Verlust meist großer Anteile des Dünndarms mit einer ggf. schlechten Langzeitprognose entscheiden. Deshalb ist bei diesen Kindern, in der Mehrzahl Neugeborenen und jungen Säuglingen, mit Röntgenzeichen einer Darmobstruktion oft auch eine rasche Laparotomie unter Verzicht auf eine genauere Darstellung mittels Kontrastmittelröntgen indiziert. In hochakuten Fällen eines sich plötzlich verschlechternden Neugeborenen mit galligem Erbrechen, geblähtem Abdomen und Bauchdeckeninfiltration sowie blutigen Stühlen kann es auch korrekt sein, allein aufgrund der Klinik die Operation sofort vorzunehmen. In subakuten Fällen kann die rasch angesetzte Kontraströntgenuntersuchung zuvor Klarheit über die Malrotation und das Vorliegen einer Obstruktion, ggf. eines Volvulus bringen. Bei Kindern mit nicht akuter Symptomatik, bei denen die bildgebende Diagnostik eine Malrotation ohne den Verdacht auf einen Volvulus zeigt, hängt die Dringlichkeit des chirurgischen Vorgehens wiederum vom klinischen Bild ab. Liegen abdominelle Symptome vor, sollte rasch eine Operation angestrebt werden, da die Bildgebung nie ganz sicher einen zumindest partiellen Volvolus ausschließen kann. Bei symptomlosen Patienten mit Malrotation besteht keine derartige Dringlichkeit zur Operation. Es muss jedoch beachtet werden, dass ein akuter Volvulus mit Durchblutungsstörung des Darms in jedem Lebensalter auftreten kann, insbesondere aber wegen des dünnen und mobilen Mesenteriums am häufigsten im Kindesalter vorkommt. Deshalb sollte bei jungen Kindern, vor allem Säuglingen im ersten Lebensjahr, eine baldige Korrekturoperation angestrebt werden. Das Vorgehen bei älteren Kindern und Jugendlichen, bei denen radiologisch eine Malrotation gefunden wird, ist weniger klar festgelegt. Hier ist die Wahrscheinlichkeit eines Volvulus weniger groß, wenngleich ein solches Ereignis nicht ausgeschlossen ist. Umgekehrt kann natürlich die abdominelle Symptomatik, die Anlass zur radiologischen Diagnostik gegeben hat, auch die Ursache in der Malrotationsfehlbildung haben und sogar Ausdruck eines rezidivierenden, partiellen Volvulus ein. In solchen Fällen kann sich bereits aus diagnostischer Sicht einmal die Indikation zu einer Laparoskopie stellen, im Rahmen derer man dann auch allfällige obstruktive Stränge (Ladd-Bänder) lösen und/oder eine Zökopexie vornehmen kann (Bax u. van der Zee 2008). Jedoch kann nicht sicher vorausgesagt werden, ob mit derartigem Vorgehen, ggf. auch mit einer offenen Laparotomie und Korrektur einer Malrotation, die abdominellen Beschwerden wirklich beseitigt werden. Umgekehrt empfehlen einige Autoren, jede einmal entdeckte Malrotation mit einem Mesenterium commune wegen der potenziellen Volvulusgefahr operativ zu korrigieren. Dies sollte allerdings immer geschehen, wenn eine Malrotation als Zufallsbefund bei einer Laparotomie aus anderem Grund entdeckt wird. Operationstechnik. Das operative Vorgehen beinhaltet eine Reihe wichtiger Maßnahmen und Prinzipien (Aiken u.
. Abb. 26.17. Operativer Situs bei Dünndarmvolvulus durch Malrotation
Oldham 2005). Der Zugang erfolgt bei Kindern in aller Regel über eine quere Laparotomie oberhalb des Nabels, beim Jugendlichen kann eine mediane Längslaparotomie günstiger sein. Anschließend sollte immer, ggf. nach Lösen von lateralen Adhäsionen, das gesamte Dünndarmkonvolut vor die Bauchdecke gehoben werden, um eine komplette Beurteilung seines Zustandes und seiner Lage sowie eines allfälligen Volvulus oder innerer Hernien zu ermöglichen. Peritoneale Flüssigkeit wird abgesaugt und eine Probe für die Bakteriologie gewonnen. Bei einem Volvulus wird der Dünndarm nun vorsichtig derotiert (. Abb. 26.17). Dies muss in der Regel von ventral gegen den Uhrzeigersinn erfolgen (. Abb. 26.18). Nach vollständiger Detorquierung erscheint der Darm meist gestaut und geschwollen sowie in unterschiedlichem Ausmaß nekrotisch. Er sollte zunächst mit feuchten und warmen Bauchtüchern abgedeckt und über mindestens 5–10 min beobachtet werden, bevor eine Entscheidung über eine eventuelle Resektion erfolgt (. Abb. 26.19). Zunächst sollten jedoch alle Obstruktionen in Form von Briden, Strängen und Adhäsionen gelöst werden, die den Darm einengen und in seiner Motilität stören könnten. Besonders wichtig ist dies bei den Ladd-Bändern, den Verwachsungssträngen, die bei vielen Malrotationsfehlbildungen zwischen der hinteren Abdominalwand und dem Zökum entstehen (s. oben). Sie verlaufen quer über das Duodenum und sollten komplett sowohl lateral, als auch medial vom Duodenum durchtrennt werden (. Abb. 25.18). Anschließend sollte das Duodenum über ein Kocher-Manöver mobilisiert werden, so dass die Freilegung von der Leberpforte, entlang dem Ligamentum hepatoduodenale bis zum duodenojejunalen Übergang erfolgt. Nur so kann das Duodenum und proximale Jejunum von möglichen Abknickungen befreit und gleichzeitig beurteilt werden, ob das Duodenum noch zusätzlich in seiner Längsachse torquiert ist. Die freie Durchgängigkeit des Duodenums
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
. Abb. 26.18a–d. Operatives Vorgehen bei Volvulus durch Malrotation und LaddBändern. Der Dünndarm wird gegen den Uhrzeigersinn derotiert (a, b), bis der Gefäßstiel frei ist (c), anschließend die Ladd-Bänder durchtrennt, das Zökum im Sinne einer Nonrotationslage in den linken Unterbauch platziert und deshalb eine Appendektomie angeschlossen (d)
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tigen mesenterialen Gefäße zu verletzen. Durch dieses Manöver erreicht man eine Verbreiterung der Basis des Mesenteriums und beugt einem späteren (erneuten) Volvulus vor. Besteht eine mesokolische innere Hernie (s. oben), ist das Vorgehen etwas komplexer. Bei einer rechtsseitigen Hernie werden die rechtslateralen Adhäsionen des rechten Kolons mit der dorsalen Bauchwand gelöst und das Kolon nach links herübergeschlagen. Damit wird der inkarzerierte Darm befreit und eine Nonrotationsstellung hergestellt. ! Cave Der »Herniensack« sollte nicht, wie es zunächst naheliegend erscheint, direkt gespalten werden, da die rechten, mittleren und linken Dickdarmgefäße in der ventralen Wand verlaufen und bei einem solchen Manöver verletzt werden. . Abb. 26.19. Dünndarmnekrose aufgrund eines Volvulus bei Malrotation
muss mittels Vorschieben einer kräftigen Magensonde bis in das Jejunum oder unter Zuhilfenahme eines Ballonkatheters überprüft werden. Wichtig ist es, auch die Adhäsionen zwischen der medialen Wand und dem Meso des Duodenums einerseits und dem Colon ascendens sowie des Mesokolons andererseits komplett zu lösen. Hierbei sollte man in die Tiefe bis auf die Pankreasvorderwand präparieren, ohne jedoch die wich-
Auch hier sollte, wie oben beschrieben, die Basis des Mesenteriums durch tiefe Mobilisierung erweitert werden. Um eine linksseitige mesokolische Hernie zu korrigieren, muss vorsichtig die Vena mesenterica inferior in der Wand der Hernie mobilisiert werden, um dann den Dünndarm befreien zu können. Um eine erneute Inkarzeration zu verhindern, kann entweder der Hals des Herniensackes vernäht oder maximal erweitert werden. Wiederum kommt es hier zu einer ungefährlichen Nonrotationslage des Darms mit Anordnung des Dünndarms im rechten und des Dickdarms im linken Abdomen. Hierbei kommt das Zökum in
299 26.4 · Mekoniumileus
den linken Unterbauch zu liegen, in das das Ileum von rechts her einmündet. In dieser Lage kommt es quasi nie zu einer erneuten Passagestörung. > Bei den meisten Malrotationsfehlbildungen ist es einfacher und ungefährlicher, eine Nonrotationslage herzustellen als eine normale Positionierung des Darms mit einem normal angeordneten Kolonrahmen anzustreben.
Manche Autoren empfehlen, anschließend das Duodenum und das Zökum zu fixieren. Jedoch konnte nicht nachgewiesen werden, dass dies einen langfristigen Vorteil erbringt. Bei Belassen des Darms in einer Nonrotationsstellung sollte zusätzlich eine Appendektomie durchgeführt werden, um spätere Komplikationen einer Appendizitis an atypischem, linksseitigem Ort zu vermeiden (Stockmann 2005). Resektion nekrotischer Darmanteile. Wenn sich nach einer Beobachtungszeit von mindestens 10 min unter Erwärmung des Darms mit feuchten Tüchern nekrotische Darmanteile nicht erholt haben, müssen diese in der Regel reseziert werden. Bei kurzstreckiger Resektion und nur wenig alteriertem übrigen Darm sollte zur Vermeidung von Flüssigkeits- und Elektrolytverlust der gesunde Darm primär anastomosiert werden. Ansonsten ist die Ausleitung der offenen Darmenden als eines oder mehrerer Stomata angezeigt. > Oberstes Prinzip ist immer der Erhalt von möglichst viel Darmlänge!
Bei ausgedehnteren Nekrosen kann deshalb auch marginal duchbluteter Darm, bei einer kompletten Darmnekrose auch dieser, unter Anlage mehrerer Entlastungsstomata zurückgelassen werden. In diesen Fällen muss eine breit angelegte und hoch dosierte Antibiotikatherapie begonnen und die Bauchhöhle großzügig drainiert werden, und es ist immer nach 24–36 h eine »Second-look«-Relaparotomie durchzuführen. Bei diesen Kindern mit einem Kurzdarmsyndrom ist es ferner sinnvoll, frühzeitig einen zentralen Venenkatheter zur parenteralen Langzeiternährung operativ zu implantieren (7 Kap. 4 und 9) und für eine besser steuerbare, spezielle enterale Ernährung ein Gastrostoma anzulegen. Schließlich hat es sich auch bewährt, zur Vermeidung unter totaler parenteraler Ernährung häufigen Cholezystolithiasis bereits frühzeitig eine Cholezystektomie vorzunehmen, z. B. wenn anlässlich der Relaparotomie das Vorliegen eines Kurzdarmsyndroms (7 Kap. 28) endgültig gesichert werden muss. Wenn bei einem Neugeborenen oder jungen Säugling der gesamte Dünndarm und ggf. noch größere Kolonanteile bei einer Relaparotomie noch komplett nekrotisch sind, muss zusammen mit den Eltern des Kindes auch erwogen werden, ob hier nicht eine Indikation zur Entfernung des nekrotischen Darms und anschließender palliativer Therapie gegeben ist, da diese Kinder kaum eine Chance haben, ein entsprechendes Alter für eine Dünndarmtransplantation zu erreichen.
Bei noch gutem Allgemeinbefinden des Säuglings und angenommener Malrotation kann der Eingriff zunächst auch mit einer Laparoskopie (7 Kap. 13) begonnen werden. In manchen Fällen gelingt es trotz der Schwierigkeit des sehr eingeschränkten Arbeitsraumes, die ursächlichen Adhäsionen ausreichend zu lösen und die Obstruktion zu beseitigen. Wenn allerdings technische Probleme auftreten, sollte spätestens nach einer Stunde auf eine offene Laparotomie umgestiegen werden (Bax u. van der Zee 2008). Prognose. Bei korrektem operativem Vorgehen hat die Mal-
rotation eine exzellente Langzeitprognose, solange der Darm nicht kompromittiert ist. Bei Vorliegen eines Volvulus mit Darmnekrosen hängt sie von der Ausdehnung der Darmschädigung ab und reicht von völliger Ausheilung bis zum dauerhaften Kurzdarmsyndrom. Als Komplikationen können ein erneuter Volvulus in bis zu 10% der Fälle, Motilitätsstörung des Darms und Verwachsungen mit Obstruktionen auftreten. Je früher eine Malrotation und besonders ein Volvulus diagnostiziert und beseitigt wird, desto seltener treten diese schwerwiegenden Komplikationen auf.
26.4
Mekoniumileus
Vorkommen Eine wichtige Differenzialdiagnose der neonatalen intestinalen Obstruktion ist eine angeborene intraluminale Verstopfung durch eingedicktes Mekonium. Hierbei spielt die wichtigste Rolle der Mekoniumileus, definiert als ein Verschluss überwiegend des terminalen Ileums durch eingedicktes Mekonium bei Vorliegen einer Mukoviszidose (zystische Fibrose; CF). Dieses ist mit 9–33% eine der häufigsten Ursachen für eine neonatale intestinale Obstruktion. Der Mekoniumileus ist die früheste klinische Manifestation einer CF und tritt bei ca. 16% aller Menschen mit dieser Erkrankung auf. Die CF ist eine in Mitteleuropa häufige, autosomal-rezessive Erkrankung mit unterschiedlicher Penetranz. Sie kommt im deutschsprachigen Raum bei 1 auf 29 Lebendgeborenen vor. Die Erkrankung beruht auf einer Mutation des CFTR-Gens (»cystic fibrosis transmembrane conductance regulator«) auf dem Chromosom 7q31 (Kerem et al. 1989). Über 1000 verschiedene Mutationen sind bis dato gefunden worden, die weitaus häufigste ist die des Delta-F508-Lokus. Die CF ist hauptsächlich charakterisiert durch chronischen Sekretstau und Infektionen der Atemwege, exokrine Pankreasinsuffizienz und erhöhten Chloridspiegel im Schweiß. Die langfristig gravierendste Folge ist die chronische Lungenerkrankung mit Pneumonien, Bronchiektasen und respiratorischer Insuffizienz. Sekundär kann es aber auch zu chronisch rezidivierenden Pankreatitiden und exokriner Pankreasinsuffizienz (7 Kap. 36.3.2) und obstruktiven Gallenwegserkrankungen mit sekundärer cholestati-
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
scher Leberveränderung kommen. Am Gastrointestinaltrakt können der neonatale Mekoniumileus eine frühe, spätere intraluminale Obstruktionen (Mekoniumileus-Äquivalent, s. unten), gastroösophagealer Reflux und eine fibrosierende Kolonopathie später Folgen der CF sein (Caty et al. 2005). Sicher viel seltener als der Mekoniumileus kommt bei Neugeborenen das Mekoniumpfropfsyndrom vor, bei dem es pränatal zu einer Eindickung des Mekoniums im Kolon kommt, das nicht mit einer CF assoziiert ist und eine sehr gute Prognose hat.
Entstehung und Pathologie
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Mutationen des CFTR-Gens führen zu einer Alteration des Austausches von Chlorid und anderer Ionen durch die Membranen von epithelialen Zellen. Dies wiederum resultiert in einer Eindickung von deren Sekreten in allen tubulären Strukturen von CF-Patienten. Durch die so entstehende exokrine Pankreasinsuffizienz ist beim Fetus die Verdauung von Proteinen und Fetten im Dünndarm gestört, der sich vor allem im distalen Bereich mit sehr zähem, kleisterartigem Mekonium füllt. Hierzu scheint auch die Insuffizienz der Sekretion im Magen und Duodenum selber beizutragen. Das Mekonium von CF-Patienten enthält schließlich weniger Wasser, Kohlehydrate und Pankreasenzyme sowie zuviel Eiweiß als normales Mekonium. Ob die beobachtete verzögerte Darmmotilität eine zusätzliche primäre Ursache oder sekundäre Folge ist, bleibt unklar (Caty et al. 2005). Insgesamt kommt es jedoch schon vor der Geburt zu einem oft kompletten Verschluss des terminalen Ileums vor der Bauhin-Klappe, der kurz nach der Geburt zu einem klinischen Ileus führt oder aber auch schon pränatal eine Darmperforation mit einer Mekoniumperitonitis bedingen kann. In letzterem Fall entsteht dann meistens eine peritoneale, fibröse Höhle und in manchen Fällen zusätzlich eine oder mehrere Darmatresien (7 Kap. 26.2).
Klinik und Diagnostik Pränataldiagnostik. Bereits pränatal können mit Ultraschall Hinweise auf das Vorliegen eines Mekoniumileus erkennbar sein. Charakteristische Zeichen sind hyperechogener Darminhalt mit deutlicher Erweiterung der gefüllten, aber auch der proximal davon liegenden Darmschlingen, schließlich die fehlende Darstellbarkeit einer Gallenblase. Dabei ist jedoch die Sensitivität dieser Zeichen nicht hoch, sie liegt für die Darstellung der hyperechogenen Mekoniummassen bei 30–70%. Dieses Symptom findet sich darüber hinaus auch bei anderen Darmfehlbildungen, bei CMVInfektionen und bei der Trisomie 21. Auch das Zeichen der erweiterten Darmschlingen ist unspezifisch und kann auch auf alle anderen Ursachen einer Darmpassageproblematik hinweisen. Bei fehlender Darstellbarkeit der Gallenblase kommen schließlich insbesondere die Gallengangsatresie und andere Ursachen einer Galleabflussstörung in Betracht. Finden sich derartige sonographische Zeichen pränatal, insbesondere in der angegebenen Kombination, sollte je-
doch eine molekulargenetische Screening-Untersuchung auf CF erwogen werden. Bei Feten mit einer CF eines Geschwisterkindes oder in der Familie muss der hochgradige Verdacht auf das Vorliegen eines Mekoniumileus geäußert werden. Hier sollten die Eltern und Material aus einer Amniozentese molekulargenetisch untersucht werden. Wenn die CF für das Kind nachgewiesen wird, ist dringend die Überweisung an ein entsprechend erfahrenes Zentrum geboten, einige Autoren empfehlen sogar eine vorzeitige Terminierung der Schwangerschaft vor Eintreten einer Darmperforation. Ansonsten sollten jedoch zumindest engmaschige sonographische Kontrollen einmal monatlich durchgeführt werden (Caty et al. 2005). Einfacher Mekoniumileus. Beim einfachen, »unkompli-
zierten« Mekoniumileus erscheinen die Kinder nach der Geburt oft noch gesund. Erst während der nächsten 2–3 Tage zeigen sich fehlender Mekoniumabgang, eine zunehmende Blähung des Bauches und die Zeichen eines Neugeborenenileus mit galligem Erbrechen. Hier kommen dann differenzialdiagnostisch eine Dünndarmatresie, eine Malrotation, eine Kolonatresie oder ein Mekoniumpfropfsyndrom in Frage. Komplizierter Mekoniumileus. Bei bis zu 50% der Kinder liegt jedoch ein »komplizierter« Mekoniumileus vor, der zu einem Volvulus, einer Darmnekrose, einer Darmperforation mit Mekoniumperitonitis und/oder einer Atresie geführt hat. Hier entwickeln die Kinder meist kurz nach der Geburt oder innerhalb der ersten 24 h schwere Symptome. Dies sind Zeichen der Peritonitis mit Bauchdeckenspannung und -ödem sowie eine Sepsis. Aufgrund der abdominellen Blähung kann eine schwere respiratorische Insuffizienz eintreten. Beim Vorliegen einer großen Pseudozyste nach intrauteriner Darmperforation kann diese als großer abdomineller Tumor erscheinen und sich rasch sekundär infizieren. Die zunächst noch sterile Mekoniumperitonitis erfährt ebenfalls postnatal eine rasche sekundäre Infektion. Große Mengen Aszites können das Kind zunehmend beeinträchtigen, intraabdominelle Verwachsungen rasch zu einem mechanischen Ileus führen. Bei Vorliegen einer Mekoniumperitonitis ist die Ursache immer eine abgelaufene Darmperforation, die sich in einigen Fällen jedoch wieder spontan verschließen kann. Meist ist diese aber bei Geburt noch vorhanden oder Darmanteile sind atretisch oder fehlen ganz. Bei Vorliegen einer Darmatresie oder eines Volvulus sind die Neugeborenen ebenfalls schwer erkrankt (s. oben). Postnatale Diagnostik. Postnatal ist die wichtigste bildgebende Maßnahme das Anfertigen einer Röntgenabdomenleeraufnahme. Bei unkompliziertem Mekonium-
ileus sieht man auf dieser eine Vielzahl dilatierte Dünndarmschlingen und gelegentlich im rechten Abdomen »kleinblasige« Massen als Ausdruck der mekoniumgefüllten Ileumschlingen. Bei gutem Allgemeinzustand des
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Kindes wird man hier einen Röntgenkolonkontrasteinlauf mit 1:4 verdünntem Gastrografin anschließen. Dieser zeigt das »nicht gebrauchte« Mikrokolon mit kleinen Schleimkügelchen als Inhalt, kann gleichzeitig eine Lageanomalie des Kolons ausschließen und ist darüber hinaus auch durch seine abführende Wirkung der erste therapeutische Schritt (s. unten). Je nach den vorliegenden Komplikationen kann man beim komplizierten Mekoniumileus mit der Sonographie einen Aszites, erweiterte und gefüllte Darmschlingen und eine allfällige Pseudozyste nach intrauteriner Darmperforation darstellen. In den Röntgenabdomenleeraufnahmen in Rücken- und Seitenlage sind neben den Dünndarmspiegeln des Ileus freie Luft bei Perforation oder auch abdominelle Kalzifikationen zu erkennen. Derartige diffus verteilte Kalkspritzer sind hochgradig verdächtig für eine Mekoniumperitonitis. Die Darstellung einer Raumforderung durch Aussparung von Darmluft mit partiell verkalktem Rand lassen eine peritoneale Pseudozyste vermuten (. Abb. 26.20). ! Cave In einigen Fällen selbst mit kompliziertem Mekoniumileus zeigt sich jedoch lediglich die intestinale Obstruktion im Röntgenbild. Bei klinischem und/oder radiologischem Verdacht auf einen komplizierten Mekoniumileus sind Kontrastmitteleinläufe oder gar eine Röntgen-Magen-Darm-Passage kontraindiziert. In diesen Fällen muss eine Laparotomie die endgültige Diagnose sichern.
Therapie und Prognose Die ersten allgemeinen therapeutischen Maßnahmen gleichen denen beim Neugeborenenileus anderer Ursachen. Diese beinhalten das Legen einer Magensonde, intravenöse Infusionen, eine breitbandantibiotische Therapie, Gabe von Vitamin K und wenn nötig Unterstützung der Atmung durch Sauerstoffgabe oder auch maschinelle Beatmung.
Unkomplizierter Mekoniumileus Eine konservative Therapie kann bei Kindern in gutem Allgemeinzustand mit einem unkomplizierten Mekoniumileus versucht werden. Voraussetzung ist auch, dass eine andere Darmfehlbildung über den Röntgen-Kontrasteinlauf weitgehend ausgeschlossen wird. Der Säugling muss mit Infusionstherapie und antibiotischer Abschirmung für die notwendigen Einläufe vorbereitet werden. Diese sollten unter Röntgendurchleuchtung und in Operationsbereitschaft vorgenommen werden. Für den ersten Einlauf ist das Röntgenkontrastmittel Gastrografin (1:4 verdünnt!) wegen seiner Hyperosmolarität und seiner Sichtbarkeit im Röntgen gut geeignet. Dieser Einlauf hat stark abführende und diuretische Wirkung, weshalb für eine ausreichende parenterale Flüssigkeits- und Elektrolytzufuhr gesorgt werden muss. Der Einlauf über einen transanalen Katheter muss vorsichtig und unter Röntgendurchleuchtungskontrolle erfolgen (Shinohara
. Abb. 26.20. Röntgenleerbild eines Neugeborenen mit Mekoniumperitonitis und Pseudozyste im rechten Abdomen nach intrauteriner Ileumperforation
et al. 2007). Danach wird der transanale Katheter entfernt und das Kind intensiv überwacht. Häufig kommt es innerhalb der nächsten Stunden zum Absetzen von Mekonium. Alle 8–12 h sollte ein Kontrollröntgenbild angefertigt werden. Wenn die Entleerung nicht komplett ist und/oder der Gastrografin-Einlauf nicht die erweiterten Darmschlingen proximal der Obstruktion erreicht, kann auch eine Wiederholung desselben notwendig sein. Auch mehrere Gastrografin-Einläufe in 6- bis 24-stündigen Abständen sind erlaubt. Zusätzlich kann die Gabe eines salinischen Einlaufes mit 1%-igem N-Azetylzystein hilfreich sein, um das impaktierte Mekonium zu lösen. Wenn jedoch die Darmdistension zunimmt, Zeichen einer Peritonitis auftreten oder sich der Zustand des Kindes verschlechtert, ist eine chirurgische Exploration indiziert. Nach erfolgreicher Entleerung des unteren Dünndarms kann mit antegrader Gabe von 5 ml 10%-iger N-Azetylzysteinlösung über die Magensonde der obere Dünndarminhalt gelöst werden, wenn dies nötig ist. Mit einer Ernährung kann begonnen werden, wenn alle Zeichen einer Obstruktion verschwunden sind. Dann sollte zugleich mit der Substitution von Pankreasenzymen begonnen werden. Insge-
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
samt liegt die Erfolgsquote der konservativen Therapie bei unkompliziertem Mekoniumileus zwischen 60 und 80% (Rowe et al. 1971). Die hyperosmolaren Einläufe können zu verschiedenen Komplikationen führen. Perforationen des Rektums sollten durch vorsichtiges Einführen des Katheters unter Röntgenkontrolle und Verzicht auf eine Balloninflation vermieden werden. Bereits unter dem Einlauf kann es zu einer Kolonoder Ileumperforation kommen, die aber durch vorsichtiges Infundieren vermieden und mit Röntgendurchleuchtung gleich erkannt werden sollte. Es können aber auch späte Perforationen bis zu 48 h nach dem Einlauf auftreten. Diese können offensichtlich bei einer übermäßigen Darmdistension durch die osmotische Wirkung des Einlaufes vorkommen. Durch die Dehnung der Darmwand kann es zusätzlich zu einer Durchblutungsstörung mit Wandnekrosen kommen. Um derartige Spätkomplikationen früh zu erkennen, sollte die Intensivüberwachung der Säuglinge lange genug fortgesetzt werden. Beim unkomplizierten Mekoniumileus ergibt sich eine Indikation zur Operation entweder aus einer inkompletten Entfernung des Mekoniums oder bei einer Komplikation wie z. B. einer Perforation. Bei einer Persistenz der Obstruktion nach Einläufen über mehr als 24–48 h muss diese operativ beseitigt werden. Dies geschieht üblicherweise über eine Laparotomie mit Einlage eines perkutanen, feinen Spülkatheters in das Darmlumen. Meist ist es jedoch ratsam, das impaktierte Mekonium über eine Enterotomie zu extrahieren und mit Hilfe von verdünnter N-Azetylzysteinlösung auszuspülen (. Abb. 26.21). Manche Kinderchirurgen bevorzugen auch hier einen laparoskopischen Versuch (Bax u. van der Zee 2008). Dabei muss eine Kontamination der Bauchhöhle durch das Mekonium dringend vermieden werden. Die Enterotomie kann dann mit oder ohne Einlage eines Spülkatheters (z. B. T-Drain) verschlossen werden. Eine Darmresektion ist beim unkomplizierten Mekoniumileus nur selten notwendig. Eine Anastomose birgt wegen einer späteren möglichen erneuten Passagestörung des pathologischen Darminhaltes zudem die Gefahr einer Nahtinsuffizienz. In früheren Zeiten hat man häufig ein doppelläufiges Ileostoma angelegt. Diese einfache Maßnahme erlaubt das postoperative Freispülen der distalen und proximalen Darmanteile, hat jedoch den Nachteil des oft großen Flüssigkeits- und Elektrolytverlustes eines Dünndarmstomas. Durch Umfüllen des Beutelinhaltes in den abführenden Darmschenkel kann dieser jedoch befahren und dem Verlust entgegengewirkt werden. Wenn der Darm durchtrennt oder ein Segment reseziert werden muss, kann ein Stoma nach Bishop und Koop angelegt werden (. Abb. 26.22). Hierfür wird der abführende Darmschenkel als endständiges Stoma aus der Bauchdecke ausgeleitet, in ganz kurzem Abstand distal davon jedoch der proximale, vollständig entleerte Darmschenkel an den abführenden End-zu-Seit-anastomosiert.
. Abb. 26.21. Intraoperativer Situs bei Mekoniumileus, Extraktion zähen Inhaltes
. Abb. 26.22. Bishop-Koop-Fistel als Ventilstoma bei Mekoniumileus
Ein solches Stoma hat die Funktion eines Überlaufventils bei erneuter Verstopfung des Ileums, bei freier Passage wird jedoch der Darminhalt direkt weiter transportiert. Gleichzeitig kann durch dieses Stoma der abführende Darm über einen Katheter je nach Bedarf freigespült werden. Bei guter Passage bleibt das Stoma quasi trocken und es kann dann in vielen Fällen auch zu einem spontanen Verschluss kommen. In umgekehrter Weise kann nach Santulli auch der proximale Darmschenkel ausgeleitet und der abführende endzu-seit an diesen anastomosiert werden. Dies erlaubt vor allem das intensive postoperative Freispülen des proximal gelegenen Darms und eine Kathetereinlage in den distalen Abschnitt, ist jedoch wie das doppelläufige Stoma mit hohem Flüssigkeits- und Elektrolytverlust verbunden. In allen Fällen und unabhängig vom operativen Vorgehen sollte darauf
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geachtet werden, dass am Ende der Operation der gesamte Dünn- und Dickdarm freigespült und durchgängig ist.
Komplizierter Mekoniumileus Beim komplizierten Mekoniumileus ist immer ein operatives Vorgehen nach kurzfristiger weitestmöglicher Stabilisierung des Kindes indiziert. Das Vorgehen bei diesen schwierigen und delikaten Operationen richtet sich nach den intraabdominellen Befunden und kann Débridement einer fibrinösen Entzündung der Bauchhöhle, Entfernung einer Pseudozyste, eine Adhäsiolyse und eine Resektion von nekrotischem Darm und Anlage von ggf. mehreren Stomata beinhalten. Meist ist die Einlage von weichen abdominellen Drainagen sinnvoll. Bei Vorliegen eines Volvulus ist dieser zu beseitigen (7 Kap. 26.3.4), eine Atresie entsprechend zu korrigieren (7 Kap. 26.2.1). Unabhängig von den vorliegenden Befunden müssen Darmresektionen so schonend wie möglich erfolgen und es muss so viel Darm wie irgend möglich erhalten werden. Bei ungünstiger Situation des Darms und einer voraussichtlich länger nicht möglichen normalen Ernährung ist es ratsam, schon bei diesem Eingriff ein perkutanes Stoma anzulegen, durch das eine kontinuierliche Ernährung erfolgen kann. > Die wichtigsten Ziele der Operation eines komplizierten Mekoniumileus sind neben einer freien Darmpassage die Kontrolle einer allfälligen Peritonitis und die Vermeidung eines Kurzdarmsyndroms.
Postoperativ bedürfen diese schwerkranken Neugeborenen quasi immer einer intensivmedizinischen Betreuung mit Nachbeatmung, einer intensiven, möglichst gezielten Antibiotikatherapie und eines Ausgleiches des Elektrolyt- und Säure-Base-Haushaltes sowie einer parenteralen Ernährung. Nach Beseitigung der Obstruktion und Erholung des Darms mit Einsetzen seiner normalen Funktion kann mit dem vorsichtigen Aufbau einer enteralen Ernährung begonnen werden. Hierfür kann Muttermilch oder normale altersentsprechende, künstliche Milch benutzt werden. Gleichzeitig sollte mit der Substitution von Pankreasenzymen in der Dosierung von 2000–4000 Einheiten auf 120 ml Milch begonnen und Vitamine zusätzlich verabreicht werden. Bei der Dosierung der Pankreasenzyme muss mit großer Sorgfalt vorgegangen werden, da eine chronische Unterdosierung zu einem distalen intestinalen Obstruktionssyndrom (s. unten) führen kann, wohingegen eine chronische Überdosierung unter Umständen eine fibrosierende Kolitis auslöst. Überhaupt ist dringend anzuraten, für einen optimalen Aufbau der Ernährung einen versierten pädiatrischen Gastroenterologen mit Kenntnis der Probleme der CF einzuschalten (7 Kap. 4). Bei Säuglingen, die einen normalen Nahrungsaufbau nicht tolerieren, kann die Gabe von vorverdauter Spezialnahrung, ggf. auch als kontinuierliche Infusion über ein Gastrostoma und/oder von totaler parenteraler Ernährung notwendig sein. Dies gilt vor allem für Säuglinge mit kompliziertem Mekoniumileus und einem Verlust von
Darm. Wegen der möglichen schweren Leberschäden durch eine Cholestase unter einer parenteralen Ernährung, ist auch hier größte Vorsicht geboten und es müssen wöchentlich das Bilirubin und die Leberenzyme kontrolliert werden. Bei großem Verlust von Stuhl über ein proximal gelegtes Stoma sollte eine baldige Beseitigung desselben angestrebt werden. Während der Zwischenzeit sollte der Stuhl vom Beutel über einen Katheter in den distalen Darmschenkel zusammen mit Pankreasenzymen steril umgefüllt werden, evtl. nach Zumischung von Elementarnahrung. Wegen der möglichen vermehrten Magensäureproduktion dieser Kinder erscheint die Gabe von H2-Blockern oder Protonenpumpeninhibitoren sinnvoll. Regelmäßige Kontrollen von Elektrolyten, insbesondere des Natriums im Serum und Urin und eine allfällige Substitution sind ebenfalls angezeigt. Wenn die Diagnose einer CF gestellt ist, sollte bereits frühzeitig mit den ersten Maßnahmen einer Lungentherapie begonnen werden, obwohl die jungen Säuglinge diesbezüglich noch symptomfrei sind. Hierzu gehören vor allem regelmäßige Physiotherapie und ggf. Inhalationen mit bronchodilatatorischen Medikamenten, nicht jedoch eine dauerhafte Antibiotikaprophylaxe. Prognose. Die Prognose des Mekonikumileus hat sich mit
verbesserter Operationsmöglichkeit und Intensivtherapie dramatisch verbessert. Heute überleben 85–100% aller Neugeborenen mit unkompliziertem und bis zu 85% von denen mit kompliziertem Mekoniumileus. Im jugendlichen Alter ist die pulmonale Situation dieser Patienten heutzutage nicht mehr schlechter, als die anderer CF-Patienten (Munck et al 2006). Der Vergleich von CF-Patienten mit oder ohne Mekoniumileus zeigt aber auch, dass bei ersteren die Ernährungssituation und das Gedeihen über Jahre beeinträchtigt sein können.
Mekoniumpfropfsyndrom Bei Neugeborenen ohne eine CF kann in seltenen Fällen ein Eindicken des Mekoniums eine intraluminale Obstruktion mit konsekutivem Ileus bedingen. Dieser Mekoniumpfropf findet sich jedoch in aller Regel im Kolon. Als spezifische Ursachen können hier auch eine angeborenen Enge des linken Kolons (»small left colon syndrome«), ein Morbus Hirschsprung (7 Kap. 29), eine neuronale intestinale Dysplasie (7 Kap. 29), ein angeborener Hypothyreoidismus oder ein mütterlicher Drogenabusus sein. Meistens ist das Mekoniumpfropfsyndrom jedoch idiopathisch. Die Symptome der Neugeborenen gleichen denen bei einem unkomplizierten Mekoniumileus mit fehlendem Mekoniumabgang, Distension des Bauches und galligem Erbrechen. Gelegentlich kommt es bereits nach analer Stimulation zu einem Absetzen des Mekoniumpfropfes. In den restlichen Fällen sollte sowohl diagnostisch als auch therapeutisch ein Röntgen-Gastrografin-Einlauf durchgeführt werden. Bei diesen Kindern ist danach immer eine CF und eine Hypothyreose auszuschließen. Wenn Probleme
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
mit dem Stuhlgang persistieren, ist eine Diagnostik zum Ausschluss oder Nachweis eines Morbus Hirschsprung (7 Kap. 29) indiziert.
Spätere gastrointestinale Komplikationen der Mukoviszidose Gastroösophagealer Reflux (7 Kap. 24). Der gastroösophageale Reflux ist ein häufiges Begleitsymptom bei der CF. Eine frühe Diagnose und konservative Therapie sind wichtig, insbesondere, da der Reflux vor allem bei jungen Kindern auch die respiratorische Situation weiter beeinträchtigen kann.
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Chronische Lebererkrankung. Eine chronische Lebererkrankung ist ebenso eine häufige Folge der CF. Sie kann mit Steatose, Fibrose, chronischer Cholestase, Gallengangsatresie, Cholelithiasis und sklerosierender Cholangitis einhergehen. In einigen Fällen kann eine intrahepatische Cholestase schon beim Neugeborenen beobachtet werden. Eingedickte Galle führt hier zu einer Verstopfung der Gallenwege bei ansonsten normaler Anatomie und sekundärer Entzündung und einer Einengung der kleinen Gallengänge. In selektiven Fällen kann hier eine chirurgische Rekonstruktion mit einer biliodigestiven Anastomose eine Verbesserung bewirken. Oft kommt es jedoch zu einer progressiven Leberzirrhose mit portaler Hypertension (Lamireau et al. 2004). Distales intestinales Obstruktionssyndrom. Beim distalen
intestinalen Obstruktionssyndrom (DIOS, Mekoniumileus-Aquivalent) handelt es sich um eine rezidivierende, intraluminale, für die CF spezifische Obstruktion des Ileums und/oder rechten Kolons. Sie tritt bei ca. 15% aller CF-Patienten, vor allem im Jugendlichen- und jungen Erwachsenenalter auf. Hier sind vor allem Patienten mit nicht gut kompensierter, exokriner Pankreasinsuffizienz und Steatorrhö betroffen. Die abnorme Zusammensetzung des dadurch sehr zähen und klebrigen Dünndarmstuhles führt zu einer Impaktierung im Ileum und gelegentlich auch im rechten Kolon (Escobar et al. 2005). Die Patienten haben zunehmend Schmerzen im rechten Unterbauch und Darmkoliken, fehlenden Stuhlgang, Zeichen des Subileus bis Ileus mit Erbrechen, dabei aber in der Regel keine Zeichen einer Peritonitis. Das Ileum mit dem impaktierten Stuhl lässt sich oft als eine weiche, schmerzhafte Raumforderung im rechten Unterbauch tasten. Dieses lässt sich im Ultraschall ebenfalls als Konglomerat darstellen. In der Röntgenabdomenleeraufnahme findet sich entsprechend fehlendes Darmgas im rechten Unterbauch und im übrigen Dünndarmbereich Spiegel als Zeichen der Obstruktion. Mit einem Röntgenkolonkontrasteinlauf mit wasserlöslichem Kontrastmittel lässt sich ggf. diese impaktierte Stuhlmasse darstellen, gleichzeitig wirkt dieser Kontrastmitteleinlauf bereits auch therapeutisch. Differenzialdiagnostisch kommen vor allem ein Obstruktionsileus durch Verwachsungen nach früherem Meko-
niumileus, eine Invagination oder eine Appendizitis in Betracht. Eine akute Appendizitis tritt bei 1,5–2% aller CF-Patienten auf. Oft ist die Symptomatik durch Langzeittherapie mit Antibiotika und Steroiden bei CF-Patienten mitigiert. Deshalb besteht eine hohe Inzidenz von Perforationen der Appendizitis bei CF-Patienten. Kann differenzialdiagnostisch bei Vorliegen von Entzündungszeichen mit der Sonographie eine Stuhlimpaktierung des DIOS nicht sicher von einem Konglomerattumor nach perforierter Appendizitis abgegrenzt werden, ist die Durchführung eines AbdomenCT mit Kontrastmittelgabe indiziert. Bei weiter bestehender Unklarheit kann eine Laparoskopie sinnvoll sein, während der dann über das weitere Vorgehen entschieden wird. Die Therapie des DIOS ist prinzipiell konservativ. Nach Beginn einer Infusionstherapie zum Flüssigkeits- und Elektrolytausgleich werden hohe Einläufe durchgeführt und anschließend mit einer antegraden Spültherapie begonnen. Hierfür eignet sich eine Polyäthylenglykol-Elektrolyt-Lösung (z. B. Golytely, 20–40 ml/kg KG/h; maximal 1200 ml/ h), die oral oder über eine nasogastrische Sonde verabreicht wird. Auch eine antegrade Gastrographin-Gabe hat meist eine gute therapeutische Wirkung. Das Einsetzen von Stuhlgang und das Verschwinden der Bauchschmerzen sowie der Raumforderung im rechten Unterbauch zeigen den Erfolg der Therapie an, der auch mittels Sonographie oder einer Röntgenleeraufnahme verifiziert werden kann. Wichtig ist die anschließende optimale Einstellung auf eine adäquate Pankreasenzymsubstitution und das Einwirken auf die meist jugendlichen Patienten, die verordnete Medikation auch konsequent einzuhalten, um einem Rezidiv vorzubeugen. Wenn die konservative Therapie keinen Erfolg hat oder bereits ein schwerer Ileus und eine Peritonitis vorliegen, ist eine chirurgische Intervention indiziert. Hierbei muss der Darm des Patienten komplett entleert und allfällige nekrotische Anteile reseziert werden. Auch hier kann zusätzlich ein dünner, perkutaner, intraluminaler Katheter für eine postoperative Spültherapie implantiert werden. Fibrosierende Kolonerkrankung. Erst seit einigen Jahren ist die fibrosierende Kolonerkrankung als eine spezifische Folge der CF erkannt worden (Chaudry et al. 2006). Hierbei findet sich eine Fibrosierung der Kolonwand mit Narben nach früheren ischämischen Ulzera und Zerstörung der Muscularis mucosae. Zusätzlich kann es zu Strikturen kommen. Diese Kolonerkrankung tritt insbesondere bei CF-Patienten mit sehr hoch dosierter Substitution von exokrinen Pankreasenzymen auf, so dass sie kausal hiermit in Verbindung gebracht wird. Klinisch leiden die Patienten unter Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfällen, chylösem Aszites und Gedeihstörung. Es kann auch zu blutigen Durchfällen kommen. Im Röntgenkontrasteinlauf können oft die Schleimhautveränderung, Verlust der Haustrierung und Strikturen gesehen werden. Therapeutisch stehen die Reduzierung der Pankreasenzymedosierung und eine adäquate Ernährung, ggf. eine
305 26.5 · Meckel-Divertikel und persistierender Ductus omphaloentericus
parenterale Ernährung im Vordergrund. Nur bei Versagen dieser Therapie und anhaltenden Durchfällen, ausgedehnten Strikturen oder zunehmendem Aszites kann ein chirurgisches Vorgehen einmal indiziert sein. Bei begrenztem Kolonbefall ist eine lokale Resektion möglich, bei diffusem Befall ist eine solche nicht sinnvoll. Hier kann die Anlage eines Ileostomas hilfreich sein. Es ist jedoch bisher nicht klar, ob derartige chirurgische Maßnahmen wirklich zu einer Heilung führen.
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Meckel-Divertikel und persistierender Ductus omphaloentericus
Vorkommen und Häufigkeit Das Meckel-Divertikel (MD) ist eine als Rest des embryonalen Ductus omphaloentericus übriggebliebene Ausstülpung des Dünndarms. Dieses Divertikel stellt die häufigste Fehlbildung des Dünndarms dar. Obwohl die Häufigkeit nicht ganz klar ist, wird von einer Inzidenz von 2% der Bevölkerung ausgegangen. MD kommen dabei gehäuft bei Menschen mit weiteren Fehlbildungen vor. Ungefähr 4% aller Menschen mit einem MD werden symptomatisch, d. h. ungefähr 8 von 10.000 Menschen entwickeln eine Komplikation durch ihr MD. Hiervon werden 50–60% bereits während der ersten zwei Lebensjahre auffällig und nur 15% der Patienten sind älter als 4 Jahre, wenn sie das erste Mal Symptome bemerken. Interessanterweise haben dreimal so viele Jungen als Mädchen ein symptomatisches MD (Vane et al. 1987). Die häufigste Ursache für Komplikationen eines MD ist das Vorhandensein von ektopem Gewebe, in der überwiegenden Mehrzahl aus Magenschleimhaut, gelegentlich auch vom Pankreas, Jejunum oder Kolon. Symptomatische MD weisen 10-mal so häufig ektopes Gewebe auf als nicht symptomatische, jedoch bekommen nur die Hälfte der Patienten mit ektopem Gewebe klinisch relevante Symptome. Seltener ist die Persistenz des kompletten Ductus omphaloentericus, der als Gang zwischen dem Dünndarm und dem Nabel bestehen bleibt. Dies kann auch mit einem
a
b
. Abb. 26.23a–c. Die verschiedenen Formen des persistierenden Ductus omphaloentericus und Meckel-Divertikels. a Einfaches Diver-
MD kombiniert vorliegen, ferner kann als Rest des Ductus omphaloentericus auch ein fibröser Strang, ggf. mit Erhalt der Vitellin-Arterie übrig bleiben. Alle diese Formen können für sich oder in Kombination zu eigenen klinischen Problemen führen und zu einer entsprechenden Symptomatik Anlass geben (Schropp 2005).
Entstehung und Pathologie Während der frühen Embryonalzeit besteht eine Verbindung zwischen der Darmanlage und dem Dottersack, der Ductus omphaloentericus (Vitellin-Gang), der sich jedoch in der 5. bis 6. Schwangerschaftswoche zurückbildet (Hinrichsen 1998). Wenn Teile desselben oder der ganze Gang persistieren, verbleibt entweder am Ileum ein Divertikel (MD), eine offene Verbindung vom Ileum zum Nabel, ein fibröser Strang zwischen dem Ileum und dem Nabel, ggf. mit Persistenz der Vitellin-Arterie, oder auch eine Zyste mit Verbindung zum Ileum und zum Nabel (. Abb. 26.23). Das MD oder der Ansatz eines persistierenden Ductus omphaloentericus findet sich in der Regel am Ileum antimesenterial, ca. 30–40 cm proximal der Bauhin-Klape, jedoch gibt es hier auch anatomische Varianten. Je nach Anatomie der Fehlbildung können verschiedene Komplikationen auftreten. Am häufigsten kommt es zu Blutungen aus einem MD mit ektoper Magenschleimhaut, seltener mit Pankreasgewebe. Ein MD insbesondere mit ektopem Gewebe kann auch einmal Leitpunkt für die Ausbildung einer Invagination (7 Kap. 32) sein und hier auch zu Rezidiven Anlass geben. Ein persistierender Ductus omphaloentericus, insbesondere ein verbliebener fibröser Strang, ist oft Ursache für eine intestinale Obstruktion oder gar einen akuten Volvulus des Ileums. Auch eine persistierende Vitellin-Arterie von der Basis des Mesenteriums bis zu einem MD kann einmal eine Darmobstruktion verursachen. Schließlich sind in MD mit ektopem Gewebe auch Tumoren, wie Inselzellhyperplasie, Karzinoide, Leiomyome, Angiome und Neurofibrome gefunden worden. Der komplett persistierende Ductus omphaloentericus führt in der Regel kurz nach der Geburt zu einer inkompletten Involution des Nabels mit sichtbarer Schleimhaut und ständigem Nässen (Rescorla 2005).
c tikel, b Divertikel mit Strang zum Nabel, c Divertikel mit persistierendem Ductus omphaloentericus
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Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
Klinik und Diagnostik des Meckel-Divertikels
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Die häufigsten Symptome des MD sind intestinale Blutungen in 40–60%, Obstruktion in 25% und Divertikulitis in 10–20% der Fälle (Schropp 2005). Typischerweise kommt es während der Kindheit zu rezidivierenden schmerzlosen intestinalen Blutungen mit Absetzen von Teerstuhl und gelegentlich zusätzlich Blut im Stuhl. Selten sind die Blutungen so stark, dass sofort Transfusionen notwendig werden. Subklinische Blutungen kommen ebenfalls vor, weshalb bei kleinen Kindern mit Eisenmangelanämie und positivem Hämoccult-Test im Stuhl nach einem MD gefahndet werden sollte. Akut einsetzende Bauchschmerzen, Erbrechen, ein geblähter Bauch sowie fehlender oder dünner und blutiger Stuhlgang sind Zeichen für eine intestinale Obstruktion. Diese kann ausgelöst sein entweder durch eine Invagination aufgrund eines MD oder durch strangförmigen Rest des Ductus omphaloentericus. Bei einem Volvulus mit Darmnekrose kommt es zu einer schweren Symptomatik mit Schockzustand und Fieber. Auch die seltene Einbeziehung eines MD in eine innere Hernie führt zu entsprechenden obstruktiven Symptomen. Eine Divertikulitis verursacht Symptome ähnlich denen einer akuten Appendizitis mit periumbilikalen Schmerzen, Bauchdeckenspannung und Anstieg der Entzündungsparameter. Jedoch ist der maximale Schmerzpunkt oft weniger fest im rechten Unterbauch lokalisiert wie bei der Appendizitis. Deshalb kann es auch hier immer einmal wieder zu einer Perforation kommen, ehe eine Therapie eingeleitet worden ist. Bei der Diagnostik einer gastrointestinalen Blutung des Kindes sind zunächst eine genaue Anamnese und die körperliche Untersuchung sehr wichtig. Eine Magenblutung sollte z. B. mittels Legen einer Magensonde ausgeschlossen werden. Eine rektale Untersuchung, ggf. eine Rektoskopie oder Koloskopie gehört zur Diagnostik zum Ausschluss einer anderen Blutungsquelle. Die Sonographie und Röntgendiagnostik ist nur selten in der Lage, ein MD nachzuweisen. Jedoch kann eine fraktionierte Röntgen-MagenDarm-Passage oder neuerdings auch ein Hydro-MRT zum Einsatz kommen, auch um andere Fehlbildungen, wie eine Duplikatur, auszuschließen. Da die häufigste Blutungsquelle ektope Schleimhaut in einem MD ist, sollte die 99mTechnetium-Pertechnetat-Szintigraphie zum Einsatz kommen, die außer in der Harnblase eine Anreicherung in Magenschleimhaut ergibt (Mittal et al. 2008). Es kann zwar auch ektope Magenschleimhaut an anderen Stellen, z. B. in einer Duplikatur oder im sonst normalen Dünndarm vorkommen, dies ist jedoch sehr selten. Ein positiver Befund mit einem starken Verdacht auf ein MD ergibt sich, wenn außerhalb des Harntraktes und des Magens eine weitere Anreicherung im Abdomen zu sehen ist. Falsch-positive Befunde können bei einer Invagination, Darmduplikaturen, entzündlichen Darmerkrankungen, Hämangiomen oder arteriovenösen Malformationen und bei einem Harnstau vorkommen. Ein falsch-negatives Ergebnis ergibt sich,
wenn die ektope Magenschleimhaut sehr klein, wenn restliches Barium nach einer Kontrastmittelröntgenuntersuchung verblieben ist oder wenn das MD sehr tief hinter der Blase liegt. Zur Verstärkung der isotopen Aufnahme können Pentagastrin oder H2-Blocker verabreicht werden, wobei Pentagastrin die Säureproduktion der Parietalzellen erhöht, während H2-Blocker das »Auswaschen« des Isotops aus den Magenschleimhautdrüsen verzögern. Der Effekt dieser Medikation ist jedoch nicht gut bewiesen, weshalb sie nur bei sonst negativem Befund, aber klinischen Hinweisen auf ein MD angewendet werden sollte. Insgesamt ist die Spezifität der 99mTc-Szintigraphie mit 95%, die Sensibilität allerdings nur mit 60% anzusetzen (Swaniker et al. 1999). Andere radiologische Untersuchungen, wie eine Szintigraphie mit markierten Erythrozyten oder eine Angiographie setzen eine anhaltende stärkere Blutung voraus, um einen positiven Befund zu erheben. Seit relativ kurzer Zeit gibt es die Möglichkeit, auch bei kleineren Kindern eine totale intestinale Kapselendoskopie durchzuführen. Allerdings besteht bei Patienten in jungem Lebensalter mit dieser Methode noch relativ wenig Erfahrung. Dennoch sollte mit dieser nichtinvasiven Untersuchung versucht werden, bei dringendem klinischem Verdacht ein MD nachzuweisen. Wenn dies nicht möglich ist, ist bei entsprechender Symptomatik, z. B. bei oder nach schwerer oder rezidivierender Blutung die Indikation zu einem chirurgischen Vorgehen gegeben. Hier steht an erster Stelle die Laparoskopie, mit deren Hilfe mit großer Sicherheit ein MD nachgewiesen oder ausgeschlossen und gleichzeitig meistens auch entfernt werden kann (Schier 2008).
Therapie und Prognose des Meckel-Divertikels Bei ausgeprägter Blutung oder deutlich reduziertem Allgemeinzustand, z. B. aufgrund einer schweren Darmobstruktion, erfolgt zunächst die möglichst rasche Stabilisierung mit Infusionstherapie und wenn nötig einer Bluttransfusion. Bei Vorliegen einer Invagination wird diese wie in 7 Kap. 32 beschrieben behandelt. Das MD selber wird bei Nachweis oder ausreichendem Verdacht chirurgisch angegangen. Hier steht an erster Stelle die Laparoskopie (Chan et al. 2008), solange gegen diese keine Kontraindikationen vorliegen (7 Kap. 13). Hierbei werden am besten 3 Trokare für die Kamera und als Arbeitskanäle eingebracht, das Zökum und das terminale Ileum aufgesucht und dann retrograd der gesamte Dünndarm durchgemustert. Ein allfälliges MD mit einer schmalen Basis kann mit einem Stapler in querer Richtung abgetragen werden. Ein eher flaches und breitbasiges Divertikel bedarf zumindest einer keilförmigen Exzision aus der Dünndarmwand oder einer Segmentresektion, um sicher alles ektope Gewebe mitzuentfernen. Dieses kann entweder komplett intrakorporal erfolgen oder – für manche Chirurgen einfacher – mittels geringer Erweiterung eines der Zugänge
307 26.6 · Darmduplikaturen
gendiagnostik finden sich die dazugehörigen Zeichen. Hier ist dann auch die sofortige chirurgische Korrektur indiziert, die je nach klinischer Lage über eine quere Oberbauchlaparotomie, bei Jugendlichen auch eine Längslaparotomie, oder über eine Laparoskopie angegangen wird. Zystenbildung. Bei Ausbildung einer Zyste im abgekapsel-
. Abb. 26.24. Typisches Meckel-Divertikel mit relativ schmaler Basis
extrakorporal abgeschlossen werden. Manche Chirurgen schließen jetzt eine Gelegenheitsappendektomie an, dies ist aber für das Kindesalter sehr umstritten. In Fällen mit bereits präoperativ zu erwartenden Problemen, wie Verwachsungsbauch, sehr schlechtem Allgemeinzustand, akutes Abdomen bei kleinem Kind ist auch ein konventionelles, offenes Vorgehen gerechtfertigt. Bei dem zufälligen Befund eines MD im Rahmen eines abdominellen Eingriffes aus anderem Grund sollte dieses insbesondere bei jungen Kindern entfernt werden, solange dies das Risiko der Operation für den Patienten nicht wesentlich erhöht, um das lebenslange Risiko von Komplikationen zu beseitigen (. Abb. 26.24).
Klinik, Diagnostik und Therapie des persistierender Ductus omphaloentericus Klinik. Je nach seiner anatomischen Ausprägung kann der
persistierende Ductus omphaloentericus sehr verschiedene Symptome verursachen. Bei einem nach der Geburt anhaltend nässenden oder gar stuhlausscheidenden Nabel liegt eine durchgängig offene Verbindung zum Dünndarm vor. Dieses ist oft kombiniert mit sichtbarer Schleimhaut im Nabelgrund oder einem dunkel-rötlichen Polypen, der auf Ätztherapie nicht verschwindet. Diagnostik. Der Gang ist oft sondierbar und lässt sich in
vielen Fällen mit dem Ultraschall, ggf. auch mit einer Kontrastmittelröntgenuntersuchung darstellen.
ten Ductus omphaloentericus bestehen eher unspezifische Beschwerden und Schmerzen und eine eventuell zunehmende Raumforderung. Bei sekundärer Infektion kommen entzündliche Zeichen hinzu. Die Darstellung gelingt meist mit der Sonographie, jedoch können auch eine Röntgendiagnostik, ggf. auch ein MRT oder ein CT indiziert sein. Hier besteht die endgültige Therapie in der chirurgischen Entfernung der Zyste und der Gangreste über eine Laparotomie oder auch laparoskopisch (7 Kap. 13). Prognose. Die Prognose des persistierenden Ductus omphaloentericus ist in aller Regel sehr gut. Lediglich, wenn er bei einer strangförmigen Anheftung des Dünndarms an den Nabel zu einem Volvulus mit ausgeprägter Darmnekrose führt, kann eine kritische Situation und im schlimmsten Fall sogar ein Kurzdarmsyndrom die Folge sein (Rescorla 2005).
26.6
Darmduplikaturen
Vorkommen und Häufigkeit Angeborene Duplikationen des Intestinaltraktes kommen mit einer Inzidenz von 1:4500 Geburten sehr selten vor. Sie können aber in jedem Abschnitt, vom Pharynx bis zum Rektum auftreten. Eine Zusammenschau aller berichteten Serien zeigt dabei eine besondere Häufung im Dünndarm, weniger ausgeprägt im Ösophagus und im Kolon (. Tab. 26.1). Hierbei haben ca. 8% der betroffenen Patienten Duplikaturen an mehr als einem der genannten Abschnitte des
. Tab. 26.1. Lokalisation und Häufigkeiten von Darmduplikaturen (Shew u. Holcomb 2005) Lokalisation Mund-Rachen-Raum Ösophagus
Therapie. Die Therapie erfolgt mit einer kompletten Exzision
über einen semizirkulären Schnitt am Nabelunterrand. An der Basis wird entweder die Eintrittsstelle in den Dünndarm übernäht oder ein hier noch liegendes MD wie beschrieben mitentfernt. Persistierende fibröse Stränge mit Fixierung der Dünndarmschlinge am Nabel machen oft erst spät während der Kindheit Symptome. Hier kann es insbesondere zu obstruktiven Symptomen bis zu einem Strangileus oder einem Volvulus kommen. Entsprechend gestalten sich die gelegentlich auch schwerwiegenden Symptome, und bei der Rönt-
Häufigkeit 1% 17%
Thorakoabdominell
3%
Magen
8%
Duodenum
6%
Dünndarm
44%
Kolon
15%
Rektum
5%
Andere
1%
26
308
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
Intestinaltraktes. Duplikaturen können in jedem Lebensalter entdeckt werden, jedoch werden 75% dieser Fehlbildungen in den ersten zwei Lebensjahren diagnostiziert. Eine genetische Prädisposition für intestinale Duplikaturen ist nicht bekannt. Sie sind aber in 30–50% assoziiert mit Fehlbildungen anderer Organsysteme, wie der Wirbelsäule und dem Rückenmark, dem Urogenitaltrakt sowie mit Malrotationsanomalien (Stringer et al 1995).
Entstehung und Pathologie
26
Nach William Ladd (1937) gehören definitionsgemäß zu Duplikaturen des Intestinaltraktes eine vollausgebildete Muskelschicht, eine Auskleidung mit Epithel des Verdauungstraktes und eine Verbindung zu einem Teil des Intestinaltraktes. Zur Entstehung der intestinalen Duplikaturen wurden in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene Theorien entwickelt. So wurde postuliert, dass Duplikaturen aus persistierenden embryonalen Divertikeln oder durch aberrante embryonale Rekanalisation entstehen könnten. In Anlehnung an Befunde bei siamesischen Zwillingen (7 Kap. 50) wurden Duplikaturen als aberrante Zwillingsfehlbildungen betrachtet, schließlich auch auf lokale Diffenzierungsstörungen, z. B. bei Mangeldurchblutung zurückgeführt. Die Assoziation mit Rückenmarksfehlbildungen führte zur Annahme eines fehlenden Schlusses des ventralen embryonalen Neuralrohres als gemeinsame Ursache (»split notochord syndrome«), wobei die genaue Pathogenese der Duplikaturen hierbei unklar bleibt. Insgesamt hat keine der bisherigen klinischen Beobachtungen und daraus resultierenden Theorien eine schlüssige Erklärung für die Entstehung der intestinalen Duplikaturen geliefert (Shew u. Holcomb 2005). Die Duplikaturen kommen in der überwiegenden Mehrzahl als lokalisierte zystische Doppelungen (. Abb. 26.25) vor, ohne oder selten mit einer luminalen Verbindung zum angrenzenden Abschnitt des Intestinaltraktes, selten auch als langstreckige tubuläre Duplikaturen (. Abb. 26.26). Letztere können auch mehrere Verbindungen haben und in seltenen Fällen sehr lange Abschnitte des Intestinaltraktes betreffen. Die Duplikaturen haben den oben erwähnten Wandaufbau, ihr Schleimhauttyp entspricht dem des angrenzenden intestinalen Abschnittes. Hierbei enthalten sie in ca. 30% der Fälle ektope Schleimhautanteile, wobei diese bei Duplikaturen des Ösophagus in 46%, des Dünndarms in 34%, des Kolons und Rektums in 7% der Fälle auftritt (Shew u. Holcomb 2005). Am häufigsten findet man hier Magenschleimhaut, gefolgt von exokrinem und endokrinem Pankreasgewebe. Der sezernierte Inhalt der Darmduplikaturen entspricht der jeweiligen Schleimhautzusammensetzung. Hieraus entwickeln sich entsprechende Symptome, insbesondere einer Raumforderung, die sich auch sekundär infizieren kann und dann zu einem Abszess wird. Abhängig von der Lage der Duplikatur entfaltet sie als Raumforderung Kompressionsfolgen
. Abb. 26.25. Intraoperativer Situs einer zystischen Duplikatur des Dünndarms
. Abb. 26.26. Schematische Darstellung einer tubulären Duplikatur am distalen Ileum und Kolon. Derartige Duplikaturen können verschieden ausgedehnt sein, gelegentlich distal auch einen Verbindung der Lumina haben
auf umgebende Organe. Bei Vorhandensein von ektoper Magenschleimhaut oder Pankreasgewebe kann es auch zu Ulzera mit Blutung, aber auch zu nekrotisierenden Entzündungen kommen, was beides wiederum einen lebensbedrohlichen Zustand hervorrufen kann. Eine spezielle Beschreibung der Ösophagusduplikaturen findet sich in 7 Kap. 23 und der Magenduplikaturen im 7 Kap. 24.
309 26.6 · Darmduplikaturen
26.6.1
Duodenalduplikaturen
Klinik und Diagnostik. Wie Magenduplikaturen haben auch
Duodenalduplikaturen als Leitsymptome Erbrechen und eine zystische Raumforderung im Oberbauch. Da sie meist mesenterial im mittleren duodenalen C liegen, führen sie darüber hinaus zu einem Stauungsikterus und einer Pankreatitis. Wenn sie ektope Magenschleimhaut enthalten, kann es zu einer Ulzeration, Blutung und Perforation kommen. Differenzialdiagnostisch kommt hier an erster Stelle eine Choledochuszyste, aber auch eine Pankreaskopfpseudozyste, eine Echinokokkuszyste des Pankreas oder ein Teratom in Frage. Für die Bildgebung sind das Ultraschall, eine obere Magen-Darm-Passage mit Röntgenkontrast sowie ein CT oder ein MRT geeignet. Therapie. Die chirurgische Therapie kann durch die un-
günstige Lage sehr schwierig sein. Wenn möglich, sollte man eine lokale Exzision versuchen. Sofern histologisch mit einer Schnellschnittuntersuchung das Vorliegen von ektoper Magenschleimhaut oder Pankreasgewebe weitgehend ausgeschlossen wird, kann die eröffnete Duplikatur auch über eine Roux-Y-Zysto-Jejunostomie abgeleitet werden. Wenn diese beiden Verfahren nicht möglich sind, kann auch eine Resektion des Duodenums mit entsprechender Ableitung des Magens, des Ductus choledochus und des Pankreas über eine oder zwei Jejunumschlingen notwendig werden (Menot et al. 2006).
26.6.2
Dünndarmduplikaturen
Klinik und Diagnostik. Im Dünndarmbereich kommen Duplikaturen mit fast 50% am häufigsten vor. In der Mehrzahl sind sie zystisch, gelegentlich aber auch tubulär. Letztere können wenige Zentimeter, aber auch die gesamte Dünndarmlänge einnehmen, gelegentlich auch auf den Kolonbereich übergreifen. Die Duplikaturen liegen der mesenterialen Wand des Darms an und haben mit dieser eine gemeinsame Blutversorgung. Ektope Magenschleimhaut findet sich in 80% der tubulären, aber nur in 20% der zystischen Duplikaturen. Klinische Symptome entstehen meist in der frühen Kindheit mit Erbrechen, Meläna und einer abdominellen Raumforderung. Die Duplikaturen können auch einen Volvulus oder eine Invagination verursachen oder bei einer Perforation eine Peritonitis nach sich ziehen. Für die Bildgebung kommen die Sonographie, eine fraktionierte Röntgen-Magen-Darm-Passage oder das MRT zur Anwendung. In einer Notfallsituation kann auch ein Kontrastmittel-CT sehr hilfreich sein. Wenn eine Dünndarmduplikatur ektope Magenschleimhaut enthält, kann sie in einer Technetium-Szintigraphie fälschlicherweise als ein Meckel-Divertikel diagnostiziert werden. Weitere Differenzialdiagnosen sind vor allem andere zystische Prozesse wie Mesenterialzysten oder Lymphangiome und zystische Teratome.
Therapie. Die Therapie ist immer chirurgisch. Bei noch be-
stehender Unklarheit der Zuordnung eines pathologischen Prozesses ist hier unter Umständen zunächst eine Laparoskopie indiziert (Steyaert u. Valla 2008). Nach endgültiger Diagnose kann dann entweder im Rahmen dieser oder über ein »Umsteigen« auf ein offenes Vorgehen die Korrektur angeschlossen werden. Eine Enukleation einer zystischen Duplikatur ist wegen der gemeinsamen Blutversorgung mit dem Darm selten möglich. Hier erfolgt in der Regel eine Dünndarmsegmentresektion mit End-zu-End-Anastomose. Kurzstreckige tubuläre Duplikaturen können in gleicher Weise entfernt werden. Schwierig ist dies bei sehr langstreckigen Duplikaturen. Hier ist unbedingt darauf zu achten, dass dem Patienten eine genügende Darmlänge erhalten bleibt. Hierzu kann man die Duplikatur in ihrem Verlauf immer wieder eröffnen und eine Mukosektomie durchführen, um ektopes Gewebe zu entfernen. Auch eine Eröffnung zum benachbarten Dünndarm ist gelegentlich möglich. Ferner wurde eine Anastomosierung einer Dünndarmduplikatur mit ektoper Magenschleimhaut mit dem Magen beschrieben (Shew u. Holcomb 2005).
26.6.3
Kolonduplikaturen
Klinik und Diagnostik. Kolonduplikaturen sind mit 15% deutlich seltener als solche des Dünndarms, können aber mit letzteren und auch mit Rektumduplikaturen kombiniert vorkommen. Die Mehrzahl ist zystisch und liegt im Zökumbereich, tubuläre Duplikaturen kommen jedoch ebenfalls vor. Üblicherweise liegen sie der antimesenterialen Zirkumferenz des Kolons an und enthalten nur selten ektope Magenschleimhaut. Tubuläre Kolonduplikaturen haben häufig eine Verbindung zum Lumen des benachbarten Kolons. Eine komplette Kolonduplikatur kann mit Doppelbildungen anderer Organe, wie der Blase, Uterus, Vagina und Anus assoziiert sein (Yousefzadeh 1983). Klinisch führen Kolonduplikaturen zu Stuhlpassagestörungen, zu schweren Entzündungen, Invaginationen und wirken als Raumforderungen. Bildgebend sind Sonographie und eine Abdomenleeraufnahme oft nicht weiterführend. Mittels Röntgenkolon-KE kann die Darstellung gelingen, hilfreich sind meistens besonders ein MRT oder auch ein CT. Therapie. In der Regel sollte die chirurgische Resektion einer Kolonduplikatur angestrebt werden. Dieses ist bei zystischen Duplikaturen meist kein Problem und gelegentlich auch laparoskopisch möglich (Chang et al. 2008). Schwierig ist dies jedoch vor allem bei langstreckigen Duplikaturen. Da sie selten ektope Magenschleimhaut enthalten, kann eine konservative Therapie mit Stuhlregulierung eine Option sein, solange am distalen Ende eine genügend breite Verbindung zum Kolonlumen besteht. Diese kann auch chirurgisch durch eine Seit-zu-Seit-Anastomose hergestellt werden, wenn eine Resektion nicht in Frage kommt. Die
26
310
Kapitel 26 · Angeborene Fehlbildungen und Obstruktionen des Dünndarms
Entstehung eines Karzinoms in Duplikaturen wurde zwar beschrieben, jedoch waren dies stets solche ohne distale Verbindung zum Kolon (Shew u. Holcomb 2005). Bei einer Einbeziehung des Rektums in die Duplikatur ist dieser Anteil wie in 7 Kap. 30 beschrieben anzugehen.
26.6.4
Rektumduplikaturen
Klinik und Diagnostik. Rektumduplikaturen sind sehr sel-
26
ten (. Tab. 26.1) und liegen fast immer nach dorsal zum Os sacrum hin. Klinisch fallen sie meist als Raumforderungen mit konsekutiven Problemen beim Stuhlgang auf. Über eine Verbindung zum Rektum können sie sich infizieren und abzedieren. Differenzialdiagnostisch sind andere präsakrale Raumforderungen wie Teratome (7 Kap. 46) oder eine ventrale Meningocele (auch bei der Currarino-Trias, 7 Kap. 30) zu bedenken. Zur Diagnostik gehören neben einem Röntgen-Kolonkontrasteinlauf auch die Endoskopie und bei Bedarf ein MRT. Therapie. Quasi immer ist die chirurgische Korrektur indi-
ziert. Diese kann je nach Bedarf und Möglichkeit eine komplette Exstirpation, eine Exzision des Septums zum Rektum oder auch eine transanale Marsupialisation beinhalten. In manchen Fällen ist hierfür auch die Anlage eines protektiven Kolostomas notwendig (Shew u. Holcomb 2005).
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26
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27
27 Nekrotisierende Enterokolitis M. Höllwarth 27.1
Inzidenz und Epidemiologie – 313
27.7
Konservative Therapie
27.2
Die natürliche Barrierefunktion des Darms – 314
27.8
Operative Therapie
27.9
Komplikationen
27.3
Pathogenese – 315 27.10
Möglichkeiten der Prävention
27.4
Pathologie und Histologie – 316 27.11
Prognose – 322
27.5
Klinik und Diagnostik
27.6
Einteilung – 319
– 320
– 320
– 321 – 322
– 317 Literatur – 322
> Die nekrotisierende Enterokolitis (NEC) wurde erstmals 1952 in einer Publikation aus Graz durch den Pädiater Quaiser und den Pathologen Schmid unter dem Titel »Enteritis ulcerosa necroticans« beschrieben. Es handelt sich um die häufigste, lebensbedrohliche, entzündliche Darmerkrankung bei Frühgeburten. Pathologische Bakterienbesiedelung des Darms, ischämische Darmwandschädigungen, hyperosmolare Nahrung und eine generelle Unreife der Darmschleimhautbarriere mit Translokation von intestinalen Keimen werden als Ursachen diskutiert. Die Nekrose betrifft überwiegend den unteren Dünndarm und oberen Kolonbereich. Die typischen klinischen Zeichen sind eine plötzliche Verschlechterung des Allgemeinzustandes mit aufgetriebenem und schmerzhaftem Abdomen, zunehmendem Erbrechen, blutigem Stuhlabgang und Sepsis. Radiologisch zeigen sich weite Dünndarmschlingen, intestinale Pneumatose als Zeichen der Bakterientranslokation und schließlich freie Luft im Abdomen bei Perforation. Je nach Schwere der Erkrankung werden verschiedene Stadien unterschieden. Die Behandlung besteht im Absetzten der enteralen und Beginn der parenteralen Ernährung, Antibiotikatherapie und bei zunehmendem abdominellen Befund trotz konservativer Therapie in der chirurgischen Resektion betroffener Darmabschnitte. Die Überlebensraten haben sich in den letzten 20 Jahren deutlich verbessert; die Mortalität liegt heute auch bei schweren Fällen bei 15–30%, bei extremer Frühgeburtlichkeit bei 50%. Ein entscheidender Fortschritt gelang durch konsequente prophylak-
tische Therapie, wodurch die Inzidenz der NEC selbst bei Frühgeburten <1500g auf weniger als 1% gesenkt werden konnte.
27.1
Inzidenz und Epidemiologie
Die Inzidenz der nekrotisierende Enterokolitis (NEC) hat mit den Fortschritten der Neonatologie in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen. Die Häufigkeit wird in den USA auf 1–3 Fälle auf 1000 Neugeborene geschätzt und auf 1– 7,7% aller Zuweisungen auf Intensivstationen für Neugeborene (Kosloske 1995). In 90% der Fälle sind Frühgeborene zwischen der 30. bis 32 Gestationswoche betroffen (Network TCN 2004). Die Inzidenz ist in den verschiedenen Ländern und neonatologischen Zentren sehr unterschiedlich und liegt im Schnitt zwischen 5% und 9% der Frühgeborenen <1500 g (»very low birth weight infants«; VLBWI; 7 Kap. 1). In Österreich liegt die Häufigkeit bei VLBWI unter prophylaktischer Frühtherapie innerhalb der ersten 24 h bei 0,7%, ohne dieselbe bei 4,5% (Schmolzer et al. 2006). Ähnlich niedrige Zahlen werden auch von Lin mit 1,1% und 0,6% berichtet (Lin et al. 2005). In 10% der Fälle wird die Erkrankung aber auch bei reifen Neugeborenen beobachtet, wobei Risikofaktoren wie peripartale Ischämie, Polyzythämie und zyanotische Herzfehler oder offener Ductus Botalli und andere Faktoren eine begünstigende Rolle spielen können. Es handelt sich um eine Erkrankung der »überlebenden Frühgeborenen/Neugeborenen«, da nicht selten Reanima-
314
27
Kapitel 27 · Nekrotisierende Enterokolitis
tionsmaßnahmen wegen perinataler Asphyxie erforderlich waren oder postpartal eine sehr instabiler kardiovaskulärer Zustand intensiv behandelt werden musste. Die NEC manifestiert sich klinisch nahezu immer erst nach Beginn der enteralen Ernährung zwischen dem 2. und 15. Lebenstag (Kliegman 2006). Gelegentlich kann der Beginn der Erkrankung aber wesentlich später, d. h. erst 3–6 Wochen nach der Geburt einsetzen, insbesondere bei Frühgeburten unter 1000 g Geburtsgewicht, wobei wir glauben, dass lange Schlafapnoephasen mit Hypoxie ursächlich eine Rolle spielen. Bei Ernährung mit Muttermilch ist die Inzidenz der NEC signifikant niedriger als mit Formulamilch (Lucas u. Cole 1990), da zahlreiche protektive Faktoren, wie z. B. IgA, mit der Muttermilch dem Darm zugeführt werden. Zusätzlich spielt auch die Zusammensetzung der Nahrung eine Rolle. Nahrungen mit hoher Osmolarität führen offenbar durch die Verschiebung von intravasaler Flüssigkeit in den Darm bei Frühgeborenen zu einer temporären Mangeldurchblutung der Mukosa und so zu einer höheren NEC-Inzidenz. Verschiedene Medikamente wie Xanthinderivate, hohe Dosen von oralem Vitamin E, Indomethacin und Kokainabusus der Mutter wurden mit einer höheren NEC-Inzidenz in Verbindung gebracht, wenngleich die Ergebnisse nicht eindeutig sind und in der Literatur dazu sehr unterschiedliche Aussagen zu finden sind (Kim u. Alabanese 2006).
führt zur Stase des Darminhaltes, zur Erweiterung des Darmlumens und zur Überwucherung mit intestinalen Bakterien. Dadurch wird die Expositionszeit der Schleimhaut gegenüber Antigenen verlängert und der Abtransport von Antigen-Antikörper-Komplexen, die sich in der Schleimschicht gebildet haben, verzögert. Eine massive Ausweitung und Dilatation führt insbesondere beim Darm der Frühgeborenen zur Reduktion des Blutflusses mit Hypoxie der Mukosa.
Intestinale Schleimschicht Die von den Gobletzellen gebildete Schleimschicht des Darms ist ein komplexes Gel, bestehend aus Muzin, hochmolekularen Glykoproteinen, Immunoglobulinen, Phospholipiden und Albumin, das die Oberfläche der Enterozyten bedeckt und so das Eindringen und die Translokation von Bakterien verhindert. Bei Neugeborenen sind die Gobletzellen noch unreif, die Zusammensetzung der Schleimschicht ist gegenüber älteren Säuglingen verändert. Insbesondere ist der Anteil an Phospholipiden deutlich höher. Dadurch wird das Gleichgewicht zwischen den Bestandteilen der Schleimschicht verändert, wodurch ihre Durchlässigkeit für Bakterien und die Inzidenz der Translokation signifikant höher ausfällt (Usui et al. 1999).
Humorale Faktoren 27.2
Die natürliche Barrierefunktion des Darms
Die NEC ist primär eine Erkrankung der intestinalen Mukosa. Im Normalfall dient die Darmschleimhaut der Digestion und Absorption der enteralen Nährstoffe und ist auch die wesentliche Eintrittsbarriere gegenüber pathogenen Bakterien und Toxinen. Die Enterozyten fungieren als Signalzellen, die das komplexe Abwehrsystem des Darms aktivieren, das pathogene Keime erkennt und eine entsprechende Reaktion einleitet. Eine Störung dieser sensiblen Struktur kommt primär durch systemische oder mesenteriale Mangeldurchblutung mit Hypoxie der Schleimhaut oder durch bakterielle oder virale Infekte zustande und führt zur Durchwanderung von Bakterien und pathogenen Toxinen mit den entsprechenden lokalen und systemischen Folgen. Für die intakte Barrierefunktion der Mukosa des Darms sind zunächst verschiedene Faktoren wesentlich, die im Folgenden zusammengefasst werden (7 Kap. 2).
Peristaltik Bei Frühgeburten sind die Magenentleerungszeit und die intestinale Peristaltik bis zur 34. bis 35. Gestationswoche noch unreif. Die Ursache liegt vor allem in einer Reifungsverzögerung der Funktion der intestinalen Zellen von Cajal (ICC), die für die autonome rhythmische Aktivität des Darms verantwortlich sind und als Schrittmacher fungieren (Yoo et al. 2002). Der langsame intestinale Transport
Zahlreiche humorale Faktoren werden in das Darmlumen sezerniert und üben bereits eine unspezifische protektive Funktion aus, solange noch keine spezifischen Antikörper vorliegen. Zu diesen Faktoren gehören Laktoferrin, Lysozyme, Trefoil-Eiweißkörper, Defensin, Kryptin und andere. Das bedeutendste Immunoglobulin ist das sekretorische IgA, das in das Darmlumen abgegeben wird und Antigene und Bakterien bindet. Bei Früh- und Neugeborenen entwickelt sich die Synthese von sekretorischem IgA jedoch erst im Laufe einiger Wochen, weshalb die Bildung von Antigen-Antikörper-Komplexen reduziert ist. Muttermilch ist reich an verschiedenen humoralen Faktoren sowie an IgA und hat auch dadurch einen wichtigen protektiven Effekt.
Darmepithel Schließlich formen die einschichtigen Enterozyten selbst mit ihren Mikrovilli eine Barriere die durch ihre negativ geladene Oberfläche das passive Eindringen von Molekülen verhindert. An der Oberfläche werden die Zellen durch »tight junctions« (Zona occludens) und unter denselben durch Aktinfilamente (»Zona adherens«) miteinander verbunden, die das mechanische Eindringen von Makromolekülen >25 nm verhindern. Verschiedene Insulte, wie z. B. auch eine starke Dilatation des Darms, öffnen die Schleuse der »tight junctions« und pathogene Makromoleküle können in die Darmwand eindringen. Von zusätzlicher Bedeutung ist, dass die Regeneration des intestinalen Epithels bei Neu- und Frühgeborenen deutlich langsamer abläuft als bei älteren Kindern und Erwachsenen, so dass die Zeitspanne,
315 27.3 · Pathogenese
um oberflächliche Defekte in der Enterozytenlage wieder zu schließen, signifikant länger ist (Cetin et al. 2004). Neben den schleimproduzierenden Gobletzellen finden sich zwischen den Enterozyten noch intraepitheliale Lymphozyten (T-Zellen), die in den Krypten entstehen und gegen die Villusspitze hinaufwandern. Im ausgereiften Darm werden von diesen Zellen eine Reihe von Zytokinen wie IL1, IL6, IL8, TNF-α sezerniert, um auch auf diese Weise ein Eindringen von Bakterien und Toxinen zu verhindern. Im Darm von Frühgeborenen ist Funktion dieser Zellen erst in Entwicklung (Neu et al. 2005).
Intestinales Ökosystem Die Besiedelung mit Bakterien erfolgt beim Neugeborenen in Phasen. In der ersten Phase, die etwa 2 Wochen dauert, finden sich zunächst Gram-positive Anaerobier wie Bifidobakterien bei gestillten und Laktobazillen bei Formulamilch-ernährten Kindern. Die zweite Phase währt bis zur endgültigen Ernährung mit fester Kost, wobei die Zahl der Anaerobier gegenüber Aerobiern um eine Potenz höher liegt. Diese natürlich vorkommenden Anaerobier bilden zusammen mit anderen kommensalen Darmkeimen eine Art protektiver Schicht auf der Schleimoberfläche, die das Eindringen von pathogenen Keimen mechanisch hemmt. Darüber hinaus zeigen neuere Studien, dass die normale intestinale Keimbesiedelung nicht nur für viele digestive und fermentative Verdauungsleistungen wesentlich ist, sondern auch für die Entwicklung des immunologischen Systems der Enterozyten, insbesondere der Toll-like-Rezeptoren (TLR) unerlässlich ist. Die TLR befinden sich an der Oberfläche der Enterozyten und können durch ihre Prägung pathogene von nichtpathogenen Bakterien oder Toxinen unterschieden, wodurch im Bedarfsfall das Immunsystem des Darms rasch und selektiv aktiviert werden kann (Rakoff-Nahoum et al. 2004; Bourlioux et al. 2003). Naturgemäß verhindert jede
. Abb. 27.1. Bei der Pathogenese der NEC spielen multifaktorielle Einflüsse zusammen
Störung der Entwicklung oder Funktion von TLR diese sehr spezifische Reaktion der intestinalen Immunabwehr, allerdings ist nicht bewiesen, ob die Funktion der TLR bei Frühgeborenen noch unvollständig und nicht ausgereift ist.
27.3
Pathogenese
> Die Pathogenese der NEC ist ein multifaktorielles Geschehen, wobei neben der Besiedelung mit pathogenen Keimen, Hypoxie der Mukosa und inadäquater Ernährung auch die Unreife des komplexen Abwehrsystems des Darms eine zentrale Rolle spielt. Die Entwicklung der physiologischen Symbiose der intestinalen Bakterien mit den Enterozyten und ihre Störung ist noch wenig untersucht und stellt ein weites Feld für spannende Forschungen dar.
Jede Störung der komplexen Barrierefunktion des Darms kann zu einer unkontrollierten Translokation von Bakterien und Toxinen führen, das heißt zunächst zum Eindringen der Keime in die Darmwand, weiter in das Pfortaderblut und schließlich in die systemische Zirkulation (Hackam et al. 2005). Sobald Bakterien oder Endotoxin (Lipopolysaccharid/LPS) in die Darmwand übertreten, werden Makrophagen aktiviert und eine Kaskade von Zytokinen wird freigesetzt (TNF, IL1, IL8, NO etc.) und ein massiver Entzündungsprozess beginnt abzulaufen. Durch diese und andere Faktoren wird die Wiederherstellung von Defekten in der Epithelschicht der Enterozyten verlangsamt, wobei vor allem NO eine Schlüsselrolle zuzukommen scheint (Ford et al. 1997). Das resultierende klinische Bild der NEC ist dann das Resultat einer multifaktoriellen Schädigung des unreifen Intestinaltraktes, wobei es neben der typischen Darmpathologie auch zur systemisch-septischen Erkrankung kommt (. Abb. 27.1).
27
316
Kapitel 27 · Nekrotisierende Enterokolitis
Für die dargestellten zellulären Prozesse sind eine Reihe pathogenetischer Faktoren bekannt, die als Auslöser oft zusammenwirken, zu einer Schädigung der Intaktheit der Mukosa führen und damit für die Entstehung der NEC von zentraler Bedeutung sind.
Ischämie und Hypoxie des Darms
27
Die postnatale intestinale Durchblutung wird neben den intraluminalen Nährstoffen auch von lokalen Hormonen und autonomen Regulationsmechanismen gesteuert. Störungen des Blutzuflusses über die Mesenterialarterie zur Mukosa können durch pulmonale Insuffizienz mit Hypoxie, perinatalen Schock, Austauschtransfusionen, zyanotische Herzfehler und persistierender Ductus arteriosus Botalli sowie andere systemische Erkrankungen verursacht werden. Lokale Mangeldurchblutungen werden durch hyperosmolare Nahrung, Polyzythämie, massive Darmwanddehnung oder bakterielle und virale Infektionen ausgelöst. Nach längerer Ischämie und nachfolgender Reperfusion kommt es zum Zellschaden durch das massive Entstehen von intrazellulären Sauerstoffradikalen. Diese können dann nicht mehr durch die Enzymkaskaden von Superoxiddismutase, Glutathion und Katalase abgepuffert werden; ausgedehnte Nekrosen von Enterozyten sind die Folge. Dieser Prozess scheint in der Pathogenese der NEC zusammen mit anderen Faktoren eine wichtige Rolle zu spielen (Chan et al. 2002). Niedriger enddiastolische Blutfluss in der Arteria mesenterica superior am ersten Lebenstag von Frühgeburten geht mit einer signifikant höheren Inzidenz von NEC einher (Murdoch et al. 2006). Bei Neugeborenen, bei denen bereits intrauterin im Doppler-Ultraschall ein rückwärtsgerichteter diastolische Flow in der Darmarterie vorlag, wurde postnatal ein signifikant erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer manifesten NEC nachgewiesen (Malcolm et al.1999). Auch reife Neugeborne mit Herzfehler und rückwärtsgerichtetem enddiastolischen Flow in der Mesenterialarterie haben ein signifikant höheres Risiko eine NEC zu entwickeln (Carlo et al. 2007).
Intestinale Infektion Es ist gesichert, dass die Pathogenese der NEC immer mit einer bakteriellen Besiedelung des Darms einhergeht, wenngleich diese Keime nicht notwendigerweise die Ursache der Erkrankung sein müssen. In zahlreichen Publikationen wurden bei gehäuftem clusterartigem Auftreten von NEC verschieden pathogene Stämme (Clostridien, Klebsiellen, E. coli u. a.) als Auslöser eindeutig identifiziert. Auch virale Infekte (Enteroviren, Rotaviren) wurden als Ursache einer NEC-Epidemie ausgemacht. Der Mechanismus der Erkrankung geht mit einer Störung des oben dargestellten Abwehrsystems des Darms einher. Da dieses bei Frühgeborenen an sich nicht voll entwickelt ist, liegt die Triggerschwelle für die Entstehung der NEC durch Überwucherung mit pathogenen Keimen niedriger als bei reifen Neugeborenen.
Enterale Ernährung Eine manifeste NEC kommt bei nicht enteral ernährten Frühgeborenen selten vor. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten mit NEC wird bereits oral ernährt, wenn die Erkrankung klinisch deutlich wird. Daher wurde die enterale Nahrungszufuhr als ein weiterer bedeutender Faktor in der Pathogenese der NEC ausgemacht. Verschiedene Aspekte wie die Menge der Nahrung, die Osmolarität, die Zeitabstände zwischen den Fütterungen und die Zusammensetzung der Milch wurden untersucht und als Risikofaktoren für die Entstehung einer NEC erkannt. Dies gilt in erster Linie für Formulamilch, wogegen kein Zweifel besteht, dass die Inzidenz der NEC bei Ernährung mit Muttermilch signifikant niedriger ist als bei Ernährung mit Formulamilch, auch wenn die Nahrungsmenge reduziert wird (Steinwender et al. 1996). Durch die zahlreichen protektiven Bestandteile in der Muttermilch und ihren hohen Anteil an sekretorischem IgA werden dem Darm des neugeborenen Kindes in reichem Maße jene Faktoren zugeführt, über die es auf Grund der bestehenden Unreife seines eigenen immunologischen Systems noch nicht verfügt.
27.4
Pathologie und Histologie
Die pathologischen Veränderungen bei NEC am Darm können in einer umschriebenen Region auftreten oder über weite Abschnitte entweder kontinuierlich aber auch diskontinuierlich-segmental bestehen. Am häufigsten sind das terminale Ileum und aszendierende Kolon betroffen, was möglicherweise mit der relativ langen Strecke der Gefäßversorgung über die Arteria ileocoecalis zusammenhängt. Ileum, Appendix und Kolon zusammen sind in über 40% der Fälle erkrankt (. Abb. 27.2). In seltenen Fällen ist nur die Appendix betroffen und perforiert und das ernährende Gefäß im Mesenteriolum ist thrombosiert. Der Ausdruck einer perforierten Appendizitis des Neugeborenen erscheint uns nicht korrekt, vielmehr meinen wir, dass man von einer lokalisierten NEC sprechen sollte, zumal der klinische Verlauf durchaus im Einklang damit steht. Eine totale Nekrose des gesamten Darms kommt in der Regel nur bei Frühgeborenen vor, bei Reifgeborenen müsste man in diesen Fällen differenzialdiagnostisch die späte Manifestation eines Volvulus ausschließen. Makroskopisch sind die betroffenen Darmbereiche dilatiert und fleckig blau-rötlich verfärbt. Typisch für die fortgeschrittener Nekrose ist eine gelblich-graue bis schwarze matte Farbe mit fibrinösen Belägen. In der Darmserosa und im Mesenterium finden sich kleinste Gasbläschen als Zeichen der intestinalen Pneumatose. Die zu den betroffenen Darmabschnitten führenden Gefäße sind oft infolge der massiven lokalen Entzündung und intravaskulären Gerinnung thrombosiert. Am eröffneten Darm ist die Mukosa graurötlich verfärbt und nicht blutend. Zahlreiche ausgedehnte Ulzerationen sind schon makroskopisch sichtbar (. Abb. 27.3).
317 27.5 · Klinik und Diagnostik
. Abb. 27.2. Lokalisation der Ausdehnung der NEC ist im Ileozökalbereich am ausgeprägtesten. Je ausgedehnter der intestinale Befall ist, desto höher ist die Mortalität, insbesondere wenn obere Dünndarmbereiche mitbetroffen sind
. Abb. 27.3. Ausgedehnte ulzeröse Entzündung des Kolons bei nekrotisierender Enterokolitis
Die histologische Untersuchungen zeigen zum Teil Areale mit dichtgepackten Entzündungszellen, andere Regionen mit Verlust der Villi und Krypten sowie Nekrosen der Mukosa oder der ganzen Darmwand und Gaseinschlüsse bei Pneumatosis (. Abb. 27.4). Bei erfolgreicher Behandlung der NEC kann es innerhalb von 4–6 Wochen in Darmregionen mit weitgehend zirkulären Schleimhautnekrosen zur Entwicklung von narbigen Stenosen kommen.
27.5
Klinik und Diagnostik
Frühzeichen. Die Frühzeichen der NEC treten oft plötzlich
auf, sie sind uncharakteristisch und können jeder Form einer systemischen Infektion ähnlich sein. Gerade bei Frühgeborenen sollte bei neu auftretender Trinkschwäche, Lethargie, Bradykardie ohne erkennbare Ursache, vermehrte Restnahrung vor den Fütterungen, Erbrechen oder Temperaturabfall immer auch an die Möglichkeit einer NEC im Anfangsstadium gedacht werden. Symptome bei Fortschreiten der Erkrankung. Zunehmend treten Zeichen des septischen Schocks in den Vordergrund mit systemischer Instabilität, verminderter peripherer
. Abb. 27.4. Weite entzündliche Areale mit Schleimhautnekrosen und Defekten sowie Gaseinschlüsse als Ausdruck einer Pneumatosis intestinalis
Durchblutung und erhöhtem Sauerstoffbedarf. Der anfangs nur leicht vergrößerte Bauchumfang nimmt zu, das Abdomen wird bei Palpation schmerzhaft. Später kommt es zu einer lokal geröteten und ödematösen Bauchwand als Zeichen der zunehmenden Darmnekrose mit Peritonitis und beginnender Perforation. Blutiger Stuhlabgang ist ein Spätzeichen der NEC (. Tab. 27.1).
27
318
Kapitel 27 · Nekrotisierende Enterokolitis
. Tab. 27.1. Symptome und Befunde bei der nekrotisierenden Enterokolitis
27
Symptome
Befunde
Offensichtliche Unlust bei der Fütterung Lethargie Restnahrung im Magen vor einer Fütterung Gallige Restnahrung, Erbrechen Aufgetriebenes Abdomen Blutdruckabfall, Schockzeichen Bradykardie, Apnoephasen Niedrige oder instabile Körpertemperatur Blasse und kalte Extremitäten Periumbilikale Rötung Lokalisierte Rötung, palpable Resistenz Blutiger Stuhlabgang
Niedrige Sauerstoffsättigung Leukopenie <1500, selten Leukozytose Thrombozytopenie <150.000 Pathologische Gerinnungswerte Metabolische oder gemischte Azidose Erhöhtes CRP Bei manifester Sepsis hoher IL8-Spiegel Dilatierte und fixierte Darmschlingen Pneumatose oder freie Luft bei Perforation Gas im Gebiet der intrahepatischen Pfortader Im Ultraschall Gasreflexe in der Pfortader
Labordiagnostik. Die Laboruntersuchung zeigt je nach Stadium der Erkrankung positive Entzündungsparameter als unspezifische Zeichen der Infektion und/oder Sepsiszeichen, Gerinnungsstörungen bis hin zur disseminierten intravasalen Gerinnung. CRP kann erhöht sein, bei plötzlichem Eintreten der Erkrankung hinkt der Befund jedoch nach. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass IL8 ein sehr früher Indikator für eine septische Infektion darstellt, wogegen Prokalzitonin bei Neu- und Frühgeborenen nicht immer aussagekräftig erscheint. Die Granulozyten sind in dieser Altersgruppe auf Grund der septischen Markhemmung typischerweise erniedrigt, die IT-Ratio (unreife Neutrophile durch Gesamtzahl der Neutrophilen), ein in diesem Alter sensibler Parameter, steigt über 0,4 in den pathologischen Bereich an. Ebenso kommt es zur Thrombozytopenie. Die Gerinnung wird bei fortgeschrittener Sepsis (7 Kap. 1.7.3) pathologisch, bis hin zur disseminierten intravasalen Gerinnung. Die Blutgasanalyse zeigt die typischen Befunde der metabolischen Azidose, bei unbehandelten nicht beatmeten Kindern besteht oft eine gemischte metabolische/respiratorische Azidose. Die Messung von Wasserstoffgas in der Atemluft ist infolge der bakteriellen Fermentation von Laktose und anderen Kohlehydraten deutlich erhöht. Ein negativer Test schließt eine manifeste NEC aus. Die Untersuchung ist jedoch gerade bei diesen zum Teil schwer kranken Frühgeborenen schwierig und hat deshalb keine Verbreitung gefunden. Mikrobiologische Diagnostik. Bakteriologische Kulturen von Blut sind in 30% der Fälle positiv. Die bakteriologischen Untersuchung von Stuhl, oder Peritonealflüssigkeit und des Darms ergeben ein weites Spektrum von Keimen wie E. coli, Klebsiella, Proteus, Staph. aureus oder Staph. epidermidis, Clostridien oder Pseudomonaden. Dagegen sind Pilzinfektionen als primäre Auslöser der NEC sehr selten, sie kommen aber im Rahmen der langfristigen antibiotischen Behandlung später oft dazu. Bildgebende Diagnostik. Radiologisch wird eine Abdomenübersichtsaufnahme im Liegen gefordert. Diese sollte
zunächst alle 6 h wiederholt werden, um eine Besserung oder ein Fortschreiten des radiologischen Befundes zu erkennen. Uncharakteristische Zeichen sind einzelne dilatierte Darmschlingen, weite Abstände zwischen den Darmschlingen durch Darmwandödem und bei mehrfachen Aufnahmen unveränderte, sog. »fixierte« Darmschlingen. Zusätzlich ist ein Röntgenbild in Rechtsseitenlage mit horizontalem Strahlengang erforderlich, um freie Luft über der Leber zu identifizieren. Bei Aufnahmen im Hängen kann auf die seitliche Aufnahme verzichtet werden, es muss aber darauf geachtet werden, dass immer das gesamte Abdomen inklusive beider Zwerchfellkuppeln abgebildet ist. Allerdings kann diese Technik für das Frühgeborene zu sehr belastend sein. ! Cave Bei Verdacht auf NEC sind wegen der Gefahr der Perforation Kontrastmitteluntersuchungen des Darms, insbesondere des Dickdarms kontraindiziert und nach unserer Erfahrung auch nicht erforderlich.
Beweisend für die NEC ist der Nachweis einer Pneumatosis intestinalis an Hand der typischen Lufteinschlüsse in die Darmwand (. Abb. 27.5). Untersuchungen des Gases haben gezeigt, dass es sich bei um Wasserstoffgas handelt, das bei Milchernährung durch Darmbakterien (Laktobazillen, E. coli) freigesetzt wird. In schweren Fällen findet sich im Röntgenleerbild der Nachweis von Gas im Leberbett der Pfortader. Die Ultraschalluntersuchuung des Abdomens zeigt Aszites, in der Pfortader können oft auffällige in die Leber strömende Reflexe gesehen werden, die ebenfalls als Hinweis für Gas in Strömungsgebiet der Pfortader gelten. Zur Differenzialdiagnose einer Malrotation mit Volvulus kann der Ultraschall durch den Verlauf der Mesenterialarterie und -vene diesen nachweisen bzw. ausschließen. Auch die Sonographie kann sehr belastend für die Patienten sein. Magnetresonanzuntersuchungen sind wohl nur ausnahmsweise bei Unklarheit der genannten bildgebenden Verfahren indiziert.
319 27.6 · Einteilung
Blut ist negativ. Die Irrigoskopie zeigt ein Mikrokolon. Darmspülungen sind in der Regel nicht sehr erfolgreich, die orale Gabe von verdünnten hygroskopischen Kontrastmitteln kann aber in der Mehrzahl der Fälle die enterale Passage in Gang bringen. Ist die konservative Therapie nicht erfolgreich, so kommt es im Alter von 1–3 Wochen zur Perforation, die makroskopisch nicht dem Bild einer NEC entspricht, sondern einen lokalisierten rundlichen Darmwanddefekt im Ileum darstellt. Es finden sich weder die typischen Wandblutungen noch eine Pneumatose. Lokale muskuläre Defekte wurden beschrieben, wir konnten bei unseren Patienten solche histologischen Veränderungen aber nicht nachweisen. Der Darmabschnitt oral von der Perforationsstelle ist massiv ausgeweitet, distal davon findet sich ein »Non-used«-Kolon. Das makroskopische Bild ist sehr ähnlich wie beim Mekoniumileus infolge zystischer Fibrose (CF), das Mekonium ist aber vergleichsweise nicht so zäh. Die Ursache dieser Erkrankung liegt nicht so sehr in der besonderen Qualität des Mekoniums – im Gegensatz zur CF –, sondern steht sicherlich mit der noch unreifen peristaltischen Funktion des Darms in Zusammenhang.
. Abb. 27.5. Typischer Röntgenbefund bei der fortgeschrittenen NEC mit Gaseinschlüssen in die Darmwand und bereits freier Luft infolge Perforation
Differenzialdiagnose Wegen des oft unspezifischen Beginns der Erkrankung sind verschieden Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen. Im Prinzip kann jede septische Erkrankung anderer Ursache im Neugeborenenalter ähnlich uncharakteristische abdominelle und allgemeine Symptome bewirken. Aber auch mechanische Darmerkrankungen wie Ileus (7 Kap. 27), Morbus Hirschsprung (7 Kap. 29), Mekoniumileus bei CF (7 Kap. 27), Volvulus oder Invagination (allerdings in diesem Lebensalter die Ausnahme; 7 Kap. 32) können ähnlich beginnen. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Differenzialdiagnose zur lokalisierten intestinalen Perforation, die in den letzten Jahren mit dem Fortschritt der Neonatologie und steigenden Zahlen von Frühgeburten ab der 26. Gestationswoche signifikant häufiger geworden ist (Boston 2006). Ob hier die prä- bzw. postpartale Therapie zur Behandlung der Lungenunreife mit Dexamethason oder Indomethacin eine ursächliche Rolle spielt, ist noch unklar. Klinisch kommt es diesen Frühgeburten, ähnlich wie bei der NEC, zum aufgetriebenen Abdomen, häufig verbunden mit geringem oder fehlendem Stuhlabgang. Stuhl auf
> Im Zusammenhang mit der Darmperforation bei Frühgeborenen liegen trotz ähnlicher Ausgangslage und multifaktorieller Ursache offensichtlich zwei sehr verschiedene Krankheitsbilder vor. Die eine Gruppe entwickelt eine NEC als Ausdruck einer primären Schädigung der Mukosa und ihrer Barrierefunktion mit den entsprechenden systemisch/septischen Folgen. Die andere Gruppe leidet überwiegend an den Folgen einer Peristaltikschwäche des Darms, entwickelt jedoch keinen gleichartigen Mukosaschaden, sondern unter Umständen nur eine lokalisierte, wohl durch den Druck des Darminhaltes entstandene Perforation. Dennoch bestehen zwischen beiden Krankheitsbildern wesentliche Überschneidungen in der Pathogenese (Boston 2006).
27.6
Einteilung
Zur Erleichterung der Behandlungsstrategien und Entscheidungen wurde von Bell eine nach ihm benannte Einteilung vorgeschlagen (Bell et al. 1978; . Tab. 27.2). Diese Klassifikation erlaubt es auch, Patienten verschiedener Institutionen miteinander zu vergleichen. In den folgenden Jahren wurden Modifikationen der BellKlassifikation publiziert, die jedoch zu keiner wesentlich besseren Differenzierung beitrugen (Kliegman 2006). Es ist immer zu berücksichtigen, dass die Symptomatik, insbesondere bei Frühgeburtlichkeit <1500 g, subtiler und auch rascher abläuft und daher eine NEC oft erst in einem schon fortgeschrittenen Stadium bemerkt wird.
27
320
Kapitel 27 · Nekrotisierende Enterokolitis
. Tab. 27.2. Bell-Klassifikation der nekrotisierenden Enterokolitis Stadium Bell I
Verdacht auf NEC
Anamnese von perinatalem Stress mit Hypoxie; unspezifische systemische Infektzeichen wie Lethargie, Apnoen, Temperaturinstabilität und Bradykardie; unspezifische gastrointestinale Symptome wie Restnahrung, Erbrechen, zunehmender Bauchumfang, okkultes Blut im Stuhl; im Röntgen nur etwas dilatierte Darmschlingen
Bell II
Nachgewiesene NEC
Anamnestisch und klinisch wie Bell I, aufgetriebenes Abdomen, eventuell umschriebene Rötung der Bauchwand, palpable Resistenz und makroskopischer blutiger Stuhlabgang; beginnende metabolische Azidose; Radiologisch dilatierte und fixierte Darmschlingen, Pneumatosis intestinalis, Gas in der Pfortader
Bell III
Fortgeschrittene NEC
Anamnestisch und klinisch wie Bell II: zunehmende Verschlechterung der Vitalzeichen, septischer Schock mit metabolischer und respiratorischer Azidose; im Röntgen nun Pneumoperitoneum als Zeichen der freien Perforation
27.7
27
Symptomatik
Konservative Therapie
Die konservative Therapie ist immer indiziert, wenn noch keine Perforation des Darms vorliegt. Allerdings weist ein palpables abdominelles Infiltrat mit entsprechend lokalisierter Rötung der Bauchwand auf eine gedeckte Perforation hin und sollte bei konstant schlechtem Allgemeinzustand auch eine Indikation zur Operation darstellen. > Die zentralen Maßnahmen der konservativen Therapie bestehen im Beenden jeder oralen oder enteralen Nahrungszufuhr, der antibiotische Breitbandtherapie gegen aerobe und anaerobe Bakterien sowie dem Legen einer Magensonde zum kontinuierlichen Absaugen des meist galligen Inhaltes.
Sobald die ersten bakteriologischen Ergebnisse eintreffen, wird die antibiotische Behandlung bei Bedarf modifiziert. Das Legen einer zentralvenösen Leitung zur ausreichenden parenteralen kalorischen Ernährung, umfassendes Monitoring mit arterieller Blutgasanalyse, bei Bedarf Respiratortherapie und regelmäßige Laborkontrollen gehören zum üblichen intensivmedizinischen Management. In sehr schweren Fällen sollten die Laborwerte sowie die Röntgenuntersuchungen 6- bis 8-stündlich wiederholt werden, um den Verlauf besser beurteilen zu können. Das Ziel der konservativen Therapie ist es, möglichst rasch den Zustand des Kindes zu stabilisieren und eine Normalisierung der Kreislauf- und Laborbefunde zu erreichen. Nahrungsaufbau. Nach entsprechender Normalisierung
der Befunde sollte mit einer langsam gesteigerten oralen Nahrungszufuhr erst nach 7–10 Tagen nach Bell I und nach 14 Tage nach Bell II begonnen werden, sofern der Zustand des Kindes stabil bleibt. Bei Neugeborenen der Bell-IIGruppe kann es in den folgenden Wochen noch zur Entwicklung einer Stenose mit Ileussymptomatik kommen, weshalb der Nahrungsaufbau bei diesen Kindern sehr langsam erfolgen sollte.
27.8
Operative Therapie
> Die operative Therapie ist immer indiziert, wenn eine freie Perforation vorliegt, sowie in der Mehrzahl der Fälle bei gedeckter Perforation und bei fehlender Normalisierung des Gesundheitszustandes trotz maximaler Therapie.
In jedem Fall gelten aber die gleichen therapeutischen Maßnahmen wie bei konservativer Therapie. In früheren Jahren galt auch der Nachweis von Gasbläschen im Lebergebiet der Pfortader als absolute Indikation zur Operation. Wenngleich diese Patienten in der Prognose deutlich schlechter sind, so sollte der Befund infolge der enormen Fortschritte der Intensivmedizin heute nicht mehr als absolute Operationsindikation gesehen werden. Der Anteil akuter operativer Interventionen ist in der Literatur schwer zu beurteilen und dürfte zwischen 30% und 40% liegen, da die Inzidenz der Erkrankung und die Indikationen zur Operation in den verschiedenen Zentren sehr unterschiedlich sind. Insgesamt hat sich die Strategie jedoch deutlich in Richtung konservativer Therapieerfolge verlagert. Dagegen ist die Zahl der Sekundäreingriffe wegen Darmstenosen nach konservativer Behandlung in den letzten Jahren gestiegen (Bütter et al. 2002). Der richtige Zeitpunkt für die Operation ist nicht immer einfach zu treffen. Optimal ist daher eine regelmäßige und gemeinsame Untersuchung des Kindes durch den Neonatologen und den Kinderchirurgen. Präoperativ muss immer der Allgemeinzustand des Kindes so gut wie möglich verbessert werden. In den meisten Fällen ist die Laparotomie die Operationsmethode der Wahl bei NEC. Damit kann der nekrotische und gangränöse Darm exzidiert werden, das Abdomen wird gespült und entlastet. Bei lokalisiertem Befund kann eine primäre Anastomose zwischen makroskopisch gesunden Darmabschnitten angelegt werden. Eine retrospektive Studie bei Frühgeburten mit einem Geburtsgewicht <1000 g hat auch bei primärer Laparotomie sehr gute Ergebnisse gezeigt, unabhängig davon, ob eine primäre Anastomose oder eine temporäre Enterostomie angelegt wurde (Hall et al. 2005). Vor jedem Verschluss eines Enterostoma
321 27.9 · Komplikationen
ist es erforderlich, dass man sich mittels einer Kontrastdarstellung des distalen Darmabschnittes davon überzeugt, dass keine Stenose vorliegt, die allenfalls noch reseziert werden muss. Bei ausgedehntem Befund kann man mit der sog. »Clipand-drop-back«-Technik – einer modifizierten »Secondlook«-Operation – in geeigneten Fällen die Anlage einer hohen Enterostomie verhindern: Dabei wird der nekrotische Darm reseziert und die verbleibenden Darmenden werden proximal und distal mittels Clips verschlossen. Nach 48–72 h wird relaparotomiert, die Clips werden entfernt, nötige Nachresektionen durchgeführt und die gut durchblutete Darmanteile anastomosiert. In einigen Fällen, insbesondere bei extremer Frühgeburtlichkeit, ist der Allgemeinzustand der Patienten trotz intensiver Behandlung so schlecht, dass Anästhesie und Operation ein nicht zumutbares Risiko darstellen. 1977 wurde erstmals über die alleinige peritoneale Drainage in Lokalanästhesie bei Frühgeburten mit sehr schlechtem Allgemeinzustand berichtet, wobei 3 der 5 Kinder überlebten und 2 davon keine weitere Operation benötigten (Ein et al. 1977). Ein weiterer Bericht aus der gleichen Institution 11 Jahre später beurteilte die peritoneale Drainage als eine gute temporäre Methode für Frühgeburten in sehr schlechtem Allgemeinzustand. Die Technik hilft das Abdomen zu entlasten und so Zeit zu gewinnen bis zum sekundären Eingriff, der in über 80% der Fälle erforderlich war (Ahmed et al. 1988). In den folgenden Jahren hat sich eine intensive Diskussion über den Stellenwert der alleinigen peritonealen Drainage gegenüber der primären Laparotomie bei NEC, aber auch bei isolierter Darmperforation, ergeben. Die Beurteilung ist schwierig, da die Zahl der besonderen Risikokinder mit einem Geburtsgewicht <1500 g oder gar <1000 g in den einzelnen Zentren zu klein ist um definitive Aussagen treffen zu können. Daher wurden in den letzten Jahren große prospektive Multicenterstudien durchgeführt. Dabei zeigte sich bei 117 Kindern unter 1500 g und NEC mit Perforation kein Unterschied in der Mortalitätsrate (35%) und in anderen Parametern (Moss et al. 2006). Bei 156 Frühgeburten <1000 g mit NEC oder isolierter intestinaler Perforation lag die Mortalitätsrate um die 50% und zeigte einen Vorteil der Drainagebehandlung gegenüber einer primärer Laparotomie, da erstere in 24% keine weitere Operation benötigte. Allerdings war die Mortalität bei den Frühgeburten mit NEC um den Faktor 1,4 höher als bei isolierter Perforation (Blakely et al. 2006). > Heute stellt die peritoneale Drainage unter Lokalanästhesie eine etablierte Methode dar, um bei schwer kranken Frühgeborenen etwas Zeit zur Erholung durch die Entlastung des Abdomens zu gewinnen, bis eine definitive Laparotomie durchgeführt werden kann.
In seltenen Fällen wird sich der Patient soweit erholen, dass man auch auf einen weiteren Eingriff verzichten kann. Dies ist sicherlich häufiger bei der isolierten intestinalen Perforation möglich als bei einer manifesten NEC.
27.9
Komplikationen
Die folgenreichste Komplikation ist ein ausgedehnter Darmverlust durch Nekrose. Die NEC ist die häufigste Ursache eines Kurzdarmsyndroms (7 Kap. 28), das je nach der Qualität der verbleibenden Darmabschnitte eine Maldigestion und Malabsorption zur Folge hat und eine langfristige parenterale Ernährung erfordern kann. Darmstenosen als Folge zirkulärer Schleimhautnekrosen kommen zwischen 9% und 40% der Fälle vor und werden häufiger nach erfolgreicher konservativer als nach operativer Behandlung beobachtet (Büttner et al. 2002). Aber auch nach Enterostomien können Stenosen auftreten, besonders dann wenn der distale Darmabschnitt zwar erhalten werden konnte, jedoch deutliche Zeichen der Erkrankung zeigte. Daher ist vor Verschluss eines Stoma immer eine Röntgendarstellung des distalen Darmabschnittes erforderlich. Schließlich können auch Anastomosenstenosen auftreten, besonders wenn die verwendeten Darmabschnitte doch noch von der massiven Entzündung betroffen waren. Die oben beschriebene »Clip-and-drop«-Technik ermöglicht in diesem Zusammenhang, die Anastomosen in einer unverdächtigen Region anzulegen. Frühgeburtlichkeit ist in Abhängigkeit vom Gestationsalter durch Verzögerungen und Störungen der neurophysiologischen Entwicklung gekennzeichnet. Bei zusätzlicher Belastung durch eine schwere infektiös-septische Erkrankung wie der NEC ist zu erwarten, dass die Inzidenz entsprechender Ausfälle und Entwicklungsverzögerungen deutlich höher zu liegen kommt. In einer umfassenden Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass 45% der Neugeborenen mit NEC eine Störung der neurologischen Entwicklung aufweisen (Rees et al. 2007). 20 Monate nach überstandener NEC bestanden entsprechende Entwicklungsdefizite 1,6-mal häufiger (Range 1,3–2,0) als beim Vergleich mit Kontrollkindern gleichen Gestationsalters. Die Inzidenzen von Zerebralparese, Visuseinschränkungen, kognitiven und psychomotorischen Defekten waren hochsignifikant häufiger bei den Kindern mit NEC. Insbesondere nach NEC mit Bell-Stadium III und operativen Eingriff war die neurophysiologische Entwicklung hochsignifikant schlechter als bei den Vergleichskindern. Frühgeburten <1500 g mit NEC hatten im Alter von 12 und 20 Monaten zwar die gleiche somatische Entwicklung wie eine entsprechende Vergleichsgruppe, doch 55% wiesen schwere neurophysiologische Behinderungen auf gegenüber 22,5% der Kontrollgruppe (Sonntag et al. 2000).
27
322
Kapitel 27 · Nekrotisierende Enterokolitis
27.10
27
Möglichkeiten der Prävention
Die NEC ist eine typische Erkrankung der Frühgeborenen, vor allem nach perinatalem hypoxischen Stress und einer nachfolgenden multifaktoriellen Pathogenese, wobei neben der enteralen Ernährung mit Formulamilch auch die bakterielle Besiedelung des Darms eine zentrale Rolle spielt. Daher kann die Beeinflussung dieser Risikofaktoren bei Frühgeburten die Inzidenz einer manifesten NEC verhindern oder zumindest signifikant reduzieren. Mit einer multimodalen Strategie, die innerhalb der ersten 24 Lebensstunden begonnen wurde – orale Ernährung mit Muttermilch, enterale Gabe von Antibiotika (Gentamycin 7 mg/kg KG alle 12 h) und Fungiziden (Nystatin 10.000 IU/kg KG alle 6 h) sowie Probiotika (Lactobacillus rhamnosus 0,5 g alle 12 h) – konnte die Inzidenz der NEC bei 334 Frühgeburten <1500g (davon 156 >1000 g) auf 0,7% gesenkt werden. Bei 70 Frühgeburten <1500 g (davon 22 <1000 g), die von anderen Institutionen erst nach 24 h überwiesen wurden, lag die Inzidenz der NEC mit 4,5% signifikant höher (Schmolzer et al. 2006). Ähnliche Ergebnisse von 1,1% werden auch von Lin durch Gabe von Probiotika erreicht (Lin et al. 2005). Orale Gabe von Gentamycin hat sich in einer prospektiven Studie auch als signifikant besser erwiesen im Vergleich zu der in früheren Jahren propagierten oralen Verabreichung von IgA die heute weitgehend verlassen wurde (Fast u. Rosegger 1994). > Durch konsequente prophylaktische Therapie aller Risikopatienten wurde in einzelnen Zentren die Inzidenz der NEC dramatisch gesenkt. Die Zahl der Frühgeburten, die noch einen operativen Eingriff benötigen wurde dadurch verschwindend klein. Diese Art der vorbeugenden Behandlung gehört zweifelsohne die Zukunft, jedoch mehr prospektive Studien sind erforderlich um den genauen Effekt auf die Inzidenz der NEC zu dokumentieren.
27.11
Prognose
Die Überlebensraten nach NEC hängen einmal von der Frühgeburtlichkeit der betroffenen Kinder und zum anderen vom Verlauf und Stadium der Erkrankung ab. Auch die Ausdehnung der NEC in Bezug auf die betroffenen Darmabschnitte beeinflusst die Mortalität (. Abb. 27.2). Insgesamt haben die Überlebensraten bei manifester NEC in den letzten Jahren deutlich zugenommen und liegen bei rein konservativer Behandlung zwischen 90% und 100% (Bell Stadium I und II) und bei operativer Therapie (Bell-Stadium III) um 80% (Kim u. Albanese 2006). Bei Frühgeburten <1000 g mit der Erfordernis eines operativen Eingriffes ist die Mortalitätsrate immer noch bei 50% (Blakely et al. 2005). Die Zukunft liegt sicherlich bei der Optimierung der prophylaktischen Therapie durch Muttermilchernährung, oraler anti-
biotischer und antifungaler Therapie und der Verabreichung von Probiotika. Es ist abzusehen, dass zumindest in industrialisierten Ländern durch entsprechende Prophylaxe mittelfristig die NEC eine seltene Erkrankung werden wird.
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323 27.11 · Prognose
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27
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28
28 Kurzdarmsyndrom K.-L. Waag 28.1
Vorkommen – 325
28.6
Therapie
28.2
Ätiologie – 326
28.6.1 28.6.2
28.3
Klinik
28.4
Adaptationsreaktion – 327
Orale Nahrungszufuhr – 329 Medikamentöse Förderung der Adaptationsreaktion – 330 Probleme der parenteralen Ernährung Operative Therapie – 331 Prognose – 337
28.5
Diagnostik – 328
– 326
> Unter der Bezeichnung Kurzdarmsyndrom werden pathophysiologische Zustände zusammengefasst, bei denen nach Darmverlust oder aufgrund anderer Erkrankungen oder Fehlbildungen die intestinale Resorptionsfläche für eine komplette enterale Ernährung, die auch ein normales Wachstum ermöglicht, über einen längeren Zeitraum nicht ausreicht. Im Kindesalter sind hierfür die häufigsten Ursachen der Darmverlust durch Volvulus, eine Gastrochisis oder eine nekrotisierende Enterokolitis, langstreckige A- bzw. Dysganglionosen und sehr selten später der Morbus Crohn nach mehrfachen Resektionen. Wesentliche Bausteine der Therapie sind die parenterale Ernährung, die Behandlung von deren Komplikationen, eine allmähliche Steigerung der enteralen Ernährung, sowie in geeigneten Fällen chirurgische Eingriffe zur Darmverlängerung bzw. Erweiterung der aktiven Resorptionsfläche, als Ultima ratio eine Dünndarmtransplantation. Die Prognose des kindlichen Kurzdarmsyndroms ist vor allem abhängig von der initialen Darmlänge und Resorptionsfläche sowie von den Begleitmorbiditäten, hier besonders einer Leberschädigung im Rahmen der parenteralen Ernährung.
28.1
Vorkommen
Die Inzidenz des Kurzdarmsyndroms (»short bowel syndrom«, SBS) ist ausgesprochen schwierig zu beziffern, da es keine allgemein durchgesetzte Definition für die klinische Beurteilung und kein Register gibt. Wir wissen nicht, wie
28.6.3 28.6.4 28.6.5
– 329
– 330
Literatur – 337
viele Patienten vorher sterben oder in anderen Krankenhäusern, die nicht zu den Referenzkrankenhäusern zählen, behandelt werden bzw. dort überleben. Aus Toronto wird eine durchschnittliche Inzidenz von 24,5 Patienten auf 1000 Lebendgeburten angegeben (Wales et al. 2006). Das Kurzdarmsyndrom hat eine erhebliche Morbidität und Mortalität. In dieser Serie wurde betont, dass auf der Intensivstation die Kurzdarmkinder im Schnitt in der 30. SSW geboren waren, während das übrige Patientengut bei über 35. SSW lag. Diese Frühgeburtlichkeit ist für einen Teil der Morbidität des Kurzdarmsyndroms verantwortlich. Die Definition eines Kurzdarmsyndroms beinhaltet Verlust von 70–75% des vorhandenen Dünndarms. Diese 25–30% Restdarm müssen je nach Alter bzw. Frühgeburtlichkeit des Kindes mit seinen unterschiedlichen Darmlängen beurteilt werden. Die gesamte Darmlänge ist analog den Schwangerschaftswochen von Touloukian (1983) in cm publiziert (27. bis 31. SSW: 160 cm, 36. bis 40. SSW: 250 cm). Daraus ergibt sich, dass der Darm in den letzten SSW ein erhebliches Längenwachstumspotenzial hat. Damit wird klar, dass Patienten mit 20 cm in der 32. Woche eine wesentliche bessere Prognose haben werden als ein reif geborenes Kind in der 40. Woche, bei dem ebenfalls nur 20 cm Restdarm bestehen (7 Kap. 1). Messtechnisch ist festgelegt, dass die Länge des Darms antimesenterial in cm intraoperativ angegeben wird. Die Abschätzung in einer Röntgenkontrastdarstellung ist unzuverlässig.
326
Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
Ätiologie
28.2
Übersicht Ätiologie des Kurzdarmsyndroms 4 4 4 4 4
28
Bauchwanddefekte (Gastroschisis, Omphalozele) Volvulus (intrauterin/postpartal) Nekrotisierende Enterokolitis Langstreckige Dysganglionosen Morbus Crohn (ausgedehnte Resektion)
Der Anteil an Patienten mit Gastroschisis (7 Kap. 38) ist in unserem eigenen Patientengut mit über 50 Patienten die häufigste Vorerkrankung. Speziell durch die engen Defekte wird der venöse Rückfluss aus dem Darm, der außerhalb der Bauchdecke liegt, erschwert, so dass es zu einem venösen Aufstau und damit zu einem Untergang des Darms außerhalb der Bauchdecke kommt. Dies kann bereits intrauterin in dieser Form ablaufen, was sich daran zeigt, dass während der Untersuchungen mit pränatalem Ultraschall oder auch heute mit pränatalem Kernspin die außerhalb der Bauchdecken liegenden Darmanteile dilatieren. Eine solche mehr oder weniger schnell ansteigende Dilatation kann eine Indikation zur vorzeitigen Sectio caesarea bedeuten, um den Darm noch vital aufzufinden. Im Extremfall resultiert bereits intrauterin ein völliges Absterben dieses Darmanteils, der wegen des Mesentericum mobile sehr lang sein kann, und das Kind wird mit einer Dünndarmatresie und Kurzdarm geboren. Der Mechanismus bei Volvulus (7 Kap. 26) ist relativ ähnlich. Durch die Torsion im Bereich des Mesenteriums kommt es hier zu einer Unterbrechung des venösen, aber auch des arteriellen Zuflusses zum torquierten Darm, so dass dieser untergeht. Dies ist sowohl präpartal, als auch im frühen postpartalen Verlauf möglich und resultiert anschließend in einem Kurzdarmsyndrom. Es erscheint postpartal deshalb besonders wichtig, bei unklarer abdomineller Symptomatik im Röntgenbild nach sog. stehenden Schlingen (durch den Volvulus aufgeblähte Schlingen) zu fahnden und hier auf Verdacht hin sofort eine Laparotomie ohne jede Zeitverzögerung durchzuführen. ! Cave Eine völlige Ischämie von 6–8 h ist wie bei allen anderen Ischämien mit einem unmittelbaren Verlust des torquierten Darms verbunden.
In der Literatur wird immer wieder die nekrotisierende Enterokolitis (7 Kap. 27) als typisches Beispiel zur Entwicklung eines Kurzdarmsyndroms genannt. In unserer eigenen Serie waren dies nur 7 von über 50 Patienten. Hier hängt es vor allem von der Menge des resezierten Darms ab, ob sich ein Kurzdarmsyndrom entwickelt. Deshalb sollte bei der nekrotisierenden Enterokolitis grundsätzlich versucht werden, möglichst viel Darm zu erhalten.
In Einzelfällen sehen wir langstreckige Dysganglionosen (7 Kap. 29) bis in den hohen Dünndarm hinauf, die funktionell zu einem Kurzdarmsyndrom führen. Wir vertreten jedoch die Meinung, dass mit mehreren Bishop-Koop-Anastomosen eine Druckentlastung bei solchen Patienten ausreicht. Eine gesamte Resektion des dysganglionosen Darms würde leicht in eine echte Kurzdarmsituation heraufbeschwören. Entzündliche Darmerkrankungen wie beim Morbus Crohn im Kindesalter sind eine ausgesprochene Rarität, da gerade im Kindesalter größtenteils konservative Maßnahmen zur Beherrschung der Erkrankung ausreichen und Operationen in der Zeit der Pubertät selten zur Kurzdarmsituationen führen (7 Kap. 34).
28.3
Klinik
Übersicht Symptomatik des Kurzdarmsyndroms] 4 4 4 4 4 4 4
Geblähtes Abdomen, Malabsorption Diarrhö Erbrechen, Azidose Steinbildung Durchwanderungssepsis Gewichtsverlust Fehlendes Wachstum
Durch die Kürze des Darms ist die Passagezeit im Dünndarm extrem verkürzt. Je nach Länge sind hier Passagezeiten von 10–20 min bzw. 1 h üblich. Dies kann relativ leicht durch entsprechende wieder erkennbare Nahrungsbestandteile gemessen werden, die im Anus praeter bzw. peranal ausgeschieden werden. Durch die kurze Kontaktzeit des Nahrungsbreies mit der Darmwand werden zu wenige Kalorien aufgenommen, ebenso zu wenig Salze und zu wenig Flüssigkeit, selbstverständlich auch Vitamine und Spurenelemente. Die Nahrung erscheint unverdaut wieder im Anus praeter oder in der Windel. Die Stuhlkonsistenz entspricht im Übrigen einer Diarrhö mit wässrigen Stühlen ohne Substanz. Nicht selten besteht auch eine Retroperistaltik, so dass es zusätzlich zum Erbrechen kommt, speziell dann, wenn eine Vermehrung pathologischer Darmbakterien dazu Anlass gibt. Ebenfalls ist die Gallerückresorption gestört, so dass die Kinder durch die Gallensäuren im Stuhl und die permanente Diarrhö erheblich wund werden. Die Malabsorption betrifft selbstverständlich auch die Fette, was zu einer Steatorrhö und zu einer Hypalbuminämie inklusive IgA- und IgG-Mangel führt. Es ist ebenfalls bekannt, dass diese Kinder mit Kurzdarmsyndrom häufig Azidosen entwickeln, die mit Unruhe, Schwindel, Schläfrigkeit und Leistungsverlust einhergehen. Eine spezielle Form der Azidose ist die D-Laktatazidose, die durch rechtsdrehende Milchsäuren verursacht wird.
327 28.4 · Adaptationsreaktion
. Abb. 28.1. Als Adaptationsreaktion wird die physiologisch einsetzende Reaktion des Organismus bezeichnet, mit der die Oberfläche des Darms zur besseren Absorption vergrößert wird. Sie setzt sich aus Darmdilatation, Vertiefung der der Kerckring-Faltung und Krypten, Vergrößerung der Villi und Mikrovilli zusammen, verbunden mit einem höheren Umsatz an Enterozyten
Eine Überbesiedelung des dilatierten Dünndarms ist keineswegs selten mit einer Sepsis verbunden. Man erklärt sich dies damit, dass Bakterien über die Mukosa in dem dilatierten Darm durch Durchwanderung (sog. Translokation) in den Kreislauf gelangen und dort die Sepsis so wie eine Besiedelung des zentral venösen Katheters auslösen können.
28.4
Adaptationsreaktion
Der Körper versucht den zu kurzen Darm zu kompensieren, indem er als physiologische Adaptationsreaktion zu morphologischen Veränderungen greift. Diese Veränderungen betreffen einmal die Erweiterung des Dünndarms, um hier eine Oberflächenvergrößerung zu schaffen. Die Oberfläche selbst zeigt eine Hypertrophie der KerckringFalten und einer Hyperplasie der Darmzotten. Eine überproportionale spontane Darmverlängerung ist nicht zu beobachten. Der Darm verlängert sich nur im Rahmen des altersbedingten Wachstums. Histologische Aufarbeitungen der Darmoberfläche zeigen in ihrer Reaktion beim Kurzdarmpatienten, dass die Oberflächenvergrößerung durch Erhöhung der Kerckring-Falten eine dreifache Vergrößerung erreicht. Die Darmzotten selbst tragen zu einer 30fachen Vergrößerung bei und die Mikrovilli werden in erheblichem Ausmaß vergrößert, so dass es insgesamt zu einer 600-fachen Oberflächenvergrößerung pro cm2 kommen kann, sofern das Kind ausreichend Kalorien zugeführt bekommt und zu einer ausreichenden Adaptationsreaktion fähig ist (. Abb. 28.1). Auch funktionelle Veränderungen verbessern das Resorptionsergebnis, in dem die Mikrovilli ihrerseits eine deutlich schnellere Reifung von Enterozyten und einen erhöhten Umsatz an Enterozyten an der Oberfläche gewährleisten. Es werden ebenfalls vermehrt Transportproteine für Glukose und Aminosäuren bereitgestellt. Schließlich kommt es häufig zu einer starken Dilatation des Dünndarms (. Abb. 28.2). Das Kolon nimmt an
dieser Dilatationsreaktion nicht teil, aber es lernt, über Gärung adaptierte Bakterien eine mittelkettige Triglyzeriden, Kohlehydrate und Natrium sowie Wasser vermehrt zu resorbieren. Da eine Dilatation des Kolon nicht stattfindet, wird im Laufe der Adaptationsreaktion eine deutliche Lumendifferenz vom dilatierten Restdünndarm zum dilatierten Kolon entstehen, was häufig zur funktionellen Stenose wird. In den Anamnesen unserer Patienten ist ausgesprochen häufig zu finden, dass diese funktionellen als anatomische Stenosen gedeutet und deshalb wiederholt reseziert und reanastomisiert werden, was nie zu einem positiven Ergebnis führen kann. Die Peristaltik wird durch die Darmdilatation erheblich beeinträchtigt. Nach entsprechender Dilatation schnürt die Peristaltik nicht mehr durch und der Darminhalt wird lediglich hin und her bewegt und ist nicht mehr kaudal gerichtet, da nach kranial die peristaltische Welle das Lumen nicht mehr verschließt. Dies führt zu Passageproblemen und Stase. Diese gibt den Bakterien Zeit, sich in den Darmschlingen überproportional zu vermehren. In Kulturen erscheinen hier meistens Bacteroides und Ente-
. Abb. 28.2. Das Bild zeigt die enorme Dilatation intraoperativ, weshalb die Peristaltik nicht mehr adäquat funktionieren kann. Die Restdarmlänge wird antimesenterial gemessen
28
328
Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
rokokken. Diese bakterielle Überwucherung kann der Auslöser für Phasen von Diarrhö und Sepsitiden werden. Im Gegensatz zum Kolon macht das Duodenum die Adaptationsreaktion im Sinne einer Duodenaldilatation mit, so dass insgesamt diese Kinder mit einem sehr vollen, weit ausladenden Abdomen trotz des Kurzdarms auffällig sind. Insgesamt ist die Adaptationsreaktion als eine sehr positive Reaktion des Körpers auf die Kurzdarmsituation anzusehen, da hierdurch die Resorptionsfläche vergrößert wird und eine Kompensation zur Nahrungsaufnahme möglich wird. Die Überreaktion führt zu diesen Nachteilen bei extremer Dilatation mit bakterieller Überwucherung. Eine operative Darmlumenverschmälerung durch Resektion ist trotzdem kontraindiziert, da wertvolle Resorptionsfläche verloren geht. Diese Darmdilatation als Adaptationsreaktion entfällt bei ganz wenigen Kindern bei nicht ausreichender Kalorienzufuhr, weshalb keine Adaptationsreaktion ermöglicht wird. Aber auch individuelle Reaktionen bei sehr wenigen Kindern sind möglich, so dass eine Adaptation mit Dilatation entfällt. Bianchi und Coran (2006, mündliche Kongresspräsentation) schlugen dazu vor, mit einem Ballonkatheter das Stoma oder die Anastomosenregion zeitweise zu blocken.
28
> Solange ein künstlicher Dünndarmausgang besteht, ist die Adaptationsreaktion eingeschränkt, da im Dünndarm kein Druck aufgebaut wird und damit weniger Anlass zum Wachstum gegeben ist.
28.5
Diagnostik
Übersicht Diagnostik des Kurzdarmsyndroms 4 4 4 4 4
Passagezeit Röntgenkontrastpassage Leberstatus Steinsuche Gefäßstatus
. Abb. 28.3. Der Röntgenkontrast zeigt das Ausmaß der Darmdilatation deutlich, während die Restdarmlänge nur bedingt einschätzbar ist
Passagezeit. Die Malabsorption beim Kurzdarmsyndrom resultiert größtenteils aus der extrem kurzen Passagezeit. Die Passagezeit ist ein wichtiger Parameter, wie viel Zeit dem Nahrungsbrei bleibt, mit der Mukosa in Kontakt zu treten und eine Resorption zu ermöglichen. Die Stuhlqualität ist klinisch zu beurteilen. Bei Verdacht auf bakterielle Überwucherung sind Stuhlkulturen angezeigt. Röntgenkontrastdarstellung. Ist der Eindruck entstanden, die Passage könnte durch eine anatomische oder funktionelle Stenose des Restdünndarms verzögert sein, ist eine Kontrastdarstellung des Darms sowohl von rektal bis zur Anastomose, aber auch von oral als Magen-Darm-Passage möglich. Hier erfährt man das Ausmaß der Dilatation, das Ausmaß der Pendelperistaltik, das Ausmaß der Behinderung an einer funktionellen oder anatomischen Stenose zum Kolon. Immer wieder wird die Magen-Darm-Passage zur Abschätzung einer Länge des verbliebenen Restdarms benutzt. Dies ist jedoch nur eine sehr grobe Aussage, die oft mit dem späteren intraoperativen Befund nach dem Lösen von Verwachsungen nicht übereinstimmt (. Abb. 28.3). Leberstatus. Zur Diagnostik beim Kurzdarmsyndrom ge-
hört ein vollständiger Leberstatus. Neben Bilirubin und Enzymen sind die Gerinnungswerte ein guter Parameter für die Funktion der Leber. Wir empfehlen eine perkutane Punktion der Leber, um über die Histologie das Ausmaß des Leberumbaus vor einer evtl. Verlängerungsoperation definitiv bestimmen zu können. Steinsuche. Die Radiologie ist auch die Domäne bei der Steinsuche im Bereich der ableitenden Harnwege bzw. der Gallenwege. Gefäßstatus. Der Gefäßstatus für zentralvenöse Zugänge ist
ein wichtiger prognostischer Punkt, der frühzeitig in alle weiteren Betrachtungen einbezogen werden muss, bevor die letzte Zugangsvene thrombosiert ist. Wird ein infizierter Katheter herausgezogen, ist davon auszugehen, dass dieser Zugang anschließend so thrombosiert, dass er für Monate oder auf Dauer nicht mehr benutzbar sein wird. Per Ultra-
329 28.6 · Therapie
schall ist prüfbar, inwiefern Vena subclavia, Vena jugularis superior rechts und links bzw. der Venenwinkel der Cava superior offen sind. Gleiches gilt für Vena saphena magna in dem Leistenbereich, was im Zweifelsfall mit Hilfe der Phlebographie dargestellt werden muss. Ultima ratio ist der ZVK im rechten Herzohr über Thorakotomie. > Aus der limitierten Anzahl der zentralvenösen Zugänge ergibt sich die Notwendigkeit, maximale Sterilität beim Umgang mit den zentralvenösen Kathetern zu pflegen, sowohl von Seiten der Klinik als auch von Seiten der Eltern bei der häuslichen parenteralen Ernährung. Jeder infizierte zentralvenöse Zugang sollte eher gesäubert bzw. bakterienfrei erhalten werden als sofort bei der ersten Fieberzacke entfernt werden.
28.6
Therapie
Übersicht Therapie des Kurzdarmsyndroms 4 4 4 4
Adaptierte orale Nahrung Salzersatz Beeinflussung der Stuhlfrequenz Medikamentöse Beeinflussung der Adaptationsreaktion/Nahrungszufuhr 4 Leberschonung 4 Therapie infizierter zentralvenöser Zugänge
28.6.1
Orale Nahrungszufuhr
Grundsätzlich haben sich vorverdaute Nahrungen als Formuladiäten bewährt (7 Kap. 4). Die Menge, die vertragen wird, richtet sich nach der Qualität der Stühle. Hyperosmolare Lösungen steigern den Wassergehalt und die Diarrhö. Es ist mit 7%-iger Lösung in kleinen Mengen zu beginnen, die langsam zu steigern sind. Die Konzentration kann im Regelfall bis auf 15% gesteigert werden, in Sonderfällen aber auch auf 21%, um ausreichend Kalorien zuzufügen. Eine Überlastung führt zu einem neuerlichen Rückgang der Stuhlqualität. Grundsätzlich sind häufige kleine Mengen besser als wenige großvolumige Mahlzeiten. Kalorienfreies Trinken spült den Darm und macht daher keinen Sinn. Zirkadiane Zufuhren sind bei parenteraler Ernährung wie auch oraler Zufuhr im weiteren Verlauf prinzipiell leberschonender. Dabei kann durchaus auf Nahrungspumpen zurückgegriffen werden. Die Applikation ist über eine nasogastrale Sonde möglich, ebenfalls über eine Gastrostomie. Hat das Kind gleichzeitig einen Reflux, ist die bessere Alternative zur Gastrostomie die operativ eingebrachte Jejunalsonde. Wenn Muttermilch vorhanden ist, leistet sie wertvolle Dienste und wird in das Nahrungsregime einzu-
bauen sein, deshalb werden die Mütter angehalten, nicht abzustillen und durch Milchpumpen die Milch im Kühlschrank zu sammeln. Additive zur Kalorienanreicherung können im Säuglingsalter durchaus verwendet werden, wie Nestargel, MCT-Öl o. ä. In jedem Fall leiden diese Patienten grundsätzlich an einem Elektrolytmangel, so dass bei älteren Kindern zusätzlich Salz auf die orale Nahrung gegeben werden soll. Die Kinder mögen diese Zusätze von Salz und »versalzen« sich ihr Essen für normale Verhältnisse enorm. Mit Süßigkeiten sind sie im Allgemeinen nicht zu locken. Dies ist bei einer Esstherapie besonders zu berücksichtigen. > Neben den Salzsupplementierungen sind Spurenelemente und Vitamine von besonderer Wichtigkeit, da deren Resorption erheblich reduziert ist. Haben die Kinder lange Zeit keine orale Nahrungszufuhr erhalten, fehlt ihnen das Gefühl für Hunger und das Bedürfnis zu essen, so dass nicht wenige dieser Kinder eine Esstherapie professioneller Art benötigen.
Die Kalorienzufuhr insgesamt bezieht sich hauptsächlich auf die Zufuhr von Glukose. Laktulose wird grundsätzlich schlechter resorbiert als Glukose. Die komplexen Kohlehydrate wie Stärke, haben den Vorteil einer geringen Osmolarität. Insgesamt besteht eine gute Toleranz für Fette, die ca. 50% der Kalorienaufnahme ausmachen soll. Mittelkettige Triglyzeride werden gut resorbiert. Langkettige Fettsäuren haben mit ihrer höheren kalorischen Dichte den Nachteil, dass sie osmotisch wirksam sind und eine Adaptationsreaktion selbst nicht fördern. Die Beeinflussung der Stuhlfrequenz ist ein großer Teil der konservativen Therapie. Aus Erfahrung ist eine maximale Stuhlfrequenz von bis 10 Defäkationen pro Tag bei Stuhl mit Substrat akzeptabel. Höhere Frequenzen oder wässrige Stühle sind für den Verlauf als negativ einzustufen. Es besteht die Möglichkeit, die Stühle anzudicken, indem Substrate wie Kaoprompt oder Benefiber zugeführt werden, bevor die Nahrungsmenge bzw. die Nahrungskonzentration wegen anhaltend wässrigen Stühlen abgesenkt werden muss. Das Volumen des täglich produzierten Magensaftes führt zu einer zusätzlichen Volumenbelastung des Darms, weshalb Protonenpumpeninhibitoren bzw. H2-Blocker sinnvoll sind; das Sekretionsvolumen des Magensaftes sinkt auf die Hälfte, die Stühle sind weniger sauer und der Natriumverlust wird reduziert. Colestyramin bindet die Gallensäure im Darm, so dass hierdurch weniger Wasser aus der Kolonwand in das Lumen herausgelöst wird, und reduziert das Wundsein; allerdings ist auf eine Steatorrhö zu achten. Medikamentös sind Peristaltik-beeinflussende Medikamente erprobt. Durch Loperamid kann die Peristaltikfrequenz abgesenkt werden. Bei massiv dilatierten Schlingen kann auch eine Anregung der Peristaltik notwendig werden (z. B. Cisaprid). Liegt eine erhöhte Stuhlfrequenz durch bakterielle Überwucherung vor, ist eine Behandlung
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330
Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
mit Antibiotika nötig. Hierbei ergeben sich zwei Varianten. In schweren Fällen muss eine Antibiose eingesetzt werden, die gegen Enterokokken und Bakteroides wirksam ist (z. B. Vancomycin). Bei mäßigen Problemen ist eine wochenlange »Low-dose«-Therapie mit Clont möglich. Es hat sich das systemisch nicht resorbierbare, oral verabreichte Humatin in niedriger Dosierung für diese Zwecke sehr gut bewährt.
28.6.2
28
Medikamentöse Förderung der Adaptationsreaktion
Hierzu zählen Wachstumshormon, und Glutamin. Es liegen experimentelle Untersuchungen vor über Wachstumshormon und Insulin-ähnlicher Wachstumsfaktor (IGF-1 und IGFBP-3; Nucci 2004). Klinisch ist hierüber wenig publiziert (Beiler et al. 2004; Ladd et al. 2005). Durch diese Gaben konnte ein Anstieg sowohl des Gewichtes als auch der Körpergröße erreicht werden. Allerdings setzt dieser Erfolg voraus, dass die sehr teuren Medikamente sehr lange gegeben werden müssen und der Effekt nach dem Absetzen wieder verschwindet. Einerseits ist der positive Effekt des Wachstumshormons, dass der Transport von Ionen und Proteinen angehoben wird. Auf der anderen Seite hat Wachstumshormon auf längere Zeit gegeben Nebeneffekte, die wenig erwünscht sind: Ödeme, Arthralgie, Gynäkomastie und Kopfschmerzen. Glutamin ist als essenzielle Aminosäure eine Energiequelle für Enterozyten und stimuliert die intestinale Zellproliferation. Dies verhindert die Schleimhautatrophie und stimuliert die Hyperplasie und die Glukoseresorption. Erfahrungsgemäß muss Glutamin trotz der experimentellen positiven Ergebnisse sehr lange gegeben werden, um nach dem Absetzen nicht einen massiven Rückgang des Erreichten in Kauf nehmen zu müssen. Experimentell wurde untersucht (Tsuchioka et al. 2006), ob neben Glutamin auch Taurin eine besondere Bedeutung zukommt. Mukosadicke und die Höhe der Villi wurden bestimmt. Dabei blieb Glutamin allein ohne Effekt, während bei der gleichzeitigen Verabreichung von Taurin plus Glutamin deutliche positive Wachstumsraten an Mukosa und Villi festgestellt werden konnten.
28.6.3
Probleme der parenteralen Ernährung
Die Schädigung der Leberzelle durch die parenterale Ernährung ist klinisch bekannt, wenngleich großen individuellen Schwankungen in der Reaktion unterworfen. Besonders empfindlich ist die Leberzelle von Frühgeborenen. Während einige Neugeborene problemlos mit der parenteralen Ernährung zurechtkommen, reagieren andere sehr frühzeitig mit Transaminasen- und Bilirubinerhöhungen.
Das toxische Moment setzt sich wahrscheinlich aus mehreren Faktoren zusammen: Es ist bekannt, dass die Belastung der Leberzelle mit Fett eine Rolle spielt, wobei sich die Qualität der parenteralen Fettlösungen deutlich verbessert hat. Eine Überladung mit Glukose führt ebenfalls zu massiven Leberzellverfettung. Diese Reaktion ist durch frühzeitige orale Zusatzernährung beeinflussbar, um die Cholezystokininsekretion zu stimulieren. Gleichzeitig ist die orale Nahrungszufuhr für die Mukosa wichtig, da sie nur in Kontakt mit Nahrung wächst bzw. ihre Dicke erhält. Orale Kalorien sollen deshalb auch bei Passagestörungen nie vollständig abgesetzt werden. Daraus empfiehlt sich auch die zyklische, zirkadiane Gabe der oralen Zufuhr – möglichst über Tag – und der nächtlichen parenteralen Kaloriengabe, um weder kontinuierlich orale Pumpen noch kontinuierlich parenterale Ernährung mit Belastung der Leber zu benutzen. Die Auswahl der Fettlösungen und der Aminosäurelösungen hat immer wieder zu veränderten Präparaten geführt. Eine Protektion vor Einwirkung von Tageslicht kann ebenfalls hilfreich sein. In den letzten Jahren wurde publiziert, dass die Gabe Ursodesoxycholsäure und Zystein die Cholestase verbessern kann (Goulet 2006; Krawinkel 2004). Experimente (Loff 2004) haben gezeigt, dass Weichmacher (Diethylhexylphtalat-DEHP) in den Infusionsbeuteln und in den Infusionsleitungen besonders durch Fette und Plasma in einem Ausmaß herausgespült werden, dass ein vielfaches an DEHP in die Leberzelle gelangt und die Leberzelle entsprechend schädigt. Der (Grenzwert ist mit 37 μg/ kg kg/Tag festgelegt– die tatsächliche DEHP-Belastung beträgt 1500–5000 μg/Tag). Der Wechsel auf PolyuretanSchläuche zeigte bereits in einer klinischen Studie, dass diese Umstellung positive Effekte auf den Leberstoffwechsel hat. Zentralvenöse Katheter lagern Fett und andere Substanzen wie Blutbestandteile und Bakterien an, weshalb die Füllung des zentralen Katheters mit Heparin sinnvoll erscheint und seit langem praktiziert wird. Neuerdings wird diese Notwendigkeit bestritten. Die Desinfektion eines infizierten Katheters gelingt mit Antibiotikablocks (z. B. Gentamycin, Vancomycin, Meronem). Unsere Praxis ist der Alkoholblock, der auch bis zu 2-mal wiederholt noch Erfolg zeigt. Alkoholblock zur Desinfektion eines ZVK: 40–45% Alkohol pur in den ZVK (Menge je nach Volumen des ZVK, meist 0,6–0,8 ml) für 5–10 min, danach mit NaCl in das Kind spülen (maximal 2-mal/Tag); nicht aspirieren (Thrombose!). ! Cave Aus zentralvenösen Kathetern sollt wegen der möglichen Infektionsgefahr möglichst keine Aspiration von Blut erfolgen.
Keineswegs selten ist ein Katheter nicht frei von Bakterien zu bekommen, weil an der Katheterspitze ein infizierter Thrombus angelagert ist, der eiene Kathetersepsis unterhält. Dieser ist sonographisch festzustellen und über eine Lysetherapie zu behandeln.
331 28.6 · Therapie
28.6.4
Operative Therapie
Indikationen Übersicht Operationsindikationen 4 Erfolgloser Nahrungsaufbau >6 Monate mit <50% orale Kalorienzufuhr 4 Persistierende wässrige Stühle (>10/Tag) 4 Untherapierbare Stase/Subileus 4 Häufige Sepsitiden durch Zentralvenenkather 4 Persistierende Cholestase 4 Verlust zentralvenöser Zugänge
Es kann außerordentlich schwierig sein, den Zeitpunkt für eine Operation bei einem Patienten mit Kurzdarmsyndrom festzulegen. Meist ist es eher die Summe der einzelnen Punkte, die in Relation zur Prognose gesehen werden müssen, als dass an einem einzelnen Faktor das alleinige Operationskriterium festgemacht werden kann. Die primäre Restdarmlänge ist aus unserer Sicht keine primäre Operationsindikation, da hier auf konservativem Wege auch Kinder mit 20 cm und weniger Restdarm rein oral in Verlauf von 1–2 Jahren ernährt werden konnten. Bei mehr als 30 cm Restdarm ergab sich keine statistische Signifikanz für das Überleben. Dies steht im Widerspruch zu der Operationsindikation von Bianchi selbst, der bei entsprechenden extrem kurzen Längen primär eine Verlängerungsoperation empfiehlt, um der Cholestase zuvor zu kommen. > Das wichtigste Kriterium ist insgesamt der erfolglose Nahrungsaufbau.
Dies setzt voraus, dass 6 Monate lang bei jedem Patienten konservativ mit allen Mitteln versucht wird, ihn oral ausreichend mit Kalorien zu versorgen. Ist es nach 6 Monaten nicht gelungen, mindestens 50% der Kalorienzufuhr oral zu verabreichen, sehen wir hierin eine Operationsindikation. Die 50% beziehen sich auf das Alter und das Sollgewicht des Patienten. Es kann nicht angehen, dass bei einem weit untergewichtigen Kind ein Kalorienbedarf nach dem aktuellen Gewicht errechnet wird, da es hiermit nicht gedeihen und zunehmen kann. Ist nach ½ Jahr die Stuhlqualität immer noch so schlecht, dass die Stühle als wässrig bezeichnet werden müssen und die Qualität dieser Stühle durch die oben genannten Maßnahmen nicht beeinflussbar, wird prognostisch nicht zu erwarten sein, dass das Kind ausreichend oral ernährt werden kann. Das Limit für die Anzahl der Stühle liegt bei ca. 10 wässrigen Stühlen pro Tag. Hier ist ein einzukalkulieren, dass das Kind auch erheblichen Elektrolytverlust neben dem Fehlen der Kalorienaufnahme erleidet. Durch eine massive Adaptationsreaktion mit erheblicher Dilatation des verbliebenen Dünndarms kann es zu
einer Stase in den Dünndarmschlingen kommen, die jetzt ihrerseits Morbidität verursacht. Rezidivierende Sepsitiden sind durch diese Durchwanderungsmechanismen als Translokation an der Darmwand erklärbar und gefährden das Kind. Eine konservativ nicht therapierbare Stase wird hier ebenfalls zur Operationsindikation. Die Problematik einer beginnenden Leberzirrhose ist bereits mehrfach angeführt. Kann sich die Leber auch unter einer teiloralen Ernährung und teilparenteralen Ernährung nicht erholen und es besteht keine absehbare Chance, das Kind auf orale Kalorienzufuhr umzustellen, ist das drohende Leberversagen ebenfalls eine Operationsindikation. Hohe Transaminasen mit persistierend hohem Bilirubin und beginnenden Koagulationsdefiziten sind bereits eine Kontraindikation für eine Operation, so dass besonders im Hinblick auf eine zeitgerechte Operationsindikation die Leberqualität berücksichtigt werden muss. Wenngleich einerseits mit zentralvenös zugeführter totalparenteraler oder teilparenteraler Ernährung glücklicherweise viel Zeit gewonnen werden kann, bis sich ein Darm ausreichend adaptiert, so ist doch auf der anderen Seite jeder zentralvenöse Katheter eine Gefahr per se. Nicht nur rezidivierende Kathetersepsitiden führen zu Todesfällen, sondern es muss in der Kalkulation zur Prognose berücksichtigt werden, dass das Kind Monate auch nach einer Verlängerungsoperation noch auf einen zentralvenösen Katheter angewiesen sein wird. Es müssen deshalb hier ausreichende Zugänge verbleiben. Hat das Kind häufig Sepsitiden, die jeweils mit einem Katheterwechsel verbunden sind, ist zu erwarten, dass man eines Tages vor dem Problem steht, keinen weiteren zentralvenösen Zugang mehr zur Verfügung zu haben, worauf das Kind aber angewiesen ist. Die Möglichkeit weiterer zentralvenöser Zugänge wird hier ebenfalls zu einem Kriterium, dass zum Bestimmen des Operationszeitpunkt zu berücksichtigen ist.
Chirurgische Strategie Übersicht Operationsverfahren 4 4 4 4 4 4
Korrektur organischer Stenosen Verlängerungsoperation nach Bianchi (LILT) Verlängerungsoperation nach Kim (STEP) Duodenal-Tapering Darmtransplantation En-bloc-Transplantation Leber plus Darm
Neben der adaptiven Dilatation gibt es auch die Möglichkeit, dass nach den oft sehr vielen Voroperationen narbige Darmstenosen im Adhäsionsbauch entstehen, die die Passage behindern. Diese sind selbstverständlich separat operativ anzugehen. Hiervon abzugrenzen sind die funktionellen Stenosen, wie sie häufig vom dilatierten Dünndarm zum nicht dilatierten Kolon entstehen. Hier hilft eine Re-
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332
Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
sektion dieser funktionellen Stenose nicht, sondern nur eine Verlängerungsoperation nach Bianchi oder Kim. Grundsätzlich sind vorausgegangene Operationen mit einem resultierenden Adhäsionsbauch keine Kontraindikation für eine Verlängerungsoperation. Wie bereits erwähnt, ist im Falle eines Anus praeter die primäre Operation der Verschluss dieses Anus praeter, um anschließend abzuwarten, ob eine Adaptationsreaktion und Dilatation des Dünndarms eintritt. Ist Druck auf einem nicht dilatierten Restdünndarm nötig, kann über ein Schlauchstoma, das zeitweise verschlossen wird, eine Dilatation angeregt werden (Bianchi 2006). Bei entsprechendem großem Darmdurchmesser ist die Peristaltik durch Ineffektivität in ihrem Transport des Darminhaltes beeinträchtigt, so dass Stasen im Darmlumen entstehen. Dies veranlasst leider üblicherweise zu einer antimesenterialen Resektion im Bereich des dilatierten Abschnittes in Längsrichtung, um das Darmlumen einzuengen (»tapering«). Dies führt zwar momentan zu einer Verbesserung der Peristaltik, opfert aber wertvolle Darmoberfläche, was bei Kurzdarmkindern kontraproduktiv ist. ! Cave
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Ein »Tapering«-Eingriff muss unbedingt vermieden werden.
Nach einer Optimierung der Darmfunktion mit der Wiederherstellung der Kontinuität und der Behebung von Obstruktion gibt es die Möglichkeit, die Resorptionsfläche einerseits zu erhalten, andererseits die Sekundärprobleme der Adaptationsreaktion zu kompensieren. Hierfür stehen uns zwei operative Verfahren zur Verfügung: die Verlängerungsoperation nach Bianchi (longitudinale intestinale »lengthening and tapering«, LILT) durch Überführung des einen dilatierten Darmabschnittes in zwei, lumenreduzierte Darmröhren gleicher Länge und die serielle transversale Enteroplastie (Operation nach Kim, STEP). . Abb. 28.4. Operationsprinzipien der operativen Darmverlängerung, wie von Bianchi inauguriert, zeichnerisch von Heller verdeutlicht: mesenterialer Gefäßverlauf mit Aufzweigung der Gefäße noch außerhalb der Darmwand
Übersicht Vorteile der Verlängerungsverfahren 4 4 4 4 4 4
Transitzeitverlängerung Nahrungskontakt zur Mukosa verbessert Darmdilatation reduziert Effektive Peristaltik Reduktion der bakteriellen Überwucherung Reduzierte parenterale und verbesserte orale Ernährung 4 Vermeiden oder Hinauszögern einer Transplantation
Bianchi Operation. Der dilatierte komplett frei präparierte
Dünndarm wird antimesenterial in Längsrichtung gespalten. Die Aufspaltung der mesenterialen Gefäße kurz vor dem mesenterialen Darmwandeintritt werden in rechts und links ablaufende Gefäße präparatorisch distanziert, so dass auch mesenterial eine Längsdurchtrennung der Darmwand ohne größere Blutung möglich wird. Hierbei besteht die Gefahr der Verletzung der Endarterien für den jeweiligen Darmwandabschnitt, der dann zyanotisch wird und mit Resorptionsflächenverlust entfernt werden muss. Die beiden Darmwandhälften werden jetzt invertierend in der gesamten Länge zu zwei Röhren anastomisiert. Unter Berücksichtigung der Peristaltikrichtung muss jetzt das Ende der ersten neuen Röhre an den Beginn der zweiten Darmröhre anastomisiert werden. Der Anschluss zum Duodenum bzw. zum Kolon vervollständigt die Passage (. Abb. 28.4 bis 28.9). Daraus resultiert keine Verdoppelung der Darmlänge; definitionsgemäß wird antimesenterial gemessen, so dass eine Verlängerung von ca. 70% resultiert, da der Darmdurchmesser jetzt deutlich reduziert ist.
333 28.6 · Therapie
. Abb. 28.5. Nach streng antimesenterialer Längsspaltung des Darms Präparation des Dreieckes gebildet aus: Gefäße rechts, Gefäße links und Darmwand
Serielle transversale Enteroplastie nach Kim (STEP). Der dilatierte Abschnitt wird ohne Darmeröffnung mit einem Stapler von rechts und links versetzt, nach jeweiliger Präparation einer mesenterialen Lücke, so eingebracht, dass ein altersadäquates Restlumen jeweils am Staplerende verbleibt, das dem Alter entspricht. Gleiches gilt für den Abstand zwischen den Staplerreihen. Hierdurch entsteht ein zickzackförmiges Lumen, dass die Länge um ca. 30–50% vergrößert (. Abb. 28.10 und 28.11).
Duodenales »tapering«. Im Gegensatz zum Kolon macht
auch das Duodenum eine Adaptationsreaktion mit und dilatiert entsprechend ebenfalls massiv. Aufgrund des kurzen Mesenteriums im Bereich des Pankreaskopfes und aufgrund der Position der Papille kann allenfalls der unterste Anteil des duodenalen C in die Doppelung in Binachi-Operation einbezogen werden. Bei der Verlängerungsoperation trifft nun das dilatierte Duodenum auf das Darmlumenreduzierte Jejunum, was erfahrungsgemäß zu erheblichen funktionellen Stenosen führt. Es ist deshalb primär bei der
. Abb. 28.6. Mesenteriale Längsspaltung unter Schonung der Darmendgefäße rechts und links
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Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
. Abb. 28.7. Eine invertierende Naht formt die neuen Darmröhren, die zunächst parallel liegend die gleiche Richtung wie die Peristaltik aufweisen
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. Abb. 28.8. Durch Bildung einer Darmschlinge lassen sich die Anastomosen so durchführen, dass ein isoperistaltischer Transport gewährleistet ist
. Abb. 28.9. Ist das Gefäßdreieck groß genug, wie z. B. bei größeren Patienten, kann ein Klammernahtgerät zur Längsteilung Verwendung finden
Verlängerungsoperation bereits ein »tapering« in Form einer duodenalen Faltung oder eine antimesenteriale Resektion angezeigt, die einen allmählichen Übergang vom proximalen dilatierten Duodenum in die Darmlumen-reduzierte erste Jejunumschlinge garantiert. Auch am distalen Duodenum ist die Verlängerung mit der STEP-Methode unter Benutzung der antimesenterialen Zirkumferenz möglich. Frühkomplikationen sind zu bedenken. Ischämische Abschnitte im Darm können nekrotisch werden und zur Peritonitis führen. Anastomosennahtinsuffizienzen, sowohl der großen Längsnähte als auch der zirkulären Anastomosen, verlangen im Zweifelsfall eine frühzeitige Re-Laparotomie mit Übernähung der Insuffizienz. Kleine intraabdominelle Abszesse, die durch Insuffizienz verursacht wurden, sind möglicherweise auch nur durch eine reine Drainage zu therapieren.
335 28.6 · Therapie
. Abb. 28.10. Die serielle, transversale Enteroplastie (STEP) wurde von Kim 2003 als alternatives Verfahren publiziert, setzt aber ebenfalls eine deutliche Darmdilatation voraus
Serie von Bianchi selbst wird auf eine Transplantation im postoperativen Verlauf nicht eingegangen. Prophylaktische Cholezystektomie. Bei Kindern mit ausgeprägtem Kurzdarmsyndrom, bei denen mit einer parenterale Langzeiternährung und konsekutiver Gallensteinbildung gerechnet werden muss, sollte erwogen werden, im Rahmen der beschriebenen Operationen auch eine prophylaktische Cholezystektomie mit durchzuführen. Dies gilt besonders, wenn aufgrund mehrerer Laparotomien bereits ein Verwachsungsbauch vorliegt.
Postoperative Betreuung . Abb. 28.11. Intraoperativer Situs beim STEP-Verfahren
Darmtransplantation. Die Erfolge der Darm und Lebertransplantationen sind permanent im Fluss. Die pädiatrischen Daten des weltweiten intestinalen Transplantationsregisters (Grant et al. 2005) umfasste 2004 über 600 Transplantate und 560 Patienten mit 16,6% Abstoßungen und 8,2% Nachtransplantaten. Die Anzahl der überlebenden Kinder betrug 47,8% und die Anzahl der überlebenden Transplantate knapp 40% nach 5 Jahren. Hierbei gab es keine statistisch relevanten Differenzen zwischen der Darmtransplantation und der En-bloc-Transplantation von Leber und Darm zu gleichen Zeitpunkt. Anhand der 2001 und 2006 publizierten Serie von 19 bzw. 21 Kurzdarmpatienten aus Pittsburg/USA (Bueno 2001; Wada 2006) benötigten allerdings 60% der überlebenden Patienten nach einer Bianchi Operation eine Darmtransplantation. Von den eigenen 42 überlebenden Patienten nach Bianchi wurde ein Kind transplantiert. Zu der
Die postoperative Betreuung dieser Patienten mit operiertem Kurzdarmsyndrom ist genauso wichtig wie der Erfolg der Operation selbst. Hier gibt es eine Lernkurve, aus der sich folgende Argumente ergeben haben: Es sind auch postoperativ bis zu 10 Stühle pro Tag zu tolerieren, insofern sie Konsistenz haben, andernfalls muss die orale Nahrungszufuhr variiert werden. Die orale Zufuhr beginnt bereits wenige Tage nach der Operation, so bald erste Peristaltik auskultierbar ist und die Magensonde kein galliges Sekret mehr fördert. Qualität und Art der Nahrung sollten sich danach richten, was vorher vertragen wurde. > Die parenterale Ernährung sollte frühzeitig reduziert werden, um die enterale Resorption zu fördern.
Während dieser Zeit der Förderung an weitere Adaptation darf das Kind durchaus auch etwas abnehmen; ein geringer Gewichtsverlust soll nicht sofort wieder zur Erhöhung der parenteralen Kalorienzufuhr führen. Es ist Elementardiät durchaus bei vielen Kindern einzusetzen, so dass hierdurch die parenterale Ernährung reduziert werden kann. Das Ma-
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Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
nagement der parenteralen Ernährung wird meistenteils durch die Mutter noch während des stationären Aufenthaltes erlernt und kann dies zu Hause meist sehr gut weiter übernehmen. Der Zeitpunkt der Entlassung aus der Krankenhausbetreuung ist dann gegeben, wenn die erste orale Belastungsgrenze bei recht schnellem Aufbau erreicht war und das Kind oral wieder auf dem vorherigen Stand ist. Dies zeigt sich in einem Kippen der Stühle und anschließendem Wiederaufbau oral bis zu dieser Grenze. Alle weitere Adaptation wird jetzt voraussichtlich sehr langsam vor sich gehen, so dass das heimatnahe Krankenhaus oder die Mutter zu Hause die Betreuung übernehmen kann. Die ruhiger häusliche Umgebung fördert Mutter und Kind. Die Nahrung selbst ist Wunschkost und hiermit meistens sehr salzig und scharf. Die Nahrungsmenge ist abhängig von der Stuhleigenschaft und Konsistenz. Es gilt auch in dieser Zeit große nicht kalorientragende Flüssigkeitsmengen zu vermeiden. Zirkadiane parenterale Zufuhr und orale maximale Belastung bedingen gute Überwachung. An die Möglichkeit von nächtlichen oralen Ernährungspumpen statt parenteraler Ernährung oder parenterale Zufuhr nur im 2-Tages-Rhythmus ist zu denken.
Spätkomplikationen Übersicht Spätkomplikationen nach operativer Therapie 4 4 4 4 4
Sekundäre Dilatation Transportstörungen Überwucherung der Bakterien Azidose Cholelithiasis, Urolithiasis
Nach der Operation ist die Adaptationsreaktion nicht zu Ende. Eine bakterielle Überwucherung ist über Duodenaloder Stuhlkultur möglich, ebenso wie über H2-Atemtest. Geht die Dilatation des Darms entsprechend massiv weiter, wird eine neue sekundäre Dilatation die Folge sein, was wiederum zu Transportstörungen und Überwucherungsreaktionen mit Bakterien resultieren kann. Hier können alle Maßnahmen wie präoperativ wieder angesetzt werden, um regulierend einzugreifen. Die klinische Langzeitsituation zeigt ein Kind mit ausladendem Abdomen, permanenter oraler Nahrungsaufnahme zur Kaloriendeckung mit voluminösen weichen Stühlen und 3–4 Defäkationen pro Tag. Langfristig muss darauf geachtet werden, dass die Kurzdarmpatienten häufig Steine im Bereich der Gallenwege oder im Bereich der ableitenden Harnwege bilden. Nicht selten sind die Patienten azidotisch mit entsprechendem Leistungsverlust und Schläfrigkeit, was wie präoperativ zu einer Gabe von Bikarbonat oral oder i.v. veranlassen muss.
! Cave Die Zufuhr von rechtsdrehender Milchsäure (wie z. B. Joghurt) ist wegen der Gefahr einer D-Laktatazidose zu streichen.
Aufgrund der Resorptionsproblematik sind Spurenelemente und Vitamine neben dem chronischen Salzdefizit permanent zu überwachen. Grundsätzlich sind alle diese Kinder mit einem Kurzdarmsyndrom ausgesprochen Darminfekt-gefährdet. Wegen der permanenten Forderung der Immunabwehr empfehlen wir deshalb keine aktive Impfung bei diesen Patienten.
Langzeitergebnisse Die Ergebnisse der eigenen 53 Patienten sollen die Möglichkeit dieser Kurzdarmpatienten erläutern. Die eigene Serie hatte ein Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Operation von 22 Monaten und eine Durchschnittslänge von 28 cm, die Nachbeobachtungszeit betrug 80 Monate. Die Verlängerung bei der Bianchi-Operation antimesenterial gemessen betrug 45 cm. Die rechnerisch ermittelte doppelte Darmlänge konnte damit nicht erreicht werden, da der Darmdurchmesser halbiert eine kleinere Kreisformation bildet. Ca. 80% konnten auf volle orale Ernährung nach durchschnittlich 10 Monaten umgestellt werden. Je 20% waren teils noch nicht endgültig beurteilbar oder nicht entwöhnbar. Klinische Langzeitprobleme bestanden in Azidose, abdominellen Beschwerden und perianalen Hautproblemen. 2/3 der Patienten blieben unter der 10. Perzentile in ihrer Gewichtsentwicklung. Das physische Erscheinungsbild war allerdings in 40% normal und in 50% nur gering reduziert, lediglich 10% waren physisch ernsthaft behindert. Ihre geistige Entwicklung erlaubte ihnen zu 75% einen normalen Schul- oder Oberschulbesuch, wohingegen 25% eine Behindertenschule besuchte. Das Langzeitüberleben betrug 79% (ohne Lernkurve 89%; . Tab. 28.1) und steht hiermit noch bis heute in einem deutlichen Gegensatz zu Überlebensraten der Transplantate bzw. der transplantierten Patienten mit ca. 50% nach 5 Jahren. In der Literatur (Goulet et al. 2005) ist eine Gruppe von 87 Patienten mit Kurzdarm ohne Verlängerungsoperation über einen Zeitraum von 15 Jahren ausgewertet. Eine permanente Abhängigkeit von parenteraler Ernährung ergab sich bereits bei Darmlängen von unter 40 cm und fehlender Bauhin-Klappe, weshalb alle diese Patienten als extreme Kurzdarmpatienten deklariert werden. Die zweite Gruppe mit einer durchschnittlichen Länge von 35 cm Restdünndarm und einer Bauhin-Klappe in 50% der Fälle benötigten eine parenterale Ernährung durchschnittlich 47 Monate. Die gute Gruppe, die nach durchschnittlich 16 Monaten ohne parenterale Ernährung auskam, besaß noch in 81% der Fälle die Bauhin-Klappe und eine durchschnittliche Restdünndarmlänge von 57 cm±19 cm. Daraus wird der
337 28.6 · Therapie
. Tab. 28.1. Mortalität der operierten Patienten im eigenen Krankengut (n=53, 1984–2005) Anzahl Patienten
Anteil
Intraoperativ
0
0%
Postoperativ (gesamt seit 1984)
9
17%
Postoperativ (nach 1987)
5
10%
Leberinsuffizienz
4
Kathetersepsis
1
Pilzsepsis
2
Aspiration (nach 1,8 Jahren, voll oral ernährt)
1
Multiple Thrombosen
1
Trotz fehlender intraoperativer Mortalität waren anfangs 4 Patienten in ihrer Leberzirrhose und schlechter Gerinnung so fortgeschritten, dass sie nicht mehr einer Doppelungsoperation hätten unterzogen werden sollen. Unseres Wissens wurde nur 1 Patient später transplantiert
28.6.5
Prognose
Eine kontinuierliche Abhängigkeit von parenteraler Ernährung über mehr als 18 Monate postoperativ bedeutete in der eigenen Serie eine schlechte Prognose hinsichtlich des Überlebens ohne Transplantation (p=0,0032). Der Einfluss von primärer Darmlänge alleine zum Überleben zeigt keine Signifikanz in den Bereichen über 30 cm Ausgangslänge des Dünndarms. Eine Tendenz ergibt sich zwangsläufig bei kürzeren Restdarmlängen unter 20 cm. In der Literatur liegt diese Grenze zur schlechten Prognose bei 40 cm (Goulet 2005). Ein Einfluss der Ileozökalklappe alleine wurde nicht signifikant (p=0,6113). Eher besitzt die Länge des verbliebenen Kolon zur Salz und Wasserresorption einen Einfluss auf die Prognose. Entscheidend sind begleitende Morbiditäten, wie vor allen Dingen der Leberstatus und die Sepsis zur Abschätzung einer Prognose, was für eine zeitgerechte Operationsindikation zur Darmverlängerung wie für eine Transplantation in Rechnung gestellt werden muss.
Literatur Schluss gezogen, dass die Dauer der parenteralen Ernährung von der verbleibenden Dünndarmlänge und der Bauhin-Klappe abhängig sei, ohne dass hier statistische Berechnungen erfolgten. Aus Pittsburgh werden 19 konsekutive Patienten mit Bianchi-Operation von 1984–2004 mit einer Nachbeobachtungszeit von 4 Jahren beschrieben. Dabei konnten 44% durch die Bianchi-Operation alleine behandelt werden, 56% benötigten eine Darmtransplantation nach der Bianchi Operation. 21% verstarben im Verlauf der Nachbeobachtungszeit, während 3 Patienten noch auf totale parenterale Ernährung angewiesen waren (Walker at al. 2006). Psychosoziale Auswirkungen sind in diesen Familien mit einem Kurzdarmkind die Regel und nicht außer Acht zu lassen. Die Belastung für das Familienleben sowohl für Ehegatten als auch Geschwister ist enorm. Nicht selten führt dies zu größten Eheschwierigkeiten, so dass für zusätzliche Hilfen wie Brückenschwestern oder Hilfskräfte vor der Entlassung in die häusliche Versorgung gesorgt werden muss. Nicht der Tod dieser Kinder allein sondern das Leben ist das dauerhafte Problem (Waag u. Holzer 2006). Eine Publikation (Sudan 2007) vergleicht die Ergebnisse nach Bianchi (LILT) gegen Kim (STEP) bei recht großen Restdarmlängen von 44 cm bzw. 45 cm (teils bis 150 cm) und ungleichen Altersgruppen (1,2 versus 2,2 Jahre) und ungleichen Operationszeiträumen, sowie ungleichen Nachbeobachtungszeiten (5,9 versus 1,7 Jahre). Danach scheint das STEP-Verfahren technisch weniger aufwändig und komplikationsärmer zu sein und in der Tendenz bessere Überlebensraten auszuweisen.
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28
338
28
Kapitel 28 · Kurzdarmsyndrom
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29
29 Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie A.M. Holschneider
29.1
Häufigkeit
– 339
29.2
Genetik
– 340
29.3
Pathophysiologie – 341
29.3.1 29.3.2 29.3.3 29.3.4 29.3.5 29.3.6 29.3.7 29.3.8 29.3.9
Physiologie der Peristaltik – 341 Morbus Hirschsprung – 342 Hypoganglionose – 343 Ganglienzellunreife – 343 Intestinale neuronale Dysplasie – 344 Desmose – 345 Erworbener Ganglienzellverlust – 345 Begleitfehlbildungen bei Morbus Hirschsprung – 346 Begleitfehlbildungen des Darms – 346
29.4
Klinik
29.5
Diagnostik – 348
29.5.1 29.5.2 29.5.3 29.5.4
Radiologische Diagnose – 348 Transitzeitbestimmung – 350 Anorektale Manometrie – 350 Histologie – 351
29.6
Differenzialdiagnose – 354
29.7
Therapie
29.7.1 29.7.2 29.7.3 29.7.4 29.7.5 29.7.6
Enterostoma – 355 Resektionstechniken – 355 Postoperative Behandlung – 359 Komplikationen – 359 Megakolon mit ultrakurzem Segment Analachalasie – 363
– 347
> Als Morbus Hirschsprung im engeren Sinn bezeichnet man eine, erstmals 1886 von Harald Hirschsprung (Hirschsprung 1887) beschriebene Erkrankung, bei der wie Titel 1901 (Tittel 1901) entdeckte, die Nervenzellen im Darm fehlen. Die Folgen sind Subileus- oder Ileuserscheinungen bis hin zur toxischen Peritonitis. Das Krankheitsbild umfasst aber inzwischen auch andere Fehlbildungsformen des enteralen Nervensystems wie die Hypoganglionose, bei der die Ganglien hypoplastisch sind und ihre Zellzahl vermindert ist oder die Hyperganglionose, bei der die Anzahl der Nervenzellen innerhalb der Darmwandganglien erhöht ist. Betrifft diese Fehlbildung nur den Plexus submucosus, spricht man nach Meier-Ruge (1971) von einer intestinalen neuronalen Dysplasie (IND). Es kann jedoch auch – insbesondere im Tiermodell – zu IND-ähnlichen Veränderungen des Plexus myentericus kommen. Weiterhin gibt es Reifestörungen der Darmwandplexus, Fehlbildungen des enteralen Bindegewebes (Desmose), Erkrankung der interstitiellen Cajal-Zellen, die Motilitätsstörungen zu Folge haben, und weitere Dysmorphien, die entweder keine funktionelle Bedeutung haben wie die Ektopie von Ganglien in die Ringmuskulatur, oder morphologische Veränderungen, deren funktionelle Bedeutung noch nicht eindeutig geklärt ist wie ein herabgesetzter Parasympathikotonus des Plexus myentericus.
– 354
– 362
Literatur – 365
29.1
Häufigkeit
Eines von 5000 Neugeborenen leidet unter einem Morbus Hirschsprung (Lantiere et al. 2008). Die Häufigkeit ist in der asiatischen Bevölkerung mit 2,8:10.000 am höchsten, in der hispanischen Bevölkerung mit 1:10.000 am niedrigsten. 70–80% der Betroffenen sind Knaben, d. h. das Verhältnis Knaben : Mädchen beträgt 4:1. 20% der Fälle sind familiär, jedoch meist mit sporadischem Auftreten (Garver et al. 1985; Badner et al. 1990; Chakravarti u. Lyonnet 2001). Etwa 25–30% der familiär erkrankten Patienten leiden gleichzeitig unter anderen Erkrankungen wie Chromosomenanomalien (12%), Neurokristopathien oder einer Vielzahl von Einzelerkrankungen oder Syndromen (Amiel u. Lyonnet 2001) im Gegensatz zu nur 10% bei den nichtfamiliären Hirschsprung-Erkrankungen (Schiller et al. 1990). Insbesondere Patienten mit Down-Syndrom haben ein deutlich höheres Risiko, an einem M. Hirschsprung zu erkranken (5%) als die Normalbevölkerung (1:5000). Das Wiederholungsrisiko unter Geschwistern schwankt zwischen 1% und 33% in Abhängigkeit vom Geschlecht und der Länge des aganglionären Segments des Patienten. Es liegt bei 3% für kurzstreckige und 17% für langstreckige Aganglionosen (Kaiser u. Bettex 1982; Russel et al. 1994; Passarge 1972). Es ist wahrscheinlicher, dass die Erkran-
340
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
kung durch eine Mutter mit Aganglionose übertragen wird als durch den Vater. 12,5% der Geschwister eines Patienten mit totaler Aganglionose des Kolons (Zuelzer-Wilson-Syndrom) erkranken ebenfalls an einer langstreckigen Aganglionose (Engum et al. 1993). > Das Wiederholungsrisiko für Geschwister liegt bei 4% und ist am höchsten für den Bruder einer an einem langstreckigen Megakolon erkrankten Schwester. Deshalb muss in einem solchen Fall eine systematische molekulargenetische Untersuchung von Exon 10 und 11 des Ret-Gens aller Familienmitglieder erfolgen (Yin et al. 1994; Seri et al. 1997; Borst et al. 1995).
Besondere Aufmerksamkeit muss hierbei dem MEN-IIaSyndrom und dem medullären Schilddrüsenkarzinom (MTC) gewidmet werden. Auch bei der neuronalen intestinalen Dysplasie (IND) wurden erbliche Fälle beschrieben (Moore et al. 1993).
29.2
29
. Tab. 29.1. Zusammenstellung von Genen, die an der Entstehung eines Morbus Hirschsprung beteiligt sind (Lantieri et al. 2008; Passarge 2002) Gen
Genort
Hauptwirkung
Penetranz
RET
10q11
Dominant, Funktionsverlust MEN2
50–72%
GDNF
Sp13
Dominant/rezessiv
Unbekannt
EDNRB
13q22
Rezessiv WS4
30–85%
EDN3
20q13
Rezessiv WS4
Unbekannt
SOX10
22q13
Dominant/rezessiv WS4, PCWH
>80%
ECE1
1p36
Dominant/rezessiv
Unbekannt
NTN
19p13
Unbekannt
Unbekannt
SIP1
2q21-23
Sporadisch Mowat-Wilson
Unbekannt
PHOX2B
4p12
CCHS
Unbekannt
KIAAI1279
10q21.3-22.1
GOSHS
Unbekannt
Genetik
Die erste Beschreibung einer Aganglionose bei Mäusen erfolgte im Jahre 1957 durch Derrick (1957). Die Vererbung bei Menschen wurde 1992 durch Martuciello et al. (1992) bei einem Fall von totaler Aganglionose beobachtet. Das sl-Rattenmodell (»spotted lethal«) zeigt 2 Untergruppen, zum einen die totale Kolonaganglionose, zum anderen, weniger häufig, Tiere, bei denen die Ganglienzellen das Kolon bis zur proximalen Hälfte besiedeln (Ikaida et al. 1979, 1981). Das sl-Mäusemodell zeigt eine Aganglionose von ungefähr 2 mm (Lane u. Liu 1966), während ein anderer Stamm Aganglionosen bis zu 10 mm Länge aufweist. Insbesondere das RET-Knockout-Gen am Chromosom 10 ist für den menschlichen Morbus Hirschsprung verantwortlich (Cass 2000). Dabei handelt es sich vor allem um langstreckige Aganglionosen. Es bleibt unklar, warum die familiäre Häufigkeit beim kurzstreckigen Morbus Hirschsprung geringer ist als beim langstreckigen. In einer Studie von Bolk et al. (2002) an 49 Familien mit insgesamt 106 betroffenen Angehörigen wurde eine RET-Mutation bei 17 von 43 Familien gefunden. Dass dies nicht bei allen Familienmitgliedern der Fall war, weist auf spontane Mutationen hin. Es ist aber bekannt, dass der Darm von Nervenzellen aus der Neuralleiste besiedelt wird. Diese Besiedelung erfolgt unter der Kontrolle von Genen, wobei 3 Wege bekannt sind (. Tab. 29.1; Lyonnet et al. 1993; Angrist et al. 1993; Wakamatsu 2000; Hofstra 2000): 4 Rezeptortyrosinkinase (RET), die auf den RET-Rezeptor und seine Liganten GDNF (»gliacell-line-derived neurotrophic factor«) einwirkt 4 Endothelin-B-Rezeptor (EDNR) und sein Ligand Endothelin-3 (EDN 3) 4 SOX-10-vermittelte Transkription (Passarge 2002; Lantiere et al. 2008; . Tab. 29.1)
CCHS »congenital central hypoventilation syndrome«; GOSHS Goldberg-Shprintzen-Syndrom; MEN2 MEN-2-Syndrom; multiples endokrines Neoplasiesyndrom; PCWH »peripheral demylinating neuropathy«, »central dysmyelinating leukodystrophy«, Waardenburg-Syndrom mit Hirschsprung-Erkrankung; WS4 WaardenburgSyndrom Typ 4
Mutationen dieser 10 in . Tab. 29.1 aufgeführten Gene führen teils dominant, teils rezessiv, teils sporadisch zu einem Morbus Hirschsprung. Die Wirkungen der aufgeführten Gene scheinen eine gegenseitige Abhängigkeit zu zeigen. Darüber hinaus folgen Allel-Mutanten gewöhnlich keinem Mendelschen Vererbungsmodus. Die Mutationen sind also nicht vollständig penetrant. Dominante Mutationen im RET-Onkogen wurden in 50% der familiären Fälle mit Morbus Hirschsprung und bei 15–35% der isolierten Fälle beobachtet. Die EDNRB-Mutationen sind rezessiv mit einer Penetranz von 30–80%. Die hohe Frequenz sporadischer Morbus-Hirschsprung-Fälle, die Variationsbreite hinsichtlich der Länge des aganglionären Segmentes bei den verschiedenen Familienmitgliedern und deren Geschlechtsabhängigkeit lassen jedoch eine multifaktorielle Genese des Morbus Hirschsprung vermuten. Bis heute ist unklar, ob die genetischen Defekte zu einem Untergang von Zellen der Neuralleiste führen, einer Verhinderung oder Behinderung ihrer Migration oder auf einer Störung des peripheren Mikrokosmos im Bereich der Darmwand beruhen. Das Bindeglied zwischen genetischen Defekten und der Pathophysiologie bleibt daher offen. Auch bei der IND zeigen verschiedene Studien eine Korrelation zwischen einem Ncx/Hox 11L1-Mangel und
341 29.3 · Pathophysiologie
dem Auftreten einer IND bei Mäusen und Ratten. Ein weitere pathogenetischer Weg könnte ein Endothelin-B-Rezeptormangel sein (Holschneider et al. 2008, Puri 2003; Puri u. Shinkai 2004).
29.3
Pathophysiologie
Die Pathophysiologie des Morbus Hirschsprung besteht in einer schweren Beeinträchtigung oder einem Fehlen der propulsiven Darmmotilität, wobei manometrisch nur multisegmentale Massenkontraktionen zu beobachten sind. Der Musculus sphincter ani internus zeigt keine Relaxationen als Ausdruck der fehlenden Erschlaffung der glatten Muskulatur. In gleicher Weise ist auch die Erschlaffungsphase des peristaltischen Reflexes aufgehoben. Trotzdem können spontane Depolarisationen der glatten Muskulatur durch Dehnung oder Vagusreize, abgeschwächte Kontraktionen der Längsmuskulatur möglich machen und mit Unterstützung der Bauchpresse zu Darmentleerungen, wenn auch mit erheblichen Schwierigkeiten und deutlich verzögerten Defäkationsintervallen führen. Bei einer chronischen Obstipation mit Defäkationsintervallen von mehr als 3 Tagen über einen mehrmonatigen Zeitraum sollte deshalb immer auch an eine Innervationsstörung des Darms gedacht werden.
29.3.1
Physiologie der Peristaltik
Die Peristaltik besteht aus einer Kontraktion der Ringmuskulatur oberhalb eines intraluminalen Bolus bei gleichzeitiger Relaxation unterhalb (. Abb. 29.1). Gleichzeitig kontrahiert sich die Längsmuskulatur über dem Darminhalt, was zu einem von oral nach aboral gerichteten Verschieben des Stuhles führt. Die Regulation dieses Reflexes erfolgt über die Plexus myentericus und submucosus sowie adrenerge Interneurone der efferenten und afferenten Nervenfasern (Holschneider u. Steinwegs 2008). Die von den Dehnungrezeptoren der Darmwand aufgenommenen Impulse werden über Interneurone (weiße Rauten) und peptidergen Synapsen zu NANC-Hemmneuronen weitergeleitet. Die Stimulation der NANC-Neurone führt zu einer neurogen hervorgerufenen, peptidergen Relaxation aboral des Stuhlbolus. Oral des Bolus kommt es über cholinerge Synapsen (schwarze Rauten) zu einer Kontraktion der Ringmuskulatur. Schrittmacherneurone (S) erzeugen zusätzliche spontane Aktivitäten im Sinne eines Rebound-Effekts. Sie sind im Stach-Plexus (Plexus submucosus extremus) gelegen und entsprechen den Cajal-Zellen.) Die Dehnung der Darmwand durch einen Stuhlbolus führt zu einer spontanen Depolarisation von Schrittmacherzellen (S) in der glatten Muskulatur. Diese elektrischen Impulse werden durch cholinerge Neurone und Interneurone zum Plexus submucosus und myentericus geleitet. Die
. Abb. 29.1. Schematische Darstellung des normalen peristaltischen Reflexes. LM Längsmuskulatur; AP Auerbachs-Plexus; CM Ringmuskulatur; SM Plexus submucosus; M Mukosa; BV Blutgefäße; S Schrittmacherneuron mit spontaner Aktivität, gelegen in den interstitiellen Cajal-Zellen des Stach-Plexus; gestrichelte Linien = postganglionäre, adrenerge Fasern; durchgezogene Linien = präganglionäre, cholinerge Fasern; kleine Pfeile = peptiderge Transmitter; Kreise = sensorische Neurone
Interneurone sind weder adrenergen und noch cholinergen Ursprungs, sondern abhängig von Adenosintriphosphat (ATP), vasoaktivem intestinalem Peptid (VIP) und Nitritoxid (NO). Diese Hormone wirken direkt auf die glatte Muskulatur ein. Die Ganglien der intramuralen Plexus enthalten normalerweise 4–6 Ganglienzellen und stehen unter dem Einfluss von extramuralen cholinergen und adrenergen Neuronen, die sowohl die Ganglien wie auch die Blutgefäße und die Mukosa versorgen. Adrenalin reguliert die Freisetzung von Acetylcholin an den cholinergen Synapsen. Zusätzlich zu diesen Fasern sowie den intramuralen Plexus spielen interstitielle Zellen (Cajal-Zellen), die den Astrozyten des zentralen Nervensystems ähnlich sind, eine wichtige Rolle für die Innervation. Der entscheidende Neurotransmitter ist das Nitritoxid, das eine Relaxation der glatten Muskulatur des Intestinaltraktes verursacht. Es kann durch die Darstellung der NADPH-Diaphorase (Nikotinamid-Adenin-NukleotidPhosphat-Diaphorase) histochemisch dargestellt werden. Darüber hinaus sind auch andere peptiderge Neurone, die VIP, Substanz P, Enkephalin, Neurokinin A, Histidin, Isoleuzin, Gastrin-freisetzendes Peptid u. a. enthalten, am peristaltischen Reflex beteiligt. Sie sind beim Morbus Hirschsprung entweder nicht nachweisbar oder vermindert.
29
342
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
> Eine entscheidende pathogenetische Bedeutung kommt jedoch dem fehlenden Nitritoxid als Ursache der mangelhaften Relaxation der glatten Muskulatur zu (Christensen 2008).
29
Gleiches gilt auch für den Musculus sphincter ani internus. Die Erschlaffung dieses glatten Schließmuskels im Rahmen der Defäkation erfolgt ebenfalls über nicht-adrenerge und nicht-cholinerge Neurone, durch Freisetzung von Nitritoxid, VIP und anderen peptidergen Neuronen (Holschneider u. Kunst 2008). Der hohe Ruhetonus des Muskels wird jedoch durch α-adrenerge exzitatorische Stimuli, die über die hypogastrischen Nerven zur glatten Sphinktermuskulatur gelangen und dort zur Erregung von α-exzitatorischen Rezeptoren führen, verursacht. β-adrenerge Hemmneurone führen in geringerem Maße ebenfalls zur Relaxation des Musculus sphincter ani internus. Ob cholinerge Neurone einen Einfluss auf den glattmuskulären Schließmuskel oder Teile des Sphinkters haben, ist unbekannt. Das Fehlen oder die gestörte Wanderung neuroektodermaler Zellen aus der Neuralleiste in den Darm, die etwa ab der 5. Woche von kranialer in kaudaler Richtung vor sich geht, führt zu einer Fehlbesiedelung des Darms mit konsekutiver Aganglionose, Hypoganglionose, intestinaler neuronaler Dysplasie (IND), Ganglienzelldysmorphie oder zu einer verzögerten oder ausbleibenden Reifung von Nervenzellen. Im Falle einer Aganglionose treffen die adrenergen und cholinergen Fasern des extramuralen Nervensystems nicht auf die Ganglien der Darmwand. Sie schlängeln sich, knäueln sich auf, verbreitern sich und werden an den Enden kolbig aufgetrieben. Die fortgesetzte Freisetzung von Acetylcholin würde zu einer ständigen Kontraktion der Darmwand führen, wenn nicht in gleichem Maße Acetylcholinesterase freigesetzt würde. Das enge Segment ist daher nicht spastisch, sondern lediglich aperistaltisch und ständig eng gestellt (. Abb. 29.2). Die Erschlaffungsphase des peristaltischen Reflexes ist eliminiert, so dass Stuhlanteile nur durch unkoordinierte Kontraktionen vorwärts bewegt werden können, der Sphincter ani internus öffnet sich nicht, was einer neurogenen Sphinkterachalasie gleichkommt.
29.3.2
aborale Peristaltik, aber auch eine retrograde, orale Darmbewegung ermöglicht (Christensen 2008). Aufgrund dieser Pathophysiologie sind das Fehlen oder die pathologischen Veränderungen der Ganglien, Ganglienzellen und der Interneurone sowie die Darstellung der Acetylcholinesterase die entscheidenden Schlüssel zur Diagnose eines Morbus Hirschsprung. Hinzu kommen die histochemische Darstellung der NAPD-Diaphorase, der LDH (Laktatdehydrogenase) und der SDH (Succinyldehydrogenase). Allerdings hat auch die immunhistochemische Diagnostik eine Fehlerrate gerade bei langen aganglionären Segmenten von 8–10% (Athow et al. 1990; Holschneider 1983; 7 Kap. 29.5.4; . Abb. 29.9). Das aganglionäre Segment ist unfähig zu erschlaffen, da die NANC-Interneurone (nonadrenerg – noncholinerg) und Nitritoxid fehlen. Es vermag zwar noch unkoordinierte Darmbewegungen durchzuführen, erlaubt jedoch keinen geregelten Stuhltransport mehr. Diese ungeregelte Restmotilität, die von Patient zu Patient unterschiedlich ausgeprägt ist, erklärt nicht nur die unterschiedlichen Symptome bei gleich langem erkrankten Segment, sondern auch die fehlende Korrelation zwischen Morphologie und Funktion wie z. B. zwischen Transitzeit und Immunhistochemie (Ure et al. 1997, 1999). So kann ein aganglionäres Segment des Rektosigmoids bei einem Neugeborenen einen Ileus hervorrufen, bei einem Jugendlichen jedoch »nur« die Symptome einer schweren, chronischen, therapieresistenten Obstipation. Diese unterschiedliche Restmotilität erklärt auch die variierenden Symptome bei einer Hypoganglionose oder
Morbus Hirschsprung
Pathophysiologisch bedeutet also ein Morbus Hirschsprung eine multifaktorielle Fehlbildung aller Elemente des enteralen Nervensystems unterschiedlichen Ausmaßes. Zu beachten ist, dass die Peristaltik jedoch nicht nur durch die intramuralen Nervenstrukturen bedingt wird, sondern eben auch durch extramurale Einflüsse sowohl aus dem sakralen, parasympathischen Plexus und dem Plexus hypogastricus wie auch, bis zur linken Flexur, durch den Nervus vagus. Im Bereich des Rektums und Colon descendens besteht eine 3-fache Innervation (intramural, extramural und aus dem sakralen Plexus aszendierend), die eine kräftige,
. Abb. 29.2. Pathologische Innervation beim Megacolon congenitum Hirschsprung LM Längsmuskulatur; AP Auerbach-Plexus; BV Blutgefäße; CM Ringmuskulatur; SM Submukosa; M Mukosa
343 29.3 · Pathophysiologie
neuronalen intestinalen Dysplasie. Die funktionellen Unterschiede erklären auch, dass bei einigen IND-Patienten die Internusrelaxation normal oder sogar vertieft, bei anderen jedoch pathologisch sind oder fehlen und dass die Höhe des anorektalen Druckprofils/(ARDP) von Fall zu Fall schwankt. Die fehlende Relaxation des Musculus sphincter ani internus, also die neurogene Analsphinkterachalasie, ist jedoch konstanter Bestandteil des aganglionären Morbus Hirschsprung.
29.3.3
Hypoganglionose
Gewöhnlich findet sich oberhalb des aganglionären Segmentes eine hypoganglionäre Zone. Diese hypoganglionäre Zone ist unterschiedlich lang, so dass es Fälle gibt mit kurzer Aganglionose, jedoch langstreckigem hypoganglionärem Segment. Diese Tatsache muss bei der Entnahme von Saugbiopsien sowohl prä- wie intraoperativ beachtet werden. Die Hypoganglionose kann jedoch auch in einer Häufigkeit von 5% als selbstständige Erkrankung vorkommen, wobei definitionsgemäß die Anzahl der Ganglienzellen um den Faktor 10 und die Dichte der Nervenfasern um den Faktor 5 verringert sein müssen (Meier-Ruge 1969, 2008; Meier-Ruge et al. 1999). Die Acetylcholinesterase-positiven Fasern sind verringert. Die Anzahl der Nervenzellen im Bereich des Plexus myentericus beträgt nur 50% der normalen Nervenzellpopulation des gesunden Kolons und der Abstand zwischen den Ganglien ist verdoppelt. Die durchschnittliche Größe der Ganglien ist 3-mal kleiner als bei Gesunden. Die Hypoganglionose bei Morbus Hirschsprung oder in Zusammenhang mit einer IND unterscheiden sich histochemisch nicht. Patienten mit Hypoganglionose und IND, zeigen jedoch deutlich verringerte Neuralzell-Adhäsionsmoleküle und eine herabgesetzte NAPD-Diaphorase-Aktivität (Kobayashi 1996). Die Diagnose einer Hypoganglionose kann nur in Ganzwandbiopsien gestellt werden, da der Beurteilung des Plexus myentericus eine entscheidende Bedeutung zukommt. Da die Hypoganglionose des Übergangssegmentes sich manchmal nur auf ein kurzes proximales Kolonsegment beschränkt, manchmal jedoch auch den gesamten Dickdarm betreffen kann und auf der anderen Seite das aganglionäre Segment sehr kurz sein oder ebenfalls den gesamten Dickdarm umfassen kann, genügen ein oder zwei Saugbiopsien nicht, um das Ausmaß der notwendigen Resektion festzulegen. Auch intraoperativ müssen Stufenbiopsien, über die Anzahl der Nervenzellen/Ganglion sowie über die Morphologie der Ganglienzellen und die Länge des betroffenen Darmabschnittes Auskunft geben. Am besten wäre natürlich eine morphometrische Bestimmung der Anzahl der Ganglien/cm2, wie sie die Häutchentechnik (»whole mount«) ermöglicht, bei der die einzelnen Darmwandschichten tangential und nicht vertikal präpariert werden.
> Da die Färbemöglichkeiten und die Untersuchungszeit während eines Schnellschnittes beschränkt sind, ist es sinnvoll, bereits vor Beginn der Operation eine möglichst genaue topographische Diagnose über die Länge der Fehlbildung zu erstellen.
Postoperativ muss beachtet werden, dass die im Rahmen einer Operation vorgefundene Histopathologie im Krankheitsverlauf nicht immer konstant bleibt, sondern der orale Resektionsrand postoperativ weiteren Veränderungen unterworfen sein kann. So kann es durch Apoptose zu einer fortschreitenden Hypoganglionose kommen (Holschneider et al. 2008; . Abb. 29.10). Eine Hypoganglionose kann auch Ursache postoperativ persistierender Beschwerden sein. Ebenso kann eine Hypoganglionose (oder sogar Aganglionose) sekundär durch Ischämie eines primär gesunden, verlagerten Kolons entstehen. Bei einer Hypoganglionose besteht meist ebenfalls eine neurogene Analsphinkterachalasie.
29.3.4
Ganglienzellunreife
Unreife Ganglienzellen zeigen monopolare schmale Dendriten und können am besten durch die Laktatdehydrogenase (LDH)-Färbung nachgewiesen werden (Meier-Ruge 2008). Diese Nervenzellen in den unreifen Ganglien zeigen im Allgemeinen kein Dehydrogenase-enthaltendes Zytoplasma. Aus diesem Grunde kann zwischen Schwann-Zellen und Nervenzellen nicht unterschieden werden. Der Reifegrad der Ganglienzellen kann am besten durch die Anwendung der Succinyldehydrogenase (SDH)-Reaktion bestimmt werden, die als Test für spezifische mitochondriale Enzyme verwandt wird. Diese Enzymaktivität ist am niedrigsten während der ersten Lebenswochen. Die volle Ausreifung der Ganglienzellen benötigt 2–4 Jahre (. Abb. 29.1). Unreife Ganglienzellen können sowohl im Rahmen einer Hypoganglionose wie einer IND beobachtet werden und sollen nach Meier-Ruge (Meier-Ruge et al. 1999; Meier-Ruge 2008) gelegentlich auch für eine Darmobstruktion verantwortlich sein. Die Kombination von Hypoganglionose und Unreife wird auch Hypogenese genannt (Ikeda et al. 1988; Munakata et al. 1978). Fest steht jedoch, dass eine Unreife der Nervenzellen nur selten zu operativen Maßnahmen berechtigt. Erst, wenn der Reifungsprozess in Richtung einer IND oder einer Hypogenese abgeschlossen ist und obstruierende Symptome persistieren, dürfen resezierende Maßnahmen erwogen werden. Falls ausnahmsweise obstruktive Symptome auftreten, kann eine Kolostomie im rechten Oberbauch angelegt und die Reifung der Zellen histologisch über einen Zeitraum von etwa 0,5–1 Jahr beobachtet werden. Dann kann meist das Stoma, nach vorheriger Durchführung einer Transitzeitstudie und Biopsien aus dem abführenden Kolonsegment, wieder verschlossen werden. Wichtig ist, mit dem
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344
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
Verschluss eines Enterostomas nicht zu lange zu warten, da die Ausschaltung des Darms zu kolitischen Veränderungen und der Bildung von Schleimhautulzerationen führen kann, die nach Rückverlagerung allerdings wieder spontan verschwinden. ! Cave Eine Operationsindikation ergibt sich nur, wenn die Ganglienzellunreife in eine symptomatische IND übergeht.
29.3.5
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Intestinale neuronale Dysplasie
Da der Morbus Hirschsprung eine Anomalie der Wanderungen von Zellen der Neuralleiste darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass neben Aganglionose, Hypoganglionose und Reifestörungen auch Fehlbildungen der einzelnen Ganglien und ihrer Nervenzellen vorkommen (Holschneider et al. 1994). Die neuronale intestinale Dysplasie (IND) wurde 1971 erstmals von Meier-Ruge beschrieben und kann sowohl gleichzeitig mit einem Morbus Hirschsprung, einer Hypoganglionose als auch als eigenständige Erkrankung vorkommen. Ihr Hauptsymptom ist die chronische Obstipation. Sie kann mit Syndromen wie Neurofibromatose, Mukoviszidose, MEN-IIb-Syndrom, anorektalen Fehlbildungen und Dünndarmatresien vergesellschaftet sein. Nach Fadda et al. (1983) und Meier-Ruge (2008) wird eine IND Typ A von einer IND Typ B abgegrenzt. Neuronale intestinale Dysplasie Typ A. Die IND Typ A ist
charakterisiert durch einen Mangel an sympathischen Nervenfasern, verbunden mit einer Dysplasie des Plexus submucosus. Die parasympathische Hyperaktivität führt zu einer Spastizität der Blutgefäße mit konsekutiver Entzündung und Ulzerationen. Klinisch äußert sich diese Erkrankung in blutigen Stühlen kombiniert mit Ileus, also Zeichen eines toxischen Megakolons oder einer Enterokolitis. Aufgrund der Darmwandveränderungen in den Resektionspräparaten kann die IND Typ A kaum von der Enterokolitis und dem toxischen Megakolon abgegrenzt werden. Sie ist außerordentlich selten. Einzelfälle wurden daher bisher kaum beschrieben. Die IND Typ A wird nach Meier-Ruge (1992) nur bei 1,4% aller neuronalen, intestinalen Fehlbildungen gefunden (. Abb. 29.3). Neuronale intestinale Dysplasie Typ A. Die IND Typ B ist wesentlich häufiger, wobei jedoch die Angaben über ihre Häufigkeit stark schwanken. Meier-Ruge diagnostizierte sie in 24,7% der ihm zugesandten Biopsien (1992). In unserem Krankengut lag die Häufigkeit bei 14,2% (Ure u. Holschneider 2000). Bei 53% der Kinder herrscht die chronische Obstipation vor, bei 20% soll es allerdings auch zu Subileus- und Ileus-Erscheinungen kommen, bei 12% zu einer Kolitis und
. Abb. 29.3. Schematische Darstellung einer IND Typ A (fehlende adrenerge Fasern zu den Blutgefäßen (BV). LM Längsmuskulatur, AP Auerbach-Plexus, CM Ringmuskulatur, SM Submukosa, M Mukosa, eng gestrichelt adrenerge Fasern
bei 10% zu blutigen Stühlen mit Erbrechen und Fieber (Csury u. Pena 1995). Unsicher bleibt allerdings die Korrelation zwischen den morphologischen Veränderungen des Plexus submucosus und der Darmmotilität. Das Spektrum der Symptome reicht von keinen Symptomen bis zum chronischen Ileus, der eine Resektionsbehandlung notwendig macht (. Abb. 29.4; . Abb. 29.11). Die Diagnose einer IND Typ B basiert im Wesentlichen auf dem Nachweis vergrößerter Ganglien, die mehr als 7–29 Ganglienzellen (16 LDH-positiv) enthalten. Die Größe der einzelnen Ganglienzellen ist kleiner (39 μm2) als beim Gesunden (57 μm2). Die Dichte der Ganglien ist ebenfalls größer (39/mm2) als normal (18/mm2; Schärli 1992). Riesenganglien. Die vergrößerten Ganglien repräsentie-
ren 60% aller Ganglien des erkrankten Darmabschnittes. Darüber hinaus ist die Morphologie der Nervenzellverbände und der Nervenfasern verändert. Häufig zeigen die Muscularis mucosae und manchmal die Lamina propria mucosae heterotope Nervenzellen oder Ganglien. Die Acetylcholinesteraseaktivität ist in den Nervenfasern der Lamina propria mucosae erhöht, normalisiert sich jedoch im Alter von 9–18 Monaten. Meier-Ruge (2008) glaubt, dass 25–30 serielle Schnitte, die mit der LDH-Färbung untersucht werden müssen, für eine klare Diagnose notwendig sind. Denn 30–55% aller Serenschnitte enthalten keine Ganglien in der Submukosa. Bei einer IND BA sind 20–26% aller Ganglien Riesenganglien.
345 29.3 · Pathophysiologie
Die IND kann auch Ausdruck einer neuromuskulären Hypertrophie proximal einer intestinalen Obstruktion sein (Pickard et al. 1981; Holschneider et al. 1994). Die IND wurde im Tierversuch mehrfach nachgewiesen und es besteht kein Zweifel, dass sie auch familiär auftreten kann. Es besteht jedoch keine Korrelation zwischen den morphologischen Befunden und der Darmfunktion. ! Cave Der Nachweis einer IND berechtigt daher allein noch nicht zu einem operativen Vorgehen, weder zu einer Sphinkteromyotomie oder Sphinktermyektomie noch zu einer Resektion. Die Therapie ist im Wesentlichen konservativ (Ure et al. 1991).
. Abb. 29.4. Schematische Darstellung einer IND Typ B. Hypertrophie des Plexus submucosus mit Riesenganglien und mäßig erhöhter Acetylcholinesterase (AchE). LM Längsmuskulatur, AP Auerbach-Plexus, CM Ringmuskulatur, SM Submukosa, M Mukosa, . Abb. 29.1)
> Es müssen mindestens 4 Riesenganglien gefunden werden, um die Diagnose einer IND zu sichern.
Die Diagnose einer IND ist somit schwierig und ihre histopathologischen Kriterien sind nicht allgemein akzeptiert. Darüber hinaus ist unklar, ob Riesenganglien wirklich immer eine veränderte Motilität zur Folge haben. Auch das Wachstum erschwert die Diagnose. Bei Kindern, die älter als 4 Jahre alt sind, ist die IND häufig mit einer Hypoganglionose, Hypogenese oder einer Heterotopie von Zellen des Plexus myentericus vergesellschaftet. In einer neueren Studie von Koletzko et al. (1999) konnte gezeigt werden, dass diese Kriterien, die in einer Konsensuskonferenz als typisch für eine IND festgelegt worden waren (Borchard et al. 1991), nicht von allen 3 an der Studie beteiligten Pathologen, in den anonymisiert verschickten Präparaten wiedergefunden werden konnten. Es bestand zwar ein weitgehender Konsensus der 3 Pathologen hinsichtlich der Diagnose Morbus Hirschsprung, jedoch kein Konsensus bezüglich des Krankheitsbildes IND. Diese Interobserver-Variationen zeigen die Schwierigkeiten einer histopathologischen Bewertung einer IND, widerlegen aber nicht, dass das Krankheitsbild der IND tatsächlich existiert und sogar zu schweren Darmobstruktionen führen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass Coerdt et al. 2004 bei genauen isometrischen Untersuchungen IND-konforme Veränderungen auch bei Gesunden in großer Zahl im Kolon nachweisen konnten. Ähnliches berichten auch Kobayashi et al. (1995).
In Tierversuchen sind IND-ähnliche Veränderungen auch des Plexus myentericus bekannt geworden (Holschneider et al. 2008; Puri 2003; Puri u. Shinkai 2004), was nicht der von Meier-Ruge (1971) primär gegebenen Definition entspricht. Fehlbildungen des für die Darmmotorik verantwortlichen Plexus myentericus sind jedoch grundsätzlich immer als wesentlich schwerwiegender zu bewerten als Veränderungen des schwerpunktmäßig für die Resorption und Sekretion verantwortlichen Plexus submucosus, der allerdings auch für die Weiterleitung eines Dehnungsreizes wichtig ist.
29.3.6
Desmose
Die Desmose des Kolons wurde von Meier-Ruge 1998 erstmals beschrieben und ist charakterisiert durch einen vollständigen oder teilweisen Defekt des Bindegewebes der glatten Muskulatur. Da die glatten Muskelfasern bei dieser Erkrankung an keinem bindegewebigem Grundgerüst mehr fixiert sind, können sie sich auch nicht mehr kontrahieren. Damit kommt es zu einem Verlust der propulsiven Peristaltik. Der Nachweis wird durch eine Anfärbung des Bindegewebes beispielsweise durch Sinusrot geführt. Das Bindegewebe der Darmwand kann dann nicht mehr nachgewiesen werden, wohl aber unauffällige Ganglien (. Abb. 29.13).
29.3.7
Erworbener Ganglienzellverlust
Eine Aganglionose oder Hypoganglionose kann auch erworben sein. Besonders bekannt ist die erworbene Aganglionose durch die Infektion von Trypanosoma cruzi (Chagas-Erkrankung), aber auch durch Vitamin-B1-Mangel, chronische Infektionskrankheiten, wie Tuberkulose, durch unzureichende Blutversorgung im Rahmen einer Durchzugsoperation oder durch Veränderungen des venösen Blutabflusses. West et. al. (1990) beschrieben 11 eigene Fälle und analysierten zusätzlich 11 weitere in der Literatur. Bei allen Kindern waren Durchzugsoperationen nach Svenson, Duhamel oder Soave durchgeführt worden. Auch
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346
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
chronischer Missbrauch von Laxanzien kann zum Untergang von Nervenzellen führen.
29.3.8
29
Begleitfehlbildungen bei Morbus Hirschsprung
Eine Frühgeburtlichkeit wird bei 10% der Kinder mit Morbus Hirschsprung beschrieben. Bei 11–30% der Kinder mit Morbus Hirschsprung werden Begleitfehlbildungen beobachtet (Kaiser u. Bettex 1982). In einer eigenen Studie (Ure et al. 1991) unter 203 Patienten beobachteten wir bei 11% eine familiäre Erkrankung, 35% der Kinder zeigten Begleitfehlbildungen. Die meisten Fehlbildungen betreffen den Harntrakt (11%), das kardiovaskuläre System (6%), den Gastrointestinaltrakt (6%) und 8% leiden unter anderen Begleitfehlbildungen wie Katarakt, Kolobom, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Extremitätenfehlbildungen oder geistiger Behinderung. 3% der Patienten haben ein Down-Syndrom. Das ist 4-mal häufiger als in der Normalbevölkerung (61). In unserem Krankengut zeigten 6% der Kinder mit einem Morbus Hirschsprung einen Mongolismus. Neben der Trisomie 21 kann der Morbus Hirschsprung auch mit anderen Chromosomenanomalien wie dem Fehlen der Chromosome 2, 10 und 13 oder einer partiellen Trisomien 11 oder 22 vergesellschaftet sein. Ein weiteres Syndrom ist das Waardenburg-Syndrom. Es ist charakterisiert durch Pigmentanomalien, die darauf beruhen, dass aus den neuroektodermalen Zellen der Neuralleiste auch fast alle Formen der Melanozyten hervorgehen (Meyers 2000). Das Syndrom besteht aus einer Taubheit des Innenohres, kombiniert mit Gesichtsfehlbildungen. Als Shah-Waardenburg-Syndrom wird die Verbindung von Waardenburg-Syndrom mit einem Morbus Hirschsprung bezeichnet. Dieses Syndrom ist wahrscheinlich Folge einer Sox-10-Genmutation (Lantiere et al. 2008). Das Vererbungsmuster des Waardenburg-Syndroms scheint autosomal-dominant zu sein (Badner u. Chakravati 1990). Neben dem Waardenburg-Syndrom gibt es zahlreiche andere phänotypische Veränderungen, die mit Morbus Hirschsprung kombiniert sein können, wie geistige Retardierung oder Gesichtsdysmorphien (Hypertelorismus, Megalokornea, dichte Augenbrauen und Ventralverlagerung der Ohren). Dieses Syndrom entspricht möglicherweise einer EDNRB-Ser-305-Asn-Variante (Meyers 2000). Eine Kombination der Hirschsprung-Erkrankung mit einer zentralen Hypoventilation wird Haddad-Syndrom genannt (Haddad 1978). Es beruht wahrscheinlich auf einer unvollständigen Penetranz von GDNF- und RET-Mutationen wie beim Morbus Hirschsprung, ist aber vergesellschaftet mit einer EDN3-Genmutation wie beim angeborenen Hypoventilationssyndrom, dem Ondine-Syndrom. 27% der 161 in der Literatur beschriebenen Fälle mit Ondine-Syndrom waren mit einem Morbus Hirschsprung kombiniert (Elhalaby u. Coran 1994; Nakahara et al. 1995).
Das MEN-IIa-Syndrom (multiple endokrine Neoplasie Typ II, Sippel-Syndrom) ist eine Assoziation von medullärem Schilddrüsenkarzinomen (MTC), Phäochromozytom bei 50% der Fälle (uni-, bilateral oder ektop gelegen), Hyperplasie der Nebenschilddrüse (50%), jedoch keine Veränderungen der Darmwand. Beim MEN-IIb-Syndrom (Froboese-Syndrom) finden sich hingegen neben dem medullären Schilddrüsenkarzinom (bzw. Hyperplasie im Vorstadium), dem Phäochromozytom (50%) und der Hyperplasie der Nebenschilddrüse auch als typisches Phänomen multiple Mukosaneurome des gesamten Magendarmtrakts sowie eine Ganglioneuromatose des Kolons. Auch muskuloskelettale Fehlbildungen sind hierbei möglich. Die Vererbung ist autosomal-dominant, der Genlokus auf Chromosom 10 (10q11.2). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass man als MEN Typ I oder Werner-Syndrom eine Hyperplasie der Nebenschilddrüse, der Inselzellen des Pankreas und des Hypophysenvorderlappens bezeichnet. Die Vererbung erfolgt hier ebenfalls autosomal-dominant (Chromosom 11q13), Das Syndrom ist nicht mit Neuromen oder einem M. Hirschsprung assoziiert (Muanakat u. Nemoto 2000).
29.3.9
Begleitfehlbildungen des Darms
Angeborene Atresien des Dünn- oder Dickdarms, Mekoniumileus und Analatresie sind manchmal mit Morbus Hirschsprung, einer Hypoganglionose oder IND assoziiert. 1994 berichteten wir über die Koinzidenz von Dünndarmatresien mit Morbus Hirschsprung, weshalb bei Dünndarmatresien auf eine vor der Obstruktion gelegene Hypoganglionose geachtet werden sollte (Holschneider et al. 1996). Diese Hypoganglionose erstreckt sich oft nur auf wenige Zentimeter und wird bei der End-zu-End-Anastomose meist mit reseziert, so dass sie nicht auffällt und bei der histologischen Untersuchung nicht beachtet wird. Sie kann aber auch Ursache für eine postoperative Transportstörung an der Anastomose sein. Rektourethrale und andere Fisteln bei Analatresien sind immer aganglionär. Auch der Rektumblindsack kann neuronale Fehlbildungen enthalten. Bei 52 Patienten mit anorektalen Fehlbildungen, fand sich bei 9 Kindern eine Aganglionose im Rektumblindsack, 11 hatten eine Hypoganglionose, 4 eine IND Typ B und 3 eine Dysganglionose (Holschneider et al. 1994). Nur bei 2 Kindern (4%) waren sowohl die Innervationsmuster der Fistel wie auch des Rektumblindsackes unauffällig. In einem weiteren Bericht wird von 30 Kindern mit intestinaler Atresie und assoziiertem Morbus Hirschsprung berichtet (Akgur et al. 1993). Weitere Begleitfehlbildungen, insbesondere des Urogenitaltraktes, wurden von Ehrenpreis (1970) in 23% der Fälle beobachtet. In unserer Serie lag die Häufigkeit jedoch bei nur 11% (Ure et al. 1994, 1999). Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass Blasenentleerungsstörungen bei Hirschsprung-Patienten meist sekundär durch das stark
347 29.4 · Klinik
erweiterte, stuhlgefüllte Rektum, das den Blasenhals komprimiert, verursacht werden. Präoperativ fällt die hierdurch verursachte Pollakisurie den Eltern oft nicht auf, aber postoperativ ist es manchmal nicht möglich, die Patienten vom Blasenkatheter abzutrainieren. In diesen Fällen kann ein intermittierendes Abklemmen des Katheters helfen. In seltenen Fällen, insbesondere, wenn eine medikamentöse Therapie versagt, kann sogar eine Blasendachteilresektion notwendig werden. Natürlich muss in jedem Falle vorher eine gleichzeitige Fehlbildung des Rückenmarks ausgeschlossen werden, die jedoch beim Morbus Hirschsprung außerordentlich selten ist. Häufiger ist das Vorkommen kardialer Fehlbildungen, die in 2–8% gegenüber 0,5–1% bei der normalen Bevölkerung vorkommen (Brown u. Cywes 2000). Dies betrifft nicht nur Patienten mit Down-Syndrom, bei denen häufig ein Vorhofseptumdefekt beschrieben wird. Darüber hinaus finden sich in 12% der Fälle Augenfehlbildungen, wie Mikrophthalmie und Anophthalmie. Wir beobachteten ein Kind mit totaler intestinaler Aganglionose und Glaukomen beider Augen. Als eigenständige, aber vom Morbus Hirschsprung abzugrenzende Erkrankungen müssen die degenerativen viszeralen Myopathien (Rode et al. 2008) und das Adynamic-bowel-Syndrom (Milla 2008) angesehen werden. Hinsichtlich Einzelheiten wird auf die weiterführende Literatur verwiesen.
29.4
Klinik
Hinsichtlich der Klinik kann man 2 Erscheinungsformen unterscheiden. 4 Patienten der Neugeborenenperiode, die, oft innerhalb der ersten 24 Lebensstunden, mit einer Ileussymptomatik vorgestellt werden. Sie zeigen ein stark geblähtes Abdomen mit Erbrechen, wobei die Regel gilt, je später das Erbrechen eintritt, desto tiefer sitzt die Obstruktion. Auf der anderen Seite kann eine hohe Darmobstruktion zunächst noch normale Stuhlentleerungen ermöglichen! 4 Patienten mit schwerer, persistierender und therapieresistenter chronischer Obstipation. Diese Patienten behelfen sich über Jahre mit Laxanzien und Einläufen und kommen erst als Jugendliche, manchmal sogar erst als Erwachsene zur Vorstellung. Der älteste mir vorgestellte Patient mit typischem, nicht chirurgisch behandeltem Morbus Hirschsprung war ein 54-jähriger Mann, der alle 2 Wochen mit hohen Einläufen und manueller Hilfe eine ausgiebige Stuhlentleerung herbeiführte. Die Schwere der Krankheitssymptome variiert also beträchtlich. Manche Kinder zeigen eine komplette, manche eine inkomplette Obstruktion, wieder andere haben geringe Symptome, die sich im Laufe der Jahre jedoch verstär-
ken. Ein wichtiger Faktor ist die Ernährung. Brustmilchernährte Säuglinge zeigen naturgemäß eine geringere Neigung zur Obstipation, die jedoch beim Übergang auf Kuhmilch oder feste Nahrung zunimmt. Bei jeder chronischen Obstipation sollte nach einjähriger, therapieresistenter, konservativer Behandlung ein Morbus Hirschsprung ausgeschlossen werden. Man bedenke aber auch, dass bei 95% aller Patienten die chronische Obstipation nicht organisch bedingt ist. Bei der Untersuchung findet sich im fortgeschrittenen Stadium des Morbus Hirschsprung ein massiver Blähbauch, in dem linksseitig gelegentlich fäkale Massen getastet werden können. Darüber hinaus finden sich in einigen Fällen sekundäre Symptome, wie Wachstumsbehinderung, Meteorismus, rezidivierende Enterokolitiden, Anorexie und Kachexie bis zu Hypoproteinämie und Anämie. Der Bericht der Eltern, dass immer wieder kleine Stuhlmengen entleert werden, darf nicht täuschen. Es kann sich um ein Stuhlschmieren handeln, bei dem kleinere weiche Stuhlpartikel neben verhärteten Fäkolithen ohne vollständige Stuhlentleerung vorbeigepresst werden. Auch hinter einem Stuhlschmieren kann sich daher ein M. Hirschsprung verstecken. Die rektale Untersuchung ergibt dann den ersten, entscheidenden, diagnostischen Hinweis. Bei einer kurzstreckigen Aganglionose ist der Analkanal verkürzt, im oberen Drittel aufgeweitet und nur die unteren zwei Drittel verschlossen und hyperton (neurogene Analachalasie). In etwa 2–3 cm Höhe tastet man bei kurzen aganglionäre Segmenten die stuhlgefüllte Rektumampulle. Bei längeren aganglionäre Segmenten ist die Ampulle hingegen typischerweise leer, der Stuhl wird in höheren Darmabschniten zurückgehalten. Durch die digitale Dehnung können sich auf Grund enterokolitischer Veränderungen explosionsartig Gas und flüssiger Stuhl entleeren. > Es empfiehlt sich, die rektale Untersuchung zunächst nicht mit dem Finger, sondern mit einem Darmrohr durchzuführen, um den Darminhalt sofort ableiten zu können.
Dies ist insbesondere bei Verdacht auf postoperative, enterokolitische Schübe empfehlenswert. Immerhin wird eine Enterokolitis bei 12–58% aller Patienten mit einem M. Hirschsprung beobachtet (Elhalaby et al. 1995; Sherman et al. 1989; Carneiro et al. 1992, Surana et al. 1994; Murphy et al. 2008). Enterokolitis. Das Einführen eines Darmrohres bei entero-
kolitischen Schüben ist bereits ein Teil der Therapie, falls das Darmrohr das enge Segment überbrückt. Wiederholen sich jedoch diese Schübe nach Entfernung des Darmrohres, muss, wenn nicht schon geschehen, eine ausführlichere Diagnostik, eventuell sogar die Anlage eines Enterostomas empfohlen werden. Die Enterokolitis ist eine schwerwiegende Komplikation der Aganglionose. Ihre Ursachen sind
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Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
vielfältig und bestehen einerseits auf einer Entzündung der Darmmukosa durch Stagnation des Stuhles, einer bakteriellen Transposition, einer Fehlbesiedelung des Darms sowie, wenn auch experimentell noch nicht genügend abgesichert, in Innervationsstörungen der Schleimdrüsen und einer gestörten Immunabwehr des Dickdarms. Hinzukommen weitere mögliche Ursachen, wie Mukosa-Ischämie, Veränderungen der intestinalen neuroendokrinen Zellen, erhöhter Prostaglandinspiegel, Infektionen mit Clostridium difficile oder Rotaviren. Letztlich bleibt die Genese unklar, aber es scheint, dass die Stase der entscheidende Faktor ist, da nach Beseitigung der Stase durch ein Darmrohr oder ein Stoma die Symptome verschwinden. Die Enterokolitis kann durch Ausbildung eines toxischen Megakolons lebensbedrohlich werden. Charakteristisch hierfür ist Fieber, galliges Erbrechen, explosive Durchfälle, abdominelle Blähungen, Dehydratation und Schock. Bei der Laparotomie zeigt der Darm dann Ulzerationen sowie Nekrosen mit Zeichen einer Pneumatosis und Perforationen. Aufgrund des schlechten Zustandes der Kinder bleibt chirurgisch nur die Anlage eines Enterostomas im gesunden Bereich, und eventuell die Resektion von nekrotischem Gewebe, bevor in einem zweiten Schritt der aganglionäre Darmabschnitt reseziert werden kann. Man sollte bei einer nekrotisierenden Enterokolitis immer auch an einen zugrunde liegenden Morbus Hirschsprung denken und somit differenzialdiagnostisch auch eine NEC von einem toxischen Megakolon (und der sehr seltenen IND Typ A) abgrenzen. Bei 3% der Patienten mit einem M. Hirschsprung wurden auch spontane Perforationen ohne Enterokolitis beobachtet (Elhalaby et al. 1995; Sherman et al. 1989), wobei eine Korrelation zwischen der Länge des aganglionären Darmsegmentes und der Häufigkeit der Perforationen besteht.
29.5
Diagnostik
Die Verdachtsdiagnose basiert zunächst auf der typischen Symptomatik, den klinischen Befunden und der rektalen digitalen Untersuchung. Es schließen sich dann ein Kontrasteinlauf mit Defäkographie, die immunhistochemische Untersuchung von Biopsiematerial und, wenn möglich, die anorektale Manometrie an.
29.5.1
Radiologische Diagnose
Die Röntgenuntersuchung besteht im Allgemeinen aus 3 Schritten: der Abdomenübersichtsaufnahme, dem Röntgenkontrasteinlauf und abschließend, insbesondere bei Verdacht auf ein Megakolon mit ultrakurzem Segment oder einer Sphinkterachalasie, der Defäkographie. Abdomenübersichtsaufnahme. Die Abdomenübersichtsaufnahme in aufrechter oder Seitenlage zeigt im akuten Fall
Flüssigkeitsspiegel im Sinne eines Ileus. Im Allgemeinen gilt, dass bei Neugeborenen keine digitale Untersuchung und keine Reinigungseinläufe vor der Kontrastmitteluntersuchung des Kolons durchgeführt werden sollen. Einige Radiologen bestehen grundsätzlich, und nicht nur beim Neugeborenen, darauf, dass der Röntgenkontrasteinlauf vorgenommen werden sollte, bevor der Dickdarm gereinigt wird. Sie sind der Ansicht, dass reinigende Maßnahmen zu falsch-negativen Untersuchungen führen könnten. Bei einer chronischen Obstipation mit inkrustierten Fäkolithen ist jedoch manchmal ein Kontrasteinlauf ohne vorherige Darmreinigung nicht möglich. Außerdem sind die Darstellung des typischen Lumensprungs und die Abschätzung der Länge des Übergangssegments ohne Reinigung erschwert (Kelleher u. Blake 2008). Röntgenkontrasteinlauf. Die Kontrastmitteluntersuchung
wird mit einem wasserlöslichen Kontrastmittel durchgeführt, wobei das einzuführende Darmrohr nicht ein kurzes enges Segment überbrücken darf, da sonst der typisch Lumensprung nicht dargestellt und ein falsch-negatives Resultate erzielt wird. Der klassische Befund ist der Nachweis eines eng gestellten Rektums und des dann folgenden trichterförmigen Übergangs in eine deutliche Dilatation des proximal gelegenen Kolons. Wichtig ist dabei zu prüfen, in welcher Höhe die Entzündungszeichen, d. h. die spikulaförmig aussehende, entzündete Darmwand in eine unauffällige Darmwand übergeht und wo der erweiterte Darmabschnitt weiter oral von einem normal konfigurierten Darmlumen, in dem segmentalen Kontraktionen nachweisbar sind, abgelöst wird (. Abb. 29.5). An Hand dieser Kriterien lässt sich auch die Länge des hypoganglionären Übergangssegments vorsichtig abschätzen. Nach Anlage eines Stomas ist eine Kolonkontrastdarstellung zur Diagnose eines M. Hirschsprung sinnlos, da der Lumensprung bzw. der trichterförmige Übergang nicht mehr dargestellt werden können (. Abb. 29.6). ! Cave Die Röntgenuntersuchung sollte daher möglichst immer vor Anlage eines Stomas erfolgen.
Defäkographie. Bei kurzstreckigen Aganglionosen und kleineren Kindern schließt sich an die Röntgenkontrastuntersuchung das Defäkogramm an, wobei die Kinder auf einen Plastiktopf gesetzt und im seitlichen Strahlengang durchleuchtet werden (. Abb. 29.7). Da dem Kontrastmittel ein mildes Abführmittel beigesetzt wird, entsteht ein Zwang zur Defäkation. Die Öffnung des M. sphincter ani internus lässt sich an der trichterförmigen Erweiterung des oberen Analkanals erkennen. Im Normalfall weitet sich der Analkanal dann sukzessive vollständig auf und das Röntgenkontrastmittel wird in 3–4 Stößen vollständig entleert (Holschneider u. Steinwegs 2008). Als nächster Schritt folgt dann eine Abdomenübersichtsaufnahme 24 h später. Wenn nach diesem Zeitraum immer noch größere Mengen im Kontrast-
349 29.5 · Diagnostik
. Abb. 29.5a, b. Diagnostik eines Morbus Hirschsprung. a Kolonkontrasteinlauf. Beachte den »Lumensprung« mit dem entzündeten und deshalb gezähnelten Übergangssegment. b Megalon in situ
a
b
b
a . Abb. 29.6a–c. Radiologische Darstellung verschiedener Längen eines aganglionäre und hypoganglionäre Übergangsegmentes bei 3 Patienten mit Morbus Hirschsprung. a Typisches Megakolon congenitum Hirschsprung mit »Lumensprung« am rektosigmoidalen Übergang und Verdacht auf kurzes Übergangssegment. b »Lumensprung« im
c Bereiche der rechten Flexur und Verdacht auf langes Übergangssegment. c Totale Kolonaganglionose (Zuelzer-Wilson-Syndrom) mit »Lumensprung« und Übergangssegment am Übergang von Colon ascendends zum terminalen Ileum
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Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
a
b
c
d
. Abb. 29.7a–d. Normales Defäkogramm. a Anorektaler Winkel in Ruhe rechtwinklig, Analkanal geschlossen. b Internusrelaxation und Öffnung des oberen Analkanals, der Sphincter ani externus bleibt noch verschlossen (rektosphinkterer Reflex), der anorektale Winkel
flacht sich ab. c Defäkation, der gesamte Analkanal ist weit offen, der anorektale Winkel verstrichen. d Wiederherstellung des anorektalen Winkels nach vollständiger Entleerung (Restbeschlag der Mukosa mit Kontrastmittel
mittel im Bereich des Dickdarms gefunden werden, lässt auch dies auf eine Passagestörung schließen (7 Kap. 29.7.6).
ren an den 3 folgenden Tagen jeweils eine Abdomenübersichtsaufnahme durch. Nach 72 h sollten mindestens 80% der Marker rektal entleert worden sein. In jedem Falle lässt sich der Transport der Marker bis zum Übergangssegment gut verfolgen (Holschneider u. Steinwegs 2008). Bei Applikation der Marker in ein Enterostoma müssen die Röntgenaufnahmen kurzfristiger erfolgen. Eine andere Möglichkeit wäre die Gabe von unterschiedlich konfigurierten Pellets an 3 verschiedenen Tagen mit Durchführung der abdominellen Röntgenaufnahme am 4. Tag. Hierbei überlagern sich dann allerdings die Pellets, so dass sie nicht mehr einzelnen Darmabschnitten zugeordnet werden können (. Abb. 29.8).
Fehlerquellen. Der häufigste Fehler der Röntgenuntersu-
chung besteht in einem zu weit, über das enge Segment vorgeschobenen Darmrohr oder einer Tamponade des Übergangssegmentes durch Stuhlmassen, welche das transitorische Segment als entscheidendes Kriterium des Morbus Hirschsprung, verdeckt. In einer eigenen Studie (Holschneider 1983) fanden wir bei 10% der Patienten eine radiologische Fehlbeurteilung. Eine Hypoganglionose oder eine IND lassen sich radiologisch nicht sicher differenzieren. Schwierigkeiten bereitet auch die Diagnose einer totalen Aganglionose, da hier das Kolon bis zum Übergang in ein eventuell erweitertes Ileum eng gestellt ist. Kinder mit einer Enterokolitis zeigen eine Verdickung der Darmwände und Irritationen der Mukosa bei meist stark dilatierten Dünndarmschlingen in der Röntgenübersicht. Auch hier kann die charakteristische Übergangszone manchmal nicht erkennbar sein.
29.5.2
Transitzeitbestimmung
Abdomenübersichtsaufnahmen eignen sich auch ausgezeichnet, um röntgendichte Marker auf ihrem Weg durch den Magendarmtrakt zu verfolgen und so die Transitzeit zu bestimmen. Sie können entweder von den Patienten geschluckt oder in ein Enterostoma eingebracht werden. Wir geben hierzu 20 mm große röntgendichte Marker und füh-
29.5.3
Anorektale Manometrie
Bei der anorektalen Manometrie werden verschiedene Mess- und Stimulationskatheter rektal in den Darm eingebracht, wobei ein Messkatheter im Rektosigmoid, ein weiterer im Rektum und ein dritter im Anorektum zu liegen kommen. Die Lage des anorektale Katheters wird manometrisch an der typischen Hochdruckzone des Sphincter ani internus überprüft. Ein rektosigmoidaler Stimulationskatheter sowie ein Dilatationskatheter im Rektum erlauben, propulsive Wellen zu induzieren und durch Druck eines Stuhlbolus im Rektum zu simulieren. Entscheidende Parameter sind das Auftreten propulsiver Wellen sowie der Nachweis einer Relaxation des M. sphincter ani internus bei
351 29.5 · Diagnostik
a
b
. Abb. 29.8. Transitzeitbestimmung bei einer Patientin mit intestinaler neuronaler Dysplasie 5 und 11 Tage nach Einnahme
rektaler Distension (Relaxationsreflex). Gleichzeitig kommt es zu einer reflektorischen Kontraktion der quergestreiften Sphinktermuskulatur. Die Internusrelaxation erlaubt die Diskrimination von festem, flüssigem und gasförmigem Stuhl im oberen Analkanal, der simultane Kontraktionsreflex der quergestreiften Sphinkter- und Beckenbodenmuskulatur verhindert dabei ein gleichzeitiges Stuhlschmieren. Die Amplitude und Dauer der Internusrelaxation ist direkt proportional zum Dehnungsvolumen des rektalen Ballons (Holschneider 1983; Holschneider u. Steinwegs 2008). Bei Kindern mit Aganglionose fehlt der Relaxationsreflex vollständig, propulsive Wellen können nicht ausgelöst werden, stattdessen treten multisegmentale Massenkontraktionen auf. Für IND, Hypoganglionose und andere morphologische Veränderungen gibt es keine typischen pathognomonischen, manometrischen Kriterien. Allerdings kann ein erhöhtes anorektales Druckprofil, das beim schrittweisen Herausziehen der Katheter aus dem Anorektum gemessen wird, einen Hinweis für die Notwendigkeit einer Sphinkteromyektomie bei schwerer therapieresistenter Obstipation geben. Wichtig ist die anorektale Manometrie auch für die Beurteilung einer Analsphinkterachalasie. Bei einer neurogenen Analsphinkterachalasie des Morbus Hirschsprung lässt sich wie gesagt keine Internusrelaxation auslösen. Eine myogene Analsphinkterachalasie durch chronisch ent-
zündliche Veränderungen der Sphinktermuskulatur zeigt rudimentäre wannenförmige Erschlaffungsmuster, während die neurovegetative Analsphinkterachalasie, die bei 95% aller Patienten mit Enkopresis zu beobachten ist, ein Nebeneinander von rudimentären und normalen Relaxationsmustern aufweist. Bedauerlicherweise hat auch die Elektromanometrie eine Fehlbeurteilungsrate von 15%. Da der Relaxationsreflex bei Neugeborenen nicht ausgeprägt ist, kann die Manometrie frühestens nach dem 12. Lebenstag sicher durchgeführt werden (Holschneider et al. 1976). Äußere Einwirkungen können zusätzlich das Reifen des Relaxationsreflexes verhindern. Darüber hinaus kann es schwierig sein, die Sonde exakt in der Hochdruckzone des Analkanals zu platzieren. > Die Manometrie spielt daher bei der primären Diagnose des Morbus Hirschsprung eine untergeordnete Rolle, ist jedoch von entscheidender Wichtigkeit für die postoperative Kontrolle und die Differenzialdiagnose der chronischen Obstipation.
29.5.4
Histologie
Entscheidend für die Diagnose eines Morbus Hirschsprung ist der Nachweis des Fehlens von Ganglien des enteralen Nervensystems in mehreren Darmwandbiopsien.
29
352
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
Probenentnahme. Das Gewebe wird im Allgemeinen als Rektumsaugbiopsie mittels einer speziellen Biopsiesonde
entnommen. Bewährt hat sich die Doppelsonde nach Noblett (1969). Neuerdings wurden von Pini-Prato et al. (2006) die Erfahrungen mit einer Biopsiezange mit einstellbarem Unterdruck vorgestellt, einem Gerät, welches das Perforationsrisiko vermindern soll. Bei der Entnahme sollte der Darm nur mit physiologischer Kochsalzlösung gereinigt sein, damit die Druckkammer direkt mit der Schleimhaut in Berührung kommt und kein Schleimhautödem hervorgerufen wird, da sonst die Lamina submucosa nicht aspiriert werde kann. Es werden Biopsien in 2, 4, 8 und 12 cm Höhe entnommen, in Kohlensäureschnee schockgefroren und zur histopathologischen Untersuchung gebracht. Eine Fixierung in Formalin würde enzymhistochemische Untersuchungen erschweren, wenn nicht unmöglich machen. ! Cave
29
Zu beachten ist, dass Saugbiopsien bei Verdacht auf ein sehr kurzes Segment auch unterhalb der Linea dentata entnommen werden müssen und dass die Entnahme von Biopsien oberhalb der peritonealen Umschlagsfalte die, wenn auch seltene, Gefahr einer freien Perforation in die Bauchhöhle in sich birgt. Es empfiehlt sich daher, Biopsien bei Neugeborenen nur in etwa 2 cm Höhe und mit wenig Sog zu entnehmen.
Bei diesen sehr frühzeitigen Biopsien kann nur die Diagnose »Aganglionose oder nicht« gestellt werden. Im Zweifel empfiehlt sich eine primäre Spülbehandlung oder die Anlage einer Enterostomie und die spätere Entnahme von Saugbiopsien, wenn das Kind etwa 3 Monate alt ist. Auftretende Blutungen können kurzfristig tamponiert und müssen nur selten mit einer Naht gestillt werden. Eine weitere Möglichkeit, Biopsien zu entnehmen, ist der laparoskopische Zugang. Dieser empfiehlt sich insbesondere bei der Abschätzung eines langen aganglionären Segmentes, bei unklarer Diagnose in den rektalen Biopsien und bei Verdacht auf Hypoganglionose, also immer dann, wenn Aufschlüsse über die Morphologie des Plexus myentericus notwendig sind. Bei der Laparoskopie sollten die Biopsien auf den Plexus myentericus beschränkt werden, also die Schleimhaut geschlossen bleiben. Saugbiopsien können auch durch ein Enterostoma entnommen werden. Die Größe der Biopsien beträgt etwa 2 mm. Kleinere Biopsien, wie sie mit Biopsiezangen entnommen werden, reichen nicht aus. Aus ihnen kann nur die Morphologie der Mukosa beurteilt werden. Färbung. Die histologische Untersuchung sollte sich nicht nur auf eine HE-Färbung beschränken, sondern auch eine Acetylcholinesterase (AChE)-Färbung und andere Färbemethoden wie Laktatdehydrogenase (LDH)- oder Succinyldehydrogenase (SDH)- und (Nitritoxiddiaphorase (NO)-Färbungen mit einschließen (Meier-Ruge u. Bruder
2005). Gerade bei Neugeborenen und kleinen Kindern empfehlen sich die speziellen Färbetechniken LDH und SDH, welche die mitochondrialen Enzyme und das Zytoplasma anfärben. Im Rahmen von Schnellschnittuntersuchungen wird meist nur eine HE (Hämatoxylin-Eosin) Färbung durchgeführt, da die von Martuciello et al. (2001) empfohlenen AchE-Schnellfärbung sich noch nicht durchgesetzt hat. Bestimmung des Resektionsausmaßes. Das entscheidende Problem in der Behandlung des Morbus Hirschsprung liegt nicht, wie immer wieder gerade von Chirurgen angenommen wird, in der Operationstechnik, sondern in der möglichst genauen prä- oder intraoperativen Bestimmung des zu resezierenden aganglionären und Übergangssegmentes. Auch ein hypoganglionäres Übergangssegment darf nicht belassen werden. Für die Anastomose kommt nur gesunde, normal innervierte Darmwand infrage. Gerade Hypoganglionosen können jedoch bei der intraoperativen Schnellschnittuntersuchung übersehen werden, zumal nicht alle Darmabschnitte gleichmäßig betroffen sind. ! Cave Die Diagnose einer Hypoganglionose kann nur aus dem Plexus myentericus und nicht aus Saugbiopsien gestellt werden.
Der Heterotopie von Ganglienzellen des Plexus submucosus sollte keine Bedeutung beigemessen werden, wohl aber Heterotopien von Zellen des Plexus myentericus oder einem reduzierten Parasympathikus in diesem Bereich (AchE-Färbung). Nach unserer Erfahrung sind neurogene Veränderungen des Plexus myentericus grundsätzlich als wesentlich gravierender zu bewerten als Veränderungen des Plexus submucosus, da der Plexus submucosus im Wesentlichen der Resorption und Sekretion, der Plexus myentericus jedoch der Motorik dient. Die folgenden Abbildungen zeigen typische gemeinsam mit Meier-Ruge diagnostizierte Krankheitsbilder (. Abb. 29.9 bis 29.13).
. Abb. 29.9. Gesteigerte Acetylcholinesterase-Reaktion in der Lamina-Submukosa bei Morbus Hirschsprung
353 29.5 · Diagnostik
. Abb. 29.11. Neuronale Intestinale Dysplasie. Mäßig erhöhte AchEFärbung mit hypertrophen Riesenganglien. Die Ektopie der Ganglien in die Ringmuskulatur hat für sich genommen keine pathologische Bedeutung . Abb. 29.10. Hypoganglionose mit verringerter Ganglienzahl und größeren Abständen zwischen den Ganglien. Das Nebeneinander von Riesenganglien und Hypoganglionose wird auch als Hypogenese bezeichnet. LDH Färbung
a
b
c
. Abb. 29.12a–c. Reifung des enteralen Nervensystems mit zunehmendem Alter bei einem Kind (LDH-Färbung). a 2,5, b 4,5 und c 6 Jahre
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354
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
a
b
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. Abb. 29.13a, b. Desmose, Sinusrotfärbung. Beachte das dunkelrot gefärbte normale Bindegewebe (a) und die Atrophie des Bindegewebes bei der Desmose. Die Ganglien sind als weiße Aussparungen erkennbar (b)
29.6
greifen einer degenerativen Skelettmuskelerkrankung auf die glatte Muskulatur ist möglich. Hierbei muss auf Anomalien der kontraktilen Proteine und des Bindegewebes geachtet werden, wie bei der Sklerodermie, der Dermatomyositis oder der Muskeldystrophie. Ein besonderes Syndrom ist das Megazystis-Mikrokolon-intestinale Hypoperistaltik-Syndrom als Ursache einer Motilitätsstörung. Es tritt bereits beim Neugeborenen auf und kann nur symptomatisch behandelt werden. Seine Ursache ist unklar. Es werden sowohl genetische wie auch neurogene, myogene und hormonelle Ursachen dafür verantwortlich gemacht (Puri 2008). Als Ursache beschrieben Puri et al. 1983 eine Degeneration der glatten Muskulatur mit Vakuolenbildung. Auch das Fehlen von kontraktilen und zytoskelettalen Proteinen wie Aktin wurde angeschuldigt (Ciftci et al. 1996). 182 Fälle wurden in der Literatur bisher beschrieben (Puri 2008). Beim Prune-belly-Syndrom kommt es zu einer abdominellen Distension aufgrund der geschwächten abdominellen Muskulatur und der überdehnten Blase. Charakteristisch sind eine Mikrokolon mit herabgesetzter Peristaltik und die Megazystis. Der Kontrasteinlauf zeigt ein Mikrokolon, Ultraschall und intravenöse Pyelographie eine Hydronephrose mit Megazystis, was beides hilft, das Krankheitsbild bereits sehr früh vom Morbus Hirschsprung abzugrenzen. Wie erwähnt, ist eine vergrößerte Blase beim Morbus Hirschsprung meist sekundärer, jedoch nie, wie von Swenson früher vermutet, primärer Natur.
Differenzialdiagnose 29.7
Die Symptome eines Morbus Hirschsprung sind so typisch, dass differenzialdiagnostisch wenige, andere Erkrankungen in Betracht kommen. Bei Neugeborenen muss das Mekoniumpropfsyndrom, bei Schwangeren mit Diabetes an das »Small-left-colon«-Syndrom gedacht werden. Ebenso müssen andere Subileus- oder Ileus-Erscheinungen verursachende Erkrankungen wie mitochondriale Schäden, Myopathien, Desmose, Erkrankungen der Cajal-Zellen und der Formenkreis der sog. Pseudo-Hirschsprung-Erkrankungen beachtet werden (Milla 2008). Selten können auch eine Neugeborenensepsis oder Hirnschädigungen einen verzögerten Mekoniumabgang hervorrufen. Bei älteren Kindern überwiegt zunächst das Symptom der chronischen Obstipation. Diese Erkrankung hat vielfältige Ursachen, wie z. B. Ernährungsstörungen, fehlende körperliche Bewegung, falscher Ernährung, psychologische Problemen, Hypomotilität, verursacht durch Medikamente oder metabole oder endokrine Störungen (z. B. Hypothyreoidismus, Porphyrie). Zytostatika können ebenso eine Motilitätsstörung verursachen wie Diabetes, Dysautonomien oder Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Ein viszerales Myopathiesyndrom muss ebenso in Erwägung gezogen werden wie Störungen des Zytoplasmas oder der Zellkerne der glatten Muskulatur. Auch das Über-
Therapie
> Die Behandlung des Morbus Hirschsprung hat zum Ziel, das aganglionäre sowie das proximale, hypoganglionäre Übergangssegment zu resezieren und die Hypertonie des achalen Sphinkters zu schwächen. Gleichzeitig muss die anorektalen Kontinenz erhalten werden.
Dieses Ziel ist fast immer zu erreichen, wenn einige grundlegende Probleme in der Behandlung des Morbus Hirschsprung erkannt und eingehalten werden. Zu ihnen gehören 4 Wiederherstellung eines guten Allgemeinzustandes des Patienten vor der Resektion 4 Möglichst genaue Kenntnis der Länge des aganglionären und Übergangssegmentes 4 Einhaltung bestimmter operationstechnischer Details wie einer dosierten Schwächung des M. sphincter ani internus, einer weitgehenden Resektion der aganglionären und hypoganglionären Darmabschnitte mit histologisch nachgewiesenem, normal innerviertem, oberen Resektionsrand 4 Belassen von nur soviel aganglionärem tiefem Rektum, wie es zur Erhaltung der Kontinenz notwendig ist (Rehbein-Technik: 4–5 cm; Duhamel: vollständige Elimina-
355 29.7 · Therapie
tion des kolorektalen Septums; Soave: ausgedehnte Myotomie des rektalen Muskelmantels) 4 Langfristige Nachbehandlung 4 Keine primäre Sphinkteromyotomie
29.7.1
Enterostoma
Bei Neugeborenen und Kleinkindern, die mit einem Ileus eingeliefert werden, muss zunächst eine Dekompression durch Einführen einer nasogastrischen Sonde, Legen eines zunächst in situ verbleibenden Darmrohres und wiederholte Einläufe mit physiologischer Kochsalzlösung oder 5% Glukose unter Elektrolytkontrolle erreicht werden. Genügt es nicht, hierdurch den Darm zu entlasten, muss bei anhaltendem Erbrechen und schlechtem Allgemeinzustand des Kindes ein Enterostoma angelegt werden. Aufgrund der unklaren Situation in diesem Stadium und des Neugeborenenalters ist die Anlage eines Ileostomas am sichersten. Wenn es jedoch der Allgemeinzustand des Kindes erlaubt, sollte vor Anlage eines Enterostomas ein Kolonkontrasteinlauf mit einem wasserlöslichen Kontrastmittel durchgeführt werden, da nach Anlage einer Ileo- oder Kolostomie der Lumensprung radiologisch nicht mehr sichtbar ist und die Länge des aganglionären Segmentes nicht mehr radiologisch abgeschätzt werden kann. Aus diesem Grund hat Rehbein, wenn irgend möglich, auf die Anlage eines Enterostomas verzichtet und die Patienten nach Festlegung der Diagnose über mehrere Monate gespült, bis etwa im 4. Monat die Resektionsbehandlung vorgenommen werden konnte. Ein solches Vorgehen ist jedoch nur bei stabilen Kreislaufverhältnissen möglich; es kann dann allerdings auch von den Eltern zu Hause vorgenommen werden. Bei Neugeborenen unter 3–5 Monaten mit instabilen Verhältnissen, schlechtem Allgemeinzustand und bei unsicherer Diagnose sollte jedoch ein Enterostoma einer Spülbehandlung in jedem Falle vorgezogen werden. Wir bevorzugen für die Kolostomie die Technik nach Nixon (Hecker et al. 1970), wobei eine trapezförmige Hautbrücke als Reiter für das doppelläufige Kolostoma verwandt wird. Die Annahme, dass Stuhl in den aboralen Schenkel überlaufen und dort über eine Stase eine chronische Entzündung herbeiführen könnte, hat sich in der Praxis nicht bewahrheitet. Die Vorteile einer doppelläufigen »Loop-Kolostomie« gegenüber endständigen, getrennten Stomatas liegen in der schnelleren und unkomplizierteren Rückverlagerung der Loop-Kolostomie, dem wesentlich selteneren Stomaprolaps und dem günstigeren Anbringen von Stomabeuteln. Antibiotika werden ca. 30 min vor der Operation i.v. gegeben. Technik. Bei der Anlage des Kolostomas, das wir im rechten Oberbauch anlegen, oder des Ileostomas ist darauf zu achten, dass die Hautbrücke mindestens 1 cm breit ist und weder das die Hautbrücke ernährende Gefäß noch Mesenteri-
algefäße verletzt werden. Die Inzision der Faszie und der Muskulatur sollten leicht oval sein und nur minimal Gewebe exzidiert werden. Die Stomaöffnung darf nicht zu groß sein, der vorgezogene Darm muss sowohl mit dem Peritoneum wie mit der Faszie vernäht und die zu- und abführende Schlinge mit 5×0 resorbierbaren Nähten aneinander adaptiert werden. Zum Hautverschluss werden die abschließenden Einzelknopfnähte so gelegt, dass Haut, die Serosa sowie der etwa 2 cm höher gelegene Mukosarand des locker vor die Bauchwand gezogenen Kolons gleichzeitig gefasst werden. Dies erlaubt ein vollständiges Umstülpen beider Stomata. Der so entstehende »Pilz« ragt später etwa 1 cm in den Kolostomiebeutel hinein, so dass Hautirritationen, die gerade bei einem Ileostoma zu fürchten sind, vermieden werden können. Beim Ileostoma muss dieser Nippel etwa 1,5–2 cm betragen. Abschließend muss geprüft werden, dass weder das zuführende noch das abführende Stoma eingeengt sind. Die Wahl der rechten Flexur als Stomaort ist deshalb zu bevorzugen, da auf diese Weise das Stoma nach der Resektion zum Schutz belassen werden kann, bis die Anastomose gut abgeheilt und ihre Dichtigkeit radiologisch überprüft worden ist. Bei totaler oder subtotaler Kolektomie empfiehlt es sich, ein protektives Ileostoma anzulegen. Bereits bei der Stomaanlage können Biopsien aus verschiedenen Höhen des Kolons, von der peritonealen Umschlagsfalte bis zum terminalen Ileum entnommen werden, um die Länge des aganglionären Segmentes festzulegen. Auch ein schmaler Streifen des Kolons, der bei der Eröffnung des Stomas entnommen wird, sollte mit eingeschickt werden. Die Anlage eines Hartmann-Stumpfes verbunden mit einem endständigen Stomas kommt für uns nur bei einem toxischen Megakolon in Frage. Bei der Anlage eines Kolostomas ist darauf zu achten, dass nicht versehentlich ein elongiertes Sigma fälschlicherweise als Colon transversum im rechten Oberbauch ausgeleitet und dass das Stoma nicht im aganglionären Bereich angelegt wird. Von einem Stoma im Bereich des Rektosigmoids raten wir ab, da hier die Anlage eines »Nippels« wegen des kurzen Mesenteriums schwieriger ist und die Mesenterialgefäße des Rektosigmoid leichter geschädigt werden können, die Stomata häufiger in oder unter Hautniveau zurücksinken und die folgenden Hautirritation zu infektiöse Komplikationen bei der späteren Resektionsbehandlung disponieren. Ein Stoma im Bereiche des Rektosigmoids muss zudem bei der Resektion des aganglionären Segmentes fast immer mitreseziert werden, um eine Durchzug zu erlauben. Die Stomaversorgung ist in dieser Gegend ist zudem schwieriger.
29.7.2
Resektionstechniken
Die erste Resektion eines aganglionären Segmentes erfolgte durch Swenson und Bill (1948) im Jahre 1948, nachdem
29
356
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
a
b
c
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29
e
. Abb. 29.14a–e. Operationsverfahren bei Morbus Hirschsprung. a Extraanale Invaginationsanastomose nach Swenson. b Retrorektaler Durchzug und peranale End-zu-Seitanastomose nach Duhamel (die Exstirpation des kolorekatelen Septums erfolgte heute mit Staplergeräten). c Tiefe anteriore Resektion nach Rehbein. d Transrektaler Durchzug des Kolons durch die Rektummanschette nach Aushülsen der Mukosa nach Soave (dieses Verfahren wird heute nach La Torre transanal durchgeführt, man könnte daher die La-Torre-Technik auch als peranalen Soave bezeichnen). e Langstreckige Seit-zu-Seitanastomose zwischen Kolon und Dünndarm nach Martin
zunächst die Anlage eines Enterostoma mit späterer Rückverlagerung ohne Resektion gescheitert war. Den Autoren war es damit zum ersten Mal gelungen, einen Patienten mit Megakolon erfolgreich zu behandeln. Insgesamt konkurrieren mehrere Resektionstechniken miteinander: 4 Extraanale Resektion nach Swenson und Bill (1948) 4 End-zu-Seit-Anastomose nach Duhamel (1956; 1964), modifiziert durch Grob (1960) 4 Tiefe anteriore Resektion nach Rehbein (1964, 1976) 4 Endorektale Durchzug nach Soave (1964), modifiziert durch Boley (1964)
4 Laparoskopische Durchzugsoperation nach Georgeson et al. (1995), Curran u. Raffensperger (1995) 4 Transanale endorektale Durchzug nach De la TorreMondragon und Ortega-Salgado (1998) Hinzu kommen verschiedene Techniken für die Behandlung der totalen oder langstreckigen Kolonaganglionose, die im Wesentlichen auf den Verfahren von Duhamel in der Modifikation nach Martin (1968) oder einer Kombination von JPouch mit der Technik nach Soave basieren. Alle Verfahren haben zahlreiche Modifikationen erfahren, auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden kann (. Abb. 29.14).
357 29.7 · Therapie
Operationstechnik nach Swenson Der Patient wird zunächst in Rückenlage gelagert, die Beine auf einem separaten Tisch oder so, dass sie später angehoben werden können, um einen späteren gleichzeitigen Zugang zum Peritoneum zu ermöglichen. Nach Eröffnung des Abdomens werden seromuskuläre Biopsien oder auch Ganzwandbiopsien entnommen. Die Entnahme von Ganzwandbiopsien erlaubt auch das Erkennen einer IND im Bereich des Plexus submucosus, die bei Beschränkung der Biopsie auf den Plexus myentericus übersehen werden können. In Übereinstimmung mit der Schnellschnittdiagnostik werden das aganglionäre und das hypoganglionäre Übergangssegment unter Schonung der Gefäßarkaden präpariert. Hierbei gilt nach Rehbein (1976) die Regel, dass die linke Flexur im Allgemeinen abgelöst werden muss, da das verbleibende Kolon nach der Anastomose möglichst gestreckt zum tiefen, unteren, in situ zu belassenen Rektum führen soll. Die peritoneale Umschlagsfalte wird eröffnet, beide Ureteren und Vasa deferentia werden identifiziert. Die Präparation wird dann bis in das tiefe, kleine Becken fortgeführt, wobei man nahe an der Rektumwand bleibt, um das autonome Nervensystem des Rektums nicht zu schädigen. Das tiefe Rektosigmoid wird dann mit einem Stapler-Gerät durchtrennt, mit einer langen gebogenen Klemme, die perianal eingeführt wird, gefasst und vor den Anus gezogen. Die mukokutane Linie sollte jetzt an der umgestülpten Mukosa klar erkennbar sein. Es folgt eine quere Inzision durch die anteriore Hälfte des kollabierten Rektums. Durch diese Öffnung wird erneut eine Klemme hochgeführt und das mobilisierte proximale Kolon peranal durchgezogen. Die proximale Darmwand wird inzidiert und nach und nach durchtrennt, wobei eine extraanale Ganzwand Anastomose mit unterbrochenen, resorbierbaren 4×0- oder 5×0-Nähten durchgeführt wird. Es kann auch zunächst die Serosa des durchgezogenen Darms mit der Serosa des eventrierten Rektumstumpfes adaptiert und so eine zweischichtige Anastomose vorgenommen werden. Abschließend wird die Anastomose wieder in das kleine Becken zurückverlagert und ihre Durchgängigkeit vorsichtig überprüft. Bei einer Laparotomie sollte das Peritoneum oberhalb der Anastomose erneut an die Serosa des gesunden Darms adaptiert werden, um einem Prolaps von Dünndarmschlingen vorzubeugen. Es ist wichtig, vor der Operation eine Bougierung des Sphinkters vorzunehmen, da einerseits hierdurch die Eventration des Rektums erleichtert, andererseits der erhöhte Sphinktertonus herabgesetzt und einer postoperativen Stasis vorgebeugt wird. Ein Blasenkatheter sollte in situ bleiben, bis eine normale Blasenentleerung möglich ist, das Legen eines transanastomotischen Darmrohres ist umstritten (Puri 2008).
Endorektaler Durchzug nach Soave Der transrektale Durchzug wurde von Romualdi 1960 für die Behandlung anorektaler Fehlbildungen und 1964 von
Soave für den Morbus Hirschsprung eingeführt. Er hat in der Originaltechnik den Vorteil, dass eine primäre Anastomose vermieden wird. Kurz oberhalb oder 2 Querfinger unterhalb der Umschlagsfalte wird physiologische Kochsalzlösung zwischen die Mukosa und die Muskelschichten zirkulär injiziert, was die folgende Ablösung des rektalen Muskelmantels von der Rektumschleimhaut erleichtert. Unter leichtem Zug an der intakten Schleimhaut wird der gesamte Schleimhautzylinder stumpf bis zur Höhe der Linea dentata ausgehülst. Die Beine des Patienten werden dann angehoben. Es erfolgt eine transanale Inzision, 1 cm oberhalb der mit Haltenähten eventrierten Linea dentata. Mit einer gebogenen Klemme wird der Mukosaschlauch, der inzwischen verschlossen und durchtrennt worden war, gefasst und einschließlich des aganglionären und angrenzenden normal innervierten Kolons peranal durchgezogen. In der heute im Allgemeinen durchgeführten Modifikation noch Boley (1964) wird dann eine End-zu-End-Anastomose ein- oder zweischichtig zwischen Wand des durchgezogenen Kolons und der jetzt schrittweise durchtrennten Wand des oberen Analkanals extraanal durchgeführt. Im ursprünglichen Verfahren verzichtete Soave auf die Anastomose und wartet eine Verklebung der Serosa des durchgezogenen Darms mit der Mukosa des verbliebenen aganglionären Rektums ab, um 14 Tage nach dem Eingriff von perineal aus eine Resektion des überstehenden Darmabschnittes vorzunehmen. Der abdominelle Teil der Operation wird dann, nach dorsaler Spaltung des aganglionären Muskelmantels durch Anheften seiner Ränder an die Serosa des durchgezogenen Kolons beendet. Eine simultane Sphinkteromyotomie ist unnötig und sollte erst bei persistierenden Obstipationserscheinungen durchgeführt werden (Jasoni et al. 2008).
Tiefe anteriore Resektion nach Rehbein Rehbeins Technik unterscheidet sich von der Swensons oder Soaves dadurch, dass die Anastomose tief im kleinen Becken und nicht extraanal durchgeführt wird. Die perirektale Präparation ist hier ausgedehnter und erfolgt bis etwa 4–5 cm oberhalb des Beckenbodens. Bei dieser Technik sind perioperative Sphinkterdehnungen mit Hegarstiften besonders wichtig, da ein längeres aganglionäres Segment in situ verbleibt als bei den anderen Resektionstechniken. Eine Herabsetzung des Sphinktertonus wird zwar schon durch die tiefe Resektion erreicht, aber prä- und postoperative Dilatationen sind bei der Technik nach Rehbein und Teil des Verfahrens. Sie müssen postoperativ 3–6 Monate in regelmäßigen Abständen weiter geführt werden. Die Anastomose wird mittels eines transanal eingeführten EEAStaplers als zirkuläre End-zu-End-Anastomose durchgeführt. Ist es nicht möglich, eine Stapler-Anastomose vorzunehmen (z. B. wegen einer Diskrepanz zwischen Darmwand und Klammergröße), kann die Anastomose mit 4×0 resorbierbaren Einzelknopfnähten vorgenommen werden.
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Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
Die Rehbein-Technik ist in den letzten Jahren zugunsten des Duhamel- und Soave-Verfahrens weitgehend verlassen worden, da diese Durchzugsverfahren auch laparoskopisch angewandt werden können. Weitere Nachteile des Verfahrens nach Rehbein sind die höhere Rate einer Anastomoseninsuffizienz und die Schwierigkeit einer Nachresektion bei Rezidiveingriffen. Allerdings sind Inkontinenzerscheinungen so gut wie ausgeschlossen (Holschneider 1982; Holschneider et al. 1980; Holschneider u. Rassouli 2008).
End-zu-Seit-Anastomose nach Duhamel
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Bei dieser Technik wird nur der retrorektale Raum eröffnet und die Präparation an der Rektum Hinterwand stumpf bis zum Beckenbogen durchgeführt. Anschließend wird das Rektum durchtrennt und verschlossen, was bereits kurz oberhalb der peritonealen Umschlagsfalte geschehen kann. Es wird jetzt eine lange, gebogene, mit Mulltupfer versehene Klemme von kranial gegen die posteriore Rektumwand in Anushöhe vorgeschoben und auf diesem Mulltupfer die posteriore Hälfte des Rektums etwa 1 cm oberhalb der Linea dentata transanal inzidiert. Der Mulltupfer kann jetzt mit einer anderen gebogenen Klemme von perianal aus gefasst und mittels dieses Tricks die perianal eingeführte Klemme in das kleine Becken hochgezogen werden. Das mobilisierte Kolon wird dann durch die endoanale Inzision vor den Anus durchgezogen und eine End-zu-Seit kolorektalen Anastomose durchgeführt. Das verbleibende kolorektale Septum wird mit GIA-Nahtgeräten eliminiert (Steichen et al. 1987). Falls der Rektumstumpf nicht verschlossen wurde, kann dann die Klammerreihe durch das Rektumlumen hindurch inspiziert werden. Anschließend wird das Rektum durch Adaptation mit der Kolonvorderwand verschlossen (Ure u. Metzelder 2008).
Laparoskopische Durchzugstechniken Die großen Fortschritte in der minimal invasiven Chirurgie haben dazu geführt, dass auch Kolonresektionen inzwischen weitgehend endoskopisch durchgeführt werden können. Die Vorteile bestehen in einer Verringerung der postoperativen Schmerzen, einer besseren Befindlichkeit des Patienten mit früherer Nahrungsaufnahme, einem schnelleren Wiederauftreten der post-operativen Peristaltik, einem kürzeren Krankenhausaufenthalt und besseren kosmetischen Resultaten. Trotzdem sind die Vorteile der laparoskopischen Chirurgie im Hinblick auf eventuelle Komplikationen noch nicht in randomisierten Studien nachgewiesen worden. Genau genommen wird nicht die Resektion des Kolons laparoskopisch durchgeführt, sondern nur die Präparation. Es handelt sich somit um eine Kombination von endoskopischer Präparation mit der Duhamel- oder der SoaveAnastomosentechnik. Die Laparoskopie kann sowohl mit als auch ohne vorherige Anlage einer Kolostomie durchgeführt werden. Allerdings erschwert eine vorherige Stomaan-
lage die Präparation. Auch aus diesem Grunde wird heute in zunehmendem Maße der primäre Durchzug favorisiert. Die laparoskopische Präparation kann zirkulär bis auf die Höhe von Prostata, Zervix oder Os coccygis durchgeführt werden, wird jedoch mit zunehmender Tiefe schwieriger. Während der laparoskopische Swenson und der laparoskopische Soave 3 Trokare benötigen, werden beim laparoskopischen Duhamel im Allgemeinen 4 Trokare eingesetzt (Bax u. van der Zee 1995; van der Zeeh u. Bax 2000). Die Ergebnisse der laparoskopischen Technik unterscheiden sich wenig von denen der offenen Verfahren, was verständlich ist, da die Anastomosentechnik die gleiche ist. Die meisten Kinder können nach laparoskopischer Operation bereits am 2. bis 7. postoperativen Tag nach Hause entlassen werden, was deutlich kürzer ist als nach einer Laparatomie. Spezifische Komplikationen können allerdings durch eine unzureichende Präparation und das Offenlassen des Peritoneums entstehen. Erwähnt werden müssen aber auch Studien von Ure, die gezeigt haben, dass das Pneumoperitoneum durch Kohlendioxid die Immunabwehr weniger behindert als eine Laparotomie (Georgeson u. Muensterer 2008; Ure et al. 2002).
Transanaler endorektaler Durchzug (van der Zeeh u. Bax 2000) Der transanale endorektale Durchzug kann am besten bei einer nur auf das Rektosigmoid begrenzten Aganglionose, also bei einem klassischen Morbus Hirschsprung, durchgeführt werden. Er wurde erstmalig 1998 von De La Torre und Ortega Salgados beschrieben (1998). Das Vorgehen entspricht im Wesentlichen einem transanalen Soave-Boley. Nach Dilatation des Anus wird die Rektummukosa etwa 1 cm oberhalb der Linea dentata inzidiert und mit Haltenähten fixiert. Dies entspricht dem Verfahren nach Boley (1964). Es folgt eine stumpfe Präparation des submukösen Raumes, die 6–7 cm nach kranial fortgesetzt wird. Durch Zug an der ausgelösten Schleimhaut lässt sich auch der Muskelmantel vor den Anus verlagern. In etwa 6–7 cm Höhe wird der rektale Muskelmantel zirkulär inzidiert und stumpf in das kleine Becken eingegangen. Nach einer posterioren Myotomie der Muskelmanschette wird dann unmittelbar auf der schrittweise vor den Anus verlagerten Rektumwand weiter präpariert bis zur Stelle der im Schnellschnitt gesicherten normalen Darminnervation. Es erfolgt dann die Resektion des mobilisierten Darmabschnittes vor dem Anus und eine Anastomose nach Boley. Die Ergebnisse dieses Verfahrens sind ermutigend, auch wenn Spätergebnisse noch fehlen. Diese Technik ist das ideale Verfahren für typische Morbus-Hirschsprung-Fälle mit Lumensprung im Bereich des Rektosigmoids oder Rektums, eignet sich jedoch weniger für langstreckige Aganglionosen oder Aganglionosen mit langem Übergangssegment. Eine Kolostomie im Bereich der rechten Flexur stört den Eingriff nicht, wohl aber eine solche im Rektosigmoid.
359 29.7 · Therapie
Durchzug im Neugeborenenalter Ein primärer Durchzug im Neugeborenenalter wurde bereits von Carcassone et al. (1982), Cilley et al. (1994) und So et al. (1980) empfohlen. Ihr Argument war, dass reinigende Einläufe und eine durch die Stase entstehende chronische Proktitis zu Adhäsionen der Submukosa mit der darunter gelegenen Muskelschicht führen würden, was ein Aushülsen der Mukosa erschwert. Gleiches gilt aber auch für die Entnahme von Saugbiopsien, die jedoch zur Diagnose zwingend notwendig ist. Während der ersten 3 Lebensmonate zeigen die Kinder in Wirklichkeit jedoch kaum Zeichen einer Entzündung und es muss berücksichtigt werden, dass die Schleimhaut noch sehr zart ist und beim Auslösen leichter einreißt. Verbleibende Schleimhautinseln im Muskelmantel können jedoch zu postoperativen Abszessen führen. Hinzu kommt, dass beim Neugeborenen lediglich die Unterscheidung zwischen Normoganglionie und Aganglionie möglich ist. Selbst die Frage einer Hypoganglionose kann nicht eindeutig geklärt werden, ganz abgesehen von der Frage einer Ganglienzellunreife oder IND. Die Ergebnisse des primären Durchzugs beim Neugeborenen sind nicht günstiger als die eines zweitzeitigen Eingriffes (Teitelbaum et al. 1997), wobei in einer Serie von 24 Patienten 1 Kind starb und ein Volvulus bei einem Patienten sowie rezidivierende Enterokolitiden bei 9 (39%) Kindern auftraten. Postoperativ waren 12 (42%) nach wie vor obstipiert.
Behandlung der totalen Kolonaganglionose Für die Behandlung der totalen Kolonaganglionose hat Martin 1968 und 1972 die langstreckige Seit-zu-Seit-Anastomose zwischen dem normalen Ileum und dem aganglionären Colon descendens und oberen Rektum vorgeschlagen. Letztlich handelt es sich um eine ausgedehnte Seit-zu-Seit-Anastomose nach Duhamel, weshalb vom Duhamel-MartinOperationsverfahren gesprochen wird (. Abb. 29.13). Theoretisch sollte das lange aganglionäre Rektosigmoid einen günstigen Einfluss auf die Resorption von Flüssigkeit und Elektrolyten ausüben (Heath et al. 1985). Die Operation sollte im Alter von 1 Jahr vorgenommen werden, da die Verhältnisse dann übersichtlicher sind und eine langstreckige, rektale und pelvine Anastomose leichter angelegt werden kann. Mit Hilfe eines Staplers kann die lange Seit-zu-Seit-Anastomose dann gut bewerkstelligt werden. Bedauerlicherweise hat die Martin-Modifikation des Duhamel-Verfahrens jedoch die Häufigkeit des Auftretens von Enterokolitiden, perinealen Wundseins, nächtlicher Inkontinenz nicht wesentlich verbessern können, so dass 60% unter diesen Problemen leiden (Ein u. Shandling 2000). Andere Verfahren, wie die Anlage eines J-Pouches, der wie bei der Technik nach Soave, in den, jetzt allerdings nur partiell ausgehülsten, Rektumblindsack eingebracht wird, zeigen höhere Komplikationen. Die Patienten zeigen jedoch auf Grund der Pouch-Bildung ein günstigeres Kontinenzergebnis. Größere Nachuntersuchungsserien zu dieser
Technik fehlen jedoch. Auch die anderen erwähnten Resektionstechniken führen zu einer »Neorektumbildung«, so dass die anfänglich nach totaler Kolektomie zu beobachtenden 18–20 Stuhlentleerungen/Tag sich innerhalb 1 Jahres auf 6–7 Defäkationen/Tag verringern. Günstig wirken sich hier die Gabe von obstipierender Diät und motilitätsverringernden Medikamenten wie Loperamid, aus. Es empfiehlt sich bei totaler Kolektomie immer eine protektive Ileostomie anzulegen und mit der Resektion etwa ein dreiviertel Jahr zu warten, da sich in diesem Zeitraum unter medikamentöser Hilfe das terminale Ileum auf seine neuen Resorptionsaufgaben umstellen kann. Auf einen Vitamin-B12Mangel und eine chologene Diarrhö muss jedoch zeitlebens geachtet werden. Über die Wirksamkeit eines rechtsseitigen Kolon-Onlay-Patches im Hinblick auf die resorptive Funktion wurde auch von Emslie et al. (1997) und Suita et al. (1997) berichtet.
29.7.3
Postoperative Behandlung
Postoperativ ist zunächst eine sorgfältige Überwachung der Patienten erforderlich. Jeder Temperaturanstieg muss als Hinweis auf eine Anastomoseninsuffizienz gewertet und bei radiologischem Nachweis frühzeitig eine Enterostomie angelegt werden. Die Entleerung von häufigen, das Perineum und eine Anastomose im Bereiche Linea dentata gefährdenden Stühlen muss eventuell durch Gabe von Loperamid und/oder von Kaolin-Pectin-Suspensionen verhindert werden. Beachtet werden muss auch die Entwicklung von allergischen Diarrhöen, insbesondere das Auftreten einer Kuhmilchallergie. Besondere Beachtung verdienen Patienten mit resezierter Ileozökalklappe, da jetzt Gallensäuren im stärkeren Umfange in das Colon ascendens und transversum gelangen und Entzündungen (chologene Diarrhö) verursachen können. Hier empfiehlt sich die Gabe von Cholestyramin, das die Gallensäuren binden kann. Allerdings muss dann langfristig auf die Entwicklung von Gallensteinen geachtet werden. Darüber hinaus kann eine spezielle Diät basierend auf Bananen, Karotten, Blaubeeren die Stuhlkonsistenz erhöhen oder durch Gabe von Rhabarber, Pflaumensaft, Feigensaft, körnerreichen Nahrungsmitteln oder Beerenobst die Stuhlfestigkeit verringern.
29.7.4
Komplikationen
Die häufigsten Komplikationen der Operationsverfahren nach Swenson und Duhamel sind Inkontinenzerscheinungen aufgrund einer Verletzung oder Überdehnung des Sphinkterapparates. Bei der Technik nach Soave und insbesondere nach Rehbein kommt der persistierenden Obstipation wegen zu lang belassenen aganglionären Restsegment eine größere Bedeutung zu. Das größte Problem der anterioren Resektion nach Rehbein ist jedoch die Anastomosen-
29
360
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
insuffizienz mit konsekutiver Stenose, bei der Duhamel-
Operation ein proximaler Blindsack des Rektumstumpfes. Nahtinsuffizienzen, Abszesse und Stenosen können allerdings auch nach den Verfahren von Soave/Booley, Swenson und Duhamel auftreten (Holschneider u. Rassouli 2008; Holschneider 1982). Früh- und Spätileuserscheinungen kommen bei allen Verfahren gleich häufig vor, wobei einem offen gelassenen Peritoneum bei laparoskopischer Präparation des Kolons, das einen Vorfall von Dünndarmschlingen in das kleine Beckens erlaubt, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Bei allen Verfahren können postoperativ Enterokolitiden oder Obstipationserscheinungen auftreten, insbesondere, wenn nicht im Gesunden reseziert wurde. Insgesamt wird jedoch bei etwa 90% aller Kinder ein befriedigendes Ergebnis erreicht, gleichgültig, welche Operationstechnik angewandt wurde (Holschneider u. Rassouli 2008; Holschneider et al. 1980). Besonders häufig sind rezidivierende Enterokolitiden bei langstreckigen Aganglionosen (Dübbers et al. 2003).
Frühkomplikationen
29
Frühkomplikationen sind Komplikationen, die innerhalb der ersten 4 Wochen nach der Operation auftreten. Ihre Ursache sind im Allgemeinen technische Probleme oder Infektionen. In einer internationalen Studie von 439 Patienten mit Hirschsprung-Erkrankung, die an 16 verschiedenen europäischen und außereuropäischen Zentren von ein- und demselben Team nachuntersucht wurden, kam es in 7% der Fälle zur Anastomoseninsuffizienz, in 15% zu Anastomosenstenosen und in 11% zu Wundinfektionen. Eine Retraktion des durchgezogenen Kolons wurde bei 3% der Kinder, die nach Swenson und bei 7% der Fälle, die nach Soave operiert worden waren, beobachtet (Holschneider et al. 1980). In einer neueren Studie von Holschneider und Rassouli (2008) fanden sich unter 191 Patienten aus 22 deutschsprachigen kinderchirurgischen Zentren in 2,1% Fisteln, bei 6,6% eine Nahtinsuffizienz, bei 9,9% der Kinder Anastomosenstenosen, bei 1,1% Wundinfektionen, bei 5,8% ein Ileus und bei 0,5% eine Blasendysfunktion. Es handelte sich nur um nach Rehbein operierte Fälle. Anastomoseninsuffizizenz. Auch in der Operationstechnik
nach Swenson und Duhamel ist die Anastomoseninsuffizienz eine gefürchtete Komplikation. Bei einem Überblick der Surgical Section of the American Academy of Pediatrics (Kleinhaus et al. 1979) mit mehr als 5000 Operationen, die von 181 Chirurgen durchgeführt wurden, fanden sich Anastomoseninsuffizienzen bei 11% der nach Swenson und 2,4% der nach Duhamel operierten Kinder. Ein Viertel der Kinder mit Anastomoseninsuffizienz nach Swenson benötigte eine weitere Durchzugsoperation und 11% eine definitive, permanente Kolostomie. In einer weiteren japanischen Serie von 1628 Kindern fanden sich in 8,8% Anastomoseninsuffizienzen nach Rektosigmoidektomie (Swenson oder Rehbein), in 7% nach dem Duhamel-Verfahren
und in 1% nach dem endorektalen Soave-Durchzug sowie in 7% bei simultaner Anlage einer Anastomose nach Boley (Ikeda u. Goto 1984). Eine Untersuchung des Children’s Memorial Hospital in Chicago an 800 Patienten ergab eine Anastomoseninsuffizienz nach dem Swenson-Verfahren von 5,6% (74). Hinsichtlich der Duhamel-Technik fanden Rescorla et. al.1992 nur bei einem von 185 Patienten eine Nahtinsuffizienz. Allerdings fanden sich Stuhlfisteln nach Swenson bei 6%, nach Duhamel bei 3 und nach Soave bei 1% der Kinder. Das Risiko einer Anastomoseninsuffizienz hängt ab von der: 4 Präoperative Reinigung des Darms 4 Spannung an der Anastomose 4 Durchblutung der zu anastomosierenden Darmabschnitte oder des rektalen Muskelmantels 4 Anastomosentechnik (z. B. vollständige, die gesamte Darmwand erfassende Nahtreihe, Größe der Nahtklammern entsprechend der Dicke der Darmwand etc.) Alle Anastomoseninsuffizienzen münden in eine Anastomosenstenose, die nicht immer durch konsekutive Bougierungsmaßnahmen beseitigt werden kann und eine Reoperation benötigen. Gefährlich sind Einengungen unterhalb einer Anastomose (z. B. Analachalasie), da diese durch Überdehnung der Anastomose und zu einer Insuffizienz führen können. Aus diesem Grunde ist eine Schwächung des achalen Sphincter ani internus eine Voraussetzung jeder Durchzugs- oder Anastomosenoperation. Auch das Einführen eines transanalen, transanastomotisches Darmrohres für einige Tage kann hilfreich sein. > Beim geringsten Anzeichen einer Anastomoseninsuffizienz, die sich häufig durch einen Fieberanstieg bereits am 3–5 postoperativen Tag manifestiert, sollte nicht gezögert werden, eine Kolostomie oder Enterostomie anzulegen. In den meisten Fällen heilt dann das Leck komplikationslos innerhalb von 3–4 Monaten ab.
Blasendysfunktion. Postoperative Störungen des Miktions-
verhaltens sind nicht immer zu vermeiden. Sie bestehen im Wesentlichen in einer Blasenatonie, selten in einer echten Urininkontinenz oder Ureterobstruktion. Diese Komplikationen werden nach allen Operationsverfahren beobachtet, sind jedoch nach der Rehbein-Technik am seltensten (Fonkalsrud 2000). Nach Moore et al. (1994) fanden sie sich bei 12% der Kinder nach der Swenson-Technik und 4% der Fälle nach der Duhamel-Technik. Die Ursache ist fast nie eine Fehlbildung des autonomen Nervensystems im Blasenbereich, sondern meist eine Schädigung der afferenten und efferenten Nervenfasern des Plexus pelvicus durch die Operation (Holschneider et al. 1982). Besonders häufig führt ein präoperatives Megarektum zu Miktionsstörungen und Blasenatonie. Wundinfektionen wurden in Shermans MulticenterStudie (Sherman et al. 1989) in 18% der Fälle beobachtet. In
361 29.7 · Therapie
einer internationalen Studie von 420 Kindern beobachteten Holschneider et al. (Holschneider et al. 1980) eine Wundinfektion bei 7,4% der nach Rehbein, 15,8% der nach Swenson, 10,6% der nach Soave und 17,5% der nach Duhamel operierten Patienten. Eine Retraktion des Neorektums beobachtete der Autor bei 2,6% der nach Swenson und 6,7% der nach Soave operierten Kinder. Durch Verfeinerung der Technik können jedoch diese Komplikationen heute niedriger angesetzt werden.
Spätkomplikationen Als Spätkomplikationen sind insbesondere die Enterokolitis, die chronische rezidivierende Obstipation, die Stuhlinkontinenz, der postoperative Ileus und wesentlich seltener die Urininkontinenz zu nennen. Im Allgemeinen sind diese Komplikationen in den ersten Monaten nach dem Eingriff wesentlich häufiger als einige Jahre später (Holschneider u. Rassouli 2008; Holschneider et al. 1980). Während in den ersten Monaten nach dem operativen Eingriff nach dem Rehbein-Verfahren bei 35,8% der Kinder, nach dem Duhamel-Verfahren 41,5%, nach Soave 20,8% und nach Swenson 32,5% der Fälle unter einer persistierender Obstipation litten, waren dies nach einem Nachuntersuchungszeitraum von 8 Jahren nur noch 7,9% der Patienten, die nach Rehbein, 10% derjenigen, die nach Swenson, 10,4% derjenigen, die nach Soave und 9,4%, die nach Duhamel operiert worden waren. Insgesamt zeigte sich also ein durchschnittlicher Rückgang der chronischen Operation von 32,4% auf 9,4%. Das Gleiche kann für die Enterokolitis gesagt werden. In den ersten Monaten nach dem Eingriff litten 15,3% der Kinder, die nach Rehbein, 26,9% derer, die nach Swenson, 34,9% derer, die nach Soave und 33,8% der Kinder, die nach Duhamel operiert worden waren, unter einer Enterokolitis. Nach durchschnittlich 8 Jahren waren dies nur noch 6,3% der Patienten, die nach Rehbein, 3,7% der Kinder, die nach Swenson, 13,2% der Patienten, die nach Soave und 4,7% derer, die nach Duhamel operiert worden waren. Insgesamt besteht also auch hier ein Rückgang von 25,1% auf 7,3% nach 8 Jahren. Weil die zeitliche Korrelation der postoperativen Symptome zum Operationszeitpunkt meist nicht beachtet wird schwanken auch die Angaben über die Frequenz einer postoperaziven Enterkolitis in der Literatur beträchtlich. So geben Teitelbaum u. Coran (2008) nach dem Verfahren nach Soave eine Frequenz von 2–16%, nach Swenson 3– 34% und nach Duhamel von 6–14% an. Im Bericht der Surgical Section of the American Academy of Pediatrics findet sich eine Enterokolitishäufigkeit von 16% nach Swenson, 6% nach Duhamel und 15% nach Soave bzw. 2% nach Soave-Boley (Kleinhaus et al. 1979). Nach Rehbein tritt eine Enterokolitis in 10% der Fälle auf (Ure et al. 1994). In unserer neuen deutschsprachigen, internationalen Studie betrug die Häufigkeit einer Enterokolitis nach Swenson 4%, nach anteriorer Resektion 6%, nach endorektalem Durch-
zug 13% und nach retrorektalem Durchzug 5% (Holschneider u. Rassouli 2008; Holschneider 1981). In einem Literaturüberblick von 5919 Fällen fand sich eine Häufigkeit von 8% (Joppich 1982). In einer Analyse von 1628 japanischen Patienten fand sich eine Enterokolitis bei 34% der Patienten nach Swenson, 14% nach Duhamel, 20% nach Soave und 12% nach Boley’s Operationstechnik (Ikeda u. Goto 1984; Snyder u. Ashcraft 2000). Die chronische Obstipation persistiert häufig aufgrund einer Analsphinkterachalasie, wegen einer unvollständigen Resektion, wobei noch eine Hypoganglionose oder Aganglionose im oberen Rand des Resektionspräparates nachzuweisen ist oder wegen der Ausbildung einer Anastomosenstenose. Die Folge ist eine Stase mit Ausbildung von Fäkalomen und eventuell einer Überlaufinkontinenz. Wester berichtete 1995 (Wester et al. 1995) über eine persistierende chronische Obstipation bei 6% der Patienten, die nach Swenson, Heij et al. (1995) von 10% bei Kindern, die nach Duhamel und Wester wiederum (131) von 7% der Fälle, die nach Rehbein operiert worden waren. In einer neueren Multicenterstudie deutschsprachiger kinderchirurgischer Einrichtungen fanden wir unter 189 Patienten, die nach Rehbein operiert worden waren, in 10,6% eine Enterokolitis, in 22,8% eine chronische Obstipation, in 4,2% eine Stuhlinkontinenz (Holschneider u. Rassouli 2008). Die Letalität dieses Verfahrens betrug 1,1%. Ein Spätileus wurde in 9,5% der Fälle beobachtet. Langzeitergebnisse mit den laparoskopischen Techniken oder dem transanalen Durchzug sind in kleineren Serien zwar berichtet worden, Spätergebnisse größerer Kollektive mehrerer 100 Patienten fehlen jedoch noch (Holschneider u. Rassouli 2008). Da jedoch diese Methoden nur Modifikationen der genannten Verfahren darstellen und die Anastomosen Techniken unverändert übernommen wurden, kann davon ausgegangen werden, dass diese Operationsmethoden die gleichen Langzeitergebnisse nach sich ziehen wie die früheren Operationsverfahren. In einer Studie von 4873 Patienten mit einem M. Hirschsprung in der Literatur fanden Joppich et al. (1982) eine rezidivierende chronische Obstipation bei 9% der Fälle. Es ist nicht verwunderlich, dass nach dem Verfahren von Rehbein bei 9,4% der Patienten eine Sphinkteromyotomie notwendig wurde (103, 104). 32% unserer Patienten benötigten wiederholte Sphinkterdehnungen, 13% eine Sphinkteromyotomie. Rehbein bezeichnete Sphinkterdehnungen als Teil seiner Operationstechnik. Bei den Verfahren nach Swenson und Duhamel ist eine partielle Inzision des Sphinkters bereits durch die tiefe, nur wenige cm oberhalb der Linea dentata gelegene Anastomose gegeben. Wir haben allerdings eine Erhöhung des anorektalen Ruhedruckprofils 5 Jahre nach der Operation nur bei 8% der nachuntersuchten Patienten beobachtet und keine Unterschiede zwischen den angewandten Operationsverfahren gesehen. Eine Schwächung des achalen Sphinkters ist also bei allen Verfahren notwendig. Sie erfolgt jedoch meist nur in Form einer Sphinkterdehnung entweder zu Beginn der
29
362
29
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
Operation (Rehbein) oder durch das Operationsverfahren selbst (Swenson, Duhamel, Soave/Booley, de la Torre). Erst, wenn bei persistierender Analachalasie, postoperativ drei, in Narkose durchgeführte, schonende Dilatationen nicht zum Erfolg führen, ist unseres Erachtens eine Sphinkteromyektomie angezeigt, wobei nur ein 2 mm breiter und maximal 1,5–2 cm langer, das untere Drittel des Sphincter ani internus umfassender Streifen entnommen werden sollte. Es sollten mindestens ein bis maximal zwei Drittel des Spincter ani internus erhalten bleiben, um die anale Kontinenz nicht zu gefährden (Holschneider u. Kunst 2008). Eine Nachresektion lässt sich nicht immer vermeiden, jedoch ihre Notwendigkeit deutlich verringern, wenn streng darauf geachtet wird, dass der obere Resektionsrand eine normale Ganglienzellverteilung aufweist (Schulten et al. 2000). Die neue Möglichkeit einer intraoperativen AchESchnellschnittuntersuchung kann hierfür bereits Hinweise ergeben (Kobayashi et al. 1995; Martuciello et al. 2001). Die Operation kann jedoch bei Stenosen, hypoganglionären Restsegmenten, Fehlbildungen der Cajal-Zellen oder des Bindegewebes der Darmwand, oder fortschreitender Apoptose der enteralen Ganglienzellen notwendig werden. In einer Studie von 81 Patienten war eine Nachresektion bei 5% der Fälle notwendig (Meier-Ruge et al. 1999; Ure et al. 1994). In einer anderen Untersuchung mussten 20 von 215 Kinder nachoperiert werden (Banani et al. 1996). Bei 9 wurde eine Spinkteromyektomie bei 11 Patienten eine erneuter Durchzug durchgeführt. Eine Stuhlinkontinenz (Stuhlschmieren, Enkopresis) tritt nach dem Rehbein-Verfahren nicht auf, wird aber in 12% nach Swenson, 7% nach Duhamel und 3% nach Soave beobachtet (Joppich 1982). In der japanischen Studie fand sich bei 9% der Patienten die nach Swenson und 3% der nach Duhamel operierten Kinder eine Stuhlinkontinenz (Ikeda u. Goto 1984) ein Stuhlschmieren hingegen bei 35% der nach Duhamel (Snyder u. Ashcraft 2000), 8% der nach Swenson (Liem et al. 1993), 3% der nach Soave (Moore et al. 1996) und nur bei 1% der nach Boley operierten Kinder. Urinentleerungsstörungen sind selten und werden meist nur bei älteren Patienten beobachtet. In einer eigenen urodynamischen Untersuchung von 68 Patienten mit einem
M. Hirschsprung fanden wir eine spontane Besserung postoperativer Blasenenentleerungstörungen innerhalb von 10 Jahren von 22% auf 6% (Holschneider et al. 1982). Drei Kinder litten unter gelegentlicher Enuresis, ein geistig retardiertes Kind blieb urininkontinent. Eine sexuelle Dysfunktion wurde bei 9% der Patienten nach Duhamel und 10% der Kinder nach Swenson-Operation beobachtet (Joppich 1982; Holschneider 1981). Eine neuere Zusammenstellung der Spätkomplikationen findet sich bei Little and Snyder (2008) (. Tab. 29.2). Natürlich sind die Komplikationen bei totaler Aganglionose oder langstreckigen Verfahren wesentlich häufiger als bei einem typischen, kurzstreckigen Morbus Hirschsprung mit Lumensprung am rektosigmoidalen Übergang (Dübbers et al. 2003). Eine persistierende Obstipation nach anteriorer Resektion kann nur durch einen retrorektalen Durchzug nach Duhamel korrigiert werden. Nach einem transrektalen Durchzug lässt sich auch eine erneute Durchzugsoperation durchführen. Nach einer Duhamel-Operation kann ebenfalls ein zweiter Duhamel oder eine tiefe anteriore Resektion nach Rehbein erfolgen.
Megakolon mit ultrakurzem Segment
29.7.5
Die Häufigkeit eines ultrakurzen Hirschsprungs liegt zwischen 11 und 14% (Meier-Ruge u. Schärli 1986). Wir selbst (Holschneider u. Kunst 2008) fanden eine Häufigkeit von nur 2,6%. Die Schwankungen in den Angaben beruhen auf einer ungenauen Definition, was als ultrakurz zu bezeichnen ist. Hier werden Längen von 2 cm (Bettex 1976) bis 10 cm (Nissan u. Bar-Moar 1971) angegeben. Vom anatomischen Standpunkt aus sollte die Länge des aganglionären Segments bei ultrakurzem Hirschsprung auf 2–4 cm oberhalb der Linea dentata beschränkt werden, also maximal bis zum tiefsten Punkt der peritonealen Umschlagsfalte. Aganglionäre Segmente dieser Länge können problemlos zunächst mit Sphinkteromyektomie behandelt werden oder mittels transanalem Durchzug.
. Tab. 29.2. Langzeitkomplikationen in großen Serien aus der Literatur des Zeitraums 1967–2004 (nach Little u. Snyder 2008) (N = Anzahl der Patienten der jeweiligen Serie, * = unzureichende Datenangabe) Komplikation
Swenson
Duhamel
Soave
Rehbein
La Torre
N
%
N
%
N
%
N
%
Enterokolitis
3531
13,4
4042
7,1
1268
4,5
440
8,2
Obstipation
2600
10,3
3567
7,0
571
3,7
367
15,5
Inkontinenz
2953
10,8
4010
4,7
1216
4,9
367
Striktur
2188
7,1
3180
2,2
781
6,1
Mortalität
1373
2,8
3591
1,5
902
2,3
Gesamt
N
%
N
%
*
*
10381
10,6
149
4,1
7981
7,9
8,2
*
*
9063
7,1
337
9,5
290
4,5
7198
5,0
191
2,0
149
2,0
6532
2,0
363 29.7 · Therapie
a
b
. Abb. 29.15a–c. Megakolon mit ultrakurzem Segment: Der Analkanal öffnet sich bei dieser Defäkographie nicht
c
Unterschiedlich wird auch die Frage nach der Existenz oder Länge eines physiologischen, aganglionären Abschnittes oberhalb der Linea dentata beurteilt. Neuere Untersuchungen (Tafazzoli et al. 2005) weisen jedoch darauf hin, dass der gesamte Enddarmabschnitt einschließlich der glatten Sphinktermuskulatur mit Ganglienzellen besiedelt ist, dass jedoch die Anzahl der Ganglien, insbesondere in den untersten 3–4 cm des Analkanals stark abnimmt und teilweise nur vereinzelt Ganglien nachweisbar sind. Eine Aganglionose des Sphincter ani internus kann daher nicht als pathologisch angesehen werden. Die von Meier-Ruge geforderte Anzahl der Schnitte zur Erstellung einer exakten Diagnose muss daher im unteren Analkanal höher angesetzt werden. Die Diagnose eines Megakolons mit ultrakurzem Segment wird durch ein Fehlen der NO-Fasern sowie einer erhöhten Acetylcholinesterase-Aktivität in der Lamina propria mucosae und im Bereich des Plexus submucosus gestellt (. Abb. 29.15).
29.7.6
Analachalasie
Die Analachalasie ist charakterisiert durch eine Unfähigkeit des Sphincter ani internus zu erschlaffen. Elektromanometrisch können 3 Formen unterschieden werden:
4 Psychogene oder neurovegetative funktionelle Analsphinkterachalasie, bei der neben pathologischen rudimentären Erschlaffungsmustern auch normale Internusrelaxationen nachweisbar sind 4 Myogene Analsphinkterachalasie, bei der aufgrund von Entzündungen und Fibrosen in der glatten Muskulatur nur wannenförmig rudimentäre Erschlaffungen ausgelöst werden können (. Abb. 29.16) 4 Neurogene Analsphinkterachalasie des Megacolon congenitum Hirschsprung, bei der die Internusrelaxationen vollständig fehlen, da eine reflektorische Erschlaffung aufgrund der Aganglionose höherer Darmabschnitte nicht mehr möglich ist. Die Elektromanometrie ergänzt durch die Defäkographie sind daher die entscheidenden Untersuchungsmethoden für die Differenzialdiagnose. Die Defäkographie gibt darüber hinaus Aufschluss über die Länge des eng gestellten Segmentes. Manometrisch von Bedeutung ist weiterhin das anorektale Ruhedruckprofil. Ein erhöhter analer Ruhedruck bei mehrfachem Durchzugsprofil ist ein wichtiger Hinweis für die Notwendigkeit einer Dilatation oder Myektomiebehandlung.
29
364
Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
29
. Abb. 29.16. Analsphinkterachalasie; Der Analkanal öffnet sich nur teilweise (rudimentäre Relaxation des M. sphincter ani internus), die unteren 2/3 des Analkanals bleiben verschlossen. Der Druckvektor der
Defäkation richtet sich gegen die hintere Rektumwand. Hier werden deshalb gelegentlich auch divertikelartige Vorwölbungen beobachtet
! Cave
den. Die lokale Behandlung mit unter Umständen wiederholten intrasphinktären Botoxinjektionen oder auch Auftragen von NO-Paste zeigte ebenfalls Erfolge, obwohl NO nicht auf die glatte Muskulatur einwirkt. Es kann daher nur vermutet werden, dass sie wie das Botulinumtoxin auch einen relaxierenden Effekt auf die quergestreifte Sphinktermuskulatur ausübt und die willkürlichen, den Defäkationsreflex unterbrechenden Kontraktion bei der psychogenen Analsphinkterachalasie abschwächt (Holschneider u. Kunst 2008).
In keinem Fall sollte eine Sphinktermyektomie vorgenommen werden, ohne den präoperativen manometrischen Nachweis eines erhöhten Ruhedruckes.
Postoperativ dient die Elektromanometrie dann zur Kontrolle der Sphinkterfunktion und der Darmmotilität. Eine funktionelle Analsphinkterachalasie liegt bei 95% aller Kinder vor, eine neurogene Achalasie fast nur im Zusammenhang mit einem Morbus Hirschsprung, eine myogene Analachalasie nach entzündlichen Erkrankungen des Analkanals, wie Rhagaden, Fissuren, Abszessen und Hämorrhoiden. Therapeutisch ist die Sphinkteromyektomie heute selten geworden, zumal der Ruhetonus des Sphincter ani internus auch medikamentös gesenkt werden kann. Sie ist nur noch indiziert bei hartnäckiger therapieresistenter Obstipation, und nur nach mindestens 3 Analbougierungen in Narkose. Zunächst sollte ein Versuch mit Phenoxybenzamin, oder einem anderen α-Rezeptorenblocker, unternommen sowie eine psychotherapeutische Behandlung durchgeführt wer-
365 29.7 · Therapie
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Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
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Kapitel 29 · Morbus Hirschsprung und neuronale intestinale Dysplasie
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30
30 Anorektale Malformationen A.M. Holschneider 30.1
Genetik
– 370
30.2
Embryologie – 372
30.2.1 30.2.2
Chirurgische Anatomie und Funktion des Anorektums – 372 Kontinenz und Defäkation – 375
30.3
Klinik
30.3.1 30.3.2
Inzidenz – 377 Begleitfehlbildungen
– 377 – 378
30.6
Operative Therapie
30.6.1 30.6.2
Neugeborenenperiode und Allgemeines Operative Therapie einer Analatresie bei Knaben – 385 Operative Therapie einer Analatresie bei Mädchen – 388 Antepositio ani – 390 Perineale Rinne – 390 Kloakenfehlbildung – 390 Komplikationen – 391
30.6.3 30.6.4 30.6.5 30.6.6 30.6.7
– 384
30.4
Klassifikation
– 379
30.7
Ergebnisse
30.4.1 30.4.2 30.4.3
Wingspread-Klassifikation – 379 Krickenbeck-Klassifikation – 380 Klassifikation der Nachuntersuchungskriterien – 381
30.7.1 30.7.2
Nachuntersuchungen – 395 Konsequenzen für die Nachbehandlung
30.5
Diagnostik – 382
30.5.1 30.5.2
Obligatorische diagnostische Verfahren – 382 Besondere diagnostische Verfahren – 383
> Anorektale Fehlbildungen sind seit Aristoteles bekannt und wurden erstmals von Suranus und Paul von Aegina behandelt, wobei einfache Membranen über der Analöffnung gespalten wurden (Grosfeld 2006). Der Vorschlag, bei höheren Atresieformen eine Kolostomie durchzuführen, stammt aus dem Jahre 1710 von Littre. Entscheidende Fortschritte in der Behandlung des Krankheitsbildes erfolgten jedoch erst nach dem zweiten Weltkrieg, als Rhoads 1948 als erster den abdominoperinealen Durchzug zur Behandlung hoher Atresieformen und 1953 Douglas Stephens die sakroperineale Anorektoplastik empfahlen. Stephens war auch der erste, der die Bedeutung der Levatormuskulatur einschließlich der Puborektalisfasern erkannte und eine detaillierte Einteilung der verschiedenen Formen anorektaler Fehlbildungen vornahm, die nicht mehr nur der 1930 von Wangensteen und Rice mittels Invertogramm beschriebenen und von Ladd und Gross 1934 empfohlenen einfachen Einteilung in hohe und tiefe Formen entsprach (Stephens 1963). 1959 empfahl Rehbein eine Aushülsung der Mukosa des Rektumblindsackes und einen transrektalen, abdominoperinealen Durchzug durch die Muskelmanschette, wobei der durchgezogene Darm die rektourethrale Fistel verschließen sollte (Rehbein 1959, 1976). Roumaldi beschrieb ein
– 384
– 395 – 396
Literatur – 397
Jahr später (1960) das gleiche Vorgehen hinsichtlich der rektovestibulären Fistel bei Mädchen. Die Methode der Wahl blieb jedoch bei hohen Fistelformen der abdominosakroperineale Durchzug nach Stephens, der 1963 von Kiesewetter modifiziert wurde. 1982 beschrieben Peter de Vries (de Vries u. Pena 1982) und Alberto Pena (Pena u. de Vries 1982) erstmals die posteriore sagittale Anorektoplastik, eine Technik, die zwar auf frühere Vorbilder in der Behandlung des Rektumkarzinoms zurückgriff, aber erstmals für die Behandlung von anorektalen Fehlbildungen eingeführt und von Pena auch für Kloakenfehlbildungen weiter differenziert wurde. Georgeson führte 2000 den laparoskopischen abdominoperinealen Durchzug in die Behandlung hoher Formen anorektaler Fehlbildungen ein.
370
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
30.1
30
Genetik
Die Ursache der Analagenesie ist unbekannt, besteht jedoch embryologisch in einer Wachstumshemmung des urorektalen Septums gegen die Kloakenmembran, die innerhalb der 4. bis 8. Gestationswoche auftritt. Die Defekte in der Blastogenese umfassen jedoch oft zwei und mehr Bereiche, so dass komplexe Phänotypen entstehen, die multifaktoriellen Ursprungs sind und sowohl chromosomale, monogenetische und teratogene Ursachen umfassen. Vom genetischen Gesichtspunkt aus sind die anorektalen Fehlbildungen nicht einfach zu klassifizieren. Sie können nicht-syndromatisch, d. h. als einzige Fehlbildung den Patienten betreffen oder aber Teil eines komplexen Syndroms sein. Sie können sporadisch auftreten oder gehäuft in ein und derselben Familie mit verschiedenen Vererbungsmodalitäten. Es gibt Geschlechtsunterschiede mit einer höheren Frequenz komplexer Fehlbildungsformen bei Knaben und tiefen Fehlbildungstypen, wie perineale oder vestibuläre Fisteln bei Mädchen. In den 11 bisher publizierten Familien mit erblicher, nicht-syndromatischer anorektaler Fehlbildung zeigten 7 Familien einen autosomal-dominanten Vererbungsmodus, eine Familie einen autosomal-rezessiven und 3 eine autosomal-X-chromosomal gebundene rezessive Vererbungsform (Lerone et al. 1997). Unter den chromosomalen Anomalien, die mit anorektalen Fehlbildungen vergesellschaftet sind, überwiegen die Trisomie 13, die Trisomie 18, die Trisomie 21 sowie partielle Tri-/Monosomien und andere chromosomale Anomalien (Cuschieri 2002). In seiner Studie von 1846 Kindern mit anorektalen Fehlbildungen wurden bei 11% Chromosomenanomalien gefunden, wobei die anorektale Fehlbildung meist in einer perinealen Fistel bestand. Die Häufigkeit einer hohen, intermediären und tiefen Form einer Analatresie lag in einer japanischen Studie (Endo et al. 1999) bei 2,7%, 18,7% und 4,1% respektive. Weitere bekannte Syndrome sind das Cat-eye-Syndrom, das Townes-Brocks-Syndrom, das FG-Syndrom, das Pallister-Hall-Syndrom, die VACTERL-Assoziation, die Sirenomyelie, das kaudale Regressionssyndrom und die Currarino-Triade. Es besteht jedoch allgemein ein weites Spektrum möglicher Begleitfehlbildungen bei anorektalen Fehlbildungen. Ratan et al. (2004) untersuchten 416 Patienten mit anorektalen Fehlbildungen und fanden bei 58% zusätzliche Fehlbildungen, 68% bei Knaben, 32% bei Mädchen und 58% bei hohen Fehlbildungsformen. Einige Fehlbildungskombinationen sind besonders komplex und werden daher als Syndrome bezeichnet. Sie werden, da sie nicht ganz selten vorkommen, im Folgenden näher beschrieben. Cat-eye-Syndrom. Das Cat-eye-Syndrom wird charakterisiert durch eine anorektale Fehlbildung, totale oder seltener partielle bilaterale und unilaterale Kolobome der Iris, der Choroida und/oder des Nervus opticus bei gleichzeitiger
Mikrophthalmie (gewöhnlich unilateral), unterschiedlichen äußerlichen Ohrfehlbildungen, häufig mit Atresie des äußeren Hörkanals. Die Fehlbildungen können bei der Hälfte der Fälle mit einer geistigen Retardierung und weiteren dysmorphen Veränderungen, wie Hypertelorismus, verbunden sein. Auch simultane Herzfehler, Fehlbildungen der Lungenvenen und Urogenitalfehlbildungen sind beschrieben. Die Ursache ist eine Doppelung von Teilen des Chromosoms 22 (Lerone et al. 1997; Berends et al. 2001). Townes-Brocks-Syndrom. Die Townes-Brocks-Syndrome
(TBS), auch Nieren-Ohr-Anal-Radius-Syndrome oder Townes-Brocks-brancho-oto-renal-like-Syndrome genannt, werden autosomal vererbt (Townes u. Brocks 1972). Sie haben eine geschätzte Häufigkeit von 1:250.000 Lebendgeburten. Die Hauptcharakteristika sind anorektale Fehlbildungen, Handfehlbildungen mit Polydaktylie, äußere Ohrfehlbildungen, Herzfehler, meist eine Tetralogie nach Fallot, urogenitale Fehlbildungen, einschließlich dysplastischer Nieren, vesikourethraler Reflux und Hypospadie sowie in wechselndem Umfang eine geistige Behinderung. Die diagnostisch entscheidenden Kriterien sind Hand-, Ohr- und Analfehlbildungen. Die zugrunde liegende Genmutation betrifft das Gen SALL1. Trotzdem schließt der fehlende Nachweis dieser Mutation das Syndrom nicht aus (Kohlhase u. Engel 2004; Marlin et al. 1999). Das TBS ähnelt dem Goldenhaar- und VACTERL- oder dem okulo-aurikulovertebralen Syndrom. Eine pränatale Diagnose kann per Ultraschall zwischen der 18. und 22. Schwangerschaftswoche gestellt werden. FG-Syndrom. Das FG-Syndrom ist charakterisiert durch eine geistige Retardierung und multiple angeborene Fehlbildungen, wie großer Kopf, anorektale Fehlbildung, kongenitale Hypotonie, partielle Agenesie des Corpus callosum (Opitz u. Kaveggia 1974). Darüber hinaus finden sich genitale Fehlbildungen, wie Kryptorchismus, Hypospadie, Hernien, Veränderungen der Haut und der Haare sowie der Augen und Daumen. Das Syndrom ist X-rezessiv gebunden und auf dem Chromosom Xq12-q21.31 lokalisiert. Pallister-Hall-Syndrom. Dieses seltene Syndrom wird durch
ein Hamartom im Bereich des Hypothalamus, das zur Pubertas praecox oder Panhypopituitarismus, Polydaktylie, anorektalen Fehlbildungen und Fehlbildungen des Respirationstraktes führt, charakterisiert. Es ist autosomal-dominant vererbt und basiert auf Mutationen des Gens GL13 (Hall et al. 1980; Biesecker et al. 1996; Sama et al. 1994). Sirenomyelie. Die Sirenomyelie gehört zu den ältesten angeborenen Fehlbildungen und ist bereits in der griechischen Sagenwelt verwurzelt. Sie hat eine geschätzte Häufigkeit von 1:60.000 und eine Knaben-Mädchen-Relation von 2:7. Sie besteht aus einer Fehlbildung der unteren Gliedmaßen, Kloaken- und Genitalfehlbildungen, Zysten-
371 30.1 · Genetik
nieren, Fehlbildungen des Gastrointestinaltraktes, des Skeletts und der Rippen, Herzfehler und vielen anderen Missbildungen. Sie ist meist aufgrund beidseitiger Zystennieren letal (Lerone et al. 1997). VACTERL-Assoziation (VATER). VACTERL ist ein Akronym für vertebrale-, anorektale-, tracheoösophageale Nierenund Gliedmaßenfehlbildung (»vertebral, anorectal, tracheoesophageal, cardial, renal, limb«; Martinez-Frias et al. 1998). Die Fehlbildungssequenz muss nicht immer vollständig sein. Die Nierenfehlbildungen umfassen zumeist eine Nierenagenesie, Nierenhypoplasie oder zystische Dysplasie. Die Fehlbildungen der Gliedmaßen wie Fehlbildungen des Radius des Daumen oder der unteren Gliedmaßen können sowohl ein-, wie doppelseitig auftreten. Der Begriff VATER ist ebenfalls ein Akronym, wobei hier neben vertebralen, analen, tracheoösophagealen nur Nierenfehlbildungen vorkommen (Lerone et al. 1997; Martinez-Frias et al. 1998). Es wird angenommen, dass die VACTERL-Assoziation eine frühembryonale Schädigung des Blastoms darstellt, die etwa in der 4. Woche der Embryogenese polytop auftritt. Unter 416 Patienten mit anorektalen Fehlbildungen, die Ratan (Ratan et al. 2004) beschrieb, fanden sich zusätzliche Fehlbildungen bei 58% der Kinder, wobei zwei zusätzliche Fehlbildungen bei 50%, drei bei 29% und vier bei 16% der Fälle gefunden wurden. Nur 3 Patienten zeigten das Vollbild einer VACTERL-Assoziation. In einer anderen Studie von 140 Patienten zeigten 44 Patienten drei oder mehr Komponenten der VACTERL-Assoziation neben der anorektalen Fehlbildung (Mittal et al. 2004). Das bedeutet, dass die VACTERL-Assoziation nicht selten ist und mit einer Häufigkeit von 1:7000–10.000 Lebendgeburten auftritt (Corsello et al. 1993). Alle Fälle sind sporadisch, das Wiederholungsrisiko ist minimal. Lediglich das VATERL-Syndrom mit Hydrozephalus bildet eine Ausnahme, da es sich hier um eine autosomal-rezessive Erkrankung handelt (Lafolla et al. 1991; Vandenborre et al. 1993). Kaudales Regressionssyndrom. Bereits der Name zeigt, dass es sich hier um eine heterogene Gruppe kaudaler Anomalien handelt. Sie umfasst verschiedene Grade von Wirbelsäulen-, anorektalen und urogenitalen Fehlbildungen (Duhamel 1961). Die Veränderungen beschränken sich jedoch auf die untere Körperhälfte, obwohl auch pulmonale Hypoplasien und Herzfehler auftreten können. Die Häufigkeit des kaudalen Regressionssyndroms liegt bei 1:7500 Geburten, wobei die Angaben allerdings stark schwanken (Diel et al. 2001; Wilmshurst et al. 1999). Der Grund für die Regressionsstörung ist nicht bekannt. Man nimmt jedoch an, dass sie vor der 7. Gestationswoche auftritt. Currarino-Syndrom. Das Currarino-Syndrom oder die Currarino-Triade besteht aus 3 wesentlichen Charakteristika. Zum einen einer säbelscheidenähnlichen Konfiguration des Os sacrum, die durch ein Hemisakrum und Fehlbil-
dungen der ersten sakralen Wirbel bedingt wird. Dieser Befund ist pathognomonisch für das Currarino-Syndrom (Currarino et al. 1981). Hinzu kommen verschiedene Formen von anorektalen Fehlbildungen, wie rektourethrale Fistel, rektovestibuläre Fistel, rektokloakale Fistel. Ca. 29% aller anorektalen Fehlbildungen sind mit einer sakralen Anomalie kombiniert. Die häufigste Form der anorektalen Fehlbildung beim Currarino-Syndrom ist die perineale Fistel, die manchmal auch als anorektale Stenose imponiert. Die Folge ist, dass die Patienten unter schweren Obstipationserscheinungen leiden und zunächst angenommen wird, dass diese Obstipation das führende Symptom der Erkrankung ist. Bei stuhlgefüllter Rektumampulle wird dann häufig die dritte Komponente der Currarino-Triade, der präsakrale Tumor, nicht getastet und das Syndrom nicht erkannt. Der Tumor entspricht entweder einer anterioren Meningozele, einem Teratom, einer Dermoidzyste, einer rektalen Duplikatur oder einer anderen Tumorform, die sogar bösartig sein kann (Norum et al. 1991; Tander et al. 1999). Hinzu kommen andere urologische, gynäkologische und genitale Fehlbildungen. Das Currarino-Syndrom kann entweder sporadisch vorkommen oder familiär mit einem autosomal-dominanten Erbgang einhergehen. Seine Expressivität variiert jedoch stark, so dass auch Fälle mit inkompletter Penetranz beobachtet werden. Das Verhältnis Mädchen zu Knaben liegt bei 1,7:1. 33% der Fälle sind asymptomatisch (Lynch et al. 2000). Möglicherweise spielen das SHH-, das EN2- und das HLXB9-Gen eine entscheidende Rolle. Die genetischen Variationen sind jedoch sehr vielfältig und es empfiehlt sich bei Diagnose eines Currarino-Syndroms in jedem Falle eine genetische Beratung. Da das Currarino-Syndrom eine autosomal vererbte Erkrankung ist, besteht ein Wiederholungsrisiko von 50% (Martucciello 2007). Weitere Syndrome. Weitere mit einer anorektalen Fehlbildung vergesellschaftete genetische Syndrome sind: 4 Opitz-Syndrom (Hyperteleorismus, Hypospadie, Schluckbeschwerden) 4 Fraser-Syndrom (Kryptophthalmus, Syndaktylie u. a. Fehlbildungen) 4 Johanson-Blizzard-Syndrom (hypoplastiosche Nasenflügel, Taubheit, Pankreasinsuffizienz, Hypothyreoidismus) 4 CHARGE-Syndrom (»coloboma, heart anomaly, anorectal and choanal atresia, mental retardation, genital and ear anomalies”) 4 EEC-Syndrom (»ectrodactyly, ectodermal dysplasia, cleft lip/palate”) 4 Goldenhaar-Syndrom (hemifaziale Mikrosomie, Herz-, Wirbel- und ZNS-Fehlbildungen), 4 Velokardiofaziales Syndrom (Herz-, Wirbel-, Thymusund andere Fehlbildungen, Hypokalzämie) 4 McKusik-Kaufman-Syndrom (Hydrometrokolpos, Morbus Hirschsprung, Hydronephrose).
30
372
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
Tiermodelle Anorektale Fehlbildungen können teratogen mit ETU (Ethylenethiourea [Hirai u. Kuwabara 1990]), Retinolsäure (DiesPrado et al. 1995) und Adriamycin (Liu et al. 1999) bei Mäusen und Ratten (Qi et al. 2002) ausgelöst werden und werden auch bei Schweinen (Lambrecht u. Lierse 1987) beobachtet. Adriamycin verursacht auf Gund einer toxischen Schädigung sehr komplexe Missbildungen wie Kloakenfehlbildungen. ETU induziert bei 80% der behandelten schwangeren Tiere unterschiedliche, einfachere Formen anorektaler Fehlbildungen, wie Analmembranen, aber auch rektourethrale Fisteln, die dem menschlichen Spektrum ähneln. Obwohl beim Menschen SHH-Mutationen als Ursache anorektaler Fehlbildungen ausgeschlossen wurden, fanden sich bei Mäusen mit diesen Mutanten multisystemische Defekte mit anorektalen Fehlbildungen und Komponenten der VACTERL-Assoziation. Ein schlüssiges Tiermodell, das den Fehlbildungen beim Menschen vergleichbar wäre, konnte bisher nicht gefunden werden. Die bisher bekannten Genmutationen, die zu Syndromen führen, sind in der . Tab. 30.1 zusammengefasst.
30.2
Embryologie
Teilung der Kloake durch laterale Fusion in einen analen und urogenitalen Anteil für die anorektalen Fehlbildungen ursächlich sind. Sowohl Tierversuche als auch sorgfältige Untersuchungen an menschlichen Feten mit größeren angeborenen Fehlbildungen lassen vermuten, dass der früheste morphologische Defekt, der zu einer anorektalen Fehlbildung führt, ein Fehlen der dorsalen Komponente der Kloakenmembran sowie der angrenzenden dorsalen Kloake ist. Dieser Fehler tritt sehr früh, meist schon in der 7,5. bis 8. postovulatorischen Woche auf (Padmanabhan et al. 1999). Das Ausmaß des Defektes im dorsalen Bereich der Kloakenmembran bestimmt die Schwere des sich entwickelnden Defektes. Kleine Defekte führen nur zu distalen Defekten wie anokutanen Fisteln, »covered anus« und ähnlichem. Größere Defekte hingegen führen zu urogenitalen Fisteln, Fehlbildungen des Sinus urogenitalis, urethrale Hypoplasie sowie Genital- und skrotalen Fehlbildungen. Je größer die Defekte sind, desto häufiger kommt es auch zu Fehlentwicklungen der quergestreiften Muskulatur, der urethralen Sphinkteren sowie der Bulbo- und Ischiokavernosus-Muskeln und des Beckenbodens (Hutson et al. 2006).
30.2.1
Ausführliche Studien von Kluth (Kluth et al. 1995; Kluth u. Lambrecht 1997) und Penington (Pennington u. Hutson 2002, 2003) zeigten, dass weder die Verschmelzung des anorektalen Septums mit der Kloakenmembran noch die
Chirurgische Anatomie und Funktion des Anorektums
Das anorektale »Kontinenzorgan« wird aus folgenden Strukturen gebildet (Stelzner 1981; Holschneider et al. 2006):
30 . Tab. 30.1. Beispiele genetischer Syndrome mit ARF und Vererbungsmodellen im Tierversuch nach Martuciello (2006) Syndrome
Vererbungsmodus
Genlokalisation
Tiermutanten
Opitz-G-Syndrom
XR
MID-1-Gene
Opitz-Frias-Syndrom
AD
22q11.2
Fraser-Syndrom
AR
FRAS1
Johanson-Blizzard-Syndrom
AR
–
CHARGE-Syndrom
AD
P63
Goldenhaar-Syndrom
Sporadisch oder AD
–
Velokardiofaziales Syndrom
Sporadisch oder AD
Chromosom-22-Mikrodeletion
McKusick-Kaufman-Syndrom
AR
MKKS
Currarino-Syndrom
Heterozygote Mutation, Mäuse
HLXB9
Homozygote Mutation, mit dem Leben nicht vereinbar
Townes-Brocks-Syndrom
Heterozygote Mutation, Mäuse
SALL1
Homozygote Mutation, mit dem Leben nicht vereinbar
PHS und GCPS
Heterozygote Mutation
GLI3
Holoprosenzephaliesyndrom
Heterozygote Mutation
SHH
XR X-chromosomal gebunden rezessiv; AD autosomal-dominant; AR autosomal-rezessiv; GCPS Greig-Zephalopolydaktylie-Syndom; PHS Pallister-Hall-Syndrom
373 30.2 · Embryologie
4 Anus mit seiner speziellen Analkanalhaut 4 Glattmuskulärer Sphincter ani internus 4 Quergestreifter M. sphincter ani externus mit seinen Anteilen: subcutaneus, superfacialis profundus und M. corrugator ani 4 Levatormuskulatur einschließlich der Puborektalisfasern 4 Arterielle Corpus cavernosum recti 4 Rektumampulle 4 Vegetatives und somatisches Nervensystem
Anus Der Anus ist normalerweise in der Mitte einer Linie lokalisiert, die man zwischen beiden Sitzbeinknochen ziehen kann. Die Form des Afters ist nach Geschlecht und Lebensalter unterschiedlich. Bei Kindern zeigt der Anus bei beiden Geschlechtern eine längliche Form. Im Laufe der Reifung unterscheiden sich jedoch die Formen des männlichen und weiblichen Afters. Der männliche bleibt spaltförmig, der weibliche gestaltet sich zu einer äußerlich mehr runden Öffnung um. Die Analkanalhaut ist radial gefältet, die perineale Haut trägt verhorntes Plattenepithel, die Haut des Analkanals trockenes, aber unverhorntes Deckepithel, das bis hinauf zu den Analkrypten reicht. Dieses Epithel vermittelt bei Berührung Schmerzen und ist verantwortlich für die Diskrimination für festen, flüssigen und gasförmigen Stuhlgang. Das Völlegefühl wird durch Rezeptoren im Bereiche der Puborektalisschlinge vermittelt. Am Unterrande des Sphincter ani internus zum äußeren Sphinkter lässt sich eine Rinne tasten, in der man auch den deutlich höheren Tonus des M. sphincter ani internus gegenüber dem weichen Sphincter ani externus palpieren kann. Die Anheftungslinie der Analkanalhaut verläuft wellig und entspricht der Grenze der ektodermalen Proktodermalhaut (Linea dentata). In dieser Zone sind Hauttaschen ausgebildet, die Morgagni-Taschen oder Sinus rectales oder Analkrypten. Die Linea dentata oder Linea pectinata ist also die Kryptenzone, innerhalb derer sich aus zu tief entwickelten und entzündeten Hauttaschen Analfisteln ausbilden können. In diese Krypten münden die Proktodealdrüsen. Drüsenmündungen scheinen aber auch oberhalb und unterhalb der Kryptenlinie vorzukommen. In der Zone oberhalb der Linea dentata findet sich unverhorntes Übergangsepithel, manchmal mit Einsprengseln von Zylinderepithel. Während der embryonalen Entwicklung war diese Anheftungslinie des Epithels membranös verschlossen. Von hier nach kaudal erstreckt sich der Analkanal bis zur Linea anocutanea. Oberhalb der Linea dentata beginnt die entodermale Region. Der Abstand der Analöffnung zur hinteren Kommissur beträgt bei Mädchen 1–1,5 cm, bei Knaben ist die Entfernung zum Skrotalansatz etwa 0,5 cm länger. Die Entfernungen schwanken jedoch individuell. Bei reifen Neugeborenen sollten 4mm-Bougies die Analöffnung leicht und elastisch passieren können.
Musculus sphincter ani internus Der M. sphincter ani internus besteht aus glatter Muskulatur und trägt zu 70–80% zur Aufrechterhaltung der anorektalen Ruhedruckbarriere bei (Holschneider 1983). Er ist in Ruhe geschlossen und kann nicht willkürlich erschlafft werden. Der M. sphincter ani internus ist nicht aganglionär. Neuere Untersuchungen von Tafozoli et al. (2005) haben bestätigt, dass die Darmwandplexus des Rektum morphometrisch zwar von proximal nach kaudal abnehmen, so dass im Spinkterbereich weniger Nervenzellen nachweisbar sind als im angrenzenden Rektum und im proximalen Drittel mehr als im kaudalen Drittel des Sphinkterbereiches, eine aganglionäre Zone besteht jedoch bei Gesunden nicht. Der Sphincter ani internus entspricht einer Verdickung der inneren Ringmuskulatur und wird durch Fasern der Längsmuskulatur durchsetzt. Diese Längsmuskelfasern inserieren in der perianalen Haut und können so den After nach kranial ziehen und fälteln, wobei die Fältelung mit dem bei Kontraktion simultan anschwellenden Plexus haemorrhoidalis einen zusätzlichen Verschluss der Afteröffnung bewirkt. Die Längsmuskelfasern werden daher auch von Stelzner (1981) auch als M. corrugator ani bezeichnet. Dieser zusätzliche Verschluss ist wichtig, um bei einer beginnenden Internusrelaxation die in den oberen Analkanal eintretenden Stuhlpartikel zurückzuhalten und ein Stuhlschmieren zu verhindern. Bei anorektalen Fehlbildungen ist der M. sphincter ani internus häufig nur rudimentär angelegt und je nach Fistelverlauf sehr unterschiedlich um den Fistelabgang aus dem distalen Rektum angeordnet (Lambrecht u. Lierse 1987). Der gleiche Befund ergibt sich aus den Autopsien von Patienten mit Anorektalen Fehlbildungen von Stephens (2006). Eine systematische Verlagerung von kräftigen Internusfasern zum Damm im Rahmen einer Durchzugsoperation ist damit kaum möglich (. Abb. 30.1).
Musculus sphincter ani externus Der Sphincter ani externus besteht aus 3 morphologisch beim Gesunden unterscheidbaren Muskelbündeln, die jedoch bei anorektalen Fehlbildungen zu einem von Pena als »muscle complex« bezeichneten Muskelkonglomarat deformiert sind. Die Muskelfasern sind teilweise hypoplastisch, ihre Anordnung nur teilweise zirkulär und die Lage des Muskelkomplexes ist manchmal ektop nach ventral verlagert. Die einzelnen Teile des Sphincter externus sind ebenso wenig zu differenzieren wie die verschiedenen Strukturen der höher gelegenen Levatormuskelschichten oder einer Puborektalisschlinge. Aufgrund von MRT-Untersuchungen (Davies u. Rode 2006) beträgt die Länge der Sphinkterstrukturen beim Gesunden in Ruhe 17–28 mm und bei Kontraktion 17–31 mm. Im MRT wird bei Frauen die Länge der Vorderwand der Sphinkteren auf 14,0±3,0 mm, die der seitlichen Wand auf 27,1±5,4 mm und bei Männern die der Vorderwand auf
30
374
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
. Abb. 30.1a–c. Histologische Schnitte durch den M. sphincter ani internus bei Schweinen mit Analatresie (nach Lambrecht u. Lierse 1987. a Männliches Schwein mit rektourethraler Fistel. b Weibliches Schwein mit hoher Analagenesie und rektovaginaler Fistel. c Weibliches Schwein mit rektovaginaler Fistel und langem Fistelgang zur Vagina. R Rektum; V Vagina; F Fistel; IS Sphincter ani internus; U Urethra (Aus Lambrecht u. Lierse 1987)
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375 30.2 · Embryologie
27,0±5,3 mm und die der seitlichen Wand auf 28,6±4,3 mm geschätzt (Bennings et al. 1984). Diese kurzen Längen bedeuteten, dass man mit einer Sphinkteromyotomie bei Kindern sehr zurückhaltend sein muss, zumal weniger invasive Möglichkeiten einer Senkung des anorektalen Ruhedruckes NO-Paste (lokale Applikation), Phenoxybenzamin oder Dihydergot (oral) zur Verfügung stehen (Holschneider u. Kraeft 1980). ! Cave Bei anorektalen Fehlbildungen sollten die Sphinkteren weitmöglichst gesichert werden.
Diaphragma pelvis Das Diaphragma pelvis besteht aus dem Musculus levator ani (M. pubococcygeus, M. puborectalis, M. ileococcygeus, M. levator prostatae bzw. M. pubovaginalis) mit seinen Faszien und dem Musculus coccygeus, der allerdings zum größten Teil durch Sehnen durchsetzt sein kann und dann als Ligamentum sacrospinale bezeichnet wird. Die Levatorplatte bildet eine nach außen gewölbte Kuppel, an deren tiefster Stelle sich eine Lücke zum Durchtritt für das Rektum befindet. Die seitlichen Wände des Diaphragma pelvis werden außen von lockerem Fettgewebe der Fossa ischiorectalis sowie dem M. obturator internus bzw. dessen Faszie – Fascia obturatoria – umgeben. Bei hohen anorektalen Fehlbildungen ist ein Teil des Muskelkomplexes durch dieses Fettgewebe ersetzt. Wichtig für die operative Präparation sind dabei das von Faszien umgebene dorsale Kompartiment, da in diesem Bereich zwischen den Faszienblättern relativ ungefährlich präpariert werden kann (Fritsch et al. 2004; Lanz u. Wachsmuth 1984; Holschneider et a. 2006). Das Diaphragma urogenitale stellt eine etwa 1 cm dicke Muskel-Sehnen-Platte dar, die sich unterhalb und ventral des Diaphragma pelvis vor den Levatorspalt legt und zwischen den Schambeinästen die Öffnung des Sinus urogenitalis sichert. Die medialen Fasern der Mm. levatores, die vom Os pubis ausgehend als kräftige Schlinge das Rektum dorsal umfassen, nennt man auch Puborektalisschlinge. Ihr kommt die größte Bedeutung der Stuhlkontinenz zu, da sie das Rektum um 90° abwinkelt und damit einen Widerstand gegen den Druckvektor bei der Defäkation bildet (anorektaler Winkel). Dorsal vereinigen sich die beiden Levatorschenkel zu der Raphe anococcygea, die an der Spitze des Steißbeins ansetzt. Muskuläre Fasern, die an der Steißbeinspitze entspringen und in den Sphincter ani externus einstrahlen, bilden das Ligamentum anococcygeum. Stärke, Anordnung und Verlauf der Mm. levatores ani und coccygei können individuell unterschiedlich sein. Alle diese Strukturen sind bei anorektalen Fehlbildungen um so hypoplastischer, je höher der Rektumblindsack endet, d. h. je ausgeprägter die Fehlbildung ist. Stephens (2006) hat dies in zahlreichen Autopsien von Kin-
dern mit anorektalen Fehlbildungen, die an schweren Begleitfehlbildungen verstorben sind, nachgewiesen. Gleichzeitig nimmt, wie erwähnt, der Anteil des ischiorektalen Fettgewebes zu. Die folgenden Abbildungen von Huber et al. (1993) zeigen die normale Anatomie bei Kadaversektionen zum Studium des sakralen Zuganges beim Erwachsenen (. Abb. 30.2).
Nervenversorgung ! Cave Es ist von entscheidender Bedeutung darauf zu achten, dass bei anorektalen Fehlbildungen die Nn. erigentes um so medialer und näher am Rektumblindsack und der rektourethralen Fistel verlaufen, je höher der Blindsack im kleinen Becken endet. Jede erzwungene Mobilisation eines hohen Rektumblindsacks von sakral aus birgt daher die Gefahr einer Nervenläsion mit der Folge einer schweren postoperativen Obstipation in sich (. Abb. 30.3).
Um eine Läsion der nervalen Strukturen zu vermeiden, ist es daher entscheidend, bei der posterioren sagittalen Anorektoplastik (PSARP) streng in der Mittellinie zu präparieren, die laterale rektale, parietale Faszie nicht und die viszerale Faszie nur unmittelbar auf der Rektumwand zu eröffnen. Die einzelnen neurovaskulären Fasern müssen direkt auf der Rektumwand sparsam zu durchtrennt, die Denonvillier-Fazie zum Urogenitaltrakt darf nicht durchbrochen und nur geringer Zug auf das zu mobilisierende Rektum ausgeübt werden.
30.2.2
Kontinenz und Defäkation
Für die Kontinenz ist einerseits die propulsive Aktivität des Rektums und Colon descendens wichtig, anderseits die Haltefunktion der Sphinkteren. Manometrisch wird die Funktion der Sphinkteren durch den Nachweis zweier Reflexmechanismen geprüft: 4 Erschlaffung der glatten Muskulatur des M. sphincter ani internus (Internusrelaxation) 4 Simultane Kontraktion der quergestreiften Sphinktermuskulatur (rektosphinkterer Reflex) während der beginnenden Internusrelaxation Wichtig sind weiterhin das anorektale Druckprofil, das sowohl in Ruhe, wie bei willkürlicher Sphinkterkontraktion mehrfach geprüft werden sollte und die Elastizität der Rektumwand, die rektale Compliance (Holschneider 1983). Ohne ausreichenden Afterverschluss, d. h. eine ausreichend hohe Sphinkterbarriere, ist die Ausbildung einer Compliance, d. h. einer elastischen Reservoirfunktion des Rektums nicht möglich. Durch gastrokolische oder ileokolische Reflexe gelangt Dünndarmstuhl in das Colon ascendens und wird nach
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Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
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30
b . Abb. 30.2a–d. Chirurgische Anatomie bei der posterioren sagittalen Anorektoplastik (PSARP) an Kadaverpräparaten (nach Huber et al. 1993). a Der Sphincter ani externus (8), das Diaphragma urogenitale (4) und der Puborektalismuskel (5) sind dargestellt. Der M. puborectalis (5) wirkt als dorsale Verstärkung der Levatormuskulatur (2). Die Nn. pudendi (9) verlaufen durch den Alcock-Kanal zur Sphinktermuskulatur. Die Levatormuskulatur wird durch Äste aus dem Plexus sacralis innerviert, die – hier unsichtbar – auf der Innenseite der Beckenbodenmuskulatur verlaufen, d. h. bei nicht streng sagittaler Präparation geschädigt werden können (Stephens et al. 1988). 7 Lig. sacrospinale; 3 M. coccygeus. b Der Beckenboden ist eröffnet, der Musculus levator ani (10) durchtrennt und die Sphinktermuskeln (11) erkennbar. Die Nn. inferiores rectales (7) und die Art. rectalis inferior sind sichtbar, die Nn. pudendi verschwinden im Alcock-Kanal (3). Wichtig ist die Fascia rectalis (15) und lateral die seitliche Fixierung des Rektums, die sog. »ailerons latéraux« (16). 12/13 Ligamentum anococcygeum. c Nach
Entfernung des Os sacrum werden die rektalen Faszien (2) sichtbar. Nur der dorsale Anteil der Fascia rectalis wurde früher Waldeyer-Scheide genannt (3). Lateral geht die Fascia rectalis in die Fascia parietalis interna des Beckens, das Mesosigmoid (5) und das Rektum (1) über. (4) zeigt erneut das in den »ailerons latereaux« verlaufende neurovaskuläre Bündel. d Nach Eröffnung der Fascia rectalis erkennt man die Äste der Art. rectalis media (5) den venösen Plexus (6) und die parasympathischen Nn. splanchnici (Nn. erigentes (7). Sie verlaufen zusammen mit den sympathischen Nervenfasern aus dem Plexus hypogastricus inferior in den »ailerons latéreaux« zum Rektum. Die Endarterien durchbrechen die Fascia rectalis und versorgen die Rektumwand. 2 Art. rectalis superior. Die A. rectalis media tritt von beiden Seiten an das Rektum heran und bildet mit den Aa. rectales inferior und superior funktionelle Anastomosen. Wird das Rektum weit genug nach kranial skelettiert, erreicht man ventrolateral die Excavatio rectovesicalis oder rectouterina, den Douglas-Raum (8)
377 30.3 · Klinik
c
d . Abb. 30.2a–d (Fortsetzung)
resorbierenden und durchmischenden Bewegungen als Massenbewegung in das Colon descendens und das Rektum verschoben. Die Dehnung des Rektums bewirkt ein Druckgefühl. Durch die Bauchpresse beginnt der Defäkationsvorgang mit langsamem Öffnen des Analkanals (Internusrelaxation) bei gleichzeitiger Kontraktion des M. sphincter ani externus (»Kontraktions- oder Kontinenzreflex«). Übersteigt der Öffnungsdruck die Haltebarriere, wird bei gleichzeitigem Verstreichen des anorektalen Winkels (Erschlaffen des M. puborectalis) der Darminhalt in wenigen Stößen entleert, wobei sich der Analkanal vollständig aufweitet. Anschließend wird der anorekatel Winkel spontan wiederhergestellt.
30.3
Klinik
30.3.1
Inzidenz
Die Angaben über die Häufigkeit anorektaler Fehlbildungen schwanken zwischen 1:1500 und 1:5000 Lebendgeburten (Martucciello 2006). Von Murphy et al. 2006 und Chavez et al. 1988 wird die Häufigkeit mit 2–2,5:10.000 Lebendgeburten angegeben (Murphy et al. 2007; Chavez et al. 1988). Allerdings gibt es hier große Schwankungen. Laut Geburtsregister des Staates Texas betrug die Häufigkeit 5:10.000 Lebendgeborenen, während in Dänemark eine Häufigkeit von 3,8 auf 10.000 Lebendgeborene angegeben wird (Texas
30
378
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
a
b
30
c
Birth Defects Registry 2000; Game et al. 2002; Czeizel 1981). Haeusler et al. (1994) berichten von einer Häufigkeit in Europa von nur 1,4:10.000 Lebendgeborenen. Eine genaue Aussage könnte nur durch ein breit angelegtes Fehlbildungsregister erreicht werden, wobei jedoch auch hier mit großen Schwankungen zwischen den Ländern gerechnet werden muss. Im Allgemeinen wird von einer Häufigkeit von 1:3000-4000 Geburten ausgegangen.
30.3.2
Begleitfehlbildungen
Begleitfehlbildungen sind nicht selten (Lerone et al. 1997; Cuschieri 2001, 2002; Zlotogora et al. 1989; Buchin et al. 1986; Joseph et al. 1985). Wie bereits erwähnt, treten bei der
. Abb. 30.3a–c. Verlauf der Nn. erigentes nach Stephens and Smith (1988). a Normale Situation: Die Nn. erigentes verlaufen links und rechts am Rektum vorbei zur Blase; P–C Pubokokzygeallinie = Beckeneingangsebene. b Intermediäre Form einer Analagenesie mit rektourethraler Fistel: Die Nervenfasern verlaufen deutlich medialer, fast auf Höhe des Rektumblindsackes. c Hohe Form einer anorektalen Agenesie: die Nervenfasern verlaufen noch weiter medial, beidseits der Fistel
Trisomie 21 (M. Down) in 2,2% anorektale Fehlbildungen
auf mit einem Schwankungsbereich von 2–8% Diese Häufigkeit ist 15-mal höher als bei der Normalbevölkerung. Bei 21–61% der Patienten finden sich zusätzliche urogenitale Fehlbildungen (Mittal et al. 2004). Hier überwiegen die Knaben mit 26% gegenüber den Mädchen mit 5%. Fehlbildungen des oberen Harntraktes finden sich bei 50% der Knaben und 30% der Mädchen. Die Häufigkeit simultaner urogenitaler Fehlbildungen hängt von der Höhe der anorektalen Läsion ab. Bei tiefen Fehlbildungsformen, wie anoperinealen Fisteln, liegen nur bei 10% der Fälle urogenitale Fehlbildungen vor, während das Risiko von Begleitfehlbildungen bei hohen Typen wie rektovesikalen Fisteln 90% beträgt. Nicht selten ist das Auftreten eines Hodenhochstandes (19%) bei Kindern mit anorektalen Fehlbildungen
30
379 30.4 · Klassifikation
(Cortes et al. 1999). Seltener sind gastrointestinale Begleitfehlbildungen, die in 10–25% der Fälle berichtet werden. Am häufigsten ist hierbei die tracheoösophageale Fistel (13%), gefolgt von der Duodenalatresie. Herzfehlbildungen werden in 9–20% der Fälle beobachtet (Stephens et al. 1988), seltener Myelodysplasien und Wirbelfehlbildungen (Rintala 2006), die nur bei sehr hohen und Kloakenfehlbildungen beobachtet werden.
. Tab. 30.2. Häufigkeit verschiedener Fistelformen bei anorektalen Fehlbildungen (nach Stephens et al. 1988) Fisteltyp
Häufigkeit Knaben
Rektourethral
36%
Rektokloakal
Vereinzelt
Rektovesikal
Geschlechtsverteilung. Anorektale Fehlbildungen zeigen
nicht nur insgesamt genommen eine deutliche Geschlechtsverteilung, wobei nach Stephens (Stephens et al. 1988) 57% Knaben und 43% Mädchen betroffen sind, auch die einzelnen Formen der Fehlbildungen weisen Geschlechtsunterschiede auf. Hohe Atresieformen werden allgemein bei Knaben häufiger beobachtet als bei Mädchen. Unter den Fistelformen finden sich die rektourethrale Fistel bei 36% der Knaben, hingegen die Anteposition des Anus bei 17%. Die anovestibulären Fisteln machen 18% der Analatresie aus. Ein sog. »covered anus«, d. h. eine von der Schwanzknospe bedeckte Afteröffnung mit Fistel besteht bei 25% der Knaben und 18% der Mädchen, eine Analstenose bei einem »covered anus« findet sich bei 10% der Knaben und 4% der Mädchen), die Analagenesie ohne Fistel bei 8% der Knaben und 4% der Mädchen, die rektovesikale Fistel bei 6% der Knaben und 5% Mädchen. Eine Kloakenfehlbildung wird fast nur bei Mädchen beobachtet, kann allerdings sehr selten in Form einer hinteren Kloake mit Einmündung der Harnröhre in die hintere Rektumwand auch bei Knaben beobachtet werden. Allerdings schwanken die Angaben in der Literatur erheblich. Pena beispielsweise hält rektovaginale Fisteln für eine außerordentliche Seltenheit. Rektourethrale Fisteln können bei Mädchen nur bei Vaginaldoppelungen oder -atresien auftreten. In einer großen japanischen Studie von 1992 Patienten fanden sich bei Knaben mit anorektalen Fehlbildungen in 30% der Fälle anokutane und in 28% rektourethrale Fisteln (Endo et al. 1999). Bei 30% der Mädchen mit anorektalen Fehlbildungen lagen anovestibuläre Fisteln vor. Die Häufigkeit rektovesikaler Fisteln bei den Knaben lag bei 4%, die der rektokloakalen Fisteln bei den Mädchen 11% (. Tab. 30.2).
30.4
Klassifikation
30.4.1
Wingspread-Klassifikation
Die große Variationsbreite anorektaler Fehlbildungen führte zu zahlreichen Klassifikationsversuchen. Ladd und Gross schlugen 1934 eine Einteilung in 4 Formen vor: anale- und anorektale Stenose, Analatresie ohne Fistel, Analatresie mit Fistel und Rektumatresie. Die Tatsache jedoch, dass bei den verschiedenen Fehlbildungstypen unterschiedliche Operationskonzepte sinnvoll sind, veranlassten Stephens und Smith 1963, einerseits zwischen anorektalen und rektalen
6%
Rektovaginal
Häufigkeit Mädchen
5% 5% 19%
Keine Fistel (vollständige Agenesie)
8%
4%
Anteriorer Anus
4%
17%
Anovestibulär
18%
»Covered anus« mit Fistel
25%
18%
»Covered« Analstenose
10%
4%
Gesamtzahl
N = 1429
N = 951
Fehlbildungen, andererseits zwischen männlichen und weiblichen Patienten zu unterscheiden. Man könnte bereits bei diesem frühen Klassifikationsansatz vereinfacht von einer Differenzierung in hohe (Rektumatresien) und tiefe (Analatresien) Fehlbildungsformen sprechen. Dies entsprach auch einer einfachen Einteilung von Santulli et al. (1964) in infralevatorische und supralevatorische, also hohe und tiefe Fehlbildungen. 1984 kamen jedoch Stephens und Smith (1988) zu dem Schluss, die seit 1963 beobachteten und in ihrem Buch von 1971 auf der Basis einer internationalen Konferenz aufgelisteten 33 Formen der häufigsten anorektaler Fehlbildungen in einem vereinfachten Schema zu ordnen. Seltene Fehlbildungsformen wie Kloakenfehlbildungen, vesikointestinale Fissur, Duplikaturen etc. wurden in die internationale Klassifikation von Melbourne 1970 nicht aufgenommen. Diese neue, 1988 publizierte, sog. Wingspread-Klassifikation basierte wiederum auf einer Einteilung in männliche und weibliche Patienten und einer vereinfachten Strukturierung nach der Höhe der Atresie in hohe, mittlere und tiefe Formen, entsprechend dem Bezug des tiefsten Punktes des Rektumblindsackes in Ruhe zur anatomische Beckeneingangsebene (. Tab. 30.3). Diese wird markiert durch die pubokokzygeale Linie (P-C-Linie), die das Os pubis mit dem Os coccygis verbindet (. Abb. 30.4; Stephens et al. 1988). Dieser Einteilung in hohe, mittlere und tiefe Fehlbildungsformen gingen langjährige vergleichende, anatomische, radiologische und histologische Studien voraus (Smith u. Cywes 1988; Kelly 1969). Sie ergaben eine enge anatomisch-radiologische Korrelation zwischen dem Ende des Rektumblindsacks und 3 anatomisch, chirurgisch relevanten Etagen des kleinen Beckens. 4 Fehlbildungen oberhalb der P-C-Linie (hohe Formen) müssen von abdominal operiert werden.
380
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
. Tab. 30.3. Klassifikation der anorektalen Fehlbildungen (nach Wingspread 1984) Höhe der Fehlbildung
Knaben
Mädchen
Hohe Formen
Anorektale Agenesie* 4 Rektovesikale Fistel 4 Keine Fistel
Anorektale Agenesie* 4 Rektovaginale Fistel 4 Keine Fistel
Rektumatresie
Rektumatresie
Rektourethrale Fistel
Rektovestibuläre Fistel**
Analagenesie* ohne Fistel
Rektovaginale Fistel
Mittlere (intermediäre) Formen
Analagenesie* ohne Fistel Tiefe Formen
Anokutane (perineale) Fistel
Anovestibuläre (perineale) Fistel**
Analstenose
Anokutane (perineale) Fistel Analstenose
Verschiedenes
Seltene Fehlbildungen
Persistierende Kloakenfehlbildung Seltene Fehlbildungen
*»Agenesie«: vollständiges Fehlen eines Organs (Hemmungsfehlbildung), »Atresie«: angeborener oder erworbener Verschluss einer Körperöffnung. Die Begriffe sollten nicht verwechselt werden. **»Rektovestibuläre« und »anovestibuläre« Fisteln haben einen unterschiedlich langen Fistelverlauf und daher eine unterschiedliche Prognose. Sie sollten getrennt betrachtet werden.
30
. Abb. 30.4. Anatomisch-radiologische Klassifikation der ARF (nach Stephens et al. (1988). C Os coccygis; P Os pubis; I I-Punkt (Tuber os ischii); A Anus, m mediane Hilfslinie. Fehlbildungen unterhalb der m-Linie eignen sich gut für eine posteriore sagittale Anorektoplastik (PSARP). Die Zone zwischen der PC- und der m-Linie muss als problematisch gelten
4 Fehlbildungen zwischen der P-C Linie und dem Tuber os ischii (I-Punkt; mittlere Formen) können von sakral aus angegangen werden. 4 Fehlbildungen unterhalb des I-Punkts, wie anovestibuläre und anoperineale Fisteln (tiefe Formen), können von perineal aus operiert werden.
heute oft von der rein morphologische Beschreibung des Fistelverlaufs nach Pena (1989) abgelöst wird. Die neue Systematik von Krickenbeck folgt der Einteilung nach Pena.
Da die Wingspread-Klassifikation einen engen Bezug zur Topographie und Anatomie des jeweiligen Fehlbildungstyps hat, ist sie auch heute noch für die Wahl des Zuganges von Bedeutung. Die Einteilung in hohe, mittlere und tiefe Formen der Analatresie bildet auch die Basis der Klassifikation von Wingspread (Stephens u. Smith 1986), die jedoch
1989 veröffentlichte Pena eine rein morphologische Beschreibung des Fistelverlaufes als Einteilung, worin ebenfalls zwischen Fehlbildungen bei Knaben und Mädchen sowie komplexen Defekten unterschieden wird. Da Pena jede Form der Analatresie von sakral aus operierte, schien ihm die Wingspread-Klassifikation unnötig zu sein. In der
30.4.2
Krickenbeck-Klassifikation
381 30.4 · Klassifikation
Zwischenzeit wird jedoch wieder differenzierter gedacht und anovestibuläre Fisteln als tiefe Formen von perineale aus, hingegen rektovestibuläre Fisteln als intermediäre Formen von sakral her operiert, während hohe Anorektale Fehlbildungen kombiniert laparoskopisch/abdominoperineal angegangen werden. Diese Betrachtung führte zur Klassifikation von Krickenbeck von 2005 in die die PenaKlassifikation eingearbeitet ist und die künftig verbindlich angewandt werden sollte (Holschneider et al. 2005; Holschneider u. Hutson 2006). Nur innerhalb den bei der Krickenbeck Klassifikation aufgeführten sog. »major clinical groups« sind vergleichende Nachuntersuchungen sinnvoll. Die hier als »selten« bezeichneten Formen wurden als regional gehäufte Varianten gesondert aufgeführt.
Atresieform wäre jedoch interessant, um zu prüfen, ob für diese, hochgelegenen, intermediären Fehlbildungen das sakrale Vorgehen nicht gefährlicher ist als ein laparoskopischer abdominoperinealer Durchzug. Die in der Übersicht angegebene Krickenbeck-Klassifikation der Operationsverfahren gibt eine grobe Hilfestellung für den postoperativen Vergleich der verschiedenen Operationsverfahren, kann jedoch für gezielte Fragestellungen weiter differenziert werden, wozu wiederum die Klassifikation von Wingspread hilfreich ist. Letztlich entspricht die Klassifikation von Krickenbeck wieder der Einteilung von Wingspread, da perineale und anteriore – sagittale Operationen nur bei tiefen, der PSARP bei mittleren und die übrigen aufgeführten Operationsverfahren nur bei hohen Atresieformen geeignet sind.
Übersicht Krickenbeck-Klassifikation anorektaler Fehlbildungen
Übersicht Klassifikation der Operationsverfahren nach Krickenbeck
4 Hauptgruppen anorektaler Fehlbildungen – Perineokutane Fisteln – Rekto-urethral Fisteln – Rektoprostatische Fisteln – Rektobulbäre Fisteln – Rektovesikal Fisteln – Vestibuläre Fisteln (unterscheide: anovestibuläre und rektovestibuläre Formen!) – Kloakenfehlbildungen – Keine Fistel – Analstenose 4 Seltene regional vorkommende Fehlbildungsformen – Pouch-Kolon – Rektumatresie/Rektumstenose – Rektovaginale Fistel – H-Fistula – Andere seltene Formen
4 4 4 4 4 4
Der Vorschlag große, klinische Kollektive zu benennen, enthebt den Chirurgen nicht der Pflicht, die WingspreadKlassifikation zur Entscheidungsfindung für den zu wählenden Zugang heranzuziehen. Es bleibt nach der Krickenbeck-Klassifikation z. B. die Entscheidung offen, ob eine vestibuläre Fistel als anovestibuläre (tiefe) Form, im Sinne einer Perineoproktoplastik nur von perineal, oder als rektovestibuläre Fistel (intermediäre Form) zusätzlich von sakral aus operiert werden muss. Zur genaueren Operationsplanung ist es klug, diese Frage bereits präoperativ radiologisch genau zu klären. Auch eine Analyse der schwer zu operierenden Fehlbildungsformen, die zwischen der P-C-und der m-Linie (m = Mittellinie zwischen I-Punkt und P-C-Linie) enden, ist sonst nicht möglich. Gerade ein Vergleich der Operationsergebnisse dieser
Perineale Operation Anteriore sagittale Operation (Pott-Verfahren) Posteriore sagittale Anorektoplastik (PSARP) Abdominosakroperinealer Durchzug Abdominoperinealer Durchzug Laparoskopisch assistierter abdominoperineale Durchzug
Um vergleichbare Nachuntersuchungen zu ermöglichen, sollte daher künftig immer angegeben werden, welche dieser in Krickenbeck zusammengestellten Operationsmethoden angewandt wurde. Patienten mit sakralen Anomalien und »tethered cord« sollten getrennt analysiert werden.
30.4.3
Klassifikation der Nachuntersuchungskriterien
Von besonderer Bedeutung, um Nachuntersuchungen vergleichen zu können, sind auch die von Krickenbeck (2005) erarbeitete Nachuntersuchungskriterien für Patienten mit Analatresie (. Tab. 30.4). Dabei sollten nur Patienten, die älter als 3 Jahre alt sind, untersucht werden. Der Krickenbeck-Vorschlag basiert ebenfalls auf der Modifikation einer Empfehlungen von Pena (1995) und beinhaltet die Kriterien: willkürliche Darmentleerung, Stuhlschmieren und chronische Obstipation. Die von Pena 1995 angewandten Kriterien wurden in Krickenbeck auf 4 Hauptgruppen erweitert und in 3 Grade unterteilt. Damit wird in vereinfachter Form der Forderung einer Einteilung der Nachuntersuchungsergebnisse entsprechend der postoperativen Therapie nachgekommen (Holschneider et al. 2002).
30
382
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
. Tab. 30.4. Internationale Klassifikation der postoperativen Ergebnisse nach Krickenbeck (Holschneider et al. 2005, 2006) Willkürliche Darmentleerung 4 Dranggefühl 4 Fähigkeit zur Verbalisierung 4 Zurückhalten der Darmbewegung
Ja/nein 4 Ja/nein 4 Ja/nein
Stuhlschmieren 4 Grad 1
Ja/nein 4 Gelegentlich (1- bis 2-mal/Woche) 4 Jeden Tag, kein soziales Problem 4 Konstant, soziales Problem
4 Grad 2 4 Grad 3 Chronische Obstipation 4 Grad 1 4 Grad 2 4 Grad 3
30
4 Ja/nein
Ja/nein 4 Durch Änderung der Diät behandelbar 4 Notwendigkeit von Laxanzien 4 Therapieresistent gegen Laxanzien und Diät
30.5
Diagnostik
30.5.1
Obligatorische diagnostische Verfahren
Klinische Untersuchung. Bei Vorliegen einer anorektalen Fehlbildung muss das Genitale zunächst genau untersucht werden. Bei Mädchen sind die Labien zu spreizen, um eine ano- oder rektovestibuläre Fistel nicht zu übersehen (. Abb. 30.5). Bei perinealer Fistel ist differenzialdiagnostisch ein Antepositio ani, also eine normal konfigurierte, von zirkulärer Ringmuskulatur umschlossene Afteröffnung abzugrenzen. Die palpatorische Untersuchung umfasst neben den Anal-, Genital- und Urethralöffnungen und dem Perineum auch die Rima ani, das Sakrum, das Abdomen sowie das äußere Genitale. Das vorsichtige Einführen eines Thermometers in eine perineale Fistelöffnung kann helfen, zwischen ano- oder rektoperinealer oder vestibulärer Fistel zu unterscheiden. Eine anovestibuläre Fistel verläuft parallel zum Perineum und ist weiter, während rektovestibuläre Fisteln steiler nach kranial verlaufen und enger sind. Fisteldarstellung. Als nächster Schritt ist eine Darstellung der Fistel mit Gastrografin vorzunehmen, wobei das
Rektum in seitlichem Strahlengang dargestellt werden sollte, um das Sakrum einschließlich Os coccygis und die Beziehung des Fistelganges zum Urogenitaltrakt abzubilden. Auf eine Sakralagenesie oder -fehlbildung ist zu achten. Die Untersuchung muss sowohl in Ruhe wie auch beim Pressen des Kindes erfolgen, da der Rektumblindsack im kleinen Becken verschieblich ist und damit seine Höhe in Ruhe und beim Pressen variiert. Die frühere Wangen-
steen-Aufnahme in Kopftieflage ist heute, da unzuverlässig, zur Höhenbestimmung des Rektumblindsackes verlassen. Ist bei einem Mädchen nur eine einzige äußere Öffnung erkennbar, muss an eine Kloakenfehlbildung gedacht werden. Bei Knaben muss auf zusätzliche Öffnungen im Bereich der Raphe des Skrotums geachtet werden. Stuhlaustritt aus dem Penis deutet auf eine rektourethrale Fistel hin. Bei einer Afteröffnung, die durch eine persistierende Schwanzknospe bedeckt ist (»covered anus«), können die Fistelöffnungen links oder rechts versteckt neben der narbig erscheinenden Schwanzknospe liegen. Sonographie. Weiterhin sollte bei der Erstuntersuchung eine Ultraschalluntersuchung der Nieren, der Blase sowie der Wirbelsäule durchgeführt werden (Beckhit et al. 2006). Bereits diese Screening-Untersuchung kann neben weiteren urogenitalen Fehlbildungen den Verdacht auf ein »tethered cord« erheben oder ausschließen. Miktionszysturethrogramm. Als nächster Schritt erfolgt ein Miktionszysturethrogramm, da hierdurch rektourethrale, rektobulbäre oder rektoprostatische Fisteln gut nachgewiesen werden können. Allerdings bedeutet der fehlende Nachweis einer solchen Fistel nicht deren Ausschluss, da der Fistelgang sehr klein und durch Mekonium verschlossen sein kann. Fisteln zum Harntrakt sind bei Mädchen nur bei einem Uterus bifidus oder doppelter Anlage der Vagina möglich. Hinweise hierfür ergibt bereits der Ultraschall. Lässt sich keine Fistel nachweisen und zeigt eine Abdomenleeraufnahme nach 24 h eine über dem Beckeneingang oder gerade in das Becken hineinreichende Luftblase, finden sich Begleitfehlbildungen von Seiten des Os sacrum, so ist auch ohne genauen Nachweis der Höhe der Fehlbildung die Anlage einer Kolostomie indiziert. Vor der endgültigen rekonstruierenden Operation ist dann ein sog. Lupogramm durchzuführen d. h. eine Röntgendarstellung mit einem wasserlöslichen Kontrastmittel durch die abführende Kolonschlinge. Diese Untersuchung ist entscheidend, um die Höhe des Rektumblindsackes darzustellen. Auch bei dieser Aufnahme ist daher die gleichzeitige sagittale Darstellung des Os coccygis bzw. des Os sacrum von entscheidender Bedeutung für die Wahl des operativen Zugangs. Diese Untersuchung ist ebenfalls dynamisch, d. h. sowohl in Ruhe als auch beim pressenden Kind vorzunehmen. Es ist äußerst empfehlenswert, wenn der Operateur bei dieser Röntgenuntersuchung selbst zugegen ist. Wird eine Miktionszysturethrographie nicht bereits im Rahmen der Aufnahmeuntersuchung durchgeführt, muss sie wegen der hohen Rate von urogenitalen Begleitfehlbildungen unbedingt jetzt vorgenommen werden. Man bedenke auch, dass der radiologische Befund der späteren Untersuchung erheblich von der Erstuntersuchung abweichen kann.
383 30.5 · Diagnostik
a b
c
. Abb. 30.5a–d. Anovestibuläre Fistel und rektovestibuläre Fistel bei Mädchen. a Klinischer Aspekt: anovestibuläre Fistel mit Mekoniumabgang. b Radiologische Darstellung der weiten kurzen Fistel. c Vestibuläre Fistel nach Spreizen der Labien. d Die dazu gehörige Fisteldarstellung zeigte eine rektovestibuläre Fistel mit engem, langem, steil nach kranial führendem Fistelgang
30.5.2
Besondere diagnostische Verfahren
Sonographie. Die Ultraschalluntersuchung der anorek-
talen Sphinkteren kann zwar interessante Aufschlüsse über die Dicke des Muskelkomplexes geben, die Ergebnisse sind jedoch schwer objektivierbar und es darf nie von der Morphologie von Muskelstrukturen auf ihre Funktion geschlossen werden. Eine transanale Sonographie wie beim Erwachsenen ist aufgrund der kleinen Verhältnisse beim Kind auch postoperativ kaum möglich. Computertomographie. Die CT zeigt insbesondere knö-
cherne Strukturen, gibt aber auch Hinweise auf die Becken-
d
bodenmuskulatur. Es ist aber manchmal schwierig, Mekonium von der angrenzenden Muskulatur abzugrenzen. Fisteln können präoperativ ebenfalls nur schwer und meist nur unvollständig dargestellt werden, weshalb sich dieses Verfahren als Primäruntersuchung nicht eignet. Die Untersuchung muss außerdem meist in Narkose durchgeführt werden und bereits geringste Lageveränderungen des Kindes zeigen asymmetrische Muskelstrukturen, was zu falschen Rückschlüssen führen kann. Auch bei der postoperativen Beurteilung eines Durchzugsverfahrens muss dies beachtet werden. Magnetresonanztomographie. Günstiger sind MRT-Untersuchungen, da sie die Weichteilstrukturen gut darstellen,
30
384
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
eine Abgrenzung der Rektumwand von den Levator- und Sphinktermuskeln erlauben und sich Fettanteile von Muskel- und Knochenstrukturen gut abgrenzen lassen. In maximal 20% der Fälle lässt sich präoperativ auch eine Fistel lokalisieren (McHugh et al. 1995). Bessere Ergebnisse lassen sich vielleicht durch Gabe eines Kontrastmittels auf Ölbasis durch das abführende Kolostoma erzielen (Taccone et al. 1992). Da jedoch eine sorgfältige Fisteldarstellung oder ein Miktionszystourethrogramm ebenfalls eine gute Übersicht über die anatomischen Zusammenhänge geben, sind solche aufwändigen Untersuchungen präoperativ nicht notwendig. Zur Nachuntersuchung können diese Verfahren jedoch herangezogen werden, wobei man allerdings bedenken sollte, dass jetzt die Funktion geprüft werden soll und man von der Morphologie nur eingeschränkt auf die Funktion schließen kann. Allerdings erlaubt das MRT das Erkennen von fehlerhaften Durchzugsverfahren durch die laterale Levatormuskulatur. > Bei jedem Kind mit einer anorektalen Fehlbildung ist ein Miktionszystourethrogramm, bei allen komplexen Fehlbildungsformen oder Verdacht auf ein »tethered cord« sind eine MRT- oder CT-Untersuchung obligatorisch.
Endoskopie. Besondere Schwierigkeit bereitet die differen-
30
zierte Diagnose einer Kloakenfehlbildung bzw. der vorliegenden einzelnen Gangsysteme. Hier empfiehlt sich als diagnostische Zusatzmaßnahme die Endoskopie mit transurethraler Einlage von Kathetern in jede erkennbare Öffnung, ausschließlich der Ureteren, um dann nacheinander gezielt zunächst die Harnblase zu füllen und zu entleeren, dann die Vagina (Vaginae) und abschließend das Rektum. Es sollte die Kunst des Radiologen sein, den Zusammenfluss von Harnblase, Vagina(e) und Rektum in den sog. »common channel« ohne Überlagerung darzustellen. Hierbei ist zu beachten, dass die Urethra meist in einem Winkel von ca. 90° von ventral/kranial in den darunter verlaufenden »common channel« einmündet. Blinde, ohne Endoskopie durchgeführte Röntgenuntersuchungen führen zu keiner ausreichenden Information und sollten unterlassen werden. Der Ausschluss eines »tethered cord« und weiterer Urogenital- und Begleitfehlbildungen der übrigen Organe ist besonders wichtig. Liegen zwei Öffnungen im Bereiche der Vulva vor, so ist mutmaßlich eine davon die Urethra. Aus der zweiten könnte sich Mekonium entleeren, falls es sich um eine seltene rektovaginale Fistel handelt. Aber auch eine Vaginalagenesie bei ektoper Rektummündung ist möglich. Auch hier empfiehlt sich eine zusätzliche endoskopische Untersuchung. Sakraler Quotient. Da eine enge Korrelation zwischen der
Entwicklung des Sakrums und der Ausbildung des Muskelkomplexes besteht, hat Pena die Errechnung eines sakralen Quotienten empfohlen (Beckhit et al. 2006). Hierbei wird der Abstand vom untersten Punkt des Iliosakralgelenks zur Spitze des Os sacrum geteilt durch den Abstand der Be-
ckenschaufeln zum untersten Rand des Iliosakralgelenks. Die durchschnittlichen Werte für normale, anatomische Verhältnisse im a.p. und lateralen Strahlengang betragen 0,74 und 0,77 respektive. Kinder mit einem Quotienten unter 0,50 haben nach Pena eine signifikant schlechtere Kontinenzfunktion. Nach unserer Erfahrung wird jedoch die Bedeutung dieses Quotienten überschätzt. Auch partielle Sakrumfehlbildungen im Sinne von Hemivertebrae schränken die Kontinenzfunktion ein, ohne den Quotient zu beeinträchtigen. > Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine einmalige ultrasonographische Untersuchung zur Beurteilung des Urogenitalsystems nicht ausreicht, sondern dass weitere Kontrollen nach 3, 6 und 12 Monaten empfehlenswert sind, um sich später entwickelnde Hydronephrosen, Refluxerkrankungen oder andere Probleme rechtzeitig erkennen zu können.
30.6
Operative Therapie
30.6.1
Neugeborenenperiode und Allgemeines
Bei einem Neugeborenen hat man 20–24 h Zeit, um die notwendigen, oben beschriebenen, diagnostischen Maßnahmen zu treffen, d. h. um Auskünfte über Rückenmark, Nieren, Urinanalyse, Vorliegen von Begleitfehlbildung oder Sakrumanomalien zu erhalten und Untersuchungen hinsichtlich der Höhe der Agenesie vorzunehmen. Erst nach 24 h besteht die Gefahr eines Ileus. Findet sich eine anoperineale Fistel, lässt sich bereits beim männlichen Neugeborenen eine Anoproktoplastik durchführen. Rektumblindsack unterhalb der P-C-Linie. Findet sich ein Rektumblindsack in Ruhe unterhalb des Os coccygis, genauer unterhalb der P-C-Linie (Verbindungslinie zwischen dem Unterrand der Symphyse [P] und dem Os coccygis [C])) und keine operationsverhindernde Begleitfehlbildungen, kann eine posteriore sagittale Anorektoplastik mit oder ohne Kolostomie durchgeführt werden. Projeziert sich der Rektumblindsack auch beim Pressen nur wenig unterhalb die P-C-Linie, sollte eine Kolostomie erwogen werden. Die Anlage einer Kolostomie hängt nach unserer Erfahrung davon ab, ob der Rektumblindsack mutmaßlich leicht zu mobilisieren ist oder nicht. Je schwieriger die Präparation des Rektumblindsackes ist, desto größer ist auch das Komplikationsrisiko, z. B. durch die Präparation Schäden im Sinne einer neurogenen Blase zu verursachen, da allein schon der Zug am Rektumblindsack und an den medialer, um die Fistel bzw. den Rektumblindsack verlaufenden Nervenfasern zu einer neurogenen Schädigung führen können (. Abb. 30.3).
385 30.6 · Operative Therapie
Rektumblindsack oberhalb der P-C-Linie. Findet sich ein
Rektumblindsack oberhalb der P-C-Linie, liegen Begleitfehlbildungen vor oder ein pathologisches, deformiertes oder fehlendes Os sacrum, das äußerlich auch an einem abgeflachten Gesäß (»flat bottom«) ohne ausgebildete Rima ani, erkannt werden kann, ist eine Kolostomie indiziert. Kloakenfehlbildung. Findet sich bei Mädchen eine einzige Öffnung, liegt also der Verdacht auf eine Kloakenfehlbildung vor, sollte auch bei akutem, distendiertem Abdomen zunächst eine Sonographie vorgenommen werden. Dann muss eine Kolostomie angelegt und der Hydrokolpos suprapubisch mit einem Pigtail-Katheter drainiert werden. Ein Ballonkatheter ist hierfür ungeeignet, da er den physiologischen Abfluss aus dem »common channel« blockieren kann. Nur selten ist eine zusätzliche suprapubische Harnableitung notwendig, da der Urin meist problemlos in den Hydrokolpos entleert wird. Die Blase ist deshalb meist nicht vergrößert. Die weiteren, oben beschriebenen, endoskopischen Untersuchungen müssen dann nach Stabilisierung des Kindes nachgeholt werden. Anoperineale oder rektovestibuläre Fistel. Liegt bei einem Mädchen eine tiefe anoperineale Fistel vor, kann diese zunächst durch vorsichtige Bougierungen erweitert werden, bis etwa im Alter von 3–4 Monaten die endgültige Korrektur mit Trennung der Rektumvorderwand von der Vaginalhinterwand erfolgt. Es ist klug, diesen Eingriff nicht in der Neugeborenenperiode, sondern später durchzuführen, wenn das Gewebe kräftiger geworden ist. Findet sich eine vestibuläre Fistel, sollte geprüft werden, ob eine anovestibuläre oder rektovestibuläre Fistel vorliegt, wobei sich bei rektovestibulären Fisteln eine Kolostomie empfiehlt, wohingegen anovestibuläre Fisteln auch primär operiert werden können. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass rektovestibuläre Fisteln wegen ihres längerstreckigen Verlaufes und ihrer Enge schlecht präoperativ gereinigt werden können und dass bereits am dritten Lebenstag der gesamte Darm eines Neugeborenen bakteriell besiedelt ist. Da eine postoperative Infektion den gesamten, auch in diesen Fällen oft hypoplastischen Sphinkterapparat unwiderbringlich schädigen kann, neigen wir bei rektovestibulären Fisteln zur Anlage einer Kolostomie. Anorektale Agenesie. Findet sich keine sichtbare äußere Fis-
tel (etwa bei 18% der Fälle), sollte nach 24 h mittels Ultraschall die Höhe des Rektumblindsackes bestimmt werden. Handelt es sich um einen Rektumblindsack oberhalb der PC-Linie oder reicht der Blindsack beim Pressen nur kurz unterhalb das Os coccygis, empfiehlt sich die primäre Anlage einer Kolostomie. Handelt es sich um einen gut beweglichen, tief in das kleine Becken reichenden Rektumblindsack, kann eine primäre perineale oder perineosakrale Operation durchgeführt werden. Bei vestibulären Fisteln eignet sich bei Mädchen auch der anteriore sagittale Durchzug nach Pott
mit Umschneidung der Fistel, Verlängerung des Schnittes nach sakral und Mobilisierung des Rektumblindsackes. Zur Vereinfachung der Mobilisation sollte bei diesen Fällen ein Blasenballonkatheter in die rektale Fistel eingelegt und vorsichtig aufgeblasen werden, da der Zug am Katheter das zarte kindliche Gewebe weniger traumatisiert als Haltenähte. Kolostomie. Die Art der Anlage einer Kolostomie wird un-
terschiedlich beurteilt. Einige Autoren wie Pena befürworten eine doppelläufige Kolostomie im Bereich des rektosigmoidalen Überganges mit getrennter Ausleitung beider Stomata und dazwischen liegender breiter Hautbrücke, um das Überlaufen von Stuhl zu verhindern (1995). Sie argumentieren, dass hierdurch der abführende Rektumblindsack besser gespült und Infektionen in diesem Bereiche vermieden werden können. Die Kolostomie kann dann in einem dritten Verfahren zurückverlegt oder im Anschluss an die endgültige Rekonstruktion der Afteröffnung reanastomosiert (zweizeitiges Vorgehen) werden. Wir selbst haben bei der Anlage eines doppelläufigen Stomas mit Hautbrücke (Hecker et al. 1970) nie Probleme gesehen und bevorzugen die Anlage der Kolostomie im rechten Oberbauch statt im Rektosigmoid. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, den Kolostomiebeutel im rechten Oberbauch besser anbringen zu können als im linken Unterbauch, bei nippelförmigem Stoma keine entzündlichen Veränderungen der Haut, keine Retraktion der Stomata und kein Überfließen des Stuhls zu verursachen. Die Länge des zu verlagernden kolorektalen Segmentes wird durch die Kolostomie im rechten Oberbauch nicht beeinträchtigt, insbesondere werden die Arterien des Mesorektums nicht gefährdet. Erosive Veränderungen der Stomaschleimhaut treten nicht auf, wenn die Rückverlagerung des Stomas innerhalb von 3–5 Monaten erfolgt. Die Ausschaltung des Colon transversum und descendens spielt für die Verdauung keine große Rolle, da in diesen Bereichen physiologisch keine wesentliche Durchmischungs- oder Resorptionsfunktion mehr stattfindet. Ein Megarektum kann sich ebenfalls gut zurückbilden. Einer Infektion des Harntraktes durch eine rektourethrale Fistel kann durch Antibiotikagabe vorgebeugt werden. Günstiger ist es jedoch, erst bei Auftreten eines pathologischen Urinbefundes gezielt zu behandeln. Eine Infektion lässt sich auch bei 2 getrennt ausgeleiteten Stomata nicht sicher vermeiden. Bei Verdacht auf Ganglienzellanomalien im Bereiche des Rektumblindsackes ist immer eine Kolostomie angezeigt.
30.6.2
Operative Therapie einer Analatresie bei Knaben
Die häufigsten Fistelformen bei Knaben zeigt . Abb. 30.6. Anoperineale Fisteln (. Abb. 30.6a). Sie werden von peri-
neal operiert und der Fistelgang, auch wenn er bis zum Penis oder Skrotum reicht, vollständig exzidiert. Die Fistel
30
386
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
wird umschnitten, bis zu ihrem Übergang zum Rektumblindsack verfolgt und dann nach Stimulation der quergestreiften Sphinktermuskulatur bzw. des Muskelkomplexes ins Zentrum der hervorgerufenen Kontraktion explantiert. Da alle Fisteln aganglionär sind (Holschneider et al. 1996, 2001; Meier-Ruge u. Bruder 2005), empfiehlt es sich nicht, Fistelanteile zu erhalten. Hingegen befinden sich im Einmündungsbereich der Fistel in den Rektumblindsack Anteile des glattmuskulären Sphincter ani internus, also Verdickungen der Ringmuskulatur, die für die Kontinenz bedeutsam sind. Bei dieser Fehlbildungsform sollte daher die glatte Sphinktermuskulatur weitmöglichst erhalten werden.
tischen Fisteln (. Abb. 30.6c) empfiehlt sich der von Pena und De Vries 1982 (De Vries u. Pena 1982; Pena u. De Vries 1982) beschriebene posteriore sagittale Zugang (PSARP), der evtl. auch laparoskopisch von abdominell her unterstützt werden muss (. Abb. 30.6d). Einzelheiten sind dem Operationsatlas von Pena (1989) und den Publikationen von Levitt und Pena (Levitt u. Pena 2006a, b) zu entnehmen.
Rektobulbäre und rektoprostatische Fisteln. Bei allen Formen rektobulbärer (. Abb. 30.6b) und auch bei rektoprosta-
Posteriore sagittale Anorektoplastik. Entscheidende
a
b
c
d
Hypospadie. Bei Vorliegen einer Hypospadie muss immer
eine Fistelöffnung in Nähe der ektopen Harnröhrenmündung gesucht und an eine intermediäre oder hohe Form einer Analatresien gedacht werden.
Schritte der PSARP sind die Lagerung des Kindes in Bauch-
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. Abb. 30.6a–d. Die häufigsten Fistelformen bei Knaben mit Analatresie. a Perineale Fistel. b Rektourethrobulbäre Fistel. c Rektourethroprostatische Fistel. d Rektum-Blasenhals-Fistel (nach Levitt u. Pena 2006a)
387 30.6 · Operative Therapie
Einmündungsstelle der Fistel zu explantieren. Hinzu kommt, dass die Fistel meistens oberhalb des tiefsten Punktes des Blindsackes zum Harntrakt abgehen. Würde man daher die Fisteleinmündung explantieren, so verlöre man ca. 2 cm Rektumlänge und müsste das Rektum weiter nach kranial mobilisieren (. Abb. 30.7).
lage, das Legen eines Blasenkatheters, die elektrische Stimulation und Identifikation des Muskelkomplexes, eine Längsoder drachenförmige Inzision der Haut über dem Analgrübchen mit Verlängerung des Schnittes bis zum Os coccygis. Es folgt dann die Durchtrennung der parasagittalen Fasern des Muskelkomplexes, die Eröffnung des Rektumblindsackes an seinem tiefsten Punkt und die Darstellung der Fistel vom rektalen Lumen aus. Die Fistel wird umschnitten, der Rektumblindsack von der Fistel abgelöst und unmittelbar auf der Rektumwand innerhalb der Faszie mobilisiert. Nach Verschluss der Fistel werden dann die bei der Präparation dargestellten Levator/Muskelkomplex Fasern über dem zum Perineum verlagerten Rektum readaptiert. Abschließend wird eine Anoproktoplastik nach Nixon (1967) vorgenommen, falls der Anus nicht primär unter Spannung in das Perineum eingenäht wurde, so dass er nach Durchtrennung der Haltefäden spontan zurückgleitet (Pena 1989). Am Ende der Operation sollte die Rektumschleimhaut in der neugeschaffenen Analöffnung verschwunden sein. Wie erwähnt (. Abb. 30.1) variiert nach Lambrecht (Lambrecht u. Lierse 1987) die Lage und die Dicke dieser Muskelfasern außerordentlich, so dass man nicht immer damit rechnen kann, tatsächlich glatte Muskelfasern zum Damm verlagern zu können, auch wenn man versucht, die
Blasenhalsfistel. Bei Blasenhalsfisteln empfiehlt sich eine laparoskopische Präparation des Rektumblindsackes nach geringfügiger Eröffnung des Peritoneums (Georgeson u. Muensterer 2007). Es ist selbstverständlich, dass dieses Verfahren nur bei hohen Atresieformen mit Lokalisation des Rektumsblindsackes oberhalb der P-C-Linie, d. h. Beckeneingangsebene, durchgeführt werden kann. Die Präparation erfolgt bis in Höhe der Fistel mit Auslösung des Rektumblindsackes aus dem Beckenboden und Verschluss der Fistel mittels Klammerapparat oder Durchstichligatur. Das weitere Vorgehen entspricht einem abdominoperinealen Durchzug: Der tiefste Punkt des Levatortrichters wird laparoskopisch verifiziert und gleichzeitig vom Damm aus das Zentrum des Muskelkomplexes elektrisch sichtbar gemacht. Mittels einer vom Damm aus eingeführten und von abdominal her kontrollierten Sonde wird dann ein Kanal geschaffen, aufgedehnt und das mobilisierte Rektum nach perineal durchgezogen. Es folgt in beschriebener Weise
a
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. Abb. 30.7a–d. Posteriore sagittale Anorektoplastik nach Pena (Pena 1989; Levitt u. Pena 2006a). a Inzision durch den Sphincter ani externus. Darstellung der Levatormuskulatur und des subkutanen Fettgewebes. Rechts: Levatormuskeln, Muskelkomplex und Coccyx
durchtrennt. b Eröffnung des Rektums und Darstellung der rektourethralen Fistel. c Fistelverschluss und vollständige Mobilisation des Rektums. d Endgültige Situation bei durchgezogenenem Rektum
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388
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
eine Anoproktoplastik. Ob sich das Auslassen der sakralen Präparationsphase negativ auf die postoperativen Ergebnisse auswirkt, ist bisher noch nicht langfristig und mit ausreichend großen Fallzahlen belegt. Rektale Atresie und Stenose. Rektale Atresien sind ungewöhnlich selten und können, da es sich meist um höhere Atresieformen handelt, durch direkte End-zu-End-Anastomosierung behandelt werden. Stenosen benötigen im Allgemeinen eine Resektion der Stenose, da eine Bougierungsbehandlung nicht ausreicht. Insgesamt tritt dies Krankheitsbild jedoch bei weniger als 1% aller Patienten auf. Analatresien, anorektale Atresien ohne Fistel. Patienten mit dieser Fehlbildung haben im Allgemeinen eine gute Prognose. Der Rektumblindsack endet etwa 2 cm oberhalb der Haut und kann dann leicht durch einen sakroperinealen Zug dargestellt und zum Damm verlagert werden. Etwa die Hälfte aller Patienten mit einer Analatresie ohne Fistel hat ein Down-Syndrom und mehr als 90% aller Patienten mit Down-Syndrom haben diese spezielle anorektale Fehlbildung (Torres et al. 1998). Zur Diagnose dieser Fehlbildungsform eignet sich der perineale Ultraschall. Von einer Punktion und Injektion von Kontrastmittel sollte man absehen, wenn der Abstand des Rektumblindsackes zum Petrineum größer als 2 cm ist, da die Gefahr einer Fehlpunktion und anschließenden Infektion dann hoch ist und Verwachsungen die spätere Präparation behindern.
30
30.6.3
Operative Therapie einer Analatresie bei Mädchen
Die häufigsten Fehlbildungen bei Mädchen zeigt . Abb. 30.8 (Pena 1989; Levitt u. Pena 2007b).
a
Anoperineale Fistel (7 Kap. 30.6.2). Anoperineale Fisteln
können leicht unmittelbar nach der Geburt von perineal operiert werden. Manchmal reicht zunächst eine Bougierungsbehandlung aus und die definitive Operation kann dann im Alter von 6 Monaten erfolgen. Rektoperineale Fistel (. Abb. 30.8a). Bei der rektoperi-
nealen Fistel ist das Rektum manchmal nur teilweise im Bereiche des Muskelkomplexes lokalisiert und weiter anteponiert. Der Damm ist verkürzt, aber äußerlich sind Analfistel und Vagina getrennt. Die Korrektur erfolgt in gleicher Weise wie beim Knaben mit Umschneidung der Afteröffnung, Mobilisation und Auspflanzung in das, mittels Elektrostimulation verifizierte Zentrum des Muskelkomplexes. Entscheidend sind die Mobilisation des Rektums und die vollständige Trennung der Rektumvorderwand von der Vaginalhinterwand. Das Perineum sollte durch Adaptation der Levatorschenkel verstärkt werden. Rektovestibuläre Fistel (. Abb. 30.8b). Die vestibulären Fisteln sind die häufigsten Formen der anorektalen Fehlbildung bei Mädchen. Man sollte sorgfältig zwischen ano- und rektovestibulärer Fistel unterscheiden, da es bei langen rektovestibulären Fisteln sinnvoll sein kann, eine Kolostomie anzulegen. Die Präparation ist bei diesem Fehlbildungstyp wesentlich ausgedehnter, benötigt eine zusätzliche sakrale Inzision und auch die Prognose ist gegenüber anovestibulären Formen schlechter. Bei der klinischen Untersuchung erkennt man einen normalen Meatus urethrae, eine unauffällige, dahinter liegende Vagina und dann tief im Vestibulum die Öffnung der vestibulären Fistel. 5% der Mädchen haben 2 Hemivaginae mit einem bereits äußerlich erkennbaren Vaginalseptum, das bei der Korrektoroperation mitentfernt werden sollte.
b
. Abb. 30.8a, b. Die häufigsten Fistelformen bei Mädchen mit Analatresie. a Perineale Fistel. b Vestibuläre Fistel (Pena 1989; Levitt u. Pena 2006b)
389 30.6 · Operative Therapie
a
b
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. Abb. 30.9a–d. Rektovestibuläre Fistel bei einem Mädchen. a Klinischer Aspekt. b Umschneidung der Fistel, Ablösung von der Urethra. c Adaptation der Levatorpfeiler nach Auspflanzung des durchgezoge-
nen Anorektums in das Zentrum des Muskelkomplexes. d Endgültige Situation mit Drainage des Rektums und Blasenkatheter
Die Operation, auch anteriore sagittale Proktoplastik oder Pott-Operation genannt, besteht in einer vorsichtigen Umschneidung der Fistel, vollständiger Mobilisation der Vaginalrückwand von der Rektumvorderwand, Durchzug des frei mobilisierten Rektums, sparsamer Resektion der Fistel bis zum Übergang in das elastische Rektum und Auspflanzen des Rektums in das Zentrum des Muskelkomplexes. Der Sphinkterkomplex wird rekonstruiert, evtl. unter Zuhilfenahme von Bulbo-cavernosus-Fasern. In der Tiefe werden die Ränder der Levatormuskulatur adaptiert, so dass ein muskulärer Damm entsteht und dann die Vulva, großen Labien und der häutige Damm rekonstruiert (. Abb. 30.9). Eine rektovaginale Fistel ist außerordentlich selten und wurde in weniger als 1% aller anorektalen Fehlbildungen beobachtet (Rosen et al. 2002; Bill et al. 1975).
> Bei der Präparation darf man nicht vergessen, dass gerade bei den rektovestibulären Fisteln eine lange gemeinsame Verbindung zwischen Rektumvorderwand und Vaginalrückwand besteht und die Wandstrukturen oft nicht normal aufgebaut, sondern miteinander verschmolzen sind. In keinem Falle sollte es zu einer Verletzung der Vaginalwand kommen. Die Hauptgefahr dieser Operation besteht in einer iatrogen verursachten rektovaginalen Fistel.
Analatresie ohne Fistel bei Mädchen. Diese Fehlbildung ist seltener als bei Knaben und wird entsprechend den im Abschnitt »Knaben« geschilderten diagnostischen und therapeutischen Richtlinien behandelt. Auch hier ist das entscheidende Kriterium die Abpräparation der Rektumvorderwand von der Vaginalhinterwand, was schwieriger ist als die Ablösung von der Urethra beim Knaben.
30
390
Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
30.6.4
30
Antepositio ani
Es ist umstritten, ob die Antepositio ani zu den anorektalen Fehlbildungen gerechnet werden soll oder nicht. Da es sich jedoch um eine Ventralverlagerung der Afteröffnung handelt, also um eine Fehllage, soll sie hier mitaufgeführt werden. Bei der äußerlichen Untersuchung erkennt man einen normal konfigurierten Anus mit einem geschlossenen Sphinkterring, der einen normalen Muskeltonus aufweist. Die Analrosette ist unauffällig. Entscheidendes Kriterium ist jedoch ein deutlich verkürzter Damm, so dass die auch als ektop bezeichnete, sonst normale Afteröffnung unmittelbar hinter der hinteren Kommissur liegen kann. Die Patienten sind meist weder stuhlinkontinent noch zunächst stark obstipiert. Damit stellt sich die Frage, ob diese Fehlbildung überhaupt einer operativen Maßnahme bedarf. Gründe für einen operativen Eingriff können rezidivierende Harnwegsinfektionen sein, eine ständige Verschmutzung des inneren Genitale, insbesondere bei weiblichen Säuglingen und eine sich im Laufe des Wachstums entwickelnde chronische Obstipation. Sollte ein operativer Eingriff durchgeführt werden, darf man den intakten Sphinkterkomplex nicht tangieren. Der Eingriff besteht in einer U-förmigen Inzision kaudal der großen Labien und einer gegenläufigen U-förmigen Inzision um die Afteröffnung herum. Die hierbei entstehenden seitlichen, dreieckigen Hautlappen werden dann einschließlich es tiefer gelegenen Gewebes so gegeneinander verschoben, dass die Afteröffnung inkl. des Muskelkomplexes nach dorsal verlagert und der Damm verlängert wird. Es entsteht postoperativ eine Z-förmige Naht. Der Eingriff ist einfach und bis auf die Infektionsgefahr harmlos.
30.6.5
a
b . Abb. 30.10a, b. Perineale Rinne. a Ektoper, ventral verlagerter, weitgehend normal konfigurierter Anus mit perinealer Rinne (keine Analfistel!). b Anoperineale Fistel
Perineale Rinne 30.6.6
Bei der perinealen Rinne handelt es sich um eine seltene und oft verkannte Fehlbildung des Dammes. Man könnte sie auch als perineale Form einer H-Fistel ansehen. Äußerlich fällt eine Schleimhautrinne auf, die von der Afteröffnung zum Vestibulum vaginae zieht. Die Sphinktermuskulatur ist nicht vollständig zirkulär geschlossen, sondern vestibulumwärts wie ein Hufeisen offen und die Schleimhaut des Analkanals lässt sich als Rinne bis in das Vestibulum vaginae verfolgen. Da sie ständig nässt, Juckreiz verursacht und in einigen Fällen auch ein Stuhlschmieren unterhält, ist die Exzision indiziert. Dabei wird die Schleimhautrinne bis in den inneren Sphinkterbereich exzidiert, die Analkanalmukosa und eventuell auch einige Sphinkterfasern readaptiert, und dann der Damm und die hintere Kommissur rekonstruiert (. Abb. 30.10). ! Cave Eine perineale Fistel darf nicht mit einem ektopem Anus verwechselt werden.
Kloakenfehlbildung
Die persistierende Kloake gehört zu den komplexesten Fehlbildungen der Schwanzknospe des weiblichen Embryos. Es handelt sich um einen Defekt, bei dem das Rektum gemeinsam mit ein oder zwei Vaginae in den unteren Harntrakt einmündet und einen gemeinsamen Kanal bildet. Die Fehlbildung wird bei etwa 1:250.000 Analatresien beobachtet und ist bei einigen Reptilien, Vögeln und wenigen Säugetieren physiologisch (Hendren 1998). Sie repräsentiert ein frühes Stadium der Fehlentwicklung, etwa in der 12. Gestationswoche. Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen von Kimmel und Mitarbeiter (2000), die im Tierversuch zeigen konnten, dass Gli3–/–Mutanten zu einer Analstenose und ektopen Anus, Gli2-/-Mutanten zu einer Analatresie und urethraler Fistel, hingegen Gli2–/-Gli3+/– Mutanten jedoch Kloakenfehlbildungen entwickeln. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass das Isochromosom 18q zu einer Megazystis, einer intrauterinen Wachstumsretardierung und einer Kloakensequenz führt.
391 30.6 · Operative Therapie
Klinik. Auf den klinischen Aspekt der Kloakenfehlbildung
wurde bereits hingewiesen. Sie muss immer vermutet werden, wenn nur eine Öffnung im Bereiche des Perineums bzw. der Labien erkennbar ist. Die Labien können entweder normal mit unauffälliger Klitoris ausgebildet oder fehlgebildet oder auch weitgehend rudimentär sein. Die Rima ani kann normal aussehen oder im Sinne eines »flat bottom« nicht erkennbar sein. Eine Afteröffnung fehlt, ebenso eine eindeutige Vaginalöffnung. Der gemeinsame Gang, den Urethra, Vagina(e) und Rektum bilden, wird als »common channel« bezeichnet. Genauer handelt es sich um einen Sinus urogenitalis, in dem auf unterschiedlicher Höhe das Rektum einmündet. Die erste Entscheidung, die zu treffen ist, bezieht sich auf die Länge des »common channel«. Bei einigen Mädchen lässt sich nach Spreizen der Labien ein großer kurzer Trichter erkennen, in dessen Tiefe bereits mehrere Öffnungen (Rektum, Vagina/e) erkennbar sind. In anderen Fällen ist der »common channel« jedoch deutlich länger. Auch sein Verlauf variiert: Er kann lang sein und bis zur Klitorisspitze führen, kürzer sein und am Damm münden, gedoppelt sein, mit einem kurzen klitoralen und einem breiten perinealen Anteil. Auch die Morphologie der Vaginae variiert stark. Es finden sich Doppelvaginae und atretische Vaginae. Die Vagina kann einseitig oder von beiden Seiten aus in den Sinus urogenitalis einmünden, sie kann in die Blase einmünden, sie kann auch vollständig fehlen (Vaginalagenesie). Auch von Seiten des Rektums sind die Variationen zahlreich. Das Rektum kann normal oder ektop angelegt sein, es kann in den Sinus urogenitalis einmünden oder auch in eine der Vaginae. Es kann mit einer langen Fistel auf dem Septum zwischen gedoppelten Vaginae einmünden, was eine häufige Variante darstellt und es kann auch in sehr seltenen Fällen mit der Blase verbunden sein. Eine gute Einteilung der verschiedenen Kloakenformen und der Variationen von Urethra, Vagina und Rektum haben Hendren (1992) sowie Holschneider und Scharbatke (2006) publiziert. . Abb. 30.11 zeigt eine Zusammenstellung der häufigsten Formen von Kloakenfehlbildungen aus Levitt und Pena (Pena 1989; Levitt u. Pena 2006c). Diagnostik. 7 Kap. 30.5. Chirurgisches Vorgehen. Die Urinentleerung der Mädchen
mit Kloakenfehlbildung ist nicht immer gestört. Im Allgemeinen wird der Urin in den Sinus urogenitalis entleert, gelangt jedoch retrograd zunächst in die Vagina, die sich im Sinne eines Hydrokolpos monströs erweitern kann. Erst von dort fließt der Urin dann nach außen ab. Die Einlage eines Pigtail-Katheters in die erweiterte Vagina im Sinne einer suprapubischen Harnableitung führt zu einer Verkleinerung des Hydrokolpos. Da jedoch die Aufweitung der Vagina einer pathophysiologischen Expanderdehnung gleichzusetzen ist, beraubt man sich dieser pathophysiologischen Gewebsvermehrung, wenn man mit dem späteren
korrigierenden Eingriff zu lange wartet. Mit der endgültigen Korrektur einer Kloakenfehlbildung mit kurzem Sinus urorectogenitalis sollte daher nicht zu lange gewartet werden. Bei diesen Formen mit einer Lange von bis zu 3 cm erfolgt dann die Korrektur mittels des von Pena angegebenen »Sinus-urogenitalis-Advancements«, wobei Urethra und Vagina(e) gemeinsam mobilisiert und zwischen den kleinen Labien reimplantiert werden (Pena 1987; Levitt u. Pena 2006c). Das Rektum wird von seiner Einmündungsstelle abpräpariert, der Fistelanteil reseziert und dann im Rahmen eines zusätzlichen abdominosakroperinealen oder sakroperinealen Durchzugs in das Zentrum des Muskelkomplexes ausgepflanzt. Ein Septum zwischen beiden Vaginae sollte entfernt werden. > Doppelvaginae sind kein Hindernis für eine spätere Schwangerschaft.
Ein Sinus urorectogenitalis bzw. ein »common channel« von mehr als 3 cm Länge benötigt einen abdominosakroperinealen Durchzug der Vagina(e) wie auch des Rektums, gelegentlich mit eventueller gleichzeitiger Reimplantation ektoper Ureteren. Dieser Eingriff muss sehr sorgfältig und nicht ohne vorausgegangene MRT-Untersuchung des Rückenmarks durchgeführt werden. Leider finden sich bei hohen Kloakenfehlbildungen oft Veränderungen des Rückenmarkes, wie Lipome oder Diastematomyelien und Fehlbildungen des Sakrums bis hin zum vollständigen Fehlen von Sakrale II–IV. Diese Begleitfehlbildungen können eine Urininkontinenz zur Folge haben. Einzelheiten des operativen Vorgehens können der Literatur entnommen werden (Pena 1989; Levitt u. Pena 2006a, b, c).
30.6.7
Komplikationen
Trotz aller Fortschritte im Hinblick auf die chirurgischen Techniken, die insbesondere von Pena, Levitt und Georgeson in den letzten 20 Jahren entwickelt wurden, erschweren zahlreiche, wenn auch seltene Komplikationen die Prognose (Holschneider 2003; Pena 2006). Zu den postoperativen Komplikationen zählen u. a.: 4 Wundinfektionen 4 Lähmungen des Nervus femoralis 4 Stenosen der neu geschaffenen Afteröffnung und der Vaginalöffnung 4 Mukosa- und Rektumprolaps 4 Retraktion des Neoanus mit Stenosierung 4 Rezidivierende rektourethrale oder rektovaginale Fisteln 4 Urologische Komplikationen wie neurogene Blasenentleerungsstörungen 4 Entwicklung eines posterioren Harnröhrendivertikels > Bei der Korrektur von Kloakenfehlbildungen muss auf die Durchgängigkeit beider Tuben geachtet werden.
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Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
a
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. Abb. 30.11a–f. Die 6 häufigsten Formen einer Kloakenfehlbildung mit unterschiedlich langem »common channel« sowie unterschiedlicher Konfiguration der Vagina(e) und des Rektums. Bei kurzem »com-
mon channel« ist eine Sinus-urogenitalis-Advancement-Operation möglich (Pena 1987)
393 30.6 · Operative Therapie
Unter den Langzeitkomplikationen überwiegt vor allem die rezidivierende, in seltenen Fällen sogar therapieresistente chronische Obstipation. Eine echte Stuhlinkontinenz ist selten. Bei Inkontinenzerscheinungen handelt es sich meist um eine Überlaufinkontinenz bei chronischer Obstipation.
durchblutung, Spannung des Gewebes. Fisteln können jedoch auch bei der primären Diagnostik übersehen werden. Sie bedürfen eines zweiten operativen Eingriffes, oft einer neuerlichen Durchzugsoperation. Anorektale Probleme. Von besonderer Bedeutung sind
Wundinfektion. Eine Wundinfektion nach PSARP ist unge-
wöhnlich, kann jedoch gelegentlich im Bereich der Dammnaht und perianal auftreten. Zu ihrer Vermeidung ist es wichtig, möglichst aseptisch zu operieren und vor allem darauf zu achten, dass jedes mobilisierte Gewebe, sei es Darmwand oder Vaginalwand, gut durchblutet ist. Eine Naht des Rektums bei versehentlicher Eröffnung sollte nicht auf einer Naht der Vagina liegen. In diesem Falle muss das Rektum um mindestens 45° gedreht werden, damit gesunde, gut durchblutete Rektumwand auf der zu versorgenden Stelle der Vaginalwand zu liegen kommt. Jede Spannung am neu implantierten Gewebe muss vermieden werden, da sie Durchblutungsstörungen und Retraktion mit nachfolgender Stenose zur Folge hat. Die Darmschleimhaut sollte sorgfältig mit einem Antiseptikum behandelt und postoperativ sowohl das neu implantierte Rektum, wie die Vagina mit einer Easyflow-Drainage drainiert werden, um einen Aufstau von Flüssigkeit zu verhindern. > Die Korrektur hoher sowie komplizierter Formen von anorektalen Fehlbildungen sollte immer unter Kolostomieschutz durchgeführt werden.
Einfache Wunden im Bereiche des Dammes können durch intrakutane resorbierbare Fäden verschlossen und ein Wundschutz mit einem flüssigkeitsabweisenden Kleber garantiert werden. Die Patienten sollten nicht gewickelt, sondern die Wunden offen behandelt werden. Das ständige Liegen auf einer sakralen Wunde ist durch Seitenlagerung zu vermeiden. Nach Verschluss einer urethralen Fistel empfiehlt sich eine vorübergehende transurethrale Harnableitung. Eine kurzfristige perioperative Antibiotikaprophylaxe ist indiziert, nicht jedoch eine längerfristige, da sonst Resistenzen verursacht werden. Grundsätzlich geben wir keine Antibiotika, nur weil ein Harnröhrenkatheter gelegt wurde. Es ist besser, nach Entfernung des Katheters eine Urinanalyse durchzuführen und dann evtl. gezielt zu behandeln. Lähmung des Nervus femoralis. Eine Lähmung des N. fe-
moralis ist bei älteren Kindern und Jugendlichen vereinzelt beobachtet worden und meist Ursache einer inadäquaten Lagerung nach PSARP oder kontinenzverbessernden Operationen, wie der Gracilis-Transposition. Auch auf die Vermeidung eines lagebedingten, meist venösen Kompartmentsyndroms muss geachtet werden. Durch sorgfältige Lagerung des Patienten können diese schweren Komplikationen vermieden werden. Rezidivfisteln. Rezidivfisteln entstehen als Folge von Nahtinsuffizienz, Infektionen im Wundbereich, Mangel-
Komplikationen an der neu geschaffenen Afteröffnung. Hier ist zunächst die Stenose zu nennen, die jedoch meist durch sorgfältige Bougierungsbehandlung beseitigt werden kann. Entscheidend ist, dass die Afteröffnung unmittelbar nach der Operation noch einmal überprüft wurde. Sie sollte postoperativ leicht für Hegar 10–11 durchgängig sein. Sie sollte außerdem elastisch und gut durchblutet sein. Im Alter von 1–4 Monaten sollte der Anus für Hegar 12 (Stephens 1953), mit 12 Monaten für Hegar 13 (Rehbein 1959), mit 12 Monate für Hegar 14, mit 1–3 Jahren für Hegar 15, mit 3–12 Jahren für Hegar 16 und mit über 12 Jahren für Hegar 17– 18 durchgängig sein (Pena u. Levitt 2005). Im Hinblick auf die Vaginalöffnung haben wir uns immer bemüht, unmittelbar postoperativ einen elastischen Introitus vaginae von Hegar 8 zu erreichen. Eine evtl. Schrumpfung wurde im Rahmen der Nachuntersuchungen kontrolliert und in Narkose 1- bis 2-mal bougiert. Bei persistierender Enge wurde das weitere Wachstum abgewartet. Eine Erweiterung des Vaginaleingangs sollte dann im späten Kindesalter, vor Einsetzen der Menstruation, erfolgen. Einfache ringförmige Analstenosen können durch eine einfache Längsinzision mit querer Naht (Heineke-von-Mikulicz-Plastik) beseitigt werden. Es muss jedoch klar sein, dass jede Operation im Bereiche des Analringes wiederum Narben und Strikturen zur Folge hat, ebenso jede zu heftige Bougierung mit Einrissen und Blutung. ! Cave Es sollte nie Blut am Hegarstift zu beobachten sein.
Mukosaektopie und Rektumprolaps. Im amerikanischen
Schrifttum werden beide Komplikationsformen nicht unterschieden. Trotzdem handelt es sich um ganz unterschiedliche pathogenetische Mechanismen. Beim Mukosaprolaps fehlt der Mukosa die Verankerung auf der darunter gelegenen Muskelschicht. Die große Verschieblichkeit führt zu einem partiellen Verschieben der Mukosa nach außen und damit zu einem Mukosaprolaps. Hingegen ist beim Anal- oder Rektumprolaps die gesamte Darmwand vorgefallen. Der Mukosaprolaps ist viel häufiger als ein Anal- oder Rektumprolaps. Die Ektopie kann durch Abtragung und neuerliche Fixation der Mukosa an der Darmwand beseitigt werden. Ein Anal- oder Rektumprolaps hingegen benötigt hingegen eine zirkuläre Mobilisation und Neuimplantation des Darmes, was meist mit einem weiteren Verlust an Muskelkomplexstrukturen einhergeht. Je häufiger Rezidivoperationen im Bereiche des Anorektums vorgenommen werden, desto schlechter ist die spätere Stuhlkontinenz! Besonders problematisch ist der Rektumprolaps bei Patienten mit spinalen Defekten und
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Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
neurogener Blase. Analog zur neurogenen Blase liegt dann auch eine neurogene Schädigung des Kontinenzorgans vor im Sinne einer »upper« oder »lower motor neuron lesion«. Diese Kinder zeigen bereits äußerlich Dysmorphiezeichen des Sakrums, einen »flat bottom« und Urinentleerungsstörungen. Die Fixation von Teilen des vorgefallenen Rektums kann hier nach der Methode von Hecker (Hecker et al. 1970) eine Plikation der Rektumwände und Pexie erfolgen, wobei jedoch nicht immer die Pexie am Sakrum möglich ist, sondern gelegentlich ventral beidseits lateral an den unteren Schambeinknochen erfolgen muss. Lässt sich ein vollständig vorgefallenes Rektum jedoch gut in Narkose reponieren, sollte die abdominelle Sakropexie bevorzugt werden, die evtl. auch laparoskopisch durchgeführt werden kann.
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Neurogene Blasenentleerungsstörung. Die neurogene Blasenentleerungsstörung ist bei Knaben seltener als bei Mädchen (Holschneider et al. 1982). Sie beruht auf einer Innervationsstörung der Blase und des Blasenhalses, die entweder im Verlaufe der Operation auftritt oder auf einer angeborenen Begleitfehlbildung des Rückenmarkes beruht. Nicht selten ist hierfür ein »tetherd cord« verantwortlich, das auch okkult vorkommenm kann (Krauß u. Schropp 2006; Davidoff et al. 1991; Tuuha et al. 2004). Ganz grob kann man zwischen einer Auslaufblase und einer Retentionsblase unterscheiden. Bei der Auslaufblase steht die Unfähigkeit des Patienten, den Urin zurückzuhalten, im Vordergrund. Der Blasenhals ist offen, der innere, glattmuskuläre Verschlussmechanismus des Blasenhalses ist nicht wirksam und die Sphincter-externus-Muskulatur nicht angelegt oder im Rahmen der Rekonstruktion beeinträchtigt. Die Behandlung einer Auslaufblase ist schwierig, manchmal wird sogar eine künstliche Urinableitung, z. B. durch ein Appendix-Conduit (Mitrovanoff-Stoma; Mitrofanoff 1980; Söylet 2006) erforderlich. Der obere Harntrakt ist bei einer Auslaufblase nicht gefährdet. Die Retentionsblase beruht auf einer Unfähigkeit des Detrusors, sich ausreichend zu kontrahieren. Urodynamisch bestehen oft ungehemmte Blasenkontraktionen, die jedoch keine suffiziente Entleerung des Urins zur Folge haben. Auch eine vollständige Lähmung der Blasenmuskulatur ist möglich. Gelegentlich sind eine operative Resektion des Blasendaches und damit eine Verkleinerung der Blasenkapazität mit konsekutiver Erhöhung der Compliance bei ausgedehnten Megablasen hilfreich. In vielen Fällen führt jedoch bereits eine medikamentöse Behandlung mit Senkung des Blasenauslasswiderstandes zur Besserung. Manchmal ist die intermittierende Katheterisierung die Therapie der Wahl. Solange der Urin in regelmäßigen Abständen ausreichend entleert wird, besteht für den oberen Harntrakt keine Gefahr. Gefährlich sind sog. Christbaumblasen, die durch ungehemmte Blasenkontraktionen, die eine Hypertrophie der Blasentrabekel zur Folge haben, entstehen. Es kann hierdurch auch zur Verlagerung von Urete-
rostien, Stenosen der Ureterostien und Blasendivertikeln kommen, zu vesikouretheralem Reflux mit Hydronephrose und Schädigung des oberen Harntraktes. Das entscheidende Kriterium der Therapie ist daher die Entlastung des oberen Harntraktes. Postoperative chronische Obstipation. Die chronische
Obstipation stellt eines der Hauptprobleme in der postoperativen Behandlung anorektaler Fehlbildungen dar. Während vor der Einführung der posterioren sagittalen Anorektoplastik die Inkontinenz das Hauptproblem in der postoperativen Behandlung war, ist es nach Einführung des PSARP die chronische Obstipation (Holschneider et al. 2002). Dies ist verständlich, da die Verfahren nach Stephens, insbesondere aber nach Rehbein und ihre Modifikationen, im Rahmen des Durchzuges einen Teil des Rektumblindsackes resezierten, so dass kontinenzerhaltende Faktoren beseitigt wurden. Die Operationstechnik nach Pena erhält jedoch den Rektumblindsack, auch wenn er dilatiert ist und versucht, alle kontinenzerhaltenden Strukturen vom Sphinkter-Muskelkomplex, einschließlich des Beckenbodens, bis zum Rektum zu erhalten oder zu rekonstruieren. Ein dilatiertes Rektum wird nur reseziert, wenn im Rahmen von Schnellschnittuntersuchungen eine Aganglionose oder Hypoganglionose nachgewiesen wird oder wenn bei persistierender chronischer Obstipation Saugbiopsien diesen Befund ergeben. Das Zusammentreffen von anorektaler Fehlbildung und Fehlbildungen im Aufbau der rektalen Darmwand, insbesondere im untersten Bereich des Rektumblindsackes, einschließlich neuronaler Fehlbildungen ist nicht so selten wie angenommen. Hiervon können, wie bereits erwähnt, sowohl die intramuralen Plexus wie die extramurale Innervation betroffen sein (Levitt u. Pena 2006c; Holschneider et al. 1996, 2001). Hinzu kommen mögliche Schädigungen durch die Operation, die umso häufiger und wahrscheinlicher sind, je höher der Rektumblindsack im kleinen Becken gelegen ist und je ausgedehnter seine Mobilisation erfolgt. Die Ursachen der postoperativen, chronischen Obstipation sind vielfältig. Sowohl Fehlbildung des intramuralen Nervensystems des Rektumblindsackes, eine Desmose, Fehlbildungen der interstitiellen Cajal-Zellen kommen wie erwähnt in Frage als auch Schädigungen der Nn. erigentes durch die Operation. Die Kompliance des Rektums kann im Rahmen einer Megabildung erhöht, aber auch durch eine Durchblutungsstörung des durchgezogenen Darms mit Engstellung eingeschränkt sein. Daneben wurden auch muskuläre Anomalien im Bereiche der glatten und quergestreiften Sphinktermuskulatur beobachtet (Levitt u. Pena 2006b; Holschneider et al. 1996, 2001). Ein »tethered cord«, spinale Dysraphien oder ein kaudales Regressionssyndrom können auch für eine chronische Obstipation verantwortlich sein. Es besteht dann analog zur neurogenen Blasenentleerungsstörung eine neurogene Defäkationsstörung.
395 30.7 · Ergebnisse
30.7
Ergebnisse
30.7.1
Nachuntersuchungen
Die Nachuntersuchung von Patienten mit anorektalen Fehlbildungen sollte heute nach den in Krickenbeck 2005 (Holschneider et al. 2005; Holschneider u Hutson 2006) entwickelten Kriterien durchgeführt werden (. Tab. 30.4). Gleichzeitig müssen spezifische Probleme wie Malposition des Neoanus, Stenose, Prolaps, Fistel, schlaffer Muskeltonus, abnorme Länge des Analkanals und urogenitale Probleme beachtet werden. Die früheren Evaluationsschemata von Scott et al. (1960), Kelly (1972) und das Punktesystem von Holschneider (Holschneider u. Metzger1974) sind damit obsolet. Von therapeutischem Interesse ist jedoch die neuere Klassifikation von Holschneider (Holschneider et al. 2002), bei der davon ausgegangen wird, dass nach der Korrektur anorektaler fehlbildungen im Wesentlichen zwei präoperativ nicht beobachtete, neue Krankheitsbilder entstehen: die chronische Obstipation und, viel seltener, die Stuhlinkontinenz, die jeweils einer gesonderten Behandlung bedürfen. Die Klassifikation der postoperativen Ergebnisse sollte sich daher konsequenterweise nach diesen Grundproblemen und ihrer Behandlung richten. Im Wesentlichen werden dabei 3 Gruppen unterschieden: 4 Vollständig kontinente Kinder, die keinerlei Therapie bedürfen. 4 Teilweise kontinente Kinder, die 5 mit geringen Hilfsmitteln kontinent sind, oder 5 eine spezielle Therapie für milde Inkontinenzerscheinung benötigen oder 5 eine chronische Obstipation aufweisen. 4 Kinder, bei denen die konservativen Maßnahmen versagt haben und die deshalb einer weiteren chirurgischen Therapie unterzogen werden müssen. Dies sind maximal 5% aller Patienten, wobei die chirurgische Therapie entweder in einer die Sphinkteren verstärkenden Maßnahme oder in einer Beseitigung einer schweren Obstipation durch Resektion eines Megarektums besteht. Chronische Obstipation und Stuhlkontinenz. Das entscheidende Problem der chronischen Obstipation hängt nur teilweise mit dem Fehlbildungstyp zusammen. In einer Studie von Pena (Pena 1985; Levitt u. Pena 2006) hatten alle Patienten mit perinealer Fistel willentlich kontrollierbare Stuhlentleerungen. 20,9% litten jedoch unter einem Stuhlschmieren, 89,7% waren vollständig kontinent, 56,6% obstipiert. Patientinnen mit vestibulärer Fistel zeigten in 92% willkürliche Stuhlentleerungen, 36% ein Stuhlschmieren, 70,8% waren vollständig kontinent, 61% obstipiert. Knaben mit bulbourethraler Fistel waren in 82% der Fälle zu willkürlichen Stuhlentleerungen fähig, 53,9% litten unter Stuhlschmieren, 50% waren vollständig kontinent und 64,2% obstipiert. Je höher die Fehlbildung, desto schlechter die Ergebnisse. So konnten Knaben mit prostatischer Fistel
in 73% ihren Stuhl willkürlich entleeren, 77,1% koteten oder schmierten ein, nur 30,8% waren vollständig kontinent und 45,2% waren obstipiert. Erstaunlicherweise waren die Ergebnisse bei Mädchen mit Kloakenfehlbildung und kurzem »common channel« nicht wesentlich schlechter. 71% waren zu willkürlichen Stuhlentleerungen fähig, 63,3% schmierten ein, 50% waren vollständig kontinent und 40% waren obstipiert. Bei Patientinnen mit Kloakenfehlbildung und langem »common channel« waren 44 Kinder zu spontanen Stuhlentleerungen fähig, die Rate des Einkotens oder Stuhlschmierens stieg verständlicherweise auf 87,2%, die der totalen Kontinenz sank auf 27,8% und konsequenterweise fiel die Rate der obstipierten Mädchen auf 34,8%. Insgesamt haben sich die Ergebnisse nach der Einführung der PSARP-Technik deutlich verbessert. Im eigenen Krankengut (Holschneider et al. 2006) sank die Inkontinenzrate bei hohen Formen der Analatresie, die im Zeitraum bis 1984 bei 55% lag, im Zeitraum danach auf 24%. Bei den intermediären Formen sank der Prozentsatz von 30% auf 11% und bei den tiefen Formen von 8% auf 0 respektive. Die Häufigkeit einer partiellen Inkontinenz, d. h. Inkontinenzerscheinungen, die mit Hilfsmitteln wie Diät, Analtampons oder medikamentös erfolgreich behandelt werden konnten, stieg von 32 auf 56% bei den hohen und sank von 60 auf 47% bei den intermediären Formen. Sie blieb unverändert mit 25 respektive 21% bei den tiefen Formen. Die Häufigkeit einer vollständige Kontinenz stieg bei den hohen Formen nach 1985 von 13,5% auf 20%, von 10% auf 42% bei den intermediären und von 67% auf 79% bei den tiefen Atresieformen, gleichgültig, ob die Kontinenzleistung auf die Fistelform oder auf die Höhe der Atresie bezogen wurde. Es bleibt die Tatsache bestehen, dass zahlreiche Patienten mit anorektalen Fehlbildungen Störungen ihres Stuhlkontinenzverhaltens beibehalten, gleichgültig, ob es sich um eine tiefe perineale oder eine hohe komplexe Fehlbildung handelt. Nur 63,2% der Patienten hatten postoperativ normale Defäkationsgewohnheiten. 28,6% der Kinder waren gelegentlich und 8,3% ständig obstipiert. Letzlich ähneln diese Ergebnisse den Resultaten des sakroperinealen Durchzuges nach Stephens (Stephens et al. 1988) oder denen des abdominosakralen Vorgehens nach Stephens und Kiesewetter (Holschneider et al. 2002; Rintala 2006). Urininkontinenz. Eine Urininkontinenz findet sich nur bei intermediären oder hohen Atresieformen, wobei hier der frühere, blinde abdominoperineale Durchzug eine deutlich höhere Komplikationsrate von 22% (Hassink et al. 1993) bis 33% (Rintala et al. 1994) aufwies. Pena beobachtete nach PSARP nur bei10% seiner Patienten Urininkontinenzerscheinungen, wobei hier natürlich auch ein Zusammenhang mit urologischen Begleitfehlbildungen besteht (Pena 1995, 2006). Sexuelle Probleme. Das gleiche gilt für sexuelle Probleme, die sowohl Komplikationen von Seiten der Vagina, der
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Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
Erektion, der Urinkontrolle umfassen, aber auch psychologisch bedingt sein können. Patientenzufriedenheit. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung, auf eine Studie der Elterninitiative Soma hinzuweisen, die in einer Fragebogenaktion 104 Familien mit Kindern mit anorektalen Fehlbildungen nach dem Ergebnis der Behandlung befragten (Ekkehart et al. 2006). Das Alter der Kinder schwankte zwischen 3–17 Jahren (durchschnittlich 8 Jahre), die meisten waren zwischen 5 und 11 Jahre alt, 60% waren Knaben. 51% dieser Kinder trugen noch Windeln, 51% benötigten täglich einen Einlauf, 18% entleerten sich mittels eines Mikroklysmas, 3% benötigten Einläufe über ein Malone-Stoma, 17% nahmen Suppositorien, 19% laxative Medikamente. 18% benötigten Blasenmedikamente, 18% intermittierendes Blasenkatheterisieren, 6% trugen Analtampons, 22% der Kinder waren in homöopathischer, 9% in osteopathischer Behandlung. 1% der Befragten unterzogen sich Akupunktursitzungen, 6% einer Reflexzonentherapie, 23% anderen Therapieformen. 21% der Kinder führten physiotherapeutische Maßnahmen durch, 16% wurden diätetisch behandelt, 6% mit einem Biofeedback-Training, nur 7% gar nicht. > Aus der Studie geht hervor, dass die soziale Belastung für die Patienten und ihre Familien groß ist und sich zum Teil im Laufe der Entwicklung verschlechtert.
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Besonders beklagt wurde, dass nur 25% der Kinder regelmäßig nachuntersucht wurde, 60% der Kinder wurden gar nicht nachuntersucht und 15% der Eltern hielten eine Nachuntersuchung nicht für notwendig. Gerade wenn Probleme auftauchen, ziehen sich die Ärzte gerne von ihrer Verantwortung zurück. So waren die Eltern, zwar wenn das Kind nur leicht obstipiert war, in 80% der Fälle mit der Nachbehandlung zufrieden. Bei chronischen Obstipationen Grad II oder III sank die Zufriedenheit jedoch auf 60%. Das Gleiche betraf das Stuhlschmieren. Wenn kein Stuhlschmieren vorlag, waren die Eltern zu 80% zufrieden. Trat jedoch Stuhlschmieren auf, sank die Zufriedenheit in der Nachbehandlung auf 50%. Dies ist zwar verständlich, weil gute Ergebnisse immer Zufriedenheit auslösen, aber es wurde hier nicht das Ergebnis, sondern der Einsatz der Ärzte und ihre Versuche, die chronische Obstipation oder Stuhlinkontinenz zu beherrschen, gewertet. Nicht nur von Seiten der Elterninitiative bleibt daher noch viel zu tun, um die Kontinenzergebnisse bei Kindern mit anorektalen Fehlbildungen zu verbessern.
30.7.2
Konsequenzen für die Nachbehandlung
Um dies zu erreichen, muss zunächst einmal streng unterschieden werden, ob bei dem Patienten echte Inkontinenzerscheinungen vorliegen, d. h. die Nahrung angedickt, die Stuhlfrequenz herabgesetzt oder der Sphinktertonus ge-
stärkt werden muss. Bei diesem Patientenkollektiv eignen sich Medikamente, wie Lopiramid, Medizinkohle, Kaoprompt, Kaopektate, oder diätetisch Bananen, Blaubeeren, gekochte Karotten u. a. Auch Analtampons sind hier hilfreich, ebenso wie eine Physiotherapie im Sinne einer Beckenbodengymnastik (Stommel u. Holschneider 2006). Bei einer Überlaufinkontinenz in Folge einer chronischen Obstipation hingegen muss die Diät laxativ sein, Früchte aller Art, Gemüse, Fasern, Getreide, Buttermilch, Joghurt, Mineralwasser usw. Laxanzien kommen zum Einsatz, wobei darauf geachtet werden muss, dass manche Medikamente, wie Bifiteral, mit der Zeit einen Gewöhnungseffekt nach sich ziehen. Wieder andere, wie Datteln, Feigen etc., müssen durch eine höhere Trinkmenge erst zum Quellen gebracht werden. Bei Einläufen muss daran gedacht werden, dass diese auf Dauer psychologische Schäden zufolge haben und dann das Kind veranlassen, jede Manipulation von dritter Seite an der Afteröffnung abzulehnen und sich selbst jeder Defäkation zu verweigern. Hier haben sich verhaltenstherapeutische Maßnahmen als besonders günstig erwiesen, insbesondere dann, wenn sie mit einem sog. Stuhltraining (Severijnen et al. 2006) oder einem »bowel management (Pena et al. 1998) verbunden sind. Hilfreich ist auch die Gabe von Magnesiumoxid, Paraffinum subliquidum oder andere Laxanzien für eine begrenzte Dauer. Sollte sich jedoch die Obstipation als weitgehend therapieresistent erweisen und täglich hohe Einläufe benötigt werden, sollte man auch an die Anlage eines Appendikostomas nach Malone 1990 denken, wobei die Appendix in den Zökumkopf eingeschlagen und durch ein separates Stoma möglichst im Bereiche des Nabels nach außen geleitet wird (Malone et al. 1990). Durch dieses Stoma kann sich der Patient dann selbst katheterisieren und eine antegrade Darmspülung vornehmen. Operative Maßnahmen sind bei chronischer Obstipation selten indiziert und bestehen dann in der sparsamen Resektioin eines inerten Megarektums (Pena et al. 2003; Levitt u. Pena 2006d). Bei Insuffizienz der anorektalen Sphinkteren, also einer echten Stuhlinkontinenz, kann gelegentlich eine Gracilistransposition nach Pickrell sinnvoll sein (Holschneider et al. 2007; Pickrell et al. 1952; Holschneider et al. 1979). > Die Behandlung der anorektalen Fehlbildungen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert, insbesondere durch Erweiterung und Erforschung des sakralen Zuganges. Der laparoskopisch assistierte, abdominoperineale Durchzug wird das Vorgehen in Zukunft bei hohen Atresieformen für den Patienten angenehmer und schmerzfreier gestalten. Die Hauptprobleme der chronischen Obstipation, einschließlich Stuhlschmieren, sind jedoch noch keineswegs gelöst und leider auch bei tiefen Atresieformen nicht ganz selten. Anorektale Fehlbildungen sind daher auch bei tiefen Formen eine ernst zunehmende Erkrankung.
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Kapitel 30 · Anorektale Malformationen
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399 30.7 · Ergebnisse
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30
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31
31 Obstipation und erworbene anorektale Erkrankungen M. Heinrich
31.1
Obstipation
31.1.1 31.1.2 31.1.3 31.1.4
Vorkommen – 401 Einteilung und Ätiologie – 401 Diagnostik und Therapie – 402 Enkopresis – 404
– 401
31.2
Erworbene anorektale Erkrankungen
31.2.1
Perianale und perirektale Abszesse und Fisteln – 404 Analfissuren – 405 Hämorrhoiden – 405 Analhaut- und Rektumprolaps – 405 Rektales Trauma – 406
31.2.2 31.2.3 31.2.4 31.2.5
– 404
Literatur – 406
> Die Obstipation ist eine häufige Erkrankung im Kindesalter. Bei über 90–95% der Patienten findet man keine organische Ursache. Die Therapie beinhaltet Laxanzien, diätetische Maßnahmen, Stuhltraining und eventuell Biofeedbacktraining sowie Klysmen. Als Folge einer chronischen Obstipation kann eine Enkopresis auftreten. Andere erworbene anorektale Erkrankungen sind im Kindesalter seltener und haben oft andere Ätiologien als im Erwachsenenalter.
31.1
Obstipation
31.1.1
Vorkommen
Eine Obstipation ist im Kindesalter häufig, sie betrifft etwa 3% aller Kinder, meist die Altersgruppe der 2- bis 4-Jährigen. 3–5% aller Vorstellungen beim Pädiater und 10–20% beim pädiatrischen Gastroenterologen erfolgen aufgrund einer Obstipation. In 90–95% der Fälle findet sich keine organische Ursache. Meist entwickelt sich die funktionelle, chronische Obstipation aus einer durch exogene Faktoren ausgelöste akute, inadäquat behandelte Obstipationsepisode. Der harte Stuhl führt zu einer schmerzhaften Defäkation und wird zurückgehalten, wodurch sich ein Teufelskreis entwickelt.
31.1.2
Einteilung und Ätiologie
Eine Obstipation aufgrund einer funktionellen Defäkationsstörung ist somit am häufigsten und wird nach der Roma-II-Klassifikation eingeteilt. Es wird zwischen einer infantilen Dyschezia, funktionellen Konstipation und funktionellen fäkalen Retention unterschieden: 4 Infantile Dyschezia: >10 min Anstrengung oder Schreien vor erfolgreichem weichen Stuhlgang bei ansonsten gesundem Kind <6 Monate 4 Funktionelle Konstipation: mindestens 2 Wochen mit Skybala/hartem Stuhlgang, ≤2-mal/Woche Stuhlgang, kein Hinweis auf eine strukturelle, endokrine oder metabolische Erkrankung 4 Funktionelle fäkale Retention: großvolumiger Stuhlgang ≤2-mal/Woche, Zurückhalten der Defäkation durch Anspannung des Beckenbodens unterstützt durch die Glutealmuskulatur > Bei gestillten Säuglingen ist jenseits des 2. Lebensmonats eine Entleerung von weichem Stuhl nur 1-mal pro Woche möglich und als normal einzustufen.
Die Ursache der infantilen Dyschezia ist eine fehlende Koordination zwischen intraabdominellen Druck und Relaxation des Beckenbodens. Diese verschwindet spontan nach einigen Wochen. Es sollten jegliche rektale Manipulationen vermieden werden, da diese die Stuhlentleerungsproblematik verstärken. Ansonsten ist keine weitere Therapie notwendig.
402
Kapitel 31 · Obstipation und erworbene anorektale Erkrankungen
Ursachen der funktionellen Konstipation und der fäkalen Retention sind häufig eine Nahrungsumstellung, unzureichende Flüssigkeitszufuhr, erhöhter Flüssigkeitsverlust (z. B. rezidivierendes Erbrechen, Diarrhö), falsches Nahrungsangebot mit ungenügendem Ballaststoffgehalt sowie Bewegungsmangel. Klinisch fallen Kinder mit einer funktionellen fäkalen Retention typischerweise zusätzlich zur Obstipation durch Einschmieren, Bauchkrämpfe oder verminderten Appetit auf. Eine weitere Einteilung der Obstipation beschreibt die PaCCT (Paris Consensus on Childhood Constipation Terminology), die auch auf die Stuhlinkontinenz und Dyssynergie des Beckenbodens eingeht.
Übersicht Paris Consensus on Childhood Constipation Terminology
31
4 Chronische Obstipation: Zutreffen von 2 oder mehr der genannten Punkte in den letzten 8 Wochen: – <3-mal/Woche Stuhlgang – Mehr als eine Episode mit Stuhlinkontinenz – Große Stuhlmengen im Rektum oder abdominell tastbare Stuhlballen – Absetzen von sehr großen Stuhlmengen – Zurückhalten der Stuhlentleerung/Haltemanöver – Schmerzhafte Defäkation 4 Stuhlinkontinenz: Absetzen von Stuhl in einer nicht adäquaten Situation – Organische Stuhlinkontinenz: es besteht eine organische Ursache für die fäkale Inkontinenz – Funktionelle Stuhlinkontinenz: nicht-organische Ursachen – Obstipation mit Stuhlinkontinenz – Keine retentions-/obstipationsbedingte Stuhlinkontinenz 4 Fäkale Impaktion: große Stuhlmassen im Rektum bzw. Dickdarm, die nicht entleert werden können 4 Beckenboden-Dyssynergie: der Beckenboden kann bei der Defäkation nicht mehr entspannt werden
Organische Ursachen einer Obstipation sind seltener. Beim Neugeborenen kann ein verzögertes Absetzen von Mekonium Zeichen einer mechanischen Passagestörung oder A-/ Hypo- oder Dysganglionose sein.
31.1.3
Diagnostik und Therapie
. Tab. 31.1 gibt einen Überblick über die Differenzialdiagnostik der Obstipation. Anamnestisch sollten Stuhlfrequenz und -konsistenz, Blut- oder Schleimauflagerungen, Stuhlinkontinenz, auslösende Faktoren, Ernährungsgewohnheiten und Begleit-
. Tab. 31.1. Ursachen der Obstipation Mechanische Passagebehinderungen
Stenosen, Atresien, Mekoniumileus, Mekoniumpfropfsyndrom, anorektale Fehlbildung, »small left colon syndrome«
Innervationsstörungen
Morbus Hirschsprung, Hypo- oder Dysganglionose, neurogenes Rektum, spinale Erkrankungen
Verminderte Darmmotilität
Hypothyreose, Elektrolytstörungen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Immobilisierung
Unterdrückung des Defäkationsreizes
Schmerzhafte anale Erkrankungen (Analfissur, Analabszess), chronische rektale Manipulationen
Psychogene Ursachen
Beim Sauberwerden, Trotzreaktion, chronische psychische Überlastung
Diätfehler
Kuhmilchallergie, falsche Nahrungs- und Trinkgewohnheiten
symptome abgefragt werden. Das Miktionsverhalten sollte ebenfalls überprüft werden, da eine Urge-Symptomatik aufgrund einer Detrusorhyperaktivität eine Dyskoordination zwischen Beckenboden und Harn-, aber auch Stuhlentleerung zur Folge haben kann. Bei der körperlichen Untersuchung muss besonders auf den abdominellen, perianalen und rektalen Befund geachtet werden, außerdem muss eine neurologische Untersuchung erfolgen. Die Diagnostik ist abhängig von der Anamnese und klinischen Untersuchung. Besteht eine anorektale Erkrankung oder ein Verdacht auf eine endokrine Erkrankung, werden entsprechende Untersuchungen bzw. Therapien eingeleitet. Bei Verdacht auf eine Innervationsstörung aufgrund einer kaudalen Fehlbildung ist eine MR-Untersuchung der Wirbelsäule notwendig. Wenn die Beschwerden seit Geburt bestehen, kein Zurückhalten der Stuhlentleerung beschrieben wird und bei der klinischen Untersuchung ein leeres Rektum vorliegt, besteht die Indikation zur Abklärung eines Morbus Hirschsprung mittels einer Stufendiagnostik (Manometrie, Kolonkontrasteinlauf, Rektum-Saugbiopsien). Bei allen Kindern mit Verdacht auf eine funktionelle Defäkationsstörung sollte zunächst bei Zurückhalten der Defäkation mit fäkaler Masse im Rektum eine Disimpaktion erfolgen, welche über eine orale Medikation (z. B. Polyethylen Glykol oder Koloskopielösungen) durchgeführt werden sollte und möglichst nicht über rektale Manipulationen. Innerhalb von 3 Tagen sollte eine vollständige Darmentleerung gelingen. Danach kann, wie bei den Patienten mit hartem Stuhlgang ohne fäkale Masse ein Therapieschema bestehend aus Laxanzien, diätetischen Maßnahmen, Stuhltraining und eventuell Klysmen angeschlossen werden. Als Laxanz wird bei Kindern in der Regel Polyethylen Glykol (Macrogol) eingesetzt, da sich darunter im Vergleich zu anderen Medi-
403 31.1 · Obstipation
kamenten (z. B. Laktulose) ein besserer Therapieerfolg gezeigt hat. Die Ernährung sollte langfristig auf eine ballaststoffreiche Nahrung umgestellt werden. Jenseits des 3. Lebensjahres kann ein Stuhltraining mit 2-mal täglichem Toilettengang nach einer Mahlzeit für 10 min mit guter Sitzposition (Fußbänkchen) und z. B. Bilderbuch durchgeführt werden. Falls sich unter diesem Therapiekonzept keine Verbesserung der Obstipation einstellt, muss eine weiterführende Diagnostik durchgeführt werden. Im wesentlichen eine Stufendiagnostik zum Ausschluss eines Morbus Hirschsprung. > Als Faustregel gilt, dass die Therapiedauer der chronischen Obstipation so lange sein wird, wie sie schon besteht, meist 6–12 Monate. Entscheidend für den Erfolg sind ein guter Therapieplan und eine feste Anbindung an eine Sprechstunde.
In der Abklärung einer therapierefraktären chronischen Obstipation hat die Manometrie eine zentrale Rolle. Sie kann als Screening-Verfahren in 80–90% der Fälle in relevante Aussage treffen in Bezug auf die Notwendigkeit weiterer Diagnostik und Therapie. Manometrisch ist der
Ausschluss einer Aganglionose möglich. Besteht eine chronische habituelle Obstipation zeigt sich in der Manometrie eine Hypoaktivität und es sind typischerweise »wannenförmige« Relaxationen darstellbar, die nur durch ein vergrößertes Distensionsvolumen auslösbar sind (. Abb. 31.1). Analsphinkterachalasien lassen sich manometrisch in vegetativ-psychogene oder myogene Formen unterscheiden. Die vegetativ-psychogene Analsphinkterachalasie zeigt sich durch unregelmäßige Internusrelaxationen, anorektalen Überempfindlichkeit und Hyperaktivität. Therapeutisch sind hier Biofeedback-Training, autogenes Training und Entspannungsübungen für den Beckenboden sinnvoll. Dies kann meist ab einem Alter von 6–7 Jahren erfolgen. Die myogene Analsphinkterachalasie weist typischerweise rudimentäre Relaxationen auf, die unabhängig vom Distensionsvolumen sind. Bei 25% der Patienten kann ein erhöhter Ruhedruck nachgewiesen werden. Aufgrund der schlecht ableitbaren Relaxationen und damit einem nicht eindeutigen Ausschluss einer Aganglionose ist hier oft eine weitere Abklärung notwendig.
a
. Abb. 31.1a, b. Anorektale Manometrie. a Normalbefund mit normalen Fluktuationen, Internusrelaxationen und Durchzugprofilen. b Typische manometrische Veränderungen einer habituellen chronischen Obstipation mit Hypoaktivität und wannenförmiger Relaxation
b
31
404
Kapitel 31 · Obstipation und erworbene anorektale Erkrankungen
31.1.4
Enkopresis
Aufgrund einer chronischen Obstipation kann es zu einer Aufweitung des Enddarms, Verkürzung des Schließmuskels und gestörten Sensibilität bzgl. der Enddarmfüllung kommen. Flüssiger Stuhl kann so unkontrolliert entweichen und das Kind schmiert ein. Dies ist die häufigste Ursache der sekundären Enkopresis. Bei der primären Enkopresis besteht oft keine Obstipation, die Ursache des Einschmierens ist wahrscheinlich eine Störung bzw. Verzögerung des Erlernens der Stuhlentleerung. > Die Enkopresis ist definiert als unfreiwilliger Stuhlabgang in unpassender Situation mindestens 1-mal/Woche für einen Zeitraum von mehr als 3 Monate bei Kindern >4 Jahre.
Bei Schuleintritt betrifft dies ca. 1,5% aller Kinder. Bei der Retention von Stuhl ist eine langfristige, konsequente Therapie der Obstipation durch verhaltenstherapeutische Techniken, Laxanzien und evtl. Biofeedbacktraining notwendig. Wichtig ist eine primäre Stuhldisimpakation zu Beginn der Therapie (s. oben). Für das Kind gilt die Regel, den Darm zur rechten Zeit auf der Toilette mit ausreichend verfügbarer Zeit mindestens 1-mal pro Tag vollständig zu entleeren. Die Erfolgsraten liegen bei 30–50% nach 1 Jahr und bei 75% nach 4 Jahren.
31
31.2
Erworbene anorektale Erkrankungen
31.2.1
Perianale und perirektale Abszesse und Fisteln
Analabszess. Mit ca. 75% treten perianale Abszesse im Kindesalter am häufigsten im Säuglingsalter auf. Die Lokalisation ist dabei in der Hälfte der Fälle bei 3 oder 9 Uhr in Steinschnittlage. Die Ätiologie der perianalen Abszesse im Jugendlichen- und Erwachsenalter ist eine Infektion der Proktodealdrüsen mit daraus entstehenden Circulus vitiosus: Entzündung – Schmerz – Analsphinkterspasmus – Abflussbehinderung der Proktodealdrüsen – Abzsessbildung – Schmerz. Aufgrund der anatomischen Lage der Proktodealdrüsen entsteht der primäre intersphinktärer Abszess meist im Bereich der hinteren Analkommissur. Oft ist dies mit einer chronischen Obstipation, Analfissuren oder Hämorrhoiden assoziiert, da diese einen erhöhten Analsphinktertonus mit resultierendem Sekretstau zur Folge haben. Beim Säugling und Kleinkind besteht selten eine derartige Vorerkrankung. Die Abszesse sind meist subkutan gelegen. Daher scheint die Ätiologie der perianalen Abszesse beim Säugling und Kleinkind anders zu sein. Es wird eine infizierte abnorme Morgagni-Krypte diskutiert, aber auch die Hypothese, dass es zu einer dermalen bzw. subdermalen Infektion oder einer Infektion versprengter Zellen
des Sinus urogenitalis kommt. Die männliche Dominanz der perianalen Abszesse im Säuglingsalter mit einer Verteilung von 30:1 im Vergleich zu 3:1 im Alter von 3–16 Jahre lässt einen hormonell getriggerten Entstehungsmechanismus vermuten. Morgagni-Krypten liegen zwischen den Analpapillen und sind bei Kindern mit Analabszessen typischerweise vertieft, wodurch sich ein Sekretstau mit anschließender Abszedierung erklären lässt. Analfistel. Perianale Fisteln treten im Säuglings- und Kleinkindesalter am häufigsten im 1. Lebenshalbjahr auf und
liegen meist nur subkutan. Ätiologisch ist unklar, ob sich aus einer abszedierenden Entzündung ein Fistelkanal bildet oder ob sich eine vorbestehende, kongenitale Fistel aus versprengten Zellen des Sinus urogenitalis sekundär infiziert. Untermauert wird die zweite These dadurch, dass sich im Säuglingsalter teils schon früh komplexe Fistelgänge zeigen bzw. diese mit einem Epithel ausgekleidet sind. Im Säuglings- und Kleinkindesalter ist davon auszugehen, dass in ca. 20% ein perianaler Abszess mit einer Fistel assoziiert ist. Bei älteren Kindern und Jugendlichen kommt es durch eine Entzündung einer Proktodealdrüse mit Abszedierung und Ausbreitung des Pus in den verschiedenen Schließmuskelanteilen zur Analfistel. Hier kann eine komplette Fistel mit durchgehender Verbindung oder eine inkomplette innere bzw. äußere Fistel vorliegen. Die Einteilung erfolgt im Bezug auf den M. sphincter ani externus: 4 Intersphinktäre Fistel: Submuköse Fistel im Spatium intersphincterium. 4 Transsphinktäre Fistel: Sie verläuft durch die Mm. sphincter ani externus und internus unterhalb der Puborektalisschlinge. 4 Suprasphinktäre Fistel: Bei dieser seltene Form verläuft die Fistel über die Puborektalisschlinge hinaus und durchbricht eventuell auch die Levatorplatte. 4 Extrasphinktäre Fistel: Diese sehr selten Form durchbricht den Sphinkter und die Levatorplatte mit Mündung in das Rektum. Der klinische Befund des Analabszesses zeigt sich meist in einer druckdolenten, indurierten Rötung und Schwellung perianal. Therapie des Abszesses. Besteht noch keine tastbare Fluk-
tuation oder sonographisch ein Flüssigkeitsverhalt, wird eine lokale Therapie mit Salben und Sitzbädern durchgeführt. Sobald sich ein Verhalt zeigt, sollte eine Entlastung des Abszesses erfolgen. Hier sind alleinige Punktionen beschrieben, jedoch wird in der Regel eine chirurgische Abszessspaltung und Drainage mit Lascheneinlage durchgeführt. Dies sollte in Narkose erfolgen. Eine antibiotische Therapie ist nicht zwingend notwendig. Tiefer gelegene perirektale Abszesse hingegen, die häufig neben der beschriebenen Lokalsymptomatik mit Allgemeinsymptomen wie Fieber und einem ausgeprägten Krankheitsgefühl einherge-
405 31.2 · Erworbene anorektale Erkrankungen
hen, müssen meist sofort chirurgisch gespalten werden. Hier empfiehlt sich zusätzlich frühzeitig mit einer systemischen antibiotischen Therapie zu beginnen. Therapie der Fistel. Kommt es zu rezidivierenden, meist spontan eitrig sezernierenden perianalen Abszessen, die nach Behandlung mit Sitzbädern oder oralen Antibiotika zunächst abheilen, dann aber nach Wochen oder Monaten erneut symptomatisch werden, besteht der Verdacht auf eine Analfistel. Allerdings kann beim Säugling und Kleinkind auch schon primär beim ersten Analabszess eine Analfistel vorliegen. In diesen Fällen sollten in Narkose immer eine genaue Untersuchung der perianalen Region und eine Inspektion des Analkanals, eventuell sogar eine Rektoskopie, erfolgen, um nach einem Fistelgang zu suchen. Unterstützend kann der Fistelgang durch Injektion von gefärbter Flüssigkeit dargestellt werden. Besteht ein akuter Abszess, ist zunächst eine Entlastung und bei sondierbarem Fistelgang eine Markierung und Drainage mit einem Faden möglich. Nach Besserung der entzündlichen Symptomatik wird in einer erneuten Operation bei einer subkutanen, intersphinktären oder oberflächlichen transsphinktären Fistel eine Spaltung über die gesamte Fistellänge durchgeführt. ! Cave Wenn der Fistelgang mit einem Epithel ausgekleidet ist, muss eine vollständige Entfernung erfolgen. Ansonsten besteht eine hohe Rezidivrate. Hierbei ist darauf zu achten, dass es zu keiner Läsion des Schließmuskels kommt.
Bei einer Fistel mit einer kleinen Muskelbrücke kann ebenfalls eine Spaltung über die gesamte Fistellänge durchgeführt werden, da hier bei normalem Sphinkter keine Gefahr eines Kontinenzverlustes besteht. Die Wunde wird anschließend offen behandelt mit Sitzbädern. Handelt es sich um höhere Analfisteln muss eine Fistulektomie mit Herausschälen des Fistelganges und der entzündeten Proktodealdrüse ohne wesentlicher Schädigung des Schließmuskels erfolgen. Der Wundkanal im Muskel wird vernäht und mit einem Schleimhautlappen abgedeckt. Die Prognose ist bei vollständiger Darstellung und Spaltung bzw. Entfernung des Fistelganges gut und Rezidive sind nach korrekten Maßnahmen selten.
31.2.2
Analfissuren
Pathogenese. Analfissuren (Rhagaden) kommen vor allem im Kleinkindesalter vor. Sie sind die häufigste Ursache für anorektale Blutungen bei Kleinkindern. Oft besteht ein zeitlicher Zusammenhang mit der Ernährungsumstellung auf zunehmend festere Nahrung, die mit einer erhöhten Stuhlkonsistenz einhergeht. Häufig besteht eine Obstipation vor dem Auftreten einer Analfissur. Bei der Entleerung von hartem Stuhl kommt es zum Einreißen der Schleimhaut im Bereich der hinteren Kommissur des Anus. Durch die erheblichen Schmerzen bei der Defäkation versuchen die Kin-
der, eine erneute Stuhlentleerung zu unterdrücken. Dadurch verstärkt sich die Obstipation und die Fissur wird mit jedem Stuhlgang schlimmer. Die Schmerzen bedingen einen erhöhten Schließmuskeltonus, wodurch ein Teufelskreis entsteht. Die anale Wunde heilt bei dem erhöhten Druck auf die Schleimhaut mit Ischämie nicht ab und infiziert sich. Die dadurch verstärkten Schmerzen verzögern wiederum die Stuhlentleerung. Die Analfissur kann somit nicht abheilen. Klinik. Es zeigen sich die typischen Schmerzen beim Stuhl-
gang, anamnestisch liegt eine Obstipation vor und lokal ist eine Fissur, meist in der posterioren Mittellinie, sichtbar. Blutauflagerungen auf dem Stuhl werden ebenfalls häufig beschrieben. Atypische Lokalisationen multipler Analfissuren oder Analulzera können durch eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, maligne Erkrankung, Tuberkulose oder ein Trauma bedingt sein. Therapie. Bei der akuten Analfissur wird eine Kombination aus Sitzbädern, Laxanzien und Analgetika durchgeführt, um den beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen. Zur Analgesie kann auch lokal ein Lidocain-Gel aufgetragen werden. Andere Therapieoptionen sind vor allem bei chronischen Analfissuren eine topische Therapie mit Nitroglyzerin oder Nifedipin bzw. eine Botulinum-Injektion, für die in Studien eine signifikante Verbesserung der Heilung im Vergleich zu Plazebo gezeigt werden konnte. Lokale Exzisionen bzw. Sphinkterotomien bei chronischen Analfissuren sind nur sehr selten erforderlich.
31.2.3
Hämorrhoiden
Hämorrhoiden sind im Kindesalter extrem selten. Treten sie gelegentlich auf, dann als sog. Analrandthrombosen mit einem thrombosierten Hämorrhoidalknoten. Ursächlich ist meist ein erhöhter Schließmuskeltonus. Allerdings stellt sich oft bei der Untersuchung des Kindes mit Verdacht auf Hämorrhoiden eine Schleimhautektropie oder eventuell ein Analprolaps heraus. Bei echten Hämorrhoiden im Kindesalter sollte auf jeden Fall eine portale Hypertension abgeklärt werden. Die Therapie der Hämorrhoiden besteht in stuhlregulierenden Maßnahmen und eventuell topischen Behandlungen (7 Kap. 31.2.2). Bei akuten, starken Schmerzen aufgrund einer Thrombosierung kann eine Inzision mit Entfernung des Thrombus in Narkose notwendig sein.
31.2.4
Analhaut- und Rektumprolaps
Beim starken Pressen während der Stuhlentleerung kann es bei Kindern durch eine nur lockere Verbindung der Analhaut mit der Muskularis und einem im Vergleich zum Erwachsenen weitgehend geraden Verlauf des Sakrums zu einem Analhautprolaps kommen. In 20% der Fälle kann ein
31
406
Kapitel 31 · Obstipation und erworbene anorektale Erkrankungen
31.2.5
Pathogenese. Bei der inneren Einstülpung kommt es durch die entstehenden Schleimhautfalten und einer eventuellen Rektozele zu einer erheblichen Obstipation mit kompensatorisch erhöhtem Defäkationsdruck und begünstigt somit das Fortschreiten der Erkrankung. Es besteht eine Assoziation des Rektumprolapses bei Kindern mit einer akuten oder chronischen Diarrhö, parasitologischen Erkrankungen und Kuhmilchallergie. Ein Rektumprolaps als Folge einer Bindegewebsschwäche kann bei Kindern mit einem Cutislaxa-Syndrom auftreten.
Diagnostik. Bei der körperlichen Untersuchung sollte neben dem abdominellen Befund eine Inspektion der perianalen Region erfolgen. Eine rektale digitale Untersuchung ist unzuverlässig und daher nicht notwendig. In der Regel erfolgt nach der sonographischen Suche nach freier Flüssigkeit und Begleitverletzungen eine CT-Untersuchung des Abdomens. Meist wird vor der notwendigen Intervention eine Rektosigmoidoskopie durchgeführt. Allerdings wird in bis zu 60% der Fälle ein relevanter Befund übersehen. Bei hämodynamisch instabilen Patienten muss gegebenenfalls eine sofortige Laparotomie erfolgen.
Klinik. Es kommt zu Stuhlinkontinenz, Nässen und Brennen der Analregion und Blutungen. Bei Kindern unter 5 Jahren entsteht ein Rektumprolaps wahrscheinlich analog einer Invagination und ist selbstlimitierend. Rezidiviert der Rektumprolaps und nimmt an Ausmaß zu, ist meist eine Defäkationsstörung mit Pressen gegen den geschlossenen Sphinkter oder eine Bindegewebs- bzw. Beckenbodenschwäche ursächlich. Diese Kinder sind meist älter oder es ging ein operativer Eingriff im Bereich der anorektalen Region, z. B. bei einer Analatresie, voraus.
31
Rektales Trauma
Analprolaps das erste Symptom einer zystischen Fibrose sein, so dass diese in jedem Fall ausgeschlossen werden sollte. Das Austreten der Rektumwand wird in 4 Schweregrade eingeteilt: 4 Grad I: innere Einstülpung 4 Grad II: sichtbarer Prolaps mit spontaner Remission 4 Grad III: sichtbarer Prolaps mit notwendiger manuellen Reposition 4 Grad IV: keine Reposition des Prolaps möglich
Therapie. Selten ist eine Reposition des Prolapses in Narkose notwendig. Zunächst wird eine konservative Therapie durchgeführt, die meist erfolgreich ist. Sie besteht aus stuhlregulierenden Maßnahmen und einem kindgerechten Toilettensitz, um unnötiges Pressen beim Stuhlgang zu verhindern. Bei einem rezidivierenden Rektumprolaps einhergehend mit Schmerzen, rektaler Blutung und analen Hautirritationen besteht die Indikation zur operativen Therapie. Bei Kindern unter 5 Jahren kann durch eine Sklerosierung eine fibrotische Adhäsion zwischen der Mukosa und der Muskulatur erreicht werden und somit der Prolaps verhindert werden. Dies erfolgt in der Regel mit NaCl 15%. Bei älteren Kindern bzw. Kindern mit anderer Ätiologie des Prolapses ist eine Sklerosierung meist nicht erfolgreich. Hier ist bei aller Zurückhaltung oft im Verlauf ein operativer Eingriff notwendig. Dies ist von abdominell oder perineal möglich. Meist wird eine Rektopexie von abdominell, eine Pexie am Os sacrum über einen posterioren sagittalen Zugang oder selten auch eine transanale Durchzugsoperation durchgeführt. Die Rezidivgefahr der operativen Verfahren wird sehr unterschiedlich angegeben und liegt laut Literatur bei 0–60%.
Anorektale Verletzungen sind bei Kindern selten. Zugrunde liegende Unfallmechanismen sind meist stumpfe oder penetrierende Traumata im Rahmen von Verkehrsunfällen. Bei gleichzeitiger Beckenfraktur bestehen oft begleitend Verletzungen des Harntrakts. Es kann zu rektalen Einrissen, Avulsionen oder Perforationen kommen, die extraoder intraperitoneal liegen.
Therapie. Nach erfolgter Diagnostik wird eine Laparotomie
oder Laparoskopie durchgeführt. Nach Beurteilung des Ausmaßes der Verletzung sollte nach der Versorgung einer intraperitonealen Verletzung zum Schutz ein Anus praeter angelegt werden. Bei einem stabilen Patienten, ohne weitere Begleitverletzungen am Becken oder Harntrakt, der innerhalb von 6 h operiert wird kann nach einer primärer Versorgung der Ruptur auf ein Anus praeter verzichtet werden. Auch extraperitoneale Verletzungen heilen meist ohne Anus praeter aus. Eine Zieldrainage und eine antibiotische Therapie sollten allerdings immer durchgeführt werden. In bis zu 25% der Fälle sind postoperative Komplikationen beschrieben. Es können Abszesse auftreten und im Langzeitverlauf kann es zu einer Analstenose oder Stuhlinkontinenz kommen.
Literatur Antao B, Bradley V, Roberts JP, Shawis R (2005) Management of rectal prolaps in children. Dis Colon Rectum 48:1620–1625 Bonnard A, Zamakhshary M (2007) Outcomes and management of rectal injuries in children. Pediatr Surg Int 23:1071–6 Loening-Baucke V (2002). Encopresis. Current Opinion in Pediatrics 14:570–575 Meyer T, Weininger M, Höcht B (2006) Perianale Fisteln und Abszesse im Säuglings- und Kleinkindesalter. Chirurg 77:1027–1032 Nelson R (2007) Non surgical therapy for anal fissure (review). Cochrane Database Syst Rev 4 CD003431 Serour F, Gorenstein A (2006) Characteristics of perianal abscess and fistula-in-ano in healthy children. World J Surg 30:467–472 Serour F, Somekh E, Gorenstein A (2005) Perianal abscess and fistula-inano in infants: a different entity? Dis Colon Rectum 48:359–364 Shah A, Parikh D, Jawaheer G, Goernall P (2005) Persistant rectal prolaps in children: sclerotherapy and surgical management. Pediatr Surg Int 21:270–273
32
32 Invaginationen Z. Zachariou 32.1
Generelle Aspekte – 407
32.3
Rezidivierende Invaginationen – 409
32.1.1 32.1.2 32.1.3
Definition – 407 Pathogenese – 407 Klassifikation – 407
32.3.1 32.3.2 32.3.3
Klinik – 409 Diagnostik – 409 Differenzialdiagnose
32.2
Akute idiopathische Invagination – 408
32.4
Therapie
32.2.1 32.2.2 32.2.3
Klinik – 408 Diagnostik – 408 Differenzialdiagnose
32.4.1 32.4.2 32.4.3
Konservative Therapie – 410 Chirurgische Therapie – 410 Postoperatives Vorgehen – 412
32.5
Prognose – 412
– 409
– 410
– 410
Literatur – 412
> Invaginationen, ca. 1–2 cm lang, können physiologischerweise auftreten, insbesondere im Dünndarm, wenn dieser leer und stark kontrahiert ist. Sie lösen sich meist spontan ohne Folgen auf. Die pathologischen Invaginationen können prinzipiell einerseits in akute idiopathische (bis 90%) und andererseits in rezidivierende Invaginationen unterteilt werden.
32.1
Generelle Aspekte
32.1.1
Definition
Bei der Invagination kommt es zur Einscheidung eines proximalen Darmabschnittes (intussusceptum) in das Lumen des angrenzenden distalen Darms (intussuscipiens), das durch die Peristaltik in anale Richtung befördert wird. Durch die Abschnürung der Mesenterialgefäße an der Invaginationspforte kommt es zu Ödemen, gefolgt von blutiger Transsudation, und schließlich zur Darmnekrose.
32.1.2
Pathogenese
Akute idiopathische Invaginationen entstehen häufig im
Rahmen von Gastroenteritiden bei gesteigerter Motilität des Darms und Schwellung der Peyer-Plaques und/oder mesenterialen Lymphknoten. Eine Adenoviren-Infektion
wurde in diesem Zusammenhang diskutiert. 2001 wurde eine Studie publiziert, bei der eine signifikant höhere Rate an Invaginationen nachzuweisen war in einer Gruppe von Säuglingen, die eine orale Rotavirusimpfung bekommen hatte im Vergleich zu einer altersmäßig korrespondierenden Gruppe (Murphy et al. 2001). Somit ist eine virale Genese möglich. In einer Studie aus Japan wurde sogar eine genetische Prädisposition postuliert. In 7% der untersuchten Gruppe von 564 Patienten waren verwandt bis zum 3. Grad (Oshio et al. 2007). Rezidivierenden Invaginationen dagegen können das Meckel-Divertikel, Darmduplikaturen, Polypen, mesenteriale Lymphome, Tumoren und Zysten zu Grunde liegen. Dieser sog. »pathologic lead point« kommt in bis zu 10% der Fälle vor (Ong u. Beasley 1990). > Das typische Alter für die akute Invagination ist das erste halbe Lebensjahr (bis zu 90% der Fälle). Bei älteren Kindern muss an kongenitalen Fehlbildungen des Gastrointestinaltraktes und an Tumoren gedacht werden.
32.1.3
Klassifikation
Je nach Lokalisation unterscheidet man verschiedene Typen von Invaginationen (. Tab. 32.1).
408
Kapitel 32 · Invaginationen
. Tab. 32.1. Einteilung der Invaginationen nach Lokalisation Bezeichnung
Beschreibung
Entero-enteral
Ileum in Ileum (ileo-ileal), Jejunum in Ileum (jejuno-ileal)
Ileokolisch
Ileum in Colon ascendens ohne Zökum- und Appendixbeteiligung
50%
Ileozökal
Ileum und Ileozökalklappe in Kolon
35%
Kolokolisch
Kolon in Kolon
4%
Ileo-ileokolisch
Ileo-ileale Invagination in Kolon
5%
6%
32.2
Akute idiopathische Invagination
32.2.2
32.2.1
Klinik
Ultraschalluntersuchung (. Abb. 32.1). Heute ist die Sonographie die Methode der Wahl für die Sicherung der Diagnose mit einer Sensitivität von nahezu 100% und eine Spezifität von über 95% (Daneman u. Navarro 2003). Beim Schießscheibenphänomen oder der Kokarde werden die Darmwände quer getroffen, womit die Invagination nicht nur bewiesen, sondern auch die Desinvagination verfolgt werden kann. In Studien versucht man derzeit, sonographische Kriterien festzulegen, wann eine idiopathische Invagination erfolgreich konservativ behandelt werden kann und bei welchen Kriterien eine chirurgische Therapie nötig ist (Fragoso et al. 2007). Aszites sowie eine Länge des Invaginats >3,5 cm sprechen eher für eine chirurgischer Therapie (Munden et al. 2007). Der Stellenwert der Sonographie bei der Invagination hat sich gewandelt, weil diese auch bei der Therapie eingesetzt werden kann (s. unten).
Es sind Prodromalaffektionen sowie Früh- und Spätsymptome zu unterscheiden analog dem zeitlichen Verlauf der Erkrankung: Prodromalaffektionen. Die Prodromalaffektionen – meist eine Gastroenteritis oder Atemwegsinfektionen – sind nicht obligat. Es ist aber wichtig an die Invagination zu denken, wenn diese in der Anamnese vorgekommen waren. Die klassischen Symptome fehlen in ca. 20% der Fälle und die entsprechenden Befunde können in ca. 30% nicht vorhanden sein. Frühsymptome. Die Leitsymptome in diesem Stadium
32
Inzidenz
sind krampfartige, heftige Bauchschmerzen, die aus völligem Wohlbefinden heraus auftreten und sich regelmäßig wiederholen. Der Säugling zieht die Beine an und kann sich zwischen den Spasmen normal verhalten, bis dann Lethargie und Blässe mit Schweißausbrüchen einsetzen. Erbrechen ist häufig, aber in den ersten Stunden selten gallengefärbt. > Der Kardinalbefund bei der klinischen Untersuchung ist das Palpieren eines dolenten Tumors meist im rechten Mittel- oder Oberbauch, der vorhanden sein kann, bevor alle anderen typischen Symptome einsetzen.
Diagnostik
Röntgenuntersuchung (. Abb. 32.2). Die Abdomenleeraufnahme ist auch heute angebracht, insbesondere, wenn die Diagnose nicht sicher ist. Sie zeigt eine Verschattung meist im rechten Mittel- oder Oberbauch, begleitet durch kleine Spiegel bei fast luftleerem Abdomen. Der Kolonkontrasteinlauf zeigt einen sichelförmigen Abbruch des Kontrastmittels am Intussusceptum, das von den Seiten umspült wird. Letztere Untersuchung hat auch einen thera-
Spätsymptome. Meteorismus und manchmal sichtbare pe-
ristaltische Wellen sind Ausdruck eines fortgeschrittenen Ileus. Eine Peritonitis setzt dann ein, die bis zum septischtoxischen Krankheitsbild führen kann. Selten kann bei der rektalen Untersuchung der Invaginatskopf als portioähnlicher Zapfen palpiert werden. ! Cave Das Absetzen von himbeerartigem Schleim oder Blut ist kein regelmäßig auftretender Befund und sehr häufig erst bei der rektalen Untersuchung am Handschuh sichtbar. Dieser Befund ist aber wichtig für den weiteren Verlauf der Therapie.
. Abb. 32.1. Ultraschallbefund einer Invagination. (Aus Puri u. Höllwarth 2006)
409 32.3 · Rezidivierende Invaginationen
. Tab. 32.2. Differenzialdiagnostik der Invagination Differenzialdiagnosen
Ähnliche Symptome
Andere Symptome
Alimentäre Intoxikation
Krampfartige Koliken, Lethargie
Durchfälle
Gastroenteritis
Krampfartige Koliken, Erbrechen
Fieber am Anfang, Durchfälle
Purpura SchönleinHenoch
Koliken, Erbrechen, Blut im Stuhl
Erst nach 5. Lebensjahr
32.3.1
Klinik
Im Vordergrund stehen chronische und therapieresistente Durchfälle, gelegentlich mit Blut im Stuhl. Sie treten meist bei Kindern auf, die das typische Alter für eine Invagination (s. oben) überschritten haben. Es treten unregelmäßig kolikartige Schmerzen insbesondere im Oberbauch auf, gefolgt von Erbrechen. Diese Situation kann Wochen dauern, so dass Zeichen der Malnutrition einsetzen. Auch eine Anämie kann manifest werden. . Abb. 32.2. Röntgenbefund einer Invagination. (Aus Puri u. Höllwarth 2006)
peutischen Effekt, weswegen diese in Form einer Durchleuchtung durchgeführt werden soll (s. unten). Labordiagnostik. Die übliche Labordiagnostik, insbeson-
dere die Evaluation der Elektrolyte, ist notwendig, damit ein Ausgleich erzielt und die Normalsituation rascher erreicht werden kann. Für die Differenzialdiagnose ist die Untersuchung von Differenzialblutbild, CrP, Harnretentionswerten, Leberwerten, Lipase und Urinstatus sinnvoll.
32.2.3
Differenzialdiagnose
Einen Überblick über die möglichen Differenzialdiagnosen gibt . Tab. 32.2.
32.3
Rezidivierende Invaginationen
Diese Form der Invagination ist viel seltener und kann länger bestehen als die akute Form. Ausgangspunkt der Invagination ist hier meist eine vorliegende Fehlbildung am Gastrointestinaltrakt, am häufigsten ein Meckel-Divertikel. Der zentrale Kanal des Invaginats bleibt häufig offen, so dass eine Teilpassage möglich ist. Nur bei der Einklemmung des Invaginats an der Ileozökalklappe kommt es zum Ileus.
32.3.2
Diagnostik
Ultraschalluntersuchung. Auch hier ist die Sonographie
die Untersuchungsmethode der Wahl. Die Kokarde kann sonographisch dargestellt werden, allerdings ist eine Interpretation schwieriger. Die Ultraschalluntersuchung muss hier auch die Beurteilung des gesamten Abdomens beinhalten, wobei auf Tumoren, Duplikaturen, Lymphomen etc. geachtet werden soll. Röntgenuntersuchung. Der Kolonkontrasteinlauf zeigt ty-
pischerweise ein schlaffes, erweitertes Kolon mit einem Flüssigkeits-defekt. Das Kolon kann trotz Weitergabe von Kontrastmittel nicht ganz gefüllt werden. Das Kontrastmittel schiebt sich zwischen Intussuscipiens und Intussusceptum bis zur Ileozökalklappe und täuscht eine Füllung vor. Auch beim Röntgen sollte auf Tumoren geachtet werden. Eine CT-Untersuchung sollte auch in speziellen Fällen in Bertacht gezogen werden, insbesondere bei Verdacht auf Tumoren. Labor- und Zusatzdiagnostik. Die übliche Labordiagnostik mit Entzündungsparametern, Serumelektrolyten, Harnretentionswerten, ggf. auch Leberwerten, Lipase und Urinstatus ist notwendig. Auch spezielle Untersuchungen nach der Akuttherapie sind anzuwenden, z. B. die Szintigraphie zur Detektion eines Meckel-Divertikels, oder Untersuchungen, die ein Tumorgeschehen bestätigen.
32
410
Kapitel 32 · Invaginationen
32.3.3
Differenzialdiagnose
Diese ist identisch mit der akuten idiopathischen Invagination (7 Kap. 32.2.3).
32.4
Therapie
> Die retrograde hydrostatische Desinvagination ist die Therapie der Wahl, wenn keine Zeichen eine Darmnekrose oder Perforation vorliegen.
Sie sollte entweder von einem Kinderradiologen oder einem Kinderchirurgen angewandt werden, wobei das interdisziplinäre Vorgehen die besten Ergebnisse erzielt (bis zu 95%) und eine eventuelle Intervention vereinfacht. Die operative Therapie hat ihren Platz, insbesondere, wenn die konservative Therapie nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat oder eine konservative Therapie nicht angezeigt ist. ! Cave Ausschlusskriterien für die konservative Therapie sind: Peritonitis, Perforation, Invaginationsereignis >12 h, blutiger Stuhl, Schock, Substratnachweis
32.4.1
32
Konservative Therapie
Für die nicht-operative Desinvagination ist eine Sedation nicht immer notwendig. Allerdings ist sie für das Kind und die Eltern angenehmer, und das Ruhigliegen des Kindes erleichtert die Desinvagination. Ein venöser Zugang wie auch eine nasogastrale Sonde sind unumgänglich vor der Therapie. Ein großkalibriger Katheter wird transanal eingeführt und das Reservoir für Kontrastmittel oder Ringerlaktat-Lösung hängt ca. 90–100 cm oberhalb des Patienten. Bei der pneumatischen Desinvagination wird Luft statt Ringerlaktat-Lösung mit einem Druck von ca. 80– 150 mmHg eingeführt. Die Hauptgefahr der konservativen Therapie besteht darin, dass man die anatomischen Substrate, die zur Invagination geführt haben, übersehen kann. Diese können, im Verlauf zu einer Reinvagination führen. Zudem kann eine ödematös geschwollene Ileozökalklappe direkt nach der Desinvagination eine Restinvagination vortäuschen.
an der Ileozökalklappe. Das Wiederholen der Prozedur nach einer kurzen Pause von 5 min bringt meist den gewünschten Erfolg. Der Nachteil dieser Methode ist die hohe Röntgenstrahlung. Hydrostatische Desinvagination mit Ringerlaktat-Lösung.
Ein Druckanstieg kann auch mit warmer Ringerlaktat-Lösung erzielt werden. Der Vorteil ist, dass die Beobachtung sonographisch statt röntgenologisch erfolgen kann. Zudem ist laut Literatur die Perforationsrate geringer da der Druck konstanter als bei der pneumatischen Methode ist (Bai et al. 2006; de-Pozo et al. 1999). Eine erfolgreiche Desinvagination wird dokumentiert, wenn die Ileumschlingen mit Flüssigkeit gefüllt sind. Der Einsatz der Doppler-Sonographie ermöglicht außerdem eine noch genauere Kontrolle der Durchblutungsverhältnisse der Darmwand. Pneumatische Desinvagination. Die pneumatische Desinvagination ist auch möglich, allerdings erfordert sie ebenfalls eine röntgenologische Kontrolle. Manche Studien schreiben dieser Methode eine höhere Erfolgsrate zu als der hydrostatischen Methode (Kaiser et al. 2007; Gorenstein et al. 1998; Kirks 1995). Der Vorteil der pneumatischen Desinvagination ist wiederum, dass die peritoneale Kontamination bei einer eventuellen Perforation deutlich geringer ist als bei der hydrostatischen Methode. Posttherapeutisches Vorgehen. Nach erfolgreicher Desinvagination können die Kinder essen, sobald sie es wünschen. Eine sonographische Untersuchung nach ca. 12 h ist empfohlen und eine stationäre Beobachtung über 24–48 h gerechtfertigt.
32.4.2
Chirurgische Therapie
Die Operation ist notwendig, wenn die o. g. Bedingungen eintreten. Eine symptomatische Behandlung mit Flüssigkeit, evtl. Bluttransfusion und Antibiotika sind präoperativ durchzuführen. Die Operation wird im Normalfall konventionell durchgeführt. Allerdings kann die Laparoskopie im Zusammenhang mit der Invagination sowohl als diagnostisches als auch als therapeutisches Instrument verwendet werden. Desinvagination (. Abb. 32.3). Eine quere rechtseitige
Hydrostatische Desinvagination mit Kontrastmittel. Die
hydrostatische Desinvagination mit Kontrastmittel ist die erst beschriebene Methode der konservativen Therapie der Invagination. Das Kontrastmittel – früher Barium, heute wasserlösliche, isoosmolare Kontrastmittel – wird über einen transanalen Katheter eingeführt. Unter Durchleuchtung und sukzessiver Steigerung des Drucks wird die Desinvagination beobachtet, bis das Kontrastmittel in 2–3 Schlingen des Ileums übertritt. Häufig hängt das Invaginat
oder eine Mittelbauchlaparotomie dient als Zugang. Nach Präparation der verschiedenen Schichten wird die Abdominalhöhle eröffnet. Trübe Flüssigkeit kann Zeichen einer Perforation sein, wonach dann gefahndet werden muss. Nach Palpation des Invaginatskopfes sollte das Invaginat von distal nach proximal ausgemolken werden. Beim Reponieren sollte die Invaginationspforte mit Tüchern unterlegt werden, damit kontaminierte Flüssigkeit vom Zwischenraum Intussuscipiens–Intussusceptum aufgefangen wird.
411 32.4 · Therapie
entsprechend der Basis und des Zustandes des umgebenden Darms entweder als Meckel-Abtragung oder Segmentresektion durchgeführt. ! Cave Verdickte Peyer-Plaques sind keine Indikation für Darmresektion.
Noblische Plikatur. Die Pexie des distalen Ileums an das
Colon ascendens wurde propagiert zur Vermeidung eines Rezidivs. Unseres Erachtens ist dies nicht notwendig, kann aber durchgeführt werden. Appendektomie. Hier gilt das gleiche Prinzip wie bei den anderen Darmabschnitten. Wir führen eine Appendektomie nur durch, wenn die Appendix selbst durch die Invagination betroffen ist. Diagnostische Laparoskopie. In Fällen, wo sowohl die Sonographie als auch die Kontrastmitteldarstellung keine Klarheit verschaffen, z. B. bei eine entero-enteralen Invagination, kann durch die Laparoskopie die Diagnose gestellt und gleich die Desinvagination angeschlossen werden. Weiterhin kann die Laparoskopie eingesetzt werden, wenn eine Desinvagination mit konservativen Mitteln unvollständig bleibt. Meist bleibt in diesen Fällen das Invaginat in der Ileozökalklappe stecken. Therapeutische Laparoskopie. Wenn die konservative The-
. Abb. 32.3. Desinvagination. (Aus Puri u. Höllwarth 2006)
Die Maxime, dass niemals am Darm gezogen werden sollte, kann relativiert werden. Beim Ziehen besteht allerdings die Gefahr, dass das Mesenterium reißt. Der Autor bevorzugt eine Kombination von Ausmassieren bei gleichzeitigem sanftem Ziehen, um die Richtung zu bestimmen. Etwas schwieriger ist die Desinvagination einer ileozökalen Invagination, wo mehr Druck von außen auf das Zökum ausgeübt werden muss. Nach der Desinvagination wird der Darm in warme Tücher eingewickelt und für mindestens 10 min gewartet, um die Vitalität zu überprüfen. Resektion. Eine Resektion von Colon ascendens oder eines Ileumsegmentes mit anschließender Kontinuitätsanastomose ist notwendig, wenn sich diese Darmabschnitte nach der Desinvagination nicht erholen und nekrotisch sind. Eine Ileozökalklappenresektion ist notwendig, wenn eine Desinvagination nicht möglich ist, womit dann das gesamte Invaginat reseziert wird. Diese sollte aber möglichst vermieden werden und, wenn doch notwendig, erst nach maximaler Desinvagination, damit möglichst viel Darm erhalten bleibt. Die Resektion eines Meckel-Divertikels wird
rapie fehlschlägt, kann mit einer Laparoskopie statt einer Laparotomie begonnen werden. Eine unvollständige Desinvagination kann komplettiert und der Darm genauestens inspiziert werden. Eine komplette Desinvagination kann unter Sicht durchgeführt werden und evtl. pathologische Befunde an der Darmoberfläche verifiziert werden. Allerdings wird in der neueren Literatur beschrieben, dass bei Kindern über 3 Jahren die laparoskopische Desinvagination schwieriger gelingt (van der Laan et al. 2001). In einer multizentrischen Studie der GECI (Groupe d’Etude de Coelioscopie Pédiatrique) in Frankreich wurde gezeigt, dass die Erfolgsrate der laparoskopischen Desinvagination größer ist bei Kindern, die im Frühstadium der Erkrankung vorgestellt werden (Bonnard et al. 2008). Insbesondere bei der Laparoskopie, wo die taktile Untersuchung des Darms fehlt, muss nach pathologischen lead-points intensiv gesucht werden. Der erste Trokar wird unter Sicht am Nabel eingeführt, wonach die erste Inspektion stattfinden kann. Die Sicht ist meist eingeschränkt wegen der dilatierten proximalen Schlingen, was manchmal eine Konversion notwendig macht. Zwei weitere Trokare werden im linken Mittel- und Unterbauch platziert, evtl. ein vierte im rechten Mittelbauch. Die Desinvagination geschieht, konträr zu der offenen Operation, nur durch Zug. Mit einer Fasszange wird das Kolon distal des Invaginatskopfs satt gefasst und mit einer anderen der Dünndarm. Vorsichtig und unter Sicht
32
412
Kapitel 32 · Invaginationen
werden die beiden Enden auseinander gezogen. Der Vorteil der Laparoskopie ist, dass eine komplette Desinvagination gesichert und pathologische »lead points« verifiziert werden können.
32.4.3
Postoperatives Vorgehen
Eine parenterale Ernährung ist notwendig bis zur oralen Nahrungsaufnahme, eine Analgesie ist meist angebracht. Die Magensonde sollte bis zum Einsetzen der Darmperistaltik beibehalten werden. Antibiotika können je nach durchgeführter Operation (Resektion, Meckel-Abtragung etc.) prophylaktisch oder therapeutisch gegeben werden.
32.5
Prognose
Gemäß Literatur können Reinvaginationen in bis zu 10% der Fälle auftreten, meist in den ersten 24 h nach primärer Desinvagination. Meist liegt dann ein anatomisches Substrat vor, das einer chirurgischen Therapie bedarf. Die Morbidität ist nahezu Null. Bei ausgedehnten Darm- oder Ileozökalresektionen sollten die Kinder mit Vitamin-B12-Substitution bzw. speziellen Diäten nachbetreut werden.
Literatur
32
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33
33 Appendizitis Z. Zachariou 33.1
Generelle Aspekte – 413
33.4
Therapie
33.1.1 33.1.2 33.1.3
Pathogenese – 413 Klassifikation – 414 Chronisch-rezidivierende Bauchschmerzen
33.2
Symptomatik – 414
33.4.1 33.4.2 33.4.3 33.4.4 33.4.5
Allgemeines – 416 Konservative Therapie – 417 Konventionelle Appendektomie – 417 Laparoskopische Appendektomie – 418 Gelegenheitsappendektomie – 419
33.3
Diagnostik – 414
33.5
Postoperative Therapie
33.3.1 33.3.2 33.3.3 33.3.4 33.3.5 33.3.6 33.3.7
Klinische Untersuchung – 414 Labordiagnostik – 415 Bildgebung – 415 Verlaufsbeobachtung – 415 Diagnostische Laparoskopie – 415 Differenzialdiagnose – 416 Malignität – 416
33.6
Prognose – 420
– 414
> Die Appendizitis ist die häufigste Erkrankung des Gastrointestinaltraktes, unabhängig von Alter und Geschlecht. Die Diagnose ist auch für einen erfahrenen Arzt schwierig, da sich die Appendizitis wie ein Chamäleon unterschiedlich präsentiert. Die Einführung der Sonographie und Computertomographie sowie die Operation mittels laparoskopischer Technik haben zu einem Wandel der Therapie entscheidend beigetragen. Die Therapie der Appendizitis ist nicht immer die Operation und sicherlich nicht die Notfalloperation, die meist von weniger erfahrenen Assistenten und häufig unter schlechteren Bedingungen durchgeführt wird. Erfahrene Kinderchirurgen wissen, dass die indizierte, notfallmäßig durchgeführte Appendektomie anspruchsvoller als eine geplante Operation sein kann. Heutzutage hat die Laparoskopie in den chirurgischen Alltag Einzug gehalten, allerdings sollte die Verfügbarkeit des laparoskopischen Vorgehens die Indikationsstellung, insbesondere bei der Appendizitis, nicht ändern. Die Arbeit von der Gruppe um Gagné, die in Kanada durchgeführt wurde, zeigt, dass heutzutage in einem Industrialisierten Land die negative Appendektomierate (d. h. histologisch keine Appendizitis) 5,4% betrugt, eine Perforation bei 16% der Fälle vorlag und dass die laparoskopische Appendektomie in 35% der Fälle zum Einsatz kam (Gagné et al. 2007). Die Prognose der Appendizitis hat sich dank der parenteralen Ernährung und der Antibiotikatherapie gebessert und zu einer Reduktion der schweren Verläufe der Appendizitis geführt.
– 416
– 420
Literatur – 420
33.1
Generelle Aspekte
33.1.1
Pathogenese
Die Appendizitis ist eine Entzündung einer oder aller Schichten der Appendix vermiformis. Die Appendix vermiformis befindet sich am Ende des Zökums an der Konfluenz der Tänien des Kolons. In ca. 30% der Fälle liegt die Appendix frei in die Bauchhöhle, in 65% liegt sie retrozökal und in 5% subserös in der Zökalwand. Die Appendix ist zum einen ein lymphatisches Organ, das bei Infektionskrankheiten (Masern, Scharlach, Tonsillitiden, Gastroenteritiden) mit involviert sein kann. Zum anderen sind Stenose bzw. Obturation des Appendixlumens mögliche auslösende Faktoren für eine Appendizitis. Gefangene Kotsteine oder Fremdkörper in diesem Blindsack sowie Kompression von außen führen zur Appendixlumeneinengungen mit Schleimretention und bakterieller Überwucherung. Gram-negative Bakterien oder Anaerobier sind in der Regel diejenigen Erreger, die durch Mukosaläsionen in die Darmwand eindringen und den Infekt verursachen. Auch Oxyuren im Lumen führen häufig zu chronischen Schmerzen. Obwohl die genaue Pathogenese der Appendizitis nicht geklärt ist, geht man davon aus, dass es nach einer Infektion zu einer Schwellung der in der Appendix reichlich vorhandenen Lymphfollikel kommt. In der Folge schwillt auch die
414
Kapitel 33 · Appendizitis
gesamte Mukosa an, wobei sich das Organ wegen seiner anatomischen Position nicht ausdehnen kann. Die Schwellung breitet sich in die anderen Appendixschichten aus und die Durchblutung des Organs wird somit gedrosselt. Die minderperfundierte Darmwand wird nekrotisch. > Der Häufigkeitsgipfel liegt zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr. Bei jüngeren Kindern kann die Symptomatik uncharakteristisch sein; insbesondere kann es schneller zu einer Perforation kommen.
Seltene Erkrankungen der Appendix sind die Mukozele mit Schleimretention nach Obliteration des Lumens und das Karzinoid, das als Zufallsbefund an der Spitze der Appendix zu finden ist. Eine Appendektomie reicht in diesen Fällen aus. Beim Adenokarzinom ist eine Hemikolektomie rechts erforderlich (7 Kap. 45).
33.1.2
Klassifikation
Histologische Kriterien liefern die zuverlässigste Klassifikation. Man unterscheidet je nach Progredienz der Erkrankung eine katarrhalische, hämorrhagische, fibrinös-eitrige, phlegmonöse und gangränöse Appendizitis. Klinisch präoperativ wird die Appendizitis in subakut, akut und chronisch unterteilt, wobei diese Klassifikation sehr subjektiv sein kann und im Endeffekt weniger wichtig ist. Klinisch postoperativ wird die Appendizitis in perforierte und nicht perforierte unterteilt und es wird zwischen einer regionalen und einer generalisierten Peritonitis unterschieden. Diese Klassifikation ist für die Gesamttherapie und Prognose relevant.
33.1.3
Mit der Verbesserung der diagnostischen Methoden werden Bauchschmerzen mit pathologischen Organbefunden öfters diagnostiziert. Auch die Laparoskopie hat als diagnostisches Mittel dazu beigetragen.
33.2
Meist ist das erste Symptom bei der Appendizitis Unwohlsein, Appetitlosigkeit und ein nicht definierter dumpfer Bauchschmerz. Übelkeit kommt häufig vor, gefolgt von einmaligem Erbrechen. Später wandern die Schmerzen in Richtung rechten Unterbauch, typischerweise über dem McBurney-Punkt, wo sie später lokalisiert sind, und nehmen an Intensität zu. Das Punctum maximum der Schmerzen ist aber abhängig von der Appendixlage, die stark variieren kann. Das Fieber kommt nur gelegentlich am Anfang vor, ist aber bei der manifesten Erkrankung obligat. Ein Temperaturunterschied zwischen axillär und rektal feststellen lässt sich nicht immer feststellen, wobei der rektale Wert um 0,5–1°C höher liegt. Die Kinder haben eine Schonhaltung, da sogar Erschütterungen Schmerzen verursachen, und möchten lieber mit angezogenen Beinen im Bett liegen. Jetzt sind auch verschiedene Untersuchungen (s. unten) positiv. ! Cave Kommt es nach Zunahme der Schmerzen zu einer plötzlichen »Erleichterung« mit anschließendem progredienten Meteorismus und Peritonitis, geht man davon aus, dass eine Perforation stattgefunden hat. Diese Zeitspanne, auch als freies Intervall bezeichnet, führt oft zu einer Fehldiagnose.
Chronisch-rezidivierende Bauchschmerzen 33.3
33
Symptomatik
Über rezidivierende Bauchschmerzen klagen viele Kinder. Man spricht von chronischen Schmerzen, wenn diese länger als 3 Monate andauern. Differenzialdiagnostisch muss zwischen den funktionellen Bauchschmerzen und denen mit pathologischen Organbefunden unterschieden werden. Bei funktionellen Bauchschmerzen besteht oft ein Leidensdruck mit Problemen in der Familie oder in der Schule. Meist handelt es sich um Kinder mit normaler körperlicher Entwicklung im Schul- oder Pubertätsalter, die keine genauen Angaben über Ihre Schmerzen machen können. Häufig treten diese Schmerzen morgens periumbilikal auf und sind mit Übelkeit und Erbrechen verbunden. Die Therapie der funktionellen Bauchschmerzen besteht in der Beseitigung der Belastungs- bzw. Konfliktsituationen oder mindestens der Besprechung derselben, wenn nötig auch mit Hilfe eines Kinderpsychologen. Leider, auch eine Appendektomie bringt nicht den gewünschten Erfolg von funktionellen Bauchschmerzen.
Diagnostik
> Die Diagnose einer Appendizitis ist trotz bildgebender und Labordiagnostik stets eine klinische Diagnose. Es werden keine Bilder oder Laborparameter operiert/therapiert, sondern Patienten.
33.3.1
Klinische Untersuchung
Insbesondere bei Kleinkindern ist die Untersuchungstechnik sehr wichtig. Gesichtsausdruck und Körperhaltung sagen einiges über das Ergehen der Kinder aus. Beim Ein- und Ausatmen sind die Bauchdecken entspannt. Entweder fordert man das Kind auf, flach zu atmen, oder man wartet auf diesen Moment, um objektiv zu untersuchen. Die Untersuchung beginnt stets mit einem leichten Beklopfen der Bauchdecken. Klopfdolenz in Folge peritonealer Reizung findet sich meist im rechten Unterbauch. Man geht zum
415 33.3 · Diagnostik
linken Oberbauch, wo Schmerzen am wenigsten zu erwarten sind, und beginnt die Bauchdecken in allen vier Quadranten einzudrücken. Druckdolenz findet sich beim McBurney- (rechtes ⅓ der Linie rechte Spina iliaca anterior und Nabel) und Lanz-Punkt (rechtes ⅓ der Linie zwischen den beiden Spinae iliacae anteriores). Das progrediente Drücken der Bauchdecken kann zunächst auch ohne Schmerzauslösung vor sich gehen. Beim plötzlichen Loslassen verspürt der Patient einen Schmerz direkt über der Entzündungsstelle. Der kontralaterale Loslassschmerz wird induziert dadurch, dass der Patient, wenn die Bauchdecken links eingedrückt und dann plötz-
lich losgelassen werden, den Schmerz im rechten Unterbauch verspürt. Défence (Abwehrspannung) kann je nach Stadium lokalisiert oder generalisiert sein. Das Psoas-Zeichen, bei dem der Patient aufgefordert wird, das Bein gestreckt gegen den Widerstand des Arztes hochzuheben, kann ein Hinweis auf eine retrozökal gelegene Appendix sein. Die Auskultation des Abdomens kann sowohl lebhafte, als auch normale oder spärliche Geräusche ergeben. Der Douglas-Schmerz kann bei der rektalen Untersuchung ausgelöst werden, ist allerdings bei Kindern problematisch, da diese bei der rektalen Untersuchung oft per se Schmerzen angeben.
33.3.2
Labordiagnostik
Typisch bei der Appendizitis ist der Verlauf der Leukozytose, die analog zum Befund ansteigt. Beim perityphlitischen Abszess kann die Leukozytenzahl sinken, da sich die Leukozyten im Abszess konzentrieren. Die CRP-Erhöhung kann vorhanden sein, ist vorhanden aber unspezifisch. Eine Linksverschiebung dagegen zeigt eine Abgrenzung zu viral verursachten Erkrankungen. Die Urinuntersuchung ist obligat, um Nierenerkrankungen auszuschließen. Eine Leukozyturie kann jedoch auch einmal bei einer akuten Appendizitis vorliegen, wenn die Appendix der Harnblase oder einem Ureter direkt anliegt.
33.3.3
Bildgebung
Ultraschalluntersuchung. Die Sonographie des Abdo-
mens kann beim klinischen Verdacht einer akuten Appendizitis ergänzend angeschlossen werden. Mit entsprechender Erfahrung des Untersuchers kann die Appendix dargestellt werden. Eine Kokarde, die Nichtkomprimierbarkeit, ein echoarmes Lumen oder einen Durchmesser von über 8 mm entsprechen einer entzündeten Appendix. Das Nichtdarstellen einer Appendix ist jedoch kein Beweis, dass diese gesund ist. Die Sensitivität und Spezifität dieser Untersuchung liegen bei 85% bzw. 92% (Orr et al. 1995; Manner u. Stickel 2007; Pinto et al. 2005). Vorteile dieser Methode sind die Nichtinvasivität, die fehlende Strahlen-
belastung, die schnelle Verfügbarkeit und die relativ niedrigen Kosten. Die sonographische Darstellung eines perityphlitischen Abszesses ist hilfreich für das weitere Prozedere. Bei Mädchen ist die Untersuchung der Ovarien essenziell, da Ovarialpathologien eine Appendizitis vortäuschen können. Indirekte Zeichen einer Appendizitis sind freie Flüssigkeit im Abdomen, geschwollene Lymphknoten am Mesenterium, perizökales Ödem und unklare Raumforderung im rechten Unterbauch. Heutzutage ist die Sonographie bei der Diagnostik der Appendizitis unumgänglich und bildet einen Baustein zur exakteren Indikationsstellung der Appendektomie. Computertomographie. Die Computertomographie stellt,
mit ihrer hohen Sensitivität (98%) und auch Spezifität (98%), eine Alternative in unklaren Fällen dar, ist jedoch keine Routineuntersuchung (Rao et al. 1999). Nach i.v. und oraler Kontrastmittelgabe wird eine Dünnschicht-CT des Unterbauchs durchgeführt. Die große Domäne der CT-Untersuchung ist der Diagnose eines Abszesses vorbehalten, der dann auch CT-gesteuert drainiert werden kann. Nachteile dieser Untersuchungsmethode sind hohe Strahlenbelastung, erhebliche Kosten, das Risiko einer allergischen Reaktion auf das i.v. applizierte Kontrastmittel und hoher Zeitaufwand. Rao et al. berichten über eine negativen Appendektomierate von 7% durch CT-Diagnostik bei 59% ihrer Patienten (Rao et al. 1999). Antevil et al. fand in seine Serie eine negativen Appendektomierate mit und ohne vorangegangene CT-Diagnostik von 16% (Antevil et al. 2004). Durch eine weitere Studie konnte diese Gruppe aber zeigen, dass die negative Appendektomierate signifikant auf 4% zu reduzieren war, nachdem die CT-Diagnostik gezielt nach chirurgischer Evaluation eingesetzt wurde Antevil et al. 2006).
33.3.4
Verlaufsbeobachtung
In unklaren Fällen ist durchaus eine Verlaufsbeobachtung gerechtfertigt. Die Patienten werden aufgenommen und engmaschig klinisch und laborchemisch überwacht. In ca. 30% der Fälle verschwinden die Symptome und Beschwerden im Verlauf. Dadurch kann die negative Appendektomierate auf 6% gesenkt werden (Jones 2001).
33.3.5
Diagnostische Laparoskopie
> Bei unklaren Befunden ist eine diagnostische Laparoskopie mit evtl. Appendektomie gerechtfertigt, im Vergleich zu der wesentlich höheren Morbidität einer verschleppten oder gar perforierten Appendizitis.
Die Laparoskopie mit einem Trokar kann Klarheit verschaffen. Ist eine Appendizitis diagnostiziert, kann die Therapie
33
416
Kapitel 33 · Appendizitis
angeschlossen werden, ansonsten kann diagnostisch nach einer anderen Pathologie gesucht werden. Insbesondere bei jungen Mädchen in der Pubertät, die eine größere Anzahl an Differenzialdiagnosen mit sich bringt, kann die diagnostische Laparoskopie erheblich zur Senkung der negativen Appendektomie beitragen (Moberg et al. 1998). Beispielsweise sollte eine diagnostische Laparoskopie durchgeführt werden, wenn es nach einer Verlaufsbeobachtung zu keiner Besserung gekommen ist. Es ist aber wichtig, die Eltern darauf hinzuweisen, dass es sich um einen chirurgischen Eingriff mit den entsprechenden Risiken (Morbidität 5%) handelt. Anderseits stellt sich die Frage, ob man während einer diagnostischen Laparoskopie wegen Verdachts auf akute Appendizitis eine makroskopisch blande Appendix entfernen sollte. Gründe für eine Appendektomie wären z. B. die neurogene Appendikopathie, die laut Literatur bei bis zu 53% der Fälle histologisch nachgewiesen werden kann und bei der eine Symptombesserung nach Appendektomie eintritt (Güller et al. 2001), oder die sog. Innenschichtappendizitis, bei der nur die Mukosa betroffen ist und von außen die Entzündung nicht sichtbar ist. Der Autor hat hingegen in einer prospektiven Studie gezeigt, dass die Appendix belassen werden kann, wenn sie nicht entzündet ist. Wichtig dabei ist die Aufklärung der Eltern und des Kindes, dass in der Zukunft eine Appendizitis trotzdem möglich ist. Diese Befunde wurden auch in einer Studie aus Holland bestätigt, bei der die Patienten nach in situ belassener makroskopisch unauffälliger Appendix 4 Jahren lang beobachtet wurden. Nur in 1% der Fälle entwickelte sich eine Appendizitis, was dem normalen Life-time-Risiko entspricht. 90% der Patienten waren nach 4 Jahren beschwerdefrei (Van den Broek et al. 2001).
33
> Somit wird empfohlen, eine blande Appendix in situ zu belassen, wenn eine andere Ursache für die Beschwerden gefunden wird. Wenn dagegen keine pathologischen Befunde während der Laparoskopie zu finden sind, sollte eine Gelegenheitsappendektomie durchgeführt werden (Deutsch et al. 1983; Delanay u. O’Connell 1999).
33.3.6
Differenzialdiagnose
Die differenzialdiagnostische Palette bei der Appendizitis ist vielfältig. Beim Kind ist die akute Gastroenteritis oder Lymphadenitis mesenterialis an erster Stelle zu nennen, gefolgt von chronisch-rezidivierenden Bauchschmerzen. Azetonämisches Erbrechen nach entsprechenden Krankheiten kann sich als Appendizitis maskieren. Beim Kleinkind kann eine basale Pneumonie oder Pleuritis mit typischen Appendizitisschmerzen einhergehen. Ebenso sind bei diesen Kindern eine inkarzerierte Inguinalhernie, ein Volvulus und eine Invagination auszuschließen. Nierenerkrankungen können auch zu einer Fehldiagnose führen,
genauso wie Tumoren. Bei pubertierenden Mädchen kommen gynäkologische Affektionen, am häufigsten Ovarialpathologien, in Frage. Auch Systemerkrankungen wie z. B. die Purpura Schönlein-Henoch können als Appendizitis fehlinterpretiert werden. Die chronischen Darmerkrankungen wie M. Crohn oder Colitis ulcerosa spielen im Kindesalter eine geringere Rolle.
33.3.7
Malignität
Erst bei der Appendektomie, intraoperativ oder postoperativ am histologischen Präparat werden Neoplasien der Appendix diagnostiziert. Am häufigsten handelt es sich um Karzinoide oder Adenokarzinome, seltener um Lymphome oder gastrointestinale Stromatumoren (GIST). In 0,3–0,9% der Appendektomiepräparate werden Karzinoide gefunden, wobei kleine Karzinoide (<2 cm) selten metastasieren, so dass die Appendektomie eine adäquate Therapie darstellt. Hingegen sollten größere Tumoren durch eine Hemikolektomie rechts behandelt werden (Murphy et al. 2006). Adenokarzinome werden häufig in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert und weisen bereits eine peritoneale Aussaat auf. Die Therapie dieser Tumoren ist komplex und interdisziplinär und wird im 7 Kap. 45 erläutert.
33.4
Therapie
33.4.1
Allgemeines
Prinzipiell bleibt die Therapie der akuten Appendizitis nach wie vor die Appendektomie. Die Frage, die sich in letzter Zeit stellt ist, ob bei akuter Appendizitis immer noch eine notfallmäßige Operation nötig ist. 2004 publizierte Yardeni eine Arbeit, in der postuliert wird, dass man bei der nicht perforierten Appendizitis die Operation auf Tageszeiten verschieben kann, ohne dass die Perforationsrate steigt (Yardeni et al. 2004). Folgestudien andere Autoren schlussfolgern auch, dass die Operation um 24–36 h ohne eine Erhöhung des Perforationsrisikos verschoben werden kann (Bickell et al. 2006; Abou-Nukta et al. 2006). Eine Analyse von Ditillo et al., die über 1000 Patienten mit akuter Appendizitis einschloss, zeigte eine klare Korrelation zwischen pathologischem Schweregrad der Appendizitis und dem Zeitintervall zwischen Symptombeginn und chirurgischer Behandlung (Ditillo et al. 2006). Gleichzeitig korreliert die Zunahme der perioperativen Komplikationen und die Dauer des Klinikaufenthaltes mit der Ausprägung der Entzündung (Ditillo et al. 2006). Der Autor teilt nicht die Ansicht, dass eine Appendizitis nach 24.00 Uhr nicht operiert werden muss. Lautet die Diagnose, insbesondere nach einer Beobachtungszeit, akute Appendizitis, so steht auch die Indikation zur Operation. Für die Wahl des Operationszeitpunktes ist ausschließlich
417 33.4 · Therapie
die Dauer der Symptome und der klinische Zustand des Kindes maßgebend und nicht der Zeitpunkt seiner Hospitalisation. Auch wenn mit den heutigen Mitteln eine perforierte Appendix gut zu behandeln ist, bleibt die Morbidität bei der perforierten Appendizitis hoch.
33.4.2
Konservative Therapie
Parenterale Flüssigkeitszufuhr, Nahrungskarenz und Bettruhe stellen die konservativen Maßnahmen dar, die bei einer subakuten oder beginnenden Appendizitis eingeleitet werden. Eine Überwachung mit erneuter Evaluation nach einigen Stunden ist absolut notwendig. In der Literatur wird auch im Zusammenhang mit der konservativen Therapie die Frage aufgeworfen, ob eine akute Appendizitis konservativ mit Antibiotika behandelt werden kann. In eine schwedischen Studie von 2006 wurden 250 Männer mit der Verdachtsdiagnose einer Appendicitis acuta randomisiert (Styrud et al. 2006). Die eine Gruppe erhielt i.v. Antibiotika für 2 Tage, gefolgt von p.o. Therapie für 10 Tage. Alle Patienten der zweiten Gruppe wurden appendektomiert. In der Gruppe 1 mussten 12% innerhalb der ersten 24 h und weitere 15% in den folgenden Monaten operiert werden. Somit hat die konservative Therapie einer akuten Appendizitis bis heute keinen Stellenwert im klinischen Alltag. Das lokalisierte perityphlitische Infiltrat beim stabilen Patienten stellt die Indikation für eine Sonderform der konservativen Therapie bei der Appendizitis. Antibiotikagabe und parenterale Ernährung unter strenger klinischer Kontrolle sind die Therapie bis zur Rückbildung des Infiltrats. Danach erfolgt die Intervalllappendektomie. Ein in dieser Zeit entwickelter perityphlitischer Abszess wird zusätzlich mit einer Drainage versorgt, gefolgt von einer Intervalllappendektomie.
33.4.3
Konventionelle Appendektomie
Pararektalschnitt (. Abb. 33.1). Dieser Zugang ist bei unsicherer Diagnose oder fortgeschrittener Appendizitis zu empfehlen, weil er besser erweiterungsfähig ist. Es wird ein Hautschnitt pararektal rechts durchgeführt und bis zum vorderen Blatt der Rektusscheide präpariert. Die Rektusscheide wird eröffnet und die Rektusmuskulatur nach medial verschoben. Die hintere Rektusscheide wird zusammen mit dem Peritoneum durchtrennt. Das Zökum wird aufgesucht und im Verlauf seiner freien Tänie zeigt sich die Basis der Appendix. Wenn möglich, sollte das Zökum nicht ganz vor die Wunde luxiert werden, um Zug- und Druckschäden zu vermeiden. Die Appendixspitze wird angeklemmt und das Mesenteriolum skelettiert. Eine lockere Tabaksbeutelnaht wird um die Appendixbasis gesetzt, bevor die Appen-
. Abb. 33.1. Konventionelle Appendektomie. (Aus Puri u. Höllwarth 2006)
dix zwischen 2 Ligaturen an der Basis abgetragen wird. Es folgt die Versenkung des Appendixstumpfes unter die Tabaksbeutelnaht und die Sicherung durch eine Z-Naht darüber. Eine Einengung der Ileozökalklappe muss vermieden werden. Der Verschluss erfolgt in allen Schichten. Wechselschnitt. Hierbei erfolgt ein querer Hautschnitt über dem McBurney-Punkt, möglichst nach distal gezogen. Nach Inzision der M.-obliquus-externus-Aponeurose werden seine Fasern im Verlauf stumpf gespalten. Die darunterliegenden Muskeln, M. obliquus internus und transversus, werden ebenfalls stumpf gespalten und die Fascia transversalis mit dem Peritoneum eröffnet. Die Appendektomie erfolgt in gleicher Weise wie oben beschrieben. Der Verschluss erfolgt in allen Schichten. Retrograde Appendektomie. Ist die Appendixspitze retrozökal oder gar subserös, kann man die Präparation von der Basis aus beginnen. Das Zökum muss ausgiebig mobilisiert und die Appendixbasis aufgesucht und unterfahren werden. Nach Ligatur wird die Basis durchtrennt und die Appendix in Richtung Spitze präpariert und reseziert. Abzedierend Konglomerattumor. Eine Perforation wird meist von einer Netzkappe abgedeckt. Benachbarte Strukturen wie die distalen Ileumschlingen, Sigma, Ovar und Bauchdecke kleben zusätzlich am Zökum, wodurch sich ein Konglomerattumor bildet. In diesem Tumor entwickelt sich ein perityphlitischer Abszess, der manchmal sogar An-
33
418
Kapitel 33 · Appendizitis
schluss an die Bauchhöhle findet mit einer generalisierten Peritonitis. Die Appendektomie sollte auch in diesem fortgeschrittenen Stadium angestrebt werden, es sei denn, dass die Appendix innerhalb des Tumors nicht mehr identifizierbar ist. Eine Drainage und eine Intervalllappendektomie sind angebracht. Wurde diese Situation bereits diagnostiziert, sollte eine konservative Therapie (s. oben) durchgeführt werden. Meckel-Divertikel. Die Revision des Dünndarms bis zu ca. 60 cm oralwärts der Ileozökalklappe wird unterschiedlich diskutiert. Der Autor ist der Meinung, dass eine Exploration stets indiziert ist. Wichtig dabei ist, dass man die Darmschlingen vorsichtig anfasst und nicht ziehen darf, um Serosadefekte zu vermeiden, die später Probleme bereiten können, insbesondere nach einer abszedierenden Appendizitis. Das Meckel-Divertikel wird ggf. reseziert. Drainage der Bauchhöhle. Ist eine lokale oder generalisier-
te Abszedierung vorhanden oder ist die Stumpfversorgung unsicher, dann ist nach ausgiebiger Spülung mit physiologischer NaCl-Lösung eine Drainage indiziert. Intraoperative Komplikationen. Meist liegt ein zu kleiner
Zugang zu Grunde, der erweitert werden muss. Findet sich eine andere Ursache, wie z. B. Darmperforation, Volvulus etc., sollte der Schnitt sicher verschlossen und eine Mittelbauchlaparotomie durchgeführt werden. Betrifft die Nekrose auch das Zökum, muss eine Keilexzision der Zökalwand durchgeführt werden unter Erhaltung der Ileozökalklappe. Postoperative Komplikationen. Postoperative Komplikati-
33
onen, an erster Stelle Wundheilungsstörungen gefolgt von intraabdominellen Abszessen und Adhäsionen, kommen nur bei 3% der unkomplizierten Appendektomien vor, dagegen bei Perforationen bis zu 40%. Bauchdeckenrevisionen können erforderlich werden bei subkutanen Abszessen. Primär können intraabdominelle Abszesse mit Antibiotika unter stationären Bedingungen behandelt werden. Falls eine Verschlechterung eintritt, ist eine Relaparotomie mit Spülung und Drainage notwendig.
33.4.4
Laparoskopische Appendektomie
Inzwischen ist die laparoskopische Appendektomie die am häufigsten durchgeführte minimalinvasive Prozedur im Kindesalter und gleichzeitig die Einstiegsoperation für die laparoskopische Ausbildung, obwohl sich insgesamt die laparoskopische Appendektomie nicht wie die laparoskopische Cholezystektomie als Methode der Wahl durchsetzen konnte. Eine Analyse aus Kanada zeigte, dass die laparoskopische Appendektomie nur in 35% der Fälle durchgeführt wurde (Gagné et al. 2007). Inzwischen wurden
mehrere randomisierte Studien und Metaanalysen zum Vergleich beide Techniken veröffentlicht, ohne dass eindeutig eine Technik favorisiert werden konnte (Katkhouda et al. 2005; Sauerland et al. 2004). Operationstechnik (. Abb. 33.2). Neben dem meist 5-mm-
Trokar für die Optik benötigt es 2 weitere 5-mm-Trokare für die Instrumente sowie 2 Endoloops oder alternativ ein 5-mm- und ein 10-mm-Trokar, wenn ein Stapler verwendet wird. Die Arbeitstrokare werden nach der Inspektion des Abdomens an geeigneten Stellen platziert, meist im linken Unterbauch und am McBurney-Punkt, Variationen sind jedoch möglich. Die Inspektion des Abdomens und das Aufsuchen der Appendix zur Bestätigung der Diagnose sind obligat, ansonsten muss nach einer anderen Ursache der Bauchschmerzen gesucht werden. Falls Eiter im Abdomen zu finden ist, sollte erst dieser abgesaugt werden, bevor die Präparation stattfindet. Danach wird die Appendix an einer gesunden Stelle angefasst und mobilisiert. Das Mesenteriolum und die Gefäße werden gestreckt und entweder mittels bipolarer Koagulation oder mit dem Ultracision durchtrennt. Die Präparation wird bis zur Appendixbasis fortgeführt, wobei die Gefäße an der Basis noch erhalten bleiben. Die Appendix wird dann mit 2 Ligaturen (Endoloop) versorgt und reseziert. Alternativ kann sowohl das Mesenteriolum als auch die Appendix in einem Schritt mit einem Endostapler reseziert werden. Die meisten Appendizes können durch einen 10-mm-Trokar entfernt werden, alternativ kann ein Endobag verwendet werden. Laparoskopisch assistierte Appendektomie. Diese ist
möglich, indem die Appendix laparoskopisch aufgesucht und, falls das Zökum mobil genug ist, diese aus der Trokarinzision exteriorisiert wird. Dann können die Präparation des Mesenteriolums sowie das Absetzen der Appendix konventionell stattfinden. Retrograde Appendektomie. Bei retrozökaler Lage der Appendix kann diese laparoskopisch retrograd entfernt werden. Die Appendix wird nicht von der Spitze, sondern von der durchtrennten Basis gestreckt. Findet sich ein Fäkolith in der freien Bauchhöhle, sollte dieser gesucht und entfernt werden. Intraoperative Komplikationen. Häufig führen schlecht
platzierte Trokare zu intraoperativen Problemen, deswegen sollten diese erst nach der Inspektion platziert werden. Die Darstellung der Appendix kann schwierig sein. Die Verwendung eines zusätzlichen Trokars kann durch Traktion zu einer besseren Exposition führen. Blutungen sind laparoskopisch schwieriger zu beherrschen als in der konventionellen Chirurgie. Sie sind aber laparoskopisch einfacher zu vermeiden, wenn man die durch die Vergrößerung besser sichtbaren Gefäßen gut und sicher koaguliert.
419 33.4 · Therapie
a
b
. Abb. 33.2a, b. Laparoskopische Appendektomie. (Aus Puri u. Höllwarth 2006)
> Konversion ist keine Komplikation, sondern eine Notwendigkeit, wenn die Sicht, aber vor allem die Übersicht verloren geht.
Postoperative Komplikationen. Prinzipiell sind die postoperativen Komplikationen gleich wie bei der offenen Appendektomie. Neuere Studien aber zeigen, dass Wundinfekte nach laparoskopischer Appendektomie in geringerem Masse als nach offener Appendektomie aufgetreten sind, intraabdominelle Abszesse zeigten sich hingegen häufiger nach laparoskopischer Operation (Katkhouda et al. 2005; Sauerland et al. 2004). Wertung der laparoskopischen Appendektomie. Nach einer laparoskopischen Appendektomie wurden geringere postoperative Schmerzen sowie kürzere Hospitalisationsdauer erwartet. 2005 wurde von Katkhouda et al. eine doppel-geblindete randomisierte Studie publiziert, die gezeigt hat, dass es bezüglich allgemeiner Komplikationen und postoperativer infektiöser Komplikationen keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Methoden gab. Auch die postoperativen Schmerzen und die Dauer des Klinikaufenthaltes unterschieden sich kaum. Deutliche Vor-
teile dieser Methode sind das bessere kosmetische Resultat und die Möglichkeit der Diagnostik (Katkhouda et al. 2005). Die Wahl des operativen Verfahrens sollte auf der Erfahrung des Chirurgen mit der jeweiligen Technik basieren. Speziell bei Verdacht auf Appendizitis mit unklarer Klinik sieht der Autor in der Laparoskopie aufgrund des diagnostischen Stellenwerts einen Vorteil.
33.4.5
Gelegenheitsappendektomie
Die Gelegenheitsappendektomie ist eine relative Kontraindikation, wenn bei einer Operation ansonsten der Darm nicht eröffnet wird. Eine normale Appendix sollte nicht grundlos entfernt werden, insbesondere weil sich heute die Methoden der Detektion der Appendizitis erheblich gebessert haben. Die Laparoskopie hat in diesem Zusammenhang eine Sensitivität von nahezu 100%. Falls trotzdem eine Gelegenheitsappendektomie durchgeführt werden soll, schlägt der Autor eine neue Methode vor. Die normale Appendix wird gestreckt und die Gefäße im Mesenteriolum durchtrennt. Mit einer Knopfsonde wird die Appendix im Zökum invaginiert und mit einer Tabak-
33
420
Kapitel 33 · Appendizitis
beutelnaht am Übergang zum Zökum verschlossen. Nach einigen Tagen fällt die Appendix ab, ohne dass der Darm bei der Operation eröffnet wurde.
33.5
Postoperative Therapie
Bei der einfachen Appendektomie bedarf es keiner Magensonde; die Nahrungsaufnahme beginnt innerhalb der ersten 24 h. Die Antibiose wird nach 2 Dosen gestoppt. Eine adäquate Schmerztherapie ist indiziert. Bei der komplizierten Appendektomie hängt die Dauer der Ableitung des Magens und des Nahrungsaufbaus vom Grad der Peritonitis und der Darmparalyse ab. Parenterale Flüssigkeitszufuhr ist meist in den ersten 24 h notwendig, außerdem bedarf es einer antibiotischen Therapie.
33.6
Prognose
Trotz der relativ hohen Perforationsrate insbesondere bei kleinen Kindern (50% im 2. bis 3. Lebensjahr, 25% im 3. bis 5. Lebensjahr und 10% danach) ist die Prognose der Appendizitis gut. Problematisch ist die Morbidität nach negativen Appendektomien, die mindestens vor der Ära der Laparoskopie in bis zu 40% beschrieben wurden. Bridenbildung und Adhäsionsileus kommen in ca. 1:200 Fällen vor, insbesondere bei den komplizierten Appendizitiden. Bei Mädchen kann eine perforierte Appendizitis mit eitriger Unterbauchperitonitis durch Verklebung der Tuben auch einmal Ursache für einen später nicht erfüllten Kinderwunsch sein.
Literatur
33
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34
34 Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen T. Lang, B. Ure, M. Melter
34.1
Epidemiologie – 421
34.1.1 34.1.2
Prävalenz und Inzidenz Familiarität – 421
– 421
34.2
Klinik
34.2.1 34.2.2
Intestinale Manifestationsformen – 422 Extraintestinale Manifestationen – 424
– 422
34.3
Diagnostik – 427
34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4
Ultraschalluntersuchung – 427 Labordiagnostik – 428 Endoskopie mit Histologie – 428 Radiologie/MRT – 429
> Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Morbus Crohn und Colitis ulcerosa) werden bei 25–30% der Patienten bereits im Kindes- und Jugendalter manifest. Die Entzündung verläuft in chronisch-rezidivierenden Schüben, eine Ursache ist bis heute nicht bekannt. Bereits 1932 von Burrill B. Crohn als »Ileitis terminalis« erstmals beschrieben, wurde rasch erkennbar, dass auch der Morbus Crohn nicht nur auf das terminale Ileum beschränkt bleibt. Daher muss mit moderner Diagnostik der gesamte Gastrointestinaltrakt dargestellt werden, um eine individuelle Therapie zu planen.
34.1
Epidemiologie
34.1.1
Prävalenz und Inzidenz
34.4
Therapie
34.4.1 34.4.2 34.4.3 34.4.4 34.4.5 34.4.6 34.4.7
Ernährungstherapie – 432 5-Aminosalizylate – 432 Glukokortikoide – 433 Immunmodulation – 433 Biologische Therapeutika – 435 Andere Therapeutika – 435 Chirurgische Therapie – 436
34.5
Verlauf
– 437
Literatur – 437
Die aktuellen Daten für die Inzidenzen (Nordamerika, -europa) liegen für Colitis ulcerosa bei 8,8–19,5/105/Jahr sowie für Morbus Crohn bei 7,9–20,2/105/Jahr (Bernstein et al. 2006; Jacobsen et al. 2006; Loftus et al. 2007), im Süden z. T. deutlich niedriger. Bezüglich der Inzidenz der pädiatrischen CED (pCED) liegen nur einzelne epidemiologische Daten vor, die die höchsten Inzidenzen in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen (Morbus Crohn: 12,1/105; Colitis ulcerosa: 17,4/105) finden, während sie für die unter 15-Jährigen bei ca. 1,5/105/Jahr (Morbus Crohn) bzw. 2,7/105/Jahr (Colitis ulcerosa) liegen (Jacobsen et al. 2006). In Deutschland schätzen wir eine jährliche Neuerkrankungsrate von ca. 800 Kindern und Jugendlichen (≤16 Jahre).
34.1.2 Die Häufigkeit der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) nimmt in den letzten Jahren weltweit zu. Während in den westlichen Industrieländern (Morbus Crohn 130–320/105; Colitis ulcerosa 150–300/105) der Anstieg mittlerweile langsamer wird oder sistiert, holen die östlichen Nationen rasch auf (Jacobsen et al. 2006; Bernstein et al. 2006; Loftus et al. 2007). Bei einer geschätzten Prävalenz von 130–200/105 (Morbus Crohn) bzw. 210/105 (Colitis ulcerosa) kann man in Deutschland von ca. 55.000 pädiatrischen Patienten (≤18 Jahre) mit CED ausgehen.
– 430
Familiarität
Bei den CED findet sich eine deutliche familiäre Häufung. 2001 wurde mit dem NOD2 (dann umbenannt in CARD15) erstmals ein Gen beschrieben, das für die Entwicklung eines Morbus Crohn prädisponiert. Da bei pädiatrischen Patienten Mutationen in diesem Gen häufiger nachzuweisen sind (de Ridder et al. 2007), ist anzunehmen, dass die deutlich höhere Familiarität bei Patienten, die vor dem 20. Lebensjahr erkranken (ca. 30%), wesentlich hierdurch zu erklären ist.
422
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
34.2
Klinik
Die beiden CED sind einerseits nahe verwandt (z. B. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa in derselben Familie), andererseits durch große Unterschiede geprägt; z. B. Lokalisation und Symptomatik. Kommt es neben den im Kindesalter sehr häufigen und unspezifischen Symptomen chronischer Bauchschmerz und Durchfall zu einem weiteren typischen Symptom – z. B. Wachstumsstörung (v. a. Morbus Crohn), Gewichtsverlust/-stillstand oder blutigem Durchfall, muss in jedem Alter (ca. 4% pCED auch bei <5 Jahre) immer eine CED bedacht werden (Sawczenko u. Sandhu 2003).
34.2.1
Intestinale Manifestationsformen
Morbus Crohn Klassische Symptome des Morbus Crohn sind Durchfall und Bauchschmerzen, die in ihrer Lokalisation je nach betroffenem Darmabschnitt sehr unterschiedlich sein können und gelegentlich auch das Bild einer Appendicitis acuta imitieren. Eher selten im Vergleich zu Erwachsenen sind typische, ileozökal lokalisierte und stenoseassoziierte Ko-
liken. Der bei pädiatrischen Patienten häufiger vorkommende Kolonbefall führt öfter, aber nicht obligat, zu blutigen Stühlen. Gewichtsverlust und konsekutive Wachstumsstörung sind häufig, werden aber nicht zuletzt wegen der anfangs uncharakteristischen Symptome (z. B. Leistungsschwäche, Blässe, Wesensveränderung) primär oft missinterpretiert. Andererseits fallen Kinder und Jugendliche in westlichen Ländern zunehmend durch Übergewicht auf, so dass heute bei entsprechender übriger Symptomatik auch bei Patienten mit deutlich erhöhtem BMI an eine CED gedacht werden muss (Kugathasan et al. 2007). Anale Manifestationen (perianale oder skrotale/vaginale Fisteln, Abszesse, Marisken, Fissuren) finden sich bei Morbus Crohn häufig (im eigenen Kollektiv bis 25%), werden aber aus Scham v. a. von Jugendlichen oft verschwiegen (. Abb. 34.1). Im Gegensatz dazu sind Strikturen, die einer interventionellen Therapie bedürfen, relativ selten (. Abb. 34.2; . Tab. 34.1; Eidelwein et al. 2007).
Colitis ulcerosa Die Colitis ulcerosa wird fast immer mit blutig-schleimigen Durchfällen symptomatisch, wobei die Blutbeimengung initial makroskopisch nicht sichtbar sein muss. Der Blut-
a
b
c
d
34
. Abb. 34.1a–d. Perianale Manifestationen bei M. Crohn. a Große perianale Fistel. b Großer glutäaler Abszess, chirurgisch mit Lasche ver-
sorgt. c Anale Mariske bei 12 Uhr in Steinschnittlage. d Analfissur bei 6 Uhr in Steinschnittlage. (Abb. 34.1a–c aus sps publications, © 2009)
423 34.2 · Klinik
a
b
. Abb. 34.2a, b. Beispiele für intestinale Stenosen bei pCED. a Anastomosenstenose nach Ileozökalresektion. b Entzündliche Rektumstenose. (Abb. 34.2a, b aus sps publications, © 2009)
verlust kann so massiv sein, dass eine transfusionsbedürftige Anämie entsteht. Typisch sind darüber hinaus Schmerzen unmittelbar vor der Defäkation (Tenesmen), sowie der »notfallmäßige« und nächtliche Stuhldrang. Im Gegensatz dazu ist ein Gewichtsverlust eher selten. Notfallcharakter hat das im Kindes- und Jugendalter seltene toxische Megakolon, das sich in einem distendierten Abdomen, massiv dilatierten, oft flüssigkeitsgefüllten Darmschlingen und teilweise eher reduziertem Stuhlgang (Abnahme der Darmmotilität) ausdrückt. Die Patienten sind in der Regel septisch, auch wenn das Fieber durch die Therapie mit Steroiden maskiert sein kann. Sollte eine intensive Therapie mit Breitspektrumantibiotika i.v. sowie hochdosierter Immunsuppression nicht zu einer Besserung der Symptome führen, so ist eine notfallmäßige Kolektomie indiziert (Sheth u. LaMont 1998). Grundsätzlich sollte aber durch optimale . Tab. 34.1. Häufigkeit der Symptome bei Morbus Crohn im Kindesalter Symptom
Toronto (n=386)
Großbritannien und Irland (n=379)
Bauchschmerz
86%
72%
Durchfall
78%
Blut im Stuhl
49%
22%
Gewichtsverlust
80%
58%
Fieber
38%
k.A.
8%
7%
Perianale Fisteln
Daten aus Toronto (Griffiths et al. 2004) sowie Großbritannien und Irland (Sawczenko u. Sandhu 2003)
Stabilisierung der Patienten und frühzeitige intensive Therapie auch der Grunderkrankung, die notfallmäßige Operation vermieden werden, die ein deutlich schlechteres »Outcome« als eine elektive Kolektomie aufweist. Während der Morbus Crohn in allen Abschnitten des Gastrointestinaltraktes von der Mundhöhle bis zum After vorkommen kann, kommt die Colitis ulcerosa nur im Kolon in unterschiedlicher Ausdehnung vor. Das Befallsmuster der pCED unterscheidet sich vor allem für den Morbus Crohn deutlich von dem der erwachsenen Patienten (. Tab. 34.2). Ein isolierter Dünndarmbefall findet sich bei Morbus Crohn im Kindesalter sehr selten. Vor allem bei kleinen Kindern ist in der Regel ein überwiegender Teil des Kolons und häufig auch der obere Gastrointestinaltrakt mit betroffen (Griffiths et al. 2004; Eidelwein et al. 2007). Bei der Colitis ulcerosa überwiegen Patienten mit einer Pankolitis und sehr selten findet sich eine nur geringe Ausdehnung ab ano im Sinne einer Proctitis ulcerosa (Griffiths et al. 2004; Eidelwein et al. 2007). Auch hier zeigt sich, was für die pCED generell gilt: Häufig findet sich ein deutlich weiter ausgedehnter Befall sowie eine ausgeprägtere Krankheitsaktivität als im Erwachsenenalter. . Tab. 34.2. Lokalisation bei pCED im eigenen Kollektiv (Anzahl der Patienten) Morbus Crohn
Colitis ulcerosa
30 oberer Gastrointestinaltrakt
7 Proktitis
10 Jejunum/Ileum
6 Linksseitenkolitis
33 terminaler Ileum
5 subtotale Kolitis
39 Kolon
7 Pankolitis
34
424
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
34.2.2
Extraintestinale Manifestationen
Bei pCED sind extraintestinale Manifestationen häufig (bis zu über 50%) (Jose u. Heyman 2008). Im eigenen Kollektiv fanden wir sie bei 37% (Morbus Crohn) bzw. 17% (Colitis ulcerosa) schon bei Diagnosestellung. Am häufigsten
sind Gelenke, Nieren, Haut und Leber betroffen (Eidelwein et al. 2007; Jose u. Heyman 2008). Darüber hinaus stellen Wachstumsstörungen ein wesentliches Problem dar. Bemerkenswert ist, dass die extraintestinale der intestinalen Manifestation lange vorausgehen kann (Jose u. Heyman 2008).
Übersicht Extraintestinale Manifestationen bei CED (nach Jose u. Heyman 2008)
34
4 Haut – Erythema nodosum – Pyoderma gangraenosum – Perianale Manifestation – Erythema multiforme – Kutane Vaskulitis – Panarteriitis nodosa – Metastasierender Crohn der Haut – Crohn der Vulva – Pellagra – Psoriasis – Epidermolysis bullosa acquisita – Pyoderma vegetans – Hermansky-Pudlak-Syndrom mit Albinismus – Alopecia – Acrodermatitis enteropathica – Skrotale Zellulitis – Akne 4 Mund – Aphthen – Glossitis – Cheilitis – Pyostomatitis vegetans – Granulomatöse Tonsillitis 4 Leber/Gallengangssystem – Fettleber – Primär sklerosierende Cholangitis – Chronische Hepatitis – Zirrhose – Granulomatöse Hepatitis – Cholelithiasis – Leberabszess – Budd-Chiari-Syndrom – »Acalculous« Cholezystitis – Gallengangskarzinom – Amyloidose – Portalvenenthrombose 4 Knochen – Osteopenie – Osteonekrose – Osteoporose – Osteomalazie 6
4 Gelenke – Arthralgie – Arthritis – Ankylosierende Spondylitis – Sakroilitis – Granulomatöse Synovotis – Hypertrophe Osteoarthropathie 4 Augen – Uveitis – Episkleritis – Skleritis – Korneale Ulzerationen – Blepharitis – Konjunktivitis – Keratitis – Choreoideale Infiltrate – Retrobulbärneuritis – Katarakt – Orbitale Myositis – Pseudotumor – Erhöhter Augendruck 4 Gefäßsystem – Thrombophlebitis – Vaskulitis – Panarteriitis nodosa – Takayasu Arteriitis – Portalvenenthrombose – Budd-Chiari-Syndrom – Pulmonale Vaskulitis – Riesenzell-Arteriitis – ZNS-Thrombembolien 4 Pankreas – Akute Pankreatitis – Chronische Pankreatitis – Pankreasinsuffizienz 4 Lunge – Pulmonale Vaskulitis – Fibrosierende Alveolitis – Eosinophile Pneumonie – Pneumomediastinum 4 Herz – Myokarditis – Perikarditis
425 34.2 · Klinik
4 Muskel-/Skelettsystem – Granulomatöse Myositis – Dermatomyositis – Vaskuläre Myositis – Steroidinduzierte Myopathie 4 Entartung – Akute myeloische Leukämie – Lymphom – Myelodysplastisches Syndrom 4 Neurologische Manifestation – Periphere Neuropathie – Perineuritis – Spinale epidurale Abszesse – Anfälle – Apoplex 4 Wachstum – Wachstumsverzögerung – Verzögerte Pubertät
Gelenkbeteiligung Mit ca. 30% betroffener Patienten stellen Gelenkbeteiligungen die häufigste extraintestinale Manifestation dar (Eidelwein et al. 2007). Sie kann bei jeder Form der CED auftreten, ist aber häufiger mit einem Kolonbefall assoziiert. Bei 10–30% der Patienten, vor allem mit Morbus Crohn, kommt es auch zur Ausbildung von sog. Trommelschlegelfingern.
Hautbeteiligung Das überwiegend an den Unterschenkeln lokalisierte Erythema nodosum (. Abb. 34.3a) ist die häufigste Hautmanifestation und tritt v. a. bei Morbus Crohn (ca. 8%, Colitis ulcerosa: 4%) auf (Jose u. Heyman 2008). Es zeichnet sich durch deutlich schmerzende, überwärmte, etwas erhabene, rötlich-braun, livide verfärbte Läsionen aus. Das Pyoderma gangraenosum wird v. a. bei der Colitis ulcerosa beobachtet, ist insgesamt aber sehr viel seltener (1–2% bei Erwachsenen) (Jose u. Heyman 2008). Es ist charakterisiert durch tiefe, sterile Hautulzerationen, die sich aus kleinen Pusteln oder Abszessen entwickeln. Die Läsionen entstehen meist an den unteren Extremitäten, häufig in unmittelbarer Nachbarschaft zu Verletzungen oder Narben (. Abb. 34.3b). Bei Morbus Crohn findet sich selten ein sog. peniles Lymphödem (. Abb. 34.3c) oder eine einseitige Labienschwellung (. Abb. 34.3d). Die Therapie gestaltet sich oft äußerst schwierig und langwierig und besteht zunächst in einer Therapie-Optimierung der Grunderkrankung. Recht gute Erfolge beim Pyoderma gangraenosum wurden mit Lokaltherapeutika (Glukokortikoide, Takrolimus), in verzweifelten Fällen auch mit Infliximab erzielt. Eine chirurgische Therapie unter
4 Hämatologie – Eisenmangelanämie – Folsäuremangel – Vitamin-B12-Mangel – Autoimmunhämolytische Anämie – Anämie bei chronischer Erkrankung – Heinz-Körper-Anämie – Neutropenie – Thrombozytose – Thrombozytopenie 4 Renale/urologische Manifestation – Nephrolithiasis – Obstruktive Hydronephrose – Enterovesikale Fistel – Harnwegsinfekt – Immunkomplexglomerulonephritis – Perinephritischer Abszess – Amyloidose – Bluthochdruck
der Annahme einer bakteriellen Infektion mit Abszedierung führt praktisch immer zu einer Eskalation des Krankheitsbildes mit Ausbreitung der Ulzerationen.
Nierenbeteiligung Die häufigsten Begleiterkrankungen, die das Urogenitalsystem betreffen, sind eher Komplikationen der Grunderkrankung: Bei massivem Befall des Ileozökalbereichs mit Konglomerattumor kann es durch Kompression eines Ureters zur obstruktiven Uropathie mit Hydronephrose kommen, die ggf. eines operativen Eingriffes bedarf. Diese Komplikation ist wahrscheinlich häufiger als vermutet. Bei ausgedehntem Befall oder nach Resektion des Ileums sowie bei Ileostomie kann es aufgrund von Störungen des Mineral- und Flüssigkeitshaushaltes zur Nephrolithiasis kommen. Eine echte extraintestinale Manifestation kann eine nicht selten schwer und progredient verlaufende immunkomplexvermittelte Glomerulonephritis sein. Eine optimale Therapie der CED beeinflusst die Nephropathie günstig (Ridder et al. 2005). Andererseits kann diese auch durch Medikamente (z. B. Mesalazin) ausgelöst werden. Durch Absetzen der ursächlichen Medikation ist die Nephropathie voll reversibel.
Leberbeteiligung CED-assoziierte Hepatopathien sind vielfältig. Die schwerwiegendste Störung ist die primär sklerosierende Cholangitis, die bei adulter CED, überwiegend bei Colitis ulcerosa (ca. 2–7%) vorkommt (Loftus et al. 2005; Broome et al. 1994). Sie verläuft häufig progredient, es besteht ein hohes Risiko für die Entwicklung einer biliären Zirrhose und
34
426
34
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
a
b
c
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. Abb. 34.3a–d. Hautmanifestationen bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. a Erythema nodosum an den Unterschenkeln. b Pyoderma gangraenosum bei einem 3-jährigen Mädchen ohne in-
itiale Symptome einer CED. c Peniles und skrotales Lymphödem bei einem Patienten mit Morbus Crohn. d Patientin mit rechtsseitiger Schwellung der großen Labie
praktisch obligat eines cholangiozellulären Karzinoms. Die bei pCED, ebenfalls überwiegend bei Colitis ulcerosa, angenommene Prävalenz der primär sklerosierenden Cholangitis von ca. 3% (Ong et al. 1994) ist sehr wahrscheinlich aufgrund einer nur niedrigen Diagnoserate in dieser Altersgruppe deutlich unterschätzt. Andererseits muss bei pädiatrischen Patienten die primäre Diagnose »primär sklerosierende Cholangitis« zwingend zu einer intensiven Diagnostik bzgl. einer pCED führen, da eine primär sklerosierende Cholangitis in diesem Alter ganz überwiegend CED-assoziiert vorkommt (Feldstein et al. 2003). Die Pathogenese der sklerosierenden Cholangitis ist unklar, diskutiert werden u. a. bakteriologische und vaskuläre Ursachen. Für eine immunologisch vermittelte Reaktion spricht der serologische pANCA-Nachweis. Die primäre Diagnostik besteht heute in der Sonographie, gefolgt von einer Magnetresonanz-Cholangiopankreatikographie (MRCP). Bei uneindeutigen Befunden muss die Diagnose mittels ERCP überprüft werden (. Abb. 34.4). Eine kausale Therapie der sklerosierenden Cholangitis existiert nicht. Ursodeoxycholsäure ist mit vermindertem Pruritus, verbessertem körperlichen Befinden, einer verzögerten Ent-
wicklung von Komplikationen sowie einer verbesserten Lebersynthesefunktion und signifikanten Verminderung der serologischen Cholestaseparameter und Transaminasenerhöhung assoziiert (de Caestecker et al. 1991). Ein positiver Einfluss auf die morphologischen Veränderungen der sklerosierenden Cholangitis konnte nicht belegt werden.
Pankreatitis Eine pCED-assoziierte Pankreatitis findet sich bei ca. 4,5–5% der Patienten. Nicht selten kommt es auch bei pCED zu einer medikamenteninduzierten Pankreatitis, Auslöser ist v. a. Azathioprin, aber auch Mesalazin. Nach Absetzen der Medikamente ist die Pankreatitis in aller Regel voll reversibel.
Wachstumsstörung Eine Wachstumsstörung bei pCED – insbesondere Morbus Crohn im Kindesalter – ist mit bis zu >80% äußerst häufig (Griffiths et al. 2004; Sawczenko u. Sandhu 2003; Shamir et al. 2007). Ursächlich scheint v. a. die chronische »Malnutrition« zu sein, die auf einer hypokalorischen Ernährung, einer durch die entzündlich
427 34.3 · Diagnostik
. Abb. 34.4. ERCP bei Colitis ulcerosa: primär sklerosierende Cholangitis mit dilatiertem Gallengang, periphere Seitenäste mit Kaliberschwankungen und teils kolbigen Erweiterungen
veränderten Darmwände bedingten Malabsorption oder auch einer Proteinverlustenteropathie beruht. Dazu kommt bei hoher entzündlicher Krankheitsaktivität der erheblich gesteigerte Energieverbrauch. Zusätzliche durch die Entzündung mediierte Faktoren, wie z. B. ein erniedrigtes IGF-1, könnten darüber hinaus bedeutsam sein (Akobeng et al. 2002). Im Gegensatz dazu ist eine therapieassoziierte (Glukokortikoide) Wachstumshemmung weniger bedeutend. Wesentlicher therapeutischer Ansatz ist dementsprechend eine »aggressive« Entzündungskontrolle.
34.3.1
Ultraschalluntersuchung
Mittels modernem, hochauflösendem Ultraschall lässt sich heute nicht nur die Darmwanddicke, die Morphe der Darmwandschichten und die Dynamik der Peristaltik beurteilen, sondern es wird mittels farbkodierter Dopplersonographie auch die Perfusion der Darmwand sehr exakt dargestellt. Wenngleich damit die Diagnose nicht gestellt werden kann, so ist der Ultraschall doch ein wesentlicher »Trigger« für die Indikation zur Endoskopie. Morbus Crohn. Hinweise für einen Morbus Crohn ergeben
34.3
Diagnostik
In der Diagnostik der CED spielt die Endoskopie mit Histopathologie nach wie vor die zentrale Rolle. Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahren zunehmend auch andere diagnostische Verfahren wie Sonographie und MRT als Ergänzung etabliert. Über die Bildgebung hinaus ergeben sich aus den vielfältigen Laboruntersuchungen weitere diagnostische Möglichkeiten. > Primär steht eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung – auch des oberen Gastrointestinaltrakts, einschließlich der Mundhöhle (Aphthen etc.; . Abb. 34.6a) und der extraintestinalen Symptomatik – im Vordergrund. Ebenso ist eine gründliche Analinspektion (Fisteln, Abszesse, Marisken, Fissuren, . Abb. 34.1) obligat.
Bei der Palpation des Abdomens ist insbesondere auf Resistenzen, die entzündlich verdickten oder narbig veränderten Darmwänden entsprechen können, zu achten. Ergibt sich aus Anamnese und klinischer Untersuchung der Verdacht auf das Vorliegen einer CED, sollte zunächst eine abdominelle Sonographie durchgeführt werden.
sich u. a. aus einer verdickten Darmwand, reduzierter Peristaltik sowie einer dopplersonographisch nachweisbaren Hyperämie bei entzündlichen Veränderungen (. Abb. 34.5a, c). Häufig finden sich auch lokal um die entzündlich veränderten Darmschlingen freie Flüssigkeit sowie multiple vergrößerte Lymphknoten (. Abb. 34.5b). Fehlt die Hyperperfusion der Darmwand bei teilweise aufgehobener Struktur der Darmschichten, so kann es sich um einen narbigen Umbau handeln. Insbesondere bei bereits diagnostiziertem Morbus Crohn bietet die Sonographie die exzellente Möglichkeit, Befunde im Verlauf zu kontrollieren. Colitis ulcerosa. Bei der Colitis ulcerosa ist die Aussagekraft der Sonographie eingeschränkt, da die Entzündung auf die Mukosa beschränkt bleibt und die Darmwanddicke daher als Kriterium geringer zu werten ist. Allerdings sind die Hyperperfusion bei hoher Entzündungsaktivität sowie die reduzierte Peristaltik auch bei Colitis ulcerosa hinweisend auf entzündliche Veränderungen.
34
428
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
a
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geeignet als die genannten, wesentlich preisgünstigeren Laborparameter (Sabery et al. 2007). Demgegenüber hat sich die Bestimmung von aus aktivierten Neutrophilen stammenden Proteinen (z. B. Calprotectin oder Lactoferrin) im Stuhl etabliert (Walker et al. 2007; Bunn et al. 2001). Da diese im Stuhl lediglich bei erhöhtem Leukozytenumsatz mit Expression in das Darmlumen gefunden werden, sind sie spezifischere und oft »frühere« Marker einer entzündlichen Darmerkrankung, dabei aber unspezifisch bezüglich deren Genese. Die Kombination verschiedener Parameter (z. B. Calprotectin, Serologie, Sonographie) weist einen höheren prädiktiven Wert auf als Einzelfaktoren (Canani et al. 2006). Die Bestimmung von Mutationen im CARD15-Gen sind im Wesentlichen im Rahmen von epidemiologischen Studien sinnvoll (7 Kap. 34.1.2).
34.3.3
> Endoskopie mit Histologie ist weiterhin das zentrale diagnostische Verfahren, das als invasives Verfahren grundsätzlich indiziert ist, wenn aufgrund von typischen Symptomen in Kombination mit erhöhten Entzündungsparametern und/oder auffälligem Ultraschallbefund der Verdacht auf eine CED besteht.
c . Abb. 34.5a–c. Sonographie bei M. Crohn. Querschnitt (a) und Längsschnitt (b) durch das Colon ascendens/Coecum bei einer 12-jährigen Patientin: stark verdickte, starre Darmwände. c Deutlich vermehrte Perfusion in der Farbdoppleruntersuchung als Ausdruck der Entzündung: »flammendes Inferno«
34.3.2
34
Endoskopie mit Histologie
Labordiagnostik
> Auf einen (chronisch-)entzündlichen Prozess hinweisende Laborparameter – z. B. eine erhöhte Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, ein erniedrigtes Hämoglobin, eine Thrombozytose, ein erhöhtes α2-Globulin und ein erniedrigtes Albumin – sind wesentliche Faktoren in der Indikationsstellung für weitere Diagnostik bei Verdacht auf pCED, bei der sich in der Regel zumindest 1–2 dieser Parameter pathologisch finden.
Andererseits können Entzündungsparameter – v. a. bei der Colitis ulcerosa, seltener auch bei Morbus Crohn mit geringer bzw. lokal begrenzter Entzündungsaktivität – völlig fehlen (Mack et al. 2007). Dementsprechend sollte bei entsprechender Symptomatik, auch unabhängig von Entzündungsparametern, weitere Diagnostik erfolgen. In bestimmten Fällen können die anti-Saccharomycescerevisiae-Antikörper (ASCA; assoziiert zu Morbus Crohn) sowie die perinukleären antineutrophilen zytoplasmatischen Antikörper (p-ANCA; assoziiert zu Colitis ulcerosa) helfen, zwischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa zu diskriminieren. Sie sind für die initiale Diagnose aber nicht besser
Unabhängig von Entzündungsparametern sollte eine Endoskopie auch bei über längere Zeit bestehenden typischen Symptomen durchgeführt werden. Sollte diese den Verdacht nicht bestätigen, muss bei weiter bestehendem dringendem Verdacht auf eine pCED die Diagnostik 6–12 Monate später wiederholt werden. Dies gilt auch für kleinere Kinder, bei denen die endoskopischen Verfahren nur mit entsprechend kleinen Geräten und nur in Sedierung/Narkose an einem spezialisierten kindergastroenterologischen Zentrum sicher durchführbar sind. Mittels konventioneller Endoskopie sind das komplette Kolon mit terminalem Ileum sowie der obere Gastrointestinaltrakt bis zum tiefen Duodenum zugänglich und sollten bei der initialen Diagnostik auch grundsätzlich komplett untersucht werden, was fast immer möglich ist. Bei massiver Entzündung ist aufgrund der Perforationsgefahr ein Abbruch der Untersuchung zu erwägen und dann nach initialer Therapie erneut zu planen. Bei der Endoskopie sollten immer in allen Abschnitten des endoskopierten Intestinaltraktes Stufenbiopsien entnommen und histopathologisch aufgearbeitet werden. Mit der Zahl der Biopsien steigt die Wahrscheinlichkeit der Diagnosesicherung. Darüber hinaus hat die exakte Definition der Lokalisation und Ausdehnung der Erkrankung entscheidende Bedeutung für die therapeutische Strategie (7 Kap. 34.4). Die einen Morbus Crohn beweisenden Epitheloidzellgranulome sind histologisch bei bis zu 28% der Patienten im oberen Gastrointestinaltrakt – v. a. im Magen – nachweisbar (. Abb. 34.6 bis 34.8; Abdullah et al. 2002).
429 34.3 · Diagnostik
Der Dünndarm entzieht sich in seiner gesamten Länge der konventionellen Endoskopie. Hier besteht mit der Videokapselendoskopie die Möglichkeit, die Schleimhaut im Jejunum und Ileum zu beurteilen. Die diagnostische Aussagekraft der Kapselendoskopie wurde in zahlreichen Studien den konventionellen Methoden wie Röntgen- und MRT-Sellink, CT und Push-Enteroskopie gegenübergestellt und zu diesen als zumindest gleichwertig gefunden (Eliakim et al. 2003) und ist seit kurzem von der FDA auch für Kinder (10–18 Jahre) zugelassen. Darüber hinaus wurde sie in einigen Studien mit Erfolg auch bei jüngeren Kinder angewandt (Arguelles-Arias et al. 2004). Die Doppelballonenteroskopie hat gegenüber der Videokapselendoskopie den Vorteil, dass dabei auch Biopsien gewonnen werden können. Allerdings bestehen bei Kin-
dern und Jugendlichen nur begrenzte Erfahrungen und das Verfahren ist durch die Overtube-Technik alleine von den Ausmaßen für kleinere Kinder problematisch.
34.3.4
Mit der klassischen Methode der Dünndarmdiagnostik bei CED, der Doppelkontrastuntersuchung nach Sellink, ist die Darstellung des Dünndarmes und des Schleimhautreliefs exzellent möglich. Allerdings birgt diese Methode gerade für Kinder und Jugendliche zwei wesentliche Nachteile: 4 Die Applikation des Kontrastmittels bedarf einer Duodenalsonde. 4 Die hohe Strahlendosis.
a
b
c
d
. Abb. 34.6a–d. Beispiele für Manifestationen des Morbus Crohn im oberen Intestinaltrakt. a Große Aphthe an der Lippe sowie mehrere
Radiologie/MRT
kleine Aphthen an der Zunge. b Ösophagusbefall. c Fissurales Ulkus am Pylorus. d Ulkus im Duodenum
34
430
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
a
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. Abb. 34.7a–d. Beispiele für Manifestationen des Morbus Crohn im unteren Intestinaltrakt. a Schneckenspurulzera. b Landkartenulzera. c Pflastersteinrelief im terminalen Ileum. d Fistelbau im Zökum. (Abb. 34.7a, b aus sps publications, © 2009)
34 Aus diesen Gründen wird diese Untersuchung zunehmend in MRT-Technik durchgeführt, was i. d. R. ab dem frühen Schulalter auch ohne Anästhesie möglich ist. Um eine optimale Darstellung aller Darmabschnitte zu erreichen, muss der Dünndarm möglichst gleichmäßig mit Kontrastmittel gefüllt sein. Dies wird durch kontinuierliches Trinken des Kontrastmittels (z. B. ca. 1–1,5 l Mannitol) über 1 h gewährleistet. Dieser »MRT-Sellink« lässt, ähnlich der Sonographie, hervorragend die Beurteilung der Darmwand (Borthne et al. 2006) zu. Zusätzlich wird nach i.v. Kontrastmittelgabe (Gadolinium) die entzündlich verstärkte Durchblutung befallener Darmsegmente sichtbar (. Abb. 34.9). Mittels MRT sind darüber hinaus auch intraabdominelle
Lymphknoten, freie Flüssigkeit, Abszesse und Fisteln meist gut darstellbar. Das CT hat in der Diagnostik der pCED keinen (wesentlichen) Stellenwert.
34.4
Therapie
Da bei pCED keine kurativen Therapien zur Verfügung stehen, ist das primäre therapeutische Ziel die Induktion und Erhaltung einer möglichst umfänglichen Remission, die sich durch eine »Mukosaabheilung« definiert. Darüber hinaus ist die Therapie von Komplikationen zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist dementsprechend zwischen Thera-
431 34.4 · Therapie
a
b
c
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. Abb. 34.8a–d. Beispiele für Manifestationen der Colitis ulcerosa im Kindesalter. a Patient mit massiver Colitis ulcerosa, kontinuierliche Entzündung. b Samtartige Schleimhaut mit Kryptenabszessen bei
demselben Patienten. c Floride Colitis ulcerosa mit Ulzera in vulnerabler Schleimhaut. d Pseudopolypen (entzündliche) bei langdauernder Colitis ulcerosa. (Abb. 34.8a, b, d aus sps publications, © 2009)
pien zur Remissionsinduktion/-erhaltung und von Komplikationen zu unterscheiden. Bei der Behandlung der pCED stehen wir bezüglich einer »evidenzbasierten« Therapie vor dem Dilemma, dass entsprechende Studien i. d. R. für das Kinder- und Jugendalter nicht existieren und wir deshalb oft gezwungen sind, von Ergebnissen aus Studien an Erwachsenen zu interpolieren. Bei der Behandlung der pCED sollten 4 Therapieformen erwogen werden:
4 4 4 4
Ernährungstherapie Medikamentöse Therapie Interventionelle oder chirurgische Therapie Psycho(soziale) Begleitung
Generell ist die Behandlung anhand folgender Kriterien individuell zu gestalten: 4 Phase der Erkrankung (Induktion, Remission, Rezidiv) 4 Lokalisation und Ausmaß der Erkrankung 4 Schwere der Erkrankung 4 Extraintestinale Beteiligung 4 Komplikationen
34
432
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
b
. Abb. 34.9a, b. »Sellink-MRT« bei einer Patientin mit ileozökalem Befall bei Morbus Crohn. a Verdickung der Darmwand mit Distanzphänomen (T2-gewichtet, HASTE, koronar). b »Herausleuchten« der entzündlich verstärkt perfundierten Darmabschnitte (T1-gewichtet, nach Kontrastmittelgabe). (Mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Dränert, Institut für Radiologie; Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, Regensburg)
a
34.4.1
Ernährungstherapie
Der exakte Mechanismus, über den die enterale Ernährungstherapie wirkt, ist nur wenig verstanden. Unter anderem werden diesbezüglich folgende Mechanismen postuliert: 4 Exklusion intestinaler Nahrungsantigene 4 Verringerung der intestinalen Synthese von Entzündungsmediatoren via Reduktion von Nahrungsfett 4 »Hypernutrition« 4 Enterozytenrestitution und Darmwachstum durch topisch wirksame nutritive und Wachstums-Faktoren 4 Veränderung der Darmflora
34
Nicht zuletzt, da in einigen Studien im Vergleich zu einer Glukokortikoidtherapie sogar eine höhere Wirksamkeit einer enteralen Ernährungstherapie gezeigt wurde, hat diese inzwischen in vielen Therapiestandards ihren festen Platz in der Primär- und Re-Induktionstherapie des Morbus Crohn erlangt. Basis des Therapieerfolgs ist wesentlich, dass eine Kalorienzufuhr für 6 (von uns bevorzugt) bis 12 Wochen ausschließlich via Formeldiät, ohne jegliche »Beikost« erfolgt. Eine enterale Ernährungstherapie scheint aber als »Supplementationstherapie« auch geeignet, das Wachstum deutlich zu verbessern und Kortikosteroide einzusparen. Dabei werden grundsätzlich keine signifikanten Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen Elementar- oder Polymerdiäten beobachtet. Auch die Applikationsweise (oral
oder via Sonde/perkutan-endoskopischer Gastrostomie) scheint nicht entscheidend und bleibt daher wesentlich der Entscheidung zwischen Therapeut und Patient vorbehalten. Während die Induktionstherapie mit enteraler Ernährung eine hohe Wirksamkeit aufweist, kommt es im Verlauf häufig (60–70%) zu einem »frühen« Rezidiv (Griffiths et al. 1995). Valide Hinweise, dass irgendeine Form einer enteralen Ernährungstherapie eine Wirksamkeit in der Erhaltungstherapie besitzt, liegen nicht vor. Eine parenterale Ernährung weist bezüglich der Wirksamkeit gegenüber einer enteralen Ernährung zumindest keine Vorteile auf (Griffiths et al. 1995).
34.4.2
5-Aminosalizylate
Zunächst wurde das Kombinationspräparat Salazosulfapyridin (Sulfapyridin plus 5-Aminosalizylat [5-ASA]) in die Therapie der Colitis ulcerosa eingeführt. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass der eigentliche Wirkstoff 5-ASA ist, und die unerwünschten Wirkungen v. a. auf den Sulfapyridin-Anteil zurückzuführen sind, wurden »pure« 5-ASAPräparate (z. B. Mesalazin, Olsalazin) entwickelt. Wesentlicher Faktor der Therapieeffektivität ist eine hohe lokale 5-ASA-Konzentration. Abhängig von ihrer Galenik weisen unterschiedliche 5-ASA-Präparate unterschiedliche Freisetzungsprofile auf. Der Umstand, dass das 5-ASA aus Olsa-
433 34.4 · Therapie
lazin zu ca. 98% erst im Kolon freigesetzt wird, macht seinen Einsatz nur bei Colitis ulcerosa sinnvoll. Salazosulfapyridin hat ein ähnliches Freisetzungsprofil, wird aber aufgrund seiner deutlich höheren Rate an unerwünschten Wirkungen praktisch nur noch bei assoziierten Arthritiden eingesetzt, bei denen es einen Wirkungsvorteil haben könnte. > 5-ASA ist heute ein zentraler Bestandteil der »Standarderhaltungstherapie« bei pCED. Eingeschränkt sind 5-ASA-Präparate auch in der Induktionstherapie bei milden bis moderaten pCED wirksam.
Dosierung. Die üblicherweise empfohlene Tagesdosis von
5-ASA beträgt 50–60 mg/kg KG, wobei allerdings zumindest für einen Teil pädiatrischer Patienten ein deutlich höherer Dosisbedarf (bis 100 mg/kg/Tag) nötig sein könnte (Hanauer u. Present 2003). Mit Ausnahme von Salazosulfapyridin (50–75 mg/kg KG/Tag; maximal 4–6 g/Tag), das »eingeschlichen« werden sollte, können die anderen 5ASA-Präparate unmittelbar in der finalen therapeutischen Dosis eingesetzt werden. Aufgrund der kompetitiven Hemmung der Folatabsorption durch Salazosulfapyridin sollte eine entsprechende Substitution (1 mg/Tag) erfolgen.
fahrung ist im Gegensatz zu erwachsenen Patienten nur bei einem kleinen Teil der pädiatrischen Patienten eine langfristige systemische Glukokortikoidtherapie (3–6 mg/ m2 KOF/Tag) notwendig. Applikation. »Klassische« Glukokortikoide oder Budesonid
(s. unten) können bei distalem Kolonbefall (maximal linke Kolonflexur) auch, alternativ oder ergänzend, rektal als Suppositorien, Schäume oder Einläufe appliziert werden. Budesonid. Die Wirkmechanismen von Glukokortikoiden werden praktisch in allen Körperzellen in gleicher Weise vermittelt. Um die dadurch induzierten unerwünschten systemischen Wirkungen zu reduzieren, wurden Präparate mit hoher lokaler Affinität und überwiegend hepatischem »First-pass«-Metabolismus entwickelt. Für Budesonid (3mal 3 mg/Tag) fand sich bei Morbus Crohn eine hohe Effektivität in der Primärtherapie von Patienten mit aktiver ilealer, ileozökaler oder rechtskolischer Erkrankung. Andererseits scheint Budesonid in der Remissions-Erhaltung ineffektiv. Ungeklärt ist die Bedeutung und systemische Wirkung einer rektalen Applikation (s. oben).
Applikation. Bei linksseitigem Kolonbefall (maximal bis
linke Kolonflexur) können 5-ASA-Präparate auch – alternativ oder ergänzend – als Suppositorien, Schäume oder Einläufe rektal appliziert werden. Unerwünschte Wirkungen. Während 5-ASA-Präparate
insgesamt gut vertragen und unerwünschte Wirkungen (z.B. Pankreatitis, Proteinurie, Pneumonitis, Perikarditis) selten beobachtet werden, entwickeln ca. 20% der Patienten unerwünschte Wirkungen unter Salazosulfapyridin (v. a. Kopfschmerz, Photosensibilität, Hautausschlag, Hepatopathie, Pankreatitis, Leukopenie).
34.4.3
Glukokortikoide
In den meisten Zentren werden als Initial- und »Rezidivtherapie« einer moderaten bis schweren pCED unverändert systemische Glukokortikoide verwand, die hierbei hocheffektiv sind. Nicht zuletzt aber aufgrund der schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen wird alternativ hierzu zunehmend eine enterale Ernährungstherapie (7 Kap. 34.4.1) gewählt. Dosierung. Um unterhalb der sog. »Cushing-Schwelle« zu verbleiben, sollte mittelfristig eine »systemische« Äquivalenzdosis von täglich ca. 6 mg Prednison/m2 KOF nicht überschritten werden. Im Allgemeinen wird eine »Remissionsinduktion« mit 1–2 mg Prednison/kg KG/Tag bzw. 30–60 mg Prednison/m2 KOF/Tag (maximal 40–60mg/ Tag) gewählt. Individuell an den Verlauf adaptiert erfolgt dann eine schrittweise Dosisreduktion. Nach eigener Er-
34.4.4
Immunmodulation
Purinantagonisten Bei pädiatrischen Patienten mit chronisch-aktiver Erkrankung kann der Glukokortikoidbedarf im Langzeitverlauf durch den Einsatz von »klassischen« Purinantagonisten deutlich reduziert werden (Kirschner et al. 1998). Darüber hinaus scheinen diese auch gerade bei Fistulation bei Morbus Crohn besonders effektiv. Das Purinanalogon Azathioprin (Aza) und sein therapeutisch wirksamer Metabolit 6-Mercaptopurin (6-MP) inhibieren die Proliferation von sich teilenden Zellen durch die Synthesehemmung von Purinnukleotiden. Bei Purinantagonisten tritt die Wirkung frühestens nach ca. 8 Wochen ein. Auch wegen des aufgrund der lokalen Metabolisation hypothetisch vorteilhafteren Wirkprofils von Aza im Vergleich zu 6-MP, wird von den meisten europäischen Kindergastroenterologen primär Aza bevorzugt. Da die genetisch determinierte Aktivität von Thiopurin-Methyltransferase (TPMT) zentral im Purinantagonisten-Metabolismus wirkt, sollte der TPMT-Status vor Therapiebeginn bestimmt werden. Inwieweit auch ein therapeutisches Monitoring von 6-MP-Metaboliten (v. a. 6-Thioguanin und 6-Methylmercaptopurin) effektiv in der Therapiesteuerung verwand werden könnte, ist ungeklärt. Unerwünschte Wirkungen. Relativ häufige unerwünschte
Wirkungen sind: Leukopenien, Übelkeit, Erbrechen, Pankreatitis, Haarausfall, Transaminasenerhöhung; deutlich seltenere sind: cholestatische Hepatopathien, schwere Infektionen, Anämie, allergische Symptome, »Venenverschlusser-
34
434
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
krankung« (»veno-occlusion-disease«) der Leber. PA sind potenziell teratogen, karzinogen und erzeugen in hoher Dosierung eine Oligo- und Azospermie. Allerdings haben klinische Studien eine insgesamt gute Verträglichkeit belegt und zeigen können, dass das tatsächliche Malignomrisiko auch bei Langzeittherapie relativ gering ist (Connell et al. 1994). Kommt es bei »normalem« TPMT-Status zu geringen bis mäßigen unerwünschten Wirkungen, kann primär der Wechsel des Purinantagonistenpräparates erwogen werden. Insbesondere bei verminderter TPMT-Aktivität könnte der Einsatz des 6-MP-Metaboliten 6-Thioguanin (6-TG) die unerwünschten Wirkungen vermindern. Primäre Berichte über ein generell vorteilhaftes Nebenwirkungsprofil und eine höhere Effektivität von 6-TG wurden jüngst deutlich relativiert (Reinshagen et al. 2007), weswegen insbesondere bei »normaler« TPMT-Aktivität eine generelle Empfehlung für 6-TG nicht gerechtfertigt ist. Erfahrungen bei pCED liegen darüber hinaus nicht vor. Dosierung. In Abhängigkeit von der individuellen TPMTAktivität wird Aza üblicherweise in einer finalen Dosis von 2–2,5 mg/kg KG/Tag, 6-MP von 1–1,5 mg/kg KG/Tag verabreicht. Um die unerwünschten Wirkungen (s. oben) zu minimieren, sollte die Therapie einschleichend begonnen werden. Gerade in der Anfangsphase der Therapie sollten regelmäßige (Labor-)Kontrollen bezüglich unerwünschter Wirkungen erfolgen, therapeutisch sollte dabei die Gesamtleukozytenzahl 3.000/μl und die Neutrophilenzahl 1.000/μl nicht unterschreiten.
34
Weitere Purinantagonisten. Im Gegensatz zu Aza und 6MCP inhibieren Mycophenolat-Mofetil (MMF, Cellcept) und Natrium-Mycophenolat (Myfortic) exklusiv die Denovo-Purinsynthese und damit selektiv die Proliferation von T- und B-Zellen. MMF wird vereinzelt bei pCEDPatienten eingesetzt, der therapeutische Effekt ist allerdings bisher nicht erwiesen (Neurath et al. 1999). Intestinale Störungen (Diarrhö, Übelkeit) sind die wesentlichen unerwünschte Wirkungen, die sich durch ein langsames (ca. 7 Tage) »Dosiseinschleichen« reduzieren lassen. Eine Leukopenie wird seltener als bei Aza und 6-MCP beobachtet.
brechen, Durchfall, Kopfschmerz, Infektionen etc.) auf, eine Besserung gelingt zum Teil durch eine Folsäuresupplementation. Nicht zuletzt aufgrund eines Todesfalles in Zusammenhang mit der Methotrexat-Therapie (Mack et al. 1998) ist diese sorgfältig abzuwägen. Dosierung. Üblicherweise wird eine wöchentliche Dosis von 15–(20) mg/m2 KOF (maximale Einzeldosis 25 mg) s. c. verabreicht.
Kalzineurininhibitoren Der Stellenwert der Kalzinneurininibitoren Ciclosporin A und Tacrolimus im Rahmen der Behandlung von pCED ist bisher nicht gut definiert. Ciclosporin A. Bei akutem schwerem bzw. fulminantem Verlauf einer Colitis ulcerosa scheint in der Induktionsund Reinduktionstherapie eine intravenöse Ciclosporin-ATherapie erfolgreich. Allerdings ist auch nach eigener Erfahrung, mit Ciclosporin A eine Remissionserhaltung in der Langzeittherapie meist nicht zu erreichen. Wenngleich einzelne Daten ähnliche »Erfolge« auch in der Akutphase bei Morbus Crohn, vor allem bei Fistulationen und bei Versagen anderer immunsuppressiver Therapie beschreiben, ist die Bedeutung von Ciclosporin A in der Behandlung des Morbus Crohn bei Kindern weitestgehend ungeklärt und nach eigener Erfahrung zumindest im »Langzeitverlauf« i. d. R. enttäuschend. In der Startphase scheint eine intravenöse Therapie deutlich effektiver. Wir beginnen mit einer Infusion mit 25 mg/m2 KOF über jeweils 4(-12) h alle 12 h, alternativ oral in einer Dosis von 150 mg/ m2 KOF/Tag in 2 Einzeldosen. Im weiteren Verlauf wird die Dosierung anhand des Ciclosporin-A-Talspiegels (180–230 mg/ml; Abbott’s TDXAssay) gesteuert. Bei der Umstellung von der i.v. auf die p.o. Präparation (Sandimmun Optoral) muss primär ca. die 2bis 3-fache Dosis verabreicht werden.
Methotrexat ist ein Folsäureanalogon, das die Dihydrofolatreduktase kompetitiv, reversibel hemmt. Es wird heute in der Erhaltungstherapie bei pCED-Patienten oft als »Secondline«-Immunsuppressivum verwand, wenn mit Purinantagonisten keine ausreichende Wirkung erzielt wird, oder diese mit unakzeptablen Nebenwirkungen assoziiert sind.
Tacrolimus. Valide Daten die eine Effektivität einer systemischen Tacrolimus-Therapie belegen, existieren nicht. Lediglich in Einzelbeobachtungen und kleineren »Serien« an adulten CED-Patienten wurden Hinweise auf eine Effektivität beobachtet. Allerdings sind in einer kleinen pädiatrischen Serie vielversprechende Ergebnisse einer lokalen Anwendung bei perioralem oder analem Morbus-CrohnBefall beschrieben worden (Casson et al. 2000). Wir wählen eine p.o. Startdosis von 0,2 mg/kg KG/Tag in 2 Einzeldosen, gefolgt von einer Steuerung anhand von Talspiegeln (10–15 ng/ml). Auf eine iv-Verabreichung sollte auf Grund der hohen Rate an unerwünschten Wirkungen grundsätzlich verzichtet werden.
Unerwünschte Wirkungen. Methotrexat weist bei vielen pädiatrischen Patienten (ca. 25%) die typischen unerwünschten Wirkungen eines Zytostatikums (Übelkeit, Er-
Unerwünschte Wirkungen. Das Nebenwirkungsspektrum ist bei beiden Kalzineurininhibitoren vergleichbar; Nephround Neurotoxizität, Hyperlipidämie, arterielle Hypertonie,
Methotrexat
435 34.4 · Therapie
diabetogene Potenz, intestinale Störungen. Bei Ciclosporin A auch Hirsutismus, bei Tacrolimus hypertrophe Kardiomyopathie. > Aufgrund der hemmenden Wirkung auch auf regulatorische T-Zellen erscheint generell eine Therapie autoimmuner Erkrankungen – auch der CED – mit Kalzineurininhibitoren als fragwürdig.
34.4.5
Biologische Therapeutika
Antitumornekrosefaktor (TNF)-α-Antikörper Infliximab. Infliximab (Remicade) ist ein chimärer, monoklonaler Antitumornekrosefaktor-α-Antikörper, dessen
Effektivität und Sicherheit in der Induktions- und Erhaltungstherapie bei adultem Morbus Crohn moderater bis schwerer Aktivität oder Fistulation belegt wurde (Hanauer u. Present. 2002; Sands et al. 2004). Seit kurzem ist Infliximab auch für die Induktions- und Erhaltungstherapie bei »steroidresistenter« adulter Colitis ulcerosa zugelassen (Rutgeerts et al. 2005). In der bisher einzigen randomisierten Studie bei Morbus Crohn im Kindes- und Jugendalter moderater bis schwerer Aktivität trotz vorangegangener »suffizienter« immunmodulatorischer Therapie zeigte sich nach Induktionstherapie (verabreicht initial, 2 und 6 Wochen) ein 8-Wochen-Intervall als effektiv (Hyams et al. 2007). Allerdings kommt es nach Induktionstherapie bei der Mehrzahl der pädiatrischen Patienten (>90%) innerhalb von 12 Monaten zu einem Rezidiv. Eine »Erhaltungstherapie« ist in ihrer Form (Dauer, Häufigkeit, Dosis) undefiniert und sollte in Anbetracht der ungeklärten Langzeitproblematik äußerst restriktiv erwogen werden. Infliximab ist bisher bei Kindern (6–17 Jahre) ausschließlich zur Behandlung eines mittleren bis schweren MorbusCrohn-Schubes zugelassen, wenn eine konventionelle Therapie (s. oben) ineffektiv war. Eine Wirkung von Infliximab bei Colitis ulcerosa im Kindesalter ist bisher nicht belegt.
zessen auf Infliximab verzichtet werden. Unter Infliximab kann sich auch eine Herzinsuffizienz verschlechtern. Völlig ungeklärt sind Langzeitnebenwirkungen bei pädiatrischen Patienten, die Infliximab über »Jahrzehnte« bräuchten. Bei pCED werden als Induktionstherapie (0, 2., 6. Woche) und in der Erhaltungstherapie (i. d. R. alle 8 Wochen) Einzeldosen von je 5 mg/kg KG i.v. verabreicht. Adalimumab. Adalimumab (Humira) ist ein s.c. zu verabreichender humaner Antitumornekrosefaktor-α-Antikörper mit Zulassung zur Behandlung bei Therapieversagen
gegenüber konventioneller immunmodulatorischer Therapie bei akutem Morbus Crohn. Bezüglich pCED-Patienten liegen bisher nur Einzelberichte vor. Weitere Antitumornekrosefaktor-α-Antikörper. Mit Certolizumab und anderen derzeit in Prüfung befindlichen Subs-
tanzen, könnten sich zukünftig die therapeutischen Möglichkeiten auch bei pCED erweitern.
34.4.6
Andere Therapeutika
Antibiotika In der Pathogenese der CED wird eine (»pathologische«) Immunantwort auf mikrobielle Antigene diskutiert, weshalb Metronidazol primär schon vor ca. 30 Jahren in die Therapie des Morbus Crohn im Kindesalter eingeführt wurde (Shmerling, persönliche Mitteilung). Wenngleich eine generelle Wirksamkeit bei Morbus Crohn umstritten ist, wurde in mehreren Studien eine Wirksamkeit einer Antibiotikatherapie (Metronidazol oder Ciporofloxazin) beobachtet (M.A. Peppercorn 1997). Unstrittig ist die Wirksamkeit im Rahmen von »Komplikationen« bei Morbus Crohn (z. B. perianalen Fisteln, Durchwanderungsperitonitis). Neben Metronidazol (20 mg/kg KG/Tag) wird in jüngerer Zeit und aufgrund des »besseren« Nebenwirkungsspektrums Ciprofloxazin (20 mg/kg KG/Tag) bevorzugt.
Unerwünschte Wirkungen. Insgesamt wird Infliximab
relativ gut vertragen. Die unmittelbar auftretenden Symptome sind allergisch/anaphylaktoide Reaktionen, die durch eine gleichzeitige Verabreichung von Immunsuppressiva (Aza, Glukokortikoide etc.) deutlich reduziert werden können. Besonders problematisch sind (opportunistische) Infektionen, sowie die mutmaßliche Induktion sowohl von Autoimmunerkrankungen als auch Malignomen (Colombel et al. 2004; de Ridder et al. 2004). Auf Grund des Risikos der Exazerbation einer Tuberkulose muss vor einer Infliximab-Therapie eine entsprechende Diagnostik vorausgehen. Überwiegend in Zusammenhang mit Infektionen werden in etwa 10/00 der Fälle letale unerwünschte Wirkungen beschrieben. Deshalb sollte bei Patienten mit akuten Infektionserkrankungen oder Abs-
Experimentelle Therapieansätze Unter anderem werden folgende Substanzen derzeit bezüglich ihrer Bedeutung in der Behandlung von CED untersucht: verschiedene probiotische Spezies, Fischöl, Weihrauch, Wurmeiersuspension nicht pathogener Würmer (Trichuris suis; Schweine-Peitschenwurm), Heparin, Thalidomid, Wachstumshormon, Granulozyten-MakrophagenKolonie-stimulierender Faktor (GM-CSF), IL10 oder Rauchen bzw. Nikotin. Insgesamt sind alle diese Therapien noch experimentell und im Kindes- und Jugendalter bisher ohne hinreichend substantielle Grundlage.
34
436
Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
34.4.7
Chirurgische Therapie
Der Umstand, dass bezüglich des Morbus Crohn keine und bezüglich der Colitis ulcerosa nur die Kolektomie als kurative Therapie existiert, unterstreicht die zentrale Bedeutung der konservativen, remissionserhaltenden Therapie bei pCED. Dementsprechend kommt der chirurgischen Therapie insbesondere eine Bedeutung im Management von Komplikationen zu. Mit wachsender Tendenz, scheinen zumindest 50% aller Patienten in ihrer »Krankheitskarriere« irgendwann einmal einer Operation zu bedürfen (Hanauer u. Present 2004; Becker et al. 1999).
Morbus Crohn
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Eine chirurgische Therapie bei Morbus Crohn im Kindesalter ist indiziert, wenn es zu Komplikationen mit einer absoluten Indikation zum chirurgischen Vorgehen kommt, wie z. B. zu intestinalen Strikturen und Obstruktionen, Darmperforationen, Abszessen oder bei einem Teil der Fisteln. Des Weiteren besteht eine Indikation zum chirurgischen Vorgehen, wenn bei einem umschriebenem Befall mit einem entzündlichen Konglumerattumor unter medikamentöser Therapie eine ausreichende Remission nicht erzielt werden kann, oder es in den Pubertätsstadien 1 und 2 zu einer Wachstums- und/oder Pubertätsverzögerung kommt. Prinzipiell gilt für chirurgische Eingriffe bei Morbus Crohn »so wenig und so selten wie möglich«. Intestinale Obstruktionen und Strikturen mit Subileuszuständen und Schmerzen stellen heute die häufigste Indikation für eine Operation bei Morbus Crohn im Kindesalter dar. In Anbetracht der hohen Rezidivrate und des hohen Re-Operationsrisikos ist darmerhalted vorzugehen, um ein Kurzdarmsyndrom zu vermeiden. Zur Verminderung des Operationstraumas und der damit verbunden Komplikationen wird für die Resektion zunehmend das minimalinvasive Vorgehen favorisiert. Dieses kann die laparoskopische Mobilisierung der betroffenen Darmanteile mit extrakorporaler Resektion und Anastomose über eine Minilaparotomie oder ein vollständiges laparoskopisches Vorgehen beinhalten. Für kurzstreckige Strikturen kann die Heinecke-Mikulicz- oder Finney-Technik zur Überbrückung ohne Resektion angewendet werden. Intraabdominelle oder enterokutane Fistel sollten en bloc mit dem zugehörigen Darmanteil reseziert werden. Nach der Resektion lassen sich innerhalb des ersten postoperativen Jahres endoskopisch bei bis zu über 90% der Patienten Rezidive, üblicherweise an der Resektionsstelle, finden. Symptomatische Rezidive bestehen in dieser Zeit allerdings nur bei ca. 20% der Patienten. Das operativ zu erzielende rezidivfreie Intervall beträgt in der Regel nicht länger als ca. 2–3 Jahre. Trotz der Rezidivproblematik kann besonders in der vulnerablen Phase der Pubertät ein entzündungsfreies Intervall, in dem auf Glukokortikoide verzichtet werden kann, eine einmalige Chance bieten.
> Mittels einer individuell auf das Pubertäts-/Wachstumsstadium abgestimmten Terminierung eines chirurgischen Eingriffes lassen sich eine altersadäquatere Pubertätsentwicklung und ein Wachstum mit konsekutiv verbesserter Endgröße erzielen (Becker et al. 1999; Baldassano et al. 2001).
Perianale Abzesse und Fisteln können als erste Mani-
festation eines Morbus Crohn im Kindesalter imponieren und im Verlauf große therapeutische Probleme bereiten. Zur Entlastung von Abzessen ist eine chirurgische Intervention indiziert, doch sollte von operativen Maßnahmen zur Fistelsanierung möglichst abgesehen werden. Nur in seltenen Fällen kann nach erfolgloser lokaler und systemischer konservativer Therapie und bei ausgeprägten Befunden die Anlage einer Kolo- oder Ileostomie erforderlich werden. Die klinische Bedeutung der Beobachtung, dass sich bei Morbus Crohn unter einer intensivierten postoperativen Therapie (z. B. 6-MP) eine verminderte Rezidivrate findet, ist ungeklärt und muss erst in kontrollierten Studien überprüft werden.
Colitis ulcerosa Bei der Colitis ulcerosa ist zu berücksichtigen, dass ein erhebliches Malignomrisiko besteht und im Gegensatz zum Morbus Crohn mit einer totalen Proktokolektomie hinsichtlich der intestinalen Symptome ein kuratives chirurgisches Verfahren zur Verfügung steht. Akute und absolute Indikationen sind die Darmperforation, nicht beherrschbare Blutungen und das toxische Megakolon. In der Regel wird in diesen Fällen eine subtotale Resektion des Kolon mit Ileostomaanlage durchgeführt. Das Rektum wird intraperitoneal abgesetzt, sodass nach der Wiederherstellung und Besserung des Allgemeinzustands des Patienten später elektiv die pelvine Resektion und definitive Rekonstruktion vorgenommen werden kann. Eine ileorektale Anastomose ist in diesen Situationen nicht indiziert. Bei medikamentös nur mit schwerwiegenden unerwünschte Wirkungen beherrschbarer Erkrankung, bei Dysplasien oder dem Verdacht auf eine maligne Entartung besteht eine elektive Operationsindikation. In diesen Fällen wird eine subtotale Kolektomie mit rektaler Mukosektomie und die Anlage eine Ileum-Pouches mit Pouch-analer Anastomose angestrebt. Bei Patienten, bei denen eine vorherige subtotale Kolektomie mit Ileostomaanlage erfolgte, wird die definitive Rekonstruktion nach ca. 3 Monaten vorgenommen. Das Prinzip der rektalen Mukosektomie ist die Entfernung der malignitätsgefährdeten Mukosa ab einer Höhe von ca. 1 cm oberhalb der Linea dentata, ohne dass hierdurch der Sphinkterapparat tangiert und seine Funktion beeinträchtigt wird. Nach unserer Erfahrung ist hierfür die Injektion verdünnter Epinephrinlösung zur Präparations-
437 34.5 · Verlauf
ger 2001; Dolgin 2007; Proctor et al. 2002), die eine raschere Wiederherstellung und eine verminderte Krankenhausverweildauer suggerieren. Über die erfolgreiche laparoskopische Anfertigung des J-Pouches wurde ebenfalls berichtet (Meier et al. 2007), doch bestehen bisher keine Erfahrungen an größeren Patientenkollektiven. Die Langzeitergebnisse nach ileoanaler Pouch-Anlage (. Abb. 34.10) sind gut (Szavay et al. 1998), doch muss zwischenzeitlich mit Komplikationen gerechnet werden. In einer Follow-up-Studie an 47 Patienten über 10 Jahre hatten 55% der Patienten chirurgische Komplikationen (Abszess, Stenose, Fistel, Prolaps). Eine Pouchitis stellte sich zwischenzeitlich bei ca. 50% ein (Koivusalo et al. 2007). Die Symptome einer Pouchitis entsprechen denen einer Rektoproktitis (blutige, schleimige Stühle, Tenesmen). Gesichert wird die Diagnose mittels Endoskopie und Histologie. Therapeutisch sind systemische Antibiotika und Lokaltherapeutika (s. oben) wirksam.
34.5
. Abb. 34.10. Kontrastdarstellung eines ileoanalen J-Pouches 3 Monate nach der Anlage: gute Füllung und Kontinenz
erleichterung nicht erforderlich. Für den Durchzug des Ileum-Pouches verbleibt ein Muskelschlauch des Rektums. Nach Absetzung des Kolon vom Ileum erfolgt dessen Mobilisierung, bis das distale Ende des Ileums zur Symphyse geführt werden kann. Der Pouch wird vorzugsweise in J-Form über eine Strecke von bis zu 15 cm durch Zurückführen der letzten Schlinge angefertigt. Die Eröffnung der Schlinge erfolgt an der tiefsten Stelle, wonach die beiden Schlingen mittels eines Staplers antimesenterial anastomosiert werden. Nach Sicherung der Anastomosenreihe mittels fortlaufender resorbierbarer Naht wird der Pouch durchgezogen und anal anastomosiert. Zur Sicherung der Anastomose legen wir eine doppelläufige Ileostomie an. Das postoperative Konzept beinhaltet eine rektale digitale Untersuchung nach 2 Wochen und nachfolgend tägliche Spülungen und Füllungen des Pouches über das Ileostoma, bis nach ca. 2–3 Monaten die Ileostomie verschlossen werden kann. Hinsichtlich der Machbarkeit der minimalinvasiven Kolektomie liegen mehrere Berichte vor (Diamond u. Lan-
Verlauf
Bei den CED handelt es sich um chronische Erkrankungen, für die in Abhängigkeit vom Beobachtungsintervall eine Rezidivrate von bis zu >85% angegeben wird. Wesentlicher Morbiditätsfaktor bei pCED ist das Intervall zwischen Erkrankungs- und Therapiebeginn. Die Letalität der CED im Kindes- und Jugendalter ist sehr gering. Allerdings scheint es wahrscheinlich, dass die Länge und Erkrankungsaktivität im Kindes- und Jugendalter nicht nur mit einer erhöhten Morbidität, sondern auch mit einer erhöhten Letalität im Erwachsenenalter assoziiert ist. Ein wesentlicher Letalitätsfaktor im Erwachsenenalter ist das kolorektale Karzinom, das nach neuen Studien nicht nur bei der Colitis ulcerosa, sondern auch bei der Crohn-Kolitis nach über 20-jährigem Erkrankungsverlauf deutlich erhöht (7–10%) gefunden wird (Ekbom et al. 1990).
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Kapitel 34 · Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
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34
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35
35 Erkrankungen der Leber und Gallenwege C. Petersen
35.1
Gallengangatresie – 441
35.4
Portale Hypertension
35.2
Choledochuszyste – 448
35.5
Andere Lebererkrankungen
35.3
Gallensteine
– 449
> Alle cholestatischen Erkrankungen der Leber und der Gallenwege beim Neugeborenen gehören zu den jeweils seltenen Krankheiten in dieser Altersgruppe und bedürfen nur in wenigen Fällen einer unmittelbaren chirurgischen Therapie. Diese ist meistens symptomorientiert und nur selten kurativ, denn diese Patienten repräsentieren die größte Gruppe der Lebertransplantationen im Kindesalter. Trotzdem darf der Stellenwert der chirurgischen Erstbehandlung nicht unterschätzt werden, da diese gerade bei seltenen Erkrankungen für den weiteren Verlauf entscheiden sein kann. Das gilt z. B. für die Überlebenszeit mit der eigenen Leber bei der Gallengangatresie oder für einen symptomfreien Langzeitverlauf nach Resektionen von Choledochuszysten.
35.1
Gallengangatresie
Definition Die Gallengangatresie (GA) ist eine seltene Erkrankung des Neugeborenen, die durch den irreversiblen Verschluss der extrahepatischen Gallenwege definiert wird. Neben diesen makroskopischen Veränderungen sind vor allem die intrahepatischen Gallenwege betroffen, deren progrediente Entzündung das Ausmaß der Leberfibrose und damit den klinischen Verlauf bestimmt.
Inzidenz In Europa liegt die Inzidenz der GA bei ca. 1:18.000 Lebendgeborene und betrifft Mädchen deutlich häufiger als Jungen.
– 450 – 451
Literatur – 451
Für das Erkrankungsrisiko scheinen im weltweiten Vergleich vor allem ethnische Faktoren eine Rolle zu spielen, wobei die GA in Japan besonders oft anzutreffen ist. Auch wurden regionale und saisonale Häufungen beschrieben, die sich in größeren Serien aber nicht bestätigen ließen.
Ätiologie und Pathogenese Heute zählt die GA nicht mehr zu den angeborenen Erkrankungen, obwohl bis zu 20% der Patienten anatomische Varianten ihrer abdominellen Organe und/oder des HerzKreislauf-Systems aufweisen. Dennoch wird das bis vor wenigen Jahren noch benutzte Attribut »kongenital« im Zusammenhang mit der GA nicht mehr verwendete. Dafür spricht auch, dass eine Heredität für die GA nicht nachgewiesen werden kann, da eine familiäre Häufung extrem selten ist und sogar HLA-identische Zwillinge für die Gallengangatresie diskordant sind. Trotzdem ist es denkbar, dass es eine genetische Disposition gibt, vor dessen Hintergrund exogene Faktoren einen Erkrankungsprozess induzieren, der schlussendlich zum Bild der Gallengangatresie führt. In dieses Gedankenspiel zur Ätiologie gehört auch die Hypothese eines übergeordneten Pathomechanismus, bei dem die GA nur eine zufällige Entität darstellt. Dann wären allerdings auch die Choledochuszyste, die primär sklerosierende Cholangitis und weitere cholestatische Lebererkrankungen des Neugeborenen in einem neuen Kontext zu betrachten. Aber trotz aller Spekulationen gehen wir heute davon aus, dass die Entstehung der GA auf die Perinatalperiode begrenzt ist, zumal bisher noch kein Patient
442
Kapitel 35 · Erkrankungen der Leber und Gallenwege
beschrieben wurde, der mit Beginn der Erkrankung älter als drei Monate war. Ein wesentlicher Grund, warum die Ätiologie und der Pathomechanismus dieser desaströsen Erkrankung bisher nicht entschlüsselt worden sind, liegt darin, dass die GA immer erst dann klinisch relevant wird, wenn sie in ein bereits fortgeschrittenes Stadium eingetreten ist; daher basieren alle pathophysiologischen Theorien auch nur auf retrospektiven Erklärungsmodellen. Zurzeit konkurrieren zwei Hypothesen zur Ätiologie miteinander, die sich analog zur Unterscheidung zwischen einer syndromatischen (mit Begleitfehlbildungen) und einer nicht-syndromatischen Form der GA entwickelt haben. Dabei beschränkt sich der embryologische Erklärungsansatz auf die sog. syndromatische Form der GA, die durch eine gestörte Differenzierung der Duktalplatte bedingt sein könnte. In diesem Zusammenhang wird eine genetische Disposition diskutiert, die nicht nur für die Entstehung der GA, sondern auch für die Polysplenie, einen Situs inversus und andere Lageanomalien abdomineller Organe verantwortlich wäre. Auch dieses Erklärungsmodell schließt die Möglichkeit eines übergeordneten Defekts ein, dessen klinische Manifestation variabel sein kann. Die zweite Theorie geht davon aus, dass es sich bei der GA in den meisten Fällen um eine erworbene Erkrankung handelt, weil die meisten Neugeborenen mit GA kurz nach der Geburt ein symptomfreies Intervall aufweisen. Dieser Erklärungsansatz beruht auf der sog. »two-hit-theory«, die sowohl eine genetisch determinierte Disposition als auch eine zeitlich begrenzte immunologischen Lücke postuliert. Eine exogene Noxe, die in einem peripartalen Zeitfenster akquirierte wird, könnte dann zum Auslöser für eine fehlgesteuerte Immunantwort werden. Als mögliche auslösende Faktoren werden in erster Linie hepatotrope Viren vermutet, die bei Patienten mit GA bisher aber nur in ca. 40% der Fälle nachgewiesen werden konnten. Unstrittig ist, dass sich zum Zeitpunkt der Kasai-Operation sowohl in der Leber als auch entlang der extrahepatischen Gallenwege eine entzündliche Reaktion abspielt, die den Verlauf der GA ursächlich bestimmt und nicht sekun. Abb. 35.1. Erklärungsmodelle zur Ätiologie der Gallengangatresie
35
däre Folge der Cholestase ist. Hier dominiert eine progrediente zytotoxische T-Zell-Immunantwort, die schlussendlich zu einem fibrotischen Umbau der ganzen Leber führt. Zahlreiche Faktoren, die entlang dieser immunologischen Kaskade aktiviert werden, konnten bei Patienten mit GA bisher identifiziert werden. Unklar ist bisher, ob in diesem Zusammenhang auch autoimmunologische Faktoren eine Rolle spielen. Damit bleibt auch die zuvor gestellte Frage offen, ob die Gallengangatresie tatsächlich eine eigenständige Erkrankung oder nur eine mögliche klinische Manifestation eines übergeordneten Pathomechanismus ist. Da es aus den bereits genannten Gründen bisher nicht möglich ist, die Ätiologie der GA im Patienten zu entschlüsseln, verwenden zahlreiche Grundlagenforscher das bisher einzige Tiermodell zur GA. Es basiert auf der Beobachtung, dass ein spezifisches Rhesus-Rotavirus bei neugeborenen Balb/c-Mäusen eine GA induzieren kann, deren Inzidenz von der Spezies, der Virusmenge und dem Zeitpunkt der Infektion abhängig ist und bis zu 80% erreichen kann. Aber trotz zahlreicher Übereinstimmungen und Parallelen zwischen der GA im Tiermodell und der Erkrankung beim Menschen, müssen diese Analogien zunächst noch mit kritischer Distanz interpretiert werden. Für diesen Forschungsansatz gilt also, dass der Pathomechanismus der GA im Modell zuerst entschlüsselt und verstanden werden muss, bevor Ergebnisse aus den Tierversuchen auf die Erkrankung beim Menschen übertragen werden dürfen und vielleicht zu neuen Ansätzen bei Therapie und Prophylaxe der GA führen. . Abb. 35.1 zeigt einen Überblick über die verschiedenen Erklärungsmodelle zur Entstehung der GA.
Klinik und Diagnostik Das klinische Bild der Patienten mit Gallengangatresie unterscheidet sich zunächst nicht von gesunden Säuglingen, die einen meist harmlosen Neugeborenenikterus aufweisen. Die klassischen Symptome der GA (Ikterus, acholische Stühle, dunkler Urin, fehlende Gewichtszunahme, Hepatomegalie und Aszites) treten nur in wenigen Fällen unmittelbar nach der Geburt auf und werden dann retrospektiv
443 35.1 · Gallengangatresie
der sog. syndromatischen GA zugeordnet. Meistens entwickeln sich die genannten Symptome aber erst nach einem klinisch unauffälligen Intervall und diese Kinder werden dann der sog. nicht-syndromatischen bzw. erworbenen GA zugerechnet. Der weitere klinische Verlauf beider Formen der GA unterscheidet sich nicht voneinander, so lange assoziierte Fehlbildungen symptomlos bleiben. Tatsächlich folgt die Klinik der Gallengangatresie keinem zeitlich oder pathophysiologisch reproduzierbaren Schema und erlaubt darum auch zu keinem Zeitpunkt eine individuelle Prognose. Kinder mit GA, die nicht behandelt werden, entwickeln sehr rasch eine Leberzirrhose und versterben innerhalb der ersten 2 Lebensjahre an den Komplikationen der portalen Hypertension. Eines der bis heute brisanten Probleme ist die zu spät gestellte Diagnose. Denn mit jährlich ca. 35–40 neuen Patienten in Deutschland ist die GA eine seltene Erkrankung, deren Frühsymptome von einem meist harmlosen Icterus prolongatus kaum zu unterscheiden sind. Die Liste der Differenzialdiagnosen zum Neugeborenenikterus ist sehr lang und es bedarf pädiatrisch hepatologischer Kompetenz, um zeitnah den richtigen diagnostischen Pfad einzuschlagen. Denn auch wenn das klinische Bild der GA einer neonatalen Hepatitis zunächst am ähnlichsten ist, so kommen neben morphologischen Veränderungen (z. B. Choledochuszyste) vor allem metabolische und Speichererkrankungen der Leber in Frage.
Übersicht Differenzialdiagnose der neonatalen Cholestase 4 Extrahepatische Ursachen – Gallengangatresie – Choledochuszyste – Stenose des Ductus choledochus, Choledocholithiasis – Syndrom der eingedickten Galle – Stenose der extrahepatischen Gallenwege durch Tumoren oder Entzündung 4 Intrahepatische Ursachen – Infektion – Sepsis – Hepatotrope Viren – Stoffwechselerkrankungen – α-1-Antitrypsinmangel – Galaktosämie – Zystische Fibrose – Genetisch determinierte Erkrankungen – Alagille-Syndrom – Progressiv familiäre intrahepatische Cholestase – Caroli-Syndrom – Toxisch 6
– Total parenterale Ernährung – Medikamente – Gallenwegserkrankungen – Neonatale sklerosierende Cholangitis – Idiopathische Rarifizierung interlobulärer Gallenwege – Andere Ursachen – Neonatale Hepatitis – Syndrom der eingedickten Galle – Eisenspeichererkrankungen
Für den Verlauf der meisten Lebererkrankungen des Neugeborenen ist der Zeitpunkt der Diagnose nicht so relevant wie bei der GA. Um die Früherkennung zu verbessern, wurden bereits Screening-Programme erprobt, bei denen die Eltern die Farbe des Stuhls an Hand von Farbschablonen beurteilen und sich im Verdachtsfall an ihren Kinderarzt wenden. Der entscheidet dann über die Notwendigkeit weitere Maßnahmen. Allerdings ist die Kosten-Nutzen-Analyse solcher Programme noch nicht abschließend beantwortet und eine generelle Einführung zurzeit nicht vorgesehen. > Obwohl die operative Therapie der GA nicht deren Ursache beseitigt, scheint ein früher Zeitpunkt der Operation den weiteren Verlauf günstig zu beeinflussen. Darum sollte jedes Neugeborene, dessen Ikterus länger als 2 Wochen besteht, einer weiterführenden Diagnostik zugeführt werden.
Schon die Differenzierung des Bilirubins stellt einen wichtigen Schritt da, weil ein auf mehr als 20% erhöhter Anteil des konjugierten Bilirubins bereits für eine extrahepatische Ursache der Cholestase spricht. Von den meist nur leicht erhöhten Transaminasen weist vor allem eine erhöhte γ-GT auf eine mögliche Gallengangatresie hin. Die Sonographie der Leber ist ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik, da vor allem andere strukturelle Anomalien der Leber und Gallenwege ausgeschlossen werden können. Eine atretische Gallenblase sowie das sog. »triangular cord sign« werden von einigen Autoren zwar als spezifische Merkmale zur sonographischen Diagnose der GA angeführt, konnten sich bisher aber nicht als alleinige Standard- bzw. Ausschlussuntersuchung etablieren. Die Leberszintigraphie spielt bei der Differenzialdiagnose gegenüber anderen Lebererkrankungen eine Rolle und objektiviert bei Vorliegen einer extrahepatischen Cholestase lediglich die fehlende Ausscheidung von Galle in den Darm. Damit zählt diese Untersuchung ebenso wie die Leberbiopsie lediglich zur ergänzenden Diagnostik. Letztere kann den Verdacht auf eine GA erhärten, wenn sie u. a. eine kanalikuläre Cholestase, Entzündungen innerhalb der Portalfelder sowie eine Proliferation der Gallenwege nachweist. Allerdings sind auch diese Befunde nicht beweisend für das Vorliegen einer GA.
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444
Kapitel 35 · Erkrankungen der Leber und Gallenwege
a
b
c
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. Abb. 35.2. Variationen der extrahepatischen Manifestation der Gallengangatresie
35
In Ermangelung eines oder mehrerer pathognomonischer Parameter wird die GA aus pragmatischen Gründen immer noch aufgrund der morphologischen Veränderungen der extrahepatischen Gallenwegen definiert, obwohl es eine Erkrankung der ganzen Leber ist (. Abb. 35.2). Somit erfolgt die Diagnose der GA nach einem Ausschlussverfahren, wobei es nicht gelingt, die Durchgängigkeit der extra- und intrahepatischen Gallenwege zu dokumentieren (. Abb. 35.3). Dieser Schritt kann auf unterschiedlichem Wege erfolgen, obwohl die Spezifität nichtinvasiver Bildgebung, einschließlich der MR-Cholangiographie, heute noch nicht ausreicht. Deswegen ist die ERCP zurzeit die erste Option, die aber nur von hepatologische Zentren angeboten werden kann, die diese Untersuchungen auch bei Säuglingen regelmäßig durchführen. Mit einer ERCP kann eine GA definitiv ausgeschlossen werden, wenn sich die Gallenwege bis in den intrahepatischen Verlauf zweifelsfrei darstellen lassen. In jedem anderen Fall ist eine operative Revision des Ligamentum hepatoduodenale sowie ein intraoperatives Cholangiogramm unerlässlich. Dieses kann sowohl durch eine Laparotomie als auch auf minimalinvasivem Wege erfolgen. Dabei gilt es zu bedenken, dass eine Cholangiographie über die Gallenblase oftmals einen freien Abfluss des Kontrastmittels in das Duodenum zeigt, was unter Umständen fehlgedeutet werden kann. Die GA ist erst dann mit Sicherheit ausgeschlossen, wenn sich auch die intrahepatischen Gallenwege retrograd kontrastieren. Dazu ist es
oftmals notwendig, den distalen Ductus choledochus kurzfristig zu komprimieren.
Therapie Bis zur Mitte des 20. Jahrhundert galt die Gallengangatresie noch als inoperabel. Lediglich bei Patienten mit einer isolierten Atresie des distalen Ductus choledochus wurden die biliodigestiven Anastomosen mittels diverser Techniken erstellt. Allerdings gibt es keine verlässlichen Angaben über die klinischen Verläufe dieser Patienten und es bleibt offen, ob es sich in jedem Fall tatsächlich um eine GA gehandelt hat. Die Voraussetzung für diese vermeintlich kurativen Operationen waren prästenotisch dilatierte proximale Gallenwege, die noch einen restlichen Gallefluss aufwiesen. Aber auch diese Patienten konnten von der Operation nur dann profitierten, wenn sie im weiteren Verlauf keine Leberzirrhose entwickelten. Erst die Einführung der nach Morio Kasai benannten Kasai-Portoenterostomie eröffnete für die meisten Patienten mit GA eine therapeutische Option (. Abb.35.4). Das Prinzip dieser Operationstechnik beruht darauf, dass die Reste der extrahepatischen Gallenwege sowie eine Narbenplatte aus der Leberpforte entfernt werden. Nur wenn es gelingt, bei der Exzision dieses Gewebes möglichst viele kleinere Gallenwege anzuschneiden, kann später eine suffiziente Drainage der Galle erfolgen. Allerdings setzt der mögliche Gallefluss nicht während oder unmittelbar nach der Operation ein, da die Galle sich nicht vor der Atresie
445 35.1 · Gallengangatresie
. Abb. 35.3. Flussdiagramm der morphologischen Diagnostik bei neonataler Cholestase
aufgestaut hat und mit der Beseitigung eines mechanischen Hindernisses sofort wieder zu fließen beginnt. Der postoperative Verlauf hängt vielmehr davon ab, ob und wann sich der entzündliche Prozess entlang der intrahepatischen Gallenwege zurückbildet. Erst jetzt kann Galle sezerniert und ausgeschieden werden. Obwohl der Verlauf der GA ein selbstlimitierender Prozess der intrahepatischen Veränderungen ist, kommt der technischen Durchführung der Kasai-Operation eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei spielt nicht nur der richtige Zeitpunkt eine Rolle, sondern auch die Art des operativen Vorgehens. In diesem Zusammenhang sollte bedacht werden, dass eine bestmögliche Exposition des Ligamentum hepatoduodenale und der Leberpforte die Operation zwar erleichtert, dass die Kasai-Operation aber für die meisten Patienten nicht der einzige abdominelle Eingriff ist. > Jeder Chirurg, der Kasai-Operationen durchführt, sollte sich darum mit einem Transplantationschirurgen über die Art seines Vorgehens verständigen, um die besten Vorraussetzungen für eine mögliche Lebertransplantation zu schaffen.
In diesem Sinn ist dieser erste Eingriff auch als Vorbereitung für die spätere Lebertransplantation zu verstehen und sollte darum besonders die Position und die ausreichende
. Abb. 35.4. Für die Portoenterostomie nach Kasai wird eine ca. 50 cm lange Jejunumschlinge nach Y-Roux isoliert und retrokolisch an die Leberpforte herangeführt, wobei die Fußpunktanastomose zwischen 20 und 40 cm aboral des Treitz-Bandes liegt
35
446
Kapitel 35 · Erkrankungen der Leber und Gallenwege
Länge der Y-Roux-Schlinge berücksichtigen, damit diese auch ein zweites Mal verwendet werden kann. Operationstechnik. Das Ausmaß der Präparation und operative Details wurden bisher nicht standardisiert und sollten dem Geschick des in dieser Operation erfahrenen Operateurs überlassen bleiben. Das Prinzip der Kasai-Portoenterostomie ist aber weiterhin gültig und lässt sich mit folgenden Schritten skizzieren (. Abb. 35.5). Die Präparation im Ligamentum hepatoduodenale erfolgt sparsam und unter kontinuierlicher Koagulation kleiner Lymphgefäße, um den postoperativen Lymphverlust zu minimieren. Arterien und Pfortader sollten bis zum Niveau ihrer ersten intrahepatischen Aufzweigung dargestellt werden, weil erst jetzt die Grenzen der fibrotischen Platte in der Leberpforte ausgemacht werden können. Die Exzision erfolgt in der bestmöglichen Schicht und soweit wie möglich bis in den Rand dieser Region. Die optimale Präparation in der Leberpforte ist erst dann erreicht, wenn alles fibrotische Gewebe entfernt wird und dabei möglichst wenig Blutstillung notwendig ist. Denn mit jeder Koagulation werden nicht nur Gefäße, sondern auch diejenigen feinen Gallenwege verschlossen, die für eine Drainage der Galle notwendig sind. Die nach Y-Roux ausgeschaltete obere Jejunumschlinge sollte ca. 50 cm lang sein und retrokolisch an die Leberpfor-
te herangeführt werden. Die eigentliche Portoenterostomie kann End-zu-Seit oder auch End-zu-End durchgeführt werden. Entscheidend ist, dass die eröffnete Darmschlinge wie ein Trichter auf der Leberpforte fixiert wird, um eine möglichst große Fläche zu drainieren. Modifikationen. Die ursprüngliche Technik der KasaiOperation wurde im Verlauf der Jahre mehrfach modifiziert. Keine dieser Varianten hat sich auf Dauer durchsetzen können und die bereits 1959 publizierte Methode ist heute noch der Goldstandard. Lediglich die Präparation in der Leberpforte erfolgt jetzt ausgedehnter als in der Erstbeschreibung dieser Technik. Nicht mehr empfohlen werden ventilartige Einstülpungen am Fußpunkt der Y-RouxSchlinge, um aszendierende Infektionen zu verhindern. Das Anlegen passagerer Enterostomata sowie zusätzliche Ableitungsoperationen der Lymphe sind nicht mehr Bestandteil der aktuellen Behandlungskonzepte der GA. Auch Wiederholungsoperationen bei ausbleibendem Gallefluss sind in der Regel nicht erfolgversprechend. Postoperative Behandlung. Der Behandlungserfolg und die individuelle Prognose eines Patienten mit GA hängen aber nicht nur von einer technisch korrekt durchgeführten Operation ab. Offensichtlich spielen zahlreiche Faktoren
35
. Abb. 35.5a–c. Detailansichten der Portoenterostomie nach Kasai. a Exzision einer fibrotischen Platte aus der Pfortadergabel; anschließend wird die Präparation bis zur ersten intrahepatischen Aufzweigung der Pfortader fortgesetzt (nicht dargestellt). b Aus operationstaktischen Gründen werden die Fäden der Hinterwand separat gestochen und vorgelegt – dabei ist darauf zu achten, dass die exzidierte Fläche nicht sekundär wieder verkleinert wird. c Die Vorderwand der Portoenterostomie wird analog zur Hinterwand in Einzelknopftechnik erstellt
447 35.1 · Gallengangatresie
eine Rolle, die bisher nur unzureichend bekannt sind. Dabei unterliegen die entzündlichen intrahepatischen Veränderungen anscheinend einem selbstlimitierenden Verlauf, der sich therapeutisch nicht sicher beeinflussen lässt. Trotzdem wird die postoperative Phase vielerorts durch antiinfektiöse und antiinflammatorische Therapien ergänzt, wobei die Verwendung von Glukokortikoiden zwar weit verbreitet, der positive Effekt bisher aber noch nicht nachgewiesen ist. Postoperativ eintretende Cholangitiden scheinen für den langfristigen Verlauf ungünstig zu sein und sollen durch eine Infektprophylaxe (z. B. mit Mezlocillin) verhindert werden. Allerdings gibt es bisher keine zuverlässigen Angaben über die optimale Dosierung und Dauer der Prophylaxe. > In jedem Fall benötigen die Patienten mit GA aber eine angepasste kalorienreiche Ernährung mit MCT-Fetten, die Substitution fettlöslicher Vitamine sowie optional eine unterstützende Gabe von Cholagoga.
Die postoperative Betreuung sollte nur in Zentren erfolgen, in denen pädiatrische Hepatologen, Kinderchirurgen und Transplantationschirurgen nach einem Standardprotokoll zusammenarbeiten und Patienten mit GA regelmäßig behandeln.
Prognose und Ausblick Die Prognose der Patienten mit GA bleibt auch nach der Einführung der Kasai-Operation unkalkulierbar. Der einzige Parameter, der eine tendenzielle Einschätzung des klinischen Verlaufs ermöglicht, ist der Bilirubinwert 6 Monate nach der Kasai-Operation. In den letzten Jahren ist die Chance auf ein Langzeitüberleben kontinuierlich gestiegen und liegt heute bei über 90%. Diese Entwicklung spiegelt einerseits die bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit wider, beruht im Wesentlichen aber auf den Fortschritten in der pädiatrischen Lebertransplantation (. Tab. 35.1). Denn verbesserte Operationstechniken und angepasste Immunsuppression erlauben eine erfolgreiche Lebertransplantation auch bei Säuglingen. Außerdem entlasten die zunehmende Verwendung von Split-Lebern und die Fremdspende das ohnehin begrenzte Angebot von Spen-
derorganen (7 Kap. 49). Die Kenngröße für die Behandlung der GA bleibt aber weiterhin das Überleben mit der eigenen Leber, das nach 10 Jahren über 50% betragen kann. Allerdings ist weniger als die Hälfte dieser Patienten auch ikterusfrei. Klinische Langzeitstudien zeigen, dass auch die sog. kurativen Ergebnisse einer technisch korrekten Kasai-Operation keine Garantie für eine gute Prognose sind, weil 20 Jahre nach der Portoenterostomie nahezu alle Patienten eine Leberzirrhose ausgebildet haben. Das bedeutet aber nicht, dass diese umgehend transplantiert werden müssen, da es Fallberichte über Patienten mit GA gibt, die auch als Erwachsene klinisch beschwerdefrei leben und sogar selber wieder (gesunde) Kinder haben. Es verdeutlicht aber die Tatsache, dass die GA eine chronische Lebererkrankung ist und dass diese Patienten eine lebenslange hepatologische Begleitung benötigen. Obwohl weder das Alter des Patienten noch das Stadium der Leberfibrose zum Zeitpunkt der Kasai-Operation, mit dem Langzeitverlauf korrelieren, gilt weiterhin die Forderung nach einer frühestmöglichen Diagnose. > Weltweit wird angestrebt, dass jeder ikterische Säugling, spätestens nach Ablauf von 2 Wochen einer hepatologischen Diagnostik zugeführt werden muss, um alle Optionen auf einen günstigen Verlauf zu bewahren. Dabei sollten Diagnostik und Therapie nur in hepatologischen Zentren erfolgen, da eindeutig gezeigt werden konnte, dass für Patienten mit GA ein Überleben mit der eigenen Leber direkt mit der Behandlungsfrequenz des betreffenden Zentrums korreliert ist.
Trotz vieler Fortschritte bei Diagnose und Behandlung sind die Langzeitergebnisse der Patienten mit Gallengangatresie immer noch unbefriedigend. Denn bisher beschränkt sich die Therapie im Wesentlichen auf chirurgische Maßnahmen, die niemals die bislang unbekannte Ursache, sondern lediglich die Symptome und Folgeerkrankungen der GA behandeln. Und auch bei wohlwollender Betrachtung der aktuellen Bemühungen gibt es zurzeit keine andere Option, als die sequenzielle Therapie der GA fortzusetzen. Und das bedeutet, möglichst vielen Patienten mit einer frühen Kasai-Operation ein langes Überleben mit der eigenen
. Tab. 35.1. Langzeitergebnisse bei Gallengangatresie im internationalen Vergleich Land, Zeitraum, Zentren
Patienten
Überleben gesamt (einschließlich Lebertransplantation)
Überleben mit eigener Leber
Japan, 1989–1999, 93 Zentren
1381
5 Jahre: 76%
5 Jahre: 60%
93
5 Jahre: 85%
5 Jahre: 30%
USA, 1997–2000, 9 Zentren
104
2 Jahre: 91%
2 Jahre: 56%
Frankreich, 1997–2002, 22 Zentren
271
4 Jahre: 87%
4 Jahre: 43%
England und Wales, 1999–2002, 3 Zentren
148
4 Jahre: 89%
4 Jahre: 51%
86
5 Jahre: 83%
5 Jahre: 56%
England und Irland, 1993–1995, 15 Zentren
Deutschland, 1989–2003, 1 Zentrum
35
448
Kapitel 35 · Erkrankungen der Leber und Gallenwege
Leber zu ermöglichen. Dieses Vorgehen beinhaltet natürlich auch eine optimale postoperative Behandlung und eine sorgfältige Planung und Vorbereitung für die Lebertransplantation, die früher oder später bei den meisten Patienten mit GA erforderlich ist (7 Kap. 49). Das bedeutet aber auch, dass die Behandlung der GA erst dann eine durchgreifende Änderung erfahren wird, wenn deren Ursache endgültig aufgeklärt sein wird. Die heute noch symptomorientierte Therapie könnte dann vielleicht durch einen kausalen Behandlungsansatz ersetzt oder das Auftreten der Erkrankung sogar verhindert werden. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg und in der Zwischenzeit ist es geboten, die Behandlung der betroffenen Patienten weiter zu optimieren. Das wird aber nur im interdisziplinären und internationalen Dialog gelingen, wobei neben den klinischen Aspekten insbesondere auch die die Grundlagenforschung einzubeziehen ist.
35.2
Choledochuszyste
Definition Die Choledochuszyste (CZ) wird als zystische Erweiterung der extrahepatischen Gallenwege definiert und manifestiert sich in vielfältigen Formen. Zusätzlich können konsekutiv auch Dilatationen der intrahepatischen Gallenwege auftreten, die aber von deren primären zystischen Veränderungen, wie z. B. dem Karoli-Syndrom unterschieden werden.
Ätiologie Da es für die strukturellen Anomalien der intra- und extrahepatischen Gallenwege bisher aber keine ursächliche Erklärung gibt, ist man lediglich auf deskriptive Klassifikationen angewiesen. Für die CZ hat sich die Einteilung nach Todani durchgesetzt, in der 5 unterschiedliche Formen beschrieben werden (. Abb. 35.6). Als prädisponierende Ursache für die CZ wird heute der sog. »common chanel« favorisiert. Dabei bilden der distale
35
. Abb. 35.6. Todani-Klassifikation der Choledochuszysten. Typ I: unterschiedlich ausgeprägte Formen der Zystenbildung entlang des Ductus choledochus (DC); Typ II: Choledochuszyste als Divertikel des DC; Typ III: Choledochozele; Typ IV: multiple Zysten entlang der intraund extrahepatischen Gallenwege; Typ V: einzelne oder multiple intrahepatischen Zysten (s. a. Karoli-Syndrom)
Ductus choledochus und der Ductus pancreaticus bis zur Papilla Vateri einen gemeinsamen Verlauf, der möglicherweise einen Rückfluss von Pankreassekret in die Gallenwege begünstigt. Man vermutet, dass es dadurch zu einer enzymatisch bedingten Schwächung der Choledochuswand kommt, die dann wiederum die Dilatation begünstigt. Eine alternative Hypothese geht davon aus, dass die Galle sich vor einer kurzstreckigen Stenose des Ductus choledochus aufstaut und die Aufweitung des Gallengangs durch den erhöhten Druck bedingt ist. Bisher konnte keine dieser Theorien bewiesen werden und auch hier ist es berechtigt zu überlegen, ob die CZ auch nur eine spezifische Manifestation von Gallenwegserkrankungen ist, deren übergeordneter Pathomechanismus bislang unbekannt ist. Im Fall der Choledochuszyste spricht aber dagegen, dass diese oft bereits im dritten Trimenon diagnostiziert wird und die Prognose im Gegensatz zur BA sehr günstig ist, da postoperativ nicht mit einer fortschreitenden Fibrosierung der Leber zu rechnen ist.
Klinik und Diagnostik Die Präsentation der CZ ist extrem variabel. Sie reicht von minimalen zystischen Dilatationen, die auf eine kurze Strecke des Gallengangs beschränkt sind bis zu riesigen Formationen, die groteske Ausmaße annehmen können und alle angrenzenden Strukturen verdrängen. Wenn die CZ bereits im Rahmen der pränatalen Vorsorgeuntersuchungen entdeckt wurde, können diese Kinder nach der Geburt sofort der weiteren Diagnostik zugeführt werden, bevor die typischen Symptome auftreten. Diese entsprechen den Zeichen der neonatalen Cholestase und imponieren durch einen Ikterus von Haut und Skleren, entfärbten Stuhl sowie dunklen Urin. Im Gegensatz zur GA können diese Symptome bei der Choledochuszyste auch erst sehr viel später, sowie intermittierend auftreten und durch eine akute Cholangitis bzw. Pankreatitis kompliziert werden. Es gibt aber auch Verläufe, bei denen die klinischen Symptome so diskret sind, dass die Choledochuszyste erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird.
449 35.3 · Gallensteine
Die Laborparameter sind bei der Choledochuszyste sehr unspezifisch und entsprechen denen einer extrahepatischen Cholestase. Wegweisend für die Diagnose ist das Ultraschallbild. Es zeigt eine zystische Struktur in der Leberpforte, die sich meistens gut von der Gallenblase abgrenzen lässt. Wenn die Sonographie und die klinische Symptomatik ein schlüssiges Bild ergeben, bedarf es in der Regel keiner weiteren Bildgebung, um die Operation zu indizieren. Bestehen allerdings Zweifel an der Diagnose, dann ist ein MR-Cholangiogramm oder im Zweifelsfall auch eine ERCP angezeigt. Letztere sollte aber als invasive Maßnahme nur in Ausnahmefällen erfolgen, zumal auch das Risiko für eine aszendierende Cholangitis und Pankreatitis besteht.
Prognose Kurz- und langfristige Verläufe attestieren Patienten mit CZ eine sehr gute Prognose. Trotzdem sollte eine lebenslange fachärztliche Begleitung empfohlen werden. Sekundäre Strikturen der Anastomose sind bekannt und können ebenso wie Gallensteinen oder eine Pankreatitis jederzeit auftreten. Außerdem besteht die latente Gefahr einer späten malignen Veränderung in dem Operationsgebiet, über deren Inzidenz allerdings keine verlässlichen Angaben existieren.
35.3
Gallensteine
Ätiologie Therapie Die Therapie der Choledochuszyste erfolgt ausschließlich chirurgisch. Die Indikation begründet sich mit der Prävention von aszendierenden Entzündungen der Leber und des Pankreas, sowie dem Risiko der malignen Entartung der veränderten Gallenwege. > Das Prinzip der Operation besteht darin, die zystischen Veränderungen des Ductus choledochus vollständig zu entfernen und eine biliodigestive Anastomose zu erstellen.
Die sich immer weiter entwickelnden Möglichkeiten der minimalinvasiven Chirurgie erlauben heute auch bei Säuglingen, das laparoskopische Vorgehen optional einzusetzen. Bei extrem großen Zysten und bei Patienten, die rezidivierende Cholangitiden erfahren haben, kann die Orientierung aber so stark eingeschränkt sein, dass ein offenes Vorgehen anzuraten ist. Und gerade bei diesen Patienten stellt auch die konventionelle Chirurgie höchste Ansprüche an den Operateur, da die Präparation der stark vernarbten CZ extrem schwierig sein kann. Wenn es nicht gelingen sollte, die narbige und entzündete Zystenwand von den Gefäßen im Ligamentum hepatoduodenale zu isolieren, ohne diese zu verletzen, muss man sich auf die Entfernung der epithelialen Auskleidung beschränken. ! Cave Eine Kompromittierung der Gefäße im Leberhilus ist auf alle Fälle zu vermeiden.
In den meisten Fällen reicht die zystische Veränderung aber nicht bis in die Leberpforte, so dass sich an dieser Stelle normal weite Gallenwege finden. Diese werden dann – analog zur Kasai-Operation – mit einer ca. 50 cm langen YRoux-Schlinge anastomosiert. Das Risiko einer postoperativen aszendierenden Cholangitis ist bei der Choledochuszyste sehr gering, so dass nach einer perioperativen Antibiotikagabe eine langfristige Infektprophylaxe nicht empfohlen wird. Wenn sich in der Leberprobe, die bei der Operation entnommenen wurde, keine Fibrose zeigt, so ist mit deren Entstehung auch nicht mehr zu rechnen und der Patient lebt ohne chronische Lebererkrankung.
In jüngster Zeit werden bei Kindern und Jugendlichen immer häufiger Gallensteine diagnostiziert. Dabei ist es nicht bekannt, ob dieses Phänomen auf geänderte Lebens- und Ernährungsformen zurückzuführen ist, oder ob lediglich die Diagnostik verbessert wurde. Im Kindesalter unterscheidet man grundsätzlich zwischen 2 Ursachen für die Entstehung von Gallensteinen. An erster Stelle steht immer noch eine verstärkte Hämolyse bei hämatologischen Erkrankungen (z. B. Sichelzellanämie, Thalassämie, hereditäre Sphärozytose, 7 Kap. 6). Andere Ursachen sind totale parenterale Ernährung (7 Kap. 4 und Kap. 28), längerfristige Behandlung mit Cephalosporinen, zystische Fibrose, Übergewicht und wahrscheinlich auch eine genetische Disposition.
Klinik und Diagnostik Die klinischen Symptome von Gallensteinen sind bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen. Wichtig ist daran zu denken, dass die Cholelithiasis bei Kindern jeden Alters vorkommen kann. Das bedeutet natürlich auch, dass Kinder symptomlose Träger von Gallensteinen sein können. Ikterus, Koliken, Cholezystitis und Pankreatitis sind die bekannten Folgen symptomatischer Cholezysto- und Choledocholithiasis und die Symptome variieren vom schmerzfreien Ikterus bis zum akuten Bauchschmerz. Auch spontane Perforationen sind möglich. Die Diagnostik folgt denselben Algorhythmen wie beim Erwachsenen. Der Ultraschall ist die wichtigste Untersuchung und zusätzliche bildgebende Verfahren, in erster Linie das MR-Cholangigramm, sind nur dann angezeigt, wenn Begleiterkrankungen beurteilt werden sollen. Der Einsatz der ERCP erfolgt ebenfalls nur dann, wenn Konkremente im Choledochus vermutet werden. Dabei können auch die therapeutischen Optionen einer ERCP eingesetzt werden. Diese Möglichkeit besteht heute auch bei Säuglingen, sollte aber nur in Zentren durchgeführt werden, die über eine entsprechende technische Ausstattung und ausreichende Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen.
Therapie Die Indikation zur Behandlung der Gallensteine richtet sich nach der Ursache und der Klinik, wobei Patienten ohne
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450
Kapitel 35 · Erkrankungen der Leber und Gallenwege
Symptome auch keiner Therapie bedürfen. Wenn die Steine aber Beschwerden verursachen oder nach Jahren nicht spontan verschwinden, ist eine chirurgische Behandlung angezeigt. Das gleiche gilt auch für die Cholelithiasis als Begleitphänomen hämatologischer Erkrankungen. Die Effektivität der medikamentösen Auflösung von Gallensteinen oder die extrakorporale Stoßwellenlithotrypsie wurde für Kinder bis heute nicht nachgewiesen. Die laparoskopische Cholezystektomie ist heute eine Routineoperation und gilt auch bei Kindern jeden Alters bereits als Standardverfahren.
35.4
Portale Hypertension
Ätiologie Eine portale Hypertension (PH) liegt vor, wenn der Druck in der Pfortader über 5–8 cm H2O beträgt oder die Druckdifferenz zwischen den Lebervenen und der Pfortader größer als 5 cm H2O ist. Die PH im Kindesalter entsteht als Folge zweier unterschiedlicher Pathomechanismen, die bei diversen Erkrankungen eintreten können.
Übersicht Ursachen der portalen Hypertension 4 Hepatozelluläre Erkrankungen – Gallengangatresie – Primär sklerosierende Cholangitis – Stoffwechselerkrankungen (z. B. α-1-Antitrypsinmangel) – Postinfektiöse Leberzirrhose 4 Vaskuläre Erkrankungen – Prähepatisch: Pfortadertrombose oder -kompression – Posthepatisch: Budd-Chiary-Syndrom
35
Wenn die PH auf dem Boden intrahepatischer Veränderungen entsteht, so liegt die Ursache meistens in einer chronisch progredienten Leber- bzw. Gallenwegserkrankung. Durch den kontinuierlichen fibrotischen Umbau der Portalfelder erhöht sich dann der Widerstand im Portalkreislauf bis hin zur Strömungsumkehr. Im Gegensatz zu dieser Form der PH, die sich schleichend entwickelt, kann die prähepatische Ursache einer Pfortaderthrombose unerkannt bleiben, bis erste klinische Symptome Anlass zur Diagnostik geben. Dann wird nach entzündlichen oder malignen Erkrankungen geforscht, die als Ursache ebenso in Frage kommen, wie Erkrankungen in der Säuglingszeit, in deren Verlauf z. B. ein Nabelvenenkatheter gelegt wurde. Allerdings wird diese Maßnahme eher mit dem Auftreten eines Budd-Chiary-Syndroms in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zur prähepatischen Ätiologie der HP ist die Prognose des posthepatischen Blocks wesentlich schlechter,
da dieser sich konsekutiv auch auf die Hepatozyten und deren Funktion auswirkt. Allerdings ist diese Ursache der HP im Kindesalter eher selten.
Klinik und Diagnostik Das klinische Bild der PH wird durch die Entstehung von Ösophagusvarizen und deren Blutungsrisiko bestimmt. Eine akute Blutung kann lebensbedrohliche Ausmaße annehmen und bedarf zunächst notfall- und intensivmedizinischer Maßnahmen, bevor die Ösophagoskopie und ggf. Sklerosierung der Varizen erfolgt. Eine weitere Folgeerscheinung der HP ist die Splenomegalie und die damit einhergehende Thrombo- und ggf. auch Leukopenie. Außerdem besteht bei einer vergrößerten Milz das Risiko einer Ruptur auch in Folge eines Bagatelltraumas. Die Bildung von Aszites ist meistens ein Zeichen der globalen Leberinsuffizienz und nur selten ausschließlich durch die vaskuläre Ursache der HP bedingt. Das gleiche gilt auch für Blutungen außerhalb des Magendarmtrakts, die Enzephalopathie und das hepatopulmonale Syndrom. Die Diagnose der PH erfolgt meistens im Rahmen von Verlaufsuntersuchungen der vorbestehenden Lebererkrankungen. Das gilt auch für die Leberbiopsie, die nur dann erfolgt, wenn das Ausmaß einer möglichen Leberfibrose beurteilen werden soll. > Von zentraler Bedeutung ist die wiederholte Ösophagoskopie zur Beurteilung und ggf. prophylaktischen Sklerosierung der Ösophagusvarizen. Für die Planung von weiterführenden Maßnahmen, wie z. B. Shunt-Chirurgie, ist eine detaillierte Gefäßdarstellung einschließlich Druckmessung oder eine MR-Angiographie notwendig.
Therapie Für die Behandlung der HP gibt es weder für erwachsene Patienten noch für Kinder evidenzbasierte Empfehlungen. Prinzipiell konkurrieren weniger invasive Maßnahmen mit dem Konzept der frühzeitigen Shunt-Operationen. Die mehr konservativ ausgerichtete Therapie fokussiert sich darauf, das Risiko lebensbedrohlicher Blutungen zu verringern und empfiehlt die regelmäßige Ösophagoskopie und die prophylaktische Behandlung der Varizen. Diese kann durch Sklerosierung oder durch Gummibandligaturen erfolgen. Diese Maßnahmen sowie eine Behandlung mit Somatostatin sollen unvorhersehbare akute Blutungsereignisse verhindern und damit den Patienten ein risikoärmeres Leben ermöglichen. Allerdings erfolgt auch die chirurgische Therapie nur symptomorientiert, wobei es zwei Ansätze zur Entlastung des Pfortaderkreislaufs gibt. Portokavale Shunts, die entweder Seit-zu-Seit oder mittels eines Interponats angelegt werden, leiten den portalen Venenfluss komplett an der Leber vorbei. Partielle Shunts, wie der mesenterikokavale oder der splenorenale Shunt entlasten die Pfortader partiell.
451 35.5 · Andere Lebererkrankungen
Eine spezielle Konstellation besteht bei Patienten mit einer extrahepatischen Pfortaderthrombose, wenn der Processus Rex der linken Pfortader noch offen ist und in den der mesenteriale Blutfluss umgelenkt werden kann. Der Vorteil des Rex-Shunts besteht darin, dass der mesenteriale Durchfluss der Leber teilweise oder sogar vollständig wiederhergestellt werden kann und somit das Risiko für Komplikationen nach einer Shunt-Operation verringert wird. Dazu zählen die postoperative Aszitesbildung, die Thrombosierung des Shunts und die Ausbildung einer Encephalopathie sowie die Gefahr der Blutungskomplikation aus den Umgehungskreisläufen. Eine weitere Option ist die Technik des transjugulären intrahepatischen portosystemischen Shunts (TIPS). Allerdings ist deren Einsatz eher eine begleitende Maßnahme im konservativen Konzept der regelmäßigen Sklerosierung der Ösophagusvarizen oder palliativ, um die Zeit bis zu einer geplanten Lebertransplantation zu überbrücken. Aus technischen Gründen kann diese Technik bisher auch nur bei älteren Kindern eingesetzt werden. Details zu den genannten Verfahren finden sich in der Literatur der Viszeralchirurgie, da diese Techniken dort entwickelt wurden und nach den gleichen Kriterien auch bei Kindern eingesetzt werden. Das gilt auch für die Lebertransplantation, die bei der Behandlung der PH immer noch die Ultima ratio bleibt.
35.5
Andere Lebererkrankungen
Leberabszesse Abszessbildungen in der Leber sind im Kindesalter extrem selten und treten meistens bei immunkompromittierten Patienten auf (kongenitaler Immundefekt, Immunsuppression nach Transplantation, Chemotherapie). Die Verdachtsdiagnose wird zunächst durch Ultraschall gestellt und sollte durch ein Computertomogramm bestätigt werden. Die primäre Behandlung erfolgt durch eine perkutane Drainage in Kombination mit antibiotischer Behandlung. Resezierende Verfahren sind erst angezeigt, wenn dieser Ansatz nicht zum Erfolg führt.
Echinococcus-Zyste Eine spezielle Form der infektiösen Lebererkrankung ist die Entstehung von Echinococcus-Zysten durch die Aufnahme von Finnen des Hundebandwurms (Echinococcus alveolaris). Die zunächst unbemerkt wachsenden Zysten können Schmerzen bereiten, wenn sie eine kritische Größe überschreiten. Dann besteht auch die Gefahr, dass diese in die freie Bauchhöhle oder in benachbarte Organe rupturieren. Die Verdachtsdiagnose ergibt sich bereits durch ein typisches Bild im Ultraschall und wird durch die serologische Untersuchung bestätigt. Die Therapie erfolgt in jedem Fall zunächst mit dem Anthelminthikum Albendazol. Über die weitere Vorgehensweise herrscht noch Uneinigkeit. Das PAIR-Verfahren (»puncture – aspiration – injection – reas-
piration«) mit z. B. 20% hypertoner NaCl-Lösung sollte auf jeden Fall erfolgen, um noch verbliebene und vitale Skolizes abzutöten. Ob diese Maßnahme als alleinige Intervention ausreicht, ist bisher nicht belegt, zumal das Risiko besteht, dass sich die Resthöhle sekundär infizieren kann. Als Standardverfahren wird die offene oder laparoskopische Entfernung der sog. Endozyste empfohlen, wobei die Ränder der Perizyste marsupialisiert werden. Für die Erarbeitung eines individuellen Therapieschemas sollte natürlich auch ein möglicher Befall der Lunge geprüft und das Behandlungskonzept mit einem parasitologischen Referenzzentrum abgestimmt werden.
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452
Kapitel 35 · Erkrankungen der Leber und Gallenwege
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35
36
36 Chirurgie des Pankreas D. von Schweinitz 36.1
Embryologie und Anatomie des Pankreas – 453
36.2
Kongenitale Anomalien – 454
36.2.1 36.2.2 36.2.3 36.2.4
Pankreasaplasie – 454 Ektopes Pankreasgewebe Pancreas anulare – 455 Pancreas divisum – 455
36.3
Pankreatitis
36.3.1 36.3.2 36.3.3 36.3.4
Akute Pankreatitis – 455 Chronische Pankreatitis – 458 Pankreasfisteln – 460 Pankreaspseudozysten – 460
Pankreaszysten
36.4.1 36.4.2
Kongenitale Zysten – 461 Duktäre Retentionszysten – 461
– 461
36.5
Pankreastrauma
36.6
Endokrine Erkrankungen des Pankreas – 462
36.6.1
Infantile, persistierende hyperinsulinämische Hypoglykämie – 462 Endokrine Tumoren – 463
– 461
– 454
– 455
> Chirurgische Erkrankungen des Pankreas sind im Kindesalter selten. Sie umfassen dabei aber ein breites Spektrum von angeborenen Anomalien, Entzündungen und deren Folgen, stoffwechselrelevanten Veränderungen und Neoplasien. In diesem Kapitel wird neben einer kurzen Übersicht über Embryologie und Anatomie des Pankreas ein Überblick über diese Erkrankungen gegeben. Auf die Abhandlung der fast ausschließlich malignen Tumoren des exokrinen Pankreas wird hier verzichtet, da diese zusammen mit anderen onkologischen Erkrankungen der Viszeralorgane beschrieben werden (7 Kap. 45).
36.1
36.4
Embryologie und Anatomie des Pankreas
Mit Kenntnis der embryologischen Entstehung lassen sich die komplizierte Anatomie des Pankreas und seine Variationen besser verstehen. Das Pankreas entsteht aus zwei Organanlagen (Hinrichsen 1998): In der 5. Schwangerschaftswoche wird eine dorsale Anlage aus einer Knospung des Urdarmes in Höhe des späteren Duodenums gebildet, eine ventrale Anlage erwächst aus der zunächst ventral gelegenen hepatobiliären Knospe. Diese hepatobiliäre Anlage mit der ventralen Pankreasanlage rotiert in der 6. Schwangerschaftswoche (SSW) um den Urdarm herum, so dass der spätere Gallengang hinter das Duodenum und die ventrale Pankreasanlage neben die dorsale zu liegen kommen. Sie fusionieren in der 7. SSW, wobei der Processus uncinatus
36.6.2
Literatur – 465
und der größte Anteil des Pankreaskopfes aus der ventralen, der kraniale Anteil des Kopfes, der Körper und der Schwanz hingegen aus der dorsalen Pankreasanlage stammen (. Abb. 36.1). So bildet auch der ehemals ventrale Gang den Ductus Wirsungianus, der als Pankreashauptgang gemeinsam mit dem Ductus choledochus auf der Papilla major mündet, der ehemals dorsale Gang den akzessorischen Ductus Santorini mit einer Mündung entweder an der kranialen Papilla minor oder/und retrograd in den Ductus Wirsungianus. Ab der 12. SSW werden erste Acini gebildet, jedoch kommt die eigentliche exokrine Pankreasfunktion erst nach der Geburt in Gang. Viel früher werden Langerhans-Inseln ausdifferenziert und eine Hormonproduktion beginnt ab Ende des dritten Monats. Diese hat offensichtlich eine wichtige Homöostasefunktion. Während der Fetalzeit machen Langerhans-Inseln ca. 10% des Pankreasgewebes aus, um bis ins Erwachsenenalter mit <1% abzunehmen. Neuere Erkenntnisse legen nahe, dass die Expression des entwicklungsassoziierten »Sonic-hedgehog«-Gens eine bedeutsame Rolle bei der Pankreasentwicklung hat (Mehta u. Gittes 2005). Anatomisch ist das Pankreas retroperitoneal, sich links in das duodenale C schmiegend vor der Wirbelsäule gelegen. Nach dorsal wird es zusammen mit dem Duodenum von der Treitz-Faszie begrenzt, die auch seine En-bloc-Mobilisierung mit dem Duodenum nach Kocher ermöglicht. Ventral des Pankreas liegt die Bursa omentalis. Das Pankreas selber hat dabei keine eigene Kapsel und hat eine eher
454
Kapitel 36 · Chirurgie des Pankreas
. Abb. 36.1. Die embryonale Entwicklung der beiden Pankreasanlagen. a Situation 5. SSW mit Magenanlage (1), hepatobiliärer Knospe (2), ventraler (3) und dorsaler (4) Pankreasanlage. b Die ventrale Anlage ist um das Duodenum nach links rotiert (6. SSW). c Fusion der beiden Pankreasanlagen (7. SSW)
a
weiche und zerfließliche Konsistenz. Im duodenalen C liegt der Kopf mit dem Processus uncinatus, links anschließend vor dem Mesenterialgefäßstiel der Hals und, nach kranial ansteigend und bis in den Milzhilus hereinreichend, der Körper und der Schwanz. Nach kaudal wird das Pankreas vom Ansatz des Mesokolons begrenzt. Das Pankreassekret wird vor allem über den Ductus Wirsungianus vom Schwanz bis zum Kopf und die Papilla major ins Duodenum abgeleitet, im kranialen Kopfanteil über den Ductus Santorini und die Papilla minor. In der Regel trifft sich der Ductus Wirsungianus mit dem Ductus choledochus kurz vor der Einmündung in die Papille. Bei 40% aller Menschen liegen aber Varianten hierzu vor, die chirurgisch bedeutsam sind (Bürger 1982). ! Cave Die Lage des Pankreas weit dorsal mit Beziehung zu vielen anderen Strukturen muss für die Chirurgie beachtet werden, genau wie die durch diese Anatomie bedingte komplizierte Gefäßversorgung des Organs.
36
Die arterielle Zufuhr stammt aus dem Truncus coeliacus über die Arteria hepatica und die Arteriae pancreaticoduodenales superiores sowie die Arteria lienalis sowie über die Arteria mesenterica superior und die Arteriae pancreaticoduodenales inferiores. Sie unterliegt aber vielfältigen Variationen. Ebenso kompliziert ist der venöse Abstrom über mehrere Gefäße in die Vena mesenterica superior, den venösen Konfluens, die Vena lienalis und direkt in die Pfortader. Die Gefäße im Kopfbereich versorgen gleichzeitig das Duodenum. Das Pankreas wird lymphatisch quasi in alle Richtungen ins Retroperitoneum hinein drainiert. Hier werden elf verschiedene Lymphknotengruppen definiert, was insbesondere bei der Resektion maligner Tumoren eine Bedeutung hat.
c
b
> Als operativen Zugang wählt man bei Kindern in der Regel eine quere Oberbauchlaparotomie. Die Freilegung des Pankreas erfolgt von vorne durch das Ligamentum gastrocolicum. An seiner Rückseite kann das Pankreas dann von rechts über ein Kocher-Manöver, von links über die eine Mobilisierung der Milz dargestellt werden (Beglinger et al. 2006).
36.2
Kongenitale Anomalien
36.2.1
Pankreasaplasie
Das völlige Fehlen des Pankreas ist sehr selten und führt zu schwerer intrauteriner Dystrophie, Hyperglykämie und postnataler Maldigestion, die in der Regel nicht mit einem Überleben vereinbar sind. Extrem selten ist das Fehlen der dorsalen Anlage, d. h. von Körper und Schwanz als Zufallsbefund ohne sonstige Symptome. Ebenfalls extrem selten ist das Fehlen der Inselzellanlage mit schwersten Hyperglykämien, wie auch das Fehlen des exokrinen, azinösen Gewebes, wobei in beiden Fällen langfristig ein Überleben kaum möglich ist (Bürger 1982).
36.2.2
Ektopes Pankreasgewebe
Ektopes Pankreasgewebe kann bei 2% der Bevölkerung in allen Derivaten der ehemaligen embryonalen Darmanlage gefunden werden. Die Ursache für diese ektopen Pankreasreste ist unklar. Meist bleiben diese symptomlos. Am häufigsten finden sie sich im oberen Magen-Darm-Trakt, selten im Dünndarm oder in einem Meckel-Divertikel, sehr selten im großen Netz, Mesenterium, am Nabel, in Leber, Milz oder anderen Organen. Sie können jedoch, je nach Lokalisation, zu Entzündungen, Blutungen und Ulzera führen. Ganz selten einmal können sie auch Ausgangspunkt für eine Tumorentwicklung sein. In diesen Fällen werden sie anlässlich des notwendigen chirurgischen Eingriffs festgestellt.
455 36.3 · Pankreatitis
> Wird ektopes Pankreasgewebe bei einer Operation zufällig entdeckt, sollte dieses vorsichtshalber exzidiert werden (Mehta u. Gittes 2005).
36.2.3
Pancreas anulare
Aufgrund einer fehlerhaft ablaufenden Rotation der Pankreasanlage kommt es zu einem partiellen oder geschlossenen Gewebering um die Duodenalanlage, die sich dort dann nicht mehr ausreichend entwickeln kann. Dies kann zu einer Atresie bzw. einer Stenose des Duodenums führen. Das Pankreas anulare ist auch assoziiert mit intestinaler Malrotation und Trisomie 21 (Mehta u. Gittes 2005). Die Symptome, Diagnostik und Therapie entsprechen anderen Formen der kongenitalen Duodenalatresie und werden im 7 Kap. 26 abgehandelt. ! Cave Bei der Korrekturoperation der Duodenalatresie bei Pancreas anulare sollte unbedingt beachtet werden, dass der Pankreasgewebering nicht durchtrennt oder reseziert werden darf.
36.2.4
Pancreas divisum
In 5–10% der Bevölkerung ist es durch Ausbleiben einer Fusion des dorsalen mit dem ventralen Pankreasgang zu einer verbleibenden Trennung der Anlagen gekommen. Daraus resultiert, dass der Großteil des Pankreassekretes vom Schwanz bis zum Kopf über den schmalen Ductus Santorini und die Papilla minor drainiert werden muss. Dies führt gehäuft zu einer relativen Obstruktion und nachfolgender Pankreatitis, die zunächst konservativ behandelt wird (7 Kap. 36.3.1). Kommt es zu einer rezidivierenden oder chronischen Pankreatitis, kann eine Papillotomie mit Stenteinlage notwendig werden (7 Kap. 36.3.2).
36.3
Pankreatitis
36.3.1
Akute Pankreatitis
Die akute Pankreatitis ist eine akute Entzündung des Pankreas, die vom Schweregrad sehr mild ohne wesentliche Symptome bis zur fulminanten nekrotisierenden Form mit hoher Letalität verlaufen kann. Es wird davon ausgegangen, dass eine komplette funktionale und morphologische Heilung eintreten kann. Die Erkrankung kann auch wiederholt in Schüben als rezidivierende akute Pankreatitis auftreten. Im Kindesalter tritt die Pankreatitis selten auf, über die genaue Inzidenz ist wenig bekannt.
Ätiologie Die häufigste Ursache für eine Pankreasaffektion im Kindesalter ist das stumpfe Bauchtrauma. Durch die fixierte Lage des Pankreas vor der Wirbelsäule können schon relativ leichte Schläge, wie typischerweise durch einen Fahrradlenker, zu einer Quetschung und kleinen intraparenchymatösen Rupturen führen. Wie beim Erwachsenen können auch bei Kindern Gallensteine den Pankreasgang obstruieren und eine Pankreatitis hervorrufen. Eine Choledochuszyste (7 Kap. 35) kann eine solche durch äußere Kompression des Ganges oder durch galligen Reflux bedingen (Mehta u. Gittes 2005). Die wichtigste angeborene Pankreasgangveränderung, die zu Sekretstau und Pankreatitis führen kann, liegt beim Pancreas divisum (7 Kap. 36.2.4) vor. Hier kommt es oft zu einem schubartigen, rezidivierenden Verlauf der Entzündung. In solchen Fällen ist eine plastische Erweiterung der Papilla minor indiziert, die entweder endoskopisch im Rahmen einer ERCP mit Stenteinlage, oder wegen zu kleiner Verhältnisse bei noch jungen Kindern auch über eine offene Duodenotomie durchzuführen ist. Andere Pankreasganganomalien sind selten, können aber ebenfalls eine Obstruktion bedingen. Eine Reihe von Medikamenten, insbesondere Kortikosteroide und Valproinsäure, wurden als Ursache einer Pankreatitis angeschuldigt. Virusinfektionen, wie z. B. Mumps, Infektionen mit Coxsackie-Viren und Rotaviren, können eine akute Pankreatitis hervorrufen. Dies gilt auch für eine Anzahl anderer generalisierter Erkrankungen, wie Mukoviszidose, Reye-Syndrom, Kawasaki-Syndrom, Hyperlipoproteinämie, Hyperparathyreoidismus, Lupus erythematodes, Purpura Schönlein-Hennoch, Hämochromatose und Immunsuppression nach Organtransplantation (Whitcomb u. Lowe 2004). Die familiäre Pankreatitis zeichnet sich durch das Auftreten bei mehreren Familienmitgliedern schon im Kindesalter und durch einen autosomal dominanten Erbgang unterschiedlicher Penetranz aus. Ihre Entstehung ist auf Mutationen im Bereich von Chromosom 7q35, speziell im kationischen Trypsinogen-Gen oder im SPINK1Gen zurückzuführen. In Folge dieser Mutationen kommt es zu einer pathologischen Aktivierung des Trypsinogens oder einer fehlenden Inhibition der Trypsinogenaktivierung. Dies führt zu rezidivierenden Pankreatitisschüben, die in der Regel bei diesen Patienten ab dem Schulalter klinisch relevant werden (7 Kap. 36.3.2; Whitcomb u. Lowe 2004). > Bei Verdacht auf eine familiäre Pankreatitis, insbesondere rezidivierenden Pankreatitisschüben im Kindesalter, sollte mit molekulargenetischen Untersuchungen nach Mutationen im kationischen Trypsinogen-Gen oder SPINK1-Gen gefahndet werden.
36
456
Kapitel 36 · Chirurgie des Pankreas
In einigen Fällen schließlich kann die Ursache einer Pankreatitis gar nicht festgestellt werden.
Pathogenese Trotz intensiver Forschung über viele Jahrzehnte ist die Pathogenese der Entstehung einer Pankreatitis nicht im Detail geklärt. Sicher gehört eine inadäquate Aktivierung der pankreatischen Proenzyme an zentraler Stelle dazu. Dies kann durch einen zellulären Schaden bedingt sein, jedoch auch durch einen Reflux duodenaler Enterokinase, durch eine Gangobstruktion mit Austritt der Pankreasenzyme in das Gewebe oder durch eine Fusion von Lysosomen mit Zymogengranula in den Azinuszellen, was jeweils eine Aktivierung der Proenzyme im Pankreasgewebe bedingt. Hier bewirken dann die aktivierte Elastase, Lipase, Proteasen, Phospholipasen teils direkt, teils über den Tumor Necrosis Faktor-α, über freie Radikale wie Sauerstoffsuperoxid, aber auch über vasoaktive Substanzen wie Histamin und Kallikrein eine Zerstörung des Gewebes. Nach Arrosion von Blutgefäßen kann es dann zu diffusen Einblutungen im Sinne einer hämorrhagischen Pankreatitis kommen.
Klinik und Diagnostik Die akute Pankreatitis beginnt klinisch in der Regel plötzlich mit Schmerzen im Epigastrium, Rückenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, eventuell mit geringem Fieber. Das Abdomen ist durch Darmatonie gebläht und die Bauchdecken gering gespannt mit Anzeichen für eine Peritonitis. Bei Auftreten einer schweren hämorrhagischen oder nekrotisierenden Pankreatitis können nach 1–2 Tagen typische Ekchymosen in den Flanken (Grey-Turner-Zeichen) oder am Nabel (Cullons-Zeichen) auftreten. Labordiagnostik. Erhöhte Werte der Amylase im Serum
und Urin sind hinweisend auf eine akute Pankreatitis, können aber auch bei anderen Erkrankungen, insbesondere bei Affektionen der Speicheldrüsen vorkommen. Eine Erhöhung der Serumlipase ist jedoch spezifischer und ein Anstieg über dem 3-fachen der oberen Norm differenziert eine akute Pankreatitis von nicht pankreatogenen Bauchschmerzen. Die Lipase normalisiert sich langsamer (5–7 Tage) als die Amylase (Halbwertszeit 10 h). ! Cave
36
Bei einer akuten, vor allem fulminanten Pankreatitis können durchaus normale Lipase- und Amylasewerte vorkommen (Totalnekrose).
Weitere Laboruntersuchungen, wie Blutbild, CrP, Blutzucker, Harnstoff, Kreatinin, Elektrolyte, Leberwerte und Säure-Basen-Status tragen nicht zur Diagnosestellung bei, sind aber wichtig als Ausgangsbefunde für Kontrollen und für den Ausschluss einer Hepatitis und von Gallenwegserkrankungen (Koletzko 2005).
Bildgebende Diagnostik. Als erste Bildgebung sollte immer versucht werden, mittels Ultraschall das Pankreas mit einer aufgelockerten Binnenstruktur und veränderter Echogenität durch Ödem darzustellen. Kontrollen sollten alle 3–4 Tage erfolgen. In Röntgen-Abdomenübersichtsaufnahmen in Rücken- und Seitenlage können Verkalkungen und Steine gesehen werden, vor allem aber andere Ursachen eines akuten Abdomens, wie ein mechanischer Ileus oder eine Darmperforation ausgeschlossen werden. Eine genauere Darstellung des Pankreas gelingt im Kontrastmittel-CT oder MRT. Hiermit sind das Ödem, die Weite des Pankreasganges, pathologische Strukturen als Ursache der Entzündung, aber auch Komplikationen wie Nekroseareale oder Pseudozysten sichtbar zu machen. Deshalb ist eine dieser Untersuchungen bei schweren Verlaufsformen immer angezeigt (Mehta u. Gittes 2005). Eine ERCP ist zwar auch bei Kindern durch Spezialisten durchführbar (Prasil et al. 2001) und sie kann bei biliärer Obstruktion mit Cholangitis sinnvoll sein, ist aber ansonsten bei der schweren akuten Pankreatitis oder bei Abszessbildung zunächst kontraindiziert. Weniger invasiv und komplikationsärmer ist heute die Darstellung der Gangstrukturen mittels MRCP möglich, weshalb diese Untersuchung der ERCP vorgezogen werden sollte.
Klassifikation Der Schweregrad der Pankreatitis bestimmt die zu ergreifenden Therapiemaßnahmen und die Prognose. Die Abschätzung des Schweregrades erfolgt nach den klinischen Befunden und Laborparametern, wobei für das Kindesalter kein Punkte-Score existiert (Koletzko 2005). Die in der folgenden Übersicht aufgeführten Befunde weisen jedoch auf eine schwere hämorrhagische oder nekrotisierende Verlaufsform mit ungünstiger Prognose hin.
Übersicht Hinweise auf schwere akute Pankreatitis und ungünstige Prognose 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Koma Nierenversagen Schock, RR-Abfall Lungenödem Hb-Abfall CrP stark erhöht Hyperglykämie Hypokalziämie Hypoxie Hypoproteinämie Nachweis von Nekrose und/oder Einblutungen im CT
457 36.3 · Pankreatitis
Therapie Die Therapie umfasst im Wesentlichen symptomatische Maßnahmen zur Schmerzbekämpfung und der Verhinderung von Komplikationen. Ursächliche Noxen, wie z. B. Medikamente, sind sofort zu beseitigen, wie auch andere behandelbare Ursachen, z. B. Steine. Konservative Therapie. Bei der leichten Verlaufsform ohne Nekrosen erfolgt zunächst eine Basistherapie. Hier steht an
erster Stelle die Nahrungskarenz, bis Schmerzfreiheit eingetreten ist. Dann kann vorsichtig die orale Ernährung mit fettarmer Kost begonnen werden, was sich nach den Beschwerden, nicht aber nach dem Verlauf der Pankreasenzyme richten sollte. Wichtig ist parallel eine großzügige parenterale Flüssigkeitssubstitution. Der Flüssigkeitsbedarf wird auch bei leichtem Verlauf häufig unterschätzt. Der Elektrolyt- und Säure-Base-Haushalt muss ausgeglichen werden. Eine Magensonde ist nur bei Auftreten von Erbrechen und paralytischem Ileus notwendig. Bei schwerer Pankreatitis ist auch im Kindesalter die Gabe eines Protonenpumpeninhibitors zur Stressulkusprophylaxe indiziert. Wichtig ist auch eine adäquate Schmerztherapie. Da Morphin einen Spasmus des Sphinkter Oddi bewirkt und damit die Pankreatitis verschlechtern kann, sollte neben peripher wirkenden Analgetika besser Pentazocin, Petidin oder Tilidin i.v. oder als Dauerinfusion verabreicht werden. Für Erwachsene wird auch Procainhydrochlorid in Dauerinfusion als Basismedikation empfohlen (Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 2000). Hiermit besteht bei Kindern noch keine gut dokumentierte Erfahrung (Koletzko 2005). Bei schweren Verlaufsformen mit nachgewiesenen Nekrosen muss diese Basistherapie erweitert werden. In diesen Fällen sollte eine Prophylaxe mit einem Breitbandantibiotikum erfolgen. Hier hat sich bei Erwachsenen besonders Imipenem wegen seiner guten bakteriziden Spiegel im Pankreasgewebe bewährt (Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 2000) und kann auch für das Kindesalter empfohlen werden. Die Gabe (3-mal 15 mg/kg KG/Tag i.v.) sollte mindestens zwei, im Einzelfall bis zu vier Wochen fortgeführt werden. Eine Kombination mit Vancomycin (3-mal 20 mg/kg KG/Tag i.v.) kann bei Verdacht auf Staphylokokken, Enterokokken oder Clostridien sinnvoll sein. Als Alternative werden für Erwachsene auch Ciprofloxacin kombiniert mit Metronidazol empfohlen. Diese Medikamente können auch bei Kindern nach entsprechendem Keimnachweis verwendet werden (Ciprofloxacin 2-mal 30 mg/ kg KG/Tag; Metronidazol 3-mal 10 mg/kg KG/Tag). Die Wertigkeit einer Darmdekontamination, z. B. mit Colistin, Humatin oder Metronidazol oral und intrarektal ist umstritten. Bei metabolischen Störungen sind diese auszugleichen, z. B. durch Kalzium- und Magnesiumsubstitution, bei Hyperglykämien durch Insulingaben und bei Niereninsuffizienz durch Diuretika. Bei schwerer respiratorischer Insuffizienz kann eine maschinelle Beatmung des Patienten notwendig werden.
Die totale parenterale Ernährung (TPN; 7 Kap. 4) gilt bei den meisten Autoren nach wie vor als essenzieller Baustein der Therapie bei der schweren akuten Pankreatitis. Hier wird eine Hyperalimentation empfohlen, um frühzeitig eine positive Stickstoffbilanz zu erreichen, was die Überlebenschance erhöht. Bei einer Hyperlipidämie sollte allerdings die parenterale Fettzufuhr eingeschränkt werden. In letzter Zeit wurden allerdings die Vorteile einer frühzeitigen enteralen Ernährung klar, da sie die Nachteile der TPN, wie erhöhte Stressantwort, erhöhte Darmpermeabilität, septische Komplikationen und immunsuppressive Effekte vermeidet. Bei Zeichen einer Intoleranz auf die deshalb anzustrebende frühe kontinuierliche enterale Ernährung muss diese aber wieder abgesetzt und auf eine TPN zurückgewechselt werden (Whitcomb u. Lowe 2004). Klinische Studien bei Erwachsenen haben bei folgenden Medikamenten bzw. Maßnahmen keinerlei Nutzen für eine Verbesserung des Verlaufs einer schweren Pankreatitis zeigen können: antiproteolytische (z. B. Aprotinin) oder antiinflammatorische Substanzen, Kalzitonin, Glukagon, Somatostatin, gerinnungsaktives Frischplasma, Radikalenfänger, »platelet-activating factor«, Plasmapherese oder Peritoneal-Lavage (Koletzko 2005). Chirurgische Therapie. Eine Indikation zur selten notwendigen Operation (. Tab. 36.1) kann eine Obstruktion des Pankreashauptganges sein. Eine weitere Indikation ergibt sich aus Komplikationen, wie einer Darmperforation oder impaktierten Steinen. Ob und wann eine Operation wegen einer Pankreasnekrose erfolgen soll, ist im Einzelfall sehr schwierig zu entscheiden. Sie ist in der Regel nur indiziert, wenn eine Infektion der Nekrose vorliegt (Mehta u. Gittes 2005). Deshalb wird bei neu aufgetretenem Fieber oder beginnendem Organversagen kombiniert mit Leukozytenund CrP-Anstieg die Durchführung einer CT- oder ultraschallgesteuerten Feinnadelpunktion empfohlen. Mittels Gram-Färbung und Kultur des gewonnenen Materials kann eine bakterielle Infektion nachgewiesen werden. In diesen seltenen Fällen sollte dann eine Nekroseausräumung ggf. mit einer Lavage offen oder laparoskopisch durchgeführt
. Tab. 36.1. Indikationen zur chirurgischen Intervention bei akuter Pankreatitis Indikation
Chirurgisches Vorgehen
Infizierte Pankreasnekrose
Nekrektomie und Drainage
Pankreasabszess
Débridement und Drainage
Obstruktion des Pankreasganges
Papillotomie, Steinextraktion
Darmperforation, impaktierte Steine
Laparotomie und Revision des Darmabschnittes
Pseudozyste mit Infektion, Größenzunahme, Schmerzen
Perkutane oder transgastrale/ duodenale Drainage
36
458
Kapitel 36 · Chirurgie des Pankreas
werden. Die meisten Autoren empfehlen die Einlage einer kräftigen Drainage. Auch das Auftreten eines pankreatischen Abszesses indiziert ein chirurgisches Vorgehen. Hier muss jedoch vorher die Differenzialdiagnose zur akuten Pseudozyste (7 Kap. 36.3.4) abgeklärt werden, ebenfalls am besten wieder durch eine CT- oder sonographiegesteuerte Punktion. Ein pankreatischer Abszess sollte operativ débridiert und mit einer Drainage versehen werden. Ob sich alleine aus der Fortdauer einer nekrotisierenden Pankreatitis über 4 Wochen eine Indikation zur operativen Sanierung ergibt, ist bisher nicht eindeutig geklärt worden. > Eine chirurgische Intervention ist bei der akuten Pankreatitis nur selten nötig.
Prognose
. Abb. 36.2. CT eines 7-jährigen Mädchens mit chronischer, familiärer Pankreatitis. Es zeigt Erweiterungen des Ductus Wirsungianus mit Konkrementen sowie eine große Pseudozyste in der Bursa omentalis. Dauerhafte Remission nach Pseudozystojejunostomie
Die Prognose der akuten Pankreatitis ist in aller Regel gut, fast immer kommt es zu einer Restitutio ad integrum. In seltenen Fällen mit nekrotisierender Verlaufsform ist mit dem Übergang in eine chronische Pankreatitis zu rechen, dies insbesondere bei der familiären Form (Whitcomb u. Lowe 2004).
in einem abnormen Gangsystem, besonders beim Pancreas divisum oder einer Kompression durch eine Choledochuszyste liegen.
Klinik und Diagnostik 36.3.2
Chronische Pankreatitis
Die chronische Pankreatitis führt durch langfristig rezidivierend auftretende Entzündungsschübe zu einer progredienten Zerstörung des Pankreasgewebes mit schließlich irreversiblem Umbau in Binde- und/oder Fettgewebe. Dabei wird das Gangsystem deformiert mit Auftreten von Steinen und Entwicklung von Pseudozysten. Über Jahre entwickelt sich so allmählich eine exokrine und auch endokrine Pankreasinsuffizienz.
Ätiologie und Pathogenese
36
Die chronische Pankreatitis kommt im Kindesalter sehr selten vor. Die häufigste Ursache ist in Mitteleuropa wohl die familiäre Pankreatitis (7 Kap. 36.3.1), die auf Mutationen im Bereich von Chromosom 7q35, speziell dem kationischen Trypsinogen-Gen oder SPINK1-Gen beruhen. Klinisch bekommen diese Patienten Symptome im Schulalter und entwickeln eine schwere, allmählich destruierende Pankreatitis, die von manchen Autoren eine »kalzifizierende« Pankreatitis genannt wird (. Abb. 36.2). Deshalb sollte in solchen Fällen auch ohne positive Familienanamnese die entsprechende molekulargenetische Abklärung erfolgen. Dasselbe gilt für den Nachweis einer Mukoviszidose (Mutation im delta-508-Gen), die zu einer chronischen Pankreatitis der »obstruktiven Form« führen kann. Bei Verdacht sollte hier auch ein Schweißtest vorgenommen werden. Andere mögliche metabolische Ursachen wie Hyperlipidämie, Hyperkalziämie und Amminosäurestoffwechselstörungen sollten labortechnisch abgeklärt werden (Koletzko 2005). Weitere obstruktive Ursachen können
Als Symptome stehen chronische oder rezidivierende Oberbauchschmerzen mit Ausstrahlung in den Rücken im Vordergrund. Die Pankreasenzyme können dabei normal sein. Deshalb wird die seltene chronische Pankreatitis im Kindesalter oft erst spät diagnostiziert, nachdem die Kinder schon diverse, nicht zielführende Diagnostik hinter sich haben. Zeichen der Maldigestion wegen exokriner Insuffizienz oder gar ein Diabetes mellitus treten erst im Spätstadium auf. Zusätzlich zu den typischen Schmerzen ist eine gute Bildgebung zielführend. In einer zunächst durchgeführten Sonographie finden sich eine Strukturauflockerung und ggf. Gangveränderungen. Im CT sind diese besser sichtbar, hier oft auch Verkalkungen und intraduktäre Steine. Gelegentlich findet sich zusätzlich eine Pseudozyste (. Abb. 36.2). Mit der ERCP lassen sich die Gänge präziser darstellen, sie ist bei älteren Kindern in Narkose durchführbar. Eleganter ist hier jedoch heute die Durchführung der nicht invasiven MRCP, die jedoch nicht gleichzeitig eine therapeutische Intervention, z. B. eine Papillotomie ermöglicht (Mehta u. Gittes 2005).
Therapie Konservative Therapie. Sofern keine ursächliche Obstruktion besteht, die kausal angegangen werden könnte, steht bei der Therapie die Schmerzbekämpfung zum Erreichen einer Beschwerdefreiheit im Vordergrund. Damit soll erreicht werden, dass die Kinder die Nahrungsaufnahme nicht einschränken müssen und eine Gedeihstörung vermieden wird. Als Basismedikation können peripher wirksame Analgetika (ASS, Paracetamol) eingesetzt wer-
459 36.3 · Pankreatitis
den, im Entzündungsschub auch zentral wirksame (z. B. Pentazocin). Bisher ist nicht klar, ob die Gabe von unverkapselten Pankreasenzymen über eine Hemmung der Cholezystokininsekretion auch zu einer Schmerzlinderung führt. Im Einzelfall kann jedoch auch dieser Ansatz versucht werden (Koletzko 2005). Bei exokriner Pankreasinsuffizienz und nachgewiesener Steatorrhö ist die Substitution mit Pankreasenzymen und fettlöslichen Vitaminen notwendig. Wichtig ist eine dauerhafte, kalorisch ausreichende Ernährung. Eine Fettrestriktion ist nur während der Entzündungsschübe indiziert. Routinemäßig sollten keine Einschränkungen (außer Alkohol) der Ernährung verordnet werden. In Fällen von lang andauernder Erkrankung oder Verschlechterung des Ernährungszustandes kann eine intensive Ernährungstherapie über eine PEG oder ein Jejunostoma nötig sein und ist dann einer Langzeit-parenteralen Ernährung vorzuziehen (Koletzko 2005). Bei Auftreten eines Diabetes mellitus muss eine Insulineinstellung vorgenommen werden, was sich durch den zumindest teilweisen Ausfall auch der Glukagonproduktion als sehr schwierig erweisen kann. Bei einer Obstruktion im Papillenbereich (Pancreas divisum), eventuell auch durch einen dort sitzenden Stein, kann auch bei Kindern versucht werden, über eine endoskopische Papillotomie, ggf. mit Stenteinlage, den Pankreassekretabfluss zu verbessern (Neblett et al. 2000; Terui et al. 2008). Intraduktale Steine können versuchsweise einer extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie zugeführt werden (Koletzko 2005). Hiermit besteht jedoch bei Kindern bisher kaum Erfahrung. Chirurgische Therapie. Wenn in Einzelfällen mit dieser konservativen Therapie ein Fortschreiten der chronischen Pankreatitis nicht verhindert und die Beschwerden nicht eingedämmt werden können, bestehen auch chirurgische Optionen. Bei weiterbestehender Obstruktion im Papillenbereich kann eine offene transduodenale Sphinkteroplastik zum Erfolg führen. Bei Sekretstau vor allem in einem erweiterten Pankreasgang ist eine Drainageoperation möglich, wobei wir die Präferenz auf die Seit-zu-Seit-Pankreatojejunostomie nach Partington-Rochelle (1960) ohne die von Puestow-Gillesby beschriebene distale Schwanzresektion legen (Dubay et al. 2006). Bei dieser Operation wird das Pankreas an seiner Vorderfläche freigelegt und der Drüsenkörper und die Vorderwand des Ductus Wirsungianus über mindestens 8 cm, am besten jedoch vom Schwanz bis in den Kopfbereich hinein, wo der Gang nach kaudal abbiegt, chirurgisch gespalten. Anschließend wird eine Roux-Y-Jejunalschlinge durch das Mesokolon hochgezogen und Seit-zu-Seit mit dem Schnittrand des Pankreasparenchyms anastomosiert und mit einer zweiten seromuskulären-kapsulären Nahtreihe gesichert (. Abb. 36.3).
. Abb. 36.3. Seit-zu-Seit-Pankreatojejunostomie nach PartingtonRochelle (mod. nach Puestow)
Fehlt eine Gangerweiterung und bleiben der Progress der Erkrankung und die Schmerzen unstillbar, kann auch einmal eine Pankreasteilresektion sinnvoll sein. Dies gilt insbesondere für lokalisierte Erkrankungen von Schwanz und Korpus, z. B. nach einem Quetschtrauma. Hier kann eine Pankreasschwanz- und ggf. -korpusresektion zu einer Heilung führen. Eine Pankreaskopfresektion ist nur sehr selten indiziert. Wenn doch einmal, sollte sie, wenn immer möglich, Duodenumerhaltend durchgeführt werden. Eine partielle Duodenopankreatektomie nach Whipple sollte bei dieser Indikation im Kindesalter vermieden werden (Chiu et al. 2006). ! Cave Sehr wichtig ist es, bei Durchführung einer Pankreasteilresektion immer milzerhaltend zu operieren, d. h. die Milzgefäße zu schonen, um eine nachfolgende Immunschwäche der jungen Patienten zu vermeiden.
Prognose Genaue Daten über die Prognose der chronischen Pankreatitis im Kindesalter liegen nicht vor. Sehr selten kommt es
36
460
Kapitel 36 · Chirurgie des Pankreas
schon während des Kindes- und Jugendlichenalters zu einem vollständigen »Ausbrennen« des Pankreas mit exokrinem und endokrinem Funktionsverlust. Bei einer Reihe von Patienten ist dennoch eine dauerhafte Substitution von exokrinen Pankreasenzymen notwendig.
36.3.3
Pankreasfisteln
Pankreasfisteln sind bei Kindern extrem selten. Sie können spontan nach rezidivierenden Pankreatitisschüben, evtl. nach Ruptur des Ganges als innere Fisteln in die Bauchhöhle oder den Thoraxraum, oder nach chirurgischer Revision bei Pankreatitis als innere oder auch äußere Fistel auftreten. Innere Fisteln führen zu pankreatitischem Aszites oder Pleuraerguss. Diagnostik. Die Diagnose wird durch Nachweis von Amy-
lase und Lipase in der Flüssigkeit gestellt. Es sollte eine gute Darstellung durch Bildgebung (Sonographie, CT, MRT, MRCP, ERCP) erreicht werden. Therapie. Immer lohnt sich ein konservativer Therapieversuch durch Ableiten der Flüssigkeit und konservative Pankreatitistherapie (Mehta u. Gittes 2005). Ob die Gabe von Somatostatin dabei eine zusätzliche günstige Wirkung hat, ist umstritten. Nur in ganz seltenen Fällen ist eine operative Revision mit einer Übernähung des Pankreas oder einer Ableitung über eine Roux-Y-Jejunumschlinge notwendig.
36.3.4
Pankreaspseudozysten
Ätiologie und Pathogenese
36
Pankreaspseudozysten entstehen als Komplikation nach Trauma oder Pankreatitis. Nach Verletzung der Wand eines Pankreasganges und Austritt von Pankreasenzymen in das Gewebe bildet sich nach lokaler Andauung und Entzündung eine Höhle mit einer allmählichen fibrösen Kapselbildung. Im frühen Stadium kann es durch Heilung des Ganglecks und Resorption des Pseudozysteninhaltes noch zu einer spontanen Abheilung kommen, sofern die zugrunde liegende Pankreatitis nicht mehr aktiv ist. Deshalb kann bei kleineren akuten Pseudozysten in 50% der Fälle mit einer Abheilung gerechnet werden. Bei großen Zysten über 5 cm Durchmesser und mit einem chronischen Verlauf über 6 Wochen und einer bereits festen fibrösen Kapsel ist diese nur noch selten (Mehta u. Gittes 2005).
Klinik und Diagnostik Die Symptome einer Pseudozyste sind Schmerzen und Erbrechen. Pankreaspseudozysten können im Verlauf eine erhebliche Größe erreichen und sich auch über die Bursa omentalis hinaus in das Retroperitoneum und das untere
Mediastinum hinein ausdehnen. Bei der Palpation sind sie dann als schmerzhafte Resistenz tastbar. Im Serum findet sich oft eine erneute oder persistierende Erhöhung der Pankreasenzyme. Die bildgebende Darstellung sollte mit Ultraschall, zusätzlich jedoch mit CT oder MRT erfolgen (. Abb. 36.2). Bei Zweifeln an der Zuordnung der zystischen Struktur ist eine MRCP oder auch ERCP indiziert. Differenzialdiagnostisch sollten Pankreaszysten anderer Genese ausgeschlossen werden.
Übersicht Differenzialdiagnose von Pankreas(pseudo)zysten 4 4 4 4 4 4 4
Kongenitale dysontogenetische Zyste Intrapankreatische Intestinalduplikatur Duktäre Retentionszyste Echinokokkuszyste Pankreaspseudozyste Zystadenom Zystadenokarzinom
Therapie Wird im Verlauf nach einer Pankreatitis oder einem Trauma eine Pankreaspseudozyste diagnostiziert, kann bei beherrschbaren Beschwerden zunächst die Entzündung konservativ weiter therapiert und die Pseudozyste sonographisch kontrolliert werden. Einige Autoren empfehlen die zusätzliche Gabe von Somatostatin (3,5 μg/ kg KG/h Dauerinfusion), die Wirkung ist jedoch umstritten. Bei weiterer Größenzunahme über mehrere Monate ist jedoch eine Drainage notwendig. Diese kann auch bei Kindern auf endoskopischem Weg mit einem Stent als Gastro- oder Duodenopseudozystostomie angelegt werden (Al-Shanafey et al. 2004). Jedoch besteht im Kindesalter bisher wenig Erfahrung mit dieser Technik, die per se durchaus Risiken in sich birgt. Eine äußere perkutane Drainage, angelegt entweder sonographisch oder CT-gesteuert interventionell, oder je nach Zugänglichkeit der Pseudozyste laparoskopisch oder über eine offene Laparotomie ist das alternative Verfahren. Dieser Weg ist immer indiziert bei Verdacht auf Infektion einer Pseudozyste. ! Cave Infektionen, Ruptur oder akute Blutung sind 3 gefürchtete Komplikationen der Pseudozyste, die einer raschen Intervention bedürfen.
Bei der Infektion ist eine externe Drainage die erste Maßnahme. Die sehr selten auftretende Ruptur führt zu einer sterilen Peritonitis und bedarf ebenfalls zunächst einer raschen Drainage, ggf. später der operativen Versorgung einer Pankreasfistel. Bei der akuten Einblutung durch Arrosion von Gefäßen kann bei geringer Blutung eine Drainage gelegt werden, bei schwerer oder andauernder Blu-
461 36.5 · Pankreastrauma
tung (z. B. aus einem Milzgefäß) ist die offene operative Revision nötig. Kommt es bei einer großen Pseudozyste mit fester Kapsel trotz dieser Maßnahmen über mehrere Wochen nicht zu einer Regression und persistieren die Beschwerden, kann die Anlage einer Pseudozystojejunostomie mit Anastomose einer hochgezogenen Roux-Y-Jejunumschlinge mit der Pseudokapsel eine dauerhafte Heilung erbringen (. Abb. 36.2). Resektionen von Pseudozysten sind sehr schwierig, blutreich und komplikationsträchtig und sollten, wenn überhaupt, nur im Schwanzbereich versucht werden (Mehta u. Gittes 2005). Bei Kindern muss hier unbedingt auf die Schonung der Milz und deren Gefäße geachtet werden.
36.4
Pankreaszysten
36.4.1
Kongenitale Zysten
Die sehr seltenen kongenitalen dysontogenetischen Pankreaszysten sind differenzialdiagnostisch von anderen zystischen Veränderungen des Pankreas abzugrenzen (7 Kap. 36.3.4). Meistens werden sie bereits im frühen Kindesalter als Zufallsbefund bei einer Bildgebung aus anderer Ursache entdeckt. Die Zysten machen meist keine Symptome und beeinträchtigen das umgebende Pankreas nicht. Der Inhalt enthält keine Pankreasenzyme und es besteht keine Verbindung zum Gangsystem. Über Spontanverläufe von kongenitalen Pankeaszysten über längere Zeit liegen keine Daten vor.
36.5
Pankreastrauma
Traumata des Pankreas (7 Kap. 15) sind im Kindesalter selten und werden in Mitteleuropa fast ausschließlich durch stumpfe Bauchtraumata verursacht. Die tiefe retroperitoneale Lage über der Wirbelsäule und die fehlende Fettkapsel erklärt einerseits die Verletzungsmuster des Organs, andererseits auch die schwierige diagnostische Zugänglichkeit. Umgekehrt sollten Strukturverletzungen des Gewebes oder gar Rupturen des Pankreasganges frühzeitig diagnostiziert und behandelt werden, um eine akute, ggf. nachfolgende chronische Pankreatitis zu vermeiden.
Diagnostik > Die Untersuchung von Serumlipase und -amylase und eine Sonographie sind nach jedem schweren Oberbauchtrauma empfehlenswert.
Bei normalen Labor- und Sonographiebefunden sind, wenn die Oberbauchbeschwerden nach drei Tagen weiter bestehen, Wiederholungen der Untersuchungen angezeigt. Eine gute Darstellung des Pankreas und seines Gangsystems sind mit einem Kontrastmittel-Dünnschicht-CT zu erzielen, das immer bei nicht sicher geklärter Harmlosigkeit der Verletzung indiziert ist. Leitet sich daraus die Notwendigkeit einer noch genaueren Darstellung des Gangsystems ab, kann diese mit einer MRCP oder, wenn nötig, interventionell mit einer ERCP erfolgen, wobei letztere ggf. auch therapeutisch für eine Stenteinlage zur Überbrückung eines kleinen Gangdefektes genutzt werden kann.
Therapie Therapie. Es wird eine lokale Exzision der Zyste empfohlen,
was in der Regel problemlos gelingt. Hiermit soll einer allfälligen sekundären Infektion oder einer Gangobstruktion vorgebeugt werden. Eine Pankreasresektion ist nur sehr selten notwendig (Mehta u. Gittes 2005).
36.4.2
Duktäre Retentionszysten
Diese entstehen durch eine Gangaufweitung bei Obstruktion oder chronischer Pankreatitis. Deshalb ist hier eine lokale Exzision auch nicht möglich. Aus diesem Grund ist präoperativ unbedingt eine gute Darstellung der Verbindung zum Gangsystem mittels CT, MRCP oder ERCP notwendig. Therapie. Die operative Therapie besteht in einer Roux-Y-
Zystojejunostomie oder einer Resektion des betroffenen Pankreasabschnittes (Mehta u. Gittes 2005).
> Die Therapie eines stumpfen Pankreastraumas sollte in der Regel konservativ erfolgen und entspricht generell der einer akuten Pankreatitis. Lediglich bei ausgedehnter Parenchym- und / oder Gangverletzung ist eine primäre Operation zu erwägen.
Es sind dabei Nahrungskarenz, parenterale Ernährung, Analgesie und Einhalten der Stoffwechselbalance wichtig (7 Kap. 36.3.1). Bei Verletzung des Pankreasganges kommt es bei konservativem Vorgehen in der Mehrzahl der Fälle zu einer Pseudozyste, die jedoch in bis zu 60% der Fälle spontan abheilen kann. Die rasche chirurgische Versorgung führt in fast allen Fällen zu einer kompletten Heilung und verkürzt die Hospitalisationsdauer wie auch die Phase der parenteralen Ernährung signifikant. Bei der Operation, wie auch bei jeder Laparotomie wegen schwerem Bauchtrauma ohne bekannter Pankreasverletzung, sollte das Pankreas komplett freigelegt werden (7 Kap. 36.1), um eventuelle Verletzungen darstellen oder ausschließen zu können. Die Versorgung eines tiefen Ein- oder Durchrisses erfolgt entweder über eine Resektion im Schwanz- oder Korpusbereich, oder über eine Roux-Y-pankreatojejunale Ableitung (Mehta u. Gittes 2005).
36
462
Kapitel 36 · Chirurgie des Pankreas
36.6
Endokrine Erkrankungen des Pankreas
36.6.1
Infantile, persistierende hyperinsulinämische Hypoglykämie
Die infantile persistierende, hyperinsulinämische Hypoglykämie (PHHI), oft auch als Nesidioblastose bezeichnet, ist eine seltene angeborene Erkrankung mit ungesteuerter, vermehrter Insulinproduktion des Pankreas. Der frühere Name »Nesidioblastose« beruht auf der Annahme, dass die Ursache der Erkrankung in einer Vermehrung von embryonalen Progenitorzellen der Pankreasinseln, den Nesidioblasten liegt (Bürger 1982).
Ätiologie und Pathogenese Inzwischen ist klar, dass bei diesen Patienten eine Mutation auf dem Chromosom 11p15.1 vorliegt, die in den Bereich von vier Genen fällt, die für die Regulation der Insulinausschüttung von β-Zellen verantwortlich sind. Bei diesen vier Genen handelt es sich um die für den Sulfonylharnstoffrezeptor (SUR1), den Kaliumkanal (Kir6.2), die Glutamatdehydrogenase (GDH) und die Glukokinase (GK). PHHI-Patienten haben eine trunkierende Mutation am SUR1-Gen, was die normale Rückkoppelungs-Regulation der Insulinsekretion in Relation zur Serumglukose verhindert (Kane et al 1996).
normal sein können, nicht jedoch die Insulin/Glukose-Relation (normal <0,3 μE Insulin/ml : 1 mg Glukose/100 ml). Dies unterscheidet die PHHI von Pankreasadenomen, die meist zu absolut erhöhten Insulinserumspiegeln führen (7 Kap. 36.6.2). Ferner lässt sich bei der PHHI die Insulinproduktion eher mit Somatostatin oder dessen Analoga supprimieren, als beim Adenom. Dennoch ist auch bei Verdacht auf eine PHHI, besonders bei Beginn jenseits der Neugeborenenperiode, eine gute Bildgebung des Pankreas mit Sonographie und MRT indiziert, um einen allfälligen solitären, endokrinen Tumor auszuschließen. Nach Crétolle et al. (2002) kann schließlich versucht werden, über eine perkutane, transhepatische, portale Katheterisierung und die radiologisch kontrollierte Platzierung des Katheters in die Milzvene serielle Blutproben zur Bestimmung von Insulin und Glukose zu gewinnen. Wenn diese nur bei einem oder wenigen Abschnitten des Pankreas pathologische Werte zeigen, kann mit Wahrscheinlichkeit von der selteneren fokalen PHHI ausgegangen werden. Dieses Verfahren kann mit einer interventionellen, selektiven arteriellen Kalziumstimulierung der verschiedenen Pankreasabschnitte kombiniert werden, die im Fall einer fokalen PHHI nur in einem Abschnitt einen signifikanten Insulinanstieg auf Kalziumstimulation zeigt (Crétolle et al. 2002). Dieses aufwändige diagnostische Verfahren bei den jungen Kindern hat sich jedoch noch nicht überall durchgesetzt, weshalb diese Patienten an entsprechende spezialisierte Zentren verwiesen werden sollten.
Klassifikation Man unterscheidet eine fokale (30% der Patienten) von einer diffusen (70% der Patienten) Form der PHHI. In der fokalen Form führt der Verlust des mütterlichen Allels des Chromosombereiches 11p15 kombiniert mit einer Mutation im väterlichen SUR1-Gen zu einer fokalen Aggregation einer Inselzellhyperplasie. Diese hyperplastischen Inselzellansammlungen sind durch schmale Säume von azinären Zellen und/oder Bindegewebe voneinander getrennt. Bei der diffusen PHHI führt eine rezessiv vererbte Mutation im SUR1-Gen zum Funktionsverlust des SUR1-Kir6.2-Proteinkomplexes, was wiederum eine generelle Funktionsstörung aller β-Zellen mit ungesteuerter Insulinproduktion bedingt (Mehta u. Gittes 2005).
36
> Wenn auch die klinische Symptomatik der fokalen und diffusen Form der PHHI gleich ist, sollten sie wegen der verschiedenen chirurgischen Ansätze unterschieden werden.
Klinik und Diagnostik Die meisten betroffenen Kinder leiden bereits kurz nach der Geburt, eine Minderzahl beginnend während des ersten Lebensjahres, unter Hypoglykämien. Diese führen zur typischen Symptomatik mit Zittrigkeit und Krampfanfällen. Es ist wichtig, Serumglukose und Insulin parallel zu messen, weil bei der PHHI die absoluten Insulinspiegel
Therapie Konservative Therapie. Immer sollte rasch eine konservative Therapie mit einer Glukosesubstitution eingeleitet werden, um die schweren zerebralen Folgeschäden der Hypoglykämien zu reduzieren. Wenn die Glukoseinfusionen, die nötig sind, eine Hypoglykämie zu verhindern, die Menge von 15 mg/kg KG/h übersteigen, muss mit dem Vorliegen einer PHHI gerechnet werden. Die weitere medikamentöse Therapie durch einen versierten pädiatrischen Endokrinologen umfasst die Gabe von Diazoxyd und langwirkenden Somatostatinanaloga. Auch können Glukokortikoide und das β-Zell-toxische Streptozotocin versucht werden (Mehta u. Gittes 2005). Chirurgische Therapie. Wenn die Hypoglykämien mit konservativer Therapie nicht kontrolliert werden können, ist ein chirurgisches Vorgehen indiziert. Hierfür sollte allerdings vorher der Versuch unternommen werden, die Differenzierung von fokaler bzw. diffuser PHHI zu treffen. Neben den oben beschriebenen interventionellen Untersuchungen kann hierzu auch die molekulargenetische Abklärung beitragen.
463 36.6 · Endokrine Erkrankungen des Pankreas
> Bei der sehr seltenen fokalen PHHI gilt es, intraoperativ nach kompletter Mobilisierung des Pankreas (7 Kap. 36.1) die hyperplastischen Inseln zu finden und zu exzidieren.
Problematik auch die neurologische Entwicklung der Kinder im Auge zu behalten und bei Defiziten eine gezielte Förderung anzubieten.
Die hyperplastischen Inseln sollten mit Hilfe von Lupenbrille oder Operationsmikroskop gesucht werden. Auch intraoperative serielle Messungen von Insulin und Glukose im venösen Abstromgebiet und die arterielle Kalziumstimulation können zur Lokalisierung beitragen. Schließlich können intraoperative histologische Schnellschnittuntersuchungen die Trefferquote erhöhen (Adzick et al. 2004).
36.6.2
> Liegt eine diffuse PHHI vor, ist eine subtotale Pankreasresektion indiziert, um die Masse der ungesteuert Insulin-produzierenden Inseln zu reduzieren.
Allgemein wird eine 90–95%-Pankreatektomie empfohlen, bei der im duodenalen C und auf dem Ductus choledochus nur ein schmaler Saum von Pankreasgewebe verbleibt (. Abb. 36.4). Hiernach kommt es aber in einem hohen Prozentsatz auf lange Sicht neben der exokrinen Pankreasinsuffizienz auch zu einem Diabetes mellitus. Ferner sind schwerwiegende Verletzungen der essenziellen Gefäße wie auch des Ductus choledochus möglich. Deshalb halten es manche Zentren für sinnvoller, zunächst eine ca. 75%-Resektion durchzuführen und bei persistierenden Hypoglykämien unter fortdauernder medikamentöser Therapie erst in einer zweiten Operation eine 95%-Resektion nachzuholen (McAndrew et al. 2003).
Endokrine Tumoren
Im Pankreas produzieren β-Zellen, die 90% der Inselzellmasse ausmachen, Insulin, die peripher liegenden α-Zellen Glukagon, die δ-Zellen Somatostatin und PP-Zellen das pankreatische Polypeptid. Ferner werden im Pankreas Gastrin, vasoaktives intestinales Peptin (VIP) und andere Peptide produziert. Es ist derzeit nicht sicher, ob endokrine Tumoren aus reifen Inselzellen oder deren embryonalen Vorläuferzellen entstehen. Während im Erwachsenenalter Tumoren aller bekannten Hormonspezifitäten wie auch neuroendrokrine Tumoren bekannt sind (Rothmund u. Bartsch 2006), wurden bei Kindern unter 14 Jahren bis heute nur Insulinome, Gastrinome und vereinzelte VIP-ome beobachtet (Mehta u. Gittes 2005).
Insulinome Von diesen sind Insulinome die häufigsten mit einem Auftreten typischerweise ab dem 4. Lebensjahr. Einzelne betroffene Säuglinge wurden ebenfalls beschrieben, obwohl bei diesen die PHHI weitaus häufiger vorkommt (7 Kap. 36.6.1). Insulinome treten meistens als solitäre Knoten auf, lediglich bei Kindern mit dem multiplen, endokrinen Neoplasie-Syndrom 1 (MEN1) muss mit multiplen Knoten gerechnet werden.
Prognose Im langfristigen Verlauf scheint sich auch unter konservativer Therapie eine langsame Besserung der Hypoglykämien einzustellen. Dies erklärt auch die langfristige Zunahme der Diabetesinzidenz bei ausgedehnt pankreatektomierten Kindern (McAndrew et al. 2003). Wichtig ist es, neben der endokrinologischen und gastroenterologischen
. Abb. 36.4. Verschiedene Grade der subtotalen Pankreatektomie, die bei der diffusen Form der PHHI indiziert sein können. PA Pfortader; VMS Vena mesenterica superior; VMI Vena mesenterica inferior; AL Arteria lienalis; VL Vena lienalis
Klinik und Diagnostik. Betroffene Kinder haben schwere Hypoglykämien bei Nahrungskarenz weit unter 50% des Normbereichs, die durch Glukosegaben kompensiert werden können. Die Seruminsulinspiegel, wie auch gelegentlich das Insulin C-Peptid im Serum sind erhöht. Meist sind die Insulinome bei Diagnostik noch klein (<2 cm) und des-
36
464
Kapitel 36 · Chirurgie des Pankreas
halb mit bildgebender Diagnostik schwierig zu finden. Deshalb sollte neben einer Sonographie und ggf. einem Kontrastmittel-CT auch ein MRT von hoher Qualität angefertigt werden. Bei der Tumorlokalisation kann auch die radiologisch kontrollierte, transhepatische, porto-lienale venöse Kathetereinlage mit seriellen Blutanalysen auf Insulin über den verschiedenen Pankreasabschnitten hilfreich sein. 90% der kindlichen Insulinome sind benigne. Allerdings ist selbst die histopathologische Unterscheidung von benignen und malignen Tumoren schwierig. Die Diagnose der Malignität basiert im Wesentlichen auf der Tumorgröße (>2 cm) und dem Vorhandensein von Metastasen. Wie bei den anderen endokrinen Pankreastumoren auch, müssen letztere in den regionären Lymphknoten und in der Leber gesucht werden. Therapie. Akut müssen die Hypoglykämien der Kinder
symptomatisch behandelt werden, hier steht die Glukosesubstitution im Vordergrund. Wenn der Tumor lokalisiert ist, sollte er chirurgisch angegangen und reseziert werden (Mehta u. Gittes 2005). Bei dieser Operation ist die Dissektion lokaler Lymphknoten und die Evaluation der Leber wichtig. Bei MEN1-Patienten mit multiplen Insulinomen im Pankreas kann einmal eine 95%-Resektion indiziert sein (Rothmund u. Bartsch 2006). Bei malignen Insulinomen sollte wenn möglich eine Resektion des Primärtumors sowie aller Lymphknoten und Lebermetastasen vorgenommen und eine adjuvante Chemotherapie mit Streptozotocin oder 5-Fluororacil verabreicht werden.
Gastrinome Gastrinome sind im Kindesalter sehr selten und fallen durch die Symptome des Zollinger-Ellison-Syndroms mit exzessiver Magensäureproduktion und schweren Ulzera auf. Das Pankreas ist neben dem Duodenum das häufigste Ursprungsorgan für Gastrinome, die in 65% maligne sind. Im Gegensatz zu Erwachsenen scheinen sie im Kindesalter aber selten mit dem MEN1-Syndrom assoziiert zu sein (Mehta u. Gittes).
36
Klinik und Diagnostik. Die Magensaftanalyse zeigt bei Kindern mit einem Gastrinom eine deutlich erhöhte basale Säuresekretion und einen fehlenden Anstieg unter Stimulation. Die Serumgastrinspiegel liegen meist über 500 pg/ml. Beim Gastrinom steigen sie unter Stimulation mit Kalziuminfusion oder auch 2 U/kg KG i.v. Sekretin um mehr als 200 pg/ ml, gelegentlich auf über 1000 pg/ml. Zur Lokalisation der oft kleinen Tumoren sind Sonographie, CT, MRT, wie auch die porto-splenovenöse Katheterisierung mit serieller Serumgastrinmessung indiziert. Dabei sollte auch auf Lymphknotenvergrößerungen und Lebermetastasen geachtet werden. Eine Gastroduodenoskopie ist wegen der Ulzera, aber auch wegen der möglichen duodenalen Lokalisation von Gastrinomen immer indiziert. Wegen des hohen malignen Potenzials der Gastrinome sollte die prinzipiell bei allen en-
dokrinen Pankreastumoren mögliche Somatostatinrezeptor-Szintigraphie (SRS) durchgeführt werden, da sie Metastasen in allen Körperregionen in einem Untersuchungsgang nachweisen kann (Rothmund u. Bartsch 2006). Therapie. Medikamentös werden die Patienten mit H2-Säu-
reblockern behandelt. Eine operative Therapie ist auch bei negativen Befunden der bildgebenden Diagnostik indiziert, solange keine diffuse Lebermetastasierung vorliegt. Dabei wird das Pankreas komplett freigelegt (7 Kap. 36.1), mit Lupenvergrößerung inspektorisch, palpatorisch und sonographisch nach den Tumorknoten gesucht. Ferner wird eine Duodenotomie durchgeführt, da sich 90% der Gastrinome im Pankreaskopf, in der Duodenalwand und im Ligamentum hepatoduodenale finden (»Gastrinomdreieck«). In diesem Bereich werden die Gastrinome exzidiert, im Korpus- und Schwanzbereich durch eine Pankreasteilresektion entfernt. Eine subtotale (85%) Pankreasresektion ist nur selten notwendig. Immer muss eine ausgedehnte Lymphknotendissektion peripankreatisch durchgeführt werden, da hier Gastrinome vorhanden sein können. Die früher auch für Kinder empfohlene totale Gastrektomie in derselben Operation erscheint heute nur dann indiziert, wenn bei Inoperabilität eines Gastrinoms schwere Ulzera nicht medikamentös verhindert werden können. Eine serielle Messung von Gastrin im venösen Abstromgebiet als Monitoring während der Operation kann bei primär erhöhten Werten hilfreich sein. Bei malignen Gastrinomen kann im Einzelfall ein aggressives chirurgisches Vorgehen, auch bei Vorliegen einzelner Metastasen, eine Remission bewirken.
VIPome und weitere Tumorformen VIPome sind ganz vereinzelt auch im Kindesalter beschrieben worden (Mehta u. Gittes 2005). Sie liegen zu 90% im Pankreas und rufen das Verner-Morrison-Syndrom mit wässrigen Diarrhöen, Hypokaliämie und Hpyerchlorhydrie hervor. Bei Erwachsenen sind 40–70% der VIPome maligne. Eine Diagnose kann durch Messung erhöhter VIP-Spiegel im Serum und Darstellung eines Pankreastumors gestellt werden. Medikamentös können Indomethacin und Somatostatin (auch perioperativ!) die Symptomatik verbessern. Ein chirurgisches Vorgehen mit Resektion des Tumors sowie Lymphknotendissektion und ggf. auch Exstirpation allfälliger Lebermetastasen ist außer bei weit fortgeschrittener Metastasierung stets indiziert. Andere (neuro-)endokrine Tumoren des Pankreas, die beim Erwachsenen in bis zu 80% eine maligne Entartung aufweisen, sollten analog zu den Empfehlungen der Erwachsenenmedizin auch bei Kindern chirurgisch und medikamentös, ggf. auch chemotherapeutisch, behandelt werden (Rothmund u. Bartsch 2006).
465 36.6 · Endokrine Erkrankungen des Pankreas
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36
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37
37 Chirurgische Erkrankungen der Milz A.M. Rokitansky
37.1
Grundlagen: Embryologie, Anatomie und Physiologie der Milz – 467
37.9.2
Hypersplenismus
37.1.1 37.1.2 37.1.3
Embryologie – 467 Anatomie – 468 Physiologie – 469
37.10
Hereditäre Sphärozytose
– 472
– 472
37.11
Die Milz bei Hämoglobinopathien – 473 Sichelzellanämie – 473 Thalassämie – 473
37.2
Asplenie und Polysplenie – 469
37.11.1 37.11.2
37.2.1 37.2.2
Asplenie – 469 Polysplenie – 469
37.12
Idiopathische oder immunthrombozytopenische Purpura – 473
37.3
Ektopes Milzgewebe
37.3.1 37.3.2
Akzessorische Milz – 470 Splenogonadale Verschmelzung – 470
37.13
Lymphome und Leukämien
37.14
Speichererkrankungen
37.4
Wandermilz – 470 37.15
Splenose
37.5
Peliose
37.16
Milztrauma
37.6
Gutartige Milzzysten
37.17
Chirurgische Verfahren – 475
37.7
Milztumoren
37.8
Milzinfektionen – 471
37.8.1 37.8.2
Milzabszess – 471 Parasitäre Zysten – 471
37.17.1 37.17.2 37.17.3 37.17.4 37.17.5
Allgemeine Darstellung – 475 Perioperative begleitende Maßnahmen – 475 Resezierende Operationstechniken – 476 Konservierende Operationstechniken – 477 Komplikationen nach resezierenden Eingriffen an der Milz – 478
37.9
Funktionelle Abnormitäten – 472
37.9.1
Hyposplenismus
– 470 – 473
– 473
– 474
– 470 – 474
– 470
– 471
– 472
> Die Milz (Splen, Lien) ist ein Blutfilterorgan mit immunologischer Kompetenz. Asplene Kleinkinder sind im besonderen Maße infektgefährdet. Somit sind bei Milzverletzungen heute organerhaltende Therapieformen gefordert und stehen im Vordergrund. Weitere neue Aspekte der Milzchirurgie beinhalten die laparoskopischen Eingriffe, die Milzteilresektionen und die Autotransplantation (Drenckhahn u. Zenker 1994). Im Gegensatz zu den parenchymsparenden Eingriffen sind, bei bestimmten hämatologischen Erkrankungen, drastische Reduktionen bzw. die Entfernung des Milzparenchyms notwendig. Bei den hämatologisch indizierten Milzteilresektionen gilt es einerseits, immunologisch suffizientes Restparenchym zu erhalten, andererseits die anämisiernde Filtrationsfunktion aufzuheben.
Literatur – 479
37.1
Grundlagen: Embryologie, Anatomie und Physiologie der Milz
37.1.1
Embryologie
Die Milzanlage entwickelt sich entlang dem Pankreas aus dem Mesoderm und kann ab der 5. Embryonalwoche erkannt werden. Durch die Drehung des Magens wird die Milz in den linken Oberbauch verlagert. Blutbildungsherde finden sich ab dem 4. Monat. Zur gleichen Zeit entwickeln sich die Filtrationsfunktion sowie auch die Funktion der Milz als lymphatisches Organ mit B- und T-Lymphozyten. Nach einer ersten diffusen Verteilung siedeln sich in der
468
Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
17. Woche die Lymphozyten um kleine Arterien an (später »weiße Pulpa«). Lymphatische Follikel sind ab der 24. Woche erkennbar (Drenckhahn et Zenker 1994).
37.1.2
37
Auf der Schnittfläche durch das Milzparenchym erkennt man mit freiem Auge die überwiegende rote Pulpa (ca. 75%) und darin eingestreut 1–3 mm große weißliche Herde, die weiße Pulpa.
Anatomie
Zum Zeitpunkt der Geburt hat die Milz ein Gewicht von etwa 11 g. Bis zur Pubertät wächst sie bis zu einem Gewicht von ca. 135 g, bevor sie im Erwachsenenalter wieder kleiner wird (French u. Camitta 2004). Die Milz ist segmental aufgebaut. Die physiologischen Längsdurchmesser liegen um 6 cm beim 3 Monate alten Kind, bei 7 cm beim Einjährigen, um danach pro Jahr um 1 cm größer zu werden. Ein 10 Jahre altes Kind hat eine Milzgröße um 11 cm. Bei Jugendlichen von 14 Jahren hat die Milz mit 12 cm ihren größten Durchmesser erreicht (Rosenberg 1991). Im Erwachsenenalter sind 11 cm/7 cm/4 cm physiologisch. Die Milz sollte im linken Oberbauch auf der Höhe der 8. bis 11. Rippe in der hinteren Axillarlinie liegen. Die Milzlängsachse entspricht etwa dem Verlauf der 10. Rippe. Je nach Blutfülle und Funktionszustand schwanken Größe und Gewicht. Durch die Rippen ist die Milz geschützt und bei normaler Größe nicht palpabel. Die Milz hat mit ihrer konvexen Fläche Kontakt mit dem Zwerchfell (Facies diaphragmatica), die konkave Fläche (Facies visceralis) mit dem Magen, der linken Kolonflexur und der Niere. Der Pankreasschwanz kann bis an den Milzhilus heranreichen, ein Aspekt, der im Rahmen der Hilsupräparation besonders zu beachten ist. Wichtige anatomische Aspekte der Milz stellen die Haltebänder, die Blutversorgung und die segmentale Anatomie des Milzparenchyms dar. Die Fixierung der Milz erfolgt durch das nach ventral zum Magen führende Lig. gastrosplenicum (Fortsetzung des Omentum majus) und das nach dorsokaudal ziehende Lig. splenorenale, in dem die Milzvene und die Milzarterie zur Milz verlaufen. Nach Durchtrennung der lateral liegenden splenorenalen Ligamente kann die Milz nach ventral luxiert werden. . Abb. 37.1 zeigt einen Transversalschnitt durch den Milzhilusbereich. Die Milzkapsel ist zart mit einer Stärke von etwa 0,1 mm. Die Milzarterie (A. splenica), als größtes Gefäß des Truncus coeliacus, verläuft, oftmals geschlängelt, in enger Beziehung zum Pankreasgewebe (. Abb. 37.2). Sie verzweigt sich in der Regel im Milzhilus in obere und untere Polarterie, um sich danach in weitere 5–10 Äste aufzuteilen, die, begleitet von den Venen, jeweils die Kapsel durchdringen. Eine zusätzliche Blutversorgung ist der Anschluss an die gastroepiploischen Gefäße über die Vasa gastricae breves. Innerhalb der Milz erfolgt die arterielle Blutversorgung über funktionelle Endarterien. Dies reduziert die Blutungstendenz bei Teilsplenektomie (Drenckhahn u. Zenker 1994). Die Segmentarterien teilen sich in Trabekelarterien, die die kleinen Zentralarterien der weißen Pulpa speisen.
. Abb. 37.1. Schematischer Transversalschnitt durch den Milzhilusbereich
. Abb. 37.2. Facies visceralis und Hilum der Milz mit Darstellung der Äste von A. und V. splenica, Anschnitt des Lig. splenicum
469 37.2 · Asplenie und Polysplenie
37.1.3
Physiologie
Übersicht Aufgaben der Milz 4 »Clearance« von Bakterien (z. B. Pneumokokken), Antigenen und Fremdmaterial 4 Synthese von phagozytosesteigernden Faktoren wie Tuftsin 4 Produktion unspezifischer Opsonine, die das Komplementsystem aktivieren 4 Koordination des Zusammenspiels der T- und Blymphozytären Immunantwort (Antikörpersynthese der IgM) 4 Thrombozytenpool (1/3 der Gesamtthrombozyten sind in der Milz gespeichert) 4 Faktor-VIII-Pool 4 Postpartale passagere extramedulläre Hämatopoese
Die Milz wird von etwa 10% des Herz-Zeit-Volumens pro Minute durchströmt. Die weiße Pulpa gewährleistet die immunologische Funktion. Sie wird einerseits durch weiß imponierende lymphozytäre Malpighi-Körperchen (hauptsächlich B-Lymphozyten), andererseits durch die, vorrangig aus T-Lymphozyten bestehenden, periarteriellen lymphatischen Scheiden (PALS) gebildet. Bei den Malpighi-Körperchen handelt es sich um Lymphfollikel, in denen nach Antigenkontakt, aktiviert durch die T-Lymphozyten in den PALS, eine Vermehrung und Differenzierung der B-Lymphozyten (Sekundärfollikel) erfolgt. Im Zentrum der Sekundärfollikel befindet sich eine Zone von geringerer B-Zell-Dichte, das sog. Reaktions- oder Keimzentrum. Im Keimzentrum werden unterschiedliche Lymphozyten so wie auch antigenspezifische immunologische Gedächtniszellen produziert. Das voll ausgebildete Keimzentrum besteht im Außenbereich aus einer Mantel- und einer Marginalzone. Die Marginalzone (B Zellen) wird zuletzt ausgebildet und ihre volle Immunkompetenz (Immunreaktion gegenüber enkapsulierten Bakterien mit Polysaccharidkapseln wie z. B. Pneumokokken entwickelt sich eben erst im Laufe der ersten Lebensjahre. Ist das Stadium der vollen Immunkompetenz noch nicht erreicht, besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko. Die rote Pulpa, die funktionell distal der weißen Pulpa liegt, arbeitet als phagozytierendes Filtrationssystem, das alte oder defekte Blutelemente (z. B. Sphärozyten, Elliptozyten), Komplexe aus Fremdmaterial, Fremdzellen und Bakterien eliminiert. Erythrozytäre Strukturen, wie Howell-JollyKörper (Chromatinreste in den Retikulozyten), Heinz-Körper (denaturiertes Hämoglobin) und Pappenheimer-Körper (Eisenkomplexe) werden im venösen Strombett entfernt und sind daher bei Asplenie oder nach Splenektomie im Blutausstrich nachweisbar. Außerdem stellt die Milz ein Pool für Leukozyten und Thrombozyten dar.
Weiters ist die Milz in den ersten Entwicklungsmonaten ein wichtiges Organ der extramedullären Hämatopoese. Bei Knochenmarkserkrankungen kann die Milz diese Funktion zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen (Drenckhahn u. Zenker 1994).
37.2
Asplenie und Polysplenie
37.2.1
Asplenie
Die kongenitale Asplenie (z. B. das Ivemark-Syndrom) ist oft verbunden mit kardialen Defekten (Einzelventrikel-Anatomie) und anderen Abnormitäten der Symmetrie, wie z. B. die bilaterale »Rechtsseitigkeit« mit 3 lappigen Lungen beidseits und Mittellinien-Leber (Heterotaxie-Syndrom; Long 2003). Neben der radiologischen Bildgebung finden sich bei Asplenie Howell-Jolly-Körper in den Erythrozyten und ein gestörter Uptake im Technetium-Sulfat-Kolloid-Scan. Bei insuffizienter Parenchymfunktion (z. B. zu wenig Restgewebe nach partieller Splenektomie) ergibt sich die Diagnose einer »funktionellen Asplenie«. Jegliche Form der Asplenie beinhaltet besonders in den ersten 5 Lebensjahren und in den ersten 2 Jahren nach Splenektomie ein deutlich erhöhtes Risiko für vital gefährdende Infektionen (»overwhelming postsplenectomy infection«), vor allem mit enkapsulierten Organismen (Burns u. Langdorf 2006). Der Grad des Risikos verhält sich indirekt proportional zum Zeitraum, in welchem der Patient eine funktionstüchtige Milz besessen hat. Splenektomierte Erwachsene (erworbene Asplenie) haben ein deutlich niedrigeres Infektionsrisiko als asplene Kinder (Gittes 2000). > Asplene Kinder benötigen eine großzügige Infektionsprophylaxe, auch bei trivialen Infekten. Erste Wahl sind heute Cephalosporine der dritten Generation, ggf. ergänzt durch Vancomycin bei resistenten Pneumokokken-Stämmen. Zusätzlich sollte gegen Pneumokokken, Meningokokken, und Haemophilus influenza Typ B geimpft werden. Die Einhaltung der generellen Impfempfehlungen für das Säuglings- und Kindesalter muss überprüft werden.
37.2.2
Polysplenie
Die multiplen Milzen liegen meist entlang der großen Kurvatur des Magens. Die physiologische Funktion des Milzgewebes ist gegeben. Die assoziierten kardialen Abnormitäten sind milder ausgeprägt als beim Asplenie-Syndrom. Wie die Asplenie kann auch die Polysplenie mit anderen Fehlbildungen, wie beispielsweise Gallengangsatresie, Malrotation, Situs inversus, Neuralrohr-, urogenitalen-, skelettalen und bronchopulmonale Defekten, kombiniert sein (Long 2003).
37
470
Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
37.3
Ektopes Milzgewebe
37.3.1
Akzessorische Milz
Akzessorisches Milzgewebe findet bei etwa 20% der Kinder. Zu Beginn der Embryonalentwicklung stellt sich die Milzanlage als mesodermale Verdichtung im dorsalen Mesogastrium dar, von wo aus sich mehrere Milzanlagen differenzieren. Eine Verschmelzung dieser Einzelanlagen formt die segmental aufgebaute Einzelmilz. Die inkomplette Verschmelzung dieser Anlagen führt zu akzessorischen Milzen, die zu 2/3 im Hilusbereich zu finden sind. Andere Lokalisationen sind der Pankreasschwanzbereich, entlang der großen Kurvatur des Magens, im Omentum majus und im Mesenterium. In über 80% der Fälle findet sich nur eine zusätzliche Milz, in unter 5% drei oder mehr (Halpert 1959). Diese Nebenmilzen können besonders bei Sphärozytose und idiopathischer immunthrombozytopenischer Purpura (ITP) Rezidive verursachen, falls sie im Rahmen der Splenektomie übersehen und zurückgelassen werden.
37.3.2
Splenogonadale Verschmelzung
Ab der 6. Entwicklungswoche erfolgt die Entwicklung der Milz und des linken Urogenitalsystems in enger Nachbarschaft. Aus dem Mesonephron (Urniere) bildet sich auch die Gonadenanlage. Als Resultat kann reifes Milzgewebe entweder am linken Hoden oder am linken Ovar vorgefunden werden. Der fusionierte Milzanteil wird im Rahmen des Descensus testis vom linken Hoden in das linke Skrotalfach mitgezogen. Je nach Verlauf der Wanderung des splenogonadalen Verschmelzungsgewebes spricht man entweder von einem kontinuierlichen Typ (bei Aufrechtererhaltung der Verbindung zur originären Milz) oder einem diskontinuierlichen Typ (bei unterbrochener Verbindung zur originären Milz) (Daniel 1957). Der Bindegewebsstrang, der die ektopisch verschmolzene Milzgonade mit der normalen Milz verbindet, kann als Kette von kleinen Milzteilen imponieren (splenisches Rosenkranz-Perlen-Zeichen). Die splenogonadale Verschmelzung kann mit Gliedmaßen- und anorektalen Abnormitäten assoziiert sein.
37.4
37
Wandermilz
Wandermilzen sind sehr selten. Am häufigsten wird die Wandermilz bei Kindern und jungen Frauen diagnostiziert (Townsend et al. 2004). Pathogenetisch findet sich eine insuffiziente Befestigungsvorrichtung infolge eines fehlerhaften Verschmelzens des dorsalen Mesogastriums mit der hinteren Abdominalwand. Es resultiert ein ungewöhnlich langer Milzstiel, was einerseits der Milz eine unübliche Lage erlaubt und andererseits aber prädisponierend für eine Milztorsion ist. Die meisten Patienten sind asymptoma-
tisch. Symptomatische Patienten präsentieren sich allerdings mit rezidivierenden abdominellen Schmerzen. Dies scheint von der Spannung des Gefäßstiels beziehungsweise von einer intermittierenden Torsion, gefolgt von einer Mangeldurchblutung, abhängig zu sein. Die Torsion kann bis zum Milzinfarkt führen (Autosplenektomie). Therapie. Die Therapie besteht in der Splenopexie, die entweder durch Extraperitonealisierung oder durch Einschlagen in ein, an die Abdominalwand fixiertes resorbierbares Netz erfolgt (Allen 1989; Seashore 1990). Nekrotische Milzen nach Stieldrehung sollten, beispielsweise laparoskopisch, entfernt werden.
37.5
Peliose
Unter Peliose (griechisch: auslaufendes Blut) versteht man das Vorhandensein von multiplen zystenähnlichen, blutgefüllten Kavernen im Parenchym von soliden Organen (Gittes 2000). Diese Veränderungen kommen in der Milz auch in Verbindung mit einer Peliose der Leber vor. Die blutgefüllten Kavernen können, müssen aber nicht, eine endotheliale Auskleidung und einen Durchmesser bis zu 10 cm aufweisen. Das Hämangiom ist die wesentliche Differenzialdiagnose. Die Ursache einer Peliose ist unbekannt, wird aber im Zusammenhang mit gravierenden Infektionskrankheiten (Tbc, AIDS), Leukämien, Drogenabusus, Steroideinnahme oder Chemotherapie (Azathioprin) beobachtet. Meist bleiben Patienten mit dieser Erkrankung asymptomatisch. Die wichtigste klinische Bedeutung der Peliose ist – auch bei ansonsten asymptomatischem Zustand – ihr Rupturpotenzial, auch ohne nennenswertes Trauma. Therapie. Ein parenchmresezierendes Verfahren ist ange-
zeigt, eventuell sogar die totale Splenektomie (Tsokos 2005; Lashbrook et al. 2006).
37.6
Gutartige Milzzysten
Seit Einführung der Computertomographie und der Ultraschalldiagnostik wurden zystische Läsionen der Milz mit zunehmender Häufigkeit entdeckt. Bei Milzzysten kann man zwischen »echten« Zysten und Pseudozysten unterscheiden (Townsend et al. 2004). Echte Milzzysten. Echte oder kongenitale Milzzysten
(. Abb. 37.3) sind meist unilokulär, haben ein Epithel (Plattenepithel oder Endothel) und sind mit seröser Flüssigkeit gefüllt, welche Cholesterol-Kristalle enthalten kann. Die Epithelzellen können CA 19-9 und CEA produzieren (Sardi et al. 1998). Trotzdem sind diese Zysten benige und haben kein malignes Potenzial. Milzzysten sind meist asymptomatisch. Symptomatische Milzzysten, die gewöhnlich über
471 37.8 · Milzinfektionen
harmatomartige Veränderung der roten Pulpa bezeichnet man als Splenom (Feller 1997). Zu den malignen primären Milztumoren zählt das sehr seltene Hämangioendotheliom. 5% aller primär extralienalen malignen Tumoren metastasieren in die Milz.
. Abb. 37.3. Milzzyste am oberen Milzpol
8 cm Durchmesser aufweisen, können unklares Völlegefühl, Unbehagen im Oberbauch, schnelle Sättigung, Thoraxschmerzen, Kurzatmigkeit, linksseitige Rücken- oder Schulterschmerzen oder sogar einen Lumbalschmerz durch Kompression der linken Niere verursachen (Tsakayannis et al. 1995). Die Zysten können weiters rupturieren oder einen Abszess entwickeln (Rescorla 2006). Pseudozysten. Pseudozysten entstehen sekundär nach
einem Trauma aus der Verflüssigung eines Hämatoms, aber auch eines Abszesses oder eines Milzinfarktes. Die meisten Pseudozysten sind unilokulär, glatt und dickwandig und bleiben normalerweise asymptomatisch. Sie besitzen lediglich Fibrinauskleidung und beinhalten eine trübe-bräunliche Flüssigkeit. Fokale Kalzifizierungen sind möglich. Therapie. Symptomatische Milzzysten sollten einer operativen Therapie zugeführt werden. Sklerosierungen und partielle Zystenwandresektionen beinhalten ein Rezidivrisiko. Die kurativste Vorgangsweise stellt die partielle Splenektomie dar, wobei die Zyste mit anliegendem Milzparenchym in offener oder laparoskopischer Technik entfernt wird (7 Kap. 37.17.3; Brown 1989).
37.7
Milztumoren
Alle Formen von Milztumoren sind selten. Unter den benignen Milztumoren sind die großen kavernösen Hämangiome die häufigsten, die ein milzresezierendes Verfahren erforderlich machen. Auch benigne Milzzysten, sowie Lymphangiome, zählen zu den gutartigen Milztumoren. Eine
37.8
Milzinfektionen
37.8.1
Milzabszess
Zu einem Milzabszess kommt es relativ selten. Prädisponierende Erkrankungen sind maligne Erkrankungen, Polyzythämia vera, Endokarditis, ein vorangegangenes Trauma, Hämoglobinopathien (z. B. Sichelzellerkrankung), Harnwegsinfektionen, intravenöser Drogenmissbrauch und AIDS (Alonso, Cohen et al. 1990, Wolff et al. 1991). Immunsuprimierte Patienten sind besonders gefährdet. Ca. 70% aller Milzabszesse resultieren als Absiedelung einer hämatogenen Streuung und kommen bei Kindern häufig als multilokuläre Herde im Milzparenchym vor. Die abszedierende Infektion kann in Milzzysten, als sekundär infiziertes posttraumatisches Hämatom oder nach Milzinfarkt auftreten. Erregerspektrum. Als Erreger kommen grampositive Kokken (Staphylococcus-, Streptococcus- oder EnterokcoccusStämme, Salmonellen), gramnegative Magen/Darm-Keime, aber auch seltene Erreger wie Mycobacterium tuberculosis, Mycobacterium avium und Actinomyces spp. in Frage. Klinik und Diagnostik. Die klinische Symptomatik ist unspezifisch. Sie geht über diffuse Bauchschmerzen, Fieber und Peritonitis bis zu pleuritischen Thoraxschmerzen. Nur selten zeigt sich eine Splenomegalie. Die Diagnose wird mittels CT oder MR gestellt. Therapie. Die Behandlung hängt davon ab, ob der Abszess
unilokulär oder multilokulär ist. Die ausschließliche antibiotische Therapie führt selten zum therapeutischen Erfolg. Solitäre, unilokuläre Abszesse ermöglichen die Option einer Ultraschall- oder CT-gezielten perkutanen Drainage mit Erregerdiagnostik und Antibiogramm aus dem aspirierten Sekret (Gleich et al. 1988). Bei ausbleibendem therapeutischem Erfolg ist auch bei unilokulären Abszessen ein resezierendes Verfahren, gegebenenfalls auch die totale Splenektomie zur Infektsanierung durchzuführen (Townsend et al. 2004). Bei multilokulären Abszessen ist in der Regel eine Splenktomie unter antibiotischer Abschirmung notwendig.
37.8.2
Parasitäre Zysten
Besonders in Gebieten mit endemischer HydatidenErkrankung (Echinococcus spp.) sind parasitäre Zysten
37
472
Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
nicht nur in der Leber, sondern auch (selten) in der Milz möglich. Vor der operativen Sanierung sollte neben der radiologischen Abklärung eine serologische Diagnostik erfolgen. Therapie. Bei eindeutigem Befund ergibt sich die Notwendigkeit der päoperativen Behandlung mit Albendazol (Zyklus: 2-mal 400 mg/Tag für ca. 1 Monat). Vorbeugend sollten solitäre Zysten intraoperativ, auch beispielsweise mit hypertonen Lösungen (33% Glukose oder 3% NaCl-Lösung), »sterilisiert« werden. Nach der Zystenpunktion wird mit einer großvolumigen Spritze Zysteninhalt abgesaugt und durch die sterilisierende Lösung ersetzt. Im Anschluss wird die Punktionsstelle, bei nicht mehr gespannter Zystenwand, mit einer monophilen Z-Naht übernäht. Auch eine Endozystektomie ähnlich wie in der Leber (7 Kap. 35) kann vorgenommen werden. Der zystentragende Milzabschnitt wird beispielsweise entsprechend einer Segmentresektion, entfernt. Je nach Ausdehnung des Parenchymbefalls kann sich sehr selten die Notwendigkeit einer totalen Splenektomie ergeben (Kalinova 2006). Bei parasitären Zysten muss eine intraoperative Zystenruptur unbedingt vermieden werden.
37.9
Funktionelle Abnormitäten
37.9.1
Hyposplenismus
Der Hyposplenismus präsentiert sich u. a. durch die erythrozytären Howell-Jolly-Körperchen und die erhöhte Infektanfälligkeit (OPSI = »overwhelming postsplenectomy infection«; 7 Kap. 6). Die Extremform des Hyposplenismus ist die kongenitale Asplenie. Ein funktioneller Hyposplenismus kann sowohl durch die chirurgische Splenektomie, die Sichelzellanämie, die Malaria, eine Radiatio des linken Oberbauchs als auch durch Autoimmunerkrankungen verursacht werden. Ebenso können metabolische Speicherkrankheiten, bei denen es zur Druckatrophie von funktionstüchtigem Milzparenchym kommt (7 Kap. 6), zum Hyposplenismus führen.
37
37.10
Hereditäre Sphärozytose
Die hereditäre Sphärozytose (HS), zu 2/3 autosomal-dominant vererbt, entsteht durch einen Defekt der erythrozytären Membranproteine Spektrin oder Ankyrin (Croom et al. 1986; Schwartz 1996; Rescorla 2006). Die Folge sind sphärisch deformierte rigide Erythrozyten (Sphärozyten), die in der Milz filtriert und abgebaut werden. Klinik und Diagnostik. Die Hämolyse kann verschieden
! Cave
37.9.2
dern ist in der Regel eine portale Hypertension für einen sekundären Hypersplenismus auslösend. Als adäquate Therapie gilt vorrangig die Ursachenbehandlung, obwohl gelegentlich eine (Teil-)Splenektomie erforderlich sein kann. Beim primären Hypersplenismus (z. B.bei hereditärer Sphärozytose, hereditärer Elliptozytose, immunthrombozytopenischer Purpura) führt die gesteigerte Filtrationsaufgabe der Milz zur Splenomegalie. Folgen sind Anämie, Thrombozytopenie und Granulozytopenie (Feller 1997).
Hypersplenismus
Unter Hypersplenismus versteht man eine pathologisch gesteigerte Milzfunktion mit inadäquater Sequestration, sowie Zerstörung von zirkulierenden Blutelementen und Splenomegalie (French et Camitta 2004). Meist handelt es sich um einen sekundären Hypersplenismus, der aufgrund einer Splenomegalie entsteht und zur inadäquaten mechanischen Sequestrierung von Erythrozyten, Thrombozyten und Neutrophilen führt. Bei Kin-
schwer ausgeprägt sein. Symptomatische Fälle zeigen einen Ikterus, eine Anämie, eine Splenomegalie, eine indirekte Hyperbilirubinämie und häufig Gallensteine bei älteren Patienten. Das Gallensteinleiden kann in der Folge eine Pankreatitis auslösen. Aplastische Krisen können sich beispielsweise im Rahmen einer Parvovirus-B19-Infektion mit Suppression der Erythropoese ergeben. Neben der erhöhten Retikulozytenzahl im Blutbild, besteht eine gesteigerte osmotische Fragilität sowie, im Rahmen der Anämiediagnostik, ein negativer Coombs-Test. Therapie. Als suffiziente Therapie gilt die totale Splenektomie (offen oder laparoskopisch), da sie zu einer signifi-
kanten Remission der Anämie führt. Um Anämierezidive auszuschließen dürfen keine akzessorischen Milzen übersehen und zurückgelassen werden. Das Risiko (<10%) der Kinder, an einer OPSI zu erkranken, führt heute zu der Forderung, mit der Splenektomie bis zu einem Alter von 5–6 Jahren zuzuwarten (Musser et al. 1984). Es gilt, den Leidensdruck und die abgelaufenen Komplikationen (Anämie, apalstische Krisen, Gallenkoliken, Pankreatitis) in die Entscheidungsfindung des Splenektomiezeitpunktes bei geimpftem Patienten (Pneumokokken, Haemophilus influenzae B) einfließen zu lassen. Teilsplenektomien sind durch die neuerliche Größenzunahme des belassenen Milzparenchyms und des damit verbundenen Krankheitsrezidives unbefriedigend (deBuys 2002). Dadurch wird die Sinnhaftigkeit der Teilsplenektomie deutlich in Frage gestellt (Golla et al. 2001; Rosin et al. 2001). Subtotale Splenektomien (NTS), bei denen ein nur 10 cm3 großer Milzparenchymzylinder belassen wird, könnten eine zukunftsweisende Entwicklung darstellen. Es gilt immunologisch suffizientes Restparenchym zu erhalten
473 37.14 · Speichererkrankungen
und die anämisierende Filtrationsfunktion aufzuheben. Diese Balance ist schwierig einzuhalten und Gegenstand weiterer chirurgischer Forschung. Bei Gallensteinen wird der operative Eingriff durch eine Cholezystektomie, ggf. mit Choledochusrevision, erweitert. Bei laparoskopischem Vorgehen kann der Steinabgang durch eine präoperative Papillotomie erfolgen. Die Papillotomie beim Kind wird aufgrund der Infektionsproblematik und den möglichen Beschwerden durch die Aerobilie kontroversiell gesehen.
37.11
Die Milz bei Hämoglobinopathien
37.11.1 Sichelzellanämie Die Sichelzell-Erkrankung ist durch das vererbte Vorliegen von Hämoglobin S gekennzeichnet, wo statt Glutamin, Valin in der ß-Kette des Moleküls aufscheint. Bei reduzierter Sauerstoffspannung kristallisieren Hämoglobin S-Moleküle, mit Ausbildung von verlängerten, deformierten, rigideren, fragileren, sichelförmigen Erythrozyten. Die mangelnde Verformbarkeit endet mit kapillären Verschlüssen. Die Mikroinfarkte führen nach etwa 10 Jahren zu einer funktionellen Autosplenektomie (Townsend et al. 2004). Homozygote Sichelzellanämieerkrankte leiden an wiederholten Oberbauch- und Thoraxschmerzen. Bei der akuten, splenischen Sequestrationskrise (ASSC) entsteht eine schwere, vital gefährdende Anämie mit Splenomegalie, Hypersplenismus und Thrombozytopenie (al-Salem et al. 1996). Die partielle oder subtotale Splenektomie ist der empfohlene Therapieansatz, da das Risiko einer Postsplenektomiesepsis bei Sichelzellanämie vergleichsweise höher liegt.
37.11.2 Thalassämie Die Thalassämie wird als autosomal dominantes Merkmal vererbt und stellt das Ergebnis einer defekten Hämoglobinsynthese dar, wodurch eine hämolytische Anämie ausgelöst werden kann. Man unterscheidet die schwere homozygote β-, oder Major-Thalassämie (Cooley-Anämie) von der intermediären und heterozygoten Minor-Thalassämie (al-Salem 1997). Auch diese Patienten können von einer Splenektomie profitieren. Bei der Thalassämie hat die Milzteilresektion eine spezielle Bedeutung, da für diese Patienten ein besonders großes Risiko einer Postsplenektomiesepsis (>10%) besteht (Gittes 2000). Bei Kindern unter 5 Jahren mit einer Hämoglobinopathie (Sichelzellanämie, Thalassämie) hat sich die partielle Splenektomie als effektive Therapie erwiesen, da sie vorrangig den Bedarf an Bluttransfusionen reduziert bzw. eliminiert. Gute Ergebnisse wurden bei der Thalassämie auch mit einer Milzembolisation erzielt.
37.12
Idiopathische oder immunthrombozytopenische Purpura
Die Ätiologie der ITP ist nicht ganz erforscht. Bekannt ist, dass es sich um eine Funktionsstörung verbunden mit einer erhöhten Plättchenzerstörung durch IgG-Autoantikörper, die gegen Thrombozytenmembran-Antigene gerichtet sind, handelt. Die Immunkomplexe werden im retikuloendothelialen System phagozytiert (George et al. 1994). Charakteristika dieser Erkrankung sind eine niedrige Thrombozytenzahl, ein normales Knochenmark und das Nichtvorhandensein jeglicher anderer Ursachen für die Thrombozytopenie (Townsend et al. 2004). Die Symptome sind abhängig vom Ausmaß der Thrombozytopenie: Epistaxis, Petechien und Zahnfleischbluten, selten Hämaturie und gastrointestinale sowie intrazerebrale Blutungen. Man unterscheidet zwischen der akuten, sich selbst limitierenden Form, die typischerweise mit einer abrupten, schweren Thrombozytopenie beginnt, und der chronischen Form der ITP (>6 Monate). Therapie. Die Behandlung der akuten ITP erfolgt je nach Ausmaß der Erkrankung (Thrombozytenzahl) konservativ durch Kortikosteroide sowie Gammaglobulinsubstitution. Transfusionspflichtige Anämien verbunden mit einer deutlichen Splenomegalie werden mittels Splenektomie therapiert.
37.13
Lymphome und Leukämien
Bei Splenomegalien, die im Rahmen von Lymphomen und Leukämien auftreten, ist heute, unter Anwendung der konservativen multimodalen onkologischen Therapie, die Splenektomie nur in Ausnahmefällen (Probleme des Hypersplenismus) indiziert.
37.14
Speichererkrankungen
Schweren Formen der Speicherkrankheiten treten meist schon im Säuglings- und Kindesalter auf, während die leichteren Formen erst beim Erwachsenen manifest werden (Briner 1997). Der Morbus Gaucher ist durch einen Defekt des Enzyms β-Glukozerebrosidase versursacht. Glukozerebroside werden in den Makrophagen von Milz, Leber, Knochenmark und Lungen gespeichert. Im Verlauf entwickelt sich eine massive Splenomegalie mit Hypersplenismus, wobei die operative Reduktion von Milzparenchym therapeutisch effektiv ist (Rice et al. 1996, Lorberboym et al. 1997). Bei der totalen Splenektomie kann es postoperativ, abgesehen vom Risiko einer OPSI, zu einer Beschleunigung der Leber- und Knochenveränderungen kommen, weswegen eine partielle Splenektomie favorisiert wird (Ashkena-
37
474
Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
zi et al. 1986, Rubin et al. 1986). Jedoch kann die Teilsplenektomie zum neuerlichen Wachstum des verbliebenen Milzrestes und damit zum Rezidiv des Hypersplenismus führen.
37.15
Splenose
Unter dem Begriff »Splenose« versteht man die Autotransplantation von Milzgewebe nach Splenektomie aus traumatischer oder iatrogener Ursache. Sie ist durch das Wachstum von Milzgewebsinseln in der Abdominalhöhle charakterisiert (Solheim et Hivik 1985). Die Milzfragmente können sich auch an der parietalen oder viszeralen Pleura sowie dem Perikard implantieren (Destable et al. 1989, Fleming et al. 1976). Die Funktion dieser Implantate ist jedoch fraglich. Therapie. Die Therapie bei Splenose erfolgt – ebenso wie bei
Asplenie – durch Infektprophylaxe.
37.16
Milztrauma
Bei stumpfem Bauchtrauma ist die Milz das am häufigsten verletzte intraperitoneale Organ (Schafermeyer 1993). Autounfälle sind die Hauptverletzungsquelle in den Industrieländern. Verletzungen resultieren in Kapselrissen entlang der verschiedenen Ligamentanhaftungsstellen sowie in linearen oder Sternfrakturen von verschiedener Tiefe. Bei Kapselläsionen, die bei subkapsulärem Hämatom erst im Intervall auftreten können (zweizeitige Milzruptur: plötzlicher Kapselriss nach einem freien Intervall von mehreren Tagen), kann sich ein massiver Hämaskos ergeben, der eine sofortige therapeutische Intervention (offene Blutstillung bzw. Embolisation) erforderlich macht. Seltenere Folgen eines stumpfen Bauchtraumas sind sog. posttraumatische Milzinfarkte. Pathogenetisch wird die Überdehnung einer Milzarterie (Endarterien), eine Intimaläsion mit konsekutiver Thrombose angenommen. Milzinfarkte nehmen schrittweise an Größe ab und lösen sich meist ohne Folgeerkrankungen auf. Eine weitere eher seltene Komplikation ist ein postraumatischer Milzabszess (Miller et al. 2005). Diagnostik. In der Diagnostik hat, neben der abdominellen Sonographie, vor allem die Multidetektor-Computertomographie (MDCT) eine entscheidende Rolle übernom-
37
men (Wing et al. 1985). Sie zeigt das Verletzungsausmaß und unterstützt die Selektion der Patienten, die für ein konservatives oder invasives Management (angiographische Embolisation oder operative Sanierung) nach Milztraumata in Frage kommen (Shanmuganathan et al. 1993; Federle et al. 1998). Laborchemisch können eine Anämie sowie eine Leukozytose weitere diagnostische Hinweise sein.
Klassifikation. Unter den verschiedenen Milzverletzungsklassifikationen erscheint die CT-basierende Grading-Skala von Buntain und Gould (1985) zweckmäßig, die die Milzverletzungen sowohl qualitativ als auch quantitativ darstellt und zusätzliche Verletzungen anderer Strukturen bzw. Organe einbezieht (. Tab. 37.1). Therapie. Je nach Ausmaß der Verletzung bzw. assoziierten anderen Verletzungen wird das weitere therapeutische Vorgehen geplant. Wesentlich ist die Transferierung an ein medizinisches Zentrum, wo alle eventuell notwendigen diagnostischen und therapeutischen Eingriffe gewährleistet werden können. Kinder mit Grad-I- oder unkomplizierten Grad-II-Verletzungen werden einer kontinuierlichen Observanz mit Monitoring (Intensivstation) unterzogen. Kinder mit Grad-III- oder Grad-IV-Verletzungen und jene, die zusätzlich zu ihren Grad-I- oder -II-Verletzungen assoziierte Schäden an anderen intraabdominellen Organen aufweisen, müssen ggf. direkt einer operativen Versorgung zugeführt werden (Buntain 1995). > Im Rahmen von Infektionen (Pfeiffersches Drüsenfieber), die mit einer deutlichen Splenomegalie einhergehen können, kann auch ein Bagatelltrauma zu einer Milzruptur führen.
Aufgrund des signifikanten immunologischen Stellenwertes der Milz und der Praktikabilität, hat sich die paren-
. Tab. 37.1. Klassifizierung von Milzverletzungen nach Buntain u. Gould Grad
Beschreibung
I
Lokalisierter Kapselriss oder subkapsuläres Hämatom ohne signifikante Parenchymverletzung
II
Einfache oder multiple Kapsel- oder Parenchymrisse, transversal oder longitudinal, die sich nicht bis in den Hilus ausdehnen oder Milzhauptgefäße betreffen; mit oder ohne intraparenchymalem Hämatom
III
Tiefe Risse, einzeln oder multipel, transversal oder longitudinal, die sich bis in den Hilus hinein ausdehnen und große segmentale Milzhauptgefäße betreffen
IV
Komplett zerschmetterte oder fragmentierte bzw. von ihrer normalen Blutzufuhr durch die Hauptstämme abgetrennten Milz
Untergruppe A
Ohne andere assoziierte intraabdominelle Verletzungen
B
Mit anderen assoziierten intraabdominellen Verletzungen 4 B1= solides Organ 4 B2= Hohlorgan
E
Mit assoziierten extraabdominellen Verletzungen
475 37.17 · Chirurgische Verfahren
chymerhaltende Behandlung von Milztraumen bei Kindern durchgesetzt. Die Therapie betrifft die ausschließliche klinische Beobachtung (Blutbild und Ultraschallkontrollen des Abdomens) mit Bettruhe bei nicht transfusionspflichtigen, hämodynamisch stabilen Patienten und wird durch arteriographische Milzarterienebolisationen mit Erfolg ergänzt (Haan et al. 2005; Wasvary et al. 1997; Sclafani et al. 1995). Kinder können auch bei größerem Blutverlust über einen längeren Zeitraum kreislaufstabil sein. Die empfohlene Hospitalisierung bei konservativer Behandlung der Milzverletzung sollte dem Verletzungsgrad und -muster angepasst werden. Zeiträume von etwa 1 Woche sind bei der Mehrzahl der Patienten ausreichend. Die körperliche Schonung sollte für 3 Wochen eingehalten werden. In transfusionspflichtigen Situationen (Hb <8g/dl; Transfusionsbedarf >40 ml/kg KG; beim nicht mehr blutenden Patienten führen 3–4 ml/kg KG Erythrozytenkonzentrat zu einem Hämoglobinanstieg um 1g/dl und den Hämatokritanstieg um ca. 3%), bei Zunahme des sonographisch zu kontrollierenden Hämaskos und bei Kreislaufinstabilität ergibt sich die Indikation zur operativen Sanierung der Milzläsion. Das therapeutische Vorgehen ist vorrangig auf die »Milzrettung« auszurichten (de Buys Roessingh et al. 2002). Die totale Splenektomie sollte nur schwersten, akut vital gefährdenden Milzrupturen vorbehalten sein. Natürlich können assoziierte intraabdominelle Verletzungen (Pankreasruptur, Magenruptur) eine Milzerhaltung verhindern (Pearl et al. 1989). Die heute stark propagierten Alternativen zur totalen Milzentfernung sind die Teilsplenktomie und/oder Splenorraphie (z. B. Einhüllung in ein resorbierbares Netz).
37.17
Chirurgische Verfahren
37.17.1 Allgemeine Darstellung Die operative Vorgehensweise in der Milzchirurgie ist in der letzten Zeit bezüglich der Parenchymerhaltung und der Invasivität vielfältig geworden. Die Möglichkeiten beinhalten, abgesehen von der totalen Splenektomie, unter anderem die Milzteilresektion, die subtotale Splenektomie, die Splenorrhaphie ergänzt durch die minimalinvasiven laparoskopischen Behandlungstechniken. Die Vorteile und Nachteile der Laparoskopie müssen, unter Einbeziehung der persönlichen Erfahrung (Lernkurve), kritisch abgewogen werden. Verlängerte Operationszeiten, die bei der Akutoperation als vitaler Faktor aufscheinen, und der schwierigere laparoskopische Umgang mit deutlichen Splenomegalien von einem Organgewicht von >1 kg (Konversionsrate zum offenen Eingriff von 60%) sollten berücksichtigt werden (Berman 1999; Mahon 2003). Die kürzere postoperative Mobilisierungsphase, der geringere Analgetikabedarf und die kürzere Hospitalisierung (3,6 versus 7,2 Tage; Winslow 2003) sprechen für die lapa-
roskopischen Techniken (Beanes et al. 1995). Im laparoskopisch behandelten Krankengut finden sich weniger Wundheilungsstörungen, allerdings mehr Blutungskomplikationen, wenn man das Kollektiv der zum offenen Zugang konvertierten Eingriffe einbezieht (Winslow 2003). Eine weitere Methode der funktionellen »Teilsplenektomie« ist die Milzembolisation, wobei Mikrosphären, Microcoils, Butyl-2-Cyanoacrylat bzw. Fragmente eines hämostatisch wirksamen resorbierbaren Schwammes (Spongostan, Fa. J&J Wound Ethicon GmbH) benutzt werden können (Pringle et al. 1982; Brandt et al. 1989; Stanley u. Shen 1995). Diese Methode kann auch Anwendung finden um große Milzen vor der laparoskopischen Entfernung zu verkleinern (Friedman 1997). Zu den Komplikationen der Milzembolisation zählen Fieber, Schmerzen, periplenische Flüssigkeitsansammlungen, Pleuraergüsse, die Milzruptur oder auch die Entwicklung eines Milzabszesses.
37.17.2 Perioperative begleitende
Maßnahmen Imprävention. Da die Möglichkeit niemals ausgeschlossen werden kann, dass die als partielle Splenektomie angelegte Operation in einer morphologischen und/oder funktionellen Splenektomie endet, sind in beiden Fällen die Patienten mindestns 1–2 Wochen vor dem Eingriff gegen enkapsulierte Erreger (Pneumokokken, Meningokokken, Haemophilus influenza Typ B) zu immunisieren. Im Falle, dass vor einer Splenektomie die Immunisierung nicht erfolgen konnte, kann diese auch noch 1–2 Wochen postoperativ, bei Infektfreiheit, nachgeholt werden. Eine Auffrischungsimpfung gegen Pneumokokken empfiehlt sich nach Titerbestimmung. Antibiotikatherapie. Den wesentlichsten Anteil an der Infektionsprävention trägt die Impfimmunisierung. Dazu kommt die perioperativ begonnene Antibiotikaprophylaxe, die postoperativ fortgesetzt wird. Die Frage der LangzeitAntibiotikaprophylaxe, besonders unter dem Gesichtspunkt einer adäquaten Impfimmunisierung, ist heute noch nicht geklärt. Das Spektrum der empfohlenen antibiotischen Therapie reicht von einer lebenslangen Penicillingabe über eine 10-jährige Prophylaxe bis hin zur anlassbezogenen großzügigen Antibiotikatherapie bei ersten Infektzeichen. (McMullin 1993, Zarrabi 1984, Rescorla 2006). Thrombozytenaggregationshemmung. Hämatologisch findet sich, vor allem während der ersten 2 postoperativen Wochen nach milzresezierenden Eingriffen, ein Thrombozytenanstieg und zwar umso deutlicher, je mehr Milzgewebe (Splenomegalie mit >650 g) entfernt wurde. Im Vordergrund steht die Thrombozytenaggregationshemmung beim Einsetzen der Thrombozytose, wobei bei über Thrombozytenwerten über 600.000/μl die Thrombosierungstendenz
37
476
Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
des Portalvenensystems signifikant erhöht ist (Stamou 2006; Soyer 2006). Entsprechend der Thrombozytose sollte die Azetylsalizylsäuremedikation (5 mg/kg KG/Tag) über mindestens 3 Monate erfolgen. Ergänzend, aber nicht zwingend, ist die postoperative Low-dose-Heparinisierung (Enoxaparin: 0,5 mg/kg KG/2-mal täglich subkutan), die wir bei größeren operativen Eingriffen routinemäßig ab dem Teenageralter anwenden (Monagle 2004).
37.17.3 Resezierende Operationstechniken Totale konventionelle Splenektomie Der operative Zugang bei der konventionellen offenen Splenektomie ist die mediane Laparotomie bzw. der Rippenbogenrandschnitt links oder auch der quere Oberbauchschnitt (Mitchell u. Morris 1983). Bei Notoperationen, bei denen ein schneller Zugang erforderlich ist, und bei massiver Splenomegalie bevorzugen wir die mediane Laparotomie. Die Operationsschritte beinhalten die Durchtrennung der Vasa gastricae breves, weiters die Durchtrennung des Lig. splenorenale, danach die luxierende Mobilisierung der Milz und die Präparation des Milzhilus mit Ligatur (z. B. Gore) und Durchtrennung von A. und V. lienalis. Bei deutlicher Splenomegalie wird in der Literatur die primäre Versorgung der A. splenica vor der Mobilisierung empfohlen (Keramidas et al. 1980). Auf den Pankreasschwanz, der bis an den Milzhilus reichen kann, ist, wie auch auf akzessorische Milzen, zu achten (Cullis et Mufti 1998). Im Falle einer Cholezystolithiasis erfolgt synchron die Cholezystektomie (Gittes 2000). Das Wundbett im linken Oberbauch sollte drainiert werden. Thrombosen von Vena porta und mesenterica wurden beschrieben (Skarsgrad 1993; Stamou 2006; Soyer 2006).
besteht die Möglichkeit der kombinierten intraoperativen Milzarterienembolisation (Naoum 2007). Die Milzentfernung erfolgt vorsichtig (Splenose) mittels Zerkleinerung (Fragmentierung in einem Beutel: Endocatch, Fa. Auto Suture). Wir verschließen die Portzugänge mit resorbierbaren Fasziennähten sowie intrakutanen Hautnähten.
Teilsplenektomie Die segmental vaskularisierte Anatomie der Milz (86% zwei arterielle Polgefäße, 12% drei Gefäße nach Liu 1996) ermöglicht eine Zuordnung der hilären Polgefäße zum oberen und unteren Milzpol, eine segmentale Gefäßligatur und infolge dessen eine partielle Splenektomie entlang der vaskulären Demarkierungslinien (. Abb. 37.5; Brown et al. 1989, Fonkalsrud et al. 1990). Die Entwicklung von neuen hämostatisch wirksamen Schneide- und Dissektionstechniken, wie z. B. das Ultraschallskalpell (Ultracision) und der laparoskopische Linearstapler (Endo Gia) haben das chirurgische Rüstzeug signifikant erweitert (Rosin et al. 2001). Ergänzend kann die Hämostase der freiliegenden Milzfläche durch Kompressions-U-Nähte (. Abb. 37.6), eine Plombierung mit Anteilen des großen Netzes, durch Hoch-
. Abb. 37.4. Lagerung für laparoskopische Milzeingriff und Portpositionierung
Totale laparoskopische Splenektomie
37
Der Patient wird entweder in 45° links angehobener Rückenlage oder Rechtsseitenlage, im Oberbauchbereich leicht überstreckt, gelagert (. Abb. 37.4). Die Gasinsufflation in das Abdomen sollte mit 12 mmHg limitiert sein und auf eine ausreichende Muskelrelaxation ist zu achten. Im Nabelbereich wird beispielsweise durch den Trokar entweder die Optik (30°) oder der Endostapler für den Gefäßverschluss eingesetzt. Durch die epigastrischen Ports werden die Fassinstrumente eingebracht und durch den Zugang im linken Mittelbauch entweder Optik oder Ultraschalldissektor (Ultracision, Fa. Ethicon) bzw. das LigaSure Verödungsinstrument (Fa. Ethicon) in den Abdominalraum vorgeschoben. Letztere Instrumente eignen sich für die Dissektion und Blutstillung der Ligamente, kleinerer kapselnaher Milzgefäße und der Vasa gastricae breves. Die Hauptstämme der Milzgefäße werden, vorzugsweise durch den umbilikalen Port, mit Gefäßclips oder dem »Vascular Endostapler« (Endo Gia, Fa. Auto Suture) versorgt. Um die Blutungskomplikation, besonders bei Splenomegalie zu mindern,
. Abb. 37.5. Milzteilresektion bei Milzyste des oberen Milzpoles und geklemmter A. lienalis
477 37.17 · Chirurgische Verfahren
37.17.4 Konservierende
Operationstechniken Splenorrhaphie
. Abb. 37.6. Kompressions-U-Nähte nach Milzteilresektion
frequenzkoagulation, durch Applikation von Fibrinogenbeschichtetem Kollagen-Vlies (Tachosil, Fa. Nycomed Pharma GmbH) oder auch durch Splenorraphie durch Einschlagen in ein resorbierbares Netz erfolgen (Cullis et Mufti 1999; Itamoto Toshiyuki et al. 2006). Letztere Technik ermöglicht auch eine elegante Splenopexie des Milzrestes an der lateralen Abdominalwand. Bei der laparoskopischen Teilsplenektomie wird die Milz nicht mobilisiert. Es erfolgt auch im Normalfall keine selektive Darstellung der zentralen Vasa lienalis, sondern lediglich eine peripher gehaltene Hiluspräparation mit adäquater Gefäßversorgung (z. B. Ligasure, Ultrascission, Gefäßclips etc.). Nach Demarkierung des zu resezierenden Milzanteils und langsam angesetzter Kompression in der Resektionslinie (Kapsel muss intakt bleiben!) wird dieser mit dem Linearstapler (Endogia, Endopath) abgesetzt. Der Resektionsrand kann zusätzlich geklebt werden (z. B. Lyostypt, Fa. Braun AG, oder Tachosil, Fa. Nycomed Pharma GmbH).
Mit Splenorrhaphie bezeichnet man blutungsstillende chirurgische Maßnahmen durch komprimierende Nähte oder das Einschlagen der verletzten Milz in ein resorbierbares Netz (Vicryl oder Dexon). Diese effektive Form der chirurgischen Hämostase kann gegebenenfalls durch die topische Parenchymkoagulation, Umstechungen und durch lokale Hämostyptika (autologes Fibrin [Vivostat, Fa. Vivolution A/S], heterologes Fibrin [Tissuecol, Fa. Baxter], Tachosil, Spongostan etc.) ergänzt werden (. Abb. 37.7). Ein Banding der A. lienalis (evtl. ein Tourniquet um die Hilusgefäße) und/oder die vorsichtige Mobilisation der Milz, mit vorläufiger Belassung vorhandener Koagel, ist ratsam. Die Nahtversorgung findet vorrangig bei Grad-II–IIIVerletzungen ihre Anwendung. Monophile, geschmeidige Nähte (Goretex) bieten deutliche Vorteile. Die mit Pledges bzw. Patchstreifen (»Goretex soft tissue patch«) unterfütterten U-Nähte verhindern, dass die Milzkapsel im Nahtbereich einreißt. Die Netzumwicklung wird vorrangig bei Grad-III–IVVerletzungen eingesetzt. Das resorbierbare Netz (Vicryl oder Dexon) wird als Quadrat in der angemessenen Größe vorbereitet und schlitzförmig von einer Seite her kommend eingeschnitten. Die mobilisierte Milz wird in das Netz gelegt, wobei die Hilusgefäße durch den Schlitz gelegt werden. Mit resorbierbaren Nähten erfolgt der Verschluss des restlichen, von den Gefäßen freibleibenden Schlitzes. Das Netz wird anschließend über die Milzkonvexität gespannt und mit resorbierbaren Nähten geschlossen.
Splenopexie Die Hauptindikation für eine Splenopexie ist die vital gefährdete Wandermilz (7 Kap. 37.4), aufgrund des Risikos
Subtotale Splenektomie 2005 verwiesen Stoehr und Stauffer auf die Effektivität der subtotalen Splenektomie (»near total splenectomy«, NTS) bei hereditärer Sphärozytose mit Senkung der Hämolyserate und Bewahrung einer Immunrest- sowie Clearancerestfunktion (Stoehr 2005). Ein etwa 2 cm im Durchmesser haltender, topographisch zwischen Kapsel und Hilus ausgerichteter Gewebezylinder der Milz mit einem Restvolumen von 10 cm3 erscheint als kleinste Parenchymeinheit, bei der das Milzgewebe (rote Pulpa, weiße Pulpa, Marginalzone) eine sinnvolle Restfunktion aufrechterhalten kann und auch der venöse Rückfluss groß genug bleibt, um Thrombosen im venösen Abstrom vorzubeugen. Der Milzrest sollte im Oberbauch so eingebettet werden (Einhüllen in ein resorbierbares Netz, Fibrin- oder Kollagen-Fibrinklebung), dass keine Knickbildungen in den zu- und abführenden Gefäßen zustande kommen.
. Abb. 37.7. Netzsplenorrhaphie mit zusätzlicher Tachosil-Klebung der hilusnahen Rupturstelle
37
478
Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
eines Milzinfarktes bei Milzstieltorsion. Sie wird offen oder in zunehmendem Maß laparoskopisch durchgeführt. Dabei wird die Milz in den linken Oberbauch verlagert und in ein resorbierbares Netz eingeschlagen. Das Netz erlaubt die Fixation an der Abdominalwand entweder durch Nähte oder durch Klammern. Um die Splenopexie zu verstärken, haben Kleiner et al. (2006) eine zusätzliche Unterstützung durch Faltung des Lig. phrenocolicum und dessen Annaht an der lateralen Bauchwand entwickelt, woraus sich ein Haltebeutel für den unteren Milzpol ergibt.
Autotransplantation In Anlehnung an die Genese der Splenose wurden verschiedenste Verfahren der Autotransplantation eingesetzt (Patel 1986; Rice 1980; Velcek 1982; Timens 1992; Pisters u. Pachter 1994). Die Methoden reichen von einer Injektion von zerkleinertem Milzgewebe (Homogenat) bis zur Implantation von Milzparenchymscheiben in das Omentum majus bzw. in eine retroperitoneale Tasche. > Es muss eine möglichst große Menge (idealerweise etwa 1/3 der gesamten Milz; Nielsen 1984) an Milzparenchym injiziert bzw. implantiert werden, um eine, zumindest partielle Wiederherstellung der splenischen Funktion (normalisierte Thrombozytenzahl, Anstieg des IgM-, IgA-, IgG- bzw. C3-Spiegels, Verschwinden von Howell-Jolly-Körper im Blutausstrich etc.) zu erreichen (Pisters u. Pachter 1994).
Bei der Implantation (Einschlagen in das Omentum majus und Fixation mit resorbierbaren Matratzennähten) von Milzparenchymscheiben sollten diese dünn (etwa 3 mm) gehalten werden. Erfolge erzielten Moore et al. (1994) unter Verwendung von fünf 40×40×3 mm großer autotransplantierter Milzparenchymscheibchen. Die Autotransplantate konnten eine Verbesserung der Postsplenektomiethrombozytose sowie ein Ansteigen der IgM-Spiegel bewirken und damit zumindest Teilbereiche einer physiologischen Immunfunktion der Milz abdecken.
37.17.5 Komplikationen nach resezierenden
Eingriffen an der Milz
37
In einer Analyse von 344 laparoskopischen und 369 offenen Splenektomien bei Kindern ergaben sich leichte Komplikationen (Atelektasen, Fieber, passagere Magenentleerungstörung) bei 4,9% der offenen und bei 2,9% der laparoskopischen Milzeingriffe. Schwerwiegendere Komplikationen, wo in erster Linie Blutungen zu nennen sind, ergaben sich bei den laparoskopischen Eingriffen in 6,7% und bei den offenen in 4,9% (Rescorla 2006). Eine Metaanalyse, bei der Kinder und Erwachsene im Zeitraum von 1991–2002 berücksichtigt wurden, ergab eine Komplikationsrate bei laparoskopischer Splenektomie von 15,5% (Blutungen im Vordergrund) und bei kon-
ventioneller offener Splenektomie von 26,6% (Atelektasen, Wundheilungsstörungen; Winslow 2003). Zusätzlich kann eine milde Pankreatitis, sowie selten eine intraabdominelle Abszessbildung auftreten (Mitchell u. Morris 1983).
Portalvenenthrombose Die postoperative Thromboserate kann Größenordungen von 5% erreichen, wobei der Grad der Splenomegalie (>650 g bereits signifikant gefährdet) und die Thrombozytose (>650.000/μl) begünstigend wirken (Stamou 2006). Im Vordergrund steht die Thrombozytenaggregationshemmung. Entsprechend der Thrombozytose sollte die Azetylsalizylsäuremedikation (5 mg/kg KG/Tag) über mindestens 3 Monate erfolgen.
Postsplenektomiesepsis Die schwerste Komplikation nach Splenektomie ist die Postsplenektomiesepsis (OPSI). Besonders Kinder unter dem vollendeten 5. Lebensjahr (60- bis 100-fach erhöhtes Risiko) sind im asplenen Zustand infektionsgefährdet. Besonders in den ersten 2 postoperativen Jahren und hier besonders für Patienten, die wegen einer hämatologischen Erkrankung splenektomiert wurden, besteht eine besondere Infektionsgefahr. Die eingeschränkte Clearancefunktion für enkapsulierte Bakterien (Pneumokokken, Haemophilus influenzae B) steht pathogenetisch im Vordergrund (Brown 1981). Die Erkrankungsinzidenz liegt bei Kindern zwischen 0,13% und 13,8%, bei Erwachsenen zwischen 0,28% und 1,9% (Lynch 1996; Rescorla 2006). Fasst man alle Splenektomierten zusammen so liegt die Inzidenz um 4% (O´Sullivan 1994). Das OPSIRisiko variiert unter den jeweiligen Erkrankungen, die zur Splenektomie geführt haben, und ist beispielsweise im Rahmen einer Thalassämie am höchsten. Man muss wohl von einem lebenslang erhöhten Erkrankungsrisiko ausgehen, obwohl das OPSI-Risiko üblicherweise 2 Jahre nach einer Splenektomie abnimmt (Mandell 2005; Waghorn 2001). Infektionsprophylaktische Maßnahmen, wie Impfungen (gegen Pneumokokken und H. influenzae) und großzügiger Antibiotikaeinsatz, reduzierten Inzidenz (3,8%) und Mortalität (0,9%) signifikant (Jungenburg 1999). Als Prophylaxe sollten Kinder mindestens 2 Wochen präoperativ mit einer polyvalenten Peumokokken- und Haemophilus-influenzae-B-Impfung immunisiert werden und entsprechende Auffrischungsimpfungen erhalten. Beonders die polyvalente Pneumokokkeninfektionsprophylaxe steht in der Erkrankungsprävention im Vordergrund. Antibiotika müssen bei splenktomierten Patienten schon bei Bagatellinfekten (cave: Tierbisse) zur Anwendung kommen. Der Einsatz und der Zeitrahmen einer Antibiotikadauerprophylaxe sind nicht übereinstimmend definiert (McMullin 1993; Zarrabi 1984).
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Kapitel 37 · Chirurgische Erkrankungen der Milz
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38
38 Bauchwanddefekte T. Boemers 38.1
Historie
– 481
38.2
Gastroschisis
– 482
38.3
Omphalozele
– 485
> Bauchwanddefekte zählen zu den typischen kinderchirurgischen Krankheitsbildern, die bereits sehr früh pränatal diagnostiziert werden können. Die häufigsten Bauchwanddefekte sind die Gastroschisis und die Omphalozele. Daneben gibt es die exstrophischen Bauchwanddefekte, die klassische Blasenekstrophie und die Kloakenekstrophie sowie das sehr seltene Prune-belly-Syndrom, bei dem die Bauchwandmuskulatur nahezu komplett fehlt. Im Gegensatz zur Gastroschisis und Blasenekstrophie liegen bei Kindern mit Omphalozele und Kloakenekstrophie fast immer assoziierte Fehlbildungen anderer Organsysteme vor. Bei Kindern mit Omphalozele sind zusätzliche chromosomale Aberrationen und genetische Defekte häufig. Die frühzeitige Diagnose dieser Fehlbildungen ermöglicht die geplante Entbindung und weitere Behandlung des Patienten in Perinatalzentren mit fundierter und kontinuierlicher kinderchirurgischer Expertise. Die operative Behandlung der meisten Bauchwanddefekte, mit Ausnahme der Gastroschisis, muss in der Regel nicht mehr akut, d. h. unmittelbar nach der Geburt erfolgen. In der überwiegenden Zahl der Fälle kann zunächst eine Stabilisierung und eingehende diagnostische Abklärung des Neugeborenen erfolgen. Nicht nur der Bauchwanddefekt selber, sondern auch assoziierten Fehlbildungen müssen in die Therapieplanung miteinbezogen werden. Die sorgfältige Planung und Durchführung der Behandlung dieser Kinder stellt sehr hohe Anforderungen an die behandelnden Ärzte und setzt eine entsprechende breite kinderchirurgische Erfahrung voraus.
38.4
Kloakenekstrophie
38.5
Prune-belly-Syndrom
– 488 – 489
Literatur – 489
38.1
Historie
Die erste Beschreibung eines Bauchwanddefektes erfolgte durch den französischen Chirurgen Ambroise Paré, der Mitte des 16. Jahrhunderts über die schlechte Prognose dieser Patientengruppe berichtete. Der erste erfolgreiche Verschluss eines Bauchwanddefektes im Jahre 1803 geht auf den englischen Chirurgen William Hey zurück. Die konservative Behandlung von Omphalozelen durch Verschorfung des Bruchsackes mit Alkohol wurde 1899 durch den deutschen Arzt Johann Friedrich Ahlfeld beschrieben. C. Williams empfahl 1930 den mehrzeitigen Verschluss der Bauchwand bei kongenitalen Bauchwanddefekten und der amerikanische Kinderchirurg Robert E. Gross, entwickelte 1948 die Methode des einzeitigen Bauchwandverschlusses mittels lateral mobilisierter Hautlappen. Trotz der weiterentwickelten operativen Techniken wurde die Überlebensrate jedoch kaum verbessert. Eine deutlich höhere Überlebensrate bei Kindern mit Bauchwanddefekten ergab sich erst mit der Entwicklung der parenteralen Ernährung durch Stanley Dudrick ab 1960 und der Möglichkeit der künstlichen Beatmung operierter Neugeborener. Beide Methoden entwickelten sich etwa zur gleichen Zeit und verbesserten die Überlebensrate bei Kindern mit Bauchwanddefekten und anderen Fehlbildungen signifikant. Samuel Schuster berichtete 1967 über die erfolgreiche Anwendung der graduellen Reduktion von Darmschlingen in die Bauchhöhle mit Hilfe einer Teflonfolie, die als Säckchen in die Bauchwand eingenäht wurde und in die die Darmschlingen tem-
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Kapitel 38 · Bauchwanddefekte
porär eingebracht wurden (Schuster 1967). Diese Methode hat sich in modifizierter Form bis zum heutigen Tage bewährt (Allen u. Wrenn 1969).
38.2
Gastroschisis
wird. Eine genetische Komponente ist nicht bekannt, obwohl es vereinzelte Berichte über familiäre Häufungen gibt (Schmidt et al. 2005). Chromosomale Aberrationen sind bei Kindern mit Gastroschisis eine Rarität. Die Inzidenz assoziierter Fehlbildungen anderer Organsysteme ist bei Kindern mit Gastroschisis sehr selten und entspricht in etwa der der Normalbevölkerung.
Definition Bei der Gastroschisis besteht ein kleiner, nur wenige Zentimeter großer, Defekt der vorderen Bauchwand, der typischerweise immer rechts des Nabels lokalisiert ist (. Abb. 38.1). Durch diesen Defekt kommt es zum Austritt von Darmschlingen aus der Bauchhöhle. Im Gegensatz zur Omphalozele ist die Nabelschnur immer intakt.
Klinik
Die Ätiologie der Gastroschisis ist nicht bekannt. Möglicherweise hängt der Defekt mit einer abnormalen Rückbildung der rechten Umbilikalvene oder mit einem frühzeitigen Verschluss der A. omphalomesenterica in der 5. bis 6. Schwangerschaftswoche (SSW) zusammen. Das würde unter anderem zu dem Befund passen, dass bei Müttern von Kindern mit Gastroschisis eine Häufung der Einnahme von vasoaktiven Substanzen (Alkohol, Nikotin, Kokain, Pseudoephedrin) während der Schwangerschaft verzeichnet
Die Gastroschisis tritt weitaus häufiger auf als eine Omphalozele. Die Ratio beträgt etwa 2:1. Im Gegensatz zur Omphalozele besteht bei der Gastroschisis keine Umhüllung der ausgetretenen Eingeweide mit einem Peritonealsack. Während der Schwangerschaft kann es daher zu einer chemischen Entzündung der ausgetretenen Eingeweide kommen. Diese wird durch die Amnionflüssigkeit hervorgerufen, insbesondere, wenn sie mekoniumhaltig ist (Correia-Pinto et al. 2002). In einigen Fällen sind die Darmschlingen stark entzündlich verändert, miteinander verbacken und mit einer dicken fibrinösen Membran überzogen (. Abb. 38.2). Der Darm wirkt insgesamt verkürzt, die Darmwand ödematös und entzündlich verändert. Aufgrund dieser Veränderungen kommt es bei Kindern mit Gastroschisis fast immer zu ausgeprägten postoperativen intestinalen Motilitätsstörungen mit verlängerter intestinaler Passagezeit. Dies erfordert in vielen Fällen eine parenterale Ernährung über mehrere Wochen. Derzeit versucht man über einen intrauterinen Fruchtwasseraustausch die entzündlichen Darmwandveränderungen zu verhindern oder zumindest zu minimieren. Der aus der Bauchhöhle ausgetretene Darm kann sich innerhalb der Bauchhöhle nicht normal verankern, daher liegt bei Kindern mit Gastroschisis immer eine Nonrotation und Nonfixation des Darms vor. Mit einer Häufigkeit von etwa 10–15% treten bei der Gastroschisis assoziierte Dünndarmatresien auf. Langstreckige Darmatresien sind in der Regel das Resultat eines intrauterin aufgetretenen
. Abb. 38.1. Defekt bei Gastroschisis
. Abb. 38.2. Entzündlich veränderte Darmschlingen bei Gastroschisis
Inzidenz Die Prävalenz lag vor 1990 bei 1,5:10.000 Geburten. In den letzten 10 Jahren nimmt die Inzidenz weltweit deutlich zu und liegt momentan bei etwa 4,5:10.000 Geburten (Alvarez et al. 2007). Beide Geschlechter sind zu gleichen Teilen betroffen. Die Prävalenz liegt bei Primipara deutlich höher und bei einem Großteil der Kinder ist das Alter der Mütter sehr jung. In bis zu 25% der Fälle handelt es sich um sog. »Teenagemütter«, mit einem Alter unter 20 Jahren. In 40% der Fälle werden die Kinder zu früh geboren oder sind zu klein für das jeweilige Gestationsalter (»small for date«).
Ätiologie
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483 38.2 · Gastroschisis
Volvulus mit Abschnürung und kompromittierter Blutversorgung der extraabdominell gelegenen Darmabschnitte. Schließlich kommt es zu einer vollständigen Involution des extraabdominellen Darmkonvolutes. Langstreckige Dünndarmatresien können bei Kindern mit Gastroschisis daher zu einem primären Kurzdarmsyndrom führen. Parenchymatöse Organe liegen so gut wie nie außerhalb der Bauchhöhle. Typischerweise sind bei der Gastroschisis Dünndarmschlingen ausgetreten, gelegentlich auch Dickdarm und Magen. In bis zu 5% der Fälle findet sich zusätzlich eine Darmperforation im Bereich der außerhalb der Körperhöhle liegenden Dünndarmschlingen. In seltenen Fällen sind bei Mädchen die Eierstöcke und Eileiter außerhalb der Bauchhöhle lokalisiert. Bei Jungen können im Einzelfall auch die Hoden außerhalb der Bauchhöhle lokalisiert sein. Die Bauchhöhle ist aufgrund der ausgetretenen Darmanteile häufig sehr klein, da sie sich nicht entsprechend entwickeln konnte.
Diagnostik Die Diagnose einer Gastroschisis kann intrauterin, sonographisch, frühestens ab der 10. bis 12. SSW gestellt bzw. vermutet werden. Im Sonogramm sieht man häufig dilatierte Darmschlingen, die frei im Fruchtwasser liegen. Pränatal gemessene Darmschlingen mit einem Durchmesser von mehr als 11 mm gelten als deutlich erweitert und sind mit postpartalen Motilitätsstörungen verbunden (Piper u. Jaksic 2006). Die Austrittsstelle der Darmschlingen lateral des Nabels kann auch im Ultraschall identifiziert werden. Die pränatale Diagnosestellung ermöglicht die Überweisung der Mütter an Perinatalzentren mit der Möglichkeit der sofortigen kinderchirurgischen Versorgung.
Therapie Für das Neugeborene mit Gastroschisis ergeben sich mehrere Probleme: 4 Erhöhter Flüssigkeitsverlust durch die außerhalb der Bauchhöhle gelegenen Darmschlingen 4 Hypovolämie 4 Möglichkeit einer Sepsis 4 Risiko eines Volvulus bzw. einer Minderperfusion der außerhalb der Bauchhöhle liegenden Darmschlingen ! Cave In jedem Falle sollte vermieden werden, dass die Darmschlingen mit Mekonium in Berührung kommen, da Mekonium zu einer starken chemischen Entzündung der Serosa bzw. Darmwand führen kann.
Postpartale Versorgung. Der Flüssigkeitsbedarf in den ers-
ten 24 h liegt bei Kindern mit Gastroschisis etwa doppelt bis dreimal so hoch wie bei nicht betroffenen Neugeborenen. Je stärker die entzündlichen Veränderungen der Darmschlingen, desto höher der Flüssigkeitsbedarf. Aufgrund der Hypovolämie kann es bei Kindern mit Gastroschisis in den ersten Stunden zu einer metabolischen Azidose kommen, die ebenfalls ausgeglichen werden muss. Nach der Geburt
. Abb. 38.3. Neugeborenes mit Gastroschisis im sterilen Plastiksack
wird zunächst eine Magensonde gelegt, um zu verhindern, dass sich die ausgetretenen Darmschlingen übermäßig mit Luft füllen. Im Anschluss daran wird das Kind in einen sterilen Plastiksack gelegt, um eine übermäßige Keimbesiedlung zu verhindern. Der Plastiksack sollte auf Höhe der Achseln geschlossen werden (. Abb. 38.3). In jedem Fall muss auf die Durchblutung der Darmschlingen geachtet werden, da es postpartal leichter zu einer Strangulation des extraabdominell gelegenen Darms kommen kann. > Um dafür zu sorgen, dass die Darmschlingen nicht in Kontakt mit Mekonium kommen, sollte eine operative Behandlung zügig, innerhalb der ersten Stunden nach der Geburt erfolgen.
Das Kind erhält zur Bestimmung der Diurese einen Blasenkatheter. Zusätzlich kann mit Hilfe eines transrektal eingebrachten Darmrohres der Enddarm von Mekonium entleert werden. Dies führt unter anderem dazu, dass mehr Platz im Bauchraum geschaffen wird. Zur Vermeidung von entzündlichen Komplikationen sollte das Neugeborene breit antibiotisch abgedeckt werden. Chirurgische Therapie. Im Operationssaal wird das Abdo-
men zunächst mit physiologischer Kochsalzlösung gereinigt. Die Darmschlingen werden vorsichtig in ein feuchtes Bauchtuch gelegt und anschließend wird das Abdomen mit einer nicht alkoholischen Desinfektionslösung steril abgewaschen. Nachdem das Kind steril abgedeckt ist, werden die Darmanteile, die sich außerhalb der Bauchhöhle befinden, vorsichtig gereinigt und inspiziert. Wenn Fibrinbeläge vorhanden sind, werden diese vorsichtig abgelöst, jedoch ohne die Serosa des Darms zu verletzen. Außerdem sollte darauf geachtet werden, ob Darmatresien vorliegen. Der Bauchwanddefekt kann, wenn nötig, in der Mittellinie nach kranial um 1–2 cm erweitert werden. Dies ist jedoch nur dann nötig, wenn die Darmschlingen nicht durch den primären Defekt reponiert werden können. Der Darminhalt
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484
Kapitel 38 · Bauchwanddefekte
kann nach oral hin ausgemolken werden und muss dann über die Magensonde abgesaugt werden. Zusätzlich kann im Dickdarm befindliches Mekonium durch Ausstreifen des Kolons und Sigmoids nach aboral entfernt werden. Eine Enterotomie zur Aspiration des Mekoniums sollte jedoch nicht durchgeführt werden. Auch ein eventuell vorhandenes Meckel-Divertikel sollte nicht in dieser Situation abgetragen, sondern zunächst belassen werden. Die Bauchwand kann zirkulär, mit einem durch den Defekt in die Bauchhöhle eingeführten Finger gedehnt werden, um sie auf diese Weise zu vergrößern. In unkomplizierten Fällen kann der Darm komplett in die Bauchhöhle reponiert werden. In diesem Fall wird der Bauchwanddefekt nach Anfrischen der Hautränder und der Faszie mit mehreren Nähten verschlossen. Um ein besseres kosmetisches Ergebnis zu erzielen kann der Nabel mit einem ligierten Nabelschnurstumpf belassen werden. In selektierten Fällen kann die Reposition der Eingeweide in Analgosedierung auf der Station durchgeführt werden (»elective delayed midgut reduction no general anaesthesia«; »EDMR No GA«). Dieses Verfahren hat durchaus seinen Stellenwert, sollte jedoch sehr differenziert angewandt werden (Bianchi et al. 2002). In der Regel werden Kinder mit Gastroschisis nach Verschluss des Defektes und erhöhtem intraabdominellen Druck für 24–48 h nachbeatmet.
Vorgehen bei viszero-abdomineller Diskrepanz In etwa 10–20% der Fälle kann ein primärer Bauchwandverschluss nicht durchgeführt werden, da die Bauchhöhle zu klein ist und die extraabdominell liegenden Darmanteile nicht aufnehmen kann (viszero-abdominelle Diskrepanz). Eine forcierte Reposition der Eingeweide würde in dieser Situation zu einem abdominellen Kompartmentsyndrom führen (Kidd et al. 2003). Dies birgt die Gefahr mesenterialer Durchblutungsstörungen in sich, die bis hin zu einer kompletten Darmnekrose führen können. Darüber hinaus kommt es auch zu einer Minderperfusion parenchymatöser Organe und zu einem verminderten venösen Rückfluss zum Herzen durch Kompression der V. cava mit reduziertem kardialem Auswurfvolumen. Darüber hinaus kann der gestörte venöse Blutfluss in der V. cava und den Nierenvenen zu einer Nierenvenenthrombose führen. Eine verminderte Nierendurchblutung führt zu einem Rückgang der Diurese bis hin zur Anurie. Durch den hohen intraabdominellen Druck kommt es auch zu einem Zwerchfellhochstand mit dem Bedarf eines erhöhten Beatmungsdruckes. ! Cave
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Aufgrund der hohen Morbidität eines abdominellen Kompartmentsyndroms muss dieses unbedingt vermieden werden. Der intraabdominelle Druck kann über eine Magensonde, ein Darmrohr oder den Blasenkatheter gemessen werden und sollte in jedem Fall unter 20 mmHg liegen (Kidd et al. 2003; Olesevich et al. 2005).
Experimentelle Studien haben gezeigt, dass ein intraabdomineller Druck bereits ab 10 mmHg zu intrahepatischen Durchblutungsstörungen führen kann (Diebel et al. 1992). Zwei wichtige klinische Parameter zur Beurteilung, ob das Kind einen pathologisch erhöhten intraabdominellen Druck hat, sind unter anderem die Diurese und der Beatmungsdruck. Generell sollte ca. 4–5 h nach Verschluss einer Gastroschisis eine Dopplersonographie der Leber mit Pfortader, der Nieren mit Nierengefäßen und der V. cava durchgeführt werden. Zur Prävention des Kompartmentsyndroms wird der Bauchwanddefekt durch eine mediane Oberbauchlaparotomie erweitert. Anschließend wird eine Silastikfolie in die Bauchwand eingenäht. Ob die Folie an die Bauchwandfaszie genäht wird oder an die Haut, bleibt dem Operateur überlassen und muss auch situativ entschieden werden. Nach zirkulärer Einnaht der Folie, wird diese an der Längsseite ebenfalls durch eine fortlaufende Naht verschlossen. Üblicherweise sollte monophiles, nicht resorbierbares Nahtmaterial benutzt werden. Die außerhalb der Bauchhöhle liegenden Eingeweide befinden sich nun umhüllt von der Silastikfolie. Diese wird am oberen Ende auch durch fortlaufende Naht verschlossen. Um das so geschaffene Silastiksäckchen auf der Station mit leichter Spannung aufhängen zu können, wird üblicherweise eine weiche Darmklemme am oberen Rand platziert und das Säckchen anschließend mit Gummizügeln im Inkubator fixiert (. Abb. 38.4). Diese operative Technik wird allgemein hin als »Schusterplastik« bezeichnet. Im weiteren Verlauf werden die Eingeweide täglich immer weiter in die Bauchhöhle reponiert und die Darmklemmen so versetzt, dass das Silastiksäckchen kontinuierlich verkleinert wird. In der Regel gelingt es innerhalb von 7–10 Tagen, die Eingeweide komplett in die Bauchhöhle zurückzudrängen, um dann gezielt im Operationssaal die Bauchwandfaszie und Haut zu verschließen (. Abb. 38.5). Beim Zurückdrängen der Eingeweide sollte wie beim Primärverschluss streng darauf geachtet werden, dass der intraabdominelle Druck nicht zu hoch wird und ein intraabdominelles Kompartmentsyndrom vermieden wird. Aufgrund der Tatsache, dass die Silastikfolie durchsichtig ist, kann die mesenteriale und murale Durchblutung der Eingeweide permanent optisch kontrolliert werden.
Vorgehen bei assoziierter Dünndarmatresie In etwa 20–30% der Fälle ist zusätzlich eine Dünndarmatresie vorhanden. Aufgrund der oft entzündlich veränderten Darmschlingen verbietet sich jedoch fast immer eine primäre End-zu-End-Anastomose zur Korrektur der Atresie. In dieser Situation gibt es zwei unterschiedliche Vorgehensweisen: 4 Der Operateur kann zunächst die Atresie belassen, die Eingeweide in die Bauchhöhle reponieren, die Bauchhöhle verschließen und das Kind über eine Dauer von etwa 2–3 Wochen parenteral ernähren und gleichzeitig
485 38.3 · Omphalozele
Komplikationen
. Abb. 38.4. Schusterplastik mit weichen Darmklemmen fixiert
Intestinale Motilitätsstörungen bei Kindern mit Gastroschisis sind die Regel und können über mehrere Wochen und Monate anhalten. Weitere Probleme sind Infektionen der Bauchwand, Sepsis, respiratorische Probleme, passageres Ödem der unteren Extremitäten bei grenzwertigem Kompartmentsyndrom, eine NEC und einen sekundäre Cholestase durch die parenterale Langzeitenährung. Aufgrund des erhöhten intraabdominellen Druckes kann es zum Auftreten eines signifikanten gastroösophagealen Refluxes und Leistenhernien kommen. Die Mortalität bei Gastroschisis liegt unter 10% wenn man das Gesamtkollektiv betrachtet (Driver et al. 2000).
38.3
Omphalozele
Definition Eine Omphalozele ist ein Bauchwanddefekt in der Körpermittellinie unter Einbeziehung des Nabels und der Nabelgefäße. Bei Kindern mit Omphalozele ist der Nabelstrang an seiner Basis nie intakt. Die Eingeweide sind mit einem dünnen Häutchen, dem Bruchsack, überzogen (. Abb. 38.6). In einigen seltenen Fällen kann die Omphalozele jedoch auch weiter kranial liegen und ist dann häufig mit zusätzlichen Fehlbildungen des Sternums, des Zwerchfells und des Herzens assoziiert (Cantrell-Pentalogie). Eine Omphalozele kaudal des Nabels ist in der Regel mit einer Kloakenekstrophie assoziiert. . Abb. 38.5. Schusterplastik nach vollständiger Reposition der Eingeweiden
den Mageninhalt über eine großlumige Magensonde ableiten. Nach etwa 14 Tagen kann dann gezielt eine Relaparotomie erfolgen (Snyder et al. 2001). In der Regel haben sich die entzündlichen Veränderungen der Darmschlingen soweit gebessert, dass eine primäre Anastomose möglich ist. 4 Bei kritisch kranken Kindern oder bei ausgedehnten entzündlichen Veränderungen der außerhalb der Bauchhöhle liegenden Darmschlingen ist es sinnvoll, zunächst einen passageren Anus praeter (AP) anzulegen. Üblicherweise wird der AP für 2–3 Monate belassen. In seltenen Fällen ist die Ursache der Atresie ein bereits intrauterin stattgefundener Volvulus mit konsekutiver Nekrose der extraabdominellen Darmanteile durch zusätzliche Konstriktion der mesenterialen Blutgefäße im Bereich des Bauchwanddefektes. In diesen Fällen liegt häufig ein primäres Kurzdarmsyndrom vor. Ob in dieser Situation zunächst ein AP angelegt werden soll oder aber eine primäre End-zu-End-Anastomose durchgeführt werden muss, kann im Einzelfall nur situativ entschieden werden.
. Abb. 38.6. Omphalozele
38
486
Kapitel 38 · Bauchwanddefekte
Inzidenz Die Inzidenz der Omphalozele beträgt etwa 1: 5000 Kinder. Knaben sind häufiger betroffen als Mädchen. Kinder mit Omphalozele haben im Gegensatz zu Kindern mit Gastroschisis eine sehr hohe Rate an assoziierten Fehlbildungen. In mehr als 50% der Fälle finden sich zusätzliche Fehlbildungen im Bereich des Gastrointestinaltraktes, des kardiovaskulären Systems, des Urogenitaltraktes, neurospinale Dysrhaphien und Fehlbildungen im Bereich der Extremitäten. Zusätzliche chromosomal-syndromale Fehlbildungen können ebenfalls assoziiert sein. Das häufigste Syndrom mit klinischer Relevanz ist das Beckwith-Wiedemann-Syndrom (Exomphalos, Makroglossie, Gigantismus – EMGSyndrom). Bei diesen Kindern findet sich aufgrund einer genetischen Prädisposition eine erhöhte Inzidenz für das Auftreten eines Wilms-Tumors, adrenokortikaler und anderer embryonaler Tumoren. Zusätzliche chromosomale Aberrationen können ebenfalls vorhanden sein, z. B. Trisomie 13, 15, 16, 18 und 21. Das Alter der Mütter bei Kindern mit Omphalozele ist entgegen dem der Mütter bei Kindern mit Gastroschisis deutlich erhöht.
Klinik und Diagnostik Der Bauchwanddefekt bei Kindern mit Omphalozele kann zwischen 5 und 12 cm betragen. Grundsätzlich gilt, je kleiner der Defekt, desto besser die Prognose. Von der Omphalozele im engeren Sinne muss man den sog. Nabelschnurbruch (»hernia to the cord«) unterscheiden, bei dem Darmanteile in die Nabelschnur hinein herniieren (. Abb. 38.7). Die operative Versorgung dieser Nabelschnurbrüche ist nicht sehr schwierig. Nach Reposition der Eingeweide kann der Defekt durch direkte Naht verschlossen werden. Üblicherweise befindet sich in einem
Nabelschnurbruch nur Dünndarm. Bei Kindern mit einer echten Omphalozele findet sich in 35% der Fälle Leber als Bruchinhalt. Aufgrund der extraabdominellen Lokalisation der Baucheingeweide während der Schwangerschaft resultiert eine sehr kleine Bauchhöhle mit deutlicher viszero-abdomineller Dysproportion. Die pränatale sonographische Diagnose einer Omphalozele kann frühestens ab der 12. SSW gestellt werden. Aufgrund der erhöhten assoziierten Fehlbildungen und möglicher chromosomaler Aberrationen empfiehlt sich eine gezielte Pränataldiagnostik inklusive einer Amniozentese. Kinder mit einer Omphalozele sollten in einem Perinatalzentrum mit fundierter kinderchirurgischer Expertise geboren werden. Die Prognose bei Kindern mit Omphalozele wird von weiteren assoziierten Fehlbildungen und dem Vorliegen chromosomaler Störungen bestimmt.
Therapie Postpartale Versorgung. Unmittelbar nach der Geburt er-
halten die Kinder zur Dekompression des Magens eine Magensonde. Zur Vermeidung von Verletzungen des Bruchinhaltes sollte die Nabelschnur mit einem Sicherheitsabstand von mindestens 10 cm abgetragen werden. Das Kind muss ebenso wie Kinder mit Gastroschisis zunächst in einen sterilen Plastiksack gelegt werden. In 10% der Fälle kann es unter der Geburt zu einer Ruptur des Omphalozelensackes kommen. In diesem Fall erfolgt das Vorgehen entsprechend dem bei Vorliegen einer Gastroschisis. Defektverschluss. Bei Planung einer konservativen Behandlung der Omphalozele erfolgt bei kleineren Einrissen der operative Verschluss des Defektes. Kleinere Omphalozelen können direkt verschlossen werden. Nach Abtragen des Omphalozelensackes und selektiver Ligatur der umbilikalen Blutgefäße werden die Eingeweide in die Bauchhöhle verbracht. ! Cave Falls sich ein Teil der Leber im Bruchsack befindet, muss streng darauf geachtet werden, dass die Lebervenen nicht abgeknickt oder torquiert werden.
38 . Abb. 38.7. Nabelschnurbruch
Die Präparation der oftmals im kranialen Anteil der Omphalozele bzw. im oberen Wundrand befindlichen Lebervenen muss peinlichst genau erfolgen, um eine Verletzung derselben zu vermeiden. Auch eine Verletzung des Leberparenchyms bzw. der Leberkapsel muss vermieden werden, da es dadurch zu schwer kontrollierbaren Blutungen kommen kann. Anteile des Omphalozelensackes, die auf der Leberoberfläche haften, sollten aus diesem Grund belassen und nicht abpräpariert werden. Anschließend erfolgt der Verschluss der Bauchwandfaszie und der Haut. Bei großen Omphalozelen gibt es generell zwei unterschiedliche Vorgehensweisen. Neben der operativen Therapie ist auch eine initial konservative Behandlung erfolg versprechend. Die konservative Vorgehensweise ist mit einer
487 38.3 · Omphalozele
sehr geringen Morbidität vergesellschaftet und daher für den Patienten von Vorteil (Bax et al. 1984; Lee et al. 2006). Konservative Therapie. Bei der konservativen Behandlung
wird die Omphalozele zunächst mit sterilen Fettgazen und Kompressen bedeckt. Im Anschluss daran wird die eingepackte Omphalozele mit einer elastischen Binde umwickelt, wobei die elastische Binde auch hinter dem Rücken des Kindes herumgeführt wird, so dass eine leichte Kompression auf die Omphalozele entsteht. Der erste Verbandswechsel erfolgt nach etwa 4–5 Tagen, im Anschluss daran je nach Befund alle 2–3 Tage. Zunächst bildet sich ein fibrinöser Belag, der austrocknet und der im Laufe mehrerer Wochen vollständig epithelialisiert. Nach vollständiger Überhäutung der Omphalozele ist ein Verband nicht mehr erforderlich. Eine breite antibiotische Abdeckung für mindestens 10 Tage ist ratsam. Der elektive Verschluss der überhäuteten Omphalozele erfolgt ab einem Alter von 6 Monaten (. Abb. 38.8 und 38.9). Generell muss beim operativen Verschluss am kranialen Rand des Defektes auf den Verlauf der Lebervenen geachtet werden, um diese nicht zu verletzen. Operative Therapie. Die operative Vorgehensweise beinhaltet die Resektion des Omphalozelensackes mit selektiver Ligatur der Nabelgefäße und eine passagere oder permanente Deckung des entstandenen Fasziendefektes mit alloplastischem Material z. B. PTFE (Polytetrafluorethylen). Nach Resektion des Omphalozelensackes wird die Bauchhaut soweit mobilisiert, dass ein Verschluss der Haut möglich ist. Dies gelingt in der Regel nur unter Spannung. Neben dem primären Verschluss des Fasziendefektes mit oder ohne alloplastischem Material kann, gleichermaßen wie bei Kindern mit Gastroschisis, zunächst eine Schusterplastik erfolgen um auf diese Weise die Eingeweide über mehrere Tage in das Abdomen zu reponieren. Das postoperative Procedere nach erfolgtem Verschluss ist mit dem bei Kindern mit Gastroschisis identisch. Gastrointestinale Motilitätsstörungen sind jedoch deutlich geringer. In vielen Fällen muss im weiteren Verlauf die PTFE-Folie wieder entfernt werden, da die Infektionsrate des alloplastischen Materials durchaus hoch ist. Ein häufiges Problem wird dadurch verursacht, dass die Bauchhaut unter Spannung vernäht wird und es im Verlauf von Tagen zu einer Dehiszenz kommen kann, wodurch das darunter liegende prothetische Material schließlich offen liegt. In einigen Institutionen wird nach Abtragen der Omphalozele die Faszie offen gelassen und nur die Haut verschlossen. In diesen Fällen entsteht eine große ventrale Hernie, die bis zum 2. Lebensjahr verschlossen wird. Die Mortalität bei Kindern mit Omphalozele wird überwiegend durch die assoziierten Fehlbildungen, aber auch durch das jeweilige operative Vorgehen bestimmt (Lee et al. 2006).
Cantrell-Pentalogie James Cantrell, ein amerikanischer Kinderchirurg, beschrieb 1958 einen Fehlbildungskomplex bestehend aus
. Abb. 38.8. Konservativ behandelte Omphalozele
. Abb. 38.9. Postoperatives Ergebnis nach Verschluss der überhäuteten Omphalozele
einer Omphalozele, einer Sternumspalte, einer Zwerchfellhernie, einem Herzfehler und einer Ectopia cordis, wobei unterschiedliche Ausprägungen der einzelnen Fehlbildungen die Regel sind (Cantrell et al. 1958). Insbesondere die Ectopia cordis kommt nicht bei allen Kindern vor. Bei
38
488
Kapitel 38 · Bauchwanddefekte
Vorliegen einer Ectopia cordis ist die Prognose infaust. Die Prävalenz dieser seltenen Erkrankung beträgt 5,5 auf 1 Million Neugeborene. Die Ursache ist unbekannt. Neben den oben genannten Hauptfehlbildungen, liegen häufig noch weitere Fehlbildungen wie Neuralrohrdefekte, Hydrozephalus und Klumpfüße vor. Chromosomale Aberrationen gehören ebenfalls zum Krankheitsbild, insbesondere die Trisomie 13 und 18 sowie das Ullrich-Turner-Syndrom. Die Prognose wird durch die Schwere die einzelnen Fehlbildungen, insbesondere die kardialen Fehlbildungen bestimmt.
38.4
Kloakenekstrophie
Inzidenz Mit einer Prävalenz von 1:500.000 Geburten ist die Kloakenekstrophie (KEX) eine der seltensten und komplexesten Fehlbildungen im Formenkreis der Bauchwanddefekte. Häufig wird die KEX auch als vesikointestinale Fissur bezeichnet. Wie bei fast allen Fehlbildungen, so gibt es auch bei der KEX neben einer klassischen Form ein Fehlbildungsspektrum mit unterschiedlichem Ausprägungsgrad (Hurwitz et al. 1987; Moolenaar 1996).
Das äußere Genitale ist bei Jungen und Mädchen in der Regel zweigeteilt. Bei Knaben ist der jeweilige Hemiphallus durch eine Hypoplasie der Schwellkörper im Sinne eines Mikropenis verkleinert. Aus diesem Grund wurde früher bei Knaben mit einer KEX häufig eine feminisierende Genitoplastik durchgeführt und das männliche Kind als Mädchen aufgezogen. Diese Vorgehensweise hat sich aus medizinischen und psychologischen Gründen nicht bewährt und wird daher heutzutage nicht mehr durchgeführt (Mayer-Bahlburg 2005). Im Übrigen sind die Hoden bei Knaben mit KEX normal entwickelt, ebenso wie die Eierstöcke bei Mädchen mit KEX. Bei Mädchen liegt immer ein Uterus didelphys oder Uterus duplex separatus mit Doppelvagina vor. Die geteilten Vaginalhälften sind in den meisten Fällen hypoplastisch und deutlich verkürzt und münden in den Trigonalbereich der Blasenplatte. Neben den Hauptfehlbildungen haben Kinder mit KEX fast immer zusätzliche Fehlbildungen anderer Organsysteme, insbesondere der unteren Wirbelsäule im Sinne einer neurospinalen Dysraphie (Sakrumagenesie, Spina bifida, dorsales Lipom, Lipomyelomeningozele, Myelomeningozele), der unteren Extremitäten und des Harntraktes (Nieren und Harnleiterfehlbildungen). Herzfehler kommen ebenfalls häufig vor.
Klinik und Diagnostik Bei der klassischen KEX liegt neben einer Ophalozele eine Blasenekstrophie und Ekstrophie des Zökums vor, wobei die Blase in der Regel zweigeteilt ist (. Abb. 38.10). Zusätzlich besteht eine Analatresie bei insgesamt verkürztem Kolon. Zwischen den beiden Blasenhälften befindet sich die ekstrophische Zökalplatte und darunter das ebenfalls häufig zweigeteilte Genitale. Das terminale Ileum prolabiert bzw. invaginiert durch die Ileozökalklappe. Dieses typische Erscheinungsbild wird im angloamerikanischen Sprachgebrauch als »elephant trunk deformity« bezeichnet und ermöglicht eine pränatale Diagnose bereits ab der 14. SSW. Auch der Dünndarm ist häufig verkürzt; oftmals liegt bei den Kindern ein marginales Kurzdarmsyndrom vor.
38 . Abb. 38.10. Klassische Form der Kloakenekstrophie
Therapie Die operative Behandlung der KEX ist sehr komplex und muss immer individuell auf das Kind und die jeweilige Form der KEX zugepasst sein. Ein generelles Schema des operativen Vorgehens kann es aufgrund der hohen Variabilität nicht geben. Die operative Behandlung kann an dieser Stelle nur grob umschrieben werden. Die Therapie eines Kindes mit KEX ist nie als Notfall zu sehen. Ein Kind mit KEX muss niemals sofort in den ersten Stunden nach der Geburt operativ versorgt werden. Die Erstoperation kann bei fast allen Kindern nach einigen Wochen und Monaten erfolgen und es ist daher immer möglich, ein Kind mit KEX in ein kinderchirurgisches Zentrum mit entsprechender Expertise zu verlegen. Der einzige Grund einer sofortigen Operation wäre die Ruptur der Omphalozele. Dabei müsste jedoch auch nur die Omphalozele selbst behandelt werden. Eine gleichzeitige Korrektur der Darm- und Blasenanomalie ist nicht erforderlich. Es sollten keine geschlechtszuweisenden Operationen mehr durchgeführt werden. Auch der rudimentäre Dickdarm sollte niemals entfernt werden. Obwohl viele Kinder dauerhaft einen endständigen Anus praeter benötigen, kann bei einigen Kindern eine Durchzugsoperation durchgeführt werden und durch regelmäßige Spülbehandlungen des Enddarms (»bowel management«) soziale Kontinenz erreicht werden. Bei der Primäroperation wird das Zökum tubularisiert und die beiden Blasenhälften in der Mittellinie vereint. Je nach Erfahrung des Operateurs kann die exstrophische Blase während des Ersteingriffs ebenfalls verschlossen werden, dies jedoch immer in Kombination mit einer Adaptation der gespaltenen Symphyse (Lee et al. 2006). Zu-
489 38.5 · Prune-belly-Syndrom
weilen muss hierfür eine beidseitige Beckenosteotomie erfolgen, da die Diastase der Symphyse bis zu 10 cm beim Neugeborenen betragen kann. Der Verschluss der Blase kann aber auch zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden. Die immer bestehende strukturelle Harninkontinenz kann letztendlich nur durch eine kontinente Harnableitung (Neoblase mit kontinentem Stoma) in Kombination mit intermittierendem Katheterismus behandelt werden. Die unterschiedlichen Eingriffe müssen mit der Rekonstruktion des inneren und äußeren Genitales abgestimmt und teilweise kombiniert werden (z. B. vaginale Ersatzplastik). Auch das Alter des Kindes muss in die therapeutischen Überlegungen mit einbezogen werden. > Die operative Therapie von Kindern mit KEX ist sehr komplex und aufwändig und erfordert eine sehr große Erfahrung in der Behandlung von Kindern mit klassischer Blasenekstrophie, anorektaler und urogenitaler Fehlbildungen. Die Zuweisung in Zentren mit entsprechender Expertise auf diesem Gebiet ist für das funktionelle und anatomisch-kosmetische Ergebnis der Patienten entscheidend.
38.5
Prune-belly-Syndrom
Definition Das Prune-belly-Syndrom (PBS) wurde erstmalig 1839 durch den deutschen Arzt Frölich beschrieben und ist gekennzeichnet durch die Kombination folgender Fehlbildungen: 4 Aplasie der Bauchmuskulatur 4 Beidseitiger Kryptorchismus 4 Obstruktion der ableitenden Harnwege mit ausgesprochener Dilatation der Ureteren und der Harnblase In der Regel sind beide Ureteren massiv im Sinne von Megaureteren erweitert und geschlängelt. Die Blase ist oft so stark vergrößert, dass sie gemeinsam mit den Harnleitern das gesamte Abdomen ausfüllt. Neben den oben genannten Fehlbildungen liegt bei männlichen Patienten immer eine Prostatahypoplasie vor. In Kombination mit dem beidseitigen Kryptorchismus führt dies regelhaft zu einer Infertilität des Patienten. Es kommen unterschiedlichste Ausprägungsgrade des PBS vor, insbesondere in Bezug auf die Aplasie der Bauchwandmuskulatur. Leichteren Formen werden auch als »pseudo prune belly« bezeichnet.
Inzidenz Die Prävalenz des PBS beträgt 1:40.000 Neugeborene. Über 95% der Patienten sind männlich. Bei den wenigen weiblichen Patienten mit PBS liegt überwiegend eine Kloakenpersistenz mit obstruktivem Kloakengang und dadurch bedingter infravesikaler Obstruktion vor.
Ätiologie Die Ursache des PBS ist unbekannt. Diskutiert werden unterschiedliche Entstehungsmechanismen. Eine Theorie besagt, dass die enorme Dilatation der ableitenden Harnwege, die Ausbildung der Bauchmuskulatur verhindert. Die zweite Theorie zielt auf einen primären Defekt des Mesoderms ab, wodurch es zu einer Entwicklungsstörung der Bauchwandmuskulatur kommt. Diese Theorie kann auch die Tatsache erklären, dass die Dilatation der ableitenden Harnwege nicht immer auf einer Obstruktion beruht, da die Erweiterung des Harntraktes beim PBS nicht in jedem Fall durch eine Abflussstörung bedingt ist (Wheatley et al. 1996).
Therapie Auf die urologische Problematik dieser Patienten soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Eine operative Behandlung des erweiterten Harntraktes durch rekonstruktive chirurgische Verfahren ist bei den meisten Patienten mit PBS nicht erforderlich. Bei Vorliegen einer infravesikalen Abflussstörung sollte zunächst nur ein operatives Vesikostoma angelegt werden. Der Bauchwanddefekt bedarf im Säuglings- und Kleinkindesalter keiner Therapie. Eine Bauchwandplastik mit Resektion eines Teils der Bauchwand, Fasziendoppelung und Straffung derselben sollte erst ab dem Vorschulalter erfolgen. Die Prognose im Neugeborenenalter hängt vom Grad einer eventuell vorliegenden Lungenhypoplasie ab, da bei einem Teil der Patienten aufgrund eines Oligohydramnions die Lungenentwicklung verzögert ist. Danach ist das Auftreten einer Niereninsuffizienz für den weiteren Krankheitsverlauf des PBS entscheidend.
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38
490
Kapitel 38 · Bauchwanddefekte
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38
39
39 Hernienchirurgie A.M. Rokitansky 39.1
Inguinalhernien – 491
39.1.1 39.1.2 39.1.3 39.1.4
Grundlagen – 491 Klinik und Diagnostik – 494 Therapie – 494 Komplikationen – 497
> Die Leistenhernie des Kindes entwickelt sich in der Mehrzahl aus einem offen gebliebenen Processus vaginalis peritonei und entspricht damit dem Befund einer sog. »indirekten Leistenhernie«. Sie wird in der Regel bereits im Säuglingsalter diagnostiziert und hat eine höhere Inzidenz bei Frühgeburtlichkeit. Knaben und die rechte Seite sind häufiger betroffen. Die Leistenhernie stellt eine klare Indikation zur operativen Korrektur dar und zwar kurzfristig nach Diagnosestellung. Die Gefahr der Inkarzeration besteht vor allem im ersten Lebensjahr. Bei weiblichen Säuglingen können die Adnexe in den Bruch gleiten, ein Befund den man als »Ovarialhernie« bezeichnet. Die Technik der operativen Korrektur unterscheidet sich grundlegend von den Techniken, die bei Erwachsenen Anwendung finden. Den kleinen und zarten geweblichen Strukturen muss durch eine besonders subtile Präparationstechnik, sowie auch die Zuhilfenahme von optischen Vergrößerungseinrichtungen (z. B. Lupenbrille) Rechnung getragen werden. Bei der operativen Korrektur der Umbilikalhernie ist man zurückhaltender. Komplikationen, wie eine Darminkarzeration sind extrem selten. Abzugrenzen sind epigastrische Hernien, die multipel vorliegen können und die operativ verschlossen werden müssen.
39.2
Umbilikalhernie
– 498
39.3
Epigastrische Hernien
– 499
Literatur – 499
39.1
Inguinalhernien
39.1.1
Grundlagen
Embryologie Der »kindliche Leistenbruch« ist in der Mehrzahl eine indirekte Hernie und entsteht aus einem offen gebliebenen Processus vaginalis peritonei. Im Laufe des dritten Schwangerschaftsmonates findet sich der Processus vaginalis peritonei in Form einer ventralen Ausstülpung im Bereich des späteren inneren Leistenringes (Clarnette 1996). Der Processus vaginalis peritonei begleitet den deszendierenden Hoden, um schließlich die Tunica vaginalis testis als Verschiebeschicht auszubilden. Beim Mädchen begleitet er das Lig. rotundum (Nuckscher Kanal) und schließt sich deutlich früher als bei Knaben, gegen Ende der Schwangerschaft (Aiken 2004). Bei der Geburt ist der Processus vaginalis bei Knaben in 80–94% offen.
Anatomie Der Leistenkanal verläuft schräg durch die muskuläre Bauchdecke. Bei der indirekten Leistenhernie liegt die Bruchpforte lateral der Vasa epigastrica inferior. Der Bruchsack, der einem ausgeweiteten offen gebliebenen Processus vaginalis peritonei entspricht, liegt im Leistenkanal, genauer gesagt ventral der Samenstranggebilde, kaudal des M. obliquus abdominis internus und dorsal der Externusaponeurose, also der Sehnenplatte, die an den M. obliquus abdominis externus an die Rektusscheide anschließt. Kau-
492
Kapitel 39 · Hernienchirurgie
ist beim Kind, so wie auch die Femoralhernie (Schenkelhernie: . Abb. 39.3), eine Rarität. Die Bruchpforte der Femoralhernie entspricht dem medialen Bereich der Lacuna vasorum unter dem Ansatz des Lig. inguinale, dort wo die sog. Rosenmüller-Lymphknoten lokalisiert sind. Die Bruchpforte ist der konusförmige mit Fett und lymphatischem Gewebe (Rosenmüller-Lymphknoten) ausgefüllte Schenkelkanal, der trichterförmig parallel zur Femoralvene verläuft. Die meisten Femoralhernien finden sich medial der V. femoralis, können sich aber auch ventral oder dorsal davon entwickeln. Als Wegbereiter für die Bruchbildung dient präperitoneales Fett, dass bei erhöhtem intraabdominellem Druck in den sog. Schenkelkanal verlagert wird.
39
. Abb. 39.1. Verschiede Formen der inguinal lokalisierten Hernien beim Kind, wobei die indirekte Leistenhernie bei weitem am häufigsten vorkommt
dal findet sich das Lig. inguinale, dorsal die Fascia transversalis. Der M. obliquus internus gibt Fasern für den M. cremaster ab. Die Fascia transversalis bildet die hintere Wand des Leistenkanals. Je nach Durchmesser des offen gebliebenen Leistenkanals ergibt sich ein fließender Übergang zwischen dem Befund einer Hydrozele (Wasserbruch) und dem einer Hernie, bei der bereits intraabdominelle Gebilde (Darmanteile bzw. Adnexe) neben der Peritonealflüssigkeit als Bruchinhalt vorliegen. Falls sich Teile des offenen Processus vaginalis bereits geschlossen haben, ergeben sich Befunde wie die Hydrocele funiculi spermatici oder der eines Diverticulum Nucki (. Abb. 39.1 und 39.2). ! Cave Eine Hydrocele funiculi spermatici darf nicht mit einer Darminkarzeration verwechselt werden.
Die direkte Leistenhernie (Hesselbach-Dreieck), bei der die Bruchpforte medial der Vasa epigastrica inferior liegt,
Pathophysiologie Die typische Leistenhernie des Kindes bildet sich aus einem offen gebliebenen Processus vaginalis peritonei. Der Processus vaginalis (Nuckscher Kanal) sollte sich bei Mädchen um das 7. Gestationsmonat schließen, bei Knaben nach Abschluss des Deszensus. Bei 80–94% der Neugeborenen finden sich offene Leistenkanäle. Ein Großteil schließt sich in den ersten 6 Lebensmonaten, ein weiterer Anteil im Laufe des Säuglings- und Kleinkindesalter (Snyder 1962; Aiken 2004). Um das 2. Lebensjahr kann man bereits in der Mehrzahl von einem geschlossenen Leistenkanal ausgehen (Rowe 1969). Der linke Leistenkanal scheint sich früher zu schließen als der rechte. Etwa 20% der Leistenkanäle bleiben offen, ohne dass sich der Befund einer Leistenhernie entwickelt (Morgan 1942). Im Rahmen eines Maldescensus testis findet sich ein offen gebliebener Leistenkanal in 85–95% der Fälle (Scorer 1964). Eine ungenügende Ausschüttung an »calcitoningene-related peptide« (CGRP) begünstigt den Maldescensus testis sowie auch die Entwicklung von Hydrozelen und Hernien (Scorer 1964; Kiesewetter 1969; Clarenette 1996). Ein offener Processus vaginalis peritonei ist allerdings nicht mit der Entwicklung eines Leistenbruches gleichzusetzen. 31–94% der Kinder haben
. Abb. 39.2. Schematische Darstellung vom geschlossenen über den offenen Leistenkanal, von der Hydrozele bis zur Leistenhernie
493 39.1 · Inguinalhernien
. Abb. 39.3. Unter dem mit einem blauen »vessel loop« angeschlungenen Funiculus spermaticus findet sich unter dem Lig. inguinale der Befund einer Femoralhernie; der Bruchsack ist mit einer Klemme gefasst
im ersten Lebensjahr einen offenen Prozessus bei einer vergleichsweise geringen Leistenbruchinzidenz von 1–5% (Snyder 1962; Grosfeld 1989). Als weitere Ursachen für die Entstehung der Leistenhernie werden neben einem offen gebliebenen Processus vaginalis peritonei, urogenitalen Fehlbildungen (Maldescensus testis, Blasenekstrophie) der Steigerung des intraabdominellen Druckes (Aszites, ventrikulo-peritonealer Shunt, Peritonealdialyse, nach Korrektur großer Bauchdeckendefekte, chronische Atemwegserkrankungen mit prolongiertem Husten), und Bindegewebserkrankungen (Ehlers-Danlos-, Hunter-Hurler-, Marfan-Syndrom, Mukopolysaccharidosen) eine relevante Bedeutung beigemessen (Tank 1986; Mozam 1984; McEntyre 1977). Patienten, die an einer zystischen Fibrose (Mukoviszidose) leiden, haben mit bis zu 15% eine signifikant erhöhte Leistenhernieninzidenz (Holsclaw 1971).
Inzidenz Die häufigste chirurgische Erkrankung im Kindesalter stellt die Leistenhernie dar, die bei 1–5% aller Neugeborenen und 9–11% der Frühgeborenen auftritt (Grosfeld 1989). Die typische indirekte kindliche Leistenhernie ist eine der häufigsten chirurgischen Erkrankungen im Säuglingsalter. Knaben (3:1–10:1) sind häufiger betroffen als Mädchen (Bronsther 1972; Skoog 1995). Die typische Leistenhernie manifestiert sich in der Mehrzahl im ersten Lebensjahr (Kapur 1998). Die rechte Seite ist bei beiden Geschlechtern deutlich bevorzugt, wobei Prozentsätze bis zu 60% angeführt werden (Rowe 1970; Skoog 1995). Als Ursache für das vermehrte rechtsseitige Vorkommen wird der etwas spätere Deszensus des rechten Hodens angesehen. Linksseitige Hernien gefolgt von bilateralen, letztere in einer Größenordnung um 10%, finden sich deutlich seltener (Ein 2006; Rowe 1969). Die höchste Inzidenz bilateraler Hernien findet sich im ersten Lebensjahr (Jona 1996). Das
Auftreten einer kontralateralen Hernie wird zwischen 5– 22% angegeben (Ballantyne 2001; Ein 2006; Kapur 1998; McGregor 1980; Moorehead 1940; Rowe 1969). Mehr als die Hälfte der beobachteten Brüche der gegenüberliegenden Seite treten innerhalb eines Jahres (95% innerhalb von 5 Jahren) nach Korrektur des primären Bruches auf (Ein 2006). Die synchrone kontralaterale operative Exploration der klinisch gänzlich unauffälligen Seite im Rahmen der Erstkorrektur ist nach wie vor ein Diskussionsthema. Rowe und Marchildon berichten noch 1981 über die großzügige kontralaterale Freilegung im ersten Lebensjahr, mit 90% bei Mädchen sogar etwas häufiger als bei Knaben (Rowe 1981). Dieser Trend ist zu Recht rückläufig, zumal unnötige Operationen mit ihren Risken zu vermeiden sind und das Risiko einer kontralateralen Hernie in einer Größenordnung zwischen 5 und 12% anzusiedeln ist (Tackett 1999; Kemmotsu 1998; Miltenburg 1997; Manoharan 2005). Der diagnostische Hinweis auf eine Hernie bzw. einen offenen Leistenkanal sollte für die Indikation zur Operation gegeben sein (eindeutige Anamnese; präoperativer Ultraschall; laparoskopische Diagnose). Die Unterscheidung zwischen einem offenen Leistenkanal und einer indirekten Leistenhernie ohne vorgefallene intraabdominellen Organe kann schwierig sein. Ein offener Leistenkanal muss sich nicht zu einer Leistenhernie entwickeln und kann zeitlebens asymptomatisch bleiben. Die operative Exploration der kontralateralen Seite bei Säuglingen und Kleinkindern erfolgt nach einer Studie von Levitt zwischen 13 und 51%, wobei besonders Kinder unter dem 2. Lebensjahr und Frühgeborene betroffen sind (Levitt 2002). Die synchrone bilaterale Freilegung erscheint bei Mädchen im Säuglings und Kleinkindesalter am ehesten gerechtfertigt, zumal hier die Verletzung des Ductus deferens wegfällt und die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein offener Leistenkanal im Rahmen einer späteren Gravidität zu einem Leistenbruch entwickelt, gegeben ist. Bei Kindern, die eine hernienbegünstigende Grunderkrankung (ventrikulo-peritonealer Shunt, Mukoviszidose, Bindegewebserkrankung etc.) oder ein Anästhesierisiko haben, ist die Indikation zum synchronen kontralateralen Verschluss eines offenen Processus vaginalis peritonei großzügiger zu sehen. Die Inzidenz der Leistenbrüche korreliert mit dem Geburtsgewicht bzw. der Frühgeburtlichkeit. Etwa 30–42% der Frühgeborenen in der Gewichtsklasse zwischen 500– 1000 g weisen eine Leistenhernie auf (Harper 1975; Peevy 1986). Frühgeborene haben gegenüber Reifgeborenen auch eine deutlich höhere Inzidenz an bilateralen Hernien (Rowe 1970). Bei etwa 12% lässt sich eine familiäre Häufung feststellen (Bronsther 1972). Auch Zwillinge, vor allem Knaben, zeigen eine erhöhte Inzidenz in einer Größenordnung bis etwa 10% (Bakwin 1971).
39
494
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Kapitel 39 · Hernienchirurgie
39.1.2
Klinik und Diagnostik
Anamnese Die Erhebung einer ausführlichen Anamnese ist ein wesentlicher Bestandteil der Diagnostik. Die Eltern bzw. Bezugspersonen, die mit der Betreuung des Kindes befasst sind, beschreiben meist präzise die Schwellung an typischer Stelle im Leistenbereich. Man sollte sich den Ort der Vorwölbung zeigen lassen. Gelingt es nicht den typischen Befund der Hernie im Rahmen der chirurgischen Untersuchung auszulösen, so besteht die Ansicht, dass bei guter Beschreibung des Befundes durch die betreuenden Personen bzw. eine eindeutige ärztliche Vorbefundung die Indikation zur operativen Korrektur gegeben ist (Rowe 1981). Das umso mehr je jünger das Kind ist, speziell bei Säuglingen, also in einem Alterssegment, in dem die Inzidenz an Inkarzerationen am höchsten ist.
Klinische Untersuchung Die Diagnose der kindlichen Leistenhernie fußt in erster Linie auf der klinischen Untersuchung. Primär sollte der äußerliche Aspekt des Inguinalbereichs beurteilt werden. Hier sieht man oftmals schon, auch wenn keine intraabdominellen Organe vorgefallen sind, einen Seitenunterschied im Sinne einer verstärkten Vorwölbung. Beim Knaben muss die reguläre Lage der Hoden im Skrotalfach geprüft werden. Die weitere Untersuchung der Leiste erfolgt im Liegen, gegebenenfalls auch im Stehen (Provokation), und sollte beim Säugling und Kleinkind durch Abtasten vom äußeren Leistenring beginnend in Richtung des inneren Leistenringes fortschreitend erfolgen. Ist trotz ausführlicher Untersuchung und trotz Schreien, Husten und Pressen des Kindes keine Vorwölbung tastbar, gelingt es manchmal den Bruchsack als Verdickung über dem Schambeinast zu fühlen (»silk glove sign«). Bei deutlichem Lokalbefund, d. h. beispielsweise einer indolenten, prall elastischen Vorwölbung im Samenstrangbereich (Hydrocele funiculi spermatici) bzw. einer Vergrößerung des Skrotums, ist differenzialdiagnostisch an den Befund einer Hydrozele zu denken. Bei der Hydrocele funiculi ist die Abgrenzung zum Leistenbruch (auch inkarzeriertem Leistenbruch) aufgrund der prallelastischen, nicht reponiblen Schwellung in der Leiste fallweise schwierig. Hilfreich sind die genaue Anamneseerhebung, die eindeutige Abgrenzung des Gebildes gegenüber dem äußeren Leistenring bzw. die ergänzende Ultraschalluntersuchung. Eine Hydrocele funiculi ist im Gegensatz zu einer inkarzerierten Leistenhernie dadurch gekennzeichnet, dass sie kugelig abgrenzbar schon längere Zeit bestehen kann und das Kind auffallend beschwerdefrei ist. Hydrozelen sind auch mittels Diaphanoskopie und Sonographie differenzialdiagnostisch auszuloten. Beim weiblichen Neugeborenen oder Säugling imponiert die Leistenhernie ebenfalls als rundliche inguinale Schwellung, wobei es sich beim Bruchinhalt auch um das
Ovar (sog. Ovarialhernie) handeln kann. Bei 7–9% der Knaben ist die Leistenhernie mit einem Leistenhoden kombiniert, wobei die Leistenhernie die Indikation zur Operation ergibt und beim Säugling und beim Neugeborenen der Hoden im gleichen operativen Akt ins Skrotum verlagert werden muss. Umgekehrt findet man bei ca. 65% der Buben mit einem Leistenhoden eine Hernie. Je nach Klinik unterscheidet man beim Kind zwischen reponibler und inkarzerierter Hernie: 4 Reponible Inguinalhernien lassen sich spontan oder durch manuelle Reposition (= Taxis) aufgrund der freien Beweglichkeit des Bruchinhaltes (Darm, Ovar) reponieren. Mittels bimanueller Palpation, wobei einerseits der äußere Leistenring stabilisiert wird und andererseits eine ausstreifende Bewegung dem Verlauf des Leistenkanals entsprechend von medial nach lateral erfolgt, gelingt die Reposition. Damit verbunden ist ein typischer Palpationsbefund, wenn die gas- und flüssigkeitsgefüllten Darmschlingen in die Bauchhöhle zurückgleiten. 4 Irreponible, inkarzerierte Inguinalhernien sind mit eindeutiger, fixierter inguinaler Vorwölbung, Schmerzhaftigkeit und schließlich Erbrechen verbunden. Die Erstsymptome beim Säugling wie Unruhe, unmotiviertes Schreien und Nahrungsverweigerung sind unspezifisch und die Schwellung in der Leiste wird nicht immer sofort bemerkt. Nach einem Zeitintervall von 1–2 h entwickeln sich bei Darminkarzeration die klassischen Symptome des Ileus mit aufgetriebenem Abdomen und rezidivierendem Erbrechen. Die inguinale Inspektion und Palpation zeigt eine druckdolente, pralle und in den meisten Fällen schmerzhafte Vorwölbung an typischer Stelle. Differenzialdiagnostisch sind die Hydrozele und insbesondere die Hydrocele funiculi spermatici in Betracht zu ziehen. Ein diagnostisches Hilfsmittel ist die Diaphanoskopie und die Ultraschalluntersuchung.
Apparative Diagnostik und Differenzialdiagnose Die Diagnostik der Leistenhernie fußt auf der klinischen Untersuchung. Ergänzend gewinnt die Ultraschalluntersuchung der Leiste an Bedeutung (Chen 1998; Erez 2002). Sie ermöglicht neben der Diagnostik die Differenzierung des Bruchinhaltes und damit die differenzialdiagnostischen Abgrenzungen, wie Hydrozele, Varicozele (links häufiger als rechts), Hodentorsion, vergrößerte Lymphknoten (vorausgegangene Impfungen beachten, Infektgeschehen) oder auch ein Quinke-Ödem des Skrotums.
39.1.3
Therapie
Konservative Therapie Die sog. konservative Therapie der Leistenhernie bezieht sich auf die Rückverlagerung vorgefallener Abdominalorgane und zwar bis zu einem Zeitpunkt, zu dem die operative
495 39.1 · Inguinalhernien
Korrektur mit besten Erfolgschancen und niedrigstem Komplikationsrisiko durchgeführt werden kann. Die manuelle Reposition (=Taxis) erfolgt in schräger Richtung, dem Verlauf des Leistenkanals entsprechend. Dabei wird mit bimanueller Technik die Reposition unter gleichzeitiger schienender Kompression des äußeren Leistenringes vorgenommen. Ein Anheben des Beckens oder eine Sedierung kann dabei hilfreich sein. Im Rahmen der Behandlung der inkarzerierten Hernie hat der primäre konservative Repositionsversuch einen hohen Stellenwert. Nach Rowe and Clathworthy (1970) liegen die postoperativen Komplikationen bei inkarzerierten Hernien bei 22,1% im Gegensatz zu 1,2% nach elektiven Operationen.
Operative Therapie Operationsindikation Der kindliche Leistenbruch zeigt im Gegensatz zur Hydrozele, bei der mit klinischer Kontrolle zugewartet werden kann, keinerlei Tendenz zum Spontanverschluss. > Ist die Leistenhernie diagnostiziert, sollte sie so rasch wie möglich geplant einer operativen Korrektur zugeführt werden (Levitt 2002).
Besonders Säuglingen sollte hinsichtlich einer operativen Korrektur besondere Priorität eingeräumt werden. Es wird berichtet, dass 90% der Komplikationen verhindert werden können, wenn die Hernienkorrektur innerhalb eines Monats nach Diagnosestellung erfolgt (Rowe 1981; Wiener 1996). Andere Autoren propagieren ein deutlich kürzeres Intervall von bis zu 1 Woche um bei Säuglingen Inkarzerationen zu vermeiden (Misra 1994). Kontrovers sieht man den Zeitpunkt der operativen Hernienkorrektur bei hochgradiger Frühgeburtlichkeit mit sehr niedrigem Geburtsgewicht. Einerseits besteht bei Inkarzeration zusätzlich die Gefahr einer Schädigung des Hodens, andererseits sind die geweblichen Strukturen zart und chirurgisch schwieriger zu behandeln. Die tendenziell eher niedrigere Inkarzerationstendenz (13% versus 24%) bei Früh- im Vergleich zu den Reifgeborenen und die Situation, dass Frühgeborene mit niedrigem Gewicht hospitalisiert sind, kann man ein zuwartendes Prozedere durchaus als gerechtfertigt vertreten (Misra 1994; Rajput 1992). Nach unseren Erfahrungen sollten Frühgeborene für die Hernienkorrektur ein Gewicht von etwa 2 kg erreicht haben.
Operationstechnik Konventionelle offene Korrektur der indirekten Leistenhernie. Bewährte Methoden der Leistenhernienkorrektur
(Bassini, Shouldice, McVay, Lotheisen etc.) mit einengenden und stabilisierenden Methoden der Rekonstruktion des Leistenkanals, so wie sie beim Erwachsenen Anwendung finden, mussten für den wachsenden Organismus des Knaben aufgrund der gehäuften postoperativen Hodenatrophie verworfen werden. Auch Methoden, bei denen Fremdmaterialen (Kunststoffnetz, PTFE-Patches usw.) im-
plantiert werden, bleiben auf wenige Ausnahmen (evtl. Femoralhernie, Rezidivhernie) beschränkt. Die konventionelle offene Korrektur ist die am häufigsten angewandte Methode. Sie erfolgt mittels schräger inguinaler Inzision, gegebenenfalls in der Unterbauchhautfalte des Säuglings. In der Subkutis muss die Fascia scarpa durchtrennt werden, um schließlich die Externusaponeurose zu erreichen. Als weiterer Orientierungspunkt gilt der äußere Leistenring, der mit vorsichtigen, spreizenden Scherenschlägen zu erreichen ist. Entsprechend der Faserrichtung und auch dem Verlauf des Leistenkanals erfolgt die Inzision der Externusaponeurose mit dem Skalpell auf einer etwa 5 mm langen Strecke. Diese Inzision wird mit der Präparierschere erweitert und der Leistenkanal bis zum äußeren Leistenring eröffnet. Dabei ist auf die Schonung der nervalen Strukturen zu achten. Die Eröffnung des Leistenkanals sollte in der Weise erfolgen, dass ein relativ breiter Rand der Externusaponeurose am Übergang in das Lig. inguinale bestehen bleibt. Nach eröffnetem Leistenkanal trifft man auf den M. obliquus abdominis internus sowie die Samenstranggebilde, an deren ventraler Zirkumferenz der indirekte Leistenbruch vorliegt und die vom M. cremaster unterschiedlicher Stärke eingescheidet sind. Letzterer Muskel wird längs gespalten und mit stumpfer Präparation abgeschoben. Danach erfolgt mit spreizenden Scherenschlägen die Darstellung des Bruchsackes, der mit zarten Klemmen gefasst und an der Ventralseite eröffnet wird. Der Bruchsack sollte von allen ihm anhaftenden kleinen Gefäßen befreit sein. Sollten Darmschlingen vorgefallen sein (meist gleiten sie nach Spaltung der Externusaponeurose spontan in die Abdominalhöhle zurück) sollten diese, nach Inspektion und Prüfung der Vitalität (inkarzerierte-strangulierende Hernie), in die Bauchhöhle zurückgeschoben werden. Hier kann es sich als günstig erweisen, den M. obliquus abdominis internus mit einem Lid- oder Langenbeckhacken anzuheben. Liegt der eröffnete Bruchsack nun ohne vorgefallene Abdominalorgane vor, so fasst man mit weiteren Klemmchen die Bruchsackhinterwand und hebt diese »zeltdachartig« an (. Abb. 39.4). Dorsal haften der Bruchsackwand die Samenstranggebilde mit dem Ductus deferens an. Diese Verbindung ist umso lockerer, je näher man dem inneren Leistenring präpariert. Mit spreizenden und schneidenden Scherenschlägen erfolgt nun die Durchtrennung des Bruchsackes, eben im Bereich der »zeltdachartigen« Anhebung. Ist nun die gesamte Bruchzirkumferenz dargestellt, so erfolgt die weitere Mobilisation der dorsal anhaftenden Samenstranggebilde bis in den Bereich des inneren Leistenringes. Hier ist es fallweise nötig, die Bruchsackwand mit einer Reihe von kleinen, leichten Klemmen zu fassen. Die Lösung der Samenstranggebilde erfolgt mit scharfer und stumpfer Präparation (. Abb. 39.5). Diese Phase ist bei durchscheinend dünnen und zarten Bruchsäcken präparativ aufwendig.
39
496
Kapitel 39 · Hernienchirurgie
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. Abb. 39.4. Nach eröffnetem Bruchsack »zeltdachartiges Anheben« der hinteren Bruchsackwand
on. Wesentlich ist, dass man im Rahmen der Korrektur der weiblichen Säuglingshernie nicht irrtümlich auch die Tube verschließt. Durch leichten Zug am Lig. rotundum kann man das sog. »Tubenknie« einsehen. Der verschlossene Bruchsackstumpf wird zusätzlich an der Dorsalseite des M. obliquus abdominis internus fixiert. Damit hat das Lig. rotundum seinen Ansatz im Bereich der Bauchdecke. In Fällen, in denen besonders groß dimensionierte Brüche vorliegen, der M. obliquus abdominis internus mit seinem Rand relativ hoch verläuft und bei älteren Kinder (Teenager), besteht die Möglichkeit durch eine »laterale Pfeilernaht«, eine Naht, die den Muskelrand an die Innenseite des Lig. inguinale lateral der Samenstranggebilde heftet, den Leistenkanal physiologisch zu dimensionieren. Erst nach Abschluss des zweiten Wachstumsschubes können beim Knaben Hernienkorrekturtechniken des Erwachsenenalters zum Einsatz kommen. Der Verschluss des Leistenkanals erfolgt durch resorbierbare Einzelknopfnähte der Externusaponeurose. Die Fadenstärken zwischen 4-0 und 1 ergeben sich entsprechend dem Alter. Die Naht der Fascia subcutanea und eine intrakutane Hautnaht schließt den operativen Eingriff ab. Ein wasserabweisender Verband erweist sich bei windeltragenden Kindern als vorteilhaft. Der Verschluss der Femoralhernie beinhaltet, nach Abtragung des Bruchsackes, den Nahtverschluss der medialen Lacuna vasorum, ohne allerdings die Femoralvene zu komprimieren. Alternativ kann ein Lappen der Fascia pectinea gebildet, hochgeschlagen und mit dem Lig. inguinale vernäht werden. Falls die Faszie des M. pectineus zart vorliegt, verstärken wir die Verschlussplastik mit einem resorbierbaren Netz und haben bei dieser Technik noch kein Rezidiv gesehen.
. Abb. 39.5. Präparative Lösung der dorsal anliegenden Samenstranggebilde
Laparoskopische Korrektur der indirekten Leistenhernie.
Der Verschluss des Bruchsackes erfolgt entweder mittels einer Tabaksbeutelnaht oder einer Durchstechungsligatur. Nachdem alleine die Durchstechung bereits eine Lazeration hervorrufen kann, ist es möglich primär den Bruchsack mit einer Ligatur zu verschließen und diese danach ein wenig weiter distal mit einer Durchstechung zu sichern. Das zur Anwendung kommende Nahtmaterial sollte resorbierbar sein und ist in einer Größenordnung zwischen 5-0 und 3-0. Das Verdrehen des Bruchsackes mit dem Zweck durch dieses Manöver eventuell vorgefallene Darmanteile in die Bauchhöhle zurückzudrängen halte wir für nicht angebracht. Distale Bruchsackanteile, die oftmals in die Tunica vaginalis testis übergehen können belassen werden. Beim Mädchen erfolgt der Verschluss des Bruchsackes, an dessen Wand das Lig. rotundum verläuft, in gleicher Weise. Die distale Mobilisierung des Bruchsackes beinhaltet die Durchtrennung des Lig. rotundum, das sozusagen als »Wandanteil« des Bruchsackes belassen wird. Die Blutstillung erfolgt vorzugsweise mit der bipolaren Koagulati-
Neben der offenen Korrektur, die heute bei der Leistenhernie des Kindes nach wie vor den bewährten »goldenen Standard« darstellt, wurden Mitte der 90er-Jahre kinderchirurgische laparoskopische intra- und extraperitoneale Verschlusstechniken entwickelt (El-Gohary 2003; Kaya 2006; Schier 2006; Takehara 2006). Die Hernienkorrektur erfolgt entweder durch den transperitonealen Nahtverschluss oder eine laparoskopisch kontrollierte extraperitoneale Ligatur. Die Techniken fanden primär bei Mädchen ihre Anwendung, nachdem es schwierig war, einen dichten Bruchpfortenverschluss mit einer sicheren Schonung der Samenstranggebilde zu vereinbaren. Montupet publizierte 1999 die ersten laparoskopischen Leistenhernienverschlüsse beim Knaben mittels einer Tabaksbeutelnaht. Der Einsatz laparoskopischer Techniken für den Hernienverschluss im Kindesalter wird kontrovers gesehen. Eine extraabdominell gehaltene Operation wird in eine intraabdominelle umgewandelt. Der präparative Umgang mit zarten Bruchsäcken sowie mit den Samenstanggebilden ist in der laparoskopischen Technik bedeutend schwieriger. Die bis heute an größeren Kollektiven erfassten Rezidivraten
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liegen in einer Größenordnung zwischen 0,73 und 4,1% (Kaya 2006; Schier 2006; Montupet 1999; Takehara 2006). Langzeitresultate liegen noch nicht vor. Vorteile des laparoskopischen Hernienverschlusses im Kindesalter werden bei der Behandlung der »inkarzerierten Hernien« genannt (Kaya 2006; Schier 2006). Die Laparoskopie erlaubt, die Reposition visuell zu kontrollieren, das inkarzerierte Organ besser zu beurteilen, die Hernie zu verschließen und gegebenenfalls synchron eine kontralaterale Leistenhernie ebenfalls mit gleichen Zugängen zu behandeln. Anwendung finden ein 2-mm-Trokar (Fa. Tyco) für die 0°-Optik (Fa. Storz, 2 mm) im Nabelbereich und 2 zusätzliche 2-mm-Instrumenten-Ports, die im linken und rechten Mittel- bzw. Unterbauch platziert werden. Der intraabdominelle Druck wird durch CO2-Gasinsufflation bis zu 12 mmHg angehoben, wodurch sich die Bauchdecke und damit auch die Bruchpforte dehnen. Ein Umstand, der als vorteilhaft bei der Reposition inkarzerierter Hernien gesehen wird (Kaya 2006).
39.1.4
Komplikationen
Komplikationen treten umso häufiger auf je jünger das Kind ist. 90% der Komplikationen können vermieden werden, wenn die Korrektur der Hernie innerhalb eines Monates nach Diagnosestellung erfolgt (Rowe 1969).
Präoperative Komplikationen Inkarzeration. Durch Fixation der vorgefallenen intraabdo-
minellen Organe (Ovar bzw. Adnexe, Darmanteile, evtl. Appendix) im Bruchring kommt es zur Perfusionsstörung im Sinne einer venösen Stauung, gefolgt von einem Ödem und in Spätfällen die Infarzierung der inkarzerierten Organe (. Abb. 39.6). Durch eine begleitende Kompression der Hodengefäße kann die Perfusionsstörung (bis etwa 30%) auch den Hoden betreffen und Hodenatrophien (bis zu 5%) können sich als Spätkomplikation einer länger andauernden Inkarzeration ergeben (Rowe 1970; Palmer 1978).
. Abb. 39.6. Deutliche inguinale, nicht reponible Vorwölbung rechts
Das Risiko der Inkarzeration liegt zwischen 12 und 31% (Ein 2006; Clatworthy 1954; Rescorla 1984; Rowe 1970). Die Inzidenz einer Inkarzeration liegt bei Reifgeborenen in den ersten 2–3 Lebensmonaten zwischen 28 und 31% (Rowe 1970). 85% der Inkarzerationen erfolgen innerhalb des ersten Lebensjahres (Clatworthy 1954; Puri 1984; Stylianos 1993). Ab dem zweiten Lebensjahr sinkt die Inzidenz der Inkarzeration unter 14% und ist ab dem 8. Lebensjahr die seltene Ausnahme. Die Frühgeburtlichkeit scheint keinen Risikofaktor für die Inkarzeration darzustellen. Vielmehr gibt es Hinweise einer niedrigeren Inzidenz an Inkarzerationen (Misra 1994). Die Komplikationsrate (Organschäden) steigt, sobald die Inkarzeration einen Zeitraum von etwa 2 h übersteigt. Bei kurzzeitigen Inkarzerationen (<2 h) und noch gutem Allgemeinzustand des Kindes, hat primär der manuelle Repositionsversuch (7 Kap. 38.3.1) seine Berechtigung. In der überwiegenden Zahl gelingt die manuelle Reposition (Ein 2006). Als hilfreich kann eine Sedierung und die Hochlagerung des Beckens genannt werden. Gelingt die vorsichtige manuelle Reposition, so sollte die operative Korrektur geplant und frühzeitig, nach Abklingen des lokalen Ödems, etwa 48 h später durchgeführt werden. Postoperativ empfiehlt sich ein verlängertes Beobachtungsintervall (Funktionsaufnahme der ungestörten intestinalen Motilität) von etwa 24 h. Die Komplikationen nach Akutoperationen sind erwartungsgemäß bei diesem Patientenkollektiv ebenfalls deutlich höher als nach elektiven Eingriffen (Stylianos 1993). Nach Rowe and Clathworthy (1970) liegen die postoperativen Komplikationen bei inkarzerierten Hernien bei 22,1% im Gegensatz zu 1,2% nach elektiven Operationen. Die längerfristige Inkarzeration (>2 h) stellt die Indikation für eine akute Hernienkorrektur dar. Um die prolabierten intraabdominellen Organe zu untersuchen, sollte es vermieden werden, nach dem Einleiten der Narkose bei ungeöffnetem Bruchsack einen manuellen Repositionsversuch vorzunehmen. Bei Minderperfusion und livider Verfärbung der Darmschlingen muss vor der Reposition des Bruchinhaltes in die Bauchhöhle eine adäquate Durchblutung gewährleistet sein. Hilfreich ist das Einschlagen der Darmschlingen in, mit warmer, physiologischer Kochsalzlösung getränkten Kompressen. Eine endgültige Beurteilung der Perfusionsituation sollte erst nach 5–10 min Wartezeit erfolgen. Vitalitätskriterien sind mesenteriale Pulsationen und die aktiven Kontraktionen auf mechanische Reize. Kommt es zu keiner Abblassung des lividen Darmabschnittes und bleibt die Vitalität fraglich, so ist dieses Darmsegment zu resezieren. Mit einer passageren Schädigung des Darmes ist in 3-7% und mit einer notwendigen Resektion in bis zu 1,4% der Fälle zu rechnen (Rescorla 1984, Rowe 1970). Bei Akutoperationen von inkarzerierten Hernien findet sich bei etwa einem Drittel der Fälle ein zyanotischer Hoden. Hoden mit Restperfusion werden belassen. Nur in Ausnahmefällen muss ein gänzlich nekrotischer Hoden entfernt werden.
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Kapitel 39 · Hernienchirurgie
Inkarzerierte Ovarien sollten ebenfalls raschest einer operativen Behandlung zugeführt werden (Boley 1991, Levitt 2002).
Intraoperative Komplikationen Zu den intraoperativen Komplikationen zählt die Verletzung der inguinal verlaufenden Nerven (N. ilioinguinalis, der R. genitalis des N. genitofemoralis und der N. iliohypogastricus), die Verletzung prolabierter Darmanateile in 0,06–0,1% (Rowe 1970), des Ductus deferens in 0,04–0,13% (Steigman 1999; Partrick 1998); der Vasa testicularis, der Vasa epigastrica inferior oder selten Verletzungen des prolabierten Ovars. Die intraoperative Verletzung der Harnblase gehört zu den Raritäten. Bei der Verletzung des Ductus deferens muss beachtet werden, dass hier nicht nur die Durchtrennung, sondern auch Zerrungen und Quetschungen relevant für eine spätere Funktionsbeinträchtigung sein können (Shandling 1981; Ceylan 2003). Auch wenn die Wand des verletzten Duktus intakt bleibt, kann der Spermientransport beeinträchtigt sein. Jequier konnte 1985 an einem Kollektiv von 102 Patienten nach Leistenbruchoperation, bei 5% eine obstruktive Azoospermie nachweisen. Die Komplikationsrate ist am niedrigsten, wenn gerade im Säuglings- bzw. Kleinkindesalter die operative Korrektur durch einen Kinderchirurgen und ein kinderanästhesiologisches Team durchgeführt wird. Das Risiko der präparativen Verletzung des Ductus deferens kann durch die Verwendung von optischen Vergrößerungseinrichtungen (Lupenbrille) minimiert werden.
Postoperative Komplikationen Zu den frühen postoperativen Komplikationen zählen die seltenen Hämatome und Wundinfektionen. Obwohl die Herniotomiewunden entsprechend der Schnittführung in der Unterbauchhautfalte, innerhalb des Windelbereiches liegen, kommen Wundinfektionen selten in der Größenordnung um 1% vor (Ein 2006; Rowe 1981). Die prolongierte Vergrößerung des ipsilateralen Hodens durch eine postoperative Flüssigkeitsansammlung in den Hodenhüllen, die als Teil des Bruchsackes bewusst zurückgelassen werden, stellt, obwohl manchmal angeführt, keine Komplikation dar. Vielmehr handelt es sich um einen Befund im Rahmen des Heilungsverlaufes, der sich sukzessive – meist innerhalb von 3 Wochen – zurückbildet. Rezidive. Die Rezidivrate beträgt bei konventionellen Ein-
griffen zwischen 0,6 und 3,8% (Steinau 1995). Sie steigt auf bis zu 15% bei Patienten mit Frühgeburtlichkeit, auf etwa 20% nach Akutoperationen im Rahmen einer Inkarzeration und beim Vorliegen von prädisponierenden Grunderkrankungen (Glick 2006). In einer Studie, in der 6361 Hernien untersucht wurden, waren bei den Rezidiven in 97% Knaben betroffen. Eine deutlich erhöhte Rezidivrate fand sich bei Teenagern (5% versus 1,2% des Gesamtkollektivs). 54% der Rezidive traten innerhalb des ersten post-
operativen Jahres und 96% innerhalb von 5 postoperativen Jahren auf (Ein 2006). Hodenatrophie. Die postoperative Hodenatrophie ist niedrig und liegt in einer Größenordnung von 0,3% (Ein 2006). Die Hodenatrophienrate nach Inkarzeration liegt zwischen 2,3 und 29% (Jequier 1985, Puri 1984; Rowe 1970; Palmer 1978; Walc 1995; Murdoch 1979). Sekundärer Hodenhochstand. Nach Hernienkorrektur
kann sich der Hoden infolge von Narbenzügen im Bereich des Funiculus spermaticus in Richtung des äußeren Leistenringes verlagern. Diese Komplikation dürfte selten sein (0,2%), wird aber möglicherweise auch selten berichtet.
39.2
Umbilikalhernie
Embryologie. Embryologisch verkleinert sich der Um-
bilikalring im Laufe der Schwangerschaft. Die typische Umbilikalhernie muss differenzialdiagnostisch von Formen der Omphalozele (»hernia into the cord«) abgegrenzt werden. Die Bruchpforte der Umbilikalhernie entspricht einem nicht geschlossenen fibrösen Nabelring durch den sich, infolge einer Schwäche der Richet-Faszie, das Peritoneum vorwölbt (Woods 1958). Darüber liegen Anteile des subkutanen Fettgewebes sowie Nabelhaut. Gegebenenfalls finden sich über dem Peritoneum zusätzlich Reste der Nabelschnur (Warthon-Sulze). Bezüglich der Operationsindikation sollten Nabelbrüche, die eindeutig auch oberhalb des Nabels vorliegen und gleichsam eine »supraumbilikale-epigastrische« Ausprägung aufweisen, abgegrenzt werden. Ätiologie. Die Ätiologie der Umbilikalhernie ist nicht geklärt. Inzidenz. Mädchen und Buben sind in gleichem Ausmaß be-
troffen, wobei bei Erwachsenen Frauen (Gravidität) häufiger betroffen sind. Die Inzidenz liegt beim Kind zwischen 10 und 30%, farbige Menschen haben die höchsten Werte (Evans 1941). Umbilikalhernien treten in der Regel innerhalb der ersten 6 Lebensmonate auf und die Inzidenz korreliert mit dem Geburtsgewicht. 2/3 der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g entwickeln eine Umbilikalhernie. Klinik und Diagnostik. Umbilikalhernien haben, im Gegensatz zu epigastrischen Hernien, die Tendenz, sich im Laufe des Kleinkindesalters zu schließen, die meisten bis zum 2. Lebensjahr. Das umso mehr, wenn die Bruchpforte klein, in einer Größenordnung unter 1 cm, ist. Ab dem 2. bis 3. Lebensjahr ist der spontane Verschluss selten, ab dem 5. Lebensjahr eine Rarität. Umbilikalhernien finden sich gehäuft bei Trisomien, Mukopolysaccharidosen, und Hypothyreoidismus. Umbilikalhernien sind in der Regel gut reponibel; Inkarzerationen gehören zu den Ausnahmen. Der Palpationsbefund ist typisch. Bei beschwerdefreien Patienten ist
499 39.3 · Epigastrische Hernien
für die Verlaufskontrolle und die Indikationsstellung zur operativen Korrektur in erster Linie die Größe der umbilikalen Bruchpforte zu bestimmen, sie bestimmt die Prognose. Umbilikalhernien beim Säugling mit einer Bruchpforte über 1,5 cm zeigen eine deutlich geringere Tendenz zum Spontanverschluss. > Nabelbrüche, die keine Beschwerden bereiten, kann man im Kleinkindesalter konservativ mittels wiederholter Reposition behandeln und mit der Indikationsstellung für einen operativen Verschluss zuwarten.
Umbilikalhernien mit ständig prolabierten Darmschlingen bereiten dem Säugling Beschwerden (. Abb. 39.7). Ein vermehrter Meteorismus sowie Schmerzattacken, die die Nachtruhe beeinträchtigen, ergänzen den typischen Lokalbefund. Der Aspekt der Beschwerden ist in der Indikationsstellung zum Zeitpunkt der operativen Korrektur in Betracht zu ziehen. Operative Therapie. Nabelhernien ohne Tendenz zum Spon-
tanverschluss, oder jene, die dem Säugling offensichtlich Beschwerden bereiten, stellen die Indikation zur operativen Korrektur dar. Die operative Korrektur der Nabelhernie besteht aus einer Resektion des Bruchsackes und einem horizontalen Verschluss der Bruchlücke. Mit einer infraumbilikalen, semizirkulären Inzision wird, nach präparativer Spaltung der Subkutis, die Rectusscheide und die Bruchlücke im Bereich der Line alba dargestellt. Der offene fibröse Nabelring wird im Anschluss bilateral mit kleinen Klemmen gefasst. Anschließend erfolgt die schichtweise bruchpfortennahe Durchtrennung des Bruchsackes mit dem Skalpell. Zur Darstellung kommende Nabelgefäße sollten mit dem bipolaren Kauter verschorft und in die spätere Verschlussnaht einbezo-
gen werden. Bei der Durchtrennung des Bruchsackes sollte die entspannte Bauchdecke angehoben werden. Anschließend erfolgt der horizontale Verschluss mit resorbierbaren 2-0-Einzelknopfnähten, die zugleich Faszie und Peritoneum fassen. Nach Abtragung der Bruchsackreste, wird die tiefste Stelle des Nabelgrübchens mit einer resorbierbaren Einzelknopfnaht im Bereich der Linea alba fixiert. Subkutane Nähte sind nicht notwendig. Der Hautverschluss kann durch eine intrakutane Naht der Stärke 4-0 erfolgen. Ein in der Größe entsprechender Kugeltupfer wird in das Nabelgrübchen gelegt. Für die weitere Abdeckung bis zur Nahtentfernung empfiehlt sich ein wasserabweisender Verband mit Wundkissen.
39.3
Epigastrische Hernien
Epigastrische Hernien resultieren aus einer örtlich schwachen bzw. inkompletten Ausbildung der fibrösen Linea alba. Sie sind median in der Linea alba supraumbilikal bzw. epigastrisch gelegen. Klinik und Diagnostik. In der Regel sind die Bruchpforten klein (um 1 cm) und es wölbt sich großteils nur präperitoneales Fettgewebe in die vorgelagerte Subkutis. In bis zu 20% der Fälle sind epigastrische Hernien multipel lokalisiert. Bei kleinen epigastrischen und umbilikalen Hernien kann die Sonographie zweckmäßig den Palpationsbefund in der Diagnostik ergänzen. In der Regel finden sich bei epigastrischen Hernien kaum Beschwerden. Eine Darminkarzeration muss als Rarität eingestuft werden. Therapie. Typische epigastrische Hernien sind präoperativ zu
markieren, da die Bestimmung ihrer Lage beim narkotisierten Patienten schwierig ist. Die epigastrischen Hernien werden nach gezielter, horizontaler bzw. sagittaler Hautinzision, präparativ dargestellt und das präperitoneale Fettgewebe abgetragen bzw. auch unter die fibröse Linea alba reponiert. Bei deutlich prolabiertem Bruchsack sollte dieser geöffnet und abgetragen werden. Die synchrone Korrektur einer auffallenden Rektusdiastase ist möglich, aber nicht zwingend. Falls man sich zu letzterem Vorgehen entscheidet, wird die Hautinzision sagittal in der Medianen erfolgen. Die resorbierbaren Bauchdeckennähte sollten mindestens die Stärke von 2-0 haben.
Literatur
. Abb. 39.7. Große Umbilikalhernie eines Säuglings mit relevanter Beschwerdesymptomatik als Indikation zum operativen Verschluss
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Kapitel 39 · Hernienchirurgie
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40
40 Erkrankungen des Hodens M. Stehr 40.1
Hodenhochstand
40.1.1 40.1.2 40.1.3 40.1.4 40.1.5 40.1.6 40.1.7
Physiologischer Descensus testis – 501 Ätiologie des Maldescensus testis – 502 Humangenetik – 502 Formen und klinische Begriffe – 502 Sekundäre Hodenaszension – sekundärer Hodenhochstand – 503 Diagnostik – 503 Therapie – 504
– 501
40.2
Varikozele
40.2.1 40.2.2 40.2.3 40.2.4
Definition – 508 Inzidenz – 508 Ätiologie – 508 Klinik – 508
– 508
> Erkrankungen des Hodens umfassen kongenitale Anomalien (Lageanomalien) des Hodens wie auch erworbene Erkrankungen (im Wesentlichen entzündlicher oder ischämischer Genese bei sog. akutem Skrotum). Bei den kongenitalen Lageanomalien (Hodenhochstand) sollte die korrekte Hodenlage im Skrotum vor Vollendung des ersten Lebensjahres erfolgt sein. Das akute Skrotum ist immer als Notfall zu betrachten, da eine Hodentorsion als mögliche Ursache unverzüglich operativer Therapie bedarf. Dennoch ist diese in lediglich 10–30% der Fälle ursächlich. Herausforderung bei der Behandlung des akuten Skrotums ist also nach wie vor das Erkennen der richtigen Differenzialdiagnose ohne zu häufig operativ explorieren zu müssen.
40.1
Hodenhochstand
Der Hodenhochstand ist die häufigste kongenitale Anomalie des Urogenitaltrakts mit einer Häufigkeit von 1–3% bei reif geborenen Jungen und noch deutlich höherer Frequenz bei Frühgeborenen (bis zu 30%; Hiort et al. 2005). Dabei kommt es im weiteren Verlauf zum spontanen Descensus testis nur bei etwa 7% aller betroffenen Knaben im 1. Lebensjahr, meist in den ersten 6 Monaten (Hiort et al. 2005; Wenzler et al. 2004). Die Ursache des Kryptorchismus ist multifaktoriell, wobei verschiedene Faktoren (Ligamentum diaphragmaticum, Nervus genitofemoralis, Deszensus des Nebenhodens, Gu-
40.2.5 40.2.6 40.2.7 40.2.8
Diagnostik – 508 Pathophysiologie – 508 Therapie – 509 Prognose – 509
40.3
Das akute Skrotum
40.3.1 40.3.2 40.3.3 40.3.4 40.3.5 40.3.6
Definition – 509 Ätiologie und Inzidenz Klinik – 511 Diagnostik – 511 Therapie – 513 Prognose – 514
– 509 – 509
Literatur – 515
bernaculum testis, Processus vaginalis) diskutiert werden (Hutson et al. 1997). In den meisten Fällen ist er als Folge einer intrauterinen Insuffizienz der Hypothalamus-Hypophysen-Gonadenachse zu sehen. Man kann ihn als einen passageren pränatalen und präpubertären hypogonadotropen Hypogonadismus betrachten. Somit wird er heute als eine Endokrinopathie angesehen (Hadziselimovic 2002). Der mangelnde Hodendeszensus ist als Teil eines Primärschadens (Fertilitätsstörung, Neigung zu erhöhter Malignitätsrate des betroffenen und auch des kontralateralen Hodens und als drittes Element der unzureichende Deszensus) einzuordnen, zu dem sich ein Sekundärschaden gesellen kann, sofern der Hoden in der Fehlposition der dort unphysiologischen Temperatur von 35–37°C statt der im Skrotum vorherrschenden Temperatur von 33°C zu lange ausgesetzt ist (Hutson et al. 1997; Rokitansky 2005).
40.1.1
Physiologischer Descensus testis
Der physiologische Descensus testis unterteilt sich in 2 Phasen: Eine transabdominelle Phase (10. bis 15. SSW) und eine inguinoskrotale Phase (28. bis 35. SSW). Während in der frühen Phase neben Testosteronen die Faktoren INS-3 (»insulin-like factor 3«) sowie das AMH (Anti-Müller-Hormon) eine entscheidende Rolle spielen, werden in der späteren inguinoskrotalen Phase vor allem Androgene sowie ein spezielles Peptid, das CGRP (»calcitonin gene related peptide«) aus dem N. genitofemoralis für einen physiologischen Ab-
502
40
Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
lauf verantwortlich gemacht. Vieles ist nach wie vor unklar. Ob z. B. Zug durch das sich verkürzende Gubernakulum oder eher vermehrter intraabdomineller Druck den Descensus testis vervollständigt, ist ebenso unsicher wie die primäre Lage des Hodens hinsichtlich des Peritoneums.
40.1.2
Ätiologie des Maldescensus testis
Das Ausbleiben des physiologischen Descensus testis – insbesondere beidseits – wird heute als Folge einer intrauterinen Insuffizienz der Hypothalamus-Hypophysen-Gonadenachse im Sinne einer Endokrinopathie gesehen. Der Descensus testis ist also wesentlich hormonell reguliert und unter genetischer Kontrolle. Diesbezügliche Störungen sind teilweise bekannt und werden z. T. dominant vererbt, wobei sich ggf. richtungweisende endokrinologische Auffälligkeiten nachweisen lassen. Wichtige derzeit bekannte Ursachen für eine Störung der Hodendeszension sind: 4 Heterozygote dominante Mutationen in den Genen INSL3 und LGR8/GREAT, die für das testikuläre Hormon »Insulin-like factor 3« bzw. seinen Rezeptor kodieren (Grüters 2005; Hiort et al. 2005) und etwa 5–10% der Fälle von nicht-syndromalem Hodenhochstand betreffen (Foresta u. Ferlin 2004) 4 Chromosomenstörungen, speziell Störungen der Geschlechtschromosomen, die bis zu 5% der Fälle von nicht-syndromalem Hodenhochstand betreffen (Yamaguchi et al. 1991) 4 Primäre Defizienz des hypothalamischen Gonadotropin-freisetzenden Hormons (GnRH) z. B. beim Kallmann-Syndrom 4 Genetische Störungen der Androgensynthese bzw. Androgenresistenz 4 Genetische Störung der Kortisonsynthese (AGS) mit phänotypisch schwerer Virilisierung des weiblichen Genitales täuscht einen beiderseitigen Hodenhochstand vor
40.1.3
Humangenetik
Ein Hodenhochstand kann sowohl isoliert ohne weitere klinische Auffälligkeiten als auch als Teilbefund bei zahlreichen genetischen Krankheiten bzw. Syndromen auftreten. Bei einem isolierten einfachen Hodenhochstand ohne weitere klinische Auffälligkeiten ist bei unauffälliger Familienanamnese eine weiterführende humangenetische Abklärung in der Regel nicht notwendig. Ein genetisches Syndrom als Ursache eines Hodenhochstands soll immer dann in Betracht gezogen werden, wenn zusätzliche morphologische Auffälligkeiten nachweisbar sind oder eine psychomotorische Entwicklungsstörung auftritt. Es sollte dann eine humangenetische Abklärung erfolgen. Zu den relevanten körperlichen Auffälligkeiten zählen
neben allgemeinen Dysmorphiezeichen speziell weitere Genitalfehlbildungen, Fehlbildungen der inneren Organe (Nieren, Herz, Abdomen, Gastrointestinaltrakt), zerebrale Fehlbildungen, Störungen der Skelettentwicklung u. v. a. Bei der Durchführung einer Chromosomenanalyse findet sich in bis zu 10% solcher Patienten ein auffälliger Befund (Yamaguchi et al. 1991). Bei Knaben mit Hodenhochstand und zusätzlich einer Hypospadie bzw. anderen Genitalfehlbildungen sollte u. a. die Möglichkeit einer Mutation im WT1Gen in Betracht gezogen werden, da dann ein erhöhtes Risiko für ein Nephroblastom (Wilms-Tumor, 7 Kap. 44) bestehen würde (WAGR-Syndrom: Wilms-Tumor, Aniridie, genitale Missbildung, Retardierung; Grüters 2005).
40.1.4
Formen und klinische Begriffe
Der Hodenhochstand (Maldescensus testis) wird unterteilt in 4 Retentio testis: Der Hoden liegt an beliebiger Stelle entlang des physiologischen Descensus in der Urogenitalrinne: Retentio testis abdominalis, Retentio testis inguinalis 4 Hodenektopie: Der Hoden geht einen falschen Weg während des Deszensus und kommt meist epifaszial inguinal, seltener perineal, femoral, suprapubisch, penil (an der Peniswurzel) oder in der anderen Skrotalhälfte zu liegen. Die Ursache liegt in einer groben Fehlinsertion des Gubernaculum testis (Hutson et al. 1997; Rokitansky 2005). Die häufigste Form, die inguinalepifasziale Ektopie (ca. 70%) kann palpatorisch mit dem Leistenhoden verwechselt werden. Kryptorchismus. Unter einem Kryptorchismus versteht
man im deutschsprachigen Raum einen nicht palpablen Hoden. Dahinter kann sich eine Retentio testis abdominalis oder auch eine Hodenaplasie verbergen. Gleithoden. Bei einem Gleithoden gelingt die manuelle Position eines inguinal oder präskrotal gelegenen Hodens in das Skrotum. Nach dem Loslassen gleitet der Hoden allerdings sofort in seine Ausgangsposition zurück. Das alleinige Zurückgleiten des Hodens nach inguinal kann noch keine Unterscheidung zwischen Pendel- und Gleithoden gewährleisten. Vom Untersucher muss vielmehr die vorhandene oder fehlende Spannung am Samenstrang beim Zug am Hoden und die erreichbare Position im Skrotum bewerten werden. Pendelhoden. Bei einem Pendelhoden dagegen wechselt die Hodenposition spontan zwischen inguinal/präskrotal und skrotal je nach Anspannung des M. cremaster. In warmer Umgebung (z. B. Badewanne) kann deshalb eine skrotale Position beobachtet werden. Auf die Unterscheidung zwischen Pendelhoden und Gleithoden soll deshalb besonders
503 40.1 · Hodenhochstand
hingewiesen werden, da sie die praktisch wichtige Grenze der Therapienotwendigkeit darstellt: Der Pendelhoden ist im Unterschied zum Gleithoden nicht behandlungsbedürftig, muss aber regelmäßig kontrolliert werden, da eine sekundäre Aszension häufiger beobachtet wird.
40.1.5
Sekundäre Hodenaszension – sekundärer Hodenhochstand
Von der primären Retention ist die sekundäre Aszension des Hodens zu unterscheiden. Hier retrahiert sich ein primär im Skrotalfach lokalisierter Hoden zunehmend aufgrund eines inadäquaten Längenwachstums oder wegen retinierender fibröser Anteile des Funiculus spermaticus (Hutson et al. 1997; Rokitansky 2005). Diese sekundär aszendierten Hoden weisen aber nicht die gleiche Problematik hinsichtlich Fertilität und Malignität auf wie der primär maldeszendierte Hoden, denn sie haben keinen Primärschaden. Sekundärschäden lassen sich durch rechtzeitige Verlagerung des Hodens verhindern. Wenn die sekundär entstandene ungünstige Hodenposition länger als 5–6 Jahre nicht korrigiert wird und der Hoden in seiner ungünstigen Lage verbleibt, nimmt die Zahl der Geschlechtszellen bis zur Pubertät stetig ab und hat dann eine gleich niedrige Zahl wie beim primär maldeszendierten Hoden. Erste sekundäre Veränderungen findet man an der Tunica propria der Tubuli seminiferi. Auf der ultrastrukturellen Ebene lassen sich eine Kollagenisierung des peritubulären Bindegewebes und eine Verdickung der Basalmembran auf das 1,3- bis 1,5-fache nachweisen. Die Veränderungen nehmen mit den Jahren irreversibel zu. Ein typisches Beispiel für eine iatrogen verursachte Hodenaszension ist der sekundäre Hodenhochstand nach Leistenhernienoperation, eine bekannte Komplikation, die im Säuglingsalter mit einer Häufigkeit von 0,5–2% anzugeben ist (7 Kap. 39).
40.1.6
Diagnostik
Wichtigster diagnostischer Schritt ist die klinische Untersuchung mit Inspektion und bimanueller Palpation. Grundsätzlich soll die klinische Untersuchung in einer warmen Umgebung und ruhigen Atmosphäre stattfinden. Es ist mit zwei Händen zu untersuchen, wobei man mit der einen Hand die Leiste wiederholt nach unten ausstreicht und mit der anderen Hand den auf diese Weise mobilisierten Hoden fasst und ihn so weit wie möglich nach unten zieht. Die erreichbare Position ergibt dann die Diagnose. Von vielen wird ergänzend die Palpation bei Untersuchung des Jungen im Schneidersitz favorisiert, wobei bei Säuglingen die Mutter das Sitzen durch Halten unterstützen kann. Ein hypoplastisches Skrotum ist hinweisend für das Vorliegen eines Hodenhochstandes. Wiederholte Untersu-
. Tab. 40.1. Endokrinologische Abklärung bei Retentio testis Klinischer Befund
Labor
Pendelhoden, Gleithoden, einseitiger Leistenhoden/Kryptorchismus ohne begleitende Fehlbildung
Keine
Beidseitiger Kryptorchismus oder Leistenhoden und jeder Hodenhochstand mit assoziierten genitalen/ nichtgenitalen Fehlbildungen
LH, FSH, Testosteron (hCG-Stimulationstest) Inhibin B (SertoliZellmarker), AMH Ggf. Steroidprofil Chromosomen Genetik
chungen sind bei fraglichen Befunden und schwierigen Untersuchungsbedingungen (adipöses Kind) zu empfehlen. Wenn die Hoden beidseits nicht tastbar sind, ist ein pädiatrisch-endokrinologisches Konsil indiziert (z. T. auch interdisziplinäre Abklärung der möglichen Syndrome, s. oben) (. Tab. 40.1). Der Inhibin-B-Test kann mit einer einzigen Blutentnahme den früher üblichen HCG-Stimulationstest zum Nachweis des testosteronproduzierenden Hodengewebes ersetzen und sollte einer operativen Exploration immer vorausgehen (Albers 2005). Bildgebende Untersuchungsverfahren (Sonographie, Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT)) sind beim nicht palpablen Hoden nur in Ausnahmefällen mit speziellen Fragestellungen indiziert (Siemer et al. 2000; Uhl et al. 1997). Für diese Fälle kann bei der Sonographie mit hochauflösendem Schallkopf (>7,5 MHz) mit einer Korrektklassifikationsrate (»accuracy«) von 84% (bei einer Sensitivität von 76% und einer Spezifität von 100%) gerechnet werden (Kanemoto et al. 2005). Sie erlaubt bei identifizierbaren Hoden eine Beurteilung bzgl. Größe und Parenchymstruktur. Auch kann die gleichseitige Niere untersucht werden. Bei der Suche nach einem Bauchhoden kann man durch die MRT eine Korrektklassifikationsrate (»accuracy«) von 85 Prozent erwarten bei einer Sensitivität von 86% und einer Spezifität von 79% (Kanemoto et al. 2005). Die Computertomographie sollte wegen der Strahlenbelastung zur Hodensuche nicht mehr angewandt werden. Die heute bevorzugte Methode zur Identifizierung der Hodenlokalisation bei nicht palpablem Hoden ist die Laparoskopie. Sie gestattet neben der Beurteilung der Lage auch die der Morphologie der Gonaden und Samenstranggebilde (Intersex; persistierende Müller-Strukturen, Hoden-Nebenhodendissoziation). Zudem können an diesen zunächst rein diagnostischen Schritt weitere therapeutische Maßnahmen angeschlossen werden: Bei intraabdominellem Hodenrudiment kann die laparoskopische Entfernung erfolgen oder bei vorhandenem Hoden (Retentio testis abdominalis) der erste Schritt der zweizeitigen Operation nach Fowler-Stephens (s. unten) vorgenommen werden.
40
504
Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
40.1.7
40
Therapie
> Behandlungsziel ist die dauerhafte Verlagerung und Fixierung der retinierten oder ektopen Gonade in das Skrotum. Dieses Ziel sollte bis zum Ende des ersten Lebensjahres erreicht sein. Bei Frühgeborenen gilt das korrigierte Alter.
Pendelhoden sind durch ihre definierte Lage nicht behandlungs-, sondern nur beobachtungsbedürftig (bis zur Pubertät), um eine in diesem Kollektiv etwas häufiger (ca. 6%) auftretende Hodenaszension rechtzeitig zu erfassen. Mit dem Hodenwachstum in der Pubertät verliert sich die Problematik des überschießenden Kremasterreflexes. Beim Hodenhochstand (Retentio testis oder Hodenektopie) besteht das Behandlungsziel darin, durch rechtzeitige Verlagerung des Hodens in das Skrotum den Sekundärschaden am Hoden zu verhindern und einen vorher nicht palpablen Hoden der klinischen Untersuchung zugänglich zu machen. Ob der Primärschaden durch die Therapie beeinflussbar ist, ist bisher nicht hinreichend geklärt. Durch ein früheres Operationsalter und prä- und/oder postoperative Hormontherapie wird der Primärschaden in Form von Fertilitätsstörungen und erhöhter Neigung zu maligner Entartung möglicherweise positiv beeinflusst (Hadziselimovic 2002). Es gibt Hinweise, dass für die späteren Fertilitätschancen die sog. »Minipubertät« im Alter von ca. 4 Monaten entscheidenden Einfluss hat (Hadziselimovic 2002; Hadziselimovic u. Herzog 2001; Schwentner et al. 2005). Im Alter von ca. 2–3 Monaten soll die Transformation vom fetalen Hauptzellpool (Gonozyten) hin zum Erwachsenen-Hauptzellpool (Ad-Spermatogonien) stattfinden. Unterbleibt diese Umschaltung, so äußert sich dies in einem mangelnden Verschwinden der Gonozyten und mangelnden Auftreten der Ad-Spermatogonien in zum Zeitpunkt der Orchidopexie durchgeführten Hodenbiopsien. Dabei zeigen später durchgeführte Spermiogramme eine Korrelation zur stattgehabten Transformation der Gonozyten in Ad-Spermatogonien, unabhängig vom Alter bei der Operation (Hadziselimovic 2002; Hadziselimovic u. Herzog 2001).
Therapeutische Optionen und Zeitablauf Die Gestaltung der Therapie hängt zum einen vom Alter des Kindes, zum anderen von der vorliegenden Di-
. Abb. 40.1. Zeitlicher Ablauf der Therapie des Hodenhochstandes
agnose (Form des Hodenhochstandes) ab. Im Folgenden soll hier die prinzipielle Vorgehensweise skizziert werden: > In den ersten 6 Lebensmonaten wird zunächst ein spontaner Deszensus abgewartet. Wenn dieser sich in dieser Zeit nicht eingestellt hat, wird mit einer präoperativen kombinierten Hormontherapie (s. unten) begonnen. Erst bei Erfolglosigkeit ist die Operation indiziert. Mit diesem zeitlichen Schema sollte die Behandlung inkl. Operation im Alter von 12 Monaten abgeschlossen sein (. Abb. 40.1; Rokitansky 2005).
Bei erfolgreicher Hormontherapie ist in 24% mit einer ReAszension des Hodens auch nach mehreren Monaten zu rechnen (Albers 2005), weshalb diese Kinder regelmäßig kontrolliert werden sollen. Die durch den ähnlichen klinischen Tastbefund bedingte Verwechslungsmöglichkeit zwischen einem echten Leistenhoden (Retentio testis inguinalis) und der häufigsten Hodenektopie, der inguinal-epifaszialen Ektopie, führt zu verfälschten Ergebnissen bei Untersuchungen über die Wirksamkeit einer präoperativen Hormontherapie: Die fälschlicherweise dem Kollektiv der Retentio testis inguinalis zugeordneten inguinal-epifaszialen Hodenektopien können zwangsläufig keine Wirksamkeit der Hormontherapie im Sinne des erwünschten Deszensus aufweisen. Bei Hodenektopien ist eine präoperative Hormontherapie nicht indiziert. Hier ist von einer Hormontherapie keine Induktion der richtigen Hodenlokalisation zu erwarten. Ähnliches gilt bei erkennbaren anatomischen Ursachen für die Hodenretention (z. B. sekundärer Hodenhochstand bei narbiger Fixation des Hodens nach Voroperation in der Leiste). Unter dem Aspekt der Verbesserung der Spermiogenese (s. unten) kann allerdings auch in diesen Fällen eine präoperative Hormonkur diskutiert werden. Wenn ein behandlungsbedürftiger Hodenhochstand zu spät entdeckt wird, so dass im zeitlichen Behandlungsplan eine präoperative Hormontherapie nur noch unter Inkaufnahme einer verspäteten Operation möglich wäre, sollte dem Operationstermin der Vorzug gegenüber der präoperativen Hormontherapie gegeben werden. Die zusätzliche möglicherweise positive Wirkung auf die Spermiogenese bliebe in diesem Fall einer postoperativen Hormontherapie vorbehalten.
505 40.1 · Hodenhochstand
Hormontherapie
Operative Therapie bei tastbarem Hoden
Grundsätzlich gibt es 2 Indikationen zur Durchführung einer Hormontherapie: 4 Einleitung des Deszensus des retinierten Hodens unter Vermeidung einer nachfolgenden Operation. Mit einem Erfolg kann hierbei je nach Therapieschema zusammenfassend in etwa 20–60% der Fälle gerechnet werden. 4 Stimulation der Keimzellreifung und -proliferation und damit Verbesserung der Fertilitätschancen. Letzteres kann gleichermaßen durch prä- oder postoperative Hormontherapie erreicht werden.
Die Orchido-Funikulolyse mit Orchidopexie kann bei allen tastbaren Hoden als Methode der Wahl angesehen werden. Die quere Inzision im Bereich der meist vorhandenen Bauchhautfalte entlang der Hautlinien ist kosmetisch der steilen Inzision überlegen und gestattet einen übersichtlichen Zugang bis hin zur abdominellen Exploration (Rokitansky 2005). Vorsichtige Präparation unter Verwendung optischer Hilfen (Lupenbrille) ist speziell im jetzt für die Operation geforderten Säuglingsalter Grundvoraussetzung für die angestrebte Optimierung der Therapie (Rokitansky 2005). Ein Processus vaginalis wird wie bei einer Leistenhernie auf Höhe des inneren Leistenringes unterbunden und abgetragen, die Kremasterfasern werden unter Schonung der Spermatika-Gefäße vollständig durchtrennt. Durch retroperitoneale Funikulolyse und Begradigung ihres Verlaufes (. Abb. 40.2; ggf. durch zusätzliche Einkerbung des M. obliquus internus abdominis und Durchtrennung der Vasa epigastrica – Prentiss-Manöver) sowie der Präparation des Ductus deferens bis hinter die Blase kann in der Regel genügend Strecke gewonnen werden, um den Hoden bis in das Skrotum zu verlagern. Der Eingriff wird mit der Orchidopexie beendet, wobei sich die Methode nach Schoemaker (Fixation des Hodens in einer zwischen Tunica dartos und Skrotalhaut gebildeten Tasche) bei einer pexiebedingt geringen Rezidivrate bewährt hat. Bei beidseitiger Retentio testis können im Regelfall beide Seiten in einer einzeitigen Operation korrigiert werden. Bei deutlicher Skrotalhypoplasie oder kritischer Durchblutungssituation nach der Funikulolyse der einen Seite sollte allerdings zweizeitig vorgegangen werden.
Präoperative Hormontherapie. Bei der klassischen ein-
oder beidseitigen Retentio testis ohne zusätzliches mechanisches Hindernis ist die primäre präoperative Hormontherapie indiziert und scheint den Fertilitätsindex zu verbessern (Hadziselimovic 2002; Hadziselimovic u. Herzog 2001; Schwentner et al. 2005). Es existieren unterschiedliche Therapieschemata zur präoperativen Hormontherapie. Bei dem Kombinationsschema wird zunächst LHRH 3-mal 400 μg/d (3-mal täglich ein Sprühstoß von 200 μg pro Nasenloch) über 4 Wochen appliziert. Unmittelbar daran wird eine β-HCG-Kur in der Dosis 1-mal 500 IE/Woche über 3 Wochen angeschlossen. Dieses Kombinationsschema wird derzeit in den S2-Leitlinien zum Hodenhochstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie empfohlen. Alternativ zur Kombinationstherapie, insbesondere auch bei verspätetem Therapiebeginn, kann eine Monotherapie mit β-HCG i.m. über 5 Wochen durchgeführt werden. Dabei wird im Alter unter dem 2. Lebensjahr eine Dosierung von 500 IE pro Woche, bei älteren Kindern zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr 1500 IE pro Woche appliziert. Kinder über dem 6. Lebensjahr erhalten eine Dosierung von 2500 IE pro Woche. 5 Wochen nach letzter Injektion sollte die Hodenlage erneut kontrolliert werden. Postoperative Hormontherapie. Weiterhin gibt es Hin-
weise, dass die Transformation der Gonozyten in Ad-Spermatogonien (»Minipubertät«) unterstützt werden kann durch die postoperative Gabe von GnRH-Analoga in Niedrig-Dosierung (z. B. 200 μg Naferelin nasal (Spray) zweimal wöchentlich für insgesamt 6 Monate (Dosis insgesamt 9,6 mg; Huff et al. 2001) oder Buserelin 10 μg täglich über 6 Monate) (Hadziselimovic 2002; Hadziselimovic u. Herzog 2001). Die Transformation der Gonozyten in Ad-Spermatogonien kann histologisch nach Entnahme einer Hodenbiopsie im Rahmen der Orchidopexie gesichert werden. Eine allgemeine Empfehlung zur routinemäßigen Hodenbiopsieentnahme kann derzeit allerdings nicht ausgesprochen werden. Wenn eine Hodenbiopsie entnommen wird, muss sie in gekühltem 2%-igem Glutaraldehyd und nicht in Formalin fixiert werden.
. Abb. 40.2. Retroperitoneale Präparation der Samenstranggefäße
40
506
Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
Wenn bei konventioneller Funikulolyse unerwartet keine ausreichende Funikuluslänge erreicht werden kann,
40
sollte der Hoden bis auf die maximal mögliche Strecke verlagert werden und dann die zweite Sitzung nach etwa 6 Monaten erfolgen. Der Zweiteingriff mit Präparation der oft hypotrophen Strukturen aus ausgedehntem Narbengewebe ist ein sehr anspruchsvoller Eingriff und geht trotz sorgfältiger Präparation mit einer hohen Atrophierate (bis zu 56%) des Hodens einher. Bei gleichzeitiger Diagnose einer Leistenhernie und eines Hodenhochstandes beim Neugeborenen erfolgt die Herniotomie (wie auch ohne Hodenhochstand). FunikuloOrchidolyse und Orchidopexie werden simultan soweit als möglich durchgeführt. Bei den zarten Strukturen wird wegen der erhöhten Gefahr der Atrophie keine ausgiebige Mobilisation erzwungen. Ist der Hoden nicht ausreichend zu mobilisieren, sollte die Funikulo-Orchidolyse und -pexie in einer zweiten Operation vor Vollendung des ersten Lebensjahres geplant werden.
. Abb. 40.3. Laparoskopie: Retentio testis abdominalis vor innerem Leistenring
Operative Therapie bei nicht tastbarem Hoden Bei hoch inguinal und abdominal gelegenen nicht palpablen kryptorchen Hoden sollte der primären Laparaskopie gegenüber einer primären offenen Exploration von der Leiste aus der Vorzug gegeben werden. Hierbei gewinnt der Operateur nicht nur optimale Übersicht, sondern kann einen diagnostischen Schritt (Hodensuche) in gleicher Sitzung mit einem therapeutischen Schritt (Fowler-Stephens I bei Bauchhoden) verbinden. Findet sich in der Laparoskopie ein abdominell gelegener Hoden mit für eine skrotale Verlagerung zu kurzen Vasa testicularia (. Abb. 40.3), wird der erste Schritt der Fowler-Stephens-Operation durchgeführt. Dabei werden die Vasa testicularia durchtrennt. Ein kräftiger D. deferens mit gut ausgebildeter A. ductus deferentis ist hierbei Voraussetzung für die weitere Perfusion des Hodens (. Abb. 40.4). In der folgenden Zeitspanne von ca. 6 Monaten können sich testikuläre Anastomosen zur A. ductus deferentis ausbilden, so dass der folgende inguinale Operationsschritt mit anschließender Orchidopexie unter günstigerer Hodendurchblutung stattfinden kann. > Es ist darauf zu achten, dass der Ductus deferens mit der nun hauptversorgenden A. ductus deferentis nicht skelettiert wird. Vielmehr sollte ein 1–2 cm breiter Peritonealstreifen bis hinter die Blase am Ductus deferens belassen werden, um die Arterie zu schonen.
Das Peritoneum wird dann anschließend wieder fortlaufend verschlossen. Ebenfalls darf das Gubernakulum mit möglichen Anastomosen bei dem zweiten Schritt der Fowler-Stephens-Orchidopexie nicht durchtrennt werden. Diese zweizeitige Vorgehensweise scheint zu geringeren Raten von Hodenatrophie (Manak et al. 2002) als bei der alternativen einzeitigen offenen Fowler-Stephens-Operation (bis zu 30% Atrophierate) zu führen.
. Abb. 40.4. Laparoskopie: Fowler-Stephens I nach Durchtrennung der Testikulärgefäße. Die Perfusion des Hodens wird jetzt ganz wesentlich durch die A. ductus deferentis gewährleistet
Sollte dennoch die Fowler-Stephens-Operation einzeitig offen durchgeführt werden, ist ebenfalls auf eine ausgiebige Skelettierung der Spermatika-Gefäße mit ausgedehnter Dissektion des Processus vaginalis vom Ductus deferens – wie bei der Standard-Operation – zu verzichten. Vielmehr soll ein 1–2 cm breiter Streifen der dem D. deferens anliegenden Wand des Processus vaginalis als Schutz der Gefäße des D. deferens belassen werden. Nach Abklemmen der A. testicularis und positiver Blutungsprobe des Hodens nach Inzision der Tunica albuginea (unter Nutzung der Inzision ggf. für eine Hodenbiopsie) kann die A. testicularis durchtrennt werden und damit meist der Hoden in das Skrotum verlagert werden. Ggf. müssen noch eine oder zwei Anastomosen zwischen der A. ductus deferentis (»Long-loop-Vas«) und der A. testicularis durchtrennt werden. Die alternative mikrovaskuläre Autotransplantation bei Abdominalhoden zwischen Vasa testicularia und Vasa epigastrica inferior hat einen Gefäßdurchmesser von min-
507 40.1 · Hodenhochstand
destens 0,3 mm zur Bedingung und ließ sich deshalb noch nicht bei Säuglingen durchführen. Sie bleibt speziellen Situationen in speziellen Zentren vorbehalten. Gelegentlich finden sich bei der initialen Laparoskopie ein blind endender Ductus deferens sowie verdämmernde Gefäße bis vor den inneren Leistenring. Es handelt sich hierbei wahrscheinlich um eine abgelaufene intrauterine Hodentorsion (»vanishing testis«). Ggf. soll ein noch anhängender Rest ursprünglichen Hodengewebes entfernt werden. Sollten wider Erwarten (ca. 5%) Strukturen wie Ductus deferens oder testikuläre Gefäße durch einen inneren Leistenring ziehen, muss die Leiste offen exploriert werden.
Gelegentlich lässt sich ein präoperativ nicht palpabler Hoden bei der offenen inguinalen Präparation doch noch finden. Ggf. muss die Operation retro- bzw. intraperitoneal fortgesetzt werden. Bei im Leistenkanal vorgefundenen blind endenden Spermatika-Gefäßen – meist in Kombination mit einem blind endenden Ductus deferens – erübrigt sich eine weitere intraperitoneale Exploration, da es sich ebenfalls um einen »vanishing testis« handelt. Die Erfolgsquote bei den hochgelegenen Hoden hinsichtlich dauerhaft bleibender Lage ohne Atrophie liegt bei ca. 70–80%. Sehr häufig gehen die hochgelegenen kryptorchen Hoden mit einer Hoden-Nebenhodendissoziation schweren Grades einher und sind umso dysplastischer, je höher sie liegen. Bei einseitig hoher Lage eines kryptorchen dysplastischen hypotrophen Hodens kann intraoperativ die Entscheidung anstehen, ob nicht eine Orchiektomie adäquat sei. Dabei wird die Indikation zur Orchiektomie umso eher zu stellen sein, je höher der Hoden lokalisiert und je älter das Kind (Pubertät) ist; eine ausgeprägte Hoden-Nebenhodendissoziation als Hinweis für eine ausgeprägte primäre Dysplasie kann ebenfalls zur Orchiektomie hinführen, wenn es sich um einen einseitigen Befund handelt (Rokitansky 2005). Dies muss insbesondere bei älteren Kindern (>6 Jahre) als mögliche Alternative mit den Eltern präoperativ besprochen sein.
Komplikationen nach Orchidopexie Schwerwiegende Komplikationen sind die Atrophie des Hodens, mit der bei der Standardoperation in ca. 1%, nach Ligatur der A. testicularis (Fowler-Stephens-Operation) und nach mikrovaskulärer Autotransplantation in ca. 20– 30% zu rechnen ist. Ob ein Hodenrudiment (atropher Hoden, nicht wachsender Hoden) belassen werden kann, ist unklar. Meist wird die Entfernung empfohlen, um bei noch vorhandenem Hodenrestgewebe einer später malignen Entartung vorzubeugen. In Kombination mit dieser Operation könnte eine ggf. gewünschte Hodenprothese eingesetzt werden. Diese Operation sollte in das Pubertätsalter terminiert werden, so dass keine Prothesenwechsel anfallen und der Patient als Jugendlicher dann die Möglichkeit der eigenen Entscheidung hat.
In weiteren 1–5% der Fälle kommt es zur Durchtrennung des Ductus deferens oder zum Rezidiv der kryptorchen Lage. Ein durchtrennter Ductus deferens lässt sich im Säuglings-/Kleinkindesalter mikrochirurgisch adaptieren als Chance für eine mögliche Rekanalisierung. Beim Rezidiv ist wegen der meist bestehenden starken Verwachsungen die Reoperation verbunden mit einer Vitalitätsgefährdung des Hodens und Verletzungsgefahr des Ductus deferens. Leichtere Komplikationen sind Läsionen des Nervus ileoinguinalis und Wundheilungsstörungen. Die Durchtrennung des N. ileoinguinalis führt zu weniger subjektiven Beschwerden als etwa das Einnähen des Nerven in die Faszie.
Nachsorge Nachuntersuchungen betreffen zunächst den Zeitraum bis zu einem Jahr postoperativ, um evtl. Rezidive des Hodenhochstandes oder eine sich entwickelnde Hodenatrophie zu erfassen. In der Regel wird nach 3 Monaten durch den Operateur, ggf. durch den Kinderarzt der Hoden hinsichtlich seiner Lage und Größe klinisch, evtl. zusätzlich sonographisch (Größenobjektivierung, Parenchymbeschaffenheit) kontrolliert. Bei Normalbefund erfolgen die weiteren Kontrollen vierteljährlich beim Kinderarzt bis 1 Jahr postoperativ. Zeigt sich bei der Kontrolle 6 Monate postoperativ eine nicht akzeptable Position des Hodens, erfolgt die ReOperation. > Re-Eingriffe sollten nicht früher als 6 Monate postoperativ erfolgen.
In einem späteren Zeitraum im Alter ab 15 Jahren steht die Untersuchung auf eine evtl. Entwicklung von Hodenmalignomen ganz im Vordergrund. Das Risiko einer malignen Entartung bei einem ehemals kryptorchen Mann schätzt man heute 5- bis 10-fach höher gegenüber einem normalen Hoden (Albers 2005; Hutson et al. 1997; Rokitansky 2005), bei sehr verspätetem Deszensus nach dem 11. Lebensjahr sogar 32-fach (Herrinton et al. 2003). Die Hodentumoren entwickeln sich dabei im typischen Alter von 20–40 Jahren (Rokitansky 2005). Am höchsten ist das Risiko beim intraabdominell gelegenen Hoden. Es ist 5-mal höher als bei einem inguinalen Hoden. Zudem besteht bei einseitigem Maldeszensus auch für den kontralateralen normal deszendierten Hoden ein erhöhtes Malignomrisiko. Wahrscheinlich führt nicht so sehr die anatomische Fehllage als vielmehr die Dysplasie des Hodens als Teil des Primärschadens konsekutiv zu einer erhöhten Entartungsrate. Verbleibende Gonozyten (bei mangelhafter Umwandlung in Ad-Spermatogonien in der »Minipubertät«) stehen im Verdacht, für ein Carcinoma in situ verantwortlich zu sein (Hutson et al. 1997). Dabei hat nach bisherigen Beobachtungen eine operative Verlagerung des Hodens in das Skrotum keinen positiven Einfluss. Allerdings handelt es sich hier überwiegend um Patienten, bei denen die Orchidopexie aus heutiger Sicht nicht rechtzeitig durchgeführt wurde. Mögli-
40
508
Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
cherweise ändern sich die Zahlen bei Vorverlagerung des Operationszeitpunktes (Rokitansky 2005).
40
> Ehemals kryptorche Jungen sollten zur Selbstuntersuchung ihrer Hoden ab dem 15. Lebensjahr angehalten werden, wobei sie darüber aufgeklärt sein müssen, dass jede, insbesondere aber auch schmerzlose Vergrößerung oder Konsistenzänderung beachtet werden muss.
40.2 40.2.1
Befund
Subklinisch
Inspektorisch und palpatorisch kein Nachweis einer Varikozele; aber positiver dopplersonographischer Refluxnachweis
Grad I
Unter Valsalvamanöver tast- aber nicht sichtbares Venenkonvolut
Grad II
Unter Ruhebedingungen tast- aber nicht sichtbares Venenkonvolut
Grad III
Bereits unter Ruhebedingungen leicht tastund sichtbares Venenkonvolut
Definition
Inzidenz
Etwa 15% aller männlichen Adoleszenten weisen eine Varikozele auf. Selten wird eine Varikozele vor der Pubertät klinisch evident. Wenn vorhanden, ist eine spontane Regression sehr unwahrscheinlich. Etwa 90% der Varikozelen betreffen die linke Seite, etwa 2% sind bilateral.
40.2.3
Varikozelengrad nach WHO
Varikozele
Der venöse Blutabstrom des Hodens erfolgt über die V. testicularis, der des Nebenhodens über die V. ductus deferentis sowie der Hodenhüllen über die V. cremasterica. Untereinander bestehen zahlreiche Anastomosen. Dieses Venengeflecht wird als Plexus pampiniformis bezeichnet. Dilatierte und varizenartige Veränderungen des Plexus pampiniformis werden als Varikozele (Krampfaderbruch) bezeichnet (Miller et al. 2002).
40.2.2
. Tab. 40.2. Gradeinteilung der Varikozele nach WHO
Ätiologie
Retrograder venöser Blutfluss in der V. testicularis bedingt die Varikozele. Hierbei spielt die unterschiedliche Anatomie zwischen rechter und linker V. testicularis möglicherweise eine Rolle und kann die Prädominanz der linken Seite erklären: Während die rechte V. testicularis spitzwinklig direkt in die V. cava inf. einmündet, mündet die linke V. testicularis eher rechtwinklig in die linke V. renalis. Außerdem liegt die Mündungsstelle der linken V. testicularis etwa 8–10 cm weiter kranial verglichen mit der Gegenseite. Möglicherweise ist so der venöse Abstrom behindert bzw. wird ein retrograder Blutfluss durch den höheren Abdominaldruck der linken venösen Abstrombahn begünstigt. Zudem werden fehlende oder inkompetente Venenklappen wie auch veno-venöse Kollateralen in der Ätiologie diskutiert. Sekundäre Varikozelen entstehen durch lokale, meist retroperitoneale Raumforderungen, die in jedem Fall im Rahmen der Diagnostik ausgeschlossen werden müssen.
40.2.4
Klinik
Eine klinische Manifestation ist abhängig vom Grad der Ausprägung der Varikozele. Die meisten Varikozelen sind niedergradig und damit klinisch asymptomatisch. Die Varikozele wird nach der WHO (WHO 1985) in verschiedene Grade eingeteilt (. Tab. 40.2). In wenigen Fällen geben die Patienten ein unspezifisches Ziehen bis zu Schmerzen in der Leiste oder ein Schweregefühl im Skrotum an. Oft wird dies auch im Zusammenhang mit sportlicher Aktivität berichtet.
40.2.5
Diagnostik
Die klinische Untersuchung sollte in liegender und stehender Position erfolgen. Hierbei tasten sich die schmerzfreien und zusammendrückbaren Venenkonvolute, die an einen »Beutel mit Würmern« erinnern. Entscheidend ist die Beurteilung der Hodengröße und Konsistenz. Neben der Palpation und der Messung mit dem Orchidometer kommt hier der Sonographie große Bedeutung zu. Neben der exakten Bestimmung des Hodenvolumens hat unbedingt die Sonographie der Nieren zu erfolgen. Ein Nierentumor kann den venösen Abstrom der V. testicularis behindern und eine sekundäre Varikozele hervorrufen!
40.2.6
Pathophysiologie
Im Vordergrund steht eine mögliche Schädigung des Hodens. Morphologisch wird in bis zu 80% eine Hypotrophie der betroffenen Seite beobachtet, die sich in gewissem Maß nach operativer Korrektur mit steigendem Hodenvolumen wieder erholt (Steeno et al. 1976). Histologische Untersuchungen zeigen tubuläre Alterationen (Miller et al. 2002) wie: 4 Reduzierte Anzahl an Spermatogonien 4 Erhöhte Aktivität der »reactive oxygen species« (ROS) 4 Spermatogenesearrest
509 40.3 · Das akute Skrotum
4 Eingeschränkte Funktion der Sertoli-Zellen 4 Störungen der Lamina propria Der Zusammenhang dieser nachweisbaren Veränderungen mit der Varikozele ist derzeit nicht klar. Diskutiert werden mehrere Ursachen wie der Reflux adrenaler Metaboliten, Hypoxie (Camoglio et al. 2004) oder auch die resultierende thermische Schädigung. Die kontralaterale Seite kann hierbei mit betroffen sein. Als Zeichen einer eingeschränkten Leydig-Zellfunktion findet sich bei Patienten mit Varikozele eine mit dem Alter fortschreitende Erniedrigung der Testosteronkonzentration im peripheren Blut (Ishikawa et al. 2005).
mieden werden. Deshalb sollte (offen oder laparoskopisch) retroperitoneal die A. und V. testicularis durchtrennt werden (Palomo) unter möglicher Schonung der Lymphgefäße, die durch vorherige Farbstoffinjektion (1% »isosulfan blue«) unter die Tunica dartos der betroffenen Skrotalseite sichtbar gemacht werden können (Riccabona et al. 2003). Eine alternative Methode stellt die retrograde oder anterograde Embolisierung der V. testicularis dar (Tauber) bei allerdings etwas höherer Komplikationsrate. Hauptkomplikationen sind hier das Rezidiv (bis zu 25%) und die Entwicklung einer Hydrozele (bis zu 9%), selten eine Hodenatrophie (Miller et al. 2002).
40.2.8 40.2.7
Prognose
Therapie
Insgesamt sind Varikozelen der häufigste Grund für eine reversible männliche Infertilität, dennoch sind 80% der Varikozelenträger fertil (Miller et al. 2002). Damit ist der Sinn einer operativen Korrektur einer Varikozele zumindest fraglich. Zudem besteht keine Korrelation zwischen Hodengröße und Fertilität. Daher sollte die Indikation zur operativen Korrektur sehr zurückhaltend gestellt werden. Da andrologische Untersuchungen wie Samenanalyse im kindlichen Krankengut wegfallen, stützt sich die Indikationsstellung auf wenige Parameter, die eine operative Korrektur rechtfertigen. Dies sind: 4 Klinische Symptomatik wie Schmerzen, Ziehen in der Leiste oder z. B. Behinderung sportlicher Aktivität durch das Skrotalvolumen 4 Hodenatrophie der betroffenen Seite von mehr als 20% oder 2 ml 4 Ggf. nach der Pubertät reduzierte Ansprechbarkeit auf das Gonadotropin-releasing-Hormon (GnRH) Ob durch die operative Korrektur die spätere Fertilität positiv beeinflusst wird, ist allerdings nicht sicher (Salzhauer et al. 2004). Operationstechnisch unterscheidet man: 4 Offen chirurgische Verfahren 4 Laparoskopische Verfahren 4 Retrograde Embolisierung bzw. Sklerosierung 4 Antegrade Sklerosierung Allen Techniken gemein ist eine Unterbrechung des retrograden Flusses der V. testicularis mit oder ohne Schonung der A. testicularis bzw. der begleitenden Lymphgefäße. Als Hauptkomplikation muss die Ausbildung einer Rezidivvarikozele (4–37%; Riccabona et al. 2003), einer Hydrozele (3–33%; Miller et al. 2002) oder gar einer Hodenatrophie/nekrose (<1%) angegeben werden. Prinzipiell ist die Gefahr eines Rezidivs eher dann gegeben, wenn versucht wird, die A. testicularis zu schonen. Eine postoperative Hydrozele kann am ehesten durch Schonung der Lymphgefäße ver-
Hochgradige Varikozelen wirken sich wahrscheinlich negativ auf die Spermiogenese aus. Die Pathogenese ist hierbei unklar, Einflussfaktoren wie Hyperthermie, Hypoxie, aber auch Hyperperfusion des betreffenden Hodens und Reflux adrenerger Metabolite werden derzeit diskutiert. Bei hochgradigen Varikozelen kann ein Volumenverlust des betroffenen Hodens im Vergleich zu Gegenseite beobachtet werden. Bei einem Volumenunterschied von mindestens 10% ist das Spermiogramm signifikant häufiger pathologisch. Häufig sind aber auch diese Patienten klinisch beschwerdefrei, auch spiegeln diese Beobachtungen keine verminderten Vaterschaften wider. Derzeit ist es nicht klar, ob durch eine frühzeitigere operative Korrektur auch asymptomatischer Patienten diesen ein therapeutischer Nutzen hinsichtlich der Spermiogenese zukommt.
40.3
Das akute Skrotum
40.3.1
Definition
Das akute Skrotum beschreibt ein Krankheitsbild mit den Symptomen Rötung, Schmerz und Schwellung einer oder beider Skrotalhälften (. Abb. 40.5). ! Cave Wegen der Möglichkeit einer Hodentorsion gilt das akute Skrotum immer als Notfall.
40.3.2
Ätiologie und Inzidenz
Hinter einem akuten Skrotum können sich ganz unterschiedliche Differenzialdiagnosen verbergen (. Tab. 40.3). In keinem Fall darf dabei eine Hodentorsion übersehen werden, da diese unmittelbar einer chirurgischen Behandlung bedarf, um den betreffenden Hoden erhalten zu können. Eine Hodentorsion ist in 10–30% der Fälle Ursache eines akuten Skrotums. Am häufigsten bedingen entzünd-
40
510
Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
. Tab. 40.3. Differenzialdiagnose des akuten Skrotums und Differenzialtherapie
40
Differenzialdiagnose
Therapie
Hodentorsion
Operativ möglichst innerhalb 6 h
Hydatidentorsion
Operativ, bei blander Klinik konservativ
Epididymitis
Konservativ antibiotisch, in Ausnahmen operativ
Orchitis
Konservativ
Leistenhernie (inkarzeriert)
Reposition, elektive Herniotomie; ggf. akut operativ
Hydrozele – Hämatozele
Konservativ
Spermatozele
Ggf. elektiv operativ
Trauma
Konservativ (operativ z. B. bei Ruptur)
Insektenstich, -biss
Konservativ
Tumor
Elektiv operativ
Idiopathisches Skrotalödem
Konservativ
Postinflammatorisch reaktiv (z. B. Mittelmehrfieber)
Konservativ
. Abb. 40.5. Klinisches Bild des akuten Skrotum
liche Prozesse wie die Epididymitis, gefolgt von der Hydatidentorsion im Kindesalter ein akutes Skrotum (Stehr et al. 2003). Gelegentlich gelingt eine sichere Diagnose nicht, und im Zweifel bzw. bei nicht sicher möglichem Ausschluss einer vorliegenden Hodentorsion muss die operative Exploration erfolgen. Bis heute ist es für den behandelnden Arzt eine Herausforderung, die richtige Differenzialdiagnose zu stellen und eine dementsprechende Therapie einzuleiten. Er muss Patienten mit einer Hodentorsion rasch identifizieren, ohne den anderen Patienten den primär möglichen konservativen Therapieansatz zu verwehren. Hodentorsion. Die Ätiologie der Hodentorsion ist letztlich
unklar. Diskutiert werden heftige Kremasterkontraktionen während des Schlafes. Häufig finden sich in der Anamnese geringfügige Traumen, die der Torsion vorausgegangen sind. Begünstigend wirken sich eine mangelhafte Obliteration der Tunica vaginalis im Bereich den Nebenhodens und des Samenstranges aus. Dadurch erreicht der Hoden eine hohe Beweglichkeit innerhalb der Hodenhüllen (sog. »Bellclapper«-Deformität). Eine Torsion ereignet sich dann intravaginal. Eine extra- oder supravaginale Torsion wird dagegen eher durch eine mangelnde Fixation des Hodens durch das Gubernakulum begünstigt. Sehr selten findet sich eine isolierte Hodentorsion gegen den Nebenhoden bei ausgeprägter Hoden-Nebenhodendissoziation (. Abb. 40.6). Bei inkompletter Torsion kommt es zunächst zur Drosselung des venösen Abstroms mit konsekutiver Schwellung und schließlich hämorrhagischen Infarzierung. Bei kompletter Torsion (>360°) kommt es durch die plötzliche Unterbrechung der Blutzufuhr zum ischämischen Infarkt.
. Abb. 40.6. Verschiedene Formen der Hodentorsion: extravaginal, intravaginal und isoliert
Epididymitis. Die Epididymitis ist meist bakteriell und kanalikulär aszendierend verursacht. Hierbei kommt es zur Entzündung durch Influx des Harnes in den Ductus deferens (sog. deferentialer Influx). Ein Keimnachweis gelingt allerdings nur selten. Subvesikale Obstruktion z. B. bei hinteren Harnröhrenklappen oder spastischem Sphinkter bei neurogener Blasenentleerungsstörung begünstigen deferentialen Influx und damit eine Epididymitis. Bei rezidivierenden Epididymitiden sollte daher im Intervall dahingehend abgeklärt werden. Die isolierte Orchitis ist hingegen meist hämatogen viral bedingt (z. B. Mumps-Orchitis).
511 40.3 · Das akute Skrotum
Entzündliche Geschehen sind mit über 50% die häufigste Ursache eines akuten Skrotums (Stehr et al. 2003; Diftci et al. 2004). Hydatidentorsion. Eine Hydatide oder Appendix testis
entspricht dem Rest der zurückgebildeten Müller-Gänge und imponiert dem Nebenhoden direkt benachbart meist am Hodenoberpol. Bei Torsion kommt es zur Infarzierung.
40.3.3
Klinik
Die Klinik ist geprägt von der akuten Schmerzsymptomatik. Die Art des Einsetzens des Schmerzes wie die Schmerzeinschätzung selbst sind hier von Bedeutung: Ein in wenigen Minuten rasch einsetzender Schmerz mit bis zu stärkster Intensität deutet möglicherweise auf ein akutes ischämisches Geschehen hin. Nicht selten, vor allem bei Vorliegen einer Hodentorsion, kommt es auch zum Erbrechen. Diese Patienten suchen in aller Regel rasch ärztliche Hilfe. In einer retrospektiven Analyse hatten 69% der Patienten eine Hodentorsion, wenn sie innerhalb der ersten 12 h nach Einsetzen der Schmerzen ärztlich untersucht wurden. Erfolgte die ärztliche Vorstellung und Untersuchung erst danach, waren es nur noch zwischen 8 und 15% (Kadish u. Bolte 1998). Dennoch kann die Klinik in hohem Maße variieren! So können entzündliche Prozesse gelegentlich durchaus klinisch stärker imponieren als eine Hodentorsion. Im weiteren Verlauf kommen zunehmende Schwellung und Rötung des gesamten Skrotums hinzu, wodurch die klinische Untersuchung erschwert wird. Beim sog. idiopathischen Skrotalödem steht die Hautsymptomatik dagegen von vornherein im Vordergrund. Bei diesem Krankheitsbild handelt es sich um eine akut einsetzende starke Schwellung einer oder beider Skrotalhälften, wobei eine ausgeprägte Dolenz der Haut und weniger des Hodens auffällt. Als Ursache kommt am ehesten ein lokales allergisches Phänomen in Frage, die Hoden selbst sind nicht betroffen. Das Ödem klingt meist spontan innerhalb von 2–3 Tagen wieder ab. Akutes Skrotum beim Neugeborenen. Die Symptomatik
ist in diesen Fällen häufig unspezifisch und weniger eindrücklich. Bei entzündlicher Genese fallen neben dem geröteten und geschwollenen Lokalbefund Allgemeinsymptome wie Fieber und eine Erhöhung der Entzündungsparameter auf. In mehr als der Hälfte der Fälle liegt eine Hodentorsion vor, die wiederum in mehr als der Hälfte der Fälle bereits intrauterin stattgefunden hat (Whitaker 1982). Die Klinik ist dann häufig nicht sehr ausgeprägt, der Lokalbefund zeigt im Wesentlichen eine wenig schmerzhafte, derbe Schwellung des Hodens. Diese wird dann nicht selten erst in den nächsten Tagen nach der Geburt bemerkt.
40.3.4
Diagnostik
Ein akutes Skrotum ist immer als Notfall anzusehen. Die Diagnostik muss unverzüglich eingeleitet werden. Nach wie vor ist neben der Erhebung der Anamnese die klinische Untersuchung von größter Bedeutung. Eine apparative Untersuchung mittels Doppler-Sonographie (seltener Hodenszintigraphie) sollte immer durchgeführt werden um die Durchblutungssituation beurteilen zu können. Ein hohes Maß an Erfahrung, aber auch eine moderne apparative Ausstattung sind gerade bei der Sonographie Voraussetzung für die Beurteilung der verschiedenen Differenzialdiagnosen. Im Zweifel muss, wie oben erwähnt, der Hoden freigelegt werden.
Anamnese Die Anamnese kann Hinweise auf die verschiedenen Differenzialdiagnosen liefern. Die Hodentorsion hat zwei typische Altersgipfel: in der Neugeborenperiode und peripubertär (Kadisch u. Bolte 1998). Die Hodentorsion ereignet sich häufig in den frühen Morgenstunden mit akut einsetzender Symptomatik. Typischerweise steigert sich dabei der Schmerz im weiteren Verlauf, nicht selten kommt es zum Erbrechen. Dabei ist das Symptom Erbrechen bei akutem Skrotum ein signifikanter klinischer Parameter für das Vorliegen einer Hodentorsion mit einem positivem Vorhersagewert von 74% (bei Vorliegen einer Torsion der Appendix testis nur 18%, bei einer Epididymitis lediglich 9%; Ciftci et al. 2004). Ein schleichender, subakuter Beginn über mehrere Tage spricht hingegen eher für ein entzündliches Geschehen, auch werden hier oft intermittierende Schmerzen angegeben. ! Cave Allerdings ist auch eine intermittierende Hodentorsion mit spontaner Detorsion bekannt und mit in die Differenzialdiagnose einzubeziehen.
Klinische Untersuchung An erster Stelle steht die Beurteilung der Hodenlage (Brunnel-Zeichen): Bei einer Hodentorsion ist der Hoden hochskrotal, oft quer liegend zu tasten. Der Kremasterreflex ist typischerweise aufgehoben. Die hohe und quere Hodenlage wie der fehlende Kremasterreflex sind ebenfalls signifikante klinische Parameter in der Beurteilung eines akuten Skrotums. Ein hochskrotal quer zu tastender Hoden ohne auslösbaren Kremasterreflex ist bei akutem Skrotum mit einem positivem Vorhersagewert von über 80% torquiert (Ciftci et al. 2004). Eine orthotope Lage mit intaktem Kremasterreflex spricht eher gegen eine Hodentorsion, allerdings sind die Untersuchungsbedingungen oft bei hoher Schmerzhaftigkeit und fortgeschrittener Schwellung eingeschränkt. Ebenso eingeschränkt beurteilbar ist das sog. Prehn-Zeichen: Hierbei werden die Schmerzen im Falle einer Epididymitis bei Anheben des Hodens gelindert, bei einer Torsion bleiben sie unverändert bestehen.
40
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Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
Weiters sollte der Hoden und der Nebenhoden direkt auf Konsistenz und Druckschmerzhaftigkeit hin palpiert werden. Bei Vorliegen einer stielgedrehten Hydatide kann man bei nicht zu starker Schwellung der Skrotalhaut diese schwarz und infarziert hindurch schimmern sehen (sog. »Blue-dot«-Zeichen). Bei hochgradigem Verdacht auf Vorliegen einer Hodentorsion kann eine manuelle Detorsion (nach lateral, da der Hoden meist nach medial torquiert) insbesondere bei älteren Patienten versucht werden. Auch bei Erfolg mit akuter Schmerzlinderung ist die unverzüglich anschließende operative Freilegung obligat. Wenn auch die Anamnese wie die körperliche Untersuchung die wichtigsten diagnostischen Schritte sind, gelingt hierdurch allerdings eine korrekte Diagnose bei vorliegender Hodentorsion nur in etwa 88%, d. h. 12% werden klinisch fehldiagnostiziert. Hydatidentorsionen oder Epididymitiden sind klinisch noch schwieriger zu diagnostizieren (Mushtaq et al. 2003). Um eine explorative Hodenfreilegung möglichst zu vermeiden, muss das akute Skrotum daher zusätzlich apparativ untersucht werden.
Sonographie Die Sonographie steht im Rahmen der apparativen Untersuchungen des akuten Skrotums an erster Stelle. Moderne Technik mit gepulstem Doppler-Modus, ein Linearschallkopf mit mindestens 10 MHz mit dementsprechend hoher Auflösung sowie große Erfahrung seitens des Untersuchers sind hierbei Vorraussetzung. Im B-Mode lassen sich der Hoden und Nebenhoden auf die Größe und Echotextur gut untersuchen, eine stielgedrehte Hydatide kann oft dargestellt werden (. Abb. 40.7). Der Hoden selbst muss auf etwaige Tumoren oder Infiltrate (z. B. leukämisch) hin untersucht werden. In der Duplex-Sonographie wird die Perfusion im Nebenhoden und im Hodenparenchym beurteilt. Bei entzündlichen Geschehen wie einer Epididymitis zeigt
sich eine deutliche Hyperperfusion des Nebenhodens wie auch eine als reaktiv zu bezeichnende Hyperperfusion des Hodens selbst (. Abb. 40.8). Es sollten nicht nur die perfundierten Gefäße selbst dargestellt werden, sondern die Blutflussgeschwindigkeiten exakt systolisch (Vmax) und enddiastolisch (Vdiast) gemessen werden. Aus diesen Werten lässt sich der Resistive-Index (RI) errechnen, der ein Maß für den Gewebewiderstand und damit für eine suffiziente Perfusion darstellt. Werte unter 0,7 gelten als normal, darüber als pathologisch. Bei Werten über 0,7 wird der Gewebewiderstand z. B. ödembedingt so hoch bzw. die endiastolische Blutflussgeschwindigkeit so niedrig, dass hier lediglich nur noch eine insuffiziente »Pendelperfusion« vorliegt. Ebenso muss der Untersucher darauf achten, Gefäße möglichst zentral im Hodenparenchym zu messen. Gefäße am Hodenrand entsprechen oft Arterien der Hodenhüllen, die auch bei vorliegender Hodentorsion eine Perfusion aufweisen können (. Abb. 40.9). Ebenso dürfen Reperfusionsphänomene, die nach lange bestehender Hodentorsion (>24 h) beobachtet werden können, nicht zu einem falsch-positiven Befund führen. Mit einer Sensitivität von etwa 92% und einer Spezifität von etwa 98% kann sonographisch und dopplersonographisch eine Hodentorsion als ischämische Ursache des akuten Skrotums diagnostiziert bzw. ausgeschlossen werden (Stehr et al. 2003). ! Cave Wegen der Möglichkeit eines falsch-positiven Ultraschallbefundes (falsch dargestellte Perfusion bei vorliegender Ischämie) darf das Ergebnis der Ultraschalluntersuchung nicht alleinig ausschlaggebend sein für die Entscheidung, weiter konservativ oder operativ vorzugehen.
Vielmehr muss die Sonographie mit dem klinischen Eindruck übereinstimmen: Besteht klinisch der Verdacht auf Hodentorsion und zeigt sich dopplersonographisch keine Perfusion, ist die sofortige Hodenfreilegung sicher indiziert. Besteht klinisch allerdings der Verdacht, dass es sich eher nicht um eine Hodentorsion handelt und zeigt sich dopplersonographisch eine gut darstellbare Perfusion des Hodens, kann konservativ z. B. durch Antibiotikagabe bei Verdacht auf Epididymitis vorgegangen werden. Schon aus forensischen Gründen sind vor der Ära dieser zusätzlichen Untersuchungsmöglichkeit wesentlich mehr Hodenfreilegungen (bis nahe 100%) bei akutem Skrotum durchgeführt worden, worin der eigentliche Wert dieser Untersuchungsmethode erkennbar wird.
Szintigraphie
. Abb. 40.7. Sonographie des Hodens bei stielgedrehter Hydatide testis
Die Hodenszintigraphie ist hinsichtlich der Aussagekraft über die Perfusionssituation der Hoden prinzipiell sicher gleichwertig zur Sonographie anzusehen. Aufgrund der höheren Invasivität, des größeren apparativen Aufwandes und einer schlechteren Verfügbarkeit hat diese Untersuchungsmethode heute weitgehend an Bedeutung verloren.
513 40.3 · Das akute Skrotum
. Abb. 40.8. Reaktive Hyperperfusion des Hodenparenchyms bei entzündlicher Genese
. Abb. 40.9. Dopplersonographie bei Hodentorsion: Intraparenchymal sind keine Flussmuster mehr ableitbar. Beachte die mögliche Restperfusion der Hodenhüllen am oberen Bildrand
Weiterführende Diagnostik Bei entzündlicher Ätiologie kann das Blutbild dementsprechend verändert sein. Meist ist es aber unspezifisch. Eine Epididymitis ist ggf. mit einer Harnwegsinfektion vergesellschaftet. Eine Urinkultur sollte vor Therapiebeginn gewonnen werden. Ein Keimnachweis gelingt dabei allerdings nur selten. Bei rezidivierenden Epididymitiden sollte zum Ausschluss einer Harnröhrenpathologie eine Röntgen-Miktionszysturethrographie (MCU) durchgeführt werden. Auch kann ein Zystomanometrie (CMM) in Fällen neurogener oder nicht-neurogener Blasenentleerungsstörung wertvolle Hinweise liefern.
40.3.5
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der Ätiologie (. Tab. 40.3). Oberstes Gebot ist es, eine Hodentorsion nicht zu übersehen und so rasch als möglich operativ freizulegen. Dem inguinalen Zugang ist gegenüber dem skrotalem der Vorzug zu
geben. Die Übersicht ist wesentlich besser, und ein gleichzeitig nicht obliterierter Processus vaginalis kann mit versorgt werden. Nach Freilegung und Detorquierung wird intraoperativ die Erholung des Hodens beurteilt (. Abb. 40.10) Manchmal ist es sinnvoll, die Hodenkapsel und das Parenchym zu inzidieren. Nach einiger Zeit kann ggf. eine Blutung aus dem Parenchym als Zeichen der Reperfusion gesehen werden (. Abb. 40.11). Bei sichtbarer Erholung erfolgt die Orchidopexie, bei kompletter Infarzierung die Ablatio testis. Die Entscheidung hierbei ist oft nicht einfach. Gegen einen zu großzügig indizierten Erhaltungsversuch sprechen die Gefahr der Abszedierung und die Möglichkeit der sog. sympathischen Orchidopathie (s. unten). Für den Erhalt auch teilgeschädigter Hoden spricht die Tatsache, dass die Leydig-Zwischenzellen wesentlich robuster sind und eine Hormonproduktion später noch erwartet werden kann. Bei einer Hodentorsion muss zudem die Gegenseite prophylaktisch pexiert werden, bei starker begleitentzündlicher Reaktion des Skrotums spätestens im Intervall nach etwa 4 Wochen.
40
514
Kapitel 40 · Erkrankungen des Hodens
40
. Abb. 40.10. Klinischer Befund einer vollständigen Hodentorsion vor Detorquierung
didymitis spricht in aller Regel gut auf intravenöse Antibiotikatherapie an. Bei präpubertären Knaben finden sich ganz überwiegend Enterobacteriaceae als auslösende Erreger, bei Jugendlichen seltener auch Chlamydia trachomatis oder Neisseria gonorrhoeae. Eine Epididymitis kann auch postinfektiös reaktiv inflammatorisch bedingt sein. Als typisches Beispiel wäre hier das Mittelmehrfieber zu nennen und bei betroffenen Knaben aus diesen Ländern sollte daran gedacht werden. Analgetika und Antiphlogistika sind in diesen Fällen ausreichend. Bei den bakteriell bedingten Epididymitiden sind Cephalosporine der (z. B. Cephalexin) oder Amoxicillin/Clavulansäure Mittel der ersten Wahl, bei Jugendlichen ab der Pubertät auch Gyrasehemmer. Wegen der Gram-negativen Lücke sollte Clindamycin nicht verabreicht werden. Dabei kann es aber durchaus sinnvoll sein, auch eine Epididymitis bei drohender Abszessbildung freizulegen und zu spülen. Der Krankheitsverlauf wird günstig beeinflusst und abgekürzt. Prinzipiell gleiches gilt für die Hydatidentorsion: Bei dementsprechender Klinik sollte nicht konservativ vorgegangen werden, sondern die stielgedrehte Hydatide abgetragen werden. Die Kinder sind dann tags darauf oftmals wieder beschwerdefrei.
40.3.6
. Abb. 40.11. Nach einer Erholungszeit von etwa 20 min nachweisbare Reperfusion des Hodenparenchyms. Ggf. kann hierzu die Hodenkapsel eröffnet werden
Obwohl bei geringsten Zweifeln an der Diagnose (Ausschluss Hodentorsion) die Hodenfreilegung durchzuführen ist, darf dennoch an dieser Stelle der unkritischen Operation nicht das Wort geredet werden. Bei dementsprechender Erfahrung, Untersuchung und apparativer Diagnostik müssen etwa 30% aller Fälle eines akuten Skrotums operiert werden. 70% der Fälle können also konservativ behandelt werden. Hierbei kommen lokale Maßnahmen wie Umschläge und Hodenbänkchen, ggf. Antibiotika und nicht-steroidale Antiphlogistika zum Einsatz. Die Epi-
Prognose
Bei einer Hodentorsion sind histologische Veränderungen bereits nach etwa 2 h Ischämiezeit nachzuweisen. In der Folge ist meist eine teilweise Hodenatrophie zu beobachten. Die Spermiogenese ist dabei als erste betroffen, die Hormonproduktion bleibt länger erhalten. Dennoch sind bei Patienten nach Hodentorsion im Langzeitverlauf in bis zu 2/3 der Fälle abnorme Werte für LH/FSH und Testosteron nachweisbar (Chiang et al. 2007). Während bei einer bis zu 5 h andauernden Ischämiezeit der Hoden in 80% erhalten werden kann, gelingt dies nach 10 h nur noch in 20% (Melchior u. Müller 2000). Hodenatrophie ist sichere Folge und möglicherweise auch eine sympathische Orchidopathie der Gegenseite, bei der der gesunde Hoden durch zirkulierende Antikörper auf humoralem Weg geschädigt wird. Bei mehr als der Hälfte der Patienten nach Hodentorsion lassen sich auch Antikörper gegen körpereigene Spermien nachweisen (Chiang et al. 2007). Nach 6 h Ischämiezeit erscheint heute ein Organerhalt nicht mehr sinnvoll. Trotz möglicherweise pathologischer Hormonwerte oder auch pathologischem Spermiogramm ist die spätere Fertilität nach einseitiger Hodentorsion (mit oder ohne Organerhalt) klinisch nicht eingeschränkt. Ernst nehmen muss man die Epididymitis hinsichtlich der Ausbildung späterer Sterilität. Bei rezidivierenden Entzündungsprozessen muss mit einer Vernarbung des Nebenhodens und des Ductus deferens gerechnet werden.
515 40.3 · Das akute Skrotum
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40
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41
41 Erkrankungen der weiblichen inneren Genitalorgane S. Glüer
41.1
Zysten und Raumforderungen des Ovars – 517
41.1.1 41.1.2
Zysten des Ovars – 517 Tumoren des Ovars – 519
41.2
Erkrankungen der Vagina und des Uterus – 520
41.2.1 41.2.2
Vaginitis – 521 Synechien der kleinen Labien
41.2.3 41.2.4 41.2.5 41.2.6 41.2.7 41.2.8
Kongenitale vaginale Obstruktionen – 521 Vaginalagenesien – 521 Doppelbildungen von Uterus und Vagina – 522 Persistierender Sinus urogenitalis – 523 Kloakale Fehlbildungen – 523 Tumoren der Vagina und des Uterus – 524 Literatur – 524
– 521
> Erkrankungen des Ovars im Kindesalter beschränken sich fast ausschließlich auf zystische oder solide Raumforderungen unterschiedlicher Dignität. Bei Säuglingen und Kleinkindern sind die Ovarien im Bauch gelegen und deszendieren bis zur Pubertät in das kleine Becken. Daher fallen ovarielle Raumforderungen bei Kindern häufig als abdominelle Tumoren auf. Aufgrund der schmalen Aufhängung an der seitlichen Beckenwand und dem Uterusfundus sind die Ovarien, wenn sie vergrößert sind, zudem häufig sehr mobil und können torquieren (Adkins 2005).
41.1
Zysten und Raumforderungen des Ovars
41.1.1
Zysten des Ovars
Ätiopathogenese. Ovarialzysten können durch verschiedenartige hormonelle Stimulation entstehen. Bereits pränatal ist der Fetus einem komplizierten Wechselspiel zwischen eigenen und mütterlichen Hormonen und Rückkopplungen an Hypophyse und Hypothalamus ausgesetzt. Das führt zu einem physiologischen Nebeneinander von Atrophie und Wachstum innerhalb der Keimanlagen, was die Entstehung von Zysten begünstigen kann. Inzidenz. Man findet in der pränatalen Ultraschalldiagnostik häufig zystische Strukturen am Ovar, bei etwa einem Drittel aller Feten auch größer als 1 mm. Die postnatale
Inzidenz klinisch relevanter größerer Ovarialzysten ist mit 1:2500 Geburten deutlich geringer, was darauf zurückzuführen ist, dass diese eine hohe spontane Rückbildungstendenz haben oder als Folge einer intrauterinen Torsion und Nekrose resorbiert werden und deshalb postnatal nicht mehr nachweisbar sind. Klinik und Diagnostik. Klinisch imponiert eine Ovarialzys-
te beim Neugeborenen als schmerz- und auch sonst symptomlose, mobile, häufig tastbare Raumforderung im Mittelbis Unterbauch. Sonographisch sieht man eine unterschiedlich große, echofreie zystische Raumforderung mit dünner Wand und häufig kleinere weitere Zysten (. Abb. 41.1). Der fehlende Nachweis des ipsilateralen Ovars kann ein weiterer Hinweis auf eine Ovarialzyste sein bei Unsicherheit gegenüber Differenzialdiagnosen wie Darmduplikaturen, Mesenterialzysten, Choledochuszysten oder Lymphangiomen. Gelegentlich sieht man auch Septierungen und Sedimentationen, wohl als Folge von Einblutungen in die Zyste (Servaes et al. 2007). Die wichtigste und nahezu einzige Komplikation einer Ovarialzyste ist die Ovarialtorsion mit Autoovarektomie (Rousseau et al. 2008). Diese hat häufig bereits intrauterin stattgefunden, so dass man im Falle einer postnatalen Operation dann häufig kein funktionierendes ovarielles Gewebe mehr findet. Insbesondere Zysten von über 4–5 cm Durchmesser wird eine erhöhte Torsionsneigung zugesprochen (Ghezzi et al. 2008). Mechanische Komplikationen wie Ernährungsschwierigkeiten, Ileuszustände,
518
Kapitel 41 · Erkrankungen der weiblichen inneren Genitalorgane
! Cave Bei präpubertären Kindern jenseits der Neugeborenenperiode sind Ovarialzysten selten. Eine Raumforderung am Ovar in dieser Altersgruppe ist daher immer verdächtig auch auf einen potenziell malignen Ovarialtumor.
41
Ovarialzysten in der Pubertät. Bei Mädchen um die Puber-
. Abb. 41.1. Ultraschallbild einer Ovarialzyste mit kleinen weiteren Zysten
Ruptur der Zyste oder Komplikationen durch Einblutung sind extrem selten. Therapie. In Ermangelung prospektiver randomisierter
Studien gibt es derzeit keine klaren Handlungsanweisungen für Kinder mit asymptomatischen Ovarialzysten. Eine pränatale intrauterine Punktion der Zyste scheint bei einseitigen Befunden nicht gerechtfertigt, da es zum einen rasch zu einem Rezidiv der Zyste kommen kann, zum anderen ein signifikanter Vorteil dieses Vorgehens hinsichtlich des Ovarerhaltes im Vergleich zum konservativen Zuwarten bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Ovarialzysten unter 4 cm Durchmesser bei asymptomatischen Neugeborenen sollten nach 4 Wochen sonographisch kontrolliert werden. Ist die Zyste größer als 4 cm, sollte nach 2 Wochen die erste Ultraschallkontrolle und bei Größenzunahme dann eine laparoskopische Zystektomie erfolgen. Ist der Befund stationär oder gar regredient, kann weiter konservativ mit regelmäßigen Ultraschalluntersuchungen vorgegangen werden. Sollte die Ovarialzyste bis zum Ende des ersten Lebensjahres persistieren, ist wiederum eine laparoskopische Zystektomie zum Nachweis bzw. Ausschluss eines zystischen Teratoms indiziert. Bei nicht spontan regredienten Ovarialzysten und insbesondere bei beidseitigen Befunden sollten Hormonuntersuchungen (z. B. HCG, Östrogene, LH, FSH) im Blut erfolgen, um symptomatische Zysten bei z. B. hormonproduzierenden Tumoren zu erfassen.
tät herum werden Ovarialzysten häufig gesehen. Pathologisch vergrößerte Follikel verursachen eigentlich keine Beschwerden. Treten diese dennoch auf, ist dies ein Hinweis auf eine ovarielle Torsion. Eine akute Torsion verursacht ein Symptombild wie bei akuter Appendizitis mit starken Unterbauchschmerzen, Erbrechen, Druck- und Loslassschmerz. Es besteht die Indikation zu einer notfallmäßigen Laparoskopie mit Detorquierung und möglichst ovarerhaltender Zystektomie (Arena et al. 2008). Bei Ovarialzysten, die chronische Beschwerden verursachen, kann durch Verabreichung von oralen Gestagenen eine Reduktion der Zystengröße erreicht werden. Unilokuläre Zysten bis 5 cm ohne klinische Symptome und ohne Wachstumstendenz stellen keine Therapieindikation dar. Einteilung. Zysten des Ovars können in Follikelzysten, sim-
ple Zysten, Corpus-luteum-Zysten, endometroide Zysten (sog. Schokoladenzysten) und paraovarische Zysten kategorisiert werden: 4 Follikelzysten und simple Zysten sind die häufigsten Formen und kommen in allen Altersgruppen vor. Gelegentlich produzieren Follikelzysten erhebliche Mengen an Östrogenen, was zu Zeichen einer vorzeitigen Pubertät führen kann. 4 Corpus-luteum-Zysten kommen nur bei postmenarchalen Mädchen vor und können ebenfalls hormonaktiv mit Symptomen wie chronisch rezidivierenden Unterbauchschmerzen und Menstruationsstörungen sein. 4 Endometroide Zysten führen zu zyklusabhängig rezidivierenden Einblutungen in das Ovarparenchym und imponieren intraoperativ als mit bräunlichem altem und frischem Blut gefüllte, sog. Schokoladenzysten. 4 Paraovarische Zysten gehen nicht vom Ovar, sondern vom Epoophoron aus und liegen in der Mesosalpinx. Sie verursachen normalerweise keine Symptome und sind in der Bildgebung nicht von Ovarialzysten zu unterscheiden. > Zysten des Ovars werden häufig schon pränatal diagnostiziert und können im Verlauf intrauterin und postnatal spontan regredieren. Eine Torsion kann bereits intrauterin zu einer Autoamputation des betroffenen Ovars führen. Dennoch erscheint die intrauterine Punktion von Ovarialzysten nicht gerechtfertigt. Auch post-
6
519 41.1 · Zysten und Raumforderungen des Ovars
natal werden Ovarialzysten möglichst konservativ behandelt. Verursacht der Befund allerdings klinische Symptome oder ist er von der Größe zunehmend, besteht die Indikation zu einer laparoskopischen, möglichst ovarerhaltenden Zystektomie. Bei Kleinkindern bis zur Pubertät sind Ovarialzysten sehr selten. Um die Pubertät herum sind sie häufig zu finden und verursachen bei einer Torsion akute Unterbauchbeschwerden. Dann besteht die Indikation zu einer sofortigen Laparoskopie mit Detorsion und möglichst ovarerhaltender Zystekomie.
41.1.2
Tumoren des Ovars
Tumoren des Ovars machen mit 60–70% den Hauptanteil an gynäkologischen Raumforderungen, aber lediglich 2% aller Arten maligner Tumoren im Kindesalter aus. Die Altersverteilung hängt von der Art des Tumors ab. Grundsätzlich sind nur selten Säuglinge und Kleinkinder, sondern überwiegend Schulkinder und Adoleszente betroffen. 97% aller Ovarialtumoren bei Kindern unter 8 Jahren sind benigne, bei älteren Kindern nur noch 10–40% (Stankovic et al. 2006). Zwei Drittel aller Fälle sind Keimzelltumoren (Teratome, Dysgerminome, Dottersacktumoren, embryonale Karzinome, Choriokarzinome), der Rest verteilt sich auf Tumoren des sexuell differenzierten Mesenchyms (Keimstrangstromatumoren, z. B. Granulosa-Thekazellund Sertoli-Leydig-Zelltumoren), epitheliale Tumoren und Gonadoblastome (Schultz et al. 2006). Die histologische Einordnung der Ovarialtumoren erfolgt gemäß der aktuellen WHO-Klassifikation (2003), die Stadieneinteilung nach dem TNM- bzw. FIGO-System. Viele Tumorarten produzieren spezifische Marker, deren Erhöhung im Serum dann ein Hinweis auf die Histologie des Tumors sein kann. Für kindliche Tumoren des Ovars relevant sind das α-Fetoprotein (α-FP) aus fetalen Zellen im Tumor (z. B. Dottersacktumor, Choriokarzinom, Teratokarzinom) und das β-HCG aus Synzytiotrophoblasten (z. B. Dysgerminom, Dottersacktumor, Choriokarzinom, embryonales Karzinom). Diese Marker werden nicht nur zur Diagnostik, sondern auch während und nach der Therapie als Verlaufsparameter verwendet (Adkins 2005).
Teratome Einteilung. Teratome (7 Kap. 46) können solide, zystisch oder gemischt zystisch-solide sein. Sie werden histologisch in reife und unreife Formen und Formen mit malignen Komponenten klassifiziert.
auch metachron. Der Altersgipfel von Ovarialteratomen liegt bei Kindern zwischen 6 und 15 Jahren, bei Kindern unter 2 Jahren sind sie extrem selten. Klinik und Symptomatik. Klinisch fallen die Kinder mit
einem tastbaren (Unter-) Bauchtumor und/oder Bauchschmerzen auf. Meist haben die Tumoren bei Diagnosestellung schon eine stattliche Größe (> 10-15 cm) erreicht. Gelegentlich führt eine Torsion des betroffenen Ovars zu akuten Bauchschmerzen und Erbrechen. Im Ultraschall stellen sich Teratome als gut durchblutete Raumforderungen mit soliden und zystischen Komponenten und meist mit Verkalkungen (in ca. 50% der Fälle) dar. Therapie. Die chirurgische Resektion des Teratoms ist die Therapie der Wahl. Dieses wird häufig in Form einer Salpingooophorektomie durchgeführt. Bei beidseitigem Befall sollte zum Erhalt der hormonellen und reproduktiven Funktion allerdings unbedingt ovarkonservierend vorgegangen werden. Ob dieses auch für einseitige reife Teratome gilt, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Klinische Beobachtungsstudien bei erwachsenen Patienten haben ergeben, dass nach ovarerhaltender Resektion von gutartigen zystischen Teratomen die Rezidivrate lediglich bei 3–4% lag. Intraoperativ muss eine peritoneale Aussaat des Teratoms (Gliomatosis peritonei) ausgeschlossen bzw. bewiesen werden, die man sich durch eine Kapselruptur mit Verschleppung und Implantation von Teratomzellen erklärt. Diese Neigung von Teratomzellen muss auch bei der technischen Durchführung der Operation bedacht werden. Die Therapie unreifer und maligner Teratome wird durchgeführt in Abhängigkeit vom Reifegrad, von der Größe, vom Stadium und davon, ob sie im Serum messbare Tumormarker (α-FP, β-HCG) produzieren, in enger interdiziplinärer Kooperation mit pädiatrischen Onkologen: Meist erfolgt vor der chirurgischen Resektion nach Diagnosestellung und Staging durch weitere Bildgebung (MRT, CT) eine Chemotherapie zur Verkleinerung des Primärtumors. Die Chemotherapie wird postoperativ fortgeführt. > Nach der Therapie eines Teratoms müssen die Patientinnen regelmäßig klinisch, laborchemisch (α-FP, β-HCG) und sonographisch nachuntersucht werden, um das Auftreten eines Rezidivs oder eines metachronen Keimzelltumors an anderer Lokalisation rechtzeitig zu erkennen.
Maligne Keimzelltumoren
Inzidenz. Das Ovar stellt nach der Steißbeinregion die
Zu den malignen Keimzelltumoren (7 Kap. 46) gehören in abnehmender Häufigkeit das Dysgerminom, der Dottersacktumor, das embryonale Karzinom und das Choriokarzinom.
zweithäufigste Lokalisation von Teratomen dar. Etwa 50% aller Tumoren des Ovars im Kindesalter sind Teratome. In 10% der Fälle sind beide Ovarien betroffen, gelegentlich
Dysgerminome. Dysgerminome entstehen aus undifferenzierten primordialen Keimzellen. Sie werden am häufigsten
41
520
41
Kapitel 41 · Erkrankungen der weiblichen inneren Genitalorgane
bei präpubertären Kindern und Adoleszenten diagnostiziert. In 5–30% treten sie bilateral auf. Dysgerminome sind hormonell inaktiv und wachsen nicht sehr aggressiv. Es können lymphogene oder hämatogene Metastasen auftreten. Die Therapie besteht aus Chemotherapie und chirurgischer Resektion. Dysgerminome sind strahlensensibel. Insgesamt ist die Prognose mit über 90%-igen Überlebensraten exzellent. Dottersacktumoren. Dottersacktumoren (endodermale Sinustumoren) sind durch aggressives, rasches Wachstum und frühe Metastasierung charakterisiert. Sie treten ebenfalls typischerweise bei Teenagern und jungen Erwachsenen auf. Dottersacktumoren produzieren α-Fetoprotein, das als Tumormarker zum Therapie- und Rezidivmonitoring verwendet werden kann. Die Tumoren sind relativ strahlenresistent. Durch aggressive Chemotherapie und chirurgische Resektion des Tumors können heute GesamtÜberlebensraten bis zu 70% erreicht werden. Embryonale Karzinome. Sie kommen häufig als Mischformen mit anderen malignen Keimzelltumoren vor. Sie produzieren α-FP und β-HCG, was klinisch zu Endokrinopathien mit Menstruationsstörungen, vorzeitiger Pubertät und Hirsutismus führen kann. Die Therapie besteht aus aggressiver Chemotherapie und chirurgischer Resektion.
Vergrößerung der Labien, Schambehaarung, akzeleriertem Längenwachstum und erhöhtem Knochenalter im Vergleich zum chronologischen Alter. Charakteristisch sind neben den hohen Östrogenwerten niedrige Gonadotropinund hohe Inhibin- und »Müllerian-inhibiting-substance«Werte im Serum. Aufgrund der eindrucksvollen Symptome werden fast alle Granulosa-Thekazelltumoren in einem lokal begrenzten Stadium diagnostiziert, was eine exzellente Prognose (80- bis 95%-ige Überlebensraten) bedingt. Sertoli-Leydig-Zelltumor. Mädchen mit Sertoli-Leydig-
Zelltumoren (Androblastome) zeigen meist neben dem Bauchtumor Zeichen einer Virilisierung mit Hirsutismus, Klitorishypertrophie, vermehrtem Längenwachstum, akzeleriertem Knochenalter und Stimmbruch durch exzessive Produktion von Testosteron. Es gibt auch nicht hormonell aktive Formen. Sertoli-Leydig-Zelltumoren sind selten (0.5% aller Ovarialtumoren) und machen nur ca. 10% aller Keimstrangstromatumoren aus. Auch diese Tumoren fallen meist in niedrigen Stadien auf und haben insgesamt eine gute Prognose.
Epitheliale Tumoren
Choriokarzinom. Das Choriokarzinom ist der seltenste maligne Keimzelltumor. Choriokarzinome sind wiederum hochmaligne, hormonell aktiv und produzieren β-HCG. Das führt neben einem rasch wachsenden Bauchtumor zu prämaturer Pubertät bei präpubertären Kindern und zu Zyklusstörungen bei postmenarchalen Mädchen. Choriokarzinome sprechen relativ schlecht auf Chemotherapie und Bestrahlung an.
Epitheliale Tumoren, die häufigste Ovarialtumorart bei Erwachsenen, machen nur 15% aller Ovarialtumoren im Kindesalter aus. Jenseits des 16. Lebensjahrs liegt ihr Anteil schon bei 30–35%. Epitheliale Tumoren werden weiter unterteilt in seröse, muzinöse, endometroide, klarzellige, Brenner-Tumoren, gemischt epitheliale, undifferenzierte und unklassifizierte epitheliale Tumoren. Die Stadieneinteilung erfolgt nach dem FIGO-System. Die Ausbreitung erfolgt zunächst lokal und dann über das Lymphgefäßsystem. Die Therapie besteht aus einer Kombination von Chemotherapie und chirurgischer Resektion, die Prognose hängt vom histologischen Subtyp und dem Stadium ab.
Keimstrangstromatumoren
Gonadoblastome
Keimstrangstromatumoren gehen von Vorläuferzellen des sexuell differenzierten Mesenchyms aus. Dieses totipotente Gewebe kann sich in verschiedene Richtungen entwickeln und sowohl Granulosa-, Theka-, als auch Sertoli- und Leydig-Zellen bilden. Wesentliches Charakteristikum ist die exzessive Produktion von Sexualhormonen. Im ersten Dezennium überwiegen Östrogen-produzierende Formen, im zweiten Dezennium Androgen produzierende. Keimstrangstromatumoren machen 13-18% aller Ovarialtumoren im Kindesalter aus.
Gonadoblastome entstehen fast ausschließlich in dysgenetischen Gonaden (Pseudohermaphroditismus masculinus, 46XY, 45X0 Mosaik und gemischte Gonadendysgenesie). Kinder mit gemischter Gonadendysgenesie haben ein 25%-iges Risiko, ein Gonadoblastom zu entwickeln. Die Tumoren sind meistens auf das Ovar beschränkt und eine chirurgische Resektion therapeutisch ausreichend. Aufgrund des Risikos eines Gonadoblastoms auf der Gegenseite sollten immer beide Gonaden entfernt werden.
Granulosa-Thekazell-Tumor. Der häufigste Vertreter (ca.
41.2
80% der Fälle) der Keimstrangstromatumoren ist der Granulosa-Thekazell-Tumor. 44% der Patientinnen fallen im Alter <10 Jahren auf, 97% sind unter 30 Jahre alt. Klinisch imponieren bei den Kindern neben dem Bauchtumor die Folgen der exzessiven Östrogenproduktion mit isosexueller prämaturer Pubertät wie Thelarche, vaginalen Blutungen,
Der weibliche Genitaltrakt entsteht aus den paarigen (paramesonephrischen) Müller-Gängen. Diese entwickeln sich in Abwesenheit von »Müllerian inhibiting substance« und Testosteron während der 6. bis 8. Embryonalwoche, kreuzen
Erkrankungen der Vagina und des Uterus
521 41.2 · Erkrankungen der Vagina und des Uterus
den Wolff-Gang und vereinigen sich in der Mittellinie. Diese Fusion erfolgt in kraniokaudaler Richtung und bildet ab der 10. Woche den uterovaginalen Kanal, der am Müller-Hügel Anschluss an den Sinus urogenitalis gewinnt. Der uterovaginale Kanal entwickelt sich zu Fundus und Korpus uteri und zur Zervix, der laterale, nicht fusionierte Teil der Müller-Gänge zu den Tubae uterinae. Während die proximalen 2/3 der Vagina ebenfalls Müllerschen Ursprungs sind, entsteht der distale Teil der Vagina aus dem Sinus urogenitalis. Die komplizierten Vorgänge bei der Formung der distalen Vagina sind nicht endgültig geklärt. Aus dem Müller-Hügel, dem Anschluss des uterovaginalen Kanals an den Sinus urogenitalis, entwickelt sich ab der 15. Woche die primitive Vaginalplatte, die sich bis zur 20. Woche kanalisiert und den distalen Teil der Vagina bildet. Störungen können während der Entstehung, Fusion und Kanalisation der Müller-Gänge auftreten. Dieses kann zu Agenesien, Duplikaturen und zur Bildung von Vaginalatresien/-septen führen. Die enge räumliche Nachbarschaft von Müller- und Wolff-Gangsystem während der Entwicklung bedingt, dass Störungen beide Systeme betreffen können (Adkins 2005).
41.2.1
Vaginitis
Klinik und Diagnostik. Eine Vaginitis fällt bei Kindern durch
Ausfluss, lokale Rötung, Juckreiz, Schmerzen und Dysurie auf. Häufigster Grund hierfür sind Unverträglichkeiten gegenüber Waschmitteln und Badezusätzen. Infektionen mit Bakterien, Pilzen, Viren und Parasiten sind eher selten. Therapie. Infektionen sollten nach Diagnosestellung möglichst resistenzgerecht und gezielt therapiert werden. Ursache für eine hartnäckige Vaginitis können darüber hinaus Fremdkörper sein, die durch meist eigene Manipulation des Mädchens in die Vagina gelangt sind. Sie müssen vaginoskopisch in Allgemeinnarkose diagnostiziert und komplett entfernt werden.
41.2.3
Vaginale Obstruktionen entstehen wahrscheinlich durch eine inkomplette Kanalisation der Vagina während dem 5. Entwicklungsmonat (Nazir et al. 2006). Die häufigste und distalste Form der vaginalen Obstruktionen stellt das imperforierte Hymen dar, weniger häufig finden sich weiter proximal gelegene, transversale Vaginalsepten. Klinik und Diagnostik. Die distale Obstruktion kann unter
hormonellem Einfluss perinatal und in der Pubertät durch Retention von Blut und Schleim zu einer grotesken Erweiterung der Vagina (Hydrokopos) und des Uterus (Hydrometrokolpos) führen. Dann haben die Kinder einen tastbaren Tumor im medianen Unterbauch, der in der Pubertät mit zyklisch auftretenden Bauchschmerzen und primärer Amenorrhö vergesellschaftet ist. Durch einen Reflux von uteriner Flüssigkeit durch die Tuben kann es zu schmerzhaftem, blutigem Aszites kommen. Bei der vaginalen Inspektion fallen das vorgewölbte, verschlossene Hymen und dahinter die retinierte, altblutige Flüssigkeit auf. Therapie. Die Behandlung der Vaginalobstruktion hängt
von der Anatomie ab: Ein imperforiertes Hymen kann in Steinschnittlagerung kreuzförmig inzidiert und der Flüssigkeitsverhalt abgelassen werden. Es folgt eine genaue Inspektion der Urethramündung, um einen persistierenden Sinus urogenitalis (s. unten) auszuschließen. Weiter proximal gelegene Vaginalsepten sind meist komplexe Fehlbildungen und müssen reseziert und die Vagina rekonstruiert werden (Beyth et al. 2004). Postoperativ besteht die Gefahr einer Anastomosenstenose, weswegen die Vagina möglicherweise regelmäßig bougiert werden muss. Daher sollte bei Kindern mit hohen Vaginalsepten zunächst nur der Hydrometrokolpos durch perkutane Entlastung therapiert werden und die definitive Rekonstruktion der Vagina erst während der Pubertät erfolgen.
41.2.4 41.2.2
Kongenitale vaginale Obstruktionen
Vaginalagenesien
Synechien der kleinen Labien Ätiopathogenese. Vaginalagenesien entstehen als Folge
Klinik und Diagnostik. Fusionen der kleinen Labien sind
harmlos und treten bei Säuglingen und Kleinkindern bis zum Schulalter auf (Heller et al. 2005). Die verklebten kleinen Labien können den Introitus komplett verschließen. Gelegentlich kann die Obstruktion der Harnröhre zu Harnwegsinfekten führen. Therapie. Das Lösen der Synechien ist schmerzhaft und sollte daher in Kurznarkose erfolgen. Fast immer tritt ein unauffälliges weibliches Genitale zu Tage. Nach der Lösung sollte die Vulva regelmäßig gebadet und danach eingecremt werden, um ein erneutes Verkleben der Labien zu verhindern.
von Störungen in der Entwicklung des Müller-Ganges, des uterovaginalen Kanals oder der Vaginalplatte während der 4. bis 12. Entwicklungswoche. Klinik und Diagnostik. Die Kinder haben typischerweise einen normalen weiblichen Chromosomensatz sowie einen unauffällig weiblichen Habitus und fallen in der Pubertät mit einer primären Amenorrhö auf. In 75% der Fälle fehlt die Vagina komplett, 25% haben einen distalen vaginalen Stumpf von meistens < 2,5 cm Länge. Der Uterus kann normal oder, häufiger, nur rudimentär ohne Lumen oder als Uterus bicornis angelegt sein. Meistens finden sich Tubae
41
522
41
Kapitel 41 · Erkrankungen der weiblichen inneren Genitalorgane
uterinae und Ovarien, auch wenn Fälle kombiniert mit einseitiger oder auch beidseitiger Agenesie der Gonaden beschrieben sind. Ein Drittel aller Patientinnen haben Begleitfehlbildungen der Nieren und ableitenden Harnwege wie Nierenagenesie, -ektopie und Verschmelzungsnieren. Skelettanomalien an Wirbelsäule, Rippen und Extremitäten sind in 12% der Fälle zu finden. Nach ihren Erstbeschreibern werden diese Anomalien als Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom zusammengefasst. Die Kombination von Vaginalagenesie, Nierenagenesie und zervikothorakaler Wirbelkörperanomalien wird als MURCS-Assoziation, die Kombination mit Thrombozytopenie und Radiusaplasie als TAR-Syndrom beschrieben. Weiter sind Kombinationen von Vaginalagenesie mit Rektumatresie, Handfehlbildungen oder Schwerhörigkeit beschrieben. Die Diagnose einer Vaginalagenesie wird meistens in der Pubertät im Rahmen der Abklärung einer primären Amennorrhö gestellt. So haben 15% aller Mädchen mit primärer Amenorrhö eine Vaginalagenesie. Wenn rudimentär funktionierendes Endometrium vorhanden ist, kann ein Hydrometrokolpos als Folge der distalen Obstruktion bereits pränatal, in der Neugeborenenzeit oder in der Pubertät auftreten. Die Diagnostik bei Verdacht auf eine Vaginalagenesie umfasst eine gründliche gynäkologische Untersuchung mit Vaginoskopie bzw. Zystoskopie, Ultraschall und ggf. MRT (Humphries et al. 2008). Therapie. Die Therapie der Vaginalagenesie muss die funktionellen, psychologischen und reproduktiven Voraussetzungen der Patientin berücksichtigen. Daher sollte sie möglichst nicht in der Säuglingszeit oder Kindheit sondern erst bei Adoleszenten erfolgen. Da das anatomische Spektrum der Anomalien ausgesprochen variiert, kann keine standardisierte Therapie angeboten werden, sondern diese muss für den Einzelfall ausführlich geplant und mit der Patientin und ihren Angehörigen besprochen werden. An operativen Möglichkeiten können für Fälle, bei denen lediglich der distalste Anteil der Vagina fehlt, lokale Hautlappenplastiken mit Anschluss an die proximale Vagina an-
geboten werden. Für Fälle mit komplettem Fehlen der Vagina und des Uterus mit und ohne distalem Vaginalstumpf kommen Vaginalersatzplastiken mit Darm- (McDougal 2005) oder Spalthautinterponat oder, besser, lokale Bougierungsbehandlungen von distal in Frage. Bis heute gibt es keine optimale Lösung bei der Behandlung von Vaginalagenesien. Problematisch sind rezidivierende Stenosierungen, die Notwendigkeit einer Bougierungsbehandlung, nicht ausreichende Befeuchtung des Epithels oder übermäßige, übelriechende Schleimbildung und nicht befriedigender und/oder schmerzhafter Geschlechtsverkehr (Hensle et al. 2006).
41.2.5
Doppelbildungen von Uterus und Vagina
Fehlbildungen, die eine Dopplung des Uterus und/oder der Vagina bewirken, entstehen frühembryonal um die 9. Woche als Folge von kompletter oder teilweiser fehlerhafter Fusion der beiden Müllerschen Gänge. Doppelbildungen sind relativ häufig und können sich in folgenden anatomischen Situationen niederschlagen (. Abb. 41.2): 4 Uterus duplex mit zwei Zervices und Vagina duplex (Uterus didelphys) 4 Uterus duplex mit zwei Zervices und nur einer Vagina (Uterus duplex bicollis) 4 Uterus duplex mit nur einer Zervix und einer Vagina (Uterus duplex unicollis/Uterus bicornis) 4 Uterus septus 4 Verkümmert einer der beiden Müller-Gänge während der Entwicklung, entsteht ein Uterus unicornis Klinik und Diagnostik. Die Mädchen haben meistens ein komplett unauffälliges äußeres Genitale. Bei Vagina duplex kann eine der beiden Vaginae atretisch sein und zu einem Hydrometrokolpos führen. Häufig findet man begleitend Anomalien der ableitenden Harnwege mit z. B. ektoper Mündung eines Ureters in eine Doppelvagina. An bildge-
. Abb. 41.2a–d. Schematische Darstellung verschiedener Formen von Doppelbildungen des Uterus und der Vagina. a Uterus didelphys; b Uterus duplex; c Uterus bicornis; d Uterus septus; e Uterus unicornis
523 41.2 · Erkrankungen der Vagina und des Uterus
bender Diagnostik können Ultraschall, MRT und Kontrastmitteluntersuchungen der Vagina und der Blase die anatomische Situation darstellen, eine Zysto-/Vaginoskopie und vielleicht auch Laparoskopie kann weitere Klarheit bringen (Mueller et al. 2007, Bailez 2007). Therapie. Prinzipiell sind Patientinnen mit Doppelbildungen von Uterus und Vagina fertil. Ist eine der beiden Vaginae atretisch, ist eine operative Durchtrennung des Vaginalseptums zur Entlastung des Verhaltes indiziert. Weitere operative Maßnahmen hängen von der individuellen anatomischen Situation und den möglichen Beschwerden der Patientin ab.
41.2.6
Formen der Fehlbildung bedürfen aufwendigerer Operationsmethoden zur Trennung von Vagina und Urethra vom Damm oder auch vom Bauchraum aus (Rink et al. 2006). Gelegentlich wird ein vaginaler Durchzug oder sogar Vaginaersatzplastiken erforderlich, diese allerdings heutzutage wohl erst in der Pubertät (Karateke et al. 2006). Gefürchtete Komplikationen der Operationsmethoden sind Urethra- und Vaginalstrikturen, rezidivierende urethrovaginale Fisteln und Harninkontinenz. In seltenen Fällen kann ein persistierender Sinus urogenitalis mit einem intersexuellen Phänotyp (vergrößertem Phallus) und mit weiteren Fehlbildungen der Urethra kombiniert sein. Diese können dann gegebenenfalls in derselben Operation mit korrigiert werden (Häcker et al. 2004).
Persistierender Sinus urogenitalis 41.2.7
Kloakale Fehlbildungen
Ätiopathogenese. Als Sinus urogenitalis wird der Gang
bezeichnet, in den während der Embryonalentwicklung Urethra und Vagina münden. Eine Störung der Entwicklung der Vagina nach kaudalwärts, um dann separat in den Damm zu münden, führt zu einer Persistenz des Sinus urogenitalis. Vagina und Urethra haben dann einen Konfluens unterschiedlicher Höhe, an den sich der mehr oder weniger lange gemeinsame Ausführungsgang anschließt (. Abb. 41.3). Je früher in der Entwicklung die Störung auftritt, umso höher ist der Konfluens und umso länger ist der persisiterende Sinus urogenitalis. Späte Störungen resultieren in einen tiefen Konfluens mit nur kurzem Sinus. Klinik und Diagnostik. Klinisch sieht man bei der Inspektion
des Damms neben dem meist normalen Anus nur eine weitere Mündung (nämlich den Sinus) und nicht wie normalerweise einen Meatus urethrae und Introitus vaginae. Für die Planung einer operativen Korrektur ist die möglichst exakte Darstellung der anatomischen Situation und der Höhe des Konfluens essenziell. Dieses kann durch Röntgenkontrastmitteluntersuchungen und eine Zysto-/Urethroskopie erfolgen. Therapie. Ein tiefer Konfluens mit kurzem Sinus kann von
distal mit Hautlappenplastiken, die zur Bildung des Vaginaleingangs verwendet werden, operiert werden. Höhere
Die Kombination aus persistierendem Sinus urogenitalis und Rektumatresie wird kloakale Fehlbildung genannt (7 Kap. 30). Als Kloake wird der gemeinsame Ausführungsgang vom Urogenitalsystem und Darm bezeichnet. Die Kloake ist frühembryonal ein physiologischer Zustand, ab der 4. bis 6. Entwicklungswoche werden mit der Entwicklung des Septum urorektale zunächst Urogenitalsystem und Darm getrennt. Störungen dieser Entwicklung resultieren in kloakalen Fehlbildungen. Klinik und Diagnostik. Klinisch fallen die Kinder häufig bereits pränatal durch ein Hydrometrokolpos auf. Postnatal sieht man dann den auffälligen Befund am Damm mit fehlender Anal- und Vaginalöffnung und nur einer einzigen Mündung der Strukturen am Damm. Häufig besteht eine mehr oder weniger ausgeprägte Klitorishypertrophie, weswegen Unsicherheiten bei der Geschlechtszuweisung entstehen können. Ähnlich wie beim persistierenden Sinus urogenitalis, gibt es mehr oder weniger stark ausgeprägte Formen der kloakalen Fehlbildung, deren Konfluens und rektovaginale Fistel mehr oder weniger weit proximal angelegt sein kann (. Abb. 41.4). Häufig liegt gleichzeitig eine Verdopplung des Uterus vor und es kommt neben dem Hydrometrokolpos zu einer Blasenentleerungsstörung mit subvesikaler Obstruktion und Harnstau.
. Abb. 41.3a, b. Schematische Darstellung der Anatomie bei persistierendem Sinus urogenitalis. Vagina und Urethra münden proximal (a) oder distal (b) in einen gemeinsamen Ausführungsgang
a
b
41
524
Kapitel 41 · Erkrankungen der weiblichen inneren Genitalorgane
41 a
b
c
d
. Abb. 41.4a–d. Schematische Darstellung der Anatomie bei persistierender Kloake: Rektum, Vagina und Urethra münden in einen gemeinsamen Ausführungsgang, wobei der Konfluens sehr variieren kann
Die Diagnostik bei Patientinnen mit persistierender Kloake besteht aus Sonographie, retrograden Kontrastmitteluntersuchungen über den gemeinsamen Ausführungsgang und einer Zysto-/Vaginoskopie. Wegen der Rektumatresie wird in den ersten Lebenstagen die Anlage eines Anus präter erforderlich, über dessen abführenden Schenkel eine Kontrastmitteldarstellung der Fistel zum Sinus erfolgen sollte. Außer der Anlage einer Kolostomie ist in der Neugeborenenzeit häufig eine perkutane Entlastung der Blase und Vagina erforderlich. Therapie. Die operative Rekonstruktion von kloakalen
Fehlbildungen ist ausgesprochen anspruchsvoll (Leclair et al. 2007; Shimada et al. 2005; Rink et al. 2005; 7 Kap. 38) und sollte nur von hierin versierten Kinderchirurgen durchgeführt werden.
41.2.8
Tumoren der Vagina und des Uterus
Paraurethrale Zysten imponieren gelegentlich als Raumforderung im Bereich der Vulva. Sie repräsentieren Reste der in der Embryonalzeit angelegten Skene-Drüsen (Prostatarelikt) oder Gartner-Gänge (Wolff-Gang). Sie treten neben der Harnröhre und typischerweise asymmetrisch auf und verdrängen Meatus und Introitus vaginae auf eine Seite. Häufig rupturieren paraurethrale Zysten spontan, gelegentlich müssen sie aber auch inzidiert werden. Der häufigste maligne Tumor von Vagina und Uterus im Kindesalter ist das Rhabdomyosarkom (Groff et al. 2001; 7 Kap. 47). Es fällt häufig als sichtbare, traubenartige Raumforderung im Bereich der Vulva auf (Sarcoma botryoides), assoziiert mit vaginalen Blutungen (Imai et al. 2001). An eine Probeexzision aus der Läsion zur exakten histologischen Charakterisierung des Tumors schließt sich ausführliche bildgebende Diagnostik zur Erhebung des Tumorstadiums und eine multimodale, neoadjuvante Chemotherapie an. Es folgt die komplette chirurgische Resektion des Tumors und postoperativ weitere Chemotherapiezyklen. Vulvovaginale Rhabdomyosarkome haben eine relativ günstige Prognose (Martelli et al. 1999).
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525 41.2 · Erkrankungen der Vagina und des Uterus
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41
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42
42 Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren J. Ritter
42.1
Epidemiologie – 527
42.2 42.3
Ätiologie und Pathogenese – 527
42.4.3 42.4.4 42.4.5
Radiotherapie – 536 Supportivtherapie – 536 Therapieoptimierungsstudien – 538
Klinik und Diagnostik
42.5
Prognose – 538
42.6
Tumornachsorge und Spätfolgen
– 529
42.4
Therapie – 533
42.4.1 42.4.2
Operative Therapie – 533 Chemotherapie – 534
> An Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche haben heute unter adäquater Therapie eine hohe Heilungswahrscheinlichkeit. Bedingt durch die Seltenheit von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen und durch die hohen Ansprüche an die personelle und apparative Ausstattung bei Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen, haben sich in Deutschland bereits frühzeitig Spezialabteilungen gebildet, die sich ausschließlich mit der Betreuung krebskranker Kinder und Jugendlicher befassen (pädiatrisch-onkologische Zentren). In diesen Spezialeinrichtungen werden die Kinder und Jugendlichen nach einheitlichen Therapieplänen – kooperative Therapiestudien; Therapieoptimierungsstudien (TOS) – behandelt. Aufgrund der hohen Heilungsraten und der langen Lebenserwartung ehemaliger jugendlicher Krebspatienten müssen bereits bei Therapiebeginn mögliche Spätfolgen der Behandlung bedacht werden, die möglichst gering zu halten sind.
42.1
Epidemiologie
Im Jahr erkranken 15–16 von 100.000 Kindern unter 15 Jahren an Krebs. In Deutschland sind dies derzeit 1700– 1800 Neuerkrankungen pro Jahr. Die Inzidenz der Krebserkrankungen ist im ersten Lebensjahr am höchsten und fällt bis zum Alter von 6 Jahren kontinuierlich ab und bleibt dann bis zum Adoleszentenalter konstant (. Abb. 42.1). Aufgrund der Meldung nahezu aller pädiatrisch-onkologischer Patienten an das Kinderkrebsregister in Mainz stehen
– 539
Literatur – 540
in Deutschland gute epidemiologische Daten zur Verfügung. Die relative Häufigkeit der malignen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen sind mit den unter den Bedingungen der aktuellen Therapieoptimierungsstudien derzeit erreichbaren 5-Jahres-Heilungen in . Tab. 42.1 zusammengestellt. Die Inzidenz und die genannten Heilungsraten haben dazu geführt, dass heute etwa 1 von 400 jungen Erwachsenen ein geheilter ehemaliger Patient einer Krebserkrankung im Kindes- oder Jugendalter ist (Kaatsch et al. 2006).
42.2
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie der einzelnen Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist in der Regel unbekannt. Einer malignen Erkrankung liegt eine bzw. mehrere in der Regel postzygotisch erworbene Mutation einer einzigen malignen Ursprungszelle (»Tumorstammzelle«) zugrunde (somatische Mutation). Obwohl die Ursache einer Krebserkrankung bei einem Kind oder einem Jugendlichen im Einzelfall unbekannt ist, ist für einige der bereits im Neugeborenen- und Säuglingsalter auftretenden Neoplasien anzunehmen, dass genetisch veränderte Vorläuferzellen bereits pränatal vorhanden sind. Dies konnte für bestimmte Leukämieformen gezeigt werden (Greaves 1997; Panzer-Grümeyer et al. 2002) und ist für die embryonalen Tumoren wie Neuroblastome oder Nephroblastome ebenfalls anzunehmen. Neben diesen somatischen Mutationen, die in der Regel Gene betreffen, die Zellwachstum (Proliferation) und Zell-
528
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
. Abb. 42.1. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzen maligner Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen; Daten des Mainzer Kinderkrebsregisters (Kaatsch et al. 2006)
42
. Tab. 42.1. Häufigkeitsverteilung und zu erwartende 5-JahresHeilungsraten von bösartigen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen Häufigkeit
Zu erwartende 5-JahresHeilungsraten
Systemkrankheiten Akute lymphoblastische Leukämien
27%
80%
Akute myeloische Leukämien
5%
55%
Weitere myeloische Neoplasien (MDS; MPS; CML; JMML)
2%
50–80%
Non-Hodgkin-Lymphome
5%
80%
Hodgkin-Lymphome
5%
95%
Langerhans-Zell-Histiozytosen
2%
80%
22%
60%
Neuroblastome
8%
65%
Weichteilsarkome
6,5%
65%
Wilms-Tumoren
5,5%
85%
Keimzelltumoren
3%
85%
Osteosarkome
2,5%
60%
Ewing-Sarkome
2%
60%
Retinoblastome
2%
95%
Lebertumoren
1%
60%
Sonstige (SD; NPC; Mel u. a.)
1,5%
20-90%
Solide Tumoren ZNS-Tumoren
Alle malignen Erkrankungen
100%
75%
SD Schilddrüsenkarzinome; NPC Nasopharynxkarzinome; MDS myelodysplastische Syndrome; MPS myeloproliferative Syndrome; CML chronische myeloische Leukämien; JMML juvenile myelomonozytäre Leukämien; Mel maligne Melanome
differenzierung sowie den Zelltod (Apoptose) steuern, können auch in der Keimbahn vorhandene genetische Faktoren in der Pathogenese von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen. So sind beim Li-Fraumeni-Syndrom, bei dem eine Keimbahnmutation des Tumorsuppressor-Gens p53 vorliegt, Mammakarzinome junger Frauen mit Weichteilsarkomen, Osteosarkomen, Hirntumoren und akuten Leukämien im Kindesalter assoziiert. In . Tab. 42.2 sind einige Syndrome mit Keimbahnmutationen, die mit Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen assoziiert sind, zusammengestellt. Ebenso haben Patienten mit angeborenen DNA-Reparaturdefekten wie Fanconi-Anämie oder Ataxia teleangiectatica (Louis-Bar-Syndrom) und bestimmten Immundefekten, wie dem Wiskott-Aldrich-Syndrom ein erhöhtes Risiko an Leukämien, Lymphomen und anderen Tumoren zu erkranken. Kinder mit Morbus Down erkranken 60-mal häufiger an akuten Leukämien als Kinder ohne Down-Syndrom (Ritter 1998). Einige klinische Syndrome sind mit den beiden häufigsten embryonalen malignen Tumoren im Kindesalter, dem Neuroblastom und dem Nephroblastom (Wilms-Tumor), assoziiert.
Übersicht Mit dem Neuroblastom assoziierte Syndrome 4 Pepper-Syndrom (Neuroblastom Stadium IV S mit ausgeprägter Lebermetastasierung) 4 Smith-Syndrom (Neuroblastom Stadium IV S mit Hautmetastasen) 4 Horner-Syndrom (einseitige Ptosis, Miosis und Enophthalmus bei thorakalem Neuroblastom) 4 Ataxie-Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom (»dancing eye syndrome«, Syndrom der ultraschnellen Augenbewegungen; Kinsbourne-Syndrom) 4 Kerner-Morrison-Syndrom (chronische Diarrhö aufgrund vasointestinaler Peptide)
529 42.3 · Klinik und Diagnostik
. Tab. 42.2. Syndrome mit Keimbahnmutationen, die mit Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter assoziiert sind Syndrome
Gen mit Keimbahnmutation
Assoziierte Krebserkrankung
Retinoblastom
RB1
Retinoblastom, Pinealoblastom, Sarkome
Li-Fraumeni-Syndrom
p53
Sarkome, Hirntumoren, adrenokortikale Karzinome, Leukämien, Lymphome, Osteosarkome, Mammakarzinome
Denys-Drash-Syndrom
WT1
Nephroblastom (Wilms-Tumor)
Neurofibromatose Typ 1
NF1
Optikusgliom, Astrozytom, Glioblastom, Sarkome, maligner Nervenscheidentumor, juvenile myelomonozytäre Leukämie
Von-Hippel-Lindau-Syndrom
VHL
Nierenzellkarzinom, Hämangioblastom, Retinoangiom, Phäochromozytom
Adenomatöse Polyposis coli
APC
Hepatoblastom, Kolonkarzinom, Hirntumoren
Multiple endokrine Neoplasie Typ 1
MEN1
Parathyreoidea-Tumoren, Gastrinome und weitere
Multiple endokrine Neoplasie Typ 2
RET
Phäochromozytom, Schilddrüsenkarzinom
Neurokristopathie-Syndrom
PHOX2B
Neuroblastom, M. Hirschsprung
42.3 Übersicht Mit dem Nephroblastom assoziierte Syndrome 4 Beckwith-Wiedemann-Syndrom (Exomphalos, Makroglossie, Hemihypertrophie) 4 Isolierte Hemihypertrophie 4 Sotos-Syndrom (Makrozephalus, Gigantismus) 4 WAGR-Syndrom (Wilms-Tumor, Aniridie, urogenitale Fehlbildungen, mentale Retardierung) 4 Isolierte Aniridie 4 Denys-Drash-Syndrom (Pseudohermaphroditismus, Glomerulopathie, Wilms-Tumor) 4 Urogenitale Fehlbildungen 4 ZNS-Fehlbildungen
Im Gegensatz zu Tumorerkrankungen bei Erwachsenen spielen dagegen exogene Faktoren wie radioaktive Strahlung und chemische Noxen bei Tumoren im Kindesalter eine nur untergeordnete Rolle. Alle Tumoren im Kindes- und Jugendalter weisen eine hohe Metastasierungsrate auf. Dabei besitzen unterschiedliche Tumoren ein oft unterschiedliches Metastasierungsmuster. Aus früheren Untersuchungen ist bekannt, dass beispielsweise bei Osteosarkompatienten bereits bei Diagnosestellung eine Metastasierung aufgetreten ist, die jedoch mit den verfügbaren bildgebenden Verfahren nicht erkennbar war: mehr als 80% der jugendlichen Osteosarkompatienten verstarben nach primärer Amputation im weiteren Verlauf an Lungenmetastasen (Marcove et al. 1970; Konzept der Mikrometastasen).
Klinik und Diagnostik
Die möglichst frühzeitige Erkennung einer malignen Erkrankung ist eine häufig gestellte Forderung, die jedoch bei der oft nur geringen und unspezifischen Symptomatik in frühen Tumorstadien bei Kindern und Jugendlichen nur selten erfüllt werden kann. Dies gilt auch für das Neuroblastom: Im Rahmen der deutschen Neuroblastom-Screening-Studie wurde bei einem Screening im Alter von 12 Monaten eine erhöhte Inzidenz von Neuroblastomen mit günstiger Zellbiologie und damit günstiger Prognose entdeckt. Neuroblastome mit ungünstiger Zellbiologie und infolgedessen ungünstiger Prognose konnten in diesem Screeningprogramm nicht frühzeitig entdeckt werden. Somit konnte auch keine Reduktion der Neuroblastom-bedingten Mortalität in diesem populationbasiertem Screening erreicht werden (Schilling et al. 2002).
Klinik Die klinischen Erscheinungsbilder der verschiedenen pädiatrischen onkologischen Erkrankungen sind abhängig von Tumorart und Tumorlokalisation. Während bei den Systemerkrankungen des Hämatopoese- und Immunsystems Symptome der Anämie, der Blutungsneigung, der Abwehrschwäche sowie Zeichen der malignen Systemerkrankung wie Fieber, Gewichtsabnahme und Nachtschweiß auftreten können, finden sich bei den soliden Tumoren klinische Zeichen einer Schwellung und Verdrängung bzw. Infiltration, die je nach Tumorlokalisation eine unterschiedliche Symptomatik verursachen. In . Tab. 42.3 sind Symptome und Untersuchungsbefunde bei den verschiedenen Tumorerkrankungen von Kindern und Jugendlichen mit ihren Differenzialdiagnosen zusammengestellt. Neben diesen häufig vieldeutigen Symptomen der verschiedenen Tumorerkrankungen bei Kindern und
42
530
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
. Tab. 42.3. Symptome und Untersuchungsbefunde bei Tumorerkrankungen im Kindesalter und deren häufige Differenzialdiagnosen
42
Symptome
Tumorkrankheit
Differenzialdiagnosen
Diagnostik
Allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber, Schwäche, Blässe, Gewichtsverlust, Inappetenz
Leukämie MDS Lymphom Neuroblastom Ewing-Sarkom
Bakterielle, virale und Protozoen-Infektionen (EBV, CMV, HIV, Mykoplasmen, Tb, Bruzellose, Malaria, Leishmanien u. a.) Systemische rheumatische Erkrankungen, Vaskulitiden, SAA, HLH
BSG, CRP BB, KMP VMA, HVA LDH
Periphere Lymphadenopathie
Leukämie Lymphom Lymphknotenmetastasen bei: 4 Rhabdomyosarkom 4 Schilddrüsenkarzinom 4 Nasopharynxkarzinom 4 Neuroblastom
EBV, CMV, HIV, Röteln, Adenoviren, Masern, Influenza, Staphylokokken, Streptokokken, Tuberkulose, MOTT, Bruzellose, Bartonella henselae, Haemophilus, Listerien, Aktinomykose, Tularämie, Toxoplasmose, Mykoplasmen, Autoimmunerkrankungen, Kawasaki-Syndrom, Immundefektsyndrome, Histiozytosen, Rosai-Dorfman-Syndrom, Kikuchi-Syndrom, Castleman-Syndrom, Sarkoidose, Medikamente, Speicherkrankheiten, XLP
BSG, CRP BB, KMP VMA, HVA Röntgen-Thorax Sonographie Lymphknoten Sonographie Abdomen
Spontanblutungen (Haut, Schleimhaut, insbesondere Nase)
Leukämie Neuroblastom
ITP, SAA, HLH Kongenitale Thrombozytopenie, Thrombozytopathie, WJS
BB, KMP VMA, HVA
Bauchschwellung/ Bauchschmerzen
Wilms-Tumor Neuoblastom Lymphom Weichteilsarkom Hepatoblastom Keimzelltumor Leukämie
Multizystische Nierendegeneration Megakolon, Megasigma Invagination (idiopathisch, Meckel-Divertikel) Kolitis, Appendizitis Echinokokkenzyste Benigner Abdominaltumor (z. B. Leberhamartom)
BB VMA, HVA, AFP, β-HCG LDH, Sono-Abdomen MRT/CT
Weichteilschwellung
Weichteilsarkom LCH Neuroblastom AML NHL
Hämatom Phlegmone (Staphylokokken u. a.)
BB, CRP, BSG, VMA, HVA, Sonographie, MRT
Kopfschmerzen und/ oder Erbrechen, neurologische Symptome, Tortikollis, Krämpfe
Hirntumor ZNS-Metastasen bei: ALL, AML, NHL; Ewing-Sarkom, Rhabdomyosarkom, Neuroblastom
Migräne und andere Kopfschmerzsyndrome Sinusitis Meningitis/Enzephalitis, Hirnabszess Metabolische Erkrankungen HLH
MRT, CT, Liquor, BB, CRP, Augenfundus, EEG, BZ, NH3 Astrup HVA, VMA, AFP
Knochen-/Gelenkschmerzen, -schwellung
Leukämie Neuroblastom Osteosarkom Ewing-Sarkom Lymphom
Osteomyelitis, rheumatische Erkrankungen/Vaskulitiden Aseptische Knochennekrosen, benigne Neoplasien (Osteoblastom u. a.)
BB, KMP VMA, HVA, BSG, CRP, Röntgen, Szintigraphie, Sonographie MRT/CT
Husten, Dyspnoe, obere Einflussstauung
Lymphom Leukämie Keimzelltumor Neuroblastom Weichteilsarkom
Pneumonie, Bronchitis, Tracheitis, Fremdkörperaspiration, CF, Tuberkulose, Sarkoidose, Karditis, Kardiomyopathie, bronchogene Zysten, enterogene Zysten, Lipome, Lymphangiome, Hämangiome
BB, KMP HVA, VMA, AFP, CRP, Röntgen-Thorax MRT/CT
AFP α-Fetoprotein, ALL akute lymphoblastische Leukämie, AML akute myeloische Leukämie, Astrup Säure-Basen-Status-Bestimmung im Blut, BB peripheres Blutbild, BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit, BZ Blutzucker, CF zystische Fibrose, CRP C-reaktives Protein, HLH hämophagozytische Lymphohistiozytose, HVA Homovanillinsäure, ITP idiopathische thrombozytopenische Purpura, KMP Knochenmarkpunktion, LCH Langerhans-Zell-Histiozytose, LDH Laktatdehydrogenase, MDS myelodysplastisches Syndrom, MOTT Mykobakterien außer Tuberkulose, NH3 Ammoniak im Blut, NHL Non-Hodgkin-Lymphom, SAA schwere aplastische Anämie, Tb Tuberkulose, VMA Vanillinmandelsäure, WJS von-Willebrand-Jürgens Syndrom, XLP X-chromosomales lymphoproliferatives Syndrom
531 42.3 · Klinik und Diagnostik
Jugendlichen, finden sich bei einigen Tumorerkrankungen pathognomonische Symptome, die einen direkten Rückschluss auf eine bestimmte Tumorentität erlauben (. Tab. 42.4). ! Cave Bei jeder Schwellung bei einem Kind oder einem Jugendlichen muss solange von einer malignen Erkrankung ausgegangen werden, bis das Gegenteil – in der Regel durch kurzfristige Kontrolle bzw. histologische Untersuchung – bewiesen worden ist. Beim Verdacht auf einen malignen Tumor muss jede überflüssige Palpation oder Manipulation wegen der zusätzlichen Gefahr einer Tumorausbreitung oder Tumorruptur vermieden werden. Betroffene Extremitäten sollten bis zur endgültigen Diagnosestellung ruhig gestellt werden (»noli me tangere«).
Stadieneinteilung (Staging) Aufgrund der mittels bildgebenden Verfahren diagnostizierten Tumorausbreitung sowie der mittels bildgebender Verfahren durchgeführten Metastasensuche wird die Stadieneinteilung des Tumors vorgenommen. Eine bei den meisten soliden Tumoren bei Kindern und Jugendlichen angewandte Stadieneinteilung ist in . Tab. 42.5 wiedergegeben.
Übersicht Metastasensuche bei pädiatrisch-onkologischen Tumoren 4 Lungenmetastasen: CT der Thoraxorgane 4 Skelettmetastasen: Skelettszintigraphie, MRT 4 Knochenmarkmetastasen: Knochenmarkaspiration an mehreren Stellen sowie Knochenmarkhistologie an mindestens 2 Stellen 4 Lymphknotenmetastasen: Sonographie; CT; MRT 4 Positronenemissionstomographie (FDG-PET)
Das in der internistischen Onkologie angewandte TNMSystem (T= Primärtumor; N= regionaler Lymphknotenbefall; M= Metastasen) hat bei Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter bislang keine Verbreitung gefunden.
Diagnostisches Vorgehen Beim Verdacht auf einen malignen Tumor muss noch vor der ersten Biopsie mittels anatomischer bildgebender Verfahren (Sonographie; CT; MRT) und funktionellen bildgebenden Verfahren (Szintigraphie; Positronenemissionstomographie/PET) die Tumorausdehnung möglichst exakt dargestellt werden. Parallel hierzu muss die Bestimmung bestimmter mehr oder weniger spezifischer Tumormarker durchgeführt werden (. Tab. 42.6).
. Tab. 42.4. Pathognomonische Symptome von Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen Symptom
Art der Erkrankung
Akuter Visusverlust, neu aufgetretener Strabismus
Retinoblastom, Hirntumor, NHL
Brillen-/Monokelhämatom
Neuroblastom, AML
Protrusio bulbi
Neuroblastom, Weichteilsarkom, AML
Horner-Syndrom (Ptose, Miose, Enophthalmus)
Neuroblastom, Spinaltumoren
Leukokorie (Katzenauge)
Retinoblastom
Ataxie-Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom (»dancing eye syndrome«; Kinsbourne-Syndrome)
Neuroblastom
Zahnfleischhyperplasie
Akute Monoblastenleukämie
Akuter Zahnverlust, periodontaler Tumor
Langerhans-Zell-Histiozytose, Weichteilsarkom, Lymphom, Neuroblastom
Akute Querschnittssymptomatik
Neuroblastom, Ewing-Sarkom, Weichteilsarkom, NHL, ALL, Spinaltumoren
Vertebra plana (ohne neurologische Symptome)
Langerhans-Zell-Histiozytose (Differenzialdiagnose: Wirbel-Osteomyelitis)
Klavikula-Tumor
LCH; Ewing-Sarkom (Differenzialdiagnose: sklerosiernde Osteomyelitis)
Schwellung im Bereich des Knies (distaler Femur, proximale Tibia oder Fibula)
Hochmalignes Osteosarkom
ALL akute lymphoblastische Leukämie, AML akute myeloische Leukämie, CML chronische myeloische Leukämie, NHL Non-Hodgkin-Lymphom, JRA juvenile rheumatoide Arthritis; LCH Langerhans Zell Histiozytose
. Tab. 42.5. Klinische Stadieneinteilung solider Tumoren bei Kindern und Jugendlichen Stadium
Beschreibung
Stadium I
Tumor auf Ursprungsorgan begrenzt, komplett entfernt ohne mikroskopische Tumorreste
Stadium II
Tumor auf Ursprungsorgan begrenzt, mikroskopische nicht komplett entfernt, und/oder lokaler Lymphknotenbefall
Stadium III
Tumor in Nachbarschaft eingewachsen, makroskopisch nicht komplett entfernt und/oder regionaler Lymphknotenbefall
Stadium IV
Fernmetastasen
Stadium IV S
Nur bei Neuroblastomen: Primärtumor im Stadium I, mit Hautmetastasen und/oder Lebermetastasen und/oder Knochenmarkbefall
Stadium V
Nur bei Wilmstumoren: beidseitiger Tumor
42
532
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
. Tab. 42.6. Tumormarker und tumorassoziierte Aktivitätsparameter in der pädiatrischen Onkologie Parameter
Hinweis auf
α-Fetoprotein (AFP)
Keimzelltumoren, Lebertumoren
Humanes Choriongonadotropin (β-HCG)
Keimzelltumoren
Homovanillinsäure (HVA)
42
Neuroblastom
Vanillinmandelsäure (VMA) Dopamin Laktatdehydrogenase (LDH)
Leukämien, Lymphome, EwingSarkome (mit hohem TumorzellTurnover)
Ferritin
Neuroblastom, hämophagozytische Lymphohistiozytose
Neuronenspezifische Enolase (NSE)
Neuroblastom
Alkalische Phosphatase (AP)
Osteosarkom
Das Vorgehen beim einzelnen Patienten wird in der Regel in gemeinsamen, interdisziplinären klinisch-radiologischen Konferenzen des pädiatrischen-onkologischen Teams festgelegt.
Übersicht Interdisziplinäres pädiatrisch-onkologisches Team 4 4 4 4 4
Pädiatrischer Onkologe Kinderchirurg Klinischer Radiologe Klinischer Nuklearmediziner Strahlentherapeut
Falls sich der Tumorverdacht aufgrund der Ergebnisse der bildgebenden Verfahren erhärtet, ist bereits vor dem ersten operativen Eingriff die Suche nach Metastasen erforderlich. Der Versuch der primären Tumorentfernung ist bei einer bereits metastasierten malignen Erkrankung onkologisch nicht sinnvoll, da die Prognose in diesem Fall wesentlich durch die Metastasen bestimmt wird. In einer solchen primär metastasierten Tumorsituation ist nach bioptischer Tumorsicherung die sofortige Chemotherapie zur möglichst frühzeitigen Therapie der Metastasen indiziert. Das diagnostische Vorgehen bei Tumorverdacht im Kindes- und Jugendalter ist exemplarisch in . Abb. 42.2 dargestellt.
Histopathologie (Grading) Der erste operative Eingriff besteht bei der Mehrzahl der Patienten in einer Tumorbiopsie, die in der Regel von dem Operateur durchgeführt werden sollte, der auch die später
. Abb. 42.2. Diagnostisches Vorgehen bei Tumorverdacht im Kindes- und Jugendalter. (Aus Gadner et al. 2006)
erfolgende definitive Tumoroperation vornimmt. Wegen der histopathologischen Ähnlichkeit vieler maligner Tumoren im Kindes- und Jugendalter (klein-blau-rundzellige Tumoren, . Tab. 42.7) muss bei der Biopsie genügend Material gewonnen werden, um alle für eine genaue Diagnoste erforderlichen Untersuchungen durchführen zu können. > Eine Diagnose durch Tumorpunktion bzw. ganz ohne histologische Sicherung darf nur in absolut lebensbedrohlichen Situationen – z. B. ausgeprägter Mediastinaltumor mit klinischen Zeichen der oberen Einflussstauung und/oder Dyspnoe, ausgedehnte abdominelle Lymphome mit Aszitesbildung – erfolgen.
Daneben wird auch in der derzeit aktiven WilmstumorStudie SIOP 2001/GPOH bei bildgebend wahrscheinlichem Wilmstumor und Negativität der Neuroblastom-Tumormarker auf eine primäre bioptische Sicherung verzichtet (7 Kap. 44). Die wichtigsten klein-blau-rundzelligen Tumoren von Kindern und Jugendlichen mit der dazu gehörenden Immunhistologie und Molekulargenetik sind in . Tab. 42.7 zusammengestellt.
533 42.4 · Therapie
. Tab. 42.7. Charakteristische Immunhistologie und chromosomale Translokationen von soliden Tumoren bei Kindern und Jugendlichen (meist: klein-blau-rundzellige Tumoren) Entität (Immunhistologie)
Gen 1
Genort
Gen 2
Genort
Ewing-Sarkom (Vimentin+; CD-99+; NSE±)
FLI1 ETV1 ERG E1AF FEV
11q24 7p22 21q22 17q22 2q33
EWS EWS EWS EWS EWS
22q12 22q12 22q12 22q12 22q12
Desmoplastischer Rundzelltumor (Vimentin+)
WT1
11p13
EWS
22q12
Malignes Weichteilmelanom (Klarzellsarkom) (Vimentin+)
ATF-1
12q13
EWS
22q12
Rhabdomyosarkom, alveolärer Typ (aRMS) (Desmin+; Aktin±)
PAX3 PAX7
2q37 1p36
FKHR FKHR
13q14 13q14
Myxoides Liposarkom (Vimentin+)
CHOP CHOP
12q13 12q13
TLS 12q13
16p11 22q12
Kongenitales Fibrosarkom und mesoblastisches Nephrom
ETV6
12p13
NTRK3
15q25
Synovialsarkom (Vimentin+)
SSX1 SSX2 SSX4
Xp11 Xp11 Xp11
SYT SYT SYT
18q11 18q11 18q11
Myxoides Chondrosarkom (Vimentin+)
TEC
9q22
EWS
22q12
Bei der ersten Biopsie wird auch Material für weiterführende zellbiologische Untersuchungen, wie immunologische Klassifikation (Immunhistologie) und genetische Untersuchungen einschließlich einer molekularbiologischen Analyse sichergestellt. Entsprechend dem histologischen Differenzierungsgrad des Tumors und seiner Proliferation nimmt der Pathologe die Tumorgraduierung vor.
Übersicht Pathologisch anatomische Tumorgraduierung (Grading) 4 Grad I: Hochdifferenzierte Tumoren; geringe Proliferation (niedrige Malignität) 4 Grad II: Intermediär differenzierter Tumor; intermediäre Proliferation (intermediäre Malignität) 4 Grad III: Gering differenzierter Tumor; hohe Proliferation (hohe Malignität)
Diese Tumorgraduierung besitzt bei Tumoren von Kindern und Jugendlichen nur eine begrenzte Bedeutung; die große Mehrzahl aller in diesem Alter vorkommenden Tumoren sind als Grad-III-Tumoren d. h. gering differenziert und stark proliferierend einzuordnen. Vereinbarungsgemäß werden einige Tumoren, wie z. B. das Synovialsarkom (7 Kap. 47) a priori als Grad-III-Tumoren angesehen, unabhängig von der Tumordifferenzierung und der Tumorproliferation.
42.4
Therapie
> Die Therapie eines malignen Tumors bei Kindern und Jugendlichen ist immer interdisziplinär.
Daher ist von größter Wichtigkeit, dass das pädiatrisch-onkologische Team bereits vor der ersten Therapiemaßnahme das weitere Vorgehen festlegt und sich über die Reihenfolge der Therapiemaßnahmen verständigt. Diese Reihenfolge der Therapiemaßnahmen ist davon abhängig, ob zu erwarten ist, dass der vermutete Tumor auf eine Chemotherapie und/oder eine Radiotherapie anspricht. In diesen Fällen ist in den aktuellen Therapieoptimierungsstudien eine präoperative (neoadjuvante) Chemotherapie und ggf. eine präoperative (neoadjuvante) Radiotherapie vorgesehen.
42.4.1
Operative Therapie
Zu Beginn der pädiatrischen onkologischen Therapie steht – mit Ausnahme des Wilmstumors und einiger Fälle des Hepatoblastoms – die Gewinnung von adäquatem Tumormaterial für eine zweifelsfreie Diagnose. Dieses Material wird in der Regel durch eine Tumorbiopsie gewonnen. Nur bei sehr schwierig zu erreichenden Tumorlokalisationen, wie z. B. in einem Wirbelkörper und in lebensbedrohlichen Situationen, wie bei einem großen Mediastinaltumor oder einem ausgeprägten Abdominaltumor kann ein minimalinvasiver Eingriff, wie z. B. eine Tumorpunktion mit speziellen Instrumenten, die sowohl eine histologische wie eine zytologische Diagnose ermöglichen, durchgeführt werden.
42
534
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
Das Tumormaterial muss derart gewonnen werden, dass folgende Untersuchungen durchgeführt werden können: 4 Histologie einschließlich Immunhistologie 4 Zytologie einschließlich Zytochemie 4 Zytogenetik 4 Molekulargenetik einschließlich Genexpression
42
Für eine zytologische, durch eine FACS-Analyse ergänzte Untersuchung und für die genetische Analyse des Tumormaterials eignet sich insbesondere flüssiges Tumormaterial, z. B. im Pleura- oder Peritonealexsudat, das bei Vorhandensein steril und ohne Formalinzusatz asserviert wird. Alle Zugangswege und Tumorpunktionsstellen müssen genau dokumentiert werden, z. B. mit Hilfe einer Operationsskizze oder photographisch, da diese Zugangswege/ Punktionskanäle bei der definitiven Lokaltherapie des Tumors, also der definitiven Operation bzw. Strahlentherapie, mit entfernt werden müssen bzw. in das Strahlenfeld einbezogen werden müssen. Die eigentliche Tumorentfernung erfolgt bei den meisten Tumoren im Kindes- und Jugendalter nach einer präoperativen (neoadjuvanten) Polychemotherapie, die in Einzelfällen, z. B. bei einigen Weichteilsarkomen durch eine präoperative Radiotherapie ergänzt wird. Die Operationstechniken bei den einzelnen Tumorentitäten werden in den folgenden 7 Kap. 43 bis 48 beschrieben. Vor der definitiven Operation muss in einem interdisziplinären Konsil geklärt werden, ob bei fehlenden anderen Therapieoptionen ggf. ein verstümmelnder Eingriff durchgeführt werden muss. Für die weitere Therapie ist es erforderlich, den Operationssitus genau zu dokumentieren – durch eine Operationsskizze und/oder durch intraoperative Photographien. Gegebenenfalls sind kritische Resektionsränder entsprechend zu markieren. Die sorgfältige pathologisch-anatomische Aufarbeitung des entfernten Tumors, der ggf. vom Operateur mit Markierungsfäden gekennzeichnet wird, ist für das weitere therapeutische Vorgehen von großer Bedeutung: Idealerweise ist der Operateur beim Zuschnitt zugegen, in jedem Fall erhält der in der Diagnostik von malignen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen erfahrene Pathologe neben dem vollständig ausgefüllten Pathologieschein, den Operationsbericht sowie die Operationsskizze und ggf. die intraoperativen Photographien. Die Demonstration des Tumorresektates erfolgt in einer gemeinsamen pädiatrisch-onkologisch-pathologischen Demonstration, in Anwesenheit des Operateurs. Folgende Punkte müssen dabei demonstriert und festgelegt werden: 4 Graduierung des Ansprechens auf die präoperative Polychemotherapie (Salzer-Kuntschik et al. 1983) 4 Demonstration der Absetzungsränder; Tumor überall im Gesunden entfernt? 4 Abstand von vitalen Tumoranteilen zum Absetzungsrand
4 Befall von mitentfernten Lymphknoten 4 Gemeinsame Festlegung des postoperativen Tumorstadiums > Das Ziel der definitiven Tumorentfernung ist eine R0Resektion; eine inkomplette, nicht-radikale Tumorresektion (R1- oder R2-Resektion) ist in der pädiatrischen Onkologie nur bei disseminierten Neuroblastomen indiziert.
Eine weitere, wichtige Aufgabe der Kinderchirurgen in der pädiatrischen Onkologie ist die interdisziplinäre Diagnostik und Therapie von Notfallsituationen wie 4 Ileus 4 Tumortorsion 4 Massive Einblutung 4 Invagination 4 Magen- bzw. Darmrupturen 4 Typhlitis bzw. Enterokolitis Die meisten dieser Notfallsituationen präsentieren sich initial als akutes Abdomen. Der Kinderchirurg muss hier gemeinsam mit dem pädiatrischen Onkologen und dem in der Diagnostik von pädiatrischen Tumoren erfahrenen klinischen Radiologen die Indikation eines chirurgischen Eingriffs prüfen, wobei sich insbesondere bei Entzündungs-bedingten Notfällen in Chemotherapiebedingter schwerer Granulozytopenie die alte Regel »So konservativ wie möglich, so operativ wie nötig« bewährt hat. Die häufigsten Operationen in der pädiatrischen Onkologie sind das Legen, ggf. das Wechseln und das Entfernen von permanenten zentralen Venenkathetern (7 Kap. 9), die die Durchführung der onkologischen Polychemotherapie und Supportivtherapie ganz wesentlich erleichtert haben. Allerdings können die permanenten zentralen Venenkatheter auch Ursache für infektiöse und thromboembolische Komplikationen sein, so dass auch hier eine strenge Indikationsstellung zu fordern ist (Simon 2001).
42.4.2
Chemotherapie
Die rasche Proliferation der bei Kindern und Jugendlichen vorkommenden malignen Erkrankungen gibt der chemotherapeutischen Behandlung einen besonderen Stellenwert. Da bei den meisten pädiatrischen Tumoren bereits bei Diagnosestellung mit einer Mikrometastasierung gerechnet werden muss, wird die systemische Chemotherapie in der Regel primär, also vor der definitiven Tumorentfernung eingesetzt. Nur mit einer effektiven Chemotherapie kann die Entwicklung der lebensbegrenzenden Tumormetastasen – in der Regel Lungenmetastasen – verhindert werden.
535 42.4 · Therapie
Die onkologische Chemotherapie hat sich am Modell der antimikrobiellen Chemotherapie orientiert, mit dem Ziel, maligne Zellen abzutöten ohne andere Körperzellen zu schädigen. Während die biologischen Unterschiede zwischen pathogenen Mikroorganismen und menschlichen Zellen groß sind, sind die Unterschiede zwischen malignen und normalen Körperzellen wesentlich geringer. Das wichtigste Diskriminierungsmerkmal war zu Beginn der Entwicklung der Chemotherapie die Proliferationskinetik. So entwickelte Zytostatika, wie das Spindelgift Vincristin und die Antimetabolite, haben sich als sehr wirksam in der onkologischen Chemotherapie erwiesen. Ihre Anwendung hat wesentlich zum Erfolg in der pädiatrischen Onkologie beigetragen, allerdings mit dem Preis einer teilweise lebensbedrohlichen akuten Toxizität und teilweise schwerwiegender Spätfolgen aufgrund der geringen Spezifität dieser Zytostatika. Die Zielstrukturen für die wichtigsten in der pädiatrischen Onkologie eingesetzten Zytostatika sind in . Abb. 42.3 dargestellt.
. Abb. 42.3. Zielstrukturen der wichtigsten in der pädiatrischen Onkologie eingesetzten Zytostatika. (Aus Gadner et al. 2006)
Übersicht Klassifikation der wichtigsten in der pädiatrischen Onkologie eingesetzten Zytostatika 4 DNA-Schädigung – Alkylierende Substanzen (z. B. Cyclophosphamid, Ifosfamid, Trofosfamid) – Platin-Verbindungen (z. B. Cisplatin, Carboplatin) – Interkalierende Substanzen (z. B. Anthrazykline, Actinomycin D) – Topoisomerase-I-Inhibitoren (z. B. Topotecan) – Topoisomerase-II-Inhibitoren (z. B. Etoposid) 4 Antimetabolite (z. B. Methotrexat, Cytosin-Arabinosid, 6-Mercaptopurin, 6-Thioguanin) 4 Mitosehemmer (z. B. Vincristin, Vinblastin, Paclitaxel) 4 Enzyme (z. B. Asparaginase 4 Hormone (z. B. Glukokortikoide) 4 Zielgerichtete Therapien (z. B. Imatinib) 4 Monoklonale Antikörper (z. B. Rituximab) 4 Interferone; Zytokine
42
536
42
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
Unerwünschte Wirkungen. Aufgrund ihrer unspezifischen Wirkung führen Zytostatika nicht nur zu einer Hemmung des Tumorwachstums, sondern auch zu einer Hemmung gesunder, proliferierender Körperzellen wie insbesondere des hämatopoetischen und Immunsystems, der Schleimhäute im Gastrointestinaltrakt und die Zellen der Haarwurzel. Hieraus ergeben sich unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen), wie insbesondere die schwere Granulozytopenie mit Gefahr von lebensbedrohlichen Infektionen, Anämie, Thrombozytopenie, Mukositis und Haarverlust. Die wichtigsten unerwünschten Wirkungen der derzeit in der pädiatrischen Onkologie eingesetzten Zytostatika sind in . Tab. 42.8 zusammengefasst.
Die bislang nur in wenigen Zentren mögliche Protonenbestrahlung führt zu einer deutlich besseren Konformation als die Photonenbestrahlung. Sie wird zukünftig möglicherweise insbesondere bei Tumoren im Bereich der Schädelbasis eingesetzt werden (Hug et al. 2002; Weber et al. 2005).
Polychemotherapie. Schon frühzeitig wurde der Vorteil
Übersicht Supportivtherapien in der pädiatrischen Onkologie
der kombinierten Gabe verschiedener Zytostatika mit unterschiedlichem Ansatz offensichtlich. Sowohl die Rate als auch die Dauer der Remissionen konnten bei Kindern und Jugendlichen mit Leukämien und soliden Tumoren durch die Kombination mehrerer Zytostatika signifikant verbessert werden (Gadner et al. 2006). Eine Polychemotherapie vermag die Selektion resistenter Tumorzellen zu unterdrücken bzw. zu verzögern. Außerdem wird eine Polychemotherapie der Heterogenität im Tumorgewebe bei soliden Tumoren besser gerecht als eine Monotherapie. Unterschiede im Toxizitätsprofil der bei einer Polychemotherapie eingesetzten Zytostatika sind ebenfalls von Vorteil.
42.4.3
Radiotherapie
Die systemisch wirksame Polychemotherapie wird durch lokale Therapiemaßnahmen ergänzt. Neben der chirurgischen Therapie ist auch die Radiotherapie eine wirksame lokaltherapeutische Maßnahme. Sie ist indiziert bei inoperablen Tumorlokalisationen, wie z. B. ausgedehnten Weichteil- oder Knochensarkomen im Bereich der Wirbelsäule. Die Strahlentherapie ist darüber hinaus in der Lage, die Sanierung bestimmter, der Polychemotherapie nicht oder schwer zugänglichen Körperregionen (z. B. Hoden; ZNS) vorzunehmen, die aufgrund anatomischer Eigenschaften (Blut-Hirn-Schranke) einer systemischen Chemotherapie nur wenig oder gar nicht zugänglich sind. Radiotherapie wird in der Regel durch externe Strahlenquellen appliziert (Gammastrahlung; Elektronenstrahlung). Daneben werden bei der »Brachytherapie« kurzfristig Strahlenquellen in das Tumorgebiet appliziert, beispielsweise mittels speziell angefertigten »Flabs«. Darüber hinaus verfügt die Nuklearmedizin über hoch radioaktiv markierte spezifische Tumortracer, die nicht nur in der Diagnostik, sondern auch in der Therapie von pädiatrischen Tumoren eingesetzt werden: 4 J131Metajodbenzylguanidine (MIBG) bei disseminierten Neuroblastomen 4 153Samarium Ethylene Diamine Tetramethylene Phosphonate bei disseminierten Osteosarkomen (Franzius et al. 2002).
42.4.4
Supportivtherapie
> Jede onkologische Therapie bedarf einer intensiven Supportivtherapie.
4 Diagnostik, Therapie und Prävention des Tumorlysesyndroms (z. B. bei Burkitt-Lymphom) 4 Diagnostik, Therapie und Prävention von Infektionen 4 Diagnostik Therapie und Prävention von Blutungen und thromboembolischen Ereignissen 4 Transfusion von Blut und Blutkomponenten 4 Therapie und Prävention von Übelkeit und Erbrechen 4 Ernährungstherapie 4 Schmerztherapie 4 Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen 4 Kunst- und Musiktherapie 4 Palliativtherapie
Die schwerwiegendsten therapiebedingten Komplikationen sind Infektionen bei schwerer Granulozytopenie und herabgesetzter Barrierefunktion der Haut und der geschädigten Schleimhäute. Eine zusätzliche Gefahr bilden invasive Maßnahmen wie insbesondere zentrale Venenkatheter (Simon 2001). Patienten mit ausgeprägter Granulozytopenie sind insbesondere durch grampositive und gramnegative Bakterien sowie durch invasive Pilzinfektionen, insbesondere durch Candida- und Aspergillus-Spezies gefährdet. Daneben treten bei herabgesetzter Funktion des T-ZellSystems häufig auch Virusinfektionen, teilweise durch endogene Reaktivierung, wie bei den Herpesviren: Herpessimples-Virus, Varizella-Zoster-Virus, Cytomegalie-Virus und Epstein-Barr-Virus auf. Eine Übersicht über Diagnostik, Therapie und Prävention infektiöser Komplikationen bei onkologischen Patienten findet sich bei Groll et al. (2006). Psychosoziale Betreuung. Bei der Lebensbedrohlichkeit
onkologischer Erkrankungen und der Intensität der Therapie kommt einer psychosozialen Betreuung der Patienten und ihrer Familien eine besondere Bedeutung zu. Ziel der Behandlung ist nicht nur die körperliche Heilung sondern auch die seelische Gesundheit der Patienten, seiner Geschwister und seiner Eltern zu erhalten bzw. zu unterstüt-
42.4 · Therapie
. Tab. 42.8. Unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) von Zytostatika Knochenmarksuppression
Immunsuppression
Gewebetoxizität
Übelkeit, Erbrechen
Zystitis
Nephrotoxizität
Kardiotoxizität
Neurotoxizität
Hepatotoxizität
Steroide
–
+++
Hochdosiert i.v. schmerzhaft
–
–
–
–
–
–
Vincristin
+/–
++
***
–
–
–
–
+++ (peripher) (+ IADH*)
–
Asparaginase
+
++
-
+/-
–
–
–
Enzephalopathie
++
Adriamycin
++
+
+++
++
–
–
+++
–
Daunomycin
+
Anthrazykline
Antimetabolite Methotrexat (oral, i.v., i.m. i.th.)
++*
++
–
Mukositis ++ (vor allem hochdosiert)
-
++ (hochdosiert)
–
++ (hochdosiert + chronisch i.m.+ i.th.)
++
6-Mercaptopurin (6-Thioguanin)
+
+
–
Selten
–
–
–
-
+
Cytosine Arabinoside (i.v., i.m., i.th.)
++
++
–
++ (Diarrhö bei Infusion)
–
–
–
Zerebellär wenn hochdosiert
–
Cyclophosphamid
++
++
++
+++
++
+
+ (hochdosiert)
+ (LADH)
–
Epipodophyllo-toxine (Etoposid)
++
+
+
± (Mukositis)
–
–
± (Hypo-tension)
+ (peripher)
+
Cisplatin
++
++
+
+++
–
+++
+
+++ (Otoxiziti)
+
Carboplatin
+++
+
+
++
–
+
+
+
+
Alkylanzien
537
*IADH inadäquate ADH-Sekretion
42
538
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
zen. Eine solche Betreuung der betroffenen Familien ist nur im multidisziplinären Team mit Beteiligung von Psychologen, Sozialarbeitern, Erziehern, Kunsttherapeuten und Seelsorgern möglich.
42.4.5
42
Therapieoptimierungsstudien
Die Behandlung onkologischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgt in Deutschland, Österreich und einigen Zentren der Schweiz entsprechend den jeweils aktuellen Therapieoptimierungsstudien der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH). Die derzeit aktuellen Therapieoptimierungsstudien sind in . Tab. 42.9 zusammengefasst. Nur mit Hilfe dieser prospektiven Therapieoptimierungsstudien konnten die hohen Heilungsraten der verschiedenen onkologischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gewährleistet und verbessert werden. Die Behandlung erfolgt generell stratifiziert in Therapiegruppen entsprechend dem Risiko, einen Rückfall zu erleiden und in Abhängigkeit vom Ansprechen auf die jeweils durchgeführte Therapie. Dieses Therapieansprechen (Response) ist der übergeordnete prognostische Parameter bei allen malignen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Die Reihenfolge der therapeutischen Maßnahmen wird in der Regel wie folgt durchgeführt: 4 Präoperative (neoadjuvante Polychemotherapie) 4 Ggf. präoperative Radiotherapie (nur in seltenen Situationen, z. B. bei schwer operablen Weichteilsarkomen) 4 Definitive Tumorresektion mit dem Ziel einer R0-Resektion (Ausnahme: disseminiertes Neuroblastom) 4 Postoperative (adjuvante) Polychemotherapie 4 Ggf. postoperative Radiotherapie, falls keine präoperative Radiotherapie durchgeführt wurde
Die postoperative Chemotherapie wird bei einigen Tumoren in Abhängigkeit vom Ansprechen auf die präoperative Chemotherapie, entsprechend der Klassifikation von SalzerKuntschik (1983), identisch fortgesetzt oder durch weitere bislang noch nicht gegebene Zytostatika ergänzt/ersetzt. Die Therapieoptimierungsstudien gewährleisten valide epidemiologische tumorbiologische und klinische Daten von hoher Datenqualität mit einem hohen Grad an Vollständigkeit der Erfassung. Durch entsprechende Randomisierung innerhalb bestimmter Risikogruppen ist eine weitere Therapieoptimierung in nachfolgenden Therapiestudien möglich.
42.5
Prognose
> Bei Anwendung der aktuellen Therapieoptimierungsstudien können heute 3 von 4 Kindern mit einer dauerhaften Heilung von ihrer malignen Erkrankung rechnen.
Die derzeit erwarteten Heilungsraten der verschiedenen Tumorentitäten sind in . Tab. 42.1 zusammengestellt. Ursachen für Therapieversagen der onkologischen Therapie können sein: 4 Fehlerhaftes Staging (z. B. Übersehen von Hodgkin-Infiltraten beim Hodgkin-Lymphom) 4 Versagen der Supportivtherapie (z. B. Tod in Folge einer schweren Infektion, Blutung oder einem thromboembolischen Ereignis) 4 Ungenügende Therapie von Tumorzellen in anatomischen Nischen (z. B. ZNS oder Hoden bei NonHodgkin-Lymphomen) 4 Primäre Therapieresistenz des Tumors gegenüber der Polychemotherapie (sehr selten) 4 Sekundäre Resistenz eines Rezidivtumors auf Polychemotherapie
. Tab. 42.9. Therapieoptimierungsstudien für solide Tumoren der GPOH (Stand: Februar 2009) Studienbezeichnung
Studienleitung (website)
Ewing-Sarkom
Prof. Dr. med. H. Jürgens, Münster, www.euro-ewing.uni-muenster.de
Hepatoblastom: HB
Prof. Dr. med. D. von Schweinitz, München, www.klinikum.uni-muenchen.de
Maligne nichttestikuläre Keimzelltumoren: MAKEI; SIOP CNS GCT
Frau Dr. med. G. Calaminus, Münster, www.klinikum.uni-muenster.de
Maligne endokrine Tumoren: MET
Priv.-Doz. Dr. med. Peter Vorwerk, Magdeburg, www.med.uni-magdeburg.de
Nephroblastom (Wilms-Tumor): Nephroblastom-Studie, SIOP/GPOH
Prof. Dr. med. N. Graf, Homburg, Saar, www.nephroblastom.de.vu
Neuroblastom: NB
Prof. Dr. med. F. Berthold, Köln, www.cms.uk-koeln.de/kinderonkologie/content/forschung_ kinderonkologie/, neuroblastom_studie
Osteosarkom: COSS
Prof. Dr. med. Stefan Bielack, Stuttgart, www.olgahospital-stuttgart.de
Weichteilsarkome: CWS
Prof. Dr. med. E. Koscielniak, Stuttgart, www.olgahospital-stuttgart.de
Nasopharynxkarzinom
Prof. Dr. med. R. Mertens, Aachen, www.ukaachen.de
Rhatoloide Tumoren
Prof. Dr. med. U. Frühwald, Münster und Prof. Dr. med. N. Graf, Homburg/Saar
539 42.6 · Tumornachsorge und Spätfolgen
. Tab. 42.10. Spätfolgen nach Therapie eines malignen Tumors im Kindes- und Jugendalter Folgeerkrankungen Sekundäre maligne Neoplasien (SMN)
Organstörungen
Nach Polychemotherapie
4 Myeloische Neoplasien (MDS und AML) nach Alkylanzien, insbesondere nach Mechlorethamin und Chlorambuzil sowie nach Topoisomerase-II-Inhibitoren
Nach Radiotherapie
4 4 4 4
Sekundäre Tumoren im Bestrahlungsfeld: Schilddrüsenkarzinome Mammakarzinome Sarkome
Nach Polychemotherapie
4 4 4 4 4
Infertilität nach Chemotherapie, besonders bei Jungen nach Procarbazin und Alkylanzien Kardiomyopathie nach Anthrazyklinen und Alkylanzien Lungenfibrose nach Bleomycin Tubuläre Nierenfunktionsstörung (Fanconi-Syndrom) nach Ifosfamid Schwerhörigkeit nach Platinderivaten
Nach Radiotherapie
4 4 4 4
Wachstumsstörungen an Skelett und Weichgewebe Infertilität nach Gonadenbestrahlung Schilddrüsenfunktionsstörungen und Schilddrüsenkarzinom Herzfunktionsstörungen/Panzerherz/Veränderungen an den Herzklappen und den Koronararterien nach Mediastinalbestrahlung 4 Lungenfibrose nach Mediastinal- und Lungenbestrahlung
Folgen der StagingLaparatomie
Erhöhte Inzidenz von postoperativem Bridenileus
Folgen der Splenektomie
Erhöhte Inzidenz einer foudroyanten Postsplenektomiesepsis (OPSI)
42.6
Tumornachsorge und Spätfolgen
Auch wenn die Mehrzahl der geheilten Patienten nach Therapieende keine wesentlichen gesundheitlichen Spätfolgen aufweist, so sind doch dosisabhängige längerfristige Spätfolgen wie Kardiotoxizität, Infertilität, Neurotoxizität sowohl nach Polychemotherapie wie auch nach einer Radiotherapie möglich. Die wichtigsten Spätfolgen nach Therapie eines malignen Tumors im Kindes- und Jugendalters sind in . Tab. 42.10 zusammengefasst. Schwerwiegendste Spätfolge nach einer onkologischen Therapie ist das Auftreten von Zweitmalignomen. Das kumulative Risiko, nach einer erfolgreichen Behandlung einer Krebsbehandlung innerhalb der nächsten 25 Jahre einen Zweittumor zu entwickeln, liegt je nach Tumorentität bei 3,7–12%. Die höchste Inzidenz an Zweittumoren sind nach Hodgkin-Lymphomen beschrieben, wobei die international mitgeteilten Inzidenzen (Bahtia et al. 2003) deutlich höher liegen als die den deutschen Hodgkin-Studien mitgeteilten Inzidenzen (Schellong et al. 2004). Dies ist wahrscheinlich durch eine deutliche Einschränkung der Bestrahlungsdosis und der Bestrahlungsfelder in den deutschen Hodgkin-Studien bedingt. Geheilte ehemalige onkologische Patienten bedürfen einer lebenslangen Nachsorge, die zunächst durch die pädiatrischen Onkologien, später durch internistische Onkologen durchgeführt werden (. Tab. 42.11). Die aufgeführten Nachsorgeuntersuchungen dienen einer möglichst frühzeitigen Diagnose etwaiger Spätrezidive, aber insbe-
. Tab. 42.11. Nachsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen nach Therapie eines malignen Tumors Therapie
Nachsorgeuntersuchung
Nach Chemotherapie mit Anthrazyklinen und/oder Betrahlung der Herzregion
EKG und Echokardiographie 1-mal jährlich
Nach Lungenbestrahlung; Chemotherapie mit Bleomycin oder Busulfan
Lungenfunktionsprüfung 1-mal jährlich
Nach Chemotherapie mit Cisplatin
Jährliche Hörtests
Nach Bestrahlung des Halses und/oder des Mediastinums
Schilddrüsensonographie und Hormondiagnostik (TSH; T3; T4) 1-mal jährlich
Nach Bestrahlung im Bereich des Thorax und/oder der Axillen
Bei Frauen ab dem 20. Lebensjahr Mammakarzinom-Screening
Bei allen ehemaligen Tumorpatienten
Bei Männern ab dem 18. Lebensjahr und Frauen mit Amenorrhö ab dem 15. Lebensjahr 1-mal jährlich Bestimmung der Gonadotropin- und Sexualhormone sowie ggf. weitere Fertilitätsdiagnostik
Die hier beschriebenen Nachsorgeuntersuchungen müssen ggf. noch für spezifische Fragestellungen ergänzt werden
42
540
Kapitel 42 · Prinzipien der onkologischen Therapie von soliden Tumoren
sondere auch der möglichst frühen Diagnose von Spätfolgen nach onkologischer Therapie, um eine entsprechende Behandlung einleiten zu können.
Literatur
42
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43
43 Neuroblastom und andere Nebennierentumoren E. Horcher, R. Ladenstein
43.1
Epidemiologie
43.1.1
Ätiologie
43.2
Screening
43.3
Genetik und Biologie – 542
43.9
Therapie
43.3.1
43.3.4 43.3.5
Strukturelle chromosomale Aberrationen neuroblastischer Tumoren – 542 Subtypen neuroblastischer Tumoren aufgrund des DNA-Gehalts – 543 Genese neuroblastischer Tumoren und genetische intratumorale Heterogenität – 543 Spontane Tumorregression – 543 Spontane Tumorausreifung – 544
43.9.1 43.9.2 43.9.3 43.9.4 43.9.5 43.9.6 43.9.7 43.9.8
Operative Therapie – 549 Komplikationen nach operativer Therapie – 550 Chemotherapie – 550 Megatherapie – 551 Radiotherapie – 551 MIBG-Therapie – 551 Differenzierende Substanzen – 552 Therapeutische Sonderfälle – 552
43.4
Pathogenese und Pathologie
43.10
Aktuelle Therapiestrategien
43.4.1
Aufarbeitung des Tumormaterials für molekulargenetische Untersuchungen – 544 Pathohistologische Klassifikation – 544
43.10.1 43.10.2
Strategien der SIOP Europe Neuroblastoma Group (SIOPEN) – 552 Aktuelle Strategie in Deutschland – 553
43.5
Klinik
43.11
Therapie und Prognose von Rezidiven – 553
43.5.1 43.5.2
Klinisch-pathologische Präsentation Typische Symptome – 544
43.12
Neue Therapieoptionen und künftige Entwicklungen – 555
43.6
Diagnostik
43.6.1 43.6.2 43.6.3 43.6.4
Labordiagnostik – 545 Knochenmarkdiagnostik – 545 Tumorbiopsie – 545 Kriterien für Diagnosestellung, Stadieneinteilung und Therapieansprechen – 546
43.13
Andere Nebennierentumoren – 555
43.13.1
Nebennierenadenom und adrenokortikales Karzinom – 555 Phäochromozytom – 556 Eigene Beobachtungen – 556
43.7
Differenzialdiagnose – 547
43.3.2 43.3.3
43.4.2
– 542
– 542
– 542
– 544
– 544
43.8
Prognostische Faktoren – 548
43.8.1 43.8.2 43.8.3
Alter – 548 Stadium und klinische Faktoren – 548 Biologische Prognosefaktoren – 549
– 549
– 552
– 544
– 545
> Das Neuroblastom ist der häufigste extrakranielle solide Tumor des Kindesalters. Der Tumor geht von embryonalen sympathischen Neuroblasten des Grenzstranges, der Nebenniere oder den Sympathikusganglien des vegetativen Nervensystems aus. Die Morphologie entspricht den Entwicklungsstadien der sympathischen Ganglien. Etwa 2,6% sind zervikal, 14,7% thorakal 79% im Abdomen (51% in der Nebenniere und 28% extraadrenal), der Rest im Becken oder unentdeckt. Der Tumor ist heterogen mit einem weiten Spektrum in seiner klinischen Manifestation
43.13.2 43.13.3
Literatur – 557
und in seinem biologischen Verhalten. Der Verlauf der Erkrankung kann sehr variabel sein: im Säuglingsalter können Spontanremissionen sogar bei metastasierten Erkrankungen auftreten, während das 5-Jahres-Überleben älterer Kinder mit metastasierter Erkrankung nur bei etwa 40% liegt. Wichtige prognostische Faktoren sind das Alter des Patienten bei Diagnosestellung, das Erkrankungsstadium sowie molekulargenetische Marker. Die Behandlung des Neuroblastom muss risikoadaptiert erfolgen: bei lokalisierten Tumoren ist unter gewis-
542
43
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
sen Vorraussetzungen eine operative Tumorentfernung ausreichend, bei metastasierten Tumoren und/oder bei Vorliegen von Risikofaktoren ist neben der Operation meist eine intensive Chemotherapie ggf. in Kombination mit autologer Stammzellreinfusion und eine Strahlentherapie erforderlich. Neuere Therapieansätze fokussieren sich auf die Stratifizierung der Therapie nach klinischen biologischen Faktoren und durch Bildgebung erfassbare Risikofaktoren, wobei es schwierig ist, die vielen klinischen Studien und deren Ergebnisse zu vergleichen. Große kooperative Studien in den USA, Japan und Europa haben zu einem tieferen Verständnis der Biologie des Neuroblastoms geführt und zu einer Gruppierung in Patienten mit guter Prognose, die weniger intensive oder gar keine Therapie benötigen und in Patienten mit schlechter Prognose, die aggressiver behandelt werden müssen, um die Langzeitergebnisse zu verbessern.
43.1
Epidemiologie
Das Neuroblastom umfasst nach der SEER-Studie in den USA etwa 7,2% aller kindlichen Krebserkrankungen. Als embryonaler Tumor ist das Neuroblastom ein Tumor des Säuglings- und Kleinkindesalters. Mit einer Inzidenz von 1,1 Erkrankungen auf 100.000 Kinder <15 Jahren (Inzidenz vor Einführung des Screenings) ist das Neuroblastom der häufigste extrakranielle solide Tumor des Kindesalters. Bis zum Ende des 1. Lebensjahres sind fast 40% aller Neuroblastome diagnostiziert, bis zum Alter von 6 Jahren mehr als 90%. Selten findet man auch Patienten im Adoleszentenoder Erwachsenenalter. Verbesserungen in der Diagnostik, insbesondere in der pränatalen Diagnostik, und das Screening brachten eine scheinbare Erhöhung der Fallzahlen, die aber nach den letzten Ergebnissen der SEER-Studie im Zeitraum von 1973– 2000 keine Signifikanz zeigte. Etwa die Hälfte aller Patienten präsentiert sich bei Diagnose bereits mit metastasierter Erkrankung (davon entfallen ca. 4/5 auf das Stadium 4 und 1/5 auf das Stadium 4s). Patienten mit Stadium 4 sind bei Diagnosestellung zumeist älter. Im Säuglingsalter sind 15%, jenseits des 1. Lebensjahres 60% der Neuroblastome metastasiert.
43.1.1
Ätiologie
Das Neuroblastom ist keine homogene klinisch-biologische Entität, sondern eine Tumorgruppe mit einem weiten Spektrum mit völlig unterschiedlichem klinischem Verhalten. Daher war es von Anbeginn der zytogenetischen Untersuchungen ein großes Anliegen sowie eine Herausforderung, die klinisch-biologischen Untergruppen mit genetischen Merkmalen zu korrelieren. Diese sind sehr heterogen und es konnte bis dato kein spezifisches und konstantes genetisches
Ereignis gefunden werden, das in allen Neuroblastomen auftritt. Somit ist die Ätiologie des Neuroblastoms nach wie vor weitgehend unklar. Der Einfluss von Umweltfaktoren, Medikamenten, Alkohol oder Nikotin wurde in unterschiedlichen epidemiologischen Studien untersucht, aber bisher keine eindeutigen Risikofaktoren nachgewiesen.
43.2
Screening
Da ein Großteil der Neuroblastome Katecholaminmetaboliten im Urin ausscheidet, kann eine wenig belastende Urinuntersuchung zur Diagnosefindung führen. Die Hypothese einer möglichen Frühentdeckung vor dem Eintreten einer Metastasierung und damit das Erreichen einer globalen Prognoseverbesserung wurden in Japan Anfang der 80er-Jahre und ersten vielversprechenden Resultaten von verschiedenen Screeningprogrammen aufgegriffen (Tajiri et al. 2001). Screeningprogramme im 1. Lebenshalbjahr führten zu einer erheblichen Zunahme der Inzidenz, da Neuroblastome diagnostiziert wurden, die sonst unbemerkt eine Spontanremission erfahren hätten. Die betroffenen Säuglinge hatten insgesamt eine exzellente Prognose und zeigten bei Diagnosestellung niedrige Stadien und ein günstiges biologisches Profil. Es folgten weitere Untersuchungen in England, in Frankreich, Kanada und in Deutschland zunächst regional, dann wurde 1995 ein bundesweites Screening gestartet, in dem Inzidenz und Mortalität in definierten Screeningregionen mit Kontrollregion verglichen wurden. Screeningzeitpunkt war das Ende des 1. Lebensjahres (10– 18 Monate). Das Projekt wurde Ende Dezember 2000 planmäßig mit der angestrebten Anzahl von 1,5 Millionen gescreenten Kindern geschlossen. Erwartungsgemäß trat eine deutliche Überdiagnose an lokalisierten Neuroblastomen in den Screeninggebieten auf, jedoch ohne Reduktion der Inzidenz und Mortalität der metastasierten Erkrankungen (Schilling et al. 2002). > Die frühzeitige Erkennung und Behandlung von Neuroblastomen konnte die Entwicklung fortgeschrittener biologisch ungünstiger Tumoren nicht verhindern. Somit besteht aus heutiger Sicht keine Indikation mehr, ein Neuroblastomscreening durchzuführen.
43.3
Genetik und Biologie
43.3.1
Strukturelle chromosomale Aberrationen neuroblastischer Tumoren
Die Amplifikation des MYCN-Onkogens hat sich als entscheidender Marker herauskristallisiert und in etwa 20% der Tumoren beobachtet, häufig assoziiert mit Deletionen des kurzen Arms von Chromosom 1, del1p36 (Brodeur u.
543 43.3 · Genetik und Biologie
Ambros 2000). Beide Aberrationen werden in beiden großen, auf dem unterschiedlichen DNA-Gehalt beruhenden, genetischen Untergruppen gefunden. Warum aber MYCN-Amplifikationen und/oder Aberrationen der chromosomalen Region 1p36.3 nur in ca. 15% der nahetriploiden neuroblastischen Tumoren, dieselben Aberrationen jedoch in ca. 56% der diploiden Gruppe beobachtet werden, ist nach wie vor völlig unklar. Die häufigste in neuroblastischen Tumoren anzutreffende genetische Veränderung ist die Vermehrung von langen Armen des Chromosoms 17, die in ca. 66–69% aller Fälle auftreten. Die prognostische Signifikanz dieser Aberration ist aber noch nicht vollständig geklärt.
43.3.2
Subtypen neuroblastischer Tumoren aufgrund des DNA-Gehalts
Basierend auf dem unterschiedlichen DNA-Gehalt können neuroblastische Tumoren in zwei große Gruppen unterteilt werden. 55% weisen einen nahe-triploiden DNA-Gehalt (DNA-Index zwischen 1,26 und 1,74) auf und in 45% wird ein diploider (oder tetraploider bzw. kombiniert di-/tetraploider) Chromosomensatz beobachtet. Spontane, nicht therapieinduzierte Regressions- und Maturationsprozesse sind allerdings auf die nahe-triploide Untergruppen beschränkt (Ambros 1996); in ca. 15% der Fälle kann jedoch auch in diesen ein aggressives Verhalten beobachtet werden, dann findet man eine Assoziation mit strukturellen chromosomalen Veränderungen, meist Amplifikationen des MYCN-Onkogens oder Aberrationen des kurzen Arms von Chromosom 1, del(1)(p36). Allerdings handelt es sich bei der Mehrzahl der triploiden Tumoren, nämlich jenen ohne strukturelle Veränderungen, um sich gutartig verhaltende Tumoren. > Die meisten diploiden Tumoren sind hingegen auch ohne MYCN-Amplifikation und ohne 1p36.3-Aberrationen aggressiv, und zwar unabhängig vom Alter des Patienten bei Diagnose und vom Ausbreitungsstadium des Tumors zu (Ladenstein et al. 2001).
43.3.3
Genese neuroblastischer Tumoren und genetische intratumorale Heterogenität
Basierend auf der Tumorzellploidie werden zwei unterschiedliche Gruppen von neuroblastischen Tumoren unterschieden. In der überwiegenden Mehrzahl der nahe-triploiden Tumoren werden ausschließlich numerische Chromosomenaberrationen gefunden, was für das (oft selbstlimitierte) Tumorwachstum ausreichend sein dürfte. Sekundäre, zeitlich nachfolgende Veränderungen, wie die MYCN-Amplifikation und die 1p36.3-Aberration führen jedoch zu
. Abb. 43.1. Genese neuroblastischer Tumoren. Der DNA-Gehalt von triploiden Neuroblastomzellen stellt nur selten eine genaue Verdreifachung eines intakten haploiden Genoms dar. Dies würde einem DNAIndex von 1,5 entsprechen. Vielmehr werden DNA-Indices (DI) im Bereich von 1,26–1,74 gefunden. Diese DNA-Indices entsprechen, gemäß der Definition (ISCN), einer Chromosomenzahl von 58–80. Diese Tumorgruppe wird daher als »nahe-triploide« Gruppe bezeichnet. Neben den diploiden und nahe-triploiden Tumoren findet man in einer geringeren Frequenz auch tetraploide, pentaploide, hexaploide und alle erdenklichen Variationen
maligner Transformation. In der diploiden (2n) Tumorgruppe ist das tumorinitiierende Ereignis nach wie vor unbekannt. Gemeinsam ist aber allen diploiden Tumoren ein aggressives Zellwachstum (. Abb. 43.1). Neuroblastische Tumoren sind genetisch nicht homogen, so dass die Untersuchung eines kleinen Tumorareals (z. B. Biopsie) nicht für den gesamten Tumor repräsentativ ist. Am wichtigsten und folgenreichsten ist die heterogene oder fokale MYCN-Amplifikation, die man bisher in 15% aller MYCN amplifizierter Tumoren gefunden hat (Ambros et al. 2001b).
43.3.4
Spontane Tumorregression
Unter spontaner Regression versteht man eine ohne zytotoxische Therapie erfolgende Tumorrückbildung selbst »metastasierter« Tumoren. Die spontane Regression kommt am häufigsten in dem als 4s bezeichnetem Stadium vor, aber auch bei lokalisierten Tumoren und sogar in »klassischen« Stadien 4. Dieses als Wunderheilung beschriebene Phänomen ist bis heute nicht geklärt und tritt bei >50% aller Neuroblastome im ersten Lebensjahr, danach allerdings nur noch selten auf (Hero et al., 2008). Beinahe alle spontan regredierenden wie auch spontan ausreifende Tumoren zeigen einen nahe-triploiden Chromosomensatz, keine MYCN-Amplifikation und auch keine Aberrationen der chromosomalen Region 1p36.3. Zudem ist die Telomeraseaktivität in Stadium 4s-Tumoren nicht erhöht. Eine Ausnahme bilden 4s-Tumoren mit letalem Verlauf, die eine erhöhte Telomeraseaktivität aufweisen.
43
544
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
43.3.5
43
Spontane Tumorausreifung
Die spontane, ebenfalls nicht durch zytotoxische Therapie induzierte, Tumorausreifung tritt, im Gegensatz zur Regression, so gut wie nie im ersten Lebensjahr auf, sondern wird erst beginnend mit dem zweiten Lebensjahr beobachtet. Mehr oder weniger vollständig ausgereifte Tumoren, sog. Ganglioneurome, werden meist erst nach dem 4. Lebensjahr oder sogar erst im Erwachsenenalter, diagnostiziert. Die genetischen Veränderungen bestehen in einer Triploidisierung des Genoms (bzw. Penta- oder Hexaploidisierung) und einem Fehlen von Chromosom 1p36.3 und MYCN-Veränderungen (Ambros et al. 1996). In allen Ganglioneuroblastomen und Ganglioneuromen wird neben einer triploiden Zellpopulation eine diploide Zellpopulation gefunden, bei denen es sich um Schwann-Zellen handelt. In dem von Ambros entwickelten Modell sind es die Neuroblastomzellen selbst, die im Laufe des zellulären Differenzierungsprozesses chemotaktische, mitogene und auch differenzierungsinduzierende Faktoren exprimieren, und somit Schwann-Zellen aus dem umgebenden Gewebe »anlocken«, zur Proliferation und schließlich auch zur Differenzierung anregen (. Abb. 43.1).
43.4
Pathogenese und Pathologie
43.4.1
Aufarbeitung des Tumormaterials für molekulargenetische Untersuchungen
> Wegen der sog. Tumorheterogenitäten wird empfohlen, Proben von mindestens 2 morphologisch unterschiedlichen Arealen (wenn vorhanden) für die molekulargenetischen Untersuchungen einzusenden.
Die Aufarbeitung des Tumormaterials wird unter sterilen Bedingungen durchgeführt. Das genaue Prozedere wurde detailliert in den sog. »Pathology and Biology Guidelines for Resectable and Unresectable Neuroblastic Tumors and Bone Marrow Examination Guidelines« beschrieben (Ambros 2001a). Die Tumorheterogenitäten in neuroblastischen Tumoren wie z. B. des MYCN Status im Sinne einer fokalen oder heterogenen Amplifikation, d. h. jenes Markers, der für die Therapiestratifizierung heran gezogen wird, unterstreichen die Wichtigkeit, unterschiedliche Tumorareale zu untersuchen (Ambros et al. 2001b).
43.4.2
Pathohistologische Klassifikation
Der Tumor sollte nach der 1999 publizierten International Neuroblastoma Pathology Classification (INPC) klassifiziert werden (Shimada 1999a, 1999b). Sie quantifiziert den Grad der Differenzierung, Atypien, Mitoserate und Zelltod.
Die vertraute Terminologie (Neuroblastom, Ganglioneuroblastom, Ganglioneurom) wird mit jenen morphologischen Merkmalen zu verbinden, die prognostisch die größte Aussagekraft haben. Die statistischen Analysen zeigten, dass die Shimada-Klassifikation, die den sog. Mitose-Karyorrhexis-Index (MKI), die zelluläre Differenzierung der Neuroblasten sowie das Vorhandensein und Ausmaß eines Schwann-Zellstromas in Kombination mit dem Alter des Patienten für die Prognoseerstellung verwendet, die beste Aussagekraft und eine 90%-ige Konsensusrate hatte.
43.5
Klinik
43.5.1
Klinisch-pathologische Präsentation
Die klinische Manifestation hängt vom Alter des Patienten, Tumorlokalisation und Tumorstadium ab. Etwa die Hälfte aller Primärtumoren entstehen in den Nebennieren, ungefähr 30% entlang der abdominellen und etwa 20% entlang des thorakalen oder zervikalen Grenzstrangs. Auch mit sensiblen diagnostischen Verfahren wird bei ca. 2% der Patienten kein Primärtumor gefunden. Metastasen finden sich im Knochenmark (80%) und den Knochen (50%) sowie in lokoregionären Lymphknoten, weniger häufig in Fernlymphknoten. Im Stadium 4s sind vor allem die Leber (Pepper-Syndrom) und livide imponierende Hautmetastasen typische Befallsmuster, zudem findet sich auch eine Häufung multilokulärer Primärtumoren. Eine intrakranielle Metastasierung oder Lungenmetastasen sind bei der Primärdiagnose höchst selten, werden aber in der Rezidivsituation gelegentlich beobachtet.
43.5.2
Typische Symptome
Der typische Patient ist ein Säugling oder Kleinkind. Rund 20% aller Neuroblastome werden ohne wesentliche Symptome per Zufall gefunden sowie bislang auch im Rahmen von Screening-Programmen. Die initiale Symptomatik ist uncharakteristisch, Kinder mit Stadium 1 oder 2 sind wohlauf, fortgeschrittene Stadien verursachen Schmerzen, Durchfälle, Inappetenz, Gewichtsstillstand oder einen großen Bauch (Hepatomegalie bei Stadium 4s). Seltene, aber spezifische Symptome erklären sich aus der Lage des Primärtumors und der Metastasen. Zervikale Tumoren oder Tumoren des oberen Thorax verursachen häufig eine Horner-Trias (Miosis, Ptosis und Enophthalmie) durch Beeinträchtigung des Ganglion stellatum (. Abb. 43.2). Tumoren des thorakalen Grenzstranges zeigen die Tendenz, durch die Neuroforamina intraspinal vorzuwachsen (Sanduhrtumoren) und durch eine Querschnittsymptomatik aufzufallen. Pulmonale Symptome wie Husten, Pneumonie oder Luftnot können bei großen thorakalen Tumoren auftreten. Tumoren des Bauchraums behindern
545 43.6 · Diagnostik
wert für das jeweilige Alter sein (gemessen in μmol per mmol Kreatinin) um als erhöht zu gelten, zumindest zwei dieser Metaboliten müssen untersucht werden.
Tumorassoziierte Aktivitätsparameter LDH und Ferritin sind bei Diagnose oft erhöht, eignen sich
aber wegen ihrer geringen Spezifität nicht als unabhängige Tumormarker. Allerdings haben Patienten mit erhöhter LDH bzw. erhöhtem Ferritin bei Diagnose eine schlechtere Prognose als Ausdruck der Tumorlast bzw. der Tumoraktivität. Auch die neuronspezifische Enolase kann als Tumormarker im Verlauf eingesetzt werden, erhöhte Werte wurden ebenfalls mit einer schlechteren Prognose in Bezug gesetzt.
Bildgebende Verfahren . Abb. 43.2. Thorakales Neuroblastom mit Horner-Symptomatik
gelegentlich den Harnabfluss bis zur Entstehung einer Hydronephrose. Ein ein- oder beidseitiges Brillenhämatom, wahrscheinlich verursacht durch retrobulbäre Infiltrationen, ist charakteristisch für ein metastasiertes Neuroblastom. Sehr selten können initiale ZNS-Metastasen durch Hirndrucksymptomatik und Krampfanfällen zur Diagnose führen. Neben diesen Lokalsymptomen findet sich bei etwa 2% der Patienten ein paraneoplastisches Opsomyoklonus-Syndrom (»dancing eye syndrom«, Kinsbourne-Syndrom), charakterisiert durch eine typische neurologische Symptomatik mit Myoklonien von Rumpf und Extremitäten, Ataxie und Opsomyoklonus (kurze, schnelle und unregelmäßige Augenbewegungen). Therapieresistenter Durchfall bei erhöhter Sekretion von vasointestinalem Peptid (VIP) oder Hypertonie durch pressorisch wirkende Katecholaminmetaboliten sind seltene, aber charakteristische Symptome. Knochenschmerzen durch Metastasen werden fälschlich für eine rheumatische Erkrankung oder eine Osteomyelitis gehalten. Bei ausgeprägter Knochenmarkinfiltration können Anämie oder Thrombozytopenie erste Symptome sein.
43.6
Diagnostik
43.6.1
Labordiagnostik
Bildgebend stellt sich das Neuroblastom oft als inhomogener Tumor mit zentralen Nekrosen und Verkalkungen dar. Vor allem Tumoren des Bauchraumes können oft bereits mittels der Sonographie gut abgebildet werden. Die gezielte Magnetresonanztomographie (MRT) der betroffenen Körperregion ist der Computertomographie wegen der fehlenden Strahlenbelastung und wegen der besseren Detaildarstellung überlegen (. Abb. 43.3). Charakteristische Verkalkungen werden allerdings im MRT nicht so deutlich dargestellt wie im Computertomogramm (CT). Zur Ganzkörperuntersuchung wird 123Meta-Iodobenzylguanidin (MIBG), ein Noradrenalinanalogon, herangezogen. Etwa 85% aller Neuroblastome reichern MIBG an. Die 123MIBG Szintigraphie eignet sich weniger zur Differenzierung zwischen Knochen und Knochenmarksbefall. Bei MIBG-negativen Primärtumoren wir die Tc99Szintigraphie zur Klärung eines Skelettbefalls herangezogen. Beide Methoden zeigen keine komplette Konkordanz, der MIBGSzintigraphie wird aufgrund der höheren Spezifität der Vorrang gegeben.
43.6.2
Knochenmarkdiagnostik
Beidseitig gewonnene Knochenmarkaspirate (jeweils 5 ml) aus der hinteren Darmbeinschaufelleiste und Biopsien des Knochenmarkkerns (1 cm) werden benötigt, um eine Beteiligung des Knochenmarks auszuschließen. Mittels Digangliosid(GD2)-Antikörper kann eine Tumorzelle auf 105 Zellen nachgewiesen werden.
Katcholaminmetabolite Neuroblastomzellen können ebenso wie die chromoaffinen Zellen des Nebennierenmarkes, Katecholamine produzieren, deren Metaboliten (Homovanillinsäure, Vanillinmandelsäure, Dopamin) bei über 80% der Patienten im Spontanurin oder Serum erhöht nachgewiesen und als Tumormarker bei Diagnose und im Verlauf benutzt werden. Die Werte müssen >3 Standardabweichungen über dem Mittel-
43.6.3
Tumorbiopsie
Vor Behandlungsbeginn ist eine histologische Diagnosesicherung durch chirurgische Entnahme einer Biopsie oder ultraschall- bzw. CT-gesteuerten Nadelbiopsie (»Tru-Cut«) unumgänglich. Nur bei einem Knochenmarksbefall über 60% kann die Diagnose einschließlich der notwendigen
43
546
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
a
c
43
b
d
. Abb. 43.3a–d. Abdominelles Neuroblastom bei 11 Monate altem Kind. a, b Tumorumscheidung des Tr. coeliacus (a) und der A. mesenterica superior (b). c, d Präoperative Situation nach Chemotherapie:
deutliche Tumorreduktion, aber keine Änderung der anatomischen Situation; sowohl der Tr. coeliacus (c) als auch die A. mesenterica sup. (d) sind vom Tumor weiterhin eingescheidet
molekulargenetischen Analysen aus dem Knochenmark gestellt werden und auf eine Tumorbiopsie verzichtet werden.
Das International Neuroblastoma Risk Group (INRG) Consensus Pretreatment Classification System (Cohen et al. 2008) soll nun abgelöst werden durch das International Neuroblastoma Risk Grouping Staging System (INRG; . Tab. 43.2). Es basiert auf der Ausdehnung des Tumors nach bildgebenden Kriterien zum Zeitpunkt der Diagnose, also vor Behandlungsbeginn, es ist besser reproduzierbar und weniger abhängig von der subjektiven Interpretation des Chirurgen. Die Mittellinie ist kein Kriterium mehr und der Lymphknotenstatus wird bei lokalisierten Tumoren nicht mehr einbezogen. Die SIOPEN sieht nun eine neue Risikogruppeneinteilung vor, die nicht mehr Alter bei Diagnose 12 Monate, sondern 18 Monate als Cut off vorsieht. Die durch Bildgebung definierten chirurgischen Risikofaktoren – Image Defined Risk Factors (IDRF; Monclair et al. 2008) – in Bezug auf die Lokalisation sind: 4 Hals: Umscheidung der A. vertebralis, A. carotis, V. jugularis, Ausdehnung zur Schädelbasis. Am zervikothorakalen Übergang: Infiltration des Plexus brachialis, Umscheidung der A. vertebralis, A. carotis, A. subclavia, Kompression der Trachea 4 Thorax: Umscheidung der Trachea oder eines Hauptbronchus, Umscheidung der Aorta und/oder ihre Äste, thorakoabdominelle Tumorausdehnung, Infiltration
43.6.4
Kriterien für Diagnosestellung, Stadieneinteilung und Therapieansprechen
Das von Brodeur 1993 erarbeitete International Neuroblastoma Staging System (INSS) stellt eine Weiterentwicklung und Spezifizierung der alten Evans Klassifikation (Stadien I, II, III, IV, IVs) dar und ist durch arabische Zahlen gekennzeichnet (Stadien 1, 2a, 2b, 3, 4, 4s). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Einteilung nicht mehr überwiegend auf klinischen und radiologischen Untersuchungsergebnissen beruht, sondern auch chirurgische und histologische Kriterien maßgebend sind. Dadurch sind die lokalisierten Stadien schärfer gegeneinander abgrenzbar (. Tab. 43.1). Im Rahmen der INSS-Kriterien wurde auch das Tumoransprechen genau definiert: 4 CR-VGPR-PR (»complete – very good partial – partial remission«) 4 MR-NR (»mixed – no response«) 4 PD (»progressive disease«)
547 43.7 · Differenzialdiagnose
. Tab. 43.1. INSS-Stadieneinteilung Stadium 1
Lokalisierte Tumoren mit makroskopisch kompletter Entfernung (mit oder ohne mikroskopischen Resttumor); repräsentative ipsi- und kontralaterale Lymphknoten sind histologisch ohne Tumorbefall; mit dem Tumor entfernte anhängende Lymphknoten dürfen befallen sein
Stadium 2a
Lokalisierter Tumor mit makroskopisch inkompletter Entfernung; repräsentative ipsilaterale (nicht am Tumor adhärente) Lymphknoten sind histologisch ohne Tumorbefall
Stadium 2bB
Lokalisierter Tumor mit oder ohne makroskopisch kompletter Entfernung; ipsilaterale nicht-adhärente Lymphknoten zeigen Tumorbefall, vergrößerte, kontralaterale Lymphknoten müssen histologisch negativ sein
Stadium 3
Nicht-resektabler unilateraler Tumor mit Überschreiten der Mittellinie mit oder ohne Lymphknotenbefall 4 oder unilateraler lokalisierter Tumor mit kontralateralem Lymphknotenbefall 4 oder Mittellinientumor mit bilateraler Ausdehnung durch Infiltration (nicht resektabel) oder durch Lymphknotenbefall (Das Überschreiten der Mittellinie ist definiert durch infiltratives Erreichen /Überschreiten der Wirbelkante der Gegenseite)
Stadium 4
Dissemination des Tumors in Fernlymphknoten, Knochen, Knochenmark, Leber, Haut und/oder andere Organe ausgenommen Stadium 4s
Stadium 4s
Lokalisierter Primärtumor bei Säuglingen im ersten Lebensjahr (definiert entsprechend dem Stadium 1, 2a oder 2b) mit Dissemination in Haut, Leber und/oder das Knochenmark. Der Knochenmarkbefall muss minimal sein, d. h. in der Knochenmarkbiopsie oder Aspiration sind weniger als 10% aller kernhaltiger Zellen maligne – bei größerem Anteil an Tumorzellen Einordnung als Stadium 4 –, MIBG-Szintigramm im Knochenmark negativ
. Tab. 43.2. INRG-Stadieneinteilung Stadium L1
Lokoregionaler Tumor, der keine vitalen Strukturen (definiert nach den IDRF) involviert
Stadium L2
Lokoregionaler Tumor mit 1 oder 2 IDRF
Stadium M
Fernmetastasen (ausgenommen Stadium Ms)
Stadium Ms
Metastasierende Erkrankung beschränkt auf Haut- und/oder Leber- und/oder Knochenmark
der kostovertebralen Verbindung Th9–Th12, maligner Pleuraerguss 4 Abdomen: Infiltration der Porta hepatis, Infiltration des Tr. coeliacus, A. mesenterica superior, Tumorinvasion einer oder beider Nierenhili, Umscheidung der Aorta und/oder V. cava, Umscheidung der Iliakalgefäße, Beckentumor über das Foramen ischiadicum majus, Aszites 4 Andere Risikofaktoren: Sanduhrtumor mit Kompression des Myelons, Infiltration von Organen und Strukturen wie Perikard, Zwerchfell, Niere. Leber, duodenopankreatischer Block, Mesenterialwurzel, Tumorgröße oder Tumorfragilität Weitere Risikofaktoren zur Festlegung der Risikogruppe vor Behandlungsbeginn (. Tab. 43.3) sind die histologische Kategorie und der Grad der Differenzierung sowie 3 biologische Faktoren, nämlich MYCN, 11q und die Plodie. Die Risikokategorien umfassen folgende Erwartung auf ein ereignisfreies 5-Jahres-Überleben: 4 Sehr niedrig (>85%) 4 Niedrig (>75% bis ≤85%)
4 Mittel ≥50% bis ≤75%) 4 Hoch (<50%). In der LNESG-1-Studie der International Society for Pediatric Oncology, European Neuroblastoma Group (SIOPEN; De Bernardi et al. 2008) wurden 811 Patienten untersucht und bei 719 die SRF analysiert (Cecchetto et al. 2005). Patienten mit Risikofaktoren hatten eine geringere Rate an kompletten Tumorresektionen (46,4 versus 74,5%) und ein höheres Risiko für Komplikationen (17,4 versus 5%). 2 Kinder verstarben chirurgiebedingt. Abgesehen von den Risikofaktoren ist die Operabilität auch von der Erfahrung des Chirurgen abhängig, es empfiehlt sich daher, Risikopatienten in Zentren zu behandeln.
43.7
Differenzialdiagnose
Morphologisch sind Neuroblastome aus unreifen Zellelementen zusammengesetzt, den Neuroblasten, und – je nach Ausmaß der Differenzierung – aus teilweise oder komplett ausgereiften Ganglienzellen und Schwann-Zellen. Lichtmikroskopisch ähneln Neuroblasten den primitiven Vorläuferzellen und imponieren als »kleine, blaue und runde Zellen« mit dichtem Kern und spärlichem Zytoplasma. Gelegentlich sind sie rosettenförmig angeordnet mit Neutrophil im Zentrum (Homer-Wright-Rosetten). Differenzialdiagnostisch sind die unreifen Tumoren von anderen klein-, rund- und blauzelligen Tumoren (vor allem Ewing-Tumoren, Rhabdomyosarkomen und Nephroblastomen) abzugrenzen. Das gelingt mit immunhistochemischen Zusatzuntersuchungen und durch molekulargenetische Abklärung.
43
548
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
. Tab. 43.3 INRGStadium
43
Alter (Monate)
Histologische Kategorie
L1/l2
GN ausreifend, GNB »intermixed«
L1
Jede, außer GN ausreifend, GNB »intermixed«
L2
<18
Jede, außer GN ausreife,d GNB »intermixed«
≥18
GNB nodulär, Neuroblastom
Grad der Tumordifferenzierung
11q-Aberration
Risikogruppe vor Behandlungsbeginn
Differenziert
NA
B Sehr niedrig
Amp
K Hoch
NA
Nein
D Niedrig
NA
Nein
E Niedrig
Ja
H Mittel*
NA
H Mittel*
Amp
N Hoch
<18
NA
Hyperdiploid
F Niedrig
<12
NA
Diploid
I Mittel
12–18
NA
Diploid
J Mittel
<18
Amp
O Hoch
≥18 MS
Ploidie
A Sehr niedrig
Wenig differenziert oder undifferenziert M
MYCN
<18
P Hoch NA
Amp
Nein
C Sehr niedrig
Ja
Q Hoch R Hoch
GN Ganglioneurom, GNB Ganglioneuroblstom, AMP Amplifikation, NA nicht Amplifiziert, L lokoregionale Risikofaktoren, freie Felder = jeder Parameter zulässig, Diplodie DNA-Index ≤1, hyperdiploid DANN-Index >1
43.8
Prognostische Faktoren
Seit dem Beginn kooperativer Studien vor rund 20 Jahren konnte die Überlebenschance von Kindern mit Neuroblastom kontinuierlich verbessert werden. Die Prognose ist stark vom Alter, vom Erkrankungsstadium bei Diagnose und biologischen Risikofaktoren beeinflusst.
43.8.1
Alter
Das Gesamtüberleben für alle Stadien gemeinsam liegt in der Gruppe der unter Einjährigen bei etwa 90% (nahe 100% für Stadien 1 und 2), während die prognostische Erwartungshaltung bei den älteren Kindern auf 60% und beim Stadium 4 noch weiter absinkt.
43.8.2
Stadium und klinische Faktoren
Das Ausmaß der lokoregionalen Infiltration, die Radikalität der Tumorresektion und das Ansprechen auf die Chemotherapie beeinflussen die Prognose wesentlich. Stadium 1 und 2. Ungefähr 20–30% haben initial resezierbare Primärtumoren und keine Fernmetastasen. Die Prognose ist sehr gut mit einem 5-Jahres-Überleben von 80–100%. > Alter bei Diagnosestellung >1 Jahr, thorakale Lokalisation und das Fehlen einer regionalen Lymphknotenbeteiligung sind klassische günstige Prognoseparameter. Säuglinge mit prä- oder perinatal durch Ultraschall diagnostizierten, voraussichtlichen Stadium-1-Nebennierentumoren können ohne weitere Diagnostik ausschließlich beobachtet werden (Holgersen et al. 1996).
549 43.9 · Therapie
Stadium 3. Kinder mit Infiltration der Mittellinie haben
abhängig von der regionalen Tumorausdehnung variable Überlebensraten von 20–90%, am günstigsten für Säuglinge mit Stadium 3 mit 90% (. Abb. 43.3). Stadium 4s. Säuglinge mit Stadium 4s haben in der Mehr-
zahl eine günstige Biologie und die Fähigkeit zur Spontanremission mit eine relativ guten Prognose von ca. 80%. Säuglinge, die schon bei Diagnose schwerst krank sind, sind durch rasche Tumorprogresienz höchst gefährdet und sollten einer Chemo-oder Strahlentherapie zugeführt werden. Trotz rechtzeitig eingesetzter Behandlung versterben 20% der Säuglinge mit Stadium 4s in der Frühphase der Erkrankung am Multiorganversagen durch die infiltrative Tumorzelllast. Stadium 4. Das disseminierte Neuroblastom bei Kindern
über 18 Monate hat nach wie vor eine schlechte Langzeitprognose, obwohl mit der Intensivierung der Chemotherapie die initialen Ansprechraten auf etwa 90% verbessert wurden und das Überleben nach 2 Jahren von ehemals 10% auf 50–60% anstieg. Dennoch liegt die Prognose dieser Patienten nach 5 Jahren bei nur 30%, und 20% der zu diesem Zeitpunkt überlebenden Patienten erleiden ein spätes Rezidiv (Cotterill et al. 2001). Das Ansprechen auf die Induktionstherapie ist von prognostischer Bedeutung. Im EBMT-Register zeigen Kinder mit persistierendem Knochenmarkbefall ein 5-JahresÜberleben von 23%, während es für jene mit einer Kno-
. Tab. 43.4. Biologische Prognosefaktoren Merkmal
Ungünstiger Einfluss
Referenz
MYCN
Amplifikation
Seeger et al. 1985; Brodeur u. Ambros 1984; Bagatell et al. 2008
DNA-Ploidie
Di-/tetraploid
Carlsen et al. 1992; Ladenstein et al. 2001; Look et al. 1991
Deletion 1p 36.2
Vorhanden
Caron et al. 1996; Christiansen et al. 1988
17q gain
Vorhanden
Bown et al. 1999; Plantaz et al. 1997
Deletion 11q
Vorhanden
Guo et al. 1999; Luttikhuis 2001
MRPExpression
Hoch
Norris et al. 1996
Telomerase
Hohe Aktivität
Hiyama et al. 1995; Maitra et al. 1991
TrkAExpression
Fehlend
Kogner et al. 1993; Nakagawara et al. 1993
CD44Expression
Fehlend
Combaret et al. 1997; Terpe et al. 1994
chenmarksremission 32% beträgt. Ein weiterer deutlich diskriminierender Faktor scheint die Persistenz von MIBG-positivem Skelettbefall (43% der Patienten) am Ende der Induktionstherapie zu sein und zwar unabhängig vom Primärtumor. Mit einer Megatherapie und nachfolgender Stammzelltransplantation (MGT/SCT) haben diese Patienten ein ereignisfreies Überleben (EFS) von 15% im Gegensatz zu Patienten ohne Skelettmetastasen mit einem EFS von 38% nach 5 Jahren (p=0,017) (Ladenstein et al. 1998).
43.8.3
Biologische Prognosefaktoren
Serologische Prognosefaktoren bei Diagnose sind erhöhte Serumkonzentrationen von LDH, der neuronspezifischen Enolase (NSE) und des Ferritins. Die prognostische Wertigkeit biologischer Faktoren der Tumorzellen (. Tab. 43.4), dominierend die MYCN-Amplifikation, rückt immer mehr in den Vordergrund. Dennoch ist die Überprüfung vieler Faktoren in prospektiv geführten, ausreichend großen Behandlungsgruppen noch ausständig.
43.9
Therapie
Die Behandlung von Neuroblastomen muss den unterschiedlichen Verlaufsformen Rechnung tragen und soll daher immer im Rahmen von kooperativen Therapieoptimierungsstudien erfolgen. Grundsätzlich unterscheiden die meisten Studien eine Niedrigrisiko-, eine Standardrisikound eine Hochrisikogruppe. Für die Stratifizierung werden von den einzelnen Studiengruppen (International Society of Pediatric Oncology European Neuroblastoma Group [SIOPEN], Children’s Oncology Group [COG/USA], German Pediatric Oncology Group [GPOH/Deutschland]) ähnliche Kombinationen prognostischer Faktoren, nämlich das Alter, das Stadium, pathohistologische und molekulargenetische Merkmale herangezogen. Das Spektrum der Therapieoptionen reicht entsprechend der Stratifizierung von ausschließlich chirurgischen Maßnahmen bis hin zu maximalen Kombinationskonzepten der diversen Therapiemodalitäten wie Operation, Polychemotherapie, Megatherapie/Stammzellreinfusion (MGT/SCT), Bestrahlung (konventionell und / oder therapeutischer Einsatz von 123Iod-MIBG), Differenzierungstherapie mit Retinoiden und Immuntherapie.
43.9.1
Operative Therapie
Der Chirurg hat folgende Aufgaben: 4 Gewinnung von Tumormaterial für histopathologische und molekularbiologische Untersuchungen (sofern die Diagnose nicht aus dem Knochenmark oder durch Nadelbiopsie möglich ist)
43
550
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
4 Resektion des Primärtumors unter Abwägung der Risikofaktoren primär ohne Beschädigung von Organen oder Nerven 4 Entfernung von ipsi- und kontralateralen Lymphknoten 4 Evaluierung des chirurgischen Stadiums 4 Supportive Maßnahmen sowie Behandlung von Komplikationen
43
Das Ausmaß der chirurgischen Intervention wird klassifiziert als: 4 Tumorbiopsie 4 Komplette Resektion 4 Resektion mit minimalem Rest 4 Debulking-Resektion Resektionen von weniger als 50% sind einer Biopsie gleich zu setzen. Die Operabilität muss mittels MRT oder CT präoperativ abgeschätzt werden. Falls Zweifel bestehen, sollte der Biopsie der Vorzug gegenüber einer radikalen Tumorentfernung mit Risiko gegeben werden. Eine radikale Tumorentfernung sollte bei lokalisiertem Tumor ohne Metastasierung und fehlenden Risikofaktoren angestrebt werden, wenn auf Basis klinischer und radiologischer Kriterien dies ohne Risiko und ohne Gefährdung eines Organs machbar scheint. Bei metastasierten Tumoren ist die Tumorentfernung nur ratsam, wenn dies der geeignetste Weg zur Gewinnung von Material für die Analysen ist. Bei verzögerten oder Second-look-Operationen nach der neoadjuvanten Chemotherapie sollte auf jeden Fall eine komplette Tumorresektion oder Resektion mit minimalem Rest ohne Mutilation (z. B. Nephrektomie) angestrebt werden (. Abb. 43.3). Eine verzögerte Tumorresektion beim Stadium 4S ist nicht erforderlich, insbesondere wenn es sich um einen regressiven Krankheitsverlauf handelt.
43.9.2
Komplikationen nach operativer Therapie
Frühkomplikationen. Frühkomplikationen sind in erster Linie Blutungen oder Organverlust beim Versuch, große Tumoren zu resezieren. Tumoren mit Überschreitung der Mittellinie umscheiden die Aorta und die V. cava, im Bereich der abdominellen Aorta sind der Tr. coeliacus, die A. mesenterica superior und die Nierenarterien eine große Herausforderung bei der Tumordissektion. Der Tumor infiltriert typischerweise die Adventitia, so dass eine Präparationslinie nur unterhalb der Adventitia möglich ist und bei langstreckigen Dissektionen das Risiko des Gefäßspasmus und sekundärer Thrombosierung mit Organverlust besteht: dies kann vital bedrohlich für die Leber (A. hepatica) oder den Dünndarm (A. mesenterica superior) sein, einseitiger Organverlust bei der Niere nach exzessiver Dissektion des
Nierenhilus ist möglich. Die Entfernung von zervikalen oder im oberen Thorax gelegenen Tumoren kann zum Auftreten eines Horner-Symptomenkomplexes führen. Die Resektion pelviner Tumoren ist mit dem Risiko von Blaseninkontinenz und Störung der sexuellen Funktion belastet. Die Entfernung von intraspinalen Neuroblastomen (Sanduhrtumoren) durch Laminektomie ist mit Wirbelsäuleninstabilität und späterer Kyphoskoliose belastet. Spätkomplikationen. Spätfolgen sind vorwiegend abhängig von Krankheitsstadium und weniger vom Alter des Patienten. In erster Linie renovaskuläre Probleme mit später Nierenatrophie und renalem Hochdruck, Niereninsuffizienz, Koarktation der Aorta, Wirbelsäulendeformitäten, Leberdysfunktion, Kardiomyopathie, Ileus, Entwicklung von sekundären Tumoren und myelodysplastisches Syndrom (Kuroda et al. 2006).
43.9.3
Chemotherapie
Monochemotherapie. In konventioneller Dosierung haben folgende Zytostatika als Monosubstanz Wirksamkeit gezeigt: Vincristin, Cyclophosphamid, Ifosfamid, Dacarbazin, Cisplatin, Carboplatin, Doxorubicin, Epipodophyllotoxine (Etoposid, Tenoposid), Peptichemio und Melphalan. In einer retrospektiven Analyse der Literatur haben Cheung et al. versucht, eine Korrelation zwischen Dosisintensität, Ansprechraten und medianem progressionsfreien Überleben bei Patienten mit primär metastasierten Neuroblastomen herzustellen (Cheung u. Heller 1991). Die herausragenden Substanzen dieser Analyse waren Cisplatin und Etoposid, obwohl der potenzielle Bias solcher Analysen bei der Bewertung bedacht werden muss (unterschiedliche Applikationsmodi, Dosierungsintervalle, Therapiedauer etc.). Beim Einsatz der Chemotherapie für solide Tumoren wird üblicherweise ein Abstand von 3 Wochen zwischen den einzelnen Kursen eingehalten, um die Regeneration des Knochenmarks zu ermöglichen und die Toxizität und Morbidität im Rahmen zu halten. Dennoch begünstigt dieses Vorgehen die Entwicklung resistenter Zellklone. Diesen kann durch höhere Zytostatikadosierungen einerseits, aber auch durch eine Verkürzung der Intervalle zwischen den einzelnen Zytostatikakursen gegengesteuert werden. Kombinationschemotherapie. Aus den o. g. Gründen kombinierte die ENSG wenig myelotoxische (Vincristin und Cisplatin) mit myelotoxischen Zytostatika. Ifosfamid und Doxorubicin wurden aufgrund ihrer limitierenden Toxizitäten nicht weiter eingesetzt, während hochdosiertes Cisplatin und Etoposid wie auch Cyclophosphamid und Etoposid sich als mögliche Kombinationen bewährten. Dieses Therapieschema erreichte ein rasches Ansprechen und zeigte eine akzeptable Toxizität. In der randomisierten
551 43.9 · Therapie
ENSG5 Studie (Pearson et al. 1994) wurden 2 Therapiearme mit gleichen Kumulativdosen der Zytostatika verglichen, wobei sich aber die Intervalle zwischen den einzelnen Kursen unterschieden: Der OPEC/OJEC-Arm folgte mit 3-wöchigen Intervallen dem klassischen Weg, während im Rapid COJEC-Arm ein 10-tägiges Dosierungsintervall vorgegeben war. Die Dosisintensität war dadurch im Rapid COJEC-Arm 1,8-mal stärker und führte zu einem signifikant besseren Ansprechen am Ende der Induktion. Daher wurde dieses Therapieschema für die laufende Europäische Hochrisikostudie für Neuroblastome (HR-NBL-1/ESIOPEN Study; Beginn 02.02.2002) zur initialen Reduktion der Tumorlast gewählt.
43.9.4
Megatherapie
Das Prinzip der Megatherapie (Dosiseskalation mit Cyclophosphamid/Etoposid und Melphalan und Ganzkörperbestrahlung im myeloablativen Wirkbereich) gefolgt von einer autologen Stammzellreinfusion hat zu einem signifikant besseren Überleben (34%) gegenüber dem Chemotherapiearm (18%) geführt. Zusätzliche Therapie mit 13-cis-Retinoidsäure (RA) für 6 Monate peroral führte zu einem signifikant besseren Überleben in beiden genannten Gruppen. Man ist bestrebt, die Megatherapie durch diverse Zytostatikakombinationen weiter zu optimieren. Die initiale Hoffnung eines therapeutischen Zugewinns durch die Ganzkörperbestrahlung wurde nicht erfüllt (Ladenstein et al. 2008). Der Wert von therapeutischen MIBG im Rahmen der Megatherapie bei Patienten mit Resterkrankung harrt einer prospektiven Evaluierung in ausreichend großen Studien. Die therapieassoziierte Toxizität steht in direkten Bezug zur Intensität der Megatherapie, die Mortalität schwankt in der Literatur in einem Bereich von 1,5 bis über 20%. Stammzellreinigungsverfahren (»purging«) – Entfernung von Tumorzellen aus dem Stammzellprodukt – konnten bisher in keiner prospektiven klinischen Studie prognostische Vorteile bringen.
43.9.5
Radiotherapie
Das Neuroblastom ist zwar ein radiosensitiver Tumor, dennoch ist die Indikation zur Lokalbestrahlung abhängig von der biologischen Dignität mehr denn je in Diskussion. In den laufenden Studien von SIOPEN erhalten lokalisierte Neuroblastome der Stadien 1–3 ohne MYCN-Amplifikation keine Lokalbestrahlung. Generell können jedoch folgende Indikationsgebiete festgehalten werden: 4 Stadium-3-Neuroblastome: Eine randomisierte, nordamerikanische POG-Studie zeigte ein verbessertes er-
eignisfreies Überleben und Gesamtüberleben für Patienten mit Stadium C (lokoregionale Erkrankung) im Radiotherapiearm bei gleichzeitiger Gabe von niedrig dosiertem Cyclophosphamid, Doxorubicin und chirurgischer Resektion. Die empfohlene Dosishöhe in dieser Studie betrug 24 Gy bei Kindern unter 3 Jahren und 36 Gy für ältere Patienten. 4 Stadium-4-Neuroblastome: Viele Studiengruppen bestrahlen am Ende der Induktionsbehandlung den Primärtumor und zum Teil auch persistierende Metastasen. Aus der Sicht von SIOPEN wird in Europa die Rücknahme der Indikation zur Lokalbestrahlung oder eine Indikation zur Feldverkleinerung erst nach Erreichen einer deutlich verbesserten lokalen Kontrolle neuerlich zur Diskussion stehen. 4 Interventionelle Radiotherapie bei Stadium 2 und 4s: Bei Vorliegen von bedrohlichen Symptomen durch eine Rückenmarkskompression im Stadium 2 oder aufgrund einer massiven Leberinfiltration bei Säuglingen mit Stadium 4s ist die Strahlentherapie eine effektive Therapiemodalität. Dennoch wird die Strahlentherapie in neueren Studien zunehmend zugunsten einer effektiven, kombinierten Chemotherapie (CBDCA/ VP16) und/oder chirurgischen Intervention zurückgedrängt. Intraoperative Bestrahlung. Intraoperative Bestrahlung zum Zeitpunkt der primären Tumorresektion verspricht eine gute lokale Tumorkontrolle bei Hochrisikopatienten. Der Vorteil liegt in der Reduzierung der Lokalrezidivrate, Vermeidung von Exposition normalen Gewebes und nachteiliger Langzeitfolgen (Haas-Kogan et al. 2003). Palliative Bestrahlung. Die Radiotherapie ist ein geeignetes Mittel um bei Palliativpatienten oft schon mit geringen Dosen eine gute Schmerzkontrolle bei fortschreitender Erkrankung zu erreichen.
43.9.6
MIBG-Therapie
Meta-Iodobenzylguanidin ist ähnlich dem Noradrenalin wird in Tumoren des sympathischen Systems gespeichert. Durch die Koppelung von radioaktiven Jod131 an Meta-Iodobenzylguanidin (131I-MIBG) kann eine tumorspezifische Bestrahlung mit diesem Radiopharmakon unter Vermeidung von Organtoxizität erreicht werden. In moderaten Dosen bis zu 12 mCi/kg KG 131I-MIBG kann es zu Thrombozytopenie kommen, bei höheren Dosen bis 18 mCi/ kg KG 131I-MIBG kann eine Knochenmark- oder Stammzelltransplantation notwendig werden. Da es keine Kreuzresistenzen zwischen 131I-MIBG und Chemotherapie gibt und synergistische Effekte erzielt werden können, wurden beide Modalitäten im Rahmen von Phase-II-Studien kombiniert.
43
552
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
43.9.7
Differenzierende Substanzen
Der Einsatz der Retinoide als alternative oder komplementäre Therapie beruht auf der Beobachtung, dass 13-cis- und all-trans-Retinolsäure in Neuroblastomzellen in vitro auch in Chemotherapie resistenten Zelllinien eine verminderte Proliferation, morphologische Differenzierung, verminderte Expression von MYCN sowie eine verstärkte Expression der Retinolsäurerezeptoren bewirken. Diese Therapieform wurde zu einer anerkannten Standardtherapiemodalität in der Behandlung der minimalen Resterkrankung.
43 43.9.8
Therapeutische Sonderfälle
Intraspinales Neuroblastom. Obwohl die Tumorinfiltrati-
on durch die Foramina intervertebralia (Sanduhrtumor) fast immer extradural bleibt, kann die Kompression der Medulla spinalis zu einer irreversiblen Paraplegie führen. Die sofortige Dekompression des Rückenmarks durch Laminektomie oder Radiotherapie ist deshalb von äußerster Wichtigkeit. Beide Methoden haben das Risiko späterer Wirbelsäulendeformitäten. Chemotherapie in Verbindung mit Dexamethason ist eine adäquate Alternative, wenn nicht eine rapide neurologische Verschlechterung die Laminektomie erfordert. Opsomyoklonus-Syndrom. Das Syndrom des Opsomyo-
klonus, auch Kinsbourne-Syndrom genannt, scheint durch einen Autoimmunmechanismus ausgelöst zu werden. Die neurologischen Auffälligkeiten beginnen mit Irritabilität und Schlaflosigkeit, später treten Koordinationsstörungen, Unfähigkeit zu sitzen oder zu stehen, Hypotonie und Krämpfe auf. Oft bleiben permanente neurologische und kognitive Defizite einschließlich einer psychomotorischen Retardierung. Therapieoptionen umfassen den Einsatz von adrenokortikotropen Hormon (ACTH), Plasmapherese, intravenöse Gammaglobuline und Einsatz des immunsuppressiven Effekts einer mäßig intensiven Chemotherapie.
43.10
Aktuelle Therapiestrategien
43.10.1 Strategien der SIOP Europe
Neuroblastoma Group (SIOPEN) Die SIOPEN-Gruppe hat sich 1994 formiert und risikoadaptierte Behandlungsprotokolle etabliert, die derzeit in 16 teilnehmenden Ländern zur Anwendung kommen.
Chirurgie als einzige Maßnahme (LNESG1/LNESG2) Kinder jeder Altersgruppe mit primär resektablen Tumoren (INNS-Stadium 1 und 2) und günstigem biologischem Profil bedürfen keiner Chemotherapie. Die Prognoseerwar-
tung im Rahmen der Erstbehandlung liegt nach 3 Jahren für Säuglinge bei über 95% und für Kinder über einem Jahr bei 85%; Michon et al. 2000).
Einsatz von neo-/adjuvanter Chemotherapie Dies betrifft Patienten mit einem Neuroblastom mit günstigem biologischem Profil, die bei Diagnosestellung entweder nicht resektabel oder metastasiert sind. Innerhalb der Infant Neuroblastoma European Study (INES) werden bei Säuglingen folgende Behandlungsgruppen unterschieden: 4 Nicht-resektable Neuroblastome (INES 99.1): Die 3-Jahres-Überlebensrate liegt in dieser Gruppe bei über 90%. Entsprechend dem Ansprechen erfolgt eine stufenweise Intensivierung bis zu maximal 6 Chemotherapiekursen (CO, VP16/CBDCA, CADO). 4 Stadium 4s ohne MYCN-Amplifikation (aber bedrohlichen Symptomen) und Stadium 4 ohne MYCN Amplifikation ohne Knochen-, Pleura- oder ZNS-Metastasierung (INES 99.2). Bei Stadium 4s kann oft mit einem Kurs (VP16/CBDCA) die bestehende Gefährdung gemäß dem Philadelphia-Risiko-Score abgefangen werden. Besteht nach 2 Kursen kein Ansprechen, wird die Therapie um maximal 4 weitere Kurse CADO erweitert. Eine Resektion des Primärtumors ist nicht erforderlich, Die 3-Jahres Überlebensrate liegt hier bei 85%. 4 Stadium 4 ohne MYCN Amplifikation, mit Knochenmetastasen (Röntgen und/oder CT) oder Pleura- oder ZNS-Metastasen (INES 99.3). Säuglinge haben eine gute Prognose mit einer mäßig intensiven Chemotherapie. Die Prognoseerwartung im Rahmen der Erstbehandlung liegt bei einer 2-Jahres-Überlebensrate von über 70%. Bei kompletter Rückbildung der Knochenmetastasen, lokalem Ansprechen und der Möglichkeit der Resektion des Primärtumors wird nach 4 Kursen VP16/ CBDCA von jeder weiteren Chemotherapie Abstand genommen. Bei persistierenden Knochenmetastasen erfolgt der Wechsel auf 2 Kurse CADO. 4 Ältere Kinder (<1a) ohne MYCN-Amplifikation erhalten insgesamt 6 Therapiekurse (VP16/CBDCA, CADO) Nach 4 Kursen erfolgt der Versuch der Tumorresektion. Die Überlebensraten liegen in einem Bereich von 40–50%.
Einsatz maximaler Therapieintensität Diese Therapiegruppe umfasst Patienten jeden Alters der Stadien 2, 3 oder 4 und MYCN-Amplifikation sowie alle Patienten mit Stadium 4 über einem Jahr unabhängig vom biologischen Tumorprofil. 4 Im Säuglingsalter (INES 99.4): Eine Überlebensrate von nur 50% nach 2 Jahren rechtfertigt ein intensiviertes, multimodales Vorgehens. Das Konzept umfasst 6 alternierende Chemotherapie (VP16/CBDCA, CADO), den Versuch der Resektion des Primärtumors, und den Einsatz einer MGT (Busulphan und Melphalan) gefolgt
553 43.11 · Therapie und Prognose von Rezidiven
von autologer Stammzellreinfusion. Danach folgt die Lokalbestrahlung sowie eine Erhaltungstherapie mit 13 cis RA. 4 Hochrisikopatienten über einem Jahr (HR-NBL-1/SIOPEN-Studie). Die 5-Jahres-Überlebensrate dieser Patienten wird bei nur 30% angesiedelt. Mit Hilfe von Rapid COJEC wird die Dauer der Induktionstherapie bei gleicher kumulativer Chemotherapieintensität auf die Hälfte verkürzt. Es wird Wert auf eine möglichst komplette Resektion des Primärtumors gelegt. Daran schließt sich die randomisierte Prüfung von 2 Hochdosistherapiekombinationen: Busulphan /Melphalan (BUMEL) und Carboplatin/Etoposid/Melphalan (CEM). Die Radiotherapie soll die lokale Rezidivrate in Europa von über 40% senken. Daran schließt sich die orale Erhaltungstherapie mit 13-cis-Retinolsäure über 6 Monate (Differenzierungstherapie; Matthay et al. 1999). In der zweiten Randomisierung soll die zusätzliche Effektivität des chimären, monoklonalen Mausantikörpers antiGD2 ch14.18 geprüft werden (Immuntherapie) (Yu et al. 1998).
43.10.2 Aktuelle Strategie in Deutschland In Deutschland kommt derzeit das Therapieprotokoll NB2004 der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) zur Anwendung. Dieses sieht die Einteilung in 3 Risikogruppen vor (. Abb. 43.4). Beobachtungsgruppe. Diese Gruppe schließt alle Neuro-
blastome unabhängig vom Patientenalter mit Stadium 1 ohne MYCN-Amplifikation, der Stadien 2 und 3 bis 2 Jahre ohne MYCN-Amplifikation und ohne Chromosom-1pAberration und das Stadium 4s bei Säuglingen bis 12 Monate ohne MYCN Amplifikation ein. Nach dem initialen chirurgischen Eingriff mit oder ohne Resektion des Tumors werden diese Kinder lediglich kontrolliert und bei Resttumor die spontane Regression über 12 Monate oder bis zum Ende des 2. Lebensjahres beobachtet. Bei bedrohlichen klinischen Symptomen (z. B. beim Stadium 4s) oder lokalem Tumorwachstum wird eine Chemotherapie mit Doxorubicin, Vincristin und Cyclophosphamid/N4-Blöcke) verabreicht. Sollte nach 4 dieser Chemotherapieblöcke eine weitere Tumorprogression zu verzeichnen sein, wird der Patient der mittleren Risikogruppe zugeteilt und entsprechend therapiert. Allfälliger Resttumor nach Ende des 2. Lebensjahres sollte, wenn ohne Risiko möglich, reseziert werden. Erfährt ein Kind mit einem Stadium-4s-Neuroblastom eine Progression in ein Stadium 4, erhält es automatisch die Hochrisikotherapie. Mittlere Risikogruppe. Hierzu gehören Patienten mit einem
nicht-MYCN-amplifizierten Neuroblastom Stadium 3 im Ater über 2 Jahre und in jeder Altersgruppe mit einer Chro-
mosom-1p-Aberration (hier auch im Stadium 2), sowie im Stadium 4 im ersten Lebensjahr. Diese Kinder erhalten eine Chemotherapie mit 6 Blöcken von Cisplatin, Etoposid und Vindesin (N5) alternierend mit Vincristin, Dacarbacin, Ifosfamid und Doxorubicin (N6), zusätzlich nach der Tumorresektion noch 4-mal Cyclophosphamid über 8 Tage (N7), bei inkompletter Tumorentfernung eine lokale Bestrahlung mit 36–40 Gy und schließlich eine 13-cis-Retinolsäure-Dauertherapie über 12 Monate. Hochrisikogruppe. Hierzu gehören alle Patienten mit einem
MYCN-amplifizierten Neuroblastom sowie alle mit einem metastasierenden Tumor (Stadium 4) und einem Alter >1 Jahr. Bei diesen Patienten wird nach Gabe von 6 Chemotherapieblöcken mit alternierend 3-mal N5- und 3-mal N6Kombinationen (s. a. mittlere Risikogruppe) die Therapie mit einer Megatherapie mit Melphalan, Etoposid und Carboplatin intensiviert, nach der dann eine autologe Stammzelltransplantation notwendig ist. Bei lokalem Resttumor kann sowohl eine 131J-MIBG-Strahlentherapie vor der Megatherapie als auch eine konventionelle externe Bestrahlung mit 36–40 Gy nach der Megatherapie zur Anwendung kommen. Alle Patienten sollten schließlich eine 12-monatige 13-cis-Retinsäure-Dauertherapie erhalten. In der Hochrisikogruppe soll zusätzlich randomisiert die Wirksamkeit einer vorgeschaltet gegebenen, neuen (N8) Zytostatikakombination mit Topotecan, Cyclophosphamid und Etoposid getestet werden.
43.11
Therapie und Prognose von Rezidiven
Die Prognose und Behandlung von lokoregionalen Rezidiven oder progredienten Erkrankungen hängt maßgeblich vom Initialen Stadium, biologischen Tumorcharakteristika, Lokalisation und Ausmaß des Rezidivs oder der Progredienz und der früheren Behandlung ab. Bei disseminiertem Rückfall ist die Prognose in der Regel schlecht. Im Gegensatz zur Erstmanifestation der Erkrankung ist eine Beteiligung des ZNS mit Kompression durch kranielle Metastasen häufig, seltener findet sich eine meningeale Aussaat. Bei ungünstiger Biologie besteht die Indikation zur neoadjuvanten/adjuvanten Chemotherapie in Abhängigkeit von der Resektabilität und der primären Chemotherapie sowie eine Intensivierung durch eine MGT/SCT, sofern diese nicht bereits in der Erstbehandlung eingesetzt wurde (Ladenstein et al. 1993). Auch die Retinolsäure hat einen Platz im Behandlungskonzept. Disseminierte Rezidive in der Säuglingsgruppe mit günstigem biologischem Profil und initialem INSS Stadium 1, 2, oder Stadium 4s werden engmaschig observiert, andernfalls wird die Resektion des Primärtumors und die Gabe von neo/adjuvanter Chemotherapie empfohlen. Bei ungünstigem biologischem Profil erfolgt die Zuordnung
43
554
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
43
a
b
. Abb. 43.4a, b. GPOH-Studien. a Schema der Risikogruppen und Therapiestrategien der GPOH-Studie NB2004 (mit freundlicher Genehmigung von der GPOH-NB2004-Studienleitung Prof. Dr. F. Berthold, PD Dr. B. Hero, PD Dr. T. Simon). b Überleben von 895 Patienten mit Neuroblastomen in Anhängigkeit vom Behandlungsarm der GPOH-Studien NB97
555 43.13 · Andere Nebennierentumoren
zur Hochrisikogruppe und eine entsprechend intensive, multimodale Therapie. Kinder über einem Jahr mit disseminiertem Rückfall sind der Hochrisikogruppe zuzuordnen und bedürfen einer entsprechend intensiven Therapie, deren Modalitäten wesentlich von der Vorbelastung früherer Therapien abhängig ist.
43.12
Neue Therapieoptionen und künftige Entwicklungen
Je nach Erstbehandlung kommen neuerlich Medikamentenkombinationen bestehend aus Carboplatin, Cyclophosphamid, Doxorubicin, Etoposid, Ifosfamid und Cisplatin in Frage. Mögliche Behandlungsintensivierungen sind in Phase-I/II-Therapieprotokollen inkludiert und schließen auch diverse immuntherapeutische Optionen (anti-GD2-Antikörpertherapie, Tumorvakzination) oder Differenzierungsstrategien mit ein (13-cis-Retinolsäure, Fenretinin). Der Einsatz von Topotecan (Topoisomerase-Inhibitor) als Monosubstanz oder in Kombination mit etablierten Zytostatika als auch eine Applikation im Rahmen eines therapeutischen 131I-mIBG-Kurses ist möglich. In vitro führt die 13-cis-Retinolsäure zu einer raschen Reduktion der MYCN-Überexpression und induziert die Differenzierung und Apoptose. Ihr Einsatz sowie die 9-cisRetinolsäure und Fenretinin werde auf ihre klinische Wirksamkeit geprüft. In vitro werden Modulatoren der Chemotherapieresistenz (Verapamil, Valspodar [PSC 833]), der Apoptose (Botulinsäure) und der Glutathiondepletierung (Buthionin-Sulfoximid) und Inhibitoren der Angiogenese (AGM.1470 [TNP 470]) geprüft, deren klinische Bedeutung ist noch unklar.
43.13
sich klinisch und histopathologisch nur schwer zu differenzieren, obwohl das biologische Verhalten sehr different ist. Während das Adenom ein gutartiges Wachstum zeigt, hat das ACC ein hohes malignes Potenzial, wächst aggressiv, infiltriert große Gefäße und setzt gerne Fernmetastasen. Wichtigste Unterschiede sind die Tumorgröße und eine Proliferationsaktivität von < oder >5% der Tumorzellen. Während das Adenom einen Morbus Cushing hervorruft, produziert das ACC überwiegend Testosteron und andere, v. a. virilisierende Hormone (. Abb. 43.5). Mit dem ACC sind kongenitale adrenale Hyperplasie, Li-Fraumeni-, Beckwith-Wiedemann- und MEN-1-(Wermer) Syndrome assoziiert. Diagnostik. Die Diagnostik umfasst parallel zur Bildgebung
mit Sonographie, CT oder MRT, Thorax-CT, kranialem MRT, Skelettszintigraphie und ggf. PET die Hormondiagnostik mit Urinsteroidprofil, Katecholaminen, NSE und Chromogranin A. Wichtig ist, dass bei Verdacht auf ein ACC nie eine Punktionsbiopsie entnommen werden darf, da eine solche zu einer Tumorruptur führen kann! Operative Therapie. Die primäre komplette chirurgische Resektion des Tumors mittels einer totalen Adrenalektomie ist die Therapie der Wahl bei noch nicht metastasiertem ACC. Organüberschreitende Ausdehnung des Tumors sollte en bloc entfernt werden, eine Streuung von Tumormaterial muss unbedingt vermieden werden. Verdächtige Lymphknotenstationen müssen entfernt werden. Für diese
Andere Nebennierentumoren
Abgesehen vom Neuroblastom sind andere adrenale Tumoren sehr selten und machen weniger als 0,1% der kindlichen Tumoren aus. Nahezu alle sind hormonproduzierend und fallen deshalb wegen der virilisierenden Auswirkung, wegen eines Cushing-Syndroms oder eines Conn-Syndroms (primärer Hyperaldosteronismus) auf. Differenzialdiagnostisch sind Nebennierenblutung des Neugeborenen, kongenitale adrenale Hyperplasie, zystisches Neuroblastom oder extrathorakale Lungensequestration einzubeziehen.
43.13.1 Nebennierenadenom
und adrenokortikales Karzinom Das adrenokortikale Karzinom (ACC) kommt wie das Nebennierenadenom selten bei Kindern vor, betroffen sind meist Schulkinder und Jugendliche. Die beiden Entitäten
. Abb. 43.5. Nebennierenkarzinom rechts mit Leber-, Lungen- und Lymphknotenmetastasen bei 4-jährigem Mädchen mit Virilisierung
43
556
Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
Operation ist eine genügend großzügige Oberbauchlaparotomie Standard. Auch das Adenom sollte einer kompletter Resektion zugeführt werden.
43
Chemotherapie. Chemotherapeutisch lässt sich das ACC nur schlecht beeinflussen. Ein initialer partieller Response kann mit einer Kombination von Platinderivaten, Ifosfamid, Etoposid bzw. Doxorubicin erreicht werden, weshalb eine solche Kombination bei allen nicht oder nur partiell resektablen oder metastasierten ACC zur Anwendung kommt. Das einzige Medikament mit eindeutig nachgewiesener Wirkung ist das vor allem sehr neurotoxische DDTDerivat und Adrenokortikozytolytikum Mitotane. Dieses muss bei einer sehr schmalen therapeutischen Breite so dosiert werden, dass Serum-Talspiegel stets über 14 μg/ml liegen, was engmaschige Serumspiegelmessungen erforderlich macht. Prognose. Kinder mit einem Nebennierenadenom haben
bei korrekter Therapie eine exzellente Prognose. Auch bei Kindern mit einem kleinem, lokalisiertem ACC werden Heilungsraten von 65–70% nur mit der kompletten Resektion erreicht, während das 5-Jahres-Überleben bei nicht resezierbaren oder metastastierten ACC unter 10% liegt (Bucsky et al. 2006).
darüber hinaus eine organerhaltende Resektion vorzuziehen. Ganz anders ist beim malignen Phäochromozytom unbedingt eine radikale Resektion anzustreben. Dies gilt vor allem auch für extraadrenale Phäochromozytome, da diese häufiger maligne sind. > Immer ist perioperativ auf die konsequente Vorbereitung mit α1-Rezeptorantagonisten und ein gutes Monitoring zu achten, da bei der Operation, insbesondere auch bei minimalinvasivem Vorgehen, mit einer Ausschüttung von großen Mengen von Adrenalinderivaten zu rechnen ist.
Postoperativ sind engmaschig die Hormonspiegel zu messen, um eine nötige Substitution beginnen zu können. Über die Wirkung einer Chemotherapie bei malignen Phäochromozytomen ist kaum etwas bekannt. Für nicht resektable oder bereits metastasierte Tumoren wird eine Kombinationstherapie mit Platinderivaten, Doxorubicin und Dacarbacin empfohlen (Bucsky et al. 2006). Prognose. Die Prognose der benignen Phäochromozytome
ist sehr gut, solange diese komplett auffindbar und chirurgisch zugänglich sind. Für die malignen Phäochromozytome liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei 36%, nach Auftreten von Metastasen sinkt die Überlebenszeit auf unter 3 Jahre.
43.13.2 Phäochromozytom 43.13.3 Eigene Beobachtungen Noch viel seltener tritt im Kindesalter ein Phäochromozytom auf, es kommt aber auch im Alter <10 Jahren vor. Oft ist es mit hereditären Syndromen wie Von-Hippel-LindauSyndrom, Neurofibromatose 1 oder MEN2 assoziiert, was wiederum bedeutet, dass bei Diagnose eines Phäochromozytoms im Kindesalter nach dem Vorliegen dieser Syndrome gefahndet werden muss. Die Tumoren kommen in einer oder beiden Nebennieren, im Zuckerkandl-Organ, im Mediastinum, Gehirn oder selten in der Harnblase vor. 10–40% sind maligne Phäochromozytome, wobei auch hier die Unterscheidung aufgrund der Tumorgröße, der Histologie sowie hoher pathologischer Hormonproduktion schwierig sein kann.
Von 1996–2005 beobachteten wir neben über 100 Neuroblastomen nur 7 Patienten mit einem NN-Tumor anderer Genese im Alter 0–16 Jahren. Die Klinik war bei 2 Patienten eine Virilisierung, je 1 Patient hatte ein Conn-Syndrom bzw. ein Cushing-Syndrom und 1 Patient kam mit einem schweren hämorrhagischen Schock durch Einblutung in einen zystischen Tumor (. Abb. 43.6). Ein weiterer zystischer Tumor wurde bereits pränatal diagnostiziert.
Diagnostik. Phäochromozytome produzieren Katechola-
minderivate in unterschiedlicher Zusammensetzung und Menge und fallen so in der Regel durch deren Symptome auf. Zusätzlich zur üblichen Bildgebung mit Sonographie, CT, MRT, und PET kann hier eine Octreotid-Szintigraphie hilfreich sein. Therapie. Therapeutisch ist die komplette Resektion die Therapie der Wahl. Diese kann bei kleinen Nebennierentumoren auch im Kindesalter gelegentlich über eine Laparoskopie möglich sein (Williams, 2005). Dies ist jedoch nur bei sicher benignem Tumor indiziert. Bei kleinen Tumoren ist
. Abb. 43.6. Zystischer Nebennierentumor, pränatales Magnetresonanztomogramm
557 43.13 · Andere Nebennierentumoren
Alle Patienten wurden operiert. Pathohistologische Diagnosen waren adrenokortikales Karzinom (2), adrenokortikales Adenom (2), Nebennierenzyste (2) und 1 Phäochromozytom, das sich mit Bauchschmerzen und Fieber präsentierte. Die Kinder mit adrenokortikalem Karzinom (. Abb. 43.5) waren bei Diagnosestellung in einem fortgeschrittenen Stadium und verstarben trotz chirurgischer Resektion und aggressiver Chemotherapie. Die Patienten mit adrenokortikalem Adenom, Nebennierenzysten und Phäochromozytom wurden durch chirurgische Resektion geheilt. Die Prognose des ACC ist schlecht, außer wenn frühzeitig entdeckt und chirurgisch komplett reseziert. Eine Palliation bei metastasierter Erkrankung vorwiegend in Leber Lunge und Knochen kann mit VP16 und Carboplatin versucht werden.
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Kapitel 43 · Neuroblastom und andere Nebennierentumoren
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44
44 Nierentumoren M. Stehr 44.1
Epidemiologie – 559
44.5
Prognose – 568
44.2
Ätiologie – 560
44.6
Nachsorge
44.3
Klinik und Diagnostik
44.7
Andere Nierentumoren – 568
– 560
44.4
Therapie – 563
44.4.1 44.4.2 44.4.3 44.4.4 44.4.5
Präoperative Chemotherapie – 563 Operative Therapie – 563 Postoperative Chemotherapie – 566 Postoperative Strahlentherapie – 567 Therapie der Nephroblastomatose – 568
> Der häufigste Nierentumor im Kindesalter ist das Nephroblastom, das nach dem Erstbeschreiber Max Wilms (1867– 1918) auch Wilms-Tumor genannt wird. Die sog. Nephroblastomatose wird als Vorstufe des Wilms-Tumors angesehen. Ätiologisch entscheidend sind genetische Veränderungen in bestimmten Chromosomenregionen, z. B. den Wilms-Tumorsuppressorgenen (WT). Der Wilms-Tumor tritt bis auf eine indolente Schwellung meist symptomlos auf. Neben der klinischen Untersuchung wird der WilmsTumor bildgebend (Sonographie, CT oder MRI) diagnostiziert. Spezifische Marker existieren nicht. Im Rahmen der prospektiven europäischen Studien (SIOP/GPOH) wird ein Wilms-Tumor im Alter zwischen 6 Monaten und 16 Jahren ohne histologische Sicherung präoperativ chemotherapeutisch behandelt. Dadurch kommt es zu einer signifikanten Reduktion des Tumorvolumens und der intraoperativen Komplikationen wie z. B. Tumorrupturen. Die operative Therapie hat dann die radikale Tumorentfernung zum Ziel. Bei unilateralem Befall erfolgt in aller Regel die Tumornephrektomie, bei bilateralem Befall (5–10%) mindestens einseitig die partielle Nephrektomie (»nephron sparing surgery«). Die postoperative Chemotherapie richtet sich wesentlich nach der lokalen Stadieneinteilung und histologischen Klassifikation des Tumors. Eine zusätzliche postoperative Behandlungsoption besteht in der lokalen Bestrahlung mit allerdings z. T. erheblichen Langzeitnebenwirkungen. Durch die intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit von Chirurgie, Strahlentherapie und Onkologie konnte
Literatur
– 568
– 569
die Prognose dieser ursprünglich tödlich verlaufenden Erkrankung dramatisch verbessert werden. Heute gilt der Wilms-Tumor als das Paradebeispiel einer heilbaren bösartigen Erkrankung mit einem Gesamtüberleben für Kinder mit unilateralem Befall ohne Metastasen von bis zu 98%. Zu den wichtigsten anderen Nierentumoren, die weniger als 10% ausmachen, zählen in erster Linie das Klarzellsarkom, der Rhabdoidtumor der Niere, das mesoblastische Nephrom und das Nierenzellkarzinom. Sie werden nach eigenen Therapieschemata behandelt und haben bis auf das mesoblastische Nephrom eine deutlich ernstere Prognose. Die wichtigste extrarenale Differenzialdiagnose ist das Neuroblastom.
44.1
Epidemiologie
Etwa 6% aller Malignome im Kindesalter unter 15 Jahren betreffen die Niere. Bei einem Nephroblastom, dem häufigsten Nierentumor im Kindesalter, handelt es sich um eine hochmaligne embryonale Mischgeschwulst. Die Inzidenz liegt bei 2–7 Erkrankungen auf 1.000.000 Kinder unter 15 Jahren; in Deutschland rechnet man mit etwa 100 Neuerkrankungen pro Jahr. Hinsichtlich der Inzidenz bestehen eine Mädchenwendigkeit (1:0,8) sowie deutliche ethnische Unterschiede. Die Rate der Wilms-Tumoren in Asien liegt weit unter der in Europa oder den USA. Afroamerikaner zeigen dagegen überdurchschnittlich häufig bei Erkrankung eine hochmaligne Histologie (anaplastisches Nephro-
560
Kapitel 44 · Nierentumoren
blastom). Diese Beobachtungen wie auch eine familiäre Häufung bei etwa 1% der Kinder meist mit bilateralem Befall sprechen für eine genetische Prädisposition als ein Faktor in der Entstehung eines Nephroblastoms. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr. Bei Erwachsenen ist der Wilms-Tumor extrem selten.
44.2
44
Ätiologie
Eine gesicherte Ursachenkette ist bis heute nicht bekannt. Für Umweltfaktoren konnte bislang kein Einfluss auf die Entstehung kindlicher Nierentumoren nachgewiesen werden. Vielmehr werden heute genetische Veränderungen als unmittelbare Ursache der Wilms-Tumorentstehung favorisiert, wodurch eine Assoziation des Wilms-Tumors mit verschiedenen genetisch bedingten Syndromen und Fehlbildungen erklärbar wird (. Tab. 44.1). Man geht heute davon aus, dass eine einzelne der bekannten Genveränderungen noch nicht die zwingende Entwicklung eines Nephroblastoms bedingt. Erst bei zusätzlicher genetischer Veränderung (»Second-hit«-Theorie) kann es zur Malignitätsentwicklung kommen. Diese Mechanismen sind aber noch nicht vollständig geklärt. Ätiologisch entscheidend scheint der Verlust von Heterozygotie (»loss of heterocygosity«; LOH) oder auch epigenetische Phänomene wie der Verlust von Imprinting (»loss of imprinting«; LOI) in bestimmten Chromosomenregionen, z. B. den Wilms-Tumorsuppressorgenen (WT). Das Wilms-Tumorsuppressorgen WT1 befindet sich auf dem Genlokus 11p13. Deletionen dieses Gens finden sich in 10–30% der Wilms-Tumoren. Dieses Gen spielt eine entscheidende Rolle in der Embryogenese der Niere und des Urogenitaltraktes (Rivera u. Haber 2005). So ist bei einigen Syndromen des Urogenitaltraktes eine hier lokalisierte Mutation zu finden und damit die Disposition zur Nephroblastomentwicklung zu erklären. Beim WAGR-Syndrom (. Tab. 44.1) kommt es zu LOH von 11p13 und dadurch zu einem Verlust des WT1-Gens und des PAX-6-Gens mit dadurch bedingter Aniridie. Eine Punktmutation in der ZinkFinger-Bindungsregion des WT1 ist die Ursache des DenyDrash-Syndroms (. Tab. 44.1; Pelletier et al. 1991). Weitere Kandidaten sind die Gene WT2 (11p15.5), WT3 (16q) und WT5 (7p15-p11.2). Bei 1–2% aller Patienten kann eine familiäre Häufung von Wilms-Tumoren beobachtet werden. Es liegt dabei ein autosomal-dominanter Erbgang unterschiedlicher Penetranz zugrunde. Neben Mutationen im WT1 können bei einer Reihe dieser Patienten Mutationen in der Region 17q12-q21 (= WT4 oder auch FWT 1 und 2, wobei F für »familial« steht) gefunden werden. Weitere noch unbekannte Keimbahnmutationen werden vermutet. Neuerdings wird neben direkter Genmutation eine unterschiedliche Expression bestimmter Gene mit der Entstehung aber auch Prognose der Wilms-Tumoren in Verbindung ge-
. Tab. 44.1. Assoziation des Wilms-Tumors mit verschiedenen Syndromen und Fehlbildungen Syndrom
Leitsymptome
WAGR-Syndrom
Wilms-Tumor, Aniridie, genitale Fehlbildung, Retardierung
Beckwith-WiedemannSyndrom
Hemihypertrophie, Omphalozele, Makroglossie
Denys-Drash-Syndrom
Pseudohermaphroditismus, Glomerulopathie
Perlman-Syndrom
Makrozephalus, tief sitzende Ohren und Augen, Makrosomie, Organomegalie
Morbus Recklinghausen
Neurofibrome, Café-au-lait-Flecken der Haut
Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom
Nierenzysten, Makrosomie, Makrozephalus, Hydrozephalus, Herzfehler, Zwerchfellhernie
Sotos-Syndrom
Zerebraler Gigantismus, psychomotorische Retardierung, intestinale Polypen
Kongenitale urogenitale Fehlbildungen ohne Syndromassoziation
Urogenitale Fehlbildung
bracht. Die Liste umfasst dabei bekannte Gene wie MYCN, TRIM22, TERT, HEY2 und andere, die bereits bei anderen malignen Erkrankungen (z. B. Neuroblastom) diesbezüglich eine Rolle spielen. Der Einfluss bisher bekannter molekulargenetischer Veränderungen wird in den prospektiven Studien der SIOP und der COG untersucht und hat teilweise bereits Eingang in die Risiko- und Therapiestratifizierung gefunden. Rein morphologisch spielen sog. nephrogene Reste (persistierendes embryonales Nierengewebe jenseits der 36. Gestationswoche) bzw. eine Nephroblastomatose (diffuses oder multifokales Auftreten nephrogener Reste) bei der Wilms-Tumor-Entstehung eine große Rolle. 4% aller Kinder mit einem Wilms-Tumor weisen auch eine Nephroblastomatose auf (0,6% im Normalkollektiv). Eine Progression einer diagnostizierten prämalignen Nephroblastomatose zu einem malignen Nephroblastom kann dabei beobachtet werden, weshalb sie als Vorstufe des Wilms-Tumors angesehen wird. Ebenso können 11p-Deletionen bei der Nephroblastomatose gefunden werden.
44.3
Klinik und Diagnostik
Klinik. Wilms-Tumoren treten meist völlig symptomlos auf oder die Symptome sind sehr unspezifisch. Dabei zeigt der durch eine Pseudokapsel umgebene Tumor zunächst verdrängendes Wachstum und nicht primär infiltrierendes. In
561 44.3 · Klinik und Diagnostik
etwa 60% bestehen daher als Erstsymptome eine indolente Schwellung und ein tastbarer Tumor (. Abb. 44.1), der von den Müttern zufällig entdeckt, bei raschem Tumorwachstum manchmal auch als »gutes Gedeihen« verkannt wird. In etwa 10% der Fälle werden die Wilms-Tumoren im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen durch den Kinderarzt palpiert und in der Sonographie entdeckt. Eine Varizozele kann selten durch einen Nierentumor bedingt sein. Appendizitis ähnliche Abdominalschmerzen treten manchmal auf. Allgemeinsymptome wie Fieber, Schwäche und Müdigkeit sind bei Erstdiagnose sehr selten und eher in weit fortgeschrittenem Krankheitsstadium präsent. Zur Hämaturie kommt es bei Tumoreinbruch in das Nierenbeckenkelchsystem. Dies kann frühzeitig zur Diagnose führen, kommt aber beim Wilms-Tumor relativ selten vor. Bei Schmerzen und Hämaturie muss vor allem bei älteren Kindern an ein Nierenzellkarzinom gedacht werden. Eine Hypertonie bei Nierentumoren wird in bis zu 50% der Fälle beobachtet, beim Wilms-Tumor lediglich in etwa 10–20% der Fälle und kann so zur ersten differenzialdiagnostischen Abgrenzung zum Neuroblastom (7 Kap. 43) beitragen. Differenzialdiagnose. Bei bestehendem Verdacht auf einen
tumorösen Prozess der Niere kommen differenzialdiagnostisch neben einem Wilms-Tumor andere (seltene) Nierentumoren in Betracht: das Klarzellsarkom (bildgebend nicht unterscheidbar), der Rhabdoidtumor, das mesoblastisches Nephrom oder das Nierenzellkarzinom (. Tab. 44.2), seltener auch nicht-maligne Tumoren wie das Teratom, das zystische Nephrom, ein Hamartom wie auch ein Adenom
. Abb. 44.1. Tumornephrektomie bei unilateralem Wilms-Tumor. Entscheidend ist die Intaktheit der Tumorkapsel, um ein iatrogenes Stadium III und damit eine intensivere postoperative Chemo- und Strahlentherapie zu vermeiden
oder Angiomyolipom. Ebenfalls können primär entzündliche Prozesse mit Ausbildung eines Nierenabszesses oder auch die xanthogranulomatöse Pyelonephritis klinisch wie ein Nierentumor imponieren. Von den primär nicht von der Niere ausgehenden Erkrankungen stellt das Neuroblastom (7 Kap. 43) die wichtigste und zugleich auch die häufigste Differenzialdiagnose dar, insbesondere, wenn es sich um jüngere Kinder handelt. Der Allgemeinzustand dieser Kinder ist meist deutlich schlechter. Extrarenale WilmsTumoren sind eine Rarität. Sie kommen im Mediastinum,
. Tab. 44.2. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen zum Nephroblastom mit bildgebender und klinischer Klassifizierung (mod. nach Furtwängler 2008) Nephroblastom
Klarzellsarkom
Rhabdoidtumor
Mesoblastisches Nephrom
Nierenzellkarzinom
Typisches Erkrankungsalter
0,5–3 Jahre
0,5–3 Jahre
<1 Jahr
Bis 3 Monate
>11 Jahre
Bildgebung
Heterogene, solide Raumforderung, oft zystisch und nekrotische Anteile, Pseudokapsel, Kompression der großen Gefäße, V.cava-Thrombus 5–10%
Heterogene solide Raumforderung, nicht von Wilms-Tumor zu unterscheiden
Lobulierte Tumorstruktur mit subkapsulärer Flüssigkeitssichel, meist zentrale Lokalisation
»Vascular ring sign«: periphere ringförmige Hypoechogenität/ Kontrastmittelenhancement im MRT, keine Kapsel
Scharf begrenzte, fokale Ausbuchtung; meist relativ geringe Volumina, Pseudokapsel, Tumorthrombus in der V. cava
Kalzifizierung
Selten (9%)
Nicht typisch
Häufig (44%)
Keine
Gelegentlich (15–20%)
Wachstumsverhalten
Verdrängend mit typischer Pseudokapsel, bis zu 10% bilateral
Auch extrarenal, nicht bilateral
Infiltrierend mit unscharfer Begrenzung
Fingerförmig infiltrierend, nicht bilateral
Verdrängend, manchmal mit Pseudokapsel, selten auch bilateral
Metastasen
16% bei Diagnose Meist: regionale Lymphknoten, Lunge Selten: Leber, ZNS
Meist: Lymphknoten (auch als SkipMetastasen), ZNS, Knochen, Lunge Selten: Leber
Früh: Lunge und regionale Lymphknoten (oft bei Diagnose, auch Säuglinge), ZNS, Leber
Meist keine Metastasen Ausnahmen: Lunge, ZNS
Meist: Lymphknoten Selten (spät): Lunge, Knochen, ZNS
44
562
Kapitel 44 · Nierentumoren
Retroperitoneum, Becken und entlang des Funiculus spermaticus vor. > Im Rahmen der Diagnostik sollte die abdominelle Palpation bei bestehendem Verdacht auf einen Nierentumor vorsichtig erfolgen. Eine Tumorruptur wirkt sich signifikant auf Therapie und Prognose aus! Wilms-Tumoren sind dabei typischerweise glatt begrenzt, zuweilen höckerig zu tasten.
Übersicht Diagnostik bei Verdacht auf Nierentumor (mod. nach Furtwängler 2008)
44
4 Initialdiagnostik – Klinische Untersuchung – Sonographie – MRT (CT nur in Ausnahmefällen) – Katecholamine, NSE, Ferritin in Harn/Serum – EKG, Echokardiographie – Röntgenuntersuchung des Thorax – Nierenfunktion 4 Erweiterte und fakultative Diagnostik – CT des Thorax – Kranielle MRT (bei Klarzellsarkom der Niere oder Rhabdoidtumor) – Skelettszintigraphie (bei Klarzellsarkom der Niere) – »Tru-cut«-Stanzbiopsie 4 Erweiterte Initialdiagnostik bei radiologischer Unklarheit – MIBG-Szintigraphie – Knochenmarkspunktion – (Offene Biopsie)
Von zentraler Bedeutung ist die Durchführung einer abdominellen Schnittbildgebung, vorzugsweise einer Kernspintomographie (. Abb. 44.2). Eine exzellente Qualität sowie eine von Experten durchgeführte Beurteilung dieser Untersuchung ist unabdingbar, da bei Diagnose »WilmsTumor« hierzulande im Alter zwischen 6 Monaten und 16 Jahren präoperativ ohne histologische Sicherung eine chemotherapeutische Behandlung eingeleitet wird. Da die Beurteilung große Erfahrung voraussetzt, ist die Hinzuziehung referenzradiologischer Zentren zu fordern (derzeit: Abteilung für pädiatrische Radiologie, Universität Heidelberg). Das Risiko einer Fehldiagnose muss mit etwa 7% angegeben werden (SIOP-6-Studie, SIOP-9-Studie). Dabei handelt es sich bei etwa 3,5% um andere maligne und bei 3,5% um andere benigne Erkrankungen. Etwa 1,3% der Patienten erhalten eine präoperative Chemotherapie ohne maligne Grunderkrankung. Wie in der Sonographie stellt sich der Wilms-Tumor inhomogen mit gleichzeitig zystischen und soliden Anteilen dar. Dabei umgibt den Tumor eine Pseudokapsel mit verdrängender und weniger infiltrierender Wirkung auf die umgebenden Organe. Ein Tumorthrombus in der V. renalis oder V. cava kann gut erkannt werden. Die Kenntnis dessen ist für die Operationsplanung unerlässlich. Das Nierenbeckenkelchsystem ist typischerweise gespreizt, ggf. mit begleitender Hydronephrose, in höheren Stadien auch destruiert. Kann trotz guter Qualität der Bildgebung unter Hinzuziehung der Referenzradiologie keine diagnostische Einordnung
Labordiagnostik. Laborchemische Untersuchungen des Serums und des Urins dienen zur Abgrenzung relevanter Differenzialdiagnosen, hier insbesondere des Neuroblastoms. Die Bestimmung der Katecholamine im Harn oder Serum sowie der neuronenspezifischen Enolase (NSE) (ggf. auch Ferritin) im Serum sind hierbei richtungsweisend, wenn auch nicht beweisend. Serologische Wilms-Tumor-spezifische Marker sind derzeit nicht bekannt. Bildgebende Diagnostik. Neben der klinischen Untersuchung wird der Wilms-Tumor bildgebend diagnostiziert. Die Sonographie des Abdomens ist obligat. Typischerweise stellt sich der Wilms-Tumor dabei als von einer Niere ausgehend dar. Die Echogenität ist unregelmäßig mit echoarmen und echoreichen Anteilen. Ein Tumorthrombus in den großen Gefäßen kann ebenso sonographisch erkannt werden. Der Untersuchung der kontralateralen Seite ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken, um einen bilateralen Befall (ca. 5–10% aller Wilms-Tumoren) nicht zu übersehen.
. Abb. 44.2. Bilateraler Wilms-Tumor: rechts die obere Niere einnehmend bis über den Hilus hinaus, links kleiner und segmentförmig im Bereich des Oberpols. Zustand vor präoperativer Chemotherapie
563 44.4 · Therapie
des Nierentumors erfolgen, muss im nächsten Schritt eine »Tru-cut«-Stanzbiopsie vorgenommen werden. Im Unterschied zur offenen Biopsie hat die »Tru-cut«-Stanzbiopsie keine Erhöhung des Tumorstadiums (Stadium III) zur Folge. Insbesondere zur Abgrenzung eines vorliegenden Neuroblastoms ist bei unklarer Situation die Durchführung einer MIBG-Szintigraphie nötig. Eine negative Studie schließt allerdings ein Neuroblastom oder Ganglioneurom nicht grundsätzlich aus. Eine Nierenfunktionsszintigraphie (DMSA-Szintigraphie) sollte vor geplanter partieller Tumornephrektomie, und hier insbesondere bei bilateralem Befall (Stadium V), durchgeführt werden. Sie dient nicht nur der Dokumentation präoperativer Nierenfunktion, sondern hilft bei der Planung des operativen Vorgehens mit der Maßgabe, möglichst viel Nierenfunktion zu erhalten. Vervollständigt wird die Diagnostik durch die Röntgenuntersuchung der Lunge in 2 Ebenen und bei bestehendem Metastasenverdacht durch ein anschließendes CT des Thorax.
44.4
Therapie
44.4.1
Präoperative Chemotherapie
Die Therapie des Wilms-Tumors sollte grundsätzlich im Rahmen der seit Beginn der 70er-Jahre existierenden prospektiven Studien erfolgen (SIOP = Société Internationale d’Oncologie Pédiatrique [Europa], GPOH = Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie [Deutschland], NWTS = National Wilms-Tumor Study Group und COG = Children’s Oncology Group [USA]). Ihnen und der engen Vernetzung verschiedener Disziplinen ist ganz wesentlich die herausragende Verbesserung der Prognose zu verdanken. Prinzipiell unterscheidet sich die europäische Studie (SIOP) von der amerikanischen Studie (NWTS, COG) durch die Gabe einer präoperativen Chemotherapie. Dadurch kommt es zu einer signifikanten Reduktion des Tumorvolumens (Tournade et al. 2001) und einer dadurch bedingten Reduktion der Kapselspannung (. Abb. 44.3). Die Perfusion des Tumors nimmt teilweise dramatisch ab; es bilden sich im Tumor Nekroseareale. Nach präoperativer Chemotherapie lässt sich eine Verringerung intraoperativer Komplikationen wie z. B. intraoperativer Tumorrupturen von 32% auf 4% beobachten (Graf et al. 2004). Daraus resultiert eine deutliche Erhöhung an postoperativen Stadium-I-Patienten (etwa 60%) mit einer konsekutiven Reduktion der notwendigen chemooder radiotherapeutischen Nachbehandlung (Stehr et al. 2005). Im Rahmen der präoperativen Chemotherapie werden die Patienten mit Vincristin und Actinomycin D in einem 4-wöchentlichen Block vorbehandelt. Bei unilateralen Tumoren mit primären Metastasen (Stadium IV) ver-
a
b . Abb. 44.3a, b. Beispiel eines großen Wilms-Tumors auf der linken Seite. a Vor der präoperativen Chemotherapie. b Nach Chemotherapie über insgesamt 12 Wochen ist das Tumorvolumen von initial 445 ml auf 75 ml geschrumpft (83%).
längert sich die Therapie auf 6 Wochen und wird mit Anthrazyklinen (Doxorubicin) intensiviert. Patienten mit bilateralem Befall (Stadium V) erhalten eine oftmals noch längere präoperative Chemotherapie, die sich individuell nach dem Ansprechen und damit nach der zu erreichenden Tumorvolumenreduktion richtet. Sie sollte 12 Wochen nicht überschreiten. Im Anschluss an die präoperative Chemotherapie erfolgen eine erneute Bildgebung und die Planung der Operation. Ausnahme bezüglich der präoperativen Chemotherapie bilden auch in der SIOP-Studie Patienten jünger als 6 Monate oder älter als 16 Jahre. In diesen Altersgruppen sind andere Nierentumoren, speziell im Säuglingsalter, das kongenitale mesoblastische Nephrom vorherrschend, so dass die primäre Operation indiziert ist.
44.4.2
Operative Therapie
> Die operative Therapie hat die radikale Tumorentfernung zum Ziel. Bei bilateralem Befall muss zusätzlich möglichst viel gesundes Nierengewebe erhalten werden.
44
564
44
Kapitel 44 · Nierentumoren
Große Erfahrung des Operateurs ist hier wiederum unabdingbare Voraussetzung. Die präoperative Bildgebung muss aktuell und von hervorragender Qualität sein. Beurteilt werden die Tumorausdehnung, möglicher kontralateraler Befall, mögliche Lymphknotenmetastasierung sowie die Gefäßsituation. Insbesondere bei Vorhandensein eines Tumorthrombus in die V. cava oder bis in den rechten Vorhof sollte die Operation gemeinsam mit einem Gefäß- bzw. Herzchirurgen geplant werden.
zieren. Der Harnleiter sollte möglichst blasennah abgesetzt werden. Am Absetzungsrand sollten gesondert Biopsien entnommen werden. Je nach Tumorlokalisation ist es durchaus möglich, die Nebenniere in situ zu belassen. Nach Entfernen des Tumorpräparates können an gesonderten Stellen Probebiopsien entnommen werden, ggf. bei möglichem Stadium III sollte das Nierenlager/Tumorbett mit Titanclips für die postoperative Strahlentherapie markiert werden.
Laparotomie
Partielle Nephrektomie
Es werden verschiedene Zugangswege favorisiert (primär retroperitoneal über einen Flankenzugang, transperitoneal über eine quere Oberbauchlaparotomie). Wir favorisieren die quere Oberbauchlaparotomie mit transperitonealem Zugang. Zunächst wird das gesamte Abdomen auf mögliche Besonderheiten wie z. B. Absiedelungen inspiziert, die Leber wie die Gegenseite sorgfältig palpiert. Jede auf Metastasen verdächtige Region muss reseziert oder zumindest biopsiert werden. Bei guter Bildgebung, in der ein kontralateraler Befall sicher ausgeschlossen werden kann und sich die kontralaterale Niere unauffällig palpieren lässt, darf auf die Freilegung der Gegenseite verzichtet werden. Im Zweifel hat diese aber zu erfolgen. Gegebenenfalls sind lokale Exzisionen oder Probebiopsien (»Tru-cut«-Stanzbiopsien) durchzuführen. Die Freilegung der Niere erfolgt durch laterokolisches Eingehen in den Retroperitonealraum mit Mobilisierung des Kolons samt rechter oder linker Flexur. Die Niere wird vorsichtig aus dem umgebenden Fettgewebe präpariert und der Harnleiter angeschlungen. Der Hilus wird präpariert; die Gefäße werden ebenfalls angeschlungen. Das weitere Vorgehen richtet sich danach, ob eine komplette Tumornephrektomie geplant ist oder eine Tumornephrektomie unter Erhalt einer gewissen Nierenfunktion (partielle Nephrektomie).
Bei bilateralem Befall (. Abb. 44.2) wie in Sonderfällen einseitiger Tumoren muss bzw. kann nierenerhaltend operiert werden. In diesen Fällen sollte auch der Rat der Studienleitung hinzugezogen werden. Zunächst werden der Hilus präpariert und die Hilusgefäße angeschlungen. Anschließend erfolgt die Freilegung der Niere samt dem Tumor. Unter visueller und palpatorischer Kontrolle wird der Tumor elektrokauterisch reseziert. Größere Gefäße müssen sicher und rasch umstochen und ligiert werden. In aller Regel kann der Blutverlust so kontrolliert werden. Bei nicht kontrollierbarer Blutung können die angezügelten Hilusgefäße über einen Tourniquet verschlossen werden. Diese sog. warme Ischämiezeit sollte wenn möglich 30 min nicht überschreiten, um spätere Nierenfunktionseinbußen zu vermeiden.
> Ein Lymphknoten-Staging ist bei jeder Wilms-TumorOperation nach Tumorentfernung obligat. Zur histologischen Begutachtung sollten Lymphknoten aus dem Hilusbereich sowie paraaortal und parakaval kranial wie kaudal des Nierenstieles eingesandt werden. Auch makroskopisch unauffällig erscheinende Lymphknoten sollten hierbei reseziert werden. Eine komplette Lymphknotendissektion ist allerdings nicht indiziert.
Komplette Nephrektomie Bei unilateralem Befall ist in aller Regel die komplette Tumornephrektomie (. Abb. 44.1) indiziert, da die Rate an Lokalrezidiven so am sichersten beherrscht wird (Haecker et al. 2003). Eine frühe Ligatur der Hilusgefäße sollte durchgeführt werden, wenn möglich die Arterie zuerst oder in rascher Folge nach der Nierenvene, um eine Tumorschwellung oder gar -ruptur, die in jedem Fall während der gesamten Operation unbedingt zu vermeiden ist, nicht zu provo-
! Cave Auf die Intaktheit des Nierenbeckenkelchsystems ist streng zu achten.
Sollte das Nierenbeckenkelchsystem eröffnet werden, empfiehlt es sich, eine Doppel-J-Schiene antegrad über den Defekt bis in die Blase zu legen und im Anschluss das Kelchsystem wasserdicht fortlaufend zu vernähen. Die Doppel-J-Schiene wird dann nach 6–8 Wochen zystoskopisch entfernt. Durch eine partielle Nephrektomie kann durchaus lokale Tumorkontrolle erreicht werden (. Abb. 44.4), sofern der Tumor nicht zu groß ist und nicht zu zentral liegt. Gut geeignet sind kleinere Tumoren im Bereich des Ober- oder Unterpoles. Die Rate der Rezidive ist allerdings höher als nach totaler Tumornephrektomie, postoperativ resultiert häufiger ein Stadium III! Deshalb muss insbesondere beim unilateralen Tumor kritisch abgewogen werden, ob der mögliche Erhalt von Nierenfunktion das Risiko einer inkompletten Resektion rechtfertigt. Sondersituationen neben bilateralem Befall sind hier sicherlich generalisierte Nierenerkrankungen oder syndromassoziierte Nephroblastome, bei denen häufig ein metachrones Auftreten beobachtet werden kann. Bei unilateralem Nephroblastom kann man heute nur in Einzelfällen die partielle Nephrektomie empfehlen.
565 44.4 · Therapie
Übersicht Kontraindikationen der partiellen Nephrektomie (Haecker et al. 2003) 4 Keine präoperative Chemotherapie oder schlechter Response 4 Präoperative Tumorruptur oder offene Biopsie 4 Infiltration extrarenaler Strukturen oder des Nierenbeckenkelchsystems 4 Größere Tumoren von mehr als einem Drittel der Nierengröße 4 Zentraler oder multifokaler Tumor 4 Tumorthrombus in V. renalis oder V. cava 4 Metastasen 4 Hämaturie 4 Mangelnde Erfahrung mit partieller Nephrektomie
. Tab. 44.3. Stadiumeinteilung bei Vorliegen eines Tumorthrombus Stadium
Beschreibung
Ia
Tumorzapfen maximal 5 cm lang, ragt in die V. cava hinein
Ib
Subendotheliales Vorwachsen
II
Tumorthrombus bis unterhalb der Lebervenenmündung
III
Tumorthrombus bis auf Höhe der Lebervenen
IV
Tumorthrombus bis in den rechten Vorhof
vasale Tumorausdehnung gilt die Stadieneinteilung wie in . Tab. 44.3 dargestellt.
Chirurgisches Vorgehen bei bilateralem Nephroblastom Wenn die Entscheidung auch individuell immer neu zu fällen ist, sollte grundsätzlich mit der weniger betroffenen Seite begonnen werden. Wenn hier ein wesentlicher Nierenanteil erhalten werden konnte und die kontralaterale Niere operabel erscheint, wird diese in gleicher Sitzung saniert. Im besten Fall wird dann eine bilaterale partielle Tumornephrektomie (»nephron sparing surgery«) durchgeführt. Erscheint die Gegenseite nicht in diesem Sinne operabel, kann zweizeitig vorgegangen werden. Es sollte dann aber in der ersten Sitzung die Gegenseite biopsiert werden (»Tru-cut«-Stanze!), da in bis zu 30% der Fälle unterschiedliche Histologien der 2 Seiten resultieren. Anschließend erfolgt eine weitere, der Histologie angepasste chemotherapeutische Behandlung, um dann im Anschluss den Tumor der zweiten Niere zu entfernen. Ggf. kann bei erhaltener Nierenfunktion der zuerst operierten Niere die totale Tumornephrektomie der Gegenseite erfolgen. Dabei sollte allerdings mindestens 40% des ursprünglichen gesamten Nierengewebes erhalten sein. Beidseitige Tumornephrektomien sind nur in extremen Ausnahmefällen erlaubt. Etwa 1–2% der Patienten sind davon betroffen (SIOP2001). Eine Nierentransplantation ist 2 Jahre nach Eintreten einer Vollremission möglich.
Ziel ist es, den Tumorthrombus komplett zu entfernen. Nach Entfernung kleinerer Thromben (Stadium I oder II) kann die Vene entweder direkt verschlossen werden oder die Venenwand z. B. nach Teilresektion bei Tumoradhärenz
a
Chirurgisches Vorgehen bei Tumorthrombus Besonderes Augenmerk muss der Chirurg auf das eventuelle Vorliegen eines Tumorthrombus in der Nierenvene oder der V. cava richten. Durchaus werden diese zumeist in der heutigen präoperativen Bildgebung diagnostiziert, dennoch sollte er intraoperativ nochmals diesbezüglich den Situs genau inspizieren und palpieren, da die weitere Operationsplanung erheblich davon abhängig sein kann. Ein Abscheren des Thrombus ist in jedem Fall zu vermeiden, da es sich im ungünstigsten Fall um Tumorzellen nach Infiltration und Destruktion der Gefäße handelt. Für die intra-
b . Abb. 44.4a, b. Partielle Nephrektomie links bei bilateralem Wilmstumor. Histologisch handelte es sich um einen Wilms-Tumor hoher Malignität bei einem postoperativem Stadium II. Der Tumor ist damit im Gesunden entfernt
44
566
Kapitel 44 · Nierentumoren
durch einen Patch ersetzt werden. Bei ausgedehnten Tumorthromben (Stadium III oder IV) muss eventuell in Hypothermie und Herzstillstand unter Einsatz einer HerzLungen-Maschine operiert werden. Kann der Tumorthrombus komplett reseziert werden, resultiert ein auf das Nephroblastom bezogenes postoperatives lokales Stadium II. Finden sich Tumorreste in der Venenwand durch Tumorinfiltration, resultiert ein Stadium III. Die postoperative Behandlung muss dann ggf. durch zusätzliche Bestrahlung intensiviert werden.
Chirurgisches Vorgehen bei Fernmetastasen (Stadium IV)
44
Fernmetastasen treten beim Nephroblastom in der Lunge (10%), der Leber (<5%), selten im Gehirn oder Knochen auf. Sofern die Metastasen unter der präoperativen Chemotherapie ansprechen aber nicht vollständig verschwinden, sollten sie etwa 2 Wochen nach der Tumorresektion entfernt werden. So sind lokale atypische oder Segmentresektionen bis hin zur Lobektomie der Lunge indiziert. Gleiches gilt für die Leber. Bei kompletter Resektion kann auf eine Nachbestrahlung verzichtet werden. Ist ein primäres Ansprechen der Metastasen oder des Primärtumors nicht zu beobachten, oder entwickeln sich Metastasen unter Chemotherapie, ist ein chirurgisches Vorgehen nicht mehr sinnvoll.
44.4.3
Postoperative Chemotherapie
Die postoperative Therapie richtet sich wesentlich nach der Stadieneinteilung (. Tab. 44.4) des Tumors. Bei Patienten mit beidseitigen Wilms-Tumoren (Stadium V) bestimmt das ungünstigere lokale Stadium das Ausmaß der Chemotherapie oder ggf. Strahlentherapie.
. Tab. 44.4. SIOP-Stadieneinteilung der Wilms-Tumoren (mod. nach Furtwängler 2008) Stadium
Beschreibung
I
Tumor auf die Niere beschränkt, vollständige Entfernung
II
Tumorausdehnung über die Niere hinaus, jedoch vollständig entfernt
III
Unvollständige Tumorentfernung mit Tumorzellen (vital oder regressiv) am Resektionsrand Tumorzellaussaat (Tumorruptur, jede offene Biopsie) Lokale Lymphknotenmetastasen (vital oder regressiv) ohne Fernmetastasen
IV*
Fernmetastasen (Lunge, Leber, Knochen, Gehirn)
V*
Bilateraler Wilms-Tumor
* Die Stadien IV und V sind Globalstadien. Postoperativ müssen bei diesen Patienten zusätzlich die lokalen Stadien I–III bestimmt werden, die Einfluss auf die weitere Therapie haben.
Durch den Pathologen wird zunächst das lokale Stadium der Ausbreitung (Stadium I–III) beurteilt. Sehr wichtig hierfür sind zusätzliche Informationen über intraoperative Komplikationen wie Tumorruptur, iatrogene Tumoreröffnung (Biopsie oder auch postoperativ ex situ) wie die Lokalisation der entnommenen Lymphknoten. Weiteres wesentliches Merkmal für die Art der postoperativen Therapie ist die histologische Einordnung des Tumors in die verschiedenen Subtypen. In Nephroblastomen werden 3 Gewebekomponenten unterschieden: Blastem, Epithel und Stroma. Der relative Anteil dieser Komponenten an vitalem Tumorgewebe bestimmt den histologischen Subtyp und ist damit bestimmend für den Grad der Malignität. Dabei werden Tumoren mit niedrigem Malignitätsgrad (günstige Histologie) von Tumoren mit intermediärem Malignitätsgrad (Standardhistologie) und Tumoren mit hohem Malignitätsgrad (ungünstige Histologie) unterschieden (. Tab. 44.5). Die Hinzuziehung der Beurteilung durch die Referenzhistologie (Paidopathologie Kiel) ist hierbei ebenso obligat. Immerhin führt bei fast 10% der Tumoren die zentrale Begutachtung zu einer Änderung der Risikogruppe (Reinhard et al. 2007). In das postoperative Behandlungsschema gehen neben der Stadieneinteilung und Klassifikation auch der Response des Tumors auf die präoperative Chemotherapie mit ein. Sie erfolgt derzeit nach dem Schema der SIOP-2001/GPOHTherapie-Optimierungsstudie. 4 Patienten mit Nephroblastomen niedriger Malignität bei einem lokalem Stadium I erhalten keine postoperative Chemotherapie mit einer ereignisfreien 5-JahresÜberlebensrate von 100% (Reinhard et al. 2004). 4 Knapp die Hälfte aller Tumoren sind der intermediären Malignität zuzuordnen. Diese Patienten werden postoperativ chemotherapeutisch behandelt, und zwar bei Stadium I für mindestens 4 Wochen mit Actinomycin D/Vincristin. In den höheren Stadien II und III wird zusätzlich Doxorubicin mit in die Behandlung aufgenommen, die dann für mindestens 6 Monate fortgesetzt wird (SIOP-2001/GPOH). 4 Patienten mit Nephroblastomen hoher Malignität, die etwa 10% ausmachen, erhalten bereits beim Stadium I Chemotherapie mit Actinomycin D, Vincristin und Doxorubicin. In höheren Stadien II und III wird die Chemotherapie durch Doxorubicin, Cyclophosphamid, Etoposid und Carboplatin intensiviert. Rezidive werden in dieser Patientengruppe häufig bereits unter Therapie gesehen, so dass dann eine weitere Intensivierung der Therapie nicht mehr sinnvoll erscheint. Patienten, bei denen das Nephroblastom bereits zum Zeitpunkt der Diagnose meist zunächst in die Lunge mestastasiert hat (Stadium IV), werden postoperativ chemotherapeutisch mit Actinomycin D, Vincristin und Doxorubicin oder intensiver entsprechend dem lokalen Stadium behandelt. Wenn die Metastasen unter der präoperativen Chemo-
567 44.4 · Therapie
. Tab. 44.5. Histologische Einteilung der Nierentumoren entsprechend der SIOP 2001/GPOH-Studie (mod. nach Furtwängler 2008) Therapiegruppe
Nach primärer Operation
Nach präoperativer Chemotherapie
Niedrige Malignität
Mesoblastisches Nephrom** Nephroblastome 4 Zystisch partiell differenziert
Mesoblastisches Nephrom** Nephroblastome 4 Zystisch partiell differenziert 4 Komplett nekrotisch
Intermediäre Malignität (Standardrisiko)
Nephroblastome 4 Epithelreich 4 Stromareich 4 Blastemreich* 4 Mischtyp* 4 Fokale Anaplasie*
Nephroblastome 4 Epithelreich 4 Stromareich 4 Mischtyp* 4 Fokale Anaplasie* 4 Regressiv*
Hohe Malignität
Nephroblastome 4 Diffuse Anaplasie Klarzellsarkom der Niere** Rhabdoidtumor**
Nephroblastome 4 Blastemreich 4 Diffuse Anaplasie Klarzellsarkom der Niere** Rhabdoidtumor**
*Bei präoperativem Tumorvolumen von >500 ml werden diese Tumoren entsprechend dem Hochrisikoprotokoll behandelt. **Bei diesen Tumoren handelt es sich nicht um Nephroblastome im eigentlichen Sinn. Für Rhabdoidtumoren existiert ein eigenes Behandlungsprotokoll der GPOH
therapie verschwinden, richtet sich die weitere Therapie nach dem abdominellen Befund ungeachtet der ehemals nachweisbaren Metastasierung. Ist diese allerdings nach der 6-wöchigen präoperativen Chemotherapie noch nachweisbar, wird postoperativ die Chemotherapie durch Doxorubicin, Cyclophosphamid, Etoposid und Carboplatin intensiviert. Eine operative Sanierung ist dabei zusätzlich anzustreben. Bei nicht erzielbarer operativer Sanierung bleibt als letzte Option die Bestrahlung der Lunge. Je nach verwendeten Zytostatika, Dosierung und Alter des Kindes ist mit Chemotherapie-assoziierter Toxizität zu rechnen. Systemisch betrifft dies nahezu alle Organsysteme, besonders das Knochenmark mit Ausbildung der bekannten Anämie, Leuko- und Thrombozytopenie, den Gastrointestinaltrakt, die Leber, das Herz, das ZNS und speziell das Innenohr. Hervorzuheben ist die Kardiotoxizität der Anthrazykline. Eine spezifische Nebenwirkung von Actinomycin D beim Nephroblastom junger Kinder ist die Lebervenenverschlusskrankheit (»venous occlusive disease«; VOD). Bei ausgeprägter Klinik muss ggf. die Dosierung reduziert werden.
44.4.4
Postoperative Strahlentherapie
Das Nephroblastom ist ein ausgesprochen strahlenempfindlicher Tumor. Eine weitere Therapieoption ist daher die Bestrahlung. Die Indikation zur zusätzlichen postoperativen Bestrahlung besteht bei Tumoren intermediärer Malignität beim Stadium III und bei den hochmalignen Tumoren bereits ab dem Stadium II. Im Rahmen dieser Radiothe-
rapie beträgt die Gesamtdosis 15 bzw. 30 Gy mit möglicher Erhöhung bei makroskopischen Tumorresten. Zu den akuten Nebenwirkungen und Langzeitschäden durch die Bestrahlung zählen neben der Nephro- und Hepatotoxizität gastrointestinale Symptome, Wachstumsstörungen der Weichteile und insbesondere des Skelettes mit Ausbildung einer späteren Skoliose, Ovarialinsuffizienz und Störung der Spermatogenese sowie Mammahypoplasie. Nach Bestrahlung der Lunge können sich eine Lungenfibrose sowie eine Kardiomyopathie ausbilden. Diese signifikanten Nebenwirkungen der Bestrahlung betonen nochmals die Notwendigkeit eines optimalen chirurgischen Vorgehens mit dem Ziel, ein lokales Stadium III z. B. durch Tumorruptur oder Tumorreste zu vermeiden. Der Anteil bestrahlter Patienten konnte durch die präoperative chemotherapeutische Behandlung signifikant von etwa 30% bei primär operierten Patienten (Green 1998) auf 18% gesenkt werden (Graf et al. 2000). > Molekulargenetische Marker des Tumors (z. B. Verlust der Heterozygotie (LOH) Chromosom 1p und 16q, Telomerase-RNA-Expression) werden zunehmend zur Risikobeurteilung, aber auch zur Therapiestratifizierung genutzt. Diese Entwicklung unterstreicht die Bedeutung der Anlage und Ausbau einer Tumorbank für Wilms-Tumoren. Streng zu achten ist auf die Tatsache, dass Tumormaterial zur Einsendung erst nach Beurteilung durch den Pathologen entnommen werden darf, um so ein iatrogenes Stadium III zu vermeiden.
44
568
Kapitel 44 · Nierentumoren
44.4.5
44
Therapie der Nephroblastomatose
Nephroblastomatoseherde gelten als Vorstufen des WilmsTumors. In der Bildgebung imponieren sie als typisch linsenförmige Läsionen. Dabei sind sie Chemotherapie-sensibel und verschwinden hierunter teils vollständig. Bei Nephroblastomatose kommt deshalb eine Langzeitchemotherapie zur Anwendung, und zwar Actinomycin D und Vincristin alle 3 Wochen bis die Läsionen verschwunden sind. Im Anschluss daran wird die Medikation alle 4 Wochen für ein weiteres Jahr fortgesetzt. Eine chirurgische Intervention ist lediglich bei Progression gegeben oder wenn sich der Verdacht auf einen Wilms-Tumor ergibt. Neueste Daten der SIOP/GPOH-Studien haben gezeigt, dass wenn sich Nephroblastome unter Langzeitchemotherapie entwickeln, diese möglicherweise überzufällig häufig eine ungünstige Histologie zeigen. Regelmäßige Bildgebung zur exakten Evaluation ist deshalb unabdingbar.
44.5
Prognose
Durch die intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit von Chirurgie, Strahlentherapie und Onkologie konnte die Prognose dieser ursprünglich tödlich verlaufenden Erkrankung dramatisch verbessert werden. Heute gilt der WilmsTumor als das Paradebeispiel einer heilbaren bösartigen Erkrankung. Das Gesamtüberleben für Kinder mit unilateralem Wilms-Tumor ohne Metastasen liegt bei 98%, das rezidivfreie Überleben bei 88% (Reinhard et al. 2007)! Wird durch die präoperative Chemotherapie eine komplette Remission vorhandener Lungenmetastasen erreicht, unterscheidet sich das Gesamtüberleben der Patienten nicht von denen ohne Fernmetastasen. Die Prognose von Patienten mit Metastasen anderer Lokalisationen wie Leber oder Gehirn ist schlechter. Bei der Analyse der histologischen Subtypen haben Kinder mit einem Wilms-Tumor niedrigen und intermediären Malignitätsgrades eine hervorragende Prognose mit einem ereignisfreien Überleben von 100% bzw. 93% nach 5 Jahren, während Patienten mit hohem Malignitätsgrad prognostisch deutlich ungünstiger sind (ereignisfreies Überleben 78%). Patienten mit bilateralem Wilms-Tumor überleben ereignisfrei 5 Jahre zu 79% bei einem Gesamtüberleben von 84%. Metastasen zum Zeitpunkt der Diagnose, hohe Malignität und ein hohes postoperatives lokales Stadium sind auch hier die wesentlichen ungünstigen Prognosefaktoren. Bei ungünstiger Histologie sowie bei einem lokalen Stadium III sinkt die Gesamtüberlebensrate nach 5 Jahren auf 72% bzw. 76% signifikant ab. Vergleicht man Patienten mit bilateralem WilmsTumor, die auf beiden Seiten partiell nephrektomiert wurden mit denen, die auf einer Seite total tumornephrektomiert wurden, so ergibt sich kein signifikanter Unterschied hinsichtlich des Gesamtüberlebens von 89% versus 86%. Allerdings zeigt
sich zwischen diesen Gruppen ein signifikanter Unterschied hinsichtlich des ereignisfreien Überlebens. Die Rate sinkt hier bei der Gruppe der beidseits durchgeführten partiellen Nephrektomien signifikant auf etwa 60% nach 5 Jahren ab. Eine Therapieintensivierung kann allerdings dies statistisch vollständig ausgleichen bei letztendlich gleichem Gesamtüberleben (SIOP2001/GPOH).
44.6
Nachsorge
Nach der Behandlung eines Wilms-Tumors ist neben der onkologischen Nachsorge, den Wachstumsstörungen von Skelett und Weichteilen inklusive Kardiomyopathie, möglichen Fertilitätsstörungen und anderen therapieassoziierten Langzeitnebenwirkungen vor allem die Nierenfunktion genau zu überwachen. Diese kann zum einen durch die Chemotherapie (Gabe von Ifosfamid und Carboplatin bei hoher Malignität) geschädigt sein, zum anderen ist sie naturgemäß durch die Operation (ob nach totaler oder partieller Nephrektomie) tangiert. Ultrastrukturelle Veränderungen an der gesunden Niere zeigen eine Verdickung hyaliner Membranen mit Entwicklung einer glomerulären Sklerose als Folge der Hyperfiltration. Etwa 80% der Patienten entwickeln im weiteren Verlauf eine Mikroalbuminurie (Srinivas et al. 1998). Insbesondere nach bilateraler Erkrankung ist die Nierenfunktion im Langzeitverlauf streng zu überwachen. Verlässliche Daten zur Nierenfunktionsentwicklung bei diesen Patienten liegen derzeit noch nicht vor.
44.7
Andere Nierentumoren
Zu den wichtigsten anderen Nierentumoren, die weniger als 10% ausmachen, zählen in erster Linie das Klarzellsarkom, der Rhabdoidtumor der Niere, das mesoblastische Nephrom und das Nierenzellkarzinom. Klarzellsarkome, Rhabdoidtumoren und mesoblastische Nephrome wurden früher als eine Untergruppe der Nephroblastome angesehen, zählen heute aber als eigene Tumorentität.
Klarzellsarkom Die histogenetische Ätiologie dieses Tumors ist heute nicht genau geklärt. Auffallend und im Unterschied zu Nephroblastomen ist eine deutlich höhere Knochenmetastasierungsrate bis zu 60%. Klarzellsarkome sind auch nicht mit einer Nephroblastomatose assoziiert und kommen praktisch nie bilateral vor. Therapie. Dank intensivierter Chemotherapie liegt die
Überlebensrate heute bei etwa 80%. Die Rate an Langzeitrezidiven ist deutlich höher als beim Wilms-Tumor (Argani et al. 2000).
569 44.7 · Andere Nierentumoren
Rhabdoidtumor
Mesoblastisches Nephrom
Rhabdoidtumoren sind keine ausschließlichen Nierentumoren, vielmehr können sie auch in extrarenaler Lokalisation vorkommen (7 Kap. 47). Der Rhabdoidtumor der Niere zählt zu den hochmalignen Nierentumoren und ist nach wie vor mit einer sehr ernsten Prognose vergesellschaftet. Das typische Erkrankungsalter liegt unter 1 Jahr, häufig sind bereits Metastasen zum Zeitpunkt der Diagnose nachweisbar. Bevorzugte Metastasierungsorte sind neben der Lunge vor allem das ZNS, regionale Lymphknoten und die Leber. Molekulargenetisch findet sich eine Deletion auf dem Chromosom 22 (22q11).
Das mesoblastische Nephrom tritt überwiegend in den ersten 3 Lebensmonaten auf. Meist handelt es sich dabei um den sog. fibromatösen benignen Typ, bei älteren Säuglingen ist eine zelluläre Variante als potenziell maligne einzustufen. Molekulargenetisch findet sich bei dieser zellulären Variante die typische Translokation t(12;15) (p13;q25). Lokalrezidive und selten auch Metastasen (Lunge, ZNS) sind dann beschrieben. Histologisch wächst der Tumor im Gegensatz zum Nephroblastom ohne Pseudokapsel und fingerförmig in die Umgebung infiltrierend.
Therapie. Der Rhabdoidtumor ist weitgehend chemotherapieresistent, die Tumornephrektomie ist in jedem Fall
frühzeitig anzustreben. Dieser Unterschied zur Therapie des Nephroblastoms verdeutlicht die Wichtigkeit und Wertigkeit der Beurteilung der bildgebenden Diagnostik. Während das Klarzellsarkom in der Bildgebung nicht vom Nephroblastom unterschieden werden kann, erscheint die Struktur des Rhabdoidtumors mehr lobuliert und durch infiltratives Wachstum bedingt unscharf begrenzt. Zudem sind mehr Verkalkungen nachweisbar. Ein eigenes Rhabdoidtumor-Behandlungsprotokoll ist in der GPOH in Bearbeitung und wird ggf. in den nächsten Jahren Anwendung finden. Möglicherweise kommt dann einer prächemotherapeutischen Biopsie (»Tru-cut«-Stanze) mehr Bedeutung als heute zu.
Therapie. Bei der Tumorresektion, die immer als komplette Tumornephrektomie erfolgen sollte, ist wegen des infiltrierenden Wachstums darauf zu achten, perirenales Fettgewebe am Tumor mit zu resezieren und möglichst einen nicht näher definierten Sicherheitsabstand zu halten. Mit kompletter Tumorresektion sind die Patienten geheilt. Bei inkompletter Resektion muss zunächst die Möglichkeit der Nachresektion beurteilt werden. Eine chemotherapeutische Nachbehandlung kommt nur bei inkompletter Resektion des zellulären Subtyps oder bei Nachweis von Metastasen in Betracht. Wegen der Nebenwirkungen speziell im Säuglingsalter stellt die Bestrahlung keine Therapieoption dar.
Literatur
Nierenzellkarzinom Während das Nierenzellkarzinom der häufigste Nierentumor des Erwachsenen ist, kommt er bei Kindern und Jugendlichen in lediglich 1–2% der Nierentumoren vor. Nierenzellkarzinome sind mit bestimmten Syndromen wie dem Hippel-Lindau-Syndrom oder der tuberösen Sklerose assoziiert. Molekulargenetisch ist eine zunehmende Ploidie der Tumorzellen von prognostischer Bedeutung (Grad I–IV mit abnehmender Differenzierung). Histopathologisch entstehen die Tumoren aus den Epithelien der Tubuli (mit histomorphologischer Unterscheidung in ein klarzelliges, chromophilzelliges, chromophobzelliges, pleomorphzelliges und das Ductus-Bellini-Karzinom). Bilaterale Tumoren kommen zuweilen vor. Bevorzugte Metastasierungsorte sind die Lymphknoten, seltener bzw. spät erst die Lunge, das ZNS und der Knochen. Therapie. Therapie der Wahl ist bei diesem Tumor die Tumornephrektomie, da auch diese Entität fast gar nicht auf Chemotherapie oder Radiatio anspricht. Wie für das Klarzellsarkom geltend, ist die Unterscheidung zum Nephroblastom in der bildgebenden Diagnostik sehr schwierig. Die Prognose ist sehr abhängig vom Tumorstadium: während im Stadium I Heilungsraten bis zu 90% erreicht werden können, sinken diese im Stadium II und III auf etwa 50%. Bei stattgehabter Metastasierung gilt die Prognose als infaust.
Argani P, Perlman EJ, Breslow NE, Browning NG, Green DM, D’Angio GJ, Beckwith JB (2000) Clear cell sarcoma of the kidney: a review of 351 cases from the National Wilms Tumor Study Group Pathology Center. Am J Surg Pathol 24(1):4–18 Furtwängler R (2008) Das Nephroblastom und andere pädiatrische Nierentumoren. Pädiatr Prax 72:59–77 Graf N, Tournade MF, de Kraker J (2000) The role of preoperative chemotherapy in the management of Wilms’ tumor. The SIOP studies. International Society of Pediatric Oncology. Urol Clin North Am 27(3):443–54 Graf N, et al. (2004) Prognosis of Wilms’ tumor in the course of the SIOP trials and studies. Urologe A 43:421–428 Green DM et al. (1998) Comparison between single-dose and divideddose administration of dactinomycin and doxorubicin for patients with Wilms’ tumor: a report from the National Wilms’ Tumor Study Group. J Clin Oncol 16:237–245 Haecker FM, von Schweinitz D, Harms D, Buerger D, Graf N (2003) Partial nephrectomy for unilateral Wilms tumor: results of study SIOP 93– 01/GPOH. J Urol 170(3):939–42; discussion 943–4 Pelletier J et al (1991) Germline mutations in the Wilms’ tumour suppressor gene are associated with abnormal urogenital development in Denys-Drash syndrome. Cell 67:437–447 Reinhard H, et al. (2004) Results of the SIOP 93–01/GPOH trial and study fort he treatment of patients with unilateral nonmetastatic Wilms Tumor. Klin Padiatr 216:132–140 Reinhard H, Furtwängler R, Graf N (2007) Wilms‘tumor – update 2007. Urologe A 46(2):143–5 Rivera MN, Haber DA (2005) Wilms’ tumour: connecting tumorigenesis and organ development in the kidney. Nat Rev Cancer 5: 699–712
44
570
Kapitel 44 · Nierentumoren
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44
45
45 Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes D. von Schweinitz
45.1
Lebertumoren
45.1.1 45.1.2 45.1.3 45.1.4
Epidemiologie und Vorkommen – 571 Pathologie und Biologie – 572 Klinik, Diagnostik und Stadieneinteilung Therapie und Prognose – 576
– 571
45.2
Pankreastumoren
45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4
Epidemiologie und Vorkommen – 579 Pathologie und Biologie – 580 Klinik, Diagnostik und Stadieneinteilung Therapie und Prognose – 581
– 575
45.3
Tumoren des Magen-Darm-Traktes
45.3.1 45.3.2 45.3.3 45.3.4
Epidemiologie und Vorkommen – 582 Pathologie und Biologie – 582 Klinik, Diagnostik und Stadieneinteilung Therapie und Prognose – 584
– 579
– 582
– 583
Literatur – 585
– 580
> Primäre Tumoren der Leber, des Pankreas oder des Gastrointestinaltraktes kommen im Kindesalter sehr selten vor. Dabei kann man in allen drei Organen auf eine große Variabilität der Entitäten stoßen, von denen die Mehrzahl maligne ist. Säuglinge und junge Kinder erkranken außer an gutartigen Tumoren der Leber und des Pankreas vor allem an embryonalen malignen Tumoren dieser Organe, dem Hepatoblastom und dem Pankreatoblastom. Diese zeigen ein gutes Ansprechen auf Chemotherapie. Therapeutisch steht bei den benignen Tumoren, wie auch bei den übrigen malignen Neoplasien der Leber (hepatozelluläres Karzinom, Sarkome), des Pankreas (Pankreaskarzinom) und des Magen-Darm-Traktes (Karzinome) die komplette chirurgische Resektion im Vordergrund. Wie beim Erwachsenen wirken Chemotherapie und Bestrahlung bei den Karzinomen auch des Kindesalters nur schlecht. Während Kinder und Jugendliche mit benignen Tumoren eine gute, solche mit embryonalen malignen Tumoren eine mäßige Überlebenschance haben, ist diese bei Karzinompatienten in der Regel sehr schlecht. Der häufigste Tumor des Darmes bei Kindern, das maligne Non-Hodgkin-Lymphom, wird 7 Kap. 48 besprochen.
45.1
Lebertumoren
45.1.1
Epidemiologie und Vorkommen
Nach Neuroblastomen (7 Kap. 43) und Nierentumoren (7 Kap. 44) sind primäre Neoplasien der Leber die dritthäufigsten abdominellen Tumoren des Kindesalters. Gleichzeitig sind primäre Lebertumoren mit 0,3–2% aller pädiatrischen Tumoren und einer Inzidenz von 0,5–2 auf 1 Mio. in Mitteleuropa selten. Dabei weisen sie eine Vielfalt von gut- und bösartigen Entitäten auf, die in unterschiedlicher Häufung typischen Altersgruppen zugeordnet werden können (. Tab. 45.1). Insgesamt am häufigsten, besonders auch im Säuglings- und Kleinkindesalter, ist das hochmaligne Hepatoblastom (HB). Bei Schulkindern und Jugendlichen kommen vor allem hepatozelluläre Karzinome (HCC), bei Neugeborenen und jungen Säuglingen bevorzugt benigne vaskuläre Tumoren, vor allem das infantile Hämangioendotheliom vor (von Schweinitz 2004). Ferner können in der Leber Metastasen anderer Malignome des Kindesalters, wie Leukämien, Lymphome, Histiozytose, Neuroblastome, Nephroblastome (Wilms-Tumor) und Pankreatoblastome, auftreten. Auf diese soll in diesem Kapitel nicht weiter eingegangen werden. Kindliche Lebertumoren können mit einer ganzen Reihe von Syndromen oder Erkrankungen assoziiert sein. Als wichtigste sind hier das gehäufte Vorkommen vom Hepatoblastom nach extremer Frühgeburt, beim WiedemannBeckwith-Syndrom sowie anderen Hemihypertrophien
572
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
. Tab. 45.1. Primäre kindliche Lebertumoren nach Alter und Häufigkeit Altersgruppe
Tumor
Anteil (%)
Neugeborene, Säuglinge, Kleinkinder
Hepatoblastom
43
Hämangioendotheliom/ Hämangiom
13
Schulkinder, Jugendliche
45
Mesenchymales Hamartom
6
Hepatozelluläres Karzinom
23
Sarkome
6
Fokal noduläre Hyperplasie
2
Adenom
2
Andere Tumoren
5
und bei der familiären Polyposis coli (FAP) zu nennen. Während das HCC bei Kindern und Jugendlichen vor allem in Entwicklungsländern meistens auf der Basis einer perinatal akquirierten Hepatitis B oder C entsteht, gilt dies nicht so für Mitteleuropa. Hier können eher andere chronischentzündliche oder stoffwechselbedingte Hepatopathien die Ursache sein (Tomlinson u. Finegold 2002).
45.1.2
lich mesenchymale Anteile mit unreifem, fibrösem Gewebe, Spindelzellen und knorpelartigem Osteoid. Das fetale Hepatoblastom hat regelmäßige Zellen mit geringer Proliferationsaktivität und wenig Nekrosen, das embryonale Hepatoblastom dagegen unregelmäßige atypische Zellen mit deutlich verschobener Kern-Plasma-Relation und hoher Mitoseaktivität. Sehr typisch für das Hepatoblastom sind intratumorale hämatopoetische Zellnester als Imitation der fetalen Leber. Sehr selten kommt eine mehrschichtige, makrotrabekuläre Anordnung der epithelialen Tumorzellen oder undifferenzierte, kleinzellige Tumoren vor, die beide mit einem besonders aggressiven Wachstum verbunden sind. Neben einer Vielzahl chromosomaler Veränderungen finden sich bei der Mehrzahl der Hepatoblastome auch bestimmte molekulargenetische Alterationen. Beim Hepatoblastom im Rahmen eines Wiedemann-Beckwith-Syndroms, aber auch vielen sporadischen Hepatoblastomen treten Allelverluste bei Chromosom 11p15.5 wie auch auf dem Chromosom 1p und 1q auf, dies ähnlich wie bei anderen embryonalen Tumoren des Kindesalters. Trotz der Assoziation mit der familiären Polyposis coli sind APCGenmutationen in Hepatoblastomen nur selten gefunden
Pathologie und Biologie
Hepatoblastom Hepatoblastome kommen meist bei älteren Säuglingen und Kleinkindern als große, sehr gut durchblutete, unifokale Tumoren vor (. Abb. 45.1, 45.2a und b). Sie bevorzugen den rechten Leberlappen und setzen relativ spät Fernmetastasen und nur selten Lymphknotenabsiedelungen. Hepatoblastome sind epitheliale, embryonale Tumoren von unterschiedlicher, den Stadien der Leberentwicklung entsprechender Differenzierung (fetal, embryonal, kleinzellig, undifferenziert). Einige Hepatoblastome enthalten zusätz-
a
b . Abb. 45.1. Intraoperativer Situs eine großen Hepatoblastoms im rechten Leberlappen
. Abb. 45.2a, b. Typisches Hepatoblastom im CT. a Vor Therapie, b Nach Induktionschemotherapie
573 45.1 · Lebertumoren
worden, häufig jedoch in anderen Molekülen des WNT-Signalweges, insbesondere im β-Catenin-Gen (Schnater et al. 2003). Neue Befunde zeigen ferner, dass die Mehrzahl der Hepatoblastome auch im »Sonic-hedgehog«-Gen Mutationen aufweisen (Eichenmüller et al. 2007). Eine Kausalität dieser Alterationen für die Tumorgenese ist anzunehmen, aber nicht bewiesen. Keine der Alterationen hat sich bisher als prognostisch relevant erwiesen. Hepatoblastome produzieren in 90% der Fälle große Mengen α-Fetoprotein (AFP). Über das biologische Verhalten der Hepatoblastome gibt es darüber hinaus bisher nur relativ wenige Erkenntnisse. Niedrig differenzierte (embryonale, kleinzellige) Hepatoblastome wachsen aggressiver als fetale Hepatoblastome, metastasieren eher und sprechen wohl schlechter auf Chemotherapie an. Alle Hepatoblastome können unter Chemotherapie im Verlauf durch Hochregulierung von sog. »Drug-resistance«-Molekülen eine Zytostatikaresistenz entwickeln. Wie bei allen malignen Tumoren scheinen Wachstumsfaktoren für die Progression, Migration, Gefäßinvasion, Neovaskularisierung und Metastasierung eine wichtige Rolle zu spielen. Einer dieser Wachstumsfaktoren ist der »hepatocyte growth factor/scatter factor«, der ein Migrations- und ein Überlebensfaktor für die Tumorzellen ist. Dies ist wichtig, da dieser Faktor in großer Menge nach Leberresektionen ausgeschüttet wird und dann auf allfällige residuale Tumorzellen wirken kann. Deshalb sollten Hepatoblastome in der Regel nur nach chemotherapeutischer Vorbehandlung reseziert werden (von Schweinitz 2006). Die Neoangiogenese wird bei Hepatoblastomen ebenfalls durch Wachstumsfaktoren stimuliert. Werden letztere antagonisiert, kann im Tiermodell das Tumorwachstum insgesamt gehemmt werden (Schnater et al. 2003). Es ist zu vermuten, dass eine Reihe anderer Faktoren in Hepatoblastomen wirken, jedoch liegen hierzu keine validen Forschungsergebnisse vor.
Hepatozelluläres Karzinom Anders als das Hepatoblastom wächst das HCC auch im Kindes- und Jugendalter oft bereits primär multifokal in der Leber (. Abb. 45.3), infiltriert die Umgebung und setzt früh Lymphknoten- und Fernmetastasen, bevorzugt in der Lunge und in den Knochen. Histologisch gleichen sie dem HCC beim Erwachsenen, mit oft großen pleomorphen Tumorzellen, die in breiten Trabekeln angeordnet sind. Sie enthalten häufig Tumorriesenzellen, nicht jedoch wie das Hepatoblastom hämatopoetische Nester. Im Gegensatz zum Erwachsenenalter entsteht bei Kindern das HCC meist nicht auf dem Boden einer Leberzirrhose. Eine spezielle Variante, der fibrolamelläre Subtyp (FLC), kommt bevorzugt bei Jugendlichen ohne Leberzirrhose vor. Dieser Tumor wächst langsamer und setzt später Fernmetastasen als die übrigen Formen des HCC. Histologisch finden sich Areale mit plumpen hepatozytären Tumorzellen, die durch fibröse Septen abgeteilt sind. Diese Tumoren produzieren – anders als das HCC – kein AFP (Katzenstein et al. 2006).
. Abb. 45.3. MRT eines kindlichen HCC zentral in der Leber mit Wachstum entlang der Pfortaderäste
. Abb. 45.4. Histologisches Bild eines transitionellen epithelialen malignen Lebertumors mit Hepatoblastomgewebe rechts und Mitte sowie HCC-Gewebe ganz links
Seit einigen Jahren werden zunehmend Tumoren mit histologischen Charakteristika, sowohl des Hepatoblastoms als auch des HCC, bei Vorschul- und Schulkindern als transitionelle Leberzelltumoren (TLCT) beschrieben (. Abb. 45.4; Zimmermann 2005). In ihrem biologischen Verhalten ähneln sie nach eigenen Beobachtungen eher dem HCC als dem Hepatoblastom mit aggressivem Wachstum und Gefäßinvasion sowie früher Fernmetastasierung in die Lunge (von Schweinitz 2006). Wie das Hepatoblastom ist auch das kindliche HCC mit verschiedenen genetischen Syndromen, wie Tyrosinämie, Alagille-Syndrom, Ataxia teleangiectatica und FanconiAnämie, assoziiert. Insbesondere in Asien, Afrika und Südamerika ist die weitaus häufigste Ursache für das kindliche HCC eine HBV- oder HCV-Infektion. Hier führt der Einbau von Teilen des Virusgenoms in die DNA der Leberzellen zur malignen Transformation. Bei allen HCC finden sich chromosomale Veränderungen der Tumorzellen, die sich in ihrem Muster von denen des Hepatoblastoms unter-
45
574
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
scheiden lassen. Anders als beim Hepatoblastom findet man beim HCC gehäuft Mutationen des p53-Tumorsuppressorgens. Mehr noch als beim Hepatoblastom werden beim HCC bereits initial »Drug-resistance«-Proteine exprimiert, was das schlechte Ansprechen auf Chemotherapie gut erklärt (Tomlinson u. Finegold 2002).
Andere Malignome der Leber
45
Aus der Gruppe der embryonalen mesenchymalen Malignome befallen die Leber überwiegend embryonale Rhabdomyosarkome (RME) und undifferenzierte Sarkome (7 Kap. 47). Die embryonalen Rhabdomyosarkome entstehen bei jungen Kindern überwiegend aus Gallengangsstrukturen und liegen deshalb meist zentral und hilusnah. Histologisch, molekulargenetisch und in ihrem biologischen Verhalten entsprechen sie den RME anderer Lokalisationen. Undifferenzierte Sarkome treten eher bei Schulkindern auf, wachsen lokal aggressiv und metastasieren relativ leicht. Neben soliden Anteilen können sie auch Zysten enthalten. Histologisch sind sie pleomorph mit spindelund sternförmigen Zellen, mehrkernigen Riesenzellen sowie fibrösem und myxoidem Gewebe. Sehr selten treten in der Leber bei Kindern und Jugendlichen Rhabdoidtumoren, Angiosarkome, Liposarkome und Leiomyosarkome auf, deren Histologie und Biologie dieselbe ist wie bei diesen Tumoren an anderen Lokalisationen. Auch Keimzelltumoren, wie der maligne Dottersacktumor und bei Neugeborenen das Chorionkarzinom, können primär in der Leber wachsen (Andrews 2005).
. Abb. 45.5. Kontrastmittel-CT eines Neugeborenen mit multiplen Hämangioendotheliomen in der Leber
Gutartige Lebertumoren Einen relativ großen Anteil der kindlichen Leberneoplasien nehmen die vaskulären Tumoren ein, die fast immer gutartig sind und insbesondere bei jungen Kindern vorkommen. Kavernöse Hämangiome in der Leber sind gewöhnlich asymptomatisch, entsprechen mit ihren schwammartigen Strukturen denen der Haut oder anderer Lokalisationen und regredieren spontan. Das infantile Hämangioendotheliom der Leber ist der häufigste Lebertumor der ersten 3 Lebensmonate und wird oft schon beim Neugeborenen entdeckt (Isaacs 2007). Meistens liegt ein großer, eher solider Tumor vor. Wie auch Hämangiome zeigt er jedoch ebenfalls einen hohen arteriovenösen Durchfluss und kann auch multipel in der Leber vorkommen (Hämangioendotheliose, . Abb. 45.5). So kann es auch zu einer Herzinsuffizienz oder zu einem übermäßigen Thrombozytenverbrauch mit konsekutiver Gerinnungsstörung (KasabachMerrit-Syndrom) kommen. Histologisch findet man in Hämangiomen eine Struktur mit flachen Endothelzellen auf fibrösem Stroma, die irreguläre Sinusoide bilden, in Hämangioendotheliomen dagegen eher mehrere Lagen von oft plumpen Endothelzellen mit ebenfalls zum Teil großen blutgefüllten Räumen. Die Hämangioendotheliome vom Typ I nach Dehner unterliegen ebenfalls meistens einer spontanen, oft kompletten
. Abb. 45.6. Präparat eines überwiegend zystischen mesenchymalen Hamartoms der Leber nach Resektion
Regression. Im Gegensatz hierzu zeigen die seltenen Hämangioendotheliome vom Typ II nach Dehner pleomorphe Endothelzellen mit erhöhter Proliferationstendenz, so dass hier der Übergang in Angiosarkome oft nicht ganz klar zu definieren ist (von Schweinitz 2004). Das mesenchymale Hamartom kommt ebenfalls typischerweise bei Säuglingen und Kleinkindern vor. Hier findet sich ein oft großer solider oder/und zystischer Tumor mit einer starken, vor allem portalvenösen Durchblutung (. Abb. 45.6). Dieser Tumor entwickelt sich wahrscheinlich aus der embryonalen, periportalen Duktalplatte und enthält fibröses und myxomatöses Gewebe sowie biliäre Zysten und reichlich Gefäße. In der frühen Kindheit kommt es meist zunächst zu einem eher langsamen Wachstum eines mesenchymalen Hamartoms, das dann jedoch sistieren kann. Vereinzelt wurde eine spontane Regression beschrieben, aber auch Fälle von maligner, sarkomatöser Entartung (Andrews 2005). Bei älteren Kindern und Jugendlichen trifft man eher auf hepatozytäre benigne Neoplasien, fokale noduläre
575 45.1 · Lebertumoren
Hyperplasien (FNH) und Adenome, wobei letztere sehr selten auftreten. Die fokale noduläre Hyperplasie wird eher als eine reaktive Neubildung angesehen und scheint vor allem bei mangelhaftem oder fehlendem Pfortaderfluss (z. B. auch bei kongenitaler Pfortaderagenesie) oder nach Schädigung durch intensive Chemotherapie, selten bei Glykogenspeichererkrankungen aufzutreten (7 Kap. 35). Makroskopisch findet man einen oder mehrere glatt begrenzte Knoten von homogener Struktur. Histologisch findet sich eine konzentrische, noduläre Struktur jeweils um ein fibröses Zentrum mit abnormen Gefäßen und Gallengangsproliferation (Andrews 2005). Das hepatozelluläre Adenom wird besonders oft bei jungen Frauen gefunden, die über längere Zeit orale Kontrazeptiva eingenommen haben. Bei Kindern und Jugendlichen stehen vor allem Assoziationen mit der Typ-I-Glykogenspeicherkrankheit, selten auch mit Hypothyreose, Polyzythämie, Diabetes mellitus, polyzystischen Ovarien, Fanconi-Anämie und dem regelmäßigen Einnehmen anaboler Steroide im Vordergrund. Auch Adenome können als einzelne Tumoren oder multinodulär gefunden werden. Histologisch findet man hepatozelluläre Proliferate ohne die konzentrische Struktur und die Gallengangsproliferate der FNH, was die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale sind. Neuerdings hat man auch in Adenomen Mutationen des Wnt/β-Catenin-Signalweges gefunden. Die Bedeutung für die Genese der Tumoren ist jedoch unklar, genau wie auch die Häufigkeit einer möglichen malignen Transformation in ein hepatozelluläres Karzinom (von Schweinitz 2004).
45.1.3
Klinik, Diagnostik und Stadieneinteilung
Symptomatik. Bei der Mehrzahl der Kinder fällt ein primärer Lebertumor bei noch gutem Allgemeinbefinden als große tastbare Raumforderung im Oberbauch auf. Bei fortgeschrittenem Stadium kommen dann Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit, Anämie und Erbrechen, selten ein Aszites hinzu. Bei ausgeprägter pulmonaler Metastasierung oder bei sehr jungen Kindern mit Zwerchfellhochstand kann Luftnot ein Symptom sein. Sehr selten kommt es zu einem Ikterus, einer Leberinsuffizienz oder zu einer akzidentellen Tumorruptur mit nachfolgender Blutung. So erreichen die meisten Lebertumoren eine beachtliche Größe, bevor sie entdeckt werden. Jedoch sind einige Symptomkonstellationen typischerweise mit spezifischen Tumoren assoziiert, wie Fieber, Thrombozytose und ein exzessives Serum-AFP, auch eine Pubertas praecox und ein erhöhtes β-HCG im Serum mit dem Hepatoblastom oder eine vorausgegangene HBV- oder HCV-Infektion und ein mittelgradig erhöhtes Serum-AFP mit dem HCC. Eine Herzinsuffizienz und/oder ein Kasabach-MerritSyndrom beim jungen Säugling findet sich beim infantilen
Hämangioendotheliom wie auch kutane Hämangiome bei Leberhämangiomen. Schließlich geben Assoziationen mit familiären Erkrankungen oder genetischen Syndromen (s. oben) und die typische Altersverteilung (. Tab. 45.1) Hinweise auf die möglichen Tumorentitäten. ! Cave Die Differenzialdiagnose von Lebertumoren bei Neugeborenen und sehr jungen Säuglingen ist mit besonderer Vorsicht zu stellen.
Hier müssen neben dem infantilen Hämangioendotheliom, mesenchymalem Hamartom und dem Teratom auch hochmaligne Tumoren wie Hepatoblastom, Chorionkarzinom, Rhabdoidtumor und ein Leberbefall durch Neuroblastom bedacht werden (von Schweinitz 2003). Diagnostik. Labordiagnostisch sollten neben einer Routinediagnostik von Blutbild, CrP, Leberwerten die Tumormarker AFP, β-HCG, Ferritin, LDH und CEA sowie ggf. die Neuroblastommarker NSE und Katecholaminmetaboliten untersucht werden. Das AFP ist bei 80–90% aller Hepatoblastome meist exzessiv, bei 50% der HCC mittelgradig erhöht. Bei jungen Säuglingen sind jedoch unbedingt die hohen Normwerte zu beachten, die dann zum Teil auch vom Hepatoblastom nicht überschritten werden. Geringe Erhöhungen des AFP findet man gelegentlich auch bei anderen Tumoren und nach Schädigung bzw. bei Regeneration der Leber. Virologische Titer sollten für HAV, HBV und HCV (HCC), HIV-1 (Fibrosarkome), Zytomegalie und EBV (Lymphome) getestet werden. Für die Bildgebung steht zunächst die Sonographie im Vordergrund. Sie braucht keine Narkose und kann bei Bedarf wiederholt werden. Mit ihr können Tumoren in der Leber lokalisiert und Aussagen zur Binnenstruktur gemacht werden. Insbesondere mit der Farbdopplertechnik lassen sich die umgebenden Gefäße und eventueller Tumoreinbruch sichtbar machen. Die genaue Ausdehnung und anatomische Lage sollte dann im CT mit Kontrastmittel, wegen der differenzierteren Darstellung der Struktur und einer besseren Artdiagnose noch besser mittels eines MRT untersucht werden. Mit diesen Techniken werden heute in der Regel eine Angiographie oder Leberszintigraphie überflüssig. In jedem Fall müssen folgende Befunde sicher erhoben werden: Ausdehnung des Tumors innerhalb der Leber und gegebenenfalls in angrenzenden Strukturen, makroskopischer Gefäßeinbruch, Lymphknotenbefall und Hinweise auf eine Artdiagnose (benigne versus maligne). Eine Thorax-Röntgenaufnahme ist immer indiziert. Für einen genauen Nachweis oder Ausschluss von Lungenmetastasen im Falle eines malignen Tumors ist jedoch ein Dünnschicht-CT erforderlich. Bei Vorliegen eines HCC sollte ein zerbrales MRT und ein Knochenszintigramm zusätzlich durchgeführt werden. Immer muss die Bildgebung ein korrektes Staging (s. unten) ermöglichen.
45
576
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
Die Differenzialdiagnose der möglichen Tumorarten (. Tab. 45.1) muss schlussendlich in der Regel histologisch erfolgen. Die Daten der multizentrischen Lebertumorstudien der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) weisen jedoch auf eine Ausnahme hin (von Schweinitz 2006): > Die Konstellation eines großen Lebertumors im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren, gepaart mit einem exzessiv erhöhten Serum-AFP (>1000 ng/ml und mehr als das Dreifache der Altersnorm) und ggf. einer Thrombozytose sowie einem erhöhten Serum-β-HCG macht die Diagnose »Hepatoblastom« so sicher, dass hier der Beginn einer Chemotherapie auch ohne vorherige histologische Sicherung gerechtfertigt ist. In allen anderen Fällen ist jedoch unbedingt eine histologische Diagnostik erforderlich.
45
Material zur histologischen Aufarbeitung wird in der Regel mittels einer Biopsie entnommen. Dabei muss genügend Tumorgewebe für die oft schwierige Differenzierung und für Gefriergewebe zur Molekulargenetik gewonnen werden. So wird generell die offene Biopsie über eine Laparotomie, gegebenenfalls an mehreren Stellen des Tumors, empfohlen, die zudem das sicherste Vorgehen mit der Möglichkeit der endgültigen Beurteilung einer Resektabilität ist. Das kann die Laparoskopie so nicht leisten, wird aber bei verbesserter Technik dennoch zunehmend angewendet. Zu dieser ist die perkutane Stanzbiopsie eine echte Alternative. Hier sind jedoch mehrere Stanzzylinder zu gewinnen, und gefäßreiche Tumoren sind eine Kontraindikation für dieses Vorgehen. Nadelpunktionen mit zytologischer Diagnostik sind in den meisten Fällen unzureichend. Für die primäre Resektion von kindlichen Lebertumoren gibt es nur eine sehr eingeschränkte Indikation (s. unten). Stadieneinteilung. Traditionell wird derzeit für das Sta-
ging maligner kindlicher Lebertumoren in den Therapiestudien der GPOH das auch in den USA gültige Stadiensystem benutzt, das auf der Tumorausdehnung im Bezug auf die Resektabilität beruht (. Tab. 45.2). Vor einigen Jahren hat jedoch die Lebertumorgruppe der Internationalen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie (SIOPEL) das PRETEXT-Gruppierungssystem (»pre-treatment extension«) eingeführt, das auf der prätherapeutischen Bildgebung beruht und damit vom chirurgischen bzw. therapeutischen Vorgehen unabhängig ist (. Abb. 45.7). Es beschreibt die Tumorausdehnung über die 4 chirurgischen Sektoren der Leber und hält zusätzlich mit Buchstaben Invasionen in große Venen (V) oder Pfortader (P), extrahepatische Ausdehnung (E) und Metastasierung (M) fest. Es wurde seine hohe prognostische Relevanz nachgewiesen und soll inzwischen nach einer internationalen Übereinkunft auch weltweit zum Einsatz kommen (Brown et al. 2000).
. Tab. 45.2. Tumorstadien nach Operabilität bei kindlichen Lebertumoren (GPOH und COG/USA) Stadium I
Tumor komplett reseziert (auch mikroskopisch)
Stadium II
Tumor reseziert, mikroskopischer Resttumor 4 A: Mikroskopischer Rest in der Leber 4 B: Extrahepatischer mikroskopischer Rest
Stadium III
Makroskopischer Resttumor und/oder Lymphknotenbefall und/oder Tumorruptur 4 A: Tumor komplett reseziert, Lymphknotenbefall und/oder Ruptur 4 B: Makroskopischer Tumorrest und/oder Lymphknotenbefall und/oder Ruptur
Stadium IV
Fernmetastasen
45.1.4
Therapie und Prognose
Prinzipien der Chirurgie Da die meisten kindlichen Lebertumoren entweder benigne sind und teilweise spontan regredieren oder gut auf Chemotherapie ansprechen, steht vor allem bei Säuglingen, Klein- und Schulkindern eine primäre Resektion nicht im Vordergrund. Vielmehr sollte Tumormaterial zur Histologie über eine Biopsie entnommen werden, sofern ein Hepatoblastom nicht bereits klinisch diagnostiziert werden kann (s. oben). Eine initiale Resektion des Lebertumors ist bei Kindern nur in den ganz seltenen Fällen indiziert, in denen ein sehr kleiner solitärer Tumor vorliegt (PRETEXT I, . Abb. 45.7) oder wenn bei älteren Kindern und Jugendlichen aus Bildgebung, Serologie und SerumAFP starke Hinweise auf ein HCC vorliegen und der Tumor über eine einfache Lobektomie sicher entfernbar ist (von Schweinitz 2006). ! Cave Inkomplette Resektion beim Hepatoblastom und HCC ohne vorherige Chemotherapie führen zu rasch wachsenden Rezidiven und Lungenmetastasen, die die Prognose deutlich verschlechtern!
Die Resektion sollte grundsätzlich nur von Chirurgen vorgenommen werden, die Erfahrung mit Lebertumorchirurgie bei Kindern haben und die spezielle postoperative Betreuung dieser Patienten beherrschen. Wir wählen als Zugang eine breite quere Oberbauchlaparotomie, bei Bedarf mit T-förmiger Erweiterung in der Medianlinie bis zum Xyphoid. Die Leber wird komplett mobilisiert und das Ligamentum hepatoduodenale sowie die Vena cava unterund oberhalb der Leber angeschlungen. Nach Absetzen der zugehörigen zu- und abführenden Gefäße erfolgt die Resektion stumpf, mit dem Ultraschallmesser oder Ligasure unter Ligatur aller kreuzenden Gefäße. Wenn der Abstand zum Tumor groß genug ist, kann mit durchgreifenden Matrazennähten eine blutfreie Resektion ermöglicht werden. Wir vermeiden das Ausklemmen der Leber für die Resekti-
577 45.1 · Lebertumoren
. Abb. 45.7. Die PRETEXT-Gruppierung der SIOPEL-Studien für maligne Lebertumoren (Erläuterungen 7 Text)
on soweit wie möglich, da so die postoperative Funktion schneller regeneriert (von Schweinitz 2004). > Anatomische Resektionen wie Segmentresektion, Lobektomie oder erweiterte Lobektomie (Trisegmentresektion) sind unbedingt atypischen (»wedge«) Resektionen oder Enukleationen vorzuziehen, da sie weniger Komplikationen nach sich ziehen und in der Regel radikalere Resektionen ermöglichen.
Spezielle Techniken für Tumoren mit Gefäßeinbruch wie Resektion unter Kreislaufarrest mit Herz-Lungen-Maschine oder Ex-situ-Resektionen sind heute quasi nie mehr indiziert, da die orthotope Lebertransplantation onkologisch bei derartigen Tumoren bessere Langzeitergebnisse erbringt. Eine Analyse von weltweit zusammengetragenen Daten zeigt, dass die Heilungsrate beim Hepatoblastom mit Lebertransplantation gleich gut ist wie nach konventioneller Resektion kleinerer Tumoren (Otte et al. 2004). Ähnliches gilt für auf die Leber beschränkte, jedoch nicht resektable HCC. Die Lebertransplantation wird in der Regel bei diesen Kindern über eine »Living-related-split«-Spende durchgeführt.
Therapie des Hepatoblastoms Heutzutage werden Hepatoblastome in potenziell resektable, Standardrisiko- (SR-HB) und in Hochrisiko- (HR-
HB) Tumoren eingeteilt. Letztere sind Tumoren mit diffusem oder multifokalem Befall der ganzen Leber, makroskopischem Gefäßeinbruch und/oder Metastasen. Diese bedürfen einer besonders intensiven Chemotherapie vor der chirurgischen Sanierung. Induktionschemotherapie. Bei fast allen Hepatoblastomen steht die Chemotherapie an erster Stelle. 90% der Hepatoblastome sprechen gut darauf an; es kommt in der Regel zu einer deutlichen Tumorverkleinerung und Verbesserung der Resektabilität (. Abb. 45.2). Das wirksamste Zytostatikum ist Cisplatin, aber auch andere Medikamente, wie Carboplatin, Doxorubicin, Ifosfamid, Etoposid, Vincristin und 5-Fluorouracil besitzen eine Wirkung und werden angewendet, wie auch neuerdings in Testung das Irinotecan. Im Rahmen der multizentrischen Studien der GPOH wurde vor allem mit Erfolg die Kombination von Ifosfamid (3-mal 1 g/m2 KO), Cisplatin (5-mal 20 mg/m2 KO) und Doxorubicin/Adriamycin (60 mg/m2 KO über 2 Tage) eingesetzt. Neuerdings ist klar geworden, dass bei gleichen Ergebnissen auch auf das Ifosfamid verzichtet werden kann. Für HRHB hat sich dagegen der Einsatz von Hochdosis-Carboplatin und Etoposid im Vergleich zu intensiver, konventionell dosierter Gabe von Cisplatin, Doxorubicin und Carboplatin als nicht überlegen herausgestellt. In der Regel sind beim
45
578
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
SR-HB 2–3 Chemotherapiekurse nötig, um einen Tumor sicher resezieren zu können. Beim HR-HB werden bis zu 7 Kursen verabreicht. Danach können 70% der Tumoren in der Leber und die Mehrzahl der Lungenmetastasen chirurgisch saniert werden. Vor allem für diese Patientengruppe sind jedoch weitere multizentrische Studien zum Einsatz alternativer oder erweiterter Medikamentenregime notwendig.
45
Operative Therapie. Nach einer solchen Induktionschemotherapie sollte die komplette chirurgische Tumorentfernung angestrebt werden. Hier sind jetzt auch ausgedehnte Verfahren oder auch eine Lebertransplantation indiziert (Otte et al. 2004). Eine übermäßige Verlängerung der präoperativen Chemotherapie ist wegen der oft einsetzenden multiplen Zytostatikaresistenz nicht sinnvoll, eine Strahlentherapie wegen mangelnder Sensibilität nicht indiziert. Bei der oft ausgedehnten Resektion und der postoperativen Therapie sollten auch deshalb Komplikationen vermieden werden, um die weitere Applikation von adjuvanter Chemotherapie nicht zu verzögern. Es konnte nämlich gezeigt werden, dass Wachstumsfaktoren, die aufgrund des operativen Traumas an Abdomen und Leber ausgeschüttet werden, eine tumorfördernde Wirkung entfalten können (Grotegut et al. 2006). Die postoperative Chemotherapie erfolgt in der Regel mit einem bis zwei Kursen.
tendissektion anzuschließen. Patienten mit primär komplett reseziertem HCC haben eine 80%-ige Heilungschance, während diese bei nicht resektablem oder metastasiertem HCC nur bei maximal 20% liegt (. Tab. 45.4; Czauderna et al. 2002). Alle multizentrischen Studien zeigen ein schlechtes Ansprechen auf Induktionschemotherapie und dabei zusätzlich eine rasante, komplette Resistenzentwicklung. So kann bei nicht resektablem, jedoch sicher auf die Leber beschränktem HCC auch eine Lebertransplantation erwogen werden (Yoo et al. 2003). Chemotherapie. Chemotherapeutisch ist wahrscheinlich die Kombination von CDDP, Doxorubicin und ggf. 5-Fluorouracil mit oder ohne Interferon-α die effektivste. Jedoch hat auch sie eine Ansprechrate unter 20% (Leung et al. 2002). Deshalb sind neue, »biologische« Medikamente, wie Antagonisten gegen Wachstumsfaktorrezeptoren, in Erprobung. Einer dieser Stoffe, Sorafenib, könnte zumindest eine additive Wirkung zur Chemotherapie haben und ließe sich ggf. auch mit weiteren »biologischen«, z. B. antiangiogenetischen Medikamenten kombinieren (Abou-Alfa et al. 2006). Bei lokalisiertem HCC kann auch eine Chemoembolisation zu einer deutlichen Größenreduktion führen. Für kleine Läsionen kann die Radiofrequenzablation in Anwendung kommen (Pawlik et al. 2003). Sie hat bei Kindern jedoch eher palliativen Charakter.
Ergebnisse. Die Prognose von Kindern mit einem Hepato-
Therapie anderer Malignome in der Leber
blastom ist mit einer durchschnittlichen Heilungsrate von ca. 75% relativ gut. Die tumorfreie 5-Jahres-Überlebensrate liegt für das SR-HB bei 90%, für das HR-HB jedoch nur bei maximal 60% (. Tab. 45.3), so dass hier die Entwicklung neuer Therapiestrategien vordringlich ist (von Schweinitz 2006).
Operative Therapie. Auch das HCC des Kindes- und Jugendlichenalters ist gegenüber Bestrahlung resistent und spricht nur schlecht und sehr kurzzeitig auf Chemotherapie an. Deshalb sollte hier bereits primär auch mit ausgedehnten Operationen eine komplette Resektion angestrebt werden (s. oben). Immer ist auch eine ausgiebige Lymphkno-
Viele der sehr seltenen nicht epithelialen Malignome der Leber im Kindesalter zeigen ein Ansprechen auf Chemotherapie. Dennoch sollte eine primäre Resektion angestrebt werden, solange dies radikal und ohne hohes Komplikationsrisiko möglich ist. Im anderen Fall, wie auch postoperativ adjuvant wird eine Chemotherapie verabreicht. Dabei entspricht die Zytostatikakombination jeweils dem Therapieprotokoll der aktuellen multizentrischen Studie. Für die Lebersarkome sind dies die Medikamente Vincristin, Adriamycin, Cyclophosphamid bzw. Ifosfamid und Actinomycin D der CWS-Studie (Cooperative Weichteilsarkom) der GPOH, ggf. auch kombiniert mit einer Bestrahlung (7 Kap. 47). Die Rhabdomosarkome wie auch die
. Tab. 45.3. Therapieergebnisse beim Hepatoblastom in der Studie HB99 (1999–2006)
. Tab. 45.4. Therapieergebnisse beim kindlichen HCC in den Studien HB89, HB94 und HB99 (1989–2006)
Stadien
Gesamt
Remission (%)
Stadien
I
11
10 (91)
1 (9)
II
3
1 (33)
2 (66)
III SR
49
46 (94)
3 (6)
III HR
11
6 (55)
5 (45)
IV
23
10 (43)
13 (57)
Gesamt
97
73 (75)
24 (25)
Therapie des hepatozellulären Karzinoms
Tod (%)
Gesamt
Remission
Tod
I
9
7
2
II
10
8
2
III
24
8
16
IV
26
3
23
Gesamt
69
26 (38%)
42 (62%)
579 45.2 · Pankreastumoren
undifferenzierten Sarkome zeigen ein mäßiges bis gutes Ansprechen auf diese Therapie und werden zum Teil resektabel. So kann ein tumorfreies 5-Jahres-Überleben bei undifferenzierten Sarkomen von ca. 50–60%, beim Rhabdomyosarkom trotz der oft ungünstigen zentralen Lage von über 60% erreicht werden (Bisogno et al. 2001). Angiosarkome und Rhabdoidtumoren sprechen sehr schlecht auf Chemotherapie an und haben meist nur nach einer kompletten Resektion eine Chance auf Heilung. Die extrem seltenen, malignen Keimzelltumoren, wie Dottersacktumoren, maligne Teratome und das Chorionkarzinom beim Neugeborenen, reagieren meist günstig auf Chemotherapie gemäß einem Keimzelltumorprotokoll (MAKEI-GPOH, 7 Kap. 46) und lassen sich nach einer weitgehenden Regression oft komplett resezieren. So ist hier meist von einer guten Prognose, ähnlich wie beim Hepatoblastom, auszugehen (von Schweinitz 2005).
Therapie der benignen Lebertumoren Hämangiome und infantile Hämangioendotheliome können angesichts ihrer spontanen Regressionstendenz in der Regel expektativ behandelt werden. Derzeit wird kontrovers diskutiert, ob in jedem Fall oder nur bei unklarer klinischer Situation eine histologische Sicherung der Diagnose nötig ist. Wenn der Tumor nicht reseziert wird, muss er regelmäßig mittels Sonographie, gegebenenfalls auch CT oder MRT kontrolliert werden, bis die komplette Resektion gesichert ist. Bei noch relativ leichter klinischer Symptomatik können Kortikosteroide zur Förderung der Regression eingesetzt werden. Stärkere Medikamente hierfür sind Interferon-2α oder orale Gabe von Zytostatika, wie Vincristin oder Cyclophosphamid, die jedoch alle erhebliche Nebenwirkungen aufweisen. Positive Erfahrungen mit antiangiogenetischen Substanzen liegen für diese Tumoren bisher nicht vor. Eine allfällige Linksherzinsuffizienz wird symptomatisch, z. B. mit Digitalis und Diuretika behandelt, bei klinisch relevantem Thrombozytenverbrauch und Koagulopathie sind entsprechende Transfusionen und Substitution von Gerinnungsfaktoren indiziert. Bei akuter schwerer Symptomatik kann eine invasive Therapie lebensrettend sein. Interventionell können zuführende arterielle Äste des Hepatica-Kreislaufes embolisiert werden. Wenn dies nicht möglich ist oder nicht gelingt, kann auch eine Operation mit Ligatur des zuführenden A.-hepatica-Astes oder eine Resektion des Tumors indiziert sein. Auch im Hinblick auf diese gelegentlich akuten Gefahren ist die Prognose mit einem Überleben von mindestens 80% der jungen Säuglinge gut (von Schweinitz 2003). Beim mesenchymalen Hamartom ist die Therapie der Wahl die komplette Resektion, da über lange Zeit eine Entartung zu einem Sarkom nicht ausgeschlossen ist. Während der ersten Lebensmonate können mesenchymale Hamartome der Leber noch wachsen, bleiben aber dann – wie auch Hamartome in anderen Körperregionen – in der Größe gleichbleibend. Sehr ausgedehnte Leberhamartome kön-
nen deshalb auch zunächst beobachtet und erst später einer Resektion zugeführt werden, wenn die relative Ausdehnung im Vergleich zur Leber und zum restlichen Abdomen geringer geworden ist. Bei der Resektion kann es bei sehr ausgedehnten Hamartomen mit einer starken portalvenösen Blutzufuhr nach Absetzen der Gefäße ganz selten einmal zu einem intestinalen Blutstau mit nachfolgender Toxiämie und Ausbildung eines ARDS kommen (von Schweinitz 2006). Eine fokale noduläre Hyperplasie entartet quasi nie und kann deshalb konservativ angegangen werden, zumal es nach einer Resektion in manchen Fällen zu einer rezidivierenden hepatozytären Hyperplasie kommt. Deshalb sollte die Operation nur bei entsprechenden klinischen Symptomen durchgeführt werden. Anders ist dies beim Leberadenom, da dieses als ein Vorläufertumor für das HCC gilt. Deshalb ist beim Adenom eine komplette Entfernung anzustreben, soweit dies mit einem vertretbaren chirurgischen Risiko möglich ist (Andrews 2005).
Nachsorge Alle Kinder mit einem behandelten Lebertumor bedürfen einer Nachsorge. Patienten mit einem malignen Tumor sind mindestens über 5 Jahre nach Eintreten der Remission zu beobachten. Regelmäßige, zunächst monatliche, später dreimonatliche und halbjährliche Kontrollen der Lebersonographie, Röntgen-Thoraxaufnahme, gegebenenfalls CT und MRT und der Laborwerte zum Ausschluss eines Tumorrezidivs und zur Einschätzung der Therapielangzeitwirkungen sind notwendig. Hinsichtlich letzterer sind ferner Untersuchungen des Hörvermögens, des Herzens, der Nieren und der Blutbildung nötig, auf die Entstehung eines Zweitmalignoms muss geachtet werden. Bei gutartigen Tumoren müssen die Patienten nach vollständiger Resektion oder Regression und abgeschlossener Leberregeneration an sich nicht weiter kontrolliert werden. Jedoch sollten nach inkompletter Entfernung oder bei Tumoren mit maligner Potenz (Adenom, mesenchymales Hamartom) längerfristige Kontrollen mit einer Lebersonographie und Bestimmung von Tumormarkern (AFP, LDH) bis in die Pubertät angeraten werden (von Schweinitz 2005).
45.2
Pankreastumoren
45.2.1
Epidemiologie und Vorkommen
Tumoren des Pankreas kommen bei Kindern und Jugendlichen ausgeprochen selten vor. So bestehen kaum Erfahrungen mit Biologie und Therapie, zumal es eine Reihe von Tumorarten gibt, die in dieser Altersgruppe beobachtet werden (. Tab. 45.5). Bei jungen Kindern kommen überwiegend Pankreatoblastome (25% aller kindlichen Pankreastumoren), bei älteren Schulkindern und Jugendlichen eher der solide pseudopapilläre Tumor (SPT, 17%, vor
45
580
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
. Tab. 45.5. Pankeastumoren bei Kinder und Jugendlichen Art des Tumors Pankreatoblastom
Alter 2–10 Jahre
Solider pseudopapillärer Tumor (SPT)
10–20 Jahre
Azinuszellkarzinom
>15 Jahre
Endokrine Neoplasien (7 Kap. 35.6.2)
>10 Jahre
Malignome mit Pankreasbefall: peripherer neuroektodermaler Tumor (PNET), Lymphome, Rhabdomyosarkome, Neuroblastom, Teratom
allem bei Mädchen), benigne und maligne endokrine Tumoren und ganz vereinzelt das Azinuszellkarzinom vor. Das bei
45
Erwachsenen am häufigsten anzutreffende duktuläre Adenokarzinom gibt es im Kinderalter quasi gar nicht (Chung et al. 2006). Zusätzlich können eine Reihe von Tumoren, die offensichtlich nicht von Pankreasgewebe ausgehen, dieses Organ dennoch befallen, wie maligne Lymphome (7 Kap. 48), der maligne periphere neuroektodermale Tumor (PNET) und Rhabdomyosarkome (7 Kap. 47), Neuroblastome (7 Kap. 43) und Teratome (7 Kap. 46). Auf die endokrinen Tumoren wird im 7 Kap. »Pankreaschirurgie« (7 Kap. 36.6.2) detailliert eingegangen.
45.2.2
Pathologie und Biologie
Pankreatoblastom Das Pankreatoblastom scheint aus frühen multipotenten Pankreasvorläuferzellen zu entstehen, enthält histologisch unreifes epitheliales Gewebe neben mesenchymalen Anteilen und produziert in den meisten Fällen α-Fetoprotein (AFP). Die Verwandtschaft mit anderen embryonalen Tumoren, vor allem dem Hepatoblastom, zeigt sich auch in Genetik und Molekulargenetik. Auch hier besteht eine Assoziation mit dem Wiedemann-Beckwith-Syndrom und es finden sich Allelverluste auf dem Chromosomarm 11q und Mutationen im WNT-Signalweg, nicht jedoch, wie beim adulten Pankreaskarzinom, in den p-53- und K-ras-Genen. Ein Drittel aller Pankreatoblastome hat bei Diagnosestellung bereits Lebermetastasen gesetzt, einige auch Lymphknotenabsiedelungen. Offensichtlich sprechen die meisten Pankreatoblastome zumindest initial auf Chemotherapie und bis zu einem gewissen Grad auch auf Bestrahlung an (Shorter et al. 2002).
Solider pseudopapillärer Tumor Der SPT der meist weiblichen Jugendlichen ist eine Neoplasie von eher niedriger Malignität, dessen Ursprungsgewebe im Pankreas nicht bekannt ist. Der eher langsam wachsende Tumor metastasiert selten und sehr spät in Lymphknoten oder gar andere Organe (bevorzugt Leber). Er kann neben
solidem Gewebe auch zystische Anteile enthalten. Histologisch finden sich epitheloidzellige solide, pseudopapilläre und hämorrhagisch-zystische Areale. Die Tumorzellproliferationsrate scheint der Wahrscheinlichkeit von invasivem Wachstum und Metastasen zu entsprechen. Auch im SPT sind Mutationen im WNT-Signalweg gefunden worden. Der SPT spricht in der Regel kaum auf Chemotherapie, gelegentlich jedoch auf Bestrahlung an (Papavramidis u. Papavramidis 2005).
Azinuszellkarzinom Das Azinuszellkarzinom wurde – im Gegensatz zum duktulären Adenokarzinom – einige Male bei Kindern und Jugendlichen beobachtet. Oft handelt es sich um bereits große, relativ gut abgegrenzte Tumoren in allen Teilen des Pankreas. Histologisch ist das Azinuszellkarzinom dem Pankreatoblastom relativ ähnlich, weist jedoch keine mesenchymalen Komponenten und keine Mutationen von Molekülen des WNT-Signalweges auf und produziert auch kein AFP (Sendler u. Siewert 2006).
45.2.3
Klinik, Diagnostik und Stadieneinteilung
Klinik. Klinisch fallen Kinder und Jugendliche mit nicht endokrinen Pankreastumoren (7 Kap. 36.6.2) meistens weniger durch einen Ikterus, sondern vielmehr durch eine große Raumforderung im Oberbauch, Verdauungsstörung und gelegentlich durch Schmerzen auf (. Abb. 45.8). So ist oft ein großer, derber und nicht verschieblicher Oberbauchtumor bereits tastbar. Labordiagnostisch steht die Untersuchung von BKS, CrP, Blutbild, Pankreasenzymen, Leberwerten und vor allem der Tumormarker AFP, CEA, CA125, CA19-9, LDH und β-HCG im Vordergrund. Diagnostik. Einen ersten Überblick über Lage und Größe des Tumors liefert die Sonographie. Immer sind jedoch ein CT und/oder ein MRT notwendig, um die genaue Ausdehnung und Lage, Zuordnung zu den Gefäßen des Pankreas und der Umgebung sowie zu benachbarten Organen, Binnenstruktur und Befall der regionären Lymphknotengebiete beurteilen zu können (Chung et al. 2006). In vielen Fällen wird man auch eine ERCP und eine Angiographie oder besser zunächst eine MRCP und ein Angio-MRT einsetzen. Unbedingt sollte nach Metastasierung in die Leber und in die Lunge, gegebenenfalls auch in das Skelettsystem und ins Gehirn gefahndet werden. Hier kann zur Suche und Beurteilung der Malignität ein FDG-PET hilfreich sein, unter Umständen auch ein zerebrales MRT und ein Knochenszintigramm. Am Ende der bildgebenden Diagnostik sollte ein exaktes Staging und eine sichere Beurteilung der Resektabilität möglich sein. Unerlässlich ist schließlich die histologische Untersuchung. Die kann bei gut resektablen Tumoren aus dem
581 45.2 · Pankreastumoren
a
b
. Abb. 45.8a, b. Pankreatoblastom eines 9-jährigen Mädchens im Pankreaskopf. a Vor Therapiebeginn, b nach 6 Chemotherapiekursen und mäßigem Ansprechen (mit freundlicher Genehmigung von Dr.
Birgit Kammer, Pädiatrische Radiologie, Dr. von Haunersches Kinderspital, München)
Resektat, sonst aus einer Biopsie erfolgen. Bei sehr großen Tumoren kann in seltenen Fällen eine perkutane Stanzbiopsie möglich sein, sonst je nach Lage des Tumors eine Entnahme von Biopsien laparoskopisch oder über eine offene Laparotomie. In geeigneten Fällen kann versucht werden, die Diagnose aus einer über eine Gastroskopie durchgeführten Nadelbiopsie zytologisch zu stellen. Die spezifische Diagnostik der endokrinen Tumoren ist in 7 Kap. 36.6.2 beschrieben.
> Vor allem sollte bei jungen Kindern, wenn irgend möglich, die Entfernung der Milz und die Entfernung von zu viel Pankreasgewebe (Gefahr eines Diabetes mellitus!) vermieden werden.
Stadieneinteilung. Für eine genaue Beschreibung des Tu-
mors und eine entsprechende Erarbeitung einer Therapiestrategie ist das exakte Tumorstaging wichtig. Mangels eines speziellen Systems für kindliche Pankreastumoren ist das TNM-System der UICC für exokrine Pankreastumoren zu empfehlen (. Tab. 45.6), das auch für die wenigen kindlichen Patienten die oben genannten Bedingungen erfüllt (UICC 2002).
45.2.4
Bei nicht chemosensiblen Malignomen sollte auch eine chirurgische Entfernung allfälliger Lebermetastasen erwogen werden, solange dies mit konventionellen chirurgischen Techniken möglich ist. Dies gilt im ersten Anlauf ebenfalls nicht für das Pankreatoblastom. Die Resektion von Fernmetastasen anderer Lokalität ist in jedem Fall nur bei Nachweis einer wirksamen Chemotherapie sinnvoll.
. Tab. 45.6. TNM-Klassifikation der Pankreaskarzinome (UICC 2002) T
Primärtumor
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor beschränkt auf das Pankreas, 2 cm oder weniger im Durchmesser
T2
Tumor beschränkt auf das Pankreas, >2 cm im Durchmesser
T3
Tumor dehnt sich über das Pannkreas hinaus aus, aber keine Infiltration des Truncus coeliacus oder der A. mesenterica superior
T4
Tumor infiltriert Truncus coeliacus oder die A. mesenterica superior
N
Regionäre Lymphknoten
N0
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
N1
Regionäre Lymphknotenmetastasen
M
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen
Therapie und Prognose
Operative Therapie. Da die meisten Pankreastumoren vor
allem bei Schulkindern und Jugendlichen wenig zytostatika- und strahlensensibel sind, steht die chirurgische Resektion im Mittelpunkt der Therapie. Soweit möglich, sollte demnach primär eine radikale Resektion mit ausgiebiger Lymphknotendissektion angestrebt werden. Hierfür sind auch bei Kindern alle Techniken der Pankreasresektion der Erwachsenenchirurgie möglich, wie Schwanzresektion, subtotale Resektion, Whipple-Operation, etc. (Sendler u. Siewert 2006). Bei jungen Kindern mit einem Pankreatoblastom sollte allerdings die Indikation zu sehr ausgedehnten Resektionen zurückhaltender gestellt werden, da die meisten Pankreatoblastome zumindest zunächst auf Chemotherapie ansprechen (Defachelles et al. 2001).
45
582
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
Chemotherapie. Die Chemotherapie kommt vor allem beim
Pankreatoblastom zum Einsatz. Hier scheinen dieselben Kombinationen wie beim Hepatoblastom, vor allem aber Cisplatin (CDDP) und Doxorubicin wirksam zu sein, so dass die entsprechenden Lebertumorprotokolle zur Anwendung kommen können. Bei ausgedehnten Tumoren sollte eine Induktionstherapie zur Erreichung einer Resektabilität, in allen Fällen auch eine postoperative adjuvante Therapie gegeben werden. Nach Fallberichten lässt sich so eine Resektabilität bei mindestens zwei Drittel dieser Tumoren erreichen (Defachelles et al. 2001). Beim SPT des Pankreas ist intensive Chemotherapie nach der Literatur gelegentlich ein wenig, nach eigenen Beobachtungen jedoch gar nicht effektiv. Ähnliches gilt für die Pankreaskarzinome, bei denen für Fälle von nicht resektablem oder metastasierendem Tumor allenfalls ein Versuch unternommen werden kann (Papavramidis und Papavramidis 2005).
45
. Tab. 45.7. Gastrointestinale Tumoren des Kindesalters Art des Tumors
Lokalisation
Teratom
Vor allem Magen
Leiomyom
Ösophagus und Magen
Leiomyosarkom
Ösophagus und Magen
Gastrointestinaler Stromatumor (GIST)
Gesamter Gastrointestinaltrakt
»Inflammatorischer« Pseudotumor
Vor allem Magen, gesamter Intestinaltrakt
Magenkarzinom
Magen
Lymphome (NHL)
Dünndarm
Polypen (juvenil, FAP, Peutz-Jeghers-Syndrom)
Gesamter Gastrointestinaltrakt
Karzinoid
Vor allem Appendix, gesamter Gastrointestinaltrakt
Kolorektales Karzinom
Kolon und Rektum
Strahlentherapie. Der Wert einer Strahlentherapie ist für alle
beschriebenen Tumoren unklar. Es gibt jedoch Einzelfallberichte über eine Wirkung sowohl beim Pankreatoblastom, als auch beim SPT und sogar beim Pankreaskarzinom. Prognose. Obwohl ein hochmaligner Tumor, der zu Metas-
tasierung und Lokalrezidiven neigt, hat sich doch mit Einsatz von Chemotherapie die Prognose des Pankreatoblastoms so weit gebessert, dass ein 5-Jahres-tumorfreies Überleben von mindestens 50% erreicht wird. Der SPT hat – solange er auf das Pankreas beschränkt ist – eine 95%ige Heilungschance. Aber selbst bei nicht möglicher kompletter Entfernung oder Lebermetastasen sind Überlebenszeiten von über 10 Jahren bekannt. Die Heilungschancen von einem Azinuszellkarzinom sind schlecht und nur gegeben, wenn eine radikale chirurgische Entfernung möglich ist (Sendler u. Siewert 2006).
45.3
Tumoren des Magen-Darm-Traktes
45.3.1
Epidemiologie und Vorkommen
Primäre Tumoren des Magen-Darm-Traktes sind bei Kindern selten. Sie machen nur weniger als 5% aller Neoplasien und 1,2% der Malignome des Kindesalters aus. Dabei umfassen sie eine große Gruppe verschiedener Entitäten (. Tab. 45.7). Insbesondere die im späteren Erwachsenenalter so häufigen epithelialen Karzinome von Magen, Kolon und Rektum sind bei Kindern eine Rarität. Fast alle gastrointestinalen Tumoren kommen überwiegend im Schulkind- und Jungendlichenalter, fast nie bei Säuglingen und Kleinkindern vor (Ladd u. Grosfeld 2006). Die weitaus häufigsten Tumoren des Gastrointestinaltraktes im Kindesalter (ca. 60%) sind Non-Hodgkin-Lymphome, die sich vor allem im Dünndarm entwickeln. Die spezifischen Erscheinungsformen und Therapie dieser Tumoren wird im 7 Kap. 48 abgehandelt.
Von den übrigen Entitäten trifft man wiederum am häufigsten benigne Polypen des Kolons, ggf. auch des Dünndarms und sehr selten des Duodenums und Magens an. In der Mehrzahl sind dies sporadische, juvenile Polypen. In einigen Fällen können sie jedoch auch Ausdruck eines prädisponierenden Syndroms mit Polyposis, wie das Peutz-Jeghers-Syndrom oder familiären adenomatösen Polyposis (FAP) des Gardner- oder des Turcot-Syndroms sein. Diese sind als Präkanzerose insbesondere für ein frühes kolorektales Karzinom zu betrachten. Weitere Prädispositionen für ein frühes kolorektales Karzinom ergeben sich aus dem Vorliegen von hereditären, Nicht-Polyposis-Kolonkarzinomen in der Familie, aber auch aus einer kindlichen Colitis ulcerosa, weniger gravierend aus einem Morbus Crohn (7 Kap. 34) sowie aus einer chronischen Strahlenkolitis nach frühkindlicher Radiotherapie wegen Neuroblastom, Nierentumor oder retroperitonealen Sarkomen. So ist – nach Hepatoblastomen und hepatozellulären Karzinomen – das kolorektale Karzinom das zweithäufigste epitheliale Malignom des Verdauungstraktes mit einer geschätzten Häufigkeit von 1,3–2 Fällen auf eine Million lebender Kinder. Mesenchymale gastrointestinale Tumoren (Leiomyosarkome, gastrointestinale Stromatumoren) können in Kombination mit Paraganglien und pulmonalen Chondromen als Carneys-Triade auftreten (Geiger 2005).
45.3.2
Pathologie und Biologie
Die wenigen beschriebenen Teratome des Magens entsprechen in Pathologie und biologischem Verhalten Teratomen anderer Regionen (7 Kap. 46). Leiomyome und Leiomyosarkome können auch schon bei jungen Kindern auf-
583 45.3 · Tumoren des Magen-Darm-Traktes
treten und sind Tumoren aus glatten Muskelzellen. Oft ist die Differenzierung zwischen benignen und malignen Tumoren schwierig und beruht auf der Mitoserate, Zellregularität, Tumornekrosen und myxoiden Veränderungen. Auch das Leiomyosarkom metastasiert spät und spricht mäßig gut auf Chemotherapie an (7 Kap. 47). Gastrointestinale Stromatumoren (GIST) sind maligne mesenchymale Neoplasien, die bei spindelzelliger Histologie keine muskulären Elemente aufweisen und charakteristischerweise den c-Kit-Rezeptor (CD117) für den Stammzellfaktor (SCF) aufweisen. So haben sie Ähnlichkeit zu intestinalen Cajal-Zellen. Im Gegensatz zum Erwachsenenalter sind GIST bei Kindern sehr selten, wachsen lokal aggressiv und haben in 50% der Fälle bei Diagnose bereits Metastasen gesetzt. Aufgrund der Expression und Funktion des c-Kit-Rezeptors reagieren sie gut auf den Tyrosinkinaseinhibitor Imatinib (Prakash et al. 2005). Inflammatorische myoblastische Tumoren (Synonym: Plasmazellgranulome) sind im Gastrointestinaltrakt sehr selten und treten dort bevorzugt im Magen auf. Sie wachsen relativ langsam und metastasieren nicht, haben jedoch eine relativ hohe Rezidivrate und können in Einzelfällen maligne entarten. Deshalb sollte eine komplette Entfernung angestrebt werden (Heij 2006). Das Adenokarzinom des Magens ist bei Kindern extrem selten und wurde in Assoziation mit einer familiären Polyposis, mit Vitamin-B12-Mangel und Heliobacter-pylori-Infektionen beobachtet. Pathologisch und vom biologischen Verhalten her ähnelt es dem Magenkarzinom des Erwachsenen und hat trotz aggressiver Behandlung eine schlechte Prognose (Geiger 2005). Juvenile Polypen treten überwiegend im Kolon auf, jedoch selten auch in anderen Abschnitten des MagenDarm-Traktes. Sie setzen sich aus Mukosa und Submukosa zusammen und sind benigne. Bei multiplen Polypen spricht man von juveniler Polyposis, die als Präkanzerose einzuordnen ist. Beim autosomal-dominanten Peutz-JeghersSyndrom kommt es aufgrund einer Mutation des LKB1Genes zu mukokutanen Pigmentierungen und multiplen Polypen. Diese sind, wie auch Polypen im Rahmen einer familiären Polyposis coli, aufgrund einer APC-Gen-Mutation eine absolute Präkanzerose (Geiger 2005). Karzinoide können bei Kindern in seltenen Fällen in allen Abschnitten des Magen-Darm-Traktes, auch in einem Meckel-Divertikel, am häufigsten jedoch in der Appendix angetroffen werden. Es sind neuroendokrine Tumoren von niedriger Malignität, die vor allem Serotonin und 5-Hydroxyindolessigsäure produzieren. Karzinoide wachsen lokal aggressiv und können selten auch Lymphknoten- und Lebermetastasen setzen (Ladd u. Grosfeld 2006). Kolorektale Karzinome können bei Kindern aufgrund einer bekannten Prädisposition (s. oben) oder sporadisch auftreten. Im Gegensatz zu Erwachsenen sind sie nicht gehäuft im distalen Kolon und Rektum lokalisiert. Ferner findet sich selten das differenzierte Adenokarzinom, son-
dern vielmehr das mucinöse Karzinom, das aggressiv wächst und früh metastasiert. Beides bedingt das oft bereits fortgeschrittene Tumorstadium und eine sehr schlechte Prognose bei Kindern. Die Mehrzahl der Karzinome produziert das karzinoembryonale Antigen (CEA), das als Tumormarker dienen kann (Geiger 2005).
45.3.3
Klinik, Diagnostik und Stadieneinteilung
Klinik. Die klinische Symptomatik wird bei allen Tumoren
des Gastrointestinaltraktes relativ uniform vor allem durch die anatomische Lage bestimmt. So kommen Schluckstörungen, Bolusgefühl, blutiges Erbrechen beim Ösophagustumor, hingegen Oberbauchschmerzen, Erbrechen, Hämatemesis und Teerstühle bei Tumoren des Magens und Duodenums vor. Bei Tumoren des Dünndarms kommt es am häufigsten zu einer obstruktiven Symptomatik, gegebenenfalls einem akuten Ileus, oft auch einer solchen passend zu einer akuten Appendizitis. Dickdarmtumoren fallen oft durch Stuhlunregelmäßigkeit auf. Alle Darmtumoren führen bei Blutung zu Teerstühlen, bei tiefem Kolon- bzw. Rektumbefall auch zu Blutauflagerungen im Stuhl und zur Anämie. Inflammatorische Pseudotumoren können Fieber verursachen. Bei Karzinoiden kann es zu rezidivierendem Flush, Diarrhoen und astmoider Symptomatik kommen. Kinder mit einem Non-Hodgkin-Lymphom haben oft eine allgemeine Lymphknotenschwellung (7 Kap. 48). Diagnostik. Labordiagnostisch sollten neben Entzündungsparametern und BKS sowie Leberwerten und Nierenretentionsparametern, vor allem auch die Tumormarker LDH, Ferritin, AFP, β-HCG, CEA, CA19-9, CA125, NSE und Urinkatecholamine – auch zum Ausschluss anderer Tumoren – untersucht werden. Für die Bildgebung steht die Sonographie an erster Stelle. Wenn hiermit die Raumforderung festgestellt wird, ist dann eine genauere Darstellung mit einem MRT oder CT indiziert (. Abb. 45.9). Gegebenenfalls ist auch eine konventionelle fraktionierte Röntgen-MDP und ein KolonKE hilfreich. Bei Tumoren des Ösophagus, Magens und Duodenums bzw. des Kolons ist immer die Beurteilung und Biopsie über eine Endoskopie sinnvoll. Im Dünndarm kann die Darstellung über eine Kapselendoskopie erfolgen. Fernmetastasen sind in der Leber und in der Lunge (MRT, CT) sowie im Knochen (Knochenszintigraphie) zu suchen. Im Einzelfall kann ein FDGP-PET hilfreich sein. Die endgültige Diagnose erfolgt immer über die Histologie, für die Material während einer primären Resektion, über eine Endoskopie oder über eine Laparoskopie bzw. eine offene Biopsie gewonnen wird. Stadienteinteilung. Für kindliche gastrointestinale Tumoren existieren keine eigenen Stadiensysteme. Deshalb wird
45
584
Kapitel 45 · Tumoren der Leber, des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes
. Tab. 45.8. TNM-System der Kolonkarzinome (UICC 2002)
45 . Abb. 45.9. MRT eines 16-jährigen Jungen mit einem GIST (Pfeile) des Colon sigmoideums (mit freundlicher Genehmigung von Dr. Birgit Kammer, Dr. von Haunersches Kinderspital, München)
die Verwendung der für das Erwachsenenalter üblichen TNM-Schemata der UICC angeraten. Dies gilt für den Magen, aber ganz besonders auch für das Kolonkarzinom (. Tab. 45.8, UICC 2002).
45.3.4
Therapie und Prognose
Operative Therapie. Für die Therapie der gastrointestinalen Tumoren des Kindesalters steht prinzipiell immer die komplette chirurgische Entfernung im Vordergrund. Dies gilt
für maligne wie auch für benigne Neoplasien, soweit das ohne massive Mutilierung oder schweren Funktionsverlust möglich ist. Lediglich beim Non-Hodgkin-Lymphom, das oft auch als Zufallsbefund bei einer Ileusoperation gefunden wird, ist die sparsame Resektion bzw. die Biopsie ausreichend, da diese Tumoren exzellent auf die sowieso notwendige Chemotherapie ansprechen (7 Kap. 48). Alle mesenchymalen Tumoren sollten komplett entfernt werden, wobei adjuvant oder auch zur Tumorverkleinerung neoadjuvant die Möglichkeit einer Chemotherapie besteht. Dahingegen müssen Karzinome des Magens oder Kolorektums immer radikal inklusive einer ausgiebigen Lymphknotendissektion operiert werden, um eine Heilungschance zu eröffnen. Hierbei sollten mindestens 10–12 Lymphknoten sowie eine Skizze bzw. Fotos des Situs dem Pathologen zur Beurteilung mit übersandt werden. Bei multiplem Befund des Kolons mit Polypen (juvenile Poly-
T
Primärtumor
T0
Kein Anhalt für Primärtumor
Tis
Carcinoma in situ
TX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
T1
Tumor infiltriert Submukosa
T2
Tumor infiltriert Muscularis propria
T3
Tumor infiltriert durch die Muscularis propria in die Subserosa oder in nicht peritonealisiertes perikolisches Gewebe
T4
Tumor perforiert das viszerale Peritoneum oder infiltriert direkt in andere Organe oder Strukturen oder andere Teile des Kolons
N
Regionäre Lymphknoten
N0
Kein Anhalt für Befall regionärer Lymphknoten
N1
Metastasen in 1 bis 3 regionären Lymphknoten
N2
Metastasen in 4 oder mehr regionären Lymphknoten
NX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
M
Fernmetastasen
M0
Kein Anhalt für Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen vorhanden
MX
Das Vorliegen von Fernmetastasen kann nicht beurteilt werden
posis, FAP, Peutz-Jeghers-Syndrom) ist spätestens im Jugendlichenalter die totale Kolektomie mit ileoanaler PouchAnastomose indiziert. Bei langstreckigem Dünndarmbefall sollte mehr Zurückhaltung geübt werden, um nicht ein Kurzdarmsyndrom zu produzieren (Geiger 2005). Chemotherapie. Eine Chemotherapie nach den Weichteil-
sarkomschemata (z. B. CWS-Studie der GPOH, 7 Kap. 47) kann bei den malignen mesenchymalen Tumoren zur Anwendung kommen. Der GIST spricht vor allem auf den Thyrosinkinasehemmer Imatinib (Glevec) an (Wente et al. 2008). Bei Vorliegen eines inoperablen inflammatorischen Pseudotumors kann die Gabe von steroidalen oder nichtsteroidalen antiinflammatorischen Medikamenten zu einer Tumorverkleinerung führen (Heij 2006). Ist eine solche nicht erfolgreich, kann nach eigener Beobachtung auch einmal eine Chemotherapie für Weichteilsarkome (GPOHCWS-Protokoll, 7 Kap. 47) zu einer ausgeprägten Tumorregression führen. Eine adjuvante Strahlentherapie kann mit Erfolg sowohl bei nichtresektablen malignen mesenchymalen Tumoren, als auch bei fortgeschrittenem Karzinom des Magens oder Kolorektums entsprechend den Schemata der Erwachsenenonkologie mit Erfolg eingesetzt werden (Ferrari et al. 2008).
585 45.3 · Tumoren des Magen-Darm-Traktes
Prognose. Die Prognose der verschiedenen gastrointestinalen Neoplasien ist sehr unterschiedlich. Während Teratome und andere gutartige Tumoren eine exzellente Prognose aufweisen, liegt das tumorfreie Langzeitüberleben bei den mesenchymalen Malignomen und dem GIST je nach biologischem Verhalten, Ausdehnung und Therapie entsprechend zwischen 50 und 70%. Die Karzinome des Magens und Kolorektums haben im Kindesalter eine sehr schlechte Heilungschance, die noch unter der des Erwachsenenalters liegt (Geiger 2005; Ladd u. Grosfeld 2006).
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45
“This page left intentionally blank.”
46
46 Keimzelltumoren R.-B. Tröbs 46.1
Inzidenz – 587
46.2
Klassifikation
– 587
46.3
Embryologie, Histogenese und Pathohistologie – 588
46.4
Diagnostik
46.4.1 46.4.2 46.4.3
Klinische Untersuchung – 589 Bildgebung und Ausbreitungsdiagnostik Tumormarker – 590
– 589
46.5
Prinzipien der Therapie
46.5.1 46.5.2
Chirurgische Radikalität – 590 Biopsie – 591
46.6
Gonadale Keimzelltumoren
46.6.1 46.6.2
Keimzelltumoren des Ovars – 591 Keimzelltumoren des Hodens – 593
– 589
– 590
46.7
Extragonadale Keimzelltumoren
46.7.1 46.7.2 46.7.3 46.7.4
Keimzelltumoren des Halses – 595 Keimzelltumoren des Mediastinums – 596 Keimzelltumoren des Retroperitoneums – 596 Sakrokokzygeale Keimzelltumoren – 597
– 595
46.8
Seltene Lokalisationen
46.8.1
Teratome des Oropharynx und Epignathus – 600 Intraperikardiale sowie kardiale Teratome – 600 Teratome des Magens – 600 Teratome des Pankreas – 600 Keimzelltumoren der Vagina – 600
46.8.2 46.8.3 46.8.4 46.8.5
46.9
– 600
Assoziierte Fehlbildungen bei Keimzelltumoren und Syndrome
– 601
– 591 46.10
Dermoidzysten
– 601
Literatur – 602
> Keimzelltumoren des Kindes sind Tumoren, deren Ursprung auf primordiale Keimzellen zurückgeführt wird. Das biologische Verhalten von Keimzelltumoren wird ganz wesentlich vom Alter des Patienten, Geschlecht, Tumorsitz, Histologie, aber auch Zytogenetik und Molekularbiologie beeinflusst. Keimzelltumoren umfassen ein breites Spektrum von Subentitäten unterschiedlicher klinischer Erscheinung, Histologie und Biologie. Keimzelltumoren können maligne oder benigne, letzteres meist mit einem malignen Potenzial, sein. Unterschieden werden Keimzelltumoren der Geschlechtsdrüsen (gonadal) von Tumoren anderer Lokalisation (extragonadal). Die Behandlung von Keimzelltumoren erfolgt überwiegend innerhalb multizentrischer prospektiver Therapiestudien.
46.1
Inzidenz
Die Inzidenz von Keimzelltumoren im Kindesalter wird mit 0,6 auf 100.000 Kinder unter 15 Jahren beziffert. Die Untergruppe der malignen Keimzelltumoren macht 3,3% aller Malignome bis zum 15. Lebensjahr aus (Jahresbericht Deutsches Kinderkrebsregister 2005). Es findet sich eine bimodale Altersverteilung mit einem ersten Gipfel in den ersten beiden Lebensjahren. Nach einer besonders geringen Inzidenz im 5. und 6. Lebensjahr kommt es bei Mädchen
mit 7 Jahren und bei Knaben mit 10 Jahren zu einem zweiten, pubertären Anstieg. Dies ist verbunden mit einem Wechsel von überwiegend non-gonadalen Keimzelltumoren zu überwiegend gonadalen Keimzelltumoren nach der Pubertät (Schneider et al. 2006). Keimzelltumoren treten mit abnehmender Häufigkeit (. Tab. 46.1) im Ovar (29%), im Zentralnervensystem (21%), sakrokokzygeal (19%), im Hoden (17%), im Mediastinum (4%), im Retroperitoneum (3,5%) sowie an anderen nicht-gonadalen Lokalisationen auf (Schneider et al. 2006).
46.2
Klassifikation
Keimzelltumoren umfassen ein Spektrum unterschiedlicher Entitäten (. Tab. 46.2). Häufig finden sich gemischte Keimzelltumoren, die aus unterschiedlichen histologischen Komponenten aufgebaut sind. Es gilt die Vereinbahrung, dass derartige Tumoren nach der am meisten malignen Komponente benannt werden.
588
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
. Tab. 46.1. Lokalisation von Keimzelltumoren Lokalisation
Häufigkeit
Ovar
29,3%
Zentralnervensystem
20,9%
Sakrokokzygeal
19,3%
Hoden
17,3%
Mediastinum
4,3%
Retroperitoneum
3,5%
Andere, nicht-gonadal
5,4%
∑ = 1442 Kinder und Adoleszente
46.3
46
Embryologie, Histogenese und Pathohistologie
Molekularbiologische Befunde stützen die Theorie der Entstehung kindlicher gonadaler und nicht-gonadaler Keimzelltumoren aus totipotenten primordialen Stammzellen (Harms et al. 2006). Es existieren eine Reihe, teilweise verwandter Theorien zur Teratomentstehung, die unterschiedliche Akzente setzen. Urkeimzellen (primordiale Keimzellen) entstehen noch vor der 5. Woche nach Fertilisation außerhalb der Gonaden aus der inneren Zellmasse der Blastozyste, dem Epiblast. Mit 4 Wochen sind sie im Nabelbläschen (»Dottersack«) und im Enddarm angesiedelt. In zeitlicher Abfolge findet
man sie weiterhin nacheinander in der Mesonepronleiste sowie in der Gonadenleiste. Etwa eine Woche später sind die Urkeimzellen in die Gonaden eingewandert (O’Rahili u. Müller 1999). Die Keimzell-Theorie postuliert die Entstehung von Teratomen aus den pluri- bzw. totipotenten Urkeimzellen. Es wird angenommen, dass jene Urkeimzellen, die die Gonaden nicht zu erreichen vermögen, gewöhnlich verschwinden oder zum Ursprung extragonadaler Keimzelltumoren werden. Im Falle der Teratomentstehung differenzieren sich diese Zellen zu meso-, ekto- oder endodermalen Gewebekomponenten. Entsprechend der Embryonalzell- bzw. Blastomer-Theorie wird der Verlust des Einflusse des primären Organisators auf das pluripotente embryonale Gewebe als ursächlich angesehen. Die Extraembryonalzell-Theorie vermutet den Ursprung von Teratomen in versprengten Anteilen des Dottersackes. Eine weitere Theorie postuliert die Entstehung von Teratomen aus Resten des Primitivstreifens bzw. Primitivknotens. Diese letztgenannte Theorie erklärt insbesondere die Häufigkeit sakrokozygealer Teratome. Klassische Theorien führen die Entstehung von Teratomen auf totipotente Urkeimzellen zurück und erklären somit monoklonale Tumoren. Während immature Teratome monoklonal sind, können mature Teratome durchaus polyklonal sein. Diese Konstellation spricht für die Interpretation als Hamartome oder inkomplette Zwillinge. Das Wort Teratom leitet sich aus dem griechischen »teratos« (Wunderzeichen, Ungeheuer) und »onkoma« (»Schwellung«) und wurde 1869 durch Rudolph Virchow für eine Steißbeingeschwulst eingeführt. Teratome machen
. Tab. 46.2. WHO-Klassifikation der Keimzelltumoren des Ovars bzw. Testis (Göbel u. Calaminus 1996) Ovar1
Testis2
Marker
Synonym
Dysgerminom
Seminom
HCG –/(+)
Germinom, insbesondere für extragonadale Lokalisation
Endodermaler Sinustumor
Dottersacktumor
AFP +
»yolk sac tumor«
Embryonales Karzinom
Embryonales Karzinom
AFP (+)
Polyembryom
Polyembryom
Chorionkarzinom
Chorionkarzinom
HCG +
Teratom 4 Immatur 4 Matur – Solid – Zystisch – Dermoidzyste – Dermoidzyste mit maligner Transformation 4 Monodermal und differenziert
Teratom 4 Immatur 4 Matur
AFP-/(+)
Gemischte Tumoren
Gemischte Tumoren
1
Teratom mit maligner Transformation
Serov u. Scully, WHO, Genf 1973; 2Mostofi u. Sobin, WHO, Genf 1993
Matures zystisches Teratom mit maligner Transformation
Benennung nach am meisten maligner Komponente
589 46.4 · Diagnostik
ca. 50% aller Keimzelltumoren aus. Häufig vorkommende Komponenten von Teratomen sind Haut, Talgdrüsen, Haarfollikel mit Haaren, Muskelfasern, Knochen, Knorpel, Zähne und respiratorisches Epithel. > Teratome sind Neubildungen, die zusätzlich zum Ursprungsgewebe, in dem sie entstehen, aus verschiedenen, diesem fremden Geweben aufgebaut sind. Es sind mindestens zwei (bidermale) oder drei Keimblätter vertreten. Somit enthalten sie epitheliale, mesenchymale sowie nervale bzw. neuroektodermale Komponenten.
Teratome sind makroskopisch solide und zystisch aufgebaut. Während zystische Teratome überwiegend matur sind, weisen immature oder maligne Teratome meist eine überwiegend solide Struktur auf. Selten treten monodermale Teratome, wie Struma ovarii, ovarielles Karzinoid oder Ependymom, in Erscheinung. Etwa 45% aller Teratome enthalten Nester immaturer oder embryonaler Zellen, häufig Neuroepithelien (Tubuli, Rosetten, neuroblastomatöses Gewebe). Entsprechend des Anteiles immaturer Anteile werden immature Teratome mittels eines Grading nach Gonzalez-Crussi (1982) klassifiziert (Grad 0 = komplett differenziert bis Grad 3 ≥50% immature Anteile; Harms 2006). Daneben können Teratome maligne Elemente, wie Seminom, Dottersacktumor, embryonales Karzinom oder Chorionkarzinom enthalten. Viel bedeutsamer für die Entstehung von Rezidiven ist jedoch das Fehlen oder Vorhandensein mikroskopischer Foci von Dottersacktumor-Zellen. Dottersacktumor-Anteile (Synonym: »yolk sac tumor« bzw. endodermaler Sinustumor) sind die häufigsten malignen Komponenten von Teratomen. Das Fehlen oder Vorhandensein von Dottersacktumor-Mikrofoci ist von klinischer und prognostischer Bedeutung. Maligne Tumorrezidive nehmen ihren Ausgangspunkt von diesen primär vorhandenen mikroskopischen Dottersackanteilen oder immaturen Komponenten. Die exakte histologische Aufarbeitung von Teratomen mit besonderem Augenmerk auf mikroskopische Anteile eines Dottersacktumors ist von herausragender prognostischer Bedeutung (Referenzpathologie empfohlen!). > Teratome sind potenziell maligne bzw. prämaligne Tumoren, die der subtilen histologischen Aufarbeitung mit Fokus auf kleine Inseln maligner Dottersack-Tumoranteile (Mikrofoci) Tumoranteile bedürfen. Eine adjuvante Chemotherapie vermag diese Mikrofoci zu eradizieren und Rezidiven vorzubeugen.
Eine Gliomatosis peritonei, d. h. das syn- oder sehr selten metachrone Auftreten gliomatöser Knötchen des Bauchfelles, ist meist mit immaturen Teratomen des Ovars bzw. anderer Lokalisationen assoziiert. Als ursächlich werden gliomatöse Tumorimplantate bzw. eine eigenständige Entstehung aus Müller-Stammzellen oder eine Metaplasie submesothelialer Zellen diskutiert (Harms et al. 2006).
Weiterhin können Teratomanteile maligner Keimzelltumoren nach Chemotherapie ein eigenständiges Wachstum bewahren. Man bezeichnet dieses Phänomen als Syndrom des wachsenden Teratoms (»growing teratoma syndrome«). In betreffenden Fällen »metastasieren« mature Teratome in teilweise entfernte Lymphknoten und Organe. Die Chance der Heilung liegt in der kompletten Entfernung dieser Herde. Letztendlich können Teratome maligne transformieren (Kanzerisierung) und somit Ursprung anderer bösartiger Tumoren, wie myeloische Leukämie, Neuroblastom, Plattenepithelkarzinom u. a. sein (Biskup et al. 2006). Dies unterstreicht die Problematik der genauen histologischen Aufarbeitung großer Teratome und gleichzeitig die Notwendigkeit einer Langzeitnachbeobachtung. Im Unterschied zu einem Fetus fehlt Teratomen eine Wirbelachse und sie besitzen keine wirklichen Organe. Wenn Teratome höher organisierte Gewebe, wie Dünndarm, Extremitäten oder gar ein schlagendes Herz aufweisen, spricht man von fetiformen Teratomen. Sollte dieses Gebilde neben einer hohen strukturellen Organisation Wirbel und Notochord-Bestandteile beinhalten, so handelt es sich um einen Fetus in fetu. Die Abwesenheit einer erkennbaren Nabelschnur im Gefäßstiel derartiger Fälle macht die Einordnung als Teratom plausibel. Andererseits werden Fetus in fetu als Variante von Zwillingsdoppelbildungen (»siamesische Zwillinge«) klassifiziert.
46.4
Diagnostik
46.4.1
Klinische Untersuchung
Die Diagnostik von Keimzelltumoren richtet sich nach Tumorlokalisation und -größe. Neben dem sicht- und tastbaren Tumor können sich Keimzelltumoren als klinische Notfälle präsentieren. Torquierte ovarielle und paraovarielle Tumoren bieten beispielsweise das Bild eines akuten Abdomens mit initialem Erbrechen, lokalisiertem Druckschmerz und lokaler Abwehrspannung. Hodentumoren werden gelegentlich als akutes Skrotum der Operation zugeführt. Ganz wesentlich ist deshalb die präzise Anamneseerhebung. Inspektion und vorsichtige Palpation inklusive der Untersuchung der Lymphknotenstationen sind weitere Schritte der klinischen Diagnostik.
46.4.2
Bildgebung und Ausbreitungsdiagnostik
Mit Ausnahme intrakranieller Tumoren sowie mediastinaler Raumforderung ist die sonographische Untersuchung geeignet, die Struktur, Ausdehnung und Durchblutung der Tumoren zu begutachten. Schnittbildverfahren, insbesondere die Kernspintomographie bzw. die Computertomographie
46
590
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
sind für die Darstellung retroperitonealer, mediastinaler sowie intraspinaler bzw. intrakranieller Tumoren geeignet. Teratome sind durch eine besonders komplexe Struktur gekennzeichnet. Sie bestehen aus soliden und zystischen Anteilen und enthalten u. a. Fettgewebe, Knochen, Zähne. Ein wesentliches Kriterium für die chirurgische Resektabilität ist weiterhin die Schärfe der Begrenzung des Tumors. Lungenmetastasen werden mittels Thorax-CT ausgeschlossen. Die Skelettszintigraphie bleibt Patienten mit klinischem Verdacht auf Knochenmetastasen vorbehalten (kein routinemäßiges Screening!).
46.4.3
46
Tumormarker
Sog. sezernierende Keimzelltumoren produzieren Tumormarker, die für diagnostische Zwecke herangezogen werden. Dottersacktumoren sowie unreife Teratome (ggf. mit Dottersacktumor-Mikrofoci) bilden α-Fetoprotein (AFP). Dieses kann sowohl im Serum gemessen als auch immunhistochemisch im Tumor angefärbt werden. AFP ist beim Neugeborenen in einer hohen Konzentration nachweisbar und fällt mit zunehmendem Alter ab. Die biologische Halbwertszeit beträgt etwa 6 Stunden. Differenzialdiagnostisch ist zu bedenken, dass Hepatoblastome, hepatozelluläre Karzinome sowie Hepatitiden (infektiös, toxisch) ebenfalls mit einer AFP-Erhöhung einhergehen. Chorionkarzinome produzieren weiterhin humanes Choriongonadotropin (hCG) und selten karzinoembryonales Antigen (CEA). Die β-Untereinheit von hCG dient als Marker für synzytiotrophoblastische Zellen im Tumor. Die vermehrte Produktion von hCG äußert sich klinisch in einer Pubertas praecox. Die Halbwertszeit von hCG im Serum wird mit 16–22 h angegeben. > Physiologisch hohe Serumkonzentrationen von AFP im ersten und, bei erheblicher interindividueller Schwankungsbreite, auch im zweiten Lebensjahr erschweren die Interpretation in diesem Alter.
Letztendlich findet man häufig eine LDH-Erhöhung bei Keimzelltumoren. Das LDH-Isoenzym 1 ist bei den im Kindesalter sehr seltenen Dysgerminomen erhöht. Typische Befundkonstellationen im Zusammenhang mit erhöhten Tumormarkern im Serum ermöglichen die klinische Diagnose eines Keimzelltumors. Wesentliche Differenzialdiagnosen bei erhöhtem AFP im Kindes- und Jugendalter sind das Hepatoblastom, hepatozelluläre Karzinom, Pankreatoblastom sowie eine Schwangerschaft. Der Nachweis oder Wiederanstieg der Konzentration von Tumormarkern im Serum nach Tumoroperation ist Indikator für Tumorpersistenz, Metastasen oder Rezidiv. Die engmaschige Kontrolle von Serumtumormarkern ist insbesondere bei einem »watch and wait« nach alleiniger chirurgischer Tumortherapie essenziell.
46.5
Prinzipien der Therapie
Da Keimzelltumoren häufig maligne sind oder zumindest eine maligne Potenz aufweisen, ist ein sorgfältiges Staging inklusive einer ausreichenden Bildgebung des Lokalbefundes bzw. potenzieller lymphatischer oder hämatogener Metastasierungsorte erforderlich. Die Therapieplanung sollte stets die Möglichkeiten der prä- oder postoperativen Chemotherapie ins Kalkül ziehen. Die nunmehr meist sehr gute Prognose von Kindern und Jugendlichen mit malignen Keimzelltumoren ist insbesondere der Einführung der platinbasierten Chemotherapie zuzurechnen. Chirurgische Maßnahmen bleiben jedoch die tragende Säule der Therapie dieser Tumorgruppe. > Prinzipiell werden Keimzelltumoren aus der Warte eines risikoadaptierten multimodalen Therapieansatzes heraus behandelt. Eine sorgfältige Langzeitbetreuung ist erforderlich.
Die Behandlungsrichtlinien sind den aktuell gültigen Keimzelltumor-Studienprotokollen (MAKEI sowie MAHO) der Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie zu entnehmen.
46.5.1
Chirurgische Radikalität
Die komplette Tumorresektion hat entscheidenden Einfluss auf die Prognose. Primär sollte deshalb die komplette Tumorentfernung angestrebt werden. Dies bedarf einer exakten Planung des Eingriffes. Eine komplette primäre Tumorentfernung sollte jedoch nicht mit morbiditätsträchtigen, ausgedehnten Resektionen um den Preis der Gefährdung des Kindes bzw. der Verzögerung einer nachfolgenden Chemotherapie, erfolgen. Große Tumoren werden nach Verkleinerung durch eine präoperative Chemotherapie einer verzögerten Resektion zugeführt. Komplette Resektionen werden wie folgt definiert: 4 Ovar: Resektion des betroffenen Ovars und ggf. der Tuba uterina (Salpingo-Oophorektomie) 4 Hoden: Betroffener Hoden, Nebenhoden sowie Samenstrang en bloc über inguinalen Zugang (hohe inguinale Orchiektomie) 4 Sakrokokzygealer Keimzelltumor: En-bloc-Resektion des Tumors mit intakter Kapsel und anhängendem Os coccygis Zusätzlich ist ein Staging aller verdächtigen Lymphknotenstationen erforderlich. Hinweise auf eine inkomplette Resektion sind eine prä- bzw. postoperative Kapselruptur des Tumors sowie die Infiltration von Umgebungsstrukturen, die nicht komplett mit dem Tumor resektabel sind. Die organerhaltende Chirurgie umschriebener gonadaler Tumoren erschwert die Beurteilung der Radikalität des
591 46.6 · Gonadale Keimzelltumoren
Eingriffes. Dieses Vorgehen bedarf deshalb der kritischen Indikationsstellung.
46.5.2
Biopsie
Prinzipiell ist eine Tumorbiopsie mit dem Risiko einer Tumorzellausbreitung im Operationsgebiet sowie auf dem Lymph- und Blutwege belastet. Tumorbiopsien sind deshalb meist nur bei nicht-resektablen, nicht sezernierenden Tumoren (keine pathognomonischen Tumormarker) zur histologischen Diagnosesicherung indiziert.
46.6
Gonadale Keimzelltumoren
Die Tumoren der Gonaden sind ganz überwiegend den Keimzelltumoren zuzuordnen. Daneben sind gonadale Keimstrang-Stromatumoren, epitheliale Tumoren (besonders Ovar) sowie eine Reihe sehr seltener Tumoren differenzialdiagnostisch zu bedenken. Eine Besonderheit besteht in der Möglichkeit des Befalles beider Gonaden mit drohendem Ausfall der hormonellen sowie regenerativen Funktion (Infertilität). Darin begründet sich u. a. die Sinnhaftigkeit einer organerhaltenden Chirurgie. . Tab. 46.3 vergleicht die Keimzelltumoren von Eierstock und Hoden beim Kind.
Übersicht Ziele der chirurgischen Behandlung gonadaler Keimzelltumoren
. Tab. 46.4. Tumoren des Ovars im Kindesalter nach Lack u. Goldstein (1984) Typ
Häufigkeit
Matures Teratom
47%
Immatures Teratom
12%
Dottersacktumor
10%
Dysgerminom Chorionkarzinom
<1%
Epitheliale Tumoren
14%
Keimstrang-Stromatumoren
13%
∑ = 1148 Kinder und Adoleszente
lenz von ca. 3/4 aller Ovarialtumoren im Kindesalter bilden Teratome, Dottersacktumore sowie Dysgerminome wiederum die größte Gruppe unter den Ovarialtumoren. Daneben gehören epitheliale Ovarialtumoren sowie Keimstrang-Stromatumoren der weiblichen Keimdrüse zum typischen Spektrum (. Tab. 46.4). Klinik und Diagnostik. Klinisch sind die sicht- und tastbare Vorwölbung des Unterbauches sowie unspezifische gastrointestinale Symptome zu verzeichnen. Stielgedrehte Ovarialtumoren führen zur Symptomatik eines akuten Abdomens (7 Kap. 41). ! Cave Hinter einem stielgedrehten Ovar verbirgt sich nicht selten ein echter Ovarialtumor. Im Falle der Re-Torsion und Organerhaltung sollte deshalb eine bildgebende Diagnostik angeschlossen werden.
4 Komplette Tumorentfernung 4 Exaktes Staging 4 Erhalt der reproduktiven und hormonellen Funktion
46.6.1
Keimzelltumoren des Ovars
Inzidenz. Nach den Steißbeintumoren sind Keimzelltumoren des Ovars die zweithäufigste Gruppe. Mit einer Präva-
5%
Maligne Ovarialtumoren manifestieren sich meistens nach der ersten Lebensdekade beim größeren Mädchen. Diese Malignome sind häufig mit Bauchschmerzen assoziiert und in fortgeschrittenem Stadium können Aszites sowie Kachexie hinzukommen.
. Tab. 46.3. Vergleich der Neubildungen von Ovar und Hoden beim Kind Parameter
Ovar
Hoden
Häufigkeit
20–50/100.000
0,5/100.000
Altersgipfel
>10 Jahre
<3 Jahre
Initialstadium maligne Tumoren
Stadium III und IV >50%
Stadium I >90% (Dottersacktumor, Teratom)
Torsion initial
>30%
5%
Histologie
Dysgerminome typisch 10–15% epitheliale Tumoren Heterogene Tumoren – Schnellschnitt fragwürdig
Seminom extrem selten 3% epitheliale Tumoren Schnellschnittuntersuchung valide
Risiko bilateraler Manifestation
Gegeben
Gegeben
46
592
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
Zur Diagnosesicherung erfolgen der Ultraschall und ggf. eine Kernspinuntersuchung (. Abb. 46.1). Bei Verdacht auf Torsion hilft die Doppler-Ultraschalluntersuchung weiter. Stets sollten die Tumormarker AFP und hCG bestimmt werden. Endokrin aktive Keimstrang-Stromatumoren (SertoliLeydig-Zelltumor, Arrhenoblastom) führen zur Defeminisierung bzw. Virilisierung des betroffenen Mädchens. Differenzialdiagnostisch ist bei Vorliegen dieses Symptomenkomplexes an Tumoren der Nebennierenrinde zu denken. Stadieneinteilung. Die Stadieneinteilung von Ovarialtu-
moren entsprechend der Internationalen Föderation für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) ist . Tab. 46.5 zu entnehmen.
46
Therapie. Der Standardzugang für große maligne ovarielle Tumoren ist die mediane Laparotomie. Dieser Zugang ermöglicht einen ausreichenden Überblick über die Organe der Bauchhöhle und gibt genügend Bewegungsspielraum für die sichere Entfernung größerer Tumoren. Nachteil ist eine im Vergleich zur Pfannenstielinzision schlechtere Kosmetik. Die Resektion potenziell maligner ovarieller Keimzelltumoren beinhaltet nachfolgende wesentliche Schritte: 4 Aspiration und zytologische Untersuchung der Peritonealflüssigkeit 4 Primäre Ligatur der Vasa ovarica 4 Resektion des betroffenen Ovars mit anhängender Tube
a . Abb. 46.1. Matures Teratom des Ovars eines 5-jährigen Mädchens. a Heterogener, solid-zystischer Tumor im Kernspintomogramm, b pilz-
4 Inspektion der kontralateralen Adnexe und Biopsie verdächtiger Areale 4 Inspektion der Bauchhöhle und Biopsie aller verdächtigen Areale (Omentum, Peritoneum viszerale et parietale, Leber) 4 Biopsie verdächtiger Lymphknoten entlang der »Beckenachse« (Vasa iliaca) bzw. der Vasa ovarica. Während Teratome des Ovars ganz überwiegend komplett entfernt werden können, sind ausgedehnte maligne Ovarialtumoren häufig initial nicht resektabel. Um eine gemischte Histologie nicht zu verkennen, sollte bei nicht resektablen Tumoren eine repräsentative Tumorbiopsie erfolgen. Für die Einschätzung der lymphatischen Metastasierung ovarieller Keimzelltumoren ist die Kenntnis der 4 Lymphabstrombahnen von besonderer Bedeutung. Der Hauptweg der Lymphdrainage des Ovars und der Tube folgt entlang der ovariellen Venen zu den paraaortalen sowie den parakavalen Lymphknoten. Ein zweiter, »mittlerer« Weg führt zu den interiliakalen Lymphknoten der »Beckenachse«. Schließlich werden ein dritter, »tiefer« Lymphabstrom entlang dem Ligamentum latum zu den oberen glutealen Lymphknoten bzw. ein vierter, dem Ligamentum rotundum folgend und zu den femoralen Lymphknoten führend, beschrieben. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Laparoskopie zur Ausbreitungsdiagnostik und Behandlung ovarieller Teratome etabliert. Die Vorteile liegen in der Minimierung des Zugangstraumas und einer hervorragenden Übersicht im Bauchraum. Problematisch sind allerdings hohe
b förmiges exophytisches Wachstum an der Rupturstelle nach präoperativer Ruptur (Stadium Ic)
593 46.6 · Gonadale Keimzelltumoren
. Tab. 46.5. Stadieneinteilung der Ovarialtumoren nach der TNM- bzw. FIGO-Klassifikation TNM
FIGO
Kriterien
T1
I
Tumor auf Ovarien beschränkt
1a
Ia
Ein Ovar befallen; Kapsel intakt; kein Tumor auf der Ovarialoberfläche
1b
Ib
Beide Ovarien befallen; Kapsel intakt; kein Tumor auf der Ovarialoberfläche
1c
Ic
Ein oder beide Ovarien befallen mit Kapselruptur, Tumor auf der Oberfläche des Ovars bzw. maligne Zellen in Aszites bzw. Bauchhöhlenflüssigkeit
T2
II
Ein oder beide Ovarien befallen sowie Ausdehnung im Becken
2a
IIa
Uterusmetastasen und/oder -befall und/oder Invasion der Tuben
2b
IIb
2a mit peritonealer Beteiligung
2c
IIc
2a oder 2b sowie maligne Zellen in Aszites bzw. Bauchhöhlenflüssigkeit
T3 oder N1
III
Ein oder beide Ovarien befallen sowie mikroskopisch bestätigte intraperitoneale Metastasen außerhalb des Beckens und/oder positive regionale Lymphknoten
3a
IIIa
Mikroskopische peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens
3b
IIIb
Makroskopische peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens ≤2 cm Durchmesser
3c
IIIc
Makroskopische peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens >2 cm Durchmesser und/oder positive regionale Lymphknoten
M1
IV
Fernmetastasen (ohne peritoneale Metastasen)
Raten von Rupturen bzw. intraabdomineller Eröffnung von Zysten mit Dissemination des Inhaltes im Bauchraum. > Bilaterale Tumoren der Ovarien gefährden Geschlechtsentwicklung und Fertilität der Betroffenen Mädchen. Sie sind in ca. 6% der Fälle zu registrieren und können syn- bzw. metachron auftreten.
Grundsätzlich ist die Erhaltung eines Ovars beim Vorliegen eines maturen Ovarialteratoms möglich, jedoch muss die Indikation streng gestellt werden. Besonders bei bilateralen Tumoren ist zumindest einseitig eine ovarerhaltende Operation anzustreben. Voraussetzung sind normale Serumkonzentrationen von AFP sowie hCG sowie ein gut abgegrenzter, nicht infiltrierend »ausgewalzt« wachsender Tumor. Bei zystischen maturen Teratomen findet man intraoperativ das Ovar kappenförmig dem Teratom aufsitzend. Somit kann eine Tumorenukleation erfolgen (Nirasawa und Ito 1995). Diese muss jedoch sicher im Gesunden erfolgen. Anschließend wird die Keimdrüse mit einigen Nähten rekonstruiert. Funktionelle Ovarialzysten. Solche Ovarialzysten sind keine echten Tumoren. Sie treten insbesondere im Neugeborenenalter in Erscheinung. Sie entstehen durch die maternale hormonelle Stimulation. Bei fehlender Symptomatik kann mittels Ultraschall beobachtet werden, da eine hohe Rate spontaner Regressionen zu erwarten ist. Das gilt insbesondere für sog. einfache Zysten, die im Ultraschall eine
homogen-echofreie Binnenstruktur aufweisen und bei Neugeborenen weniger als 5 cm, im Kindesalter weniger als 8 cm messen. Bei unklarer Befundkonstellation oder Verdacht auf Torsion liefert die Laparoskopie Aufschluss über die Natur der Zyste. Das Zystenaspirat bzw. die Zystenwandbiopsie ist stets zytologisch bzw. histologisch zu beurteilen.
46.6.2
Keimzelltumoren des Hodens
Klinik und Diagnostik. Klinisch manifestieren sich Hodentumoren ganz überwiegend als derber, schmerzloser Tumor des Skrotalinhaltes. Gelegentlich sind sie mit einer Hydrocele testis assoziiert. Ebenfalls kann ein akutes Skrotum das Initialsymptom darstellen. Das präoperative Staging umfasst neben der Bestimmung von AFP und hCG eine Ultraschalluntersuchung beider Hoden sowie von Leber, Nieren sowie der retroperitonealen Lymphknoten. Maligne Tumoren bedürfen weiterhin einer adäquaten Bildgebung der Lungen, des Abdomens und des Retroperitoneums. Hodentumoren des Knaben werden in Keimzelltumoren sowie Nicht-Keimzelltumoren unterteilt (. Tab. 46.6). Etwa 75% der primären Hodentumoren sind den Keimzelltumoren, überwiegend Dottersacktumoren bzw. Teratomen, zuzuordnen. Die zweithäufigste Gruppe sind die Keimstrang-Stromatumoren des Hodens. Diese können
46
594
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
. Tab. 46.6. Hodentumoren: Häufigkeit, Prädilektionsalter, Spezifika (Ross et al. 2002) Typ
Häufigkeit
Altersmedian in Monaten (Range)
Besonderheiten
Dottersacktumor
62%
16 (0–131)
Erhöhung des Serum AFP
Teratom
23%
13 (0–111)
AFP normal, keine endokrinen Symptome; mit Pubertät Änderung der Biologie
Stroma, unspezifisch
4%
4 (0–111)
Granulosazelltumor, juvenil
3%
0,1 (0–6)
Sertoli-Zelltumor
3%
6 (4–121)
Gynäkomastie möglich; maligne Tumoren beim Kind beschrieben; 20% lymphogene Metastasierung beim Erwachsenen
Leydig-Zelltumor
1%
66 (24–126)
Pubertas praecox; beim Erwachsenen auch maligne
Andere
4%
Entfällt
Epidermoidzyste 3%, Gonadoblastom 1%
∑ = 395 Knaben
46
endokrine Symptome, wie Pubertas praecox (Leydig-Zelltumor) bzw. eine Gynäkomastie (Sertoli-Zelltumor), hervorrufen. Ca. 75% der Dottersacktumoren des Hodens manifestieren sich in den ersten beiden Lebensjahren. Sie können jedoch bereits beim Neugeborenen in Erscheinung treten. Dagegen trifft man Hodenteratome beim Neugeborenen nur in Ausnahmefällen an. Sie sind bevorzugt in den ersten 4 Lebensjahren anzutreffen. Seminome, typisch für das frühe Erwachsenenalter, sind beim Knaben eine ausgesprochene Rarität (. Tab. 46.6). Epidermoidzysten sind histologisch durch ein geschichtetes verhornendes Plattenepithel gekennzeichnet. Sie enthalten keine Hautanhangsgebilde. Es handelt sich um benigne Gebilde. Eine Enukleation ist meist die geeignete Therapie. Neben primären Hodentumoren gehören paratestikuläre Rhabdomyosarkome sowie sekundäre Tumoren (Leukämie, Lymphom) zu den differenzialdiagnostisch zu erwähnenden Entitäten. Als reaktive Neubildungen infolge eines erhöhten ACTH-Spiegel sind hyperplastische Knoten des Hodens bei adrenogenitalem Syndrom (AGS) einzuschätzen. > Trotz einer überwiegend sehr guten Prognose sind Hodentumoren im Kindesalter ganz überwiegend als hochmaligne bzw. potenziell maligne einzustufen.
Während Hodentumoren bei Säuglingen und Kleinkindern meist schon sehr zeitig bemerkt werden und dann meist einem Stadium I zugeordnet werden können, sind bei Adoleszenten nicht selten fortgeschrittene Stadien anzutreffen (. Tab. 46.7). Schamgefühl und Furcht vor Problemen führen beim Jugendlichen oftmals zur Diagnoseverzögerung. Therapie. Standardtherapie der Hodentumoren des Kindes ist die hohe inguinale Orchiektomie (. Abb. 46.2).
. Tab. 46.7. Lugano-Klassifikation der Hodentumoren Klinisch
TNM
4 Tumor auf Hoden beschränkt
IA
pT1
4 Tumor auf Hoden und Nebenhoden beschränkt
IA
pT2
4 Infiltration des Samenstranges bzw. kryptorcher Hoden betroffen
IB
pT3
4 Tumor infiltriert Skrotalhaut bzw. transskrotale Operation
IC
pT4
Lymphknotenmetastasen unterhalb des Zwerchfells
II
N1 bis N4
Mediastinale und/oder supraklavikuläre Lymphknotenmetastasen bzw. Lungenmetastasen
III
M+
Generalisierte Erkrankung: hämatogene Fernmetastasen in Leber, Knochen, ZNS oder persistierende positive Tumormarker ohne sichtbare Metastasen
IV
M+
Tumorstadium Keine Metastasen
> Für Knaben mit Stadium-I-Dottersack-Tumoren ist die radikale inguinale Orchidektomie meist kurativ (Göbel u. Weissbach 1983). Dieses Vorgehen erfordert die Einhaltung einer sorgfältigen »Watch-and-wait«-Strategie unter Einbeziehung turnusmäßiger klinischer Untersuchungen, AFP-Bestimmungen sowie sonographischer Kontrollen.
Im Unterschied zu den rapid lymphogen metastasierenden Tumoren des Erwachsenenalters neigen kindliche Dottersacktumoren des Hodens besonders zur hämatogenen Metastasierung in Lunge, Leber und Gehirn. Somit hat sich die
595 46.7 · Extragonadale Keimzelltumoren
a
b
. Abb. 46.2a, b. Granulosazelltumor des Hodens eines Säuglings. a Unilokulärer Tumorknoten im Kernspintomogramm, b aufgeschnittenes Orchiektomiepräparat
retroperitoneale Lymphknotendissektion für Dottersacktumoren des kindlichen Hodens als überflüssig erwiesen. Damit werden Komplikationen, wie intraoperative Verletzungen von Abdominalorganen, Adhäsionsileus sowie Ejakulationsstörungen, vermieden. ! Cave Transskrotale Biopsien oder Zugangswege sind bei primären Hodentumoren streng kontraindiziert.
Die hohe inguinale Orchidektomie umfasst folgende Schritte: 4 Suprainguinale Hautinzision 4 Eröffnung des Leistenkanals 4 Anschlingen des Funikularstranges am inneren Leistenring mittels gedoppelter Silikon-Gefäßschlinge und Anziehen derselben im Sinne einer Gefäßklemme 4 Mobilisation des Hodens und Luxation in die Inzisionswunde 4 Absetzen des Hodens mittels hoher Durchstichligatur des Funikularstranges und Durchtrennung des Gubernakulum 4 Inspektion der Absetzungsränder auf Tumorfreiheit, ggf. Biopsie Eine Hemiskrotektomie ist lediglich in sehr seltenen Fällen des Befalles der Weichteile des Hemiskrotums indiziert. Umschriebene, partiell zystische intratestikuläre Tumoren sind bei fehlender AFP-Erhöhung stark verdächtig auf das Vorliegen eines maturen Teratoms. Unter strenger Indikationsstellung ist für kleinere Teratome und Dermoidzysten sowie Keimstrang-Stromatumoren des Hodens eine hodenerhaltende Operation möglich. . Abb. 46.2 zeigt einen umschriebenen Granulosazelltumor des Hodens, der einer hodenerhaltenden Operation zugänglich wäre. Dies trifft insbesondere für seltene Fälle synchroner bilateraler Hodentumoren zu. Grundsätzliche Vorausset-
zungen für eine ipsilaterale Organerhaltung sind (Tröbs et al. 2007): 4 Normale Serumtumormarker 4 Unilokulärer, gut abgrenzbarer Tumorknoten 4 Ausreichend Hodenrestparenchym
Der Tumor wird möglichst mit einer umgebenden Manschette gesunden Gewebes entfernt. Eine intraoperative Schnellschnittuntersuchung unter temporärer Abklemmung des Funikularstranges wird empfohlen. Das anhängende normale Hodengewebe sollte einem präpubertären Stadium entsprechen. Das gilt wegen der Gefahr eines Carcinoma in situ insbesondere für pubertäre und postpubertäre Jugendliche. Langzeitergebnisse zeigen, dass das Volumen des nach organerhaltender Operation verbleibenden Hodens im Vergleich zur Gegenseite meist verringert ist. In allen Zweifelsfällen ist der Gonadenentfernung der Vorzug zu geben.
46.7
Extragonadale Keimzelltumoren
Extragonadale Keimzelltumoren treten überwiegend in medianen Strukturen, wie Glandula pinealis, vorderes Mediastinum, Retroperitoneum und insbesondere der Steißbeinregion in Erscheinung. Die Stadieneinteilung extragonadaler Keimzelltumoren erfolgt nach dem TNM-System (. Tab. 46.8).
46.7.1
Keimzelltumoren des Halses
Klinik und Diagnostik. Zervikofaziale Teratome machen etwa 2% der Keimzelltumoren aus. Sie werden häufig bereits pränatal mittels Ultraschall bzw. in der Neugeborenenperiode diagnostiziert. Zervikale Halsteratome sind gut
46
596
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
. Tab. 46.8. TNM-Stadieneinteilung extragonadaler Keimzelltumoren
46
TNM
Kriterien
T1
Tumor auf Organ bzw. Ursprungsgewebe beschränkt
4 1a
Tumordurchmesser ≤5 cm
4 1b
Tumordurchmesser >5 cm
T2
Tumor betrifft ein oder mehrere benachbarte Organe oder Gewebe und/oder Tumor mit zugehörigem malignen Erguss
4 2a
Tumordurchmesser ≤5 cm
4 2b
Tumordurchmesser >5 cm
abgegrenzte, solid-zystische Strukturen mit einer Prädilektionsstelle in der vorderen Medianlinie. Größere Tumoren sind mit einem Polyhydramnion verbunden, da der Fetus bei ihrem Vorliegen nicht in der Lage ist, Amnionflüssigkeit zu schlucken. Postnatal droht ein Atemnotsyndrom. Ganz überwiegend handelt es sich um gutartige Teratome, jedoch wurde auch über maligne und metastasierende zervikofaziale Keimzelltumoren berichtet. Die wichtigste Differenzialdiagnose ist das zervikale Lymphangiom (zystisches Hygrom). Postpartales Management. Die pränatale Diagnose eines großen zervikofazialen Tumors erfordert die sorgfältige interdisziplinäre Planung des Geburtsablaufes (Azizkhan et al. 1995). Im Mittelpunkt steht die Freihaltung der oberen Luftwege, d. h. die geplante postnatale Intubation. Eine Tracheostomiebereitschaft ist erforderlich. Die Indikation zur Intubation ist großzügig zu stellen, da ein rapides postnatales Wachstum schnell eine Atemwegsverlegung zur Folge haben kann. Bei sehr großen Teratomen ist die intrapartale Sicherung der Atemwege nach Hysterotomie unter Belassung der materno-plazento-fetalen Nabelschnurzirkulation zu erwägen (»operation under placental support procedure« [OUPS] bzw. »ex utero intrapartum treatment procedure« [EXIT]; Skarsgard et al. 1996). ! Cave Die Vermeidung einer intra- bzw. postpartalen Hypoxie ist schicksalbestimmend für Neugeborene mit großen Halsteratomen. Gefürchtet sind Fälle mit einem rasanten postnatalen Wachstum, daher muss die Tumorentfernung rechtzeitig erfolgen.
primär inkomplette Entfernung unter Schonung der essenziellen Strukturen kann zu einer Heilung führen. Gelegentlich wurde über die Entfernung von Schilddrüsengewebe bzw. der Nebenschilddrüsen berichtet, so dass die Bestimmung der Schilddrüsenhormone und ggf. auch des Parathormons prä- und postoperativ erforderlich ist. Prognose. Das funktionelle und kosmetische Langzeitergebnis sowie die Lebensqualität der Kinder sind meist gut.
46.7.2
Keimzelltumoren des Mediastinums
Klinik. Prädilektionsstelle von Keimzelltumoren des Medi-
astinums ist das vordere Mediastinum. Klassische Symptome sind therapieresistenter Husten oder Dyspnoe infolge mechanischer Luftwegsobstruktion. Seltener findet sich eine obere Einflussstauung. Mediastinale Keimzelltumoren treten bevorzugt im Teenager-Alter auf. Üblicherweise handelt es sich um Teratome, die auch maligne sein können. Auffällig ist ein hoher Anteil an Tumoren mit Nicht-Keimzellelementen, wie Neuroblastom-, embryonalen Rhadomyosarkom-, kleinzelligen Karzinom- sowie Adenokarzinomanteilen. Außerdem scheint ein gehäuftes Auftreten von hämatologischen Tumoren mit mediastinalen Teratomen assoziiert zu sein. Diagnostik. Die präoperative Diagnostik umfasst neben der Tumormarkerbestimmung die Röntgenaufnahme des Thorax sowie ein Thorax-CT. Zum Ausschluss eines Lymphoms sollte die bioptische Sicherung erfolgen. Therapie. Die chirurgische Entfernung dieser Tumoren geschieht am besten mittels medianer Sternotomie. Alternativ erfolgt die Operation über eine Thorakotomie (Koga et al. 2005). An eine frühzeitige Darstellung und Schonung des N. phrenicus ist zu denken. ! Cave Zur Vermeidung schwerster intraoperativer respiratorischer Komplikationen infolge Trachealkompression nach medikamentöser Relaxation ist eine präoperative Absprache mit dem Anästhesisten zu treffen.
46.7.3
Keimzelltumoren des Retroperitoneums
Therapie. Die definitive Behandlung besteht in der frühzei-
Klinik und Diagnostik. Nach Neuroblastomen und dem
tigen operativen Entfernung des Primum. Größere Tumoren mit einem Durchmesser von 5–12 cm dehnen sich u. U. vom Mundboden bis ins obere Mediastinum aus. Meist sind sie von einer Pseudokapsel umgeben, die die Entfernung erleichtert. Gefürchtet sind Verletzungen des N. laryngeus recurrens sowie des N. mandibularis. Auch eine
Wilms-Tumor (Nephroblastom) sind Keimzelltumoren, meist Teratome, die häufigsten retroperitonealen Tumoren beim Kind. Retroperitoneale Teratome zeigen eine bimodale Altersverteilung mit Gipfeln in den ersten 6 Lebensmonaten und im frühen Erwachsenenalter. Typischerweise findet man derartige Teratome in einer suprarenalen
597 46.7 · Extragonadale Keimzelltumore
Position mit Bevorzugung der linken Seite (Gatcombe et al. 2004). Differenzialdiagnostisch kommen Nebennierentumoren wie das Neuroblastom und das Myelolipom, Nierentumoren wie das Nephroblastom oder Nierenzysten u. a. in Betracht. Bei Kleinkindern sind häufig die Zunahme des Bauchumfanges und der palpable Oberbauchtumor die einzigen klinischen Zeichen. Für (mature) Teratome sind zystischsolide Tumoren mit komplexer Struktur (gut umschriebene flüssigkeitsgefüllte Räume; Fett, Talg bzw. Fett-Flüssigkeitsspiegel) sowie Kalzifizierungen typische Hinweiszeichen der Bildgebung (Sonographie, Kernspintomographie). Das Angio-MR ermöglich die Darstellung der Gefäßverläufe. Weiterhin findet sich bei suprarenalem Sitz u. U. eine Verdrängung der Leber nach kranial, des Darms zur Gegenseite, des Pankreas nach kranial-ventral. Der röntgenologische Nachweis von Kalkspangen, Zähnen und Knochen ist heute weitgehend obsolet. > Retroperitoneale Teratome geben sich in der Bildgebung als komplexe Masse mit gut umschriebenen Flüssigkeitsräumen, Fett-Flüssigkeitsspiegeln und Kalzifizierungen zu erkennen. Typisch ist ein verdrängendes Wachstum (. Abb. 46.3. und 46.4).
Beim Jungen sind differenzialdiagnostisch stets Keimzelltumoren mit Ausgangspunkt von einem kryptorchen retroperitonealen Hoden zu denken. In diesem Fall ist der ipsilaterale Hoden nicht deszendiert bzw. äußerlich nicht nachweisbar. Therapie. Retroperitoneale Tumoren im Kindesalter werden am besten über eine quere Laparotomie bzw. auch mediane Laparotomie dargestellt. Eine ausreichend weite Exposition ermöglicht die sichere Identifikation der großen
. Abb. 46.3. Zystisch-solides retroperitoneales Teratom im Kernspintomogramm. Koronarschnitt (T1-Wichtung)
arteriellen und insbesondere venösen Gefäße (. Abb. 46.4). Für sehr große Oberbauchtumoren kommt eine thorakoabdominelle Inzision in Frage. Die Indikation zur laparoskopischen Tumorentfernung ist nach Nutzen-RisikoAbwägung zu stellen, da eine unbeabsichtigte Tumorzelldissemination zu unerwünschten Konsequenzen für den Patienten führen kann. Bedingung sind gut umgrenzte retroperitoneale Teratome ohne Erhöhung des SerumAFP.
46.7.4
Sakrokokzygeale Keimzelltumoren
Inzidenz. Sakrokokzygeale Teratome (syn. Steißbeintera-
tom) des Neugeborenen betreffen im Verhältnis 3:1 Mädchen und sind zu diesem Zeitpunkt meist gutartig. Es handelt sich um den häufigsten Tumor des Neugeborenen mit einer Prävalenz von 1:40.000 lebend Geborenen. Diagnostik. Typisch ist die pränatale Diagnose mittels
Ultraschall. Wichtigste Differenzialdiagnose sind lumbosakrale Myelomeningozelen sowie neurogene Tumoren des kleinen Beckens (Currarino-Triade, 7 Kap. 46.9 und 7 Kap. 30). Einteilung. Die klassische morphologische Einteilung der Steißbeinteratome geschieht nach Altman et al. (1974). Entsprechend ihrer Lokalisation und Ausdehnung werden Steißbeinteratome in 4 Gruppen unterteilt. Ca. 4/5 der Teratome sind überwiegend außerhalb des Beckens lokalisiert, während 1/5 überwiegend bzw. komplett präsakral zu finden ist (. Abb. 46.5). Letzterer Typ ist äußerlich nicht sichtbar, so dass die große Gefahr der Diagnoseverzögerung besteht (. Abb. 46.6).
46
598
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
. Abb. 46.4. Topographische Anatomie eines großen retroperitonealen Teratoms
46
. Abb. 46.5. Einteilung der Steißbeintumoren nach Altman et al. (1974)
599 46.7 · Extragonadale Keimzelltumore
4 Ruptur zur Geburt → Tourniquet → Stabilisierung → Resektion 4 Herzinsuffizienz infolge »high output« → Tourniquet → Stabilisierung → Resektion 4 Hochvaskularisierter Tumor → temporäre transabdominelle Gefäßokklusion → Resektion 4 Hyperkaliämische Krise – dringliche Resektion (?) Zur Eindämmung schwerer Blutungskomplikationen wurde auch die Okklusion der Aorta abdominalis unmittelbar oberhalb der Bifurkation eingesetzt. Ein mehrzeitiges Vorgehen mit initialer Ligatur der A. sacralis mediana sowie beider A. iliaca interna sowie Kolostomieanlage wurde bei einem extrem unreifen Frühgeborenen mit einem Gestationsalter von 26 Wochen berichtet (Robertson et al. 1995). Therapie. Steißbeintumoren des Neugeborenen sind ganz
. Abb. 46.6. Zystisches, rein präsakral gelegenes matures Teratom eines neugeborenen Zwillings im Kernspintomogramm
Klinik. Obwohl die meisten Steißbeinteratome in utero
asymptomatisch sind, können sie Auslöser einer Dystozie sein und somit eine notfallmäßige Schnittentbindung erforderlich machen. Intrauterin bewirken große Steißbeintumoren u. U. eine Plazentomegalie, einen nicht-immunologischen fetalen Hydrops sowie ein sog. Mirror-Syndrom der Mutter (Präeklampsie mit Erbrechen, Hypertension, periphere Ödeme, Proteinurie, Lungenödem der Mutter). Die Kombination von Plazentomegalie mit einem Hydrops gilt als prognostisch infaust für den Fetus. Als ursächlich für die vorbeschriebenen Veränderungen wird u. a. ein hyperdynamer Zustand infolge widerstandsarmer Gefäße im Teratom angesehen, die wie ein arteriovenöser Shunt fungieren. Ein weiterer wichtiger pathogenetischer Faktor ist die vermehrte kardiale Belastung, die sich in einem hyperdynamen Herzversagen (»high output cardiac failure«) des Feten äußern kann. Infolge der intrapelvinen Tumorausdehnung rufen präsakrale Steißbeinteratome u. U. eine Harntransportstörung hervor, die therapiebedürftig sein kann. > Insbesondere große, solide und gut vaskularisierte sakrokokzygeale Teratome sind perinatal mit einer erheblichen Morbidität und Letalität behaftet.
Perinatale Komplikationen bei großen Steißbeinteratomen
erfordern besondere chirurgische Maßnahmen:
überwiegend benigne. Immature oder maligne Steißbeinteratome sowie inkomplett resezierte Tumoren sind mit einem erhöhten Rezidiv- bzw. Metastasierungsrisiko verbunden (Derikx et al. 2006). Aus diesen Gründen ist die zeitige, komplette und schonende Entfernung von Steißbeinteratomen oberstes Gebot. Wichtig ist die genaue präoperative Kenntnis der präsakralen Tumorausdehnung. Dazu dienen die Ultraschalluntersuchung sowie Schnittbildverfahren, bevorzugt die Kernspintomographie. ! Cave Steißbeinteratome werden grundsätzlich inklusive des Steißbeins en bloc (anhängend am Tumor) reseziert, um maligne Lokalrezidive zu vermeiden.
Der klassische chirurgische Zugang besteht in der inversen Chevron-Inzision in Bauchlage. Tumoren der Typen Altman I und II werden von kaudal operiert, während intrapelvin ausgedehnte Tumoren der Typen III und IV häufig einen kombinierten perineal/abdominellen Zugang erfordern. Das Teratom sollte, wenn möglich, mit einer Manschette gesunden Umgebungsgewebes entfernt werden. Zur Minimierung pathologischer Folgezustände ist auf eine schonende Behandlung der Beckenbodenmuskulatur, des Rektums sowie von Blase, Ureteren und Nervenplexus zu achten. Zur Vermeidung von Kontinenzproblemen bedürfen die muskulären Strukturen des Beckenbodens der exakten Rekonstruktion. Alternativ zum offenen Zugang wurden die laparoskopisch assistierte intrapelvine Präparation sowie Gefäßligatur der A. sacralis mediana in kleinen Serien erfolgreich erprobt. Die Anlage einer temporären Kolostomie bzw. eine pubische Symphysiotomie bleibt ungewöhnlichen und seltenen Fällen mit großer intrapelviner Ausdehnung vorbehalten. Nach kompletter Tumorresektion sind regelmäßige Kontrollen mittels rektaler Untersuchung, Bestimmung des Serum-AFP sowie Sonographie und eventuell MRT erforderlich.
46
600
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
> Sehr große sakrokokzygeale Tumoren sind mit einer signifikanten prä- und postnatalen Letalität sowie einer hohen Rate an Prämaturität des Neugeborenen behaftet.
Ältere Säuglinge und Kinder mit großen intrapelvinen bzw. intraabdominellen Tumoren profitieren von einer initialen Biopsie, nachfolgender Chemotherapie und verzögerter Resektion. Ein retroperitoneales Lymphknotensampling sollte dabei erfolgen. Lokalrezidive nach maturen oder immaturen Teratomen ereignen sich meist innerhalb der ersten 3 Jahre, sind meist maligne und erfordern einen multimodalen Therapieansatz. Differenzialdiagnostisch ist u. a. an eine anteriore Lipomeningozele, ein präsakrales Neuroblastom, ein intrapelvines Rhabdomyosarkom sowie extraspinales Ependymom zu denken (Currarino-Triade; 7 Kap. 46.9). Prognose. Obwohl die übergroße Mehrheit der Kinder
46
nach Resektion eines Steißbeinteratoms eine gute Lebensqualität erwarten kann, sind Spätfolgen nach Resektion eines Steißbeinteratoms möglich. Dazu gehören: Obstipation, gelegentliches Stuhlschmieren, neurogene Blasendysfunktion, Harninkontinenz.
46.8
Seltene Lokalisationen
Prinzipiell werden Teratome in fast allen Geweben und Organen des Körpers angetroffen. Dazu existieren Einzelfallberichte der Literatur. Einige spezielle Lokalisationen weisen jedoch Besonderheiten auf, deren Kenntnis entscheidend für die Behandlung ist.
46.8.1
Teratome des Oropharynx und Epignathus
Diese Teratome werden bereits pränatal oder beim Neugeborenen diagnostiziert. Es handelt sich um Neubildungen der Zunge, des Nasopharynx, Gaumens, des Unterkiefers oder der Tonsillen. Eine multifokale Manifestation ist möglich. Zum Zeitpunkt der Geburt können die Tumoren aus dem Mund herausragen (Epignathus). Es resultieren Atem- sowie Schluckprobleme. Wichtig ist auch hier die Vermeidung einer perinatalen Hypoxie. Bezüglich der pränatalen Diagnostik und des perinatalen Managements 7 Kap. 18, Keimzelltumoren der Gesichts-Hals-Region). Es handelt sich ganz überwiegend um benigne Tumoren. Nach frühzeitiger chirurgischer Resektion sind Rezidive ungewöhnlich.
46.8.2
Intraperikardiale sowie kardiale Teratome
Intraperikardiale Teratome sind seltene, meist benigne Tumoren des Säuglings und des Kleinkindes. Eine pränatale Diagnose mittels Echokardiographie ist beschrieben. Postnatal werden die Säuglinge durch kongestives Herzversagen, Herztamponade oder respiratorische Symptome auffällig. Ursprungsort ist häufig die Basis der Aorta ascendens, so dass das Teratom die Vorhöfe komprimiert. Die Echokardiographie ergibt ggf. zusätzlich einen Perikarderguss. Die operative Entfernung erfordert ein kardiochirurgisches Vorgehen ggf. unter Einsatz eines kardiopulmonalen Bypasses. Daneben gibt es echte (intra-)kardiale Teratome, die ganz überwiegend Mädchen betreffen. Die chirurgische Entfernung ist dringlich, da eine komplette Ausflussobstruktion sowie schwere Arrhythmien drohen. Im Bedarfsfalle kann eine Herztransplantation erforderlich werden. Maligne Keimzelltumoren des Herzens sind möglich und erfordern eine Chemotherapie.
46.8.3
Teratome des Magens
Magenwandteratome treten überwiegend bei Knaben in Erscheinung. Typischerweise werden sie in den ersten Lebensmonaten als Oberbauchtumor, selten infolge einer gastrointestinalen Blutung manifest. Die Behandlung besteht in der kompletten Resektion. Rezidive sind möglich, jedoch scheint eine maligne Entartung nicht vorzukommen.
46.8.4
Teratome des Pankreas
Es handelt sich um sehr rare Tumoren. Als Symptome wurden Übelkeit, Erbrechen, Bauch- bzw. Rückenschmerzen angegeben. Teratome des Pankreas sind überwiegen zystisch. Therapie der Wahl ist die Resektion (7 Kap. 45).
46.8.5
Keimzelltumoren der Vagina
Dottersacktumoren der Vagina treten ausnahmslos bei Mädchen unter 3 Jahren auf. Typisches Symptom sind vaginale Blutungen bzw. der sichtbare Tumor. Makroskopisch ähneln die Tumoren einem Sarcoma botryoides (7 Kap. 47). Neben der lokalen Bildgebung sollten initial Lungenmetastasen ausgeschlossen werden. Der Uterus kann involviert sein. Dottersacktumoren der Vagina konnten durch alleinige radikale Operation in weniger als 50% der Fälle geheilt werden. Dieses Vorgehen ist obsolet. Der therapeutische Ansatz orientiert heute auf Organerhaltung. Dies wird in vielen Fällen durch initiale Biopsie, nachfolgende Chemotherapie sowie verzögerte Resektion zu erreichen sein.
601 46.10 · Dermoidzysten
46.9
Assoziierte Fehlbildungen bei Keimzelltumoren und Syndrome
Als Currarino-Triade (Currarino 1981) ging die Kombination präsakraler Tumor – anorektale Stenose – sakraler Defekt in die Literatur ein. Dabei handelt es sich bei der analen Fehlbildung überwiegend um anale Stenosen oder tiefe anorektale Fehlbildungen. Die präsakrale Raumforderung kann in einem Teratom, einer anterioren Meningozele, Duplikatur oder Dermoidzyste bestehen. Als typisch gilt eine enge Verbindung des Tumors zur Dura bzw. zum Rektum. Postoperative Meningitiden wurden beschrieben. Es besteht eine weibliche Geschlechtsprädisposition von 1,5:1. Da es sich um eine autosomal-dominante Erkrankung handelt, ist im Bedarfsfalle ein Screening der Familienmitglieder erforderlich. Ursächlich spielt die Mutation eines Homebox-Genes (HLXB9) eine ausschlaggebende Rolle in betroffenen Familien. Weiterhin besteht eine strenge Assoziation mediastinaler, aber auch retroperitonealer sowie intrakranieller Teratome mit einem Klinefelter-Syndrom. Typisch dafür ist das Vorliegen hCG-produzierender Chorionkarzinome mit dem klinischen Bild der Pubertas praecox. Betroffen sind meist Adoleszente und Erwachsene. Das Klinefelter-Syndom ist durch den Chromosomensatz 47, XXY gekennzeichnet. Klassische klinische Zeichen sind kleine Hoden, eunuchoider Habitus, Azoospermie, Gynäkomastie sowie gelegentlich mentale Retardierung. Gonadoblastome trifft man überwiegend in »StreakGonaden« von Ullrich-Turner-Patienten an, deren genetisches Material zusätzlich zum Chromosomensatz 45,X Anteile des Y-Chromosoms (Mosaik) enthält. Weiterhin findet man Gonadoblastome bei phänotypisch weiblichen Patienten mit einem Karyotyp 46,XY (männlicher Pseudoherma-
phroditismus). Meist sind diese Gonaden intraabdominell gelegen. Eine bilaterale Manifestation sowie die Assoziation mit einem Dysgerminom sind bei diesen Patienten nicht ungewöhnlich, so dass auch die prophylaktische Entfernung beider Gonaden meist indiziert ist (Tröbs et al. 2004).
46.10
Dermoidzysten
Dermoidzysten sind benigne Neubildungen im Grenzgebiet zwischen Tumor und Fehlbildung, die vom Ektoderm sowie Mesoderm abstammen (. Tab. 46.9). Man kann sie auch als mono- bzw. biphasische Teratome einordnen. Histologisch sind sie durch ein verhornendes Plattenepithel (epidermoid) und dem Vorhandensein von Hautanhangsgebilden, wie Haarfollikel, Schweiß- und Talgdrüsen, Fasern glatter Muskulatur sowie fibroadipösen Gewebes gekennzeichnet. Epidermoide enthalten keine Hautanhangsgebilde. Es handelt sich um kongenitale Inklusionszysten, die sich entlang embryologischer Fusionslinien in der 3. bis 5. Gestationswoche bilden und epidermale und dermale Anteile enthalten. Derartige Entwicklungsstörungen mit geschwulstähnlicher Gewebeversprengung werden als Choristome (choristos: abgeschieden) bezeichnet. Differenzialdiagnostisch gibt es erworbene Dermoidzysten, die durch die traumatische Implantation von Haut in tiefere Schichten entstehen. Klinik und Diagnostik. Extragonadal manifestieren sie sich ganz überwiegend im Kopf-Hals-Bereich (7 Kap. 18). Es handelt sich überwiegend um subkutane, langsam wachsende, erbsen- bis haselnussgroße Knötchen, die dem Knochen fest aufsitzen. Die darüber befindliche Haut ist gut verschieblich. Häufig werden sie schon beim Säugling ent-
. Tab. 46.9. Charakteristika unterschiedlich lokalisierter Dermoidzysten Lokalisation
Fusionslinie, Embryologie
Lokalisation
Besonderheiten
Schädel
Sutura sagittalis Fonticulus anterior
Medianlinie, große Fontanelle
Knochendelle bzw. -arrosion der Tabula externa In Medianlinie intrakraniellen Anteil ausschließen!
Periorbital
Sutura frontozygomatica Sutura frontoethmoidalis
Laterale Augenbraue, Delle oberhalb des Supraorbitalbogens; auch medial
Fortsetzung medianer Zysten nach intrakraniell ist möglich Differenzialdiagnose vordere Meningozele Intraorbitale Zysten
Nase
Sutura internasalis Bildung einer dermalen Zyste oder Fistel im Gefolge des Zurückweichens des neuroektodermalen Traktes
Nasenwurzel, -rücken
Fortsetzung in Richtung Nasenknorpel und unter Nasenbeine in Richtung Lamina cribrosa bzw. Ethmoidalzellen und intrakraniell möglich Differenzialdiagnose vordere Meningozele
Mundboden
Erster und zweiter Kiemenbogen
Sublingual im vorderen Mundboden
Können erhebliche Größe annehmen
Hals/ suprasternal
Mittelventrale und mitteldorsale Fusion
Unter Kinn, im Jugulum
Differenzialdiagnose Thyreoglossuszysten
Sternum
Sternalbänder (?)
Über Sternum
46
602
Kapitel 46 · Keimzelltumoren
deckt. Selten finden sich entzündliche Veränderungen der Umgebung oder gar die Entleerung des Zysteninhaltes über eine Hautfistel. Typisch ist eine Eindellung des darunter befindlichen Knochens, die auch im Röntgenbild gesehen werden kann. Diagnostisch sind bei typischer Klinik die Anamnese sowie die klinische Untersuchung, ggf. ergänzt durch eine Ultraschalluntersuchung, ausreichend. ! Cave Zysten der Medianlinie des Schädels bedürfen der Abklärung mittels eines Schnittbildverfahrens, damit eine intrakranielle Fortsetzung der Raumforderung oder eine Meningozele präoperativ ausgeschlossen werden kann.
46
Therapie. Die Therapie besteht in der einfachen Exzision der Dermoide; am Schädeldach ggf. inklusive des darunter liegenden Periostes. Besonders im Gesicht sind für die Hautinzision die Langer-Hautspaltlinien zu respektieren (supraorbital quer am unteren Rand der Braue; Glabella längs; quer über Nasenrücken). Rezidive sind ungewöhnlich; eine maligne Transformation ebenfalls.
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47
47 Weichteiltumoren aller Lokalitäten D.C. Aronson 47.1
Grundlagen – 603
47.3
Nicht-RMS-Weichteilsarkom – 610
47.2
Rhabdomyosarkom
47.2.1 47.2.2 47.2.3 47.2.4 47.2.5 47.2.6 47.2.7 47.2.8 47.2.9 47.2.10
Inzidenz – 603 Ätiopathogenese – 603 Pathologie und Klassifikation – 604 Prognostische Faktoren – 605 Klinik – 606 Diagnostik – 606 Therapie aller Weichteilsarkome – 606 Spezielle Tumorlokalisationen – 608 Remissionsrate – 610 Spätmorbidität – 610
47.3.1 47.3.2 47.3.3
Epidemiologie – 611 Prognostische Faktoren Therapie – 612
47.4
Zusammenfassung und Zukunftsperspektive
– 603
> Weichteilsarkome sind seltene Tumoren im Kindesalter. Trotzdem stehen sie auf Rang 6 der häufigsten Kindertumoren. Ihre Behandlung erfolgt abhängig von unterschiedlichen Stadien, ihrer Lokalisationen, der Histologie, des diffus infiltrierenden Wachstums und des Patientenalter, und stellt eine Herausforderung an die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Chirurg, Onkologe und Radiotherapeut dar.
47.1
Grundlagen
Ein Sarkom ist ein maligner Tumor, der von mesenchymalen Zellen ausgeht. Die mesenchymalen Zellen reifen normalerweise zu Skelettmuskel-, glatten Muskel-, Fett-, Bindegewebe-, Knochen- oder Knorpelzellen aus. Für die Mehrzahl der Weichteilsarkome ist die tatsächliche Histogenese nicht bekannt. Die Klassifikation erfolgt deswegen vorwiegend nach dem mikroskopischen Phänotyp. Periphere Weichteilsarkome breiten sich vom Entstehungsort infiltrierend entlang anatomischen Strukturen wie Nerven, Gefäßen und Faszien aus. Sie können von einer fibrösen Pseudokapsel umgeben sein. Tumorausläufer können diese Pseudokapsel durchbrechen und zu Metastasen in der unmittelbaren Nachbarschaft führen. Die Fernmetastasierung erfolgt – abgesehen von lokalen Lymphknoten – in Lunge, Skelett und Knochenmark. Die Weichteiltumoren bilden ca. 6% aller Malignitäten im Kindesalter und ungefähr 20% aller soliden Tumoren bei Kindern. Diese Tumoren werden in zwei Gruppen ein-
– 611
– 614
Literatur – 614
geteilt: 53% bestehen aus Rhabdomyosarkomen oder RMS (griech: »rhabdos« = Stab; »mys« = Muskel; »sarkos« = Fleisch), deren Gewebe gestreifter Muskulatur histologisch ähnelt, 47% aus einer heterogenen Sammlung von Weichteiltumoren, die aus verschiedenen mesenchymalen Komponenten bestehen können und die man als Nicht-RMSWeichteilsarkome bezeichnet.
47.2
Rhabdomyosarkom
47.2.1
Inzidenz
Unter den extrakraniellen soliden Tumoren nimmt das RMS, hinter dem Neuroblastom und dem Nephroblastom, den 3. Platz ein und ist damit der am häufigsten vorkommende Weichteiltumor im Kindesalter. Die bimodale Inzidenz zeigt 2 Spitzen in der Altersverteilung. Die erste liegt zwischen dem 1. und 7. Lebensjahr und die zweite zwischen Ende der Pubertät und Adoleszenz. Im ersten Lebensjahr werden 6% der Tumoren diagnostiziert und bis zum 5. Lebensjahr sind es bereits 50%. Die Inzidenz bei Jungen ist 1,7-mal höher als bei Mädchen.
47.2.2
Ätiopathogenese
RMS entstehen aus undifferenziertem Mesenchym mit Potenzial zur Umwandelung in Muskelgewebe. Das RMS-Ge-
604
Kapitel 47 · Weichteiltumoren aller Lokalitäten
4 Botryoides RMS, eine morphologische Variante des embryonalen RMS 4 Undifferenziertes RMS ohne zytologischen Beweis für eine myogene Differenzierung
47 . Abb. 47.1. Häufigkeit der primären Lokalisationen von Rhabdomyosarkomen
webe gleicht dabei fetaler Muskulatur. Die Lokalisation der RMS in Vagina, Harnblase, Prostata, Funiculus spermaticus, Gallenwegen und Kopf-Hals-Region, neben Körperstamm und Extremitäten (. Abb. 47.1), legt allerdings die Vermutung nahe, dass diese Tumoren nicht aus Skelettmuskelzellen selber entstehen (Willis 1961). In 8–9% der Fälle kommen Kinder mit einem RMS aus einer Familie mit einer Prädisposition für maligne Tumoren, z. B. das Li-Fraumeni-Syndrom, bei dem 2 nahe Verwandte jünger als 45 Jahre entweder an Sarkom oder an einem anderen Tumor erkrankt sind. Der potenziell genetische Hintergrund dieser Tumoren zeigt sich auch durch die Assoziation zwischen RMS und anderen kongenitalen Erkrankungen, wie z. B. der Neurofibromatosis Typ I. Der Zusammenhang mit Brustkrebs bei weiblichen Verwandten hat zur Hypothese von Keimbahnmutationen innerhalb des Tumorsuppressorgens p53 geführt.
47.2.3
Daneben existieren auch Tumoren mit rhabdoiden Kennzeichen. Es ist aber letztlich unklar, ob diese eine distinkte oder separate Gruppe bilden oder nur eine morphologische Variante der oben genannten Gruppen sind. Strukturelle chromosomale Änderungen werden bei dem embryonalen RMS fast nie gefunden, während beim alveolären RMS charakteristisch Translokationen zwischen Chromosom 1 oder 2 und 13 [t(1;13) oder t(2;13)] gefunden werden. Ziel der Klassifizierung ist es, Tumorkategorien zu bilden, die einen strukturierten Behandlungsplan und eine Einschätzung der weiteren Prognose ermöglichen. Damit ist auch die Basis für die Vergleichbarkeit der Behandlungsresultate verschiedener klinischer Forschungsgruppen gegeben. Momentan sind 2 Klassifizierungssysteme in Gebrauch: Die klinische, postoperative Gruppierung der »Intergroup Rhabdomyosarcoma Study« (IRS; . Tab. 47.1) und die TNM-Stadieneinteilung der »SIOP-MMTCommittee« (. Tab. 47.2). Die deutsche multizentrische Studie zur Behandlung der Weichteilsarkome (CWS) wurde 1981 initiiert und die postchirurgisch-histopathologische Stadieneinteilung der CWS-81, -86 und -91 erfolgte in Anlehnung an die Intergroup Rhabdomyosarcoma Study (IRS).
. Tab. 47.1. IRS-Klassifizierung der Rhabdomyosarkome Klinische Gruppierung
Beschreibung
I
Lokalisierter Tumor, komplette Resektion 4 Beschränkt auf Ausgangsorgan oder -muskel 4 Infiltration über die Grenzen des Ausgangsorgans oder -muskels; regionale Lymphknoten nicht befallen
II
Kompromittierte oder regionale Resektion 4 Weite Exzision mit mikroskopischem Tumorrest; regionale Lymphknoten nicht befallen 4 Regionale Erkrankung, komplette Resektion, regionale Lymphknoten können befallen sein, mit/ohne Tumorextension in anatomische Grenzstrukturen, aber ohne mikroskopischen Tumorrest 4 Regionale Erkrankung mit Involvierung regionaler Lymphknoten, weite Exzision mit bewiesenen mikroskopischem Tumorrest
III
Inkomplette Resektion oder Biopsie mit makroskopischem Tumorrest
IV
Fernmetastasierung bei Diagnose
Pathologie und Klassifikation
Aus pathologischen Gründen werden 4 verschiedene Gruppen unterschieden (Newton et al. 1995): 4 Embryonales RMS (80%) 4 Alveoläres RMS (15–20%)
605 47.2 · Rhabdomyosarkom
. Tab. 47.2. TNM-Klassifizierung der Rhabdomyosarkome TNM-Stadium*
Invasivität
Größe
Lymphknoten
Metastasen
I
T1
Ta oder Tb
N0
M0
II
T2
Ta oder Tb
N0
M0
III
T1 oder T2
Ta oder Tb
N1
M0
IV
T1 oder T2
Ta oder Tb
N0 oder N1
M1
*Ein T1 Tumor zeigt keine lokale Invasivität, ein T2-Tumor dagegen schon. Ta-Tumoren haben eine Größe von ≤5 cm, Tb-Tumoren von >5 cm. Die meisten multivariaten Analysen zeigen, dass Tumorinvasivität und Fernmetastasen die wichtigsten prognostischen Faktoren sind. Einige Autoren berichten, dass Lymphknotenbeteiligung ein Faktor für das Outcome die Heilungschance ist
. Tab. 47.3. Prognostische Faktoren der IRS Prognostische Gruppe
Histologische Subtypisierung
Tumorlokalisation
I – gute Prognose
Botryoides RMS
Orbita (10%), Kopf/Hals, nicht-paramenigeal (10%), Urogenitaltrakt – ohne Harnblase /Prostata (8%)
II – mäßige Prognose
Embryonales RMS
Parameningeal (20%), Urogenitaltrakt: Harnblase/Prostata (12%)
III – schlechte Prognose
Alveolares RMS Undifferenziertes RMS
Extremitäten (20%), Körperstamm (10%)
IV – unsichere Prognose
RMS mit rhabdoide Kennzeichen
Alle Lokalisationen mit Fernmetastasierung
47.2.4
Prognostische Faktoren
Die 3 wichtigsten prognostischen Faktoren, die sich konsistent aus der IRS zeigen, sind Stadium, Pathologie und Tumorlokalisation (. Tab. 47.3; . Abb. 47.1). Das Stadium ist ein starker, unabhängiger prognostischer Faktor, der die eventuelle komplette Exzision beinhaltet. Die IRSKlassifikation bietet dabei eine deutliche Risikostratifizierung der klinischen Gruppen I bis IV. Die Tumorlokalisation (. Abb. 47.1) nimmt sowohl auf das Stadium als auch auf die Pathologie Einfluss: Die meisten Orbitatumoren sind embryonale RMS, die meisten Extremitäten-RMS sind vom alveolären Subtyp. Die Bedeutung des alveolaren Subtyps als ungünstiger prognostischer Faktor wurde innerhalb der IRS-I und IRS-II gezeigt und wird auch durch SIOP-MMT bestätigt und in neuen Protokollen berücksichtigt (Stevens et al. 1995). Kürzlich haben sich die drei europäischen, kooperierenden Gruppen (deutsche CWS, die italienische AIEOPSTSC, und europäische SIOP-MMT), die sich die letzten 20 Jahre mit der Untersuchung von Weichteilsarkomen bei Kinder beschäftigt haben, zu Europäischen Pädiatrischen »Soft-Tissue-Sarkoma«-Studiengruppe (EpSSG) zusammengeschlossen. In ihrer letzten EpSSG-RMS 2005-Studie für nicht metastasierte Rhabdomyosarkome, wurden die Patienten auf 4 Risikogruppen verteilt (. Tab. 47.4). Diese Einteilung basierte auf den Risikofaktoren, die sich nach der Analyse der vorausgegangenen Europäischen Studien herauskristallisierten. Dazu gehören: Histologie (alveolares versus nicht-alveolares RMS), postoperative Stadieneintei-
lung (nach IRS), Tumorlokalisation und -größe, betroffene Lymphknoten und Patientenalter (Crist et al. 2001).
Übersicht Risikofaktoren nach EpSSG 4 Pathologie – Günstig = embryonales oder botryoides RMS – Ungünstig = alle alveolären Varianten 4 IRS-Stadium – I – primär komplette Resektion (R0) – II – mikroskopischer Tumorrest (R1) oder primäre komplette Resektion aber N1 – III – makroskopischer Tumorrest (R2) 4 Tumorlokalisation – Günstig = Orbita, Urogenitaltrakt (paratestikulär, Vagina/Uterus), Kopf-Hals nicht-paramenigeal – Ungünstig = parameningeal, Extremitäten, Urogenitaltrakt (Harnblase, Prostata), Körperstamm 4 Lymphknoten – N0 – kein klinischer oder pathologischer Lymphknotenbefall – N1 – klinischer oder pathologischer Lymphknotenbefall 4 Tumorgröße und Alter – Günstig = maximale Tumorgröße <5 cm und Alter <10 Jahre – Ungünstig = Tumorgröße >5 cm oder Alter >10 Jahre
47
606
Kapitel 47 · Weichteiltumoren aller Lokalitäten
. Tab. 47.4. EpSSG-Risikostratifizierung
47
Risikogruppe
Pathologie
Stadium nach Chirurgie (IRS)
Tumorlokalisation
Lymphknoten
Tumorgröße und Alter
Niedriges Risiko
Günstig
I
Alle
N0
Günstig
Normales Risiko
Günstig Günstig Günstig
I II, III II, III
Alle Günstig Ungünstig
N0 N0 N0
Ungünstig Alle Günstig
Hohes Risiko
Günstig Günstig Ungünstig
II, III II, III I, II, III
Ungünstig Alle Alle
N0 N1 N0
Ungünstig Alle Alle
Sehr hohes Risiko
Ungünstig
I, II, III
Alle
N1
Alle
Auch zytogenetische und molekulargenetische Faktoren können womöglich einen prognostischen Wert haben. Dabei wurde vor allem viel Wert auf die Untersuchung von DNAPloidie und proliferative Aktivität (S-Phase) gelegt. Dies konnte aber nicht innerhalb einer großen klinischen Studie durch Multivarianzanalyse bewiesen werden. Tumoren mit hyperdiploider DNA haben anscheinend eine bessere Prognose als Tumoren mit einem tetraploiden DNA-Gehalt. Letztere sind aber meistens auch Tumoren des alveolaren RMS-Subtyps. Das Gleiche gilt auch für die chromosomalen Veränderungen. Die 2 entdeckten Translokationen [t(2;13)(q35;q14) und t(1;13)(p36;q14)] finden sich im alveolaren RMS; der ebenfalls gezeigte genetischer Verlust auf Chromosom 11p15.5 beschränkt sich auf embryonale RMS.
47.2.5
Klinik
tasen werden auch eine sonographische Untersuchung der lokoregionalen Lymphknoten und der Leber sowie ein CTThorax durchgeführt. Bei parameningealen Kopf-Hals-Tumoren und bei paraspinalen Tumoren dient eine Lumbalpunktion der Evaluation einer meningealen Ausbreitung. Knochenmarksbeteiligungen werden mit einer Knochenmarksbiopsie abgeklärt.
47.2.7
Therapie aller Weichteilsarkome
Dank langjährigen protokollierten Therapiestudien im pädiatrischen Bereich, deren Rolle bei kindlichen Weichteilsarkomen gut validiert ist, steht die heutige Behandlung auf 3 großen Säulen: chirurgische Intervention, Chemotherapie und Radiotherapie
Abhängig von der Lokalisation oder eventueller Metastasierung fallen die Tumoren durch Schwellung oder durch Störung einer normalen Organfunktion auf (. Abb. 47.2). So können sich nasopharygeale Tumoren mit einer persistierenden Otitis media, Fazialisparese, rezidivierendem Nasenbluten, chronische Rhinitis, verstopfte Nase, Halsschmerzen oder Heiserkeit präsentieren. Orbitatumoren können eine Protusio bulbi oder Ophthalmoplegie verursachen. Parameningeale Lokalisationen können zu Nervenausfallserscheinungen und erhöhtem Hirndruck führen. Sarkome von Prostata oder Harnblase imponieren mit Harnabflussstörungen, Vagina und Uterussarkome mit blutigem Ausfluss oder Polypenbildung, schließlich Gallengangssarkome zu Ikterus.
47.2.6
Diagnostik
Die Diagnosestellung erfolgt als Kombination von Anamnese (Symptomen), klinischer Untersuchung, Sonographie, Röntgen-Thoraxaufnahmen in 2 Ebenen und einer kontrastmittelunterstützten MRT- oder CT-Untersuchung (z. B. retroperitoneale Tumoren) sowie der histologischen Diagnose. Bei Risikopatienten oder bei Verdacht auf Metas-
. Abb. 47.2. Schädel-CT eines 5 Jahre alten Mädchens mit einem Rhabdomyosarkom der linken Parotis
607 47.2 · Rhabdomyosarkom
Operative Therapie Biopsie. Zur Gewebegewinnung wird eine Biopsie durchge-
führt. Diese kann mittels Stanzbiopsie (»Tru-cut«-Nadel), Inzisionsbiopsie, oder Exzisionsbiopsie erfolgen. Die Exzisionsbiopsie ist nur für kleine Tumoren (<3 cm) geeignet und soll mit einer Sicherheitszone von etwa 1 cm durchgeführt werden.
. Tab. 47.5. Definition der möglichen Resektionen Resektion
Definition
R0 = mikroskopisch komplett = radikal
Weite Resektion: En-bloc-Resektion von Tumor und Pseudokapsel, tumorfreier Geweberand Kompartimentale Resektion: Entfernung von Tumor inklusive anatomischem Kompartiment
Primäre Chirurgie (. Tab. 47.5). Der chirurgische Teil der
Therapie ist abhängig von Stadium und Lokalisation des Tumors. Falls technisch möglich, ist die primäre Tumorresektion immer anzustreben, da die Prognose von Patienten, bei denen der Tumor unabhängig von eventuell verbleibenden mikroskopischen Tumorresten makroskopisch entfernt werden kann, deutlich besser ist. Technisch möglich bedeutet dabei, eine gefahrlose Exzision des Tumors mit einem tumorfreien Gewebsrand (R0-Resektion) ohne Funktionsverlust oder Mutilation.
R1 = mikroskopisch inkomplett = marginal
Tumoroberfläche sichtbar am Resektionsrand oder Kontamination: unabsichtliche Ruptur oder Streuung
R2 = makroskopisch inkomplett = intraläsional
Makroskopischer Tumorrest
> Wenn eine R0-Resektion nicht möglich erscheint, sollte daher nur eine Biopsie durchgeführt werden.
Sensibel
Mäßig empfindlich
Nicht oder fraglich empfindlich
Rhabdomyosarkom
Hämangiosarkom
Fibrosarkom
Synovialsarkom
Liposarkom
Neurofibrosarkom
Undifferenziertes Sarkom
Leiomyosarkom
Maligner peripherer Nervenscheidentumor
Malignes fibröses Histiozytom
Rhabdoidtumor
Falls die Resektionsränder mikroskopisch nicht tumorfrei sind (R1-Resektion) und die operative Möglichkeit besteht, ist eine Reoperation angezeigt, um das Tumorbett komplett tumorfrei zu bekommen. Selbst bei positivem Lymphknotenbefund ist die Prognose gut, sofern sie mit entfernt werden können. Das bedeutet, dass die Lymphknoten nicht routinemäßig exzidiert werden, sondern nur bei klinischem oder radiologischem Verdacht. Da für positive Lymphknoten eine radiotherapeutische Behandlungsoption besteht, ist eine radikale Lymphknotendissektion selten indiziert. Letztendlich soll das Ausmaß des chirurgischen Vorgehens im umgekehrten Verhältnis zur zytostatischen Empfindlichkeit des Tumors stehen. Sekundäre Chirurgie. Eine zweite chirurgische Interven-
tion zur Resektion des Resttumors ist erst nach Einsatz der anderen Therapiemöglichkeiten indiziert. Sekundäre Chirurgie ist ein wichtiger Teil der Behandlung, um je nach Tumorlokalisation lokale Kontrolle zu erreichen. Manchmal bleibt die Chirurgie in dieser Phase der Behandlung allerdings lieber konservativ, wenn man berücksichtigt, dass die Morbidität der Bestrahlung akzeptabeler ist als ein radikaler chirurgischer Eingriff, die Schädigung wichtiger Funktionen (z. B. radikale Zystektomie) oder kosmetische Beeinträchtigungen (z. B. Amputationen) mit sich bringt. Andererseits kann man bei sehr jungen Kindern durch eine radikale chirurgische Intervention die Spätschäden durch eine Bestrahlung z. B. im kleinen Becken umgehen.
Chemotherapie Mit adjuvanter Chemotherapie ist präoperativ durch Tumorverkleinerung eine deutliche Prognoseverbesserung zu
. Tab. 47.6. Abhängigkeit der Chemotherapiesensibilität vom histologischen Typ
erreichen – ausgenommen davon sind allein sehr gut resezierbare Tumoren (IRS-Stadium I; . Tab. 47.6). Als Polychemotherapie werden dabei Vincristin, Actinomycin D, Cyclophosfamid, Doxorubicin, Ifosfamid, Carboplatin und VP16 in verschiedensten Kombinationen gebraucht; neuere Mittel, wie Vinorelbin, Topotecan, Irinotecan, Taxotere und Taxol stehen in unterschiedlichen Studien noch auf dem Prüfstand (Treuner u. Brecht 2006). Der Stellenwert einer intensivierten Chemotherapie in Kombination mit autologer Knochenmark- oder peripherer Blutstammzelltransplantation ist noch nicht klar. Die Tumorresponse in der initialen Behandlungsphase bestimmt Indikation und Ausmaß der Radiotherapie und die Intensität der Chemotherapie. Je größer die Tumorregression unter zytostatischer Therapie ist, desto schonender bzw. organerhaltender können die anschließenden chirurgischen Maßnahmen sein. Je geringer die Erfolge der Chemotherapie, umso radikaler muss die chirurgische Intervention sein. Die Rolle der adjuvanten Chemotherapie bei NichtRMS-Tumoren im Kindesalter bleibt weiterhin kontrovers und hängt prinzipiell vom histologischen Typ ab (. Tab. 47.6).
47
608
Kapitel 47 · Weichteiltumoren aller Lokalitäten
Strahlentherapie
Interstitielle Brachytherapie. Bei dieser Form der Brachy-
Die tumorzerstörende Wirkung der Bestrahlung verläuft meist parallel zur zytostatischen Wirkung. Daher kommt der Radiotherapie eine eher adjuvante Rolle bei der lokalen Tumorkontrolle zu. Innerhalb der IRS-Studie variieren die Dosierungsempfehlungen von 40–55 Gy. Innerhalb der SIOP Studien werden 45 Gy gebraucht, die, falls nötig, bis zu 50 oder 55 Gy gesteigert werden können. Die konventionelle Behandlung mit Megavoltage-Systemen wird meistens in täglichen Fraktionen von 1,8 Gy verabreicht, wenngleich auch Hyperfraktionierung in der IRS-IV- und –MMT 89-Studie angewendet wird. Hyperfraktionierung scheint aber keine Verbesserung der lokalen Tumorausbreitung zu bieten.
therapie wird die strahlende Quelle mit Hilfe von Nadeln oder Schläuchen direkt in den Tumor (bzw. sein Bett) gelegt. Dies erfolgt noch intraoperativ in Anschluss an die Tumorresektion. Die strahlende Quelle wird nach Behandlungsende wieder aus dem Gewebe entfernt. Diese Form wird bei Tumoren des Kopf-Hals-Bereiches, der Thoraxwand, der Harnblase, der Prostata und des Perineums durchgeführt (. Abb. 47.2 bis 47.4).
> Tritt – mit oder ohne Chirurgie – eine komplette Remission unter Chemotherapie ein (IRS-I-Gruppe), wird im Allgemeinen innerhalb der EpSSG-Studien auf Radiotherapie verzichtet. Eine Ausnahme stellen nur die paramenigealen Tumoren dar.
Brachytherapie
47
Bei der Brachytherapie wird eine radioaktive Quelle durch unterschiedliche Applikatoren direkt in einen Tumor, in dessen Nähe, oder in das ehemalige Tumorbett eingelegt. Durch die Nähe zum Tumor oder der ehemaligen Tumorregion ist es möglich, das umliegende gesunde Gewebe optimal zu schonen und die Tumorregion mit einer hohen Dosis zu bestrahlen. Diese Technik ist insbesondere für kleine Tumorreste in selektierten Lokalisationen anwendbar (Magné u. Haie-Meder 2007).
47.2.8
Spezielle Tumorlokalisationen
Orbita Orbita-RMS werden durch ihre Symptome bereits frühzeitig diagnostiziert. Dies kann ein Grund für ihre seltene Metastasierung sein, obwohl dies auch ein anderes biologisches Verhalten zum Ausdruck bringen kann. Meistens beschränken sie sich auf die Orbita, obwohl eine Ausbreitung auf Knochen oder Parameningen möglich ist (. Abb. 47.5). Therapie. Radikale Chirurgie oder eine Orbita-Exenteration ist als initiale Behandlungsstrategie nicht indiziert und wird nur durchgeführt, wenn Chemo- und Radiotherapie nicht zur Tumorkontrolle führen. Eine initiale Biopsie, gefolgt durch Chemo- und Radiotherapie ermöglicht eine Überlebensrate von >90%.
Kopf-Hals-Bereich
Intrakavitäre Brachytherapie. Dies ist die häufigste Form der Brachytherapie. Bei dieser, nur einige Minuten andauernden Therapie, wird die strahlende Quelle in natürlich vorhandene Körperöffnungen eingelegt, um die dort lokalisierten Tumoren zu bestrahlen. Beispiele sind Tumoren der Scheide oder der Gebärmutter.
Die RMS im Kopf-Halsgebiet werden eingeteilt in parameningeal und nicht-parameningeal. Die parameningealen Tumoren, mit ihrem Entstehungsort im Mittelohr, Mastoid, Nasopharynx, paranasale Sinus oder Schädelbasis, haben das größte Risiko auf intrakranielle Ausdehnung und deshalb eine schlechtere Prognose als die nicht-parameningealen Tumoren. Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt bei 65% versus 80%.
. Abb. 47.3. Intraoperativer Situs bei der Patientin von . Abb. 47.2 mit Markierung der Äste des N. facialis
. Abb. 47.4. Foto vom Ende der Operation mit Einlage von Sonden für die postoperative Brachytherapie
609 47.2 · Rhabdomyosarkom
. Abb. 47.5. MRT eines 12-jährigen Mädchens mit einem Rhabdomyosarkom der linken Orbita
. Abb. 47.6 3-jähriger Junge mit Harnverhalt; im MRT ein großes Rhabdomyosarkom der Harnblase
Therapie. Eine initiale radikale chirurgische Intervention
wird nur durchgeführt, wenn sie technisch möglich ist. Anderenfalls wird eine Biopsie entnommen und neoadjuvante Chemotherapie gestartet. Unter Umständen kann eine radikale Exzision mit späterer Rekonstruktion in Erwägung gezogen werden. Klinisch verdächtige Lymphknoten werden dabei entfernt, eine radikale Halslymphknotendissektion ist jedoch nicht indiziert. Auf dieser Basis wurde das AMORE-Protokoll entwickelt. Es besteht aus ablativer Chirurgie, Moulagetechnik, Brachytherapie und chirurgischer Rekonstruktion. Das Ziel ist die Intensivierung der lokalen Behandlung, wobei eine Megavolt-Nachbestrahlung mit ihrer potenziellen, nicht unerheblichen Spätmorbidität vermieden wird (Buwalda et al. 2003). Bei therapieresistenten Tumoren können mutilierende chirurgische Eingriffe notwendig sein.
Urogenitaltrakt Tumoren des Urogenitaltraktes sind meist lokal weit ausgedehnt und selten vollständig resezierbar Hier sind die häufigsten Ursprungsorgane die Blase (. Abb. 47.6) sowie bei Jungen die Prostata und bei Mädchen die Vagina (. Abb. 47.7). Therapie. Durch Biopsie gesicherte Diagnosestellung wird mit neoadjuvanter Chemotherapie begonnen. Um harnblasenerhaltend operieren zu können, kombiniert man die chirurgische Intervention mit Radiotherapie oder Brachytherapie. Eine radikale chirurgische Therapie ist nur bei
. Abb. 47.7. Großes Rhabdomyosarkom der Vagina bei einem 2-jährigen Mädchen
Versagen der Chemo- und Radiotherapie angezeigt. Bei dem paratestikulären RMS wird die initiale hohe Ligatur der Samenstranggebilde und radikale Orchidektomie durchgeführt. Eine retroperitoneale Lymphknotendissektion wird nur bei unklarem Befund der diagnostischen Szintigraphie, CT-Scan, oder MRT-Scan empfohlen (Ferrari et al. 2002).
47
610
Kapitel 47 · Weichteiltumoren aller Lokalitäten
Extremitäten Weichteilsarkome der Extremitäten umfassen etwa 20% aller RMS. Sie kommen häufiger an der unteren Extremität und distal vor. Charakteristisch ist eine Schwellung, die mit Schmerzen, Berührungsempfindlichkeit und Rötung imponieren kann. Fast 45% zeigt eine alveolare Histologie. Therapie. Sie werden am effektivsten durch frühe radikale extremitätenerhaltende Tumorexzision behandelt. Bei
47
positivem Resektionsrand steht vor der Chemotherapie und Radiotherapie ein 2. chirurgischer Eingriff. Ein Viertel dieser Patienten hat eine Lymphknotenbeteiligung. Deshalb wird innerhalb IRS-IV und EpSSG-RMS 2005 routinemäßig eine Lymphknotenbiopsie empfohlen wird. Neue Techniken wie Sentinel-Lymphknotenbiopsie entweder mit Farbe oder mit einem radioaktiven Marker sollen, sofern möglich, durchgeführt werden (McMulkin et al. 2003). Bei regionaler Lymphknotenbeteiligung erhöht sich die Rate an Fernmetastasen. Eine Amputation erfolgt nur bei lokalem Rezidiv. Die Indikation zur primären Amputation stellt sich eventuell in ganz vereinzelten Fällen einmal bei kleinen Kindern, bei denen die Radiotherapie das Knochenwachstum stark beeinträchtigen würde oder bei Tumoren im Bereich des Gefäßnervenbündels. Auf die chirurgische Tumorexzision folgt Chemotherapie und Radiotherapie. Die Überlebungsrate für RMS mit negativen Lymphknoten liegt bei etwa 80%, bei positivem Lymphknotenstatus nur bei 46%.
47.2.9
Remissionsrate
Die 5-Jahres-Überlebenssrate von RMS ist abhängig von Lokalisation, Stadium und klinischer Gruppe zur Zeit der Diagnose. Die SIOP-MMT 89-Studie umfasst 503 Patienten (1989–1995) und wird verglichen mit dem IRS-IIIStudie, die 1062 Patienten umfasst (1984–1991) (Stevens et al. 2005; Christ et al. 1995).
47.2.10 Spätmorbidität Die genaue prognostische Einschätzung eines Tumors bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung ist enorm wichtig. Tumoren mit einer guten Prognose dürfen nicht ein »Zuviel« an Therapie bekommen, um die Spätmorbidität möglichst zu minimieren. Tumoren mit einer schlechten Prognose dagegen müssen aggressiver behandelt werden, um die Rezidivrate zu erniedrigen und die Überlebenschance zu optimieren. Nachsorgeuntersuchungen sollen die möglichen Folgen der Chemo- und Radiotherapie und des chirurgischen Eingriffs aufdecken, um frühzeitig eine gezielte Therapie einleiten zu können. Im Einzelnen sind dies:
. Tab. 47.7. 5-Jahres-Überlebensrate der Rhabdomyosarkome in % SIOP-MMT 89-Studie
IRS-III-Studie
GÜ
EFÜ
GÜ
EFÜ
Total
71
57
84
78
Alveolär
38
27
71
64
Embryonal
78
63
87
82
Involvierte Lymphknoten
60
51
64
59
MMT-Stadium I
80
61
93
86
MMT-Stadium II
66
55
80
74
MMT-Stadium III
60
51
64
59
Primäre Lokalisation Orbita
85
53
100
93
Kopf-Hals, nicht-parameningeal
64
35
89
83
Kopf-Hals, parameningeal <3 Jahre
59
33
64
60
≥3 Jahre
65
62
78
73
Urogenitaltrakt Harnblase/Prostata
80
64
86
79
Urogenitaltrakt, nicht Harnblase/Prostata
94
82
90
83
Extremitäten
46
35
71
64
Andere
63
54
81
77
MMT Malignant Mesenchymal Tumor Study; IRSG Intergroup Rhabdomyosarcoma Study Group; GÜ Gesamtüberlebensrate; EFÜ ereignisfreie Überlebensrate (nach Donaldson u. Anderson 2005)
4 Nephrologische Untersuchung (Nephropathie) 4 Kardiologische Untersuchung (Kardiomyopathie) 4 Hepatologische Untersuchung (Lebererkrankung nach Operation, Zytostatika bzw. Infektionen) 4 Endokrinologische Untersuchung (Wachstums-/Pubertätsverzögerung) 4 Kosmetische Probleme 4 Fertilitätsstörungen 4 Funktionelle Defizite, entweder neurologisch oder organisch bedingt, des Hörvermögens, Lungenfunktion, Kontinenz, muskuloskelettales System (Amputation) 4 Sekundäre Malignome
47.3
Nicht-RMS-Weichteilsarkom
Die übrigen malignen Weichteiltumoren kommen viel seltener vor. Sie sind eine heterogene Gruppe von Subtypen, die man als Nicht-RMS-Weichteilsarkome (nRMSWS) bezeichnet.
611 47.3 · Nicht-RMS-Weichteilsarkom
Für die Mehrzahl der Weichteilsarkome ist die tatsächliche Histiogenese nicht bekannt. Deshalb erfolgt die Klassifikation vorwiegend nach dem Phänotyp. Die Typisierung der Tumoren wird nach der WHO-Klassifikation vorgenommen (Weiss 1994). Unterschieden werden Fibrosarkome, Neurofibrosarkome, maligne periphere Nervenscheidentumoren (MPNST), maligne fibröse Histiozytome (MFH), Synovialsarkome, Hämangioperizytome und Leiomyosarkome. Diese Tumoren gehören zur Differenzialdiagnose eines RMS. Die häufigsten sind Fibrosarkome, Neurofibrosarkome und Synovialsarkome. Die meisten nRMSWS präsentieren sich mit einer schmerzlosen Schwellung, wobei die Symptomatik erst später durch die zunehmende Raumforderung bestimmt wird. Manchmal zeigen sie Symptome, die durch die Infiltration in Nachbarstrukturen verursacht werden. Lymphknotenmetastasen sind – abgesehen vom Synovialsarkom (15–30%) – bei Weichteilsarkomen selten (15%). Die hämatogene Metastasierung erfolgt vor allem in die Lunge, seltener in Leber und Skelett. Prognose: Bei ungefähr 90% der Kinder kann man mit Chirurgie allein oder mit Chirurgie plus Nachbestrahlung eine lokale Kontrolle erzielen. Die ereignisfreie Überlebensrate liegt aber nur bei etwa 50%.
. Abb. 47.8. Weibliches Neugeborenes mit einem Fibrosarkom des linken Fußes
Übersicht Klassifikation der Nicht-RMS-Weichteilsarkome 4 4 4 4 4 4 4 4
47.3.1
Fibrosarkom Neurofibrosarkom Maligner peripherer Nervenscheidentumor Malignes fibröses Histiozytom Synovialsarkom Hämangioperizytom Leiomyosarkom Rhabdoidtumor
Epidemiologie
Obwohl die nRMSWS bei Kindern jeden Alters beschrieben sind, ist die Inzidenz der verschieden histologischen Typen der nRMSWS abhängig von Patientenalter und Lokalisation. Sie kommen am häufigsten an den Extremitäten vor, gefolgt vom Körperstamm, Abdomen, Thorax und Kopf-Hals-Gebiet. Im Bereich der Extremitäten sind dies vor allem Synovialsarkome im Bereich der Beine. Am Körperstamm dominiert meistens das maligne fibröse Histiozytom (MFH) oder Tumoren neurogener Herkunft. Fibrosarkome sieht man mehr bei kleinen Kindern (<1 Jahr; . Abb. 47.8), Synovialsarkome und maligne periphere Nervenscheidentumoren (. Abb. 47.9) hingegen häufiger bei Kindern über 10 Jahren. Beschrieben sind auch prädisponierende Komorbiditäten. Eine Neurofibromatose findet sich bei 40-70%
. Abb. 47.9. MRT eines malignen Nervenscheidentumors in einer typischen Lokalisation bei einem 4-jährigen Jungen
der Patienten mit malignen peripheren Nervenscheidentumoren. Auch zum Down-Syndrom, Spina bifida und vorhergehender Bestrahlung scheinen Assoziationen zu bestehen.
47.3.2
Prognostische Faktoren
Die klinischen Aussichten für Kinder mit vollständig entfernten nRMSWS sind gut. Trotzdem tritt in über 20% ein lokoregionales Rezidiv oder Fernmetastasen auf. Darum ist es wichtig, prognostische Faktoren zu identifizieren, um diese Kinder adjuvant zu behandeln (Rao 1993). Risikofaktoren für das Auftreten eines lokoregionales Rezidiv unter-
47
612
Kapitel 47 · Weichteiltumoren aller Lokalitäten
. Tab. 47.8. Prognostische Faktoren der Nicht-RMS-Weichteilsarkome Lokoregionales Rezidiv
Fernmetastase
Erniedrigte Überlebungschance
Makroskopisch tumorpositiver Schnittrand
Invasives Wachstum
Makroskopisch tumorpositiver Schnittrand
Tumorgröße (>5 cm)
Tumorgröße (>5 cm)
Tumorgröße (>5 cm)
Keine Radiotherapie
Hoher histologischer Grad
Hoher histologischer Grad
Primärtumor intraabdominell
47
Primärtumor intraabdominell
scheiden sich von Risikofaktoren für das Entstehen von Fernmetastasen (. Tab. 47.8). Der histologische Grad eines Tumors ist ein stärkerer prognostischer Faktor für Tumorresponse und Aussicht als die pathologische Klassifikation. Die meisten nRMSWS bei Kindern neigen zu Immaturität und schlechter Differenzierung. Ungefähr die Hälfte der Tumoren haben eine histologischen Grad 3. Ausnahmen davon sind das maligne fibröse Histiozytom (MFH) und das Fibrosarkom.
Übersicht Histologische Differenzierung von nRMSWS (POG) 4 Grad 1 – Myxoide, gut differenzierte Liposarkome – Dermatofibrosarkoma protuberans – Gut differenziertes oder infantiles (Alter <5 Jahre) Fibrosarkom – Gut differenziertes oder infantiles (Alter <5 Jahre) Hämangioperizytom – Gut differenzierter maligner peripherer Nervenscheidentumor – Angiomatoides malignes fibröses Histiozytom 4 Grad 2 – Sarkome die nicht in Grad 1 oder 3 inbegriffen sind, mit <15% Nekrose, Mitoseindex <5–10/ Feld, ohne Kernatypien 4 Grad 3 – Pleomorphes oder rundzelliges Liposarkom – Mesenchymales Chondrosarkom – Extraskelettales Osteosarkom – Maligner Tritontumor – Rhabdoidtumor – Alle anderen Sarkome, die nicht in Grad 1 oder 2 inbegriffen sind, mit >15% Nekrose oder einem Mitoseindex >5–10/Feld
47.3.3
Therapie
Fibrosarkom Das Fibrosarkom ist ein maligner Fibroblastentumor, der meistens keine zelluläre Differenzierung zeigt und knapp 1% der malignen Tumoren umfasst (. Abb. 47.8). Ein hohes Rezidivrisiko ist charakteristisch, wobei fast nie Fernmetastasen auftreten. Unter einem Patientenalter von 5 Jahren sind sie fast immer Grad 1. Sie werden mit einer radikalen chirurgischen Exzision behandelt. Die Rolle der Chemotherapie ist nicht klar. Die Behandlungserfolge sind altersabhängig und liegen beinahe bei 100% Heilungschance für die infantilen oder kongenitalen Fibrosarkomen. Die 5-Jahres-Überlebenssrate bei älteren Kindern ist etwa 60%. Dieser Tumor gehört zu dem Spektrum der (myo-)fibroblastischen Tumoren.
Übersicht Fibroblastische/myofibroblastische Tumoren 4 Benigne: z. B. Gardner-Fibrom 4 Intermediär (lokal aggressiv): z. B. Desmoid Typ Fibromatose 4 Intermediär (selten Metastasierung): z. B. infantiles Fibrosarkom 4 Maligne: z. B. Fibrosarkom vom adulten Typ
Innerhalb der WHO 2002-Klassifikation der Weichteilsarkome werden Fibromatosen in 2 Gruppen verteilt: 4 Oberflächige Fibromatose (palmär/plantär) 4 Desmoid Typ Fibromatose (aggressive Fibromatose) Letzteres wird definiert als klonale fibroblastische Proliferationen, die in tiefen Weichteilen entstehen und durch ein infiltratives Wachstum und eine Neigung zur lokalen Rezidivierung ohne Fernmetastasierung charakterisiert sind. Synonyme sind aggressive Fibromatose, muskuloaponeurotische Fibromatose, oder Desmoidtumor. Desmoidtumoren können entweder sporadisch entstehen oder im Rahmen einer familiären adenomatösen Polyposis coli (FAP) vorkommen. Man kann sie auch je nach anatomischem Befund in extraabdominelle Tumoren, Bauchdeckentumoren oder intraabdominelle Tumoren einteilen. Therapie. Die Behandlung ist eine weite Exzision mit einer Marge von 2 cm. Mikroskopisch tumorpositiver Schnittrand, Reoperation, und postoperative Radiotherapie sind bei thorakalen Befund assoziiert mit einem hohen Risiko für ein Lokalrezidiv (Abbas et al. 2004).
Maligner peripherer Nervenscheidentumor Tumoren, die von den peripheren Nervenscheiden ausgehen, stellen ungefähr 5% aller Weichteilsarkome bei Kindern (. Abb. 47.9). Sie sind unter vielen Synonymen be-
613 47.3 · Nicht-RMS-Weichteilsarkom
kannt, wie Neurofibrom, Neurofibrosarkom, malignes Schwannom oder maligner peripherer Nervenscheidentumor. Ein Zusammenhang mit der Neurofibromatose Typ I kommt bei 20–60% vor. Aber auch eine Assoziation mit einer vorhergegangenen Bestrahlung wird beschrieben. Prädilektionsstellen sind Extremitäten (42%), Retroperitoneum (25%) oder Körperstamm (21%). Therapie. Die malignen peripheren Nervenscheidentumoren (MPNST) wachsen an den Nerven entlang, neigen zum Lokalrezidiv und Fernmetastasen. Deswegen ist eine radikale Exzision (R0) oder Nachbestrahlung bei marginaler Exzision (R1) mit mikroskopischem Tumorrest wichtig, um sowohl ein Rezidiv als auch Fernmetastasen zu verhindern. Die Wirksamkeit der adjuvante Chemotherapie ist bei diesen Tumoren nicht sicher geklärt. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei 35–40%.
Malignes fibröses Histiozytom Zur Gruppe des malignen fibrösen Histiozytom (MFH) gehören ungefähr 8–10% aller Weichteilsarkome (Sonmelet-Olive et al. 1995). Sie kommen bei Kindern seltener vor als bei Erwachsenen. Es handelt sich um einen chemotherapiesensiblen Tumor, der eines der am häufigsten vorkommenden bestrahlungsinduzierten Sarkome ist. Das MFH kommt am Körperstamm, an den Extremitäten und am Kopf vor. Bei Diagnosestellung finden sich fast nie Fernmetastasen (1-5%). Eine spezielle Form ist das angiomatöse MFH, das sich in 70% der Fälle in der ersten Lebensdekade manifestiert. Über 85% dieser Variante entstehen an den Extremitäten und sind langsam wachsende Tumoren. Therapie. Wie auch bei den anderen nRMSWS ist eine R0 Exzision die Therapie der Wahl. Die 5-Jahres-Überlebensrate des MFH liegt bei etwa 60%, bei 40% der Patienten entstehen Lokalrezidive und Fernmetastasen. Das angiomatöse MFH hingegen zeigt selten Lokalrezidive und hat eine höhere Überlebensrate.
Synovialsarkom Synovialsarkome sind mesenchymalen Ursprungs, hier wahrscheinlich ausgehend von primitiven Vorläuferzellen der Synovia. Mit einer Inzidenz von 7% aller Weichteiltumoren und 30–50% aller nRMSWS sind sie die am häufigsten vorkommenden Sarkome. In 80% der Fälle entstehen sie an den (bevorzugt unteren) Extremitäten in der Nähe von Sehnen, Bursen und Gelenkkapseln. Meistens wachsen sie nichtinvasiv. Histologisch zeigen sie 3 verschiedene Varianten: biphasisch, monophasisch und schlecht differenziert. Die biphasische Variante ist am differenziertesten. Therapie. Diese Tumoren sind chemo- (VAC oder VIA)
und radiosensibel. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt abhängig vom IRS-Stadium bei 29–89%.
Hämangioperizytom 3% aller Weichteilsarkome bei Kindern sind Hämangioperizytome. Sie zeigen einen infantilen und einen adulten Typ. Die infantile Variante hat einen gutartigeren Verlauf und kann sogar spontan in Regression übergehen. Die adulte Form kommt in 5–10% vor und ist ein maligner Tumor, der von vaskulären Perizyten der Blutgefäße ausgeht. Obwohl sich Hämangioperizytome bei älteren Kindern aggressiver verhalten als bei Säuglingen und Kleinkindern, ist die Prognose bei Kindern im Allgemeinen günstiger als bei Erwachsenen. Die häufigsten Lokalisationsorte sind Extremitäten, gefolgt von Retroperitoneum, Kopf-Hals und Körperstamm. Die Fernmetastasierung erfolgt vor allem in Lunge und Skelett. Therapie. Eine R0-Exzision mit postoperativer Chemothe-
rapie ist die Therapie der Wahl. Eine Bestrahlung wird bei nicht-radikalen Resektionen durchgeführt. Die 5-JahresÜberlebensrate liegt je nach Stadierung, bei 30–70%.
Leiomyosarkom Das Leiomyosarkom, das aus glatten Muskelzellen entsteht, hat eine Inzidenz von 2% aller kindlicher Neoplasmata. Es kommt an verschiedenen Lokalisationen vor, favorisiert aber den Gastrointestinaltrakt und hier ganz besonders den Magen. Bestrahlung, HIV-Infektion oder Immunsuppression bei Organtransplantation können prädisponierende Faktoren sein. Therapie. Radikale Exzision ohne adjuvante Behandlung ist
die Therapie der Wahl. Falls das nicht möglich ist, wird eine Chemotherapie mit Anthrazyklinen und alkylierenden Substanzen mit Radiotherapie kombiniert. Die 5-JahresÜberlebensrate liegt bei circa 80%.
Liposarkom Liposarkome sind bei Kindern selten. Ihr Entstehungsort ist meistens das Fettgewebe der Extremitäten oder des Retroperitoneums. Es ist ein langsam wachsender Tumor, der bei Diagnose öfters bereits ziemlich groß ist. Der Tumor ist meistens von einer Pseudokapsel umgeben und fast immer sehr gut differenziert. Histologisch gibt es 4 Subtypen: myxoid, rundzellig, gut differenziert und pleiomorph. Der myxoide Subtyp kommt am häufigsten vor (LaQuaglia et al. 1998). Sie müssen differenziert werden von benignen Lipomen und Lipoblastomen sowie der sehr seltenen Lipoblastomatose, wobei aber die histologische Differenzierung zum Lipoblastom oft schwierig sein kann (Miller et al. 1998). Hier kann ein spezifischer Gendefekt der malignen Liposarkomzellen unter Umständen eine Differenzierung ermöglichen. Therapie. Da Liposarkome eine Neigung zum Lokalrezidiv zeigen, sollten sie radikal entfernt werden. Obwohl sie meistens chemo- und radioresistent sind, wird Bestrah-
47
614
Kapitel 47 · Weichteiltumoren aller Lokalitäten
lung bei einem mikroskopischen nachweisbarem Tumorrest empfohlen.
Rhabdoidtumoren Rhabdoidtumoren (RT) sind sehr seltene, hochmaligne embryonale Tumoren, die fast ausschließlich Säuglinge und Kleinkinder betreffen. Die häufigsten Lokalisationen sind die Niere, das ZNS und Weichgewebe. RT wurden jedoch auch quasi allen Organen beschrieben (Reinhard et al. 2008). Histologisch ähneln diese Tumoren in vielen Aspekten Rhabdomyosarkomen, verhalten sich jedoch sehr viel aggressiver und sprechen nur sehr schlecht auf Chemotherapie und Bestrahlung an, Fernmetastasen treten schon früh auf. So ist auch heute noch die Prognose von Kindern mit diesem Tumor sehr schlecht. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass alle RT einen spezifischen Gendefekt mit einem Verlust des SMARCB1/SNF5/INI1-Tumorsuppressorgens aufweisen, der mit einer Translokation (1;22) (p36;q11.2) im Zusammenhang steht und der wahrscheinlich die hohe Malignität der RT bedingt (Kohashi et al. 2007). Dies definiert den RT auch endgültig als eigene Tumorentität und erklärt die Prädisposition in Familien mit heterozygoten INI1-Mutationen.
47
> Histologisch können Rhabdoidtumoren (RT) leicht mit Rhabdomyosarkomen verwechselt werden. Dann muss der RT mittels Nachweis des spezifischen Defekts im SMARKB1/SNF5/INI1 Gens diagnostiziert werden, um eine optimale Therapie einleiten zu können.
Therapie. Die Therapie muss angesichts des hohen Malignitätspotenzials aggressiv sein. Bei noch nicht metastasiertem RT sollte wenn möglich eine radikale Resektion angestrebt werden, gefolgt von adjuvanter Chemotherapie. Ist dieses nicht möglich oder liegen bereits Metastasen vor, muss mit einer breiten Zytostatikakombination versucht werden, eine Regression des Tumors zu erreichen. Nach einem im Rahmen der Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie (GPOH) initiierten, neuen Protokoll sollen hierfür Ifosfamid, Carboplatin, Etoposid, Vincristin, Cyclophosphamid und Doxorubicin über 24 Wochen, bei ZNS-Befall über 30 Wochen verabreicht werden. Ferner ist bei fehlender Radikalität auch einer »Second-look«-Operation eine intensive Stahlentherapie indiziert. Es bleibt abzuwarten, ob die derzeitigen Überlebensraten von insgesamt 25–30% (Tumor in Niere 24%, Weichteilen 30%, ZNS 29%) und nur 11% bei Metastasen verbessert werden können (Reinhard et al. 2008).
47.4
Zusammenfassung und Zukunftsperspektive
Die Behandlungsergebnisse der RMS haben sich in den letzten Jahrzehnten verbessert. Beigetragen dazu hat eine verbesserte Sicht der verschiedenen Risikofaktoren für Lokal-
rezidive, Fernmetastasen und Überleben. Eine Verbesserung der Kenntnis über biologische und genetische Tumorfaktoren, bessere Diagnostizierung der Risikogruppen und dadurch eine risikoadaptierte Behandlung (intensivierte Therapie für Hochrisikopatienten) werden zu einer weiteren Verbesserung der Ergebnisse beitragen. Unterstützend kann hier auch die Entwicklung neuer Chemotherapeutika sein. Die Nicht-RMS-Weichteilsarkome dagegen sind eine Sammlung verschiedenster Tumoren. Bei 90% der Kinder mit einem nRMSWS lässt sich nur durch die chirurgische Therapie eine lokale Tumorkontrolle erreichen. Die ereignisfreien Überlebensraten liegen aber nur bei 50%. Eine Verbesserung dieser Ergebnisse erfordert fundiertere Kenntnisse der biologischen und genetischen Faktoren der Tumorbiologie der unterschiedlichen Tumoren. Eine noch feinere Verzahnung von Chirurgie, Radio- und Chemotherapie ist dabei sicher ebenfalls wünschenswert. Dazu sind weitere internationale, multizentrische Studien, in denen klinische Risikofaktoren sowie biologische und genetische Tumorfaktoren an verschiedene Behandlungsstrategien gekoppelt werden, unverzichtbar.
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615 47.4 · Zusammenfassung und Zukunftsperspektive
Miller GG, Yanchar NL, Magee JF, Blair GK (1998) Lipoblastoma and liposarcoma in children: an analysis of 9 cases and a review of the literature. Can J Surg 41:455–458 Newton WA, Gehan EA, Webber MD, Marsden HB, van Unnik AJM, Hamoudi AB, Tsokos MC, Shimada H, Harms D, Schmidt D, Ninfo V, Cavazzana AO, Gonzalez-Crussi F, Parham DM, Reiman HM, Asmar L, Beltangady MS, Sachs NE, Triche TJ, Maurer HM (1995) Classification of rhabdomyosarcoma and related sarcomas. Cancer 76:1073– 85 Rao BN (1993) Nonrhabdomyosarcoma in children: Prognostic factors influencing survival. Semin Surg Oncol 9:524–531 Reinhard H, Reinert J, Beier R, et al. (2008) Rhabdoid tumors in children: prognostic factors in 70 patients diagnosed in Germany. Oncol Rep 19:819–823 Sonmelet-Olive D, Oberlin O, Flamant F, et al. (1995) Non-rhabdomyosarcoma malignamt mesenchymal tumors in children: results of SIOP MMT 84 and 89 protocols. Proc Am Soc Clin Ocol 14:446 Stevens MCG, Oberlin O, Rey A, Praquin MT, for the SIOP MMT Committee (1995) Non metastatic Rhabdomyosarcoma (RMS): Update from the SIOP MMT 89 study and implications for SIOP MMT 95. MPO 25:256 (abstract) Stevens MCG, Rey A, Bouvet N, Ellershaw C, Flamant F, Habrand JL, Marsden HB, Martelli H, Sanchez de Toledo J, Spicer JD, Spooner D, Terrier-Lacombe MJ, van Unnik A, Oberlinet O (2005) Treatment of nonmetastatic rhabdomyosarcoma in childhood and adolescence: Third study of the International Society of Paediatric Oncology – SIOP Malignant Mesenchymal Tumor 89. J Clin Oncol 23:2618– 2628 Treuner J, Brecht I (2006) Weichteilsarkome. In: Gadner H, Gaedicke G, Niemeyer C, Ritter J (Hrsg.) Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S. 865–881 Weiss SW (1994) Histological typing of soft tissue tumors, 2nd ed. Springer, Berlin Heidelberg New York Willis RA (1992) The borderland of embryology and pathology, 2nd ed. Butterworths, London
47
“This page left intentionally blank.”
48
48 Maligne Lymphome D. Wendling, D. von Schweinitz 48.1
Hodgkin-Lymphom
48.1.1 48.1.2 48.1.3 48.1.4 48.1.5 48.1.6 48.1.7 48.1.8
Vorkommen und Inzidenz – 617 Ätiologie und Pathologie – 618 Klinik – 618 Diagnostik – 619 Stadieneinteilung – 620 Therapie – 620 Nachsorge – 621 Prognose – 621
– 617
48.2
Non-Hodgkin-Lymphome
48.2.1 48.2.2 48.2.3 48.2.4 48.2.5 48.2.6 48.2.7 48.2.8
Vorkommen und Inzidenz – 622 Ätiologie und Pathologie – 622 Klinik – 622 Diagnostik – 623 Stadieneinteilung – 623 Therapie – 623 Nachsorge – 624 Prognose – 624
– 622
Literatur – 625
> Das von Thomas Hodgkin 1832 erstmals beschriebene und nach ihm benannte Hodgkin-Lymphom (Hodgkin 1832) ist charakterisiert durch einkernige Tumorzellen (Hodgkin-Zellen) und/oder mehrkernige Tumorzellen (Reed-Sternberg-Zellen) sowie ein entzündliches Begleitinfiltrat. Selten sind Kinder unter 3 Jahren betroffen, danach zeigt sich jedoch eine zunehmende Inzidenz mit zwei Häufigkeitsgipfeln im Erwachsenenalter. Ursprünglich wurde die Krankheit durch alleinige Radiatio therapiert, in den 60er-Jahren konnte dann das Bestrahlungsfeld zunehmend reduziert und Chemotherapeutika eingesetzt werden. Seit den 80er-Jahren betragen die Heilungsraten hierbei über 90%, so dass mittlerweile das Augenmerk zunehmend auf die Vermeidung von Spätfolgen der Therapie gerichtet ist. Das Non-Hodgkin-Lymphom ist ebenfalls eine maligne Erkrankung des lymphatischen Systems. Meist sind Lymphknoten von Hals, sowie Darm, Retroperitoneum, Mediastinum und des HNO-Bereiches betroffen, wobei fast die Hälfte der NHL des Kindesalters Burkitt-Lymphome sind. Je nach Subtyp des NHL kommt es zur malignenEntartung entweder von Vorläufer-T- und -BZellen oder auch von weit ausdifferenzierten Lymphozyten. Im Gegensatz zum NHL beim Erwachsenen sind die NHL im Kindesalter fast immer hochaggressiv undbereits bei der Erstdiagnose disseminiert. Aufgrund des raschen Wachstums kann es daher bei erkrankten Kindern zu akuten Komplikationen durch Kompression benachbarter Strukturen (Trachea, Darm etc.) kommen sowie
auch schon vor Therapiebeginn zum sog. Tumorlysesyndrom. Die Überlebenswahrscheinlichkeit der NHL liegt insgesamt bei über 80%.
48.1
Hodgkin-Lymphom
48.1.1
Vorkommen und Inzidenz
Das Hodgkin-Lymphom (ehemals Morbus Hodgkin, Lymphogranulomatose) macht im Kindesalter 5% aller malignen Erkrankungen sowie 44% aller Lymphome aus und zählt hiermit zu den häufigsten malignen Erkrankungen im Kindesalter. Die Inzidenz des Hodgkin-Lymphoms beträgt in Deutschland 0,7/100.000 Kinder unter 15 Jahre, wobei die Erkrankung selten vor dem dritten Lebensjahr auftritt sowie mit zunehmendem Alter eine steigende Inzidenz mit Häufigkeitsgipfel im Erwachsenenalter zu verzeichnen ist. Es besteht zudem bei Kindern unter 15 Jahren eine männliche Prädisposition (Kaatsch u. Spix 2002). Hierbei fiel im Rahmen der Studie GPOH-HD 95 (GPOH – Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie) zudem auf, dass der lymphozytenprädominante und der gemischtzellige Subtyp bei den Jungen häufiger ist, während bei den Mädchen die noduläre Sklerose mit 79% in allen Altersstufen dominiert. Des Weiteren konnte eine familiäre Prädisposition beobachtet werden (Goldin et al. 2004), wobei eine Kombination aus umweltbedingten (z. B. Infektionen) und gene-
618
Kapitel 48 · Maligne Lymphome
tischen Faktoren angenommen wird. Denn zum einen wurde in Familien mit höherem sozioökonomischem Status, die oftmals kleiner sind und eine spätere Infektionsexposition bieten, ein erhöhtes Erkrankungsrisiko ermittelt (Gruffermann et al. 1984). Zum anderen wurde bei eineiigen Zwillingen im Vergleich zu zweieiigen ein erhöhtes Risiko, ebenfalls zu erkranken, festgestellt (Mack et al. 1995). Ein weiterer Risikofaktor ist ein angeborener oder erworbener Immundefekt, z. B. iatrogen im Rahmen einer Organtransplantation oder bei Infektion mit dem HIV (Goedert et al. 1998; Garnier et al. 1996), wobei allerdings auch viele vorher gesunde Hodgkin-Patienten zum Zeitpunkt der Diagnosestellung eine zelluläre Immundefizienz aufweisen. Zudem wurde erkannt, dass nach abgelaufener infektiöser Mononukleose ebenfalls ein erhöhtes Risiko besteht, an M. Hodgkin zu erkranken, da EBV-Genome in Reed-Sternberg-Zellen nachgewiesen werden konnten (Hjalgrim et al. 2000).
48.1.2
48
Ätiologie und Pathologie
Beim sog. klassischen Hodgkin-Lymphom finden sich typischerweise einkernige Hodgkin-Zellen und mehrkernige Reed-Sternberg-Zellen (Reed 1902; Sternberg 1898). Diese eigentlichen Tumorzellen bilden in der Regel weniger als 3% der Hodgkin Infiltrate (Granulome). Sie sind von sog. Bystander-Zellen bzw. einem reaktiven Begleitinfiltrat umgeben, das durch die Zytokinsekretion der Reed-SternbergZellen induziert wird und aus Lymphozyten, Histiozyten, Plasmazellen, Eosinophilen, Neutrophilen und Fibroblasten besteht sowie teilweise auch eine Fibrose bzw. Sklerose entwickelt. Die Herkunft der Tumorzellen von präapoptotischen germinalen B-Zellen wurde anhand von nachweisbaren klonalen Immunglobulin-Gen-Rearrangements gezeigt, wobei sich die Apoptoseresistenz der Reed-Sternberg-Zellen durch die konstitutive Aktivität des antiapoptotisch wirksamen Transkriptionsfaktors Nuklearfaktor κ-B (NFκ-B) erklärt. Selten gibt es auch T-Zell-Hodgkin-Lymphome (Küppers et al. 2000). Histologisch fällt die Hodgkin-Zelle als Blast mit großem bohnenförmigem Nukleus und lymphozyten-großem Nukleolus auf. Die Reed-Sternberg-Zelle entsteht durch Fusion von Hodgkin-Zellen und zeichnet sich durch ihre Größe (15–45 μm) und ihren prominenten eosinophilen Nukleolus mit Halo aus. Im Gegensatz zu diesem klassischen Hodgkin-Lymphom besteht das noduläre lymphozytenprädominante Hodgkin-Lymphom aus transformierten germinalen B-Zellen, wobei sich hier vorwiegend Lymphozyten und Histiozyten im Begleitinfiltrat befinden (Marafioti et al. 1997). Die aktuelle WHO-Klassifikation der malignen Lymphome (Harris et al. 1999) berücksichtigt diese zelluläre Zusammensetzung der verschiedenen Subtypen von HodgkinLymphomen, so dass folgende Unterteilung vorgenommen
wird (die relative Häufigkeit entsprechend der Angaben der Studie GPOH-HD 95 ist in Klammern angegeben): 4 Noduläres lymphozytenprädominantes HodgkinLymphom (NLPHL oder LPHD; 9%). In <1% der Fälle findet sich die diffuse Variante im Gegensatz zur knotigen nodulären. 4 Klassisches Hodgkin-Lymphom (CHL): Es wird in 4 Subtypen gegliedert, die sich sowohl durch ihren unterschiedlichen Anteil an Reed-Sternberg-Zellen (entsprechend der Anordnung unten ist die Anzahl zunehmend) als auch durch die zelluläre Zusammensetzung des Begleitinfiltrates und die Anordnung der extrazellulären Matrix unterscheiden. 5 Lymphozytenreiches klassisches Hodgkin-Lymphom (LRCHL oder LR; 1%): Hier besteht das Begleitinfiltrat hauptsächlich aus Lymphozyten, es finden sich keine Eosinophilen oder Neutrophilen und auch keine Fibrose. 5 Noduläre Sklerose (NS; 68%): Das knotig angeordnete Begleitinfiltrat zeigt sich gemischtzellig und ist umgeben von polarisationsoptisch doppelbrechenden und PAS-positiven Kollagenfaserbündeln. 5 Mischtyp (MC; 21%: Es zeigt sich eine heterogene Mischung von Reed-Sternberg-Zellen, Plasmazellen, Fibroblasten, Lymphozyten, Eosinophilen, Neutrophilen, Granulozyten und Histiozyten, jedoch fehlen hier bandförmige Fibrosen. 5 Lymphozytenarmer Typ (LD; <1%) Des Weiteren ist eine immunophänotypische Unterscheidung der Zellen möglich. Bisher konnten beim M. Hodgkin keine charakteristischen Chromosomentranslokationen oder Mutationen in Onkogenen oder Tumorsuppressorgenen gefunden werden, allerdings wurden in den ReedSternberg-Zellen zahlreiche komplexe chromosomale Aberrationen entdeckt (Sarris et al. 1999). In Fällen einer stattgefundenen EBV-Infektion können klonale EBV-Genome in den Reed-Sternberg-Zellen nachgewiesen werden.
48.1.3
Klinik
Das häufigste Symptom beim M. Hodgkin ist die indolente Lymphknotenvergrößerung. Die Lymphknoten sind gummiartig oder derb tastbar und meist verschieblich, es kann sich hierbei sowohl um einzelne Lymphknoten handeln als auch um Lymphknotenpakete. Bei raschem Wachstum kann der Lymphknoten auch leicht schmerzhaft sein. Meist sind zervikale oder supraklavikuläre Lymphknoten betroffen, seltener auch axilläre oder inguinale. Bei Kindern und Jugendlichen tritt in 75% der Fälle ein mediastinaler Befall auf. Hierbei kommt es oftmals aufgrund der Kompression von Trachea, Karina oder den Hauptbronchien zu respiratorischen Symptomen wie Dyspnoe und chronischem Husten oder Stridor sowie einer
619 48.1 · Hodgkin-Lymphom
venösen Einflussstauung (Jeffery et al. 1991). Daher erfolgt nicht selten zunächst die Therapie eines vermeintlichen Asthma bronchiale. Meist sind bei Mediastinaltumoren auch die zervikalen oder supraklavikulären Lymphknoten vergrößert. ! Cave Eine Kompression der Atemwege kann symptomlos sein, bis das Kind im Rahmen einer diagnostischen Maßnahme sediert wird. Bei distaler Obstruktion ist evtl. eine Beatmung technisch kaum möglich. Daher muss bei allen Patienten mit Verdacht auf M. Hodgkin vor einer Sedierung eine Röntgen-Thorax-Aufnahme angefertigt werden.
Auch eine Hepatomegalie oder Splenomegalie kann auftreten (Mauch et al. 1993). Ein Knochenmarksbefall tritt insgesamt in 4–14% der Fälle auf, im Stadium IV nach der Ann-Arbor-Klassifikation sind es 32% der Fälle (Munker et al. 1995). Des Weiteren gehören zur Klinik die sog. B-Symptome, die Körpertemperaturen über 38°C sowie Nachtschweiß und einen Gewichtsverlust von über 10% innerhalb von 6 Monaten beinhalten. Diese B-Symptomatik tritt bei ca. einem Drittel der betroffenen Kinder und Jugendlichen auf und ist ein entscheidender Faktor bei der Stadieneinteilung (s. unten). Häufig wird auch eine erworbene zelluläre Immundefizienz beobachtet, die zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen mit Viren, Pilzen, Bakterien und Parasiten führt. Unspezifische Symptome sind Pruritus, Müdigkeit und Anorexie. In Einzelfällen sind auch paraneoplastische Syndrome beschrieben, z. B. das nephrotische Syndrom (Cavalli 1998; Poppema et al. 1999).
48.1.4
und eine Echokardiographie durchgeführt werden sowie die Serologie von bestimmten Viren und Toxoplasma gondii erfolgen. Zur Dokumentation und Verlaufskontrolle wird eine Sonographie aller peripheren Lymphknotenregionen sowie des oberen und vorderen Mediastinums und des Abdomens inklusive der Beurteilung von Leber und Milz durchgeführt, wobei die Ultraschalluntersuchung bei nodalem Milzbefall sogar der MRT und CT überlegen ist (. Abb. 48.1). Die HNO-ärztliche Untersuchung des Waldeyer-Rachenrings muss ebenfalls erfolgen. Zudem werden zur Beurteilung der mediastinalen Beteiligung und einer evtl. Kompression der Atemwege eine Röntgenuntersuchung des Thorax und zur Beurteilung eines Lungenbefalls eine Niedrigdosis-Computertomographie oder MRT des Thorax benötigt sowie zum weiteren Staging eine MRT oder CT von Hals, Abdomen und Becken (. Abb. 48.2). Diese Befunde werden auch zur Verlaufsbeurteilung und Strahlentherapieplanung herangezogen. Bei Verdacht auf knöchernen Befall erfolgt eine Ganzkörperszintigraphie, bei hierbei auffälligen Arealen sollte ggf. eine weitere
Diagnostik
Körperliche Untersuchung. Größe und Lokalisation aller palpierbaren Lymphknoten müssen erfasst werden und aufgrund des Ausbreitungsweges per continuitatem ist v. a. auf benachbarte Lymphknotengruppen zu achten. Des Weiteren muss auf eine evtl. Kompression der Atemwege sowie eine Hepatosplenomegalie, Hautinfiltration und neurologische Auffälligkeiten geachtet werden.
. Abb. 48.1. Sonographischer Befund eines Milzbefalls bei M. Hodgkin
Labordiagnostik. Meist ergeben sich unspezifische Entzündungszeichen; die Blutsenkungsgeschwindigkeit ist in der Regel deutlich beschleunigt, LDH, Ferritin und Kupfer im Serum sind meist erhöht. Diese Parameter können ggf. zur Verlaufskontrolle während und nach der Therapie verwendet werden. Eine Panzytopenie weist auf eine mögliche Knochenmarksbeteiligung hin. Bildgebende Diagnostik. Vor Beginn der Chemotherapie
müssen zur Bestimmung des Ausgangsstatus und zur Verlaufsbeurteilung von möglichen Nebenwirkungen ein EKG
. Abb. 48.2. Mediastinaler Befall bei M. Hodgkin
48
620
Kapitel 48 · Maligne Lymphome
Bildgebung der betroffenen Strukturen folgen. Empfohlen wird außerdem sowohl zum Staging als auch zur Verlaufsbeurteilung eine Positronenemissionstomographie mit Fluorodesoxyglukose (FDG-PET), das nodale und extranodale Manifestationen sensitiver und spezifischer als das CT detektiert (Körholz et al. 2003). Biopsie. Bei Vorhandensein von B-Symptomen und bei Stadium III und IV sowie bei einem auffälligen Blutbild müssen 1–2-Knochenmarkstanzbiopsien entnommen werden (Mahoney et al. 1998). In seltenen Fällen kann mit bildgebenden Maßnahmen allein keine Aussage über einen etwaigen abdominellen oder retroperitonealen Befall getroffen werden, so dass dann eine selektive Laparoskopie zur Biopsie verdächtiger Herde erfolgen muss. Heutzutage wird auch in diesen Fällen im Gegensatz zu früher keine Splenektomie mehr durchgeführt. Zudem kann es manchmal zur exakten Stadieneinteilung notwendig werden, mehr als nur eine auffällige Lymphknotenregion zu biopsieren. Bei Verdacht auf Skelettbefall muss auch hier eine Biopsie entnommen werden. > Die entscheidende zur Diagnose führende Untersuchung beim M. Hodgkin ist die Lymphknotenbiopsie bzw. die Probeentnahme aus dem befallenen Gewebe.
48
Hierbei sollte möglichst frisches Material ohne Formalin zur histopathologischen Untersuchung gebracht werden, um neben den pathognomonischen Reed-Sternberg-Zellen mit Begleitinfiltrat auch zytologische (Tumortupfpräparat), immunhistologische und ggf. molekulargenetische Untersuchungen durchführen zu können. Letzteres kann v. a. bei der Differenzierung gegenüber Non-Hodgkin-Lymphomen eine entscheidende Rolle spielen. Bei schlechtem klinischem Zustand kann eine Probebiopsie in Lokalanästhesie oder Materialgewinnung durch z. B. eine Pleura- oder Knochenmarkspunktion in Erwägung gezogen werden. Zudem wird in der aktuellen Leitlinie der Deutschen Krebsgesellschaft und der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (2008) stets die Bestätigung der histologischen Klassifikation durch einen Referenzpathologen empfohlen.
48.1.5
Stadieneinteilung (. Abb. 48.3)
Das Hodgkin-Lymphom wird durch die von der UICC modifizierte und aktualisierte Ann-Arbor-Klassifikation in 4 Ausbreitungsstadien eingeteilt (. Tab. 48.1; Wittekind et al. 2002). Als »bulky disease« wird ein Mediastinaltumor bezeichnet, dessen Breite ein Drittel des inneren Thoraxdurchmessers auf der Höhe von BWK 5–6 übersteigt.
48.1.6
Therapie
Die früher übliche Hochdosisstrahlentherapie und Chemotherapie-Kombinationsschemata führten zwar zur Heilung, waren jedoch mit massiven Spätfolgen behaftet, u. a. mit Wachstumsstörungen, Sekundärmalignomen (Mammakarzinom, Schilddrüsenkarzinom) sowie einer eingeschränkten Lungenfunktion. Daher hat sich mittlerweile eine risikoadaptierte kombinierte Therapiestrategie durchgesetzt, die reduzierte Bestrahlungsdosen und -volumina in Kombination mit Chemotherapie beinhaltet mit dem Ziel hoher Heilungsraten bei jedoch reduzierten therapiebedingten Komplikationen und Langzeitschäden (Dörffel u. Schellong 2005). Hierbei unterscheidet man einerseits die niedrigen Stadien IA und IIA und andererseits die fortgeschrittenen Stadien IIIA, IIIB und IV sowie alle Stadien mit B-Symptomatik und »bulky disease«. Im frü-
Differenzialdiagnose. Differenzialdiagnostisch sind bei
Lymphknotenschwellungen zu erwägen: 4 Infektionen (Toxoplasmose, Tbc, MOTT, EBV etc.) 4 Non-Hodgkin-Lymphome 4 Weichteilsarkome 4 Neuroblastom 4 Lymphknotenmetastasen, insbesondere von Weichteilsarkomen, Nasopharynxkarzinomen und Schilddrüsenkarzinomen 4 Histiozytose 4 Benigne Malformationen (z. B. Halszyste, 7 Kap. 19) 4 Zudem ist bei Raumforderungen im vorderen Mediastinum zu bedenken, dass der Thymus seine maximale Größe in einem Alter von 10 Jahren erreicht.
. Abb. 48.3. Eigenständige nodale Befallsregionen nach der AnnArbor-Klassifikation; zusätzlich wurde der Zwerchfellrecessus als wichtige (nicht eigenständige) Region hinzugefügt
621 48.1 · Hodgkin-Lymphom
. Tab. 48.1. Modifizierte Ann-Arbor-Klassifikation des Hodgkin-Lymphom Stadium
Befunde
I
Befall einer einzelnen Lymphknotenregion (I) oder lokalisierter Befall eines einzelnen extralymphatischen Organs oder Bezirks (IE)
II
Befall von 2 oder mehr Lymphknotenregionen auf der gleichen Seite des Zwerchfells (II) oder lokalisierter Befall eines einzelnen extralymphatischen Organs oder Bezirks und seines (seiner) regionären Lymphknoten mit oder ohne Befall anderer Lymphknotenregionen auf der gleichen Zwerchfellseite (IIE)
III
Befall von Lymphknotenregionen auf beiden Seiten des Zwerchfells (III), ggf. zusätzlich lokalisierter Befall eines extralymphatischen Organs oder Bezirks (IIIE) oder gleichzeitiger Befall der Milz (IIIS) oder gleichzeitiger Befall von beiden (IIIE + S)
IV
Disseminierter (multifokaler) Befall eines oder mehrerer extralymphatischer Organe mit oder ohne gleichzeitigen Lymphknotenbefall; oder isolierter Befall eines extralymphatischen Organs mit Befall nichtregionärer Lymphknoten
Unterkategorien zu den Stadien I bis IV A
Asymptomatisch
B
Auftreten folgender definierter Symptome: 4 Unerklärlicher Gewichtsverlust von mehr als 10% in den letzten 6 Monaten und/oder 4 Unerklärtes persistierendes oder rekurrierendes Fieber mit Temperaturen von über 38°C und/oder 4 Starker Nachtschweiß
hen Stadium darf auf die Bestrahlungstherapie verzichtet werden, sofern durch die Chemotherapie eine Remission erzielt wurde. Des Weiteren bedient man sich der »Shrinking-field«-Technik, bei der der Tumor im Verlauf gemessen und das Bestrahlungsfeld mit der Tumorregression verkleinert wird. > Die Rolle der Chirurgie beschränkt sich in aller Regel auf die Entnahme von Biopsien (s. oben). Eine Resektion der Lymphknotenmassen ist fast nie indiziert. Auch beim Rezidiv besteht das Management in der Hochdosischemotherapie mit autologer oder allogener Stammzelltherapie.
lung von Blutbild, Blutsenkung, Röntgen-Thorax und Sonographie sowie ein MRT- oder CT der primär befallenen Regionen in vorgegebenen Abständen. Ab dem 4. Jahr nach Therapieende sind lediglich noch regelmäßige klinische Untersuchungen nötig, bildgebende Verfahren werden dann nur noch bei Rezidivverdacht eingesetzt. Ebenfalls müssen in regelmäßigen Abständen die bestrahlten Regionen untersucht werden. Insbesondere die Schilddrüse sowie Lunge und Mamma sind durch Screeninguntersuchungen bezüglich Funktion und Sekundärmalignome zu beurteilen.
Prognose
Eine Sonderstellung nimmt hier jedoch das noduläre Lymphozyten-prädominante Hodgkin-Lymphom (NLPHL)
48.1.8
ein. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um lokalisierte zervikale, axilläre oder inguinale Lymphknotenschwellungen im Stadium I. Für Erwachsene konnten bereits in den 80erJahren gute Ergebnisse durch die alleinige operative Entfernung erzielt werden. Entsprechend der aktuellen Studienlage besteht nach der aktuellen Leitlinie der Deutschen Krebsgesellschaft und der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (2008) nun auch für pädiatrische Patienten die Empfehlung, dass beim NLPHL im frühen Stadium bei vollständiger Resektion des befallenen Lymphknotens oder Gewebes keine weitere Therapie nötig ist.
Die bereits in den 80er-Jahren bestehenden hohen Überlebensraten um 95% konnten auch mit der Reduktion der Chemo- und Strahlentherapie zur Verminderung der Spätfolgen erzielt werden. Diese Spätfolgen der Bestrahlung beinhalten beispielsweise eine Schädigung des wachsenden Knochens durch Verkürzung der Klavikel oder der Wirbelsäule. Des Weiteren kann es bei der Bestrahlung des Halses zum Hypothyreoidismus und erhöhten Schilddrüsenkarzinomrisiko kommen. Bei einer Bestrahlung des Beckens müssen die Ovarien durch eine Ovaropexie aus dem Bestrahlungsfeld entfernt werden. Zudem besteht sowohl aufgrund der Chemotherapie als auch der Strahlentherapie ein deutlich erhöhtes Risiko, an Sekundärmalignomen zur erkranken. Außerdem treten Fertilitätsstörungen auf. Interessanterweise steht jedoch 15–20 Jahre nach Diagnosestellung der M. Hodgkin selbst an erster Stelle bei den Todesursachen, erst danach folgen die sekundären malignen Neoplasien und Herzerkrankungen sowie Infektionen.
48.1.7
Nachsorge
Die Nachsorgeuntersuchungen dienen sowohl der Erkennung von Rezidiven als auch von Sekundärmalignomen. Zur Rezidiverkennung erfolgen in den ersten 2 bzw. 3 Jahren die klinische Untersuchung und die Beurtei-
48
622
Kapitel 48 · Maligne Lymphome
48.2
Non-Hodgkin-Lymphome
48.2.1
Vorkommen und Inzidenz
Die Non-Hodgkin-Lymphome stehen mit etwa 6% aller Malignome im Kindesalter an vierter Stelle der Häufigkeitsskala (Kaatsch u. Spix 2002), die von Leukämien und ZNSTumoren angeführt wird. Die Inzidenz der NHL liegt in Deutschland bei 0,8/100.000 Kindern unter 15 Jahren/Jahr. Hierbei sind die NHL bei Kindern unter 3 Jahre selten, danach bleibt die Inzidenz konstant ohne Altersgipfel. Bis zum 11. Lebensjahr ist das NHL häufiger als das HodgkinLymphom. Das Geschlechterverhältnis ist je nach Subtyp unterschiedlich. Fast 50% der NHL im Kindesalter sind Burkitt-Lymphome.
48.2.2
48
Ätiologie und Pathologie
Bei dem in Zentralafrika endemischen Burkitt-Lymphom konnte eine Assoziation mit der Epstein-Barr-Virusinfektion gezeigt werden (Burkitt 1970). Im Gegensatz hierzu ist das Virus bei den kindlichen Burkitt-Lymphomen in Mitteleuropa nur in 11% der Fälle nachweisbar. Außerdem wird das Lymphomrisiko erhöht durch eine Infektion mit Helicobacter pylori, HHV8, und HCV. Des Weiteren liegt eine Disposition bei Patienten mit angeborenen und erworbenen Immundefekten sowie bei Chromosomenbruchsyndromen vor. Zu einer malignen Entartung kann es insbesondere während der Entwicklung der lymphatischen Vorläuferzellen und bei der Keimzentrumsreaktion der B-Zellen kommen. Hierbei treten Defekte in der Regulation sowohl der Proliferation (Bcl 6 oder Myc) als auch der Apoptose auf. Meist sind in den Lymphomzellen spezifische chromosomale Translokationen nachweisbar (Reiter et al. 2005). Nach der WHO-Klassifikation werden die NHL zum einen in die Vorläufer-Zell-Lymphome unterteilt, nämlich das Vorläufer-B-Zell-lymphoblastische Lymphom und das Vorläufer-T-Zell-lymphoblastische Lymphom, zum anderen in die peripheren B-Zell- und T-Zell Lymphome, die weiter in diverse Subtypen untergliedert werden. Für die Therapie entscheidend sind hierbei 3 Gruppen, nämlich die lymphoblastischen Lymphome, die B-ZellLymphome (ohne großzellig anaplastische Lymphome) und die großzellig anaplastischen Lymphome.
48.2.3
. Abb. 48.4. Abdomineller Befall bei Non-Hodgkin-Lymphom (CT Abdomen)
Klinik
Das häufigste Leitsymptom der NHL sind indolente Lymphknotenschwellungen, das häufigste Allgemeinsymptom ist Fieber. Die häufigsten Lokalisationen des NHL sind der Halsbereich sowie bei Kindern unter 10 Jah-
ren vor allem das Abdomen einschließlich Leber und Milz, während bei Jugendlichen das Mediastinum häufiger betroffen ist. Beim abdominellen Befall können mechanischer Ileus, Invagination oder Bauchschmerzen auftreten (. Abb. 48.4). ! Cave Bei einer Invagination bei Kindern über 5 Jahre oder mehrfachen Rezidiven muss ein Non-Hodgkin-Lymphom ausgeschlossen werden.
Ist das Mediastinum betroffen, kommt es oft zu chronischem Husten, Asthma und Stridor, beim Befall des Nervensystems fallen Kopfschmerzen, Hirnnervenlähmungen und Kopfschmerzen auf. Auch eine asymmetrische Tonsillenhypertrophie sollte an ein NHL denken lassen. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es zudem zur Hepatosplenomegalie und möglicherweise auch zu Notfallsituationen wie zur oberen Einflussstauung sowie Tracheakompression oder Perikarderguss. Bei 14% der Fälle ist initial das Knochenmark befallen, bei 3% der Patienten das ZNS. Beim Burkitt-Lymphom, das zu den hoch-aggressiven NHL zählt, unterscheidet man das endemische BurkittLymphom, das sich meist durch eine massive Vergrößerung der mandibulären Lymphknoten und den Befall des Kieferknochens auszeichnet, vom sporadischen Burkitt-Lymphom. Dieses ist meist durch abdominellen Befall gekennzeichnet, oft im Bereich von Ileozökalklappe, Magen, Zökum und Mesenterium sowie z. T. auch von Knochenmark und ZNS. Der Befall kann unterschiedlich ausgeprägt sein, auch hier kann es zum Ileus oder zur Invagination kommen oder zum Aszites bei massiver Tumorausbreitung. Insgesamt kann es bei Patienten mit einem NHL nicht selten durch das rasche Tumorwachstum zu metabolischen Komplikationen einerseits und Komplikationen durch verdrängendes oder komprimierendes Wachstum andererseits kommen (Gamis et al. 2005).
623 48.2 · Non-Hodgkin-Lymphome
48.2.4
Diagnostik
Entscheidend für die Diagnosestellung ist die Asservierung von malignen Zellen. Ist die zytomorphologische Klassifizierung eindeutig, dann reicht die zytologische und immunphänotypische Untersuchung von malignen Körperhöhlenergüssen zur Sicherung der Diagnose aus. Ansonsten muss ein befallener Lymphknoten oder befallenes Gewebe zur histopathologischen sowie zytomorphologischen Untersuchung und Immunphänotypisierung operativ gewonnen werden. ! Cave Bei der operativen Gewebegewinnung muss vor einer Narkose durch eine Röntgen-Thoraxaufnahme in 2 Ebenen eine Kompression von Trachea oder Bronchien oder eine obere Einflussstauung ausgeschlossen werden.
In jedem Fall können zur Abgrenzung von anderen Malignomen teilweise auch zytogenetische und molekulargenetische Methoden nötig werden. Des Weiteren ist immer ein referenzpathologisches Gutachten zur Sicherung der Subklassifikation einzuholen. Körperliche Untersuchung. Bei allen Patienten erfolgt eine gründliche körperliche Untersuchung, vor allem im Hinblick auf Lymphknotenstationen, HNO-Bereich, Haut, Leber und Milz sowie neurologischen Status und Hoden. Labordiagnostik. Es werden großes Blutbild mit Retikulozyten und Ausstrich angefertigt sowie die prätherapeutische Serumkonzentration von LDH ermittelt zur Beurteilung der Tumorlast und Risikoeinschätzung für das Tumorlysesyndrom. Knochenmarkpunktion. Obligat ist die Knochenmark-
punktion zur Materialgewinnung für die Zytologie, Immunphänotypisierung, Molekulargenetik und Zytogenetik. Bildgebende Diagnostik. Eine Röntgen-Thorax-Untersuchung in 2 Ebenen (Mediastinalverbreiterung?) ist erforderlich, darüber hinaus können Sonographie von Abdomen, Hals, Axilla, Supraklavikularregion, vorderem Mediastinum, Thorax (Pleura- oder Perikarderguss ?) und Hoden und ein kraniales MRT oder CT mit Liquorpunktion sinnvoll sein. Bei spezieller Lokalisation erfolgt zudem ein CT oder MRT des betroffenen Gebietes (HNO-Bereich, Thorax, Abdomen oder Becken) zur Beurteilung des Ausmaßes (. Abb. 48.5). Des Weiteren sollte bei allen Patienten vor Beginn der Chemotherapie ein Ausgangsstatus mit Ermittlung von Leber- und Retentionsparametern sowie von Gerinnung, Immunglobulinen, serologischem Status, kardialem Status (EKG, Echographie), Basalkonzentration der Gonadotropine und EEG-Befund erhoben werden.
. Abb. 48.5. Mediastinaler Befall bei Non-Hodgkin-Lymphom (CT Thorax)
48.2.5
Stadieneinteilung
Die Stadieneinteilung für das kindliche NHL erfolgt nach der St.-Jude-Stadieneinteilung (. Tab. 48.2; Murphy 1980). Bei einer Infiltration des Knochenmarks >25% mit Lymphoblasten handelt es sich definitionsgemäß um eine ALL.
48.2.6
Therapie
Entsprechend der bereits erwähnten Einteilung der NHL in die 3 Hauptgruppen besteht die Therapie der Wahl in unterschiedlichen Chemotherapieregimes (Reiter et al. 2005). 4 Die Behandlung der lymphoblastischen Lymphome ist auf die Chemotherapie beschränkt, der Einsatz von Bestrahlungen ist umstritten. Die vollständige Resektion der befallenen Lymphknoten ist bei dieser Tumoren-
. Tab. 48.2. St.-Jude-Stadieneinteilung der Non-Hodgkin-Lymphome Stadium
Befunde
Stadium I
Eine einzelne nodale oder extranodale Tumormanifestation ohne lokale Ausbreitung, mit Ausnahme von mediastinalen, abdominellen und epiduralen Lokalisationen
Stadium II
Mehrere nodale und/oder extranodale Manifestationen auf derselben Seite des Zwerchfells mit oder ohne lokale Ausbreitung. Nicht: mediastinale, epidurale oder ausgedehnte nicht-resektable abdominelle Lokalisationen
Stadium III
Lokalisationen auf beiden Seiten des Zwerchfells, alle thorakalen Manifestationen (Mediastimun, Thymus, Pleura), alle ausgedehnten nicht-resektablen abdominellen Manifestationen, Epiduralbefall
Stadium IV
Befall des Knochenmarks (<25%) und/oder des ZNS
48
624
Kapitel 48 · Maligne Lymphome
. Abb. 48.6. Intraoperativer Befund eines NHL im terminalen Ileum
48
tität in der Regel nicht erforderlich. Bei Lymphknotenpersistenz sollte vor einer Therapieintensivierung (Bestrahlung; Hochdosis-Chemotherapie) durch eine erneute Biopsie die Vitalität eines persistierenden Lymphoms untersucht werden. 4 Bei den B-Zell-Lymphomen und den großzellig-anaplastischen Lymphomen ausschlaggebend für die Intensität der Chemotherapie sind dagegen die Tumormasse sowie das Ausbreitungsstadium und die Resektabilität. Bei Patienten mit lokalisiertem Befall, bei denen diese Tumorentitäten vollständig entfernt werden können, empfiehlt sich daher die komplette Resektion des Tumors, z. B. im Rahmen einer Darmresektion aufgrund einer Perforation oder Obstruktion (. Abb. 48.6). Dadurch wird ein niedrigeres Stadium sowie hiermit auch eine bessere Prognose erreicht und eine deutlich weniger intensive Chemotherapie notwendig. Falls eine vollständige Resektion zu einem funktionellen Verlust führen würde oder risikoreich wäre, sollte allerdings lediglich eine Probebiopsie zur Diagnostik entnommen werden, um nicht den Beginn der Chemotherapie zu verzögern (Reiter et al. 1994). > Wo immer möglich, sollte auf die Einlage von Drainagen verzichtet werden, da diese zur Ausbreitung zunächst lokalisierter Tumoren führen können (Reiter et al. 1994).
4 Eine Sonderstellung nimmt das großzellig-anaplastische Lymphom mit ausschließlichem Hautbefall ein. Hier kann bei vollständiger Resektion evtl. auf die Folgetherapie verzichtet werden (Bekkenk et al. 2000). 4 Eine weitere Besonderheit ist das MALT-Lymphom des Magens, bei dem oft durch eine Helicobacterpylori-Eradikationstherapie eine komplette Remission erzielt werden kann (Chen et al. 2005; Morgner et al. 2001).
. Abb. 48.7. Ereignisfreie Überlebenswahrscheinlichkeit nach 5 Jahren für Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen (LBL), B-NHL einschließlich B-ALL, und großzellig anaplastischen Lymphomen (ALCL) in den 3 aufeinanderfolgenden Therapiestudien NHL-BFM 86, 90 und 95 der Deutsch-Österreichisch-Schweizerischen BFM-Studiengruppe
Die Bestrahlung dagegen kommt bei den B-Zell-Lymphomen und großzellig-anaplastischen Lymphomen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz. Bei Rezidiven oder Therapieresistenz besteht die Möglichkeit der allogenen oder autologen Knochenmarkstransplantation.
48.2.7
Nachsorge
Nach Beendigung der Therapie folgt die engmaschige Überwachung durch körperliche Untersuchung sowie Erhebung von Blutbild und LDH-Serumkonzentration und bildgebende Diagnostik. Hierbei sind die Untersuchungen in regelmäßigen vorgegebenen Abständen bei Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen für 4 Jahre und mit B-Zell-Lymphomen und großzellig-anaplastischen Lymphomen für 2 Jahre durchzuführen, danach nur jeweils bei Rezidivverdacht. Des Weiteren erfolgen lebenslang regelmäßig Untersuchungen im Hinblick auf sekundäre Malignome sowie Spätfolgen der Therapie, wie z. B. die Kardiomyopathie.
48.2.8
Prognose
Insgesamt erreichen 90–100% aller NHL-Patienten eine komplette Remission, die ereignisfreie Überlebenswahrscheinlichkeit liegt für alle Subentitäten zwischen 95% und 75% (. Abb. 48.7).
625 48.2 · Non-Hodgkin-Lymphome
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48
“This page left intentionally blank.”
49
49 Spezielle Aspekte der Organtransplantation T. Becker 49.1
Gesetzliche Regelung
– 627
49.2
Organspende
49.2.1 49.2.2
Postmortale Organspende – 628 Lebendorganspende – 628
– 627
49.3
Nierentransplantation
– 629
49.3.1 49.3.2 49.3.3 49.3.4 49.3.5 49.3.6
Indikationen – 629 Häufigkeit – 629 Operative Technik – 629 Postoperative Komplikationen – 632 Nachsorge – 633 Ergebnisse – 634
49.4
Lebertransplantation
49.4.1 49.4.2 49.4.3 49.4.4 49.4.5
Indikationen – 634 Häufigkeit – 636 Operative Technik – 636 Postoperative Komplikationen – 639 Ergebnisse – 639
49.5
Pankreastransplantation – 639
49.5.1 49.5.2
Indikationen – 640 Häufigkeit – 640
– 634
> Die Organtransplantation im Kindesalter hat sich als feste Therapieoption beim Endorganversagen etabliert. Dies gilt besonders für die Nieren und Lebertransplantation. Die Voraussetzung für eine Organtransplantation ist die Organspende, die durch das deutsche Transplantationsgesetz geregelt ist. In diesem Kapitel werden die gesetzlichen Regelungen, die Indikationen, operative Aspekte, postoperative Komplikationen und Ergebnisse der jeweiligen Organtransplantationen im Kindesalter beschrieben.
49.1
Gesetzliche Regelung
Die Voraussetzung für die Organtransplantation ist die Organspende. Die Organspende und die Organtransplantation werden durch das seit dem 1. Dezember 1997 in Kraft getretene deutsche Transplantationsgesetz (TPG) und die Richtlinien der Bundesärztekammer geregelt.
49.5.3 49.5.4 49.5.5
Operative Technik – 640 Postoperative Komplikationen – 640 Ergebnisse – 641
49.6
Dünndarmtransplantation
49.6.1 49.6.2 49.6.3 49.6.4 49.6.5 49.6.6
Indikationen – 641 Häufigkeit – 642 Operative Technik – 642 Postoperative Komplikationen – 642 Nachsorge – 642 Ergebnisse – 642
– 641
49.7
Lungentransplantation
49.7.1 49.7.2 49.7.3 49.7.4 49.7.5 49.7.6
Indikationen – 642 Häufigkeit – 642 Operative Technik – 643 Postoperative Komplikationen – 643 Nachsorge – 643 Ergebnisse – 643
49.8
Immunsuppression
49.8.1
Langzeitverlauf
– 642
– 643
– 645
Literatur – 645
> Das TPG regelt die Spende, die Entnahme, die Vermittlung und Übertragung von Organen, die nach dem Tode oder zu Lebzeiten gespendet werden. Es enthält ferner das Verbot des Handels mit menschlichen Organen oder Geweben.
Das TPG sieht zu folgenden Problemen Richtlinien vor: zur Feststellung des Hirntodes, zur Aufnahme in die Warteliste, zur Organvermittlung, zu erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Organempfängers (Untersuchung des Spenders und der entnommenen Organe sowie Konservierung, Aufbereitung, Aufbewahrung und Beförderung der Organe) und zu Maßnahmen der Qualitätssicherung.
49.2
Organspende
Bei der Organspende wird ein operativer Eingriff an einem anderen Menschen als dem zu transplantierenden Menschen vorgenommen. Meist handelt es sich um eine Organentnahme bei einem Verstorbenen, der sog. postmorta-
628
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
len Spende. Wegen des Missverhältnisses zwischen Organbe-
darf und Aufkommen von Spenderorganen wird zunehmend auch die Lebendorganspende durchgeführt. Die Lebendorganspende hat einen besonderen Stellenwert im Bereich der pädiatrischen Nieren- und Lebertransplantation.
49.2.1
49
Postmortale Organspende
Das TPG sieht eine »erweiterte Zustimmungslösung« vor, wie sie in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern bereits Gesetz ist. Der Wille des Verstorbenen zu Lebzeiten hat Vorrang. Ist er nicht dokumentiert (Organspendeausweis) oder bekannt, entscheiden die nächsten Angehörigen auf der Grundlage des mutmaßlichen Willen des Verstorbenen. Der Tod (Hirntod) des Organspenders muss nach den Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, von zwei unabhängigen und erfahrenen Ärzten, die nicht an der Transplantation beteiligt sind, festgestellt und dokumentiert werden. Die Organspende wird durch einen Arzt vorgenommen, wobei bei allen Begleitmaßnahmen die Würde des Organspenders beachtet werden muss. Bei reifen Neugeborenen (0–28 Tage), Säuglingen (29– 365 Tage) und Kleinkindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr (366–730 Tage) gelten wegen der reifungsbedingten pathophysiologischen Umstände besondere Anforderungen an die Hirntodfeststellung. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist für die Koordinierung der postmortalen Organspende verantwortlich. Zurzeit können Niere, Herz, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm nach dem Tod gespendet werden. Diese Organe gehören zu den vermittlungspflichtigen Organen. Die Zuteilung der postmortal gespendeten Organe erfolgt über die Vermittlungszentrale Eurotransplant (ET) in Leiden, Niederlanden. Die Organübertragung darf in Deutschland nur in dazu ermächtigten Transplantationszentren erfolgen. Die Organe werden patientenbezogen vermittelt, die Organvergabe unterliegt jeweils unterschiedliche Allokationskriterien. Da die Organentnahme in der Regel in einem peripheren Krankenhaus durchgeführt wird und die Organübertragung in verschiedenen Transplantationszentren erfolgt, ist eine Organkonservierung erforderlich. Von daher werden die Organe bei der Spenderoperation mit einer Konservierungslösung perfundiert und auf ca. 4°C abgekühlt. Vorwiegend werden die Konservierungslösungen HTK (Custodiol) oder UW (University of Wisconsin) verwendet. Die kalte Konservierung soll die Ischämietoleranz erhöhen und den Ischämie-/Reperfusionschaden vermindern. Die Ischämietoleranz ist für die verschiedenen Organe unterschiedlich (Niere bis zu 36 h, Leber und Pankreas ca. 12 h, Dünndarm, Herz und Lunge ca. 4–8 h). Im Hinblick auf die Erfolgsaussichten sollte jedes Organ mit der möglichst kürzesten Ischämiezeit transplantiert werden.
49.2.2
Lebendorganspende
Durch die wachsende Organknappheit hat die Lebendorganspende eine zunehmende Bedeutung. Dies betrifft ganz besonders die pädiatrische Nieren- und Lebertransplantation. Die Leberlebendspende ist aufgrund der fehlenden Wartezeit für die Kinder häufig lebensrettend. Da die Lebendorganspende einen Eingriff bei einem gesunden Menschen darstellt und mit einem potenziellen Risiko behaftet ist, müssen besondere Bedingungen erfüllt sein. Die Organspende durch Lebende und deren Vorbereitung wird in Deutschland ebenfalls durch den Gesetzgeber im Transplantationsgesetz von 1997 und in den »Empfehlungen zur Lebendorganspende der Bundesärztekammer« geregelt. Wesentlich Punkte sind hierbei die persönlichen Voraussetzungen des Spenders, die Aufklärung des Spenders und dessen Eignung aus medizinischer und psychologischer Sicht. Neben der umfassenden mehrzeitigen Aufklärung über Art und Umfang des Eingriffs, der perioperativer Komplikationen, möglicher Langzeitspätfolgen, der Notwendigkeit zu Nachfolgeuntersuchungen ist die umfassende medizinische Eignung des Spenders im Vorfeld zu klären. Eine psychologische Begutachtung soll die Freiwilligkeit der Organspende überprüfen und eine mögliche Abhängigkeit zwischen Spender und Empfänger ausschließen. Die Ethikkommission der Landesärztekammern begutachtet, inwieweit begründete Anhaltspunkte vorliegen, die die Freiwilligkeit der Spende in Frage stellt oder gar ein strafbarer Organhandel vorliegen könnte.
Übersicht Vorraussetzungen für eine Lebendspende nach dem TPG 4 Der Spender ist volljährig und einwilligungsfähig. 4 Der Spender hat in die Entnahme freiwillig eingewilligt (freiwilligen Spende). 4 Es besteht eine besondere persönliche Verbundenheit zum Empfänger (sog. altruistische Spende). 4 Es bestehen keine kommerziellen Interessen. 4 Der Spender ist nach ärztlicher Beurteilung als Spender geeignet. 4 Der Spender ist voraussichtlich nicht über das Operationsrisiko hinaus gefährdet. 4 Der Spender wird nicht über die unmittelbaren Folgen der Entnahme hinaus gesundheitlich schwer beeinträchtigt. 4 Die Übertragung des Organs auf den vorgesehenen Empfänger muss nach ärztlicher Beurteilung geeignet sein, das Leben dieses Menschen zu erhalten oder bei ihm eine schwerwiegende Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Beschwerden zu lindern. 4 Es steht kein geeignetes postmortales Organ zum Zeitpunkt der Organentnahme zu Verfügung.
629 49.3 · Nierentransplantation
Diese gesetzlichen Voraussetzungen über Freiwilligkeit und Verbundenheit sind bei der meist elterlichen Lebendspende im pädiatrischen Transplantationsbereich in der Regel gegeben. Eine wesentliche medizinische Voraussetzung für die Lebendorganspende betrifft die AB0-Blutgruppenverträglichkeit. Die blutgruppenkompatible Transplantation ohne Berücksichtigung des Rhesusfaktors ist analog zu Bluttransfusionen das Standardverfahren. Aber auch AB0-inkompatible Transplantationen gegen die immunologischen Barrieren des AB0-Systems sind möglich. Dies erfordert aber grundsätzlich eine spezielle Vorbereitung des Empfängers zur Eliminierung von Antikörpern. Dieses Verfahren wird im eigenen Zentrum auch bei Kindern durchgeführt (Ahlenstiel et al. 2006). Bei der umfassenden medizinischen Aufklärung des Spenders geht es um die Klärung, ob einerseits eine Organspende bzw. Teilorganspende ohne wesentliches Risiko für den potenziellen Spender möglich ist, andererseits die Transplantation mittels Spende erfolgreich durchgeführt werden kann. Bei der Anamnese des Spenders sollte besonderes Augenmerk auf Hinweise für vorbestehende Erkrankungen (z. B. Nieren- oder Lebererkrankungen) und familiäre Belastungen gerichtet werden.
49.3
Nierentransplantation
Die pädiatrische Nierentransplantation gilt als Therapieverfahren der ersten Wahl für Kinder mit präterminaler und terminaler Niereninsuffizienz (TNI). Dank optimierter Operationstechniken ist es möglich, selbst Kinder in den ersten Lebensjahren erfolgreich zu transplantieren. Neben der postmortalen Organspende ist insbesondere bei kindlichen Empfängern die meist elterliche Lebendspende in Betracht zu ziehen.
49.3.1
Indikationen
Grundsätzlich soll bei allen Kindern mit einer präterminalen oder terminalen Niereninsuffizienz (TNI) eine Nierentransplantation erwogen werden (Leonard et al. 2003; Goldfarb-Rumyantzev et al. 2006). Die Ursachen des Nierenversagens sind sehr unterschiedlich und altersabhängig. Im Vordergrund der Nierenerkrankungen stehen häufig obstruktive Uropathien, Nierendys/-hypolasien, kongenitale Nephrosklerosen, Zystennieren und andere Erkrankungen. Etwas seltener sind fokal segmentale Glomerulosklerosen, das hämolytisch-urämisches Syndrom und andere Erkrankungen. Der optimale Zeitpunkt der Transplantation ist abhängig von der Restnierenfunktion. Nach dem Dialysestandard wird eine Dialyse ab einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) zwischen 5–15 ml/min/1,73 m2 erforderlich. Bei
einer GFR <15 ml/min/1,73 m2 sollen die notwendigen Vorbereitungen zur Nierenersatztherapie durchgeführt werden. Dies beinhaltet den vollständigen Impfstatus, die Blutgruppe, die HLA-Typisierung, die psychologische Begleitung und Klärung einer Lebendspende sowie die Meldung als Wartelistenempfänger bei Eurotransplant (ET).
49.3.2
Häufigkeit
In Deutschland werden jährlich ca. 100 Kinder bis zum 15. Lebensjahr und ca. 20 Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren nierentransplantiert. Der Anteil der Nierentransplantation bei Kindern und Jugendlichen durch Lebendspende beträgt in Deutschland 37%, bei Transplantationsprogrammen mit hohen Anteilen von Kleinkindern beträgt er bis 50%.
49.3.3
Operative Technik
Technik der postmortalen Organspende Prinzipiell ist jeder Organspender unabhängig vom Lebensalter für eine Nierenspende in Betracht zu ziehen. Jedoch sollten spenderabhängige Faktoren bei der Transplantation auf kindliche Empfänger sorgsam geprüft werden. Im Zweifelsfall kann eine Nullbiopsie der Spenderniere zum Ausschluss chronischer Nierenvorschäden sinnvoll sein.
Übersicht Spenderkriterien für kindliche Nierenempfänger 4 Normale Nierenfunktion bei Einlieferung (SerumKreatinin, Serum-Harnstoff, keine Proteinurie) 4 Kein unbehandelter Hypertonus (eingestellter Hypertonus mit 1–2 antihypertensiven Medikamenten) 4 Spenderalter <50 Jahre 4 Keine Diabetes mellitus 4 Keine längere Reanimationsphase bzw. hypertensive Phase 4 Keine hohen Katecholamindosen 4 Intensivzeit <7 Tage 4 Keine Sepsis
Die postmortale Spenderoperation erfolgt in Rückenlage über eine mediane Laparotomie und bei gleichzeitiger Entnahme thorakaler Organe mit zusätzlicher Sternotomie. Nach Mobilisation des gesamten Darmpaketes wird die distale Vena cava und Aorta freigelegt sowie die infradiaphragmale Aorta nach Mobilisation des linken Leberlappens und Spalten der Zwerchfellschenkel. Nach systemischer Heparinisierung und Einbringen der Perfusionskanüle in die distale Aorta oder proximale A. iliaca commnunis erfolgt die Schwerkraftperfusion mit kalten Konservierungslösungen
49
630
49
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
(meist HTK oder UW) über 10–15 min und mit gleichzeitiger Druckentlastung über die eröffnete Vena cava sowie die Eiswasserkühlung der Organe. Im Anschluss an die Perfusion können die Nieren einzeln oder en bloc entnommen werden. Im eigenen Vorgehen erfolgt die Dissektion der Vena cava inferior und Aorta abdominalis in situ mit dem Ziel ausreichend große Gefäßpatches für die Transplantation zu schaffen. Die Nieren werden mit samt des perirenalen Fettgewebes und des kompletten Gefäßstiels mit Lymph- und Fettgewebe mobilisiert, der Ureter lang distal der Kreuzung der Beckengefäße abgesetzt. Diese Entnahmetechnik vermeidet im Gegensatz zur anatomischen Präparation die Gefahr von Parenchym, Gefäß und Ureterverletzungen und kann sehr rasch durchgeführt werden. Auf einem separaten Operationstisch werden »back table« die Organe weiter präpariert. Hierbei wird das Parenchym nach Entfernen des perirenalen Fettgewebes auf Narben, Zysten oder gar Tumoren beurteilt und die Gefäßanatomie und der Harnleiter kontrolliert. Von einer subtilen Präparation im Nierenhilus und entlang des Harnleiters wird abgeraten. Dies sollte den Transplantationschirurgen des Empfängerzentrums vorbehalten werden. Lediglich die Gefäßanatomie sollte durch Sondieren des Patches überprüft und eventuelle Mehrgefäßversorgungen oder andere Auffälligkeiten wie arteriosklerotische Veränderungen dokumentiert werden. Im Anschluss werden die Nieren separat in kalter Perfusionslösung in Plastikbeuteln steril nach ET-Kriterien verpackt und auf Eis gelagert.
Technik der Lebendorganspende Im Allgemeinen erfolgt die Nierenentnahme zur Lebendorganspende über einen offenen translumbalen Flankenschnitt. Dieser Zugang führt jedoch nicht selten zu Pseudohernien und chronischen Narbenschmerzen, so dass auch laparoskopische bzw. retroperitoneoskopische Operationstechniken etabliert wurden. Häufig genannte Vorteile
sind die geringeren postoperativen Schmerzen, die kürzere Krankenhausverweildauer und die raschere Rekonvaleszenz. Der Hauptnachteil besteht neben höheren Materialkosten besonders in der schlechteren Kontrollierbarkeit des operativen Situs im Falle von Blutungen und dem potenziell erhöhtem Risiko für den Spender und das Spenderorgan. Außerdem braucht man einen ausreichenden Zugang, um die Spenderniere atraumatisch und mit kurzer warmer Ischämiezeit vor die Bauchdecke zu luxieren. Als Kompromisslösung hat sich auch der minimal-anteriore-pararektale Zugang über eine 6–10 cm lange Hautinzision etabliert. Dieses Verfahren eignet sich ausgezeichnet für die Nierenentnahme auf beiden Seiten und verbindet gewissermaßen die Vorteile der beiden anderen Verfahren, bei exzellenter Situskontrolle, hoher Spendersicherheit und kosmetisch sowie funktionell hervorragenden Ergebnissen (Neipp et al. 2004).
Transplantation der Spenderniere Die Nierentransplantation ist ein standardisierter operativer Eingriff. Im Kleinkinderalter ist er eine technisch anspruchsvolle Operation, die besondere Aufmerksamkeiten erfordert. Da für die kleinen Patienten in der Regel keine größen- bzw. alterskompatiblen Organe zu Verfügung stehen, müssen große Erwachsenenniere in kleine Patienten transplantiert werden (. Abb. 49.1).
Übersicht Besonderheiten der Nierentransplantation im Kleinkinderalter 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Mangel an größenkompatiblen Organen Enge Situsverhältnisse Gefahr der Transplantatkompression Kleine Empfängergefäße Zu geringer arterieller Zustrom Hämodynamische Probleme Hypofiltration Vorschädigungen des Transplantats Chronisches Transplantatversagen
Aufgrund der schwierigen Platzverhältnisse bei einer Transplantation einer Erwachsenenniere in kleine Kinder bevorzugen viele Arbeitsgruppen ein transabdominelles Vorgehen (. Abb. 49.2). In der eigenen Arbeitsgruppe wird grundsätzlich das streng extraperitoneale Vorgehen bevorzugt (Becker et al. 2006). Der Vorteil des retroperitonealen Vorgehens wird in der Vermeidung von Darmkomplikationen (Verwachsungen, Ileusgefahr), der Vermeidung einer Peritonitis sowie der Erhalt der Peritonealdialysemöglichkeit gesehen. Im Vergleich zu der Erwachsenentransplantation wird das Transplantat weiter kranial in einer nahezu »orthotopen« Lage platziert. Die favorisierte Seite ist rechts, da hier die Vene den kürzeren gestreckten Verlauf hat und somit die Gefahr des Abknickens und der Thrombose verringert ist. Durch eine großzügige Mobilisation des gesamten Bauchfells sind nahezu immer ausreichende Platzverhältnisse zu schaffen.
. Abb. 49.1. Pädiatrische Nierentransplantation: »große Niere für kleinen Patienten«
631 49.3 · Nierentransplantation
. Abb. 49.2. Nierentransplantation: schematischer Zugang und Implantation
Der Gefäßanschluss erfolgt grundsätzlich zentral, d. h. mit Anschluss der Transplantatnierenvene auf die Vena cava und Anschluss der Transplantatnierenarterie auf die distale Aorta (. Abb. 49.3). Die jeweiligen Gefäßabschnitte werden nur sparsam präpariert und nicht zirkulär freigelegt, um Nervenschäden und Lymphfisteln zu vermeiden. Bei der Präparation der Aorta sollte auf die Schonung der A. mesenterica inferior sowie der Lumbaläste beachtet werden. Eine Aplasie bzw. ein Verschluss der Vena cava stellt per se keine Kontraindikation für eine Transplantation dar. Nach eigener Erfahrung kann in diesen Sonderfällen auf die retrohepatische Vena cava oder eine lumbale
. Abb. 49.3. Operationssitus mit Gefäßanschluss der Spendergefäße an die Vena cava und Aorta
Kollateralvene ausgewichen werden. Diese anatomischen Besonderheiten sollten aber im Vorfeld diagnostiziert werden, damit die für die Transplantation notwendig aufwändigeren Gefäßrekonstruktionen geplant werden können. Alle Gefäßanastomosen werden mit einem resorbierbaren monofilen Faden (z. B. PDS) fortlaufend durchgeführt. Die Reperfusion des Transplantats sollte langsam in Absprache mit der Anästhesie erfolgen, da nach Freigabe der Strombahnen ein erheblicher Volumenbedarf erforderlich ist. Der Anschluss des Transplantatharnleiters an die Harnblase, die Transplantatureterozystostomie, erfolgt in der Regel in der Standardtechnik nach Gregoir. Der Harnleiter wird auf die erforderliche Länge zurückgekürzt, unter das Samenstranggebilde bzw. das Mutterband geführt und mit der Blasenmukosa vereinigt. Überwallende Muskularisnähte deckeln die Anastomose als Antirefluxplastik ab. Eine Schienung des Transplantatureters wird im eigenen Vorgehen nur in Einzelfällen durchgeführt. Diese erfolgt dann über eine transvesikal ausgeleitete Ureterschiene, die in der ersten Woche nach Transplantation gezogen werden kann. Andere Anastomosentechniken wie z. B. Politano-Leadbetter sind ebenso möglich. Aufwändigere Blasenrekonstruktionen wie Konduits erfolgen simultan bei Transplantation. Die Indikation zur simultanen Eigennephrektomie besteht bei einem nephrotischen Syndrom mit substitutionswürdigem Eiweißverlust oder dem Vorliegen einer Infektionsquelle der Eigenniere wie bei hochgradigem Reflux. Die Eigennephrektomie erfolgt beim Reflux mit gleichzeitiger Ureterektomie. Ebenso kann eine Indikation zur Eigennephrektomie in Einzelfällen bei Malignomverdacht bestehen. Eine Eigennephrektomie aus Platzgründen ist sehr selten erforderlich. Um die Gefahr der Transplantatkompression zu vermeiden, sollte kein primärer Verschluss der Bauchmuskulatur erzwungen werden, sondern die Indikation zur Interposition eines Kunststoffnetzes großzügig gestellt werden. Ein Hautverschluss kann über dem Netz dann in der Regel durchgeführt werden.
49
632
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
Bei Schulkindern und Jugendlichen erfolgt die Nierentransplantation analog zu den Erwachsenen extraperitoneal in heterotoper Lage in die Fossa iliaca. Üblicherweise werden die Nierenarterie und -vene an die A. iliaca commnis und Vena iliaca externa in End-zu-Seit-Technik angeschlossen. Die Ureterimplantation erfolgt in die Blase mit einer Antirefluxplastik zur Vermeidung von aszendierenden Harnwegsinfektionen.
49.3.4
Postoperative Komplikationen
Die postoperativen Komplikationen umfassen neben den allgemeinen chirurgischen Operationskomplikationen besonders Gefäß- und Ureterkomplikationen sowie Lymphozelen.
Gefäßkomplikationen
49
Aufgrund der altersabhängig sehr inhomogenen Patientengruppe stehen unterschiedliche Probleme zeitabhängig im Vordergrund. Bei den kleinen Kindern treten wegen der Größenmissverhältnisse und der Gefahr der Hypoperfusion die Transplantatkompression (. Abb. 49.4) und Thrombosierungen im Vordergrund. Diese Umstände erfordern ein differenziertes Flüssigkeitsmanagement durch erfahrene pädiatrische Intensivmediziner. Die Situation wird klinisch erschwert bei fehlender Urinproduktion (initiale Nichtfunktion, INF). Die fehlende Urinausscheidung und das notwendige Volumenloading für das Transplantat erhöhen die Gefahr von pulmonalen und kardialen Komplikationen (Pape et al. 2004). Die postoperative Urinproduktion ist im Prinzip ein guter klinischer Parameter zur Einschätzung der Transplantatfunktion. Nach einer Lebendspende ist die Primärfunktion unmittelbar zu fordern bzw. bei fehlender Urinproduktion sind umgehend technische Probleme auszuschließen. Nach einer postmortalen Spende ist je nach Spendersituation eine fehlende Transplantatfunktion in den ersten Tagen nicht ungewöhnlich.
a . Abb. 49.4a, b. Gefahr der Transplantatkompression. a Bei drohender Transplantatkompression kann die Bauchdecke mit einem Vicrylnetz
> Die postoperative Urinproduktion nach Nierentransplantation kann in der klinischen Einschätzung der Transplantatfunktion je nach Situation unzureichend und sogar gefährlich irreführend bei bestehender Eigendiurese sein.
Von daher ist ein postoperatives Monitoring durch die Ultraschallduplexsonographie von entscheidender Bedeutung, um Perfusionsprobleme rechtzeitig zu erkennen. Im eigenen Vorgehen werden die Kontrollen unabhängig von der Diureseleistung bei den Kleinkindern noch im Operationssaal nach dem Bauchdeckenverschluss und direkt bei Aufnahme auf der Intensivstation und dann regelmäßig im Verlauf durchgeführt. Jegliche Veränderungen der Perfusionssituation muss eine sofortige Revision zur Folge haben. Meist ist das einfache Eröffnen der Loge und mit späterem sekundären Wundverschluss und Netzeinlage für das Transplantat lebensrettend. > Je kleiner das Kind und je größer die Niere ist, umso großzügiger sollte ein sekundärer Wundverschluss und postoperative Perfusionskontrollen mittels Ultraschall erfolgen.
Ebenso ist durch eine aggressive, antikoagulatorische Therapie die Gefahr der Nachblutungen größer. Bei großen Kindern und Jugendlichen bestehen diese Gefahren nicht in dem Ausmaß. Selbstverständlich wird auch hier nach Aufnahme auf der Intensivstation eine Kontrolle mittels Ultraschallduplexsonographie durchgeführt. Neben den Kompressionsproblemen kann eine unzureichende arterielle Perfusion durch Knickbildungen bei Überlänge oder Stenosen durch Torquierungen entstehen. Die arterielle Stenosegefahr ist prinzipiell höher bei der Lebendspende, bei der keine aortalen Gefäßpatches möglich sind. Beim Vorliegen einer Mehrgefäßversorgung besteht ein höheres Risiko, da sich die Gefäße in der Lage zueinander behindern können. Bei den Venen sind diese tech-
b verschlossen werden und die Haut über dem Netz verschlossen werden. b Bauchdeckenverschluss mit alloplastischem Netz und Hautnaht
633 49.3 · Nierentransplantation
nischen Probleme ebenso möglich. Neben der chirurgischen Expertise ist eine subtile Operationstechnik mit mikrochirugischen Instrumenten und Lupenbrille zur Verhinderung dieser Probleme erforderlich. Eine Transplantatnierenarterienstenose kann durch einen schwer einstellbaren Hypertonus auffallen. Diese Stenosen sollten primär interventionell angegangen werden.
Ureterkomplikationen Im frühen Verlauf findet man Leckagen, die klinisch meist einige Tage nach der Nierentransplantation auftreten. Ursache ist die distale Ureternekrose, die das letzte Versorgungsgebiet der arteriellen Durchblutung darstellt. Ein zartes unteres Polgefäße kann ein zusätzlicher Risikofaktor für diese Komplikation sein. In den meisten Fällen ist ein Zurückkürzen des Transplantatureters mit einer Neuanlage der Anastomose und interner Schienung möglich. Bei kompletten Ureternekrosen muss auf die Eigenureteranlage zurückgegriffen werden. Bei refluxiven Erkrankungen ist das nicht sinnvoll, andere Rekonstruktionsmöglichkeiten müssen in Erwägung gezogen werden. Ureterstenosen bzw. ein Harnaufstau können sowohl im frühen und späten postoperativen Verlauf auftreten. Ursachen im frühen Verlauf können anastomosenbedingt sein durch Torquierungen, enge Anastomose oder durch Knickphänomene bei Überlänge. In dieser frühen Phase sollte eine großzügige Indikation zur Revision gestellt werden. Spätstenosen können durch narbigen Umbau entstehen und durch Abstoßungsreaktionen begünstigt werden. Primär wird dann eine interventionelle Therapie angestrebt mit Bougierung und interner Schienung. Bei Versagen einer interventionellen Therapie ist eine Operation angezeigt. Meist wird man einen Eigenureteranschluss verwenden, im eigenen Vorgehen über einen transabdominellen Zugang. Ein Vorgehen über die alte Transplantatloge birgt eine zu große Gefahr der Verletzung der Niere, der Nierengefäße und der technisch schwierigen Mobilisation des Harnleiters aus dem Narbengewebe mit Kompromittierung der Durchblutung und der unzureichenden Länge für eine Neuanlage.
Lymphozelen Lymphozelen sind Flüssigkeitsansammlungen in der Transplantatloge, die differenzialdiagnostisch von Urinansammlungen durch Leckagen abzugrenzen sind. Kleine Lymphozelen sind kontrollbedürftig, symptomatische Lymphozelen mit Druck auf die Gefäße oder den Harnleiter müssen therapiert werden. Nach Entlastung über eine »Pig-tail«-Drainage können sie beobachtet werden, ob eine Spontanverklebung sich einstellen wird. Große produktive Lymphozelen werden im eigenen Vorgehen nach »Pigtail«-Anlage laparoskopisch gefenstert. Die präoperative Anlage des »Pig-tail«-Katheters erleichtert dabei durch intraoperatives Auffüllen der Lymphozele die genaue Lokalisation.
Übersicht Operationstechnische Komplikationen nach Nierentransplantation 4 4 4 4 4 4 4 4
49.3.5
Transplantatkompression Blutungen Transplantatkompression Nierenarterienstenose Venenthrombose Urinlecks Ureterstenose Lymphozelen
Nachsorge
Die Ultraschallsonographie ist wesentlicher integraler Bestandteil der Transplantatnachsorge (Pape et al. 2004). Sie ist einfach, preiswert und ubiquitär jederzeit verfügbar. Bei Rückgang der Urinproduktion und Anstieg des bei SerumKreatinins ist sie die primäre Untersuchungsmethode zur Klärung der Morphometrie des Nierentransplantates, der Evaluation der Duplex-Parameter und zur Beurteilung des Harntraktes. Die Sonographie dient der gezielten Nierenbiopsieentnahme zur Klärung einer Abstoßungsreaktion bzw. anderer Pathologien.
Abstoßungsreaktion Eine akute Abstoßungsreaktion findet man nur noch bei ca. 20% aller Empfänger während der ersten 6 Monate nach Transplantation. Die Nierenbiopsie ist der Goldstandard zur definitiven diagnostischen Abklärung einer Transplantatdysfunktion. Die Indikation sollte auch bei Kindern großzügig gestellt werden. In der Frühphase stehen akute Veränderungen wie akute Abstoßungsrektionen, akute Tubulusepithelschäden, die meist Ausdruck eines Ischämie-/Reperfusionsschadens darstellen, Kalzineurininhibitortoxizität, Infektionen im Vordergrund. Aber auch chronische vorbestehende Organschäden haben einen Einfluss auf die Langzeitfunktion und sind in frühen Biopsien aufzufinden. In der Regel ist die akute Abstoßung durch eine Steroidbolusgabe gut zu behandeln (steroidsensible Abstoßung). Bei wiederholten oder steroidresisten Abstoßungen muss die Immunsuppression erweitert werden und ggf. eine zusätzlich Antikörpertherapie eingeleitet werden (»Rescue«-Therapie). Die Vermeidung einer Abstoßungsreaktion ist wichtig für die Langzeitfunktion. Während frühe steroidsensible Abstoßungen ohne tubuläre Schädigungen eine geringere prognostische Aussagekraft haben, sind späte akute und subklinische Rejektionen prognostisch bedeutsamer.
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Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
Einfluss des Spenderalters auf die Nierenfunktion Übersicht Klinische Hinweise bzw. Risikofaktoren eine akute Abstoßung 4 Kreatininanstieg >45 μmol/l bzw. 30% Anstieg vom Ausgangswert 4 Diureseeinbruch 4 Fieber 4 Druckschmerz des Transplantates 4 Schwellung des Transplantates 4 Hoher arterielle Gefäßwiderstände in der Duplexsonographie 4 Niedrige Immunsuppression 4 Keine gute HLA-Gewebeübereinstimmung 4 Retransplantationen 4 Zytotoxische Antikörper
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Kindliche Spendernieren in kindlichen Empfängern erreichen eine bessere Nierenfunktion als erwachsene Spendernieren in kindlichen Empfängern. Im eigenen Zentrum konnte in Zusammenarbeit mit ET wissenschaftlich belegt werden, dass Spendernieren von Spendern <20 Jahren verglichen mit Spendern >20 Jahren eine signifikant bessere Transplantatnierenfunktion in der GFR (60 versus 50 ml/ min/1,73 m2) nach 3 Jahren zeigen (Pape et al. 2006, 2007). Auch die Langzeitergebnisse zeigen eine deutliche bessere Überlebensrate bei kindlichen Empfängern <6 Jahren bei jungen Spendern. Als Ursache für die bessere für die besseren Funktionsraten wird eine Hypofiltration angesehen. Der kindliche Kreislauf kann häufig nicht den notwendigen Perfusionsdruck für eine Erwachsenenniere aufbringen, insbesondere wenn hypertoniebedingte Vorschäden bestehen.
Chronische Transplantatdysfunktion
Vorteile der Lebendspende
Das Schicksal des Transplantates wird durch das Ausmaß der chronischen Transplantatnephropathie (chronische Allograft-Nephropathie, CAN) bestimmt (Mengel et al. 2007). Auf das Nierentransplantat wirken im Verlauf sowohl simultan-additiv als auch sequenziell-additiv verschiedene immunologische und nicht-immunologische Schädigungsmechanismen ein, die zu einem chronisch-fibrotischen Organumbau führen. Dieses entwickelt sich früher oder später in jedem Transplantat und führt nach sehr unterschiedlichem Verlauf mit zunehmendem Funktionsverlust, Hypertonie und Proteinurie zum Transplantatversagen. Bei den immunologischen Vorgängen spielen rezidivierende Abstoßungsreaktionen, subklinische Abstoßungen eine Rolle. Bei den nicht-immunologischen Faktoren spielen die Kalzineurinnephrotoxizität, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Nikotinabusus, mangelnde Complicance und andere eine Rolle. Auch ein Rezidiv der Grunderkrankung (z. B. HUS) ist bei bestimmten Erkrankungen möglich. Von daher ist eine Therapie in entsprechend qualifizierten Zentren notwendig, die aufgrund der Erfahrung durch große Patientenzahlen ein bestmögliches Management der Kinder ermöglichen.
Dies gilt nicht für die Lebendspendesituation. Bei den Lebendspendern, die alle erwachsen sind, ist der Einfluss des Größenmissverhältnisses zwar ebenfalls vorhanden, aber nicht so gravierend. Die Lebendspende bietet prinzipiell bessere Organqualität, die optimale zeitliche Planbarkeit des operativen Eingriffs, der kurzen kalten Ischämiezeit und der verkürzten Wartezeit und kann als präemptive Nierentransplantation eine Dialyse vermeiden. Diese Faktoren führen zu einem besseren Langzeitüberleben. Die Überlebensraten sind nach Lebendspende sowohl für das Transplantat als auch für das Kind signifikant um 10% besser (Pape et al. 2006).
49.3.6
Ergebnisse
Die Ergebnisse der pädiatrischen Nierentransplantation sind hervorragend und besser im Vergleich zu Erwachsenen. Im eigenen Kollektiv wurden seit 1970 über 500 Kindernierentransplantationen durchgeführt. Durch die stetige Verbesserung der Operationstechniken, des intensivmedzinischen Managements und den Fortschritten der Immunsuppression beträgt die 3-Jahres-Transplantat-Überlebensrate mittlerweile 97% bei einer Letalität von 0%. Allein das 1- und 10-Jahres-Patienten- und -Transplantatüberleben der kleinen Kinder (<15 kg) beträgt 94%/83% und 90%/68% (Becker et al. 2006).
49.4
Lebertransplantation
Die pädiatrische Lebertransplantation hat sich von einem experimentellem Therapieverfahren zur Standardtherapie des akuten und chronischen Leberversagens entwickelt. Entscheidend für den Erfolg waren die Kombination aus einer verbesserten Indikationsstellung, der Standardisierung der Operationstechnik, einer effektiveren Immunsuppression und das verbesserte peri- und postoperative Management. Die pädiatrische Lebertransplantation unterscheidet sich dabei grundsätzlich von den Erwachsenen nicht nur in Bezug auf Größe, Ätiologie, Pharmakokinetik, sondern auch innerhalb der pädiatrischen Population.
49.4.1
Indikationen
Die Indikation zur pädiatrischen Lebertransplantation umfasst eine Vielzahl von Erkrankungen, die sich grundsätzlich von den Indikationen bei Erwachsenen unterscheidet (. Tab. 49.1; Mazariegos 2007). Neben den akuten
635 49.4 · Lebertransplantation
. Tab. 49.1. Erkrankungen bei pädiatrischen Lebertransplantation Biliäre Zirrhosen
4 4 4 4 4 4 4
Metabolische Erkrankungen mit Leberzirrhose
4 Progressives familiäres intrahepatisches Cholestase-Syndrom (PFIC) 4 α1-Antitrypsinmangel 4 M. Wilson 4 Zystische Fibrose 4 Tyrosinämie 4 Andere
Metabolische Erkrankungen mit Leberzirrhose
4 4 4 4
Primäre Hyperoxalurie Crigler- Najjar-Syndrom Glykogenosen Andere
Postnekrotische Leberzirrhose
4 4 4 4 4
Hepatitis B Hepatitis C Autoimmunhepatitis Neonatale Hepatitis Andere
4 4 4 4
Hepatozelluläres Karzinom Hepatoblastom Hämangioendotheliose Andere
Lebertumoren
Extrahepatische Gallengangsatresie Alagille-Syndrom Nicht-syndromale Gallengangshypolasie Primär sklerosierende Cholangitis Konnatale Leberfibrose Caroli-Syndrom Andere
Akutes Leberversagen
und chronischen Lebererkrankungen stellt die Gruppe der diversen Stoffwechselerkrankungen eine Besonderheit im Kindesalter dar. Insgesamt sind bei Kindern cholestatische Erkrankungen, die zu biliären Zirrhosen (über 50%) führen, die häufigste Indikation, hier insbesondere die extrahepatische Gallengangsatresie als die häufigste Einzeldiagnose (ca. 40%), gefolgt von der Gruppe der Stoffwechselerkrankungen (ca. 30%) wie der progressiven familiären intrahepatischen Cholestase (PFIC, M. Byler) und der Gruppe der kongenitalen obstruktiven cholestatischen Erkrankungen (nicht-syndromatische Gallengangstresie, Alagille-Syndrom, Cholangiodysplasie-Syndrom. Das akute Leberversagen ist mit 10% etwa gleich häufig zu den Erwachsenen, seltenere Indikation sind posthepatitische Zirrhosen und Lebertumoren. Die meisten Kinder müssen im Alter von 0–2 Jahren mit einem Körpergewicht zwischen 3–10 kg transplantiert werden. Jede progressive Lebererkrankung ohne andere kurative Therapieoption stellt eine Indikation dar. Darüber hinaus kann eine Transplantation auch indiziert sein, wenn
sie nicht zu einer Leberzirrhose führt, aber schwere extrahepatische Komplikationen verursacht. In der Gruppe der Stoffwechselerkrankungen sind deshalb die Indikationen in den letzten Jahren erweitert worden. Gerade hier bedarf es in Abwägung von alternativen Therapien einer besonders sorgfältigen Indikation und Terminierung zur Transplantation. Prinzipiell sollte eine pädiatrische Lebertransplantation nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn der Stoffwechseldefekt komplett behoben werden kann oder extrahepatische Störungen entscheidend beeinflusst werden können und extrahepatische Störungen nicht zu weit fortgeschritten sind und somit keine Kontraindikation darstellen. Aus diesem Grund stellen akute und subakute Leberversagen im Neugeborenenalter eine besonders problematische Gruppe dar, da aufgrund der hepatischen Dekompensation oft keine Zeit verbleibt eine exakte Diagnose bezüglich einer Systemerkrankung zu stellen. Wie im Erwachsenenbereich gelten als Kontraindikationen zur Transplantation metastasierende Tumorerkrankungen, fortgeschrittene nicht therapierbare Infektionen (Sepsis), Systemerkrankungen die nicht durch eine Transplantation beeinflusst werden können. > Die häufigsten Indikationen zur Lebertransplantation im Kindesalter sind cholestatische Erkrankungen, die zu biliären Zirrhosen führen, die häufigste Einzelindikation ist die extrahepatische Gallengangsatresie. Akute und subakute Leberversagen im Neugeborenenalter sind besonders problematisch, da aufgrund der hepatischen Dekompensation oft keine Zeit verbleibt, eine exakte Diagnose bezüglich einer Systemerkrankung zu stellen. Die meisten Kinder werden im Alter von 0–2 Jahren transplantiert.
Der optimale Zeitpunkt zur Transplantation und damit Aufnahme auf die Warteliste kann im Einzelfall schwierig vorhersehbar sein, da Allokationsänderungen bei der Organvergabe der Leber in der Vergangenheit die Wartezeit der Kinder erheblich beeinflusst hat. Der Zeitpunkt für die Transplantation hat einen entscheidenden Einfluss für die Prognose. Im Allgemeinen sollte eine Listung bei folgenden Kriterien erfolgen: bei eingeschränkter Lebersyntheseleistung, rezidivierenden Cholangitiden, deutlichen Zeichen der portalen Hypertension mit intestinalen Blutungen, Hyperspleniesyndrom, therapierefraktärem Aszites, Gedeihstörungen unter Ausnutzung supportiver Ernährungstherapie, deutlich eingeschränkter Lebensqualität (therapierefraktärer Juckreiz), hepatischer Osteopathie mit Spontanfrakturen und extrahepatischen Komplikationen bei Stoffwechselerkrankungen. Bei Vorliegen dieser klinischen Probleme sollte gerade bei den Kleinkindern eine Transplantation innerhalb von 3–6 Monaten erfolgen.
49
636
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
Übersicht Klinische Kriterien als Indikationen zur pädiatrischen Lebertransplantation 4 Eingeschränkter Lebersyntheseleistung (QuickWert, Cholinesterase, Albumin etc.) 4 Rezidivierende Cholangitiden 4 Therapierefraktärer Juckreiz 4 Zeichen der portalen Hypertension mit intestinalen Blutungen 4 Hyperspleniesyndrom 4 Therapierefraktärer Aszites 4 Gedeihstörungen unter Ausnutzung supportiver Ernährungstherapie 4 Hepatische Osteopathie mit Spontanfrakturen 4 Extrahepatischen Komplikationen bei Stoffwechselerkrankungen
49
Neben der optimalen Terminierung zur Lebertransplantation ist eine engagierte konservative Therapie zur Vermeidung von möglichen Komplikationen der fortgeschrittenen Lebererkrankung wie Ösophagusvarizen, Aszites, Infektionen, hepatorenales Syndrom oder hepatische Enzephalopathie unabdingbar. Die Prognose auch nach Transplantation ist entscheidend von Häufigkeit und Schwere der Dekompensationszeichen abhängig. Ist die Prognose eines Kindes unter der kalkulierten Wartezeit eingeschränkt, sollte auf die Möglichkeit einer Leberlebendspende zurückgegriffen werden.
49.4.2
Häufigkeit
In Deutschland werden jährlich ca. 100 pädiatrische Lebertransplantationen durchgeführt, davon 80–89% in wenigen spezialisierten Zentren (ELTR). In diesen Zentren werden die Kinder vor, während und vor allem langfristig nach der Lebertransplantation ambulant und stationär von spezialisierten, interdisziplinären Kinderteams unter der Leitung eines Kinderhepatologen betreut. Der entscheidende Prognosefaktor für die sehr guten Ergebnisse ist die interdisziplinäre Spezialisierung eines Kinderteams.
49.4.3
Operative Technik
Spenderleberpräparation Die Spenderleber wird »back table« zur Transplantation präparatorisch vorbereitet. Hierbei erfolgt die Beurteilung des Parenchyms auf Verfettung, Fibrose und ggf. entnahmebedingte Verletzungen. Sämtliche Gefäße werden vom lymphatischen Fettgewebe befreit, wobei besonders auf anatomische Gefäßvariationen wie eine akzessorische oder aberrierende rechte Leberarterie aus der A. mesenterica su-
perior oder eine linke Leberarterie aus der A. gastrica sinistra zu achten ist, die dann ggf. mikrochirurgisch rekonstruiert werden müssen. Alle Seitengefäße werden bei der Präparation sorgfältig versorgt, um unnötige Blutverluste bei der Reperfusion zu vermeiden. Des Weiteren erfolgt obligat eine Cholezystektomie und Spülen der Gallenwege.
Hepatektomie Die Empfängerhepatektomie erfolgt kurz skizziert unter Absetzen des Gallenganges bzw. Aufsuchen und Adhäsiolyse der Kasai-Schlinge im Leberhilus mit anschließender hoher Hilusdissektion zur Ausnutzung ausreichender Gefäßlängen mit Absetzen der rechten und linken Leberarterie, und des Pfortaderstammes mit der Rechts-/Links-Aufteilung. Anschließend erfolgen Mobilisation des rechten und linken Leberlappens, Darstellung der infrahepatischen Vena cava, des retrohepatischen Cavaverlaufes sowie der suprahepatischen Vena cava meist unter Absetzen von Zwerchfellvenen beidseits. Die Präparation unter Erhalt der retrohepatischen Vena cava kann ein sehr anspruchsvoller Operationsschritt sein, da der hypertrophierte Lobus caudatus die Cava meist ringförmig umfasst und einen mehr intraheptischen Verlauf aufzeigt. Hierbei ist es häufig leichter, die Cava supra- und infrahepatisch zu klemmen, den Caudatus zu durchtrennen und die Cava aus der Leber auszuschälen. Separat drainierende Lebervenen werden im Anschluss sorgfältig versorgt.
Vollorgantransplantation (»full size«) Die ersten Lebertransplantationen im Kindesalter wurden mit alters bzw. gewichtskompatiblen Organen durchgeführt. Die Implantation dieser Vollorgane (»full size«) erfolgt in orthotoper Technik analog zu den Erwachsenen. Hierbei wird die Vena cava der Spenderleber mit der empfängerseitigen Vena cava End-zu-End anastomosiert. Die spenderseitige Pfortader wird ebenfalls End-zu-End mit der Empfängerpfortader anastomosiert. Der Anschluss der Leberarterie erfolgt je nach anatomischer Situation, in der Regel über einen spender- und empfängerseitig geschaffenen Gastroduodenalis-Patch in Seit-zu-Seit-Technik oder aortal kranialseitig des Truncus coeliacus des Empfängers mit dem spenderseitigen aortalem Patch in Seit-zu-SeitTechnik. Aber auch andere Variationen zur Rekonstruktion der Leberarterie sind je nach Befund und anatomischer Situation möglich. Die Gallengangsrekonstruktion erfolgt bei Kindern in den meisten Fällen je nach Grunderkrankung über die Anlage einer biliodigestiven Anastomose nach Roux-Y oder als direkte Gallengangsrekonstruktion in End-zu-Endoder Seit-zu-Seit-Technik. Bei den am häufigsten vorkommenden biliären Zirrhosen auf dem Boden einer extrahepatischer Gallengangsatresie und Zustand nach Kasai-Operation (>80%) wird die alte Kasai-Schlinge verwendet. Hierbei ist stets auf eine ausreichende Länge zum Schutz vor aszendierenden Cholangitiden zu achten, ggf. muss die
637 49.4 · Lebertransplantation
. Abb. 49.5. Schematische Darstellung einer Splitleber mit der Aufteilung in den erweiterten rechten mit den Segmenten 4–8 und kleinen links- lateralen Leberlappen mit den Segmenten 2 und 3. Die genaue Aufteilung des Leberarterienbaumes ist individuell entscheidbar, je nach den Bedürfnissen der Empfänger
ehemalige End-zu-Seit-Jejuno-Jejunostomie-Fußpunktanastomose zur Verlängerung der Roux-Schlinge distalisiert werden. Ein alternatives Implantationsverfahren ist die sog. »Piggy-back«-Technik, bei der die empfängerseitige retrohepatische Vena cava im Verlauf der Empfängerhepatektomie erhalten bleibt. Hierbei erfolgt die venöse Anastomose über eine Seit-zu-Seit-Kavokavotomie. Modifikationen der »Piggy-back«-Technik werden insbesondere bei den Splitund Leberlebendteiltransplantationen verwendet.
Teillebertransplantation Aufgrund der selten zur Verfügung stehenden alters und gewichtskompatiblen kindlichen Spenderorgane, gerade für Säuglinge und Kleinkinder, wurde schon früh nach alternativen Operationstechniken gesucht. Meilensteine für die pädiatrische Lebertransplantation waren die Entwicklung der verschiedenen Formen der Leberteiltransplantation (. Abb. 49.5). Bei der »Reduced size«-Technik werden Lebersegmente abgetrennt, um eine entsprechende Größe zu erhalten. Diese Form ist heute nicht mehr zeitgemäß, da der eine abgetrennte Teil der Leber verworfen wird. Weiterentwicklungen stellen die Split-Lebertransplantation dar, bei der 2 Empfänger transplantiert werden können und die Transplantation durch die Leberlebendspende. Für das Splitten werden in der Regel gute, stabile Spender verwendet. Die in der Übersicht aufgeführten Spenderkriterien sind allgemein akzeptiert, können aber individuell nach Situation, Erfahrung und Dringlichkeit erheblich abweichen.
Übersicht Spenderkriterien für splitbare Organe 4 4 4 4 4
6
Spenderalter <50 Jahre Intensivzeit <5–7 Tage Spenderalter <50 Jahre Keine bzw. nur unwesentlich erhöhte Leberwerte Keine Hypernatriämie (160 mmol/l)
4 Kein hoher BMI (<30) 4 Keine hohen Katecholamindosen 4 Keine längere Reanimationsphase bzw. hypertensive Phase 4 Kein Lebertrauma 4 Kein Diabetes mellitus 4 Kein Sepsis
Bei der Split-Lebertransplantation unterscheidet man die »Ex-situ«- von der »In-situ«-Splittechnik. Bei der »Ex-situ«Technik wird die Spenderleber als ganzes entnommen und in dem Split-Zentrum »back-table« gesplittet. Die häufigste Form ist der »kleine Split« bei der die linkslateralen Lebersegmente II/III für einen Säugling oder Kleinkind bis ca. 30 kg Körpergewicht verwendet werden können und der rechts erweiterte Anteil mit den Segmenten IV–VIII + I auf einen Erwachsenen transplantiert werden kann. Beim »In-situ«-Split erfolgen die Parenchymdurchtrennung und die anatomische Darstellung der Gefäße bereits während der Spenderoperation. Dieses Verfahren bietet zumindest theoretische Vorteile, der kürzeren warmen und kalten Ischämiezeit beider Leberlappen, der bluttrockenen Resektionsfläche bei Reperfusion, dem besseren Erhalt der Segment-IV-Arterie. Jedoch ist das »In-situ«-Splitten im Alltag schwierig. Es erfordert hohe logistische Anforderungen und ein chirurgisches Entnahmeteam, das in den Split- und Leberlebendspendetechniken ausgebildet ist. Auf der anderen Seite bedeutet es eine Verlängerung der Spenderoperationszeit mit Risiken für andere Organe und eingeschränkter Akzeptanz der Spenderkrankenhäuser in Zeiten knapper Ressourcen. In der Praxis haben beide Techniken somit Vor- und Nachteile und zeigen vergleichbare Ergebnisse. Eine weitere Entwicklung ist der große oder anatomische Rechts-links-Split (. Abb. 49.6b) in die Segmente I–IV und V–VIII, die im eigenen Vorgehen eine komplette Halbierung der Vena cava und eine anatomische Parenchymdurchtrennung mit Halbierung der Mittelvene durchgeführt wird. Durch diese Splittechnik werden im Anschluss
49
638
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
die Mittelebene und der Ausflusstrakt mit Spendervenenmaterial rekonstruiert; man vermeidet so eine venöse Kongestion der jeweiligen Segmente. Dieses Verfahren kann natürlich nur »ex situ« erfolgen. Der anatomische linke Leberlappen wird für einen jugendlichen Empfänger, der anatomische rechte Lappen wird für einen weiteren Adoleszenten oder nicht zu schweren Erwachsenen verwendet (Kim et al. 2004). Für die Aufteilung der Gefäße gibt es keine festen Regeln; sie sollte immer zwischen den Zentren und deren Empfängerverhältnissen abgestimmt werden. Beim linkslateralen/rechts erweiterten Split (. Abb. 49.6a) verbleiben die Vena cava, der Pfortaderstamm, der Gallengangsbaum und die Leberarterie rechts, so dass genau wie ein Vollorgan standardmäßig implantiert werden kann. Bei einer Retransplantation bei dem Kind ist es aber sinnvoll, die Leberarterie links lateral zu belassen, da diese zusätzliche Gefäßlänge die Option eines aortalen Anschlusses ermöglicht. Beim anatomischen Split wird zumindest der Gallengangsbaum wegen der besseren arteriellen Blutversorgung über die rechte Leberarterie bevorzugt rechts belassen.
Leberlebendspende
49
Die gesetzlichen, medizinischen und psychologischen Voraussetzungen für eine Lebendspende sind oben aufgeführt. Bei der medizinischen Evaluation wird bei der Leberspende ein besonderes Augenmerk auf präexistente Lebererkrankungen wie eine Steatosis, Hepatitis, Raumforderungen etc. gerichtet. Bei genetischen Stoffwechselerkrankungen kann auf eine elterliche Lebendspende nicht zurückgegriffen werden. Bei der Lebendspende entspricht das technische Vorgehen dem Splitten. Bei der häufigsten Lebendspende der lateralen Segmente II/III sind Probleme der Restleberkapazität zu vernachlässigen. Selbst bei großen Kindern mit einer Spende eines anatomischen linken Leberlappens ist die Gefahr diesbezüglich geringer als bei der Leberlebendspende
a
zwischen zwei Erwachsenen. Im Gegensatz zur erwachsenen Lebendspende, bei der das Volumen des gespendeten Leberlappens zum Verhältnis des Empfängers (sog. GraftVolumen-Ratio) einen kritischen Wert nicht unterschreiten sollte (»small for size«), spielt bei der linkslateralen Spende für die Säuglinge häufiger ein zu großes Volumen eines Lappens (»large for size«) eine Rolle, so dass eine unzureichende Pfortaderdurchblutung mit der Gefahr der Hypoperfusion und Thrombosierung des Grafts bestehen kann. > Die Leberlebendspende für Kinder kann heute mit hoher Sicherheit und geringer Morbidität angeboten werden. Trotzdem darf die Gefährdung für den Spender nicht unterschätzt werden.
Akute postoperative Komplikationen (Blutungen, Galleleck, Abszesse, Entzündungen, Thrombosen, Embolien) und langfristige Komplikationen (Narbenbrüche, Beschwerden, Verwachsungen, chronische Gallenwegsentzündungen, psychologische Beeinträchtigungen etc.) können auftreten. Auch ein Versterben im Rahmen mit der Leberlebendspende für Kinder ist in extremen tragischen Einzelfällen möglich und in der Literatur beschrieben. Der größte Vorteil der Leberlebendspende sind das Umgehen der Wartezeit für die Kinder, die diese nicht überleben würden, und die insgesamt besseren Ergebnisse.
Implantation der Teilleber Bei der Implantation einer Teilleber bleibt die empfängerseitige Vena cava erhalten. Bei einem linkslateralen Lappen wird die linke Lebervene End-zu-Seit auf einen gemeinsam geschaffenen venösen Ausflusstrakt aller 3 Lebervenen des Empfängers anastomosiert. Je nach Größenverhältnis kann der Ausflusstrakt durch eine Kavotomie erweitert werden. Die Pfortader wird End-zu-End vorzugsweise unter Verwendung eines Rechts-links-Pfortaderbranchpatches zum meist notwendigen Ausgleich der Lumina anastomosiert. Die Leberarterie wird angeschrägt und End-zu-End je nach
b
. Abb. 49.6a, b. Formen der Splittechnik. a »Kleiner Split«: linkslateraler, rechts erweiterter Lappen, b anatomischer oder echter Rechts-links-Split
639 49.5 · Pankreastransplantation
Länge auf die empfängerseitige rechte oder linke Leberarterie oder der A. hepatica propria anastomosiert. Die Gallengangsrekonstruktion erfolgt meist unter Verwendung einer biliodigestiven Anastomose. Bei den anatomischen Splits erfolgt die venöse Anastomose als Seit-zu-Seit-Kavokavostomie in der »Piggy-back«Technik, ansonsten in oben beschriebener Technik. Wenn keine besonderen Bedingungen vorliegen wird eine direkte Gallengangsrekonstruktion angestrebt (»duct to duct«). Dies ermöglicht den späteren diagnostischen und therapeutischen interventionellen Zugang zum Gallengangssystem. Alle Anastomosen werden fortlaufend in mikrochirurgischer Technik mit resorbierbaren Fäden durchgeführt. Im eigenen Vorgehen wird bei der Teillebertransplantation bereits intraoperative die Perfusion der Leber mittels Duplexultraschall kontrolliert. Bei den Säuglingen erfolgt ein temporärer Bauchdeckenverschluss über eine Wellgummidrainage und Foliensog. Hierdurch vermeidet man intraabdominellen Druck und eine Einschränkung der Perfusion. Im Rahmen einer »Second-look«-Operation kann nach Abschwellen des Transplantates bei besseren Bedingungen das Abdomen gereinigt, auf Gallelecks, Blutungen abschließend kontrolliert und das Abdomen primär verschlossen werden. Bei schlechter Gerinnungssituation und komplizierter Transplantation ist es sinnvoll, den Gallengangsanschluss im Rahmen des »Second-look«-Eingriffs durchzuführen, um eine zusätzliche langwierige Adhäsiolyse primär zu vermeiden. Je nach Größe des Transplantates kann der Abdomenverschluss auch über ein Netz erfolgen.
49.4.4
Postoperative Komplikationen
Sowohl die Split- als auch die Lebendspendetransplantation sind mit einer potenziell erhöhten chirurgischen Komplikationsmöglichkeit im Vergleich zur Vollorgantransplantation verbunden. Dies ist zum einen durch die Technik an sich begründet, zum anderen durch die kleinen Gefäßverhältnisse. Komplikationen beinhalten Nachblutungen oder Gallelecks aus der Resektionsfläche, Gallengangsischämie mit Leckage oder Stenosegefahr. Die verlängerte warme Ischämie durch das Splitten birgt die Gefahr von sekundär sklerosierenden Gallenwegsschädigungen, kleine millimetergroße Anastomosen der Gefahr von Thrombosen, Ausflusstraktobstruktion der Lebervene, die zu einem vorzeitigem Transplantatversagen führen können und eine Retransplantation notwendig machen kann. Als weitere Komplikation werden Darmperforationen bei voroperierten Kindern mit schwieriger Adhäsiolyse beobachtet. Insgesamt tragen organspezifische Probleme erheblich zur Morbidität und Mortalität der Kinder bei. Sie gehören zu den häufigsten Gründen der Retransplantation. Ist diese schwierige initiale Phase ohne größere Probleme überstanden, ist die langfristige Prognose für die Kinder sehr gut. Im späteren Verlauf stehen chronische Gallengangskomplika-
tionen sowie typische immunsuppressionsassoziierte Erscheinungen im Vordergrund. Ursachen für chronische Gallengangskomplikationen sind meist multifaktoriell und stellen die chronische Transplantatdysfunktion im Leberbereich dar. Neben dem Leberarterienverschluss sind immunologische Faktoren (rezidivierende Abstoßungen) und nicht immunologische Faktoren (virale Infektionen z. B. CMV, aszendierende Cholangitiden etc.) zu nennen, die zum Bild der sekundär sklerosierenden Cholangitis führen. Die chronische Transplantatdysfunktion wird unterschiedlich bezeichnet (Farmer et al. 2007, ELTR): 4 »ischemic typ bile duct lesions« (ITBL) 4 »non-anastomotic bile duct strictures« (NAS) 4 »vanishing bile duct syndrome«, chronische Rejektion (VBDS)
Übersicht Komplikationen der Lebertransplantation 4 4 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4
49.4.5
Initiale Nichtfunktion (INF) Retransplantation Blutungen Transplantatkompression Leberarterienverschluss Pfortaderthrombose Venöse Obstruktion Gallengangskomplikationen – Akut: Lecks, Stenosen, Nekrose – Chronisch: chronische Cholestasesyndrome/ ITBL/NAS Peritonitis Abstoßung Infektion Sepsis/ MOV
Ergebnisse
Seit der Einführung der pädiatrischen Lebertransplantation in Deutschland 1978 wurde an der Medizinischen Hochschule Hannover von 1978–2007 bei über 500 Patienten im Kindesalter eine Lebertransplantation durchgeführt. Bei meist hervorragender Rehabilitation liegen die 1-Jahres-Überlebensraten bei knapp 90%, die Langzeitüberlebensraten bei über 80%. Der Anteil der Split- und Leberlebendspende beträgt in der jüngsten Zeit über 70% (Diamond et al. 2007; ELTR 2007).
49.5
Pankreastransplantation
Die kombinierte Pankreas-Nierentransplantation sollte heute bei allen juvenilen Diabetikern mit (prä-)terminaler Niereninsuffizienz erwogen werden, die die medizinischen
49
640
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
Kriterien einer isolierten Nierentransplantation erfüllen. Die isolierte Pankreastransplantation wird nach vorangegangener Nierentransplantation, auch nach Lebendnierenspende, oder als singuläre Transplantation bei Typ 1-Diabetikern mit schweren metabolischen Komplikationen in Einzelfällen empfohlen. Im pädiatrischen Bereich hat die Pankreastransplantation eine untergeordnete Rolle.
49.5.1
haben die Pankreastransplantationskandidaten einen durchschnittlich 25-jährigen Verlauf eines Typ-1 Diabetes. Aber auch im eigenen Kollektiv wurden Jugendliche mit einem Typ-1-Diabetes, die wegen anderer Nierenerkrankungen transplantiert werden mussten (z. B. Alport-Syndrom), erfolgreich kombiniert transplantiert. Außerdem wird die Pankreastransplantation in Einzelfällen bei multiviszeralen Transplantation durchgeführt.
Indikationen 49.5.3
49
Die Indikation zur kombinierten Pankreastransplantation sollte heute bei allen (prä-)terminal niereninsuffizienten Typ-1-Diabetikern durchgeführt werden, bei denen die medizinischen Kriterien einer isolierten Nierentransplantation erfüllt sind. Sie wird heute als klare Therapieempfehlung angesehen. Die Gründe hierfür sind das bessere Langzeitüberleben der Patienten, die Verbesserung der diabetischen Spätschäden und die Verbesserung der Lebensqualität im Vergleich zur isolierten Nierentransplantation. Wegen der guten Erfolge wird zunehmend auch die isolierte Pankreastransplantation angewandt. Argumente für eine isolierte Pankreastransplantation werden in der präemptiven Transplantation zur Verhinderung einer diabetischen Nephropathie und anderer sekundärer Endorganschädigungen und in der optimalen Nutzung der begrenzten postmortalen Spenderorgane zur Vermeidung von nachfolgenden Nierentransplantationen gesehen. Argumente gegen eine isolierte Pankreastransplantation sind der komplexe chirurgische Eingriff, das erschwerte immunologische Monitoring und die insgesamt noch schlechteren Funktionsraten. Die isolierte Pankreastransplantation kann nach isolierter Nierentransplantation (»pancreas after kidney«, PAK) oder als alleinige Pankreastransplantation (»pancreas transplantation alone«, PTA) bei schweren metabolischen Komplikationen wie nicht wahrnehmbare Hypoglykämien vorgenommen werden. Beide Indikationsgruppen unterscheiden sich grundsätzlich. Der diabetische Patient nach ehemaliger Nierentransplantation ist bereits auf die Einnahme einer lebenslang notwendigen Immunsuppression angewiesen, weswegen aus dieser Sicht hier die Indikation leichter zu rechtfertigen ist. Im Gegensatz dazu muss ein diabetischer Patient mit einer isolierten Pankreastransplantation die Insulintherapie gegen eine dann notwendige Immunsuppression eintauschen. Die Indikation zur isolierten Pankreastransplantation rechtfertigt sich hier nur in genauer Abwägung aller Risiken.
49.5.2
Operative Technik (. Tab. 49.2)
Aus dem oben gesagten unterscheidet sich die Pankreastransplantation nicht von den Erwachsenen. Das Pankreastransplantat wird mit einem duodenalen Segment transplantiert. Die arterielle Versorgung erfolgt über die A. lienalis und A. mesenterica superior, die über eine Spender-YIliakalgabel rekonstruiert und wird auf die empfängerseitige A. iliaca communis angeschlossen. Der venöse Abfluss erfolgt über die Spenderpfortader an die empfängerseitige Vena cava (systemisch-venöse Drainage) oder an die V. mesenterica superior des Empfängers (portal-venöse Drainage). Die exokrine Pankreasdrainage wird über das Duodenalsyegment an die Harnblase (Blasendrainage), die heute wegen urologischer Komplikationen praktisch verlassen wurde, oder jetzt vorzugsweise an den Darm (enterale Drainage) angeschlossen (. Abb. 49.7).
49.5.4
Postoperative Komplikationen
Die postoperativen Probleme der Pankreastransplantation sind durch die sog. Transplantatpankreatitis und Thrombosen gekennzeichnet. Die Transplantatpankreatitis ist Ausdruck des Ischämie-/Reperfusionsschadens. Die Trans. Tab. 49.2. Formen und Technik der Pankreastransplantation Kombinierte Pankreas- und Nierentransplantation
Diabetes mellitus Typ 1 und »funktioneller« Typ-1-Diabetes
Isolierte Pankreastransplantation 4 Pankreas nach Nierentransplantation (PAK) 4 Alleinige Pankreastransplantation (PTA)
Bei guter Nierentransplantatfunktion Bei schweren metabolischen Störungen
Systemisch-venöse Drainage
Anschluss der Spenderpfortader an Vena cava/iliaca
Portalvenöse Drainage
Anschluss der Spenderpfortader an die empfängerseitige Pfortader
Enterale Drainage
Anschluss des Spenderduodenums an den Dünndarm
Blasendrainage
Anschluss des Spenderduodenums an die Harnblase
Häufigkeit
Für den pädiatrischen Bereich spielt die Pankreastransplantation keine bedeutende Rolle, denn sekundäre diabetische Folgeschäden treten klinisch erst im Langzeitverlauf auf. So
641 49.6 · Dünndarmtransplantation
. Abb. 49.7. Kombinierte Pankreastransplantation mit portalenterischen Anschluss und Nierentransplantation
Nierentransplantat mit Gefäß und Ureteranschluss
plantatpankreatitis ist je nach Ausprägung die führende Ursache für Morbidität und den frühen Transplantatverlust. Die meist venösen Thrombosen können chirurgisch technisch bedingt sein oder häufiger sekundär als Ausdruck der schweren Mikrozirkulationsstörung entstehen. Die endokrine Pankreasfunktion wird über den Blutzuckerstoffwechsel und den fehlenden Insulinbedarf kontrolliert, das Ausmaß der exokrinen Schädigung über die Lipase und CrP. Ein Lipaseanstieg kann ähnlich dem Kreatinin eine Abstoßung anzeigen, ist aber nicht spezifisch.
49.5.5
Ergebnisse
Die Ergebnisse nach kombinierter Pankreas-Nierentransplantation sind gut mit 1- und 5-Jahres-Transplantat-Überleben von 85–90%, und 64–70%. Die Ergebnisse der isolierten Pankreastransplantation liegen 10% darunter (Di Carlo et al. 2003; Gruessner 2005; IPTR).
49.6
aptationsphase von mindestens 1 Jahr muss besonders bei erhaltenem Dickdarm abgewartet werden. Bei Kindern ist die Anpassungsfähigkeit besonders groß, so dass ein Dünndarmsegment von unter 50 cm noch ausreichend sein kann. Ursachen für ein Kurzdarmsyndrom in Kindesalter können unterschiedlich sein. Erkrankungen, die zur Transplantation führen können, sind in . Tab. 49.3 aufgeführt, wobei M. Crohn, Ischämie, Trauma und Tumorerkrankungen eher seltene Indikationen im Kindesalter darstellen. Der Indikationszeitpunkt ist schwierig zu bestimmen. Neben septischen Katheterkomplikationen ist die persistierende progressive cholestatische Leberfunktionseinschränkung mit Cholangitiden bishin zur Zirrhose der führende klinische Parameter. Patienten mit begleitender Leberzirrhose unter parenteraler Ernährung haben eine schlechtere Prognose, so dass mittlerweile die Indikation zur früheren Transplantation favorisiert wird. Neben diesen Aspekten ist auch die Lebensqualität der täglichen parenteralen Ernährung gegen die Risiken der Transplantation abzuwägen (Goulet u. Revillon 2003).
Dünndarmtransplantation . Tab. 49.3. Indikationen der Dünndarmtransplantation
Die isolierte und kombinierte Dünndarmtransplantation wird in Deutschland selten durchgeführt. Die häufigste Indikation stellt das Kurzdarmsyndrom mit der Notwendigkeit einer lebenslangen parenteralen Ernährung und deren Komplikationen dar. Die Ergebnisse werden durch die hohen Abstoßungsraten und infektiösen Komplikationen bestimmt.
49.6.1
Indikationen
Die häufigste Indikation zur Dünndarmtransplantation stellt das Kurzdarmsyndrom mit der Notwendigkeit einer lebenslangen parenteralen Ernährung dar. Eine entsprechende Ad-
Kurzdarmsyndrom
4 4 4 4 4 4
Malabsorptionssyndrome
4 »Microvillus inclusion disease« 4 Sekretorische Diarrhö 4 Autoimmun Enteritis
Motilitätsstörungen
4 Pseudoobstruktion 4 Aganglionose (M. Hirschsprung) 4 Viszerale Neuropathie
Tumor
4 Desmoidtumor 4 Familiäre Polyposis (M. Gardner)
Volvulus Gastrochisis Nekrotisierende Enterokolitis (NEC) M. Crohn Trauma Ischämie
49
642
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
49.6.2
Häufigkeit
Nach dem internationalen Dünndarmtransplantationsregister werden pro Jahr weltweit 40–80 pädiatrische Dünndarmtransplantationen durchgeführt in wenigen Zentren durchgeführt. Seit 1999 wurden 291 Dünndarmtransplantationen vorgenommen, in ca. 35% als isolierte, in ca. 48% als kombinierte Leber-Dünndarmtransplantationen und in ca. 16% als multiviszerale Transplantationen.
49.6.3
49
Operative Technik
Bei der Spenderoperation wird der Dünndarm distal des Pars horizontalis des Duodenums vom Pankreas getrennt, in dieser Höhe die A. und V. mesenterica durchtrennt: Eine arterielle Verlängerung mittels Spenderiliakalarterie ähnlich des Pankreas ist meist erforderlich. Die V. mesenterica wird an die empfängerseitige V. mesenterica, alternativ an die V. cava, die A. mesenterica auf die Aorta angeschlossen. Die kombinierte Leber-Dünndarmtransplantation wird heute zunehmend getrennt d. h. Leber und Dünndarm separat durchgeführt. Die Ausnahme stellt die Situationen bei Säuglingen dar, aufgrund der Gefäßgrößen erfolgt eine En-bloc-Multiviszeralentnahme unter Mitnahme der Leber, des Duodenums mit Pankreaskopf und des Dünndarms zum Erhalt des portalvenösen Konfluenz und der Hilusgefäße. Die Darmanastomose wird proximal End-zu-End und distal mittels Ileostoma und einer End-zu-Seit-Anastomose des Kolons an das Transplantat.
49.6.4
Postoperative Komplikationen
Die postoperativen Probleme der Dünndarmtransplantation sind durch immer noch hohe Raten der akuten Abstoßung sowie durch Thrombosen/Blutungen und septische Komplikationen mit schwerer Peritonitis gekennzeichnet. Die Abstoßungsraten können heute mit modernen immunsuppressiven Protokollen auf 25–40% gesenkt werden. Ebenso ist eine Verbesserung der Ergebnisse durch eine moderne Infektionsprophylaxe erzielt worden. Bei schwerer therapierefraktärer Abstoßung oder auch Peritonitis muss das Dünndarmtransplantat rechzeitig vor letalen septischen Komplikationen explantiert werden. Nach kombinierter Leber-Dünndarmtransplantation sind Abstoßungsraten niedriger, was vermutlich durch einen protektiven immunologischen Effekt der Leber begründet ist.
frühe Aufbau der Darmmukosa erscheint auch aus infektiösen Gründen von hoher Bedeutung. Eine parenterale Ernährung ist in der Regel nicht mehr notwendig. Im Vergleich zu anderen Transplantationspatienten ist die Betreuung komplexer und personal- sowie kostenintensiver.
49.6.6
Nach dem internationalen Register werden im erwachsenen und pädiatrischem Bereich für die isolierte Dünndarmtransplantation ein 1-Jahres-Patienten und Transplantatüberleben von 80 und 60%, für die kombinierte Transplantation von 65 und 52% angegeben. Ursachen für die unterschiedlichen Überlebensraten werden in hauptsächlich in der Selektion, der Zentrumserfahrung und der Periode gesehen. Unter optimalen Bedingungen werden 1-JahresTransplantat-Überlebensraten von 70% angegeben (Goulet u. Revillon 2003; Grant et al. 2005; O‘Keefe et al. 2006).
49.7
Lungentransplantation
Die Lungentransplantation im Kindesalter hat sich in den vergangenen Jahren zu einem akzeptierten und erfolgreichen Verfahren zur Behandlung von jungen Patienten mit Lungenerkrankungen im Endstadium entwickelt.
49.7.1
Indikationen
Grundsätzlich kommen für eine Lungentransplantation alle Patienten mit einer Lungenerkrankung im Endstadium in Betracht, bei denen die konservative Therapie weitgehend ausgeschöpft und die Lebenserwartung durch die Erkrankung deutlich reduziert ist. Die Transplantation im Kindes- und Jugendalter nimmt hierbei allerdings nach wie vor eine Sonderrolle ein. Die häufigste Indikation zur für eine isolierte Lungenoder auch kombinierte Herz-Lungentransplantation im Kindes und Jugendalter ist die zystische Fibrose, die mit über 50 % der Empfänger die größte Gruppe darstellt. Weitere Indikationsgruppen stellen pulmonal-vaskuskuläre Erkrankungen mit 25 % und sowie andere Lungenerkrankungen dar. Das Lungenemphysem ist im Gegensatz zu den Erwachsenen die Ausnahme bei der Indikation (Meyers et al. 2005; Wells u. Faro 2006).
49.7.2 49.6.5
Ergebnisse
Häufigkeit
Nachsorge
Das Dünndarmtransplantat zeigt seine Transplantatfunktion durch Resorption von Kohlenhydraten und mit zeitlichem Abstand auch Fetten an. Die Erhaltung bzw. der
Die erste Lungentransplantation im Kindesalter wurde 1986 durchgeführt, 1987 wurde das erste Kind unter 10 Jahren transplantiert. Weltweit wurden bislang ca. 1300 Lungen- und Herztransplantationen im Kindesalter vorgenom-
643 49.8 · Immunsuppression
men, hiervon wurden ca. 60 Lungentransplantationen pro Jahr und ca. 20 Lungentransplantationen bei Kindern unter 10 Jahren gemeldet, so dass die Gesamtzahlen eher klein sind (Faro et al. 2007).
49.7.3
Operative Technik
Bei den durchgeführten Verfahren handelt es in der überwiegenden Zahl der Fälle um die Doppellungentransplantation (>70%), gefolgt von der kombinierten Herz-Lungentransplantation ca. 8% und der isolierten Lungentransplantation (5%). Andere Verfahren wie die bilobäre oder Einzellappentransplantationen sind die Ausnahme. Weiterentwickelt hat sich die chirurgische Technik der Lungentransplantation. Weltweit werden fast alle Doppellungentransplantationen über einen quer über den Brustkorb geführten Zugang mit Durchtrennung des Brustbeines (transverse Thorakosternotmomie) und häufig unter Einsatz der Herzlungenmaschine durchgeführt. An der Medizinischen Hochschule Hannover wird in der überwiegenden Anzahl der Patienten die Lungentransplantation über einen sog. minimalinvasiven anterolateralen Zugang und ohne den Einsatz der Herzlungenmaschine vorgenommen (Fischer et al. 2001). Dieser Zugang hat neben der Belassung der Stabilität des Brustkorbs den großen Vorteil einer kosmetisch nur wenig und gerade bei Mädchen nach Entwicklung der Brust nicht sichtbaren Narbe. Die zweite chirurgische Weiterentwicklung, die speziell im Bereich körperlich kleiner Patienten erheblichen Einfluss hat, ist die größenangepasste Transplantation. Hier werden routinemäßig Teile von Lungenlappen oder ganze Lappen aus einem oder beiden Lungenflügeln entfernt, um die Transplantation kleiner Patienten mit dem Organ eines deutlich größeren Spenders zu ermöglichen. Die Lebendspende, die sich bei anderen Organtransplantationen bereits etabliert hat und hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und Asien angewandt wird, wird im Bereich der Lungentransplantation in Deutschland zur Zeit wegen des nicht unerheblichen Risikos für die beiden benötigten Lungenspender je Empfänger nicht angeboten.
49.7.4
Postoperative Komplikationen
In der pädiatrischen Lungentransplantation sind Infektionen und Abstoßungen die Hauptursache für den Organverlust und das Versterben. Die chronische Transplantatdysfunktion der Lungentransplantation ist die sog. Bronchiolitis obliterans im Langzeitverlauf. Die Bronchiolitis obliterans ist primär eine histologische Diagnose aus transbronchialen Biopsien (Visner et al. 2004), stellt aber eine komplexe heterogene Erkrankung der kleinen Atemwege dar, deren Ursache immunologische und nicht-immunologische Faktoren sind und mit dem Verlust von Lungenfunk-
tion einhergeht. Wegen des hohen Anteils der zystischen Fibrose ist der Diabetes mellitus eine häufige Folgeerscheinung nach Lungentransplantation. Außerdem stellen die Patienten mit zystischer Fibrose wegen den Resorptionsstörungen im Darm eine besondere Risikogruppe für Abstoßungen dar (Visner u. Goldfarb 2007).
49.7.5
Nachsorge
Die Nachbehandlung lungentransplantierter Kinder ist ebenso komplex wie bei den anderen soliden Organtransplantationen. Eine Vielzahl von klinischen Parametern ist notwendig, um frühe Komplikationen zu diagnostizieren und zu therapieren, um somit die Morbidität und Mortalität zu reduzieren.
49.7.6
Ergebnisse
Nach den internationalen Daten wird das 1- und 5-JahresPatienten-Überleben bei 80 bzw. 50% angegeben. Von dem internationalen Register werden Halbwertszeiten von unter 3 Jahren im pädiatrischen Bereich angegeben, diese sind gegenüber den Ergebnissen bei Erwachsenen mit 4,4 Jahren deutlich geringer. Diese langfristigen Ergebnisse sind trotz vielfacher Fortschritte und Neuentwicklungen seit der ersten im Kindesalter durchgeführten Lungentransplantation vor 20 Jahren relativ konstant. Es bleibt zu hoffen, dass die neuesten Entwicklungen und Regime im Bereich der immunsuppressiven Therapie hier Verbesserungen erbringen (Waltz et al. 2006; Faro, Mallory et al. 2007).
49.8
Immunsuppression
Die Immunsuppression nach pädiatrischer Transplantation entspricht im Wesentlichen der bei Erwachsenen. Durch Fortschritte in der Immunsuppression steht in den letzten Jahren eine Vielzahl hocheffektiver Substanzen und Kombinationsmöglichkeiten zu Verfügung, die selbst im Erwachsenbereich erst teilweise in Studien je nach Organ etabliert werden. Grundsätzlich unterschiedlich ist die Situation im Kinderbereich im Hinblick auf die geringe Datenlage. Die Besonderheit liegt in der geringeren Anzahl an Empfängern, in der unterschiedlichen Pharmakokinetik, in den noch nicht durchgemachten viralen Infektionen mit CMV, EBV und BKV u. a. und im dadurch möglicherweise höheren Risiko an Posttransplantationslymphomen. Kinder bedürfen in der Regel einer in Relation zum Körpergewicht relativ höheren Dosis. Akute Abstoßungsreaktionen sind in der Frühphase häufiger und werden später selten. Risiken für Abstoßungen bei zu niedriger Immunsuppression können durch Resorptionsstörungen, Durchfallerkrankungen, dem Absetzen der Immunsuppression oder
49
644
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
Interaktionen mit anderen Medikamenten, hier besonders die Medikamente, die mit dem Zytochrome P45 3A4 interagieren, auftreten. Im Allgemeinen besteht die Basisimmunsuppression aus einem Kalzineurininhibitor (Ciclosporin-Mikroemulsion oder Tacrolimus) in Kombination mit einem Kortikosteroid (Dualtherapie). Zur Einsparung von Nebenwirkungen der Kalzineurininhibitoren und der Steroide wird eine Tripletherapie mit Mycophenolat oder auch m-TorInhibitoren durchgeführt. Durch den Einsatz von Interleukin-2-Antikörpern (Basiliximab) konnte in Leber- und
Nierenstudien die Abstoßungsrate in der Frühphase ohne wesentliche Erhöhung des Infektrisikos zusätzlich vermindert werden (Offner et al. 2002; Strassburg et al. 2002). Der Einsatz von polyklonalen Antikörper (ATG, ALG) oder des monoklonalen anti-CD3-Antikörpers hat in Hinblick auf Risiken wie der Posttransplantationslymphome in Europa und Deutschland zumindest im Nieren- und Leberbereich keinen Stellenwert. . Tab. 49.4 zeigt einen Überblick über die gebräuchlichen Immunsuppressiva. Bei den insgesamt guten Ergebnissen der pädiatrischen Transplantation fokussiert man sich heute zunehmend auf
. Tab. 49.4. Aktuell gebräuchliche Immunsuppressiva in der pädiatrischen Organtransplantation
49
Wirkstoff/ Substanz
Handelsnamen
Wirkmechanismus
Nebenwirkungen
Indikationen
Steroide
Decortin H, Urbason
Hemmung der Interleukinsynthese Antiinflammatorisch
Hypertonus Diabetes mellitus Osteoporose Wachstumshemmung Adipositas Fettstoffwechselstörung Wundheilungsstörung
Basisimmunsuppression Abstoßungstherapie Behandlung der Grunderkrankung
Ciclosprin A
Sandimmun optoral
Kalzineurininhibitor Hemmung der Interleukin-2-Synthese
Nephrotoxitzität Hypertonus Gingivahyperplasie Diabetes mellitus Neurotoxizität Fettstoffwechselstörung
Basisimmunsuppression
Tacrolimus
Prograf
Kalzineurininhibitor Hemmung der Interleukin-2-Synthese
Nephrotoxitzität Neurotoxizität Diabetes mellitus Alopezie Hypertonus Fettstoffwechselstörung
Basisimmunsuppression Abstoßungstherapie (Konversionstherapie)
MycophenolatMofetil (MMF)
Cell-Cept, Myfortic
Proliferationshemmer Hemmung der Purinsynthese
Leukopenie Thrombozytopenie Diarrhö Gastrointestinale Nebenwirkungen
Basisimmunsuppression Abstoßungstherapie
Sirolimus Everolimus
Rapamune Certcan
m-TOR-Inhibitor Hemmung der IL-2 induzierten T- Zell Proliferation
Thrombozytopenie Fettstoffwechselstörung Schleimhautulzeration
Basisimmunsuppression Abstoßungstherapie
Basiliximab, Daclizumab
Simulect Zenapax
Chimärer/humanisierter monoklonaler IL2-Rezptor-Antikörper Bindung an die IL-2Rα-Untereinheit des IL-Rezeptors , die α-Kette des IL-2R wird nur auf aktivierten T-Zellen exprimiert
Keine spezifischen Nebenwirkungen
Induktionstherapie
Antithymozytenglobulin (ATG) Antilymphozytenglobulin (ALG)
Thymoglobulin ATG-Fresenius
Polyklonaler Antikörper gegen Vielzahl von Oberflächen Antikörper Hemmung der Komplement-vermittelten Zytolyse der T-Lymphozyten
Fieber Übelkeit Erbrechen Leukopenie Immunisierung gegen Fremdeiweiß Anaphylaxie Infektionen Malignome
Induktionstherapie Abstoßungstherapie
645 49.8 · Immunsuppression
eine individualisierte Immunsuppression zur Vermeidung von Langzeitkomplikationen. Hierbei sind maßgeblich Zeitpunkt, Schwere und Anzahl von Abstoßungsreaktionen, opportunistische Infektionen (bakteriell, viral, fungal), spezifische Nebenwirkungen, körperliche Veränderungen, Langzeittoxizität und PTLD zu berücksichtigen. Die Nephrotoxizität wird vornehmlich den Kalzineurininhibitoren zugeschrieben, weshalb MMF häufig zusätzlich eingesetzt wird. Die Tolerabilität von MMF kann durch eine Knochenmarkdepression und gastrointestinale Nebenwirkung eingeschränkt sein. Durch Anzahl und Intensität der Immunsuppression steigert das Risiko von Malignomen. Bei den Posttransplantationslymphomen stellen die EBV-induzierten B-Zell-Lymphome die Hauptgruppe dar.
druckeinstellung, Effizienz der Immunsuppression etc. stehen auch das Körperwachstum und die psychosoziale Integration sowie Rehabilitation im Vordergrund. Im Adoleszentenalter ist die Non-Compliance bzw. Non-Adherence ein wichtiger Risikofaktor für ein vorzeitiges Transplantatversagen. Ein Wechsel dieser Patienten in die Erwachsenenmedizin bedarf spezieller Transferprogramme und Schulungen (Rianthavorn et al. 2004; Kelly 2006; Waite u. Laraque 2006; Treem 2007).
> Die Kontrolle auf eine EBV-Infektion ist wichtig, um frühzeitig die Immunsuppression zu verändern oder Therapien einzuleiten.
Ahlenstiel T, Offner G, et al. (2006) ABO-incompatible kidney transplantation of an 8-yr-old girl with donor/recipient-constellation A1B/B. Xenotransplantation 13(2):141–7 Becker T, Neipp M, et al. (2006) Paediatric kidney transplantation in small children – a single centre experience. Transpl Int 19(3):197–202 Di Carlo A, Odorico JS, et al. (2003) Long-term outcomes in simultaneous pancreas-kidney transplantation: lessons relearned. Clin Transpl 17(3):215–20 Diamond IR, Fecteau A, et al. (2007) Impact of graft type on outcome in pediatric liver transplantation: a report From Studies of Pediatric Liver Transplantation (SPLIT). Ann Surg 246(2):301–10 DSO. www.dso.de ELTR. www.eltr.org ET. www.eurotransplant.nl Farmer DG, Venick RS, et al. (2007) Predictors of outcomes after pediatric liver transplantation: an analysis of more than 800 cases performed at a single institution. J Am Coll Surg 204(5):904–14; discussion 914–6 Faro A, Mallory GB, et al. (2007) American Society of Transplantation executive summary on pediatric lung transplantation. Am J Transplant 7(2):285–92 Fischer S, Struber M, et al. (2001) Video-assisted minimally invasive approach in clinical bilateral lung transplantation. J Thorac Cardiovasc Surg 122(6):1196–8 Goldfarb-Rumyantzev AS, Hurdle JF, et al. (2006) The role of pre-emptive re-transplant in graft and recipient outcome. Nephrol Dial Transplant 21(5):1355–64 Goulet O, Revillon Y (2003) Intestinal transplantation. Indian J Pediatr 70(9):737–42 Grant D, Abu-Elmagd K, et al. (2005) 2003 report of the intestine transplant registry: a new era has dawned. Ann Surg 241(4):607–13 Gruessner AC, Sutherland DE (2005) Pancreas transplant outcomes for United States (US) and non-US cases as reported to the United Network for Organ Sharing (UNOS) and the International Pancreas Transplant Registry (IPTR) as of June 2004. Clin Transplant 19(4):433–55 IPTR. www.iptr.umn.edu ITR. www.intestinaltransplant.org Kelly DA (2006) Current issues in pediatric transplantation. Pediatr Transplant 10(6):712–20 Kim JS, Broering DC, et al. (2004) Split liver transplantation: past, present and future. Pediatr Transplant 8(6):644–8 Leonard MB, Donaldson LA, et al. (2003) A prospective cohort study of incident maintenance dialysis in children: an NAPRTC study. Kidney Int 63(2):744–55 Mazariegos GV, Machaidze Z (2007) Pediatric liver transplantation: review of literature 2005–2006. Pediatr Transplant 11(8):835–43 Mengel M, Gwinner W, et al. (2007) Infiltrates in protocol biopsies from renal allografts. Am J Transplant 7(2):356–65
Das Wachstum gilt allgemein als eines der wichtigsten Kriterien für den Erfolg bei chronischen Erkrankungen im Kindesalter. Dies umfasst eine ausreichende, dem Alter des Kindes angemessene Längen- und Gewichtsentwicklung. Die Wachstumsbeeinträchtigung nach Transplantation kann je nach Organ und Grunderkrankung sehr unterschiedlich sein. Steroide mit deren bekannten Nebenwirkungen wie Diabetes, Hypertonus, Fettstoffwechsel, psychische Störungen etc. haben bei Kinder einen besonderen Einfluss auf den Knochenstoffwechsel und das Wachstum, so dass Steroidminimierungs- und -vermeidungskonzepte in naher Zukunft weiter evaluiert werden. Ein normales Wachstum im Kindesalter ist wesentlich für eine gute Lebensqualität. Der Einsatz von Wachstumshormonen wird in Einzelfällen durchgeführt. Bislang muss man davon ausgehen, dass Kinder auf eine lebenslange Fortführung der Immunsuppression angewiesen sind. Das Absetzen der Immunsuppression führt bis auf wenige Ausnahmen unweigerlich zur Rejektion und dem Verlust des Organs. Immunmodulatorische Konzepte zur Akzeptanz bzw. Toleranz werden erarbeitet, existieren bislang im pädiatrischen Bereich nicht. Die Konzepte setzen fast immer eine Konditionierung des Empfängers in zeitlichen Abständen voraus; sie sind zukünftig daher am ehesten im Bereich der Lebendspende vorstellbar. Unklar ist, ob Abstoßungen den gleichen Mechanismen folgen und auf standardisierte Therapien ansprechen und in wie weit virale Antigene zum Zeitpunkt der Induktion anerg werden.
49.8.1
Langzeitverlauf
Um einen langfristigen Transplantationserfolg zu gewährleisten, ist es notwendig, die Kinder regelmäßig in Spezialambulanzen nachzubetreuen. Neben der medizinischen Betreuung mit Überwachung der Nierenfunktion, Blut-
Literatur
49
646
49
Kapitel 49 · Spezielle Aspekte der Organtransplantation
Meyers BF, Morena M de la, et al. (2005) Primary graft dysfunction and other selected complications of lung transplantation: A singlecenter experience of 983 patients. J Thorac Cardiovasc Surg 129(6):1421–9 Neipp M, Jackobs S, et al. (2004) Living donor nephrectomy: flank incision versus anterior vertical mini-incision. Transplantation 78(9):1356–61 O’Keefe SJ (2006) Candidacy for intestinal transplantation. Am J Gastroenterol 101(7):1644–6 Offner G, Broyer M, et al. (2002) A multicenter, open-label, pharmacokinetic/pharmacodynamic safety, and tolerability study of basiliximab (Simulect) in pediatric de novo renal transplant recipients. Transplantation 74(7):961–6 Pape L, Ehrich JH, et al. (2007) Young for young! Mandatory age-matched exchange of paediatric kidneys. Pediatr Nephrol 22(4):477–9 Pape L, Ehrich JH, et al. (2006) Living related kidney donation as an advantage for growth of children independent of glomerular filtration rate. Transplant Proc 38(3):685–7 Pape L, Hoppe J, et al. (2006) Superior long-term graft function and better growth of grafts in children receiving kidneys from paediatric compared with adult donors. Nephrol Dial Transplant 21(9):2596–600 Pape L, Mengel M, et al. (2004) Renal arterial resistance index and computerized quantification of fibrosis as a combined predictive tool in chronic allograft nephropathy. Pediatr Transplant 8(6):565–70 Pape L, Offner G, et al. (2004) A single center clinical experience in intensive care management of 104 pediatric renal transplantations between 1998 and 2002. Pediatr Transplant 8(1):39–43 Rianthavorn P, Ettenger RB, et al. (2004) Noncompliance with immunosuppressive medications in pediatric and adolescent patients receiving solid-organ transplants. Transplantation 77(5):778–82 Strassburg A, Pfister ED, et al. (2002) Basiliximab reduces acute liver allograft rejection in pediatric patients. Transplant Proc 34(6):2374–5 TPG (2007) Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) vom 5. November 1997 (BGBL.I S.2631). Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 46, 12 Treem WR (2007) Beyond five years: long-term follow-up in pediatric liver transplantation. Curr Gastroenterol Rep 9(3):230–6 Visner GA, Faro A, et al. (2004) Role of transbronchial biopsies in pediatric lung diseases. Chest 126(1):273–80 Visner GA, Goldfarb SB (2007) Posttransplant monitoring of pediatric lung transplant recipients. Curr Opin Pediatr 19(3):321–6 Waite E, Laraque D (2006) Pediatric organ transplant patients and longterm care: a review. Mt Sinai J Med 73(8):1148–55 Waltz DA, Boucek M, et al. (2006) Registry of the International Society for Heart and Lung Transplantation: ninth official pediatric lung and heart-lung transplantation report – 2006. J Heart Lung Transplant 25(8):904–11 Wells A, Faro A (2006) Special considerations in pediatric lung transplantation. Semin Respir Crit Care Med 27(5):552–60
50
50 Siamesische Zwillinge R. Grantzow 50.1
Inzidenz und Verwachsungsformen
50.2
Diagnostik – 647
50.3
Trennungsoperationen
– 647
– 648
Literatur – 650
> Siamesische Zwillinge werden äußerst selten gesehen und stellen eine der faszinierendsten Fehlbildungen des Menschen dar. Entsprechend groß ist auch das Interesse an ihnen, denn die fehlende Individualität der zusammen gewachsenen Menschen gibt Anlass für viele Überlegungen und Phantasievorstellungen. Der Schweregrad der Verwachsungen schwankt stark, so dass es kein »typisches« Zwillingspaar gibt. Trennungen sind meistens möglich, jedoch können unter Umständen die Defekte nach einer Trennung so groß sein, dass es ethisch fraglich erscheint, eine derartige Operation durchzuführen. So muss jeder Fall individuell entschieden und die zu erwartende Lebensqualität genau bedacht werden.
50.1
Inzidenz und Verwachsungsformen
Siamesische Zwillinge kommen mit einer Häufigkeit von 1:70.000 bis 1:120.000 Geburten vor und stellen damit ein extrem seltenes Ereignis dar. Namensgeber dieser Fehlbildung ist das Zwillingspaar Chang und Eng, das im 19. Jahrhundert ein schottischer Kaufmann am Golf von Siam (heutiges Thailand) fand, in seinem Schiff nach Nordamerika mitnahm und auf Jahrmärkten ausstellte. Eine intrauterine Diagnose ist möglich und führt wohl in der Regel zu einem Abbruch der Schwangerschaft, so dass die Inzidenz in den letzten Jahrzehnten noch weiter abgesunken ist.
Je nach Ort der Verschmelzung werden siamesische Zwillinge in folgende Typen eingeteilt (. Abb. 50.1): 4 Kraniopagen 4 Thorakopagen 4 Xipho-Omphalopagen 4 Ischiopagen 4 Pygopagen Dabei können Mischtypen bestehen, insbesondere bei Verschmelzungen im Bereich der vorderen Rumpfwand. Die Verschmelzungen können symmetrisch oder asymmetrisch (z. B. bei Ischiopagen) angelegt sein. Embryologisch ist ursächlich wohl eine inkomplette Trennung bei einer Zwillingsentwicklung zu sehen, eine sekundäre Verschmelzung wird in heutiger Zeit als unwahrscheinlich beurteilt (Waldhausen et al. 2005).
50.2
Diagnostik
In heutiger Zeit sollte bereits intrauterin die Diagnose von siamesischen Zwillingen erfolgen und damit eine Entscheidung ermöglichen, ob die Schwangerschaft fortgeführt oder abgebrochen wird. Entscheidend sind der Schweregrad der Verwachsung und die Möglichkeit einer Trennung mit akzeptabler Lebensqualität. War früher eine rasche Trennung nach der Geburt mit nur beschränkter Diagnostik der eingeschlagene Weg, so wird heute die maximale Ausnutzung aller diagnostischen
648
Kapitel 50 · Siamesische Zwillinge
. Abb. 50.1. Schematische Einteilung siamesischer Zwillinge
50
Möglichkeiten gefordert. Vor der Trennung sollten die anatomischen Beziehungen innerhalb der Verschmelzungszone vollständig klar sein, damit entsprechende operative Strategien geplant werden können. Dabei geht es nicht allein um das Überleben der Kinder, sondern auch um das Ermöglichen einer akzeptablen Lebensqualität. Neben Ultraschall und Computertomographie ist zentrale bildgebende Untersuchung die Kernspintomographie, die in Narkose durchgeführt werden muss, um exakte Bilder zu erhalten. Dafür müssen, wie auch bei späteren operativen Eingriffen, 2 unabhängige Narkoseteams mit pädiatrischer bzw. neonatologischer Erfahrung zur Verfügung stehen. Bei zu erwartenden Anomalien der ableitenden Harnwege (Ischiopagen) sind Kontrastmitteldarstellungen der Uretern, Harnblase und Harnröhren notwendig (. Abb. 50.2). Dies gilt gleichfalls bei Verwachsungen im Bereich des Intestinaltraktes, der dann über eine fraktionierte Kontrastmittelfüllung abgeklärt werden muss (Omphalopagen, Ischiopagen). Bei komplizierten Situationen sind die gefundenen Befunde in Zeichnungen umzusetzen, damit während der Trennungsoperation alle Mitarbeiter über die anatomischen Gegebenheiten informiert sind.
50.3
Trennungsoperationen
> Trennungsoperationen sollten als elektive Eingriffe geplant werden, da die Überlebensrate dann mit insgesamt 80% signifikant höher liegt als bei Notfalleingriffen (20%; Spitz et al. 2003).
Notfalleingriffe sind nur dann indiziert, wenn der drohende Tod eines Zwillings das Leben des anderen Zwillings gefährdet oder weitere Fehlbildungen das Überleben eines oder beider Zwillinge bedrohen (z. B. Atresien, rupturgefährdete Omphalozele, Volvulus). Elektiv hingegen sind ferner vorbereitende Operationen, die zu erwartende Probleme der Trennung minimieren sollen. Typisches Beispiel hierfür ist die Implantation von Hautexpandern in der Verwachsungszone, um den zu erwartenden Haut- und Weichteildefekt nach der Trennung überbrücken zu können (. Abb. 50.3). Derartige Eingriffe sind seit Ende der 80er-Jahre bei allen an unserer Klinik getrennten 4 Zwillingspaaren durchgeführt worden und haben wesentlich zu einem unproblematischen Wundverschluss beigetragen. Auch die Anlage eine Anus praeters bei Ischiopagen kann vorbereitend sein, wenn eine Atresie vorliegt oder der bestehende Anus ein Hindernis bei der Trennungsoperation darstellt. Die elektive Trennungsoperation sollte ab einem Alter von 3 Monaten vorgesehen werden, also nach dem ersten Trimenon, wenn sämtliche diagnostischen Untersuchungen abgeschlossen sind. Der Schweregrad des Eingriffs schwankt stark in Abhängigkeit von der Form der Verwachsungen und kann Operationszeiten bis über 20 h erforderlich machen. Entsprechend ist eine Trennungsoperation ein Eingriff für ein sehr gut eingespieltes Team sämtlicher Fachbereiche und kann kein Ein-Mann-Unternehmen sein; insbesondere ist hier auch die Bedeutung zweier unabhängiger Anästhesieteams hervorzuheben.
649 50.3 · Trennungsoperationen
. Abb. 50.2. Asymmetrisches Ischiopagenpaar mit Zeichnung der knöchernen und urologischen Situation
. Abb. 50.3. Xipho-Omphalopagen mit aufgefülltem Expander vor der Trennungsoperation
50
650
Kapitel 50 · Siamesische Zwillinge
Sekundäre Operationen werden einige Monate nach der Trennung durchgeführt und betreffen z. B. Korrekturen von Spaltbecken (symmetrische Ischiopagen), von Kielbrüsten (Xiphopagen) oder die Rückverlagerung eines Schutz-Anus-praeters bei Verwachsungen des Anogenitalbereichs bei Ischiopagen. Die spätere Lebensqualität nach erfolgter Trennung ist bei Thorako-Xipho-Omphalopagen sicherlich am besten einzustufen, hingegen ist dies bei Ischiopagen häufig auf Grund der anogenitalen Verwachsungen nicht unproblematisch. Die schwierigsten Situationen stellen Kraniopagen dar, da deren Trennung oft mehr oder weniger schwere zerebrale Defekte nach sich zieht (Stone et al. 2006).
Literatur Spitz L, Kiely EM (2003) Conjoined twins. JAMA 289:1307–1310 Stone JL, Goodrich T (2006) The craniopagus malformation: classification and implications for surgical separation. Brain 129:1084– 1095 Waldhausen JHT (2005) Conjoined twins. In: Oldham KT, Colombani PM, Foglia RP, Skinner MA (eds) Principles and practice of pediatric surgey. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia, pp 1796–1804
50
651
Sachverzeichnis A AB0-Blutgruppenverträglichkeit 629 Abdomenverletzung 143 Abdominalverletzung 147–150 Ablatio testis 513 Abstoßungsreaktion 633, 634 Abszess 78, 79 – perianaler 436 – periproktischer 78 – perirektaler 404 Abwehr – humorale 74 – zelluläre 74 Abwehrkraft 74 Achalasie 249, 250 Actinomyces israelii 76 Adalimumab 435 Adenokarzinom 206 – Magen 583 Adenom, hepatozelluläres 575 adrenogenitales Syndrom 594 Adynamic-bowel-Syndrom 347 Agenesie, anorektale 385 air trapping 197 Albumin 133 Alkalose, hypochlorämische metabolische 280 Amputation 610 α-Amylase 12 Analabszess 404 Analachalasie 363, 364 Analatresie, operative Therapie 385–389 Analfissur 405 Analfistel 404, 405 Analgesie, patientenkontrollierte 34 Analhautprolaps 405, 406 Analrandthrombose 405 Analsphinkterachalasie 351 Anämie – autoimmunhämolytische 63 – kongenitale hämolytische 59–63 Anästhesie 20–26 – Aufrechterhaltung 21 – Ausrüstung 21 – Beendigung 21 – Einleitung 20 – Monitoring 23 Angiosakom 579 Anhydramnion 5 Aniridie, isolierte 529 Anorektoplastik, posteriore sagittale 386, 387 Antepositio ani 390
Antibiotika, Dosierung 85 Antibiotikaprophylaxe 84, 85 Antirheumatika, nichtsteroidale 34 Antitumornekrosefaktor-α-Antikörper 435 Antrumatresie 275 Anus – Anatomie 373 – Nervenversorgung 375 Aortenbogen, doppelter 249 Apnoesyndrom 270 Appendektomie 411 – komplizierte 420 – konventionelle 417 – laparoskopisch assistierte 418 – laparoskopische 418 – retrograde 417, 418 Appendikopathie, neurogene 416 Appendizitis 413–420 – Diagnostik 414, 415 – Pathogenese 413, 414 – Symptomatik 414 – Therapie 416–420 Apple-peel-Malformation 287 ARDS 8 5-ASA 432, 433 ASCA 428 Askin-Tumor 236 Aspergillose 205 Aspiration 7 Fremdkörperaspiration Asplenie, funktionelle 469 Aszites, fetaler 96 Ataxie-Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom 528 Atemmaske 21 Atemnotsyndrom 27 Atemsystem, Säugling 18 Atemwegsmanagement 21 Atmung, periodische 3 Atresie, rektale 388 Aufwachraum 31 Autoovarektomie 517 Autosplenektomie 61, 62 AV-Fistel 185, 186 AV-Malformation 200 Azidurie, paradoxe 280 Azinuszellkarzinom 580
B Ballaststoffe 38 Barrett-Ösophagus 272, 273 Battered-child-Syndrom 139–142 Batterieingestion 112 Bauchschmerz
– chronisch-rezidivierender 414 – funktioneller 414 Bauchtrauma, stumpfes 148, 455 Bauchwanddefekte 481–489 Bauhin-Klappe, Verlust 44 Beatmung – künstliche 65–69 – – assistierte 68, 69 – – druckkontrollierte 68 – – Durchführung 67, 68 – – Indikationen 66, 67 – – volumenkontrollierte 68 – Thoraxverletzung 146 – Verbrennung 133 Beckenboden-Dyssynergie 402 Beckwith-Wiedemann-Syndrom 94, 212, 529 Bell-clapper-Deformität 510 Bilirubinstoffwechsel, Neugeborene 6 Bisswunde 155, 156 Blasenentleerungsstörungen, neurogene 394 Blasenhalsfistel 387 blueberry muffin baby 5, 6 Blutbildung, Neugeborene 5, 6 Blutfluss, zerebraler 160 Blutgasanalyse 32 Blutung – intrakranielle 163 – subependymale 9 Blutungsneigung – angeborene 55 – erworbene 56 Body-stalk-Anomalie 94 Brachyösophagus 224 Brachytherapie 608 Brillenhämatom 545 Bronchiektase 202, 203 Bruchsackverschluss 495, 496 Brunnel-Zeichen 511 Burkitt-Lymphom 238, 622 Butterfly-Kanüle 87
C Candida-Mykose 77 Candida-Sepsis 77 Cantrell-Pentalogie 485, 487 Carnitin 49 Cartolizumab 435 Cat-eye-Syndrom 371 CHAOS 105 CHARGE-Syndrom 371, 372 Childrens Glasgow Coma Scale 143, 161
A–C
652
Sachverzeichnis
Chirurgie – fetale 7 Fetalchirurgie – fetoskopische 103 – minimalinvasive 119–126 – – Ergonomie 123 – – immunologische Effekte 121, 122 – – Indikationen 123, 124 – – kardiozirkulatorische Efekte 120 – – Malignome 126 – – präoperative Vorbereitung 122 – – respiratorische Effekte 120, 121 – – thoraskopische 125, 126 – rekonstruktive 137 Cholangiographie, intraoperative 444 Cholangitis, primär sklerosierende 425, 426 Choledochuszyste 448, 449 Cholestase, neonatale 443 Cholezystektomie 60 – laparoskopische 450 – prophylaktische 335 Choriongonadotropin, humanes 590 Chylothorax 203, 204, 224 Clostridium – difficile 80 – perfringens 76 – tetani 76 CO2-Pneumoperitoneum 120, 121 – Anlage 122, 123 Colestyramin 329 Colitis ulcerosa – chirurgische Therapie 436, 437 – Epidemiologie 421 – Klinik 422–427 – Diagnostik 427–430 – Therapie 430–437 Collis-Gastroplastik 269 Corpus-luteum-Zyste 518 Cullons-Zeichen 456 Currarino-Syndrom 371, 372 Cutis-laxa-Syndrom 406 Cyclosporin A 434
D Darm – Barrierefunktion 314 – Hypoxie 316 – Ischämie 316 – Malrotation 291–299 – Nekrose 321 – Nonfixation 482 – Nonrotation 482 Darmduplikatur 307–310 Darmentwicklung 11, 12 Darmepithel 314 Darmerkrankungen, chronischentzündliche 421–437
– 7 a. Colitis ulcerosa – 7 a. Morbus Crohn Darminsuffizienz 43, 44 Darmmotilität 14, 15 Darmobstruktion 26 Darmperistaltik 314 – Physiologie 341, 342 Darmresektion 355, 356 Darmstenose 321 Darmtransplantation 335 Darmvolvulus 295, 326 Débridement, primäres 155 Defäkation 377 Dekompressionskraniektomie 166 Denys-Drash-Syndrom 212, 529, 560 Dermis 129 Dermoidzyste 170, 601 Descensus testis, physiologischer 501, 502 Desinvagination – hydrostatische 410 – pneumatische 410 Desmose 344 Dialyse 71 Diaphragma pelvis 375 Diarrhö, antibiotikaassoziierte 80 Dilutionskoagulopathie 56 Dissektionsoperation, ösophagogastrische 269 Diuretika, osmotische 164 Divertikel 249 DNA-Reparaturdefekt 528 Doppelvaginae 391 Dottersacktumor 520 – vaginaler 600 Double-bubble-Phänomen 96 Douglas-Schmerz 415 Down-Syndrom 339, 346 Drainage, peritoneale 321 Drittraumverlust 26 Druck, intrakranieller 160, 163 Druckmessung, intrakranielle 163 Ductus – arteriosus 1 – – persistierender 3 – deferens, blind endender 507 – omphaloentericus, Persistenz 305, 307 – omphalomesentericus 291 – thoracicus, Anomalien 203 – thyreoglossus, Entfernung 169 – Wirsungianus 453 Dumping-Syndrom 269 Dünndarm – Inkarzeration 294 – Nekrose 294 Dünndarmatresie 286–291, 346, 482, 484 Dünndarmduplikatur 309 Dünndarmfehlbildugnen 283–310 Dünndarmmotilität 15 Dünndarmstenose 286–291
Dünndarmtransplantation 641 Duodenalatresie 96, 284, 285 Duodenalduplikatur 276, 309 Duodenalstenose 284 Dyschezia, infantile 401 Dysganglionose 326 Dysgerminom 519, 520 Dysplasie – azinäre 194 – intestinale neuronale 344, 345
E Echinococcuszyste 205, 451 ECMO 7 Membranoxygenation, extrakorporale EED-Syndrom 371, 372 Ehlers-Danlos-Syndrom 249 Eigenanamnese 53 Eigennephrektomie 631 Ein-Lungen-Anästhesie 27 Einzelknopfnaht 152 Eiweißsubstitution 133 Elektrolyte, parenterale Zufuhr 49 Elektrolytlösung, hypertone 133 Elektrolytregulation, neonatale 5 Elliptozytose, hereditäre 61 Embolisation 186 Emphysem, kongenitales lobäres 27, 197, 198 Empyem 79 Endobrachyösophagus 271, 273 Endokarditisprophylaxe 85 endorektaler Durchzug 357, 358 Endoskopie, Fremdkörper 115, 116 Endotrachealtubus 21, 22 Enkopresis 404 Enterokolitis 347 – nekrotisierende 26, 27, 313–322 – – Diagnostik 318, 319 – – Einteilung 319 – – Inzidenz 313 – – Klinik 317 – – Komplikationen 321 – – konservative Therapie 320 – – operative Therapie 320, 321 – – Pathogenese 315, 316 – – Pathologie 316, 317 – – Prävention 322 Enteroplastie, serielle transverale 332, 333 Enterostoma 344 Entzündung – Ausbreitung 78, 79 – lokale 78, 79 – systemische 79 Epidermis 129 Epidermoidzyste 594 Epidermolysis bullosa 283
653 Sachverzeichnis
Epididymitis 510 Epiduralanästhesie 30 Epitheloidzellgranulom 428 Epizootie 77 Ernährung – enterale 37–43 – – Indikationen 38 – – Komplikationen 42 – – Kontraindikationen 38 – – nekrotisierende Enterokolitis 316 – – Neugeborene 4, 5 – – Überwachung 42 – – Verbrennung 134 – parenterale 44–51 – – Aminosäuren 48 – – Applikation 46, 47 – – Elektrolytzufuhr 49, 50 – – Energiezufuhr 47 – – Glukose 48 – – Indikationen 45 – – Komplikationen 50 – – Kontraindikationen 45 – – Lipidemulsionen 48, 49 – – minimale 44 – – Neugeborene 4 – – partielle 44 – – Spurenelemente 50 – – totale 44, 204, 457 – – Überwachung 51, 52 – – Vitamine 50 – – Zugänge 45 – – Zusammensetzung 47–50 – perioperative 42, 43 – postoperative 42, 43 – präoperative 42 – Verbrennung 133, 134 Ernährungspumpe 41 Erysipel 79 Erythema nodosum 425 Erythrozytenenzymdefekte 63 Eschartomie 133 Ewing-Sarkom 238, 239 EXIT-Procedere 105, 175, 218 Extremitätenfraktur 23
F Faktor-VIIa-Konzentrat, rekombinantes 55 Faktor-V-Leiden 57 Familienanamnese 54 Fehlbildungen – 7 a. Malformationen – abdominale 93, 94 – Dünndarm 283–310 – extratrunkuläre 187 – Lunge 191–200 – lymphatische 187 – Ösophagus 239–249
– Thoraxwand 229–235 – trunkuläre 187 Femoralhernie 492 Fetalchirurgie 101–107 – ethische Aspekte 106, 107 – Komplikationen 103 – kongenitale 104 – offene 102, 103 – perioperatives Management 102 – postoperatives Management 103 – Selektionskriterien 102 FETENDO 103 FETO 218 Fettgaze 153 FG-Syndrom 371 Fibrinolytika 201 Fibrom 175 Fibrosarkom 611, 612 Fibrose, zystische 7 Mukoviszidose Fistel – anoperineale 385 – perianale 404 – perineale 390 – rektobulbäre 386 – rektoperineale 388 – rektovaginale 389 – rektovestibuläre 385, 388 Flügelfell 169 Flüssigkeitsdefizit – intraoperatives 29 – präoperatives 29 Flüssigkeitstherapie 29 – 7 a. Volumentherapie – Verbrennung 132, 133 Follikelzyste 518 Foramen ovale 1 Formeldiät, voll bilanzierte 38–40 Fowler-Stephens-Operation 506 Fraser-Syndrom 371, 372 Fremdkörper – Ballonkatheterentfernung 116 – Bougierungstherapie 116 – Dünndarm 112 – Endoskopie 115, 116 – Extraktion 114, 115 – Haut 154 – Lokalisation 110 – Magen 112 – Notfall 23 – Oropharynx 110 – Ösophagus 110, 111, 251 Fremdkörperaspiration 116, 117 Fremdkörperingestion 109–117 – Diagnostik 114 Frischplasma 55 Froschgeschwulst 170 Frühgeburtlichkeit 72 Frühsommermeningoenzephalitis 77 Fundoplikatio 250, 268
C–G
G Gallengangatresie 441–448 – Ätiopathogenese 441, 442 – erworbene 443 – extrahepatische 635 – Klinik 442, 443 – syndromatische 443 – Therapie 444, 445 Gallengangsrekonstruktion 636 Gallensteine 449, 450, 473 Ganglienzellunreife 343 Ganglienzellverlust 344, 345 Gasbloat-Syndrom 269 Gasbrand 76 Gastrinom 464 Gastroduodenostomie 283 Gastrografin 301 Gastrointestinaltrakt – Entwicklung 11–15 – Fremdkörper 113 – Kolonisation 15 – Motilität 14 – Obstruktion 96 Gastroschisis 26, 95, 482–485 Gastrostomie 41 Gefäßmalformationen 7 Malformationen, vaskuläre Gefäßtumoren 179–174 Gefäßzugang 7 Zugang Gehirnläsion 9 Gelegenheitsappendektomie 419, 420 Gerinnungsdiagnostik, präoperative 54 Gerinnungsstörungen – angeborene 54 – intraoperative 56 Gesichtshämangiom 183 Gewebekleber 152 Glasgow Coma Scale 143, 160 Gleithoden 502 Globaltest 54 Glukose, parenterale Zufuhr 48 Glukose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel 63 Glukosehomöostase, Neugeborene 4 Goldenhaar-Syndrom 371, 372 Gonadendysgenesie 520 Gonadoblastom 601 Granulosa-Thekazell-Tumor 520 Grey-Turner-Zeichen 456 Guedel-Tubus 21
654
Sachverzeichnis
H H2-Rezeptor-Antagonisten 268 Haddad-Syndrom 346 Haemophilus influenzae – Impfung 64, 86 – Postsplenektomie-Infektion 63 Halsfistel 167, 168 – laterale 167–169 – mediane 167, 168 – Rezidiv 169 – Therapie 168, 169 Halsspalte, mediane 169 Halstumoren – gutartige 175 – maligne 175, 176 Halszyste 167, 168 Hämangioendotheliom 180 – infantiles 571, 574, 579 – kaposiformes 184 Hämangiom 179–184 – Augenlid 182 – Diagnostik 180, 181 – Differenzialtherapie 183 – Halsbereich 170 – kapilläres 179 – kavernöses 179, 574 – Kortisontherapie 182, 183 – Kryotherapie 181 – Lasertherapie 181, 182 – Lokalisation 183 – Lunge 200 – operative Therapie 182 – segmentales 180 – subkutanes 170 – Therapie 181–183 – Thoraxwand 236 Hämangiomatose 180 Hämangioperizytom 611, 613 Hamartom, mesenchymales 236, 574, 579 Hämatom, Kindsmisshandlung 140 Hämatopoese, extramedulläre 469 Hamburger Klassifikation 184 Hämofiltration 71 Hämoglobin, Synthesestörungen 61, 62 Hämolyse, neonatale 6 Hämorrhoiden 405 Haut – Anatomie 129, 130 – Fremdkörper 154 Hautemphysem 145 Heinz-Körper 469 Helminthen 78 Hemihypertrophie, isolierte 529 Hemiskrotektomie 595 Hemithyreoidektomie 174 Hepatektomie 636
Hepatoblastom 571, 572 – embryonales 572 – fetales 572 – Therapie 577, 578 Hepatopathie, cholestatische 51 Hernie – 7 a. Inguinalhernie – 7 a. Umbilikalhernie – epigastrische 499 – mesokolische 294 – paraduodenale 294 Herz – thorakale Ektopie 236 – thorakoabdominelle Ektopie 236 – zervikale Ektopie 236 Herzfrequenz, Kinder 18 Hesselbach-Dreieck 492 H-Fistel 240 – ohne Atresie 247 Hiatushernie 262, 271, 272 – axiale 271 – paraösophageale 271 Hickman-Broviak-Katheter 89 Hirndrucksteigerung 160, 163 Hirndrucktherapie 165 Hirnödem 160 Histiozytom, malignes fibröses 611, 613 Hochfrequenzbeatmung 69 Hochfrequenzoszillation 219 Hoden – mikrovaskuläre Autotransplantation 506 – nicht tastbarer 506 Hodenatrophie – nach Hodentorsion 514 – postoperative 498, 507 Hodenektopie 502, 504 Hodenhochstand 501–504 – isolierter einfacher 502 – sekundärer 498, 503 – Therapie 504–507 Hodenmalignom 507 Hodenprothese 507 Hodenteratom 594 Hodentorsion 509, 510 Hodgkin-Lymphom 176, 617–621 Homer-Wright-Rosetten 547 Honeymoon-Kriterien 219 Horner-Trias 544 Howell-Jolly-Körperchen 472 Hühnerbrust 234 Hundebiss 156 Hydratidentorsion 511 Hydrocele funiculi spermatici 492 Hydrokolloidgaze 153 Hydrokolpos 521 Hydrometrokolpos 521 Hydronephrose 425 Hydrozephalus, posthämorrhagischer 9 Hymen, imperforiertes 521
Hyperkapnie 69 Hyperoxie, Neugeborene 4 Hyperplasie, fokale noduläre 575, 579 Hypersplenismus 472 Hypertension – portale 450, 451 – primäre pulmonale des Neugeborenen 2 Hypoganglionose 343, 352 Hypoglykämie, infantile, persistierende hyperinsulinämische 462, 463 Hypoparathyreoidismus 174 Hypospadie 386 Hypospadieoperation 30 Hyposplenismus 472 Hypovolämie 29 Hypoxämie 32
I Ikterus, Neugeborene 6 Ileoinguinalblockade 31 Immundefekte – infektassoziierte 75 – kombinierte 75 Immunglobulin A, sekretorisches 314 Immunmodulatoren 433 Immunsuppression 643, 644 Immunsuppressiva 644 Impaktion, fäkale 402 Impedanzmessung 263 Infarkt, hämorrhagischer 9 Infektion – bakterielle 75, 76 – chirurgische 73–86 – chirurgische Therapie 84 – horizontale 7 – intestinale 316 – mykogene 77, 78 – nosokomiale 7, 80 – obere Luftwege 19 – Prävention 84 – pyogene 75 – Ursachen 75–78 – vertikale 7 – virogene 75 Infektionsprophylaxe 152 Infiltrationsanästhesie 31 Infliximab 435 Inguinalhernie 491–497 – Diagnostik 494 – Inzidenz 493 – irreponible 494 – Klinik 494 – minimalinvasive Therapie 124 – Pathophysiologie 492 – reponible 494 – Therapie 494–498
655 Sachverzeichnis
Inguinalhernienoperation – Inkarzeration 497 – konventionelle 495, 496 – laparoskopische 496, 497 Innenschichtappendizitis 416 Insulinom 463, 464 Intensivmedizin – Monitoring 66 – pädiatrische 65–72 Internusrelaxation 375 Intubation, Indikationen 144 Invagination 407–412 – akute idiopathische 408 – Diagnostik 408, 409 – Klassifikation 407, 408 – Pathogenese 407 – rezidivierende 409 – Therapie 410–412 Ischämie, intrauterine 287 Ischiopagen 647 Ixodes ricinus 77
J Jejunostomie 41 Jejunum, Resektion 44 Jejunuminterposition 255, 256 Jeune-Syndrom 235 Johanson-Blizzard-Syndrom 371, 372
K Kalottenfraktur 161 Kalzineurininhibitoren 434 Kapnographie 23 Karzinoid, gastrointestinales 583 Karzinom – adenoid-zystischs 206 – adrenokortikales 555 – embryonales 520 – hepatozelluläres 571, 573, 578 – kolorektales 582, 584 – mukoepitheliales 206 Kasabach-Merrit-Syndrom 180, 184, 574 Kasai-Portoenterostomie 444–446 Katheter, Komplikationen 50 Katheterinfektion 81 Katheterpflege 46 Katheterwechsel 81 Katzenbiss 156 Kaudalanästhesie 30 Keimbahnmutation 528 Keimstrangstromatumor 520, 593 Keimzelltumoren 208, 587–599 – assoziierte Fehlbildungen 601 – Diagnostik 589 – extragonadale 595–599 – gonadale 591
– Hals 595, 596 – Hoden 593, 594 – Inzidenz 587 – Klassifikation 587, 588 – maligne 519 – Mediastinum 596 – Ovar 591 – Retroperitoneum 596, 597 – sakrokokzygeale 597–599 – Therapie 590 – Vagina 600, 601 Kerckring-Falten, Hypertrophie 327 Kerner-Morrison-Syndrom 528 Kernikterus 6 Kielbrust 234, 235 Kindsmisshandlung 137 – Dokumentation 140 – Ursachen 139 – Verletzungsmuster 140–142 Kindstod, plötzlicher 270 Kinsbourne-Syndrom 528 Klarzellsarkom 568 Klinefelter-Syndrom 601 Klippel-Trenaunay-Syndrom 185 Kloakenekstrophie 485, 488, 489 Kloakenfehlbildung 385, 390, 391, 523, 524 Kohlenhydrate, Verdauung 12 Kolektomie, minimalinvasive 437 Kolonaganglionose, totale 359 Kolonatresie 291 Kolonduplikatur 309 Kolonerkrankungen, fibrosierende 304 Koloninterponat 254 Kolostoma 344 Kolostomie 385 Kolostrum 5 Kompartmentsyndrom, abdominelles 484 Konglomerattumor, abzedierender 417 Konstipation, funktionelle 401, 402 Kontinenz 375, 376 Kraniopagen 647 Krätze 77 Kreislauf, fetaler 1 Kreislaufinsuffizienz, Pharmakotherapie 70 Kreislaufschock 70 Kremasterreflex 511 Krickenbeck-Klassifikation 380, 381 Kryptorchismus 502 Kugelzellanämie 59, 60 Kunstafteranalge 290 Kurzdarmsyndrom 43, 44, 299, 321, 325–337, 483, 641, 642 – Adaptationsreaktion 327, 328 – Ätiologie 326 – Definition 325 – Diagnostik 328 – Dünndarmtransplantation 641
– – – – – – – –
H–L
Klinik 326 Komplikationen 336 Nahrungszufuhr 329 operative Therapie 331–335 parenterale Ernährung 330 Therapie 329 Verlängerungsverfahren 332 Vorkommen 325
L Labien, Synechie 521 Laktase 12 Laparoskopie, diagnostische 411, 415, 416 Lasertherapie, Hämangiom 181, 182 Laxanzien 402 Lebektomie 578 Lebendorganspende 628–630 Leberabszess 451 Leberdialyse 71 Leberlebendspende 638 Leberresektion 576, 577 Lebersarkom 578 Lebertransplantation 578, 634–639 – Indikationen 634, 635 – Komplikationen 639 – operative Technik 636–639 – Splitten 637 Lebertumoren 571–576 – Diagnostik 575, 576 – Klinik 575 – Therapie 576–579 Leberversagen 71 – akutes 635 Leberzelltumor, transitioneller 573 Leberzirrhose, posthepatische 635 Leiomyosarkom 611, 613 Leistenhernie 7 Inguinalhernie Leistenhernienoperation 24 Leukomalazie, periventrikuläre 9 Linea dentata 373 Lipide – parenterale Zufuhr 48, 49 – Verdauung 12 Lipoblastom 236 Lipom 175 Liposarkom – myxoides 613, 613 – pleomorphes 613, 613 Liquor-Shunt-Operation 81 Lobektomie 193, 194, 200 Loslassschmerz 415 Low-tidal-volume-Beatmung 69 Luftreflux 262 Luftröhre 7 Trachea Lunge – kongenitale zystisch-adenomatoide 105, 106 – Säugling 18
656
Sachverzeichnis
Lungenabszess 200, 201 Lungenagenesie 191, 200 Lungenbiopsie 204 Lungenentwicklung 191, 200 – behinderte 211 – postpartale 2 Lungenerkrankungen, interstitielle 204, 205 Lungenkarzinoid 206 Lungenkontusion 146 Lungenmalformation 191–200 – kongenitale 99, 193, 194 – zystisch-adenomatoide 99, 193, 194 Lungenmetastasen 207 Lungenmykosen 205 Lungenödem, interstitielles 8 Lungensequestration 196, 197 Lungentransplantation 642, 643 Lungentumoren 206 Lungenzyste, kongenitale 27 Lyme-Borreliose 77 Lymphadenitis – colli, aufsteigende 78 – mykobakterielle 79 Lymphangiom 171, 172, 209, 236 Lymphangioma colli 171, 187 Lymphangitis 79 Lymphknotenabszess 174 Lymphknotenbiopsie 620 Lymphom 28, 208 – großzellig-anaplastisches 624 – alignes 617–625 Lymphozyten, intraepitheliale 15
M Magen, Fremdkörper 112 Magenausgangsstenose 275 Magen-Darm-Passage, antegrade 295 Magenduplikatur 275, 276 Magenhochzug 255 Magenmotilität 14, 15 Magenperforation 274, 275 Magenschlauch 256 Magenvolvulus 273, 274 Magnet, Ingestion 113, 116 Major-Thalassämie 473 Maldescensus testis 492 – Ätiologie 502 Malformationen – 7 a. Fehlbildungen – anorektale 370–397 – – Begleitfehlbildungen 378, 379 – – Diagnostik 382–384 – – Genetik 371 – – Inzidenz 377 – – Klassifikation 379–381 – – Therapie 384–391
– arterielle 186, 187 – vaskuläre 172, 184–189 – – Diagnostik 185, 186 – – Einteilung 184 – – Klinik 184, 185 – – Lunge 200 – – Therapie 186 – venöse 172, 184, 185, 200 Malrotationsfehlbildungen 291–299 Manometrie 263, 264 – anorektale 350, 351 Maskenbeatmung 67, 68 Mayer-Rokitansky-Küster-HauserSyndrom 522 McBurney-Punkt 414 McKusik-Kaufman-Syndrom 371, 372 Meckel-Divertikel 305–307, 418 – Ätiopathogenese 305 – Diagnostik 306 – Inzidenz 305 – Klinik 306 – Therapie 306, 207 Mediastinaltumoren 207 Megakolon 362, 363, 436 – toxisches 348 Mehrlumenkatheter 88 Mekoniumileus 26, 299–305 – Ätiopathogenese 300 – Diagnostik 300 – einfacher 300, 301 – Klinik 300 – komplizierter 300, 303 – Therapie 301–305 Mekoniumperitonitis 96 Mekoniumpfropfsyndrom 303 Membrandefekte 59 Membranoxygenierung, extrakorporale 67, 220–222 MEN-IIa-Syndrom 346 Meningokokkenimpfung 64 Metamizol 35 Metaplasie, intestinale 273 Methotrexat 434 MIBG-Therapie 551, 552 Mikrogastrie 276 Miktionszystourethrogramm 382 Milpighi-Körperchen 469 Milz – akzessorische 470 – Anatomie 468 – Aufgaben 469 – Autotransplantation 478 – Embryologie 467 – Physiologie 469 Milzabszess 471, 474 Milzembolisation 473, 475 Milzinfarkt 474 Milzinfektion 471 Milzpseudozyste 471 Milzresektion 7 Splenektomie
Milzruptur 474 Milzsequestrationskrise 61 Milztrauma 474 Milztumoren 471 Milzzyste – echte 470, 471 – parasitäre 471, 472 Minor-Thalassämie 473 MIRPE-Technik 232 Mirror-Syndrom 599 Mischinfektion 73 Mitotane 556 Mongolismus 7 Down-Syndrom Morbus – Crohn 326 – – chirurgische Therapie 436 – – Diagnostik 427–430 – – Epidemiologie 421 – – Klinik 422–427 – – Therapie 430–437 – Gaucher 473 – Hirschsprung 26, 291, 339–363, 402 – – Begleitfehlbildungen 346 – – Diagnostik 348–350 – – Differenzialdiagnose 354 – – Genetik 340 – – Histologie 351, 352 – – Inzidenz 339 – – Klinik 347 – – Komplikationen 359–362 – – Operationsverfahren 355–359 – – Pathophysiologie 341 – – Therapie 354, 355 – – Transitzeitbestimmung 350 – Hodgkin 208 Morgagni-Hernie 211, 224 Morphin 34 MRSA 75, 80 Mukosaektopie 393 Mukosektomie, rektale 436 Mukoviszidose 299 – gastrointestinale Komplikationen 304 Müller-Gänge 520 Musculus sphincter ani 373 Mycobacterium – avium 174 – leprae 76 – tuberculosis 76, 205 Myelomeningozele, Fetalchirurgie 103, 104 Mykobakterien 205 – atypische 76, 77, 174 Myocphenolat-Mofetil 434 Myofibrom 175
657 Sachverzeichnis
N Nabelhernie 7 Umbilikalhernie Nabelschnurbruch 485 Nabelvenenkatheter 219 Naevus (Nävus) 188 – flammeus 189 – sebaceus 189 Nahrung, hochkalorische 38 Naht, chirurgische 152, 153 Nahtmaterial 153 Nävuszellnävi 188 Nebennierenadenom 555 Nebenschilddrüsenerkrankungen 174 Nekrosektomie 134 Neodym-YAG-Laser 182 Nephrektomie – partielle 564 – totale 564 Nephroblastom 7 Wilms-Tumor Nephroblastomatose 568 Nephrolithiasis 425 Nephrom, mesoblastisches 569 Nervenscheidentumor 611–613 Nestschutz 6 Neuroblastom 126, 176, 542–555 – assoziierte Syndrome 528 – Ätiologie 542 – Chemotherapie 550–552 – Diagnostik 545–547 – Epidemiologie 542 – Genetik 542, 543 – intraspinales 552 – Klinik 544, 545 – Megatherapie 551 – MIBG-Therapie 551, 552 – operative Therapie 549, 550 – Pathogenese 544 – Prognose 548, 549 – Radiotherapie 551 – Rezidiv 553 – Screening 529, 542 – spontane Tumorregression 543 – Therapie 549–545 Neurofibrom 175, 208, 209 Neurofibrosarkom 611 Neurokristopathie 339 Neutropenie 81, 82 Nicht-RMS-Weichteilsarkom 610–614 Nierenfunktion, neonatale 5 Nierentransplantation 629–634 – Indikationen 629 – Komplikationen 632 – operative Technik 629, 630 Nierentumoren 559–568 – 7 a. Wilms-Tumor Nierenversagen 71 Nierenzellkarzinom 569
Non-Hodgkin-Lymphom 176, 208, 582, 622–625 Nonrotation 292, 293 Notfall, abdominaler 23 Notfalldiagnostik 144, 145 Notfalleingriffe 23 Nüchternzeit, präoperative 19
O Obstipation – Ätiologie 401 – chronische 402 – Diagnostik 402 – Einteilung 401 – postoperative chronische 394 – Therapie 402, 403 Obstruktion, duodenale 294 Obstruktionssyndrom, distales intestinales 304 OEIS-Syndrom 94 Omega-3-Fettsäuren 49 Omphalozele 26, 94, 485–488 Opioide 34 Opitz-Syndrom 371, 372 OPSI 63, 148, 469 Opsomyoklonus-Syndrom 545, 552 Orchido-Funikulolyse 505 Orchidopathie, sympathische 513, 514 Orchidopexie 505, 507, 513 Orchiektomie, hohe inguinale 594 Organlebendspende 634, 638 Organspende 627, 628 – altruistische 628 – freiwillige 628 – postmortale 628, 629 Organtransplantation 627–645 – Abstoßung 633, 634 – gesetzliche Regelung 627 – Immunsuppression 643, 644 Ösophagitis 264, 265 – eosinophile 271 Ösophagogramm 114 Ösophagomyotomie nach Heller 250 Ösophagoskopie 115, 116 Ösophagostoma, kollares 246 Ösophagus – Anatomie 259, 260 – chemische Schädigung 251 – Embryologie 239 – Fremdkörper 110, 111, 251 – Innervation 260 – mechanische Schädigung 251 – Peristaltik 260 – Sklerodermie 250, 251 Ösophagusachalasie 249, 250 Ösophagusanastomose 243 Ösophagusatresie 176, 240–242, 272 – Diagnostik 241, 242
– distale tracheoösophageale Fistel 242 – Klassifikation 240 – Klinik 241 – langstreckige 246, 247, 253 – Operation 24 – Pathophysiologie 240 Ösophagusdivertikel 249 Ösophagusduplikatur 249 – zystische 209 Ösophagusersatzverfahren 253–256 Ösophagusfehlbildungen 239–249 Ösophagusmotilität 14, 15 – gestörte 250 Ösophagusperforation 252 Ösophagusruptur 252, 253 Ösophagussphinkter 261 Ösophagusstenose 244, 265 – kongenitale 248 Ösophagusstriktur 252 Ösophagusvarize, Sklerosierung 450 Osteosarkom 237 – extraskelettales 612 Ovarialhernie 494 Ovarialtorsion 517 Ovarialtumor 519 – epithelialer 520 Ovarialzyste 97, 517–519 – funktionelle 593
P PAIR-Verfahren 451 Pallister-Hall-Syndrom 371 Panaritium 79 p-ANCA 428 Pancreas – anulare 284, 285, 455 – divisum 455 Pankreas – Anatomie 453, 454 – Embryologie 453 Pankreasaplasie 454, 455 Pankreasduplikatur 276 Pankreasenzyme 459, 460 Pankreasfistel 460 Pankreasgewebe, ektopes 455 Pankreaspseudozyste 460, 461 Pankreasteilresektion 459 Pankreastransplantation 639–641 Pankreastrauma 461 Pankreastumoren 579–582 Pankreaszyste 461 Pankreatektomie 459, 463 Pankreatitis – akute 43, 455–458 – chronische 458–460 – familiäre 455, 458 – nekrotisierende 43
L–P
658
Sachverzeichnis
Pankreatitis – pCED-assoziierte 426 – rezidivierende 456 Pankreatoblastom 579, 580 Papillotomie 473 Pappenheimer-Körper 469 Parierfraktur 141 Paronychie 80 Pectus carinatum 234 Pediatric Trauma Score 143 Peel-Away-Schleusensystem 29 PEEP-Beatmung 204 Peliose 470 Pendelhoden 502 Penisblockade 30 Pepper-Syndrom 528 Perikardzyste 209 Peristaltik, Physiologie 341, 342 Peritonealspülung 83 Peritonitis 82, 83 Peyer-Plaques 15 – verdickte 411 PHACE-Syndrom 180 Phäochromozytom 556 Phlegmone 79 Pig-tail-Katheter 633 Ping-Pong-Fraktur 161 Plasmazellgranulom 583 Platzwunde 153, 154 Pleuraempyem 83, 201 Plikatur, noblische 411 Pneumatozele 202 Pneumokokkenimpfung 64, 86, 148 Pneumoperitoneum 120, 121 – Anlage 122, 123 Pneumothorax 194 – primärer 199 – rezidivierender 203 – sekundärer 199 Poland-Syndrom 235 Polyamidnetz 153 Polyhydramnie 96 Polyhydramnion 5 Polysplenie 469 Polytrauma 143–145 – Erstversorgung 144 portale Hypertension 7 Hypertension, portale Portalvenenthrombose 478 Portkatheter 89 Portoenterostomie 444–446 Portsysteme 90, 91 Port-wine-stain-Hämangiom 179 Postsplenektomiesepsis 60, 478 Pott-Operation 389 Prämedikation, medikamentöse 19 Pränataldiagnostik 93–99 Prehn-Zeichen 511 Prentiss-Manöver 505 Proktoplastik, anteriore sagittale 389
Protein-C-Mangel 57 Protein-S-Mangel 57 Protonenpumpenhemmer 252, 329 Prune-belly-Syndrom 489 Pseudomonas aeruginosa 75 Pseudotumor, inflmmatorischer 206 Psoas-Zeichen 415 Pterygium colli 169 Pulmoblastom 206 Pulsoxymetrie 23 Purinantagonisten 433 Purpura – idiopathische thrombozytopenische 63, 473 – immunthrombozytopenische 473 Push-Enteroskopie 429 Pygopagen 647 Pyloromyotomie 280, 281 Pylorusatresie 275, 283 Pylorusstenose, hypertrophe 279–281 Pyoderma gangraenosum 425 Pyodermie 79 Pyruvatkinasemangel 63
Q Quetschwunde 154 Quickwert 54
R Ranula 170 Reed-Sternberg-Zelle 618 Reflex – gastroösophagealer 224, 245, 262–272 – – Apnoesyndrom 270 – – assoziierte Atemwegsinfekte 270 – – Asthma 270 – – Diagnostik 262–265 – – Mukoviszidose 304 – – Symptomatik 265 – – Therapie 266–269 – laryngopharyngealer 269 – rektosphinkterer 375 Refluxrezidiv 268 Regionalanästhesie 30, 35 Regressionssyndrom, kaudales 372 Rektumblindsack 384 Rektumduplikatur 309 Rektumprolaps 393, 406 Rektumstenose 388 Relaxationsreflex 351 Retentio testis 502, 505 Retention, funktionelle fäkale 401, 402 Retentionsblase 394 Retentionszyste, duktäre 461 Rex-Shunt 451 Rhabdoidtumor 569, 579, 611, 614
Rhabdomyosarkom 175, 603–610 – alveoläres 604 – Ätiopathogenese 603, 604 – botryoides 604 – Diagnostik 606 – embryonales 574, 604 – Extremitäten 610 – Klassifikation 604 – Klinik 606 – Kopf-Hals-Bereich 608 – Orbita 608 – paratestikuläres 594 – prognostische Faktoren 605 – Therapie 606, 607 – undifferenziertes 604 – Urogenitaltrakt 609 – vulvovaginales 524 Riesenganglien 344 Riesennävi 188 Rosenkranz-Perlen-Zeichen, splenisches 470 Rosenmüller-Lymphknoten 492 Rotationsanomalien 291–310
S Saccharase-Isomaltase 12 Salpingoophorektomie 519 Schädel-Hirn-Trauma 24, 121, 144, 159–166 – Diagnostik 160, 161 – geschlossenes 161 – leichtes 161, 162 – mittleres 162 – Pathophysiologie 159, 160 – schweres 163, 164 – Therapie 161–166 – ursächliche Mechanismen 159 Schädelverletzung 143 Schilddrüse – Blutversorgung 173 – Embryologie 173 – Innervation 173 Schilddrüsenentzündung 173 Schilddrüsenerkrankungen 173, 174 Schilddrüsenkarzinom 173, 174 Schlangenbiss 156 Schlürfdrainage 242, 246 Schmerzmessung 33 Schmerztherapie – medikamentöse 33–35 – postoperative 33–35 – unspezifische 33 – Verbrennung 134 Schnittwunde 154 Schock – hämorrhagischer 8, 9 – kardiogener 9 – septischer 7, 8, 317
659 Sachverzeichnis
Schocklunge 69 Schocktherapie 70 Schokoladenzyste 518 Schürfwunde 154 Seminom 594 Sequester – bronchopulmonaler 196, 197 – extralobärer 196 – intrapulmonaler 196 shaken baby 141 Shunt – portokavaler 450 – transjugulärer intrahepatischer portosystemischer 451 Siamesische Zwillinge 647–649 Sichelzellanämie 61, 473 Silastik-Katheter 89 Silikongaze 153 silk glove sign 494 Sinus urogenitalis, persistierender 523 Sippel-Syndrom 346 Sirenomyelie 371 Skabies 77 Sklerodermie 250, 251 Sklerose, noduläre 618 Sklerosierung 188 Skrotalödem 511 Skrotum, akutes 509–511 Smith-Syndrom 528 Sojaöl 49 Sondenernährung – Applikation 38, 40, 41 – kontinuierliche 41 – Zusammensetzung 38 Sotos-Syndrom 529 Spalte, laryngotracheoösophageale 247, 248 Spannungspneumothorax 194 Speiseröhre 7 Ösophagus Speiseröhrenfunktion, Entwicklung 266 Sphärozytose 59, 60 – hereditäre 472 Sphinkterdehnung 361 Sphinktermyektomie 364 Sphinktermyotomie 361 Splenektomie – hämolytische Anämie 60 – Indikationen 63 – Infektionsprophylaxe 63,. 64 – Komplikationen 478 – laparoskopische 475, 476 – partielle 472, 473, 476 – subtotale 60, 472, 477 – totale 60, 472, 473, 475 – – konventionelle 476 – – laparoskopische 476 Splenomegalie 450 Splenopexie 477, 478 Splenorrhaphie 477 Splenose 474
Split-Lebertransplantation 637 Spontanpneumothorax 199, 200 Spurenelemente, parenterale Zufuhr 50 Stach-Plexus 341 Staphylococcus aureus, Methicillinresistenter 75, 80 Stapler-Methode 269 Steißbeinteratom 597–599 – Fetalchirurgie 106 Sternum bifidum 236 Sternumdefekte 235 Stickstoffmonoxid, Inhalation 219, 226 Strawberry-Hämangiom 179 Streptococcus – pneumoniae, PostsplenektomieInfektion 63 – pyogenes 75 Stretta-Verfahren 2569 Stromatumoren, gastrointestinale 583 Stuhlinkontinenz 402 Stuhltraining 403 24-Stunden-pH-Metrie 262, 263 Substitutionstherapie, Gerinnungsfaktoren 55 Surfactant-Gabe 219 Surfactant-Mangel 2 Syndrom – adrenogenitales 594 – velokardiofaziales 371, 372 Synovialsarkom 613
T Tacrolimus 434 Tapering, duodenales 333 TAR-Syndrom 522 Taurin 44 Teillebertransplantation 637 Temperaturregulation, Neugeborene 4 Teratom 175, 519, 589 – Epignathus 600 – intraperikardiales 600 – kardiales 600 – Magen 600 – Oropharynx 600 – Pankreas 600 – retroperitoneales 597 Tetanus 76 Tetanusimpfung 86, 152 Thalassämie 61, 473 Thermoneutralpflege 4 Thermoregulation, neonatale 18 6-Thioguanin 434 Thipurin-Methyltransferase 433 Thorakopagen 647 Thorakoskopie, videoassistierte 193 Thorakosternotomie, transverse 643 Thorakotomie 201 Thoraxdeformitäten 229–235
Thoraxdrainage 193, 252 Thoraxsyndrom, akutes 62 Thoraxverletzung 143, 145–147 Thromboplastinzeit, aktivierte partielle 54 Thrombose – katheterbedingte 91 – Ursachen 56, 57 Thromboseprophylaxe 145 – perioperative 56 Thrombozytenaggregationshemmung 475 Thrombozytopathie, perioperative Therapie 56 Thymom 208 Thyreoglossusfistel 169 Thyreoidektomie 174 Thyreoiditis 173 – de Quervain 173 – Hashimoto 173 Toll-like-Rezeptoren 315 Tollwutimpfung 156 Topotecan 555 Toupet-Operation 269 Townes-Brocks-Syndrom 371 toxic shock syndrome 136 Tracheaerkrankungen 176 Tracheo-Bronchoskopie 171 Tracheomalazie 24 Tracheostoma 176, 177 Tracheotomie 146, 177 Transitzeitbestimmung 350 Transplantatdysfunktion, chronische 634 Transplantation 7 Organtransplantation Transplantatkompression 632 Transplantatnephropathie, chronische 634 Transplantatureterozystostomie 631 Trauma, rektales 406 Traumatologie, pädiatrische 139–149 triangular cord sign 443 Trichterbrust 229–234 – operative Behandlung 230–234 Triglyzeride, mittelkettige 38, 49 Trimenonreduktion 6 Trinknahrung, Zusammensetzung 38 Trisomie 21 7 Down-Syndrom Tritontumor, maligner 613 Trommelschlegelfinger 425 Tumoren – endokrine 580 – fetale 97 – gastrointestinale 582 – inflammatorische myoblastische 583 – minimalinvasive Therapie 126 – solide 527–539 – – Ätiopathogenese 527, 528 – – Chemotherapie 534–536 – – Diagnostik 531, 532 – – Epidemiologie 527, 528
P–T
660
Sachverzeichnis
Tumoren – – Grading 532 – – operative Therapie 533, 534 – – pseudopapilläre 579 – – Staging 531 – – Strahlentherapie 536 – – Supportivtherapie 536 – – Symptomatik 529–531 – – Therapie 533–538 – Thoraxwand 236, 237
U Überdruckbeatmung 219 Überwachung, postoperative 31, 32 Umbilikalhernie 498, 499 Upside-down stomach 272 Ureterstenose 633 Urlaubsdermatose 78 Uropathie, obstruktive 106 Uterus – duplex 522 – septus 522 – unicornis 522 Uterustumor 524
V VACTERL-Assoziation 372 Vagina duplex 522 Vaginalagenesie 521, 522 Vaginalersatzplastik 522 Vaginalseptum, transversales 521 Vaginaltumor 524 Vaginitis 521 Varikozele 508, 509 Venenkatheter, zentraler 7 Zentralvenenkatheter Venenverweilkanüle 87 Verbrennung 129–137 – Ausdehnung 131 – Beatmung 133 – Ernährung 133, 134 – Erstversorgung 131, 132 – Flüssigkeitstherapie 132 – Gradeinteilung 130 – Infektionsprophylaxe 136 – Intensivmedizin 132, 133 – Kindsmisshandlung 140 – Pathophysiologie 131 – Rehabilitation 137 – Schmerztherapie 134 Verbrühung – Kindsmisshandlung 140 – Therapie 133, 134 VIPom 464 Vitamin-A-Mangel 212 Vitamine, parenterale Zufuhr 50
Volumendefizit 120 Volumentherapie 29, 70 – 7 a. Flüssigkeitstherapie Volvulus 326 Von-Willebrand-Syndrom 54, 55
W Waardenburg-Syndrom 346 WAGR-Syndrom 529, 560 Wandermilz 470 Wärmehaushalt, neonatale 18 Wassersiphontest 262 Wedge-Resektion 192 Weichteilinfektion 79 Weichteiltumoren 603–614 wet lung 2 Wildtierbiss 156 Wilms-Tumor 528 – assoziierte Syndrome 529 – Ätiologie 560 – bilateraler 565 – Chemotherapie 566 – Diagnostik 560–563 – Epidemiologie 559, 560 – operative Therapie 563–566 – Prognose 568 – Strahlentherapie 567 – Therapie 563–567 – Tumorthrombus 565 – unilateraler 564 Windeldermatitis 77 Wingspread-Klassifikation 379 Wirbelsäulenfraktur 147 Wundarten 153–157 Wunde, Beschaffenheit 74 Wundinfektion 76 Wundreinigung 151 Wundverschluss 152 – alloplastisches Material 153 – Gewebekleber 152 – Methoden 152, 153 Wundversorgung 151–155
X Xipho-Omphalopagen 647
Z Zentralvenenkatheter 28, 88 – Komplikationen 91 – langzeitimplantierter 89, 90 Zirkumzision 30 Zugang – intraossärer 29, 88 – peripherer 28, 87, 88
– vaskulärer 28, 29 – zentraler 88, 89 – zentralvenöser 28 Zwerchfellhernie 25, 97, 98, 211–225 – Ätiologie 212 – Diagnostik 217 – Fetalchirurgie 104 – gastroösophagealer Reflux 272 – intrauterine Therapie 218 – Inzidenz 214 – kongenitale 212 – operativer Verschluss 222–224 – Pathophysiologie 212, 213 – postoperative Komplikationen 224, 225 – Pränataldiagnostik 215, 216 – Rezidiv 225 – Therapie 218, 219 Zwillinge, siamesische 647–649 Zyste, bronchogene 198, 209 Zytostatika, unerwünschte Wirkungen 537