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Das Buch Stolz präsentiert der König von Benwick dem Hofmagier Merlin seinen neugeborenen Sohn Lancelot. Während der alte Zauberer das Kind segnet, ereilt ihn eine düstere Vision: Lancelot wird der mächtigste Ritter aller Zeiten werden, jedoch Sieg und Verderben zugleich über Artus bringen. Als die Ländereien des Königs bald darauf dem brandschatzenden Feind anheim fallen, flieht dieser mit seiner Gemahlin und dem Kind auf ein Schiff. Doch der königlichen Familie ist kein Glück beschieden. Der Herrscher selbst stirbt noch während der stürmischen Überfahrt, das Schiff aber strandet, und seine Gemahlin irrt verzweifelt durch die einsamen, fremden Sümpfe. Als Lancelot ihren Händen entgleitet und von den Wassern nach Avalon gesogen wird, verfällt die Königin dem Wahnsinn. Der Knabe aber wächst unter der Obhut Brigids auf der geheimnisumwobenen Insel der Apfelbäume heran. Beseelt von dem Wunsch, ein Ritter der Tafelrunde zu werden, übt er sich unablässig in der Kampfkunst und erstreitet sich von einem Eindringling eine Rüstung mitsamt Schwert. Bald darauf kehrt er Avalon den Rücken und zieht nach Camelot - wo sein weiteres Schicksal bereits auf ihn wartet ... Der Autor Der amerikanische Schriftsteller J. Robert King wurde mit Romanen zu phantastischen Spieleserien bekannt. Lancelots Rache ist nach Merlins Fluch (01/13870, ebenfalls im Heyne Verlag erschienen) sein zweites großes Epos aus der Artus-Saga. Der Autor lebt und arbeitet in Burlington, Wisconsin.
J. R OBERT K ING
Lancelots Rache Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Band-Nr. 01/13927 Titel der amerikanischen Originalausgabe LANCELOT DU LETHE Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Für Gabriel, meinen Galahad: Der Sohn wird den Vater übertreffen.
Inhalt Prolog Geburt und Segen ..................... 9 1. Zwischen Feuer und Wasser .................... 17 2. Knabenzeit................................. 28 3. Von Waffen und Rüstungen..................... 36 4. Ritter in Avalon ............................. 44 5. Die Reise nach Camelot........................ 53 6. In der Kampfbahn............................ 63 7. Einweihung ................................ 76 8. In der Obhut der Feen......................... 84
9. Ritterlicher Bote............................. 93 10. Die vier Königinnen..........................104 11. Die Rose und die Biene .......................113 12. Kämpfer und Beobachter......................125 13. Auch Engel können fallen .....................136 14. Tribut an die Königin ........................147 15. Nach Avalon...............................161 16. Wahrhaftig sein ............................172 17. Feuer des Himmels..........................183 18. Die Wahl der Liebenden.......................194 19. Wer sind wir? .............................204 20. Zwei Arten von Liebe ........................214 21. Tote und lebende Brüder......................224 22. Der Rabe und die Rose .......................235 23. Hindernisse ...............................¿40 24. Ein Mittsommernachtstraum...................257 25. Der Gral und die Lanze .......................268 26. Stadt in Glut und Asche.......................279 27. Opfer....................................290 28. Die Schlacht von Benwick .....................300 29. Kriegsvorbereitungen ........................312 30. Die Belagerung beginnt.......................323 31. Schlimme Neuigkeiten........................334 32. Verbündete ...............................346 33. Die Schlacht von Dover.......................360 34. Abmachungen..............................371 35. Die Schlacht von Camlaun .....................383 36. Tod.....................................393 37. Nur die kleinen Dinge ........................405 Vorboten und Vorzeichen .....................413
Prolog Geburt und Segen Es war ein einfacher Zauberspruch, der Merlin über den Kanal befördern konnte, doch er musste sich dazu die Füße nass machen. So hob er den grauen Reisemantel an, drehte die Hacke, öffnete einen Wasserschlauch und ließ einen kleinen Strahl von Avalons Wasser auf das vernarbte Leder seines Stiefels rinnen. Als er den zweiten Fuß hob, spritzte ein wenig Wasser auf den Boden. Wieder ein Guss. Dann richtete er sich auf und sah sich um. Der größte Teil Merlins befand sich im Vorraum von Artus' Palast Camelot, doch die Fußsohlen standen im Wasser Avalons.
Er hatte Freunde in Avalon und dazu eine ganz besondere Freundin. Nyneve. Wo es Wasser gab, da war auch Nyneve. Wo Nyneve war, da war Merlin willkommen. Sie packte seine Hacken und zerrte ihn nach unten. Er versank im Boden wie in einem tiefen Brunnen. Die weißen Mauern Camelots verschwanden und wichen den kalten Strömen und dem Pulsschlag der Anderwelt. In der tosenden Dunkelheit zwischen den vom Wasser glatt geschliffenen Felsen sprach sie: Wohin willst du reisen, Merlin? Trotz der vielen Jahre bezauberte ihn ihre Stimme noch immer. Er würde die ganze Welt für sie aufgeben - bald, aber noch nicht heute ... Benwick. Wir müssen König Ban besuchen. Wir müssen Krieger für die Schlacht am Mount Badon sammeln. Selbst hier, in den sprudelnden Tiefen, erzeugte der Name einen ängstlichen Schauder. Wenn wir nicht die Truppen von Ban und Bors gewinnen, ist Camelot dem Untergang geweiht. Camelot ist so oder so dem Untergang geweiht. Sie zuckte zusammen, die Worte waren ihr unbedacht entschlüpft. Merlin hielt sich fest. Was meinst du damit? Nur, dass Camelot sterblich ist, genau wie du, Merlin. Ich fürchte mich 4
vor dem, was am Mount Badon geschehen wird. Ich fürchte, du könntest sterben. Lass dies die letzte Gunst sein, die du den Sterblichen erweist, und dann wollen wir uns für immer in die Höhle der Verzückung zurückziehen. Die meisten Kavaliere pflückten Blumen für die Angebeteten. Merlin hatte ihr eine ganze Welt erschaffen. Sei nicht so begierig darauf, in meinen Himmel zu kommen, meine Liebste. Tore aus Perlen halten dich genauso gefangen wie Tore aus Eisen. Das Leben der Sterblichen ist das wahre Leben — mit all den blutigen Fehden, der Blutschande und den tödlichen Ränken der Politik. Selbst die Engel sehnen sich danach, einen Blick auf das Leben der Sterblichen zu erhaschen. Sie schwieg, während sie ihn zu den Wasseradern Galliens zog. Ich sehne mich nicht nach einem Blick in diese Welt. Ich bringe dich nach Benwick, mein Liebster, aber ich werde im Brunnen auf dich warten. Wenn du dich um gefährliche Politik kümmern willst, so musst du es allein tun. Solange du nur auf mich wartest, soll es mir recht sein. Sie schwammen einen unterirdischen Fluss hinauf und erreichten eine mächtige Wasserader. In einem römischen Aquädukt kamen sie heraus und ließen sich nach Benwick treiben. Ein Teil des Wassers wurde in Bäder und Zisternen abgezweigt, doch Nyneve und Merlin folgten den Rohren, die bis zu einem großen Springbrunnen im Hofe von König Ban führten. Aus dieser Flut erhob sich Merlin. Sein alter Mantel war tropfnass. Zwischen den makellos gemeißelten Figuren tauchte er als formlose Gestalt auf und streckte den Kopf heraus wie eine nach Luft schnappende Forelle. Die Leute am Brunnen wichen keuchend zurück. »Ein Wassergeist, ein Wassergeist!« »Hat sich was mit Geist«, spuckte Merlin. Mit jedem Wort spritzte eine Gischtfontäne aus Schnauzer und Bart. Er schüttelte sich wie ein Hund und benetzte die Gaffer in der Nähe. Brokatstoff klebte feucht an der Haut der Höflinge, feines Tuch warf Falten auf der Haut der Knappen. Merlin kümmerte sich nicht weiter darum, sondern schwang ein Bein über den Beckenrand und betrat Benwicks Reich. 4
Ein letztes Mal schüttelte er den Kopf. Weiße Locken schleuderten eine neue Ladung Wasser in den Hof. »Ich habe dringende Nachricht für König Ban. Bitte tretet zur Seite.«
»Das werde ich gewiss nicht tun«, kam eine kühne Antwort. Der barsche Ton verriet Merlin sofort, wer der Sprecher war. »Denn ich bin der, den Ihr sucht.« Ban war ein aufgeräumter Kerl mit kurz geschnittenem schwarzem Haar und Bart. Er trug ein schmales Diadem in römischem Stil, und seine Augen funkelten belustigt. Merlin lächelte, als er den Freund sah, und fasste Ban bei den Händen. »Seid gegrüßt, Majestät. Ich wünschte, wir könnten uns unter günstigeren Umständen wieder sehen.« »Unter günstigeren Umständen?«, fragte Ban erstaunt. »Könnte es denn günstigere Umstände geben als diese? Die Kriege mit Claudas liegen dank Artus hinter uns. Das Land blüht auf und genießt großen Wohlstand. Mein Palast hat noch nie so prächtig ausgesehen. Mir wird sogar die Gelegenheit zuteil, den Hofmagier von Camelot zu bewirten, der gerade aus meinem Wasserspiel gestiegen ist. In Benwick lebt es sich vortrefflich, und die Leute haben beschlossen, ihren Tod vorläufig aufzuschieben. Es ist himmlisch hierzulande.« »Seid da mal nicht so sicher«, warnte Merlin. König Bans Zähne blitzten zwischen den Bartstoppeln. Er legte den Arm um Merlins Schulter. »Nun gut. Warum seid Ihr also hergekommen, Merlin?« »Ich soll Euch für Artus um Hilfe gegen die Horden der Sachsen bitten.« »Artus hat mir den Frieden geschenkt, er hat tausende meiner Soldaten gerettet«, erwiderte Ban nachdenklich. »Ihm habe ich mein Leben zu verdanken. Ich würde für ihn durchs Höllenfeuer gehen - und es klingt, als müsste ich dies nun tun.« »Allerdings, doch ist es ein Brand von einer ganz anderen Art«, erwiderte Merlin. »Wenn die Sachsen beim Mount Badon siegen, werden sie die ganze Mittelmark einnehmen. Wir würden dann von fremden Gottheiten und heidnischen Horden unterworfen.« Bans Lächeln wirkte mit einem Mal ein wenig verkrampft. »Eine Horde ist eine Horde, und eine christliche Horde ist nicht besser als 5
eine heidnische.« Er knirschte mit den Zähnen. »Doch für Artus - ja, ich werde meine Truppen schicken.« »Ich denke, er hat wohl zwanzigtausend Eurer Soldaten gerettet«, drängte Merlin. »Ob er hoffen kann, dass Ihr ihm nun den zehnten Teil davon schickt?« »Oh, ich gebe ihm mehr als zweitausend. Ich schicke eine ganze Legion — meine beste sogar. Wozu brauche ich die Soldaten im Frieden? Und auch mein Bruder Bors wird eine Legion schicken, wenn Ihr ihn fragt.« Merlin nickte dankbar. »Ihr seid überaus großzügig. Ich danke Euch. Ich muss jetzt gehen, denn uns bleibt nicht viel Zeit. So werde ich nun mit Bors sprechen.« »Wartet«, sagte König Ban. Er hob die Hand. »Ich will Euch noch um eine kleine Gefälligkeit bitten.« Er deutete zu einem Durchgang. »Kommt mit, mein Freund, und schaut mit mir die Zukunft meines Königreichs.« Mit einer Hand führte König Ban Merlin über die nassen Steine des Hofs, während die Finger der anderen schnippend einen Befehl erteilten. Edelleute wichen zur Seite, und Diener eilten durch den Bogengang voraus, um alles vorzubereiten. Merlin fügte sich ergeben. Seine Stiefel quietschten und gluckerten bei jedem Schritt. Benwicks Zukunft - welches hässliche Bild mochte sie am besten darstellen? Ein schmieriges Schwein, das den gierigen Händen des Bauern entkommt? Eine betagte Pastete mit verschimmelter Kruste? Ein Trompeter mit dicken Lippen und einem Ohr aus Blech? Derart unfreundliche Gedanken schössen Merlin durch den Kopf, als er durch den Gang lief. Es dauerte eine Weile, bis sie eine kleine Nähstube erreichten. Das Zimmer war warm,
und viele Menschen hielten sich darin auf. Dienerinnen mit Hauben drängten sich wie ein Chor von Engeln strahlend um ihre Madonna — die blonde Königin Elaine mit ihrem Säugling. Merlin sank auf die Knie und legte staunend die Hände auf die Wangen. Alte Augen starrten das Neugeborene an. »Lancelot ist sein Name«, erklärte König Ban, der neben ihm stand. »Mein Sohn. Der Erbe meines Throns.« 6
Merlin gaffte wie benommen. Nie wieder, seit er Artus als Kind gesehen hatte, war ihm solche Schönheit begegnet. Glatt und weich und rein war die Haut, lebendig und göttlich. Ein Knabe, den man als Inbegriff von Ruhm und Schönheit ansehen konnte. Merlin war fast geblendet und musste den Blick abwenden. Er schirmte die Augen ab, doch es war zu spät. Schon hatte ihm das Strahlen eine Vision eingegeben. Er sah Camelot in Trauerfarben. Alle weißen Wände waren mit schwarzen Bannern behängt. Die Pritschen der Garnison waren verwaist. Dicht an dicht ruhten die Krieger in Grabstätten - wenn sie Glück hatten —, oder sie lagen verstreut auf vergessenen Schlachtfeldern. Ein mächtiger Feind hatte sich erhoben und die Ritter dezimiert, Artus getötet und Camelot dem Vergessen anheim gegeben. Dieser große Feind lag jetzt in Windeln vor Merlin. »Lancelot«, schnaufte der alte Mann entsetzt. »Das ist aber ein schöner Name.« König Ban strahlte. »Endlich ward mir ein Erbe geschenkt. Ich werde ihm ein friedvolles Königreich hinterlassen, und er wird es regieren, wenn ich abgetreten bin. Er wird die Welt verändern, Merlin.« »Ja, das wird er«, erwiderte Merlin bedrückt. »Dann segnet ihn, Merlin«, drängte König Ban ihn. »Ihr genießt die Gunst des wahren Gottes und all der falschen Gottheiten. Segnet ihn.« Ihn segnen? Dieses Kind, das sich erheben und alles vernichten würde, was König Artus am Mount Badon zu erreichen suchte? Sollte er das Kind nicht besser verfluchen? Oder gleich an Ort und Stelle umbringen? Was zählte eine Legion von Bans Männern, was zählte eine Legion von Bors Männern, wenn dieses Kind ganz allein deren Werk wieder zu zerstören vermochte? Schweigen senkte sich über den Raum. Merlin öffnete den Mund, um die lastende Stille zu durchbrechen. Was er schließlich sagte, überraschte ihn sogar selbst. »Dieses Kind ... dieser Lancelot ... er wird der größte Ritter werden, der je gelebt hat.« Schönheit lag in diesem Kind, doch auch Verderben. Noch nie hatte Merlin ein Kind von solch irdischer wie überirdischer Schönheit 6 gesehen. Nicht die Parzen hatten ihn erschaffen. Lancelot war das Kind Fortunas, ein glücklicher Zufall und ein unverhofftes Zusammentreffen - der richtige Knabe im richtigen Augenblick am richtigen Ort. Der reine Zufall ist es, der Wunderbares und Schreckliches entstehen lässt, und Lancelot vereinte beides in sich. »Nun segnet ihn doch schon«, drängte der König zähneknirschend. Segne ihn oder töte ihn. Alles Sterbliche ist dem Untergang geweiht. Das Leben der Sterblichen ist das wahre Leben. Auf dieses Streben werfen selbst die Engel sehnsüchtige Blicke. Welch ein Verbrechen, den kleinen Sohn eines Verbündeten zu töten. Welch ein
Verbrechen, das Kind zu segnen, das ein ganzes Land zerstören sollte. Es war Wahnsinn, so oder so. Merlin tastete nach dem Gürtel. Dort steckte sein Dolch, und dort war auch der Wasserschlauch. Merlin packte den Schlauch, der mit dem Wasser Avalons gefüllt war. Es war zweifellos die gefährlichere Waffe. Er zog den Stöpsel ab und ließ einen Strahl auf seine verschrumpelten Finger laufen. Dann legte Merlin dem Jungen die Hand auf die Stirn. Mit den Fingern konnte er den weichen Schädel umschließen. Er spürte die Lücken zwischen den wachsenden Knochen, die nachgiebigen Stellen, die bei der Geburt so nützlich waren und die es ihm jetzt erlaubt hätten, das Kind mühelos zu töten. Das Wasser von Avalon rann über Lancelots winzigen Kopf und sammelte sich in den Höhlen um die blauen Augen. »Ich segne dich, mein Kind, mit den Worten des alten Täufers, der einst sagte: Und ich kannte ihn nicht, hätte es mir derjenige, der mich schickte, nicht gesagt. So wachse heran, Lancelot, wie es jedes Kind unter dem Himmel tut, und werde, was zu werden dir bestimmt ist.« Merlins Hand zitterte, als er sie zurückzog. Ihn schwindelte. König Ban fasste seinen Ellbogen. »Er lässt Euch taumeln?« »Ja.« Merlin nickte. »Ich schwanke vor Schwäche.« »Er wird noch mehr tun als das. Wunder wird dieser Knabe wirken ...« »Er wird die Welt verändern.« »Er wird mehr sein als der größte Ritter, der je gelebt hat«, drängte 7
Ban. »Das Schicksal wird ihn zum größten König aller Zeiten machen.« »Das Schicksal ist ein anderes Wort für Entscheidungen, die noch nicht gefallen sind«, unterbrach Merlin ihn. Der König deutete auf seinen Erben, als wollte er Merlins Gedankengang fortsetzen. »Glaubt mir, er wird an Größe sogar Artus ebenbürtig sein.« »Ganz gewiss.« »Gegenüber König Lancelots Herrschaft wird Camelot eine Posse sein.« Merlin holte tief Luft. »Ich kann Euch nicht widersprechen.« »Gut«, antwortete der König. Er nahm von einem Diener, der beflissen in der Nähe gewartet hatte, einen schäumenden Krug entgegen. »Auf Lancelot.« Merlin, ebenfalls mit einem Krug versorgt, stimmte ein. »Auf Lancelot.« Die metallenen Krüge stießen scheppernd zusammen, das Gebräu schwappte über die Ränder. Die Männer tranken. »Ich danke Euch, König Ban, für Eure großzügige Gastfreundschaft. Lehrt auch Lancelot den Wert der Gastfreundschaft. Lehrt ihn, jeden ins Herz zu schließen, dem er begegnet, vor allem sich selbst.« »Wie immer sprecht Ihr kluge Worte, weiser alter Mann«, erwiderte König Ban. Merlin schüttelte traurig den Kopf. »Wenn ich die Wahrheit verkünden sollte, müsste ich sagen, dass Lancelot Artus' liebster Schützling und zugleich sein größter Feind sein wird.« Entsetzt verzog König Ban das Gesicht. Er starrte das zarte Gesicht des Knaben Lancelot an. »Wie könnt Ihr so etwas über seine Zukunft sagen? Zur Hälfte Engel und zur Hälfte Teufel soll er sein? Und selbst wenn Ihr Recht habt, alter Weiser, wie könnt Ihr mir und meiner Königin so etwas sagen?«
»Verzeiht mir«, erwiderte Merlin und verneigte sich tief. Er kehrte Lancelots strahlendem Antlitz den Rücken und schritt über feuchte Teppiche zurück zum Brunnen. »Habt Dank für die Truppen.« »Mein Bruder freut sich gewiss, Euch zu sehen, und wird Euch weitere Männer geben«, versprach König Ban. 8
Merlin lächelte. »Gut. Ich werde ihm alles berichten, was sich ereignet hat. Ich werde ihm von Badon Hill und von den Sachsen erzählen, von den Legionen und den Toten. Wenn er dann immer noch Truppen schicken will, werde ich ihm auf Knien danken.« »Das wird nicht nötig sein.« Als Merlin in den Brunnen getreten war, schnippte er mit den Fingern. »Wir werden sehen.« Nyneve ergriff ihn, und wieder bewegten sie sich rasch durch das Grundwasser von Benwick. Hat er dir die Soldaten gegeben, die du brauchst? Ja, und er war großzügig, doch er gab mir einen mehr, als ich haben wollte. Sie schien mit den Achseln zu zucken. Welche Rolle spielt schon ein einziger Krieger? In diesem Fall ist einer mehr der Untergang. 8
1. Zwischen Feuer und Wasser »Es war kein Segen, es war ein Fluch«, sagte König Ban zu sich selbst. Er grollte und knirschte mit den Zähnen, während er die Worte sprach. »So etwas über meinen Sohn zu sagen — das war ein Fluch.« Ban stand im Kaminzimmer der Burg Benwick. Die kostbaren Glasfenster boten nach Westen und Osten hin einen weiten Ausblick. Im Westen brodelte der Atlantik unter einem blutroten Sonnenuntergang. Im Osten verbrannte die Stadt Benwick unter dem Ansturm eines einfallenden Heeres. Claudas' Soldaten schwärmten durch die Hügel. Sie hatten Fackeln mitgebracht - Fackeln für die Häuser und Schwerter für die Besitzer. Tausend Feuer loderten schon in den Hügeln. Tausend Hütten brannten lichterloh. Der Wind entfachte scharenweise kleinere Flammenherde. Brandpfeile flogen über die kaum bewachten Wälle und stanzten schwarze, kokelnde Löcher in die Strohdächer dahinter. So schnell, wie Claudas' Truppen gegen Benwick marschierten, so schnell verließen die Bürger den Ort. Gefangen zwischen Feuer und Wasser, drängten sie sich an den Hafenmolen und sprangen auf alles, was schwimmen wollte. »Meine beste Legion - fort in Britannien«, brummte König Ban. »Bors' beste Legion - fort in Britannien. Merlin hat uns die Verteidigung geraubt. Er gewinnt, und wir verlieren.« »Was sagst du, mein Liebster?«, fragte Elaine. Die große, gertenschlanke Königin war unbemerkt an seine Seite getreten. Sie stillte den kleinen Lancelot. »Was sagtest du über Merlin?« König Ban ließ entmutigt den Kopf hängen. Der Schimmer der brennenden Stadt spiegelte sich in seinen Augen. »Wir müssen uns allmählich über neue Wege Gedanken machen, meine Liebe.« »Neue Wege?« Instinktiv drückte sie Lancelot fester an sich. »Welche neuen Wege?« 8
Wir müssen neue Wege einschlagen, statt einfach hier auszuharren und zu sterben, hätte er am liebsten gesagt. Doch Ban war kein grausamer Mann. Er wandte sich an seine Frau und umarmte sie und das Kind. »Lancelot hat eine Zukunft, eine große Zukunft, und daran musste ich denken. Bevor Lancelot geboren wurde, hätte ich hier ausgeharrt. Jetzt, da ich einen Sohn habe, einen Erben, wäre es dumm, sich gegen übermächtige Kräfte zu stellen ...« Viel zu spät unterbrach er sich. Er zog sich ein wenig von ihr zurück und sah ihr in die Augen. Wo zuvor eine Frage gewesen war, sah er jetzt Verzweiflung. »Kaum eine Stunde ist es her, da hast du noch gesagt, die Stadt werde diesem Ansturm widerstehen. Du sagtest, allein die zweite Legion zähle mehr Kämpfer, als Claudas aufbieten könne.« »Voreilig gesprochene Worte, um zu beruhigen und nutzlose Sorgen zu vertreiben«, erklärte Ban betreten. »Jetzt aber müssen wir uns Sorgen machen. Nicht um mich und nicht um dich, meine Liebe, sondern um Lancelot.« Sie holte tief Luft. Lancelot schrie wie am Spieß. Elaine war schlank und zart, aber dennoch kräftig. Als sie dem Kind ins Antlitz sah, verhärtete sich ihr Gesicht. »Was also sollen wir tun?« König Ban näherte sich ihr wieder. »Komm mit. Es ist nur eine Kleinigkeit und leicht zu bewerkstelligen.« Er fasste ihren Ellenbogen und schob sie zur Tür. »Lass uns hinunter in die Küche gehen, meine Liebste.« Die Tür schwang auf, und sie traten auf die Wendeltreppe aus glatt geschliffenem Stein. Bronzelampen, die Olivenöl verbrannten, dufteten und beleuchteten den Abstieg. König Ban lockte seine Gemahlin die Treppe hinunter. »Die Bauern fliehen aus der Stadt, wie die Ratten das sinkende Schiff verlassen. Sie wissen, was kommen wird. Claudas lässt sie laufen, weil Bauern immer zurückkehren. Ein Herr ist ihnen so gut wie der Nächste. Er hat es auf den Adel abgesehen -auf uns und auf unseren Sohn ...« »Bitte, Ban«, widersprach Elaine zaghaft. »Claudas wird die Burg erreichen. So viel ist sicher. Vielleicht wird er schon in einer Stunde diese Treppe heraufsteigen. Wenn wir bleiben, sind wir dem Untergang geweiht. Wenn wir als König und Kö 9
nigin und Prinz fliehen, sind wir noch schlimmer dran, weil uns das eigene Volk töten wird. Wenn wir aber nicht ganz so wichtig sind ...« Er brach mitten im Satz ab, als er mit seinen königlichen Angehörigen durch den Dienstboteneingang die Küche betrat. Es war ein niedriger Raum, die Balken lagen dicht über Bans Kopf. Breite Feuerstellen sperrten die schwarzen Mäuler auf. Die Überbleibsel eines gebratenen Tiers spuckten noch über glühenden Zweigen. Gusseiserne Töpfe kochten über oder spritzten ihren Inhalt auf die Holzkohle, beißender Rauch stieg auf. Das deutlichste Anzeichen aber waren das fehlende Tafelsilber und die verschwundenen Messer. Elaine betrachtete die verlassene Küche und presste die Lippen zusammen. Mit einer beinahe wilden Bewegung berührte sie das schlafende Kind. »Ich will wie sie werden, wenn ich das Kind damit retten kann. Noch weniger will ich werden. Alles, was sein muss, will ich tun.« Ban nickte nur. Er winkte sie zur Kellertreppe. Dunkel war sie, ohne Geländer und mit Moos bewachsen. Ganz anders als die Treppen, die zu den königlichen Gemächern führten. »Es ist gar nicht so schrecklich, ein Bauer zu werden. Ein Bauer ist freier als ein Edelmann. Gewiss, sie sind Leibeigene. Gewiss, sie müssen dienen, wie man es ihnen
befiehlt. Doch wer ist schon darauf aus, einen Bauern zu töten? Niemand. Wer aber sucht einen König, eine Königin und einen Prinzen zu töten? Jedermann.« Sie stiegen vorsichtig hinab, bis Ban die Kellertür öffnen konnte. Knirschend ging sie auf, und ein kühler, feuchter Luftzug wehte ihnen entgegen. Vor der Tür waren Bierfässer aufgestapelt, und hinter den Fässern und Kisten waren Haken angebracht, auf denen die Bauern ihre schäbige Kleidung zurückließen, wenn sie die Livree von Benwick anzogen. »Siehst du, wie ich es mache?« Ban legte die Hermelinstola und das Seidenhemd ab und schnappte sich einen abgetragenen Rock aus Sackleinen. »Wenn die Kleidung den Mann macht, dann bin ich jetzt ein anderer.« Er wollte schon über seinen eigenen Scherz lachen, doch dann fiel sein Blick auf Elaine. Groß und reglos wie eine Statue stand sie da, und ihre Tränen fie 10
len auf Lancelot. »Wie wollen wir das alles je zurückgewinnen? Wenn wir es nicht einmal halten können, wenn unsere Heere hier sind, wie wollen wir es dann ohne Truppen zurückgewinnen?« »Wie wollen wir es zurückgewinnen, wenn wir tot sind?«, gab Ban angriffslustig zurück. Dann lenkte er ein. »Ich hätte nicht so grob sein dürfen, verzeih mir, meine Liebe. Ich denke nur an unseren Sohn.« Er riss sich die Hose vom Leib und warf sie weg, schnappte sich zerlumpte Beinkleider mit Löchern an den Knien und im Schritt. »Auch wenn wir nicht zurückgewinnen können, was wir verlieren, Lancelot wird es gelingen. Unser Leben hat vielleicht die Blüte schon hinter sich, aber seines beginnt erst.« Er schlang einen Hosengurt aus einfachem Seil um seine Hüften. »Merlin sagte, unser Sohn solle ein Ritter werden - der größte aller Ritter sogar. Er wird zurückgewinnen, was wir heute verlieren.« Ban zog das Kleid einer alten Frau vom Haken und brachte es seiner Gattin. »Zieh das an.« Er nahm das Kind auf den Arm und hielt ihr mit der anderen Hand die Kleider hin. Elaine zitterte sichtlich. Nachdem ihr das Kind genommen war, schlang sie die Arme um sich, als wäre ihr kalt. »Ich kann das nicht tragen.« »Zieh es an«, befahl König Ban. Sie schauderte. Widerwillig, unter Tränen und voller Zorn, aber auch verwirrt begann sie sich zu entkleiden. Es war schrecklich mit anzusehen. Wie eine Frau, die vergewaltigt wurde, was in gewisser Weise sogar zutraf. Jede Vornehmheit war ihr genommen, weggerissen wie das Seidenhemd, das jetzt auf dem Boden lag. Bald stand sie nackt vor ihrem Mann, das Kleid der Alten immer noch in der linken Hand. Sie stieß einen kleinen, verzweifelten Schrei aus. Lancelot regte sich und tastete nach der Mutter. Er fühlte die breite Brust seines Vaters und suchte nach der Quelle. Nur Sackleinen füllte seinen Mund. Er quengelte und nahm Anlauf zu einem größeren Protestgeschrei. Ein wenig grob und drängend wiegte Ban das Kleinkind. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass er es noch nie getan hatte. »Lancelot«, murmelte er verzückt. Er hob das Hemd eines Gemeinen auf, wickel 10
te das Kind ein und küsste es auf die Stirn. »Siehst du, Elaine? Schon bin ich ein besserer Mann geworden. Ich kümmere mich um mein eigenes Kind, küsse meinen Sohn und beschütze ihn. Das Werk eines Bauern, die Freiheit eines Bauern.«
»Und ich bin eine schlechtere Frau geworden.« Sie hüllte sich in das gestohlene Gewand. Die schlanke und starke Gestalt und die jugendliche Haut verschwanden unter erbärmlichen Lumpen. »Jetzt bin ich ein altes Weib.« ' »Nicht für mich, obgleich ich hoffe, dass du sehr alt wirst«, sagte Ban. »Lass uns gehen, meine Liebste. Wir wollen uns und den künftigen König von Benwick retten.« Er fasste Elaine an der Hand und führte sie die Küchentreppe hinunter und nach draußen in die dunkle Nacht. »Die Dunkelheit wird uns helfen«, überlegte Ban. »Und der Schmutz und die Verzweiflung. Sie werden uns mit sich tragen wie ein Fluss.« Eine Tür öffnete sich knarrend, und seine Worte sollten sich sogleich als wahr erweisen. Im Außenhof drängte sich das fliehende Volk, die Straße dahinter war ein Strom voller Menschen. »Wir werden uns mit diesem Strom treiben und in die Sicherheit tragen lassen.« Alle Ströme, auch die menschlichen, führen zur See. Die Flüchtigen drängten sich durch die Straßen und quetschten sich durch die Gassen. Einige landeten sogar schon im Wasser. Die meisten liefen auf den Pieren herum, bis sie eine Laufplanke fanden und an Bord eines Bootes gelangten. Alles, was sie brauchten, war ein freies Fleckchen an Bord. Nicht einmal ein williger Kapitän war von Nöten - wer sich sträubte, wurde kurzerhand über Bord geworfen. Schiffe stachen in See. Um ein Vielfaches der normalen Kapazität überladen, lief eine riesige, hoffnungslose Armada aus dem Hafen von Benwick aus. Rümpfe stießen zusammen. Boote kenterten. Kämpfe brachen aus. Meutereien flammten auf. Doch trotz aller Rückschläge entfernte sich die Flotte des Pöbels von der brennenden Stadt. Die steinerne Mole griff wie eine Klaue nach ihnen - die letzte Kralle des Landes —, und einige weitere Menschen starben. Die anderen trieben auf die schwarze Weite des Meeres hinaus. 11
Einige Schiffe segelten nach Süden gen Iberien. Andere machten sich nach Westen auf, wo nichts als das Verderben wartete. Die meisten wandten sich nach Norden und hofften auf ein freundliches Willkommen in der Bretagne. Königin Elaine, König Ban und Prinz Lancelot befanden sich auf einem dieser Schiffe — einem Handelsschiff, das zuletzt Fässer mit Pökelfisch an Bord gehabt hatte. Alles stank danach. Alles bis auf den Kapitän, der nach anderen Dingen roch. Der alte Säufer war halb niedergestreckt vom Roggengeist, als sein Boot übernommen wurde. Freundlich und betrunken willigte er ein, seinen Bruder in der Bretagne zu besuchen. »Er wird euch willkommen heißen. Er hat Töchter für jeden.« Das brave Schiff hieß Zweifel. Es roch nach Fisch und Angst — aber es segelte. Im Laderaum stand die Luft vor Gestank. Wenigstens waren die Menschen, die sich dort drängten, vor dem Wind und der Schwärze draußen geschützt. Diejenigen, die auf Deck ausharrten, konnten in der kalten Nacht besser atmen - oder auch schlechter. Der Wind zerrte an ihnen und riss an ihren Kleidern, versetzte ihnen Ohrfeigen und heulte in ihren Ohren. Die See war die Mitverschwörerin des Windes. Wellen donnerten zornig an den Schiffsrumpf. Tiefe Täler klafften vor dem Bug und ließen das Schiff stürzen, bis Gebirge aus Wasser wuchsen und es dem aufgewühlten Himmel entgegen hoben. Inmitten des Aufruhrs vergaß König Ban seine eigenen Sorgen. Benwick war verloren und wurde, unsichtbar hinter dem Horizont, ein Opfer der Flammen. Allein die tiefe, mahlende Schwärze droben und drunten war noch da. Er war der König von überhaupt nichts mehr. Seine Lumpen waren schlechter als die der meisten Pflüger und Fischweiber an Bord. Die Frau neben ihm war keine Königin mehr, sondern eine verzweifelte, verängstigte Alte in
Lumpen. Das Schlimmste aber war, dass Lancelot inzwischen nichts weiter war als ein schreiendes Kleinkind. Vergangenheit und Zukunft wurden von der Schwärze verschlungen, und nur die allgegenwärtige, unerträgliche Gegenwart war ihm geblieben. Lancelot schrie. Ein Geschöpf mit solcher Wut im Bauch musste kämpfen und konnte vielleicht sogar überleben. 12
Ban wollte diese Wut fühlen. Er drehte sich zur Seite und langte nach seinem Sohn. Elaine schien nur zu froh, ihn abgeben zu können. Ban hob den strampelnden Jungen hoch, der sich grau gegen die dunkle Nacht abzeichnete. Elaine zog Bans Arme wieder nach unten. Er wiegte das Kind und drückte den Kopf gegen sein Herz. »Möge dich der gleichmäßige Herzschlag trösten, mein liebes Kind. Du sollst keine Angst haben.« Lancelot beruhigte sich einen Moment, dann trat er aus. Bans Arm, der tausende von Schwerthieben auf Schilde ausgehalten hatte, konnte diesen einen Tritt des kleinen Kindes nicht ertragen. Ein heißer Schmerz fuhr von seiner Schulter durch den Ellenbogen bis hinunter ins Handgelenk. Es war, als bestünde das Kind aus rot glühendem Eisen. Ban hatte Mühe, ihn nicht fallen zu lassen, während der scharfe Schmerz nun auch noch auf den Nacken übergriff. Lancelots Protestschreie aber wurden immer lauter. »Er hat dir einen Fluch auferlegt«, keuchte König Ban. Der linke Arm baumelte hilflos, als er das Kind auf die rechte Seite herübernahm und seiner Mutter zurückgeben wollte. Nimm ihn, wollte Ban sagen, doch er hatte nicht einmal mehr genug Kraft zum Sprechen. Missmutig nahm Elaine den Jungen wieder an sich. Keuchend presste Ban sich die Hände auf die Brust. Alles bis auf den Schmerz war verschwunden. Sogar der Herzschlag war nicht mehr zu spüren. Mit vortretenden Augen glotzte er seine Frau an. Elaine und Lancelot schwebten in der Mitte eines tosenden Tunnels. Sie schienen sich zu entfernen, doch es war Ban, der entschwand. »Behüte Lancelot, meine Liebe«, keuchte König Ban von Benwick. Dann war er tot. Das Unwetter ließ nicht nach - auch hier nicht, an Land, zwei Tage später und bei hellem Tageslicht. Nicht hier in Britannien (hatte man nicht gesagt, das Schiff segelte in die Bretagne?) auf den weiten Ebenen, weit entfernt von den Felsen, die das Schiff zerschmettert hatten. Der Sturm, in dem Elaine stand, würde niemals mehr abebben. Er tobte in ihr selbst. In ihren Ohren heulte der Wind, im Mund brann 12
te das Salzwasser, auf der Haut stach der Regen. Am schlimmsten aber war es, wenn sie ihr Kind Lancelot anschaute. Schwarze Wolken zogen über seine blauen Augen. Der Vater des Jungen war tot. Er war vor Kummer gestorben. Warum war der Engel herabgekommen und hatte den Vater, aber nicht die Mutter genommen? Was war denn mit ihrem eigenen Kummer? Man hatte Ban über Bord werfen wollen, als sein Körper kalt war, doch sie hatte es verhindert. »Er ist der König!«, hatte sie erklärt. »König Ban - euer König.« Die Menschen hatten sie getröstet mit weichen Armen, aber gehässigem Grinsen. Man hatte sie für verrückt gehalten. Die Leute hatten Recht. Sie hätten den Toten über Bord werfen und den Haien zum Fraß überlassen sollen. So hatten ihn eben die Felsen zerfetzt. Zwei Tage lang war sie mit Lancelot gewandert. Sie wurde ständig schwächer, er wurde stärker. Sie nahm nichts zu sich außer Wasser, er aber nährte sich von ihrem Leib, ihrem
Blut, ihren Knochen. Eine Frau musste nicht bei Sinnen sein, um für ihr Kind zu sorgen, solange sie nur Milch hatte. Doch nun war die Milch versiegt. Sie hatte ihm nichts mehr zu bieten. Der Tod würde sie beide holen. Der siebentausendsechshundertvierunddreißigste Schritt, der siebentausendsechshundertfünfunddreißigste Schritt. Sie stand knietief im Morast, im Brackwasser. Ringsum wuchs Schilf. Wenn sie den Blick hob, sah sie sumpfige Niederungen, dahinter Hügel und über sich einen dräuenden Himmel. Inmitten des von Ungeziefer bevölkerten Sumpfs erhob sich ein dreieckiger Hügel. Wie ein verbeulter Hut mit durchnässter, tropfender Krempe sah er aus. Elaine sank im Schlamm auf die Knie. Vielleicht kam ihre Milch wieder, wenn sie trank. Die rissigen Lippen näherten sich dem Wasser. Sie stieß eine Anklage aus, eine Gotteslästerung, ein Gebet: »Mutter Gottes!« Plötzlich sah Elaine sich von einem Strahlen eingehüllt und schaute auf. 13
Jemand kam. Sie schritt auf dem Wasser, wie es ihr Sohn in Galiläa getan hatte. Licht ging von ihr aus, als trüge sie einen Stern anstelle eines Kleides. Ihr Strahlen verbrannte die trockenen Stängel, durchdrang das schlammige Wasser und reinigte den Sumpf. Tiefer und weiter wurde die Wasserfläche um sie herum. Ihre Schritte verwandelten die Oberfläche in Silber. Engel bewegten sich im Wasser und in der Luft. Elaine starrte in das Licht der Liebe, und endlich ließ der Sturm in ihr nach. Alle unreinen Winkel wurden gereinigt, jeder hoffnungslose, hilflose Gedanke verbannt. Nachdem sie zwei Tage lang den Säugling krampfhaft gehalten hatte, lockerten sich endlich ihre Arme. Elaine stand voller Ehrfurcht vor der prächtigen Gestalt. »Mutter Gottes«, keuchte sie. »Du hast mein Gebet erhört.« Voll unendlicher Liebe antwortete ihr eine Stimme. »Ja. Ich bin gekommen, um dein Kind zu nehmen.« Erst jetzt bemerkte Elaine, dass Lancelot irgendwie aus ihren kraftlosen Armen verschwunden war und still und zufrieden an der Brust der Frau ruhte. Doch obwohl halb wahnsinnig, ohne Milch und verzweifelt, war Elaine noch immer eine Mutter. »Du kannst mir mein Kind nicht wegnehmen.« Ein Ausdruck tiefer Trauer trat in die Augen der Frau. Eine Trauer, die Elaine bekümmerte. »Ich kann ... aber ich werde es nicht tun. Wenn er mit mir kommt, wird sich sein Schicksal erfüllen — er wird der größte Ritter sein, der je gelebt hat, und er wird Benwick beanspruchen, nachdem Claudas tot ist.« Sie hielt ihr das Kind hin. »Wenn ich ihn dir zurückgebe, wird nichts davon geschehen, und ihr beide werdet dem Wahnsinn anheim fallen und verhungern. Du hast die Wahl.« Elaine war immer noch eine Mutter. Sie neigte den Kopf. »Dann rette ihn, Herrin. Lass ihn sein, was ihm bestimmt ist.« Es war genug. Augenblicke, die man im Traum und in der Gegenwart des Göttlichen erlebt, können Stunden währen. Ein einziger Satz vermag ein ganzes Buch zu füllen. Sie war fort, die Frau, die sich in einen Stern gekleidet hatte. Das 13
Schilf war wieder da, der von Ungeziefer erfüllte Sumpf, die zerklüfteten Hügel, alles. Es war nur eine Vision gewesen, ein Fiebertraum — doch Lancelot blieb verschwunden.
Elaine erinnerte sich noch, wie die Kraft aus ihren Armen gewichen war. Sie schrie auf, sank auf die Knie, grub die Hände in den Schlamm und durchwühlte ihn. Er musste dort sein, er trieb ja nicht an der Oberfläche. Er musste dort sein, zwischen den Schlangengruben und Wurzeln. Nichts Warmes spürte sie, nur kalte Fäulnis. »Lancelot!«, kreischte sie. Sie warf sich nach vorn, zur einen und zur anderen Seite. Im aufgewühlten Wasser wallte der Dreck. Sie tauchte unter und forschte mit beiden Armen im Schilf. Vergebens. So war echter Kummer. Sie vergaß sich, atmete einen tiefen Zug Wasser ein und spuckte es zuckend wieder aus. Neues Brackwasser strömte herbei und ersetzte, was sie ausgestoßen hatte. Sie ertrank. Egal. Zuerst Ban, dann Lancelot, jetzt Elaine. Sie ertrank. Wenn sie sein Fleisch, das Fleisch ihres Kindes nicht mehr berühren konnte, dann war ihr alles egal. Sie ertrank. Eine Hand ... sie spürte eine Hand ... die Hand packte sie und zog sie heraus - keine Kinderhand, sondern die Hand einer alten Frau, einer gebeugten alten Frau, deren Muskeln sich wie Garn auf dürren kleinen Knochen spannten. »Kind, welcher Teufel ist nur in dich gefahren?«, fragte die Äbtissin. Elaine stieß die Hand fort und spuckte die Frau an. Maria hatte ihr Gebet nicht erhört. Maria hatte sie verhöhnt und ihr das Kind genommen. Elaine kreischte. Blubbernd vor schäumendem Blut drang der Schrei aus ihrem Mund. Sie wollte sich wieder in den Morast werfen, doch der Boden sprang ihr entgegen und schlug sie nieder. Die Äbtissin bückte sich und stemmte ihr ein Knie in den Rücken. »Ruhig, mein Kind. Wir werden den Dämon austreiben. Du wirst wieder gesund werden, du sollst wieder heil werden.« Elaine zischte und spuckte Schlamm. »In nomine patri et filii et Spiritus sancti ...« 14
Er träumte. Sogar Kinder träumen. Kleinkinder tun nichts anderes als träumen. Schon einmal war er vom Wasser getragen worden — das Wasser unter Mutter pochendem Herzen, das Wasser unter Vaters donnerndem Himmel. Von einer Welt zur nächsten hatte ihn das Wasser getragen. Jetzt träumte er von neuen Wassern - weich wie eine Windel und tief wie der Blick einer alten Frau. Das Wasser trug ihn in die nächste Welt, zu einem alten, aber doch ganz neuen Ort... 14
2. Knabenzeit Er stand früh auf. Die Sonne schlief noch hinter den schwarzen Hügeln. Vor der Dämmerung war der See wie Gold, wie flüssiges Gold. Kleine Wellen fingen die Sonnenstrahlen ein, noch bevor sie am Himmel aufschienen. Lancelot mochte das Dämmern. So nannte Tante Brigid dieses Licht. Das Dämmern wenn der Tag in der Nacht aufging oder die Nacht sich dem Tag ergab. Wenn Dunkelheit und Licht sich mischten und man das eine nicht vom andern unterscheiden konnte. Lancelot stieg gern beim ersten Morgendämmern aus den Federn. Die Erwachsenen beherrschten den Abend, doch der Morgen - noch bevor Hahn und Kessel sangen -, der Morgen gehörte Lancelot.
Er ging barfuß. Schuhe waren grausam. Warum einem Tier die Haut wegschneiden, um Menschenhaut zu bedecken und sich Blasen zu laufen? Das Gras war da, um zwischen die Zehen zu gleiten. Sohlen waren da, um hart zu werden und die Farbe der Dinge anzunehmen, auf die sie traten. Lancelots Fußsohlen waren grün. Es gab viel Gras in Avalon. Er rannte durchs Gras. Tau spritzte. Zehn Tropfen saßen auf jedem Blatt. Jeder Tropfen barg noch die Kälte der Nacht. Sie funkelten wie Diamanten, nur weicher. Lancelot rannte durch die Apfelbäume — hübsche, wilde kleine Bäume. Sie wurden gern knorrig wie Eichen und waren versponnen wie wilde Möhren, aber es waren Apfelbäume - weiß im Frühling und grün im Sommer, rot im Herbst und dann wieder weiß im Winter. Wie schnell die Winter vergingen. Schnell wie die kurze Dunkelheit, wenn das Auge blinzelt. Zwölf waren es nun schon. Lancelot war die ganze Zeit gewachsen, doch er maß die Zeitspannen in Apfelbäumen und nicht an seinem aufblühenden Leib. 15
Er rannte zwischen die Apfelbäume. Weder sie noch die Eichen hatten die langen, schlanken Äste, die er brauchte. Wer will schon ein Schwert, das krumm ist wie der Ast einer Eiche? Nur Birken geben ordentliche Schwerter. Lancelot sprang vor einer hoch und brach einen Ast ab - einen toten Ast. Tante Brigid hatte ihn gelehrt, keine grünen Äste abzubrechen. Er riss die kleinen Zweige ab, löste die Rinde und ließ sein Schwert durch die Luft sausen. Es machte ein pfeifendes Geräusch, als bestünde es tatsächlich aus Stahl. Das war mal ein Schwert! Eine gut ausbalancierte Klinge, die mit tödlicher Genauigkeit niederfahren konnte. Lancelot machte einen Ausfallschritt, traf mit der Klinge den Feind. Er musste nie zurückweichen, denn seine Schwertkunst war unübertroffen. Er setzte nach, führte den Stahl mit der jugendlichen Kraft seines Arms, seiner Schulter und seines Rückens. Sein Gegner hatte einem solchen Angriff nichts entgegenzusetzen und zog sich taumelnd zurück. Mit einer brillanten Parade und Riposte blockte Lancelot den nächsten und bisher besten Schwertstreich seines Gegners ab und beendete den Kampf mit einem Stich in dessen Herz. Gleichgültig zog er das Stockschwert aus dem gefallenen Körper, wischte es lässig im hohen Gras ab und schob es in die geträumte Scheide am Waffengurt. Dann wanderte er gemächlich zum See. Dort am Ufer gab es eine Stelle, die Lancelot den »verzauberten Ort« nannte. Er hatte niemandem von dessen Existenz erzählt, von der genauen Ortsangabe ganz zu schweigen. Dort liefen die vom Wind getriebenen Wellen des Sees auf einen halb untergetauchten, rissigen Felsbrocken auf. Löcher im Stein ließen kleine, lebhafte Fontänen aufschießen. Schnell, geschmeidig, unberechenbar — diese Fontänen boten Lancelot eine ganze Heerschar von Feinden, die ihn schulten. Immerhin war er ein Prinz und der einzige Erbe des Throns von Benwick. Claudas hatte die Stadt erobert, und wenn Lancelot nicht zu kämpfen lernte, dann konnte er sein verlorenes Erbe niemals wiedergewinnen. Der verzauberte Ort war sein Schwertmeister. Lancelot trat auf den Felsblock, stand inmitten der Löcher und sammelte sich. Unverhofft sprangen hier und dort kleine Geysire auf. Stets unberechenbar waren sie, nie zu packen. Die kleinen Fontänen 15
forderten ihn heraus und schärften seine Reflexe im Schwertkampf. Es waren überhaupt keine Fontänen, es waren Claudas' Männer. Er fuhr herum, schlitzte einem Eindringling den Bauch auf und schnitt den Hund entzwei, bevor die Wassersäule in sich zusammenfiel.
Im ersten Jahr hatte er es mit Mühe und Not geschafft, sich umzudrehen und jede flüssige Bedrohung zu erschlagen, die sich rings um ihn erhob. Jetzt war er so schnell, dass sein bloßer Blick auszureichen schien, um das Wasser zu locken und die Fluten zu zwingen, seinen Vorstellungen gemäß zu kämpfen. Das war die wahre Ritterschaft - ein Mann, der den gegnerischen Krieger nicht nur besiegen, sondern den Feind so fechten lassen konnte, wie er selbst es wünschte. Lancelot drehte sich um die eigene Achse, und das Schwert war schnell, aber das Auge war schneller. Er zerschnitt eine Wassersäule, besiegte eine zweite, bevor sie überhaupt aufschießen konnte, und erweckte eine dritte mit grimmigem Starren zum Leben. Es schien beinahe, als wäre das Wasser ein lebendiges Geschöpf, das auf seine Wünsche reagierte. Bald jedoch wurde Lancelot des Spiels überdrüssig, wie es eben bei jungen Burschen geht. Er verließ die Lehrmeister des Wassers und wandte sich denen aus Stein zu. Der verzauberte Platz lag in der Nähe eines Steinbruchs, in dem weißer Stein gewonnen wurde - die zusammengepressten Schalen und Knochen von Meeresgeschöpfen. Zurechtgeschnitten und gestapelt, gaben die toten Tiere schöne Gebäude ab. Noch tropfnass nach seinem Kampf im See, lief Lancelot über den feuchten Sand und einen langen, flachen Hang hinauf. Auf dem schrägen Stein hinterließen seine Füße makellose Abdrücke. Er stieg bis zur Kante des Steinbruchs und starrte hinab. Wie die Ameisen schufteten dort unten die Steinhauer - unermüdlich und wortlos. Die Spitzhacken klirrten laut, Sägen zerteilten rasselnd den Stein. Gestalten schleppten Steinplatten, die sie mit staubigen Fingern hielten. »Beschwerlich« - das war das Wort, welches Tante Brigid für sie gebrauchte. Sie waren gebeugt von den schweren Lasten, sie bekamen krumme Beine und wurden in die Erde ge 16
drückt. Trotz ihrer schweren Arbeit aber waren sie Lancelots Freunde und spielten seine Spiele mit. »Ho, ihr da unten, mein Volk«, hob Lancelot an. Er versuchte, mit männlich voller Stimme zu rufen. »Wie geht es denn so mit der Hauerei?« Wie auf Kommando hielten sie inne und schauten hinauf. Augen zwinkerten unter grauen Brauen, Lippen verzogen sich unter dichten Schnurrbärten zu einem Lächeln. Sie verneigten sich, wo sie auch standen, und einige riefen sogar: »Es ist der Prinz!« Tante Brigid hatte ihnen erzählt, wie Lancelot hergekommen war — die Stadt ein Opfer der Flammen, der Vater tot, die Mutter von Sinnen -, und all dies lastete nun auf so jungen Schultern. Von Stund an nannten sie ihn nur noch den Prinzen. »Die Arbeit geht gut, junger Herr. Zwei Wochen noch, dann haben wir genug Stein für den neuen Hexenkessel.« »Tante Brigid sagt, er werde verwunschen sein«, erwiderte Lancelot. »Lauter Meeresgeschöpfe, und sie sollen Flammen in ihrer Mitte bergen.« Der Steinhauer nickte ehrerbietig. »Ganz Avalon ist verwunschen, junger Herr. Und so soll es auch immer bleiben.« »Ja«, stimmte Lancelot zu, auch wenn er in Gedanken schon wieder woanders war. An einem anderen Tag wäre er vielleicht in den Steinbruch hinuntergestiegen und hätte sich zwischen Staub und Stein in höfischer Politik geübt. Wenn der verzauberte Platz ihn den Umgang mit Feinden lehrte, so zeigte ihm der Steinbruch, wie man mit Freunden zu verkehren hatte. Heute aber zog es ihn fort. Die Erwähnung des neuen Hexenkessels hatte in ihm den Wunsch geweckt, den Vorgänger anzuschauen. Er war aus Bronze und alt, grün
und vom Rost zerfressen, dass er beinahe lebendig wirkte. Lancelot konnte ihn bereits drüben in den fernen Hügeln spüren. »Ich danke euch für eure Mühe, Männer. Ich muss jetzt gehen und den alten Hexenkessel inspizieren.« Wieder verneigten sie sich tief. Einer nahm sogar mit eleganter Geste die staubige Mütze ab. 17
Lancelot stieg lächelnd den Hügel hinauf. Er schritt durchs Heidekraut und achtete darauf, es nicht unter seinen Füßen zu zerdrücken. So dick und grün die Schwielen an seinen Füßen auch waren, er konnte den Tod einer einzigen Blüte spüren, und solche Empfindungen bekümmerten ihn. Das Leben den Lebenden, wie Tante Brigid immer sagte. Nie, niemals darfst du ein Lebewesen versklaven, Lancelot. Wenn du schon musst, dann versklave die Toten und benutze die Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu machen. Am Ende leben wir doch alle in der Gegenwart, und wenn jeder gegenwärtige Augenblick voller Leben ist, dann wird es in der Vergangenheit wie in der Zukunft keine Bosheit mehr geben. Das Leben den Lebenden. Es war mehr als ein guter Rat und mehr als ein Glaubenssatz. Es war der Pulsschlag, der Lancelots Blut bewegte. Warum ein Herz haben, wenn es nicht heftig pochen darf? Warum einen Arm haben, wenn nicht, um unermüdlich zu kämpfen? Warum einen Kopf haben, wenn nicht, um immerfort zu lernen? Er stieg bergan, mühelos und ohne außer Atem zu kommen. Der Hexenkessel zog ihn an. Die bloßen Füße fanden im zerklüfteten schwarzen Hügel mühelos einen Halt. Der Steinbruch mit den seltsamen kleinen Männern war schon fast vergessen, der verzauberte Platz war entschwunden. Jetzt gab es nur noch die weite grüne Senke, die sich in den steilen Hügel schmiegte. Es war ein heiliger Ort, an dem geopfert wurde. Die Leute brachten schöne Dinge mit, knieten zum Gebet nieder und schenkten her, was sie hatten. Viele gaben Gold oder Edelsteine in den schwarzen Bauch des Hexenkessels und erweckten so sein Feuer zum Leben. Tante Brigid nahm die grünen Zweige, die sie ihm abzubrechen verboten hatte, und einen Fisch, den sie aus dem Netz freigekauft hatte, oder ein großes Bündel Heidekraut. Das waren ihre größten Schätze, die sie häufig im Hexenkessel opferte. Ewig kamen die Opfergaben, ewig stiegen die Gebete mit dem Rauch gen Himmel, und ewig brannte das Feuer. Sehr selten kam es auch vor, dass eine arme Seele sich in die Flammen warf und das Feuer mit dem eigenen Leib nährte, um als Asche zum Himmel aufzusteigen. 17
Wie verzweifelt musste man sein, um sein Leben in einer kurzen Feuersbrunst zu vergeuden? Das Leben den Lebenden. Lancelot stand nun vor dem mit Grünspan bedeckten Kessel auf der weiten Wiese. Schwarzer Rauch stieg aus der großen Schale — ein Opfer, ein frisches Opfer aus Fleisch. Lancelot sank auf die Knie und neigte den Kopf. Die Hitze aus dem Kessel umhüllte sein Haar und die Schultern. Er verstand die Bedeutung. Wenn man sich dem Göttlichen näherte, musste man etwas opfern, das einem teuer war, vielleicht sogar sich selbst. Bisher hatte er sich dem Kessel immer zusammen mit Tante Brigid und dem vollen Gefolge genähert. Heute war er allein. Was konnte er opfern? Er war arm. So arm wie Tante Brigid, die nur Blumen und Stöcke opferte. Er blieb gebeugt hocken, tastete nach dem Gürtel und zog den kleinen Birkenast
heraus. Er hielt ihn vor sich und starrte das graue Holz an. Wenn es ein echtes Schwert wäre, dann könnte man es im Kessel opfern. Aber dieser Ast? Trocken und grau, wie er war? Ich habe nichts zum Opfern. »Deine Träume haben den Stock in etwas anderes verwandelt«, sagte Tante Brigid. Lancelot blieb hocken, doch er sah sich zu ihr um. Tante Brigid stand am Rand der Plattform mit dem Kessel. Sie trug ein Reisegewand, das einst blau gewesen war, jetzt aber die Farbe von Staub angenommen hatte, einen geflochtenen Gürtel und Sandalen, die sie nun abstreifte. Sie zog die Kapuze ihres Gewands zurück und ließ das Sonnenlicht auf das graue Haar scheinen. Weisheit strahlte aus ihren Augen und machte die Anzeichen des Alters vergessen. Lancelot wusste nicht zu sagen, ob sie alt oder jung war, er wusste nur, dass sie schön war. Sie trug ein Bündel Reisig, einen Bund Blumen und einen Fisch. »Wenn es dir viel bedeutet, dann ist es auch für den Kessel von Wert.« Hatte sie ihn gehört? Hatte er unwillkürlich laut gesprochen? Lancelot senkte den Blick. »Ich will etwas Echtes opfern, keinen bloßen Traum.« 18
»Träume sind etwas Echtes«, antwortete sie. »Besonders wenn man sie opfert.« »Warum opferst du dann diese Dinge und nicht deine Träume?« »Diese Dinge sind meine Träume.« Andächtig kam sie näher und setzte die Füße genau auf jeden Abdruck, den er hinterlassen hatte. Ihre Augen blickten in weite Fernen. »Einst habe ich an einem weiten Ufer und einem tiefen Meer gewohnt. Ich hatte einen Mann, den ich geliebt und verehrt habe. Er verehrte auch mich. Ein Fischer war er, der seine Netze zwischen Felsen und Haien auswarf. Er warf sie aus und schleppte sie und zog sie ein, bis das Dollbord zu brechen drohte. Wenn es dunkel wurde, entfachte ich am Strand ein Feuer, um seinem Boot den Weg nach Hause zu leiten ...« Sie hob das Holzbündel, küsste es und ließ es in den Kessel gleiten. Begierig fraßen die Flammen die Zweige, und das Holz verbrannte. Die Stöcke rollten auseinander, knisterten vor Saft. Ein beständiges Rauschen war zu hören, ähnlich den Wellen am Strand. »Die ganze Nacht schnitt und stapelte ich die Zweige, damit die Flammen über den Schaumkronen zu sehen waren, doch dort, wo er war, gab es kein Licht. In der Morgendämmerung ließ ich die Flamme niederbrennen und hielt vergebens Wache. Zwei Nächte harrte ich voller Sorge am Feuer aus. Lang genug, um den Erlöser zu erwecken, aber nicht meinen Liebsten. Endlich trugen ihn die Wellen an Land - an Bord eines Schiffs, das so sehr mit Fischen gefüllt war, dass es fast unterging.« Sie gab den Fisch in den Kessel, und eine schwarze Rauchwolke stieg auf. »Ich küsste seine Lippen - so kalt waren sie. Ich zog ihn aus dem Boot und weinte. Ich trug, was von ihm übrig war, zur grünen Ebene. In meinen Röcken sammelte ich Heidekraut, und auf sein Grab legte ich die Zweige, die mit mir getrauert hatten ...« Sie legte den Strauß Heidekraut in den Kessel und sah zu, wie er in die Flammen rollte. Dann wandte sie sich wieder an Lancelot. »Nicht was du besitzt ist wichtig, mein Junge. Nur das, was du liebst.« Die Antwort sprang wie von selbst über Lancelots Lippen. »Ich liebe Avalon. Ich weiß schon, du sagst, ich sei der Prinz von Benwick und es sei mir bestimmt, ein großer Ritter in Camelot zu werden, und ich müsse lernen zu lesen und zu handeln, zu kämpfen und zu arbei 18
ten, da die Welt mich rufe. Aber mehr als alles andere liebe ich diesen Ort.« Tante Brigid sah ihn ernst an. »Dann gib dein Schwert, Lancelot. So groß du auch im Krieg sein wirst, sei bereit, diese Größe für Avalon zu opfern.« »Ich bin bereit.« Endlich erhob er sich wieder. Der Prinz von Benwick streckte Hals und Rücken und stand stolz wie ein Mann. Er warf den Zweig in den Kessel und sah ihm zu, wie er verbrannte, rot wie eine offene Wunde. Das Feuer verzehrte ihn ihm Nu, und das Schwert war verschwunden. Er träumte in dieser Nacht wie in jeder Nacht. Wie der alte Apoll ritt Lancelot auf der Sonne in die Unterwelt. Sie versank im See, und ihre Glut wurde im Wasser gelöscht. Auch Lancelot brannte. Er klammerte sich an den Sonnenwagen, ging in den Fluten unter und starrte staunend in die bizarre Welt, die ihn umgab. Eines Nachts würde er in diesen schweigenden Tiefen schwimmen und wieder aufsteigen und sich an alles erinnern. Eines Nachts, aber nicht in dieser Nacht. Die Fluten sangen und trieben ihm die Erinnerungen aus, und dann schwemmten sie seine Gedanken und alles, was er war, davon. Er trieb an die Oberfläche des Traums und tanzte auf den Wogen wie ein Ertrunkener. Die Sonne stieg ohne ihn aus dem See. Lancelot erwachte und erinnerte sich nicht. 19
3. Von Waffen und Rüstungen Sechs Sommer kamen und gingen. Er wuchs, und Tante Brigids Heim schrumpfte. Regelmäßig hatte er Zusammenstöße mit dem Türsturz. Dieser Morgen sollte keine Ausnahme sein. »Verdammt!«, knurrte er, als er in den Herbstmorgen hinaustaumelte. Schlaksige Beine verhedderten sich - er hatte die Größe, aber noch nicht die Breite eines erwachsenen Mannes -, und er strauchelte. Lancelot hielt sich den Kopf, zwischen den Fingern lugten blonde Büschel hervor. Er wiegte sich ein wenig hin und her und verdrehte die Augen, bis er wieder klar sehen konnte. »Verdammt auch!« »Was fluchst du denn so, mein Lieber?« Tante Brigid war hinter ihm im Türrahmen aufgetaucht. Lancelot stöhnte. »Dieser verdammte Türsturz. Da könnte ich doch gleich einen Räuber anheuern, der sich hierher stellt und mir jedes Mal, wenn ich herauskomme, mit einem Vorschlaghammer auflauert.« »Du meinst, damit du dich daran gewöhnst?«, neckte Tante Brigid ihn. Sie trug ihre Gärtnerkluft — die Knie verkrustet mit Erde und der Stoff auf dem Rücken gebleicht von der Sonne. Heute war jedoch kein Tag zum Umgraben, heute war ein Tag zum Äpfel pflücken. Sie lief an der vorderen Wand der Hütte entlang und strich mit den Händen zärtlich übers Efeu, bevor sie die alte, wacklige Leiter nahm. »Und das Fluchen gehört auch zur Ausbildung?« Lancelot gab sich Mühe, sein lächelndes Gesicht zu einer finsteren Miene zu verziehen. Er stand auf und klopfte sich die Rupfenhosen ab. »Krieger fluchen nun einmal, Tante.« »Ein Krieger, soso.« Sie begutachtete ihn. »Ein Krieger ohne Rüstung.« 19
Lancelot legte über der jugendlichen Brust die flache Hand auf das einfache Hemd. »Meine Rüstung heißt Courage.« Brigids Augen funkelten belustigt, während sie Reisigkörbe aus dem Schuppen holte und den Weg zum Obstgarten einschlug. »Courage ist ein gallisches Wort. Es heißt >voller
Herzenskraft<. Aber dein Herz kann nicht deine Rüstung sein. Und was für ein Schwert hast du eigentlich, Prinz? Einen toten Stock?« »Hier ist mein Schwert«, erwiderte Lancelot. Er zückte das alte Schälmesser. Mit seiner gekrümmten Klinge und der abgerundeten Spitze eignete es sich kaum zum Kämpfen, aber umso besser, um Apfelstiele zu zerschneiden. Bridget nickte würdevoll und winkte ihm, ihr zu folgen. »Eine ganze Nation böser Früchte erwartet uns, mein Junge. Es braucht Courage und einen starken Rücken, um sie zu besiegen.« Lancelot musste lachen. »Ich habe Legionen von Möhren niedergestreckt, da werde ich die paar Äpfel nicht fürchten.« Brigid pflückte die erste Frucht und hielt sie lächelnd hoch. »Die Schlange sagte mir, ich solle davon essen, und so aß ich ...« Er wollte wieder lachen, doch dann verschlug ihm ein plötzliches Glücksgefühl die Sprache. Da war die Frau, die ihn gespeist und gekleidet und beschützt hatte. Sie hatte ihn aufgezogen wie ihren eigenen Sohn und ihm trotz bescheidener Verhältnisse große Reichtümer geschenkt. Sie hatte ihn gelehrt, die lateinische, keltische und germanische Sprache zu lesen, und ihn ermuntert, ständig zu trainieren — und gewitzt war sie auch. Tante Brigids Türstürze mochten in der Hölle schmoren, aber die Besitzerin sollte hier in Avalon ewig leben, wenn es nach ihm ging. Voller Tatendrang machte Lancelot sich über die Bäume her. Es dauerte nur einige Minuten, bis er den ersten Korb gefüllt hatte. Danach arbeitete er etwas verhaltener weiter. Bald darauf kümmerte Tante Brigid sich um die unteren Aste, während Lancelot bis in die Krone stieg. Dort oben brannte die Sonne heiß. Sein Hemd klebte am verschwitzten Rücken, und Lancelot zog es aus und warf es hinunter. Kühle Luft strich über seinen jungen Körper. Schneiden und in den Korb legen... In gleichmäßigem Rhythmus 20
arbeitete Lancelot sich durch den höchsten Baum im kleinen Obstgarten. Tante Brigid war in der Nähe unter dem dichten Blattwerk beschäftigt. Sie sprachen wenig und schenkten sich kaum einmal einen Blick, doch Lancelot spürte ständig die Nähe seiner Tante und hörte im Wind die leisen Lieder, die sie summte. Da stand er, und ihm wurde bewusst, dass er das Leben liebte. Vielleicht war er in irgendeiner märchenhaften Vergangenheit ein Prinz gewesen, doch in diesem Leben bewährte er sich als Bauer. Vielleicht war er nach seinem toten Vater und der verstörten Mutter geschlagen, doch die Arme, die ihn geschützt hatten, gehörten Tante Brigid. Er trainierte, um ein Krieger zu werden, doch mehr als alles andere schätzte er den Frieden an diesem Ort. Lancelot hielt inne und holte tief Luft. Der Duft der Blätter, saftig und beinahe stechend, mischte sich mit dem süßen Duft der Äpfel. Hier auf dieser Leiter hoch oben im Obstgarten könnte er ewig ausharren. Es war still im Garten. Tante Brigids Summen hatte aufgehört. »Wo ist die Musik, die mir meine Bürde erleichtert?«, rief Lancelot, doch er bekam keine Antwort. »Ich könnte singen, aber Krieger kennen nur derbe Lieder.« Immer noch keine Antwort. Ein Windhauch erzählte es ihm: Eintopf mit Lauch, dazwischen der Geruch von rauchendem Holz. Lancelot hob die freie Hand und verdrehte die Augen. »So ist das also. Schick den Jungen raus, die Äpfel zu ernten, und dann schleich dich wieder fort an den
Herd. Freche Schlemmerei!« Siegesgewiss lächelnd stieg er die Leiter hinunter und stellte den Reisigkorb ab. Er holte noch einmal tief Luft. Wieder kitzelte ihn der salzige Duft des Eintopfs in der Nase. »Dieser Krieg gegen die Äpfel, den ich ganz allein gekämpft habe, hat mich hungrig gemacht.« Er hob das Apfelmesser und verhöhnte die Feinde. »Nehmt euch nur in Acht.« Lancelot verließ den Obstgarten. Eine dünne geringelte Wolke kroch aus dem Kamin. So brannte das Feuer nur, wenn Tante Brigid kochte. Da hatte sie ihm aber etwas zu erklären und dazu ein ordentliches Essen aufzutischen. Lancelot spürte den Appetit von jungen Knochen, die Muskeln ansetzen wollen. Schwungvoll öffnete er die Tür der Hütte und trat ein. Er vergaß 21
sich zu ducken, der Sturz traf seinen Kopf und streckte ihn nieder, was ihn aber nicht davon abhielt, lautstark zu schimpfen. »Das verdammte Ding! Zur Hölle damit!« Als Lancelots Blick sich geklärt hatte, sah er Tante Brigid am Herd stehen. Sie rührte in einem breiten schwarzen Kessel, der über dem Feuer hing. Das Feuer war mit kleinen Scheiten und dicken Klötzen gut versorgt. Doch etwas stimmte nicht mit Tante Brigid. Sie stand steif und hatte den Kopf gesenkt; sie erwiderte nicht einmal Lancelots Blick. »Na«, sagte eine fremde Stimme mit dem harten Akzent der Sachsen. »Dann hast du also ein Kind. Hättest es mir sagen sollen, als ich gefragt habe. Rühr nur weiter, ich will ja nicht, dass mein Eintopf anbrennt.« Lancelot wandte sich dem Sprecher zu. Auf dem einzigen Stuhl, den sie besaßen, saß ein Mann, ein Krieger in voller Rüstung. Lancelot riss die Augen auf, als er die Aufmachung sah. Von den Eisenschuhen bis zur Halsberge war es eine wahrhaft erstaunliche Metallkonstruktion. Panzerhandschuhe und Helm lagen auf dem Tisch. Am beeindruckendsten aber war das lange, elegante Schwert, das der Mann im Schoß liegen hatte. »Ein Ritter!«, keuchte Lancelot. »Ein Ritter der Tafelrunde.« Der Krieger warf ihm aus schmalen Augen einen Blick zu und grinste. »Ja, so sieht es aus. Ein Ritter der Tafelrunde.« Lancelot fühlte sich, als hätte er einen weiteren Schlag vor den Kopf bekommen. »Ich kann es nicht glauben! Ein Ritter ist in Avalon bei uns zu Gast.« »Es ist unhöflich, einen Gast so anzustarren«, knurrte der Mann. Lancelot verneigte sich tief. »Verzeih mir, edler Ritter. Du hast uns deinen Namen nicht gesagt.« »Nein, habe ich nicht«, stimmte der Ritter zu. Tante Brigid ergriff zum ersten Mal das Wort. »Du pflückst lieber weiter Äpfel, mein Junge.« »Aber ich will mit diesem Ritter sprechen und mit ihm essen ...« »Hör auf deine Mutter, Junge. Es gibt nicht genug Eintopf für deinen und meinen Appetit.« Der Krieger hob das Schwert ein wenig 21
von den Beinen, und es zitterte begierig. »Ein Ritter von der Tafelrunde hat Gelüste nach manchem Leckerbissen.« Gelüste. Das "Wort traf Lancelot wie ein kalter Wasserguss. Er nickte ernst. Er begriff, was der Mann wollte. Es war etwas, das nirgends in seinen Lehrbüchern erwähnt wurde, doch Lancelot besaß den Körper eines Mannes, und er
begriff, und das Verstehen schenkte ihm neue Augen. Einst war die Rüstung ein schönes Stück gewesen, doch sie hatte viele Schläge einstecken müssen und war nur notdürftig instand gesetzt worden. Das Kettenhemd war zerfranst, der Panzer hier und dort rissig. Überall prangten Kratzer, und in jedem Kratzer saß Dreck. »Nun verschwinde schon«, sagte der Krieger und machte Anstalten, sich zu erheben. Er tippte mit einem Finger auf den Helm. »Der letzte Mann, der mich warten ließ, hat den Kopf verloren.« Lancelot sah den verbeulten Helm an und atmete scharf ein. Erst jetzt nahm er neben dem Duft des Eintopfs auch den Gestank von ungewaschenem Fleisch wahr. Dieser Mann war ganz sicher kein Mitglied der königlichen Tafelrunde. Entweder er hatte einem echten Ritter die Waffen und die Rüstung gestohlen, oder, noch schlimmer, er war ein echter Ritter gewesen, der seine Ehre vergessen hatte. Die schlecht sitzende Rüstung sprach von früheren Morden, und das wackelnde Schwert verhieß neue. Lancelot wusste, was dieser Mann von Tante Brigid wollte, und er wusste, was er selbst zu tun hatte. Er hob beschwichtigend die Arme und wich zurück. »Verzeih mir die Langsamkeit, mein guter Ritter. Ich wollte dir nur mein Schwert zeigen.« Tante Brigids Augen blitzten warnend. Auch der Krieger schien beunruhigt. »Du hast ein Schwert?« Lancelot lächelte entwaffnend und zuckte mit den Achseln. »Ein Schwert von der Sorte, wie wir sie hierzulande brauchen.« Er hielt das Erntemesser hoch. Es schien lächerlich klein neben dem Schwert in der Hand des Kriegers, aber es glänzte vom häufigen Gebrauch. »Wir haben hier viele böse Äpfel. Manche sind so groß wie dein Herz.« Der Krieger lachte schnaufend und ließ sich auf den Stuhl fallen. Die gekrümmte Klinge spiegelte sich in seinen Augen. 22
Lancelot warf das Messer in der flachen Hand herum, fing es geschickt an der runden Spitze auf und hielt es dem Krieger mit dem Griff nach vorn entgegen. »Was hältst du davon?« Der Krieger zögerte nur einen kleinen Moment - wer würde nicht die Waffe eines möglichen Feindes entgegennehmen? Mit der zweiten Hand nahm er das Messer, während die andere weiterhin das Schwert umfasste. Sein Lachen war verstummt, er betrachtete jetzt das kleine, abgenutzte Messer. »Es passt zu dir«, knurrte er. »Und jetzt verschwinde hier und geh wieder an die Arbeit.« Lancelot beugte sich vor, er war jetzt eindeutig in Reichweite des Schwerts, und streckte die Hand aus. »Dann brauche ich aber mein Messer.« Der Mann grunzte und warf es herum, fing es an der runden Spitze auf und gab es mit dem Griff zuerst zurück. Lancelot packte den Griff, sprang vor und zog dem Krieger die gekrümmte Klinge quer durch die Kehle. Tief drang sie ein in Haut und Muskeln, und man hörte das Schmatzen und Zischen, als die Luftröhre zerschnitten wurde. Ein roter Sprühregen entstand. Der Krieger wollte brüllen, doch er konnte nur noch gurgeln. Er wollte den jungen Mann erschlagen, doch Lancelot war schon zurückgesprungen. Noch er aufstehen konnte, war er tot. Er sackte auf dem Stuhl zusammen. Lancelot rollte sich ab und kam ein Stück entfernt auf dem mit Binsen bedeckten Boden zu liegen. Auch er war blutüberströmt. Tante Brigid eilte zu ihm und kniete sich neben ihn. »Lancelot, was hast du getan?«
Keuchend hob er das benetzte Gesicht. »Ich habe einen falschen Ritter besiegt und einen echten zur Welt gebracht.« »Ja«, sagte sie und starrte ernst den toten Mann an. »Ich glaube, das ist wahr. Dies ist kein Kinderspiel mehr. Du hast deinen ersten Kampf gekämpft, und du hast einen Mann getötet. Du wirst dich darum kümmern müssen.« Sie nickte zum Toten hin. »Ja«, gab Lancelot zurück. »Und wenn du damit fertig bist, dann muss deine wahre Ausbil 23
dung beginnen. Es gibt da einen Mann, dem du vorgestellt werden solltest. Er wird dich lehren, was du zu wissen hast.« Die Äpfel mussten noch einen Tag auf dem Baum warten. Tante Brigid betete für den Toten, wusch die Leiche und legte Kräuter darauf. Lancelot hob das Grab aus. Er hatte eine hohe Stelle weit entfernt vom Wasser ausgewählt, denn er wollte nicht, dass dieser Mann verweste und ihren Brunnen oder den Bach vergiftete. Er grub tief und legte die Steine zur Seite, um später das Grab damit zu bedecken, damit die Wölfe es nicht aufwühlen konnten. Eine wilde Wut hatte ihn gepackt. Der Knabe, der am Morgen noch Äpfel gepflückt hatte, war ebenso tot wie der Krieger. Lancelot begrub beide zugleich. Die Sonne versank schon hinter den schwarzen Hügeln, als er die letzte Schaufel Erde aus dem Loch warf. Er kletterte hinaus, stach die Schaufel in den Boden und stieg den Hügel hinunter. Im Fenster der Hütte brannte eine Kerze. Lancelot schüttelte die verkrampften Arme aus und wischte sich den Dreck von der Hose. Dann trat er durchs Tor des Obstgartens. Tante Brigid erwartete ihn schon im Dämmern. Sie deutete auf ein Bündel blutiger Binsen. »Nimm die mit. Sein Blut soll zusammen mit ihm begraben werden.« »Ja.« Lancelot nahm das Bündel an sich. »Und wasch dich im See, bevor du herkommst und ihn wegträgst.« »Ja«, sagte Lancelot noch einmal. Nachdem er den Boden des Grabes mit den blutigen Binsen ausgestreut hatte, ging Lancelot zum See, wusch sich und kehrte zur Hütte zurück. Der Tote lag auf dem Tisch, sauber und in Lancelots eigenes Schlafgewand gehüllt. Er blinzelte. »Du hast ihm mein Nachthemd gegeben?« »Das ist ein geringer Preis für das Schwert und die Rüstung, die er dir schenkt.« Die Rüstung und das Schwert. Lancelot betrachtete beides — ein dreckiger, verbeulter Haufen Metall in der Ecke. Einst waren sie schön gewesen, und bald sollten sie wieder schön sein. Er wollte die 23
Rüstung reparieren und hineinwachsen. Er wollte trainieren, bis Schwert und Rüstung ein Teil seines eigenen Körpers waren. Mit einem letzten ehrerbietigen »Ja« bückte Lancelot sich und hob den Toten auf, legte ihn sich über die Schulter und ging zur Tür. Er dachte sogar daran, sich zu ducken, und trug den Toten in die dunkle Nacht hinaus. Die Sonne hatte sich längst von der Welt verabschiedet, als er das Grab erreichte. Kalter Wind zog die letzte Wärme aus dem Gras. Lancelot ließ den Körper ins Loch gleiten, nahm die Schaufel und machte sich an die Arbeit. Noch bevor der abnehmende, bucklige Mond herunterstarrte, war der namenlose Krieger einen Fuß hoch mit Erde bedeckt. Eine gute Weile nach Mitternacht war auch der letzte Stein an Ort und Stelle.
Lancelot ging zum See, um noch einmal zu baden. Dann kehrte er in die Hütte zurück. Tante Brigid schlief schon tief auf ihrem Lager. Vorsichtig, um die aufgestapelte Rüstung nicht zum Klirren zu bringen, zog Lancelot das Schwert hervor. Schartig und krumm war es, trüb und schmutzig - aber Lancelot konnte dennoch die feine Machart erkennen. Er suchte einen Lumpen und säuberte das Schwert. Sein Schwert. Seine Freunde, die Wasser, waren da. Während er am Schwert arbeitete, arbeiteten die Wasser in ihm. Sie trugen ihn zu den Träumen, und er träumte von einer begierigen Menge, die ihn umgab. Leute aus der Gegend, die er kannte. Sie starrten das geschliffene Schwert und die polierte Rüstung an. Sie marschierten gemessenen Schrittes am Steingrab vorbei. Als sie sich Lancelot zuwandten, brannten ihre strahlenden Augen jeden Makel aus. Im Traum verzückt, wusste Lancelot nicht zu sagen, ob das Licht in diesen Augen nur der Widerschein des Glanzes in seinen eigenen war. 24
4. Ritter in Avalon Eine Pferdeherde graste verdrossen an der Hügelflanke. Zwar waren die Köpfe zum Fressen gesenkt, doch die Tiere hatten die Ohren gespitzt und lauschten. Sie spürten einen Räuber im hohen Gras. Lancelot war der Räuber. Und es war kein Wunder, dass sie ihn spürten - seine Rüstung schepperte und funkelte hinter dem Gras, das ihn verbarg. O ja, er liebte die Rüstung. Er hatte sie poliert, dass sie glänzte, er hatte alle Beulen repariert und alle Kratzer von Schwerthieben abgeschliffen und sogar die Nähte mit kleinen Metallplättchen ausgebessert. Die stinkende Rüstung des stinkenden Ritters hatte sich in einen spiegelhellen Panzer verwandelt. Aber wer trug solch ein Ding, wenn er sich an ein Pferd anschlich? »Muss ich das wirklich tragen, Meister?«, flüsterte Lancelot. Der Mann neben ihm grunzte nur. Mit seinen roten Haaren und der geröteten Haut war Mars Smetrius ein grimmig anzuschauender Kerl. Auf dem roten Wams blinkten aufgenähte Münzen. »Natürlich musst du die Rüstung tragen. Sie ist deine zweite Haut. Die Rüstung ist deine Haut, und die Klinge an deiner Hüfte ist dein ein und alles. Solange sie nicht ein Teil von dir geworden sind, so wichtig wie Herz oder Leber, wirst du sie nie mit ganzer Kraft einsetzen können.« »Aber was nützt mir ein Schwert gegen ein Pferd?«, protestierte Lancelot. »Noch dazu gegen eines, das ich fangen und reiten will? Was nützt mir da die Rüstung?« Meister Smetrius scharrte ein wenig mit dem Fuß auf dem weichen Boden. »Das Schwert nützt dir nicht viel«, räumte er ein. »Die beste Waffe in diesem Kampf ist das Seil. Aber was den Rest angeht — du wirst voll gerüstet sein, wenn du reitest, und voll gerüstet, wenn du aufsteigst. Also sollte sich das Pferd gleich von Anfang an daran gewöhnen.« 24
Lancelot fummelte an dem Seil herum, das er am Gürtel trug, und nickte ernst. »Ich werde mir heute ein Pferd holen. Ein starkes, mächtiges Streitross.« Eine rote Augenbraue schoss in die Höhe. »Dann hol's dir, mein Junge.« Empört über die kleine Demütigung, schlich Lancelot weiter durchs Gras. Seine Muskeln waren gespannt wie bei einer zum Sprung bereiten Katze. Ein Raubtier, dachte er, wählte freilich immer das kleinste oder schwächste Tier aus. Lancelot dagegen wollte das stärkste haben - den Hengst in der Mitte der Herde.
Er beobachtete das große weiße Tier. Der Widerrist war sicher zwei Handbreit höher als bei jedem anderen Tier. Das prächtige Pferd schnaubte, witterte und scharrte unruhig mit den Hufen. Es spürte Lancelots Gegenwart, obgleich dieser sich gegen den Wind anschlich. Ein kluges Tier, rein weiß unter gescheckten Stuten und Fohlen. Die kleineren Pferde waren das größte Problem. Sie konnten den Hengst warnen, und dann würde die ganze Herde quer über den Hügel fliehen. Lancelot war außerordentlich schnell, doch mit einer Pferdeherde konnte auch er nicht Schritt halten. Irgendwie musste er sie dazu bringen zu bleiben, statt fortzulaufen. Ein Hengst, umgeben von Stuten und Fohlen ... Lancelot nahm das Seil vom Gürtel und entrollte es. Ein Ende knüpfte er zu einer verstellbaren Schlinge, wie Meister Smetrius es ihn gelehrt hatte. Wieder schlich er ein Stück näher. Er wollte den Hengst haben, aber um ihn zu bekommen, musste er mit einem Fohlen beginnen. Eines, noch ungelenk auf den Rehbeinen, graste ganz in der Nähe. Es hatte sich auf der Suche nach längerem, grünerem Gras ein Stück von seiner Stute entfernt. Rings um die Herde war das Gras niedergetrampelt, doch Lancelot lag noch zwischen den hohen Halmen. Durch die Gräser hindurch beobachtete er das Fohlen, das sich langsam näherte. Die braunen Augen blinzelten, als es am Boden knabberte. Ein stählerner Funke blitzte in den Augen auf. Das Fohlen hob den Kopf, doch es war zu spät. Lancelot sprang auf. Die Seilschlinge wirbelte einmal, flog in ho 25
hem Bogen hinüber und traf das Tier hinter den Ohren. Es quietschte erschrocken und wich zurück. Die Schlinge rutschte die Mähne hinunter. Mit einem Ruck drehte Lancelot den Laufknoten vor die Kehle des Tiers. Noch ein Ruck, und die Schlinge zog sich fest. Das Fohlen bockte und wieherte und wollte sich befreien. Es warf den Kopf zurück und riss Lancelot hin und her. Die Schreie des Fohlens schreckten die Herde auf, und als der glänzende Mann auftauchte, floh sie den Hügel hinunter. "Wo gerade noch fünfzig Pferde gestanden hatten, flogen jetzt nur mehr Grasbüschel durch die Luft. Lancelot achtete nicht auf die fliehenden Tiere, sondern hielt das Seil unter dem gepanzerten Fuß fest. Das lose Ende legte er sich über die Schulter und zog an. Das Fohlen machte voller Panik einen Satz und zappelte wie ein gestrandeter Fisch. Lancelot knüpfte am anderen Ende des Seils rasch eine weitere Schlinge. Er ignorierte das kehlige, dröhnende Lachen, das Meister Smetrius weiter unten am Hang ausstieß. »Willst du wirklich auf dem da reiten? In zwei Jahren oder so? Bis dahin frisst er dir den Garten und den ganzen Hügel leer. Da hast du dir aber ein schönes Schlachtross ausgesucht, Junge! Vielleicht solltest du dir auch gleich noch einen Zahnstocher als Lanze nehmen.« Lancelot ließ etwas Leine aus und biss angesichts der Schmähungen seines Lehrmeisters die Zähne zusammen. Doch was anfangs eine Grimasse war, verwandelte sich bald in ein Lächeln. Ein Donnern verriet ihm, dass eins der Pferde zurückkehrte. Die Stute erreichte den Hügelkamm, schüttelte wütend die Mähne und starrte zu ihrem gefangenen Fohlen hinunter. Der Mutterinstinkt hatte die Oberhand behalten. Es spielte keine Rolle, dass ein glänzender Mann am Hügel stand und das magische Seil schwang, das unzählige Generationen von Pferden versklavt hatte. Wichtig war nur, dass ihr Fohlen gefangen war und vor Angst blökte. Wie ein Stier senkte die Stute den Kopf, legte die
Ohren an und schnaubte. Sie scharrte mit schwarzem Huf und stürmte den Hang hinunter. Die Stirn gesenkt, griff sie den Mann an, der ihr Hengstfohlen gefangen hatte. 26
Lancelot blieb unerschütterlich stehen. Mit einem Fuß hielt er das Fohlen fest und mit der Hand hob er die nächste Schlinge. Er musste genau zielen, sonst würde ihn die Stute über den Haufen rennen. Das angreifende Tier kam näher. Immer noch blieb Lancelot unbeirrt stehen. Meister Smetrius lachte nicht mehr. Die Stute hielt auf Lancelot zu — aber er war nicht mehr da. Wie ein silberner Blitz wich er dem herbeistürmenden Pferd aus. Nur der Arm blieb, wo er war, und hielt die Schlinge. Sie legte sich um den Hals der Stute. Lancelot gab Seil aus, als das Tier vorbeistürmte. Dann nahm er den Fuß vom anderen Ende und fasste es mit den Händen. Er konnte das rennende Tier nicht aufhalten, er konnte nur hoffen, die Leine zu belasten, damit die Stute nicht ihrem eigenen Fohlen den Hals brach. Auf einmal hatte das Seil überhaupt kein Spiel mehr. Die Stute zerrte Lancelot und das Fohlen hinter sich her. Lancelot fiel auf den Bauch, doch er hielt fest. Das Gras verschmierte die polierte Rüstung. Er rumpelte über den Boden, aber er war fest entschlossen, die Stute nicht entkommen zu lassen. Unterdessen hackte er mit der freien Hand mit einem Messer auf das Seilende an, an dem das Fohlen hing. Drei Schnitte. Fasern des Hanfseils lösten sich. Fünf Schnitte. Das Seil war fast entzwei. Acht Schnitte, und das Seil riss. Vom Schleppseil der Mutter befreit, torkelte das Fohlen zurück und entfernte sich von dem silbernen Mann. Jetzt lachte Meister Smetrius wieder. »Gut gemacht, Soldat. Gut gemacht. Du hast jetzt ein Pferd, auf dem man reiten kann, und vielleicht taugt es sogar für die Schlacht. Die Stute wird dir gehören, wenn du sie brechen kannst. Es scheint aber, als hätte sie die Absicht, eher dir die Knochen zu brechen.« Die Stute hatte den ersten Angriff abgeschlossen. Sie umkreiste ihn in weitem Bogen mit gesenktem Kopf und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Dann sah sie, dass ihr Fohlen frei war und den Hügel hinunter in ihre Richtung rannte. Wut wich nun der Angst. Sie wollte den silbernen Mann nicht mehr angreifen, sondern nur noch fliehen. Ihr Fohlen, das das durchtrennte Seil hinter sich herzog, trab 26
te zu ihr und rannte neben ihr her. Mit klagendem Wiehern begrüßten sie sich. Lancelot zog die Leine an und hinderte die Stute daran davonzugaloppieren; viel mehr als dies vermochte er nicht zu tun. Die Stute schleppte ihn ein Stück mit, aber sie konnte ihm nicht mehr entkommen, und das wusste sie. Der Schrecken, der sie angesichts dieser Erkenntnis erfüllte, war ihr deutlich anzusehen. Während Lancelot das um den linken Arm gewickelte Seil festhielt, bearbeitete er das abgetrennte andere Ende. Er war noch nicht fertig. Ganz und gar nicht. Er legte einen weiteren Laufknoten und zog das Seil zu einem weiten Ring auf. Wenn er den nächsten Wurf verfehlte, mochte es sein Tod sein. Die Stute stieß ein hohes, schrilles Wiehern aus, und das Fohlen stimmte ein. Der Wind trug ihre Schreie mit sich. Es war ein unwiderstehlicher Laut - Stute und Fohlen schwebten in Gefahr. Und wie auf ein Stichwort hin war erneut das Donnern von Hufen hinter dem Hügelkamm zu hören.
Der große Hengst tauchte auf. Er war beeindruckend. Vor dem quecksilbernen Himmel stand er als schwarze Silhouette, wenngleich Lancelot seine wahre Farbe kannte. »Das ist er«, sagte er zu sich selbst. Der Hengst stieg. Vorderhufe flogen, und die Lippen wurden von den großen weißen Zähnen zurückgezogen. Die Augen blitzten wie Silber. Er raste im Galopp den Hügel herab, kaum dass die Vorderhufe den Boden berührt hatten. Lancelot wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er hielt die Schlinge mit einer Hand bereit und drehte mit der anderen ein Messer in das Seil, das die Stute hielt. Der Hengst kam geflogen wie ein weißer Komet. Kein Panzer konnte diesen Hufen widerstehen, nur ein Schwert hätte den Angriff aufhalten können. Doch Lancelots Hand kam nicht einmal in die Nähe der Klinge. Er war hier, um das Tier zu brechen, und nicht, um es zu töten. Mit donnernden Hufen nahte der Hengst. Nicht einmal der leichtfüßige Lancelot konnte schnell genug ausweichen. Die Schulter des 27
Tiers rammte seine eigene. Er wurde zur Seite geschleudert, eine bloße Strohpuppe im Wind. Seine Rüstung schepperte wie Glockengeläut, als er durchs Gras rollte. Dann folgte ein seltsamer Augenblick trügerischer Ruhe — doch der Angriff blieb aus. Vielmehr spannte sich das Seil in Lancelots Hand und wickelte sich eng um sein Handgelenk. Wieder riss es ihn den Hang hinunter, doch das Seilstück, welches die Stute gefangen hielt, wickelte sich um den Dolch. Die Stränge rissen, das Seil ging entzwei, und die Stute kam frei. Unterdessen wurde Lancelot hinter trommelnden Hufen hergeschleppt. Er hatte es geschafft, den Dolch festzuhalten, obwohl die andere Hand in einer Seilschlaufe steckte, die sich zuzog wie ein Schraubstock. Der Hengst wurde nicht langsamer. Er rannte mit voller Geschwindigkeit und schleppte seinen Häscher durch die mit Felsbrocken übersäte Weide. Dies war das Tier, das er fangen wollte. Das Fohlen und die Stute waren nur die Köder gewesen. Lancelot hatte die Dominanz des Hengstes herausgefordert. Einer von ihnen würde als Sieger aus dem Kampf hervorgehen, und der andere musste sich unterordnen. Während ihm das Gras um die Ohren flog, hörte Lancelot Meister Smetrius rufen. »Jetzt hast du ihn, Junge. Halte ihn fest! Es ist ein Wettkampf, ob du mehr Hiebe einstecken kannst, als er austeilt.« Kluge Worte, gesprochen von einem, der außer Reichweite der Hiebe war. Ein Stein knallte gegen Lancelots Kopf. Ein taubes Gefühl breitete sich in ihm aus, irgendwo blutete eine Wunde. Lancelot hielt fest. Nichts konnte dieses Pferd bremsen. Deshalb hatte Lancelot ihn ausgewählt. Je höher der Preis, desto heftiger der Kampf. Die Einsicht wurde ihm von einem weiteren Stein beinahe wieder ausgetrieben. Er roch sein eigenes Blut, zog den Kopf ein. Dieses Biest wollte ihn töten oder selbst dabei umkommen. Ja, genau deshalb hatte Lancelot ihn ausgewählt, doch selbst er, ein junger Mann, verstand die Tragödie. Ein Pferd, das lieber starb, als sich brechen zu lassen, kämpfte gegen einen Mann, der lieber sterben wollte, als aufzugeben - einer von ihnen musste untergehen. Das passt zu Mars, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Lancelot 27
nannte seinen Meister nie beim Vornamen, und dies, mehr als alles andere, verriet ihm, dass eine fremde Stimme gesprochen hatte. Einer muss immer sterben. Wiedumm, einPferdzu brechen und dabei selbst zu zerbrechen.
Lancelot hatte genug von solchen Ratschlägen. Ich bin derjenige, der an diesem Pferd hängt! Nein. Ich hänge an ihm. Ich bin Epona, die Göttin der Pferde. Trotz der holprigen Rutschpartie konnte Lancelot sich die Antwort nicht verkneifen. Dann bist du auf der Seite des Pferdes. Du willst mich zerbrechen. Ich will verhindern, dass du diesen Hengst brichst. Entweder er zerbricht oder ich, gab Lancelot zurück. Warum muss überhaupt einer von euch brechen? Lancelot spürte, wie ein Fels seine Schulter streifte, doch irgendwie war sein Körper Meilen entfernt. Ich will Ritter werden. Ein Ritter braucht ein Pferd. Ein Pferd, das nicht gebrochen ist, kann man nicht reiten ... Du irrst dich. Du folgst deinem Meister. Er will nur einen breiten, behäbigen Pferderücken unter sich spüren. Er ist zufrieden, mit einem gebrochenen Tier in die Schlacht zu reiten. Du willst mehr. Du willst ein Pferd, das ein Verbündeter ist, ein Freund. Als er diese Worte hörte, hätte Lancelot beinahe das Seil losgelassen. Ja, er wollte kein bloßes Packpferd haben, sondern einen edlen Kameraden. Dann sag mir, was ich tun kann. Ich sterbe fast. Lass los, lautete die Antwort. Lass das Seil los. Dann werde ich meine Beute verlieren. Was Beute ist, kann kein Verbündeter werden. Lancelot ließ los. Blutig und zerschunden rollte er durchs Gras an der Hügelflanke. Mit kleinen grünen Händen wischte ihm das Gras das Gesicht sauber. Unten am Hügel blieb er liegen. Das Seil peitschte, gezogen vom weißen Pferd, das eben noch gefangen gewesen war. Voller Schmerzen und Verwirrung drehte Lancelot sich zur Seite. Er legte die Hände auf den Bauch und fing an zu lachen. Ihm war nach speien zumute, doch er lachte. 28
»Hast du ihn losgelassen?«, rief sein Lehrmeister. »Was bist du nur für ein Ritter? Nein, du bist kein Ritter — du bist kein berittener Kämpfer. Drei Pferde mit dem Seil gefangen und alle drei wieder ausgelassen.« Lancelot war es egal. »Ja, du bist ein großer Kämpfer, Lancelot, doch solange du nicht auf dem Pferderücken kämpfen kannst, bist du nichts. Du bist ein Fußsoldat, mehr nicht.« Die Stimme des Meisters wurde langsam lauter, während er den Hügel herunterkam. Meister Smetrius stieß Lancelot in den Rücken - aber nein, er war es nicht. Die Berührung war zu weich, zu feucht, zu borstig. Lancelot stand auf und drehte sich um. Auge in Auge stand der weiße Hengst vor ihm. Er war geräuschlos zurückgekehrt. Mühelos hätte er Lancelot niedertrampeln können, doch er tat es nicht. Er hätte Lancelot mit einem Hufschlag das Gehirn aus dem Kopf spritzen lassen können, aber nein. Lancelot sah die Wunden, die das Seil dem Hals des Tiers zugefügt hatte. Fell und Haut waren durchschnitten, hellrotes Blut quoll hervor. Das Ross war so angeschlagen wie Lancelot selbst. Lancelot streckte den Arm aus, nahm das rote Seil und zog es langsam über den Kopf des Pferdes. Es nickte, als wollte es ihm danken, und scharrte mit den Hufen. Trotz der Gefangennahme, trotz des Blutvergießens war dieses Wesen ungebeugt.
Wie heißt du?, dachte Lancelot bei sich. Er kam sich wie ein Narr vor, doch schon kam ihm ein Name: Rasa. »Rasa«, wiederholte Lancelot laut. »Ich bin Lancelot. Ich will Ritter werden. Ich brauche ein Pferd - einen Verbündeten, der meiner würdig ist.« Rasa nickte, als hätte er ihn verstanden, und Lancelot war sich sicher, dass das Tier seinen Namen wiederholte. »Es ist gut, einen Verbündeten zu haben, Rasa.« Der Hengst schnaubte nur und wieherte leise. Lancelot antwortete mit einem Schnauben, dann brach er zusammen. Rasa kam zu ihm an diesem wässrigen Ort. Wie das Wasser Lancelot früher von Welt zu Welt getragen hatte, so sollte Rasa ihn in Zukunft tragen. 29
Habe ich dich geschlagen, junger Krieger?, fragte Rasa. Ich bin geschlagen, großes Ross. Das bin ich auch. Dann sind wir ebenbürtig und füreinander geschaffen. Unbesiegbar werden wir von Welt zu Welt ziehen. Wer könnte uns töten, da wir schon tot sind? Du träumst, Lancelot. Ich träume. Und ich auch. 29
5. Die Reise nach Camelot Lancelot zügelte Rasa am tiefen, dampfenden See von Avalon. Er seufzte. Der Atemstoß gesellte sich zu den Geistern, die über dem Wasser tanzten. Vor Tante Brigids Hütte hatte er innegehalten, um Avalon ein letztes Mal auf sich einwirken zu lassen. Der Tau hatte goldenen Perlen gleich im Gras gefunkelt. Frisch gemähtes Dachstroh, das er selbst am Vortag aufgehängt hatte, hatte einen süßen Geruch verströmt. Apfelblüten hatten die Hütte weiß und duftend umarmt. Rauchendes Holz hatte eine graue Schlange in den weiten blauen Himmel steigen lassen. Lancelot erinnerte sich an jede Einzelheit. Ein leises Hüsteln von Tante Brigid erinnerte ihn an eine weitere Einzelheit: seine Begleiterin. »Verzeih mir«, sagte Lancelot mit belegter Stimme. Er stieg ab. Trotz der Rüstung bewegte er sich anmutig. Sie war ihm wahrhaftig zur zweiten Haut geworden. Er senkte die Lanze aus Eichenholz, ein Abschiedsgeschenk von Meister Smetrius, geschnitzt aus einem Baum, der »älter als Christus« war. Lancelot zog einen Handschuh ab und streckte die Hand aus. »Lass mich dir helfen.« Sie gab ihm die Hand. Die knochige, verwitterte Hand fühlte sich schwielig und zart zugleich an. Lancelot sah ihr in die Augen, und jetzt erst wurde ihm bewusst, wie alt sie wirklich war. Sie landete wohlbehalten neben ihm auf dem Boden. Und klein war sie - irgendwie hatte sie mit ihrer Ausstrahlung immer wie eine Riesin gewirkt. Tante Brigid wandte den Blick ab und starrte auf das Wasser hinaus. »Da ist er.« Lancelot folgte ihrem Blick. Eine kleine schwarze Gestalt stakte ein Floß über den nebligen Teich. Der Anblick ließ ihn schaudern, ob 29
gleich er versuchte, darüber zu scherzen. »Was muss ich Charon eigentlich zahlen?«
Sie verzog das Gesicht, wollte ihn aber immer noch nicht anschauen. »Mach nicht solche Witze. Dies ist wirklich eine Art von Tod, Lancelot. Du weißt es doch - es ist ein Übergang von einer Welt in eine andere.« »Das weiß ich«, erwiderte er geknickt. »Es ist die Welt, in die ich gehöre. Ja, ich werde Avalon immer lieben, genau wie dich, aber ich gehöre zu den Kriegern und Rittern.« »Wirklich?«, erwiderte sie. Zurückgehaltene Gefühle spiegelten sich in ihren Augen. »Gehörst du wirklich dorthin, wo Krieger und Kriege sind?« »Ja, Tante Brigid. Dort gehöre ich hin.« Er sah dem stakenden Fährmann zu. Es war ein schweres Floß aus aneinander gebundenen Baumstämmen, das ihn und Rasa ans andere Ufer tragen sollte. »Ich werde dich und diesen Ort nie vergessen. Du bist die einzige Mutter, die ich je hatte, und dies hier ...« Er machte eine weit ausholende Geste, um die schwarzgrünen Hügel und den hohen Felsen einzuschließen, »dies hier war meine Heimat. Aber jetzt muss ich in der weiten Welt mein Glück suchen. Ich reite nach Camelot und werde Ritter.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Du bist weit mehr als das, Lancelot.« »Ich weiß. Ich bin der Prinz von Benwick, und ich wäre heute der König, wenn nicht Claudas ...« »Noch viel mehr«, unterbrach sie ihn. Sie nahm Lancelots glatt rasiertes Gesicht in die ledrigen Hände und sah ihm tief in die Augen. Die Haube einer Bäuerin umschloss das scharf geschnittene, runzlige Gesicht. »Du versprichst, dich zu erinnern, Lancelot, doch es gibt viele Dinge, die du noch nicht einmal weißt. Dein Erbe. Lass es nicht schweigend in dir ruhen. Lass es dir Dinge zuflüstern und höre zu.« In all den Jahren, die sie zusammen verbracht hatten, hatte er noch nie ein solch verzweifeltes Drängen in ihrem Blick bemerkt. Es war mehr als der Kummer über ein Kind, das fortging. Etwas anderes, Unausgesprochenes lag in diesem Blick. »Der Untergang deines Königreichs, der Tod deines Vaters, der Wahnsinn deiner Mutter, deine Ankunft in Avalon, auch diese Rüs 30
tung, das Pferd und die Ausbildung ... all dies ist nicht zufällig geschehen. Fluch und Segen verbinden sich hier. Sie formen zusammen ein Bild, das du noch nicht zur Gänze geschaut hast. Ein Bild von dem, was du sein wirst, mein Sohn. Erfasse es, bevor es dich fesselt.« Lancelot wusste nichts zu sagen, außer sie in die stahlgepanzerten Arme zu schließen. Selbst durch die Rüstung hindurch spürte er die Zerbrechlichkeit ihrer Knochen und die Stärke ihres Herzens. Lange hielt er sie so, ließ ihre Tränen auf seine Rüstung fallen und verbarg die eigenen. Schließlich drehte er sich um und starrte dem Bootsführer ins hagere Gesicht. »Da ist er«, sagte Lancelot. »Ich muss gehen.« Tante Brigid nickte und zog sich ein wenig zurück. »Ich werde es nicht vergessen«, versprach er. Ein grimmiges kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. »Das ist nicht genug. Du musst dich erinnern.« Er langte in die Börse unter dem Brustharnisch und zog ein Silberstück hervor, das er dem Fährmann gab. Der dürre Kerl biss auf die Münze, steckte sie ein und bedeutete Lancelot und Rasa, an Bord zu kommen. Der junge Krieger steckte die Lanze in den Köcher, hob die Zügel vom Sattel und führte sein Pferd. Die meisten Pferde hätten auf dem unebenen, unsicheren Floß
gescheut, doch Rasa besaß eine fast menschliche Klugheit. Er stampfte auf die Stämme und blieb geduldig neben seinem Reiter stehen. »Lebe wohl, Tante Brigid. Lebe wohl, Avalon.« »Lebe wohl, Lancelot du Lac«, sagte sie traurig. Der Fährmann stemmte die Stange in den Schlamm und stieß ab. Vor dem Floß entstanden kleine weiße Wellen, die sich kräuselnd teilten. Er zog die Stange heraus, setzte neu an und stakte weiter. Lancelot stand neben Rasa. Kein einziges Mal drehte er sich um. Es war nicht nötig. Avalon und Tante Brigid hatten sich ihm als unauslöschliche Bilder eingeprägt. Kaum dass Lancelot in den Nebeln von Avalon verschwunden war, fiel Brigid, die Herrin der Nebel, am Wasser auf die Knie. Sie ließ das Bauernkleid von den Schultern zu Boden gleiten. Auch die Erschei 31
nung von hohem Alter, die sie stets in Lancelots Gegenwart angenommen hatte, ließ sie nun fallen. Wo gerade noch eine Alte gestanden hatte, kniete jetzt eine junge, starke Frau am Wasser. Äußerlich völlig verwandelt war sie, doch die Tränen waren geblieben. Nach gut zwanzig Jahren verstand sie nun endlich, wie der Verlust ihres Kindes Elaine von Benwick in den Wahnsinn getrieben hatte. Die Dunkelheit kam lange bevor Lancelot Camelot erreichte, doch die Stadt strahlte so hell unter dem dunkelnden Himmel, dass er keine Sonne brauchte. Camelot war eine Verheißung aus weißem Stein. Weitläufig, schön, erhaben und elegant schien es wie aus einer Wolke geformt, eine ätherische Stadt, die sich an die Hügel von Cadbury kettete. Durch die himmlischen Tore strömten zehntausende armer Seelen, Avatare aus einem untergehenden Land. Lancelot war einer von ihnen. Er war gekommen, um Ritter zu werden. Die anderen, so schien es, kamen der Feiern wegen. Allenthalben schwatzte man über Artus' großen Sieg. Aller Augen strahlten freudig in Erinnerung an die Schlacht und voller Hoffnung auf Frieden. Schurke und Diener, Herzog und Graf, Ritter und Priester, wund geritten und wund gelaufen, strömten nach Camelot. Lancelot ritt zwischen ihnen. Noch nie hatte er so viele Menschen gesehen, und die Atmosphäre riss ihn bald mit. Natürlich kannte hier niemand seinen Namen, doch er hatte das Gefühl, als hätten sich die Menschen auf der Hauptstraße gesammelt, um ihn willkommen zu heißen. Die menschliche Flut erreichte die mächtigen Mauern, die auf riesigen Steinen aus der Eiszeit wohl gegründet standen. Die Blöcke waren aus unermesslicher Ferne hergeschleift und tief ins Erdreich gebettet worden. Noch größere Steine bildeten die Schwellen zu Camelots sieben Toren. Einem dieser Tore näherte Lancelot sich nun. Auf dem Floß des Fährmanns hatte Rasa sicher gestanden, doch hier an der Schwelle der Anlage stampfte und scheute er. Lancelot ruckte nicht am Zügel — er vertraute Rasa viel zu sehr —, sondern tätschelte nur sanft seinen Hals und drängte ihn weiter. Rasa reagierte mit einem stürmischen Handgalopp, wie um die Torbögen und Fallgatter 31
so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Der Schatten der Mauern fiel auf Ross und Reiter. Lancelot ritt vorsichtig. In einem Handschuh hatte er ein Empfehlungsschreiben von Tante Brigid, das mit irgendeinem edlen Siegel verschlossen war. Es werde ihm Zugang zur Stadt verschaffen, hatte sie gesagt. In der anderen Hand hatte er eine kleine Börse mit genügend Geld, um die Torwächter zu bestechen. Er hatte damit gerechnet, beides zu
benötigen, doch er brauchte keines. Ohne aufgehalten zu werden, ritt Lancelot durchs Haupttor von Camelot. Hinter dem Torbogen lagen weite Höfe in freundlichem Licht. Fackeln malten alle Mauern golden, und Talglichter ließen die Fenster glühen. Feiernde Menschen drängten sich in den Straßen - zehntausende waren es. Auf breiten Wegen tanzten sie zur Musik von Flöte und Rebec. In schmalen Gassen würfelten sie mit Knochen oder sammelten sich vor den Türen der Wirtshäuser. Hinter den Stroh- und Schieferdächern erhob sich der Palast. Als Lancelot den Palast von Camelot erblickte, wäre er fast aus dem Sattel gefallen. Es war ein Traum aus Alabaster mit weißen Mauern und unglaublich hohen Türmen. Angeblich hatte Merlin selbst den Palast in einem Wachtraum ersonnen. Es hieß, er habe die Zeichnungen über einem Feuer gemacht und das Papier verbrennen lassen, bis die Linien des noch körperlosen Gebäudes glühend inmitten der Stadt entstanden seien. Sterbliche und unsterbliche Baumeister hätten dann nur mehr die Linien mit Steinplatten gefüllt. So erzählte man es sich, doch es gab viele erfundene Geschichten über Camelot. Sie richteten selten Schaden an, denn die Stadt war in Wahrheit noch viel prächtiger, als sie es im Märchen je hätte sein können. Rasa lief über Pflasterstraßen, die im Feuerschein aussahen wie mit Gold belegt. Zu beiden Seiten standen Schenken, auf deren Fachwerkmauern prächtige Bronzeschilder prangten. Noch großartiger als die Straßen und Gebäude waren die Menschen, die in Torbögen plauderten oder in ihren Gemächern Weinkrüge herumreichten und von den untergegangenen Sachsen und den unsterblichen Briten sangen. Es war ein gutes Volk - das Herz auf dem rechten Fleck, wacker, glücklich und frei. Jeder Tyrann konnte eine prächtige Stadt bauen, 32
doch nur ein großer und guter König konnte sie mit einem Volk wie diesem füllen. Vor ihm stand nun ein wundervoller Brunnen, in dessen Mitte drei Frauenfiguren zu sehen waren - Mädchen, Mutter und Alte. Die Inschrift am Rand lautete: BRUNNEN DER FREIGIEBIGEN HEXEN. Rasa schob sich sanft, aber beharrlich durch die Menge, bis er den Brunnen erreichte. Ein beglückter Schauder schien über das Fell des Hengstes zu laufen. Er senkte den Kopf und trank. Lancelot sprang aus dem Sattel und beugte sich neben seinem Ross zum Wasser. Er schöpfte zwei Hände voll, und es schien in seinen Händen zu lachen. Er spritzte es sich ins Gesicht und wusch den Straßenstaub ab. Es war angenehm kühl und süß, wie es nur reinstes Wasser ist. Lancelot betrachtete die Gesichter der Hexen; es waren keltische Gottheiten. Erfrischt stieg er wieder auf Rasas Rücken und zog den Hengst vom Wasser fort. »Hast du dein Pferd aus dem heiligen Brunnen trinken lassen?«, rief jemand in der Nähe. Lancelot drehte sich so heftig zum Sprecher um, dass die Tropfen aus seinen Haaren flogen. »Er ist ein ganz besonderes Pferd«, platzte er heraus. Hengst und Krieger zogen weiter. Vor ihnen erhob sich der Palast inmitten weitläufiger Gärten. Es waren keine zurechtgestutzten Anlagen wie auf dem Kontinent, sondern ungepflegte, wilde Bezirke. Lancelot lenkte Rasa zu einem Tor, über dem mehrere Geweihe dicht nebeneinander angebracht waren. König Artus wurde oft mit Geweihen dargestellt der König mit dem keltischen Sinn und dem christlichen Schwert. Vor dem Torbogen stieg Lancelot ab. Er führte Rasa über den Stein. Fuß und Huf trampelten ihr Lied, während sie
liefen. Vor ihnen lag die vom Fackelschein erhellte Außenmauer des Palasts. Ein junger Mann wartete dort. Lancelot verneigte sich ungelenk und zückte die versiegelte Schriftrolle. »Ich bin Lancelot du Lac. Brigid von Avalon schickt mich, dass ich bei König Artus vorspreche.« Der junge Mann, schlank und einfach gekleidet, nahm die Schriftrolle nicht an. »Hafer oder Heu?« 33
Lancelot blinzelte. Er betrachtete die Schriftrolle und fragte sich, warum sie auf so wenig Gegenliebe stieß. »Ich bin Lancelot du Lac, geschickt von Brigid ...« »Will dein Pferd Hafer oder Heu?«, unterbrach ihn der Knappe. Verblüfft schaute Lancelot zu Rasa, der die Augen verdrehte und einmal energisch nickte. Lancelot nickte jetzt ebenfalls. »Hafer natürlich.« »Danke«, erwiderte der Knappe und übernahm Rasas Zügel. »Der König und sein Gefolge, seine Ritter und Krieger, versammeln sich im großen Saal. Soll ich dir den Weg zeigen?« Lancelot wehrte mit einer Geste ab und wandte sich stattdessen an Rasa. »Du wirst dich satt essen. Ich sehe heute Abend nach dir.« Er ließ Knappen und Pferd allein und ging weiter zum inneren Hof. Licht und Musik drangen aus einem Raum auf der anderen Seite. Eine breite Doppeltür führte vom großen Saal in den Hof hinaus. Lancelot näherte sich ihr, umfasste die Riegel und warf sie auf, als wäre es ein Scheunentor. Geräusche und Wärme schlugen ihm entgegen. Der Raum war voller Krieger und Ritter. Alle trugen Prunkrüstungen, die leichter und schöner geschmückt waren als die Kampfrüstung, in der Lancelot gekommen war. Sie hatten schon gegessen, wie man an den mit Resten überladenen langen Tischen leicht sehen konnte. Sie hatten sich auch schon kräftig zugeprostet, wie man an den geröteten Gesichtern und dem beschwingten Tanz sehen konnte. Hier waren also die Besten von König Artus' Untertanen versammelt, die Ritter und Krieger, die gerade eine große Schlacht gewonnen hatten. Sie bemerkten Lancelot nicht, als er zwischen sie trat. Zur Musik von Trommel und Flöte ging der Tanz weiter. Lancelot schob sich an ihnen vorbei zum Podest am Ende des Raumes, wo der Thron stand. Es war ein mächtiger, erstaunlicher Thron. Die Beine schienen im massiven Fels verankert, die Rückenlehne erstreckte sich schier bis zum Himmel. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, Herrscher und Herrscherin, saßen auf diesem weitläufigen Ehrenplatz. Lancelot betrachtete zuerst Artus, der einen Zobelmantel mit Hermelinbesatz trug. Mit dreißig Jahren war er ein junger König, mit 33
einem braunen Bart, jugendlich, von angenehmem Äußeren und doch weise. Ungebeugt von der Krone, die auf seiner Stirn saß, betrachtete der Monarch erfreut und doch abwesenden Blickes das Gedränge vor ihm. Hier war der Mann, der Camelot gebaut hatte mit allen Straßen und Häusern und allem anderen. Hier war auch der lange verlorene Sohn eines ermordeten Königs, der sich erhoben hatte, um zurückzufordern, was ihm von Rechts wegen gehörte. Lancelot empfand eine starke Verbundenheit und fragte sich, ob er jemals so groß werden könne wie dieser Mann. Er wandte den Kopf, und sein Blick fiel auf Königin Guinevere. Lancelot blieb wie angewurzelt stehen, sein Atem stockte. Vielleicht hörte sogar sein Herz zu schlagen auf. Die ganze Welt erstarrte um ihn, die Tänzer verharrten wie Standbilder.
Die Musikanten hielten denselben hohen, durchdringenden Ton. Guinevere. Nur sie bewegte sich, strich das lange braune Haar zurück, das ihr in die Augen gefallen war — Augen, die dunkel waren wie Fässer voll Pech. Es war, als hätte Lancelot sein Leben lang im Schatten gelebt und als wäre diese Frau, die Königin, der erste lebendige Mensch, den er traf. Wie ein Blick in Artus' Antlitz ein Gefühl edler Lehnstreue in Lancelot geweckt hatte, so weckte der Anblick Guineveres eine heilige Besessenheit in ihm. Ja, er wollte sie anbeten - das war der heilige Teil. Aber er wollte sie auch ganz und gar besitzen und ganz und gar von ihr besessen sein. Die höchsten und die niedrigsten Gefühle für Guinevere waren nicht voneinander zu trennen. Wie und wann er niedergekniet war, das wusste er selbst nicht, doch auf einmal kauerte Lancelot vor König Artus und Königin Guinevere. Mit einem letzten schrillen Ton verstummte die Musik. Füße scharrten und standen still. Aller Augen richteten sich auf den jungen Mann. Stille legte sich über den großen Raum, und in der Stille war Artus' unausgesprochene Frage zu hören: Was willst du hier? Fast wie von selbst kamen die Worte. »Guten Abend, König Artus, Herrscher von ganz Britannien. Möge dein Sieg dir Segen und Glück bescheren.« 34
Artus neigte höflich, aber zurückhaltend den Kopf. »Und was begehrst du nun, junger Krieger?« »Ich will dir und deiner Königin dienen. Ich habe den Wunsch, ein Ritter der Tafelrunde zu werden.« So ernst die Worte auch gesprochen waren, sie belustigten die anderen Gäste, und ein wahrer Sturm von Gelächter erhob sich. Lancelots Ohren wurden rot, aber sein Blick ruhte unverwandt auf Guinevere. König Artus lachte nicht, doch es zuckte um seine Mundwinkel. »Wie jeder Held von Badon Hill strebst auch du nach der Ritterwürde.« Lancelot schüttelte heftig den Kopf. »Du verkennst mich, großer König. Ich bin kein Held von Badon Hill, wenn das die Schlacht ist, über die hier alle reden.« Weiteres Gelächter war die Antwort. »Verzeih mir. Ich war lange fort auf der Insel Avalon, deshalb weiß ich nicht, was sonst in der Welt geschehen ist.« Artus antwortete ihm mit beinahe väterlicher Nachsicht. »Ich habe viele Freunde auf dieser Insel, und ich wüsste gern, wer du bist, dass du ihren heiligen Namen aussprichst.« Beschämt, weil er vergessen hatte sich vorzustellen, sagte Lancelot: »Ich bin Prinz Lancelot, der Sohn des Königs Ban von Benwick.« Auf einmal entstand ein großer Tumult. »Er schmäht unseren toten König!« »Wie kann er nur so etwas behaupten?« »Ich habe vor zwei Jahren das Kind Lancelot geküsst - ein Kleinkind war es noch.« Lancelots Stimme übertönte sie. »Ich bin Lancelot, Sohn des Ban, aufzogen von Brigid von Avalon und ausgebildet von Mars Smetrius. Ich bin mit Schwert und Ross jedem Mann ebenbürtig, und deshalb bitte ich dich, König Artus, mich zum Ritter der Tafelrunde zu machen.« Er sprach zu Artus, doch er wandte den Blick keine Sekunde von der Königin. Artus hob die Hände, um den Tumult einzudämmen. »Ich kann nicht bestätigen, dass du der Sohn des Ban bist, aber ich kann es auch nicht bestreiten. Die Frage deiner Herkunft soll wie alle anderen Fra
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gen morgen bei den Wettkämpfen ihre Antwort finden.« Er deutete zu den versammelten Gästen. »Diese Männer hier sind zusammengekommen, um sich um die Plätze zu bewerben, die frei wurden, nachdem tapfere Männer bei Badon Hill gefallen sind. Ob im Turnier, im Faustkampf oder mit dem Schwert, morgen sollen aus Kämpfern Ritter werden. Auch du, junger Mann, sollst wie alle anderen dich beweisen oder aber scheitern.« »Dieser Aufschneider hat keine Chance«, ertönte ein ärgerlicher Ruf. Ein Bär von einem Mann schritt mitten durch die Gäste, die ihm eilig Platz machten. Die Prunkrüstung funkelte, doch in der Hand hatte er ein echtes Schwert. Sein Tonfall verriet, dass er aus Benwick kam. »Ich werde nicht untätig zusehen, wie ein Mann, der eine Sachsenrüstung trägt, König Bans Ehre besudelt. Er soll seine Behauptung auf der Stelle beweisen, oder er wird mein Schwert...« »Wenn dir sein Wort nicht genug ist«, unterbrach Königin Guinevere ihn, »dann nimm meins dafür.« Jetzt sahen alle zu ihr. »Er ist derjenige, für den er sich ausgibt.« Sie nickte zu Lancelot hin. »Er wird morgen mit euch wetteifern, und er wird den Namen seines königlichen Hauses tragen.« Niemand war verblüffter als Lancelot selbst über diese Wendung. Er blickte der Königin in die Augen und sah sein eigenes Spiegelbild. Als der Mann aus Benwick sich zurückzog, dankte Lancelot der Königin mit einem Nicken. Verwirrt sah er in die Runde, doch sie erwiderte sein Nicken. In dieser Nacht träumte er nicht von Avalons Wassern, sondern nur von Guinevere. 35
6. In der Kampfbahn Helle Morgendämmerung lag über Camelot. Die Sonne ließ den Palast fast unwirklich weiß vor dem schläfrigen Westen hervortreten. Auf Strohdächern schimmerte der Tau. Rauch von Holzfeuern stieg aus Kaminen und trug den Duft von Speck und Porridge und aufgebackenem Brot in die Luft. Türen und Fensterläden wurden geöffnet, Lachen scholl heraus, und dann kamen auch die Lachenden selbst zum Vorschein. Mit Brokatwesten und Tartanhosen, mit Leinenröcken und Spitzenkragen bekleidet, begrüßte das Volk von Camelot den neuen Tag -den zweiten Tag des Fests von Pendragon. Lancelot wurde vom ersten Licht geweckt. Die Nacht hatte er zwischen Heuballen im Stall verbracht. Er hätte genug Geld für eine Unterkunft gehabt, doch die Gasthäuser waren voll belegt. Es machte ihm nichts aus. Auch sein einziger wahrer Freund in ganz Camelot war hier. Rasa hatte im Stehen geschlafen, und sein Fell dampfte trotz der übergelegten Decken. Lancelot dagegen lag im Heu, wo er es warm hatte. Wärme schenkte ihm auch eine Erinnerung. Königin Guinevere strahlte vor seinem inneren Auge wie die Sonne selbst. Sie hielt dort auf dem dunklen Heuboden den Blick auf ihn geheftet, wie sie es im Palast getan hatte. Wissend und geheimnisvoll war der Blick. Er ist derjenige, für den er sich ausgibt, hatte sie gesagt. Wie konnte sie das wissen? Vielleicht hatte es einer ihrer keltischen Götter ihr erzählt. Sie war die Priesterin eines alten Glaubens und eine Heilerin, die manche als Macht des Landes bezeichneten.
Lancelot stand auf und streckte sich. Das Heu flatterte in einem kleinen Schauer zu Boden. Er klopfte es ganz und gar ab und begann mit dem Anlegen seiner Rüstung. Drunten im Stall schnaubte Rasa 36
ungeduldig, weil er endlich in die Wettkampfarena wollte. Lancelot atmete die nach Heu duftende Luft tief ein und lächelte. Guinevere würde dort sein, neben Artus, und alles mit ansehen. Er hoffte nur, lange genug den Blick von ihr wenden zu können, um im Turnier zu bestehen. Lancelot legte eilig Armkachel und Kniebuckel an und gürtete sein Schwert ans Wehrgehänge. Voll gerüstet stieg er dann hinunter, um Rasa zu satteln und ihn vor den Kämpfen des Tages zu striegeln. »Keine Sorge«, sagte Lancelot, als er den Hals des Hengstes streichelte. »Meister Smetrius hat mich gut ausgebildet, und ich habe dich gut ausgebildet.« Ein kurzes Schnauben verriet Lancelot, was sein Pferd davon hielt. »Wir werden die Wettkämpfe gewinnen und einen Platz in der Tafelrunde ergattern.« Mit einem etwas einfältigen Lächeln legte Lancelot ihm das Halfter an. »Genauer gesagt werde ich den Platz in der Tafelrunde bekommen.« Rasa wirkte geradezu niedergeschlagen. Lancelot rieb ihm die Schulter. »Du bekommst vielleicht einen Platz in der Nähe der Stute deiner Wahl.« Ohne auf einen weiteren Kommentar zu warten, führte Lancelot den Hengst aus dem Stall, steckte die Lanze aus Eichenholz in den Köcher und stieg auf, um zum Festgelände zu reiten. Auf gepflasterten Straßen ging es zwischen einladenden Geschäften entlang. Camelot stellte sein Morgengesicht zur Schau - frisch und fröhlich war es. Im Licht der Sonne zeigte die Stadt ein ganz anderes Strahlen als bei Mondschein. Die Menschen, die am Abend getanzt und gesungen hatten, drängten sich jetzt auf der Straße, um das Turnier zu sehen. Lancelot zügelte Rasa ein wenig, um sich dem Tempo der Fußgänger anzupassen. Der junge Krieger stellte fest, dass er die Menschheit mochte, da er nun eine ganze Reihe ihrer Angehörigen gesehen hatte. Vor ihm öffnete sich die Straße zu einer weiten Grasfläche. An einer Seite waren die Stechbahnen abgetrennt - lange Streifen mit zertrampelter Erde, die durch kleine Zäune unterteilt waren. Auf der anderen Seite standen Stechpuppen und Strohpuppen für die Kämpfer bereit, die noch trainieren wollten. In der Mitte des Platzes waren Kreise und Quadrate für die Schwertduelle abgeteilt. Die Zuschauer 36
verteilten sich auf die Tribünen. Lauten, Flöten und Zugposaunen spielten in höher angebrachten Verschlagen. Am Ende des Kampfplatzes standen die vielfarbigen Zelte der Ritter und Krieger. Lancelot ritt zu den Zelten der Wettkämpfer. Seine Kameraden - oder Gegner - warteten schon. Steif saßen sie auf nervösen Rössern, ein halbes Hundert Krieger, und starrten zum Turnierplatz hinüber. Die Helme drehten sich zu dem jungen Mann, der behauptet hatte, der Sohn des Ban zu sein. Augen wurden hinter Visieren zusammengekniffen. »Ah, da ist ja der kleine Sohn von Benwick.« »Sachsenrüstung, Sachsenlügen ...« »Was hat er da nur? Eine Lanze oder einen Zahnstocher?« Lancelot überhörte die Sticheleien und ritt bis in ihre Mitte. Auf einem Fleck, auf dem die meisten Reiter nicht einmal einen Hund hätten umdrehen können, nahm er Rasa herum. Er
grüßte nicht, weil er sowieso keine Antwort bekommen hätte. Die Kämpfer pöbelten ihn weiter an. »Wo ist denn dein Schildknappe, Prinz Lancelot?«, fragte ein rotbärtiger Kaledonier. »Ich habe keinen Schildknappen«, erwiderte Lancelot. Der Mann drehte sich auf seinem Rotschimmel zu ihm herum und bohrte weiter. »Und wo ist deine Lanze?« Lancelot warf einen kurzen Blick zu dem dunkelbraunen Speer, der seitlich im Köcher steckte. »Hier.« Der Kaledonier schnaubte. Die Augen lächelten, doch die Mundwinkel waren heruntergezogen. »Eine Übungslanze? Wo ist die Farbe? Wo sind die anderen Lanzen? Womit willst du kämpfen, wenn diese eine zerbrochen ist?« »Sie ist aus Eiche, aus dem Kernholz eines alten Baums. Sie ist stark wie Eisen. Sie wird nicht brechen.« Der Kaledonier lachte. »Und wo ist dein Schutzengel?« »Mein Schutzengel?«, fragte Lancelot verständnislos zurück. Der Mann mit dem roten Bart grinste gehässig. »Ja. Königin Guinevere. Ihre Fürsprache hat dir gestern Abend das Leben gerettet. Doch heute kann sie nicht für dich eintreten.« 37
Lancelot senkte den Kopf. »Das ist auch nicht nötig.« »Oh«, erwiderte der Krieger, und es klang wie ein Grollen. »Du wirst dir noch wünschen, sie könnte es. Jeder hier hat es auf dich abgesehen und will dich aus dem Sattel werfen. Du wirst sie hundertmal brauchen, ehe der Tag vorbei ist.« Lancelot nickte knapp. »Gut gesprochen, mein Freund.« Damit steuerte er Rasa aus der Meute heraus zu den Tribünen. Die Hufe des Hengstes pochten begierig auf dem Grasboden. Lancelot stand aufrecht in den Steigbügeln, was der Menge Hochrufe entlockte. In Wahrheit kam es ihm nur auf einen einzigen Anfeuerungsruf an, auf den der Königin. Nur für sie ritt er, den Eichenstab fest neben sich im Köcher eingepflanzt. Der rotbärtige Kaledonier starrte Lancelot nach. Er gab seinem Rotschimmel die Sporen und folgte dem jungen Krieger auf dem Fuße. Lancelot erreichte die Kampfbahnen. Er trieb Rasa bis zum Zaun des Platzes und hob leicht den Zügel. Der mächtige Hengst setzte über den Zaun und galoppierte direkt dahinter weiter, ohne auch nur eine Sekunde zu zaudern. Noch ein halbes Dutzend Schritte, und Rasa hielt vor der königlichen Loge an. Die Zügel waren schlaff, als der Hengst vor der Menge stieg. Hochrufe waren die Antwort, und selbst König Artus, der weißen Pelz und roten Brokat trug, lächelte und nickte. Lancelot grüßte ihn knapp, denn er hatte nur Augen für Guinevere. Sie war ganz in Weiß. Ihre kräftigen Hände ruhten verschränkt auf einem Knie, verflochten wie Eichenwurzeln. Die Füße hatte sie aus den Sandalen gezogen und nackt auf die gezimmerten Planken gestellt. Rosen blühten in einem ins Haar geflochtenen Kranz um ihren Kopf. Sie ist keine Anhängerin Christi, sagte Lancelot sich, sondern die mächtige Priesterin einer früheren Zeit. Doch dafür liebte er sie umso mehr. »Meine Königin«, rief er hinauf und verneigte sich im Sattel. »Ich bitte dich um eine Gunst.« 37
Nicht Guinevere, sondern Artus antwortete ihm. »Schon gestern Abend hat die Königin für dich gesprochen. Welche Gunst könntest du wohl noch von ihr erbitten?« »Dass ich für sie kämpfen darf«, erwiderte Lancelot auf der Stelle. Er deutete über die Schulter zum rotbärtigen Krieger, der gerade angaloppiert kam. »Man munkelt, ich werde fallen, wenn ich für mich allein kämpfe. Das Gerücht ist wahr. Wenn ich aber für dich kämpfen darf, Königin Guinevere, dann kann ich nicht besiegt werden. Davon bin ich fest überzeugt.« König Artus dachte über die hübsche Ansprache nach und starrte dem Kaledonier ins gerötete Gesicht. »Du sprichst wohl, junger Lancelot. Und warum solltest du nicht für Königin Guinevere kämpfen? Jeder Ritter sollte für sie kämpfen. Und warum sollte sie nicht einen keuschen Streiter haben?« »Deshalb habe ich ja auch dich, mein Liebster«, unterbrach Guinevere ihn und legte die schlanke Hand sachte auf Artus' Stola. Jetzt lief der König rot an. »Du darfst für mich kämpfen, Lancelot du Lac«, fuhr die Königin fort. Wieder verneigte er sich im Sattel. »Ich danke dir. Dann bitte ich um die Gnade eines Gunstbeweises, den ich mit mir tragen kann wie einen Schild.« Sie griff zum Kopf, zog anmutig eine Rose aus dem Kranz und warf die Blüte zu Lancelot hinüber. Wie ein hellroter Komet flog sie und landete wohlbehalten in seinem Panzerhandschuh. Lancelot hielt sie hoch, trank ihren Duft und flocht sie geschickt ins Visier seines Helms. »Gib auch mir eine Rose, meine Königin«, verlangte der Nordmann. Guinevere lächelte und entließ ihn und Lancelot mit einem Winken. »Such dir eine andere Frau, deren Tugend verteidigt werden muss. Ich habe meinen Streiter gewählt.« »Ja«, erklärte König Artus und legte einen Arm um seine Königin. »Sie hat ihren Streiter gewählt. Und jetzt hinfort mit euch beiden.« Der Kaledonier schluckte eine Erwiderung herunter und nahm sein Pferd so heftig herum, dass sein Rumpf Rasas Schulter anstieß. 38
Der Hengst scheute nicht, wie es viele Pferde getan hätten. Er blieb stehen und rempelte zurück. Der Rotschimmel nahm die Hufe unter den Hintern, wie ein erschreckter Hund den Schwanz einzieht. Er riss dem Reiter die Zügel aus der Hand, und der Kaledonier wäre beinahe rückwärts aus dem Sattel gekippt. Mit haltlos fuchtelnden Händen ritt er gut dreißig Schritt, ehe er die Kontrolle wiedergewann. Seine Flüche übertönten noch das Johlen und die höhnischen Rufe der Menge. Dicht über das verschreckte Pferd gebeugt, zerrte er am Zügel herum. Das arme Tier hatte die Markierungen umgerannt, sich zwischen Einfriedung und Tribüne verheddert und war übernervös. Knurrend brachte der Mann sein Reittier mit einem Ruck zum Stehen und zog es noch einmal herum. »Du da!«, rief er. Er stand aufrecht in den Steigbügeln und deutete auf Lancelot. »Du wirst mir sofort Genugtuung geben.« Lancelot hörte nicht auf ihn. Er atmete den starken Duft der Rose ein, aus der noch die Wärme von Guineveres Haut strömte. Der Ruf des Kaledoniers konnte diesen Augenblick nicht zerstören. Guineveres Ruf aber vermochte, was kein anderer konnte. »Lancelot ...?« Er sah zu ihr auf. »Ja?«
Sie lächelte, und ihr Anblick ließ ihn dahinschmelzen. »Du trägst meine Rose.« Sie deutete zur Kampfbahn. »Jetzt verteidige meine Ehre.« Lancelot blickte zur Arena. Das Pferd des Kaledoniers schüttelte die rote Mähne und stampfte ungeduldig. Lancelot wandte sich wieder an Guinevere. »Es ist mir ein Vergnügen.« Er ließ Rasa traben, bis er das andere Ende des Reitplatzes erreicht hatte. Es entsprach überhaupt nicht den Regeln. Die Männer kämpften in festgelegten Paarungen gegeneinander. Vor dem Kampf sollte ein Trompetensignal gegeben werden. Jemand hätte eine Ansprache halten müssen, bevor die Gegner aufeinander stießen. Solche Zeremonien aber entfielen, sobald es um die Ehre ging. Lancelot hätte sich sorgen müssen. Ihm war klar, dass er in wenigen Augenblicken sterben konnte. Oder er musste in den nächsten Au 39
genblicken einen anderen Mann töten. Beides waren gute Gründe, Angst zu haben. Doch irgendwie war nichts wichtig außer der Wärme der Rose. Als er das Ende des Turnierplatzes erreicht hatte, lenkte Lancelot Rasa in eine Stechbahn. Er zog die ungeschmückte Eichenlanze aus dem Köcher, hob den Schild und tat mit einem Nicken kund, dass er bereit sei. Der Kaledonier gab seinem Ross die Sporen. Sie flogen die Bahn herunter. Sogar durch den Helm des Mannes waren noch das flammend rote Haar und die funkelnden Augen zu sehen. »Lass uns kämpfen«, flüsterte Lancelot zu Rasa. Das Pferd kannte die Worte. Sie hatten tausend Übungsstunden unter den Augen von Meister Smetrius eingeleitet. Genau wie damals ging Rasas mit einem Sprung zum Angriff über. Lancelot beugte sich vor, um die Beschleunigung des starken Tiers auszugleichen. Rasa stürmte los wie ein Widder. Die Beinmuskeln spannten sich, die Hufe donnerten. All dies bildete die Kulisse für den spitz zulaufenden Speer, auf den Lancelot sich jetzt konzentrierte. Der ehrwürdige Eichenstab war wie ein Blitzableiter, der die Energie aufsaugte. Erst als er die Lanze gerade ausgerichtet hatte, erfasste Lancelots Auge wieder das, was dahinter lag: das schnell näher kommende Ziel. Dieses Mal war es kein Kürbis, sondern ein Mann. Keine Samenkörner steckten darin, sondern Fleisch und Blut. Dennoch zögerte Lancelot keine Sekunde. Dies war nicht der Augenblick für müßige Gedanken. Er musste zustoßen, wie er es gelernt hatte. Der Schaft des Kaledoniers schlug auf Lancelots Schild, glitt an der gekrümmten Kante nach oben und schleuderte ihn fort. Lancelots Waffe traf den Gegner zwischen Schild und Schulter und fand das pochende Herz. Kein Brustpanzer hätte dem Gewicht von Lanze, Lanzenkämpfer und Pferd widerstehen können. Die stumpfe Spitze zerdrückte Stahl und Fleisch und Knochen und alles andere. Sie drang nicht ein, sondern zerquetschte, was ihr im Weg war. Der Mann klappte zusammen wie ein leeres Hemd. Durch das Holz spürte Lancelot, wie Muskeln zerdrückt wurden und Knochen brachen. Er ließ los. So etwas tat man nicht - kein Ritter ließ die Lan 39
ze los -, doch der Mann am anderen Ende starb. Lancelot konnte ihn nicht töten. Nicht so, wie er den Sachsen getötet hatte.
Es war zu spät. Die Pferde donnerten aneinander vorbei. Lancelot starrte und riss den Mund auf. Der Kaledonier war noch im Sattel gestorben; seine Brust war rings um den Schaft eingefallen. Lancelot hielt Rasa sogleich wieder an, und Pferd und Reiter kamen gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der rothaarige Mann über der Mähne seines Pferds zusammenbrach. Der Griff seiner Lanze berührte den Boden und verhakte sich, und der gepfählte Leichnam wurde in die Morgenluft gehoben, während das Pferd unter ihm wegrannte. Er hing da wie am Galgen, dann stürzte er in den Staub. Lancelot trat Rasa - er hatte sein Pferd noch nie getreten - in die Flanke. Rasa rannte los und trug Lancelot zu seinem Feind. In seiner glänzenden Rüstung wirkte der tote Ritter wie eine Fliege auf der Stecknadel. Glänzend und tot. Lancelots Hände spannten sich um die Zügel. Der Tod des Sachsen - das war eine Sache gewesen. Der Mann hatte Tante Brigid bedroht. Aber dieser hier - was hatte er schon getan? Seit wann war Überheblichkeit eine Todsünde? Lancelot schwindelte, und ihm wurde übel, als er den blutigen Körper und seine eigene Verderbtheit sah. Die Zuschauer jedoch schrien begeistert. Sie liebten ihn. Der Außenseiter, der nicht von den Gefährten akzeptiert wurde, hatte sich als stark und tugendhaft und als geschickter Kämpfer erwiesen. Mit einem Mal war Lancelot genau der Mann geworden, den man in Camelot gern sah. Wohl wahr, er hatte einen Kaledonier getötet, doch es war ein fairer Kampf mit gleichen Waffen gewesen. Wer hätte dem widersprechen können? So wechselhaft war der Ruhm. Lancelot achtete nicht auf die begeisterten Menschen. Das hätte ihn zum Ungeheuer gemacht. Er hörte auch nicht auf seine kreischenden Schuldgefühle. Sie hätten ihn zum Wurm gemacht. Er wollte nur ein Ritter sein, ein rechtschaffener Ritter. Um dies zu erreichen, musste er sich auf die Wettkämpfe einlassen. »Du hast gewonnen«, bemerkte ein Knappe, der die Lanze herausgezerrt hatte. Blutig, wie sie war, gab er sie Lancelot zurück. 40
Benommen ergriff der junge Krieger die Waffe und steckte sie in den Köcher. Nur indem er sich selbst ein Versprechen gab, konnte er sich überwinden, weiter am Turnier teilzunehmen: Ich werde heute nicht noch einmal töten. Er seufzte leise und spornte Rasa an. Das Pferd verstand, was er wollte, und trug ihn zur Kampfbahn zurück. Rot gefärbt nach dem tödlichen Stoß, wirkte die Lanze beinahe wie eine Standarte, und so empfanden es auch die Zuschauer. Die Menschen sprangen auf, als Lancelot vorbeiritt. Die Hochrufe hätten ihn beinahe aus dem Sattel gefegt. Den ganzen Tag über sollten ihn die Rufe begleiten. Sie hallten hohl in seinen Ohren. Mit jedem Kämpfer, dem er sich stellte und den er bezwang, wurden die Schreie lauter. Irgendwie gelang es Lancelot, in all dem Lärm seine Konzentration nicht zu verlieren. Er gewann jeden Kampf, doch er musste nicht mehr töten. Die blutige Spitze der Lanze trocknete und färbte sich dunkel. Er zielte nur noch auf Schilde, doch er tat es mit voller Kraft, um die Gegner aus dem Sattel zu heben. Zwar beruhigte diese Strategie sein Gewissen, doch sie schadete seinem Arm. Männer, die das Pferd verloren, aber nichts gebrochen hatten, verlangten manchmal einen Schwertkampf, gelegentlich bis zum Tod. Lancelot verweigerte sich stets dieser letzten Bedingung und war nur bereit, bis zum ersten Blut zu kämpfen. Nach zwölf Gefechten war Lancelot immer noch unverletzt und ungebeugt.
Das Dreizehnte jedoch konnte dies womöglich ändern - eine unnötige Prügelei. Ihm war, genau wie seinem Gegner, der Platz an der Tafelrunde bereits sicher. Wie Lancelot sich durch Tapferkeit und Gewandtheit nach oben gekämpft hatte, so war sein Gegner durch Blutdurst und Arglist aufgestiegen. Mordred hieß der Bursche, er war gerade erst zum Mann gereift. Gewiss war er kein kleiner Junge mehr, sondern den Gerüchten nach ein illegitimer, durch Inzest entstandener Sohn König Artus' selbst. Manche nannten Mordred sogar das »Hexenbalg« und behaupteten, er werde durch die Magie der Anderwelt geschützt. Sein kometenhafter Aufstieg sprach jedenfalls dafür. Mordred hatte sich nur sechs Monate lang bei Sir Pellinore als Schildknappe verdingen müssen, bevor er sich um die Ritterwürde bewer 41
ben durfte. Der drahtige, schmallippige Mordred besiegte seine Feinde durch Hinterlist. Mit Finten lenkte er die Schläge ab und schlug auf Gesicht und Hals. Fünf hatte er getötet und freute sich darauf, dass Lancelot der Sechste werden sollte. »Wir zwei sind vom gleichen Schlag, Lancelot«, rief Mordred von der anderen Seite der Turnierbahn herüber. »Söhne der Anderwelt, denen es bestimmt ist, die Oberwelt zu zerstören. Dunkle Prophezeiungen von Merlin, tragisches Buhlen um Artus' Liebe. Bald wird der einzige Unterschied zwischen uns der sein, dass du tot bist und ich zum Ritter geschlagen werde.« Lancelot antwortete nicht. Auf solche Rede gab es keine Antwort. Er hob nur die Eichenlanze, ließ Rasa laufen und griff den jungen Burschen an. Auch Mordred griff an. Er sah aus wie eine Fliege — schwarz und mit dünnen winkligen Gliedmaßen. Sein Pferd donnerte los, die Stahlspitze seiner Lanze zielte auf Lancelots Herz. Die Frage war nicht, wie die Lanze zu parieren war, denn Mordred zielte nicht sehr genau. Die Frage war, ob Lancelot diesen Mann töten sollte oder nicht. Es lag durchaus in seiner Macht. Ein Stoß aufs Herz, gegen die Kehle oder auf den Kopf hätte ausgereicht. Mordred verdiente den Tod mehr als jeder andere, dem Lancelot begegnet war. Er hatte die Macht dazu in der Hand und die nötige Abscheu im Herzen. Wäre Camelot nicht ein besserer Ort ohne einen Sir Mordred? Die Eichenlanze schwenkte aufs Ziel ein. Sie zielte auf den schmalen jungen Krieger. Lancelot wollte nicht noch einmal kaltblütig töten. Mit einem Achselzucken duckte er sich unter Mordreds Angriff hindurch und zielte mit seiner eigenen Lanze auf die Schulter des Gegners. Er traf den Schild. Es war ein vernichtender Schlag. Die Spitze knallte aufs Metall und verbeulte es, spaltete den Schild und fuhr hindurch. Zwischen Rüstung und Fleisch war Mordreds Hand. Die Lanze pfählte sie wie ein Spieß, zerquetschte Muskeln, zerriss die Sehnen und zerschmetterte den Knochen. Es war ein verhältnismäßig geringer Preis — der Schildarm statt des Schwertarms. Der verletzte Arm fing den größ 41
ten Teil des Stoßes ab und rettete Mordred das Leben. Er flog aus dem Sattel. Lancelot zog die Lanze abrupt zurück und ritt weiter. Er konnte noch sehen, wie sein Gegner hinter ihm in den Staub fiel. Mordred schlug auf, wurde von unzähligen Hufen getroffen und überschlug sich. Rasa lief langsam aus. Lancelot schob die Lanze, die zum zweiten Mal an diesem Tag blutig geworden war, in den Köcher. Er bremste Rasa weiter ab und wendete.
Ein seltsamer Anblick bot sich ihm. Mordred war wieder aufgestanden, ein schwarzer Umriss vor den aufgetürmten Wolken im Westen. Er hielt das Schwert hoch. Der linke Arm hing hilflos und nutzlos an seiner Seite; von der zerquetschten Hand tropfte das Blut. Mit der anderen hatte er das Schwert gezogen und drohte Lancelot. Ein Zweikampf mit dem Schwert. Lancelot trieb Rasa an, und als sie den unberittenen Gegner erreicht hatten, sprang er vom Sattel herunter. Rasa verabschiedete sich mit einem Schnauben und trottete davon. Lancelot zog sein eigenes Schwert und machte einen Schritt vor. »Ich will nicht gegen dich kämpfen.« Mordred sah ihn unter schwarzen Augenbrauen finster an. »Vielleicht möchtest du lieber sterben.« Er ging auf Lancelot los. Es war ein ungestümer Angriff, doch unbeholfen und langsam. Lancelot konnte die vorschnellende Klinge mühelos abfangen, Mordreds Schwert mit dem Heft blocken und zur Seite schleudern. Dann ließ Lancelot seine Klinge flach über Mordreds Rüstung gleiten, um den Hals zu verletzen, das einzige ungeschützte Fleisch, das zu sehen war. Eine rote Schlange kroch auf einmal über die Halsberge des jungen Mannes. »Das erste Blut, ich habe gewonnen«, sagte Lancelot. Mordred wich zurück und presste die Hand auf den Hals. Zornig riss er sich den Helm vom Kopf. »Ich habe nicht zugestimmt, dass der Kampf damit beendet sein soll.« »Ich dagegen habe nie etwas anderem zugestimmt.« Mordred lächelte humorlos. »Dann das nächste Blut?« 42
Lancelot nickte. »Das nächste Blut.« Auch er nahm den Helm ab und ließ ihn in den Staub fallen. Mordred holte sein Schwert. Sein Mund war ein höhnischer Bruder der dünnen roten Linie auf seinem Hals. Er umkreiste Lancelot und wartete auf eine Blöße. »Du glaubst vielleicht, du könntest nicht verleitet werden, einen Fehler zu machen, aber da irrst du dich. Jeder Mann hat seine schwachen Stellen, und wenn ich deine finde, dann werde ich dich durch die Arena führen wie eine dumme Ziege.« Lancelots Augen waren hart wie Stahl. »Ist das der Name des Tiers, mit dem du in die Arena geritten bist? Eine Ziege?« »Ich habe die Ziegen von zwanzig Männern durch die Arena getrieben, und fünf Männer habe ich getötet«, prahlte Mordred. Er zielte mit tropfendem Finger auf Lancelot. »Wo hast du deine Ziegen, weißer Ritter? Ist es dein toter Vater?« Er zog eine Augenbraue hoch, und das Schwert zitterte begierig. »Oder die verrückte Mutter?« Mordreds Augen zogen sich zu bösen Schlitzen zusammen, doch er sah immer noch keine Schwäche. »Tante Brigid?« Lancelot knirschte mit den Zähnen. »Das wird dir nicht den Sieg bringen, sondern den Tod.« »Oder vielleicht die Frau, deren Rose du zusammen mit deinem Helm in den Schmutz geworfen hast?« Lancelot sah zum Helm. Ein Zischen warnte ihn vor der Klinge, die sich seinem Hals näherte. Lancelot duckte sich und hob eine Armkachel, die unter dem abgelenkten Schlag heftig schepperte. Er drehte sich unter dem Stahl weg und setzte zu einem Schlag an, der Mordred den Hals durchtrennt hätte. Camelot ohne Sir Mordred...
Der Schlag traf - mit dem Heft statt mit der Klinge und die Nase anstelle des Halses. Und tatsächlich kam das nächste Blut, denn plötzlich schoss ein gurgelnder Springbrunnen aus Mordreds Nasenlöchern und lief dunkel über das bleiche Gesicht. Der junge Krieger taumelte und brach zusammen. Die Zuschauer brüllten begeistert. 43
Lancelot konnte nur müde rückwärts stolpern. Er keuchte. Beinahe hätte er diesen Mann getötet — beinahe hätte er sich hinreißen lassen. Und wenn Mordred klüger oder schneller gewesen wäre, dann hätte Lancelot selbst den Tod finden können. Diesen hinterhältigen Kämpfer musste man im Auge behalten. Abwesend hob Lancelot den Helm auf und blies den Staub von der Rose. Sie schimmerte so frisch, als wäre sie noch am Leben. Er hob den Blick. Guinevere strahlte inmitten der jubelnden Zuschauer. Endlich lächelte auch Lancelot. 43
7. Einweihung Königin Guinevere richtete sich auf. Sie saß auf dem Thron von Camelot und starrte gespannt auf den langen roten Teppich. Er reichte von ihren Füßen bis zu ihrem neuen Streiter. Lancelot schritt ihr feierlich entgegen. Obwohl er die schwere Sachsenrüstung trug, ging er voller Anmut. Er strahlte heller als die Lüster, die über der aufmerksam zuschauenden Menge hingen. Zu beiden Seiten des Hauptganges standen Könige und Prinzen, Herzöge und Grafen. Doch trotz all ihrer Vornehmheit konnten sie Lancelot nicht ausstechen, und seinen Rivalen erging es nicht besser. Die anderen Sieger trugen spiegelblank geputzte Kettenhemden, und selbst Mordred hatte den Feiertagsstahl angelegt. Nur Lancelot trug dieselbe schwere Rüstung wie beim Kampf. Er hatte die Arbeit eines Knappen verrichtet und sie selbst poliert; der Dreck unter den Fingernägeln und die Schürfwunden an den Knöcheln hatten ihn nicht gestört. Seine Augen waren blau und strahlend wie immer. Und diese Augen richtete er jetzt auf die Königin. Guinevere errötete. Wangen und Schultern wurden heiß, als hätte sie einen Kelch Wein geleert. Es war ein beunruhigendes, köstliches Gefühl, das sie auf einmal durchfuhr. Und zu sehen, dass er die Rose, die sie aus ihrem Haar genommen und ihm zugeworfen hatte, immer noch als staubiges, totes Wahrzeichen im Visier trug ... Lancelot hatte die Stufen vor der königlichen Empore erreicht und kniete nieder, wie es auch die unzähligen anderen Kämpfer hinter ihm taten. Artus erhob sich vom Thron. Guinevere erschrak. Erst als seine Stola leicht über ihr Bein streifte, wurde ihr bewusst, dass er die ganze Zeit neben ihr gesessen hatte. Der Thron war für sie beide gebaut. Sie war die Macht im Land und 43
er der Herrscher. Sie waren einander ebenbürtig, aneinander gebunden in keuscher Ehe — innig umschlungen, doch nie einander berührend. Guinevere betrachtete Artus, den breitschultrigen, bedächtigen Mann. Sie liebte ihn. Sie hatte ihn von Anfang an geliebt. Aber warum begehrte sie dann diesen anderen Mann, diesen Lancelot? Artus griff nach dem Schultergeschirr und zog Excalibur. Die Klinge sang, als das Sonnenlicht sie traf. Vor den dunklen Eichenbalken flammte das sagenhafte Schwert auf
wie ein Blitz. Es war wunderschön anzusehen in der Hand des Königs. Mit dieser Waffe hatte Artus Sterbliche und Götter getötet und Britannien befriedet. Heute diente das Schwert einem ebenso hehren Zweck, denn mit ihm wurden die neuen Ritter der Tafelrunde geschlagen. Rasch nahm der König Excalibur herunter und ließ die Klinge reglos über der stahlbewehrten Schulter Lancelots schweben. Artus hätte dem jungen Mann mühelos den Kopf abschlagen können. Im Schweigen, das nun folgte, schien er tatsächlich darüber nachzudenken. »Nachdem du Mut und Tapferkeit im Kampf bewiesen hast, sollst du jetzt niederknien und in den Kreis der Ritter der Tafelrunde aufgenommen werden. Versprichst du, die Gebote der Ritterlichkeit zu beachten ...« »Ich verspreche es«, erwiderte Lancelot ohne Zögern. Seine Augen brannten in dem schönen Gesicht, als hätte man zwei runde Scheiben aus dem blauen Himmel geschnitten. «... und nur für eine edle und gute Sache zu kämpfen ...« »Ich verspreche es.« »... die Wehrlosen zu verteidigen ...« »Ich verspreche es.« »... und keusch für tugendhafte Frauen zu fechten ...« Lancelot warf einen kurzen Blick zu Guinevere. Er schien ihre Gedanken, ihre Begierden lesen zu können. »Ich verspreche es.« Einen kleinen Moment lang gab es nur Lancelot, Guinevere und Artus. Der Raum, die Krieger, die Würdenträger — alle waren verschwunden. Nur sie drei waren noch da. Guinevere und Artus waren durch eine keusche Ehe aneinander gefesselt, ein zweischneidiges Schwert, das sie ebenso trennte wie verband. Eine Klinge von ähnli 44
eher Art, Excalibur, verband nun Artus und Lancelot. Die Zugehörigkeit zur Tafelrunde war Fluch und Segen zugleich. Am schwierigsten aber war das Band zwischen Lancelot und Guinevere. Erlösung und Vernichtung verhieß es gleichermaßen ... in ihren Fieberträumen standen sie und Artus und Lancelot einander mit Liebe im Herzen und mit Klingen an den Kehlen gegenüber. Wenn eines dieser Schwerter ausglitt und verletzte, dann mussten sie alle sterben. Excalibur fiel auf Lancelots Schulter und berührte klingend mit der flachen Seite ein Schulterstück. »Damit bist du kein einfacher Krieger mehr«, sagte der König. Er hob das Schwert und legte es auf Lancelots andere Schulter. »Du bist nun ein Ritter der Tafelrunde.« Die Menge brach in Jubelrufe aus. Diejenigen, die nur wenige Tage zuvor den jungen Mann geschmäht hatten, warfen jetzt Rosen. Er ignorierte die herabregnenden Blumen. Im Aufstehen löste Lancelot die vertrocknete Blüte aus seinem Visier. Er drehte sich nicht zur Menge, um sich feiern zu lassen, sondern presste die Rose über dem Herzen auf die Rüstung. Guinevere war selbst erstaunt, dass sie auf einmal vor dem Thron stand und lächelnd applaudierte. Sie kämpfte die Hoffnung nieder, die in ihr keimte, und setzte sich. Das Lächeln aber, das sich in ihrem Gesicht ausbreitete, konnte sie nicht unterdrücken. So etwas hatte Lancelot noch nie gesehen! Der Tisch der Tafelrunde bestand aus einer einzigen riesigen Baumscheibe. Es war eine Scheibe aus einem tausendjährigen Baum - aus einem mehrere Jahrtausende alten Baum. Lancelot saß an einem der fünfzig Plätze, die im Umkreis des Tischs ausgespart waren. Allein von seinem Ellenbogen bis zum Handgelenk
konnte er fünfhundert Ringe zählen. Weitere zweitausend füllten vermutlich den Raum zwischen seinen Fingerspitzen und der ausgehöhlten Mitte der Scheibe. Dort hatten Würmer und Verwesung ein Jahrhundert weggefressen. Der Baum musste älter als Christus sein, älter als David, Moses oder Abraham. Vielleicht war er im Garten Eden gepflanzt worden. Vielleicht war es eine Scheibe vom Baum der Erkenntnis. Solche Gedanken gingen Lancelot durch den Kopf. Wie hatte er 45
sich danach gesehnt, dies einmal zu erleben! Hier saß er nun unter der hölzernen Kuppel auf dem Marmorboden mitten unter Artus' Rittern in der Tafelrunde. Lancelot nahm sich vor, keine Einzelheit dieses Abends je zu vergessen. Er atmete tief durch. Seine Lungen füllten sich mit dem Duft des heißen Mahls, das vor ihm stand: frisch gebackene Brotschalen mit dickem Eintopf, zarte süße Möhren und Fleischstücke vom Wildschwein, geschnittener Lauch in einer kräftigen Soße, Kannen mit frischem Bier, Kelche mit blutrotem Wein - ein Fest für die Sinne war es, das er mit einem einzigen Atemzug in sich aufsog. Nun konzentrierte Lancelot sich auf die Musik. Eine näselnde Rohrflöte spielte zum Klang eines Rebec. Eine Trommel und eine Rassel verstärkten den Rhythmus. Ein Sänger erzählte leidenschaftlich von alten Heldentaten. Die süßeste Musik in Lancelots Ohren aber war das freundliche Geplauder der Ritter und des königlichen Gefolges. »... muss Sir Lancelot doch wirklich danken, dass er an diesem Tag nicht in einer falschen, sondern in der richtigen Rüstung aufgetreten ist...« Der Sprecher war Ulfius, einer der ältesten Getreuen in Artus' Gefolge. Das einstmals dichte schwarze Haar und der Bart waren schütter und grau geworden. Die früher edle Haltung des Mannes war zu verkalkter, altmodischer Umständlichkeit heruntergekommen. »Ich wüsste wirklich gern, seit wann wir solche Schnösel sind, dass wir eine Rüstung zum Vorzeigen und eine andere zum Kämpfen brauchen.« Kaum hatte Ulfius diese Bemerkung geäußert, da bekam er schon von dem Ritter, der neben ihm saß, einen herzhaften Schlag auf die Schulter. »Ich sag's ja, Ulfius hat immer Recht.« Es war Sir Kay, der adoptierte Bruder des Königs. Blond und kräftig gebaut, hatte Kay das Gehabe und den Witz eines geborenen Kriegers. »Krieg und Schaustellerei. Wir haben die Ritterschaft nicht mit Turnieren und im Kampf gegen Strohpuppen errungen. Nein, bei uns gab es keine Angeberei. Wir sind aufgestiegen, weil wir in seiner letzten Schlacht neben Uther standen, weil wir bei Caerlon für Artus gekämpft haben, weil wir zwischen hier und dem Nordmeer durch jede windumtoste 45
Niederung und durch jeden Sumpf gekrochen sind. Das war ein Krieg, da war von Schaukämpfen keine Rede.« »Vergiss nicht Badon Hill«, unterbrach ihn Sir Gawain, ein Halbbruder König Artus' und der Bruder von Agravain, Gaheris und Gareth. Der tatkräftige und befehlsgewohnte Gawain verfügte über eine selten glückliche Kombination von körperlicher und geistiger Kraft. Die Worte, die seinen dicken Lippen entsprangen, waren in seinem ätherischen Herzen geboren. »Viele dieser neuen Ritter haben schon vor dem Turnier ihre Tapferkeit bewiesen. Sie haben im Schaukampf und im Krieg gefochten, und sie haben sich bewährt.« Ein ironisches Lächeln umspielte die Lippen Sir Agravains. Er schien der kleine, dunkle Schatten seines beeindruckenden Bruders zu sein. »Bis auf zwei haben sich alle bewiesen.« »Welche beiden meinst du, Bruder?«, fragte Sir Gawain.
Agravains Lächeln wurde breiter, bis die Spitzen seines Schnurrbarts sich über der Nase trafen. »Die beiden, die nicht bei Badon Hill gekämpft haben. Die beiden, die beim Wettkampf am besten abgeschnitten haben — Sir Lancelot und Sir Mordred.« Gawain schnaubte. Er kippte den Inhalt seines Krugs in einem Zug herunter und wischte die Bemerkung mit einer Geste weg. »Wer den letzten Kampf gesehen hat, könnte ohne weiteres behaupten, dass es ein Krieg war. Sie haben sich hinreichend bewiesen, um ihre Plätze einzunehmen.« »Mag sein, aber haben sie sich auch genügend bewiesen, um den Gefährlichen Sitz einzunehmen?«, bohrte Agravain. Er deutete zum verwaisten einundfünfzigsten Platz am Tisch. »Nur ein echter Ritter darf dort sitzen. Wenn die beiden so wackere Krieger sind, dann sollen sie doch um den Gefährlichen Sitz kämpfen und leben oder sterben.« Gawain schüttelte so heftig den Kopf, dass die schwarzen Zotteln nur so flogen. »Niemand darf auf diesem Platz sitzen. Ich nicht, du nicht, auch nicht unsere Neuzugänge. Nur ein makelloser Ritter darf dort Platz nehmen. Es ist zu viel verlangt, wenn diese neuen Rekruten ...« »Ich werde es tun«, unterbrach Mordred. »Reinheit ist leicht zu er 46
ringen. Was ist sie schon außer Fanatismus? Ich bin die Reinheit selbst oder ihr Zwillingsbruder. Ich will mich auf den Gefährlichen Sitz setzen.« Schweigen senkte sich über die Tafelrunde. Hände hörten auf, Brotstücke aus dampfenden Schalen zu fischen. Kiefer hörten auf zu kauen und verharrten halb geöffnet. Gawain sah den jungen Emporkömmling gelassen an. Ulfius hob eine Augenbraue, womit für ihn alles gesagt war. Kays Gesicht zeigte einen Ausdruck schockierter Belustigung, und Agravain gaffte erfreut. Nur Artus' Augen waren undurchdringlich, dunkel funkelnd in dem ernsten Gesicht. Niemand wagte zu atmen. Trotz der ablehnenden Haltung genoss Mordred die allgemeine Aufmerksamkeit sichtlich. Selbstgefällig erwiderte er die Blicke der Männer, dann sah er Lancelot herausfordernd an. Auch die anderen Ritter drehten die Köpfe herum. Lancelot war der Einzige, der nicht mit Essen aufgehört hatte. Er zupfte ein großes Stück aus einer Brotschale, tauchte es ein und schob es sich in den Mund. Er kaute. Als er mit einem Schluck Bier nachgespült hatte, sagte er nur: »Ich auch.« Die Männer murmelten - manche schockiert, manche beunruhigt, manche schadenfroh. Inmitten der Unruhe stand Gawain auf. Er streckte die Hände zu beiden Seiten aus, als wollte er tobende Kinder beruhigen. »Das ist doch närrisch. Warum sollten wir denn echte Ritter wegen einer solchen Rivalität in den Tod schicken?« Mordred stand auf, klein und unscheinbar neben dem großen Mann. Die bandagierte Hand hielt er wie eine Kralle. »Ich habe fünf Krieger im Turnier getötet, um diesen ruhmvollen Augenblick zu erleben. Warum nicht noch einen mehr?« »Aber sieh doch«, unterbrach ihn Gawain, der mit großen Schritten den Tisch umrundete. Mit einer fleischigen Hand hob er den Stuhl, auf dem Mordred gesessen hatte. Gawain schwenkte den Stuhl herum und zeigte den anderen, was in den Rücken graviert war. Aus großem, flachem Amethyst war dort gespenstisch ein Name eingelassen: MORD RED. »Dies hier ist dein Platz. Der Tisch selbst sagt dir, wohin du gehörst. Und auch dein Stuhl, Lancelot, trägt deinen Na 46
men. Entehre nicht diesen Tisch, indem du nach dem höchsten Sitz greifst.« Er ließ den Stuhl sinken und sah sich drohend um. Schweigen war die Antwort auf seine Worte. Lancelot faltete die Hände und holte tief Luft. »Verzeiht mir, meine ritterlichen Brüder. Ich will nicht überheblich sein ...« »Ah!«, rief Mordred. »Der Feigling kneift ...« »... aber solange ich mich zurückerinnern kann, träumte ich von diesem Tag. Einst dachte ich, die Träume seien genug, doch jetzt, da ich hier bin, weiß ich, dass Träume überhaupt nichts sind. Die Worte von Kay und Agravain verletzen mich. Ich habe nicht im Krieg gekämpft, nur im Turnier. Ich habe nicht gegen echte Feinde gekämpft, sondern nur gegen Strohpuppen. Ich habe nicht die Ehre kennen gelernt, sondern nur Albernheit. Mein Stolz beruht auf Spielen in einem Traum, nicht auf Sieg im echten Kampf. Ich bin ein erbärmlicher Ritter.« Mordred knirschte mit den Zähnen. »Aber eins will ich euch sagen: Auch Träume können Reinheit schenken. Nennt es Fanatismus, wenn ihr unbedingt wollt, doch eine so lange Zeit auf etwas zu hoffen, das kann die Seele läutern. Wenn ich auf diesem Platz sitzen darf, dem Gefährlichen Sitz, dann werde ich wissen, dass ich zuerst und vor allem tatsächlich ein Ritter bin.« Mordred schnitt eine höhnische Grimasse. Gawain sah König Artus ernst an. »Was sagt Ihr, mein König?« Artus' edles Gesicht umwölkte sich. Etwas wie Eifersucht ließ ihn die Lippen zusammenpressen. Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Einen so unglücklichen Ritter will ich an meiner Tafel nicht haben. Sir Lancelot muss tun, was immer er tun muss, um sich seinen Platz zu sichern.« Die Worte des Königs ließen Gawains Gesicht nur noch dunkler anlaufen. Dann sah er wieder Lancelot an, dessen junge Haut im Flackern der Talgkerzen glänzte, und blickte zu Mordred, der den Kopf abgewandt hatte, um sein höhnisches Grinsen zu verbergen. »Sir Mordred«, sagte er, »da du diese Zerstreuung angeregt hast, sollst du als Erster Platz nehmen.« »Es ist mir eine Ehre, und gewöhnlich würde ich nicht zögern an 47
zunehmen«, erwiderte Mordred scheinheilig, »doch nicht ich habe diese Entscheidung zu treffen. Der da hat mich übertrumpft. Soll er bestimmen, wer als Erster auf dem Platz sitzen darf.« »Dann werde ich selbst es sein«, erwiderte Lancelot. Er stand auf, trat einen Schritt vom Tisch zurück und richtete sich auf, bis seine Rüstung wieder richtig saß. Ein angespanntes Schweigen erfüllte den Raum. Lancelot machte einen Schritt. Dann noch einen. Seine Füße trugen ihn an den Rittern vorbei. Mitleidige Blicke folgten ihm. Er ignorierte sie und steuerte den leeren Stuhl rechts neben König Artus an. Den Gefährlichen Sitz. Er sah aus wie jeder andere Stuhl am Tisch — breit und mit Ornamenten geschmückt. Im Augenblick war er nach vorne gekippt, sodass die Lehne nahtlos mit der Tischfläche abschloss. Der große Amethyst trug keinen Namen. Lancelot streckte die Hand aus und zog den Stuhl zurück. Das Polster bestand aus besticktem rotem Samt und einer Füllung aus Gänsedaunen. Er sah völlig harmlos aus, doch dieser Stuhl hatte zahlreiche Menschen getötet, die ihn beansprucht hatten. Wenn ich nicht rein bin und wenn es mir nicht bestimmt ist, ein Ritter zu werden, dann muss ich sterben, dachte er. Aber was ist schon ein Leben ohne Träume?
Lancelot beugte sich vor und ließ sich nieder, bis die Stuhlkante seine Kniekehlen berührte. Langsam sank er auf die Sitzfläche. Ein greller weißer Blitz zuckte, es roch nach verbranntem Fleisch, und Lancelot war verschwunden. 48
8. In der Obhut der Feen Er wurde vom Stuhl herunter aus dem Raum geschleudert und flog durch ein Fenster in die Nacht hinaus. Sein Körper fühlte sich biegsam an wie im Traum, als hätte er keine Knochen, und er wusste, dass er träumte. In der wirklichen Welt konnte ein Mann, der in einer Rüstung steckte, nicht schweben wie er. Bunte Glassplitter flogen umher und trafen wie kleine Glocken seine Metallhaut. Nur im Traum lagen Fliegen und Fallen so dicht beieinander. Lancelot drehte sich in der Luft. Der weiße Blitz, der ihn aus dem Palast geschleudert hatte, stieß gegen seine Füße und schob ihn weiter. Der schwarze Himmel, dem sein Kopf entgegen raste, war mit Sternen übersät. Er hätte hinauffliegen können, doch er sah einen angenehmeren Ort, die Wasser unter den Wassern. Er stürzte ihnen entgegen. Drei Frauen beobachteten seinen Flug. Die Freigebigen Hexen. Mit gewohnter Starrheit boten sie Lancelot Brotlaib, Füllhorn und Kind dar, doch er war nicht in der Lage, irgendetwas anzunehmen. Die Statuen sahen aus, als hätten sie lange leiden müssen. Vor ihren Füßen stürzte er ins Wasser, das hoch aufspritzte. Auch dies verriet ihm, dass alles nur ein Traum war. So breit und schön der Brunnen auch war, er hätte einen Grund haben müssen. Doch Lancelot sank und sank. Das Wasser gurgelte um ihn und zog ihn hinab. Es rann unter die Platten der Rüstung. Es liebkoste sein Fleisch. Noch mehr - das Wasser flocht sich in Haut und Muskeln. Es verband sich mit den verwandten Säften in ihm und bewegte den Kettbaum seines Fleischs, um neue Fäden zu spinnen. Die Tritte wurden heruntergedrückt, neue Fasern hinzugefügt. Farben und Muster änderten sich. Die Tritte bewegten sich, jemand wob ihn und flocht ihn geduldig zusammen. 48
Wer bist du?, fragte Lancelot. Seine Stimme verhedderte sich in den Fäden, bevor sie sich zu einem klaren Muster verfestigte. Er erkannte eine Silhouette, die vorgebeugt die Tritte bediente. Wer war es? Zweifellos eine Frau, aber welche Frau? Welche Penelope flocht so geduldig und pflichtbewusst die Stränge der Zeit, um ihn Faden für Faden zu erschaffen? Wer bist du? Er bekam keine Antwort außer der, die er sich selbst gab. Es mussten zwei Frauen sein. In den letzten mehr als zwanzig Jahren hatte Tante Brigid die Tritte in Gang gehalten und geduldig alle Strähnen gespleißt, die sich aufgelöst hatten, und mit alten Augen die richtigen Farben eingesetzt. Mehr als jeder andere Mensch hatte sie ihn geformt. Sie war die Meisterweberin, doch dieser Schatten war nicht der ihre. Vor Tante Brigid war Lancelots Mutter da gewesen, Königin Elaine. Wenn Brigid die Meisterweberin war, dann war Elaine die Spinnerin. Sie hatte den Rohstoff geliefert, der so geschickt verwoben wurde. Hundehaare konnte man nicht spinnen. Aus Flachs machte man gewöhnliche Kleider. Wolle war gut, Kaschmir war noch feiner und Brokat das
Feinste von allem. Tante Brigid hatte ihm die Form gegeben, seine Mutter die Substanz. Doch die Silhouette passte auch nicht zu seiner Mutter. Die Frau war jung und schlank. Ihre Gestalt hatte die frische Ausstrahlung einer Blüte, die sich zum ersten Mal öffnet. Die Hände, die am Webstuhl arbeiteten, waren nicht knorrig oder schwielig vom Alter. Die ehrwürdige Brigid hatte ihm die Form gegeben und die mütterliche Elaine die Substanz, doch das Geschenk dieser Frau griff tiefer in sein Inneres. Sie berührte seine Seele. Sie hatte ihn erforscht und erkundet, noch bevor er gewoben wurde, noch bevor er im Mutterschoß gewachsen war. Diese Frau wusste, wie sein Leben aussehen sollte. Die Faulen nannten es Bestimmung oder Schicksal. Lancelot konnte es nur Liebe nennen. Wer bist du? »Du bist in Sicherheit, Lancelot, und bald wirst du dich wieder gut fühlen.« So beruhigte ihn die Frau, als sie die Kette hob. Rahmen verschoben sich, Fäden verflochten sich. 49
Was tust du? »Ich webe.« Was tust du ... mit mir? »Ich webe«, antwortete sie. »Es ist ein Teil des Heilrituals. Wenn ich diese aufgelösten Fäden wieder verknüpfe, wird auch dein verletztes Gewebe geheilt.« Er löste sich aus dem fiebernden Schlaf wie ein Taucher, der aus kalten Tiefen aufsteigt. Durch die wässrige Oberfläche seines Traums konnte er einen geschmackvollen Salon erkennen. In einem Kamin aus weißem Marmor brannte ein munteres Feuer. Bestickte Sitze waren rings um das Feuer aufgestellt. Kerzen brannten auf dem Kaminsims. Samttapeten waren bis hinauf zu der mit Goldfiligran geschmückten Decke geklebt. Trotz der Pracht des Raumes fiel Lancelots Blick sofort auf das Mädchen, das dort saß. Sie arbeitete an einem großen Webstuhl. Wieder heil?, fragte er sich. »Der Gefährliche Sitz ist kein Platz, den man leichtfertig beansprucht. Er hätte dich beinahe getötet, Lancelot. Trotz deiner Geschicklichkeit im Kampf und deiner Beharrlichkeit bist du nicht rein.« Von jemand anders gesprochen, wären die Worte ein hartes Ur- v teil gewesen, doch diese Lippen verwandelten die Bewertung in ein Loblied. »Was stark ist, ist selten rein. Reines Gold und reines Silber sind weich. Nutzlos und nur dem geblendeten Auge eine Freude. Reinrassige Hunde und Monarchen erzittern und besudeln sich selbst.« Sie lachte leichthin, und Lancelot stimmte ein. »Nein, die stärksten Metalle sind Legierungen, und das gilt auch für die stärksten Männer.« Lancelot holte tief Luft und blinzelte. Seine Augen brannten vom Wasser, doch die Frau war jetzt etwas klarer zu sehen als im Traum. »Camelot wurde mithilfe von Legierungen und Verbündeten gebaut. Ein christliches Schwert und eine heidnische Zauberin. Selbst Artus ist kein reinblütiges Geschöpf — ein Bastard, der von einem König in die Welt gesetzt wurde. Doch welcher wahre Prinz hätte je die Kraft meines Artus gehabt?« »D-dein Artus ... ? «, stammelte Lancelot. Er saß jetzt aufrecht und 49
erkannte Königin Guineveres Silhouette vor der Kerze am Webstuhl. Dann sackte das Blut aus seinem Kopf, und sein Blick trübte sich. Er stürzte zurück in die Welt des Wassers.
Nach Luft schnappend, schlug er panisch auf das Wasser ein. Es nützte nichts. Muskelfasern trennten sich und lösten sich auf. Die Luft entwich seinen Lungen, er ging unter. Mitten im Traum ertrank sein Bewusstsein. Er suchte nach einem Grund, nach etwas zum Festhalten, doch dieses Meer war bodenlos. Wer hier forschen wollte, konnte nur noch in dunkle Tiefen sinken, wo der Druck immer größer wurde. Wer aber das fließende Gleichgewicht des Traums kannte — die ohne Bezugspunkt frei fliegenden Gefühle —, der wusste auch, wie er schwimmen musste. Lancelot schwamm. Irgendetwas hatte dieser Brunnen an sich, in dem er nun wieder schwamm — dieser Brunnen mit dem Mädchen, der Mutter und der Alten, die ihre Schätze anboten. Irgendwie gehörte er hierher. Vielleicht erinnerte ihn die Statue in der Mitte an das von Wasser umgebene Avalon. Schließlich hatte Tante Brigid ihn über die gnädige See nach Britannien geschickt. Vielleicht sollte auch die Statue in der Mitte Britannien selbst darstellen, das ebenfalls vom Meer umgeben war. Seine Mutter, die Königin Elaine, hatte ihn über den erbarmungslosen Kanal nach Britannien gebracht. Doch es gab noch eine dritte Möglichkeit. Im Traum gab es immer noch eine weitere Möglichkeit. Welches größere Wasser und welche größere Frau hatten ihn hierher nach Britannien gebracht? Ihre Finger bearbeiteten die Sehnen seiner Schultern. Er sammelte mit vollen Armen die Fluten ein und schob sie nach unten. Sie stärkte die Fasern seiner Beine. Er trat Wasser und tauchte aus den Tiefen auf. Sie nähte seine Augenlider. Er schlug sie auf und erblickte die Oberfläche. Lancelot lächelte. Durch den Wasserschleier sah er sie wieder. Er kam zu Bewusstsein und öffnete die Augen. Über ihm eine Decke mit Goldfiligran. Lancelot war zu seiner Pen-elope ins Ankleidezimmer zurückgekehrt. Königin Guinevere beugte sich zu ihm, und er sah den Schweiß auf ihrer Stirn. »Geht es dir gut? Du hast dich zu schnell aufgesetzt.« 50
Lancelot seufzte schwer. »Ja, meine Königin. Und ja, es geht mir gut.« Nickend lehnte sie sich zurück. Es war nicht zu übersehen, dass sie trotz der feinen Gewänder und ihrer schlanken Gestalt am Webstuhl gearbeitet hatte wie ein Steinhauer. Die Füße ruhten müde auf den Tritten, und die Finger zitterten, als sie die Fasern losließen. Sie hatte Lancelot nicht einmal berührt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie ganz wörtlich über seine Heilung gesprochen hatte. Sie hatte ihn mit Hilfe des Webstuhls, an dem sie saß, geheilt. Die Fasern waren irgendwie mit seinem Fleisch verbunden, und ihre mühsame Arbeit hatte ihm das Leben gerettet. »Danke, Hoheit«, platzte Lancelot heraus. Guinevere zog eine Augenbraue hoch. »Wofür?« »Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.« Sie lächelte müde. »Du bist mein Streiter geworden. Jetzt habe ich für dich gerungen.« »Ich wünschte nur, ich könnte dir eine Blume schenken. Vielleicht bringe ich eine Apfelblüte mit, wenn ich das nächste Mal nach Avalon eintauche.« Sie runzelte die Stirn, doch mit den Falten sah sie nur noch hübscher aus. Lancelot wischte ihre Verwirrung mit einer Handbewegung fort. »Das war nichts weiter. Nur ein Fiebertraum. Ich träume immer, ich würde in einen Brunnen geworfen, in dem ich ertrinke und durch den ich andere Länder besuche.«
Guinevere lachte. »Sei nicht so sicher, dass es ein Fiebertraum war. Du wärst zweimal fast gestorben. Eine sterbende Seele sucht sich immer den besten Weg für die Reise zu denen, die sie liebt.« »Du hast mich missverstanden, meine Königin. Ich träumte, ich sei in einen Brunnen gefallen. Das ist doch Unsinn.« »Wirklich?«, antwortete Guinevere. »Du lebst nur noch, weil es solchen Unsinn gibt.« Sie schob den Webschütz durch, legte den Faden fest und bewegte die Tritte. »Ich bin, wie du weißt, eine Priesterin. Eine Heilerin, die in der Überlieferung der Tuatha de Danann unterwiesen ist. Ich denke doch, dass ein Mann, der auf Avalon erzogen wurde, die Mächte des Landes versteht.« 51
Ein breites Grinsen, fast eine Grimasse, breitete sich in Lancelots Gesicht aus. »Ich weiß, dass man gern glaubt, Avalon sei ein Ort voller Elfen und Sagengestalten, doch da ich dort aufgewachsen bin, kann ich dir sagen, dass es nichts weiter ist als ein schöner grüner Hügel an einem schönen blauen See.« »Du bist also in Avalon aufgewachsen und hast niemals etwas Übernatürliches gesehen?« »Keine Kobolde, keine Elfen, keine Schreckgespenster.« Guinevere war nicht zufrieden. »Ist es möglich, dass du in der Gesellschaft von Geistern aufgewachsen bist, ohne sie überhaupt zu bemerken?« »Ist es möglich«, fragte Lancelot zurück, »in einer Wiese aufzuwachsen, ohne die Wildblumen zu erkennen?« »Welche wilden Blumen hattet ihr denn überhaupt in Avalon?«, fragte Guinevere unschuldig. Der junge Ritter riss überrascht die Augen auf. »Oh, es gab natürlich Löwenzahn ...« »Natürlich.« Lancelot lächelte und dachte weiter nach. »Ich habe auch eine Menge Efeu bemerkt.« »Wir reden über Wildblumen.« Er schnaufte. »Im Gras gab es manchmal kleine lila Blüten ...« »Welch ein Gras war es denn?«, bohrte Guinevere. Lancelot schaute verkniffen drein, sie hatte ihn ertappt. »Klee!«, rief er schließlich triumphierend. »Ist es möglich, dass du die ganze Zeit zwischen Blumen und Elfen gelebt hast und keins von beiden beim richtigen Namen nennen konntest?«, fragte Guinevere. »Möglich ist es«, räumte Lancelot ein, »aber verdammt unwahrscheinlich.« »Ich stamme von den Tuatha ab. Ich habe ihre Überlieferungen studiert. Ich bin eine Priesterin ihres Glaubens. Du kannst mir vertrauen.« »Aber schau doch«, unterbrach er sie. »Ich habe mein Leben lang immer nur daran gedacht, dass ich ein Krieger, ein Ritter werden 51
müsse. Mein ganzes Leben lang habe ich es angestrebt. Wenn es Feen in Avalon geben sollte, dann sollen sie sich's gut gehen lassen. Ich musste mich um andere Dinge kümmern. Wann ist das letzte Mal eine Fee einem Krieger auf dem Schlachtfeld zur Hand gegangen?« Guinevere deutete nur auf den Webstuhl. »Was ist hiermit? Du wärst tot ohne das Werk dieser Vorrichtung und ohne mich dahinter und ohne die Magie, die dies alles mit dir verbindet. Weißt du überhaupt, was ich hier webe?«
Lancelot richtete sich auf, um besser sehen zu können, und erkannte seinen Fehler viel zu spät. Wieder schwand das Licht aus seinen Augen. Er kippte auf die Kissen zurück, Arme und Beine erschlafften. Er hätte die schützende Wärme des Betts spüren müssen, doch er tauchte noch einmal in die Kälte der Freigebigen Hexen ein. Das Wasser schloss sich über ihm. Lancelot kämpfte dagegen an. Die Ströme, die sich einst mit ihm verbündet hatten, verschworen sich jetzt gegen ihn und zerrten ihn tiefer und tiefer. Mehrmals knackte es in seinen Ohren, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er hielt den Mund geschlossen, denn er wusste, das Wasser konnte ihn zerquetschen. Er taumelte. Packte das Wasser mit beiden Fäusten und kämpfte sich durch vorsintflutliche Flüsse unter der Welt. Ihr kalter Puls trieb ihn weiter und wieder aufwärts in ein Nirgendwo - oder besser, zu drei unbestimmbaren Orten, die sich gegenseitig überlagerten. Um seine Arme und Schultern legten sich Gräser - oder waren es Aale? Oder nur seine eigenen nassen Kleider? Und was war dieser heiße, summende Sumpf? Oder war es ein kühler, blauer See, ein eiskalter Brunnen aus Bronze? Er sah alle drei Welten, eine über der anderen, auf eine erschreckende Art miteinander verschmelzen. Es war nicht wichtig, sie voneinander zu unterscheiden. Lancelot war in ihnen allen zugleich. Wichtig war nur, dass er halb ertrunken war und dass trockenes Land vor ihm lag. Er krallte sich am steinigen Ufer fest. Sand drang knirschend unter die Fingernägel. Er brach zusammen, das Gesicht sank ins weiche Gras. Er spuckte Wasser aus Nase und Mund und atmete einen vertrauten, betörenden Duft ein - den reichen Duft des Klees von Avalon. Lancelot hob den Kopf. In der Tat, er war in Avalon. Diese Gestade, dieses 52
Grün so dicht am Wasser, hätte er überall und jederzeit erkannt. Vor einem Augenblick noch war dort nur Stein und Kies gewesen. Eine Gestalt näherte sich - eine Frau, die lange Gewänder trug. Mit altersloser Anmut schritt sie dahin. Der Wind spielte mit den Säumen des Mantels, der in einem Augenblick streng und schwarz, schlicht und abweisend und im nächsten abgetragen und braun erschien. Sie hielt geradewegs auf Lancelot zu. Fünf Schritt vor ihm kniete sie sich auf das felsige Ufer und senkte den Kopf bis zum Boden. Sie stöhnte und murmelte die Gebete einer verrückten Äbtissin. »... ihn zu mir gebracht, gepriesen sei dein Name, zu mir, gepriesen sei dein Name. Mein Junge, mein Kind, mein Junge, gepriesen sei dein Name. Bringe ihn zu mir, bring meinen Jungen zu mir, gepriesen sei dein Name ...« »Wer bist du?«, fragte Lancelot. Die Frau blieb, wie sie war, die Stirn auf den Boden gepresst. »... kennt mich nicht und nicht einmal sich selbst, gepriesen sei dein Name. Weiß nicht, wer ich bin und wer er ist, gepriesen sei dein Name ...« »Wer bist du?« Sie hob den Kopf - eine schmutzige Stirn über Augen, umgeben von Sorgenfalten, eine scharf vorstehende Nase, ein verhärmter, kummervoll verzogener Mund. Dieses Gesicht hatte er noch nie gesehen, und doch wusste er es. »Mutter!«, platzte er heraus. »Was tust du hier, Lancelot?«, fragte die Frau, doch sie hatte sich verwandelt. Sie kniete nicht und murmelte nicht mehr, sie trug auch keine schwarze Robe mehr, sondern braune Gewänder, und ihr Gesicht war ihm nicht länger fremd. »Warum bist du nach Avalon zurückgekehrt?«
Lancelot wandte rasch den Blick von Tante Brigid ab und sah sich um, zu den fernen Apfelblüten, zum Hügel. Er zupfte eine Kleeblüte Avalons ab — unverkennbar purpurfarben — und trank ihren Duft. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin oder ob ich wirklich hier bin.« »Oh, aber gewiss bist du hier«, erwiderte die Frau und veränderte sich abermals. Jung klang ihre Stimme jetzt, jung und belustigt. »Und warum, das weißt du auch.« 53
»Guinevere?«, fragte Lancelot. Er hob den Arm, und erst jetzt bemerkte er, dass er auf dem breiten steinernen Sims des Brunnens der Freigebigen Hexen in Camelot lag. Obwohl hoch droben die letzten Sterne der Nacht ihre Bahn zogen, drängte sich noch viel Volk auf dem Platz. Sie alle schienen über die missliche Lage des Ritters belustigt. Sogar Guinevere. »Was mache ich hier? Hast du mich hierher getragen?« Die Königin betrachtete ihren Arm, den schlanken Arm unter dem Gewand, und ballte die Hand zur Faust. »Aber natürlich, Lancelot. Ich habe dich vom Palast drei Treppen herunter und eine halbe Meile durch die Straßen geschleppt, um dich hier in den Brunnen zu werfen.« Lancelots Blick wanderte über ihr eng anliegendes Gewand, über die Muskeln, die Schultern und den Hals. »Wie bin ich dann hierher gekommen?« »Durch deine Träume. Du bist im Traum gereist und in Wirklichkeit anderswo aufgewacht.« Lancelot schüttelte den Kopf, als könnte er damit auch die Erklärung abschütteln. »Das glaube ich dir nicht.« »Du musst mir nicht glauben. Glaube deinen eigenen Händen. Sie haben dich auch früher schon gerettet. Glaube, was du in ihnen siehst, und sobald du es glaubst, kannst du zu mir zurückkehren.« Sie drehte sich um, schlang die Arme um sich und ging davon. 53
9. Ritterlicher Bote »Sir Lancelot!«, stieß König Artus hervor und blieb in der Tür seines Schlafgemachs stehen. Der König war eine beeindruckende Erscheinung. Der Kerzenhalter, den er in der Hand hatte, ließ feurige goldene Blitze über seine Stirn zucken. »Was tust du hier? So spät? So nass?« »Was ich hier tue?«, gab Lancelot einfältig zurück. Ich suche Guinevere, dachte er. Ich kehre zu ihr zurück. Doch das konnte er Artus nicht sagen. »Was ich hier tue?« Artus' Stirn legte sich in Falten. »Ja.« Das Blut wich aus Lancelots Gesicht und strömte zum Herzen. Schlagartig erbleicht, sank er auf den Steinplatten auf die Knie. »Ich ... komme ... das heißt, ich wollte ... um eine Gunst bitten.« »Eine Gunst?« Es sprudelte aus ihm heraus. Nicht so, wie er es sich eigentlich gewünscht hätte, sondern das genaue Gegenteil. »Schick mich fort von Camelot, fort von ... vom Hof.« Belustigung und Verwirrung mischten sich im tiefen Blick des Königs. Artus schien durch Lancelot hindurchzustarren und die Tür hinter ihm ins Auge zu fassen. »Aber aus welchem Grund denn nur?«
Um dem verräterischen Begehren zu entkommen, das ich für deine Frau empfinde, dachte er. Laut aber sagte er: »Um das Falsche zu suchen und zu richten. Um die Gerechtigkeit des Königs zu verkünden.« »Geht es dir nicht gut, Lancelot?«, fragte Artus ernst. Lancelot nickte. »Doch. Guinev... die Königin ... äh ... deine Gemahlin ... oder ich sollte wohl besser sagen, die Tuatha-Priesterinnen, die ich kenne, wissen viel über das Heilen. Ich habe mich in ihrer Hände Obhut gut ... erholt.« Er schloss die Augen, als schluckte er einen starken Trank und nickte noch einmal. »Ja, es geht mir gut. 54 Zweifellos. Genau genommen ist die Gesundheit sogar der Anlass für meine Bitte. Da der Krieg vorbei ist, nachdem Alle gefallen ist, und da die Bedrohung durch die Sachsen behoben ist, da also in ganz Britannien Frieden herrscht, sind wir zum Untergang verurteilt. Wir Krieger, meine ich. Wir werden einrosten und unseren Biss verlieren, wenn kein Feind mehr da ist, an dem wir unsere Messer wetzen können. Doch auch wenn kein feindliches Heer mehr am Horizont auftaucht, muss man nicht glauben, dass es keine Schurken mehr zu besiegen gäbe. Ich bitte dich also um Erlaubnis, auszureiten und sie zu erschlagen.« Er schloss mit einer Grimasse, von der er hoffte, dass sie als siegesgewisses Lächeln durchging. Artus blinzelte. Die Halle war still bis auf das Platschen der Tropfen, die aus Lancelots Kleidern fielen. »Was ist mit Guinevere?« »Guinevere!«, rief Lancelot. Abrupt hob er den Kopf. »Was soll mit Guinevere sein?« »Nun, du bist ihr Streiter«, erwiderte der König in sanftem Spott. »Wer soll sie beschützen, wenn du nicht mehr hier bist?« »Du natürlich, mein König«, sprudelte es aus Lancelot heraus. »Du bist doch ihr wahrer Streiter, nicht ich. So hat sie dich genannt. Ihren keuschen ...« Das Wort rutschte ihm von der Zunge und fiel wie ein Stein zwischen ihnen nieder. »Streiter.« Artus' Antwort klang nicht einmal sonderlich gereizt, eher müde oder vielleicht auch bedauernd. »Ja.« Schritte waren hinter der Ecke zu hören — die leichten und schnellen Schritte einer Frau. »Guinevere?«, rief Artus. »Artus, ich habe nachgedacht ... du solltest den Rittern neue Aufgaben zuweisen und sie aussenden. In dieser friedlichen Zeit...« Der Satz brach ab, als die Sprecherin unvermittelt stehen blieb. Königin Guinevere hatte die Ecke erreicht und stand da im nassen Kleid, das Haar noch feucht vom Wasser der Freigebigen Hexen. Sie starrte erstaunt die beiden Männer an, die den Blick erwiderten. Artus hob ironisch eine Augenbraue. »Die Ritter mit neuen Aufgaben beschäftigen? Dein Chevalier Lancelot hatte die gleiche Idee. Habt ihr bereits darüber gesprochen?« 54
Lancelot und Guinevere wechselten einen erschrockenen Blick. »Nein«, sagten sie im Chor. »Aber es muss eine gute Idee sein, wenn wir beide gleichzeitig daran gedacht haben«, fuhr sie fort. »So muss es sein«, gab Artus zu. Er wandte sich wieder an den Ritter. »Es kommt mir nur seltsam vor, dass du, Lancelot, nach deinem eigenen Bekunden dein Leben lang davon geträumt hast, ein Ritter der Tafelrunde zu werden, und jetzt kannst du es kaum erwarten, aus Camelot zu entfliehen. Irgendetwas scheint dich hier zu vertreiben.« »Oder etwas ruft mich fort«, wandte Lancelot rasch ein. »Die Gerechtigkeit des Königs. Sie ruft mich, damit ganz Britannien werde wie Camelot. Jedes Mädchen soll das Gefühl
haben, es stehe unter deinem Schutz, großer König, und jeder Bursche soll von der Ritterschaft träumen.« Artus betrachtete den vor ihm knienden Krieger. Die Augen des Königs funkelten und verrieten, was er dachte: Welch ein Mann ist das nur? Warum nähert er sich Guinevere und zieht sich jetzt schon wieder zurück? Was wird er meiner Ehe und meinem Königreich antun, wenn er bleibt? Lancelot hingegen hielt sich still. Er hatte leidenschaftliche Worte gesprochen, um noch leidenschaftlichere Gefühle zu verbergen. Noch nie hatte Lancelot mit sich selbst in einem solchen Widerstreit gelegen - noch nie, bevor er Guinevere begegnet war. Artus' Blick wanderte zur Königin. Sie schien den Gedanken, Lancelot könne bald fortgehen, gleichermaßen unterstützenswert wie empörend zu finden. »Also gut, Lancelot«, sagte Artus schließlich. »Dann reite durch Britannien. Verkünde meine Gerechtigkeit. Dies soll deine Aufgabe sein. Ich werde auch die anderen aussenden. Besser sie streifen durchs Land und trinken seinen Überfluss, als dass sie den armen Kay beim Plündern der Speisekammer stören. Ja, nenne es einen Auftrag. Ziehe hinaus ins Land.« Lancelot nickte ernst. »Ich danke dir, mein König.« Er verneigte sich vor Guinevere. »Ich danke auch dir, meine Königin.« Dunkelheit senkte sich über ihr heiteres Gesicht. »Dann stehe auf, mein Chevalier. Und lass mich durch in meine Gemächer.« 55
Lancelot richtete sich auf, verneigte sich noch einmal und entfernte sich. Guinevere überquerte mit raschem Schritt die feuchte Stelle auf dem Boden, öffnete die Doppeltür, trat ein und schloss sie hinter sich. »Nur eine Frage noch, Lancelot«, hob der König an und wandte sich um, doch sein Ritter war längst verschwunden. »Warum wart ihr beide nass?«, murmelte der König bei sich. Rasa lief gemächlich über die Straße nach Winchester und hob die Hufe ordentlich hoch. Der Sommer hatte sein grünes Kleid über den Weg gelegt. Sogar die Rinnen, die von den schweren Kriegsmaschinen in den Boden gefressen worden waren, hatten sich wieder gefüllt. Rasas Eisenschuhe pochten im niedrigen Gras. Seine Schulter strahlte weiß. Ein Ulmenzweig besprenkelte das Pferd mit flirrenden Schatten. Rasa war sichtlich guter Dinge. Sein Reiter dagegen ganz und gar nicht. Lancelot hing wie betäubt im Sattel, der gründlich gereinigt unter ihm quietschte. Die Beschläge glänzten ebenso wie Lancelots Rüstung. Beide hatte er nervös und wild mit einem Lumpen attackiert. Die Eichenlanze steckte stolz in der Scheide, und der Turnierschild war fest an den Unterarm gebunden. Äußerlich war Lancelot prächtig für jedes Abenteuer gerüstet. Innerlich war er am Boden zerstört. Solange er sich zurückerinnern konnte, war Lancelot ein heiles Wesen und ganz mit sich im Reinen gewesen. Er hatte gehandelt, wie er gesprochen hatte, er hatte die Worte so gewählt, wie er sie gedacht hatte, und er hatte geglaubt, was sein Herz ihm sagte. Er war aus einem Guss gewesen. Das war vorbei. Seine Taten straften die Worte Lügen, die Worte die Gedanken und die Gedanken das Herz. Alles arbeitete gegeneinander. Lancelot hatte gewonnen, was er sich immer gewünscht hatte, doch er hatte es verschmäht, weil er begehrte, was er nie bekommen durfte. Er suchte das Weite, weil die Nähe etwas Verbotenes in sich barg. Lancelot
hatte gehofft, er könne seine Klarheit zurückgewinnen, wenn er mit Rasa dem Unbesiegten ins Land ritt und ein paar Drachen erschlug oder einige Waisenkinder errettete. Bis jetzt 56
war nichts dabei herausgekommen. Zwei Monate war er durchs Land geirrt, und nichts war klar. Er hatte Räuber und Dorftyrannen erschlagen, er hatte Handelszüge und alte Weiber beschützt, er hatte den Hungrigen Wildbret geschenkt und den Armen Münzen zugeworfen - alles, was ein braver Schwertkämpfer nur tun konnte. Doch der Kampf kann kein Herz befriedigen, das sich binden will. Reden konnte er auch nicht. Schon gar nicht mit seinem neuen Kameraden Sir Lionel. »So läuft dann alles auf diesen einen Umstand hinaus«, sagte Lionel, als er sein Pferd zu Rasa aufschließen ließ. »Du kannst nicht mein Vetter sein. Mein Vetter ist ein kleines Kind, du aber bist ein erwachsener Mann.« Ach, das schon wieder. Lancelot kannte jedoch ein einfaches Mittel gegen solche bohrenden Fragen. »Willst du mich einen Lügner nennen?« Lionels Augen blitzten erschrocken, und in das kurz gestutzte schwarze Bartgebüsch kam Bewegung. »Aber keinesfalls.« Er starrte den Griff von Lancelots allzu bekannter Klinge an. »Oder nennst du die Frau, die mich aufzog, eine Lügnerin?« Eine erheblich gefährlichere Frage. »Aber nein, gewiss nicht.« Lionel wischte die Unterstellung mit einer ungeduldigen Geste der linken Hand fort. »Doch ich kann diese Frage natürlich auch an dich richten. Wenn ich sage, dass ich erst vor einem Jahr die Taufe meines Cousins Lancelot besucht habe, würdest du dann sagen, dass ich lüge?« Dieser Lionel war ein tapferer Krieger und ein gerissener Denker. Er kehrte Lancelots eigenen Angriff gegen diesen um. »Nein.« »Dann lass uns in einem Punkt die Einmütigkeit herstellen - das Kind Lancelot, dessen Taufe ich vor einem Jahr beigewohnt habe, kannst nicht du sein. Einverstanden?« Jetzt knirschte Lancelot mit den Zähnen. »Ja. Es sei denn natürlich, du irrst dich. Es ist keine Lüge, wenn man etwas Falsches ausspricht, das man für wahr hält.« »Zugegeben. Vielleicht aber bist auch du derjenige, der sich irrt«, erwiderte Lionel. Als Lancelot ihn böse anstarrte, fügte er eilig hinzu: 56
»Ich muss natürlich zugeben, dass ich eigentlich gar nicht weiß, wer du bist ...« »Mein Schwertarm beweist, wer ich bin.« »Der Schwertarm beweist sich selbst«, gab Lionel zurück. »Männer sind jedoch mehr als ihr Arm.« »Ja.« »Ich weiß nicht, wer du wirklich bist, aber ich würde die Möglichkeit einräumen — nur als Möglichkeit gesprochen -, dass du es selbst auch nicht weißt.« Was Lionel von sich gab, war kein leeres Gerede. Er war ein Mann, der gnadenlos bohren konnte, bis er die Wahrheit wusste, so schmerzlich sie auch sein mochte. Lancelot rang sich zu einem knappen, erbosten »Ja« durch. Rasa schnaubte zustimmend. Das Pferd spürte die erlahmende Willenskraft seines Herrn und wollte ihn bestärken. Es gab nur eines, das ihm Stärke geben konnte. Schlaf. Seit diesem seltsamen Traum in Camelot - die Fäden auf dem Webstuhl, die niedergedrückten Tritte, die rasche Bewegung des Schiffchens, die Frauen, die alles in Gang hielten - hatte Lancelot mehr im Traum als in
der Wirklichkeit gelebt. Er wanderte durch die Welt der Wachheit, um sich von Guinevere zu entfernen. Er wanderte durch Träume, in denen er sich mit ihr vereinte und sich ihr schamlos in die Arme warf, um ihr sein Begehren zu gestehen. Nur dort konnten sich die zerstückelten Fragmente seiner selbst neu anordnen. Nur im Traum war er ein ganzes, heiles Wesen. »Ich muss ausruhen«, platzte Lancelot heraus. »Das Böse geht an solchen Tagen nicht um. Schau dir nur die Bienen auf der Wiese an. Sie sind wie kleine Sonnen zwischen den Blüten. Was kann ein Ritter auf einem solchen Feld ausrichten? Ein Turnier abhalten? Nein. Schlafen? Ja.« Lionel nickte nachdenklich. »Das klingt gut. Eins muss ich dir lassen, Lancelot. Du schläfst so viel wie ein Einjähriger.« Die beiden Ritter lachten kurz. Es war ein Scherz und ein Entgegenkommen zugleich. Als Kameraden ritten sie dahin. Ihre Tiere schwenkten von der Straße nach Winchester ab und trotteten durch Felder voller Zwei 57
zahn und Schafgarbe. In schweigender Übereinkunft hielten die Pferde auf einen alten Apfelbaum zu, dessen erste grüne Früchte schon an den Zweigen hingen. Große Pferde mit langen Hälsen konnten von den unteren Zweigen fressen, und Ritter konnten ungesehen zwischen den Wiesenblumen schlafen. Als sie den blauen Schatten des Baumes erreicht hatten, zügelten Lancelot und Lionel die Pferde und sprangen aus dem Sattel. Lionel lehnte seine Lanze gegen den Baum, band sein Pferd an und suchte in den Satteltaschen nach etwas Essbarem. Lancelot verschnürte seine Lanze an Rasas Sattel und ließ das Pferd frei laufen. Er setzte sich nieder, band den Helm los, nahm ihn ab und legte ihn sich als hartes Kissen unter den Kopf. Tante Brigid hatte ihm von einem Mann namens Jakob erzählt, der sich Steine als Kissen genommen und von Leitern geträumt hatte, auf denen unzählige Engel saßen. Lancelot wünschte sich ganz ähnliche Träume, nur dass in seinen Träumen unzählige Guineveres vorkommen sollten. Er atmete noch einmal tief die sommerliche Luft ein, die nach Äpfeln duftete, und döste ein. Nach wenigen Augenblicken war er tief eingeschlafen. Ein seltsamer, geheimnisvoller Mann, dachte Sir Lionel, der neben seinem Pferd stand und den hingestreckten Ritter betrachtete. Noch nie hatte Lionel einen besseren Kämpfer gesehen, noch nie war er einem so direkten und ernsten Mann begegnet. Doch all der Ruhm überdeckte nur eine ganz bestimmte, nicht zu bestreitende Wahrheit. Lancelot war nicht der, für den er sich hielt. Lionel schlug nach einer Pferdebremse und drückte den schwarzen Fleck gegen seinen Hals. Er hob die Hand. Das Insekt glättete die verknitterten Flügel und flog davon. Lionel legte eine Fingerspitze auf den Stich. Sie wurde rot. Natürlich waren sie keine Vettern, doch diese Tatsache war erst der Anfang des Rätsels. Wo hatte Lancelot nur seine unglaubliche Geschicklichkeit im Kampf erworben? Er hatte zwar seinen Lehrer, Meister Smetrius, erwähnt, doch eine solche Anmut konnte man mit noch so vielen Fechtstunden allein nicht lernen. Lancelot war der ge 57
borene Krieger, aber wenn er nicht als Sohn Bans geboren war, wer war er dann? Die Bremse kehrte zurück, um sich einen Nachschlag zu holen. Lionel legte die Hand über Bremse und Stich und schloss sie zur Faust, ohne eine Lücke zu lassen. Die Bremse
brummte in der hohlen Faust herum. Er drückte fester zu und zerquetschte das Insekt zu einem schwarzen Klecks in der Handfläche. Seine besondere Begabung lag darin, die Wahrheit herauszufinden, sich darin zu verbeißen und sie nicht mehr aus dem Auge zu lassen. Plötzlich verstummten die Vögel und Grillen. Erst jetzt, als er aufhörte, wurde ihm bewusst, wie laut der Gesang gewesen war. In der Stille hörte er das ferne Pochen von Hufen auf festgetretener Erde. Ein Pferd näherte sich. Nein, mehr als eines sogar. Mindestens drei Reiter kamen vom Hügel im Osten der Wiese herunter. Lionel drängte instinktiv sein Pferd zur Seite, um es hinter dem knorrigen Stamm des Apfelbaums zu verbergen. Dann sah er sich nach Lancelots Pferd um. Der weiße Hengst war bis in eine Gruppe von Ulmen in der Nähe gewandert. Er hob den Kopf mit den eigenartigen roten Augen und sah sich nach den Geräuschen um, dann sprang er wie ein Hirsch in ein Disteldickicht. Lancelot selbst lag in tiefem Schlaf auf dem bebenden Boden, gut verborgen hinter gelbem Fingerhut. Die Reiter näherten sich. Sie trugen den purpurnen und goldenen Putz der Tafelrunde. Auf Schild und Überwurf prangte der rote Pendragon, auf den polierten Helmen saßen vertraute Büschel. Schon an der Rüstung hatte Lionel sie erkannt. Als Erster kam Sir Kay über die Hügelkuppe geflogen. Seinem Rotgrauen stand bereits der Schaum vorm Maul. Gleich hinter ihm folgten Sir Brandeies auf einem Kastanienbraunen und Sir Galyrnde auf einem Rappen. Alle ritten wie in großer Angst in vollem Galopp. Lionel schnaubte. Welches Ungeheuer hatte diese drei Ritter nur in solchen Schrecken versetzt? Welches Untier, abgesehen von einem tobenden Drachen, konnte drei so tapfere Krieger zu einer solch wilden Flucht veranlassen? Dann sah er es. Nur eine Speereslänge hinter ihnen kam ein breit 58
schultriger Mann auf einem Fuchs mit den Maßen eines Zugpferds. Auf den breiten Schultern trug er schweres, klirrendes Eisen. Sein Wappenrock war aus Sackleinen und Rupfen. Seine Farben waren braun und schwarz, Blut und Tod. All dies erkannte Lionel mit einem Blick, bevor der massige Kerl den Abstand weiter verkürzte. Er rammte Galyrnde den Schaft auf die Schulterplatte. Die Spitze verhakte sich und riss den Ritter aus dem Sattel. Lederriemen spannten sich und rissen. Galyrnde flog über die peitschende Mähne seines Rosses. Er stürzte und hätte sich den Hals gebrochen, wäre nicht der festgezurrte Helm gewesen. Trotz seiner Rüstung wurde er tüchtig durchgewalkt, als er unter die hektisch trommelnden Hufe seines Rosses geriet. Der große Krieger ließ nicht von seinen Opfern ab. Er ritt an dem ausbrechenden Rappen vorbei und knallte Brandeies die Lanze in den Rücken. So hässlich war der Stoß, dass die Rüstung durchbrochen wurde. Brandeies hob vor Schmerz die Arme. Auch er stürzte aus dem Sattel und überschlug sich zwischen den Taglilien. Lionel konnte nicht einmal ahnen, wie der Mann es schaffte, seine Lanze zu lösen und dem Rotbraunen auszuweichen, um dem galoppierenden Rotgrauen zu folgen, der Artus' Stiefbruder trug. Wie auch immer, der Speer traf und fällte auch den dritten Ritter, Sir Kay, den Seneschall von ganz Britannien, und Lionel fragte sich, ob Lancelot wirklich der größte Kämpfer war, den er je gesehen hatte. Der bullige, schwarz gekleidete Mann zügelte sein wieherndes Vollblut am Rand der Wiese. Drei Staubfahnen hielten unruhig Wache über seinen Opfern. Der Mann nahm den Fuchs herum und kümmerte sich um die Pferde der Ritter. Mit eben der Lanze, mit der er die
Reiter gefällt hatte, fischte er die Zügel auf. Dann hielt der Krieger sein Pferd an und stieg ab. Er löste ein Ende der Geschirre aus der Öse und band die drei anderen Pferde in einer langen Kette hinter sein eigenes. Zielstrebig wie ein geübter Plünderer ging er über die Wiese, bückte sich und warf sich Galyrnde über die Schulter. Er schleppte sein Opfer zum Rappen des Ritters, warf den Besitzer quer über den Sattel und band ihn fest wie ein erlegtes Stück Wild. Dann wiederholte er das Gleiche mit Brandeies und Kay, bevor er den gro 59
ßen, schwarzbärtigen Ritter bemerkte, der gerade am anderen Ende der Lichtung elegant in den Sattel stieg. »Bist du ein Mann oder ein Ungeheuer?«, fragte Sir Lionel gleichmütig. Seine Stimme war sanft, doch in seinem Herzen tobte ein Sturm. »Was?«, knurrte der Krieger wütend. »Ich frage mich, was für eine Sorte Mann seinen Speer einem anderen in den Rücken rammt«, erklärte Lionel. »Wenn du ein Mann bist, dann bist du der gemeinste aller Männer. Ich persönlich denke freilich, du gehörst eher zu irgendeiner Sorte von Ungeheuern.« Der Krieger klappte den Helm zurück, und eine Flut blonder Haare strömte heraus. Er lächelte breit und bleckte die Zahnstummel. »Noch ein Ritter von der Tafelrunde. Ihr reiht euch so bereitwillig auf, dass es mir eine wahre Freude ist, euch niederzumachen.« Das Lächeln verschwand und wich hämischer Vorfreude. »Dann werde ich dich eben von vorn erledigen.« Sir Lionel packte seine Lanze fester. »Versuch es doch. Aber eins sollst du wissen — du greifst die Männer des Königs an. Selbst wenn ich scheitere, wird man dich hetzen und töten.« »So sei es«, erwiderte der Krieger, der die drei geschlagenen Ritter auf den Pferden verschnürt und sein eigenes Reittier aus der Kette gelöst hatte. Nun stieg er wieder in den Sattel. »Ich werde nicht ruhen, bis ich den Ritter erschlagen habe, der sich du Lac nennt.« Lionels Gesicht wurde ernst hinter dem Visier. Jetzt wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er Lancelot schlafen ließ. »Dann richte deinen Speer gegen mich, und wir wollen unsere Waffen sprechen lassen.« Er zog seine Lanze aus dem Köcher und richtete sie waagerecht aus. Der Krieger tat es ihm gleich und ließ seinen Fuchs die Hacken spüren, um im Galopp den Angriff einzuläuten. Auch Lionels Pferd sprang los, begierig anzugreifen. Die Hufe mähten durch die Butterblumen. Speere suchten Schilde und fanden sie. Lionels Spitze knallte gegen den Schild, sprang ab und zerstach die leere Luft neben der Schulter des Gegners. Der Gegner aber ließ seinen Speer von Lionels Schild abrutschen, 59
pflanzte ihn mitten auf Lionels Brustbein und warf ihn aus dem Sattel. Das Pferd donnerte unter ihm weg. Die Speerspitze des Gegners noch im Brustharnisch verhakt, flog Lionel in hohem Bogen durch die Luft. Als er stürzte, dachte er nur noch, dass es noch mehr und tiefere Rätsel gab als Lancelot. Dann schlug er auf dem Boden auf, und alle Spekulationen waren vorbei. Vor Lionels Augen wurde es dunkel, und er brach zusammen. 59
10. Die vier Königinnen Morgan le Fey ritt in königlichem Putz inmitten ihrer Gefährtinnen -den Königinnen von North Galys, Eastland und den äußeren Inseln. Man konnte sie ebenso gut auch Priesterinnen nennen, denn sie wussten um die alten Überlieferungen. Vielleicht hätte man sie am besten sogar als Göttinnen ansehen sollen, denn ihre Magie überspannte alle Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Die vier Königinnen ritten auf vier schneeweißen Maultieren. Ein quadratischer Baldachin aus grüner Seide schützte sie vor der Sonne. Vier Eunuchenkrieger hielten ihn hoch. So wollte es der alte Brauch — die weibliche Fruchtbarkeit wurde getragen auf und beschützt von männlicher Sterilität. Eunuchen und Maultiere waren stärker und zugleich fügsamer als ihre zeugungskräftigen Gegenstücke. Sie waren für ihre Aufgabe wie geschaffen. Deshalb wurden Bullen zu Ochsen und Hengste zu Wallachen beschnitten. Hoden waren gut, wenn sie ordentlich im Zaum gehalten wurden, was aber in der Gegenwart wahrer weiblicher Kraft kaum möglich war. Geschlechtlichkeit jeglicher Art barg eine mächtige Magie, doch die Macht der Geschlechter wirkte in gegensätzlicher Weise. Nur ein Gefolge sterilisierter männlicher Wesen erlaubte es den Priesterinnen, ungehindert ihre Macht zu entfalten. Morgan atmete den feuchten Duft der Wiesen ein. Gewaltige Kräfte wirkten in ihr. Sollten Guinevere und ihre Tuatha-Anhänger ruhig mit ihrer Dreifaltigkeit spielen, mit ihren Hexen und ihrer göttlichen Trigonometrie. Der Gott Abrahams hatte die Macht der Drei schon längst an sich gerissen. Selbst der synoptischen Evangelien waren drei und das Buch des Johannes nicht mehr als ein Knochen, den man jenen zuwarf, die von Matthäus, Markus und Lukas im Stich gelassen wurden. 60
Morgan und ihre Gefährtinnen kannten die Macht der Vier: vier Jahreszeiten, vier Winde, vier Elemente, vier Mondphasen, vier Tageszeiten, vier Farben im Tarot — vier Königinnen der alten Magie. Sie ritten durchs Land und suchten nach Erneuerung ihrer Macht, nach einem jungen Ritter namens Lancelot. Hoden waren gut, wenn man sie im Zaum hielt. Doch wenn es nur noch Ochsen und Wallache gab, wer sollte dann die nächste Generation zeugen? Lancelot lag unter dem alten Apfelbaum und träumte vielleicht von seinem fernen Avalon. Es war gekommen, wie Morgan es geplant hatte. Die Ritter, die ihn hätten ablenken können - Lionel und Kay, Galyrnde und Brandeies - wurden von einem anderen derselben Art wie Jagdtrophäen weggeschleppt. Ohne etwas zu bemerken, schlief der Mann, auf den es ankam. Seine körperliche Kraft war nicht mehr als eine schwache Andeutung der spirituellen Kräfte, die in ihm schlummerten. Auch wenn er es selbst nicht wusste, er war eine Seele, die zwischen Britannien und Benwick und größeren Welten eine Brücke schlagen konnte. Die Königinnen ritten auf ihren weißen Maultieren durchs hohe Gras. Eines nach dem anderen trotteten die robusten Tiere heran und bildeten einen Halbkreis um den schlafenden Mann. Der Seidenbaldachin wurde weggenommen. Die Eunuchenkrieger zogen die Stäbe zurück, falteten den Baldachin zusammen und setzten sich ins Gras. Das Sonnenlicht fiel durch die Blätter und ließ die Schatten auf den Königinnen spielen, doch sie bemerkten es nicht. Sie starrten den silbern gerüsteten Krieger an, als wäre er ein Mann aus Gold - jung, schön, tugendhaft und stark.
»Wir dürfen uns nicht um ihn streiten«, warnte Morgan. »So wenig, wie wir um ein Glas guten Weins oder ein besonderes Stück Braten streiten würden. Er ist nicht mehr als Nahrung - zum Verzehr gedacht, und eine von uns soll ihn haben. Wir können ihn nicht in vier Stücke schneiden.« Die Königin von North Galys runzelte die Stirn. Ihr Haar war flammend rot, und ihre Augen schienen zu brennen. »Dann will ich den Streit beenden und ihn für mich selbst nehmen.« 61
Die Königin der äußeren Inseln, eine zierliche Frau mit schwarzen Haaren, sagte: »Er stammt nicht aus Britannien und sollte am besten mit einer verbunden werden, die selbst auch nicht aus Britannien kommt.« Die Königin von Eastland stimmte zu. »Meine Vorfahren waren Sachsen, die vom Kontinent herkamen. Also soll er mein Gefährte sein, und ich werde die Sachsen und Angeln und Gallier einen, damit sie sich gegen Artus erheben.« »Haltet ein«, verlangte Morgan. »Haltet ein. Ich habe Lancelot du Lac früher gekannt als ihr alle. Ich habe ihn beobachtet. Ich habe euch zu ihm gebracht. Wenn er irgendeiner gehört, dann gehört er mir. Aber spielt das eine Rolle? Er ist der unsere. Ich werde ihn durch einen Zauberbann in Schlaf versetzen, bis er in der Burg Charyot liegt. Dann soll der edle Ritter Lancelot selbst wählen, welcher von uns er dienen will.« Sie stieg von ihrem Reittier ab. Ganz leicht ging es, denn das Tier war nicht so sehr ein Lasttier als vielmehr ein lebender Diwan, der sie mit ausladendem Rücken gemächlich durch die unruhige Welt beförderte. Sie und die anderen Königinnen brauchten keine schnellen Tiere und nicht einmal besonders starke oder große. Es geschah nicht eben selten, dass sie durch die dünne Luft oder durch überhaupt nichts ritten. Wenn sie sich herabließen, sich über den Erdboden zu bewegen, dann ritten sie auf diesen bedächtigen, struppigen Maultieren. Morgan spürte das Gras zwischen den Zehen. Schuhe trug sie keine. Sie spürte das Erdreich unter dem Gras - ein Zoll tief für jedes der sechs Jahrtausende, die das Gras schon hier wuchs - und den Lehm unter dem Mutterboden und den Sand unter dem Lehm und darunter wieder den Fels. Ein weiterer Schritt. Ihr Bewusstsein stürzte noch tiefer durch Meilen von Gestein hindurch bis zum Magma, zum Blut der Welt. Die Briten hatten das Blut der Welt vergessen, weil sie jetzt so sehr mit dem Blut des Himmels befasst waren. Morgan hatte es nicht vergessen. Unter all dem massiven Fels brannte glühend heißes Begehren. Überwältigt von der Hitze, die in ihr aufwallte, sank sie auf die Knie. Mit Tränen in den Augen starrte sie Lancelots Gesicht an. Er war kein alter Gott von der Art Merlins, er war ein junger. 61
Alle jungen Männer waren Götter. So schnell strömte ihr Blut, so erregbar war ihr Gemüt. »Schlafe, mein Kind«, sagte Morgan. Sachte strich sie mit den Fingerspitzen an seinem Kinn entlang. Blut quoll aus der Haut, wo sie ihn berührt hatte. Sie hatte weder ihn noch sich selbst verletzt. Sein Blut und ihr Blut riefen einander und drängten zueinander und durchbrachen die dünne Schicht Haut, die sie trennte. Sie streichelte seine Wangen, seinen Nasenrücken, die Augenbrauen. Blut folgte der Spur ihrer Finger. »Schlafe, mein süßer Sohn, und wach erst wieder auf, wenn ich dich rufe.« Sein Gesicht blieb heiter, obwohl eine
garstige blutige Maske darübergelegt worden war. »Schlafe, Lancelot, und träume von mir. Und wenn du erwachst, dann glaube.« Morgan zitterte. Sie hockte auf den Hacken, barg die roten Finger in der anderen Hand und wiegte sich leicht hin und her. Der Zauberspruch hatte sie Kraft gekostet. »Bring meinen Schild«, hieß sie einen Eunuchenkrieger. Er gehorchte sofort und sprang aus dem Gras auf, in dem er gesessen hatte. Schnell lief er zum Maultier und löste das silberne Gerät vom Geschirr. Dann ging er zu seiner Herrin und hielt ihr den Schild hin. »Verschnürt ihn darauf, und dann tragt ihn«, befahl Morgan müde. Zitternd richtete sie sich auf. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, doch sie hielt sich aufrecht. »Bringt ihn heim.« Sie kehrte zum Maultier zurück und setzte sich in den Sattel. Ihre Haut war jetzt so bleich wie das Fell des Reittiers. Vom seinem Rücken aus sah sie den Eunuchen bei der Arbeit zu. Lancelots Kopf ruhte bequem in einer Ausbuchtung des Schildes. Das Metall trug seine Schultern, als wäre es ihm auf den Leib geschmiedet worden. Arme und Beine hingen lose herunter, und hingestreckt wie er da lag, erinnerte er an den Leichnam Christi. Morgan kümmerte es nicht. Wenn die Männer jung und jungfräulich waren, mochten sie auch daliegen wie der junge, jungfräuliche Gott. Sie wollte nur sicher sein, das sie selbst niemals so hingestreckt daliegen würde. Keine Frau sollte sich diesem Bild unterwerfen und erst recht nicht die Welt. Die Eunuchen hoben Lancelot hoch und trugen ihn, wie sie zuvor den Seidenbaldachin getragen hatten. Die Königinnen setzten ihre 62
Reittiere in Bewegung und umringten Lancelot. So ritten sie über die Wiese davon. Sie waren ihres Sonnenschirms beraubt, doch es störte sie nicht. Sie sonnten sich im Glanz einer neuen, an die Erde gefesselten Sonne. Morgan vor allem trank die Strahlen förmlich auf, denn nichts fühlte sich so wundervoll an auf blutleerer Haut wie das Sonnenlicht selbst. Lancelot erwachte in tiefster Dunkelheit. Er hatte schon von Verliesen gehört. Diese tiefen, aus Stein gebauten Löcher gehörten im Volksglauben in die gleiche Kategorie wie die Pest, Dämonen und Flüche. Jeder wusste, was ein Verlies war, aber kaum jemand hatte eines von innen gesehen, und noch weniger waren lebend wieder herausgekommen. Dies war kein gewöhnliches Verlies. Es war pechschwarz und kalt wie ein Grab und hatte unverputzte Steinwände. Sie stiegen senkrecht an bis zu einer Decke, die aus Eisenstäben bestand, durch welche das Abwasser der Gefangenen darüber tröpfelte. Der Sprache von Lancelots Vorfahren nach hieß dieser Raum Oubliette - eine Zelle, die nur von oben zu öffnen war. Das Wort ging auf das gallische oublier zurück, was seinerseits vom lateinischen oblitare abgeleitet wurde — und dies bedeutet vergessen. Oublietten wurden oft in die Abwasserkanäle anderer Zellen eingebaut, wo sich der Dreck sammelte und der Hauch des Todes wehte. Aber warum will man mich dem Vergessen anheim geben?, fragte Lancelot sich. Und dann: Wer überhaupt will mich vergessen lassen? Die Antwort auf die erste Frage lag auf der Hand. Sie wollen mich vergessen, weil ich der Anlass zu Bedauern und Schmerzen bin. Die zweite Frage war nicht so leicht zu beantworten: Wer könnte meinetwegen Bedauern und Schmerzen empfinden? Sicher niemand, dem er Unrecht getan hatte. Diese Menschen liebten es, sich an das erlittene Unrecht zu erinnern, besonders wenn der Missetäter in ihrer Gewalt war. Nein, es
musste jemand sein, der umgekehrt ihm Unrecht angetan hatte. Es gab keine größere Qual als die ständige Gegenwart der eigenen Opfer. Also jemand, der ihm ein Unrecht angetan hatte und gefühlvoll ge 63
nug war, um Reue zu empfinden? Auch darauf war die Antwort leicht zu finden. Den Männern war Lancelot einerlei, doch es gab viele Frauen, denen er wichtig war. Seine Mutter hätte es sein können, die ihn verlassen hatte und irre geworden war. Vielleicht auch Guinevere, deren bloße Gegenwart Lancelot schon zum Verräter machte. Seinem Gefühl nach war es jedoch keine von beiden, und es waren auch nicht beide zusammen. »Steh auf«, sagte auf einmal eine Stimme. Die geschlechtslose Stimme einer Eunuchenwache. »Schüttle den Dreck ab. Du hast eine Audienz bei den Königinnen.« Den Königinnen. Gab es überhaupt Königinnen ohne Könige? Anscheinend gab es sie. Bedauerten sie Lancelot? Ja. Warum? Weil sie ihn nicht besitzen konnten, da Guinevere sein Herz besaß. Es war eine Offenbarung. Schlagartig wusste Lancelot, was er tun musste, um zu überleben. Zwei Eunuchenwächter setzten Brecheisen an und hebelten das Eisengitter aus der Verankerung. Mit hässlichem Knirschen kratzte Metall über Stein, dann war der Ausgang frei. Ein dünnes Hanfseil wurde zu Lancelot herabgelassen, und oben war der Kampfruf zu hören: »Für Morgan le Fey, für Morgan le Fey!« An Morgan le Fey war Lancelot nicht gelegen, für ihn zählte nur das spröde Seil. Er griff danach, packte es und zog sich an der Steinwand der Oubliette zum schwachen Lichtschimmer hinauf. Die Mauer troff vor Unrat und Schlimmerem, doch er stieg frohgemut heraus. Er kam sich vor wie ein Geschöpf der Urzeit, das sich ins Licht Gottes kämpft. Aus dem Loch heraus zog er sich auf den Boden einer weniger feuchten und weniger dunklen Zelle. Ein Stiefel stieß ihn in den Rücken. Eigentlich hätte er von diesem Stoß nicht flach auf dem Brustharnisch landen sollen, doch er war noch geschwächt von irgendeinem Zauber, der ihn betäubt hatte. Seine Rüstung knirschte auf dem rauen Stein. Die Eunuchen zogen ihm die Arme auf den Rücken. Das Seil, an dem er hochgeklettert war, schnürte jetzt seine Hände und Handgelenke zusammen. Zähneknirschend schaffte Lancelot es zu knurren: »Für Morgan le Fey ...« 63
Sie stellten ihn auf die Füße. Fünf Eunuchen umringten ihn: massig, sauber, zielstrebig und humorlos. In ihrer Mitte kam Lancelot sich schmächtig und dreckig vor. Doch sie ließen ihm genügend Raum. Obwohl gefesselt, allein und geschwächt, hatte er zwischen ihnen die Ausstrahlung eines Herrschers. Er besaß noch, was sie verloren hatten. Die Eunuchen führten ihn zur Tür der Zelle hinaus, einen Flur hinunter und eine in den Fels gehauene Treppenflucht hinauf. Er schlurfte eine Weile dahin, bis er spürte, dass die klamme, feuchte Kälte der unterirdischen Verliese verflog. Sie kamen im Erdgeschoss des Bergfrieds in der Kammer des Gefängniswärters heraus. Lancelot durchquerte den Raum und trat durch einen Bogengang ins weiche Gras des Burghofs. Die Luft roch frisch und sauber, da er nun den ewigen Gestank der Verzweiflung hinter sich hatte. Eilig entfernte er sich vom Gefängnis und näherte sich dem Palast. Mit Schnitzwerk verzierte Türen öffneten sich unter einem ebenso verschnörkelten Tympanon. Wächter zogen die Tore auf. Dahinter führte eine mit einem roten Läufer ausgelegte Treppe zweifellos zum Thronsaal und zu einer seiner königlichen Wächterinnen.
Lancelot machte keinerlei Anstalten, sich zu reinigen. Er trug den Schmier und Dreck mit trotzigem Stolz. Dies waren die Bedingungen, die Morgan le Fey ihm auferlegt hatte. Sollte sie doch sehen, wie sie damit zurechtkam. Durch die Doppeltür ging es hinein und die Treppe hinauf, durch einen zweiten Bogen und in den vierpassförmigen Thronsaal. Lancelot und seine Begleiter traten vor bis in die Mitte des Raums. Früher war dies eine römische Basilika gewesen, der Anbetung Christi gewidmet. Jetzt saßen hier seine Feindinnen auf ihren Thronen. In jede Himmelsrichtung war ein Seitenschiff mit einem Podest und einem Thron angebaut, dahinter jeweils ein Sichtschirm aus Eichenplatten und ein Kirchenfenster mit fächerförmigem Maßwerk. Auf jedem Thron saß eine Königin. Die Jüngste war in Seide und Hermelin gekleidet, die Ältere in Leinen und Spitze und die Ältesten in Wolle und rauen Stoff. Alle waren schön, alle mächtig, und alle sahen wie gebannt den jungen Ritter an. 64
Einer nach der anderen erwiderte er die Blicke. Die dunkelhaarige sinnliche Frau mit weißer Haut, die auf dem höchsten Thron saß, konnte niemand anders als Morgan le Fey sein. Ihr Gemahl, König Urien von Gore, hatte sich zweifellos beschwatzen lassen, seiner Frau die Kirche zu überlassen, wo sie mit ihren Hexenschwestern Hof halten konnte. Sie sprach jetzt, aber nicht zu ihm. »Trotz des Schmutzes sind seine Züge rein.« »Doch es ist nicht nur sein Leib«, antwortete eine rothaarige Königin, die dem Tonfall nach in North Galys geboren war. »Auch seine Seele hat diese feine Zeichnung.« Die dritte Königin, zierlich und dunkel, schaltete sich ein. »Zweifellos von gutem Blut ...« »Und nun zur Entscheidung«, mahnte die Letzte, »wer es sein soll.« »Ich verlange zu wissen, warum ihr mich festhaltet«, sagte Lancelot. Morgan le Fey starrte ihn an. »Spült ihn ab.« Ein Eunuch griff sich einen Eimer Wasser, der eigens zu diesem Zweck schon bereitstand, und schleuderte den Inhalt in hohem, glitzerndem Bogen auf Lancelot. Es traf ihn schwer und spülte den Dreck der Oubliette ab. Das Wasser spritzte auf den mit Marmorfliesen gekachelten Boden und bildete Pfützen, die von den Rinnsalen, die noch von Lancelots Rüstung tropften, gespeist wurden. »Du hast hier nichts zu verlangen, Lancelot«, sagte Morgan le Fey gelassen. »Du bist kein tapferer Ritter mehr. Du bist etwas viel Wichtigeres geworden.« »Was denn? Ein nasser Lumpen?«, spuckte er. »Wascht ihn ab«, befahl Morgan. Ein weiterer Eimer Wasser wurde ausgekippt. Dieses Mal nahm ihm die Flut den Atem, und er schnaubte und keuchte. »Zwar kannst du keine Erklärung verlangen, aber ich will dir dennoch eine geben. Du bist ein Gespons im alten Sinne des Wortes. Du bist der sterbliche Partner einer unsterblichen Königin. Deshalb begehrt Guinevere dich. Sie sieht in dir das, was du wirklich bist, den einen Mann unter Millionen anderen, der Nachkommen zeugen muss. Die erste Kunst, die es für die Menschheit zu lernen galt, war die 64
Zucht - die Kunst, durch sorgfältige Kontrolle der männlichen Exemplare Tiere zu züchten. Ein Bulle, ein Hengst, ein Hahn und eine Vielzahl von weiblichen Tieren, eine Nation von Nachkommen. Das ist deine Rolle. Fruchtbarkeit, Glück und jeder andere
Segen wird von der Frau geschenkt. Die Zeugungskraft aber entspricht der Rolle des auserwählten Mannes. Dieser Mann bist du.« »Ich habe nichts entschieden ...« Der Satz wurde durch einen dritten Wasserguss unterbrochen. Morgan schüttelte missbilligend den Kopf. »Du hast nur eine Wahl. Lege dich zu einer von uns oder zu allen, oder stirb vergessen und elendig in deiner Zelle.« Lancelots Nasenflügel bebten. »Verstehe eines - ich wähle keine von euch, ihr lüsternen Hexen.« »Hexerei ist ein Wort der Männer für die Macht der Frauen«, unterbrach Morgan ihn. Sie sah ihn finster an. »Also willst du keine von uns nehmen.« »Bei meinem Leben, ich weise euch allesamt zurück.« Königin Morgan verzog das Gesicht, und es sah beinahe wie echter Kummer aus. »So sei es denn. Du bist einer unter tausenden oder hunderttausenden, Lancelot, und du willst dich in der Oubliette verschwenden. So sei es.« Er flog auf den Boden. Unvermittelt hatten die Eunuchen ihn mit dem Gesicht nach unten niedergestreckt. Sie schleppten ihn die rot ausgelegte Treppe hinunter, trugen ihn mit groben Händen übers Gras des Burghofs, durch die Kammer des Wächters und die nächste Treppe hinunter, bis er in seiner feuchten, nach Unrat riechenden Zelle über seiner eigenen angelangt war. Ohne innezuhalten, schleuderten sie ihn ins Loch, und das Eisengatter schloss sich klirrend über seinem Kopf. »Für Morgan le Fey«, sagten sie. Wieder im Dreck, starrte Lancelot zu ihnen hoch. Die Dunkelheit senkte sich über ihn, und die Oubliette erfüllte ihren Zweck. Er war auf Nimmerwiedersehen vom Antlitz der Erde verschwunden, man würde ihn vergessen. 65
11. Die Rose und die Biene Er wird sterben, dachte Morgan le Fey bei sich. Die Gewissheit jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie löschte die Kerze, die in ihrem Schlafgemach brannte. Dunkelheit sammelte sich um sie. Er wird in der Zelle bleiben und sich weigern, bis er stirbt. Doch er darf nicht sterben. Er ist der Eine. Zu meinen Lebzeiten wird es keinen Zweiten geben wie ihn. Sie warf die Leinendecken ihres Betts zurück. Kälte wehte aus den fein geflochtenen Fasern. Sie steckte die nackten Beine zwischen die Laken. Durchs Leinen spürte sie das Kitzeln der Wolldecke. Es war einst eine Pferdedecke gewesen, als sie noch als junge, zornige Helferin in den Stallungen ihrer Mutter gedient hatte. Die dicke Decke roch heute noch nach dem Talg der Pferde. Durch ein Bett war Morgan die Königin und durch ein anderes war sie zur Mutter des Erben ganz Britanniens geworden. Das dritte Bett sollte sie zur Königin zweier Welten machen. Sie atmete die kalte Luft ein, grub die Fingernägel tief in das Wolfsfell, das ganz oben auf dem Stapel lag, und zog es sich bis zu den Schultern hoch. Natürlich missfielen Urien ihre sexuellen Eroberungen. Jedem Mann missfällt es, wenn seine Frau Eroberungen macht. Doch konnte er keine Einwände erheben, weil er auch selbst erobert worden war. Männer konnten im Bett nicht herrschen. Es war der alte Sitz weiblicher Macht. Gewiss, Männer konnten vergewaltigen, aber Vergewaltigung war
Gewalt und kein Sex. Wenn es um Sex ging, mussten Männer immer dienen. Urien diente, und auch Lancelot würde dienen. Morgan spürte die Hitze aus ihrer Haut strahlen und den Berg Stoff erwärmen, unter dem sie lag. Dunkelheit strömte in ihre Augen. Sie starrte die Gipsfiguren an den Decken an. In der letzten Glut des Feuers leuchteten sie wie flüssiger Schwefel. Am Tage zeigten die Fi 66
guren den Garten Eden mit seinen nackten Bewohnern, die keine Scham kannten. Das Schlafgemach hatte einst einem Abt gehört, dessen Seele durch den Anblick von Evas Busen Erbauung zu finden gewusst hatte. In der Nacht, wenn das reine Feuerelement die Vorherrschaft hatte, trat das wahre Gesicht der Figuren hervor und zeigte den wahren Garten Eden. Vor Adams Patriarchat hatte es ein blühendes Paradies gegeben. In ihm lebten die Göttin und ihr göttlicher Gefährte, die Schlange. An diesem Ort wurden die verbotenen Früchte des Wissens und das ewige Leben jedem Geschöpf zuteil. Die Schlange wand sich um den Baum des Lebens und bildete den Caduceus, das Symbol des Lebens und der Heilung. In diesem Garten waren alle Geschöpfe nackt und kannten keine Scham, und die Frauen herrschten mit ihrer sexuellen Macht. Die Nacht und der Feuerschein brachten die alten Wahrheiten zum Vorschein, die am Tage im Schrein Apolls verborgen blieben. Lancelot war die neue Schlange, der Gefährte der Göttin. Er wusste es nicht einmal. Und auch wenn die anderen Königinnen es wussten, lüsterne Hexen, die sie waren, sie wussten nicht den Grund. Sie wussten über Lancelots Herkunft nicht mehr als er selbst. In ihrer Unwissenheit konnten sie sogar so weit gehen, ihn zu töten. In seiner eigenen Unwissenheit konnte Lancelot in den Tod gehen. Unwissenheit war etwas Schreckliches. Erst das Tetragrammaton hatte den Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis zu einem Vergehen gemacht, das mit dem Tode bestraft wurde. Morgan hatte von der verbotenen Frucht gegessen und war vom Urteilsspruch Jahwes getroffen worden. Es spielte keine Rolle. Sobald sie bei Lancelot gelegen hätte, sollte eine neue Göttin entstehen, der ein neuer Gefährte zuteil werden müsste. Die heutige Audienz war gerade so verlaufen, wie sie es geplant hatte. Die Ereignisse der kommenden Nacht würden sich mit derselben Zuverlässigkeit entfalten. Morgan seufzte und spürte, wie ihr Atem den Wolfspelz auf ihrem Hals streichelte. Lancelot mochte es nicht wissen, und die anderen drei Königinnen wussten es auch nicht, doch sie hatte sie alle in ihr Bett gelockt, und hier hatte sie noch keinen Kampf verloren. »Viel Glück, mein schöner Ritter, wenn du zu entkommen suchst«, 66
flüsterte sie, und ihre Lippen bekamen einen harten Zug, der nicht allein von der kalten Luft herrührte. Ein Licht näherte sich der Oubliette. Es tauchte das Steingewölbe droben in einen roten Schein. Eunuchenköpfe warfen kantige Schatten. Ein Wächter mit einer Laterne tauchte über der Grube auf. Er hob die Lichtquelle hoch, seine Kameraden setzten Brechstangen an und öffneten das Gatter. Lancelot blinzelte zum Licht hoch, das in dieser Finsternis hell war wie die Sonne. Im Lichthof erschien eine schlanke junge Dienerin. Sie hatte noch die kindliche Figur eines Pfahls ohne Hüften und Brüste. Die dünnen Arme trugen einen Teller, auf dem ein paar Stücke Brot lagen. »Lasst uns allein«, sagte sie. Die Eunuchen sahen sie fragend an.
Das Mädchen erwiderte die Blicke. Wortlos zogen sich die Wächter zurück und ließen die Laterne am Rand der Oubliette stehen. Vom goldenen Schein umhüllt, sah das Mädchen aus wie ein Engel. »Ich habe das Abendessen gebracht«, verkündete es mit dünner Stimme. »Ein paar Brotkrusten nur und etwas Fett.« Die kleine Ration war ein Festessen für Lancelot, solange sie nur aus der Oberwelt kam und nicht mit Kot beschmiert war. Er langte nach oben, um den Teller entgegenzunehmen. Seine Finger zitterten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie schwach, wie ausgehungert er war. Das Mädchen bückte sich und reichte ihm den Teller in die Grube hinunter. Mit klugen braunen Augen beobachtete es ihn. Lancelot kam sich viehisch vor, wie er mit seinen groben Fingern nach dem Holzteller griff. Die zierlichen Hände ließen los. Lancelot nahm das Abendessen in Empfang und biss hungrig in die altbackene Brotkruste. »Ich weiß, dass du sie abgewiesen hast. Meine Herrinnen, meine ich. Aber jetzt ist dir der Tod gewiss.« Lancelot nickte und schluckte. »Es ist ein schlimmerer Tod, sie als Gefährtinnen anzunehmen.« »Ja«, sagte das Mädchen bitter. »Ich weiß. Ich diene ihnen, und es 67
ist ein Tod, der schlimmer ist als tausend Tode. Mein Vater hat eine Wette gegen einen ihrer Gemahle verloren.« Lancelot unterbrach sein hastiges Mahl und zog eine Augenbraue hoch. »Welcher Gemahl?« »Der König von North Galys und drei Ritter der Tafelrunde einschließlich des Sohnes von Königin Morgan. Sie besiegten am letzten Dienstag meinen Vater im Turnier. Nachdem sie ihm schon alles andere genommen hatten, nahmen sie mich.« Die Flammen von Benwick kamen Lancelot in den Sinn. Claudas hatte seinem Vater alles genommen — alles außer Lancelot. »Wie ist der Name deines Vaters?« »König Bagdemagus.« »Ich habe von ihm gehört. Er ist ein großer König und ein tapferer Krieger.« Lancelot schüttelte ergrimmt den Kopf und biss die Zähne zusammen. Die Sehnen an seiner Schläfe zuckten. »Das ist die Art von Unrecht, die ich zu bekämpfen habe, aber wie soll ich das tun, wenn ich hier in der Zelle schmachte?« »Da unten kannst du nichts ausrichten«, stimmte das junge Mädchen entschieden zu. »Aber wenn du dich mir und meiner Sache verpflichtest, werde ich dich befreien.« Vergessen fiel die Brotkruste auf den Boden. »Ich soll mich dir und deiner Sache verpflichten? Wer bist du, und was ist deine Sache?« »Ich bin nur ein Kind, das frei sein will. Meine Sache ist die Verteidigung meines Vaters. Wenn du im nächsten Turnier für ihn kämpfst, dann wird er als Preis meine Freiheit gewinnen.« Hoffnung glomm in Lancelots Augen. Seit er unter dem Apfelbaum in Schlaf gefallen war, hatte er nicht mehr so empfunden. »Dann verpflichte ich mich, dich zu verteidigen, mein Kind, und deinem Vater zu helfen, die nächsten Wettkämpfe zu gewinnen, auf dass du die Freiheit erlangst.« »Du musst dich ganz und gar und unwiderruflich verpflichten«, drängte sie, und ihre Augen waren scharf wie Dolche. »Ganz und gar.«
»Dann führe ich dich morgen in der Dämmerung, wenn die Hexen schlafen, aus diesem Verlies heraus. Wir gehen durch die zwölf ver 68
schlossenen Tore, und dort setzt du dich auf dein Pferd. Du reitest zu einem zehn Meilen entfernten Kloster und bereitest dich dort auf die Turnierkämpfe vor.« »Zwölf verschlossene Tore«, wiederholte Lancelot. Das Mädchen nickte ernst. »Dies war einst eine Kirche, die für jeden Apostel ein Tor hatte und einen besonderen Schlüssel für den heiligen Petrus. Jetzt ist es die Burg der Hexen und ich habe Petrus' Schlüssel.« Lancelot lächelte. »Ich bin froh dich zu kennen, mein Kind - ein Geschöpf, das von der Hexenkraft ringsum unberührt bleibt.« Der durchdringende Blick wurde noch ernster, als er ohnehin schon war. »Du missverstehst mich, Lancelot. Ich bin genau wie diese vier Königinnen, nur bin ich jung und keine Königin. Ich beneide sie um ihre Macht und hoffe sie eines Tages selbst zu gewinnen. Um ihnen ebenbürtig zu werden, muss ich vor ihnen fliehen, und das musst auch du.« Offenen Mundes betrachtete Lancelot das Mädchen. Schlank wie ein Pfahl, jung wie ein Traum, konnte es sich mit ihm verbünden, weil es noch nicht aufgeblüht war. Wenn es aber so weit war, dann waren sie so gegensätzlich und doch so untrennbar wie die Rose und die Biene. »Ich werde dich in der Morgendämmerung erwarten, mein Kind, und ich will dich nicht enttäuschen.« Ein einziges Wort nur war die Antwort. »Gut.« Morgan erwachte in der Dämmerung. Unter Wolfsfell und Wolle und Leinen streckte sie sich geschmeidig wie eine Katze. Sollte Lancelot sie für ein Geschöpf der Nacht halten. Katzen galten als Nachtwesen, und doch konnten sie schlafen und wachen, wie es ihnen beliebte. Genau wie Morgan. Sie warf die Decken zurück und stand auf. Die kalte Morgenluft traf ihre Haut wie ein Schlag, sie bekam eine Gänsehaut. Sie gähnte und ging zum Kamin. Das Feuer war erloschen, nur noch Asche war dort. Sie hob einen Ulmenast, steckte ihn in die Feuerkiste und blies. Nach wenigen Augenblicken erwachten die Flammen und leckten am Holz. 68
Morgan stocherte im Feuer, doch sie war nicht mehr Morgan. Während sie nackt übers Feuer gebeugt stand, veränderte sich ihr Körper. Sie wurde ein paar Handbreit kleiner und erheblich schmaler. Die großen Brüste und die Hüften, die Kinder getragen hatten, verschwanden und wichen der Figur eines Mädchens. Es geziemte sich nicht, dass die Königin das Feuer versorgte. Das mussten die Dienerinnen tun. Das Feuer brannte munter, als Morgan sich aufrichtete und das Hemd und den Rock anzog, die sie am Abend zuvor getragen hatte. Sie langte in die Hüfttasche und fand den Schlüssel. Er konnte jede der zwölf Türen öffnen, so konnte sie zu Lancelot gelangen. Sie seufzte und erlaubte sich den mädchenhaften Kitzel, verträumt an ihren Liebsten zu denken. Ja, sie wollte die zwölf Schlösser öffnen, die zu ihm führten, und er würde die Arme um sie legen, und auf einen Schlag wären die Intrigen des letzten Jahrzehnts zunichte gemacht. So träumte die Jugend. In einem jugendlichen Körper versteckt, konnte Morgan sich solche Träume erlauben. Die Wahrheit freilich sah erheblich unfreundlicher aus. Lancelot musste freiwillig in ihr Bett kommen, oder aber er musste vernichtet werden.
Das Mädchen zuckte mit den Achseln und schüttelte diese schwierigen Gedanken ab. Es zog die Tracht einer Dienerin an, ging zur Tür der königlichen Gemächer, lauschte einen Augenblick und öffnete sie. Dahinter lag ein großer freier Raum. Morgan schritt unter Deckengebälk und zwischen Freskogemälden dahin. Allerdings hatte sie keinen Blick für ihre Umgebung, denn sie war zu den Verliesen unterwegs. Ihr Sieg war nahe. Sie kam am Morgen, wie sie es versprochen hatte. Lancelot seufzte erfreut. Wie gerade sie sich hielt. Frauen hatten runde Formen, und Männer waren kantig. Kinder aber, alle Kinder, waren gerade. »Ich hoffe nur, meine Liebe«, sagte er mit gedämpfter Stimme, und es klang fast wie ein Gebet, »dass die Tugendhaftigkeit deines Vaters deiner eigenen entspricht.« Sie starrte ihn mit Rehaugen an. »Mein Vater ist ein großer Mann 69
und ein großer König, doch die Herzen der Männer sind nie so rein wie die Herzen ihrer Töchter. Und die Herzen der Könige sind nie so rein wie die Herzen der Männer.« Nickend nahm Lancelot ihre Weisheit zur Kenntnis. Wäre sie zwei Jahrzehnte älter gewesen, er hätte sie für eine verbitterte Jungfer gehalten, doch von ihren rosigen Lippen trank er die Worte wie Nektar. Sie hatte Recht. Besonders die Könige hatten etwas Korruptes an sich, und das galt ganz allgemein für alle anderen Männer. Es galt natürlich auch für Ritter wie ihn selbst. »Ich werde die Ehre deines Vaters verteidigen, weil du ihm Ehre gemacht hast, meine Liebe — ein unreiner Mann verteidigt einen unreinen König um einer makellosen Maid willen.« Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Mit einer Kraft, die der schmalen Gestalt Hohn sprach, zog das Mädchen das Gatter der Oubliette hoch. So stand es über ihm, das Tor mit der einen Hand und die Schlüssel mit der anderen haltend. Sein Umriss hob sich grell vor der schimmeligen Decke ab. »Jeder Mann, der von einem Mädchen gerettet wird, hält das Mädchen für makellos. Würdest du das Gleiche auch von einem Mädchen denken, das dich bedient hat?« Lancelot errötete. Nein, das würde er nicht denken. Seine Verruchtheit klebte an ihm wie der Wundbrand. Warum nur weckte dieses Mädchen Bewunderung und Schuldgefühle zugleich? Er zog es vor, die Frage nicht zu beantworten, sondern richtete sich einfach auf, sprang hoch und kletterte die modrige Wand der Oubliette hinauf. Das Vergessen. Er war froh, diesem Ort des Vergessens entfliehen zu können. Ein Mann, der in so einem Loch steckte, zählte nicht mehr. Was nützt die Stärke seiner Arme einem Mann, der in Vergessenheit gerät? Er zog sich hoch, bis er auf dem Bauch lag, und stemmte ein Knie auf den Boden, um aus der Grube zu steigen. Seine Rüstung klirrte. Der Gestank kam ihm in Gegenwart des Mädchens schlimmer vor denn je. »Verzeih mir, dass ich so besudelt bin«, sagte Lancelot. »Innerlich wie äußerlich. Ich kann dir nur meinen Schwertarm bieten, um deinen Vater und dich zu retten.« 69
Das Mädchen antwortete nicht, sondern drehte sich um und lief mit festem Schritt unter dem tropfenden Bogen hindurch. Er folgte ihm einen langen Gang hinunter. Am nächsten Tor - Eisenstangen in einem verzierten Rahmen - hielt es inne und schob den Schlüssel ins Schloss. »Ich muss mich natürlich reinigen, ehe ich im Kloster vorspreche«, sagte Lancelot nach einer Weile.
»Innerlich wie äußerlich«, wiederholte es seine eigenen Worte. Klirrend ging das Tor auf. »Äußerlich gewiss. Und im Kloster werde ich beichten und bereuen ...« »Du musst deine Rüstung säubern, weil sie großartig ist und weil sie sauber und nicht schmutzig sein soll. Deine Seele musst du aus dem nämlichen Grund reinigen. Einem hohen Ziel soll deine Rüstung dienen, doch einem noch höheren deine Seele. Verteidige meinen Vater, befreie mich, beweise dich, und überwinde die Sünden der Menschen.« Wie Befehle sprach es diese Worte aus, und so nahm Lancelot sie auf. Hier galt es echte Tugend zu verteidigen. Ja, auch Guinevere besaß diese Tugend, doch dieses unbefleckte Kind zu verteidigen war so, als könnte er Guinevere verteidigen, noch bevor sie zur Königin geworden war. Die Bosheit der Menschen zu überwinden und die Tugend der Frauen zu beschützen war das wichtigste Ziel im Leben. Er folgte seiner jungen Befreierin eine Treppe hinauf zum nächsten und wieder zum nächsten Tor. Zwölf Tore waren es, zwölf Apostel gab es. Ein einziger Schlüssel dazu. Wie Herkules nahm dieses Mädchen zwölf schwere Prüfungen auf sich, um ihn zu befreien. Lancelot musste wenigstens so viele bestehen, um dies zu danken. »Das werde ich, mein Kind, das will ich tun.« Rasa wartete schon im Wald hinter der Basilika. Der kluge Hengst war offenbar seinem Herrn gefolgt. Rasa machte eine tiefe Verbeugung, und Lancelot erwiderte die Geste. Es war gut, dass Rasa hier war und nicht irgendein Lasttier. Ein Freund rettete so den anderen. Lancelot bedankte sich bei seinem Freund, wusch sich im Fluss und stieg auf. 70
Immer wieder musste er an seinen Auftrag denken, als er sich von Morgan le Feys Palast entfernte. Er wunderte sich über die seltsamen Befehle des Kindes: »Verteidige meinen Vater. Befreie mich. Beweise dich. Überwinde die Sünden der Menschen.« Die Sünden der Menschen? Todsünden? Und beweise dich selbst? Er wollte nicht kämpfen, um König Bagdemagus oder sich selbst zu beweisen. Das war Unfug. Kein kindischer Unfug, wie es zu einem Mädchen gepasst hätte. Es war erwachsener Unfug. Ein Schleier von Worten, der verdecken sollte, was ungesagt blieb. Lancelot betrachtete das Rätsel von allen Seiten, doch es war, als sähe er immer nur das Spiegelbild seiner eigenen fragenden Augen. Nein, nicht seine Augen, sondern die des Mädchens. Es beobachtete ihn. Es wollte, dass er sich bewies und die Sünden der Menschen überwand. Lancelot schüttelte sich, um die Bilder zu vertreiben. Die Oubliette hatte ihm zugesetzt. Die lange Dunkelheit, der Gestank, das Loch des Vergessens. Er brauchte Luft und Licht, und auf Rasas Rücken konnte er beides in vollen Zügen genießen. Tief atmete er durch. Der Wind wehte um ihn und erfrischte seine Knochen und trocknete die letzten Wassertropfen auf Wappenrock und Tunika. Er ritt zehn Meilen durchs Sonnenlicht und war für sein Gefühl immer noch nicht weit genug von der entsetzlichen Basilika entfernt. Die Disteln im Tiefland von Rheged bildeten einen goldenen und purpurnen Teppich unter Rasas Hufen. Hinter den Weiden der Schafe erstreckte sich ein grüner Irrgarten von Hecken und dahinter wieder ein braunes Labyrinth voll Eichen. Hinter alledem lag endlich das Ziel, das er erreichen wollte: die Abtei der Verschwendeten Narde. Der Name ging auf die Dirne zurück, die über dem Kopf Jesu ein Vermögen an Parfüm gesprenkelt und ihn als Erlöser ausgerufen hatte. Als seine Jünger Einwände erhoben hatten, hatte er erwidert: »Die Armen habt ihr allezeit bei euch, und wenn ihr wollt, könnt
ihr ihnen wohl tun; mich aber habt ihr nicht allezeit.« Im Gedenken an das göttliche Vorbild übten sich die Äbte des Klosters in ritueller Armut, die von gelegentlichen Ausbrüchen der Prasserei unterbrochen wurde - sterbliche Bedürftigkeit, erleichtert durch göttlichen Eingriff. Es 71
war sehr stimmig, dass er dort einen kleinen König treffen sollte, der gerade lange genug leben wollte, um zu sehen, dass sein Schicksal sich doch noch wendete. Lancelot sollte diese Schicksalswende herbeiführen. Er ritt mit Rasa einen von Bäumen gesäumten Weg hinauf und sah sich ringsum auf den Lichtungen um. Sie waren mit wenig kunstvoll geschnitzten Statuen von Heiligen geschmückt, jede an einem Zedernpfahl befestigt, der tief in den Boden getrieben war. Die Heiligen vermehrten sich offenbar wie die Kaninchen. Am Ende der Straße erhob sich das alte Kloster als dunkler Schatten. Es war nicht älter als die Basilika, in der Morgan herrschte, doch dieses Gebäude zeigte viel deutlicher die Pockennarben und den Verschleiß hohen Alters. Efeu erklomm die Kalksteinmauern, Moos klebte an Ziegeln. Eine gesprungene Steinsäule war mit Eisenbändern umwickelt wie ein geschientes Bein. Lancelot zugehe Rasa vor einer steilen Treppe, die zur Kapelle führte. Er sprang aus dem Sattel und stieg hinauf. Rasa trottete zu einer Wiese in der Nähe und zupfte am Gras. Unterdessen hatte Lancelot das obere Ende der Treppe erreicht, zog die mit Eisen beschlagenen Türen auf und betrat das geschmückte Halbdunkel dahinter. Es roch nach Mehltau und Weihrauch, dem Duft des Christentums. Hinter dem Narthex erstreckte sich das Hauptschiff, dessen Kuppeldach von vier mächtigen Steinsäulen gestützt wurde. Der Altar lag im Osten hinter einem aus Zweigen geflochtenen Sichtschirm. Vor der Absperrung war ein Geländer angebracht, und dort kniete eine einsame Gestalt. Der samtene Mantel und das purpurne Hemd wiesen ihn als Laien aus. Die eingesunkenen Schultern und der geneigte graue Kopf verrieten Lancelot, dass er Bagdemagus gefunden hatte. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen schritt Lancelot zwischen dem stummen Kirchengestühl nach vorn. Das Klappern der Eisenschuhe auf dem gefliesten Boden ließ den Mann am Geländer zusammenzucken, obgleich er nicht aufschaute. Lancelot näherte sich ihm und konnte zusehen, wie die Schultern des Königs sich mit jedem Schritt weiter verkrampften, bis sie wie Fäuste neben den Ohren saßen. Als er das Geländer erreicht hatte, sank Lancelot neben dem 71
Mann auf die Knie, faltete die behandschuhten Hände und neigte den Kopf zum Gebet. Schließlich wandte ihm der König Bagdemagus ungläubig den Kopf zu. Der Bart und der Schnurrbart zuckten unter dichten Brauen. Er konnte beeindruckend und finster starren. Ohne sich ihm zuzuwenden, fragte Lancelot: »Nun denn, König Bagdemagus, worum betest du?« »Was geht dich das an?«, platzte der Mann heraus. »Es geht mich gewiss etwas an«, erwiderte Lancelot, und nun wendete er den Blick zum König. »Denn ich wurde geschickt, weil deine Gebete erhört wurden.« Der König dachte nach, Zähne knirschten hinter ledrigen Wangen. »Das kann nicht sein.« »Das kann nicht sein?«, fragte Lancelot laut. »Worum hast du denn gebetet?« »Um Demut, wenn du es schon wissen willst.«
»Um die Demut, die du brauchst, um die Niederlage gegen den König von North Galys zu tragen?« Zwei Feuer brannten in den Augen des Königs. »Woher weißt du ...« »Und worum noch hast du gebetet?« »Um Geduld«, antwortete der König, und seine Augen blickten in die Ferne. »Um die Geduld, die du brauchst, um die Rückkehr deiner Tochter abzuwarten.« König Bagdemagus war fassungslos. »W-wie hast du ...« »Und du betest um Vergebung für deinen Unterdrücker und in aller Bescheidenheit darum, dass du die ganze Welt erben mögest«, schloss Lancelot. Vorwurfsvoll wackelte er mit dem Finger. »Manchmal sagt Gott auch nein zu solchen Gebeten.« »Er sagt nein?« »Er sagt nein zur Demut, weil Gott will, dass du den König von North Galys vernichtest. Er sagt nein zur Geduld, weil er will, dass dir deine Tochter beim nächsten Turnier zurückgegeben wird. Er sagt nein zur Vergebung, weil wir die Krieger deiner Feinde vernichten werden.« 72
Ein blaues Licht irrlichterte in den Augen des Königs. »Insgeheim hatte ich auf solche Antworten gehofft.« »Gott kennt deine geheimsten Wünsche, oder besser, manche mit gottähnlichen Kräften kennen sie - nämlich diejenige, die mich geschickt hat.« Sprachlos vor Staunen konnte König Bagdemagus nur fragen: »Wer?« Lancelot lächelte. »Nun, deine Tochter natürlich.« 72
12. Kämpfer und Beobachter König Bagdemagus fühlte sich am Morgen wie ein alter Löwe, der noch einmal auf die Pirsch geht. Dies sollte sein Tag werden, da seine eigene Tochter ihm einen rettenden Engel geschickt hatte. Bagdemagus führte zwanzig Männer in schlichter Kluft auf eine taufeuchte Wiese. Am anderen Ende erschien der König von North Galys. Seine prächtig herausgeputzte Schar zählte zweimal zwanzig Köpfe. Eine dritte Gruppe erschien - drei Ritter der Tafelrunde, die ihren König und mit ihren Bannern sich selbst vertraten: Madore de la Porte, Gahalantyne und Mordred. Dieser Tag sollte über das Schicksal vieler Menschen entscheiden. Gewöhnlich wäre ein solcher Wettkampf auf Bagdemagus' Turnierplatz abgehalten worden, doch das Land gehörte ihm nicht mehr. Das heutige Turnier sollte deshalb auf einer Weide drei Meilen südlich der Abtei der Verschwendeten Narde stattfinden. Durch die Wetten bei den letzten Kämpfen hatte Bagdemagus sein Königreich und seine Tochter verloren. Dieses Mal stand sogar noch mehr auf dem Spiel: das Leben des Königs gegen die Rückgabe seiner Ländereien und die Freiheit. Ein so hoher Einsatz hatte eine große Zahl von Zuschauern angelockt. Einige Adlige waren mit Sitzgelegenheiten und Dienern gekommen, die meisten anderen ließen sich einfach im Gras nieder oder trieben sich am Waldrand herum. König Bagdemagus galoppierte gemächlich aufs Feld, umringt von seinen Kriegern. Von der anderen Seite näherte sich der König von North Galys mit seinem Gefolge. Bagdemagus lächelte hinter seinem Visier. Wenn er heute verlor, dann war sein Leben verwirkt, aber was war er schon ohne Land und Freiheit? Wenn er aber siegte - und mit Sir
Lancelot an der Seite konnte er nur siegen -, würde er alles zurückbekommen, was man ihm genommen hatte. 73
»Bist du bereit?«, tönte es aus dem roten und schwarzen Helm des Königs von North Galys. »Bist du bereit zu sterben?« Bagdemagus hob sein Visier. »Ich bin bereit zu töten.« »Viel Glück dann, alter Mann. Deine Zeit ist abgelaufen. Wir Jungen werden dir das Königreich aus den toten Händen reißen.« »Das wird schwierig werden mit meiner Lanze in deinem Bauch«, höhnte Bagdemagus. Der andere König schien sein großes schwarzes Ross nachzuahmen, als er abrupt den Kopf hochwarf. Dann ritt er zurück zum Ende des Turnierplatzes. »So wollen wir es hinter uns bringen. Wir werden keine Nachsicht walten lassen.« »Wir bitten auch nicht drum«, lautete die Antwort, die Bagdemagus gab. Auch er nahm jetzt sein Pferd herum. Seine Krieger folgten ihm bis zum Ende der Wiese. Dort stellten sie die Pferde auf und warteten, dass der Kampf beginne. Am anderen Ende des Feldes versetzte der König von North Galys einem Ritter der Tafelrunde — Mordred war es — einen Knuff an die Schulter und rief: »Wir fordern euch hiermit heraus.« Bagdemagus starrte seine eigenen Truppen an. Keiner war sonderlich erpicht darauf zu sterben. Alle waren sie gute Männer, an diesem bösen Tag hoffnungslos in der Unterzahl. Ein paar gaben sich der jugendlichen Täuschung hin und dünkten sich unsterblich. Sie wetteiferten miteinander, wer als Erster den Kampfplatz betreten dürfe. Beinahe aufs Geratewohl wählte Bagdemagus unter ihnen die Kämpfer aus. »Verteidige uns«, sagte er zu einem jungen Mann. »Beweise uns.« Der Krieger nickte dankbar und klappte sich das glänzende Visier vors Gesicht. Er nahm die Lanze aus dem Köcher, richtete sie und seinen Schild aus und gab dem Pferd die Sporen. Sir Mordred folgte seinem Beispiel. König Bagdemagus sah atemlos zu. Grassoden flogen hinter den galoppierenden Rössern hoch. Auf silbernen Schultern wurde die Hoffnung von Gore getragen. Der Feind ritt von der anderen Seite an. Mordred und sein Pferd wirkten klein und schwarz und wuchsen rasch, als sie sich näherten. 73
Lanzen wurden auf Herzen ausgerichtet. Spitzen verfingen sich krachend in Schilden. Eine Lanze — die von Gore — zerbrach. Irgendwie schaffte Mordred es trotz seines nutzlosen Arms, den Schild zu halten. Sein Speer traf das Ziel, rutschte vom Schild zum Brustharnisch, vom Brustharnisch zum Hals und setzte sich fest. Die Spitze stieß durch. Der junge unsterbliche Mann, so begierig darauf, für seinen alternden König zu streiten, war in einem Augenblick dahin. Er war nicht mehr als ein leerer Sack Haut. Sein Hals brach. Gehirn und Leib starben getrennt. Der Krieger stürzte mit der Speerspitze seines Feindes im Leib zu Boden. Blut spritzte auf und bedeckte ihn. Der Staub, den die Hufe der Pferde hochwarfen, blieb an ihm kleben. Sir Mordred ließ die zerbrochene Lanze los und ritt weiter. Der Speer bebte, als der tote Kämpfer auf den Boden prallte und sich überschlug. In den nächsten Sekunden brachen seine Knochen, gleich danach auch die Lanze. Er war ein guter Mann und ein guter Krieger, dachte König Bagdemagus.
Mordred ließ sein Ross vor der Streitmacht von Bagdemagus einen großen Halbkreis beschreiben. Als sie riefen und zischelten, winkte er zurück, als wäre er ihr geliebter König. Er stellte sich aufrecht in die Steigbügel und ritt auch noch an den übrigen Zuschauern vorbei, ehe er zu seinen eigenen Schlachtreihen zurückkehrte. Den Schildarm hielt er schlaff an seiner Seite. So galoppierte Mordred an dem Mann vorbei, den er gerade getötet hatte. »Er war ein guter Mann«, grollte König Bagdemagus. Prinz Meleagaunce zog die Zügel seines stampfenden Streitrosses scharf an und nahm das Tier in engem Kreis herum. Die Hufe wühlten den Staub vom Waldboden auf. Die schwarzen Augenbrauen starrten unter dem silbernen Helm hervor. »Hast du das gesehen? Ein glatter Mord war es. Ein himmelschreiender Mord. Es wird Zeit, dass wir eingreifen.« »Nein«, erwiderte Lancelot kurz und bündig. In die Farben von Bagdemagus gekleidet, warteten Lancelot und Rasa geduldig im 74
Schatten der Bäume. Die drei besten Krieger des Königs - einer von ihnen sein heißblütiger Sohn — wandten den Blick vom fernen Schlachtfeld und sahen Lancelot an. »Das Turnier hat gerade erst begonnen. Sollen der König von North Galys und seine Verbündeten denken, sie hätten schon gesiegt. Lass es auch die Zuschauer denken. Und dann erst greifen wir ein.« Ungläubig und aufgebracht starrte der junge Prinz ihn an. »Wir sollen sie einfach im Stich lassen und zusehen, wie sie sterben?« »Sie sind Krieger«, sagte Lancelot schlicht. »Wir können nicht ihre Schlachten kämpfen.« Meleagaunce biss die Zähne zusammen und klappte sein Visier zu. »Ich bin kein Feigling«, zischte er. »Ich greife an!« Er gab dem Pferd die Fersen, zog an den Zügeln und jagte es durch den Wald. Lancelot sah ihm unbewegt nach. Die anderen beiden Krieger blickten zwischen dem impulsiven Prinzen und dem gelassenen Ritter hin und her. Dann schnalzten auch sie und ritten dem Prinzen hinterher. Lancelot schüttelte den Kopf. Der Prinz besaß weder die Klugheit noch die Geduld seines Vaters, doch die Krieger waren auf ihn eingeschworen. Lancelot jedoch hatte sich König Bagdemagus verpflichtet. Er schnaubte resigniert und tätschelte Rasas Hals. Rasa nahm die Entscheidung nickend zur Kenntnis und folgte den anderen im Trab. Doch im Trab waren die anderen nicht mehr einzuholen. Meleagaunce ritt im gestreckten Galopp. Das Unterholz schlug gegen die Beine des Pferdes, die Hacken des Reiters bearbeiteten seine Flanken. Das Ross raste durch den schattigen Wald und brach auf die Wiese heraus. Es flog über eine Lichtung, hinter ihm wirbelten Blätter hoch wie ein Kometenschweif. Meleagaunces hitziger Angriff ließ die Zuschauer erschrocken aufmerken. Das Geplauder blieb ihnen im Hals stecken. Der Prinz trieb sein Pferd im Galopp gegen das eines wartenden Kriegers und drängte diesen aus der Kampfbahn. »Wenn sie ein Gemetzel haben wollen, dann sollen sie ihr Gemetzel bekommen«, brüllte Meleagaunce. Laut tönte es außerhalb seines Helms und beinahe ohrenbetäubend im Innern. Er hielt nicht einmal 74
an, sondern donnerte mit seinem Pferd die Kampfbahn entlang. Meleagaunce hob die Lanze aus dem Köcher und richtete sie vor sich aus. Sein Gegner, ein Mann von North Galys, trieb sein Pferd zum schnellen Schritt und dann zum Galopp an. Auch er senkte die Lanze und hob den Schild. Unter lautem Krachen und Splittern von Holz prallten sie aufeinander. Beide Lanzen trafen und setzten sich fest, Metall verbog sich. Meleagaunce war gut zehn Stein schwerer als sein Gegner. Die Lanze des Mannes aus Galys drückte seinen Harnisch gegen die Brust -doch dort lagen starke Muskeln über mehr als kräftigen Rippen. Das Holz gab nach. Meleagaunces Schaft jedoch stieß durch Stahl, Haut, Muskeln, Knochen und Herz. Meleagaunce ließ die Lanze los und ritt weiter. Seine Waffe fiel zusammen mit dem geschlagenen Feind zu Boden. Erst als er an ihm vorbei war, hielt er sein Pferd an. Er stellte sich in den Steigbügeln auf, zog die Zügel hart an, damit sein Pferd stieg, nahm den Helm ab und stieß einen wilden Siegesschrei aus. Warum müssen Männer so etwas tun?, dachte Guinevere, als Helfer den blutüberströmten Toten vom Schlachtfeld schleppten. Sie sind wie Hirsche im Wald, sie verdreschen Rivalen und wollen immer nur dominieren. Die Königin von Britannien zog den Schleier enger um sich. Sie wollte nicht von Lancelot erkannt werden. Sie wollte nichts weiter sein als irgendeine schöne Maid inmitten der neugierigen Menge. Männer taten, was Männer tun mussten, und Frauen taten, was Frauen tun mussten. Verschleiert, aber fasziniert beobachtete sie, wie Lancelot sich auf seinen Turnierkampf vorbereitete. Sie hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, seit er losgeritten war. Seine Reise sollte der Trennung dienen, doch Entfernungen waren machtlos gegen das Begehren. Und Entfernungen hatten keine Bedeutung für Guinevere. Sie war die Macht des Landes. Sie verkörperte den ewig jungfräulichen, fruchtbaren Überfluss Britanniens. Überfluss konnte Könige 75
machen, Not sie absetzen. Ein König mochte Soldaten und Priester und sogar Gott auf seiner Seite haben, doch ohne die Macht des Landes war er zum Untergang verurteilt. Artus herrschte im Land, doch er wurzelte in Guineveres Schoß. Sie selbst wandelte wiederum auf den unberechenbaren Wegen des Feenvolks. Sie konnte wie eine Schlafwandlerin durch Britanniens verträumte Anderwelt reisen und hier oder dort hervorschauen - auf den Feldern, wo Lionel gefallen war, in den Hainen unter der verwunschenen Burg Charyot, in der Abtei der Verschwendeten Narde und jetzt auf diesem Turnierplatz. Überall schaute sie mit jener Faszination, die Frauen fürs Wasser und Männer fürs Feuer empfinden. Ob er es wusste oder nicht, Lancelot hatte die Aura eines Urelements an sich. Nein, er wusste es nicht. Er konnte es nicht wissen. Er war kein Gott, der auf einem marmornen Ross thronte, sondern nur ein Mann, der mit seinem Pferd zusammenging, als wären sie ein einziges Wesen. Knie auf Rippen, Rückgrat auf Rückgrat, die Schultern über den Schultern und die Augen über den Augen, so kamen Tier und Mensch, Muskel und Knochen heran und näherten sich dem Ziel, das vor ihnen lag. Lancelots Speer schnitt eine gerade Linie durch die Luft. Die Pferde näherten sich einander. Wie auch die Lanzen. Speere schlugen auf Schilde.
Die Zuschauer sprangen begeistert auf, um zu schauen. Guinevere erhob sich wie alle anderen. Eine Lanze zerbrach, sie zersplitterte in tausend Stücke. Der zweite Schaft, Lancelots Eichenpfahl, krempelte den Schild des Gegners um und riss ihn aus dem Panzerhandschuh, glitt unter den Arm des Mannes und warf ihn aus dem Sattel. Er stürzte ins Gras. Guinevere atmete tief durch. Es war kein Keuchen, denn sie hatte genau diesen Stoß unzählige Male gesehen, seit Lancelot das erste Mal auf dem Kampfplatz in Camelot erschienen war. Er zielte immer auf den Schild, zerstörte ihn und ließ die Lanze dann unter den Arm des Gegners stechen. Nur selten war er darauf aus zu töten. Nicht aus Überraschung hatte Guinevere geseufzt, sondern vor Bewunderung. 76
Wenn die Welt doch nur mehr Krieger hätte wie diesen: tugendhaft mit den Lebenden und entschlossen, wenn er töten musste. Jetzt verstand sie auch, warum Männer dergleichen tun mussten: weil die Frauen beobachteten und richteten. Hinter Schleiern verborgen, beobachtete und richtete auch Morgan le Fey über die Ereignisse auf dem Kampfplatz. Natürlich war sie gekommen, um Mordred zu sehen. Welche Mutter wäre nicht gekommen und hätte ihrem Kind zugesehen, wie es auf Leben und Tod kämpfte? Trotz der zerstörten Hand war er bisher nicht gestürzt. Messer starben nicht, sie waren zum Töten da. Mordred war ein Messer. Seine Wettkämpfe waren langweilig, denn sie wusste, wer ihr Sohn war. Sie wusste, was er tun würde. Viel aufmerksamer aber beobachtete Morgan Lancelot. Ja, er war der Eine. Er führte ihren Plan aus, er kämpfte mit anderen Männern den rituellen Kampf um das Vorrecht der Fortpflanzung. Dennoch war Lancelot ihr ein großes Geheimnis. Die Kämpfer, die gegen ihn antraten, waren nahezu wertlos. Sie ritten mit bolzengeradem Rücken, steif wie ein Stück Holz. Lancelot hätte sie mühelos töten können, doch er verzichtete darauf. Er ließ sie leben. Nur ein geringerer Mann tötete solche schwachen Gegner — ein Mann wie Mordred. Mordred ritt gerade einen weiteren Mann nieder. Als zertretener Brei blieb der Besiegte unter einem Ross mit gebrochenen Beinen liegen. Diese tödlichen Siege Mordreds waren für die Zuschauer wie der Stundenschlag, sie bestimmten den Ablauf der Runden im Turnier. Die wahre Spannung aber erwachte um Viertel nach oder um halb oder um Viertel vor - wann immer Lancelot anritt, um zu kämpfen. Mordreds und Lancelots Kreise näherten sich einander. Unweigerlich kamen sie einander in den Turniergassen näher. Der große Töter musste sich dem großen Erretter stellen. Lancelot schien so eigenartig - jung und zugleich ehrwürdig, brillant in seiner zerkratzten Rüstung, ehrbar bei jedem Angriff. Er beugte sich im Sattel vor, zog die Hand aus dem Panzerhandschuh und tätschelte leicht sein Pferd, schien dem Geschöpf etwas ins Ohr zu 76
flüstern. Noch seltsamer, das Pferd reagierte mit einem tiefen Nicken. Ohne den leisesten Druck der Hacken schoss es los. Mordred war das genaue Gegenteil. Er peitschte seinen Rappen, als wollte er einen Sklaven zur Arbeit zwingen. Das Tier rannte viel eher, um dem zu entkommen, der auf ihm saß, als
um das zu gewinnen, was vor ihm lag. Mordred zielte mit der Lanze wie mit einem wütenden Finger, zitternd und voll ohnmächtiger Wut. Er stieß ein wildes Knurren aus. Lancelot richtete den Speer aus. Er flog Mordred entgegen. Hufe kratzten die Erde schartig. Lancelots Hengst rannte mit voller Geschwindigkeit, die Ohren angelegt und die Zähne gebleckt. Schultermuskeln spannten sich und zuckten. Uber ihnen nahm Lancelots Waffe ihr Ziel und wurde schnurgerade auf Mordred ausgerichtet. Morgan konnte nicht zulassen, dass ihr Sohn verletzt wurde. Sie wirkte ihre Magie über dem Kampfplatz, um den vollkommenen Krieger aus dem Gleichgewicht zu bringen. Lancelots Speer, der gerade noch den Schild des Gegners anvisiert hatte, irrte ein wenig ab. Er zielte jetzt auf Mordreds Brustharnisch, auf dessen Herz. In der Natur bringt eine Veränderung manchmal den sicheren Tod. Morgan lenkte ihren Zauberspruch um und konzentrierte sich auf die Lanze ihres Sohnes. Mit einem verzweifelten Keuchen konnte Lancelot den Speer wieder ausrichten. Er traf Mordreds Schild anstatt der Brustpanzerung. Das Ding wurde demoliert und weggerissen, genau wie Lancelot es gewünscht hatte. Die Spitze fuhr sauber unter Mordreds gelähmten Arm, und der Schaft kratzte an der Rüstung des Mannes entlang. Mordreds Lanze jedoch kam weit vom Ziel ab, prallte von der Kruppe des Pferdes ab und wurde harmlos abgelenkt. Mordreds gefühllose Finger ließen los. Die Zuschauer einschließlich Morgan sprangen auf, als der junge Mörder aus dem Sattel gefegt wurde. Beinahe um Lancelots Speer gewickelt, kippte Mordred vom Pferd. Er stürzte und krachte schwer auf den festgetretenen Boden. Mordred überschlug sich steif und störrisch. Morgan brauchte sich nicht groß zu fragen, was Mordred dachte. 77
Seine Gedanken waren die ihren. »Er ist der größte Ritter, der je gekämpft hat.« Es war nur die Bestätigung einer Tatsache, die ihr längst bekannt war. Nach einem langen Tag voller Kämpfe ritt Lancelot auf Rasa vor König Bagdemagus und dem König von North Galys. Es war klar, dass die beiden Monarchen keinerlei Zuneigung füreinander empfanden und ausschließlich Ehre und Geld im Sinn hatten. Beide hatten in diesem Turnier alles aufs Spiel gesetzt. Der König von North Galys hatte viel verloren — Ehre, Ländereien, Zolleinnahmen, Steuern und königliche Vorrechte. König Bagdemagus hatte alles gewonnen. Der wichtigste Preis aber war seine Tochter, die ihm zurückgegeben werden sollte. Die junge Prinzessin - kein bloßes Mädchen mehr, das in den Dienst von Königin Morgan gestellt worden war - hielt sich jetzt bei ihrem Vater und ihrem rotgesichtigen Bruder. Lancelot, auf Rasa sitzend, lächelte dem jungen Mädchen zu. Fragend erwiderte es seinen Blick, als wäre er ein Fremder. Lancelot wich den Blicken aus, stieg ab und kniete vor den Königen nieder. Dieser Tag war der Tag seines Sieges. Seine Lanze hatte niemanden getötet, doch er hatte eine ganze Reihe Feinde besiegt. Mit ihr hatte er König Bagdemagus' Familie wieder zusammengebracht. Doch als er den Blick hob, sah er gemischte Gefühle. Meleagaunce kochte vor Wut in seiner Rüstung. Er hielt fest die Lanze gepackt, die mit dem Blut zweier Männer besudelt war, und reckte trotzig das Kinn vor. Vielleicht hatte er das Gefühl, das Lob für den Sieg dieses Tages gebühre ihm.
Seine Schwester schaute inzwischen nicht mehr staunend, sondern ausgesprochen finster drein. Sie beugte sich zu ihrem Vater hinüber und flüsterte ihm hinter vorgehaltener Hand etwas zu. »Aber er hat jedes Recht, dich so anzusehen«, erwiderte König Bagdemagus lächelnd. »Immerhin hat er deine Freiheit erkämpft. Er ist Sir Lancelot von der Tafelrunde.« Lancelot erhob sich. Ihm war nun klar, dass das Mädchen für sich behalten wollte, welche Rolle es bei seiner Flucht gespielt hatte. 78
Bevor er auch nur ein Wort erwidern konnte, rauschte eine Schar junger Frauen herbei und umringte ihn. Sie waren ihm schon eine Weile gefolgt, doch mit Spitzen umhüllte Beine konnten nicht mithalten, wenn Rasa ausschritt. Erst als er abgestiegen und niedergekniet war, hatte Lancelot ihnen ein erreichbares Ziel geboten. In farbenfrohem Gedränge umringten sie ihn, beglückwünschten ihn und luden ihn mit hellen Stimmen ein. Lancelot bedankte sich nickend. Er wollte höflich sein. Die jungen Hofdamen waren allesamt hübsch - einige bereits voll aufgeblüht und andere mit Gaze ausgepolstert -, doch was sollte er ihnen sagen? Sie summten um ihn herum wie die Bienen und hatten Dinge im Sinn, die ihn nicht im Mindesten kümmerten. Nickend und lächelnd versuchte er, ihren Belagerungsring zu durchbrechen und wieder zu König Bagdemagus zu gelangen. Doch es wäre leichter gewesen, dem Würgegriff einer Schlange zu entgehen. Der Kreis der jungen Frauen schloss sich dicht um Lancelot. Er wich nach links aus und stieß gegen ein Mädchen, das höchstens dreizehn Jahre alt sein mochte. Während er sich entschuldigte, schloss sich schon wieder die Lücke auf der rechten Seite, und ein weiteres junges Geschöpf tauchte auf. Sie war es. In diesem Pulk junger Frauen stand eine, die nicht einfach irgendeine Frau war. Obwohl verschleiert und noch fern, sprachen ihre Augen deutlich zu ihm. Sie sagten ihm, wie stolz sie sei und dass sie warten werde. Noch wichtiger, die Augen sagten ihm auch, dass er beobachtet wurde. Und noch etwas anderes lag in diesen Augen. Konnte es etwa Eifersucht sein, da ihn diese jungen Frauen so dicht umringten? »Guinevere«, rief er und wollte ihr entgegengehen. Doch sie war verschwunden. Und abrupt und gemächlich zugleich wie ein Bühnenvorhang schloss sich der Kreis der Mädchen, wo sie eben noch gestanden hatte. Er strebte diesem Flecken entgegen, doch seine Hände fassten ins Leere. »Guinevere!«, rief er, um das Geschnatter zu übertönen. Mit schimmernden Schleiern drehte sich eine um - nicht Guinevere war es, sondern Königin Morgan. Seide umschmeichelte ihr Gesicht, und die Augen blitzten schelmisch. »Ich bin nicht sie, ich bin viel mehr 78
als sie. Nicht nur sie schaut zu, sondern auch ich.« Sie fasste seine Hände, gab ihm im Mahlstrom der Mädchen einen Halt, beugte sich vor, zog den Schleier zurück und drückte ihm einen langen Kuss auf die Lippen. »Doch die größte Prüfung steht dir noch bevor.« Dann war auch sie verschwunden - oder besser, sie verschwand nicht, sondern stellte sich neben Meleagaunce. Mit jedem Wort, das sie sprach, verlor die Flamme des Zorns, die in dem Königssohn brannte, an Kraft. Bald blickte Meleagaunce glücklich zum Gedränge, und seine Augen ruhten auf dem Flecken, auf dem Guinevere gestanden hatte. Er lächelte, und seine Zähne standen hervor wie die Rippen aus einem Schlachttier.
Lancelot schauderte. Er wich zurück, fast betäubt inmitten des munteren Schwarms. Dies war sein Tag. Er hatte den Sieg errungen, und doch war er nicht mehr gewesen als ein Offizier auf dem Schachbrett. Er hatte das Schachmatt nicht für sich selbst, sondern für einen verletzlichen König und seine allmächtige Königin erkämpft. 79
13. Auch Engel können fallen Lancelot und Rasa verließen wie von Furien gehetzt den eigenartigen Ort. Seit er unter dem Apfelbaum eingenickt war, stolperte er auf Geheiß unwirklicher Menschen durch unwirkliche Landschaften. Welcher König gewährt schon seiner Königin ein eigenes Schloss? Welcher König verwettet seine Prinzessin bei einem Turnier? Welche Hexe residiert in einer Basilika? Nichts von alledem war wirklich. Jeder Schritt, den Lancelot tat, wurde von jungen und alten Frauen gelenkt. Er wurde beobachtet und beurteilt und mit irgendeinem geheimnisvollen Gesamtergebnis verglichen. Sollte er für Morgan ein braver Junge sein? Oder ein würdiger Gemahl für Guinevere? Konnte er der Dienerin, die eine Prinzessin war, ein guter Wächter sein? Überall hatte er es mit Hexen zu tun. Sie prüften ihn, sie formten ihn, sie schmiedeten ihn in unergründlichen Abenteuern. Er hatte genug von ihnen. Er hatte Tante Brigid hinter den Gestaden von Avalon zurückgelassen und fast vergessen, er hatte Königin Guinevere verlassen und sich auf die Wanderungen der Ritterschaft begeben, um zu vergessen. Ja, er wollte sie alle vergessen. Er war ein Ritter. Ein Mann, der Männern diente. Lancelot redete zischelnd mit sich selbst und ritt durch schlafende Hügel und durch Bienenschwärme. Das Donnern von Rasas Hufen übertönte das Flüstern in den immergrünen Gehölzen. Hinter ihm erhob sich eine Staubwolke, und die wirbelnden Flocken schirmten ihn irgendwie von der Traumwelt ab, die er nun hinter sich ließ. Vor ihm erstreckte sich leerer Himmel über der Erde, der Horizont war eine wellige Linie, über die sich gerade die Sonne schob. Lancelot ritt eilig darauf zu. Er wollte noch vor Sonnenuntergang erheblich näher an Camelot sein. Ein heißes Feuer, eine sichere Senke und Rasas Sattel als Kopfkissen, dazu eine Decke, die ihn warm hielt, während Rasa rings um das 79
Lager graste und wachte, und über sich ein Baldachin von Sternen - das war es, was er wollte. Lancelot sehnte sich danach, allein zu sein. Viel zu viele Leute beobachteten ihn, erwarteten irgendetwas von ihm und richteten wissende Blicke auf ihn. Lancelot verlor seinen Wettlauf gegen die Sonne. Alle Menschen verlieren ihn. Er erreichte einen schönen kleinen Hügel und einen freundlichen Apfelbaum, zündete ein Feuer an und schlug sein Lager auf. Er aß etwas Reisebrot und ein paar Streifen getrocknetes Lamm, dazu trank er Wasser, in das er einen Spritzer Schnaps mischte, um es zu reinigen. Dann bettete er den Kopf auf das warme Leder seines Sattels und streckte sich unter dem offenen Himmel aus. Bald würden die ersten Sterne herauskommen, bald würde Lancelot schlafen. Am nächsten Morgen wollte er dorthin zurückkehren, wo er seinen Vetter Lionel zurückgelassen hatte. Ein voller Magen, ein warmes Feuer, ein treues Pferd und eine gute Tat für den nächsten Tag geplant - das war der Stoff, aus dem die Ritterschaft gemacht war. Ehe er sich's versah, war Lancelot eingeschlafen.
Wie immer träumte er von Guinevere. Eine Frau sprach mit ihm, eine alte Frau, eine weise Frau. Die Art, wie der Widerschein des Feuers auf ihrer Stirn spielte, wie ihre Zunge die Metaphern formte - selbst im Traum wusste er sofort, dass es Tante Brigid war. Sie erzählte ihm von Camelot, wie sie es schon früher an dem Herd aus Feldsteinen getan hatte. Ihre Worte brachten die Luft zum Schwingen, und zwischen ihnen formten sich Bilder. Heute sprach sie über Königin Guinevere. Guinevere wurde in einer grünen Senke geboren. Kein weißes Leinen gab es, sie zu betten, keine dampfenden Kessel und keine funkelnden Instrumente. Es war keine menschliche Geburt. Menschen mussten sich bei allen Dingen quälen und sogar schon ums Leben kämpfen, wenn sie noch die Wasser des Mutterleibs atmeten. Die Tuatha jedoch waren anders. Für das Feenvolk begann das Leben so sanft wie ein zarter Spross, der sich aus der sehnsüchtig wartenden Erde ans Licht schiebt. 80
Dort zwischen Taglilien und Veilchen wurde Guinevere geboren. Sie weinte. Alle Geschöpfe weinen, wenn sie ein Leben hinter sich lassen und in das nächste eintreten. Die Mutter, selbst eine Feenkönigin, hob das Mädchen aus der Schale, in der es geboren wurde, und hielt es umfangen. Ihr Vater beugte sich über die beiden und entfernte den Mutterkuchen, der Guinevere trug. Es war ein Zeichen. Sie sollte nicht nur eine große Königin des Feenvolks sein, sondern auch eine begnadete Heilerin. So sollte sie den Menschen Frieden und Einheit bringen. Lancelot beobachtete lächelnd die Geburt. In seinem Traumbewusstsein sah er das Mädchen durch die Augen des Vaters, berührte es durch die Arme der Mutter und ruhte in verzückter Gleichsetzung in ihrem eigenen Fleisch. Ihre Haut zu tragen fühlte sich so an, als trüge er seine eigene. Beide waren als Königskinder geboren und für den Thron bestimmt, beide wurden ewig von Menschen belagert, die sie prüfen wollten. Beide wurden zu Artus gezogen, um ihn zu lieben und ihm zu dienen. Ihre Seelen liefen in ein und demselben Ziel zusammen, sie verschmolzen miteinander. Ein Mann verlässt seine Mutter und klammert sich an die Frau, denn sie ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Doch plötzlich empfand er Schmerzen. Die gleiche Seele und das gleiche Fleisch zu teilen und doch so weit getrennt zu sein — es war, als hätte man ihn gehängt, auf die Streckbank gelegt und gevierteilt. Lancelot fuhr erschrocken auf. Sein Herz pochte wie wild. Er keuchte schwer in der kalten Nacht. Vom Feuer war nur noch rote Glut übrig, und die Sterne standen strahlend am Himmel. Eine riesige Gestalt verdeckte eine Ecke des Himmels. Die Gestalt wieherte beruhigend. »Rasa!«, keuchte Lancelot. Er packte den Sattel, stand auf und warf ihn auf Rasas Rücken. Auf diesem Sattel konnte er sicher sitzen, sicher beim Reiten und Kämpfen und nicht im Schlaf. Rasa konnte ohne weiteres durch die dunkelsten Winkel der Nacht laufen. Die Hufe sollten ihn zu dem Land tragen, in dem sein Unglück begonnen hatte. Dort irgendwo war 80
Lionel, und wenn er Lionel suchte, dann konnte er nicht zugleich Guinevere suchen. Eine Ablenkung, ja. Was hatten die Römer noch gleich benutzt - Brot und Spiele? -, um den Leuten jegliche Lust auf Rebellion auszutreiben? Lust auf Rebellion - wollte er das überhaupt? Wollte Lancelot wirklich Artus töten und Guinevere rauben? »Rasa«, sagte er noch einmal, dieses Mal fast flehend. Die Sattelgurte waren angezogen, das Gepäck verschnürt, das Halfter angelegt, und nun stieg der junge Ritter auf. Er ließ sich nicht einmal die Zeit, den zweiten Fuß in den Steigbügel zu schieben, ehe er das Pferd zu einem leichten Galopp antrieb. »Bring mich hier weg.« Wenn das nur möglich wäre. Lancelot fühlte sich verloren und hatte das Gefühl, er werde nie wieder irgendwo zu Hause sein. Rasas Beine fraßen bis zur Morgendämmerung Stunde um Stunde die Meilen. Als die Sonne in den Himmel stieg, lief er auf der Straße nach Winchester. Seine Hufe trommelten beharrlich, bis er die Böschung erreichte, wo Lancelot und Lionel zuvor die Straße verlassen hatten. Rasa lief quer durch taubenetzte Felder. Das Morgenlicht ließ den Zweizahn wie Diamanten schimmern und die Schafgarbe weißgolden glühen. Lancelot war blind für diese Schönheit. Er blickte an besprenkelten Hainen und blühenden Wiesen vorbei zum alten Apfelbaum, unter dem er gelegen hatte. Der Baum sah aus, als wäre ein Stück von Avalon hierher versetzt worden, das danach krebsartig zu grotesken Formen gewuchert war. Er war, wie Lancelot selbst, zu etwas Schrecklichem herangewachsen. Unter den duftenden Zweigen dieses Baums hatte Lancelot geschlummert, während irgendetwas Schlimmes Sir Lionel heimgesucht hatte. Vier Königinnen hatten ihn im Schlaf überrascht und fortgetragen wie ein erbeutetes Stück Fleisch. Er hatte die Nase voll vom Schlummern und Träumen. Er wollte sich nie mehr einfach forttragen lassen. Er wollte kämpfen und Lionel finden und vielleicht sogar sich selbst. Vor ihm erhob sich der alte Baum mit den weit gespannten Ästen. 81
Rasa tappte darauf zu. Die Äpfel waren gereift, seit sie das letzte Mal hier gewesen waren, und einige rochen sogar schon nach Apfelmost. Lancelot und sein Ross drangen in den duftenden Schatten ein. Er knirschte mit den Zähnen, als er die Früchte roch. Noch ein paar Schritte, und Rasa blieb im hohen Gras stehen und schnaubte. Lancelot sah sich um. In seinem Herzen pochte noch der Schlag lautloser Hufe. Er blickte zu den hügeligen Weiden im Osten. Ein Reiter näherte sich, ein Riese von Mann auf einem riesigen Pferd. Er trug grobe Kleidung und eine schwere Rüstung. Sein Ross war ungeschmückt. Von seinem Sattel führte ein Strick zu einem zweiten Pferd. Es war ein Wallach, der hinter dem mächtigen Pferd jedoch wie ein Einjähriger wirkte. Ein Mann lag verschnürt quer über dem Pferderücken. Er trug die feinen Tücher von Camelot und den Helmbusch von Lots Haus; alles war mit Blut besudelt. Als er zottiges Haar unter dem Helm hervorschauen sah, erkannte Lancelot den Mann als Sir Gaheris. Lancelot knirschte mit den Zähnen. Er wusste, wie es war, wenn man auf diese Weise weggeschleppt wurde. Er starrte Gaheris noch einen Augenblick nach, bevor ein Funkeln auf der Rüstung des Häschers seine Aufmerksamkeit erregte. Diese Art Rüstung kam ihm vertraut vor. Er erkannte die kräftigen Linien und die besonderen Einzelheiten. Sie entsprachen seiner eigenen Rüstung, die sächsischer Machart war.
Er trieb Rasa die Hacken in die Seiten, so besessen war er von seiner Wut, und spornte sein Pferd an. Rasa stieg, wieherte ärgerlich und galoppierte dem großen Krieger entgegen. Der Mann hob den Kopf, zog sein Schwert blank und hackte den Führstrick durch. Mit der anderen Hand packte er die Zügel, und sein riesiges Pferd kam herum. Wo eben noch ein Mann mit einem Schwert gewesen war, baute sich jetzt ein Krieger mit einer Lanze auf. Der Mann gab seinem Pferd die Sporen, und es galoppierte los. In nur wenigen Sekunden hatten Pferd und Reiter von gemächlichem Schritt zum Angriff in vollem Galopp gewechselt. Der Mann war nicht nur riesig, sondern auch schnell, und nicht nur brutal, sondern auch geschickt. 82
Den Augen des Kriegers war anzumerken, dass er glaubte, seinen Gegner wiederzuerkennen. Sein Gesicht verzerrte sich, und er trieb sein Pferd noch stärker an. Seine Lanze wurde ausgerichtet, so gerade und zielstrebig wie Lancelots eigene Waffe. Die beiden Schäfte glitten parallel nebeneinander her und erreichten gleichzeitig die Schilde des jeweiligen Gegners, um danach die Schultern zu treffen. Es war ein ohrenbetäubender Aufschlag. Aus vollem Galopp wurden beide abrupt angehalten. Ihre Pferde — der weiße Hengst und der schwarze Wallach — glitten unter ihnen weg. Einen Augenblick lang drehten sich die beiden Männer an den Enden ihrer verhakten Lanzen um einander. Die Beine schlugen hoch wie bei zwei Gliederpuppen. Blutende Schultern lösten sich von den Lanzenspitzen. Sie beschrieben fast einen vollen Kreis, ehe sie mitten auf der Wiese ins Gras fielen. Sauerklee klebte an ihnen, als die beiden Männer sich aufrichteten. Sie schienen wie Spiegelbilder ein und derselben Gestalt, denn sie trugen die gleiche Rüstung, sie hatten die gleiche Wunde, mit Blut und Staub gemalt. Trotz ihrer blutenden Schultern zogen sie die Schwerter. »Du wirst sterben für deine Verbrechen gegen die Tafelrunde«, knurrte Lancelot. Der riesige Krieger schüttelte langsam den Kopf, als er sich Lancelot näherte. Er antwortete mit dem harten Akzent der Sachsen. »Das höre ich nun schon einen ganzen Monat lang, und doch habe ich einen Ritter nach dem anderen bezwungen. Das einzige Verbrechen hier ist dein eigenes, Lancelot du Lac.« Blut rann auf Lancelot Ellenbogen herunter, und er hob das Schwert, um die Hand trocken zu halten »Du scheinst mich zu kennen, doch ich kenne dich nicht.« »O ja, Lancelot du Lac, ich weiß, wer du bist«, grollte der Krieger. »Und mich wirst du noch kennen lernen. Ich bin der Kriegsherr Turquine von Alles Horde. Ich habe hier in der Gegend eine Hügelfestung übernommen, weil ich dich finden und für dein Verbrechen töten wollte.« »Welches Verbrechen?« Turquine kam etwas näher. »Ich will es dir erklären.« Er sprang los, 82
Schulter und Ellenbogen zu einer geraden Linie vorgestreckt, und stieß mit voller Kraft mit dem Schwert zu. Lancelot nahm die eigene Klinge hoch. Mit knapper Not vermochte er den Angriff abzuwehren. Die beiden Kämpfer drehten sich umeinander, und die blutenden Schultern prallten gegeneinander. Dann taumelten sie wieder zurück und versuchten zu Atem zu kommen.
»Einen ganzen Monat lang habe ich fast einhundert Männer, die in Artus' Diensten standen, herausgefordert und getötet oder gefangen genommen. Viele von ihnen waren Ritter. Doch derjenige, den ich am meisten hasse, ist mir nicht begegnet - bis heute.« Dieses Mal gab es keinen Überraschungsangriff. Turquine marschierte einfach weiter, die Klinge über die gesunde Schulter gehoben, um einen Rückhand-schlag anzubringen. Lancelot zog sich zurück. Er hatte nicht die Kraft, einen solchen Schlag abzuwehren. Hätte er versucht, den Ellenbogen oder die ungeschützte Flanke des Kriegers anzugreifen, dann hätte er sich in Reichweite der Klinge begeben. Es war besser, Turquines Plan gegen ihn selbst zu wenden. Lancelot hob das Schwert. Turquine blieb augenblicklich stehen und betrachtete ihn mit eisenharten Augen. Jetzt war es ein Kampf der Nerven, nicht der schieren Körperkraft, und endlich war Lancelot im Vorteil. »Ich habe den letzten Monat damit verbracht, mir alle möglichen Streitereien darüber anzuhören, wer ich sei, und alle Arten von Unsinn zu ertragen. Ich gebe nicht viel auf dein Geschwätz.« Er unterstrich seine Bemerkung, indem er seine Klinge einen Halbkreis beschreiben ließ. Turquine fiel auf die Finte herein, er schlug voll zu. Lancelot wich zurück, um der Klinge des Mannes zu entgehen. Dann griff er seinerseits den Kriegsherrn an, der das Gleichgewicht verloren hatte. Lancelots Schwert traf mit einem Krachen Turquines Halsberge, eine genaue Kopie seiner eigenen. Die Klinge schnitt sogar durch den dicken sächsischen Stahl und das Schlüsselbein darunter und drang tief in die Schulter des Mannes ein. Blut quoll aus dem Schnitt und strömte über den Brustharnisch. Turquine starrte Lancelot ungläubig an. Das Schwert hing nutzlos 83
in der fühllosen Hand. Er konnte nur noch ein paar unartikulierte Laute von sich geben, ehe er umkippte. Wie ein gefällter Baum stürzte der Kriegsherr, steif und gerade, und landete mit lautem Scheppern auf dem Boden. Das Schwert lag jetzt weit entfernt von den zuckenden Fingern. Mit grimmigem Lächeln trat Lancelot näher und baute sich über seinem Feind auf. »Du hast mir noch nicht gesagt, was mein Verbrechen sein soll.« Lider zuckten über rot geäderten Augäpfeln. Zuerst starrte Turquine in den leeren Himmel, in die blaue und weiße Weite über ihm. Dann richtete er den Blick auf Lancelot. Mit letzter Kraft flüsterte er: »Du trägst die Rüstung meines Bruders. Du hast ihn getötet, jetzt hast du mich getötet.« Sir Gaheris erwachte auf der Seite liegend in einer Blumenwiese. Vögel schössen durch die Zweige der Bäume in der Nähe, und das Sonnenlicht wärmte ihn. Irgendjemand fummelte an den Seilen herum, die seine Hände und Füße fesselten - zweifellos sein Häscher. Es folgte ein Geräusch wie von einer Messerschneide, und seine Hände kamen frei. Gaheris faltete die Hände und drehte die Handgelenke, um den Blutstrom wieder in Gang zu bringen. Seine Hände prickelten taub. Wenn er nur zupacken könnte. Wenn er nur kämpfen könnte. Noch ein Ruck, und auch die Füße waren frei. Er wollte kämpfen. Er wollte kämpfend sterben. Gaheris rollte sich auf den Rücken und wollte sich aufrichten. Der Kriegsherr stieß ihn zurück - doch es war nicht der Kriegsherr. »Sir Lancelot! Oh, gepriesen sei die Mutter Gottes, du bist es! Ich dachte schon, es sei der Sachse.«
Lancelots blaue Augen sahen ihn durchdringend an. »Wir haben die gleiche Rüstung«, sagte er ruhig. »Wo ist er denn?«, fragte Gaheris besorgt. »Wie hast du ...« »Ich habe ihn getötet. Ich habe seinen Bruder getötet, und ich habe ihn getötet.« Gaheris seufzte ausgiebig. »Oh, die Mutter Gottes sei gepriesen.« »Er hat hier in der Gegend eine Hügelfestung«, erklärte Lancelot. 84
»Wir werden dorthin reiten, du und ich. Ich werde seine Rüstung tragen und sein Pferd nehmen und dich auf dem Rücken deines Pferdes führen. Seine Männer werden mich für ihn halten. Wir werden hineingelangen und unsere Brüder befreien.« Gaheris schüttelte den Kopf und strahlte dann. »Du bist ein Racheengel, Sir Lancelot.« »Selbst Engel können fallen, Sir Gaheris. Selbst Engel können fallen.« Lancelot ritt im Galopp zu dem mit Palisaden eingefriedeten Hügel. Hinter ihm flatterte Turquines Umhang, braun und schwarz wie der Zorn. An einem langen Führstrick folgte Gaheris' Pferd, das den scheinbar im Sattel festgebundenen Ritter trug. Rasa kam als Letzter und hielt sich dicht genug hinter den anderen, um wie ein weiteres geführtes Pferd zu wirken. Hinter den Palisaden bemerkten zwei Wächter ihren Herrn, der offenbar rasch näher kam. Sie sprangen los, hoben das Gittertor und zogen die Pflöcke heraus, mit denen die Türen blockiert wurden. Holz knarrte, als die primitiv gezimmerten Tore aufschwangen. Die Wächter standen zu beiden Seiten bereit, um Turquine zu grüßen. Erst im letzten Augenblick, als es schon zu spät war, erkannten sie ihren Irrtum. Lancelots Schwert hieb zu einer und Gaheris' Waffe zur anderen Seite. Noch während die Wächter am Tor, das sie gerade noch geschützt hatten, zu Boden sanken, stürmten Lancelot und Gaheris zur zweiten Palisade. Die Wächter, die dort postiert waren, öffneten nicht. Sie waren Zeuge des Schicksals ihrer Kameraden geworden. Einer stieß in ein Widderhorn, und der zweite legte einen Pfeil in den Bogen. Doch sie verließen sich zu sehr auf ihr Tor. »Rasa!«, rief Lancelot und winkte seinem Pferd. Der weiße Hengst wieherte vor Kampfeslust und schloss rasch zu den anderen Pferden auf. Er nickte in Richtung des Tors, drehte sich um und trat aus. Der Balken, der die Türen blockiert hatte, zerbarst. Scharniere wurden aus den Halterungen gerissen. Die Türen flogen 84
nach innen auf, der Hornstoß brach ab, und Bogen und Bogenschütze waren dahin. Aus einer Wolke von Holzsplittern kam Rasa wieder zum Vorschein, dicht hinter ihm ritten Lancelot und Gaheris. Sie galoppierten durch das Kriegslager hinter der zweiten Palisade. Etwa hundert zerlumpte Männer taumelten aus Zelten, legten eilig Rüstungen an und fuchtelten mit Schwertern herum. Lancelot und Gaheris verloren keine Zeit damit, die Männer einzeln zu bekämpfen. Wo immer sich ihnen einer entgegenstellte, wurde er von den Pferden niedergetrampelt. Vor ihnen erhob sich die letzte Palisade, eigentlich nur ein Lattenzaun, hinter dem die Ritter der Tafelrunde eingesperrt waren. Das Tor bestand jedoch nicht aus Holz, sondern aus Eisen, es war mit einem Schloss und einem Wärter gesichert. Den Ausbruch mochte es verhindern, doch nicht das Durchbrechen von außen nach innen.
Lancelot senkte die Lanze. Die Spitze zielte auf den Wächter. Dies war kein Ehrenhändel, denn dies waren keine ehrenhaften Gegner. Der Eichenspeer fand sein Ziel und traf blitzschnell. Der gepfählte Mann war auf der Stelle tot und blieb, an den Zaun genagelt, aufrecht stehen. Lancelot hielt den schwarzen Wallach an, sprang aus dem Sattel, nahm dem Mann den Schlüssel ab und schob ihn ins Schloss. Gleich darauf schwang das Eisentor auf. Zerlumpte, zerschlagene und halb verhungerte Ritter strömten heraus: Gawain, Brandeies, Galyrnde, Kay, Alydukis, Marhaus und unzählige weitere. »Tötet einen Mann und nehmt sein Schwert!«, rief Lancelot den Unbewaffneten zu. Die Ironie dieser Worte ging ihm gegen den Strich: Der ganze Kampf hatte damit begonnen, dass Lancelot einen Mann getötet und sein Schwert genommen hatte. Doch es war ein guter Kampfruf. »Tötet einen Mann und nehmt sein Schwert!«, stimmten die Gefangenen ein. Mit der Wildheit von Tieren, die lange genug gequält worden waren, fielen sie über ihre Häscher her. Bald schon konnten die leeren Hände Schwertgriffe packen, und nackte Schultern wurden mit blutigen Rüstungen bedeckt. Die Ritter der Tafelrunde erschlugen ihre Feinde und legten deren Panzer an. Lancelot stand benommen am Tor. War das die Ritterschaft? Ge 85
formt durchs Töten. Irgendwann hatte er vergessen, wer er war und wer er sein wollte. »Du hast uns das Leben gerettet«, rief Sir Lionel, als er sich durchs Tor zu ihm vorarbeitete. »Nein, um euer Leben müsst ihr schon selbst kämpfen«, erwiderte Lancelot. Lionel hielt kurz inne und holte tief Luft. »Wir werden diese Räuber in deinem Namen erschlagen.« Das war mehr, als Lancelot ertragen konnte. »Nein. Nehmt sie im Namen der Königin Guinevere gefangen und bringt sie zu ihr.« Lionel starrte ihn ungläubig an. »Was will sie denn mit solchen Räubern?« »Sie ist eine Heilerin«, erklärte Lancelot. »Sie wird ihre Seelen heilen.« 85
14. Tribut an die Königin »Die Ritter kehren von der Queste zurück!« Guinevere hob den Kopf vom Rand der Badewanne. Sie öffnete die Augen und kniff sie gleich wieder zusammen. Dampf stieg vom warmen Wasser auf, in dem sie lag. Sie hatte meditiert. Ein Bad war im Grunde ja auch nur ein Hexenkessel und der Mensch darin ein Opfer an das Land. Mächtig war das Wasser, besonders heißes Wasser, und es hatte ihren Geist weit über Britannien fliegen lassen. Sie suchte Lancelot, aber sie hatte ihn nicht finden können. Jetzt auf einmal dieser Ruf... »Die Ritter kehren von der Queste zurück!«, wiederholte der Rufer, der unten durch den Burghof lief. »Die Ritter kehren zurück ...«, wiederholte Guinevere bei sich. Sie holte tief Luft, als ihr die Bedeutung der Worte bewusst wurde. »Lancelot!« Sie stand auf. Wasser perlte von ihrem Körper ab, Dampf stieg von der Haut auf. Sie verließ die Wanne, rieb sich trocken und wand sich das Handtuch um den Kopf. Mit einem Knall ging die Tür ihrer Gemächer auf, und jemand schritt eilig herein. Mit klopfendem Herzen drehte Guinevere sich um — und sah ihre Kammerzofe.
Die junge Frau brachte weitere Handtücher, ein Kleid, Unterwäsche und ein Kästchen mit den Kämmen, Steckern und Salben - all das Zauberzubehör, das man zu einem ordentlichen Kopfputz brauchte. Guinevere wehrte die Frau mit einer Handbewegung ab. »Keine Zeit.« Sie ging zu ihrem Kleiderschrank, öffnete die Tür und nahm ein feuerrotes Kleid heraus, zog das Handtuch vom Kopf und streifte sich das Kleid über. Während die Zofe die Säume glättete, fuhr Guinevere sich mit einem Kamm durchs Haar. Tropfen fielen auf den Kragen. 86
»Aber Hoheit«, sagte die Zofe schwach, »so könnt Ihr nicht auftreten. Ihr seht überhaupt nicht wie eine Königin aus, sondern wie eine Frau, die gerade aus dem Bad gestiegen ist.« »So will ich auch aussehen.« Guinevere steckte die Füße in zwei zierliche Sandalen und ging zum Fenster. Hinter dem Rosengarten und dem Burghof erstrahlte Camelot. Uber den Platz marschierte ein langer Zug — schätzungsweise fünfzig Krieger, fünfzig Infanteristen und fünfzig Gefangene. Guinevere konnte die Banner erkennen. Das Haus Lothian war dabei, auch Chertsey, Tintagel und Caerleon. Aber wo war Avalon? Guinevere drehte sich um und ging zur Tür. »Danke«, sagte sie zu dem Mädchen und trat in den Flur hinaus. Sie lief durch vertraute Gänge, während ihre Gedanken neue Wege beschritten. Was sollte sie zu ihm sagen? Endlich, nach so vielen Monaten, kehrte er von seiner Mission zurück. Er hatte sich selbst verbannt, sie hatte ihn verbannt. Was sollten sie einander sagen, wenn sie sich jetzt wieder sahen? Auch wenn ihr Herz in der Brust pochte, blieb Guineveres Miene äußerlich ruhig und gefasst. Sie wollte nichts sagen, das Artus und ihr selbst zur Schande gereichen konnte. Sie wollte niemandem, nicht einmal Lancelot, die Tiefe ihrer Gefühle offenbaren. Aus steinernen Gängen trat sie aufs Gras ins Sonnenlicht hinaus. Die erste Herbstkälte gab der Luft einen frischen Stich. Sie eilte über den Hof. Auch andere liefen begierig zu den Palasttoren, den sich nähernden Rittern und Kriegern entgegen. Stallburschen rannten zwischen kläffenden Hunden umher, Köche öffneten Küchenfester und lugten heraus. Alte Männer ließen gezogene Streichhölzer unbeachtet auf Fässern liegen. Junge Frauen mit Spitzenschleiern schwebten herbei. Alle Menschen in Camelot kamen, um die Rückkehr der Ritter zu sehen, als herrschte Krieg statt Frieden im Land. Die Vorhut hatte den mit Geweihen geschmückten Torbogen erreicht, der durch die Palastmauer führte. Sie waren schon abgestiegen und hatten die Pferde draußen gelassen. Der riesige, weise Gawain kam als Erster, vielleicht weil seine Beine die längsten waren. Neben ihm schritten seine Brüder Brandeies, Lionel und eine Reihe anderer. 86
Guinevere begrüßte sie lächelnd, doch mit den Augen suchte sie das Gedränge hinter ihnen ab. »Seid gegrüßt, tapfere Ritter. Über welche Abenteuer könnt ihr uns berichten?« Gawain näherte sich ihr, fiel auf ein Knie und neigte den Kopf. »Abenteuer gab es wenig, es sei denn, man will das Schmachten hinter einem Zaun als solches bezeichnen. Erst als Lancelot uns befreite, konnten wir wirklich kämpfen.« Er deutete hinter sich. »Diese Gefangenen übergeben wir Euch als Beute des Kampfes.« »Lancelot?«, hakte Guinevere nach.
Gawain nickte. »Er tötete den Krieger, der uns gefangen hielt. Nur mit Gaheris an seiner Seite bezwang er hundert Männer und konnte uns befreien. Dann erklärte er, die Gefangenen seien ein Tribut an Euch.« »Wo ist er denn?« »Wer?« »Sir Lancelot«, gab sie ein wenig zu scharf zurück. Gawain nickte. »Er ist noch unterwegs, meine Königin. Er sagte, er könne nicht zu Euch zurückkehren und wolle daher diese fünfzig Gefangenen - einen für jeden Tag seiner Abwesenheit - seiner Königin als Tribut senden.« Es war eine grausame Ironie. Statt den einen Mann zu sehen, den sie sehen wollte, bekam sie es mit fünfzig armen Teufeln zu tun. »Was soll ich mit ihnen anfangen?«, platzte Guinevere heraus. Gawain zuckte mit den Achseln. »Er sagte, Ihr seid eine Heilerin. Wenn überhaupt jemand die Seelen dieser Männer heilen könne, dann Ihr.« Lancelot ritt unter stürmischem Märzhimmel dahin. Es war ein langer Winter gewesen, den er fern von Camelot verbracht hatte. Grau waren die Tage, noch grauer Lancelots Herz. Keine Turniere und kein Schwertduell vermochten seine Stimmung zu heben. Doch die Kümmernisse seiner Seele konnten seinen Schwertarm nicht aufhalten. Er mähte Schurken nieder, wie ein Bauer den Winterweizen mäht. Er schickte sie in Gruppen als Gaben an die Königin. Sie kamen ihr nahe, er aber wagte es nicht. 87
Sie zerstörte ihn. Es war nicht nur ihre Schönheit oder ihre Klugheit oder ihre Eleganz. Es war ihr ganzes Wesen. Irgendwie führte schon ihre bloße Gegenwart dazu, dass er sich selbst und dem König untreu wurde. Sie zerschnitt ihn in zwei Hälften und schickte sie gegeneinander in den Krieg. Wenn sie nicht in der Nähe war, dann war er wieder ganz der Alte und eins mit sich, doch er konnte in ganz Britannien nichts finden, für das zu leben es sich lohnte. Rasa schnaubte, sein Atem stand grau über der schlammigen Erde. Von den Knien abwärts war alles braun gefärbt. Der große Hengst hatte wacker die Heldentaten seines Herrn begleitet und schien jetzt ähnlich niedergeschlagen. Niemand konnte Pferd und Reiter widerstehen, und doch büßten sie ihre Standhaftigkeit ein. Rasa tappte über eine ausgewaschene Straße, die sich nach der Schneeschmelze in einen Wasserlauf verwandelt hatte, und wechselte auf eine Wiese, die wie ein Gebirgspass zwischen zwei Waldstücken lag. Es war ein idealer Ort für einen Hinterhalt, doch Lancelot achtete schon lange nicht mehr auf so etwas. Fünf hatte er überlebt, und er war nicht einmal sicher, ob er auch den sechsten Hinterhalt überleben wollte. Mitten auf der Lichtung stand eine knorrige Eiche. Die gichtigen Äste reckten sich wie Krallen stumm zum Himmel. Selbst die braunen Blätter, die den Winter überdauert hatten, waren von den Frühlingswinden fortgerissen worden. Doch war der Baum nicht völlig ohne Leben. Auf den Ästen zappelte etwas Fedriges. Vor dem Stamm reckte eine Frau in lederner Jagdkleidung flehend die Hände nach oben. »Was ist das?«, murmelte Lancelot. Rasa antwortete mit einem Kopfschütteln. Die Frau schlang die Arme um den dicken Stamm, krallte die Hände in die Borke und wollte hinaufklettern. Hoch über ihr schrie der Vogel, dem Laut nach ein Falke.
Lancelot schüttelte besorgt den Kopf. »Da ist gewiss meine Hilfe nötig - die Gnade des Königs und so weiter. Was meinst du, Rasa? Wilderer? Nein, der Lederkleidung nach ist sie eine Adlige ...« Der Falke flatterte ohnmächtig. Die Bänder an seinen Füßen hat 88
ten sich im Geäst der Eiche verfangen. Wie um die Dramatik der heiklen Lage noch zu verstärken, verlor die Frau den Halt, rutschte am Stamm herunter und fiel auf den Rücken. Lancelot stöhnte. »Oh, ich verstehe. >Mein armer Vogel hat sich im Baum verfangen, und ich komme nicht hinauf, um ihn zu retten.< Aber wie soll mir das gelingen, wenn ich die volle Rüstung trage?« Die Frau rappelte sich wieder auf, und erst jetzt schien sie Lancelot zu sehen. Sie presste die zitternden Hände an die Brust und schritt ihm entgegen. »Ein Ritter! Oh, ich bin gerettet!« Lancelot lächelte etwas verkniffen. »Du scheinst Schwierigkeiten mit deinem Vogel zu haben.« Durch lange schwarze Haarsträhnen hindurch starrte sie ihn an. Irgendein Ausdruck lag in ihren Augen, Empörung oder Furcht vielleicht. »Er gehört meinem Mann, der zu Gewalttätigkeiten neigt. Wenn er herausfindet, dass ich mit seinem Vogel gejagt habe, dann schneidet er mir die Kehle durch. Und wie du ja siehst, kann ich nicht den Baum hochklettern.« Lancelot nickte. Er ritt bis unter den niedrigsten Ast der Eiche und sah skeptisch den Stamm hinauf, der noch feucht vom Tau nach dem Winterschnee war. Der Falke hatte sich tatsächlich hoffnungslos in den Zweigen verfangen. Lancelot nahm den Helm hab und hängte ihn über den Sattel. Er löste den Schwertgurt, den Wappenrock, den Brustharnisch und das Kettenhemd, bis er leicht genug für den Aufstieg war. »Wenn ich das alles abgelegt habe, werde ich hochspringen können.« Die Frau lächelte nicht, sondern sah ihm gespannt zu. Erheblich erleichtert und im Märzwind frierend, stellte Lancelot sich auf den Sattel. Er nahm alle Kraft zusammen, sprang hoch und packte den Ast. Unten krachte es. Rasa stieß ein schrilles Wiehern aus und schoss los. Ein langer roter Streifen war auf seinem Rumpf zu sehen. Er raste in den Wald und verschwand in einer Senke. Mit ihm Lancelots Schwert und die Rüstung. Am Ast hängend, verdrehte Lancelot den Kopf, um zu sehen, wer sein Pferd geschlagen hatte. 88
Ein Krieger in schlecht sitzender Rüstung tauchte aus seinem Versteck hinter einer Fichte auf. Er wickelte die Peitschenschnur zu einem Ring zusammen und hängte sie sich an die Hüfte. Dann zog er sein Schwert und näherte sich Lancelot. Ein Lächeln teilte das schmale Gesicht und den Stoppelbart. Lancelot sah die Frau böse an. »Was hast du mir angetan?« »Nur das, was ich von ihr erbeten habe«, erwiderte der Krieger. Der Zorn verlieh Lancelot ungeahnte Kräfte, und er zog sich auf den Ast, um außer Reichweite des Mannes zu kommen. »Was bist du nur für ein Krieger, dass du einen wehrlosen Mann angreifst?« »Ich bin ein lebendiger Krieger«, knurrte der Mann. »Und du bist bald ein toter.« »Ich halte es eine ganze Weile hier auf dem Baum aus.«
Wieder lächelte der Mann. Dann schüttelte er den Kopf. »Nicht im März und nicht mit dieser Bekleidung.« »Vielleicht sollte ich auch meine Aufgabe beenden und zu deinem Falken klettern, um sein Leben gegen meines einzutauschen.« Jetzt schien der Mann ernstlich verstimmt, doch er sagte: »Nur zu, Lancelot. Töte meinen Falken. Das ist ein kleiner Preis für den Ruhm, den größten Ritter der Tafelrunde getötet zu haben.« Lancelot betrachtete die unteren Zweige. Viele ragten ein gutes Stück waagerecht vom Stamm nach außen. Viele waren dick genug, um bis zum Ende sein Gewicht zu tragen. Der Krieger hatte seine Blicke bemerkt. »Nur zu, Herr Ritter. Spring und sieh zu, ob du mir so entkommen kannst.« Lancelot kletterte achselzuckend auf einen benachbarten Ast, den dicksten und längsten im unteren Teil des Baumes. »Also gut.« Er holte tief Luft und sprang los. Elegant landete er auf dem Ast und rannte auf ihm entlang, solange er trug. Der Krieger starrte ihm ungläubig nach, dann lief er unter dem Ast entlang, um Lancelot abzufangen. Der Ast wurde dünner. Er federte bei jedem Schritt. So weit am Ende, wie er es wagte, setzte Lancelot noch einmal beide Füße auf und sprang. Der Ast schleuderte ihn aus dem Baum heraus. Mit gespreizten Beinen flog er in einem weiten Bogen und landete rittlings 89
in einem vertrauten Sattel, der auf einem muskulösen weißen Rücken saß. Rasa wieherte und drehte sich um. Lancelot zog sein Sachsenschwert. Mitten im Schritt fuhr es auf den überraschten Mann nieder, durchschlug die Schichten des Helms und schnitt ihm den Kopf von den Schultern. Der Körper blieb noch einen Augenblick stehen, während das Leben aus ihm sprudelte. Kreischend rannte die Frau zu ihrem erschlagenen Ehemann. »Was hast du mir angetan?« »Nur das, was du von mir erbeten hast«, erwiderte Lancelot und zielte mit dem blutigen Schwert auf sie. »Und jetzt habe ich eine Aufgabe für dich.« »Und dann hat er meinem Mann den Kopf abgeschlagen«, berichtete die Frau. Tränen klebten das schwarze Haar an ihre Wangen. Mit weiten, forschenden Augen starrte sie zur Königin Guinevere empor, die auf dem Thron von Camelot saß. Die Frau rang die Hände und setzte sich auf die Hacken. Vom Reisemantel tropfte es auf den Marmorboden. »Er hat mich gebeten, mit dem Schmerz meines Verlusts zu dir zu kommen und meine Geschichte zu erzählen.« Guinevere starrte die Bittstellerin verblüfft an. »Warum denn?« »Er sagte, wenn ich nicht herkäme oder wenn ich löge, dann werde er wiederkommen und ...« »Nein«, unterbrach Guinevere. »Warum wollte er, dass du zu mir kommst?« »Der Rieht...«, setzte die Frau an. Das Wort blieb ihr im Hals stecken. Sie legte die Stirn auf den Marmorboden. Ihr Haar lag um den Kopf wie ein schwarzer Stern. Richtspruch war das Wort, das der Frau im Hals stecken geblieben war. Sie war in der Erwartung gekommen, für ihr Verbrechen büßen zu müssen. Guinevere sah sie scharf an. Warum hatte Lancelot die Frau geschickt, damit ein Urteil über sie gesprochen wurde? Hatte er nicht schon selbst gerichtet und sie bestraft? Vielleicht hatte er sie geschickt, damit die Königin Gnade walten lassen konnte - die Seele 89
und den Leib heilen -, doch warum hatte er ihr vorher diese seltsame Strafe auferlegt? »Ich verstehe es nicht«, murmelte Guinevere. Die Frau hob das bleiche Gesicht. »Ich hatte keinen Streit mit Sir Lancelot, und ich hätte es nicht getan, wenn mich mein brutaler Mann nicht gezwungen hätte. Er sagte, er werde mich töten, wenn ich ihm nicht hülfe, Lancelot in eine Falle zu locken.« Als sie den skeptischen Blick der Königin bemerkte, langte die Frau zum Kragen des Reisemantels, den sie trug, und zog ihn vom Hals ab. Unter dem Leinen kamen die Striemen zum Vorschein, wie sie von Peitschenschlägen gerissen werden. Guineveres Magen krampfte sich zusammen. Vielleicht hatte Lancelot die Frau geschickt, damit sie geheilt werde. »Es scheint mir, als hätte Lancelot dir den größten Gefallen getan, den man dir nur tun konnte. Dein Gatte war ein Ungeheuer, das den Tod verdient hat.« »Aber er war mein Mann, und ich habe ihn geliebt«, erwiderte die Frau schlicht. Welch seltsame Regeln es im Ehebett doch gab. »Gesetz und Liebe sind kein Grund, in einer Ehe auszuharren, die dich umbringt.« Nun erkannte Guinevere, warum Lancelot ihr diese Frau geschickt hatte. Sie schauderte — und wusste nicht zu sagen, ob vor Entsetzen oder Entzücken. »Ich weiß, dass du für das, was du Lancelot angetan hast, eine Strafe erwartest, aber du hast schon eine Strafe erhalten, die dich dein Leben lang nicht mehr loslassen wird. Ich will dich nicht weiter zerreißen. Es ist Zeit, dich wieder heil zu machen.« Die Tränen der Frau waren versiegt, doch jetzt schien sie trostloser denn je. »Ohne ihn werde ich nie wieder heil sein.« Der Sommer küsste das Land. Kleine grüne Äpfel hingen unter taufeuchten Blättern. Fette Hasen hockten zwischen Glockenblumen. Flüsse strömten schweigend zwischen festen Böschungen. Rasa suchte sich selbst den Weg durchs hohe Gras, Lancelot ließ ihn einfach laufen. Die Sonne wärmte seine Schulterplatten und den Helm. Doch Lancelots Herz war kalt. Er war jetzt seit einem vollen Jahr auf der Reise, setzte die Gerech 90
tigkeit des Königs durch und ging der Königin aus dem Weg. In dieser Zeit hatte er unzählige Räuber zu den Herrschern nach Camelot und unzählige Lumpen ins Grab geschickt. Sein Schwert hatte so hervorragende Arbeit geleistet, dass schon sein bloßer Ruf zur Waffe geworden war. Wo immer sich Gerüchte verbreiteten, Lancelot nähere sich einem Landstrich, da verzagten auch die barbarischsten Herzen. Eine Weile hatten Lancelot und Sir Kay die Rüstungen getauscht, damit Lancelot zur Abwechslung mal wieder ein paar Missetäter bestrafen konnte. So hatte Lancelot sich eine Zeit lang freier bewegen können, bis auch dies bekannt wurde. Wieder in seiner eigenen Rüstung steckend, begegnete er nur noch den beschränktesten Schurken, die es überhaupt gab. Ein solcher Mann ging direkt vor ihm seinen Schurkereien nach. Aus einer Hütte in der Nähe, auf deren Dach eine dicke Moosschicht lag, tauchte eine Frau auf. Eilig humpelte sie durch aufgegebene Felder. Blut rann aus ihrer Nase, über die Lippen und das Kinn. Die Augen hatten schwarze Ringe von Faustschlägen. Sie taumelte und stürzte, fing sich mit den Händen ab. Auf allen vieren kroch sie weiter wie eine fliehende Katze. Trotz ihrer Not stieß sie nur ein gepresstes Stöhnen aus. In der Hütte brüllte ein Mann, und die bösen Worte wurden vom Geräusch eines Schwerts untermalt, das aus der Scheide fuhr. Mit der Klinge in der Hand tauchte der Mann in der Tür auf. Er hielt sich am Pfosten fest, um die trunkenen Schritte aufzufangen. Blinzelnd
sah er in die Richtung, wo die fliehende Frau die Gräser zittern ließ. Ein humorloses Lächeln entstand in seinem Gesicht, dann rannte er ihr brüllend hinterher. Lancelot trieb Rasa an. »Los.« So beteiligte sich nun ein Dritter am Wettlauf. Verletzt und verängstigt kroch die Frau an der Spitze. Betrunken und wütend schloss der Mann zu ihr auf. Angewidert und entschlossen ritt Lancelot auf seinem Hengst herbei und griff ein. Rasas Hufe fraßen die Entfernung, er flog förmlich durch das Gras. Allein schon das Trommeln der Hufe hätte den Betrunkenen überzeugen müssen, von seinem Vorhaben abzulassen, doch der Mann 91
war von einer ungewöhnlichen Wut erfüllt. Das Schwert blitzte bei jedem Schritt, den er tat. Er hatte die Frau beinahe erreicht. Lancelot beugte sich im Sattel vor und ließ Rasa mit voller Geschwindigkeit galoppieren. Weiße Schultern und Beine spannten sich. Nur einen Steinwurf weit waren Frau und Mann noch voneinander entfernt. Rasa schlug einen Haken, als Lancelot seinen Stahl blank zog und zu einem vernichtenden Schlag ausholte. Rasa sprang, und ein Schwert traf auf das andere. Der Mann drehte sich um sich selbst und schlug mit der Seite auf den Boden. Jeder andere hätte nach einem solchen Hieb die Klinge verloren, doch die blinde Wut verlieh dem Mann ungeahnte Kräfte. Er rollte sich auf alle viere und richtete sich wieder auf. Lancelot wendete sein Pferd. Der Hengst tänzelte inmitten einer Staubwolke; dann stieß er vor und stellte sich als Mauer aus weißem Fleisch zwischen den Mann und die Frau. Lancelot richtete sein Schwert auf den Mann. »Wenn du deinen Kopf auf den Schultern behalten willst, dann solltest du dich zurückziehen«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. Der Mann wich nicht zurück, doch er griff auch nicht an. Schwarz wie das Grab war seine Stimme. »Das hier geht nur meine Frau und mich etwas an.« »Jetzt nicht mehr. Nicht nachdem du sie geschlagen hast.« Wut verzerrte das Gesicht des Mannes. »Sie ist mit meinem Bruder ins Bett gegangen!« Natürlich, ein betrogener Ehemann. Niemals sonst kämpften Männer so brutal und sinnlos. »Mag sein, dass sie dich betrogen hat«, erwiderte Lancelot bedächtig, »doch gewiss hast auch du ihr Unrecht getan.« »Mit dem Unrechttun bin ich noch lange nicht fertig«, erklärte der Mann. »Den Kopf werde ich ihr abschlagen.« Lancelots Stimme wurde nicht lauter, doch sie klirrte wie Stahl. »Das wirst du nicht tun. Sie steht unter meinem Schutz.« »Und wer bist du?«, knurrte der Mann. »Ich bin Sir Lancelot du Lac, ein Ritter der Tafelrunde. Und wer bist du, dass du mich so herausfordernd fragst?« 91
»Ich bin Pedivere, ein Veteran vom Mount Badon und, was noch wichtiger ist, der Ehemann dieser Frau.« Und vor allem der betrogene Gatte. »Steck dein Schwert in die Scheide, Pedivere. Du wirst es heute nicht mehr brauchen.« Mit glühenden Augen hob Pedivere die Klinge und steckte sie in die Scheide, die er an der Hüfte trug.
»Gut«, sagte Lancelot. Manchmal schien es ihm, als wären die häuslichen Kriege die größten Katastrophen. Lancelot hielt sein Schwert bereit und streckte die freie Hand zur Frau aus. Sie kauerte keuchend im Gras. Die zerfetzten Kleider waren rot von ihrem Blut, das Gesicht bleich wie bei einem Geist. Schmerzen sah man dort, Angst, aber auch Schuldgefühle und aufkeimende Hoffnung. »Nun, hier ist meine Hand. Wenn du meine Hilfe willst, dann nimm sie«, sagte Lancelot ruhig. Als sie sich nicht bewegte, sagte er: »Oder soll ich fortreiten?« Sie stand auf. Das linke Fußgelenk war gezerrt, wenn nicht gar gebrochen. Hinkend und hüpfend näherte sie sich dem Mann auf dem weißen Pferd. Lancelot lächelte und seufzte unwillkürlich. Die Frau stand neben Rasa und schaute hoch. Licht und Schatten spielten auf dem blutigen, zerschlagenen Gesicht. Lancelot reichte ihr die Hand. »Halte dich fest und steige auf. Du sollst hinter mir reiten, bis du in Sicherheit bist, und dann sehen wir uns deine Nase an.« Er zog den Fuß aus dem Steigbügel, damit sie einen Halt fand. Sie nahm die Hand, setzte den Fuß in den Steigbügel und setzte sich nicht ohne Anmut im Damensitz hinter ihm auf den Pferderücken. Eine Hand drückte zum Dank die seine, der zweite Arm schlang sich um seine Hüfte, und die Hand hielt sich am Bauchreifen der Rüstung fest. Plötzlich aber stöhnte die Frau auf, und ein metallisches Klirren wurde laut. Sie lehnte sich eng an Lancelot, und sein Rücken fühlte sich plötzlich warm und feucht an. Dann ließ die Hand seinen Bauchreifen los. Die Frau kippte zur Seite weg. Er hielt ihre Hand, 92
doch er konnte den Sturz nicht verhindern. Der enthauptete Leib der Frau - jetzt über und über mit Blut besudelt - sank neben Lancelot zu Boden. Erschrocken ließ er ihre Hand los; der Kopf mit den starren Augen rollte über Rasas Hinterteil und hinterließ eine Blutspur, bis er im Röhricht landete, das sie nicht hatte retten können. Lancelot stieß vor Zorn und Kummer einen unartikulierten Schrei aus, hob das Schwert und zog Rasa zu Pedivere herum. Der Mann lag flach auf dem Bauch, das blutige Schwert weit von sich geworfen. Lancelot lenkte Rasa dicht vor den gesenkten Kopf des Mannes. Noch ein Schritt, und die Hufe hätten ihm das Gehirn herausspritzen lassen. Lancelot hielt an. »Steh auf und kämpfe, du elender Feigling!« Pediveres Stimme wurde vom Erdreich gedämpft. »Ich will nicht gegen dich kämpfen, Lancelot. Gewähre mir deine Gnade.« »Ich schenke dir den Tod. Ich brauche dazu nicht einmal dieses Schwert oder diese Rüstung. Ich werde sie ablegen und dir mit bloßen Händen den Kopf abreißen.« »Ich werde nicht gegen dich kämpfen. Gewähre mir deine Gnade.« »Ich werde dir eine Tracht Prügel gewähren, bis du stirbst. Du sollst um deinen Tod flehen, und dann wirst du sterben«, knirschte Lancelot. Er schob sein Schwert in die Scheide, zog die Panzerhandschuhe aus, löste den Helm und nahm ihn ab und befreite sich auch von Brust- und Rückenpanzer. Dann glitt er aus Rasas Sattel und riss sich Diechling, Beinröhren und Eisenschuhe vom Leib. »Jetzt sind wir gleich gerüstet.« »Bei der Gnade Jesu.«
Lancelot bückte sich, packte Pedivere am Kragen - wobei er auch eine gute Hand voll Fleisch zu fassen bekam - und riss ihn auf die Beine. Ein wuchtiger Schlag mit der linken Hand brach dem Mann die Nase. Pedivere taumelte zurück. Blut lief über sein Gesicht, wie es über das Gesicht seiner Frau gelaufen war. Schwarze Ringe bildeten sich um die Augen. Er fiel auf den Rücken und presste die roten Hände auf die Nase. »Gnade!« »Gnade?«, rief Lancelot. Ohne Waffen und Rüstung kam er sich 93
vor wie ein kreischendes Tier. »Du hattest eine Frau, die dich liebte, und dennoch hast du ihr dies angetan?« Er weinte. »Ich liebte sie zu sehr.« »Das ist keine Liebe! Liebe ist die Sehnsucht, die nie erfüllt wird. Liebe ist Hoffnung im Angesicht von tiefster Verzweiflung. Liebe ist, auf dein Wohl zu verzichten, damit es dem anderen wohl ergehe.« »Gnade!«, schluchzte Pedivere. »Gnade!« Lancelot stand vor ihm und ballte unschlüssig die Hände zu Fäusten. »Nein. Ich sagte, es werde keine Gnade geben. Ich werde dich aber auch nicht töten, sondern dir eine Buße auferlegen. Nimm ihren Leichnam und ihren Kopf. Trage sie immer bei dir, auch wenn du schläfst und wenn du badest. Trage sie auf deinem Rücken zum Hof von Camelot. Dort trittst du vor die Königin und berichtest ihr, was sich hier zugetragen hat.« »Ich schwöre, ich werde es tun. Bei meinem Leben, ich schwöre es.« »Ja, das sollst du auch. Und wenn du deinen Schwur brichst, dann werde ich dich jagen und töten.« Lancelot drehte sich um und sprach mit grimmiger Stimme weiter. »Guinevere wird wissen, was mit dir zu tun ist, du irrer Liebender. Gnade oder Tod, sie wird wissen, was zu tun ist.« Er war im tiefsten Winter gekommen, ein elender Kerl mit einem schneebedeckten Bündel Reisig auf dem Buckel. Erst in den Hallen des Palastes, wo die Flocken tauten und die Wärme das Bündel durchdrang, konnte man sehen, was er wirklich bei sich trug. Da war es aber schon zu spät. Er kniete bereits vor Königin Guinevere und König Artus, eine gefrorene Leiche auf dem Rücken, und erzählte seine entsetzliche Geschichte. Mit Geduld und Nachsicht hörte Guinevere ihm zu und beobachtete, wie der Dampf von den verschnürten Knochen aufstieg. Als er endlich fertig war, sagte sie: »Du hast deine Frau getötet, weil sie dir untreu war.« »Ja.« Der Mann presste die Stirn auf den Marmorboden, und der leere Schädel seiner Frau schwang an der Schnur nach vorn und legte sich an sein Ohr. 93
»Du wolltest lieber keine haben, als sie zu teilen.« Wieder bestand die Antwort nur aus einer Silbe. »Ja.« Sie warf einen Seitenblick zu ihrem Mann, der stumm, aber aufmerksam zuhörte. »Lancelot sagte, du wüsstest, was mir zu gewähren sei, ob Gnade oder der Tod.« Guinevere nickte. »Der Tod wäre eine Gnade für dich. Nein, mein Streiter hat den besten Weg gefunden. Du wolltest sie für dich allein haben. Dann behalte sie bis ans Ende deiner Tage. Sie soll jeden Tag und jede Stunde an dich gebunden sein. Die Ritter und Krieger in ganz Britannien werden Befehl bekommen, dich nach den Gebeinen deiner Frau zu fragen und dich zu töten, wenn du sie nicht bei dir hast.« »O nein, meine Königin.«
»O doch«, gab sie sofort zurück. »Du bist mein Missionar. Reise durchs Land. Sage allen Männern, sie sollen im Leben gut mit ihren Frauen gehen, weil sie sie sonst im Tode tragen müssen. Warne sie vor dem Weg, den du eingeschlagen hast.« Der Mann sank in sich zusammen, als er diesen Spruch vernahm. Hager und zitternd richtete er sich auf. Das einzig Starke an ihm war sein Blick, der die Königin zu durchbohren schien wie ein Speer. »Ich kann es ertragen. Ich werde nicht anders sein als dein Chevalier. Ich werde die Knochen meiner Liebe tragen, wie er die Knochen der seinen trägt.« Mit diesen Worten erhob sich der Mann und stolzierte aus dem Thronraum von Camelot. Er ließ den Gestank des Todes hinter sich zurück, als er nach draußen in den Schneesturm trat, der um Camelots Mauern tobte. 94
15. Nach Avalon Auf gewundenen Wegen war der Frühling nach Camelot gekommen, doch Lancelots gewundene Wege führten in andere Richtungen. Ziellos entfernte sich der wandernde Ritter immer weiter von der Frau, die er liebte. Auch Guinevere entschloss sich zu ziellosen Wanderungen. In der Gesellschaft von zwölf ihrer Priesterinnen ritt sie auf einer fuchsbraunen Stute. Sie durchquerten das Frühlingsgras und hielten sich auf Hügelkämmen, wo Sonne und Wind den Schlamm bereits gehärtet hatten. Heute versteckte sich die Sonne hinter einem zerrissenen Flickenteppich von Wolken, und der Wind war trocken und beharrlich wie die Hand einer alten Frau. Guinevere zog den dicken grünen Übermantel enger um sich, neigte den Kopf gegen den Wind und lenkte ihre Stute eine grasige Rinne hinauf. Trotz der kalten Luft waren die etwa zwanzig Meilen von Camelot bis Glastonbury Tor ein leichter Ritt. Artus hatte vorgeschlagen, sie möge eine Sänfte nehmen, wie es einer Königin zustand, doch Guinevere hatte ihm erklärt, sie brauchten die Pferde für das Tuatha-Ritual, das sie abhalten wollten. In Wirklichkeit war sie einfach nur viel zu ungeduldig, um andere Menschen für sich laufen zu lassen. Einst hatte sie Artus niemals angelogen. Einst hatte sie ihm alles anvertraut. Jetzt war ihr ganzes Leben eine Lüge. Sie konnte Artus nicht anvertrauen, was sie empfand. Sie konnte nicht einmal sich selbst trauen. Sie wusste nicht, wie sie zu Lancelot stand. Oh, sie wusste sehr wohl, wie es um ihr Herz bestellt war. Es gab Männer, die ihr Leben lang nicht lernten, auf ihr Herz zu hören, doch eine Frau, die auch nur einen Monat diese Verbindung aufgab, war verloren und verraten. Sie liebte ihn. Es war mehr als Begehren, auch wenn das Begehren ein Teil davon war. Es war eine Sehnsucht, die aus 94
tiefster Seele kam. All ihre Gedanken wanderten zu ihm. Jeder Atemzug hauchte seinen Namen. Solche Liebe hatte sie noch nie gefühlt. Ja doch, sie liebte Artus sehr — ihren Gatten, Gefährten und Freund -, doch sie wachte nicht eifersüchtig über jeden seiner Augenblicke, wie sie es bei Lancelot tat. Und er hatte seit nunmehr fast zwei Jahren jeden Augenblick fern von ihr verbracht. Guinevere kannte ihr Herz, aber sie wusste nicht ein noch aus. Warum liebte sie ihn überhaupt so sehr? Warum empfing sie die grässliche Prozession von Mördern und Räubern, die er ihr schickte, als wäre jeder Einzelne ein Blumenstrauß? Warum biss sich jedes Mal, wenn sein Name fiel, ein scharfer Schmerz in ihr Herz?
Die Königin ritt zur Abtei von Glastonbury, um Antworten zu finden - um die Nonne zu finden, die Lancelots Mutter war. Guinevere und ihre zwölf Priesterinnen ritten zwischen den niedrigen Hügeln dahin. Vor ihnen erstreckte sich eine weite, flache Senke, in der sich ein Sumpf gebildet hatte. In dessen Mitte wiederum erhob sich der zerklüftete Hang des Glastonbury Tor. Der Hügel war einst eine heilige Stätte der Heiden gewesen, doch jetzt gehörte er den Schafen. Des Nachts besprenkelten die Feuer der Schäfer den Himmel wie gelbe Sterne. Der einzige Gott, der in diesen Tagen noch auf dem Tor lebte, war der christliche Gott, dem auf einer weiten Ebene in der Nähe des Sumpfs eine Abtei geweiht worden war. »Dorthin müssen wir«, flüsterte Guinevere ehrfürchtig. Eine aus Feldsteinen gebaute Kirche beherrschte die Gegend. Am westlichen Ende gab es eine kleine Kapelle, im Süden war das Kloster angebaut. In der Nähe standen weniger beeindruckende Gebäude, Hütten aus Flechtwerk und Lehm, in denen die Nonnen lebten. Schon aus der Ferne konnte Guinevere sehen, welche Hütte die richtige war. Sie stand abseits von den anderen, war heruntergekommen und windschief. Rauch stieg zum Himmel. Das Dach war eingesunken, als zuckte es mit den Achseln, und die Wände waren krumm wie müde Beine vom langen Stehen. Die größte Sorge aber musste dem Feuer gelten. Eine Verrückte sollte keinen Zugang zu einem Feuer haben, und Elaine von Benwick war ganz gewiss verrückt. Die Königin ritt mit ihrem Gefolge zu den Hügeln im Osten. Sie 95
näherten sich nun dem Ponters Ball, einer trockenen Landenge, auf der sie den Sumpf durchqueren konnten. Die Abtei hatte dort ein Holztor errichtet, an dem gewöhnlich Wächter jeden aufhielten und befragten, der einzutreten wünschte. Als die Wächter die Gewänder der Priesterinnen und die Farben von Camelot sahen, wussten sie, dass Guinevere kam. Sie zogen die Tore weit auf. Guinevere und ihr Gefolge ritten hindurch. Sie zogen am Rand des Sumpfes entlang und näherten sich der einzeln stehenden, verwahrlosten Hütte. Rauch stieg vom Strohdach auf und drang aus dem Fenster und der Tür. Er wehte ihnen entgegen. Es war der reine, übermächtige Geruch von Weihrauch. Guinevere ließ ihr Pferd langsamer laufen, und das Tier schien sogar leiser aufzutreten. Ehrfürchtiges Schweigen senkte sich über die Gruppe. In einem Halbkreis vor der Tür zügelten die Frauen ihre Reittiere und verharrten schweigend. Guinevere stieg ab. Eine Rauchfahne wehte in ihre Richtung und trug einen neuen Geruch heran - menschliche Exkremente. Die beiden Gerüche stritten miteinander um die Vorherrschaft. Guinevere wollte sich das Gesicht nicht mit einem Tuch bedecken und schritt entschlossen zur Tür. Vertrocknetes Holz bildete ein dürres Gitter davor, doch im Innern war nur weißer Rauch zu sehen. »Schwester Elaine?«, rief sie unsicher. »Elaine von Benwick? Bist du dort drinnen?« Sie bekam keine Antwort, nur das Zischen des brennenden Weihrauchs war zu hören. Guinevere wollte gerade den Ruf wiederholen, als sie ein schnelles Murmeln hörte: »... die Königin, die Königin von ... von Benwick ... gelobt sei ... einst Königin, aber nicht mehr stolz, großer Gott. Geneigten Kopfes, nicht mehr stolz. Stolz geneigt, gelobt sei ... Elaine soll Königin sein, gelobt seist du. Gloria in excelsis.« Mit grimmigem Lächeln ergriff Guinevere noch einmal das Wort. Die gemurmelte Litanei hörte nicht auf und bildete einen nervösen Gegenpart zu ihren Worten. »Ich bin Königin
Guinevere. [Ich bin nicht Königin Guinevere.] Ich bin gekommen, weil ich mit dir über deinen Sohn Lancelot sprechen will. [Die Sonne schien auf meinen Lancelot, o mein kleiner Lancelot, Sohn Gottes und Sohn der Menschen, 96
etfilio, et Spiritus sanctus.] Ich will wissen, wie du hergekommen bist, wie alt er war und was dich und ihn hierher getrieben hat.« »Auf die Felsen trieb er uns, der Wind, der Geist Gottes über der Tiefe, er rief die Wesen vom Abgrund des Verderbens herauf, er rief uns aus der brennenden Stadt, aus Jerusalem heraus, und bei den Wassern von Avalon setzten wir uns und weinten, als wir uns an dich erinnerten. Gelobt sei er.« »Wie alt war er? Wie alt war dein Sohn?« »... ich habe keinen Sohn ... Gott gibt und Gott nimmt, gelobt sei der Name Gottes ...« Im wallenden Rauch war sie nur undeutlich zu sehen. Sie schien sehr alt und hager. »Ich hatte ihn nie in mir. Ich hatte ein anderes Kind in mir, nicht Lancelot. Es gab ein Kind in meinem Leib und ein Kind in der Wiege, und jetzt habe ich kein Kind ...« »Wie alt war er, als du nach Britannien gekommen bist?« »Ich hielt ihn. Ich trug ihn wie die Madonna. Genau wie sie an der Krippe. Am Kreuz. Krippe und Kreuz. Krippenkreuz. Ich hatte sie beide in einem Jahr. Anno Domini. Krippenkreuz. Gelobt sei der kindliche König, bekleidet mit Windeln, aufgehängt am Kreuz.« »Also war er noch ein Kleinkind, als du gekommen bist? Als du ihn verloren hast?« »Ich habe ihn gefunden, ich habe ihn verloren ... er war niemals mein ... ich habe ihn nur gehalten. Wohin ist er gegangen? Kannst du ihn finden? Hilf mir, meinen kleinen Jungen wieder zu finden.« Guinevere seufzte mitfühlend und trat näher an die Tür heran. »Er ist in Camelot. Er ist ein Ritter in Camelot. Der größte Ritter, der ...« Dann konnte sie sehen, wer hinter der dünner werdenden Wolke stand. Es war keine gealterte, sondern eine junge Frau. Schmal war sie, ja, und sie zitterte, doch sie war kaum älter als Guinevere selbst. Sie konnte unmöglich Lancelots Mutter sein. Guinevere wich zurück. »Verzeih mir, Schwester. Verzeih mir, dass ich eingedrungen bin ...« »Kannst du ihn nicht finden? Kannst du meinen Jungen nicht für mich suchen? Kannst du? Kannst du?« Wie vor den Kopf geschlagen, kehrte Guinevere zu ihrem Fuchs zurück und stieg in den Sattel. »Hier unten werden wir die Antwor
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ten nicht finden.« Sie blickte zur Abtei. »Wenn überhaupt, dann finden wir sie dort.« Guinevere nahm ihr Pferd herum, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Als sich der Halbkreis der Priesterinnen auflöste und entfernte, stand die Frau in der Hütte auf. Ein paar unsichere Schritte brachten sie zur Schwelle. Sie hielt sich an den Pfosten fest und rief den Scheidenden mit brüchiger Stimme hinterher: »... alles in einer Nacht genommen. Burg, Gatte, ich selbst und der Sohn. Alles, gepriesen sei der Name Gottes! Alles. Gepriesen sei alles. Gepriesen sei alles ...« Das irre Gestammel verfolgte Guinevere und wühlte ihre Gedanken auf. Die arme Frau so etwas in Wirklichkeit zu erleiden war schon schrecklich genug. So etwas in Phantasien zu
erleiden - in nutzlosen, grundlosen, unausweichlichen Phantasien - war erbärmlich. Warum musste ich auch zu ihr gehen und auf Antworten hoffen ... Die Frau konnte unmöglich Lancelots Mutter sein, und doch konnte Guinevere nicht den Gedanken abschütteln, dass sie es vielleicht trotzdem war. Lancelot zog eine Fährte des Wahnsinns hinter sich her. Er berührte Frauen, und sie wurden zerstört. Die Pferde liefen den nicht sehr steilen Hügel zu einer weiten, mit Gras bewachsenen Kuppel hinauf, wo die Abtei stand. Es war kein großes Bauwerk - eine kleine, aus Feldsteinen und Mörtel errichtete Nachbildung einer römischen Basilika. Das Gewölbe war nicht einmal gemauert, sondern aus Holz gebaut. Vor dem niedrigen Zaun stieg Guinevere ab und band das Pferd neben den anderen an. Als die Königin zur Haupttür der Abtei ging, folgten ihr die Anhängerinnen wie eine Formation fliegender Enten. Sie erreichten den Eingang - eine Doppeltür unter einem liebevoll, aber einfach geschnitzten Tympanon. Guinevere wollte gerade klopfen, als die Türen nach innen aufgezogen wurden. Eine Novizin hatte sich dahinter auf den Boden geworfen, eine ältere Nonne stand neben ihr und strahlte erfreut. Die Novizin trug weiße Gewänder mit goldenen Borten, die Nonne einfaches Schwarz, das bis auf das Gesicht und die Hände den ganzen Körper bedeckte. 97
»Willkommen, Königin Guinevere«, sagte die alte Frau und neigte unterwürfig den Kopf. Faltige Hände entboten einen höfischen Gruß. »Wir haben dich kommen sehen.« Die Königin lächelte und neigte leicht den Kopf. »Ich würde gern mit der höchsten Äbtissin sprechen.« »Das bin ich«, erwiderte die Frau freundlich. »Ich bin Mutter Brigid. Ich habe meinen Namen nach der heiligen Brigid unseres geliebten Britanniens bekommen. Wie kann ich dir helfen?« »Ich möchte vertraulich mit dir reden«, sagte Guinevere. Die Äbtissin nickte und wandte sich an die Novizin. »Meine Liebe, könntest du die Gäste bitte zur großen Halle geleiten? Brot und Ein-topf müssten fertig sein.« Das junge Mädchen stand auf und sah sie mit großen Augen an. »Aber Mutter, was sollen dann die Schwestern essen?« Brigid legte dem Mädchen sachte eine Hand auf die Schulter. »>Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.< Das gilt wohl auch für uns Frauen im Kloster. Lass sie wissen, dass ich Fasten und Gebete angesetzt habe, auf dass es unseren Gästen wohl ergehe.« Die Novizin zog die Schultern ein und schlurfte den Flur hinunter. Auf ein Nicken Guineveres folgten ihre eigenen Begleiterinnen. »Du bist sehr großzügig, dass du für uns auf deine Mahlzeit verzichtest, Mutter Brigid«, sagte Guinevere. »Vielen Dank.« »Fasten ist gut für die Gedärme, und gesunde Gedärme sind gut für die Seele.« Sie lächelte und lud sie winkend ein. »Komm mit, ich führe dich in meine Privatgemächer.« Brigid führte Guinevere einen aus Feldsteinen gemauerten Gang hinunter. Sie kamen an Nischen und Grüften vorbei, die nach Schimmel rochen. Am Ende des Ganges war eine massive, mit Eisen beschlagene Tür, deren stirnhoher Sturz von einem Eichenbalken gebildet wurde. Brigid suchte in einer Tasche ihrer Kutte herum, zog einen großen Schlüssel
hervor, schob ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Mit metallischem Klirren glitt der Riegel zurück, und Brigid stieß die Tür auf. Vor ihnen lag das Innere einer eigenartigen Hütte. Ein einfacher 98
Tisch mit Hockern machte den größten Teil der Einrichtung aus. Auf einer Seite brannte ein Feuer im Herd, wilde Kräuter hingen zum Trocknen an den Deckenbalken. Auf der anderen Seite lagen zwei Strohmatratzen. Der Boden war mit trockenen Binsen ausgestreut, die einen süßen Duft verströmten. Brigid schlurfte durch die Tür und winkte einladend zum Tisch. »Darf ich dir etwas anbieten? Apfelwein vielleicht? Wir haben viele Äpfel in Avalon.« »Ja«, flüsterte Guinevere abwesend. »Apfelwein.« Sie wollte durch die Tür treten, stieß aber mit dem Kopf an den Türsturz. »Verdammt!« »Das hat Lancelot auch immer gesagt«, gab Brigid zurück. Sie hockte sich vor ein kleines Fass, das in einer Wandnische stand. Im Licht des Feuers wirkten ihre Kleider eher braun als schwarz und viel stärker verschlissen. »Was Lancelot immer ...«, hob Guinevere an. In ihrem Kopf pochte es. »Warte, ich will erst die Tür schließen.« Sie drehte sich um, doch hinter ihr erstreckte sich kein langer, modriger Gang mehr, sondern ein von der Sonne beschienener Hügel, der zum tiefen, gekräuselten Wasser hin abfiel. Der Frühlingswind umwehte sie und trug den Duft der Apfelblüten herein. Ein Fußweg führte von der Vordertür fort. Im Staub waren die nackten Fußabdrücke eines Mannes zu sehen. »Er ging erst gestern Abend fort«, erklärte Brigid wehmütig, während sie mit zwei Bechern Apfelwein zu ihrem Gast zurückkehrte. »Solche Eile hatte er, erwachsen zu werden. Dabei ist er nur ein Junge in einer Blechbüchse.« Sie stellte die Becher ab und winkte Guinevere, am Tisch Platz zu nehmen. Die Königin wehrte mit ungeduldiger Geste ab. »Ich begreife es nicht. Was ist geschehen?« Brigid setzte sich achselzuckend und nippte an ihrem Apfelwein. »Du bist doch gekommen, weil du nicht verstehst, was sich ereignet hat, nicht wahr? Was sich heute hier und damals vor zwei Jahren ereignet hat, als du Lancelot begegnet bist, und vor drei Jahren, als er noch ein neugeborener Prinz war. Du verstehst es nicht.« »Nein«, bestätigte Guinevere und schüttelte den Kopf. Auch sie 98
trank jetzt einen Schluck Apfelwein. Er war kalt und würzig und leicht vergoren und wärmte sie von innen. »Nein, ich verstehe es nicht.« Brigid nahm die Hand der Königin und führte sie zu ihrem Platz. »Zuerst wollen wir uns einander vorstellen. Ich bin tatsächlich Brigid, und ich bin Äbtissin, doch das ist nur eine meiner Manifestationen. Lancelot kannte mich als Tante Brigid, als alte Frau, die auf Avalon in einer Hütte lebte. Die Christen kennen mich als die heilige Brigid, die schon lange tot ist, von der man aber glaubt, sie setze sich für die Menschen ein, was ich ja auch tue. Lancelots Mutter - ja, es ist diejenige, die du getroffen hast - sah mich als Wassergöttin, die ihr das Kind wegnahm.« »Und wer bist du wirklich?« »Ich bin alle und keine von ihnen, ich bin zugleich mehr und weniger. Was dich angeht, so bin ich als Herrin der Nebel eine Figur im Reigen deiner Tuatha-Götter.«
Königin Guinevere starrte sie einen Moment lang fassungslos an. Dann glitt sie vom Hocker, fiel auf die Knie und senkte den Kopf. »Verzeih mir meine Überheblichkeit, große Göttin.« »Es gibt nichts zu verzeihen, mein Kind. Steh auf, komm, erhebe dich von den Binsen. Dies ist guter Apfelwein, den du trinken solltest, solange er kühl ist.« Die Königin errötete und setzte sich wieder auf ihren Hocker. »Dies fugt meinen Fragen nur noch weitere hinzu.« »Ich weiß«, beruhigte Brigid sie. »Lass mich dir einfach die Geschichte erzählen, die alle deine Fragen beantworten wird.« Guinevere seufzte unwillkürlich. »Das wäre wundervoll.« »Nein, wundervoll ist es nicht. Nicht in diesem Fall. Es gibt einen guten Grund dafür, dass Jahwe es uns verboten hat, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Sobald du Wissen besitzt, musst du dich entsprechend verhalten. Das Wissen, das ich dir heute schenke, könnte dich und Lancelot, Artus und Camelot zerstören. Es könnte dich aber auch retten und dir die Kraft geben, euch zu heilen und wahrhaftig zu leben. Die Entscheidung liegt bei dir - falls du immer noch willst, dass ich deine Fragen beantworte.« 99
»Ich will es«, erwiderte Guinevere ohne Zögern. »Sage es mir.« »Lancelot ist nicht der, für den er sich hält. Er glaubt, er sei der Sohn von Ban und Elaine von Benwick. Er war jedoch nur ihr Adoptivsohn, ein Wechselbalg des Feenvolks, das ihnen in die Wiege gelegt wurde.« »Dann ist er ein Tuatha?«, platzte Guinevere heraus. »Er ist wie ich?« »Ja, und sogar noch in viel stärkerem Maße, als dir bewusst ist. Er wurde als Tuatha-Prinz geboren, wie du als Tuatha-Prinzessin geboren wurdest. Ihr wart beide Wechselbälger, beide in Krippen gelegt, die hunderte Meilen und viele Monde voneinander entfernt waren. Ban hat es nie erfahren. Elaine hat es vermutet, doch sie hat bis auf den heutigen Tag niemals ihre Ängste ausgesprochen.« Den Rest konnte Guinevere sich selbst zusammenreimen. »Das erklärt so viel — seine Anmut, seine Stärke, seine Tapferkeit...« »Es erklärt auch, warum ich ihn wie mein eigenes Kind annahm, als Elaine verrückt wurde, und warum ich ihn hier aufzog, wo mir die Nymphen und Kobolde halfen, die Dryaden und sogar der Kriegsgott Mars-Smetrius.« »Meister Smetrius«, flüsterte Guinevere. »Ja ... aber Benwick ist doch erst in der Schlacht am Badon Hill gefallen. Lancelot erschien sechs Monate später am Hof. Wie konnte er in sechs Monaten vom Kind zum erwachsenen Mann heranreifen?« Brigid zog die Augenbrauen zusammen. »Du kennst die Antwort auf diese Frage.« »Avalon.« »Ja, Avalon. Hier wird die Zeit nicht in Monden oder Sonnen gemessen, sondern nach dem Rhythmus des eigenen Herzens. Deshalb ist dieser Ort für Sterbliche so gefährlich. Manche verbringen nur einen Nachmittag hier und finden ihre Freunde verwesend im Grab, wenn sie zurückkehren. Andere leben ihr ganzes Leben in einer Spanne, die nicht länger ist als ein Lidschlag. Das Herz ist der Muskel der Zeit, und Lancelots Herz schlug wild und heftig. Er brannte darauf, nach Camelot zu gehen und ein Ritter zu werden.« Die Königin hing ihren eigenen Gedanken nach und schien die 99
letzten Worte nicht mehr zu hören. Schließlich schaute sie auf. Dunkle Ringe lagen um ihre Augen. »Deshalb liebe ich ihn, nicht wahr?« Brigid starrte zur Tür hinaus. Der Schatten einer Wolke zog über den Hügel. »Die Antwort darauf musst du selbst finden.« Guinevere riss die Augen auf, als ihr etwas einfiel. »Er ist nicht wie Artus - er ist kein Sterblicher wie Artus. Ich kann mich mit Artus nicht verbinden, weil er menschlich ist und weil ich die Macht des Landes verlöre. Doch Lancelot ist kein Mensch. Er ist ein Tuatha. Er ist wie ich. Ich würde meine Macht nicht verlieren ...« Brigid stand auf und räusperte sich. Es klang wie ein Knurren. Sie nahm ihren und den Becher der Königin und füllte beide am Fässchen wieder auf. »Dies ist das Wissen, das ich meinte. Jetzt weißt du es. Jetzt musst du dich entscheiden. Harrst du an der Seite deines Gatten aus, der ganz Britannien und sogar die Welt und die Anderwelt geeint hat - auch wenn du bei ihm keusch bleiben musst?« »Immer umschlungen und nie vereint ...« »Oder verbindest du dich mit einem Prinzen deines eigenen Volks in einer Liebe, die deine Macht nicht zerstört, die aber sehr leicht alles andere zerstören kann?« Guinevere war erbleicht, und eine Träne zitterte auf ihren Wimpern. »Ich muss gehen, wohin die Liebe mich führt.« »Gewiss, doch welche Liebe soll es sein?« Brigid setzte sich wieder an den Tisch und schob einen Becher zu Guinevere hinüber. Die Königin nahm ihn und trank gierig. »Eines musst du noch wissen, wenn du es ertragen kannst.« »Wenn ich es ertragen kann?« »Es wird deine Wahl noch schwerer machen.« Guinevere trank einen Schluck Apfelwein und zuckte zusammen. Der Trank schmeckte bitter, und die Träne, die sich gebildet hatte, fiel herab. »Sag es mir.« Brigid nickte und stand auf. »Lass mich die Tür schließen.« Niemand in der Abtei von Glastonbury war glücklich. Die Äbtissin hatte drei Tage gefastet und ihre Mahlzeiten den Priesterinnen gege 100
ben, die als Gäste gekommen waren. Die Priesterinnen aber aßen nicht aus Sorge um ihre vermisste Königin. Am Morgen des dritten Tages öffnete sich eine verriegelte Tür am Ende des Ganges, und heraus kamen Mutter Brigid und Königin Guinevere. Begeistert wurden sie empfangen, und Fragen wurden laut, wo sie gewesen seien. Der Tumult legte sich bald, als Guinevere mit müden Augen durchs Gedränge schlurfte. »Königin Guinevere, was ist geschehen?« »Holt die Pferde«, sagte sie, und ihr Atem roch nach bitterem Apfelwein. »Wir müssen Sir Lancelot suchen.« 100
16. Wahrhaftig sein Nichts konnte aus der Außenwelt bis in Merlins Paradies durchdringen - dazu hätte es schon eines Erdbebens bedurft. Dies hier fühlte sich wie eines an. Der alte Magier ließ vom Petunienbeet ab, in dem er Unkraut gejätet hatte, und zog die buschigen Augenbrauen hoch. Wenn er im Garten arbeitete, trug er immer einen alten
Körper. Junge Körper waren für die Pflege von Pflanzen zu ungeduldig. Er betrachtete das Firmament, das er selbst aus dem Fels geschnitten hatte. Nichts bewegte sich dort. Etwas anderes war in Bewegung, etwas Riesiges, als regte sich der alte Saturn in seinem unterirdischen Heim. Schritte näherten sich auf der Rasenfläche. Es war Nyneve, die ein Tablett mit einem Kristallkrug und zwei Kelchen trug. Sie hatte das Wasser aus einem heiligen See geschöpft und brachte es ihrem Geliebten. Doch ihre junge Stirn war umwölkt, und ihr schlanker Körper bebte. »Es gibt schlimme Neuigkeiten«, begann sie, als sie neben Merlin im Gras niederkniete. Sie stellte das Tablett ab. Die Flüssigkeit schwappte leicht im Krug. »Die Wasser tragen die Kunde direkt aus Avalon zu mir.« Sie füllte die Kelche. Merlin presste die Finger auf die verknöcherten Knie. »Auch ich habe es gespürt. Was ist geschehen?« »Guinevere weiß es jetzt«, sagte sie schlicht. Die Augen des Magiers trübten sich. »Sie weiß es ...« »Alles. Brigid hat es ihr gesagt.« Sein Bart wackelte, und er schnalzte mit der Zunge. »Aber warum hat sie es ihr nur erzählt?« »Weil Guinevere gefragt hat.« Nyneve betrachtete das Gesicht ihres Geliebten. Sie suchte Trost, der dort nicht zu finden war. »Es liegt 101
jetzt in ihren Händen, Merlin. Du kannst dich nicht einmischen. Gehe nicht zu ihnen.« »Was hat Guinevere daraufhin getan?«, fragte Merlin. Er gab sich Mühe, nicht zu barsch zu sprechen. Nyneve senkte den Kopf. Durch Vorhänge von dunklem Haar murmelte sie ihre Antwort. »Sie ist aufgebrochen, um Lancelot zu suchen.« Auf einmal war Merlin auf den Füßen — nicht auf den schwachen, von Erde verschmutzten Füßen des alten Gärtners, sondern auf den starken Füßen eines jungen Mannes, die in Stiefeln steckten. »Das ist der Untergang Camelots. Ich habe es kommen sehen. Ich muss fort.« Auch Nyneve stand jetzt auf. Sie fasste Merlin am Arm. »Nein. Es liegt in ihrer Hand. Sie können sich immer noch retten, wenn sie die richtige Entscheidung treffen.« »Wie sollten sie die richtige Entscheidung treffen? Könntest du es?« Merlin sah sie finster an, die schwarzen Augenbrauen zitterten. »Ich muss sie aufhalten, ich muss es verhindern. Ich muss Artus wenigstens irgendetwas geben, irgendeine Macht, um ihnen zu widerstehen. Sie werden Camelot zerstören.« Nyneve ließ seinen Arm los. Hilflos zuckte sie mit den Achseln. »Vielleicht hast du Recht. Wie können Guinevere und Lancelot die richtige Entscheidung treffen, wenn es nicht einmal der große Merlin vermag?« Mit funkelnden Augen sah er sie an, doch er schwieg. Nyneve hob die Kelche mit Wasser und reichte Merlin einen davon. »Trinke wenigstens noch dies hier, damit du alle Einzelheiten erfährst - wo Guinevere ist und in welche Richtung sie reist...« Er kippte den Trank hinunter. Das heilige Wasser perlte durch ihn und sagte ihm alles. Merlin schüttelte sich, als die grausamen Einzelheiten in sein Fleisch sanken und ihn durchdrangen. O ja, es würde mit einer Katastrophe enden. Er gab Nyneve das Glas
zurück, zog sie an sich und küsste sie. »Ich muss gehen.« Dann schritt er den Weg zu ihrer Hütte hinauf. »Ich könnte dich durchs Wasser tragen. Das ist der sicherste und schnellste Weg«, bot sie ihm an. Er tat den Vorschlag mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. 102
»Ich finde schon selbst den Weg.« Mitten im Schritt war er verschwunden. Nyneve schüttelte den Kopf und trank nachdenklich noch einen Schluck Wasser. »Wenn du nur auch den Rückweg findest«, sagte sie leise. Lancelot ritt zum Gipfel eines Grabhügels und hielt Ausschau. Mitten in den Frühlingswiesen stand eine kleine Burg — das Anwesen des Unterkönigs Pellas. Schäfer ließen in der Parklandschaft rings um die Burg ihre Herden weiden. Drinnen stieg von einfachen Hütten der Rauch auf. Burschen befestigten mit Hammerschlägen ein Wagenrad. Mädchen fütterten Hühner mit Körnern, die sie im geschürzten Kleid trugen. Männer weideten ein Schwein aus. Frauen taten an Kochkesseln ihr Zauberwerk ... Verwirrt rieb Lancelot sich die Augen. Ja, da waren sie. Vier Frauen hüteten einen großen Kessel, in dem irgendein rotes Gebräu siedete. Ob es die vier Königinnen waren, die vier Hexen? Eine rührte mit einem langen krummen Stab das Gebräu um. Eine andere schob frische Scheite ins Feuer, das unter dem Kessel loderte. Die dritte und vierte langten gelegentlich in den Topf und zogen irgendwelche großen Stücke heraus — was war das? Ein Torso? Beine? Fleischbrocken? »Lass uns nachsehen, Rasa«, flüsterte Lancelot. Das Pferd sprang los, als wäre es gestochen worden. Rasa kannte die Stimmungen seines Herrn und wusste, dass Lancelot in diesem Augenblick sehr verstört war. Hufe trommelten über den Grabhügel. Der weiße Hengst lief den Abhang hinunter und galoppierte über die Wiese. Schafe hoben die Köpfe, als sich das Donnern näherte. Blökend brachten sich die Tiere in Sicherheit, und die Hirtenhunde hatten alle Mühe, sie beisammen zu halten. Rasa schoss die Zufahrt hinunter und hielt direkt auf das Burgtor zu. Es war kein besonders beeindruckendes Tor, eigentlich kaum mehr als eine Formalität zwei große Portale, die in einem Spitzbogen saßen; in eines war eine kleine Pforte geschnitten. Der Wächter, ein alter Mann, döste neben dem Tor auf einem Stuhl. Er zuckte zusammen, sprang auf und starrte einen Augenblick erschrocken das Pferd 102
und den Reiter an, die ihm entgegenstürmten. Der Wächter zog das Schwert, das sichtlich in der Hand zitterte; er schien sogar ein Gebet zu murmeln. Dann erkannte er die Farben von Camelot und das Banner von Sir Lancelot. Er legte das Schwert auf den Stuhl, zog sich durch die Pforte zurück, schob den Riegel weg und sperrte die Torflügel weit auf. Gerade noch rechtzeitig. Lancelot galoppierte durchs Tor in den Burghof. Er sah blutige Leichen an einem Draht hängen und ritt bis zum riesigen Kessel, in dem etwas Rotes kochte. Dort hielt er Rasa an und rief: »Was ist das für ein Hexenwerk?« Die vier Frauen, die nicht so sehr nach Hexen, sondern viel eher nach Mägden aus der Spülküche aussahen, richteten sich auf und starrten den jungen Ritter staunend an. »Ihr habt meine Frage gehört«, knurrte Lancelot. »Was macht ihr da?« »Färben«, murmelte die jüngste der Frauen. »Färben? Was soll das heißen?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Nun ja, wir werfen ein Hemd in den Kessel«, erklärte sie zögernd, »dann lassen wir es eine Weile kochen, und schon ist es rot.« Lancelot blickte zum Rührstab und dann zu der Wäscheleine, auf der die nassen Kleider hingen. Er lachte schallend. Sie färbten Wäsche. Er wieherte fast. Es war so lange her, dass er das letzte Mal aus vollem Herzen gelacht hatte. Beinahe musste er husten, als spuckte er all die Schwärze aus, die sich in seiner Seele gesammelt hatte. Die Frauen starrten ihn noch einen Augenblick an, dann kamen sie nacheinander zu ihm. Mit rotem Gesicht versuchte Lancelot es ihnen zu erklären. »Es ist nur ... da waren diese vier Hexen und ... eine hat mich immer verfolgt und ... hahaha!« »Hier ist gewiss keine Hexerei im Spiel, großer Ritter«, erwiderte die jüngste Magd und lächelte. »Ich dachte, hier ginge es nicht ums Färben, sondern ums Sterben ...« Lancelot tat so, als wollte er sich die Kehle durchschneiden, kippte den Kopf zur Seite und streckte die Zunge heraus. »Nein, hier gibt es keine Hexerei ...« 103
Doch im nächsten Augenblick wurden seine Worte Lügen gestraft. Zwischen den blubbernden roten Blasen tauchte ein menschlicher Kopf auf - der Kopf einer Frau. Die flüssige Farbe lief über das lange dunkle Haar und die starren Augen. Schultern, die ein Kleid trugen, hoben sich aus den anderen Kleidern, die im Färbebad kochten. Die Arme blieben an die Seiten gepresst, während sie höher stieg. Was vom Rocksaum tröpfelte, formte einen Kreis im Bottich. Sie atmete. Die Augen blinzelten. Offenbar konnte ihr die siedende Flüssigkeit nichts anhaben. Die vier Mädchen wichen kreischend vor der blutigen Gestalt zurück, die sich aus ihrem Färbekessel erhob. Sie zogen die Köpfe ein, rafften die Haare zusammen und rannten davon. Lancelot zog sich nicht zurück, denn er erkannte die Frau. Er sprang aus dem Sattel und kniete nieder. »Meine Königin.« Guinevere starrte auf ihn herab, die Augen rot wie Rüben. »Verzeih mir, dass ich auf diese Weise zu dir komme.« »Es gibt nichts zu verzeihen«, erwiderte er ehrfürchtig. »Ich musste dich finden und bin auf dem schnellsten Weg gekommen. Wasser ist für mich der schnellste Weg, und dies hier kam dem Wasser am nächsten.« Mit schlafwandlerischen Bewegungen schritt sie durch die Luft und entfernte sich vom Kessel. Sie stieg eine unsichtbare Treppe herunter und blieb vor Lancelot stehen, streckte eine scharlachrote Hand aus. Er nahm sie, und Guinevere zog ihn hoch, bis er stand. Lancelot betrachtete die rote Hand, die er hielt. »Deine Haut ist so heiß.« Sie schluckte, und ihr Arm zitterte. »Ja. Ich wurde durch die Magie der Anderwelt geschützt, als ich auftauchte, doch jetzt verbrennt mich dieses klebrige Zeug.« Lancelot nahm sie auf die Arme. Die Farbe besudelte das Symbol auf seinem Wappenrock. Aufgeregt rannte er zum Bergfried. »Im Namen von König Artus, bringt uns zum königlichen Badehaus!« Die meisten Dummköpfe standen nur da und gafften und dachten, er meine jemand anders. Nur ein junger Stallbursche gehorchte. Er rannte diensteifrig vor ihnen her. »Folgt mir.« 103
Guinevere schauderte bereits vor Hitze. Sie klammerte sich an Lancelots Schulter und hinterließ einen roten Handabdruck. »Es brennt jetzt wirklich sehr schlimm.« »Nur noch ein paar Augenblicke«, flüsterte er. »Nur noch ein paar Augenblicke ...« Der Bursche führte sie eine schmale Treppe hinunter in einen Garten. Am hinteren Ende in der Nähe einer natürlichen Quelle stand ein kleines Badehaus. Es war ein eigenartiges Ding, dem Äußeren nach im römischen Baustil errichtet. Auf einer Seite hing eine große Zisterne über glühenden Kohlen. Der Eingang war ein Bogengang mit einer Eichentür, die in eine gekachelte Kammer führte. Im Zentrum stand ein viereckiges Becken, etwa vier Fuß tief und zehn Fuß breit. »Das Wasser ist kalt«, warnte der Junge. »Umso besser«, gab Lancelot zurück. Er ging zwischen den Steinsäulen hindurch und sprang, immer noch die Königin auf den Armen haltend, ins Wasser. Wirklich, es war kalt und prickelte wie Nadelstiche auf Lancelots Haut. Für Guinevere musste es sich wie Messerstiche anfühlen. Sie schüttelte sich heftig und klammerte sich an ihn. »Halte mich! Halte mich!« »Ja«, flüsterte er und hielt sie fest. »Die Kälte wird den Schmerz der Verbrennungen lindern.« Die Farbe breitete sich in roten Ringen um sie aus. »Ich fache das Feuer unter der Zisterne an«, bot der Junge an. »Dreht den Hahn dort am Ende der Tonröhre auf. Dort kommt warmes Wasser heraus.« »Gut. Schließ die Tür und pass draußen auf. Nimm dies als Befehl des Königs selbst.« Der Junge rannte aufgeregt hinaus. »Zu kalt«, sagte Guinevere. Sie kletterte fast auf ihn, um aus dem Wasser zu kommen. »Hier.« Er drehte den Hahn auf, eine hölzerne Vorrichtung, die dem Hahn an einem Fass nicht unähnlich war. Dampfendes Wasser kam heraus. Lancelot wedelte im Wasser, um die Wärme in ihre Nähe zu holen. »Dir wird gleich wieder warm.« 104
Guinevere drückte sich zitternd an ihn. »Es sticht. Alles, was mich berührt, sticht.« Er schöpfte Wasser mit einer Hand und wusch sanft das Gesicht der Königin. Die Flüssigkeit, die aus ihrem Gesicht rann, hatte die Farbe von Blut. Wieder schöpfte er Wasser und versorgte Wangen und Stirn. Das Wasser war rosa. Eine dritte Hand voll Wasser, und es rann klar hinab. Vor Anstrengung, Kälte und allem anderen schwer atmend, ließ Lancelot sie in den Armen etwas sinken. Das Haar legte sich wie ein Fächer ins Wasser und blutete aus. Sachte zog er die Finger durch die seidigen Strähnen. Er spürte, wie das Wasser wärmer wurde. Die Spannung in ihrem Körper ließ nach. »Sticht es immer noch?« »Ja«, sagte sie. »Überall.« Sie hob die Hand an die Spitzen ihres Kleids. Lancelot drehte sie auf den Armen zu sich herum und hielt sie fest. Er starrte über den roten Teich hinaus, starrte durch die gekachelten Wände hindurch in eine unergründliche Ferne. »Was war denn so dringend, dass du auf diesem Weg zu mir kommen musstest?« »Dies«, sagte sie und hob ihren Mund dem seinen entgegen. Ihre Lippen trafen sich. Sie schob die Hand in sein Haar und drückte sich an ihn. Er schmeckte ihren und sie schmeckte seinen Mund. Lancelot löste sich von ihr und hielt sie fest. Er zitterte. »Was tun wir hier?« »Wir sind wahrhaftig mit uns selbst«, flüsterte sie. »Endlich, endlich sind wir wahrhaftig.«
Ihr warmer Atem kitzelte ihn im Nacken. Dieses Mal suchten seine Lippen die ihren. Seine Hand fiel auf die Spitzen ihres Kleides. Roter Stoff teilte sich über dem feuchten Mieder. Als er die Bänder löste, zog sie ihm die Rüstung über die Schultern. Die Sorgen des Kampfes fielen mit der Rüstung von ihm ab. Auch sein Brustharnisch musste ihren begierigen Fingern weichen. Er war kein Ritter mehr, er war nichts weiter als ein Mann. Er zog ihr das Mieder aus und legte eine Hand auf ihre weiche Brust. Sie war keine Königin mehr, sondern eine Frau. 105
Er zog sie an sich. Rotes Wasser schwappte zwischen ihnen. Er bedeckte ihren Hals mit Küssen. Während sie sich an ihm festhielt, langte sie zu seiner Hüfte und löste auch dort die Bänder. Sie umschlang ihn mit den Beinen und setzte sich auf ihn. Ein langes, glückliches Seufzen entschlüpfte ihren Lippen. Er griff nach dem Rand des Beckens und hielt sich in der Ekstase fest. Wieder entfuhr es ihm: »Was tun wir hier?« »Wir sind wahrhaftig.« »Wahrhaftig mit uns selbst... aber hinterlistig zu allen anderen ...« »Was gibt es außer uns?« »Was ist mit Artus? Mit Camelot?«, keuchte er. Guinevere schnurrte beinahe. »Die sollen sich um sich selbst kümmern.« Dann gab es keine Worte mehr. Der rote Farbton des Wassers vertiefte sich, das Becken dampfte. Nichts gab es mehr außer diesem roten Ort. Selbst der grausame Schritt der Zeit hielt inne. Der Raum beschirmte sie und schützte sie. Alles, was existierte, waren zwei rote Körper, die sich wie die Hälften eines schlagenden Herzens bewegten. Endlich nahm er sie in die starken Arme und hielt sie fest. Auch sie hielt ihn, wartend und gegen seinen Nacken atmend. Als er sie losließ, standen ihm die Tränen in den Augen. Sie sah ihn liebevoll an. »Sei nicht traurig.« »Es ist zu spät«, sagte Lancelot. »Dies ist es, was wir wollten, doch jetzt haben wir alles zerstört. Alles, was wir sind, und alles, was wir lieben. Wir haben alles zerstört.« Guinevere hatte keine Zeit mehr, ihm zu antworten. Draußen polterten Pferdehufe. Jemand rief den Stallburschen. Seine Antwort war deutlich durch die Tür zu hören. »Ja, er ist dort drinnen, doch Ihr könnt auf Befehl des Königs Artus nicht hinein.« Eine Frauenstimme antwortete ihm. »Auf Befehl der Königin Guinevere — auf meinen Befehl — wirst du zur Seite treten!« Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht, und die Tür ging krachend auf. Herein schritt Guinevere. Sie blieb neben dem Bad stehen, das nun aussah wie ein Teich voll Blut, und starrte Lancelot und die Frau an. 105
Er starrte verwirrt und schuldbewusst zurück. »Was ... wer bist du?« »Was glaubst du denn?«, erwiderte die Königin schnippisch. Sie deutete zu der anderen Frau. »Und wer ist das da?« »Ich hielt sie für dich«, platzte Lancelot heraus. Wut, Eifersucht, Verwirrung und Verlegenheit wechselten rasch in Guineveres Gesicht. Lancelot sah die Frau an, die er noch in den Armen hielt. »Wer bist du?« Sie zog sich von ihm zurück. Auf einmal ähnelte sie der Königin ganz und gar nicht mehr — kleiner war sie und dunkler, hatte ein rundes Gesicht und braune Augen. Sie zog sich zur anderen Seite des Beckens zurück, sammelte die schwimmenden Kleider ein und stieg heraus. »Ich bin Elaine, die Tochter von Pellas, dem König dieser Burg.«
»Also war doch Hexerei im Spiel. Von Anfang an«, rief Lancelot, während er seine Sachen aus dem Wasser fischte. »Du hast mich hergelockt und dich als die Königin verkleidet und mich verführt. Warum?« »Ich bin keine Hexe«, sagte Elaine. Sie zog ihr nasses Kleid an. »Und ich habe es aus Liebe getan. Es gibt tausend Mädchen, die gern getan hätten, was ich getan habe.« Lancelot kniff die Augen zusammen. »Aus Liebe hast du mich zerstört?« »Aus Liebe hat sie dich gerettet«, sagte eine neue Stimme. Der Mann hatte den Raum nicht wie alle anderen betreten, doch auf einmal war er da - mit gebeugten Schultern und runzlig, mit dunklen Augen unter umwölkter Stirn. »Merlin«, keuchte Guinevere. »Ja. Ich bin es - und es war keine Hexerei, sondern die Zauberei, mit der diese Täuschung bewirkt wurde.« Lancelot starrte die alte Legende an und wollte seinen Augen nicht trauen. »Aber warum? Was soll das alles?« Der alte Mann kratzte sich am Bart und sah nachdenklich zum roten Becken. »Elaine hat aus Liebe gehandelt. Ich hatte unfreundlichere Absichten. Ich wollte dich vor dem Weg warnen, den du beschrei 106
test. Du hast ganz richtig erkannt, Lancelot, dass die Vereinigung mit der Königin alles zerstören würde, was ihr liebt — Artus, Camelot und euch beide. Du hast es erfahren, bevor es zu spät war.« Lancelot tat der Kopf weh von all diesen Enthüllungen. »Wie konntest du es wagen, mich zu täuschen?« »Ich habe vorhergesehen, dass es dazu kommen würde. Ich habe es schon gesehen, als du noch in der Wiege lagst, und ich habe noch viel schlimmere Dinge für dich vorhergesehen. Du musst auf meine Warnung hören.« Während er die letzten Stücke seiner Rüstung aufhob und an sich nahm, sagte Lancelot: »Wichtig ist für mich nur, dass ich viel zu lange von Camelot und meinem König fort war. Welche Fehler meine Irrfahrt auch mit sich brachte, sie können durch meine Hingabe für Artus und Gott behoben werden. Du, Merlin, bist so böse wie Morgan le Fey. Sie will Artus um jeden Preis zerstören, und du willst ihn um jeden Preis beschützen. Was ist mit der Ehre? Ja, was ist damit? Ich beschäftige mich schon so lange mit der Unehrenhaftigkeit anderer Männer, dass ich kaum noch weiß, was Ehre ist.« Er stieg aus dem Becken und schritt zur Tür. Ohne jede Verlegenheit starrte er Königin Guinevere an, als er an ihr vorbeiging. »Ich kehre heute Abend zurück. Das Pfingstfest kommt bald, und ich werde es zur Buße nutzen.« Ihr Blick war gleichermaßen fest. »Wenn du in Camelot die Erlösung suchst, dann werde ich sie zum Wohle unser beider Seelen anderswo suchen.« Merlin schlurfte in seiner Höhle der Verzückung aus dem heiligen See. Er wirkte jetzt sehr alt. Wasser tropfte aus dem Bart und den Reisekleidern. Er stieg den Hügel hinauf zum Petunienbeet und zu seiner Geliebten. Ohne vom Spaten aufzublicken, fragte Nyneve: »Wie ist es dir ergangen?« »Ziemlich schlecht«, grollte Merlin, als er an ihr vorbeitappte. »Hast du erreicht, was du erreichen wolltest?« »Nein.« 106
»Es ist sinnlos, sich in das Leben der Sterblichen einzumischen«, meinte Nyneve halblaut. Merlin fuhr zu ihr herum. »Da irrst du dich, meine Liebe. Es wird sogar etwas außerordentlich Gutes herauskommen, nachdem ich mich eingemischt habe. Es wird jemand herauskommen, der ausgesprochen gut ist. Und er kann Artus retten.« Nyneve zog die Stirn kraus. »Ach, ja? Wer denn?« »Sein Name wird Galahad sein.« Merlin drehte sich wieder um und setzte den Aufstieg zu ihrer Hütte fort. Die bloße Nennung des Namens hatte ihn wieder verändert. Seine Kleider tropften noch, doch in ihnen steckte jetzt ein breitschultriger junger Mann. Nyneve sah ihm skeptisch nach, steckte den Spaten in die Erde, klopfte die Hände sauber und folgte ihrem Geliebten. 107
17. Feuer des Himmels So etwas hatte Lancelot noch nie getan. Noch nie hatte er ernstlich gebetet. Es hatte auch keinen Grund dazu gegeben. Als Kind war er in Avalon förmlich vom Göttlichen durchtränkt worden. Warum sollte er vor Göttern knien, die in ihm selbst lebten? Doch jetzt gab es in ihm keine Götter mehr. Nicht einmal mehr eine Seele. Es war leicht zu knien. Innerlich war er bereits zusammengebrochen. Er kniete in einer großen, aber selten genutzten Kapelle in Camelot. Es war ein schöner, dunkler, warmer Ort. Dicke rote Teppiche verschluckten das Flüstern der Besucher. Große Lanzettenfenster ließen farbiges Mondlicht auf einen Altar aus weißem Marmor fallen. Das Gewölbe duftete nach kaltem Weihrauch. Es war ein schöner Ort, der vollkommene Sitz für einen echten Gott. »Wie du damals über die Apostel gekommen bist und das Feuer des Himmels auf sie gegossen hast, so komme jetzt zu mir. Hülle mich in dein reinigendes Feuer. Verbrenne alle Unreinheiten. Kühle mein Herz, damit ich dir dienen kann, damit ich Artus dienen kann.« Guinevere erwähnte er nicht, doch ihr Name schwang in jedem Wort mit. »Heile meine zerschlagene Seele und schenke mir die Ganzheit.« Er wusste nicht, wie man betet. Er wusste nur zu kämpfen — und Guinevere zu lieben. »Ich tue, was ich nicht tun will. Ich bin ein Mann, der ich nicht sein will. Wasche mich mit dem Blut Christi und verwandle mich, indem du meinen Geist erneuerst.« Die Worte flössen ihm von den Lippen und wurden vom Teppich aufgesaugt. Immer nach unten ging es. Er hatte gedacht, der keusche Christus könne seine Qualen verstehen — er, der mit Dirnen gespeist und sich nicht hatte hinreißen lassen. Aber wie konnte er es verste107
hen? Seine Mutter war eine Jungfrau. Sein Vater hat ihn mit einem Spruch zum Leben erweckt. Selbst der Heilige Geist hatte ihn durch Marias Ohr gezeugt. Wie konnte ein Gott, der sich zur Keuschheit entschlossen hatte, einen Mann verstehen, der dagegen wetterte? »Führe mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich von dem Übel...« Unter dem Rückenpanzer bekam er eine Gänsehaut. Irgendetwas ergriff ihn - ein Ruf. Es war kein Ruf Christi und kein göttliches Wort, das in der Dunkelheit gesprochen wurde. Es war ein sinnlicher Impuls wie der Pollenflug im Wind. Die Christen mochten auf das Feuer des Himmels warten, doch in Wirklichkeit war jedermann auf sinnlicheres Feuer aus.
Begehren durchflutete Lancelot. Er kochte fast in seiner Rüstung. Seine Hände zitterten. Die Worte strömten aus ihm und wurden an den Gott der Worte gerichtet. Doch jede wortlose Regung tastete nach Guinevere. Auf der anderen Seite Britanniens spürte es auch Guinevere. Die ersten Sommerdüfte wehten durch das in der Nacht geöffnete Fenster herein. Selbst hier in Westminster und trotz des Rauchs unzähliger Kamine und des Gestanks der offenen Kloaken roch sie den frischen Duft. Guinevere stand aus dem Bett auf, lief zum Balkon und schaute hinaus. Nacht lag über der Stadt, die Wolken droben waren schwer von Regen. Menschen schlenderten auf den Straßen, atmeten tief ein und schwatzten angeregt. Eine warme Brise rüttelte am Efeu. Guinevere hatte sich in die Stadt zurückgezogen, weil sie hoffte, dem Ruf des Sommers zu entgehen. Es war zwecklos. Gebieterisch erklang er auch in ihr. Sie war die Macht des Landes. Das Land rief, und sie musste antworten. Sie streckte die Hand aus und berührte eine Efeuranke, die am Haus wuchs. Das grüne Fleisch der Pflanze zitterte, die Ranke legte sich um ihre Finger. Kraft begegnete der Kraft. Die Berührung weckte Erinnerungen an Wälder, die sich mit Ranken behängt hatten, an Wiesen, die in der Hitze flimmerten, an anschwellende Flüsse und Zikadenstimmen im Himmel. Die Sonnenwende kam erst in drei 108
Wochen, doch der Sommer klopfte schon an die Tür. Er lud sie ein, herauszukommen und zu spielen. Sie sehnte sich danach. Widerstreitende Gefühle peitschten Guineveres Blut auf. Der Zyklus der Jahreszeiten regte ihre eigenen Zyklen an - auch wenn sie vernachlässigt waren. Der Mai rief sie. Sie hatte sich den Rufen ihres Wesens lange verweigert und hätte es auch dieses Mal beinahe wieder getan. Beinahe. Sie ging durch ihre dunkle Kammer, zog den Riegel weg und riss die Tür auf. Die Ritter, die draußen wachten, drehten sich erschrocken um. Sie verneigten sich eifrig und wären beinahe mit den Helmen gegeneinander geprallt. Guinevere sah sie belustigt an. »Sir Sagramour, teile doch den anderen Rittern mit, dass wir morgen maien gehen wollen. Sir Brandeies, unterrichte mein Gefolge. Alle Ritter und Knappen, alle Hausdamen und Mädchen sollen sich grün kleiden, und die Rüstungen sollen glänzen und funkeln. Jedes Pferd soll grüne Tressen und einen Mann und ein Mädchen tragen. Wir werden mit Schwertern in der Scheide zum Lautenschlag ausreiten. Morgen werden wir diese Kriegsabteilung in Friedensboten verwandeln und der alten Überlieferung gemäß in die Wälder reiten.« Die beiden Männer starrten sie fassungslos an. »Wir können diese Befehle nicht überbringen, meine Königin. Wer soll denn Eure Tür bewachen?« Guinevere holte tief Luft. »Könnt ihr es riechen?« »Was denn, Hoheit?«, fragte Brandeies. »Den Wind. Den köstlichen Wind. Er wird meine Tür bewachen. Heute Nacht kann mir nichts Böses widerfahren, solange dieser Wind weht. Und auch am Morgen kann nichts Böses kommen.« Die Ritter wechselten nervöse Blicke. »Aber Euer Gatte hat doch Befehl gegeben, Euch zu bewachen ...« »Und ich gebe euch jetzt einen anderen Befehl«, unterbrach Guinevere ihn. »Nun geht und vertraut auf meine Macht. Nichts Böses wird heute Nacht geschehen.« 108
»Nichts Böses wird heute Nacht geschehen«, äffte Morgan le Fey sie nach. Sie zog die Lippen zurück und bleckte die Zähne. Es war ein ausnehmend hässliches Lächeln. Ihre Hand wackelte über dem Kessel, an dem sie arbeitete. Das Bild Guineveres kräuselte sich, verschwand jedoch nicht. »Heute Nacht wird dir nichts Böses geschehen, aber morgen umso mehr.« Eine weitere Handbewegung verrührte die Säfte im Kessel. Das Bild verzerrte sich und verschwand. Die Säfte waren Blut - Morgans eigenes Blut, vermischt mit Lancelots Blut, das sie ihm abgesaugt hatte, als er verzaubert geschlummert hatte, und mit Guineveres Blut, das sie aus einem weggeworfenen Stück Mull gewonnen hatte. Es war eine mächtige Kombination, mit der die drei unauflöslich miteinander verbunden wurden. Das Blut beruhigte sich. Die Wellen legten sich, und ein neues Bild baute sich auf: Lancelot kniete niedergeschlagen und schwitzend in einer Kapelle von Camelot. Morgans zuversichtliches Lächeln wurde breiter. Die Macht des Frühlings brachte die Tiere in der Brunft zusammen, und der Sommer sorgte dafür, dass sie in der Brunft nicht nachließen. Der wahre Grund hinter dem Maienfest war der, im Wald einen Gefährten zu finden. Auch Guinevere suchte ihren Gefährten, sie suchte Lancelot. Das war schon gefährlich genug, doch Morgan hatte ganz eigene gefährliche Ideen. Sie langte zu einem Haken über dem Kessel und zog ein blutiges Hemd herunter — eine »Trophäe«, die sie Meleagaunce auf dem Turnier nach dem Kampf gegen Lancelot abgeschmeichelt hatte. Das Kleidungsstück stank nach altem Schweiß und Blut. Morgan küsste den größten Fleck und ließ das Hemd fallen. Es legte sich über die Flüssigkeit im Kessel, und das Blut rann durch seine Fasern. Es breitete sich aus wie die Rose des Todes über einem erstochenen Herzen. »Nur dass sie nicht weiß, welcher Gefährte sie erwartet«, sagte Morgan unheildrohend. Das Hemd versank im Blut. Wieder beruhigte sich die Flüssigkeit im Kessel, und dieses Mal erschien auf der Oberfläche das dumpfe, brutale Gesicht Meleagaunces. 109
»Sie soll ihren Gefährten bekommen, und ich werde Lancelot bekommen.« Der Tag dämmerte prächtig über Westminster. Zwischen Hütten aus Reisig und Lehm und Pfählen marschierte eine grüne Streitmacht. Die Instrumente spielten eine muntere Weise, und fröhliche Stimmen erklangen. Die Prozession sah aus wie eine Inkarnation des Sommers, wie sie da zwischen den gedrückten Hütten entlang zog. Wo immer sie auftauchte, wich das Grau zurück. Gesichter erschienen in den Fenstern, und die Gesichter lächelten. Königin Guinevere ritt hinter Sir Kay, dem Seneschall ganz Britanniens, im Damensitz. Doch sie wirkten beide nicht wie königliche Personen. Kays blondes Haar trug einen Kranz aus Efeu statt des Helms, und Guineveres dunkles Haar hing offen bis zur Hüfte herab. Beide waren in smaragdgrüne Gewänder gehüllt, die traditionelle Farbe der Maikönigin. Bald würden die Säume der Kleider Borten aus Blumen tragen. Als zwischen den Liedern eine Pause entstand und die Menschen fröhlich lachten, rief Königin Guinevere: »Wer kennt dieses hier?« Im Mai steigen wir den blühenden Hügel empor Voller Hoffnung sind wir vereint und bereit Überall herrschen Glück und Freude nun vor Alle Verzweiflung ist vorbei in der Maienzeit Wir singen und tanzen und sind bald schon gefreit O tandaradei, o tandaradei, o tandaradei Andere fielen ein, als sie die zweite Strophe anstimmte, und gemeinsam sangen sie:
Wir empfangen die Früchte des Sommers beglückt Frisch und rein erquickt uns des Maimondes Luft Vergessen ist alles, was einst uns bedrückt Vergessen ist auch des Winters kaltweife Kluft Glücklich undfröhlich tanzen wir nun im Maienduft O tandaradei, o tandaradei, o tandaradei 110
Und als die letzte Strophe begann, stimmten alle lauthals ein: Vergesst den Kummer, die Sorge und alle Not Wir wollen dem Mai unser fröhliches Lachen zeigen Erhebt euch und singt im frühesten Morgenrot Alles gedeiht, wenn Schnee und Kälte sich neigen Wir feiern den Mai mit unserem munteren Reigen 0 tandaradei, o tandaradei, o tandaradei Der Zug hatte die verwinkelten Straßen verlassen. Er hatte die ganze Stadt aus dem Trott gerissen — der Staub, der Rauch, die harten Blicke und das Geschiebe der Menschen waren einen Augenblick vergessen. Nun blieben die Kinder, die dem Zug fröhlich gefolgt waren, an den Toren zurück. Draußen verließ die Parade die Straße und verteilte sich auf grünen Feldern. Blüte um Blüte kleideten sich die Menschen mit dem, was die Welt der Ebenen und Wälder ihnen schenkte. Muntere Trinklieder wichen den rhythmischen Liedern von Feldarbeitern, die nach Schweiß rochen und ihre Sicheln schwangen und mit starkem Rücken, der nicht gebrochen werden konnte, ihrer Arbeit nachgingen. Sir Pellas zog die Spulen mit den Bändern hervor, die sie für den Maibaum verwenden wollten, und ließ sie von Reiter zu Reiter werfen. Samtener Stoff zog farbenfrohe Bahnen durch die Luft. Gefährten fingen die Spulen auf und warfen sie zurück. So ritten sie, verbunden durch Tuch und Lied. Die Pferde schnauften den langen Hügel hinauf. In den Tagen der Tuatha de Danann war das ganze Tal von Westminster bewaldet gewesen. Dann kamen die Bretonen. Bäume wurden gefällt, Häuser gebaut. London wurde aus den Wäldern geschnitzt, und jetzt sandten noch mehr Bäume ihre Asche durch die Schornsteine in die Luft. Die verbliebenen Wälder begannen in einigen Meilen Entfernung — ein Tagesmarsch für die Bettler, die Reisig verkauften, ein leichter Ritt für das königliche Gefolge. »Wir brauchen einen vollkommenen Baum«, verkündete Guinevere, als wieder ein Lied verklungen war. »Gerade gewachsen, hoch 110
und leicht für das Freudenfeuer zu beschneiden. Ich denke, wir sollten eine Kiefer nehmen. Sie wachsen sehr gerade und brennen gut.« Kay, ihr Reitgefährte, antwortete darauf: »Wisst Ihr, meine Königin, was der Maibaum symbolisieren soll? Wenn er groß und aufrecht steht?« »Das weiß ich«, gab sie zurück. »Die Frage ist dann bloß, wem das gehören mag, was er da symbolisiert«, fuhr Kay scherzend fort. Guinevere ließ sich nicht in Verlegenheit bringen. »An wen denkst du denn da? Ach, vielleicht könnten wir auch einen Krummen finden, aus dem schon der Saft läuft, falls du der Geehrte sein willst...« »O nein, ich habe gewiss nicht die Absicht, in das jetzt schon überbevölkerte Herz Eurer Majestät vorzustoßen«, erwiderte Kay galant. »Übervoll ist es, wie wahr«, erwiderte Guinevere. »Denn ich liebe mein Leben und meinen König und mein Land, ich liebe diese Kleewiese und die singenden Zaunkönige und die zwei oder drei Buchenblätter, die dort schweben, und ... nun, mein lieber Kay, wenn ich dich in die lange Liste aufnehmen sollte, dann würde dir eine nicht eben niedrige dreistellige Zahl zugeteilt.«
Sie erreichten jetzt den Waldrand, wo Nesseln sich aufgereiht hatten, um Eindringlinge abzuwehren. Guinevere, die sich mit Pflanzen auskannte, packte die Zügel, die Kay gehalten hatte, und lenkte das Pferd am Saum entlang. So erreichten sie einen freien Zugang, der breit genug war für ein Pferd. Ein seltsamer Wildwechsel war es, doch Guinevere freute sich und wollte glauben, was die Augen sahen. Sie führte ihr Gefolge im Gänsemarsch in den Wald. Mit Moos bewachsene Stämme rückten näher an den Weg heran. Äste schlossen sich zu einem grünen Dach über den Köpfen. Die allgegenwärtige Sonne wurde ausgeblendet, bis nur noch winzige Dreiecke auf der Gesellschaft tanzten. Bald drang überhaupt kein Sonnenlicht mehr durch. Im Zwielicht ritten die Schwärmer dahin. Vor ihnen öffnete sich der Weg. Es war eine Lichtung, wie sie beim Sturz eines Waldriesen entstand, doch sie war unten breit und lief ich oben zusammen, bis nur mehr ein schmaler Streifen des Himmels zu sehen war. In der Mitte stand der starke, gerade Stamm einer 111
mächtigen Fichte. Die Zweige waren abgeschlagen und lagen daneben auf einem Stapel. Die Nadeln waren noch grün, in den Stümpfen war der Saft zu sehen. Offenbar war vor kurzem noch jemand hier gewesen, vielleicht ebenfalls auf der Suche nach einem Maibaum. Doch wo waren dann die Samtbänder? So eigenartig war der Ort und so vollkommen der Baum, dass Guinevere Kay noch einmal in den Zügel griff und das Pferd anhielt. Sie saß schweigend im Sattel, während die Gefährten den Wildpfad heraufkamen und sich um sie sammelten. Vor dem großen Baum bildeten sie einen Halbkreis. Sir Kay drehte sich zu seiner Königin um. »Wir hätten nicht hoffen können, einen so vollkommenen Baum zu finden. Als hätte ihn der Blitz getroffen.« »Hätte der Blitz ihn getroffen, dann wäre der Baum tot. Ein toter Baum kann nicht als Maibaum dienen. Nein, dieser Baum ist vollkommen. Und das macht mir Angst.« Der Letzte ihrer Gesellschaft — ein Schildknappe, der rasch ausschreiten musste, um mit den Pferden Schritt zu halten - traf bei der Königin ein. »Ihr habt Angst, weil es uns leicht gemacht wird, Hoheit?« »Der beste Käse, den die Maus je kostet, ist der Käse, der die Falle auslöst«, erwiderte Guinevere. »Weicht zurück, ihr alle«, sagte sie unsicher. »Dies ist eine Falle.« Zu spät. Zehn Ritter, zehn Jungfrauen und ein paar Knappen -und keiner hatte die dunklen Gestalten bemerkt, die jetzt hinter den Bäumen hervortraten. Plötzlich waren sie von Briganten umgeben und sahen sich zehn zu eins in der Unterzahl. »Eine Falle!«, rief Guinevere. Kay fuhr auf dem Pferd herum. Der Wald stürmte auf ihn los - nein, nicht der Wald, sondern Männer, die sich mit Borke und Flechten verkleidet hatten. Einer rannte zum Seneschall und hob einen krummen Eichenstab. Die primitive Keule stieß Kay nach hinten. Grunzend prallte er gegen Guinevere. Das Pferd keilte aus und bäumte sich auf. Seneschall und Königin stürzten in die Fichtennadeln. 111
Das Pferd senkte den Kopf und griff an. Ein Schwert zerschmetterte seine Vorderbeine, das Tier strauchelte und trat gepeinigt um sich. Überall ringsum war das gleiche Bild zu sehen - düstere Gestalten drangen auf die grün gekleidete Gesellschaft ein, Pferde stürzten und starben, Männer und Frauen fielen in den
Staub und schnappten nach Luft. Ketten funkelten und Fesseln klirrten, als sie sich um Hälse und Hände und Füße schlossen. Drei Ritter waren schon tot - Ladynas, Persant und Ironside -, und die anderen kämpften um ihr nacktes Leben. Es war zwecklos. Wer sich wehrte, wurde von den Räubern kurzerhand getötet. Wer nur entfernt so aussah, als könnte er eine Bedrohung darstellen, sah sich sofort von Feinden umringt. Immer noch keuchend nach dem Sturz erkannte Guinevere, wo die Rettung war. Jung, hager, ohne Pferd und erschrocken — der Knappe war von den Angreifern völlig ignoriert worden. Er stand zitternd und gebeugt da, als wartete er auf Befehle. Guinevere gab sie ihm. »Lauf!«, befahl sie mit gepresster Stimme. Sie zog den Siegelring vom Finger ab und warf ihn dem Burschen zu. »Fliehe. Nimm ein Pferd. Gib dies hier Lancelot. Sage ihm: Komm zurück zu mir!« Der Knappe nickte und steckte sich den Ring an den Finger. Gleich darauf floh er geduckt vor Banditen und Pferden, im nächsten Augenblick war er schon verschwunden. Die Nesseln zitterten, wo er gerade noch gewesen war, dann wurde es still. Er würde fliehen. Er würde aufs erste Pferd springen, das ihm über den Weg lief. Wenn er Glück hatte, konnte er nach Westminster gelangen und dann mit voller Geschwindigkeit nach Camelot reiten. Guinevere wusste es, noch während sich das Unkraut hinter ihm beruhigte. »Was gaffst du da?«, knurrte einer der Räuber. Sein Handrücken traf ihre Wange. Guinevere kippte zurück und fing sich mit einer Hand ab. Kay sprang auf. Er wollte ausholen und mit rechts zuschlagen, doch Faust und Körper wurden von einem ganzen Schwärm von Räubern festgehalten. Mit dem linken Arm trommelte er auf Köpfe und Rücken, doch es nützte nichts. Einige Augenblicke später hatten ihn die Feinde überrollt wie eine dunkle Woge und drückten ihn auf den Boden. ' 112
Guinevere wehrte sich und wollte zu Kay, doch ein Räuber riss ihren Arm hinter dem Rücken hoch und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Die Kampfe erstarben. Von der Maibaum-Gesellschaft war nur noch Guinevere auf den Füßen. Kay und die anderen Ritter waren kampfunfähig - einige tot, einige in Ketten. Die anderen Frauen waren ins Gebüsch geschleppt worden, wo gedämpfte Schreie eine böse Geschichte erzählten. Nun kam der Anführer der Räuber auf die Lichtung getrampelt -der dicke, grobschlächtige Mann, der diese Falle gestellt hatte: Meleagaunce. »Ah, meine Königin«, tönte es aus dem schwarzen Bart, »Ihr kommt mich besuchen. Seit dem Turnier musste ich immerfort an Euch denken.« Guinevere starrte ihn gleichmütig an. »Ach, wirklich? Und du bist ...?« »Spielt nicht mit mir, Eure Majestät«, erwiderte Meleagaunce. Er trug dieselbe schwere Rüstung wie beim Turnier. »Ihr wisst ganz genau, wer ich bin und was ich will.« »Du bist natürlich Prinz Meleagaunce, Sohn des Königs Bagdemagus«, erwiderte die Königin. »Aber was du willst, ist mir alles andere als klar. Du bist meinem Streiter Lancelot verpflichtet, der für die Ehre deines Vaters an deiner Seite gekämpft hat. Es scheint mir, als könnte dir gerade jetzt eine solche Ehre gut zu Gesicht stehen.« Seine Hand flog hoch, und die Knöchel trafen ihr Gesicht. »Halt's Maul. Was ich will, ist ganz einfach. Ich will dich.« Drei Tage hatte er vor dem Altar gelegen. Er hatte gefastet und die ganze Zeit gebetet. In den ersten zwölf Stunden hatte er sich gelegentlich entfernen müssen, um sich zu
erleichtern. Danach hatte es nichts mehr zum Erleichtern gegeben. Dunkelheit umhüllte ihn, und er wartete auf sein Urteil. Lancelot wusste immer noch nicht, wie man betet. Statt blumiger Worte bot er vor dem Altar des eifersüchtigen Gottes sein ganzes Leben dar. Wenn er nur geläutert werden könnte, wenn er nur wieder ein heiles, einfaches Wesen werden könnte. Keuchend und schwitzend kam ein junger Edelknappe gerannt. 113
Der Knabe kniete vor Lancelot nieder und teilte ihm vor Erschöpfung und Erleichterung weinend die Neuigkeiten mit. »Königin Guinevere wurde von Prinz Meleagaunce gefangen genommen. Er bringt sie zu seiner Burg.« Der Bursche zog sich den Ring der Königin vom Finger und hielt ihn Lancelot hin. Lancelot stand auf. Seine Beine kribbelten. »Was sagst du da?« »Die Königin hat mir befohlen, Euch dies zu überbringen und Euch ihre Botschaft zu übermitteln«, sagte der Edelknappe wütend. »Ja, und ... ?« »Komm zurück zu mir«, antwortete die reine Kinderstimme, dass es Lancelot kalt den Rücken hinunterlief. »Das will ich tun«, sagte Lancelot. Er nahm den Ring und steckte ihn sich auf den kleinsten Finger. »Ich werde zu ihr zurückkehren.« 113
18. Die Wahl der Liebenden Rasa donnerte in gestrecktem Galopp über die Ebene von Westminster. Er war unermüdlich. Er wusste, dass Guinevere in Gefahr war, und rannte für sie. Der scharfe Blick des Pferds fand sein Gegenstück in Lancelots Aufmerksamkeit. Er sorgte sich um Rasa, gewiss - er forschte nach Schaum vorm Maul, er ließ das Tier durch Flüsse laufen, um das heiße Fell zu kühlen, er hieß sein Pferd jede Stunde einige kostbare Minuten anhalten und grasen -, doch seine Augen waren nur dorthin gerichtet, wo Guinevere sein musste. Sie schmachtete irgendwo tief unten in Meleagaunces Burg in einem dunklen Verlies. Wer weiß, vielleicht litt sie sogar schon unter dem fleischigen Mann selbst. Lancelot biss die Zähne zusammen. Mit einem sanften Stoß der Hacken ließ er den galoppierenden Hengst noch schneller laufen. »Guinevere«, stöhnte Lancelot mit zusammengebissenen Zähnen. »Guinevere.« »Guinevere«, sagte eine tiefe, dunkle Stimme vor der Zelle. Die Königin regte sich, die Ketten klirrten. Sie hatte nicht geschlafen, sie konnte es nicht hinter diesen Eisenzähnen auf dem feuchten Steinboden. Wirklich wach war sie freilich auch nicht gewesen. Jetzt war sie es. Sie fuhr auf und presste sich an die Wand der Zelle. Meleagaunce war an der Tür. Er rief ihren Namen. »Guinevere.« Seine Stimme war kehlig und heiser. »Geh weg«, sagte Guinevere. Stille kehrte ein, nur das tiefe Atmen des Mannes war zu hören. »Du hast nichts zu befehlen. Ich gebe hier die Befehle.« Wieder klirrte Eisen — das Klappern von Schlüsseln. Sperren wurden wegge 113
drückt, das Schloss ging auf. Scharniere quietschten, und die Tür schwang nach innen auf.
Meleagaunce betrat die Zelle. Er war wie ein Tier, massig und nach Moschus riechend wie ein Ochse. Er starrte sie dumpf und gierig an. Der Atem drang in ihn ein, kam wieder heraus. Grauer Dunst im feuchten Loch. »Was hast du vor?«, fragte Guinevere. Wortlos stampfte er zu ihr, streckte die Arme aus. Sie presste sich an die unnachgiebige Wand. Er packte ihren Arm und zog sie zu sich. Sie kreischte, trat nach seinem Knie und wollte es brechen. Das Bein war stark wie ein Baum. Ihr tat der Fuß weh. Sie trat noch einmal zu. Meleagaunce ließ sich nicht beirren. Er packte auch ihren anderen Arm. Eisen klirrte. Er riss sie auf die Füße, ohne sich um ihre Tritte zu kümmern, und zog sie von der Wand weg. Er stieß mit den Fingern zu. Was tat er nur? Die Fesseln öffneten sich klickend und fielen zu Boden. Meleagaunce zog sich zurück. Keuchend lehnte Guinevere sich an die Wand und starrte ihn an. »Was ... was tust du da?« So unglaublich es schien, er drehte sich zur Zellentür um und baute sich daneben auf, um in Richtung des Flurs zu deuten. Guinevere schüttelte den Kopf. »Du lässt mich gehen?« »Ich lasse dich fliehen, damit ich dich jagen kann.« »Guinevere!« Wie ein Schlachtruf stieß Lancelot den Namen aus. Rasa schoss den Hügel zur Westminster Bridge hinunter. Lancelot bemerkte die Bogenschützen auf der Brücke und dahinter - etwa zwanzig Männer in den Farben von Meleagaunce. Unter ihnen strömte der Fluss tief und rasch dahin, an den Ufern standen dicht an dicht die Bäume. Der einzige Weg führte geradeaus, mitten hindurch und über die Brücke. »Guinevere!« Rasa nickte und hielt auf die Brücke zu. Die ersten Pfeile flogen. Augen wurden zusammengekniffen. Der Hengst sprang zur Seite, zwei Pfeile landeten neben ihm im Boden. Die hinteren Hufe rissen 114
Grassoden aus dem Boden. Ein dritter Pfeil streifte die gespannten Muskeln des Schenkels. Wieder sprang Rasa zur Seite. Zwei weitere Pfeile zischten über den Ohren vorbei. Der Nächste jedoch war genau gezielt und kam zu schnell geflogen, um ihm auszuweichen. Die Spitze traf den Punkt zwischen den Augen. Eisen brach, Stahl blitzte. Der Pfeil prallte harmlos ab. Lancelot hob das Schwert, das er schützend vor Rasas Augen gehalten hatte, und wehrte zwei weitere Pfeile ab. An jedem anderen Tag wäre die Sachsenklinge zu schwerfällig gewesen, doch jetzt wartete Guinevere hinter der Brücke, und nichts konnte Lancelot aufhalten. Er fegte einen ganzen Schauer von Pfeilen mit dem Schwert beiseite. Drei prallten von der Klinge ab, zwei weitere wurden von der Rüstung aufgehalten. Der Anführer der Bogenschützen auf der Brücke legte zwei Pfeile gleichzeitig ein, zielte und schoss sie ab. Sie verließen den Bogen, stiegen und fanden ihr Ziel. Einer traf Rasas Schulter, der zweite die des Reiters. Beide bohrten sich tief ins Fleisch. Lancelot brüllte vor Schmerz; einen Augenblick lang hing der Schwertarm schlaff an seiner Seite. Rasa schnaubte nur und hielt auf den Bogenschützen zu. Der Mann ließ den Bogen fallen, wich zurück und zog das Schwert. Zu spät. Rasas vordere Hufe schlugen aus und zerschmetterten das Becken des Mannes. Die Hinterhufe kamen herab, trafen die Brust und drückten sie ein. Als unförmiger, blutiger
Fleck blieb der Bogenschütze auf der Brücke liegen. Rasas Hufe hinterließen rote Abdrücke auf dem Stein. Lancelot nahm das Schwert in die schwächere Hand, hob es und ließ es sinken. Die Klinge spaltete den nächsten Mann von der Schulter bis zur Hüfte. Die verbliebenen Bogenschützen sandten ihnen Pfeile hinterher, doch der Hengst lief ihnen davon. Die wenigen, die sein Fleisch trafen, verursachten kaum mehr als harmlose Kratzer. Rasa trug seinen Meister sicher außer Reichweite der Krieger. Lancelot steckte knurrend das Schwert in die Scheide. Er griff nach dem Pfeilschaft, der aus der Schulter ragte, und trieb die Spitze zum 115
Rücken heraus. Eine rasche Drehung und der Pfeil zerbrach, dann konnte er die blutigen Enden herausziehen. Er musste Rasa anhalten, sobald sie außer Reichweite von Meleagaunces Männern waren, doch seine eigene Verletzung konnte er einstweilen schon im Sattel versorgen. Er griff nach dem Helm und zog das Tuch heraus, das er dort festgebunden hatte. Es war Guineveres Halstuch, und er steckte die Enden in die Eintrittsund die Austrittswunde. Die Berührung des Stoffs kräftigte das wunde Fleisch. Er schloss die Augen und atmete ihren Duft ein, bevor er vom Gestank des Bluts überdeckt wurde. Guinevere rannte über den Burghof. Das Kleid klebte an ihrem Körper - Schweiß und Blut. Krieger auf den Mauern blickten gelassen zur erschreckten Frau hinunter und tuschelten lächelnd hinter vorgehaltener Hand. Sie rief die Wachen nicht an. Das Raubtier hatte Befehl gegeben, Guinevere nicht zu helfen, sie aber auch nicht fliehen zu lassen. Das Raubtier. Mehr war der Mann jetzt nicht mehr. Kein Ochse mehr, sondern ein böser Wolf, ein Ungeheuer. Er hätte sie längst einholen können. Er hätte sie festhalten können. Er hätte die Fingernägel in ihre Schenkel schlagen können. Aber nein, er wollte die Jagd noch eine Weile genießen. Keuchend und mit aufgerissenen Augen rannte Guinevere zum Brunnen im Hof. Wenn sie nur reines Wasser erreichen konnte, dann hätte sie die Macht des Wassers anrufen können. Noch drei Schritte, und sie sah, dass der Brunnen mit Brettern bedeckt und vernagelt worden war. Irgendjemand hatte dem Raubtier geholfen, die Jagd vorzubereiten. Jemand, der um Guineveres Stärken und Schwächen in dieser Welt wusste. Sie drehte sich um und lief zu einem Turm, der einen Zugang zur Burgmauer bot. Ein Wächter stand dort. Er versperrte ihr nicht den Weg, denn von der Burgmauer gab es kein Entkommen. Sie packte seinen Arm. »Gib mir dein Schwert«, flehte sie. Der Mann legte die Hand entschlossen auf den Knauf. Stahlhart blickten seine Augen. »Nein.« Dann kam ein neuer Ausdruck in seine Augen - das Spiegelbild einer neuen Gestalt. 115
Guinevere sah sich über die Schulter um. Meleagaunce kam aus einer Tür des Bergfrieds. Er sah sich im Hof um, bemerkte sie und lief zu ihr. »Bitte«, flehte Guinevere den Wächter an. »Nein. Viel Glück, Hoheit.« Sie floh und lief an ihm vorbei. Laut war ihr Keuchen, während sie die Wendeltreppe hinaufrannte, noch lauter hallten die Stiefel unter ihr. Hier würde er sie fangen. Er würde sie auf der Treppe schänden. Ein schwaches Licht war über ihr zu sehen - die Mauerkrone. Dort stand sicher ein zweiter Wächter, und auch er würde ihr sein Schwert nicht geben. Ihr blieb wohl nicht einmal mehr
die Zeit zu fragen. Meleagaunce war direkt unter ihr. Seine gierigen Hände tauchten schon an der Ecke auf. Guinevere sprang die letzten Stufen hinauf und stürzte durch die Tür nach draußen. Dort fuhr sie herum, packte den Soldaten, der Wache hielt, und schleuderte ihn rückwärts die Treppe hinunter. In der Enge und Dunkelheit der Wendeltreppe prallte er gegen seinen Herrn, und beide stürzten. Dies mochte Meleagaunce ein wenig hemmen, doch aufhalten konnte es ihn gewiss nicht. Seine Wut und seine Begierde bekamen nur neue Nahrung. Wie betäubt taumelte Guinevere über die Mauerkrone. Er durfte sie nicht bekommen. Was auch immer geschah, er sollte sie nicht haben. Er darf sie nicht haben, dachte Lancelot, der Mühe hatte, die roten Wolken zu durchdringen, die vor seinen Augen wallten. Er darf sie nicht anrühren. Allein dieser Gedanke gab ihm die Kraft weiterzugehen. Der Schmerz in der Schulter breitete sich bis in die Fingerspitzen, quer hinüber in die Brust und bis hinauf zum Gleichgewichtszentrum im Ohr aus. Er war müde und ging unsicher. Was für eine Art Gift war in diesen Pfeilen gewesen? Rasa erging es kaum besser. Der große Hengst trabte ungleichmäßig, schonte die verletzte Schulter und hinkte wie ein dreibeiniger Hund. Meleagaunces Burg war noch zwei Meilen entfernt. Die Türme ragten über dem alten Wald auf, der sich vor ihm ausbreitete. 116
Lancelot tätschelte Rasas gesunde Schulter und spürte Schaum unter den Fingerspitzen. »Wir sind gleich da, Rasa. Dann kannst du ausruhen. Ich werde Meleagaunce zu Fuß herausfordern.« Das Pferd wieherte zur Antwort. Tier und Reiter fanden den Waldweg, der zum Ziel führte. Blätter schlossen sich dicht über ihnen. Kälte und Stille vertrieben den sommerlichen Wind. Rasas Hufschlag klang gedämpft. Ringsum schienen die Eichen zur Straße zu drängen und mit knorrigen Wurzeln nach Rasas Hufen zu greifen. Etwas Schlimmeres bewegte sich zwischen den Stämmen. Ein goldener Schwanz zuckte. Schattenflecken sammelten sich und sprangen. Irgendetwas lauerte ihnen auf — zwei Wesen, eines auf jeder Seite des Weges. Augen beobachteten, Reißzähne schimmerten. Lancelot beugte sich vor. »Lauf los, Junge«, flüsterte er dem Pferd ins Ohr. Rasa verstand und begann zu traben, dann fiel er in einen verzweifelten Galopp. Die Bäume flogen vorbei. Die Raubtiere waren schneller. Eines — eine Löwin, so groß wie ein Ackergaul — sprang auf den Weg und setzte ihnen nach. Das goldene Fell spannte sich über starken Muskeln. Mit jedem Sprung verringerte sie den Abstand zu Rasa. Das Zweite - ein Leopard mit der fließenden Anmut einer Schlange - sprang über ihnen von Baumwipfel zu Baumwipfel. Er hatte es auf Lancelot abgesehen. »Schneller!«, zischte dieser, doch Rasa war am Ende. Allein die Willenskraft hielt ihn aufrecht, und immer noch lag eine Meile Wald vor ihnen, ehe sie wieder offenes Gelände erreichten. Ein letztes Mal sprang die Löwin, um die beste Position zum tödlichen Angriff zu erreichen. Dann flog sie. Die Krallen stachen tief in den Schenkel des Pferdes. Blut quoll aus acht Schnitten im weißen Fell. Rasa schrie. Die Krallen zogen ihn hinunter. Die Löwin packte noch einmal zu und biss ihn in die Flanke. Der Hengst stürzte und trat verzweifelt mit den Hufen um sich.
Lancelot drehte sich um und wollte das Raubtier mit dem Schwert erlegen, doch in diesem Augenblick stieß ein großes Gewicht gegen seinen Rücken und schleuderte ihn aus dem Sattel. Er landete auf ei 117
nem Wurzelknoten, überschlug sich zweimal und prallte gegen einen Baumstamm. Der Leopard sprang ihn an, packte seinen Nacken mit den Reißzähnen und biss zu. Der Dolch des Raubtiers schnitt Guinevere in den Hals. Sie klammerte sich an eine Zinne der Burgmauer. Weiter konnte sie nicht fliehen. Dies war der höchste Erkerturm am Ende der längsten Mauer. Sie hatte gekämpft, war geflohen und blutete, doch weiter fliehen konnte sie nicht. Der Verfolger ragte bereits als hasserfüllter Schatten über ihr auf. Er keuchte. Seine Augen waren weiße Ringe, vor Erregung weit aufgerissen. Lüstern betrachtete er sie. Ihr Kleid hing in Fetzen. Die Risse enthüllten jeden Kratzer und jedes blutende Stückchen ihrer Haut. Das Blut schien seine Gier nur noch zu vergrößern. Seine Hand zitterte, als sie von Guineveres Blut, das über sein Messer lief, gerötet wurde. »Wähle, Guinevere«, sagte er heiser. »Du bist besiegt. Auf die eine oder andere Weise wirst du durchbohrt werden. Nun wähle, wie es geschehen soll ...« Sie starrte ihm in die hasserfüllten Augen. Seine Hand spannte sich um den schlanken Dolch. »Nun wähle.« Langsam verstärkte sich der Druck der Klinge auf ihrer Haut. Die bösen Fangzähne des Leoparden bohrten sich in seinen Hals. Mit einem Biss konnte das Untier Lancelot die Kehle herausreißen. Doch die Zähne schlossen sich nicht. Die große Katze zog die feuchten Reißzähne von Lancelots Kehle zurück und hockte sich auf seine Brust. Mit scharfen, amüsiert blitzenden Augen starrte sie ihn an. Eine Kralle schimmerte, aus der Kralle wurde gekrümmtes Metall - ein Ring. Die Tatze verwandelte sich in eine Hand, ein Bein in einen Arm. Geflecktes Fell wurde zu glatter weißer Haut. Das Gesicht der Katze ging unmerklich über in das Gesicht einer Frau - einer schönen Frau, die rittlings auf ihm saß und nichts als den funkelnden Ring am Leibe trug. »Morgan le Fey!«, knurrte Lancelot. Ihre Stimme war ein kehliges Schnurren. »Ich bin deine Wächterin aus dem Feenland.« 117
»Du bist eine Hexe«, spuckte Lancelot. Er wollte sich aufrichten, doch er konnte nicht. Ihr unerbittlicher Zauberbann nagelte ihn fest. Nur den Kopf konnte er heben und nicht mehr sehen als Rasas Kadaver, der vom gierig fressenden Löwen aufgerissen worden war. »Was willst du von mir?« »Du weißt, was ich von dir will«, erwiderte sie. Sie strich mit einem langen Fingernagel über sein Kinn. »Genau das Gleiche wie beim letzten Mal.« Lancelot hatte Atemnot. »Geh runter von mir.« Morgan schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Es gibt jetzt nur noch zwei Möglichkeiten. Du wirst mir geben, was ich will, oder ich werde dir die Kehle herausreißen. Du hast die Wahl.« »Ich soll dir geben, was du willst? Ich soll dir noch ein Bastardkind wie Mordred geben?« »Aber nein, kein Kind wie Mordred. Dein Kind wäre viel mehr als er, etwas Größeres. Und es wird mehr Spaß machen, es zu zeugen.« Jetzt war ihre Stimme ein leises Knurren. »Wenn nicht, stehen dir große Qualen bevor. Nun wähle.«
»Wähle«, knurrte Meleagaunce ein letztes Mal. »Ich wähle«, sagte Guinevere klaren Blickes. Sie zog sich weiter zurück, floh durch die Schießscharte und durch die Mauer ins Leere. Sie stürzte, und das Blut wehte wie ein Schleier hinter ihr. Blut sammelte sich wie ein Kragen um Lancelots Hals. »Ich wähle.« Er streckte ihr die Arme entgegen. Seine Hand strich über ihre Wange. Sie war prächtig, sinnlich, übermächtig. Ihr triumphierendes Lächeln blendete ihn fast. Morgan le Feys Hände wanderten zu den Spitzenborten an seiner Hüfte hinunter. Seine Finger trafen ihre, bebend und begierig. Sie lachte über seine ungeschickt tastenden Hände — und dann verdunkelte sich ihr Gesicht, und sie starrte ihn wütend an. Er hatte ihr den Ring vom Finger gerissen und sich selbst angesteckt. 118
Auf einmal war die Illusion verflogen. Morgan war keine begehrenswerte junge Frau mehr, sondern erheblich älter. Jede Spur der katzenhaften Anmut war verschwunden. Sie sprang auf, fort von ihm, und floh in den Wald. Lancelot kam mühsam auf die Beine und hob das Schwert. Auch der Löwe hatte sich verwandelt. Er war wieder der Ackergaul, den sie von einem Feld in der Nähe gestohlen hatte. Sie hatte dem Geschöpf ein prächtiges Äußeres gegeben und es hinter Rasa galoppieren lassen. Rasas Leib war nicht länger aufgerissen. Der Hengst stand lebendig, aber wie betäubt auf den Beinen. Lancelot betrachtete den Ring — möglicherweise ein Schutz vor Magie, vielleicht auch ein Mittel, um Magie zu bewirken. Wie auch immer, das Kleinod konnte ihn vor Morgan beschützen. Mit Blicken suchte er die Lücken zwischen den grauen Baumstämmen ab, doch die Hexe war nirgends zu sehen. Sie war verschwunden, geflohen mit der Geschwindigkeit eines Hasen. Es spielte keine Rolle. Morgan war nicht wichtig. Nur Guinevere war wichtig. Lancelot steckte sein Schwert in die Scheide und schritt schwer über den mit Wurzeln überwachsenen Waldboden. Er zog sich in den Sattel. Seine Schulter schmerzte. Die Wunde dort war allzu wirklich. Doch dank des Rings könnte er wenigstens mit Sicherheit erkennen, ob die Frau, die er rettete, seine Guinevere war. Mit den Hacken trieb er das Ross zum Trab an. Rasa fand den Weg durch die letzte Meile des Waldes. Dann fiel wieder das Sonnenlicht auf ihre Rücken und die Hufe tappten über das von Schafen kurz geschorene Gras. Reiter und Pferd näherten sich rasch der Burg, die trotzig auf dem Hügel hockte. Die Zinnen reckten sich wie stumpfe Zähne gen Himmel. Guinevere stürzte lächelnd hinab. Meleagaunce war nur noch eine Fliege, die dort oben hockte und ihr wütend hinterherstarrte. Sie sah sich nicht einmal um, ob sie auf der Berme oder im Burggraben landen würde. Es spielte keine Rolle. So oder so würde er sie nicht bekommen. 118
Ihr Kopf schlug auf. Es gab ein sattes Geräusch wie von einer zerplatzenden Melone, dann umfing sie Schwärze. In den schwarzen Wassern des Burggrabens trieb eine weiße Gestalt. Rasa tappte quer über die grüne Weite des Landes darauf zu. Wäre nicht der Ring gewesen, den Lancelot trug,
hätte es leicht eine weitere Sinnestäuschung sein können. Aber nein, es war Guinevere. Nackt lag sie im schlammigen Wasser im Schilf. »Zu ihr, Rasa. Zu ihr zurückkehren.« Trotz seiner Verletzungen trabte der Hengst sicheren Schritts zum Burggraben und blieb an dessen Rand stehen. Lancelot warf sich ohne Umstände gleich vom Sattel ins Wasser. Es stank und war kalt wie der Tod. Die Gräser krallten sich an ihn. Er riss sich los, schwamm zu ihr und packte sie. Sie war noch warm. Ihre Brust hob und senkte sich. »Ich habe dich, meine Königin. Ich habe dich.« Lancelot musste Wasser treten, um nicht unterzugehen. So schwamm er zum Ufer zurück. Oben auf der Mauer waren Rufe zu hören, dann flogen Pfeile. Sie stürzten rings um ihn ins Wasser. Mitten im Pfeilhagel stieg Lancelot aus dem Wasser. Er trug Guinevere auf beiden Armen. Rasa neigte vor der Königin den Kopf und kniete nieder, damit sie zusammen aufsteigen konnten. Lancelot setzte sich auf das edle Tier, Rasa kam wieder hoch und galoppierte davon. Sein Wiehern klang wie Gelächter. Pfeile blieben hinter seinen Hufen im Boden stecken, doch keiner konnte die Königin und ihren Ritter erreichen. Der weiße Hengst erreichte die Hügelkuppe und verschwand. 119
19. Wer sind wir? Sie waren fast tot, als sie die Burg von Astolat erreichten. Alle drei waren fast tot. Das schneeweiße Pferd torkelte zum Tor hinauf. Ein Pfeil ragte aus seiner Brust. Das linke Vorderbein war braun vom Blut. Es schnaubte die Wächter an und starrte mit Augen, die gleichzeitig gebieterisch und flehend waren. Der rote Huf riss eine Grassode aus dem Boden. Dann neigte das Pferd den Kopf und zeigte seine mitgenommenen Reiter. Zuerst die Frau, zerschlagen und blutig. Sie trug nur einen Wappenrock, auf den der Pendragon gestickt war. Er kleidete sie wie ein Festgewand. Sie lag quer auf dem weißen Hals des Tiers, ein Opfer auf einem marmornen Altar. Hinter ihr ein zusammengesunkener Mann. Uber seine Brust zog sich eine rote Linie. Es war nicht nur Blut, das aus der Brust sickerte, sondern auch Gift. Unter dem verfilzten blonden Schopf war sein Gesicht bleich wie Elfenbein. Die Wächter starrten die seltsamen Besucher blöde an. Astolat war keine große Burg, lediglich der Sitz eines Landgrafen, der mit einem Palisadenzaun befestigt war, und die Wächter waren keine großen Krieger. Aus einfachen Lederrüstungen glotzten alte Augen. Weiße Knöchel schlossen sich um rostige Griffe. Ein Wächter schnaubte und stellte seinem Kameraden eine Frage, der Zweite zuckte nur mit den Achseln. Es gehörte sich ja wirklich nicht, schlafende Leute zu töten. Aber wer waren die da, und was wollten sie? Als hätte er gespürt, dass sein Pferd stehen geblieben war, holte der Mann tief Luft, öffnete ein Auge und gab einen Befehl. »Helft uns.« Die leisen Worte krachten auf die Wächter hernieder wie Steinwürfe. Sie schauderten sichtlich. Einer quetschte eine Frage hervor. »W-wer seid Ihr?« 119
Die Frau gab die Antwort. »Königin Guinevere ... und ihr Ritter Lancelot.« Einer der Wächter stieß einen erstickten, erschrockenen Schrei aus. Beide ließen die Schwerter fallen und sprangen vor. Gerade rechtzeitig, um die Besucher aufzufangen, die aus dem Sattel kippten.
Sie lagen Kopf an Kopf, die Zehen wiesen zu den entgegengesetzten Enden der großen Festtafel in der Haupthalle der Burg. Es war die einzige Fläche, die sauber genug, kräftig genug und gut genug beleuchtet war, um dem Arzt die Untersuchung zu ermöglichen. Genau genommen war Valisaeric überhaupt kein Arzt, sondern nur ein Bader und nicht einmal ein guter. Doch er hatte bei Badon Hill Wunden versorgt und fürchtete sich nicht vor Blut. Er schickte alle aus dem Zimmer, die sonst noch anwesend waren - und zwar wirklich alle. Sogar die junge Elaine musste gehen. Eigentlich war sie eine durchaus geschickte Heilerin, doch sie hatte sich in den Ritter verliebt und war außerstande, seine Wunden zu waschen. Lancelot blutete aus einer tiefen, vergifteten Wunde, die blitzschnell geschlagen worden war. Guinevere blutete aus unzähligen Verletzungen, die sie sich bei ihren langen Qualen zugezogen hatte. Beide waren dem Tode nahe. Valisaeric tat, was er konnte. Er fachte das Feuer im Kamin der großen Halle an, bis die Flammen lebhaft brannten. In Töpfen dampfte Wasser, und er warf sein Schneidegerät hinein. Als Nächstes zog er seine beiden Patienten bis auf die nackte Haut aus. Er nahm Wasser, das gekocht hatte und abgekühlt war, aus einem Kessel und wusch ihre Wunden. Er steckte sogar einen Trichter aus der Küche tief in die Schulter des Ritters und spülte zwei Gallonen Wasser durch die Tülle. Danach wurden diese und die anderen Wunden mit Weingeist behandelt. Unter dem stechenden Zeug zuckten seine Patienten zusammen und schauderten. Ihre Körper verkrampften sich, sie bekamen eine Gänsehaut. Doch sie erwachten nicht. Eine seltsame Kraft hielt sie im Schlummer. Seit sie die Türschwelle überschritten hatten, waren sie keinen Augenblick wach gewesen. Valisaeric riss Betttücher in lange Streifen und verband ihre Wunden. 120
Dann trat er einen Schritt zurück. Sie hätten Leichen sein können, die fürs Grab gereinigt und zurechtgemacht worden waren; leblos wirkten sie - bis auf das schwache Heben und Senken der bleichen Oberkörper. Valisaeric deckte die Königin von den Zehen bis zu den Schultern zu. Oben ließ er eine Falte übrig, um auch ihr Gesicht zu bedecken. »Großer Heiler, rette sie«, betete er, indem er den Kopf hob. Der hohe Kerzenleuchter schickte das Licht in hellen Ringen über dunkle Deckenbalken. Valisaeric nahm eine zweite Decke und trat ans Fußende des Ritters, um auch ihn zu bedecken. Erst jetzt bemerkte er den seltsam schimmernden Ring an Lancelots Hand. Er zog das Auge an, er lockte die Hand. Ohne wirklich zu bemerken, was er tat, streckte Valisaeric die Hand aus, zog den Ring ab und hob ihn hoch. Das Kleinod prickelte vor Macht, es kitzelte in seinen Fingern. Auf einmal atmeten Königin und Ritter leichter, und ihre Haut bekam einen rosigen, gesunden Farbton. Noch seltsamer: Irgendetwas wehte um ihre Köpfe, ein Geist oder gar zwei. Die beiden gequälten Gesichter lächelten mit einem Mal. Valisaeric presste den Ring an die Brust und wich zurück. Er setzte sich schwer auf einen Stuhl und beobachtete die wirbelnde Erscheinung. Vielleicht war es der Heilige Geist, der das Geschenk der Heilung brachte. Ja, das wollte er gern glauben. Jeder andere Gedanke hätte ihn eilig aus dem Raum fliehen lassen. Zuerst war es Einsamkeit und Isolation und Qual. Er wusste nicht einmal, wer er war. Er wusste nur, dass er einsam starb.
Dann veränderte sich etwas. Die Mauern der Seele brachen zusammen. Das Bollwerk der Haut - so dünn und doch undurchdringlich -zerfiel. Über die Trümmer stieg Lancelot hinweg. Ja, er war Lancelot. Das wusste er jetzt. Er stieg dem einzigen anderen Wesen entgegen, das es in seinem Bewusstsein gab. Scharfkantige Steine schnitten seine Füße auf, doch er stieg weiter und fand sie: Guinevere. Sie war schön. Sie war schon immer schön gewesen, aber jetzt war sie der Inbegriff der Schönheit. Es war, als trüge sie ihre Seele wie ein 121
äußerliches Gewand. Lang herabwallendes braunes Haar, Mandelaugen, hohe Wangenknochen und Lippen, rot wie Apfel — sie war groß und schlank und strahlte Macht aus. Die Augen, so tief und braun wie ein Hochlandmoor, erwiderten seinen Blick. Liebe sah er und Verlangen und Geheimnisse. Lancelot näherte sich ihr. Kein Stein schnitt mehr in seine Fußsohlen. Er wusste nicht, worauf er lief, und es war ihm einerlei. Er wollte nur zu ihr: Guinevere. Wo sind wir? Nirgends, Lancelot. Nirgendwo und nirgendwann. Aber wer? Wer sind wir?, antwortete sie. Die Worte schienen aus ihren Augen zu strömen. Wenn wir erst wissen, wer wir sind, werden auch alle anderen Fragen beantwortet. Er atmete tief ein, und ihr Duft - kein Parfüm und nicht ihre Kleider, sondern der Duft ihrer Haut — erfüllte ihn. Ich bin Lancelot du Lac. Ja, aber wer ist er? Du bist meine Königin — Guinevere. Und wer ist sie? Ja, wer ist Guinevere? Wer ist Lancelot? Namen, Worte — so flüchtige Dinge, ein Klang in der Luft, ein Fleck auf dem Papier. Sie legten sich auf die Oberfläche der Dinge und gaben ihnen eine vergängliche Form. Wenn die Hülle durchstoßen oder abgeschält oder aufgelöst wurde, blieb etwas Formloses, Unergründliches zurück. Guinevere streckte ihm die Hand entgegen. Ihre Finger waren zierlich, die Arme anmutig. Lancelot nahm die Hand und sah, dass auch sein Arm geschmeidig war. Ein königliches Gewand aus rotem Brokat bedeckte seinen Körper. Es war über einem Samtwams und einem Hemd aus Flachs zusammengebunden. Tartanhosen und Stiefel trug er - doch er war barfuß gewesen, als er aufgestanden war. Barfuß und nackt. Bloß warst du, aber nicht nackt. Deine Seele hatte sich noch nicht in Fleisch gekleidet, von Gewändern ganz zu schweigen. Er betrachtete die Feenkleider, die er trug. Ich habe mich nicht selbst angezogen. So etwas hätte ich nicht für mich gewählt. Guinevere lächelte leicht. Und doch hast du es getan. 121
Lancelot nickte. Ist es ein Traum? Sind wir wirklich hier? Wir sind wirklich. Aber ob wir hier sind... Sie deutete auf die Umgebung. Lancelots Blick folgte der Bewegung. Bis zu diesem Augenblick hatte er nur Guinevere und sich selbst gesehen. Jetzt sah er die ganze Welt, die ihn umgab. Er wusste sofort, dass dies nicht die Welt war, die er kannte. Dennoch war es eine Welt, in die er gehörte. Das Gras unter seinen Füßen war zart und weich, fast wie ein Teppich. Es bedeckte eine weite Fläche, die einen guten Teil der unmittelbaren Umgebung einnahm. In der Ferne fiel das Gelände, von blauen Bergrücken und schwarzen Einschnitten durchbrochen, steil zu einer Tiefebene hin ab. Dahinter lag ein weites Meer, über dem die Sterne funkelten. Auf
der anderen Seite, am Horizont und am Ende der Welt, erhoben sich purpurne Berge so hoch und abrupt, dass sie wie eine Brücke das Firmament überspannten. Der Himmel war dunkelblau wie in der Morgen- oder Abenddämmerung. Er wurde nicht von einer einzigen, übermächtigen Sonne beherrscht, sondern von einem tanzenden Reigen von Himmelskörpern. Sterne, Kometen, Planeten, Meteore - alle tanzten zu einer lautlosen Symphonie umeinander, bewegt von mathematisch abgestimmter Anziehungskraft. Sie warfen vielfältige Schatten um Guinevere und Lancelot. Es ist ein Traum, sagte Lancelot. Es ist ein Traum, und doch ist es keiner. Wenn du mit einem Traum etwas meinst, das weniger wirklich ist als die Welt des Wachens — nein, dann ist es kein Traum. Wenn du aber das Reich meinst, das unterhalb der Welt des Wachens liegt, wo wir alle unsere ewigen Wahrheiten aufbewahren, ja, dann ist dies ein Traum. Dies ist die Anderwelt. Lancelot knirschte aufgebracht mit den Zähnen. Es ist das Gift. Es tötet meinen Verstand, und dies sind die Bilder, die ich im Tod sehe. Guinevere lachte. Dieses Mal kam die Antwort durch ihre Lippen und nicht durch ihren Verstand: »Dein Irrtum könnte kaum größer sein.« »Du sprichst ... wir sprechen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Worte sind die Kleider unseres Be 122
wusstseins. Du hattest keine Kleider und keine Worte, solange du sie nicht brauchtest.« Lancelot schüttelte den Kopf. Er tastete nach seinem Haar und keuchte, als verlöre er den Verstand. »Ich bin ein einfacher Krieger ...« »Du bist kein einfacher Krieger. Komm mit.« Sie nahm seine Hand und schritt über das taufeuchte Gras. Ihre Füße berührten kaum den Boden, sie schwebte wie eine Tänzerin. Er folgte ihr. Die Schritte federten, als liefe er auf einem Schwamm, und bei jedem Schritt sprangen sie höher als beim vorigen. Lancelot ahnte, was kommen würde. Er konnte spüren, wie sich die Kräfte dieser Welt unter seinen Füßen bündelten. Sie näherten sich dem Ende der Hochebene. Das Gras wich leerer Luft, tief unten ragten Steinbastionen empor. Er hielt ihre Hand fest. Ihre Füße sanken gleichzeitig hinab, der Boden warf sie wieder hoch. Sie flogen. Die Welt sackte unter ihnen weg. Es schien, als wären die klaffenden Abgründe aus Stein nur die Falten eines Papierfächers. Die Schluchten wurden schmaler und verschwanden. Das Land schrumpfte, die Schatten der Fliegenden wuchsen. Sie schwärmten über das Grasland. Wind kam auf, der sich zu einer scharfen Brise verstärkte. Der Luftzug ließ lange Wellenkämme durch die Halme laufen. Doch es war mehr als nur der Wind. Der Wellenkamm jeder Woge war das ausgewachsene Gras, das Wellental die neu gesprossenen Blätter. Wir fliegen durch Raum und Zeit, erklärte Guinevere. Wir heben den Lauf der Jahre auf. Ich wusste nicht, dass du so große Macht hast. Nicht ich habe diese Macht, sondern das Land hat sie. Ich bin nur seine Dienerin, seine Priesterin. Es bittet mich, auf diesen Wegen zu wandeln, die für Götter gemacht wurden, und ich gehe. Es bittet mich, dich mitzunehmen, und ich nehme dich mit. Sie sanken jetzt rasch hinab. Es kam ihm so vor, als wären sie nur wenige Meilen weit geflogen, doch als sie dem Flachland entgegenstürzten, erkannte Lancelot, dass sie
hunderte von Meilen zurückgelegt hatten. Sie flogen jetzt über Hügelgräber, die von alten Völkern 123
aufgetürmt worden waren. Eine bestimmte Erhebung ragte direkt vor ihnen auf. Lancelot sah sie heranwachsen. Jeden Augenblick musste Guinevere die Füße nach vorn bringen, um auf dem Boden zu landen. Jeden Augenblick. Mit atemberaubender Geschwindigkeit kam die Anhöhe näher. Lancelot schloss vor dem bevorstehenden Aufprall die Augen. Dann spürte er ihn - ein heftiger Schlag war es, der dennoch nicht wehtat und ihm nicht das Hirn zerschmetterte. Vielmehr pflügte er durch den Boden wie ein Taucher durchs Wasser. Kies und Schlamm trieben an ihm vorbei. Lancelot hielt Guineveres Hand unwillkürlich fester. Sie zog ihn tiefer und tiefer in den Hügel hinein. Auf einmal war alles verschwunden — der Kies, die Dunkelheit, die Bewegung. Auch Guineveres Hand hatte sich verwandelt. Er hielt die zarte Hand eines Kindes. Lancelot kniete vor ihrer Krippe. Sie war wunderschön, unverkennbar war es Guinevere. Glücklich strahlte sie ihn an, obwohl sie erst wenige Wochen alt war. Tuatha-Kinder, dies wusste er irgendwie, waren anders als die zimperlichen, weinerlichen Menschenkinder. Das Mädchen trug ein Gewand aus Distelflaum. Ein goldenes Krönchen saß auf seinem Kopf, und es lag inmitten von Efeu und Lilien. Jetzt schon liebte er Guinevere. Jemand näherte sich. Lancelot schaute auf. Erst jetzt sah er, dass die Krippe neben einem hohen, sanften Wasserfall stand. Es war ein weicher Vorhang von Wasser, silbrig wie ein Spiegel. Dunstschleier spielten um ihn und benetzten die Felswände. Aus dieser spiegelnden Flut tauchte ein großer, königlicher Mann des Feenvolks auf. Seine Gewänder wurden trotz des Wassers, das um ihn perlte, nicht nass. Seine Haare hatten die gleiche Farbe wie der Wasserfall, und die Augen waren wie silberne Münzen. Ohne hinschauen zu müssen, setzte er die Füße sicher auf die glatten Steine. Er hatte diesen Auftritt einstudiert, seine Bewegungen zeugten von großer Entschlossenheit. Lancelot sah ruhig zu, ohne Guineveres Hand loszulassen. Der Feenkönig trug einen Siegelring an einem Finger. Er achtete nicht auf Lancelot, sondern kniete an der Krippe nieder, als wäre er allein mit dem Kind. Der alte Feenmann atmete den Duft des Kindes 123
ein und lächelte. Mit alten, aber immer noch starken Händen nahm er es aus der Krippe. Lancelot ließ die Hand des Kindes los und spürte sofort wieder die Hand der erwachsenen Guinevere. Sie kniete neben ihm und sah mit ähnlicher Verzückung zu. Es war, als wiegte der Tuatha-König einen Stern in den Armen, so hell strahlte sein Gesicht. Dann aber fiel von der Seite ein Schatten über ihn. Meine Mutter ist nach meiner Geburt gestorben. Lancelot starrte Guinevere an. Mein Vater konnte mich nicht allein aufziehen, und deshalb beschloss er, mich in den Dienst des Landes zu stellen und mich in die Wiege eines menschlichen Königs zu legen. Das gesenkte Gesicht des Monarchen lag jetzt in tiefem Schatten. Er gab mich Artus zur Frau. Der Feenkönig richtete sich auf und drehte sich um. Er ging über die glatten Steine auf dem gleichen Weg zurück. Das Kind auf den Armen haltend, trat er durch den spiegelnden Wasserfall. Als seine Gewänder den Wasserfall teilten, sah Lancelot dahinter die von Ker-
zen erhellte Kinderstube einer menschlichen Burg. Dann schloss sich der Wasservorhang hinter dem König und dem Kind. Die Tochter von König Lodegrance von Camelaird starb bei der Geburt. Es schien richtig, die Familie wieder ganz zu machen. Mein Vater legte mich in die leere Wiege und gab mich der wartenden Brust. Eine Träne stand in Lancelots Auge. Als sie die Wange hinunterrollte, berührte Guinevere sie und wischte sie fort. »Komm«, sagte sie laut. »Es gibt noch mehr zu sehen. Über die Wasser ins Tiefland hinter den purpurnen Bergen. Dort werden wir ein weiteres Kind beobachten.« »Wieder hinauf?«, fragte er und blickte zum Himmel, der blau und mit Sternen übersät war. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Hinab.« Sie fasste seine Hand und tauchte in das steinerne Becken ein. Kaum einen Fuß hoch stand das Wasser über dem kantigen Stein, doch sie tauchte und zog ihn mit sich. Er folgte mit geschlossenen 124
Augen. Wieder gab es einen Aufprall, dieses Mal feucht und kalt und voller Lebenskraft. Alles Feste in ihm löste sich auf, und er überließ es seinen wässrigen Anteilen, sich den Weg zu suchen. Seite an Seite strömten sie dahin. Durch glucksende Untiefen und angeschwollene Teiche, durch versandete Flussmündungen und tiefes Salzwasser schwammen sie. Um Meilen zurückzulegen, brauchten sie nicht mehr als Sekunden, denn der Lauf der Zeit fügte sich dem Takt ihrer schlagenden Herzen. Sie waren am Ziel. In einem tiefen, dunklen Brunnen tauchten sie auf und schwammen zu einem Eimer. Der Eimer stieg am Seil empor. Am Ende eines Jochs hängend, wurden sie in die Burg befördert und in ein Becken gegossen. Aus dem flachen Wasser traten sie auf grauen Stein heraus. Der Boden war seit Jahrzehnten wütend geschrubbt worden. Alles in der kleinen Kammer schmeckte nach dieser hitzigen Aufmerksamkeit -die Vorhänge hingen weiß und gerade wie Säulen herab, die Wiege war makellos poliert, das Spielzeug stand sorgfältig aufgereiht im Regal und wartete auf das Kind, das mit ihm spielen sollte. Angst ergriff Lancelot. Verzweifelt hielt er Guineveres Hand fest. Alles war jetzt verändert. Er war nun das Kind. Die strahlenden Augen waren die seinen, ihm gehörte der Kopf, der das Krönchen trug, ihm gehörte der hilflose Körper. Er war das Kind. Und noch mehr hatte sich verändert. Statt auf Lilien und Efeu war er auf Leinen gebettet, das mit Alkohol gereinigt worden war. Statt im Dunst eines Wasserfalls lag er in einem Becken, das gerade aufgefüllt worden war. Er lag im Krankenbett. Er schmachtete in der Wiege. Zehn Jahre, zwanzig Jahre, dreißig Jahre. Er schmachtete, er war das ewige Kind. Lancelot schrie entsetzt auf. Guinevere hielt seine winzige Hand. Seine Eltern waren nicht mehr seine Eltern. König und Königin waren über den Zustand des Kindes so erzürnt, dass sie ihn beinahe abgegeben hätten. Er blieb in der Obhut von Ammen, von Dienern oder Sklaven. Er war eine zu erledigende Pflicht wie das Ausmisten der Ställe oder das Schlachten der Schweine. Wie seltsam war dieser Traum. Seine Eltern waren nicht so. Auch sein Zimmer war nicht so. 124
Herein kam ein Mann, ein Tuatha. Zornig hatte der Feenkönig das Gesicht zusammengekniffen. Irrsinn flackerte in seinen Augen. Er stieß die junge Frau weg, die das Kind gebadet hatte, riss Lancelot hoch und knurrte ihn an. Guinevere verlor den Kontakt
mit ihm, und dann spürte er nur noch den Griff jener wütenden Finger. Fünf Schritte, und Lancelot sah sich ins Becken gedrückt. Er schluckte Wasser, spürte den anschwellenden Schmerz in der Brust, wollte schreien und atmete nur noch mehr Wasser ein. Dann war er durch. Es war wie das Letzte ein spiegelndes Portal, und dann war er durch und schrie in der Wiege eines Königs. Seine Kinderaugen erkannten die Deckenbalken, unter denen er in den ersten Tagen auf Benwick gelegen hatte. Einen Moment lang spürte er die Schulter des anderen Jungen, der in der Wiege lag. Ein menschliches Kind mit blauen Augen und blondem Haar, sein genaues Ebenbild. Die irren Hände packten das andere Kind und zogen es durch eine spiegelnde Membran fort in die Feenwelt. Auch du warst ein Wechselbalg, ließ Guinevere ihn gedanklich wissen, obwohl Lancelot sie weder sehen noch fühlen konnte. Er schrie in der fremden Wiege. Du bist in die Oberwelt gebracht worden, weil deine Eltern verrückt waren — wegen eines Fluchs, der dich Jahrzehnte ein Säugling bleiben ließ. Lancelot trat und wand sich. Eine Frau kam zur Tür herein, ihre Stirn war vom Kummer umwölkt. Seine Mutter. Sie hob ihn aus den Decken hoch und sah ihn verwundert an. Wir sind beide Kinder des Feenvolks, Lancelot, sagten Guineveres Gedanken. Sie zog ihn hoch, fort von der Anderwelt. Wir sind beide Königskinder des Feenvolks. Wir wurden beide als Wechselbälger in die Wiegen von Königen gelegt. Deshalb lieben wir uns. Deshalb leben wir in einer Welt von Statuen, in der es nur uns zwei gibt. Ihre Stimme war besänftigend, sie wollte die schrecklichen Offenbarungen der letzten Stunde vergessen machen - den Wahnsinn, das Ertränken, das Verlassen, den Betrug. Doch ihre Worte waren zu schwach. Lancelot erwachte auf einem Eichentisch. Obwohl er Kopf an Kopf mit Guinevere lag, obwohl sie seine Hand hielt, hatte er wieder das Gefühl, er müsse sterben und sei schrecklich allein. 125
20. Zwei Arten von Liebe Der Hochsommer war gekommen. Die Sonne stieg hoch über die Hügel von Surrey. Die Morgenbrise flüsterte trunkene Worte zum Fluss Astolat. Der aber ignorierte sie und glitt schweigend weiter -stumm, schwarz und unerschütterlich. Weiden duckten sich am Ufer und zogen die gichtigen Finger durchs Wasser. Ein Boot mit breitem Deck hatte an einer langen, überfüllten Pier festgemacht. Es war der Morgen des Abschied Nehmens. Auf der Laufplanke stand Guinevere, die Königin Britanniens. Sie hatte sich von der Tortur fast völlig erholt, und der Arzt von Astolat wollte sie begleiten, damit es ihr auch auf der Reise gut erging. Guinevere trug die Gewänder und Schleier, die der Königin zustanden, wenn sie nach Camelot heimkehrte. Vor ihr kniete ihr Streiter Lancelot du Lac. Auch er war genesen und gesund, gekleidet in Brokat und mit dem Stahl seiner Ritterschaft. Doch mit einem Ausdruck größter Abscheu blickte er zum Boot. Er konnte nicht mit seiner Königin zurückkehren. Seit ihrem gemeinsamen Flug durch die Anderwelt, seit den Offenbarungen des Fluges, hatten sie sich bemüht, nicht mehr allein zu sein. Sie hatten den Ursprung ihres Begehrens entdeckt, doch sie waren durch Eid und Liebe an ihren König gebunden. Es war schwer, die Wahrheit zu wissen und doch wahrhaftig zu bleiben.
Guinevere lächelte liebevoll auf ihren Ritter herab. Es war ihr egal, dass der Earl von Astolat und seine Familie zusahen. »Es ist ein sanfter Fluss, Lancelot. Er wird mich sicher nach Camelot tragen.« »Fort nach Camelot«, wiederholte er dumpf. Sie streichelte sein Kinn. Die Feenlinien seines Gesichts waren jetzt unübersehbar. »Wir sind wie Bruder und Schwester, mein Streiter, in ähnlichen Wiegen geboren und in dieses Land versetzt, das wir lieben. 126
So möge Britannien durch deine Kämpfe und meine Heilungen stärker werden.« Dieses Mal konnte er überhaupt nicht mehr antworten. Sie nahm seine Hand und zog ihn hoch, bis er neben ihr stand. »Ich lasse dich mit der Liebe einer Schwester zurück.« Sie beugte sich vor und küsste ihn züchtig auf die Wange. Er schloss die Augen. Sie zog sich zurück und stieg auf das geräumige Boot. Lancelot öffnete die Augen und wich von der Laufplanke zurück. Der Bootsmann wuchtete das schwere Brett aufs Deck. Mit den Rudern, die am Dollbord hochgestellt waren, sah das Schiff beinahe aus wie ein Drachenboot. In der Mitte wartete ein viereckiger grüner Baldachin auf Guinevere. Sie sollte eine sanfte und standesgemäße Fahrt bekommen. »Das ist mein Todesschiff«, flüsterte Lancelot bei sich. Jemand hörte es — die junge Elaine, die Tochter des Grafen. Das sechzehnjährige dunkelhaarige Mädchen hätte Guineveres Schwester sein können mit den großen Augen und den roten Lippen. »Sprecht nicht so, großer Ritter. Ich kann es nicht ertragen, wenn Ihr so über Euren Tod redet.« Errötend drehte er sich zu ihr um und neigte den Kopf. »Verzeiht mir. Ich habe nur mit mir selbst gesprochen. Habt keine Angst, ich werde nicht sterben. Ich werde im Namen Eures Bruders siegen.« Das süße Gesicht sah ihn fragend an. »Im Namen meines Bruders?« »Das Turnier«, erinnerte Lancelot sie. »Ihr habt mich gebeten, morgen für ihn einzuspringen, da er krank ist ...« »O ja. Gewiss. Das Turnier.« Sie errötete verlegen. Er sah wieder ernst zum Boot, das sich langsam von der Anlegestelle entfernte. Elaine drückte sich in seiner Nähe herum, als wollte sie noch etwas sagen, doch Lancelot hatte nur Ohren für das schreckliche Platschen der Ruder im Wasser. Trompeter spielten den königlichen Willkommensgruß. Elaine von Astolat stieg Hand in Hand mit ihrem Vater zu ihrer Loge auf der Tribüne des Turnierplatzes hinauf. Sie waren kleine Herrscher in einem 126
unbedeutenden Land. Elaine war sich ihres geringen Standes durchaus bewusst. Der Zaun, der die Kampfbahn begrenzte, war noch nicht einmal gerade ausgerichtet. Der Quintain war auf schäbige Stümpfe zurückgestutzt. Die königliche Loge hätte einen neuen weißen Anstrich brauchen können, und alles andere war bar jeder Farbe. Wie sollte Elaine je die Blicke eines Verehrers auf sich ziehen, wenn sie hier im schäbigen Hinterland hauste? Elaine und ihr Vater erreichten ihre Plätze und setzten sich. Die Bauern, die dicht gedrängt standen, brachen in Hochrufe aus. Elaine winkte zurück, wie sie es gelernt hatte. Vielleicht bemerkte niemand, wie müde ihr Lächeln war. Auch das Volk da unten war gefangen. Brave Menschen waren darunter, doch keiner von ihnen hatte sich in Lancelot verliebt.
Und da kam er auch schon. Selbst in der erbärmlichen Rüstung ihres Bruders - ein Teil davon bestand aus bemaltem Holz, das den Anschein erwecken sollte, Metall zu sein konnte man nicht übersehen, wer er war. In vollem Galopp saß er auf seinem Pferd, als stünde es still. In königlicher Pose hielt er den primitiven Holzschild. Er veredelte alles, was er berührte. Elaine konnte nur wünschen, er werde eines Tages auch sie berühren. In Gesellschaft der anderen Kämpfer ihres Vaters ritt Lancelot vor die königliche Loge. Er war der Einzige, der ein richtiges Pferd besaß. Neben seinem Ross sahen die anderen Pferde aus wie Esel. Esel, auf denen Affen hockten. Elaines jüngerer Bruder Robert klappte das Visier hoch und wandte sich an den Grafen. »Wie immer reiten wir auch heute für dich, Vater.« Hinter Graf Ducets weißem Bart zeichnete sich ein Lächeln ab. »Enttäuscht mich nicht.« »Gewiss nicht«, versprach Robert mit blitzenden Augen. »Aber für meinen Bruder kann ich nicht sprechen. Er ist heute nicht ganz derselbe wie sonst«, meinte er mit einer Geste zu Lancelot. »So beginnt nun«, befahl der Graf. Robert klappte das Visier herunter, nahm sein Pferd herum und ritt fort. Die anderen Berittenen folgten seinem Beispiel - alle außer 127
Lancelot. Er blieb ruhig auf seinem Ross sitzen und sah Elaine unverwandt an. Ihre Wangen brannten heiß, und sie wäre am liebsten gestorben. Sie öffnete den Mund, nicht um zu sprechen, sondern um nach Luft zu schnappen. »Was gibt es, Erik, mein Sohn?«, fragte der Graf mit kaum verhohlener Belustigung. »Ich bin nicht daran gewöhnt, ins Turnier zu ziehen, wenn ich nicht als Ritter einer hochgeborenen Dame antreten darf«, erwiderte Lancelot. Selbst in diesem Blechtopf von Helm klang seine Stimme voll. Elaine hielt sich am Stuhl fest. Ihr Herz pochte voller Hoffnung, doch in ihrem Kopf hörte sie nur die Worte hochgeboren. Wie konnte es etwas anderes als Spott sein? Ihr Vater spreizte nachdenklich die Finger. »Nun, da die Königin abgereist ist ...« »Was ist mit Elaine?« Sie bebte. Er kannte ihren Namen. Er hatte ihren Namen ausgesprochen. Mit funkelnden Augen unter weißen Augenbrauen sprach der Graf: »Du meinst deine Schwester?« Lancelot nickte. »Nun ja, warum eigentlich nicht?« »Ausgezeichnet«, gab Lancelot zurück. »Dann verlange ich ein Unterpfand - eine Rose aus ihrem Haar, ein Tuch von ihrem Hals.« Oh, verdammt. Welch ein Tag, ohne Rose im Haar und ohne Halstuch überrumpelt zu werden. Nicht, dass es im Garten hinter dem Palisadenzaun überhaupt eine Rose gegeben hätte. Was hatte sie? Oh, es war eine Folter, so arm zu sein. Sie hätte ihm ihren Kopf gegeben, wenn er darum gebeten hätte. Überwältigt von Begehren und Furcht, packte sie die Spitzenborte über ihrem Busen und riss sie vom Kleid ab. Das Loch, das so entstand, enthüllte kaum etwas — nicht, dass es viel zu enthüllen gegeben hätte —, doch es hinterließ eine zackige Narbe über ihrem Herzen. Elaine war Dichterin genug, um die Symbolik zu erfassen. Sie hob das abgerissene Stück Spitze. »Dann reite für mich, mein Ritter.« Sie warf ihm den Fetzen hinüber. 127
Er fing ihn mit der bloßen Hand auf, als könnte er es nicht erwarten, noch die Wärme ihrer Haut im Stoff zu spüren. Stark und ein wenig grob waren seine Hände auf der zerfetzten Spitze — und doch anmutig, als er sich den Stoff ins Visier flocht. Er atmete ihren Duft ein. Es war, als hätte er seinen Kopf an ihre Brust gelegt. Die ganze Zeit würde er nun beim Kampf ihren Duft einatmen. Er würde auf dem Pferd reiten, im Sattel federn, die Lanze ausrichten und ihren Duft einatmen ... Sie setzte sich wieder. Sie erinnerte sich nicht, wie es geschah, doch auf einmal saß sie, und hier war sie, und dort war er und beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen. Ihr Ritter. Lancelot du Lac war ihr Chevalier. Sie wusste nicht, was zwischen ihm und der Königin geschehen war, doch Guinevere hatten ihn schließlich verlassen. Ja, sie hatte ihn ganz einfach verlassen, und er suchte jemanden, der die Leere füllen konnte. Elaine konnte die Leere füllen. Ja, das konnte sie. Und er konnte die Leere in ihr selbst füllen. Sie errötete, als ihr der Doppelsinn dieser Gedanken bewusst wurde. Aber natürlich konnte er es. Er konnte es in jeder Hinsicht. Sie schwitzte kalten Schweiß. Er rann auf ihrer Haut hinunter und ließ sie schaudern. Ihr Vater redete. Wie lange redete er schon? »... diese Scharade mitspielen, auch wenn es ganz offensichtlich ist, doch es würde helfen, wenn du dich nicht deinem angeblichen Bruder an den Hals werfen ...« »Halt den Mund, Vater«, erwiderte Elaine. »Nun gut.« Ihr Ritter. Guinevere hatte ihn verstoßen, und Elaine hatte ihn angenommen, und jetzt gehörte sie ihm. In diesem Augenblick ritt er in die Kampfbahn ein. Sein Ross — kräftig und weiß stampfte ungeduldig. Staub stieg vor den Hufen auf. Lancelot wartete. Vielleicht atmete er — gewiss atmete er, und wenn er atmete, dann musste er sich an sie erinnern. Auf einmal stürmten Pferd und Reiter los. Sie waren so stark. Bei allen anderen sah es aus, als spielten sie nur, doch nicht so bei Lancelot. Für ihn war 128
es ein Krieg. Seine Lanze neigte sich. Er hob den Schild. Sein Gegner - sie hatte noch nicht einmal richtig wahrgenommen, dass er einen Gegner hatte — war so eingeschüchtert, dass er sich einfach aus dem Sattel fallen ließ. Elaine sprang auf und jubelte und lachte. Sie hatte Angst gehabt, er könne verletzt werden. Man stelle es sich nur vor, Lancelot verletzt! Das war absurd. Die Erleichterung, als der andere Mann aus dem Sattel kippte, während ihr Streiter vorbeiritt... Elaine kreischte wie eine gewöhnliche Frau; es war ihr egal, wer sie hörte. Schließlich brachte sie nur ihre Liebe zum Ausdruck. Da hatte sie über den Gedanken gelacht, Lancelot könne verletzt werden - und jetzt lag er da, einfach so, mit offener Wunde. Oh, dieser elende Sir Hector, Lancelots eigener Vetter! Wie konnte er nur so hart zuschlagen? Und natürlich war es auch die Schuld ihres Bruders, der keinen vernünftigen Helm hatte. Lancelot hätte ebenso gut einen Suppentopf auf dem Kopf tragen können. Damit hätte er auch nicht mehr oder weniger sehen können. Und trotzdem hatte Lancelot noch gesiegt. Hector war in die Obhut geringerer Heiler gegeben worden. Elaine wollte nicht erlauben, dass irgendjemand außer ihr selbst ihren Streiter heilte. Der süße Lancelot. Eine Krone aus Blut hatte sich um seinen goldenen Kopf gelegt. Elaines Finger färben sich rot, als sie sanft, aber gründlich die Wunde auswusch. Dabei sang sie eine Hymne an das Land. Dies war ihre wahre Macht - sie bewegte den Geist, um
das Fleisch zu heilen. Als sie mit dem Lappen die Wunde abtupfte, fügte sich das Gewebe darunter schon wieder zusammen. Der Schnitt war gesäubert, und der blutige Teil der Arbeit war getan. Sie legte ihm die Finger auf die Wangen. Sie schienen förmlich dort haften zu bleiben. Sie schloss die Augen und sang weiter. Dieser Augenblick sollte den letzten Beweis erbringen. Den Beweis, dass sie und nicht Guinevere die wahre Heilerin war. Jetzt konnte sie zeigen, dass Lancelot sie ebenso sehr brauchte wie sie ihn. Jetzt konnte sie beweisen, dass sie für immer zusammenbleiben mussten. Sie sang. Ihre Stimme, die klare und helle Stimme, erfüllte den gro 129
ßen Raum. Sie hallte zwischen den Deckenbalken wider und ließ Talg aus den Kerzenleuchtern tropfen. Rot und heiß fielen die Tropfen rings um sie herab. Sie waren nicht mehr zwei getrennte Wesen, sondern nur noch eines. Ihr Lied zog die Schmerzen aus ihm heraus zu ihr. Ihr Herz konnte es ertragen, sie war unzerstörbar. Die Liebe wischte den Schmerz einfach weg. Die heilende Kraft strömte von ihr zu ihm, und Schicht um Schicht schloss sich der hässliche Riss in seiner Haut. Auch der tiefer liegende Riss heilte ab. Es schien, als wären Elaine und Lancelot die getrennten Hälften eines einzigen Wesens. Jetzt waren sie wieder vereint. Das Lied war zu Ende. Die alten Worte - die seltsamen und schönen, hingebungsvollen Worte der Tuatha - waren gesungen. Elaine öffnete die Augen und schaute. Er war geheilt. Das Blut in seinem Haar hatte sich braun gefärbt. Der Schnitt auf dem Kopf war geschlossen, als wäre er vernäht. Lancelot schlief - nicht am zerklüfteten Abgrund des Todes, sondern er lag in einem leichten Schlummer. Seufzend und hingerissen streckte Elaine die Arme aus. Sie fasste unter die nackten Schultern des Ritters - sie hatte ihn bis zur Hüfte entkleidet - und zog ihn hoch in ihre Arme. Sie wiegte ihn leicht und summte ein Lied der Heilung. »Ja, mein Lieber, jetzt sind wir für immer zusammen.« Er regte sich, wachte zögernd auf und sagte: »Du hast mich gerettet.« Ihr Herz schmerzte vor Freunde. »Wir haben einander gerettet.« Er streckte die Arme aus, nahm ihren Kopf in die Hände und richtete sich auf, um sie zu küssen. Dieser Kuss ließ ein Feuer in ihrem ganzen Körper ausbrechen. Schließlich zog er sich wieder zurück und wiegte sie in den Armen. »Ich liebe dich, Lancelot. Ich habe dich immer geliebt.« Er drückte sich an sie und lächelte. »Was sollen wir jetzt tun? Wohin sollen wir gehen?« »Die Liebe schreibt ihre Geschichten selbst. Die Liebe erschafft sich ihre eigene Welt«, antwortete sie. Diese beiden Zeilen hatte sie schon vor zwei Jahren komponiert. Dann hatte sie auf den richtigen 129
Augenblick gewartet, um sie für ihn auszusprechen. Endlich, endlich war der Augenblick gekommen. »Sag mir, dass du mich liebst, Lancelot. Ich will es von deinen eigenen Lippen hören. Sagt mir, dass du mich liebst.« Er holte tief und glücklich Luft. »Ich liebe dich, Guinevere.« Für sie war es gewiss kein glücklicher Augenblick. Sie hatte mehr bekommen, als viele Menschen sich je erhoffen konnten, doch nun war es vorbei. In diesem Augenblick begann
sie zu sterben. Ihr Herz war jung und stark und konnte jede Qual ertragen außer dieser. Die Hoffnungslosigkeit kann ein Herz nicht überleben. »Ich bin nicht Guinevere.« »Was?«, erwiderte er benommen. Jetzt erst öffnete er die Augen. »Ich bin nicht Guinevere. Ich bin Elaine von Astolat. Ich bin ein Niemand.« Er starrte sie an, und der Ausdruck von Entsetzen und Schreck in seinem Gesicht hätte sie fast umgebracht. »Ich habe geträumt.« »Ich auch.« »Verzeih mir, Elaine. Ich dachte, deine heilenden Hände ... deine Stimme ...« »Ja, das dachte ich auch.« Er richtete sich ganz auf und zog sich vor ihr zurück. Sie würden einander nie wieder berühren. Erneut umwölkte Trauer sein Gesicht. »Du hast gesagt, du liebst mich.« Sie zuckte mit den Achseln. Schon liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Was man eben so sagt.« Lancelot schüttelte den mit Blut verkrusteten Kopf. »Du hast jemanden verdient, der deine Liebe erwidert. Mein Herz gehört mir nicht. Es gehört einer, die ich niemals haben kann.« »Ich weiß.« Seine Augen funkelten, doch keine Freude war in ihnen. »Wir sind uns so ähnlich, Elaine zwei Herzen, die sich nach einem Menschen sehnen, der einem anderen verpflichtet ist. Wir sind wie Bruder und Schwester. Erinnerst du dich, dass Guinevere dies gesagt hat?« Sie konnte nicht antworten. »O nein, liebes Kind. Nun weine nicht. Du bist schön und jung 130
und klug. Du wirst eine andere Liebe finden. Eine Liebe, die nicht verboten ist.« Sie riss sich zusammen. Keine Poesie war mehr in ihrer Seele. Nichts außer einem letzten Fetzen. »Es gibt nur zwei Arten von Liebe, Lancelot. Die verbotene und die tragische. Die verbotene Liebe wird nicht vollzogen, die tragische schon.« Er starrte sie lange an. Er prägte sich ihr Gesicht und ihre Worte ein. Dann neigte Lancelot du Lac den Kopf, drehte sich um und ging hinaus. Nach seiner Abreise war der Sommer heiß und ermüdend. Natürlich gab es Turniere und Feste, und zwischen grünen Stängeln schwärmten die Insekten des Sommers. Überall summte es, überall war geschäftiges Leben. Elaine hatte kein Leben mehr in sich. Sie hatte ihn geliebt, seit sie ihn vor drei Jahren beim Fest des Pendragon das erste Mal gesehen hatte. Seitdem liebte sie ihn, doch sie konnte ihn niemals besitzen. Es gab keinen Grund aufzustehen, zu essen, zu trinken oder zu leben. Nacheinander hatte sie alle diese Tätigkeiten eingestellt. Sie hatte im Bett gelegen, als der Weizen reifte. Sie hatte im Bett gelegen, als er von Sicheln geschnitten und zu Mehl gemahlen und zu Brot gebacken wurde. Als der erste Schnee auf die schon mit Raureif überzogenen Felder fiel, wollte ein Page ihr heißes Brot ans Krankenbett bringen, doch er fand es leer. Elaine lief. Barfuß und hager lief sie im Nachthemd unter einem Himmel aus zerfetzter Wolle. Wie eine schwarze Schlange schmiegte sich der Fluss Astolat ins Tal. Das schwarze Wasser dampfte, als Elaine sich ihm näherte. Zwischen eisigen Stacheln lagen die Dornen von Brombeeren. Elaine hinterließ rote Fußabdrücke im Schnee. Die Pier war ein weißer Keil in der Schwärze. Schneeflocken landeten im Fluss und lösten sich auf. An der Pier dümpelte leise die königliche Barkasse ihres Vaters. Sie war zum Überwintern abgetakelt. Wer wollte schon zwischen Eisschollen auf dem Fluss fahren?
Elaine nahm die Leinen von den Blöcken und ging an Bord. Gleich darauf zog die lautlose Strömung das Boot zur Seite, fort von der Pier. 131
Sie ging zum Pavillon in der Mitte des Decks. Der Baldachin war abgenommen und verstaut worden. Dort legte Elaine sich nieder. Schneeflocken wirbelten über ihr. Wie kalte Küsse landeten sie auf ihrer Haut. Sie schmolzen und weinten. Elaine wurde vom Schnee eingehüllt. Er entzog ihr alle Wärme, verwandelte ihr Fleisch in Eis. Bald schmolzen die Flocken nicht mehr auf ihrem Gesicht. Bald waren ihre Tränen zwei Linien aus silbernem Eis. Es war, als hätte Gott mit grausamer Hand das Boot absichtlich direkt oberhalb von Camelot ans Ufer getrieben. Ein Mädchen, das mit einem Eimer Wasser schöpfen wollte, fand es. Es stand weinend am Ufer, als zwei Holzdiebe des Weges kamen. Sie ließen die Bündel fallen und gafften. Weitere Leute sammelten sich — eine Jagdgesellschaft mit einem Hirsch, der an eine Stange gebunden war, ein Kesselflicker mit klappernden Pfannen, ein Ritter auf schnaubendem Ross. Als Lancelot kam, war der Schnee zertrampelt und braun. Er stieg von Rasa ab und überließ ihn sich selbst. Als er durch die Menge schritt, konnte er die Augen nicht vom Boot und der Gestalt auf dem Deck abwenden. Schön war sie, in einen dünnen Mantel aus Schnee gekleidet, zart wie Spinnweben. Darunter konnte er die blaue Haut und die weit geöffneten Augen sehen. Man konnte sie nicht verwechseln. Lancelot stockte der Atem, und ihm war, als hätte er einen Schlag vor die Brust bekommen. Lancelot stieg aufs Boot, ging zu ihr und wischte ihr die Flocken vom Gesicht. Einige blieben mit winzigen, gemeinen Widerhaken in den Augenwinkeln hängen. Er bekam sie nicht heraus. Lancelot schüttelte den Kopf. Es gibt nur zwei Arten von Liebe, Lancelot. Die verbotene und die tragische. Die verbotene Liebe wird nicht vollzogen, die tragische schon. »Deine war beides, süße Elaine.« Er starrte sie lange an und prägte sich ein letztes Mal ihr Gesicht ein. Dann blickte er nach Camelot hinauf, zum Turm des Palasts, wo Guinevere war. »Meine dagegen nicht.« 131
21. Tote und lebende Brüder Gift war ein köstlich Ding. Es konnte einen Apfel in eine Waffe verwandeln, die so tödlich war wie eine Lanze. Sir Mordred polierte gerade einen solchen Apfel an seiner Weste. Flüssiger Tod lauerte unter der Haut der Frucht. Er betrachtete sein Spiegelbild in der Schale. Die Krümmung des Apfels verzerrte sein Lächeln zu einer Grimasse. Gift war besser als eine Lanze. Das Opfer gab sich den Tod mit eigener Hand. Mordred steckte die rote Frucht in den Ärmel und wanderte zur Küche des Palasts. Im dampfenden Raum drehten die Köche aufgespießte Wildschweine über den züngelnden Flammen. Andere schälten Möhren und kochten Lauch. Wieder andere standen an einer Anrichte und bauten Äpfel auf Tellern auf. Als sie fertig waren, ging Mordred hinüber. Er lehnte sich müßig an die Anrichte und tat, als wollte er einen Apfel nehmen, ließ jedoch die vergiftete Frucht aus dem Ärmel gleiten. Ein letztes Mal sah er sie an und legte sie auf einen
Stapel. Es war ein leuchtend roter Apfel und der größte von allen. Die begehrenswerteste Frucht brachte den Tod. Mit einem erleichterten Seufzen verließ Mordred die Küche und betrat die große Halle. Der Hof des Königs Artus versammelte sich für die Feier am Fetten Dienstag. Ob vergiftet oder nicht, Äpfel waren um diese Jahreszeit eine Delikatesse. Mordred schob sich unerkannt zwischen den langen Tischreihen entlang und an den schwatzenden Höflingen vorbei, bis er seinen gewohnten Platz erreichte — ein gutes Stück von König und Königin entfernt. Er brauchte keinen Thron, um zu herrschen. Unter einem leise wehenden Banner saß er und beobachtete das Volk — sein Volk —, das sich hier versammelte. Seit Jahren schon studierte Mordred insgeheim die Kunst der Alchi 132
mie. Er hatte sich auf Substanzen spezialisiert, die den Zustand der Menschen verändern konnten — man konnte sie glücklich oder traurig machen, sie verwirren oder brillieren lassen, man machte sie geschwätzig, liebestrunken, unvernünftig, oder man brachte sie einfach um. Oft gab Mordred seinen ritterlichen Gefährten oder den Jungfrauen, die sie auserkoren hatten, Prisen von diesem oder jenem Mittel. Ein Wahrheitstrank im Likör eines untreuen Ritters führte zu aufschlussreichen Geständnissen. Ein Schmerzmittel in den Handschuhen eines Ritters führte leicht dazu, dass er das Turnier verlor. Ein Mittel auf dem Schwertgriff, das eine große Wut ausbrechen ließ, schuf einen kaltblütigen Mörder. Mordred lernte nach und nach, welche Tränke er in welcher Dosierung auf welchem Weg verabreichen musste. Durch eifrigen Gebrauch solcher Mittel hatte Mordred einen stillen, aber nachhaltigen Stimmungsumschwung am Hofe von Camelot herbeigeführt. Rivalen verwandelten sich in sabbernde Trottel, Jungfrauen wurden zu Schlampen, erbitterte Feinde zu zitternden Feiglingen. Seine Tränke formten nach und nach alle Mitglieder des Hofstaats und steuerten ihre Taten. Er fühlte sich wie ein Gott. Sollte seine Mutter doch ihre Zaubereien veranstalten. Mit ein paar Prisen Pulver war Mordred in der Lage, nach und nach ganz Camelot zu übernehmen. Heute wollte er jedoch zum ersten Mal mit einem seiner Mittel jemanden töten. Es würde spannend sein zu beobachten, wen es traf. Er plante keinen Königsmord, denn es stand zu viel auf dem Spiel. Er hatte nicht die Absicht, ein bestimmtes Opfer zu töten. Einfach irgendjemanden - irgendjemanden außer sich selbst. Er wollte das Schicksal entscheiden lassen. Es war Zeit, seiner alchimistischen Macht über den Hof von Camelot einen tödlichen Anstrich zu geben. Das angeregte Geplauder in der großen Halle erstarb allmählich. Ein Page kündigte das Kommen des Königs und der Königin an. Alle standen auf, sogar Mordred in seiner dunklen Ecke. Knappen streuten grünes Reisig aus. Aus dem Bogengang kamen Artus und Guinevere, ein wahrhaft herrschaftliches Paar. Aus Artus' mit Hermelin besetztem Gewand schien weißes Licht auf seinen Bart zu strahlen. Einst war er ein umgänglicher junger Mann gewesen, ein Mann aus dem Volk. Jetzt war 132
er eine zurückhaltende Symbolgestalt, sogar noch entrückt, wenn er körperlich zugegen war, allein durch sein Dasein regierend. Artus' Augen waren tief unter den buschigen Augenbrauen verborgen.
Guinevere strahlte neben ihm wie eh und je. Ihre Schönheit ließ das Gesicht ihres Mannes in tiefem Schatten versinken. Das braune Haar ringelte sich elegant um ihr Spitzenhemd und das purpurne Kleid. Hinter ihnen kam Guineveres Ritter Lancelot. Auch er strahlte. Die drei hatten die herrschenden Positionen inne und mussten sich mit Problemen herumschlagen, die diese Stellung mit sich brachte. Jedenfalls waren sie außerhalb von Mordreds Reichweite. Der König und die Königin hatten persönliche Wachen vor ihren Kammern stehen und Vorkoster, die ihr Essen prüften. Guineveres Heilkräfte würden außerdem sofort die kleinste Veränderung in ihrer persönlichen Alchimie registrieren. Lancelot dagegen war einfach zu lange nicht am Hofe gewesen. Jetzt war er vor allem damit beschäftigt, die Rüstung und seine Waffen zu putzen. Es spielte keine Rolle. Diese drei litten an einem natürlichen Gift — an der Liebe. König, Königin und Ritter schritten zum Podium, auf dem die Tafel des Königs zum Bankett hergerichtet worden war. In der Tafelrunde mochte es nur Gleichgestellte geben, doch die Festtafel zeigte deutlich, wer bevorzugt wurde und wer nicht. Prinz Mordred residierte unter den Blicken seines Vaters im kalten Schatten. Artus, Guinevere und Lancelot nahmen ihre Plätze ein, und auch der Rest der Gesellschaft bewegte sich gemessen zu den Stühlen. Die Äpfel wurden gebracht, blutrot auf silbernen Tellern. Ahnungslose Bauern trugen sie. Sie hätten auch gleich abgehackte Köpfe servieren können. Mordred lächelte. Er konnte den Träger seines Anschlags sehen. Der größte Teller mit den prächtigsten Äpfeln wurde geradewegs zum königlichen Tisch gebracht. Mordreds Lächeln gefror. Er beobachtete aufmerksam, was geschehen würde. Einen Königsmord wollte er nicht begehen, doch er hatte das Schicksal entscheiden lassen. Dies konnte noch sehr spannend werden ... Das Tablett mit den Früchten wurde auf den Tisch gestellt. Kerzen 133
licht spiegelte sich auf dem Berg und färbte Guineveres Gesicht rot. Sie würde wählen. Sie beugte sich zu Lancelot hinüber, der etwas flüsterte, das sie lachen und erröten ließ. Dann fiel ihr Blick auf die Speisen, die vor ihr warteten — auf jene Frucht, die das Gift enthielt. Sie war wie die Eva der Bibel, sie wollte die Frucht haben. Sie griff danach. Sie nahm den Apfel vom Stapel und hielt ihn bewundernd hoch. Mordred schluckte. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Wie gebannt beobachtete er die große, giftige Frucht. Ja, jetzt wurde es spannend. »Oh, so ein schöner Apfel. So groß und rund und rot«, sagte die Königin, als sie ihn hob. »Wer ist wohl würdig, eine so prächtige Frucht zu bekommen?« Damit hatte sie die Aufmerksamkeit aller anderen in der Umgebung erregt - Lancelot zu ihrer Linken und Artus zu ihrer Rechten. Selbst die stämmigen Hebridenprinzen mit ihren Kutten aus Angus-leder beugten sich vor und lauschten aufmerksam. Die Königin hatte ein Spiel angefangen, das niemand versäumen wollte. Prinz Patris senkte das sommersprossige Gesicht. »Große Königin, der Apfel liegt schon in der edelsten und schönsten Hand in diesem Raum. Er gehört Euch.« Sie errötete leicht, als sie das Kompliment vernahm. »Ich könnte eine solche Frucht nicht einmal zur Hälfte aufessen, und es wäre eine Verschwendung, sie nur anzunagen und dann wegzuwerfen. Sie sollte einem kräftigen Mann gehören. Aber wem?«
Prinz Mador, der jüngere Bruder, schaltete sich ein. »Dann soll sie dem großen Artus gehören, dem stärksten Mann nicht nur an diesem Tisch, sondern auf allen Inseln.« »Das ist wahr«, sagte Guinevere. Sie drehte sich um und sah Artus mit einem Ausdruck echter Liebe an. Sie reichte ihm den Apfel. Der König Britanniens sah den Apfel mit blitzenden Augen an. Begehren war in diesem Blick zu erkennen, nicht nur nach dem Apfel, sondern auch nach der Hand, die ihn hielt. Und auch etwas Spielerisches wurde offenbar. Er wollte nicht, dass das Spiel so schnell vorbei war. »Wenn ich die Frucht nehmen wollte, dann dürfte ich doch erst 134
der Zweite sein, der Anspruch erhebt. Ein Vorkoster müsste den ersten Bissen probieren, und das wäre eines solchen Prachtexemplars unwürdig. Vielen Dank, meine Frau, aber es wird hier sicherlich noch einen anderen großen Mann geben.« Er sah sich zu den Hebridenprinzen um. »Selbst auf unseren fernen Inseln hat kein Name eines Ritters einen so guten Klang wie der von Lancelot du Lac. Er ist nach dem König und der Königin der Edelste, und er hat gewiss keinen Vorkoster.« Guineveres Hand beschrieb einen Halbkreis, und sie hielt dem glänzenden Ritter die Frucht hin. Lancelot lächelte und wehrte mit einer Handbewegung ab. »So einen Apfel könnte ich nicht essen, während mein König hungrig neben mir sitzt.« Auch er spielte mit und wollte das Spiel nicht vorzeitig enden lassen. »Aber wer soll den Apfel dann bekommen?« Prinz Mador meldete sich wieder zu Wort. »Mein Bruder hier ist wohl derjenige unter uns, der wie kein Zweiter immer wieder anderen Männern den Vortritt gelassen hat, und da er diese Größe zeigte, schlage ich in aller Demut vor, dass der Apfel ihm gegeben werde.« Guinevere reichte den Apfel an Artus weiter, der ihn seinerseits dem Prinzen übergab. Der sommersprossige Prinz Patris sah sich um und grinste breit. »Nun, dann nehme ich an.« Er lachte laut, und die anderen stimmten ein. Doch das Spiel war erst vorbei, als Patris den Mund weit aufriss, sich die Frucht hineinschob und einen Bissen heraus hackte, der ein Loch bis zum Kern des Apfels riss. Glücklich kaute er, und helle Apfelstückchen flogen ihm von den Lippen, während ihm der Saft in den roten Bart lief. Das Lachen wurde lauter. Prinz Mador wollte das Getöse mit einer amüsanten Bemerkung übertönen, doch seine Stimme versagte. Auch Patris lachte, obwohl er große Apfelstücke im Mund hatte. Nein, er lachte überhaupt nicht, er spuckte. Er spuckte die abgebissenen Stücke aus und fasste sich an den Hals. »Er erstickt«, rief Mador. Alle verstummten. »Ich ersticke nicht«, sagte Patris, als Blut aus seinem Hals sprudelte. Er hustete und spuckte es auf den Tisch. »Ich wurde vergiftet!« 134
Das war sein letztes Wort, doch seine letzte Tat bestand darin, sich herumzudrehen und Königin Guinevere böse anzustarren. Dann brach Patris zusammen und kippte seitlich vom Stuhl. Er sank gegen seinen Bruder, der ihn aufzufangen versuchte. Patris' Kopf schlug auf den Boden, und ein schäumender Schwall Blut drang aus seinem Mund. Mador umfing seinen Bruder und spürte jede Zuckung des Sterbenden am eigenen Leib. »Patris, oh, Patris!« Dann rief er: »Holt die Heiler!«
»Ich bin eine Heilerin.« Königin Guinevere stand auf einmal neben ihnen. Ihr Gesicht war aschgrau, und Tränen standen ihr in den Augen. Sie streckte die Hände aus. Mador schlug ihre Hände weg. »Nein, nicht Ihr. Nicht seine Mörderin.« »Ich wusste es nicht«, sagte sie sehr, sehr leise. »Du musst mir glauben ...« »So grausam spielt Ihr Eure Spiele und lasst den Tod vor den Augen der Männer zuschlagen. So bösartig, dieser Mord, in Samt gekleidet. Ein Mord, den Ihr hinter Eurer Stellung verbergen könnt. Wenn Ihr ein Mann wärt...« »Ich bin ein Mann«, unterbrach Lancelot ihn. »Und ich weiß, dass keiner dieser Vorwürfe zutrifft. Ich werde ihre Ehre verteidigen und mit dem Leben bezahlen, wenn ich mich irre.« Prinz Madors Augen verdüsterten sich. »Oh, du wirst büßen, Lancelot. Das wirst du. Und wenn du stirbst, dann wird sich zeigen, dass ich Recht hatte und dass die Königin bei lebendigem Leibe verbrannt wird.« Eine einsame Votivkerze brannte im Fenster der Kapelle. Es gelang ihr nicht, das Buntglasfenster zu beleuchten. Es war die finsterste Mitternacht am Aschermittwoch. Unter der nutzlosen Kerze kniete ein Mann und betete flüsternd zu Gott. Am nächsten Morgen musste er sich Lancelot stellen — und sterben. Prinz Mador betete - vielleicht für seinen toten Bruder, vielleicht für die trauernde Familie, vielleicht auch für sich selbst. Die Ehre hat 135
te verlangt, dass er Guinevere herausforderte. Die Erfahrung zeigte, dass jeder, der sich ihrem Streiter stellte, sterben musste. Prinz Mador war in einer aussichtslosen Lage. Seine Schultern zuckten vor Wut, vor Kummer und vor Furcht. Mordred beobachtete ihn angenehm berührt von der Tür der Kapelle aus. Er trug keine Rüstung, sondern das grobe Tuch eines Mönchs. Und er hatte auch kein Schwert, sondern etwas Gefährlicheres - das Brot und den Wein Christi, die Mordred ein wenig seinen Vorstellungen angepasst hatte. Sie waren nicht etwa vergiftet, sondern in der Weise verändert, dass sie mehr Stärke spenden konnten. Warum sollte er Mador in den Klauen des Schicksals sterben lassen? Warum sollte man nicht dafür sorgen, dass er Lancelot ebenbürtig und vielleicht sogar überlegen war? Ein Bissen vom Leib Christi, und Mador wurde stärker, klüger, schneller und beweglicher. Ein Schluck vom Blut Christi, und Mador kämpfte mit ungeheurer Wut. Die Wirkung sollte den größten Teil des Tages über anhalten, lange genug also, damit Mador entweder tötete oder getötet wurde. Mordred schlurfte in die Kapelle. Er nahm die unterwürfige Haltung eines Mönchs ein. Die Kühle der Steinplatten drang durch seine Ledersandalen. Er erreichte den vorderen Altar und stellte das silberne Tablett ab. Es klirrte leicht. Der Prinz schaute erschrocken auf. Schweiß stand auf seiner Stirn. Mit salbungsvollem Ton sagte Mordred: »Nehmt das Abendmahl erst zu Euch, wenn die Sonne aufgegangen ist, um die Fastenzeit nicht zu unterbrechen.« Prinz Mador bedankte sich mit einem Nicken. Rot geränderte Augen hefteten sich auf das Brot und den Becher. Mordred verneigte sich und zog sich zurück. »Es empfiehlt sich, gerüstet und bereit zu sein, bevor Ihr es einnehmt, auf dass die Gnade Christi auch Eure Ausrüstung reinige.« »Ja«, erwiderte der Mann leise. »Danke.« Und dann betete er. Am zweiten Tag der Fastenzeit ritt Lancelot mit Rasa zum Paradeplatz hinaus. Jubelrufe wurden auf den Tribünen laut. Bunte Banner knatterten in der kühlen Luft. In tragbaren Ofen wurden Pasteten geba
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cken, und an den Ale-Fässern wurden die Hähne geöffnet. Für das Volk von Camelot war dies ein Festtag. Nicht so für Lancelot. Heute musste er einen Mann töten. Lancelot musste Prinz Mador töten, oder er würde selbst durch dessen Hand sterben. Und wenn Lancelot starb, dann musste auch Guinevere sterben. Warum war das alles nur so kompliziert geworden? Keiner von ihnen verdiente es zu sterben. Guinevere war unschuldig, sie hatte niemanden vergiftet. Mador konnte man nicht mehr vorwerfen, als dass er über den Tod seines Bruders bekümmert war. Lancelot musste das Leben des einen gegen das Leben des anderen verteidigen. Drei gute und tugendhafte Menschen, und mindestens einer musste heute sterben. Prinz Mador stürmte am anderen Ende auf den Turnierplatz. Sein Pferd, ein Grauschecke, schien wie ein wilder Sturm unter ihm zu toben. Hufe polterten, die Zuschauer tuschelten aufgeregt. Beherzt trieb Mador dem Tier die Hacken in die Flanken. Der Prinz beugte sich im Sattel vor und rüstete sich zum Angriff. Der Helm mit dem roten Busch neigte sich in Lancelots Richtung. Achselstücke neigten sich zugleich, dann der Schild, und dann bewegte sich auch das Pferd in Lancelots Richtung. Grell wie ein Blitz kam Madors Lanze herunter. Ja, jetzt griff er an. »Dann wollen wir uns ihm stellen«, sagte Lancelot ernst zu Rasa. Er klappte das Visier herunter und atmete den Duft von Guineveres Rose ein. Rasa galoppierte los. Lancelot richtete seinen Schild aus, die Eichenlanze hielt er waagerecht. Die Spitze suchte den Hals des Mannes. Nein, Lancelot wollte den Gegner nicht töten. Vielleicht konnte er ihn prügeln, bis er aufgab. Die Lanze richtete sich auf Madors Schild. Wie zwei Widder gingen sie aufeinander los. Das Trampeln der Hufe vermischte sich mit dem fröhlichen Gebrüll der Menge. Die Reiter näherten sich einander. Lanzen prallten auf Schilde. Metall brach. Riemen rissen. Die Männer schwebten einige Augenblicke in der Luft, als die Pferde unter ihnen wegrannten. Dann stürzten sie in den Staub. Lancelot wollte nach Luft schnappen, aber seine Lungen waren wie abgestorben. Er ließ den zerfetzten Schild und die nutzlose Lanze fal 136
len. Taumelnd stand er auf. Es war lange her, dass er das letzte Mal aus dem Sattel geworfen worden war. Dieser Mador war ein ausgezeichneter Kämpfer. Und schon war der Prinz wieder auf den Beinen. Auch er hatte seinen Schild und die Lanze fallen lassen. Ein blank gezogenes Schwert hatte er in der Hand, ein mächtiges Schwert. Grimmig zog Lancelot auch seine Waffe. Endlich konnte er den ersten flachen Atemzug tun und zwei weitere, bevor er sich in Bewegung setzte. Mador kam gerannt. Er war nicht groß, doch er schwang mühelos das große Schwert. Es beschrieb einen Bogen über seinem Helm und blitzte im Sonnenlicht, als es herabfuhr. Lancelot hob die eigene Klinge, um den heftigen Hieb abzuwehren. Das große Schwert schlug ein wie eine Axt. Metall klirrte. Lancelots Finger prickelten. Mit knapper Not schaffte er es, seine Klinge festzuhalten. Er wich einen Schritt vor seinem Feind zurück. Mador setzte nach und stieß mit dem Schwert zu. Hätte er sich nicht geduckt, dann wäre Lancelot aufgespießt worden. Die Spitze fuhr knapp unter seinem Arm hindurch. Mit der eigenen Klinge konnte er das gegnerische Schwert niederhalten, doch Mador gelang es, Lancelots Seite zu treffen. Die Schwertspitze färbte sich rot. Lancelot taumelte zurück. Er hatte einen langen, flachen Schnitt auf den Rippen.
»Das erste Blut«, tönte es aus Madors Helm. Lancelot keuchte. »Ich werde die Ehre der Königin nicht opfern, nur weil das erste Blut geflossen ist.« »Das hätte ich auch nicht erwartet«, gab Mador gleichmütig zurück. Er setzte zum nächsten Angriff an. Lancelot wich einen weiteren Schritt zurück. »Ich habe noch nie gegen einen so starken und geschickten Krieger wie Euch gekämpft, Prinz Mador.« »Und mir geht es mit Euch nicht anders, Sir Lancelot.« Er ließ einen vernichtenden Schlag auf Lancelots Hals los. Lancelot wehrte den Schlag ab. »Es ist eine Schande, dass einer von uns beiden sterben muss.« 137
»Ja.« Mador ließ sein Schwert einen Bogen beschrieben, um Lancelot den Bauch aufzuschlitzen. »Einer von uns muss sterben.« Lancelots Stahl fuhr dazwischen und hielt den Schlag des Gegners ab. Die Waffen prallten klirrend gegeneinander. Es würde ein sehr langes Duell werden. Mordred staunte über die Kraft, die der Leib und das Blut Christi verleihen konnten. Er staunte auch über den Leib und das Blut Lancelots. Am Spätnachmittag war außer Leib und Blut nicht mehr viel vorhanden. Madors Helm war gespalten, beide Männer hatten die Helme abgelegt. Dann waren nacheinander Brustharnisch, Panzerhandschuhe und Beinschienen verschwunden. Inzwischen war sogar Madors Schwert gebrochen. Lancelot warf sein eigenes Schwert weg, und sie kämpften mit blutigen Fäusten weiter. Keiner von ihnen konnte die Oberhand gewinnen. Und keiner wollte aufgeben. Es wurde langweilig. Mordred konnte alles ertragen, nur keine Langeweile. Er bemerkte Sir Pynel in der Nähe. Der Mann hatte einen Schuldkomplex. Das richtige Kontaktgift auf seinen schwitzenden Händen sollte den Schuldkomplex zu einem Geständnis reifen lassen. Dann noch ein paar Worte über unschuldige Männer, die einander für nichts und wieder nichts umbrachten, und es konnte erneut spannend werden. Taumelnd und blutend und doch keinesfalls bereit, sich zu ergeben, rauften die Ritter miteinander. Eigentlich wirkten sie kaum noch wie Feinde, sondern eher wie Brüder, die in einen ewigen Ringkampf verwickelt waren, ohne jedoch wirklich die Absicht zu haben, einander umzubringen. »Die Königin ... ist unschuldig ...«, flüsterte Lancelot nicht zum ersten Mal. »Mein Bruder ... ist tot...«, lautete die längst bekannte Antwort. Eine neue Stimme war zu hören. »Ich kann nicht erlauben, dass dies so weitergeht.« 137
Lancelot und Mador stellten das Gerangel ein und schauten auf. Mit blutunterlaufenen Augen sahen sie Sir Pynel neben sich knien. Seine Hände waren wie zum Gebet gefaltet, und sein Gesicht war von Schuld gezeichnet. »Ich habe diese schreckliche Tat begangen.« »Was?«, sagten Mador und Lancelot wie aus einem Munde. »Ich habe den Apfel vergiftet. Ich habe ihn auf den Stapel gelegt, der für die Königin aufgetragen wurde. Ich wollte sie töten. Stattdessen hätte ich beinahe Euch zwei getötet.« Der junge Ritter starrte sie an, und seine Augen waren wie zwei tiefe Gruben im aschfarbenen Gesicht. »Verfahrt mit mir, wie es Euch beliebt.«
Endlich lösten Lancelot und Mador sich aus dem Handgemenge. Sie schienen wie Kameraden, die zum Krieg die gleichen Farben aufgelegt hatten. Sie näherten sich dem Mann. Lancelot bückte sich, um sein Schwert aufzuheben. Mador nahm Pynels Schwert. Mit gleichförmigen Bewegungen schlugen die beiden Männer zu, und die Klingen trafen sich in Pynels Hals. Als der Körper des Missetäters noch zu Boden sank, fiel Mador auf die Knie. »Verzeih mir, Lancelot, dass ich dich an Stelle der Königin so schwer geprügelt habe.« »Verzeihung, Mador«, erwiderte Lancelot, der nun seinerseits niederkniete, »für die gleiche Tat. Was du getan hast, das hast du getan, weil du deinen Bruder verloren hast.« »Ich habe heute einen neuen Bruder gefunden. Seine Burg soll nicht leer stehen, Lancelot, denn von diesem Tag an gehört sie dir.« Unter dem Blut erbleichte Lancelot. »Aber ich kann doch nicht...« »Der Besitz fiele sonst an Erbschleicher und kleine Herzöge. Es ist eine schöne Burg auf North Uist, der mittleren Hebrideninsel. Brave Menschen leben dort. Sie werden dir folgen, Lancelot, wenn du sie nur anführst.« Lancelot schnaufte schwer. Er ließ das Schwert sinken und streckte eine blutige Hand aus. »Ja. Das ist das Mindeste, was ich für einen so tapferen Krieger tun kann. Also sind wir Waffenbrüder.« Auf der Tribüne aber, wo gespanntes Schweigen eingekehrt war, stand Mordred und hörte alles - und lächelte in sich hinein. 138
22. Der Rabe und die Rose Im Bug des Schiffs stand Lancelot neben Prinz Mador und Königin Guinevere. Hinter ihnen drängte sich das Gefolge auf dem Vorderdeck. Alle wollten die Insel North Uist sehen, das neue Land, das Lancelot gewonnen hatte. Er war gekommen, um es in Besitz zu nehmen. Prinz Mador von den Hebriden und Königin Guinevere von Camelot waren gemeinsam gereist, um an diesem Freudentag die geeinten Völker zu vertreten. »Refft das Hauptsegel!«, rief der Kapitän. Die Matrosen kletterten hoch, um das Segel zu bergen. Es wurde aus dem Herbstwind gezogen, und das Schiff verlor an Geschwindigkeit, nachdem es eilig über die bewegte See getrieben worden war. Alles ging gut. Zwischen zwei Wachtposten aus schwarzem Stein hindurch führte der Weg in den Fjord — eine gefährliche Passage. Fünf Monate zuvor war eben dieses Schiff beinahe an den Felsen zerschellt. Damals hatte es den Leichnam des Prinzen Patris zur Beerdigung nach Hause getragen. Heute trug es den neuen Herrscher zu seinem erwartungsvollen Volk. »Ruder geradeaus.« Das Schiff tanzte zwischen den beiden Steinwänden. Es gab einen gefährlichen Augenblick, als das Wasser den Kiel über einen Steinrücken hob. Hände spannten sich ums Dollbord, Knöchel liefen weiß an. Mit einer fließenden Bewegung schoss das Schiff in den Fjord. »Wir hätten noch eine halbe Stunde warten sollen«, sagte Prinz Mador. »Die Durchfahrt ist von den Gezeiten abhängig. Wir hatten gerade eben genug Wasser unter dem Kiel.« Lancelot nickte ernst und sah sich in dem von steilen Felswänden umgebenen Tal um. Von der See gepeitschte Klippen erhoben sich zu beiden Seiten des Gewässers. Das Schiff fuhr hindurch, als zöge eine Nadel einen Faden. Direkt vor ihnen verbreiterte sich das Tal ein we
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nig und bot gerade genügend Platz für einen kleinen Hafen. Zwei große Schiffe, eines davon ein Drachenboot, und zahlreiche kleinere Boote hatten angelegt. Die Möwen zogen über ihnen in kreischenden Schwärmen dahin. »Die Zufahrt fällt zweimal täglich trocken«, fuhr Prinz Mador fort. »Aber die tiefe Stelle da vor uns läuft nie ganz leer. Es ist ein ausgezeichneter Hafen — aber nur zweimal am Tag.« »Sicher ein guter Schutz vor Eindringlingen.« Lancelot betrachtete die einzige Pier des Hafens, an der auch sie festmachen würden. Menschen in Festtagskleidung, ihr Empfangskomitee, hatten sich dort aufgestellt. Hinter ihnen kippten Arbeiter Fische in Fässer mit Salzlake. Noch weiter hinten quälten sich Wagen den gewundenen Weg zur Höhe hinauf. »Es ist ein raues Land«, bemerkte Lancelot. »Ja«, sagte Mador lächelnd und nickend. »Ein gutes Land mit braven Menschen. Aber du schaust nicht hoch genug hinauf.« Er deutete zur hohen Klippe. »Dort ist dein neuer Besitz - Dolorous Garde.« Lancelot riss die Augen auf, als er hörte, dass man eine Burg als »Schmerzliche Wacht« bezeichnet hatte, und staunte über die strenge, schwarze Festung. Sie war aus dem schwarzen Stein dieser Gegend geschlagen und wirkte wie ein Teil der Klippe selbst. Ungleichmäßige Wehrgänge liefen auf der Ringmauer entlang, und Türme besetzten kantig die Ecken. Zwei Haupttürme erhoben sich zu beiden Seiten des viereckigen Bergfrieds im Zentrum. Insgesamt sah die Anlage eher nach einem Karfunkelstein als nach einer Burg aus. »Die Schmerzliche Wacht«, sagte Lancelot. Prinz Mador zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht der Palast von Camelot, aber die Burg ist uneinnehmbar, und drinnen lässt es sich vortrefflich leben.« Guinevere hakte die Hand in Lancelots Ellenbogen. »Wenigstens hast du jetzt eine eigene Burg. Ein zweimal geborener Prinz — und jetzt bekommst du deine Burg.« »Mehr als eine Burg sogar«, warf Prinz Mador ein. »Du bekommst die Lehnstreue aller Menschen auf der Insel. Es sind beinahe zwanzigtausend, und darunter sind zweitausend Kämpfer. Schau nur, die 139
Hauptleute erwarten dich schon, um dir gleich auf der Pier die Gefolgschaft zu schwören.« Als das Schiff einlief, betrachtete Lancelot seine neuen Untertanen. Sie waren Hebrider, in deren Adern sich nordisches mit piktischem Blut mischte. Kleine und Große gab es, Blonde und Rote. Ihre Festtagskleidung bestand nicht aus Brokat und Zobelpelz, sondern aus den Sachen, die halb wilde oder halb dem Feenvolk angehörende Menschen eben bevorzugten. Wolfspelze, Hirschgeweihe, Rabenfedern, Kriegstrophäen, Wehrgehänge mit barbarischem Schmuck - sie waren ein großartiger, grimmiger Haufen. Lancelots Feenvolk-Untertanen hätten kaum merkwürdiger sein können. Prinz Mador bemerkte Lancelots ernsten Gesichtsausdruck. »Warum bist du so traurig, mein Freund? Ich bin es nicht, und das Volk ist es auch nicht. Wir haben meinen Bruder beerdigt, und wir haben getrauert. Jetzt ist die Zeit gekommen, meinen neuen Bruder zu begrüßen. Sei nicht traurig, Lancelot. Du gewinnst ein Volk und ein Heer. Du rettest ein Land vor der Gesetzlosigkeit. Du verbündest die Hebriden und Camelot. Dies ist ein Freudentag.« »Ja«, sagte Lancelot.
Die letzten Segel des Schiffs wurden gerefft. Es schlich bis zur Pier und stieß einmal leicht an. Taue schlängelten sich zu den Häuptlingen vor, wurden aufgefangen und festgebunden. Nun stand Lancelot Auge in Auge seinen neuen Untertanen gegenüber. Er lächelte gezwungen. »Verzeih mir mein schmerzliches Gesicht«, sagte er zu Mador. »Hier unter meiner Schmerzlichen Wacht.« Die Feiern begannen, kaum dass Lancelot die Tore seines neuen Heims durchschritten hatte. Die Hauptleute der Hebrider stießen laute Jubelrufe aus, die Hunde in der Burg antworteten mit kehligem Gebell. Kinder rannten, die Arme voller Heidezweige, kichernd über den Burghof, um den neuen Herrn zu begrüßen. Fünf Musiker bereicherten mit ihren Flöten den allgemeinen Lärm um schrille, fremdartige Klänge. Die ganze Gesellschaft begann zu tanzen. So etwas hatte Lancelot in Camelot noch nie gesehen. Die Stadt war viel zu vornehm für so 140
ungehörige Ausbrüche. Aber hier, auf der Schmerzlichen Wacht, sah es anders aus. Bauern hüpften herum, die Stöcke mit den Wurstketten zuckten und machten die Hunde verrückt. Wächter drehten sich im Kreis und schienen mit den am Gurt wirbelnden Waffen nur noch beeindruckender. Braumeister setzten ihre Hinterteile in Bewegung und rollten Fässer in den Hof. Mädchen sprangen, dass die Zöpfe wippten. Selbst die Krähen auf den Wällen hüpften begeistert. Lancelot konnte nicht anders, er ließ sich vom Getümmel mitreißen. Die Musik der Pfeifen und Trommeln war unwiderstehlich. Sie drang nicht durch die Ohren ein, wie es bei höfischer Musik sonst der Fall war. Sie kam durch die Zehen. Die Füße zuckten, dann die Fußgelenke und schließlich die Beine und Knie. Sie ergriff von unten vom Körper Besitz, als stiegen die Geister der Erde auf, um sich in menschlichen Körpern zu manifestieren. Lancelots düstere Stimmung wurde von den fröhlichen Beinen einfach weggefegt. Er trat vor und drehte sich und trat zurück und sprang und ahmte die anderen nach. Keuchen und Schnaufen verwandelte sich in Lachen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder wohl — seit Avalon. Irgendwann während des wilden Tanzes landete sie in seinen Armen. Lancelot hatte sie nicht nach ihr und Guinevere hatte sich nicht nach ihm umgesehen, doch auf einmal umarmten sie einander, die Königin und ihr Streiter. Die Menge sah es und jubelte. Jeder Mann schnappte sich eine Frau, alle Paare wirbelten herum. Mädchen bildeten lange Ketten, und die Knaben tanzten mit den Hunden. Die Pfeifen blökten, die Trommeln schlugen doppelt so schnell. Die Querflöten pfiffen schrill. Fünf Monate zuvor waren die Leute auf diesem Hof feierlich hinter ihrem toten Prinzen marschiert, um ihn zu Grabe zu tragen. Jetzt tanzten sie, als wollten sie die Toten auferwecken. Lancelot lachte und drückte Guinevere an sich. »Warum bin ich auf einmal so froh?« »Frag doch lieber, warum du so viel Zeit damit verbracht hast, traurig zu sein«, gab Guinevere zurück. Er tanzte weiter, doch Lancelots Gesicht verdüsterte sich. »Wir kennen beide die Antwort darauf.« 140
»Nicht die ganze Antwort«, erwiderte sie und sah ihm tief in die Augen. »Und es geht nicht nur um uns zwei.«
Lancelot runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Es gibt etwas aus unserer Vergangenheit, das ich dir noch nicht erzählt habe. Ich wagte es nicht. Doch wir sind schon viel zu lange unglücklich.« »Dann sag es mir.« »Heute Abend, wenn dies alles vorbei ist«, versprach sie und wich den anderen ein wenig aus, um neugierigen Ohren zu entgehen. »Heute Abend werde ich in deine Gemächer kommen und es dir zeigen.« »Heute Abend«, sagte er. Ein seltsames Glücksgefühl flatterte in seinem Herzen, als sich sie weiter im Tanze drehten. »Dies soll nicht länger die Schmerzliche Wacht sein, meine Königin. In Zukunft soll dies die Fröhliche Wacht sein.« Die Worte »wenn dies alles vorbei ist« sollten eine viel tiefere Bedeutung bekommen, als Königin und Ritter zunächst vermuteten. Musik und Tanz, Feiern und Trinken gingen weiter bis zur Morgendämmerung. Die Menge löste sich erst eine ganze Weile nach der Dämmerung auf. Das Fest näherte sich erst seinem Ende, als die Gäste müde in die eigenen oder andere Betten gefallen waren und fest schliefen. Lancelot und Guinevere hatten bessere Gründe, erschöpft zu sein, als jeder andere. Sie hatten jeden Tanz mitgemacht, wenngleich nur den ersten als Paar. Sie hatten bei allen Trinksprüchen die Becher gehoben und die Trinklieder gesungen. In jeder Hinsicht waren sie Herr und Herrin der Feier gewesen. Lancelot erkannte sehr rasch, dass er, wenn er dieses Volk regieren wollte, den alten Inbegriff von Überfluss und glücklichen Zeiten verkörpern musste. Als er sich endlich in die mit Eichenholz vertäfelten königlichen Gemächer zurückzog, wäre er am liebsten voll bekleidet ins Bett gefallen. Doch sein Herz flatterte immer noch. Er zog die feuchten Sachen aus, reinigte sich rasch im Waschbecken, das man eigens zu diesem Zweck aufgestellt hatte, legte ein Schlafgewand an und verharrte. Er musste nicht lange warten. 141
Auch Guineveres Herz hatte gebebt. In die schlichten Röcke ihrer Kammerzofe gekleidet, huschte sie in sein Gemach. Sie drehte sich um, drückte behutsam die Tür zu und legte den Riegel vor. Dann lehnte sie sich an und seufzte. Lancelot sah, wie sich der Stoff über ihrem fraulichen Körper spannte. »Und was trägt deine Zofe jetzt?«, fragte er leise. Guinevere wandte sich ihm zu. »Mein Nachthemd. Sie nimmt, von Vorhängen geschützt, in meinem Bett meinen Platz ein. Nur sie weiß es, und dabei kann sie sogar eine nicht sehr schmeichelhafte Nachahmung meiner Stimme zustande bringen. Niemand sonst ist eingeweiht.« Sie kam langsam zu ihm. Selbst in den Kleidern einer Dienerin war sie schön. Er konnte die Augen nicht von ihr wenden. »Was willst du mir nun sagen?« »Ich will dir etwas zeigen«, sagte sie und setzte sich neben ihn. Durch das einfache Kleid hindurch spürte er die Hitze ihrer Haut. Guinevere senkte den Kopf und lehnte sich an ihn. Mit schlanker Hand warf sie sich das Haar aus dem Nacken. »Was siehst du hier?« Er zitterte. Er wusste nicht, wohin er schauen sollte. »Hier auf meinem Nacken direkt unter der Haarlinie.« Dann sah er es. Eine Tätowierung, gedehnt und verblasst. Es war eine Rose, die im Schnabel eines Vogels mit roten Schwingen, vielleicht einer Amsel, steckte. »Wann hast du dies bekommen?«
Sie stand auf und ging zum Waschbecken, trug es zum Fenster und stellte es auf die Fensterbank. Dann winkte sie ihm. »Komm her.« Er gehorchte. Sie umarmte ihn zärtlich, hob die Hand langsam zu seinem Nacken und fuhr in seine Haare. So zog sie ihn über das Becken, als wollte sie ihn küssen. Doch dann hob sie mit der anderen Hand ein kleines, versilbertes Glas. Es blitzte kurz in der aufgehenden Sonne. Guinevere drehte die Hand hin und her. Lancelot sah blinzelnd zum Glas und erkannte, dass sein eigener Kopf sich im Becken spiegelte. Er sah sein Haar und Guineveres schlanke Hand und direkt darunter eine schwache Tätowierung. Sie entsprach derjenigen in Guineveres Nacken. 142
»Was ist das?«, fragte er. Guinevere zog ihn vom Becken und dem Fenster weg, nahm ihn in die Arme und hielt ihn fest. Ganz leise sprach sie in sein Ohr. »Wenn in einem Königshaus der Tuatha de Danann ein Kind geboren wird, dann bekommt es das Zeichen des Hauses in Form einer Tätowierung, die nie verschwindet.« Lancelot erbleichte und zog sich von ihr zurück. »Wir stammen aus demselben Haus? Haben dieselben Vorfahren?« Sie ließ ihn nicht los, sondern zog ihn wieder an sich. »Dasselbe Haus, ja, aber nicht dieselben Vorfahren.« Er konnte nur entsetzt den Kopf schütteln. »Was hat das zu bedeuten? Ich verstehe es nicht.« Endlich entließ sie ihn aus der Umarmung. Guinevere tauchte die Hand ins Becken. »Befeuchte deine Fingerspitzen.« »Warum? Was soll das alles?« »Reines Wasser ist der Mittler zwischen dieser und der Anderwelt. Wasser knüpft die Verbindung. Es gibt ein Meer des Vergessens, das man Lethe nennt. Wer von einer Welt zur anderen reist, vergisst, wo er gewesen ist. Die Fluten spülen Erinnerungen fort, aber die Erinnerungen sind nicht verloren. Sie bleiben für immer erhalten und treiben im Wasser. Wer in dieser schrecklichen Flut navigieren kann, der verfügt über alles Wissen der früheren Welt.« Sie hob die Finger, und das Wasser rann langsam herab. »Eine Verbindung.« Da er nicht recht wusste, was er sonst tun sollte, tauchte auch Lancelot die Finger ins Becken. Sie streckte die Arme aus, umarmte ihn und hob die feuchten Finger zur Tätowierung in seinem Nacken. Er tastete nach ihrer Tätowierung und folgte ihrem Beispiel. Haut und Wasser und wieder Haut berührten einander und ... Ein vorsintflutliches Schlachtfeld breitete sich vor ihnen aus. Es gab keinen festen Untergrund. Ebenen verlagerten sich, Erhebungen türmten sich auf und veränderten ihre Form. Gestalten bewegten sich durch die brodelnde Landschaft — zwei Heere in zwei Schlachtreihen. Manche huschten, manche schwammen, manche trippelten, manche 142
flogen. Sie alle trafen sich in einer zentralen Tiefebene, um in den wallenden Nebeln zu kämpfen. Entfernungen schrumpften, und auf einmal waren die Geschöpfe überall ringsum. Aus der Nähe betrachtet, waren es schreckliche, riesige Wesen - Oger, die sich dahinschleppten wie
Hautsäcke, vampirische Leanan Sidhe, die wie singende Gespenster schwebten, Trolle und Höllenhunde, die wie verrückt umhersprangen, Ouphen und Gnome, Kobolde und Dämonen und noch viel schlimmere Geschöpfe, die nicht einmal Namen hatten. Eines war ein Mann, der völlig aus Maden bestand. Ein anderes war ein großer feuchter Muskel, der sich zuckend über den Boden wand. Rudel böser Wölfe, so groß wie Pferde, trabten in ihrer Mitte, und in ihren Augen loderte Feuer. Glitschige Eidechsen huschten über den Boden und wurden bei jedem Schritt wie Gelatine zertreten. Es war ein entsetzliches Heer, und auf der anderen Seite des schrumpfenden Schlachtfeldes marschierte ein zweites, das nicht minder hässlich war. So viele Hufe, Klauen und Schuppen bewegten sich über den bleichen Grund, dass dieser selbst zum Leben erwachte. Er steuerte seine eigenen Ungeheuer bei - Mammute und riesige Faultiere und gewaltige Aasfresser. Erdhügel erhoben sich und nahmen eine Gestalt an, immer neue Geschöpfe torkelten herbei. Manche erreichten das Schlachtfeld, andere lösten sich vorher auf und zerfielen zu Sandhaufen. So schrecklich diese Vorhut aus der Anderwelt auch war, die regulären Truppen, die hinter ihnen kamen, waren noch schlimmer. Reihe an Reihe zogen die Soldaten der Tuatha de Danann an beiden Horizonten auf. Die Größe und Beweglichkeit, die es diesem Volk erlaubte, sich beim Tanz so anmutig zu bewegen, ließ sie im Krieg wie Messer erscheinen kalt und brutal. Schlanke Finger wirkten wie Dornen. Zarte Augen waren tiefe Gruben. Helles Fleisch sah aus wie Eis. Im Gegensatz zu den Tieren tötete das Feenvolk leidenschaftslos und geübt. Brüllend besetzten die Geschöpfe der Vorhut das Niemandsland und fielen mit Zähnen und Klauen übereinander her. Klauen schlugen zu, Zähne bissen zu, Fleischfetzen flogen, und dazu ertönten Schreie, die von Furcht und Entzücken kündeten. Der massenhafte 143
Wahnsinn des Gemetzels griff um sich. Die ersten Reihen erschlugen einander und wurden erschlagen. Sie fielen übereinander und bildeten einen Hügel von Leichen. Die hinteren Reihen kletterten hoch und bauten den Hügel weiter auf. Es war ein blutiger, zertrampelter Haufen, auf den schließlich die Tuatha stiegen. Zerschmettertes Fleisch drunten, schrill kreischende Geister droben. Wie die Ungeheuer, die vor ihnen gekommen waren, kämpften auch die hellhäutigen Krieger. Die seidige Haut wurde zerfetzt, die unsterblichen Herzen zerrissen. Das Schimmern der Sterne in den Augen verblasste. Sie stürzten auf den Haufen, die Schwerter und Speere und Wappenröcke verfingen sich ineinander. Sie stürzten, das Abzeichen des Raben mit den roten Flügeln auf der einen und die Rosenblüte auf der anderen Seite. Die Schlacht war ein Quell der Seelen. Seelen stiegen aus den Körpern drunten auf und flohen hoch und weiß in den Himmel. Sie kräuselten sich, wie es fließendes Wasser tut, und strebten zum Ort ihrer Geburt. Die eine Hälfte floh in eine, die andere Hälfte in die entgegengesetzte Richtung. Zwei große Ströme von Seelen entsprangen hier und strömten durch den Himmel davon. Aneinander geklammert, flogen Guinevere und Lancelot in den beiden großen Strömen. Gespenster, Geister und Seelen umgaben sie und trugen sie mit sich. Unter ihnen fiel die glühend heiße Erde zurück wie ein Blatt im Wind. Stunden vergingen in wenigen gequälten Augenblicken. Die Seelen ergossen sich über eine Klippe in der Luft und stürzten hinab. Sie taumelten hell umeinander und wandten die Köpfe in die Richtung, wo die Heimat war.
Aus dem weißen Wasserfall kam eine heraus, dann noch eine und wieder zwei — Geister, die auf ganz eigenen Wegen zu den Orten gelangten, die sie für ewig heimsuchen wollten. Guineveres Bewusstsein zog sie selbst und Lancelot weiter. Drunten lag ihr Heim - der Palast mit den Säulen. Es war kein Traum aus weißem Marmor wie bei den Römern, sondern ein Heim für lebende Wesen, das aus Bäumen gebildet wurde. Zierliche Türme, rote Balko-ne, Geländer mit Ranken und Laubengängen gab es hier. Ein duftendes, lebendiges und einladendes Heim. Es war Guineveres Heim. 144
Sie zupfte ungeduldig an Lancelots Geist und tauchte durch die Luft hinunter, an Wänden voller Efeu vorbei und hinein durch ein Fenster, das wie ein Kleeblatt geformt war. Dort war die Kinderstube mit der Krippe, die sie schon zuvor gesehen hatten. Weinen war zu hören. Sie ließ Lancelot los und eilte zu dem Kind, das sie selbst war. In den Armen einer Druidin lag die kleine Guinevere auf dem Rücken und schrie herzerweichend. Mit der freien Hand tastete die Druidin nach den Schalen mit dem zähflüssigen Inhalt, nach dem gelben und blauen und ockerfarbenen Farbstoff ... sie tauchte eine Nadel in eine Schale, hob sie und beugte sich über das Kind. Unsichtbar glitt Guinevere neben die Druidin und das Kind, das sie selbst war, doch sie konnte es nicht beschützen. Die Hände der Druidin bewegten sich durch ihren Geistkörper hindurch und stachen das Kind ein weiteres Mal in den Nacken, um den Raben in der Tätowierung zu ergänzen. Eine voll ausgeformte Rose war bereits zu sehen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, winkte Guinevere Lancelot zu sich heran. Komm her. Sie fasste ihn und zog ihn hoch. Sie flogen durchs offene Fenster hinaus in den brodelnden Himmel und entfernten sich von dem warmen Heim. Guinevere kehrte zu der Flutwelle der Geister zurück. Sie richtete den Blick auf ein fernes Land, und so flogen sie über den Geistern dahin. Wohin fliegen wir?, fragte Lancelot. In ein anderes Heim zu einer anderen Wiege. Unter sich sahen sie wieder die heftige Schlacht toben. Die Leichen türmten sich zu einem Altar, der einem wahnsinnigen Gott geweiht war. Jetzt erkenne ich auch das Schlachtfeld, teilte Guinevere ihm mit. Früher gab es kein trennendes Meer. Britannien und die Bretagne waren geeint. In der Anderwelt ist es heute noch so. Diese Schlacht findet auf der Landenge statt, die mein Land mit deinem verbindet. Mein Land und dein Land?, dachte Lancelot. Mein Land? Ja, Lancelot. Eine Feenprinzessin aus Britannien und ein Feenprinz aus der Bretagne. Geboren in zwei großen Tuatha-Nationen, die miteinander im Krieg lagen. 144
Aber wir wurden im Abstand von vielen Jahren geboren, protestierte Lancelot. Wir wurden zur gleichen Zeit geboren. Als ich aus der Anderwelt genommen wurde, hast du dich verweigert. Du bist nicht mehr gewachsen. Die Zeit hat aufgehört zu verstreichen, bis du ab Wechselbalg fortgegeben wurdest. Dann en falteten sich auf einen Schlag die aufgestauten Jahre — dreißig Jahre in sechs Monaten. Wir sind gleichaltrig, Lancelot, nur dass wir auf unterschiedlichen Zeitströmen geschwommen sind. Auf einmal verstand er, und sein ganzes Wesen schmerzte. Jetzt stürzten sie zu seinem Heim und zu seiner Burg. Groß und herrschaftlich war sie aus Menhiren errichtet. In Ringen erhoben sich die Steine wie die Zähne eines Gottes. Im Herzen der konzentrischen Ringe stand ein gewaltiges Gebäude. Einst war es prachtvoll
gewesen und hatte Maßwerk und gerillte Säulen besessen. Jetzt wirkte es eher wie ein Mausoleum. Alle Fenster waren mit kaltem Stein ausgefüllt. Das Gebäude hatte sich unzugänglich gemacht und Schönheit gegen Sicherheit eingetauscht. Doch gab es in all dem lichtlosen Stein einen einzigen goldenen Schein. Eine Kerze schimmerte hinter einem langen, niedrigen Fenster. Lancelot und Guinevere schwebten auf dem goldenen Strahl, drangen durchs Fenster ein und erreichten die Kinderstube. Die Szene war ähnlich wie zuvor. Eine Druidin kniete neben der Krippe. Dieses Mal lag das Kind jedoch im Schlaf, während die Frau ihre roten Farben vorbereitete. Bisher war noch keine Nadel befleckt. Der Rabe war im Nacken des Kindes bereits deutlich zu sehen. Deines war das Haus des Raben, meines das Haus der Rose. Wir tragen beide den Raben und die Rose, weil wir als Kinder miteinander vermählt wurden. Wir wurden einander gegeben, um der Anderwelt den Frieden zu bringen. Wir sollten vereint werden. Lancelot konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, die Worte hatten sich in ihn wie mit glühenden Eisen eingebrannt. Bevor ich mit Artus vermählt wurde, wurde ich mit dir vermählt, Lancelot. Wir sollten einen uralten Krieg beenden und ein Camelot der Anderwelt aufbauen. 145
23. Hindernisse Die durchs Wasser geschaffene Verbindung brach zusammen. Finger hoben sich von Tätowierungen. Erinnerungen verblassten, Seelen trennten sich. Lancelot und Guinevere lösten sich voneinander. Sie standen da und starrten einander an. Keiner von ihnen sah königlich aus. Lancelot wirkte in seinem Nachthemd wie ein kleiner Junge und Guinevere in den Kleidern ihrer Dienerin wie ein Mädchen. Beide waren schweißnass. Die Welt des Fleisches verhöhnte die Welt des Geistes. »Wie können wir jetzt treu bleiben?«, flüsterte Lancelot wie im Fieber. »Wenn wir zu Artus halten, dann verstoßen wir gegen unsere eigene Vermählung. Wenn wir zueinander halten, dann betrügen wir Artus.« »Ich weiß«, antwortete Guinevere elend. Sie setzte sich aufs Bett. »Ich weiß es, seit die Herrin der Nebel es mir gesagt hat.« »Du hast mit der Herrin der Nebel gesprochen?« »Ja.« »Dann bringe mich zu ihr. Wir müssen mit ihr reden. Vielleicht erfahren wir von ihr, was wir tun sollen.« Guinevere lächelte freudlos, dann nickte sie. Sie stand auf, strich das Kleid zurecht und ging zur Tür. »Wenn deine Herrschaft hier gefestigt ist und ich genügend Zeit an der Seite meines Mannes verbracht habe, werde ich dich mitnehmen.« Das ist nicht Avalon, dachte Lancelot. Er saß auf Rasa und betrachtete einen Sumpf, der in der Frühlingssonne dampfte. Wenn überhaupt jemand Avalon kennt, dann ich, und dies hier sieht anders aus. Er hatte Mühe, nicht allzu finster dreinzuschauen. Guinevere brauchte jede Unterstützung, die sie nur bekommen konnte. 145
Sie hatte ihren ganzen Schwärm von Priesterinnen auf die Expedition mitgenommen. Sie trugen Kleider im Grün des Frühlings und sangen Lieder, um das Land aus dem Winterschlaf zu wecken. Den ganzen Weg von Camelot bis hierher hatten sie äußerlich heiter ihre Liebe für das Land und Guinevere verkörpert. Doch Lancelot hatte ihr Getuschel gehört. Als sie das letzte Mal nach Avalon gereist waren, hatte Guinevere sie dort
im Stich gelassen. Drei Tage hatten sie sich mit Nonnen herumgeschlagen und Sümpfe durchsucht, nur um am Ende herauszufinden, dass Guinevere sich mit der Äbtissin zurückgezogen hatte. Bei jener Gelegenheit hatte sie angeblich mit der Herrin der Nebel gesprochen. Jetzt hatten die Priesterinnen trotz der inbrünstigen Lieder gewisse Zweifel. Einige bebten gar vor Furcht. Lancelot teilte ihre Sorgen. Er wollte nicht, dass Guinevere beschämt wurde. Aber wie ließ es sich vermeiden? Sie bestand darauf, Glastonbury als Avalon zu bezeichnen. Sie beharrte darauf, der stinkende Sumpf sei in Wirklichkeit der See, und der baumlose Hügel in der Mitte sei die Insel. Der Ort war nicht einmal ein Hundertstel so groß wie Avalon. Er war hässlich und nicht schön, er war erbärmlich und nicht großartig. Lancelot schnalzte mit der Zunge und trieb Rasa zwischen den singenden Priesterinnen hindurch nach vorn. Die kleineren Pferde — Wallache und Stuten — wichen dem Hengst instinktiv aus. Schließlich lief Rasa neben Guineveres Stute. Seine Flanke berührte die ihre, ihr Fell zuckte, und sie schauderte. Lancelot sprach leise, ohne das langatmige Lied zu übertönen. »Guinevere, wir sind hier in Glastonbury und nicht in Avalon. Wenn du möchtest, dass ich die Führung übernehme ...« »Steigt ab«, rief Guinevere ihren Priesterinnen zu. »Bindet die Pferde an und versammelt euch am Sumpf.« »Es ist keine Schande, wenn man einen Irrtum eingesteht«, flüsterte Lancelot drängend. »Dann wird es dir ja auch nichts ausmachen, wenn du es tun musst«, sagte sie mit einem süßen Lächeln und stieg ab. Als sie über den federnden Boden schritt, griff das Sumpfgras nach ihren Kleidern. Lancelot tätschelte Rasas Hals und stieg ebenfalls ab. Der Hengst 146
schnaubte und lief am Ufer entlang. Lancelot schnaubte ebenso und setzte sich in Bewegung, um zu Guinevere aufzuschließen. Hinter ihm bauten sich die Priesterinnen in einem Halbkreis auf. »Betet«, wies Guinevere sie an, ohne sich umzudrehen. Sie hielt den Blick auf den niedrigen, zerwühlten Hügel gerichtet. »Betet zur Herrin der Nebel, dass sie zu uns kommen möge. Singt das Lied des Wassers.« Wieder wollte Lancelot protestieren, doch Guinevere hob eine Hand und unterbrach ihn. »Bitte, warte einfach. Gewähre mir diese Höflichkeit.« Er hielt den Mund und blieb stehen. Der Gesang der Priesterinnen hatte eingesetzt. Eine Anrufung, die wie Wasser perlte und ihn zu umfließen schien. Lancelot stand unbeweglich da, ein Stein im Wasserlauf. Der Gesang hallte zum Sumpf hinaus. Es war absurd — stinkendes Wasser, halb erstickte Bäume, ein kleiner Hügel, eine schäbige Abtei. Der letzte Gedanke ließ ihn beinahe lachen. Sich vorzustellen, dass in diesem Dreckloch ein göttliches Wesen hausen konnte ... Er hielt die Luft an. Auf einmal lag der See von Avalon vor ihm. Dunkel und klar wie ein Saphir erstreckte er sich unter azurblauem Himmel. In der Mitte erhob sich die Insel Avalon, auf der die Apfelblüten strahlten. Am seltsamsten aber war die wunderschöne Frau, die in einen Schleier aus Licht und Macht gehüllt schien. Sie stand mitten auf dem Wasser und strahlte wie die Sonne. Lancelot hob unwillkürlich die Hand und wich ein wenig vor dem Licht zurück. Erst jetzt sah er, dass die Priesterinnen verschwunden waren. Ein kurz geschnittener Teppich aus
Gras bedeckte die Hügelflanke. Er kniete nieder und setzte ein Knie ins Gras, aber dann verschwand auch das Gras und wurde durch Binsen ersetzt - die trockenen Binsen auf dem Boden einer Hütte. Abermals hatte sich die Welt verändert. Er befand sich in der Hütte seiner Tante Brigid. All die Gerüche -der Rauch vom brennenden Holz, Fenchel und Minze und wilden Möhren - waren auf einmal wieder da. Die Gerüche seiner Kindheit. 147
Ein Atemzug weckte tausend Erinnerungen, und die Erinnerungen erfüllten sein Herz und wärmten ihn. Er sah sich um. Eine Fuhre noch grünen Strohs lag auf den Dachsparren. Der Tisch war mit zwei Kelchen gedeckt, die kurz zuvor benutzt worden waren. Die Bettwäsche auf den Pritschen war zurückgeworfen, als wären die Schläfer gerade erst erwacht. Was hatte dies zu bedeuten? Guinevere und die Herrin der Nebel standen vor ihm. Sie betrachteten ihn wie Eltern, die nervös auf die Reaktion ihres Kindes warteten. Er wollte etwas sagen, doch seine Stimme war belegt. Er hustete hinter vorgehaltener Hand. »Wo ... wo ist Tante Brigid?«, quetschte er schließlich hervor. »Hier bin ich«, sagte die göttliche Frau. Anmutig fuhr sie mit flacher Hand an ihrer strahlenden Gestalt entlang und streifte den Glanz ab, der sie umgab. Dahinter kam eine runzlige Alte zum Vorschein, die ihn mit funkelnden Augen ansah. »Lancelot, du bist nach Hause gekommen.« »Das verstehe ich nicht«, keuchte er. »Wie kannst du ...« »Du verstehst es ganz gut«, erwiderte Tante Brigid. »Gerade in diesem Augenblick verstehst du es. Solange du nicht wusstest, wer du bist, konntest du auch nicht begreifen, warum ich dich aufgezogen habe. Jetzt weißt du es.« Guineveres Stimme war ernst. »Er weiß alles. Deshalb sind wir hergekommen.« Die alte Frau wirkte mit einem Mal noch älter. Sie nickte und ließ sich langsam auf einen Hocker sinken. »Ich weiß. Ich habe es beobachtet.« Guineveres Miene hellte sich wieder auf. »Wir wollen wissen, was wir tun sollen.« »Zuerst«, sagte Brigid sanft, »zuerst solltet ihr euer Land sehen, euer Volk und die Feenkönigreiche, die euch erwarten. Nehmt meine Hände, es ist nur ein einziger Schritt.« Lancelot ging das alles ein wenig zu schnell. Gerade eben hatte er herausgefunden, dass seine Tante Brigid ein göttliches Wesen war, auch wenn er dies die ganze Zeit schon gespürt hatte. Jetzt bot sie ihm 147
an, ihn in die Feenkönigreiche mitzunehmen, die er beherrschen sollte. Eines nach dem anderen. Er stand auf, ging zu Tante Brigid und nahm sie in die Arme. Auch wenn er wusste, dass dieses alte Fleisch und das graue Haar nur eine äußerliche Erscheinung war, die sie um seinetwillen angenommen hatte, tat es gut, sie in die Arme zu schließen. »Dann war das alles hier nur eine Illusion, Brigid? Du, die Hütte, die Obstgärten, die Felsen am See?« »Nein, mein Junge«, beruhigte sie ihn. »Ich bin niemals eine Illusion. Zwar habe ich viele Gestalten, doch diese hier ist ebenso echt wie alle anderen. Und auch der Rest ist real.« Sie deutete zur Tür. »Sieh dich nur um.« Er drehte sich um und ging auf wackligen Beinen zur Tür. Der alte Metallriegel fühlte sich genauso an, wie er ihn in Erinnerung hatte. Seine Hand dagegen hatte sich stark verändert. Er zog den Riegel zur Seite, öffnete die Tür und trat hindurch.
»Verdammt«, rief er und lachte. Er wartete, dass sich sein Gesichtsfeld klärte. Vor ihm breitete sich Avalon aus - grün und saftig, mit blühenden Apfelbäumen. Die Sonne stand golden und strahlend am hohen Himmel. Eine Brise raschelte im Gras wie fliehende Feenwesen. Lancelot blickte zu dem Hügelgrab, wo er den Sachsen beerdigt hatte. Der Hügel und die Markierung waren noch vorhanden. Darüber, weit oben am Hang, glänzte der heilige Kessel. Einige Steinhauer, die den Stein dafür geschlagen hatten, waren zu sehen, wie sie ihre Opfer darboten. »Zwerge«, keuchte Lancelot erstaunt. »Und ich dachte immer, sie seien von schweren Hämmern und Steinen gebeugt.« Tante Brigid trat hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Nichts davon war eine Illusion, doch erst jetzt kannst du es so sehen, wie es ist. Nun, da du dich selbst kennst, erkennst du auch sie.« Lancelot gaffte offenen Mundes. Vor seinen Füßen sausten Elfen in winzigen Schwärmen durchs Gras, die Flügel schimmerten im Flug. Seelie-Hunde jagten sie und kläfften unter den Apfelbäumen. Um die Blüten summten keine Bienen, sondern Heinzelmännchen. Auf dem 148
kabbeligen Wasser des Sees tummelten sich Geschöpfe - Seikies und Kelpis, Najaden, Meervolk, Leviathane und Vampire. Die ganze Gegend war voller Leben, das er nie zuvor gesehen hatte. »War das immer um mich herum?«, fragte er. »Immer.« Er atmete tief und bemerkte erst jetzt die Himmelsgeister, die durch die Luft schössen. Eine Sylphe zwinkerte ihm zu und tauchte zwischen seine Lippen, glitt durch die Kehle, kitzelte seine Lungen und fuhr lachend mit seinem Niesen wieder nach draußen. »Gorgonen, Harpyen, Grendel, Wassertrolle, Faune, Gnome und noch schlimmere Wesen. Du konntest keines davon wirklich sehen. Eigentlich konntest du überhaupt nichts wirklich sehen, solange du dir selbst im Weg gestanden bist.« Lancelot nieste eine weitere Sylphe heraus. »Ich bin bereit. Gerade eben habe ich mich noch gefragt, wie ich ein König des Feenvolks sein könnte, obwohl ich noch nie einen Angehörigen dieses Volks gesehen habe. Jetzt weiß ich, dass ich in ihren liebevollen Armen aufgewachsen bin. Sie haben mich gelehrt, wie man läuft, ein Schwert schwingt und reitet und ...« Es kribbelte in Lancelots Nacken, und er drehte sich um. Sein alter Meister erwartete ihn mit vor der Brust verschränkten Armen zwischen den Apfelbäumen. Er hatte nicht nur ein rotes Gesicht, er war durch und durch rot. Haare, Bart, Haut, Fingernägel -alles bis auf die Zähne und die lächelnden Augen. »Und du wurdest ausgebildet vom Kriegsgott selbst. Kein Wunder, dass du der größte aller Ritter geworden bist.« »Meister Smetrius!«, keuchte Lancelot. »Meister Mars-Smemusl« »Ich habe das Gleiche getan wie Brigid - ich bin in ein anderes Pantheon gewechselt, als mein altes zerstört wurde«, erklärte der Kriegsgott. »Um zu überleben und weiter zu kämpfen.« »Und um einen neuen Odysseus auszubilden«, warf Brigid ein. »Einen Odysseus!«, rief Lancelot. »Wir wollen nicht überheblich werden«, beschwichtigte Mars. Er winkte Lancelot zu sich. »Komm her, König Lancelot. Lass mich dein Schwert anschauen.«
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Lancelot ging zu seinem alten Meister und fiel auf ein Knie. Er zog die Sachsenklinge aus der Scheide und reichte ihm das Schwert. Mars nahm die Klinge in die starke Hand. Rote Flämmchen züngelten aus seinen Fingern und folgten dem Umriss der Klinge. »Alle Kriegsgeräte reagieren auf mich, und ich reagiere auf sie«, erklärte er. Seine Augen waren wie zwei Flammen, als er die funkelnde Waffe betrachtete. Er fuhr mit dem Daumen über die scharfe Schneide. Blut floss, göttliches Blut. Es breitete sich von der Spitze bis zum Griff über die ganze Klinge aus und drang in den Stahl ein. »Dieses Schwert wird von jetzt an jedes Geschöpf töten können, ob Mensch oder Feenwesen. Du wirst es brauchen.« Andächtig ließ er die Klinge sinken. Lancelot nahm sie staunend an sich. Als er mit den Augen die neue Aura der Waffe in sich aufgenommen hatte, sagte er: »Ich wünschte nur, ich hätte meine Lanze mitgebracht. Ich ließ sie in Camelot zurück.« »Sie ist auch ohne meine Hilfe schon sehr stark«, sagte Mars. »Nun erhebe dich und gehe. Du hast eine Reise vor dir.« »Danke, Meister.« Lancelot stand auf und steckte das Schwert in die Scheide. »Danke.« Dann drehte er sich zur Hütte um und lächelte die beiden Frauen an, die sein Leben stärker geformt hatten als jeder andere: Brigid und Guinevere. Sie warteten nebeneinander, jede einen Teil des Ganzen verkörpernd. Alte Weisheit und schöne Jugend. Doch ihre Augen bargen den gleichen göttlichen Funken. Lancelot streckte die Arme aus und ging ihnen entgegen. Sie hoben die Hände und empfingen ihn. Mit dieser Berührung verschwanden Hütte und Hügel und wichen einem anderen grünen Ort. Alte Bäume bildeten eine Allee. Efeu hing an den mächtigen Stämmen. Die Ranken flochten von Baum zu Baum ein grünes Netz. Sonnenlicht sickerte durch das Dach, und die schrägen Strahlen zeichneten Schattenblätter auf den Boden. Verstohlen regten sich Geschöpfe im Unterholz. Das leise Rascheln war das einzige Geräusch im ganzen Wald. Sie ließen ihre Hände los. Lancelot, Guinevere und Brigid standen und sahen staunend den uralten Wald an. Ihre Füße bewegten sich über einen federnden Teppich aus Moos. 149
Es schien beinahe ein Sakrileg zu sein, in dieser ehrfürchtigen Stille die Stimme zu erheben. Selbst sein Flüstern kam Lancelot vor wie ein lauter Ruf. »Wo sind wir?« »In der Burg. In der Burg, in der ich geboren wurde und die du im Traum gesehen hast«, erklärte Guinevere. Lancelot deutete auf die Bäume ringsum. »Welche Burg? Ich sehe keine Burg.« »Dies hier ist die Burg«, erwiderte Brigid. »Jahrhunderte sind vergangen, seit du hier geboren wurdest. Die Burg ist gewachsen.« »Jahrhunderte?«, fragte Guinevere. »Was ist mit meinen Eltern?« Brigid neigte den Kopf. »Sie sind fort.« »Deshalb ist die Burg überwuchert«, klagte Guinevere. »Niemand herrscht mehr über sie.« Brigid schüttelte sachte den Kopf. »Nein, meine Liebe. Du herrschst hier.« »Was?« »Du bist die Macht des Landes. Vom Thron in Camelot aus beherrschst du die Welt und die Anderwelt. Jedes Geschöpf unter Britanniens Land hört deine Gebete. Sie beobachten dich durch kleine Tautropfen und tiefe Teiche. Sie dienen dir und Artus wie die Sterblichen droben.« Guineveres Augen waren wie Spiegel, in denen die weite, würdevolle Schönheit des Waldschlosses schimmerte.
»Es ist die Macht von Camelot«, erklärte Brigid. »Sie vereint die Welten. Es ist die Macht deiner Vereinigung mit Artus - immer umschlungen, aber nie einander berührend.« Sie sprach leise, doch die Worte fielen wie Steine. All dies, auch dieser heitere Ort, wäre gefährdet, sobald Guineveres Verbindung mit Artus aufgehoben würde. Brigid betrachtete die bedrückten Gesichter der Königin und ihres Streiters. »Nur zu, meine Königin. Rufe sie herbei.« »Wen soll ich rufen?« »Rufe unsere Untertanen. Sie sind ganz in der Nähe. Sie warten schon darauf, von dir eingeladen zu werden.« Guinevere zuckte unsicher mit den Achseln. »Dann kommt heraus, ihr alle.« 150
Es war, als wehte eine gewaltige Windbö durch den Wald. Alle Ranken und Äste und Knospen erwachten zum Leben. Aus dem Blätterdach schienen in Spiralen Blätter herabzurieseln, doch es waren keine Blätter, sondern Feenwesen. Golden und grau, grün und gelb jagten die Baumgeister einander durch die Luft. Sie stiegen zur Königin herab und wirbelten um sie herum und legten sich um ihre Schultern. Elfen fuhren durch ihr Haar, als wollten sie ihr eine lebendige Krone aufsetzen. Sie bedeckten ihre Lippen, küssten sie und standen wie Wachtposten auf ihren Gewändern. Guinevere wurde verwandelt und sah sich in einen Mantel aus Feenwesen gekleidet. Von unten kamen weitere Wesen herauf. Kobolde tauchten aus Pilzringen auf, Heinzelmännchen kletterten an Ranken hinauf, um besser sehen zu können. Dryaden huschten aus Spalten im Holz. Tuatha drückten sich zwischen den mächtigen Bäumen herum. Nach wenigen Augenblicken war der zuvor so einsame Wald voller Leben. Auf jedem Blatt saß eine Feenfamilie und verrenkte sich den Hals. In jedem Erdloch funkelten Augen. Selbst zwischen den Eichen, die in der Ferne Wache standen, verbargen sich Trupps von Riesen. Alle sahen ihre geliebte Königin an. »Mein Volk«, flüsterte Guinevere ehrfürchtig, und ihre Worte wurden von unzähligen Mündern bis zum Ende des Waldes weiter getragen. Wann immer du willst, Guinevere, kannst du herkommen, sagten sie in ihrem Kopf. Wo immer du reines Wasser findest, werden wir warten und Ausschau halten. Durch tiefe Brunnen können wir dich hierher zu deinem Schloss bringen. Sie antwortete mit ihren eigenen Gedanken und wusste irgendwie, dass sie gehört wurde. Danke, meine Freunde. Und wo immer es reines Wasser gibt, kannst du uns rufen. Wir werden auftauchen und für dich kämpfen. Wir werden immer für dich kämpfen. Danke. Auch Lancelot war ergriffen. Er wäre unterwürfig auf die Knie gefallen, hätte er nicht furchten müssen, die Wesen zu zerquetschen, die da unten lebten. So flüsterte er nur atemlos: »Meine Königin. Ich wusste nicht, welch große Macht du hast.« 150
»Ich wusste es selbst nicht«, sagte sie. Dann drehte sie sich zu Brigid um. »Hat auch Lancelot ein solches Königreich?« Das Gesicht der alten Frau verdüsterte sich. »Nein, er hat kein solches Königreich. Nicht mehr.« »Was meinst du damit?«, wollte er wissen.
»Dein Reich ist jetzt tot.« »Was?« »Führe uns hin«, verlangte Guinevere und streckte die Hände aus. Elfen huschten von ihren Fingern, als Lancelot und Brigid ihre Hände ergriffen. Im nächsten Augenblick verschwand das Feenvolk mitsamt dem Schloss. Nur Brigid, Guinevere und Lancelot waren noch da. Sie tauchten auf einer grauen, staubigen Ebene wieder auf. Menhire ragten wie Zahnstümpfe aus dem öden Land. Der Wind stöhnte zwischen den Steinen und ließ Staubteufel entstehen, die einander jagten. Wie betäubt setzte Lancelot sich in Bewegung. Er durchschritt den ersten, größten Ring der Megalithen; dahinter gab es einen zweiten und noch einen dritten. Seine Stiefel wirbelten Staubwolken auf. Noch zehn Schritte, und er konnte das Schloss sehen. Er sank auf die Knie und schüttelte benommen den Kopf. Feuer hatte das Dach zerfressen. Die Schultern von Riesen hatten die Wände zerstört. Im Innern waren nichts als Schutt und Asche verblieben. Nein, nicht nur - selbst aus dieser Entfernung konnte er noch die langen weißen Knochen erkennen, die überall herumlagen. Brigid und Guinevere traten zu ihm und stellten sich auf beiden Seiten hinter ihn. »Haben die Heere der Rose dies getan?«, fragte Lancelot mit aschgrauen Lippen. »Nein«, erwiderte Brigid sanft. »Der lange Krieg zwischen euren Völkern hat allerdings deine Seite geschwächt. Deine Vermählung mit Guinevere hat die Feindseligkeiten nur für kurze Zeit eindämmen können. Sobald sie als Wechselbalg fortgegeben worden war, flammten die Kämpfe wieder auf. Du warst noch ein Kind, aber du hast ohne sie gelitten und nicht weiter wachsen wollen. Nach Jahrzehnten voller Verzweiflung hat dein Vater dich ebenfalls als Wechselbalg weg 151
gegeben, damit du Guinevere suchen konntest. Dann hat er seine mächtigsten Streitkräfte zur Landenge geschickt, um das Vordringen der Rose aufzuhalten. Diese Streitkräfte waren deshalb in jener Nacht, als dein Land von Süden her besetzt wurde, nicht zur Stelle.« »Von Süden her?« »Ein anderer alter Feind. Die Truppen haben gewartet, bis ihr ohne Verteidigung wart, und dann sind sie marschiert und haben das Schloss eingenommen.« »Die Nacht, in der Benwick fiel.« Brigid nickte. »Genau diese Nacht war es. Dein Tuatha-Vater und dein menschlicher Vater sind in ein und derselben Nacht gestorben.« »Und alles nur, weil ein Ehegelöbnis gebrochen wurde«, beendete Lancelot den Gedankengang. Er schloss die Augen, er wollte das schreckliche Schloss nicht mehr sehen. »Wenn du jemals Benwick zurückgewinnen willst, dann musst du auch dieses Königreich zurückgewinnen«, erklärte Brigid leise. Er hob den Kopf und sah sie an, Asche verklebte seine Tränen. »Es gibt nur einen Weg, dieses Königreich zurückzugewinnen. Es ist ein wundervoller und zugleich schrecklicher Weg.« »Ich weiß. Kannst du die Zeremonie durchführen?« »Ich kann es ... wenn du es wirklich willst.« Lancelot blieb auf den Knien hocken und drehte sich um. Er nahm Guineveres Hand und beschmutzte sie. »Königin Guinevere von der Welt und der Anderwelt, Macht des Landes, willst du mich heiraten?« Tränen standen in ihren Augen. »Und ich soll Artus betrügen? Und Camelot auch?«
»Wozu braucht Artus die Macht des Landes? Wozu braucht Camelot diese Macht?« Er deutete auf die zerstörte Landschaft ringsum. »Ich will«, sagte sie mit bebenden Lippen. 152
24. Ein Mittsommernachtstraum Das Schloss der Rose erstrahlte im Sommerkleid. Die Kunde von der Heirat hatte sich rasch im Wald verbreitet und den Wechsel der Jahreszeiten in Gang gesetzt. Alle Pflanzen legten die feinsten Blütenblätter an. Jedes Tier trug das schönste Sommerfell. Die Feenwesen eilten in Brokat und Spitze herbei. Alle kamen sie. Elfen glitzerten in der Luft. Klimpernde Kobolde schauten aus Damenpantoffeln hervor, Wichtel formten Bänke aus Pilzköpfen. Tuatha standen in langen Reihen zwischen den Bäumen und hatten sich Laternen an die Ärmel gehängt. Hinter den Bäumen schlichen dunklere Wesen umher — böse Wölfe und Oger, Trolle und Riesen. Die exotischsten Gäste aber waren wahrscheinlich die Hebrider. Prinz Mador war der Ehrengast, und das ganze Volk von North Uist war ebenfalls eingeladen. Mit Kilts und Pelzen bekleidet, sahen sie aus, als hätten sie schon immer hierher gehört. Sie konnten weder einen klaren Satz herausbringen noch zielgenau mit dem Bogen schießen, doch auf ihre überschwängliche Art waren sie die treuesten Gefolgsleute, die Lancelot je gehabt hatte. Sie konnten ihre Mitte nur finden, indem sie sich ständig umeinander drehten. Er liebte sie, und sie liebten ihn und tauchten in wirbelnden Horden bei der Hochzeit der Jahrhunderte auf. Die Vertreter der Welt und der Anderwelt, alle waren sie gekommen, um der verheißenen Vermählung zwischen dem Raben und der Rose beizuwohnen. Durch die Allee der alten Bäume sollten Braut und Bräutigam schreiten. Schon jetzt ließen Kobolde Rosenblüten und Rabenfedern auf den mit Moos bewachsenen Weg regnen. Nixen schickten Regentropfen, die im Gras eine perlende Musik spielten. Luftgeister tanzten am Himmel komplizierte Figuren. 152
Aus den tiefen Wäldern kamen sie herbei — Königin Guinevere und Prinz Lancelot. Hand in Hand schritten sie barfüßig über das Moos. Sie hatten die Kleider der Sterblichen abgelegt und die Festgewänder des Waldlandes angelegt. Kein Mensch konnte ein Tuch weben, das so fein war wie Spinnweben. Kein Gerber konnte eine Haut machen, die so geschmeidig war wie die einer Schlange. Lancelot trug einen schwarzen Mantel aus verwobenen Federn, darunter ein Netzhemd aus Spinnfäden und Schottenhosen aus Blättern. Guinevere trug ein Gewand aus feinster Gaze; das Leibchen war aus ihren eigenen langen braunen Haaren gewebt. Auf den Köpfen hatten sie Kronen aus Kristall. Das reine Glas sammelte das Feenlicht und warf den Glanz zum Volk zurück. Lächelnde Gesichter waren überall zu sehen - denn es war eine Hochzeit -, doch man hörte kein Gelächter. Eine ernste Freude erfüllte jedes Geschöpf. Jahrhunderte hatte sich das Feenvolk nach diesem Tag gesehnt. Generationen waren geboren worden, hatten gelebt und waren gestorben, ohne die Vereinigung von Rabe und Rose erleben zu dürfen. Es war ein lang ersehnter Höhepunkt. Jeder Schritt, den Braut und Bräutigam auf diesem Gang taten, ließ die alte Welt weiter hinter ihnen zurückfallen - die Welt von Camelot und Artus, die Verbindung zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Und mit jedem Schritt rückte eine neue Welt näher. Niemand konnte diese Welt sehen, denn sie lag noch hinter einer
undurchdringlichen Barriere. Die Zukunft sollte im Dunkeln bleiben, bis sie unwiderruflich erreicht war. Zwischen Scharen tanzender Luftgeister schritten sie hin zu den altehrwürdigen Eichen. Die Bäume bildeten einen heiligen Kreis am Ende der heiligen Stätte. Mitten im Ring stand Brigid barfüßig im weichen Gras. Sie strahlte etwas Göttliches aus — groß und gertenschlank, in heilige Macht gekleidet und mit Augen wie Kerzen stand sie dort. Braut und Bräutigam knieten nebeneinander vor ihr nieder und senkten die Köpfe. Die Anderwelt hielt den Atem an und lauschte. »Ihr seid gekommen, um zu heiraten.« Mit gesenkten Köpfen antworteten Guinevere und Lancelot. »Ja.« 153
»Einer von euch ist bereits in einem Ehebund verpflichtet.« Es war kein Urteil, sondern lediglich eine Feststellung. Braut und Bräutigam schauten auf. »Ja«, sagte Guinevere. Brigid nickte. »Mehrfache Ehen sind im Feenland nicht verboten, doch ihr müsst wissen, dass dies gefährliche Vereinigungen sind.« Ihre ernsten Gesichter zeigten, dass sie die Warnung verstanden hatten. »Das Beste ist, wenn alle Beteiligten zustimmen«, mit blitzenden Augen unterband sie jeglichen Einwand, »doch solange der Herrscher und die neue Braut es wünschen, reicht es aus. Königin Guinevere, Macht des Landes, wünschst du es?« »Ich wünsche es«, erwiderte sie ohne Zögern. »Und du, Lancelot du Lac, Prinz von Benwick und Ritter der Tafelrunde, wünschst du es?« »Ich wünsche es.« Brigid starrte die beiden eine Weile wortlos an. »So sei es. Königin Guinevere, du bist nun mit Lancelot du Lac vermählt. Lancelot du Lac, du bist nun mit Königin Guinevere vermählt. Königin Guinevere, du wirst zugleich mit Artus vermählt bleiben, bis einer von euch die Vereinigung bricht — und das wird Artus tun, sobald er dies hier erfährt, und früher oder später wird er es gewiss erfahren. Bis dahin habt ihr Zeit, in der Anderwelt die Wunder zu wirken, die ihr wirken wollt, und die Mächte der Anderwelt anzurufen, um Artus und Camelot zu retten.« Guinevere starrte in die strahlenden Augen. »Sind sie denn wirklich zum Untergang verurteilt?« »Du wusstest, dass es so kommen musste. Du selbst hast sie verurteilt, und wenn sie gerettet werden sollen, dann musst du sie retten.« Es war eine schreckliche Vorhersage, und all die unzähligen Wesen, die sich ringsum versammelt hatten, konnten sie hören. »Guinevere und Lancelot, ihr seid jetzt eins. Ihr seid Mann und Frau. Nun könnt ihr die Vereinigung vollziehen.« Damit zog Brigid sich zurück. Sie ging nicht weg, sie schwebte nicht über das Moos davon. Sie verschwand einfach wie eine Flamme, die gerade noch vom Docht genährt worden war. Sie war fort. 153
Verschwunden waren auch die unzähligen Geschöpfe, die alles mit angesehen hatten. Einige waren aus eigenem Willen verschwunden, andere waren durch Brigids Willen vertrieben worden. Jeder Vollzug einer Vereinigung war das persönliche Ritual der Beteiligten. Vor einigen Augenblicken waren noch Millionen Wesen versammelt gewesen und hatten zugeschaut. Jetzt waren es nur noch zwei, und diese beiden sollten eins werden.
Sie erhoben sich von den Knien und wandten sich einander zu. Ihre Hände trafen sich, dann die Augen. Zitternd umarmten sie sich wie Kinder, die sich im Wald verirrt haben. Eine gewaltige Veränderung erfasste sie und die Welt und die Anderwelt. Sie hatten etwas sehr Großes ausgelöst und brachten etwas noch viel Größeres zu Ende. Sie klammerten sich aneinander, als existierte nichts außer ihnen. So beginnt jede wahre Vereinigung. Als Ehrfurcht und Furcht verschwunden waren, kamen andere Regungen zum Vorschein — Liebe und Begehren. Guinevere schob ihm die Hand unter den Rabenmantel und streifte ihn ab. Sein Hemd aus Spinnweben hing auf den wohlgeformten männlichen Schultern. Sie fuhr mit den Fingern über den Fächer der Muskeln im Nacken, dann zu den festen Erhebungen der Schulterblätter und nach innen zum Strang der Wirbelsäule. Schlank und stark, vollkommen proportioniert. Er besaß den Körper eines Gottes. Lancelot streichelte durch das Gazekleid ihren Rücken. Er neigte den Kopf und küsste den langen, schlanken Hals. Jede Berührung seiner Lippen und ihrer Haut war ein warmes Kitzeln. Er knabberte an ihrem Ohrläppchen, küsste ihre Wange, ihre Schläfe. Er schob die Hand hinter ihren Kopf und lenkte ihre Lippen auf die seinen, um sie innig zu küssen. Wie lange hatten sie gewartet und sich nicht einmal einen Kuss gegönnt! Dieser Kuss aber verhieß die tiefere und stärkere Vereinigung. Sie griff an ihre Brust, die vom Leibchen aus eigenem Haar bedeckt war. Mit raschen Bewegungen löste sie die Zöpfe, und das Haar fiel lose über das Gazegewand. Unter den zarten Locken und unter dem durchsichtigen Stoff warteten jungfräuliche Brüste. Noch nie hatte ein Mann sie gekostet, noch nie hatten sie ein Kind genährt. Lancelot 154
streichelte sachte die eine und dann die andere Brust. Er kniete vor ihr nieder und küsste sie. Leidenschaftlich fuhr sie mit den Händen sein Hemd hinab und zog es hoch und streifte es über die Schultern. Er war schöner, als sie es sich je ausgemalt hätte - geschmeidig und muskulös und doch elegant. Sie legte die Hand unter sein Kinn und hob seinen Kopf. Lancelot stand bereitwillig auf, um wieder ihren Mund zu kosten. Als sie sich küssten, löste er die Bänder ihres Gewandes. Langsam, fast neckend glitt es herab: Nackt stand sie vor ihm. Sie war wunderschön - die Halsbeuge, die Form ihres Nabels, der Schwung ihrer Hüften. Er erbebte in ihrer Gegenwart, als wäre sie eine Göttin. Guinevere löste unterdessen die Bänder seiner Schottenhosen und schob sie hinunter. Sie fielen auf den Boden. »Wir wollen uns vereinigen, mein Gatte.« Sie legte sich auf den Boden. Er folgte ihr, Fleisch drängte sich an Fleisch. Er küsste sie und drang sanft in sie ein. Ein einziges Mal erschauderte sie und trieb ihm die Fingernägel in den Nacken. Tränen standen in ihren Augen. »Was habe ich getan?«, flüsterte Lancelot erschrocken. Guinevere lächelte trotz der Tränen. »Ich war eine Jungfrau, mein Gemahl. Das ist alles. Ich war eine Jungfrau.« König Artus erwachte in kalten Schweiß gebadet, wie schon unzählige Male, seit Guinevere verschwunden war. Er presste die Decke an sich, setzte sich auf und sah sich im dunklen Schlafgemach um. Es war nicht so, dass er sie an seiner Seite vermisste, denn sie hatte nie an seiner Seite geschlafen. Er vermisste sie in jeder anderen Hinsicht. Ca-melot war ohne sie nicht mehr das, was es einst gewesen. »Wer ist da?«, grollte Artus. Er spürte etwas. Etwas, das ihn beobachtete.
In den nächtlichen Schatten, wo Excalibur angelehnt war, waberten Linien und verflochten sich. Flächen kamen hinzu, ein Gesicht entstand. Alt, freundlich, weise und unermesslich traurig. »Merlin«, flüsterte Artus ehrfürchtig. »Großvater ...« Eine Stimme erklang in der Stille. Sechs Jahre ist es her. »Ich weiß, Großvater. Aber sie ist nicht tot. Ich habe immer noch 155
die Macht des Landes. Sie muss in Avalon sein. Die Zeit verläuft dort anders. Sie wird zu mir, zu uns zurückkehren ...« Der alte Magier starrte traurig ins Leere. Du kannst dich nicht allein auf die Macht des Landes verlassen. »Guinevere ist die Hälfte dieses Throns. Ohne sie fällt Camelot.« Du musst eine neue Macht finden. Suche den Heiligen Gral, Artus. Suche den Gral und die Lanze. »Welchen Gral? Welche Lanze?« Der Heilige Gral ist der Kelch Christi, der beim letzten Abendmahl gefüllt wurde. Er enthielt symbolisch sein Blut und wurde am Nachmittag der Kreuzigung verwendet, um sein echtes Blut aufzufangen. Er wird dieses verletzte Land und den verletzten König heilen. »Wo ist er, Merlin?« Er ist hier in Britannien. Joseph von Arimathea brachte ihn her, doch ich weiß nicht wohin. »Und die Lanze?« Die Lanze des Longinus ist der Speer des Zenturios, der Christus am Kreuz verwundete und sein Blut zum Fließen brachte. Der Gral wird das Land heilen, und die Lanze macht dich unbesiegbar in der Schlacht. Schicke deine Ritter aus, um beide zu suchen, und bete, dass sie sie finden mögen. Nur mit diesen Reliquien und Excalibur vermagst du Camelot zu retten. Artus blinzelte in der Dunkelheit. »Ein christliches Schwert. Ein christlicher Gral. Eine christliche Lanze. Dein alter Feind, das Tetragrammaton, hat schließlich doch noch Camelot erobert.« Besser es wird erobert als gänzlich zerstört... Damit brach das Flüstern ab, und das traurige alte Gesicht versank in den Schatten. Auf großen Seepferden ritten Königin Guinevere und König Lancelot zum nördlichsten Ausläufer ihres Reichs, zur Insel North Uist. Prinz Mador saß hinter ihnen auf einem anderen Meerestier. In den rollenden weißen Wogen schwammen Seikies und Kelpies und trugen durchnässte Pikten. Von Kilts und Zöpfen strömte das Salzwasser. Münder mit roten Barten saugten an Atemmuscheln, die unter Wasser Luft spendeten. Gelächter und Lieder waren zu hören. Hunderte 155
Hebrider hatten der Vermählung in der Anderwelt beigewohnt. Jetzt kehrten sie in ihre eigene Welt und zu den tausenden zurück, die daheim geblieben waren. Pikten riefen ihren Angehörigen über die Klippe hinweg etwas zu. In den Höhlen droben flammten Lichter auf, und dunkle Silhouetten hoben sich vor dem Licht ab. Brüllend hießen sie die Heimkehrer willkommen. Selbst die Möwen kreischten Grüße. Dryaden sangen mit dünnen Stimmchen Melodien. Blauwale steuerten ergreifende Harmonien bei. Kobolde schimmerten wie winzige Lichterketten, und Wassergeister formten die Wellen zu bizarren Kompositionen. Ein großes Fest hatte begonnen.
Nichts verstanden die Hebrider so gut wie das Feiern. Wenn Lancelot sie nur überzeugen konnte, dass auch das Kämpfen eine Feier war, dann würden sie die grimmigsten Krieger in ganz Britannien werden. Die Gesellschaft rauschte auf den Wellen voran, vorbei an den für Schiffe so gefährlichen Landzungen und durch den Kanal, der Schiffen den Kiel aufreißen konnte, bis sie die tiefere ruhige Bucht erreichten. Die Fröhliche Garde über ihnen strahlte in weißer Pracht. Auf Lancelots Befehl war der von Flechten überwucherte Stein gebleicht worden. Die einst schwarzen Mauern strahlten nun weiß. Sie waren mit Girlanden geschmückt worden, und auf den Wehrgängen darüber waren die lächelnden Gesichter von Menschen zu sehen, die noch prächtiger anzuschauen waren als die Girlanden. Lancelot atmete glücklich ein. Dies war der einzige Ort in der wirklichen Welt, wo er und Guinevere Mann und Frau, König und Königin sein konnten. Die Hebrider waren nicht nur seine Untertanen, sie waren seine Vertrauten und seine Freunde. Trompeten erklangen auf den Wällen. Stimmen antworteten von unten. Das Meeresvolk warf sich auf den felsigen Strand der Bucht, und die Hebrider stiegen die zackigen Klippen von oben herunter. Gemeinsam sangen sie Lieder, und alle fingen an zu tanzen. König Lancelot und Königin Guinevere schritten zum südlichsten Ausläufer ihres Reichs ein großer Haufen von grauen Knochen war es. Sie waren gekommen, um Krieg zu führen. 156
Auf dieser Ebene der Feenwelt hatten vor Jahrhunderten die Heere von Rose und Rabe gegeneinander gekämpft. Große und kleine Leichen waren aufgetürmt worden. Riesen, Oger und Trolle hatten ihre Knochen als Grundgestein für den Hügel hergegeben. Das Fleisch zehntausender Tuatha hatte sich in Schlamm verwandelt, damit die Steine an Ort und Stelle zementiert wurden. Kobolde und all die anderen vom Kleinen Volk waren zu Staub zerfallen. Der König und die Königin des Feenlandes stiegen auf einen Hügel, der aus den toten Angehörigen ihres eigenen Volkes aufgeschichtet worden war. Hinter ihnen brodelte das Land. Sie führten ein grünes Heer an, das nicht nur aus Feenvolk bestand. Sogar Pflanzen waren dabei -marschierende Pilze, deren Aufgabe es war, die Toten zu zersetzen, gefräßiges Gras, das die nackte Erde bedecken sollte, und sogar wandelnde Eichen, um den Wald neu aufzubauen. Sie brachten Tiere mit — springende Hirsche, vorsichtige Kaninchen, umherschießende Vögel, wilde Pferde, trabende Wölfe. Es war ein Invasionsheer, das jedoch aus einer ganz anderen Sorte von Kriegern bestand. Im Land jenseits des Höhenzuges gab es keine feindlichen Heere zu besiegen. Dort gab es nur den nackten Tod. Lancelot starrte seine Heimat im Elfenland an. Einst hatte sie Dalachlyth geheißen, was ganz einfach »Überfluss« bedeutete. Jetzt war es eine Einöde, zerstört vom Krieg und vom Mangel und von blinder Wut. Sie war in der gleichen Nacht zerstört worden, in der auch Benwick vernichtet worden war. Claudas' Truppen hatte die Oberwelt niedergemacht und die Ungeheuer die Welt darunter. Bis zum Horizont war alles grau in grau. Nichts wuchs, und nichts regte sich. Ein Stück hinter dem Horizont lagen die Ruinen seines einstigen Schlosses. Sie wollten marschieren, bis sie es erreicht hatten. Ihr Gefolge sollte sich auf dem zerschmetterten Fels und dem sterilen Staub ausbreiten und das Land wieder zum Leben erwecken. »Lasst uns beginnen«, sagte König Lancelot leise. Er tat den ersten Schritt und stieg auf der anderen Seite den Hügel hinab.
Königin Guinevere hielt sich an seiner Seite. Sie stimmte ein Lied an. Es war ein wortloses Lied wie das Summen der Bienen oder das Schwatzen der Flüsse. Es ging von ihr aus und strömte über den Staub 157
und die Knochen. Die Töne hallten von dort wider, Schädel summten wie Kristalle. Staub vibrierte und richtete sich neu aus. Samen, die jahrhundertelang vom Wind getragen worden waren, begannen zu keimen, denn für sie war Guineveres Lied Sonne und Regen zugleich. Zarte Sprossen kamen zwischen den Knochenhaufen zum Vorschein und trieben Blüten, als ihr nackter Fuß sie berührte. Sie waren Adam und Eva, aus dem Garten Eden in eine Welt voller Dornen und Disteln vertrieben, doch sie brachten den Garten mit. Vom Lied gerufen, breitete sich das Gras unter den Monarchen aus und nahm die Ebene vor ihnen ein. Wo das Gras wuchs, folgten die Hirsche. Fröhlich sprangen sie über die neuen Wiesen. Die Eichen konnten es nicht erwarten, sich dem Vorstoß anzuschließen. Mit peitschenden Wurzeln rannten sie und pflanzten sich hin, wo Wasser und Licht am besten waren. Lancelot und Guinevere liefen weiter. Ihr Lied eilte ihnen voraus, und ihr Volk folgte eilig dem Lied. Einst war dies ein öder, unwirtlicher Flecken gewesen. Bald schon sollte es ein Paradies sein. Hand in Hand erschufen der König und die Königin des Feenvolks eine neue Welt. Schließlich ruhten sie. Sie mussten nicht weiter marschieren. Schritt für Schritt hatten Königin Guinevere und König Lancelot Dalachlyth wieder zum Leben erweckt. Sie hatten in der Zeit des Feenreichs Monate gebraucht und wer weiß wie lange in der Welt der Menschen, doch jetzt war das Land grün und glücklich. Die Herrscher saßen und ruhten, während ihr neues Schloss aus den alten Ruinen wuchs. Bäume wuchsen zwischen umgestürzten Steinsäulen. Gerade, hohe Bäume mit dicken Stämmen entfalteten ihre Kronen und bildeten eine gesprenkelte Kuppel. Im Schutt der Außenmauern wuchsen Distelbüsche, undurchdringlich für Fleisch und grün genug, um jedes Feuer einzudämmen. Ranken streckten sich, um die inneren Wälle nachzuzeichnen, und an diese wiederum klammerten sich Vorhänge aus Flechten. Feen schmeichelten Blätter aus jedem Trieb, und Wich-tel gruben Brunnen. Holz krachte, Flügel surrten, Füße trippelten. Diese Geschäftigkeit sollte bald ein Schloss hervorbringen, das so 157
groß war wie das Rosenschloss - oder sogar sein genaues Ebenbild. Die beiden Paläste waren im Grunde nur zwei Hälften eines größeren Ganzen. Sie waren das Camelot der Anderwelt. Inmitten des munteren Getümmels tauchte Brigid auf. Sie hatte ihre göttliche Gestalt angenommen, doch an diesem Tag strahlten ihre Augen nicht, sie wirkte sogar sehr besorgt. »Es ist Zeit. Du musst nach Camelot zurückkehren.« »Hallo, große Brigid«, antwortete Lancelot. Er erhob sich und kniete vor ihr nieder. Er nahm ihre Hand und küsste sie. Auch Guinevere kniete nieder. »Siehst du, dass der Palast fast vollendet ist?« »Du musst nach Camelot zurückkehren. Zwölf Jahre sind vergangen, seit du das Schloss verlassen hast.« »Zwölf Jahre«, wiederholte Lancelot erstaunt.
»Artus hat seine Ritter mit einem närrischen Auftrag ausgeschickt. Merlin hat den Anstoß gegeben. Merlin kennt euch beide. Er hat Artus gewarnt, sich nicht mehr auf deine Macht allein zu verlassen, Guinevere.« Die Königin wurde totenbleich. »Artus weiß es?« »Nein. Er sehnt sich sehr nach dir. Er weiß nur, dass du in Avalon bist und dass die Zeit hier auf eine eigenartige Weise verläuft. Kehrt als seine Frau und als der edle Streiter seiner Frau zurück. Geht zu ihm zurück. Er braucht die Sicherheit, die deine Macht ihm gibt, Guinevere. Er hat seine Ritter ausgesandt, um den Gral und die Lanze Christi zu suchen, und falls sie die Reliquien finden, wird Camelot uns nicht länger willkommen heißen.« Lancelot stand auf. »Ja. Wir müssen gehen. Ich will selbst den Gral und die Lanze suchen und dafür sorgen, dass sie von niemand anderem geborgen werden.« »Wie können wir unser Land verlassen?«, fragte Guinevere. Brigid lächelte traurig. »Du wirst es nicht verlassen. Jeder Tautropfen ist ein Fenster zwischen den Welten. Wenn du uns brauchst, suche einen tiefen Brunnen und kehre zurück. Wenn wir dich brauchen, ziehen wir dich zu uns.« Sie hob die Hände und hielt auf einmal Kleider und eine Rüstung hoch. »Ich habe eure Sachen mitgebracht. 158
Zieht sie an und geht. Sagt Artus nichts von dem, was ihr hier erlebt habt. Sagt, ihr wärt Gefangene der Zeit gewesen. Er wird euch glauben, weil er euch glauben will.« »Ja.« Sie warteten nicht, bis sie allein waren. Hier inmitten ihres Volkes war dies nicht notwendig. Sie legten die Insignien des Feenlandes ab und streiften die groben Kleider der Welt der Sterblichen über. Noch während sie vor ihrem eigenen Schloss standen, konnten sie an nichts anderes denken als an den Fall von Camelot. Sie fassten sich bei den Händen und schritten zu einem der neu gegrabenen Brunnen. Heinzelmännchen kletterten an den Steinwänden hoch, um sich in Sicherheit zu bringen. Der König und die Königin des Feenvolks sprangen. Sie stürzten in die kalten Adern der Erde und versanken im Nichts, um im nächsten Augenblick an den sumpfigen Gestaden von Glastonbury wieder aufzutauchen. »Wie wollen wir Camelot erreichen?«, fragte Guinevere. »Sollen wir laufen?« Im Wald in der Nähe regte sich auf einmal etwas. Etwas Großes und Weißes rannte zwischen den aschgrauen Bäumen umher. Der Boden bebte, und zwischen aufstiebenden Blättern kam Rasa angaloppiert. Er rannte quer übers Land und hielt geradewegs auf Lancelot und Guinevere zu. »Hat er wirklich zwölf Jahre auf uns gewartet?«, fragte Guinevere ungläubig. Lancelot zuckte mit den Achseln, als das Tier schnaubend vor ihnen anhielt. Sattel und Zügel waren verschwunden. »Bei Rasa kann man es nie wissen. Schließlich ist er ein Pferd aus Avalon. Wer weiß schon, wo er war?« Lancelot tätschelte die strahlende Flanke des Tiers, das keinen Tag gealtert schien. »Hallo, mein Junge. Schön, dich wieder zu sehen.« Rasa nickte. »Dann wollen wir nach Camelot zurückkehren.« 158
25. Der Gral und die Lanze Lancelot ritt auf Rasa an den nördlichen Seen entlang. Die Abendsonne deckte grüne Samttücher über die Hügel. Drunten lagen Gewässer, die wie Edelsteine funkelten. Rasa lief gemächlich an einem Bach entlang und dann auf federndem Grund bergauf. Er sprang
über einen Wiesenzaun, stapfte durch kurz geschnittenes Gras und setzte auf der anderen Seite über die andere Begrenzung hinweg. Es tat gut, auf diese Weise zu reiten, als menschlicher Ritter und nicht als König des Feenlandes. Die Beschränkung der menschlichen Augen und des menschlichen Geistes waren ein Segen. Man konnte den Augenblick schwerlich genießen, wenn man ständig in die Ewigkeit blickte. Lancelot genoss den Augenblick. Spätes Sonnenlicht gaukelte auf ihm und Rasa, als sie eine abendlich glühende Lichtung überquerten. Die süße, kühle Waldluft duftete nach blühenden Veilchen. Auf einem Hügelkamm kamen Pferd und Reiter aus dem Wald heraus. Niedrige Berge erstreckten sich vor ihnen bis zur Irischen See. Alles war, wie es sein sollte. Artus war in seiner Burg — um zwölf Jahre gealtert. Alle außer Guinevere und Lancelot waren gealtert. Sie saß neben ihrem Artus, und die Welt und die Anderwelt waren wieder eins - ewig umschlungen, aber nie einander berührend. Der König und die Königin gehörten ebenso zusammen wie Guinevere und Lancelot. Die keusche Verbindung linderte den Schmerz nach ihrer Abwesenheit - und die Schuldgefühle nach dem Betrug. Es tat gut, wieder auszureiten, da Lancelot nun mehr wusste als früher und erkannt hatte, welch hoher Preis zu zahlen war. Schon hatten die Ritter den Gral an hunderten Orten im ganzen Land ausgemacht. Immer war er voller Pracht erschienen und hatte jeden, der sich ihm näherte, geheilt. Doch niemand hatte die Hand 159
auf ihn legen können, und er war stets so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Einige Ritter hatte dies bereits in den Wahnsinn getrieben, und sie hatten ein unschönes Ende gefunden. Einige hatten die Rüstung und die Waffen abgelegt und die Mönchskutte angezogen - auch das ein elendes Ende. Fast die Hälfte der Ritter war auf der Suche nach dem Gral gefallen. Sie hatten ihn aus den falschen Gründen gesucht — weil sie auf persönlichen Ruhm aus waren. Lancelot suchte den Gral, weil er Camelot retten wollte. Rasa schritt auf dem Hügelkamm entlang. Drunten im blauen Tal lag ein Dorf, um das sich ein Meer aus Gras schmiegte. Der Geruch von Rauch und Essen drang aus den Schornsteinen. Lancelot wäre gern ins Dorf geritten, um die Nacht dort zu verbringen. Doch er konnte es nicht. Zu dringlich war seine Mission. Vor einer Stunde war Lancelot einem alten Schäfer begegnet, dessen gebrochenes Bein vom Gral geheilt worden war. Die Reliquie sei auf dem Gebiet des Schäfers im Hochland erschienen. Der Mann war außer sich vor Freude und erzählte allen, die er traf, sie sollten hingehen und wie er selbst geheilt werden. Er hatte Lancelot die Stelle beschrieben, es war der höchste Hügel westlich des Sees. Rasa hatte den Hügelkamm neben dem Tal überwunden und den Fuß des nächsten Hügels erreicht. Eifrig stieg er hinauf. Schatten fielen rings um sie. Die Sonne versank hinter den Bergen, Tau ließ sich im Gras nieder. Rasas Hufe traten auf feuchte Erde, als er den Hügel hinauflief. Schafe wichen blökend aus. Dort auf dem Hügel stand ein Mal aus Stein, das vom Abendlicht in Gold gebadet war. Rasa lief jetzt langsamer. Lancelot stellte sich in den Steigbügeln auf und starrte die Erscheinung an.
Nein, es war nicht das Glühen des Sonnenlichts. Irgendetwas strahlte im Inneren der Schutzhütte aus Stein. Kein Rauchfaden kräuselte sich in der Luft. Ob es wirklich der Heilige Gral war? Bekam er nach Monaten im Sattel endlich den Gral zu sehen? Lancelot hielt Rasa an und stieg ab. Federnd landete er im Gras. Er gab das Pferd frei, und Rasa nahm Lanze und Gepäck mit sich und trollte sich. Lancelot hatte immer noch sein Schwert, das von Gott 160
gesegnete Schwert. Er behielt es jedoch in der Scheide, als er sich vorsichtig dem Steinhügel näherte. Wie alle anderen der gleichen Art war auch dieser Steinhaufen als Schutzhütte für die Schäfer errichtet worden. Der aus Feldsteinen gebaute Unterstand ähnelte einer Gruft und bot Platz für zwei Männer. Doch im Augenblick bargen die Steinpritschen auf beiden Seiten der Hütte etwas anderes als Schäfer. Sechs große Kerzen brannten dort und erfüllten die Kammer mit strahlendem Licht. In der Mitte war ein Tuch aus rotem Brokat ausgebreitet, auf dem ein silbernes Tablett lag. Auf dem Tablett wiederum stand ein reich geschmückter goldener Becher. War das eine List, eine Täuschung? Aber wer brachte schon einen so schönen Becher für eine Hinterlist in Gefahr? Andererseits musste es eine Hinterlist sein, denn wie konnte sich der arme Sohn eines Zimmermanns einen derart kostbaren Pokal leisten? Vielleicht handelte es sich um ein Geschenk von Joseph von Arimathea. Lancelot sah genauer hin. Die sechs Kerzen überzeugten ihn. Sie allein konnten das sonnenähnliche Strahlen, das von der Steinhütte ausging, nicht erklären. Es war mehr als ein für das Auge sichtbares Strahlen. Es war die Ausstrahlung von etwas Heiligem. Es war keine Täuschung. Er stand auf heiligem Boden. Die Einsicht ließ Lancelot wie angewurzelt stehen bleiben. Er hatte Angst, sich weiter zu nähern, weil der Gral sonst vor seiner Unwürdigkeit fliehen mochte, wie er schon vor so vielen Männern geflohen war. Er fürchtete sich zu zaudern, weil er den Gral sonst vielleicht nie mehr bekommen konnte. Lancelot fiel auf die Knie. Er nestelte an den Stiefeln herum und wollte sie abstreifen. Flimmernd stand die Kraft in der Luft. Die Sonne war längst untergegangen, doch auf dem Hügel war es hell wie am Mittag. Die Ausstrahlung der Macht röstete Lancelot in seiner Rüstung und durchtränkte seine Muskeln. Er setzte sich. Es war ein wundervoller Ort. Kein Wunder, dass die Schäfer diesen Ort bevorzugten. Kein Wunder, dass Christus ihn ausgewählt hatte. Lancelot legte sich nieder. Warum auch nicht? Welcher Regen 160
konnte schon durch dieses Strahlen hindurch fallen? Welchen Schaden konnte er hier nehmen? Keinen. Er schlief. Und schlief. Gestalten bewegten sich rings um ihn, verschwommene Gestalten. Männer und Frauen. Die meisten waren Bauern. Schäfer. Knechte. Vagabunden. Sie betraten den Lichthof, der vom Steinhügel ausging. Gebrochen traten sie ein — humpelnd, bandagiert, blind. Geheilt kamen sie heraus. Respektvoll gingen sie an Lancelot vorbei und blickten auf seine zusammengerollte Gestalt hinab. Ein alter Mann, dessen Hände so knorrig waren wie Eichenwurzeln, griff nach ihm und winkte. Lancelot wollte die Hand heben, doch es gelang
ihm nicht. Er konnte sich nicht bewegen. Er konnte nur stumm und traurig den Blick erwidern. Kopfschüttelnd trat der Mann ins allgegenwärtige Licht. Nur wenige Augenblicke später tauchte er wieder auf und rieb sich seine Finger, die gerade und glatt waren. Lancelot war gelähmt und gebannt. Diese Macht überstieg alles, was er bisher gesehen hatte, selbst die Macht Brigids. Diese unerbittliche, reine Heiligkeit duldete nicht das kleinste Übel in ihrer Nähe. In Gegenwart dieser Kraft war Lancelot so gut wie tot. Er lag dort, und die Menschen kamen und ließen sich heilen. Er war ein Stein auf der Schwelle zum Himmel, ewig in dessen Glanz und doch ewig draußen. Auf einmal verstand er. Er hatte sich dem Gral auf die falsche Weise genähert. Es war nicht so, dass sein Herz mehr Böses barg als das irgendeines Bauern. Es lag daran, dass seine Absicht nicht die richtige war. Der Gral war gekommen, um zu heilen, und alle Menschen, die mit Krankheiten kamen und wieder heil sein wollten, wurden geheilt. Er aber war nicht in der Absicht gekommen, geheilt zu werden. »Heile mich«, murmelte Lancelot. Und er war selbst überrascht, dass er sprechen konnte. »Heile mich«, sagte er noch einmal. Seine Hand kam hoch, sein Arm prickelte wie von tausend Nadelstichen. »Heile mich!« Eine andere Bittstellerin, eine weißhaarige Frau, die eine Augen 161
klappe trug, bückte sich, um ihm zu helfen. Sie streckte den Arm aus und zog ihn mit überraschender Kraft auf die Beine. »Danke, Mutter«, sagte er keuchend zu ihr. »Bitte geh du vor mir.« Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und kroch näher zu der leuchtenden Stelle. Lancelot folgte in ihrem Schatten. Er lugte an ihrer Schulter vorbei und konnte gerade eben die Pracht im Innern ausmachen. Der Heilige Gral strahlte wie ein Stern auf dem Tablett. Die Macht, die von ihm ausging, fühlte sich an wie eine Strömung, die Lancelot zurückstoßen wollte. Nur im Schatten der alten Frau kam er weiter. Sie erreichte die Schwelle der Steinhütte und fiel auf die Knie. Sie presste die Stirn auf den Boden und blieb lange liegen. Nur ein gelegentliches Zittern ihrer Schultern verriet, dass sie noch lebte. Endlich, nach einer langen Zeit, richtete sie sich wieder auf. Als sie sich zum Gehen wandte, liefen glänzende Tränen aus ihren Augen - aus beiden Augen. Sie richtete den Blick auf Lancelot. Er bedankte sich nickend, schritt weiter und kniete, wo sie gekniet hatte. Sobald er die Stirn auf den Stein legte, verstand er. Kein Licht und keine Wärme spürte er mehr, und kein Gral war zu sehen. Nur ein allgegenwärtiges Bewusstsein. Bitte darum, und du sollst heil gemacht werden. Er konnte nicht lügen. Nicht in diesem Licht. Ich bin nicht gebrochen. Du bist gebrochen, Lancelot du Lac. Du hast dich selbst zerbrochen. Du bist so mächtig, Christus, aber du bist zu den sterblichen Menschen gekommen. Ich bin kein sterblicher Mensch, und das Wesen des Feenvolks kennst du nicht. Du irrst dich, und du bist gebrochen. Bitte darum, und du sollst geheilt werden. Lancelots Schultern bebten. Was kannst du denn tun, das mich wieder heil machen würde? Nur du selbst kannst dich wieder heil machen. Widerrufe deine Heirat. Bereue deine Kriegszüge. Gib dich dem Kreuz hin. Ich bin nicht gebrochen.
Die Antwort bestand nicht aus Worten, sondern aus Visionen von 162
einer wahrhaft ungebrochenen Seele. Er sah aus schlimmster Täuschung ein reines Kind entstehen. Merlin hatte mit einem Trick die Empfängnis zuwege gebracht. Obwohl als Bastard geboren, sollte der Knabe zu den Edelsten zählen. Führe mir nicht Artus auf diese Weise vor ... Weitere Visionen kamen. Ein junger Mann, der sich auf dem Gefährlichen Sitz niederließ, auf dem Platz, der den Vater fortgeschleudert hatte. Es ist nicht Artus, sondern jemand, der dir viel näher steht... Eine letzte Vision zeigte ihm die Zukunft. Der junge Mann nahm den unerbittlichen Gral an sich und wurde in unermesslich hellem Licht davongetragen. Der Sohn wird den Vater übertreffen. Der Sohn wird aufsteigen. Galahad... Lancelot sprach den Namen seufzend aus. Mein Sohn. Geh nun, Lancelot du Lac. Du wirst nicht heil gemacht werden. Auf einmal war alles wieder da - das Strahlen, die Wärme, der Heilige Gral. Lancelot erhob sich. Er streckte die Hände zum Steinhaufen hin aus, doch die goldene Kraft legte sich zähflüssig um seine Finger und drückte sie zurück. Der Heilige Gral blieb unerreichbar im Innern. Er wandte sich zum Gehen. Durch seine Tränen sah er weitere Bittsteller kommen. Er hatte gebrochen, aber ohne Reue vor dem Paradies gestanden und war abgewiesen worden. Der Sohn wird den Vater übertreffen ... Lancelot ritt den Herbst über, bis der bittere Winter kam. In seinem Rücken ritt die Furcht, ein unwillkommener Gefährte im Sattel. Er war dem Feind begegnet - dem kommenden Christus. Ja, Lancelot hatte die Geschichten über Christus und die Bibel gehört. Tante Bri-gid war schließlich auch die heilige Brigid. Aber noch nie war er dem Geist Christi begegnet wie am Steinhügel des Schäfers. Guinevere und Lancelot hatten Camelot diesem unersättlichen Gott geopfert. Das Land würde nie mehr so sein wie einst. Für Christus waren die Ritterschaft, der Krieg, der Stolz und die Ehre eine Sünde. Christus befahl den Menschen nicht, jene zu schla 162
gen, die den ersten Streich geführt hatten, sondern die andere Wange hinzuhalten. Er verbot den Stolz auf die eigenen Taten; nur die Werke Gottes sollten zählen. Er verlangte, dass die Ehre ohne Rache verloren werde und dass man Missetätern verzieh. Christus war das genaue Gegenstück zur Ritterschaft. Jetzt schon hatte er zwanzig Ritter dazu gebracht, voller Sehnsucht ins Kloster zu fliehen. Ohne die Macht des Landes und ohne die Verbindung zwischen dieser und der Anderwelt musste Camelot sich in eine Theokratie verwandeln. Die Tyrannei des einen Gottes. Alles drehte sich in Lancelots Kopf. Er wanderte weiter. Er wusste nicht mehr, welcher Tag und welcher Monat es war. Er wusste nicht einmal, wer er selbst war. Einmal war er mit Rasa in einen tiefen Teich geritten und hatte ihn und sich mit bloßer Willenskraft bis zu den Brunnen von North Uist gebracht. Dieses Land war seine wahre Heimat geworden. Kranke Menschen strebten immer der Heimat entgegen. Dort hatte er den Wahnsinn vergessen und wieder regelmäßig gegessen. Jetzt aß er nur, weil die Menschen in den Dörfern ihm Pasteten und Birnen und Käse in die Hand drückten. Wäre er nicht auf einer Queste gewesen, er wäre verhungert. Doch Lancelot wollte kein Essen finden. Er wollte die Lanze des Longinus bekommen.
Natürlich hatte er nicht die Hand an den Heiligen Gral legen können. Der Heilige Gral hatte vielmehr ihn berührt. Die Reliquie war ein Werkzeug der Heilung, das Christus seinen Jüngern geschenkt hatte und das in übertragenem wie in wirklichem Sinne sein Blut enthielt. Ein Werkzeug der Heilung konnte man nicht mit Gewalt an sich nehmen. Die Lanze aber war ein Gegenstand, der zum Töten verwendet wurde. Christus war damit gestochen worden. Mit ihr konnte man jeden Mann töten. Man konnte sie mit Gewalt nehmen und mit Gewalt einsetzen. Doch bisher hatte er noch kein Wort über ihren Verbleib gehört. Rasa stapfte einen Hang hinunter, auf dem morgendlicher Reif lag, und trottete auf einem schmalen Weg weiter. Der Untergrund war trügerisch, denn die schlammigen Rinnen waren über Nacht gefroren, doch Rasa strauchelte so gut wie nie. Eigentlich führte das Pferd 163
sogar die Queste an. Der Herr ritt nur schweigend mit. Der Weg führte in ein Dorf mit strohgedeckten Hütten. Die meisten bestanden aus Flechtwerk und Lehm, einige wenige waren zur Hälfte aus Balken gebaut. Am anderen Ende stand eine Mühle. Auf dem Mühlrad funkelte das Eis, während es sich drehte. Alle Läden waren geschlossen, alle Türen dunkel. Das Dorf schlief noch. Genau die Sorte Dorf, die Christus bevorzugt hätte. Rasa trottete zur Mitte des Orts und blieb stehen. Er wusste, was jetzt kommen würde. Mit kaltem Handschuh schlug Lancelot auf den Schild, der an Rasas Seite hing. Das laute Scheppern hallte über die Straße. Lancelot machte weiter, bis die Läden geöffnet wurden und Gesichter erschienen. Aus einer Tür kamen zwei halbwüchsige Jungen in Nachthemden und schwangen Schüreisen. Sie hielten mitten im Schritt inne, als sie den berittenen Krieger sahen. Einer war wach genug, um zu rufen: »Was ist denn los?« Lancelot schob sein Visier hoch. »Ich suche die Lanze des Longin us.« »Was?«, fragte derselbe Junge. Sein älterer Bruder knuffte ihn an den Hinterkopf. »Das ist der Speer, mit dem Christus in die Seite gestochen wurde. Die Lanze des Longinus. Die suche ich.« Der ältere Junge, ein schlaksiger Kerl mit struppigem Haar, schaltete sich ein. »Es tut uns Leid, dass dein Freund erstochen wurde, aber wir haben ihn nie hier gesehen.« »Christus ist nicht mein Freund. Er ist der Erlöser der Christen ...« »Willst du seinen Mörder finden?« »Nein, ich will...« Lancelot hielt inne. Sogar in seinem benommenen Zustand konnte er erkennen, dass er so nicht weiterkam. »Habt ihr Gerüchte über merkwürdige Visionen gehört? Über Lichter in Grüften in den Bergen, Wunderheilungen und so weiter?« »Wir hatten eine Katze, die wiederauferstanden ist«, platzte der kleinere Junge heraus. Er duckte sich, um der Hand seines Bruders zu entgehen. »Die Katze war gar nicht richtig tot, sie hat nur langsam geatmet.« 163
»Drei Wochen lang hat sie so langsam geatmet, dass man es nicht sehen konnte?« »Du hättest eben nicht nach ihr stechen sollen ...« »Hätte ich das nicht gemacht, dann würde sie immer noch langsam atmen.« Lancelot verdrehte die Augen und rief den Rest der Dorfbewohner herbei. »Ich suche ein Wunder, das durch unser Land wandert. Die Lanze des Longinus könnte Camelot retten.«
Eine schläfrige Frau schaute aus einem Fenster. »Was ist denn los mit Camelot?« »Nichts. Hast du Gerüchte von Visionen oder Wundern gehört?« »Nichts, abgesehen von dieser Katze. Oh, doch, mein Bert hat letzte Nacht nicht geschnarcht. Aber sonst haben wir hier nicht viele Wunder.« Gelächter erklang in den Fenstern und Türen. Sogar Bert schob das rote Gesicht zum Fenster hinaus; auf seiner Wange waren noch die Abdrücke des Kopfkissens zu sehen. Er lachte am lautesten von allen und stieß ein Schnauben aus, das ihn als leidenschaftlichen Schnarcher auswies. Inmitten der allgemeinen Heiterkeit schnalzte Lancelot und ließ Rasa in langsamem Schritt weiterlaufen. Vergebens wie schon in hundert anderen Dörfern. Vor ihm wurde ein neues Geräusch laut. Ein anderes Pferd mit einem anderen Reiter nahte in kräftigem Galopp. Nach der Größe und den Abzeichen zu urteilen musste es Gawain sein. Er donnerte die Straße herunter und hielt den Blick auf Lancelot gerichtet. Dann zugehe er sein Pferd, das auf der vereisten Straße sichtlich Mühe hatte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das Tier rutschte sogar ein Stück an Rasa vorbei und blieb nur mit knapper Not auf den Beinen. »Lancelot!«, rief Gawain überrascht, als er das Tier wieder unter Kontrolle gebracht hatte. »Was machst du denn hier?« Lancelot betrachtete ihn ruhig. »Ich suche die Lanze des Longinus.« »Bei Christus, hattest du etwa auch die Vision?« »Welche Vision?« 164
Gawain klappte das Visier zurück und zeigte sein strahlendes Gesicht und den schwarzen Bart. »Ein Engel Gottes ist mir im Traum erschienen und hat mir gesagt, sie sei hier im Dorf Millsdam, doch ich müsse mit höchster Geschwindigkeit reiten, damit der unwissende Besitzer sie nicht fortbringt.« Lancelot dachte über die Worte nach und betrachtete das offene Gesicht des Ritters. Plötzlich kam ihm das Gelächter vor wie Hohn. Lancelot nahm Rasa eng herum, riss das Schwert aus der Scheide und rief: »Jemand verbirgt hier die Lanze des Longinus. Euer Gelächter zeigt mir, dass ihr womöglich alle mit ihm unter einer Decke steckt. Sir Gawain und ich werden nicht ohne die heilige Lanze weggehen. Weiterer Spott wird mit dem Schwert geahndet.« Gawain sah seinen Gefährten skeptisch an. Seine schwarzen Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen. »So wird dem Reich der Himmel Gewalt angetan, und Gewalttuende reißen es an sich«, erklärte Lancelot. »Und jetzt liefert uns die Lanze aus, oder ihr werdet fur eure Frechheit büßen.« Der jüngere Bursche gaffte ungläubig, dann rannte er los und wollte sich in der nächsten Scheune in Sicherheit bringen. Eine Katze sei zum Leben erwacht, als der Junge sie stechen wollte ... Mit einem lauten Ruf ließ Lancelot Rasa dem Jungen hinterhersetzen. Er steckte das Schwert in die Scheide, zog den Speer aus dem Köcher und richtete ihn aus. Er zielte auf den fliehenden Jungen. Gawain galoppierte direkt hinter ihm. Wenn der Junge die Scheune erreichte, dann konnte er durch irgendein kleines Fenster entkommen und fliehen. Mit der ganzen Präzision des Turnierkämpfers fasste Lancelot das Nachthemd des Jungen mit der Speerspitze. Der Schaft fuhr hindurch, verfehlte das Fleisch und hob den Jungen hoch. Dann bremste Lancelot Rasa ab und nagelte den Jungen an die Scheunentür.
»Lieferst du mir nun die Lanze aus?« »Ich weiß nichts über deine verdammte Lanze.« Der Junge spuckte und trat, in der Luft hängend, wild um sich. »Womit hast du die Katze gestochen, dass sie wieder zum Leben erwacht ist?« 165
»Mit einer Mistgabel«, knurrte der Junge. »Ich wollte sie vom Heu bekommen, ohne sie anzufassen.« »Du lügst.« »Lancelot«, sagte Gawain leise. »Er lügt nicht.« Mit funkelnden Augen wandte Lancelot sich an ihn. »Du bist derjenige, der die Vision hatte. Wenn dieser Knabe nicht der Träger der Lanze ist, wer ist es dann?« »Du bist es«, erwiderte Gawain. Er deutete zur Lanze aus Eichenholz, die den Jungen in der Luft hielt. Die Erinnerungen kamen, und jetzt verstand Lancelot. Er hatte noch nie eine Lanze wie diese gesehen — gerade und unzerstörbar, aus Eichenholz gemacht und älter als Christus. Sie hatte immer genau getroffen und musste nie geschärft werden. Meister Smetrius hatte ihm in der Tat eine vorzügliche Waffe geschenkt. Und wer sonst sollte die Lanze des Zenturios besitzen, der Christus verletzt hatte, wenn nicht der römische Gott des Krieges? Lancelot starrte die Lanze an, die jetzt mit einer Macht zu flimmern schien, die er noch nie gesehen hatte. »Die ganze Zeit besaß ich sie und konnte es nicht erkennen.« »Sie hat die ganze Zeit Camelot gedient«, erklärte Gawain. »Sie wird Camelot dienen, solange ich lebe und sie führen kann«, erwiderte Lancelot. Unter Gawains Bart bewegte sich etwas. »Das freut mich zu hören. Jetzt gibt es nur noch eines zu tun.« »Den Heiligen Gral finden? Nein, ich habe ihn gefunden und versagt. Meine Suche nach dem Gral ist beendet.« »Nein, das meinte ich nicht. Ich meine, du solltest den Jungen herunterlassen.« 165
26. Stadt in Glut und Asche Mutter erschien ihm unvermittelt im Traum. Siehst du nun, was aus ihnen wird, Mordred?, fragte sie. Ihre Haare wanden sich wie Tentakel um das schöne Gesicht. Was willst du, Mutter?, fragte Mordred abweisend. Er drehte sich herum und zog sich das Kopfkissen über den Kopf. Sie werden, was wir sein sollen. Sie werden Königin und König der Welt und der Anderwelt zugleich. Es war ausgesprochen lästig, wenn man als erwachsener Mann in seinen Träumen immer noch von der Mutter heimgesucht wurde. Na und? Wenn Lancelot und Guinevere die Herzen von Camelot gewinnen, kannst du sie mit deinen Giften und Zaubersprüchen nicht mehr vom Thron vertreiben. Wenn sie dies tun, während sie gleichzeitig von den Hebriden bis Benwick die Anderwelt regieren, sind sie unangreifbar. Mordred gab auf. Er drehte sich auf den Rücken und seufzte schwer. »Na schön. Ich nehme an, du hast einen einfachen Plan, wie wir sie stürzen können.« Du kennst mich wirklich gut, mein geliebter Sohn. »Hier ist sie. Sie war die ganze Zeit in unserer Hand, Majestät«, sagte Lancelot. Er streckte die Hand aus zum Tisch, der vor dem Thron von Camelot aufgestellt worden war, und zog die Umhüllung aus purpurnem Samt zur Seite. Darunter kam seine alte Eichenlanze zum
Vorschein. »Es war ein Geschenk meines alten Waffenmeisters, der die innigsten Verbindungen zum römischen Heer unterhielt.« Artus stand mit blitzenden Augen auf und kam näher. »Die Lanze des Longinus. Sie verfehlt niemals ihr Ziel. Immer gehorcht sie dem Willen des Mannes, der sie führt.« 166
»Ja«, stimmte Lancelot nachdenklich zu. Über Artus' Schulter hinweg blickte er zu Guinevere, die auf dem Thron sitzen geblieben war. Erregung und Trauer mischten sich in ihrem Gesicht. Sie näherte sich weder ihrem Ritter noch ihrem Mann. Artus hob die Lanze und wog sie in den Händen. »Ja. Wir waren blind, dass wir dies nicht schon früher erkannt haben. Und du - kein Wunder, dass du immer unbesiegbar warst.« Lancelot lächelte leicht, denn Artus kannte nur die Hälfte der Wahrheit. »Nun gut, du sollst sie weiter tragen und einsetzen und zum Wohle Camelots unbesiegbar sein. So etwas auch - dass wir eine Waffe gesucht haben, die wir bereits besessen haben. Ich frage mich nur, was Merlin sich dabei gedacht hat.« »Hätten wir sie nicht gesucht, dann hätten wir sie nie als das erkannt, was sie ist«, erklärte Lancelot. »Allerdings, so ist es«, erwiderte Artus. Er legte die Waffe wieder auf den Tisch. »Ausgezeichnete Arbeit, Lancelot. Und was ist aus der anderen Suche geworden?« Das Gesicht der Ritters verdüsterte sich. »Wenn der Gral gewonnen werden soll, so wird er nicht durch mich gewonnen werden.« »Demnach bist du ihm begegnet?« »Lange genug, um zu erkennen, dass ich ihn nie an mich nehmen könnte.« »Das ist eine schlimme Neuigkeit.« Die Augen des Königs verrieten seinen Unmut. »Eine Dummheit folgt der anderen. Die Entdeckung der Lanze ist das einzig Gute, das bisher bei diesen Nachforschungen herausgekommen ist. Fünf Ritter im Handumdrehen erschlagen, zwanzig weitere widmen sich dem Klosterleben, und eine Hand voll...« Artus starrte Lancelot geradewegs in die Augen. »Ich fürchte, einer der Gefallenen war dein eigener Sohn.« »Mein Sohn?« »Ja. Galahad. Das Kind, das dir von Elaine, der Tochter Pellas', geboren wurde. Er wuchs heran, während du im Feenland gefangen warst. Er war alt genug, um schon den ersten Flaum auf den Lippen zu haben. Ein tapferer Krieger mit einem guten Herzen.« 166
»Galahad«, flüsterte Lancelot. »Er fand den Gral, der ihn tötete. Die Ritter haben eine längere Geschichte über ihn erzählt, doch darauf lief es hinaus. Der Gral hat ihn getötet.« Lancelots Gesicht war aschgrau. »Ich habe ihn nie gekannt. Ich wusste nicht einmal ...« »Er war ein großartiger Ritter. In vieler Hinsicht sogar noch größer als du, Lancelot«, erklärte Artus ernst. »Ich wünschte, ich hätte niemals die Queste ausgerufen. Eigentlich war es Merlins Idee. Er fürchtete, meine Königin sei tot. Er sagte, ich könne die Macht des Landes verlieren. Kommt sie dir tot vor? Steht ihre Macht infrage?« »Gewiss nicht, Majestät«, erwiderte Lancelot. Guinevere zog gereizt eine Augenbraue hoch. »Du warst lange fort, Sir Lancelot. Welche anderen Neuigkeiten hast du von deiner Mission mitgebracht?« Lancelot schaute zu ihr auf. »Ich habe meine Fröhliche Wacht besucht. Prinz Mador hat den Besitz in meiner Abwesenheit getreulich gehütet. Er sagte dem Volk, der Herrscher sei
ausgezogen, um ein Bündnis mit dem Feenland zu schmieden, was nicht einmal gänzlich unwahr ist. Mador hat sogar ein kleines Heer ausgehoben, um mir zu helfen, Benwick zurückzuerobern. Er hegt natürlich die Hoffnung, die Macht der Hebriden bis auf den Kontinent auszudehnen. Das stört mich aber nicht. Ich werde keine Hilfe verschmähen, wenn es darum geht, mein Königreich zurückzugewinnen.« »Ja«, sagte König Artus. Er kehrte zum Thron zurück. »Und du kannst auch auf unsere Hilfe zählen, Lancelot. Wenn du bereit bist, deine Heimat einzunehmen, dann gib uns Bescheid, und die Truppen Britanniens werden dir zur Verfügung stehen.« Er setzte sich neben Guinevere und nahm ihre Hand. »Eines Tages werde ich bereit sein, mein König.« »Wir sind jedenfalls froh, dich wieder hier in Camelot zu sehen«, sagte Guinevere. Lancelot verneigte sich vor König und Königin. »Niemand freut sich darüber mehr als ich.« 167
Einem halb aufgeblasenen Ballon gleich ging der Mond vor dem Balkon von Lancelots Gemächern auf. Als junger Ritter hatte er in der untersten Etage gelebt und sein Quartier mit den Edelknappen geteilt. Jetzt waren seine Gemächer weiter oben, direkt unter Guineveres Räumen. Dies war so eingerichtet, damit die Königin, falls sie in der Nacht etwas Böses überkam, nur läuten musste, um ihren Ritter zu sich zu rufen. Ihr Balkon lag direkt über seinem. Es war nicht schwer hinaufzuklettern. Seit einem Jahr war er nicht mehr mit seiner Frau allein gewesen. Genau genommen waren sie außerhalb des Elfenlandes noch nie zusammen gewesen. Wie konnten sie hier zusammen sein, da Artus auf der anderen Seite des Ganges schlief, da der Gral die halbe Tafelrunde dahingerafft hatte und da Camelot vor dem Abgrund stand? Dennoch waren sie Mann und Frau. Wenn sie ihre Verbindung verleugneten, dann verleugneten sie damit auch ihr Reich in der Anderwelt. Wenn Camelot schon dem Untergang geweiht war, was nützte es dann, Dalachlyth und Benwick ebenso dem Untergang zu weihen? Lancelot blickte nach Camelot hinaus. Blinzelnd und zauberhaft breitete es sich unter ihm aus, als hätte Artus die Sterne vom Himmel geholt und auf die Hügel von Cadbury gestreut. Immer zur Nachtzeit offenbarte die Stadt ihren wahren Charakter - zum Teil gehörte sie der irdischen Welt an, zum Teil der Anderwelt. Über den von Fackeln erleuchteten Straßen strahlten schwach die Kraftlinien, auf denen das Feenvolk wandelte. Aus Kellerschenken drangen Lieder herauf, die von Feenkehlen gesungen wurden. Über Dächer aus lebendem Stroh und auf Fensterbänken, die Zwerge aus dem Stein geschnitten hatten, lief das Kleine Volk, um hier und dort seinen Schabernack zu treiben. Nein, ob es dem Untergang geweiht war oder nicht, Camelot war ein Wunder. Wenn Lancelot heute Nacht zu jenem Balkon hinaufstieg, dann würde er ein Wunder zerstören. Lancelot kehrte der funkelnden Stadt den Rücken. Er trat in sein Zimmer. Jemand sprang auf seinen Balkon. Lancelot fuhr herum. »Oh, Guinevere!«, sagte er und eilte hinaus, 167
um sie in die Arme zu schließen. Er spürte ihre warme Haut unter dem Nachthemd, als er sie an sich zog. »Guinevere! Ich hatte solche Lust, zu dir hinaufzuklettern.« »Ich weiß«, hauchte sie an seiner Brust. »Ich weiß. Es ist so lange her.« Sie küsste ihn zärtlich auf den Hals. »Wir sollten es nicht hier tun«, sagte er, doch schon begann er, ihre Küsse zu erwidern. Ihre Gesichter näherten sich einander, die Lippen fanden sich.
Der Geschmack ihrer Lippen war unvergleichlich. Warm und rein, weich und willig. Sie begehrte ihn so sehr, wie er sie begehrte. Sie hielt seinen Kopf und küsste ihn lange und innig. Lancelots Hände glitten zu ihren Brüsten, die sich unter dem Hemd abhoben. Guinevere öffnete die Bänder seines Hemds und ließ es über die Schultern nach unten gleiten. Sie küsste sich an seinem Hals entlang bis zu seiner Brust. Er befreite die Hände aus seinem Hemd und zog nun auch Guinevere das Nachthemd über den Kopf. Dann drängte er sich an sie und presste ihr nacktes Hinterteil gegen das Steingeländer. Er umfing sie fest und küsste sie auf Schultern und Arme. »Ich liebe dich, Guinevere«, sagte er mit belegter Stimme. Er zog sich ein wenig zurück, um sie anzuschauen. Ihre Gestalt, ihre schöne Gestalt war dunkel vor den Lichtern Camelots. »Ich liebe auch dich.« Lancelot nahm sie in die Arme. »Lass uns hineingehen.« »Hat uns jemand gesehen?«, fragte Guinevere. Er spürte, wie sie sich vor Schreck verkrampfte. »Nein«, antwortete Lancelot. »Niemand sieht, was wir tun. Niemand sieht es außer dir und mir.« Lange lagen sie in inniger Umarmung, während der unvollkommene Mond seine Bahn am Himmel zog. Hin und wieder erwachte einer von ihnen, beobachtete den anderen im Schlaf und weinte heimliche Tränen, bevor er selbst wieder einschlief. Dann erwachte der andere und tat das Gleiche. 168
Der Mond stand schon niedrig im Westen, als Guinevere sich von ihrem schlafenden Gatten löste. Sie stahl sich leichtfüßig über den kalten Boden, holte das Nachthemd vom Balkon und zog es an. Dann kletterte sie zu ihrem Balkon hoch, huschte in ihr Schlafzimmer und verkroch sich in den kalten Decken. So schauderte sie, ohne einzuschlafen, und blieb noch lange nach Sonnenaufgang im Bett. »Danke, Majestät, dass du uns eine Privataudienz gewährst«, sagte Sir Mordred. Er stand in der Tür von König Artus' Gemächern und verneigte sich. Die verstümmelte Hand hielt er wie stets gegen das Wams gepresst, was seine Verbeugung fast wie einen Knicks aussehen ließ. »Ich habe mir die Freiheit genommen, für unser Gespräch Tee und Gebäck zu bestellen. Es müsste gleich gebracht werden. Dürfen wir uns setzen?« Artus sah Mordred und Agravain griesgrämig an. Der alternde König schien sich hinter dem buschigen Bart und den dicken Augenbrauen förmlich zu verkriechen. »Setzt euch«, sagte er nur und deutete auf zwei Stühle neben der Tür. Artus selbst ließ sich auf dem Bett nieder und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein Verkäufer, dessen Preise nicht verhandelbar sind. Mit ernster Verschwörermiene beugte Mordred sich vor. »Nachdem nun so viele deiner großen Ritter verschwunden sind, bleiben nur noch einige wenige von uns übrig, die genug Erfahrung haben und bereit sind, dich zu beraten, Majestät.« Die letzten Worte betonte er deutlich. »Und wir wünschen nur das zu tun, was für dich und Camelot das Beste ist.« »Weiter«, sagte Artus. Mordred glättete mit der verstümmelten Hand seinen Bart. Es war eine genau kalkulierte Geste, die Mitleid erwecken sollte. »Es ist uns zu Ohren gekommen, und vor allem ist es
auch einem großen Teil des Hofes zu Ohren gekommen, dass Lancelot und Guinevere sich seit Lancelots Rückkehr von der Queste heimlich treffen.« »Was?« »Sie geben sich ein Stelldichein, um ...« »Ich weiß, was es bedeutet, wenn sie sich heimlich treffen«, dröhn 169
te Artus. »Ebenso weiß ich, was Verrat ist und was eine falsche Anschuldigung ist.« Es klopfte an der Tür. »Oh, das müsste der Tee sein.« Mordred stand eifrig auf. Freundlich begrüßte er den Diener und bat ihn, das Tablett auf einem niedrigen Tisch abzustellen. »Du kannst jetzt gehen. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.« Der Diener verneigte sich, zog sich zurück und schloss hinter sich die Tür. Mordred fummelte schon mit Kanne, Tas-en, Untertassen und Gebäck herum. Er reichte Artus, der keinen Platz hatte, etwas abzustellen, einen Teller und eine Tasse. »Probiere doch das Gebäck. Es ist sehr bekömmlich.« »Du hast gerade meine Frau — deine Königin — der Untreue bezichtigt und besitzt die Unverfrorenheit, mir gleich darauf Gebäck anzubieten?«, grollte der König. »Auch der Tee ist sehr gut. Mit Honig gesüßt.« Fast gegen seinen Willen nahm Artus einen Schluck. Überraschung breitete sich in seinem Gesicht aus, und er nahm noch einen. »Mit Honig gesüßt?« »Ja. Eine sehr angenehme Mischung. Dadurch kann man sogar bittere Dinge leicht herunterschlucken.« Die Schultern des Königs sanken entspannt herunter. »Nun gut denn. Was wolltest du sagen? Es ging um Guinn.« Mordred versorgte Agravain mit Gebäck und Tee, bediente sich selbst und setzte sich. »Nun, es ist bei Hofe weithin bekannt, dass die Königin viele Nächte mit Lancelot verbringt. Entweder in seiner Kammer oder in ihrer.« Artus stieß einen gedehnten, traurigen Seufzer aus. »Solche Verdächtigungen gibt es schon lange. Ich selbst hatte einen Verdacht. Doch welchen Beweis gibt es?« Er nahm einen großen Schluck Tee und schien angesichts der Süße beinahe zusammenzuzucken. »Es gibt keine«, sagte Mordred. »Bisher noch nicht.« »Warum seid ihr dann zu mir gekommen?«, fragte der König müde. Mordred setzte einen beinahe verletzten Gesichtsausdruck auf. »Nun, ich hatte angenommen, es sei das Beste, zunächst mit dir darü 169
ber zu sprechen. Ich wollte sehen, was du unternehmen willst. Eigentlich liegt die Entscheidung ja bei dir. Du musst wissen, was für dich und Camelot das Beste ist.« Hinter dem Bart des Königs zeichnete sich ein wehmütiges Lächeln ab. »Das Beste für Camelot ... das Beste ist, dass ich ... dass wir alle uns blind stellen. Warum sollten wir nur des Stolzes wegen zerstören, was wir haben?« Mordred nickte nachdenklich. Offenbar hatte er mit einer anderen Antwort gerechnet. »Ja, das wäre sicher das Beste. Dann wollen wir so fortfahren, als wäre nichts geschehen. Du wirst von allen geliebt, mein Vater. Diese Angelegenheit wird deiner Beliebtheit gewiss keinen Abbruch tun. Selbst als gehörnter Ehemann bist du noch der größte Herrscher, den dieses Land seit Cäsar gesehen hat.« »Ein gehörnter Ehemann ...«, wiederholte Artus.
»Ich meine, die Entehrten sind doch eigentlich Guinevere und Lancelot, wenn sie so etwas tun. Vorzugeben, dass sie dich lieben, während sie dich in Wirklichkeit verhöhnen.« »Während sie mich verhöhnen ...« »Wenn wir nur den Heiligen Gral hätten«, fuhr Mordred traurig fort. »Dann wärst du nicht ganz und gar auf die Macht angewiesen, die Guinevere dir gewährt.« Artus konnte kaum noch atmen. Seine Hände zitterten, der Kuchen fiel zu Boden, und der Tee schwappte rot über sein Bein. »Was soll ich tun? Es scheint mir, als könnte ich im Augenblick überhaupt keine Entscheidung treffen.« »Mach dir keine Sorgen, Vater«, schnurrte Mordred. »Du sagtest, dass du Beweise brauchst. Genau darum werden wir uns kümmern. Wir werden Beweise beschaffen.« Lancelot lag schwitzend auf dem Bett und dachte an die Königin. Es war eine heiße Nacht nach einem erbärmlichen Tag. Die Sorte Nacht, die einem das Blut in Wallung bringt. Er wünschte, er hätte bereits diese Nacht für den Angriff der Anderwelt auf Benwick bestimmt. Bald sollte es so weit sein. Bald wollten er und Guinevere seine Heimat zurückerobern. 170
Wie immer drehten sich seine Gedanken vor allem um Guinevere. Wo war sie? Meist kam sie zu ihm, so war es besser. Vor seiner Tür standen keine Wächter, und auf der anderen Seite schlief kein König. Einige Male hatte er sich auch in ihre Gemächer gewagt, die großzügiger eingerichtet waren und über ein Bad verfugten, in dem es immer warmes Wasser gab. Falls heute Nacht überhaupt etwas geschehen sollte, dann musste es in Guineveres Zimmer geschehen. Lancelot erhob sich. Wegen der Wärme war er bis auf die Hüften entkleidet und trug nur ein Lendentuch. Auch dies wollte er gleich abstreifen. Die Steine fühlten sich kühl und angenehm an unter den fiebernden Sohlen, als er auf den Balkon trat. Vor ihm breitete sich Camelot aus. Tausend kleine rote Flammen glühten. An diesem Abend sahen die Lichter nicht aus wie Sterne. Sie waren nicht fern und blau, sondern wirkten eher wie die Glut eines Feuers. Die Wärme stieg in Wellen von der Stadt auf. Es war, als starrte er Benwick an, nachdem Claudas den Ort niedergebrannt hatte. Dieser Gedanke ließ ihn beinahe innehalten. Was tat er da? Er weihte Camelot, Guinevere, Artus und sich selbst dem Untergang. In dieser Hinsicht machte er sich keinerlei Illusionen mehr. Doch der Untergang war nicht durch eine einzige Tat begründet. Tausend kleine Entscheidungen hatten ihn bis zu diesem Punkt geführt. Welchen Unterschied machte schon eine weitete Nacht des Betrugs und Ehebruchs nach so vielen anderen? »Lebewohl, Camelot. Heute Nacht sollst du selbst auf dich Acht geben.« Lancelot stieg auf die Brüstung seines Balkons und streckte die Arme aus. Er packte die Geländersäulen des oberen Balkons und zog sich hinauf. Einen Augenblick hingen seine Beine frei in der stillen Luft, während er sich nur mit den Händen hinaufzog. Dann erreichte er das obere Geländer und sprang darüber. Er zitterte, ob vor Begehren oder Nervosität, wusste er nicht zu sagen. »Guinevere«, rief er leise durch die offene Balkontür. »Guinevere, ich bin es. Hab keine Angst.« Kein Geräusch war von drinnen zu hören außer leisem Atmen. 170
Lächelnd schlich Lancelot über den Teppich aus Schaffell. »Liebste, hab keine Angst. Hier ist dein Lancelot. Wache sanft auf, Guinevere.«
Immer noch keine Antwort vom Bett, nur das leise, langsame Atmen. Lancelot setzte sich auf die Bettkante, tastete behutsam nach der Gestalt, die dort lag, und streichelte die Schulter. Doch die Schulter war aus Metall. Eine Hand, die Hand eines Mannes, packte sein Handgelenk und bog es ihm hinter den Rücken. Ein Schwert klapperte am Bettgestell. »Jetzt haben wir dich, Verräter.« Er hatte ihr die Hand auf den Mund gepresst. Sie hörte seine langen, tiefen Atemzüge dicht neben ihrem Ohr. Auch mit fünfzig Jahren war Artus noch ein starker Mann. »Hab keine Angst, meine Liebe«, flüsterte Artus. »Ich will nur hören, was auf der anderen Seite des Ganges passiert.« Artus' Gemächer waren dunkel, und die Grobheit der Entführung und der Zorn, den sie in seinen Gliedern spürte, ließen sie zittern wie nie zuvor. Sie stöhnte, doch durch seine Finger drang nicht mehr als ein Zischen. »Wenn du mir versprichst, nicht zu schreien, meine Liebe, dann nehme ich die Hand weg.« Guinevere nickte heftig. Artus nahm sofort die Hand von ihrem Mund und legte sie auf ihre Schulter. »Schön, das ist schon viel besser.« Etwas Seltsames war in seinem Atem zu riechen. Er war nicht berauscht, aber es war ein ganz ähnlicher, stechender Geruch. »Was werden sie mit ihm tun?« »Sie werden ihn nur fangen, und dann werden wir überlegen, wie wir weiter verfahren wollen«, sagte er leise. »Was willst du mit mir tun?«, fragte sie. »Mich vergewaltigen?« Der König schwieg. Als er endlich sprach, klang seine Stimme sehr bekümmert. »Ich würde dich nie vergewaltigen, meine Liebe. Du weißt es.« 171
Sie wusste es, und sie schämte sich, weil sie es gesagt hatte. »Seltsam«, sagte er. »Bei deinem Gemahl wäre es eine Vergewaltigung, und bei deinem Ritter ... bei ihm ist es etwas anderes.« Guinevere schluckte. Tränen, die schon lange hätten geweint werden müssen, quollen aus ihren Augen. Sie wollte ihm sagen, dass Lancelot ein Tuatha war, ein König und ihr Gatte. Alles, was den Betrug damals als gerechtfertigt hatte erscheinen lassen. Doch nichts vermochte dies zu rechtfertigen, und sie konnte sich nicht einmal dem König entziehen. Sie konnte nur in seinen keuschen Armen warten, bis drüben die Kampfgeräusche ertönten. 171
27. Opfer Lancelots linker Arm war hinter den Rücken gedreht, doch der rechte war frei. Mit diesem langte er über die Schulter, packte den Kragen des Angreifers und zog. In voller Rüstung rollte der Mann über Lancelots gekrümmten Rücken ab. Ein verzweifelter Schwerthieb durchschnitt vor Lancelot nur die leere Luft. Lancelot befreite auch seinen linken Arm und packte das Schwert am Handschutz. Er hielt fest, während der Mann zu Boden ging. Der Handschuh löste sich vom Griff, und der Mann krachte mit dem Kopf voran auf den Boden. Keuchend stand Lancelot über ihm. Er hielt das Schwert in der Dunkelheit bereit und blieb wachsam. »Wer bist du, und was hast du in den Gemächern der Königin zu suchen?« Keine Antwort. Nicht einmal Atemgeräusche waren zu hören. »Wer bist du? Antworte dem Streiter der Königin!«
Keine Antwort, kein Atem. Die tiefe Stille konnte nur eines bedeuten. Lancelot nahm ein Hölzchen vom Nachttisch und verfluchte sich selbst, weil er so genau wusste, wo sie lagen. Er zündete es in der Glut des Feuers an und brachte das Flämmchen zu einem Kerzenhalter. Das Licht offenbarte ihm einen furchtbaren Anblick. Sir Collgrevaunce war auf dem Kopf gelandet und hatte sich den Hals gebrochen. Sein Kinn lag dicht auf der Brust. Er war einer der neueren Ritter, ein junger Mann, der unter Mordreds Bann geraten war ... Draußen auf dem Flur waren gedämpfte Stiefelschritte zu hören. Lancelot eilte zur Tür und zog die Riegel vor. Er legte sogar die bei 172
den Balken in ihre Halterungen. So leicht sollte niemand hier eindringen. Irgendjemand rüttelte am Riegel. Dann stemmte sich jemand probeweise gegen die Tür. Dann noch einmal, mit größerer Kraft. Die Balken hielten. »Offne die Tür, Verräter. Wir wissen, dass du da drin bist.« Schon wieder wurde er als Verräter bezeichnet. Offenbar handelte es sich um eine Falle, die Verschwörer ihm gestellt hatten. Ohne Mitwirkung Artus' wäre dies allerdings nicht möglich gewesen. »Wir schlagen die Tür ein«, warnte die Stimme, die Lancelot jetzt als Mordreds Stimme erkannte. Ohne zu antworten, schritt Lancelot an Collgrevaunces Leichnam vorbei und trat auf den Balkon. Er musste nur in sein eigenes Zimmer zurückkehren ... Von unten drang das Geräusch trampelnder Stiefel herauf, dann barst die Tür. Holzsplitter flogen durch sein Zimmer und prasselten auf den Boden, und kurz darauf war ein Dutzend eiliger Füße zu hören. Diese Verschwörung ist erstaunlich groß, dachte er. Sein Herz verkrampfte sich vor Angst. Nicht um sich selbst fürchtete er, sondern um Guinevere - wo war sie? - und um Camelot und Artus. Er fürchtete, dass alle, die er liebte, tot sein könnten. Nur der Kampf vertreibt die Furcht. Lancelot wich wieder zum Leichnam von Sir Collgrevaunce zurück und zerrte ihn zu den funkelnden Sternen hinaus. Rasch nahm er dem Mann die Rüstung ab und legte sie selbst an — Brustharnisch, Rückenpanzer, Bauchreifen, Diechling. Jetzt zahlte es sich aus, dass er sich so lange als sein eigener Knappe selbst versorgt hatte. Schon stiegen die Männer vom unteren Balkon herauf. »Bleibt zurück«, rief Lancelot hinunter. Diejenigen, die schon außen an der Wand hingen, hielten inne. »Wir werden dies bei Sonnenlicht klären, aber nicht in der Dunkelheit.« »Wir werden es sofort klären. Deine Taten sind es, die hier Finsternis erzeugen, Lancelot.« »Ich will keinen von euch verletzen, aber wer immer heute Abend den Fuß auf diesen Balkon setzt, wird sterben«, warnte Lancelot. 172
Das gab ihnen zu denken. Schließlich schaltete sich Sir Agravain ein. »Wir haben Befehl vom König, dich tot oder lebendig zu fassen. Willst du dich wirklich so dreist gegen deinen König stellen?« Das hätte ihm fast die Kampfeslust genommen. Lancelot wollte niemandem wehtun, und Artus am wenigsten - und dennoch hatte er ihm dies angetan. Guinevere war
verschwunden. Ritter kämpften gegen Ritter. Verschwörung und Verrat. Untreue und Brudermord. Lancelot hätte beinahe aufgegeben. »Wir haben deine teure Guinevere. Komm mit, und es wird leichter für sie.« Lancelot kannte die Strafe für Untreue. Auf einmal war die Kampfeslust wieder da. Agravain war der Erste, der den Balkon erreichte. Er kam wie eine riesige Küchenschabe, glänzend und schwarz hockte er auf der Brüstung. Seine Klinge deckte den Raum vor ihm. Lancelot ging auf ihn los, als wollte er ihn mit der Schulter vom Balkon stoßen. Er schlug Agravains Schwert zur Seite und rammte ihm das eigene in die Kehle. Agravain fasste das Schwert, das ihn durchbohrt hatte, und wollte einige letzte Worte hervorstoßen, doch er konnte es nicht. Er ging gelähmt zu Boden. Lancelot zog die Klinge heraus und fuhr herum. Eine zweite Gestalt kletterte übers Geländer, es war Sir Gyngalyn. Vor einem Jahr hatte der junge Mann als Edelknappe begonnen. Jetzt... Lancelot biss die Zähne zusammen. Er sprang los. Der Hieb fegte Gyngalyns Schwert zur Seite, dann traf es ihn unterhalb der Halsberge. Schon war er tot. »Ich bitte euch, kommt nicht herauf. Agravain und Gyngalyn sind tot. Es bekümmert mich, sie getötet zu haben, und es wird mich bekümmern, auch euch zu töten.« Doch sie kamen. Einer nach dem anderen tötete er sie. Es war, als strömte nackte Wut durch ihre Adern. Dadurch waren sie furchtlos, doch bessere Kämpfer waren sie nicht. Was vermochte einen solchen Hass zu wecken? Nicht was, sondern wer. Der Letzte, der heraufkam, war Sir Mord 173
red, König Artus' eigener Sohn. Mordred konnte nicht gut klettern. Nachdem die Lanze des Longinus ihn getroffen hatte, war die Schildhand nie wieder richtig verheilt. Doch er schaffte es und kam mit den Giften, die er auf seine Klingen gerieben hatte. Schon ein leichter Stich von Mordreds Klinge konnte töten. Er stieg über die Brüstung und sprang auf den Balkon. Der hagere Mordred war so unansehnlich wie eine Fledermaus. Er stand dort und spannte die verstümmelte Hand. Zuerst betrachtete er die blutigen Leichen seiner Mitverschwörer — zwölf waren es. Dann hob Mordred ohne eine Spur von Furcht den Blick zu dem, der sie getötet hatte. »Sehr sportlich von dir zu warten, bis ich auf den Füßen stehe.« Mordred setzte sich aufs Geländer. Lancelot antwortete nicht. Dies war ein Teil des Duells. Mordred verlor niemals das Vorgeplänkel eines Duells, und oft entschied er damit den ganzen Kampf. »Aber wo ist deine Lady? Ich dachte, du kämpfst nie, wenn du nicht für sie kämpfst. Es sieht freilich so aus, als hättest du jetzt vor allem für dich selbst gekämpft.« »Du weißt, wo Guinevere ist.« Erfreut, dass er eine Antwort provoziert hatte, ließ Mordred das Schwert vor sich baumeln. »Ja, das weiß ich. Artus hat sie. Er zeigt ihr, wie es sich anfühlt, einen richtigen Mann in sich zu haben.« Mordred hatte gewonnen. Lancelot sprang vor. Sein schlecht vorbereiteter Schlag prallte von dem Stahl ab, der schon darauf gewartet hatte. Mordred fing Lancelots Klinge mit der eigenen ab, entwand sie ihm und zog den Schwertarm zurück. Unbewaffnet stand Lancelot vor Mordreds waagerecht ausgerichtetem Schwert.
»So einfach war es«, sagte Mordred, der auf dem Geländer sitzen geblieben war. »Ich hätte als Erster kommen sollen, das hätte uns ein paar Haufen totes Fleisch erspart.« Die Schwertspitze verharrte direkt unter Lancelots Kinn, bereit zum Zustoßen. Der metallische Geruch des Gifts stieg von der Klinge auf. »Nun ist die Frage, ob ich dich gefangen nehme oder gleich an Ort und Stelle töte. Was könnte mir wohl mehr Vergnügen bereiten?« 174
Lancelot antwortete nicht. Er stand reglos inmitten der Toten. »So oder so, ich finde, du solltest wenigstens niederknien. Ich würde zu gern den großen Lancelot vor Sir Mordred auf den Knien sehen.« Seine Stimme klang jetzt härter. »Knie nieder.« Lancelot atmete schwer und starrte das tödliche, vergiftete Schwert an. »Knie nieder, sagte ich!« Mit einem resignierten Seufzen ließ Lancelot sich auf ein Knie sinken. Er packte den Leichnam Sir Melyons, riss ihn hoch und schleuderte ihn vor. Der Körper verfehlte Mordreds Klinge, traf aber ihren Besitzer. Mordred kippte zurück, stürzte vom Geländer und landete drei Stockwerke tiefer im Rosengarten. Der Knall und die Schreie, die darauf folgten, zeigten deutlich, dass Mordred nicht tot war, aber auch nicht mehr kämpfen konnte. Schwer atmend sah Lancelot sich das Gemetzel an. Er neigte den Kopf. »Brüder, verzeiht mir, was ich getan habe.« Die Worte klangen fiebernd in der kühlen Nachtluft. Der mondlose Himmel bebte, als die Seelen der Toten entflohen. Blutig wie er war, erhob Lancelot sich und kletterte in seine eigenen Gemächer hinunter. Dort wusch er sich rasch und legte die eigene Rüstung an. Als er das Sachsenschwert am Gurt hatte, schritt er durch die zerstörte Tür hinaus. Noch hatte er Freunde unter den Rittern. Sie würden ihm bei der Flucht helfen. Sie würden ihm helfen, Guinevere zu retten. Er hatte sie nicht vergewaltigt. Guinevere wusste, dass Artus dazu nicht fähig war, nicht einmal wenn Mordreds Gift durch seine Adern strömte. Doch die fiebrige Weise, wie er sie in dieser Nacht der Kämpfe und des Blutes hielt, machte sie traurig. Immer umschlungen, aber nie einander berührend - es war der Wahnsinn, so zu leben. Guinevere hatte einen Ausweg gefunden, doch Artus war noch darin gefangen. Jetzt waren sie beide gefangen. Geknebelt und gefesselt wurde Guinevere auf einem Gefangenenwagen durch die Hauptstraßen Camelots befördert. Hinter den Rädern wallte Staub hoch, der die an
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klagend aufsteigende Sonne nicht verdecken konnte. Auf dem ganzen Weg gaffte das Volk, stieß Verwünschungen aus und warf mit faulen Früchten. Die Blicke waren das Schlimmste. Manche grinsten teuflisch und fröhlich über die Qualen der Königin, manche runzelten auch finster und vorwurfsvoll die Stirn. Viele andere schienen betrübt. Der Betrug hatte sie bis ins Herz getroffen. Sie waren die Menschen, die Guinevere einst geliebt hatte und die sie zerstört hatte, wie sie auch sich selbst zerstört hatte. Unfähig, noch länger in diese Augen zu blicken, ließ Guinevere den Kopf hängen. Ihr Blick fiel auf den verschwitzten Rock des Viehtreibers, der neben dem Pferd ging. Er war ein einfacher Freisasse. Man hatte sein Fahrzeug in Dienst gepresst und die Ladung weggeworfen. Schweren Schrittes lief er, und die Tränen rannen in schmutzigen Bächen über seine Wangen. Ob er um seine verlorene Fracht oder die verlorene Königin weinte, wusste sie nicht zu sagen. Ihm konnte sie nicht böse sein, und sie hegte auch keine bösen
Gefühle für ihre Ehrenwache, Sir Gaheris und Sir Gareth. Die Söhne von Lot und die Brüder von Gawain schritten unbewaffnet links und rechts neben dem Wagen. Sie hatten aus Liebe zur Königin um diesen Auftrag gebeten. Auch die johlende Menge konnte Guinevere nicht verurteilen. Was die Menschen taten, das taten sie aus Liebe zu Artus. Am Ende der Wegstrecke, die für den Umzug vorgesehen war, wartete er in einem Pavillon. Seine eigene Leibwache umringte ihn. Er saß auf einem behelfsmäßigen Thron zwischen flatternden Segeltuchbahnen und wirkte kaum noch wie ein Mann, sondern eher wie eine Statue. Das Blinzeln seiner Augen war ganz und gar verschwunden. Das Gesicht war hinter einem dichten Schnurrbart verborgen, und das Herz lag unter Schichten von Stoff und Pelz. Nein, nicht einmal ihn konnte sie hassen. Sie selbst hatte dafür gesorgt, dass es so weit kommen musste. Sie selbst und Lancelot. Guinevere gestattete sich ein verstohlenes Lächeln. Er war entkommen. In jener Nacht hatte er zwölf Männer getötet und war geflohen. Den Gerüchten zufolge hatte er noch mit seinen Freunden gesprochen - mit Lionel, Hector, Bors, Galahad und anderen -, weil er hoffte, die Königin retten zu können. Drei Angriffe auf den Kerker hatten 175
für zahlreiche Ritter mit dem Tod geendet. Wenn Lancelot und seine Anhänger nicht gegen eine Hand voll Wächter und eine Gefängniszelle siegen konnten, wie konnte er es dann gegen die versammelte Ritterschaft, gegen Camelot selbst, gegen den Pfahl und die Flammen? Der Pfahl stand neben dem Pavillon, von dem aus ihr Gemahl zuschauen wollte. Es war ein hohes, grob gezimmertes Stück Holz, das man tief im Boden verankert hatte. Man konnte ihn nicht herausziehen oder brechen. Das Seil, das sie verwenden würden, war aus der Takelage eines Schiffs genommen — stark und fest gewebt. Wenn man es um ihre Hüfte schlang, konnte sie sich nicht befreien. Selbst mit einer Axt brauchte man viele Schläge, um die Stränge zu durchtrennen, und so viel Zeit würde nicht bleiben. Dann das Feuer - oh, sie konnte schon den bösen Stapel sehen, Klafter auf Klafter. Für eine einsame Königin war es gedacht und hätte ausgereicht, um ein ganzes Dorf niederzubrennen. Die Hoffnung, doch noch entkommen zu können, schwand dahin. Guineveres Herz war mutlos und traurig. Wenn es nur irgendwo etwas Tau gäbe, dann könnte ihr Volk heraufkommen und sie mitnehmen. Doch der Morgen hatte trocken und hoffnungslos gedämmert. Der Wagen hielt an. Auch die Schmährufe hörten auf. Die Menge drängte heran, um zu sehen, was als Nächstes geschehen würde. Feierlich schlang sich Sir Gaheris das schwere Seil über eine Schulter und kniete sich vor der gefesselten Königin auf die Straße. »Euer Majestät, ich werde Euch jetzt anheben.« Sie nickte und wusste nicht, wie sie auf diese umständliche Ankündigung antworten sollte. Sanft, aber fest nahm Gaheris die gefesselte Gestalt in die Arme und hob sie vom Wagen. Sein Bruder benutzte die Ecke seines Wappenrocks, um ihr den Schmutz von Gesicht und Händen zu wischen. »Ich danke euch für eure Freundlichkeit«, sagte sie zu ihnen beiden. »Verzeiht uns, große Königin, dass wir uns an diesen Ereignissen beteiligen«, bat Sir Gareth, als sein Bruder sich zum Holzstoß aufmachte. Gaheris lief auf dem schwankenden Stapel erstaunlich sicher. Wie ein Widder auf einer Geröllhalde stieg er hinauf und wurde mit je 175
dem Schritt schneller. Ganz oben ragte der riesige, schreckliche Pfahl auf. Er setzte sie vorsichtig ab, dass sie mit dem Rücken dagegen lehnte, wickelte das Seil von seinem eigenen Körper ab und legte es um sie. Dann band er einen dicken Knoten, wickelte das Seil viele Male um ihre Hüften und um den Pfahl und brachte hinten einen weiteren dicken Knoten an. »Könnt Ihr atmen, große Königin?«, fragte er, als er fertig war. »Spielt das eine Rolle?«, gab sie zurück. »Es ist besser, am Rauch als am Feuer zu sterben. Je besser Ihr atmen könnt, desto eher werdet Ihr am Rauch sterben.« »Ich kann atmen«, versicherte Guinevere ihm leise. Gaheris nickte. »Lebt wohl, Guinevere.« »Lebewohl«, sagte sie und sah zu, wie der breitschultrige Mann den Stapel wieder hinunterstieg. Jetzt war sie wirklich allein. Dies waren die letzten Worte, die sie mit irgendjemandem sprechen sollte. Doch es waren nicht die letzten Worte, die sie hören sollte. »Schaut her«, rief Sir Mordred auf dem Podium unter ihr. »Der Lohn für die Sünde.« Er hatte sich von seiner beinahe tödlichen Begegnung mit Lancelot bemerkenswert gut erholt und sich erboten, bei diesem traumatischen Ereignis für Artus zu sprechen. Allein dies zeigte schon, wie tief der König gesunken war. »Sie, die durch das Band der Ehe unserem König und unserer Nation verpflichtet war, hat beides in den Armen eines anderen verraten. Die Leidenschaft brennt heiß.« Er hob mit einer Hand eine Fackel, an deren Ende eine Flamme loderte. »Aber das Feuer brennt noch heißer. So soll ihre Seele vom Feuer verzehrt werden.« Er schleuderte die Fackel. Die Fackel drehte sich um sich selbst und flog in hohem Bogen zum Scheiterhaufen. Aller Augen beobachteten den Flug. Sie traf den Scheiterhaufen, und mit einem gewaltigen Brausen schössen die Flammen zum Himmel empor. In einem weiten Kreis breiteten sie sich rings um den Pfahl aus. Wahrscheinlich hatte Mordred den Zunder mit einem seiner üblen Gebräue getränkt. Die Flammen bildeten einen zylindrischen Vorhang rings um Guinevere. Weißer Rauch stieg zum Himmel auf. 176
Selbst durch die Seile hindurch spürte Guinevere die sengende Hitze. Jeder Atemzug brannte in der Kehle und zog neues Gift in ihre Lungen. Sie blinzelte mehrmals, damit die Augen nicht austrockneten. Durch die Flammen sah sie die Gesichter der Menschen als verzerrte Dämonenfratzen. Die Rufe klangen wie die Klagen der Todesfee. Nichts war mehr wirklich. Selbst Artus, der auf der anderen Seite des Flammenvorhangs zuschaute, wirkte wie eine Strohpuppe. Eine neue Gestalt tauchte auf. Auf seinem weißen Pferd kam er heran. Lancelot ritt in vollem Galopp die schmutzige Straße herunter. Mit der Linken hielt er das Schwert, in der Rechten hatte er die unfehlbare Lanze. Lancelot! Es musste ein Fiebertraum sein. Doch Träume kämpften nicht wie er. Ein Mann, der vorsprang, um ihm den Weg zu versperren, wurde von der Lanze zur Seite geschleudert. Ein zweiter, der ein Brett gegen Lancelot erhob, sah es bis auf die weißen Fingerknöchel gespalten. Ein dritter, der einen Eisenstab schwang, um Rasas Beine zu treffen, bekam einen Huf mit einem Hufeisen in den Bauch. Nichts konnte Lancelot aufhalten. Es waren Bauern. Wo aber sind die Ritter?, fragte Guinevere sich benommen. Sie starrte durch den Vorhang aus Feuer und erkannte vertraute Ritter - Lionel, Hector, Bors und
viele weitere -, die ihre Gefährten zurückhielten. Lancelot hatte seine Freunde nicht gebeten, gegen die anderen Ritter zu kämpfen, sondern nur, sie aus dem Kampf herauszuhalten. Es hatte in jener schrecklichen ersten Nacht schon genug Tote gegeben. Kein Bauer konnte Rasa widerstehen, als dieser die Straße herunter kam und sich dem Scheiterhaufen näherte. Kein Ritter versuchte es -mit Ausnahme von Gaheris und Gareth. Unbewaffnet stellten sich die Brüder Seite an Seite Lancelot in den Weg. Er hielt auf sie zu. Vielleicht sah er nicht, dass sie unbewaffnet waren, vielleicht wusste er nicht, wer sie waren. Vielleicht war Guinevere ihm wichtiger. Die Lanze des Longinus, die nie ihr Ziel verfehlte, traf Gaheris auf der Brust. Sie schlug durch Panzer und Kettenhemd, durch Stoff und 177
Fleisch, durch Fleisch und Knochen, bis sie das Herz durchbohrte, das den Körper am Leben gehalten hatte. Gaheris hing wie ein Sack Fleisch am Ende der Lanze, als Rasa seinen Bruder niedertrampelte. Vier Hufe, vier gewaltige Keulen. Ein zertretener Fleck blieb zurück. Blutig stieg Rasa die Seite des brennenden Scheiterhaufens hinauf. Lancelot riss an der Lanze, doch sie war hoffnungslos verfangen. Gaheris' Leichnam wollte sie nicht freigeben. Lancelot ließ los. Die Lanze war unwichtig, verglichen mit Guinevere. Er und Rasa stürmten durch die Flammen. Haare und Fell fingen Feuer. Sie schienen Symbole des Todes zu sein. Wie konnte Lancelot sie retten, selbst mit Ross und Schwert? Jetzt schon hatte der Rauch ihre Lippen und die Nase schwarz gefärbt. Sie verging. Es war nicht genug Zeit, sie mit Schwerthieben zu befreien. In wenigen Augenblicken würde sie tot sein. Als Rasa die letzten paar Schritt brennendes Holz überquerte, griff Lancelot unter seinen brennenden Wappenrock und zog ... einen Rosenstrauß hervor. Welche Albernheit! Sie würden zusammen sterben, um die welkenden Rosen versammelt. Ohne abzusteigen schwang Lancelot den Arm — sein ganzes Gesicht schien schon zu brennen - und warf den Rosenstrauß zu ihr hinauf, damit sie seinen Duft atmen konnte. Keuchend sog Guinevere den süßen, kühlen Duft der Rosen ein. Es waren nicht einfach irgendwelche Rosen, es waren Rosen aus der Anderwelt aus ihrem eigenen Schlossgarten. Sie bargen Tau, der aus jeder roten Falte in ihr Gesicht spritzte. Er benetzte Lancelots Arm und Rasas schnaubende Nase. Mit zehntausend winzigen Händen ergriff er Besitz von ihnen. Er zog sie augenblicklich aus der Welt von Feuer und Hass heraus. Pferd und Reiter verschwanden inmitten des Brandes. Die Seile, die Guinevere gehalten hatten, erschlafften, als auch sie verschwand. Nur die Rosen blieben übrig. Rot kräuselten sie sich in der Gluthitze, zerfielen zu Asche und verpufften. 177
28. Die Schlacht von Benwick Versengt und voller Blasen kamen Lancelot, Guinevere und Rasa in einem Wasserlauf heraus, den die Schneeschmelze speiste. Guinevere saß in der gleichen aufrechten Haltung wie am Pfahl mitten darin. Blaues Wasser schwappte über ihre Beine. Lancelot landete neben ihr im Wasser, das ihn bis zur Hüfte umfing. Zuerst brannte die Kälte, dann brachte sie die willkommene Linderung. Die Liebenden klammerten sich aneinander, während
Rasa im felsigen Flussbett weiterlief, bis er einen tiefen, runden Teich erreichte, in den er sich stürzen konnte. Sein Fell dampfte. Einen Augenblick zuvor waren sie noch dem Tod nahe gewesen. Das Wunder des frischen Taus hatte sie aus dem Inferno gerettet. Feenhände und Feenwasser hatten sie von Camelot fortgeführt. Sie würden nie mehr zurückkehren. Doch wo waren sie angekommen? Dies war weder Avalon noch Dalachlyth, und es war auch nicht das Land der Rose. Es spielte keine Rolle. Sie waren zusammen. Nichts sonst war wichtig. Lancelot wusch den Ruß aus Guineveres gerötetem Gesicht. Ihr Haar hatte noch nicht gebrannt, und keine Blase verschandelte ihre Schönheit. Nur der Rauch war ihr gefährlich geworden. Immer noch hustete sie ihn aus. Endlich hob sie den Blick, um Lancelot zu betrachten. Ein tiefes Stöhnen entfloh ihren Lippen. Blasen bedeckten seine Lippen und Augenlider. Aus schwarzen Flecken auf Nase und Wangen sickerte Blut. Alle Haare, einschließlich der Wimpern und Augenbrauen, waren bis auf die Haarwurzeln heruntergebrannt. Rüstung und Kleidung hatten den Rest seines Körpers ein wenig geschützt, doch sein Gesicht war entstellt. Als er ihr Stöhnen hörte, wollte er sie beruhigen. »Du wirst bald wieder gesund werden, Guinevere.« 178
»Ja, aber du bist verletzt.« Sie füllte die Hände mit kaltem Wasser, hob sie und drückte sie sanft auf sein Gesicht. Dazu summte sie ein altes Heilungslied der Tu-atha. Das Leben strömte aus ihrem Fleisch in seines. Verbranntes Gewebe wurde wieder aufgebaut, vertrocknete Haut wurde feucht. Die kleinsten Bestandteile seines Körpers nahmen den Maientanz des Lebens erneut auf, und der tödliche Befall wurde unausweichlich fortgespült. Guinevere zog die Hände weg und sah zwei deutliche Abdrücke gesunder Haut, wo die Finger gelegen hatten. Sie bewegte die Finger geschickt und rasch auf seinem Gesicht hin und her, als wollte sie seinen Kopf formen. Nach wenigen Augenblicken war er wieder hergestellt. Nur seine Kahlheit war geblieben und erzählte von seiner Pein. »Lancelot«, keuchte sie und nahm ihn fest in die Arme. Er schloss die Augen und hielt sie. All der Schrecken und die Angst schmolzen dahin. Eine Weile existierte nichts außer dieser Umarmung. Erst als Rasa ihm seine feuchte Schnauze in den Rücken stieß, öffnete Lancelot die Augen. An beiden Ufern des Bachs standen Menschen - sie hatten rote Gesichter, sie trugen Schottenhosen und Kilts und sahen mit glänzenden Augen zu. »Ich weiß, wo wir sind«, sagte Lancelot und strahlte zurück. »Wir sind zu Hause.« Weiß und prächtig erhob sich die Fröhliche Wacht über dem Heer von North Uist, das sich um die felsige Bucht aufgestellt hatte. Jeder Krieger war angetreten und dazu einige Söhne, die zu jung waren, um Krieger zu sein, aber zu alt, um abgewiesen zu werden. Alle trugen die Kriegsfarben - Rot und Blau, Schwarz und Grün. Alle trugen Kriegswaffen. Schwere Schwerter, mit denen man ein Pferd umhauen konnte, und Dolche im Stiefel, um Wächter zu blenden. Andere hatten Dreschflegel und Mistgabeln oder Äxte mitgebracht - was immer geeignet schien, einen Feind zu töten. Heute würden sie alle Waffen brauchen. Lancelot inspizierte seine Truppen. Seine Stiefel knirschten auf Muschelschalen. Er rieb sich die kurzen Haarbüschel, die auf dem 178
Kopf gewachsen waren. Es waren gute und bereitwillige Kämpfer, doch konnten sie mit ihrer hinterwäldlerischen Kampfeslust den Männern Claudas' wirklich etwas entgegensetzen? Laute Hochrufe wurden unter den Männern laut. Sie hallten zwischen den engen Steinwänden zu den segelnden Möwen hinauf. »Wir sind nicht mehr als zweitausend«, meinte Lancelot. »Doch unsere Verbündeten aus dem Feenland zählen nach Zehntausenden und mehr. Die Überraschung wird uns stark machen, und jeder von uns wird so viel wert sein wie zehn Feinde. Wir werden sie besiegen!« Wieder ließen Hochrufe, lauter noch als beim ersten Mal, die Bucht erbeben. Stangenwaffen donnerten begierig auf den Kies. »Vergesst eines nicht - nur die Soldaten Claudas' sollt ihr töten. Sie tragen Orange und Schwarz. Sie haben ein Land besetzt, das uns gehört. Tötet nicht die Bürger von Benwick, sondern nur die Soldaten des Claudas, und nehmt ihre Posten ein. Vom niedrigsten bis zum höchsten Gegner werden wir die Stadt übernehmen.« Die letzten Hochrufe waren beinahe ohrenbetäubend. Sie ließen das Blut in jedem Herzen schneller fließen. Sogar Guinevere erhob sich, das Gesicht rot vor Erregung. Ihre Augen funkelten. Sie ging zu Lancelot und nahm seine Hand. Zusammen hoben sie die Fäuste, und König und Königin riefen: »Nach Benwick!« Dann drehten sie sich vor ihren Truppen um. »Vorwärts!«, befahlen sie. Sie marschierten das steinige Ufer hinunter bis ins Flachwasser. Aus den Gürteln zogen sie Atemmuscheln — große Muscheln mit weißen Stacheln - und legten sie sich über Mund und Nase. Das Wasser war kalt an den Beinen, an den Knien und Schenkeln. Es stach, als ihre Oberkörper untertauchten. Doch der König und die Königin wurden nicht langsamer. Selbst im kalten Griff des Wassers spürten sie die warme Zuneigung des Volkes. Dieselben Geschöpfe, die sie durch den Rosentau gezogen hatten, klammerten sich jetzt im flachen Meerwasser an sie. Ihre Köpfe tauchten unter, und der Zug der Feenwesen begann. Sie verschwanden unter den Wellen und wurden von unsterblichen Händen zum weit entfernten Benwick gezogen. 179
Reihe um Reihe marschierte das Heer von North Uist ins Wasser. Reihe um Reihe verschwand es. Nach wenigen Minuten waren nur noch die kreisenden Möwen und das strahlende Schloss zu sehen. »Was ist das?«, fragte sich König Claudas, als er aus dem Kaminzimmer seines Palasts hinausschaute. Er hob die gealterte, aber immer noch ruhige Hand an die Stirn, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen, und blickte auf seine Stadt hinab. Irgendetwas strömte aus den Becken und Brunnen und Abwasserkanälen. Etwas Großes und Lebendiges. Claudas knirschte mit den Zähnen. In den zwanzig Jahren, die er jetzt über Benwick herrschte, hatte er schon viele Heimsuchungen erlebt - Ratten, Schaben, Flöhe, Mücken, Frösche. Genau genommen waren die Einwohner von Benwick das größte und lästigste Ungeziefer überhaupt. Sie hatten ihn und seine Krieger nie als Herrscher anerkannt und waren nur gute Bürger, wenn man sie mit gezücktem Messer dazu zwang. Aber weder Ratten noch Schaben und nicht einmal die Einwohner Benwicks waren mit dem vergleichbar, was jetzt aus dem Aquädukt, vom Meer her und aus dem Fluss gekrochen kam.
Es sah aus, als wären es riesige Käfer, die sich rasch trippelnd über die ganze Stadt verteilten. Die Bürger wichen vor ihnen zurück, doch die Geschöpfe achteten nicht auf sie. Ihnen war nur an Claudas' Männern gelegen. Für die Garnison, die Männer auf den Wällen, die Wachposten. Sie töteten die verblüfften Krieger und zogen weiter. Hinter Claudas wurde die Tür aufgerissen. Der alte König drehte sich wütenden Blickes um. »Nun? Was gibt es?« Ein Bote stürzte herein. Der Junge verbeugte sich tief und schien infolge der groben Stimme des Herrschers in sich zusammenzusinken. »Der Hauptmann der Wache schickt mich. Wir werden angegriffen, Majestät.« »Das sehe ich selbst. Glaubst du, ich sei blind?« »N-nein, Majestät«, stammelte der Bursche. Claudas fuhr wieder herum und starrte aus dem Fenster. »Was ist das dort?« Der Junge starrte ihn verständnislos an. 180
»Was ist es, das uns da angreift?«, wiederholte der König. »Nun ja, Männer eben. Nasse Männer in Hemden. Aber es sind grimmige Krieger.« Claudas runzelte die Stirn. Er war ein alter Kämpfer, aber immer noch von heftigem Temperament. »Gewöhnliche Männer steigen nicht aus Brunnen und Becken.« »Also, die Vandalen sind in Rom eingedrungen, indem sie durch die Aquädukte ...« »Halt den Mund!«, rief Claudas. Mit einer Geste brach er das Gespräch ab. »Was sie auch sind, ruf die gesamte Garde zusammen. Lass die Trompeten blasen und die Zivilbevölkerung mobilisieren. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt sollen gegen diese ... diese Dinger kämpfen.« »Ja, Herr«, sagte der Junge und verneigte sich ein letztes Mal, bevor er hinaushuschte. Claudas verschränkte die Finger hinter dem Rücken und starrte durch die lange Fensterfront nach draußen. Zweifellos hatte Ban an eben dieser Stelle gestanden, als Claudas seine eigene Invasion begonnen hatte. Das Kaminzimmer bot ihm einen guten, aber beunruhigenden Ausblick. Es war eine feurige Nacht gewesen, und dies sollte nun ein Tag des Wassers werden. Allerdings wollte Claudas nicht Bans Beispiel folgen. Er wollte nicht wie eine Ratte nach unten zu den Anlegestellen fliehen. Er wollte ausharren und kämpfen, und wenn er der letzte Überlebende war. Entschlossen drehte er sich um und verließ das Kaminzimmer, um sich zum Bergfried zu begeben, wo er sich dem Feind stellen wollte. Lancelot tauchte mit seiner Abteilung Hebrider im zentralen Hof des Palasts von Benwick in den sprudelnden Wasserspielen auf. Köpfe, Schultern und Arme brachen durch den Wasserspiegel, und die Männer kletterten hinaus. Sie ließen die Atemmuscheln fallen und hoben Schwerter, Äxte, Dreschflegel und Keulen. Hinter ihnen rang ein Wassergott mit einer riesigen Schlange. Vor ihnen rangen Claudas' Krieger mit ihrer Angst. »Angriff!«, rief Lancelot. Das Wasser strömte an ihm herab, als er 180
aus dem Becken sprang und über den Innenhof setzte. Sein Schwert hielt er wie einen Stachel vor sich. Zehn seiner Männer umgaben ihn. Die anderen schwärmten in kleinen Gruppen aus, um die Wachen in der Nähe auszuschalten. Der Erste von Claudas' Männern stellte sich tatsächlich zum Kampf auf. Das war aber auch schon alles, was er tat. Sein Schwert beschrieb einen Bogen, um Lancelots Klinge
abzulenken, doch er konnte sie nur bis zu seinem eigenen Knie herunterdrücken. Schreiend brach der Mann zusammen. Lancelot stürmte vorbei und tippte einem seiner eigenen Männer auf die Schulter. »Nimm seinen Platz ein. Versorge seine Wunde und überzeuge ihn, dass ich der König bin.« Der Krieger schien zunächst über diesen Befehl enttäuscht, doch der letzte Teil der Anweisung sorgte dafür, dass sich ein erfreutes Lächeln in seinem Gesicht ausbreitete. Lancelot und die neun übrigen Männer stießen unterdessen weiter vor. Die anderen Gruppen hatten bereits den Rest des Hofs gesichert und gingen gegen die Garnison vor. Dort würden die Kämpfe blutig und bis zum Tod geführt werden. Sobald die Garnisonstruppen beseitigt wären, würde der Rest nur noch einer Aufräumaktion gleichen. »Hier entlang«, rief Lancelot. Er winkte zum Turm hin, der in der Mitte der Anlage aufragte. »Zum Bergfried.« Wenn Claudas hier war, und den Berichten nach hielt er sich im Schloss auf, dann befand er sich im Bergfried. Lancelot führte den Angriff an. Es ging über einen mit Marmor ausgelegten Spazierweg und über ein Übungsgelände. Hebriderstiefel wirbelten den Staub auf, als die Truppe zwischen den Übungspuppen weiter vorstieß. Es war aufregend, in voller Geschwindigkeit von einem Kampf gleich zum nächsten zu laufen. Der Krieger neben Lancelot stieß einen heulenden Kampfschrei aus. Im nächsten Augenblick brach der Schrei mit einem Gurgeln ab. Der Mann stürzte mit dem Gesicht voran in den Staub. Ein Pfeil steckte in seinem Hals, hellrotes Blut strömte hervor. Lancelot blickte rechtzeitig hoch, um den Pfeilhagel zu sehen, der von oben herun181
terkam. Er schlug in ihrer Mitte ein. Schärte blieben bebend in der Erde stecken. Zwei weitere Männer schrien auf und fielen. »In Deckung!«, rief Lancelot. Er duckte sich hinter einige Strohballen. Seine Männer folgten seinem Beispiel und versteckten sich hinter Übungspuppen und Steinhaufen. Sie verkrochen sich, während ein weiterer Hagelschauer von Pfeilen rings um sie auf den Boden prasselte. Alle bebenden Pfeile wiesen die Richtung, aus der sie gekommen waren — vom obersten Teil des Bergfrieds. Dieses Nest konnten sie nicht ausräumen, und solange es existierte, konnten sie nicht weiter vorrücken. Ein Dutzend Bogenschützen mit genügend Pfeilen konnten sie eine Ewigkeit hier festnageln. »Was nun?«, wollte ein Hebrider wissen. »Ja«, wiederholte Lancelot leise bei sich. »Was nun?« Guinevere und ihre Abteilung tauchten in den von Quellen gespeisten Teichen des Palastgartens auf. Sie führte keine Krieger in Kilts an, sondern Streitkräfte, die hübscher und geschmeidiger waren. Najaden stiegen aus dem tiefen Teich und traten auf das mit Rosenblüten übersäte Ufer. Dryaden huschten in Körpern aus Treibholz zu den nächsten Bäumen. Sie drangen in die Borke ein, brachten die Säfte zum Fließen und belebten die Zweige. Nur wenige Augenblicke später zogen Dutzende Kirschbäume ihre Wurzeln aus der Erde und schritten vorwärts ins Gefecht. Kleinere Krieger rannten in gewaltiger Zahl an Guineveres Füßen vorbei. Butzemänner huschten über die Wiese und versuchten, die Wächter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Kobolde kletterten an den Mauern des Schlosses hoch und zerstörten die Sehnen der Bogenschützen. Sylphen erweckten arte Efeuranken zum Leben und schickten sie blitzschnell die Mauern empor, um Krieger nach unten zu ziehen.
Als Guinevere aus dem Teich trat, hatten ihre Feenkrieger schon die Gärten gesichert und zogen in einer großen grünen Woge tiefer ins Schloss hinein. Claudas' Männer standen fassungslos da, als Irrlichter um sie kreisten. Andere konnten sich nicht beherrschen und tanzten zu den ver 182
zauberten Flöten der Faune. Wieder andere hatten die Waffen niedergelegt, weil sie glaubten, sie lagerten gemütlich auf einem grünen Feld, statt in einer Burg einen Krieg zu führen. Alles ging gut, und doch hatte Guinevere das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Nicht bei ihr allerdings, sondern bei Lancelot. Er war in Schwierigkeiten. Ihre Seele flog zu ihm und zog ihren Körper mit. Sie rannte durch den Garten und erreichte eine Wand, auf der dichter Efeu wuchs. Sie packte die Ranken und stieg hoch. Ihr Volk folgte ihr und fragte sich, was die Königin suchte. Mit der Zielstrebigkeit und Geschwindigkeit einer Spinne kletterte sie die Wand empor. Ihr Herz schlug heftig und drängte sie, keinen Augenblick zu verlieren. Als sie sich nach oben gekämpft hatte, hielt Guinevere inne und sah sich um. Lancelot und seine Männer wurden durch einen Pfeilhagel vom Bergfried am Boden gehalten. Vier Männer waren bereits tot, ein fünfter wand sich vor Schmerzen, nachdem sein Bein von einem Schaft durchbohrt worden war. Die Bogenschützen auf dem Bergfried richteten lachend die Bogen nach unten und feuerten die nächste Salve ab. »Nehmt den Bergfried ein«, befahl Guinevere leise. Die Worte fielen auf unzählige Blätter herab. Efeu wuchs ungestüm und tastete sich die Wand hinunter, bis er das Übungsgelände drunten bedeckte. Unter seiner Deckung drangen Heere des kleinen Volks vor — Heinzelmännchen und Butzemänner und Kobolde. Manche halfen den festgesetzten und verletzten Kriegern. Die meisten aber waren zum Bergfried unterwegs. Hinter dem Teppich aus Efeu stampften die Kirschbäume durch die Gartentore. Sie schritten direkt zu den Haupttoren des Bergfrieds. Ein ganzer Schauer von Pfeilen kam herunter und konnte nichts ausrichten. Nur wenige Augenblicke später hatten die Kirschbäume die Türen erreicht. Sie schoben Wurzelfasern in jede Spalte, die sie finden konnten, und wuchsen. Die starken Türen zerbarsten. Holzsplitter flogen heraus, und Eisenbänder fielen klappernd auf die steinerne Schwelle. Die Wächter, die drinnen standen, rissen die Augen auf. Die Bäume packten sie und erledigten sie ohne Erbarmen. 182
Ringsum kletterte der Efeu die Wände des Bergfrieds empor. Winzige Krieger stiegen mit den Ranken auf. Blätter drängten in Schießscharten und verstopften sie. Ranken blockierten Gusslöcher. Die Hauptmasse der Blätter schob sich weiter zu den Wehrgängen hinauf. Dort legten sich die Ranken um Bogensehnen und Pfeile, und Aste wickelten sich um die Hälse der Bogenschützen. Voller Ingrimm griff das kleine Volk das große an. Guinevere stand lächelnd auf der Mauer. Das Lächeln wurde breiter, als Lancelot sich unten erhob und mit dem Schwert zur zerstörten Tür des Bergfrieds deutete. »Los!«, rief er. »Wir schnappen uns Claudas!« Lancelot und seine letzten drei Krieger stiegen die Treppe des Bergfrieds hoch. Alle darunter liegenden Ebenen hatten sie bereits gesichert, doch bisher war König Claudas noch nicht aufgetaucht. Nur eine Ebene lag noch über ihnen.
»Wenn er dort drinnen ist«, gab Lancelot seinen Kriegern flüsternd zu verstehen, »dann wollen wir ihm jede Höflichkeit erweisen, die seiner Stellung entspricht.« »Warum töten wir ihn nicht einfach und bringen es hinter uns?«, fragte ein rotbärtiger Krieger. »Wenn er überlebt, wird sich die Frage der Legitimität stellen.« Lancelot schüttelte bedächtig den Kopf. »Nicht nach dem heutigen Tag.« Er hatte Recht damit. Die Menschen von Benwick hatten sich Lancelot und seinen Befreiern angeschlossen, ohne groß darauf zu achten, wer sie waren. Jeder war besser als Claudas. Hätten sie erst erfahren, dass es Prinz Lancelot war, der nach so vielen Jahren zurückkehrte, dann hätten sie jetzt schon in den Straßen Freudenfeste gefeiert. Bratpfannen hatten unterdessen einen guten Teil von Claudas' Streitkräften außer Gefecht gesetzt. Ganz egal wie es Claudas selbst erging, das Volk war mehr als bereit, Lancelot zum König auszurufen. »Macht euch bereit«, sagte Lancelot. »Wenn ich die Tür eintrete, dann gehe ich geradeaus, und ihr zwei haltet euch links und rechts. Du sicherst unseren Rücken. Bereit?« Sie nickten. 183
Lancelot hob den Stiefel und wollte zutreten. Der Riegel klickte. Die Tür ging langsam auf. »Ihr könnt eintreten«, sagte eine müde Stimme. Lancelot lugte durch die Tür in eine Wachstube. Eigentlich sollten hier die Wächter untergebracht sein, die oben auf dem Bergfried Dienst taten. Zwei mit Tuch bespannte Kojen standen dort, es gab ein paar Haken für Kleidung und Rüstung, ein Waschbecken und einen Krug, einen Vorratsschrank mit getrockneten Rationen und Bündel mit Pfeilen. Eine Leiter führte zu einer geschlossenen Luke. Dort oben befand sich der Wehrgang auf dem Dach, auf dem die Bogenschützen vernichtet worden waren. Halb im Schatten der Leiter stand ein alter, aber beherzter Krieger. Sein Gesicht war hager, doch die Augen funkelten. Lancelot schritt durch den Raum und baute sich mitten in der Kammer auf. Seine Männer schwärmten hinter ihm aus, wie er es befohlen hatte. »König Claudas, ergebt Euch. Verzichtet auf Benwick, und wir werden Euch anständig behandeln.« »Nein«, erwiderte der Mann kurz und bündig. »Nein?«, fragte Lancelot. Claudas' Augen blitzen erbost. »Wenn ich mich ergebe und meinen Anspruch auf Benwick widerrufe, dann habe ich alles verloren ...« »Alles außer Eurem Leben.« »Selbst mein Leben, denn Ihr könntet dann mit mir verfahren, wie es Euch beliebt. Wenn ich Euch aber zu einem Duell fordere, dann könnte ich Euch töten, den Thron zurückgewinnen und am Ende doch noch siegen.« »König Claudas, Ihr müsst eines verstehen: Ihr habt dieses Land meinem Vater gestohlen. Ihr habt ihn erschlagen und meine Mutter fortgejagt. Ihr habt mich zum Waisen gemacht. Ihr sitzt auf einem Thron, der Euch nicht gehört, und wenn Ihr mich weiter herausfordert, dann wird es mir schwer fallen, meinen Zorn zu beherrschen.« Claudas zuckte mit den Achseln. »In einem Wettkampf auf Leben und Tod hat das wenig zu bedeuten.« »So sei es«, sagte Lancelot. Er brachte sein Schwert in Position und baute sich auf. Den Blick hielt er auf König Claudas' Augen geheftet. 183
»So sei es«, erwiderte der alte Krieger. Er kam aus dem Schatten der Leiter hervor und griff an. Kurz bevor er Lancelot erreichte, stieß er ein gewaltiges Brüllen aus und setzte zu einem Hieb an, der Lancelot den Kopf abtrennen sollte. Lancelot schlug die Klinge zur Seite. Sein Gegenangriff kam mit tödlicher Geschwindigkeit. Der Hieb traf König Claudas unter dem Kinn. Tief drang die Spitze ein und durchbohrte den Helm. Voller Schrecken und Schmerzen wand Claudas sich. Die Spitze fuhr tiefer hinein bis in die Stirnhöhlen und hinter die Augen, durchstieß das Hirn und brach durchs Schädeldach wieder hervor. Erst als die Klinge sich in die Holzdecke über ihm bohrte und Claudas erhängte, war der Stoß vollendet. Lancelot ließ den blutüberströmten Schwertgriff los und wandte sich an seine Männer. »Damit ist die Frage der Thronbesteigung geklärt.« An diesem Abend wurde Lancelot zum König von Benwick gekrönt. Claudas' Name aber wurde aus den königlichen Schriftrollen getilgt. Lancelots neue Untertanen waren zum Feiern aufgelegt, und die alten, die den Sieg errungen hatten, waren nur zu gern bereit, die entsprechenden Lektionen im Feiern zu erteilen. Alle Mauern in der Stadt glühten im Fackelschein. Jeder Platz war voller Müßiggänger. Kerzen erhellten die schwarzen Erker, und Lieder stiegen zum Himmel auf. Lancelot beobachtete das Treiben vom Fenster des Kaminzimmers aus, das einst seinem Vater gehört hatte. Er hatte sich entschlossen, nicht allzu lange im festlichen Treiben zu verweilen. Guinevere hatte sich mit ihm zurückgezogen. Aus dieser Höhe und aus der Ferne waren die Freudenfeuer kaum von den tödlichen zu unterscheiden, und man wusste nicht mit Sicherheit zu sagen, ob man freudige Rufe oder Entsetzensschreie hörte. So hatte die Stadt auch an jenem Abend ausgesehen, als sein Vater starb. »Es ist ein wichtiger Schritt«, meinte Guinevere, die neben ihm stand. »Nach so langer Zeit zurückzugewinnen, was dein Vater verloren hat.« 184
»Ja, das ist es«, antwortete Lancelot. »Aber das ist nicht das Wichtigste, was mich heute Abend bewegt.« »Was ist des dann? Dein Volk liebt dich. Die Menschen haben sich verpflichtet, auf deiner Seite zu kämpfen, damit du den Rest deiner Ländereien besetzen kannst. Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit.« Lancelot betrachtete die Feuer drunten. »Ja. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Artus kommt. Dann muss ich einen entsetzlichen Krieg führen.« 184
29. Kriegsvorbereitungen »Seid gegrüßt, Sir Lionel«, sagte Artus munter. Er fasste den Ritter am Arm und lächelte, dass die weißen Zähne im Bart aufblitzten. »Wie immer der Erste bei der Feier. Ha! Setzt Euch. Wie ich sehe, haben sich die anderen schon angestellt.« Artus zog Lionel durch die Tür herein und streckte den anderen Arm aus, um den nächsten Ritter zu begrüßen. »Sir Bors! Schön, Euch hier zu sehen. Manch einer hat angenommen, Ihr wolltet eher Eurem Vetter als Camelot die Treue halten. Ha! Nun, heute wollen wir einen neuen Anfang wagen. Alles wird neu! Wir bauen die Stadt wieder auf, die Ritterschaft, alles.« Der Ritter kniff die dunklen Augenbrauen zusammen. Artus zog ihn herein und wandte sich dem nächsten Gast zu. »Gawain! Oh, wie schön, einen erfahrenen Ritter zu sehen. Erzählt diesen Welpen,
wie wir Camelot das erste Mal aufgebaut haben. Sagt ihnen, wie wir es neu errichten können.« »Können wir das, Artus?«, fragte der große Ritter ruhig. »Können wir das wirklich?« Das Lächeln des Königs entwickelte sich zu einem wahren Fallgatter von Zähnen. »Aber natürlich können wir das. Mit dem Schwert Excalibur und der Scheide Rhiannon und mit der Lanze des Longinus und mit Merlins Wundern ...« »Er hat Eure Frau genommen«, unterbrach Sir Gawain ihn. Erst jetzt legte sich der Schnurrbart des Königs wieder über die Zähne. »Er hat sie vor der Hinrichtung gerettet. Es war richtig, dass er es getan hat. Ich muss von Sinnen gewesen sein, als ich ...« »Nein, Majestät. Er hatte sie schon lange vorher genommen. Er hat sie am ersten Tag genommen, als er nach Camelot geritten kam. Die Ehre gebietet...« »Dies ist eine Feier, Sir Gawain«, unterbrach Artus ihn mit geküns 185
telter Fröhlichkeit. »Wir wollen die Ketten der Vergangenheit abstreifen und mit erhobenen Händen die Zukunft begrüßen.« Gawain hob die Hände, doch es war eine Geste der Resignation. Artus hatte indessen den nächsten Ritter am Arm gefasst. »Sir Mordred«, sagte er und packte wie von ungefähr den verkrüppelten Arm. Artus blickte nach unten und löste seinen Griff. Er war zu einer Entscheidung gelangt. »Mordred ... wir beginnen noch einmal ganz von vorn. Dies ist ein erneuertes Camelot ... unter allen meinen Rittern hege ich für dich und deine Zukunft die allergrößten Hoffnungen. Du bist nicht nur ein Ritter, du bist mein Sohn. Ich habe mich verhalten, als wäre dies nicht so, und das bedauere ich ...« »Majestät, ich verstehe, was Ihr mir sagen wollt«, versicherte Mordred ihm. »Auch ich möchte etwas wieder gutmachen. Im neuen Camelot werde ich meine Launen aufgeben und dem Thron alle Ehre machen.« Artus zog die Augenbrauen hoch. Ein neuer Hoffnungsfunke glomm auf. Er fasste Mordreds gesunden Arm. »Ja. Es ist wirklich ein neues Camelot. Ein neuer Tag beginnt.« Jeder Ritter, der kam, wurde mit den gleichen Worten begrüßt. Artus' Hände zitterten. Das Fieber, das ihn bis zu diesem Augenblick getrieben hatte, war gebrochen. Jede Begrüßung fiel lauter aus als die letzte. Jedes Mal wuchs seine Hoffnung. Die Zukunft Camelots strahlte heller als je zuvor. Es schien, als atmete Artus niemals aus, sondern schöpfte in tiefen Zügen immer mehr Luft. Seine Brust weitete sich, wurde größer und gespannter und zugleich auch leerer. Schließlich konnte er überhaupt nicht mehr atmen, sondern musste sich keuchend setzen. Er schlug die Hände vors Gesicht. Als er sich erholt hatte, waren alle Ritter eingetroffen und die Plätze der Tafelrunde etwa zur Hälfte besetzt. Im Geiste fügte Artus die Fehlenden hinzu - Lancelot, Gaheris, Gareth, Galahad, Agravain, Gryfflet, Brandeies ... einige in verräterischen Schlachten gefallen, einige an den Heiligen Gral verloren, einige vom erbarmungslosen Alter dahingerafft ... »Der erste Punkt auf unserer Tagesordnung«, verkündete Artus, als er zu seinem Platz schritt, »ist die Einführung der neuen Ritter. Wir 185
können nicht feiern, wenn die Tafelrunde nur zur Hälfte besetzt ist. Wir werden am Morgen die Läufer ausschicken und alle angelandeten Krieger zu einem Turnier nach Camelot rufen lassen.«
»Ja«, stimmte Sir Mordred zu. »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Wir werden die Krieger der Nation nach Camelot rufen und im Turnier erproben und dann die neuen Ritter einführen. Dann wird unsere Gesellschaft wieder vollzählig sein.« Artus tastete nach einem Sitz und ließ sich nieder. Die Türen des Raumes schwangen auf, und Diener kamen herein und brachten Teller, auf denen dampfende Brotlaibe lagen. Eine Dienerin legte Holzteller und große Löffel aus, ein Diener folgte ihr und verteilte die Brote und schnitt sie in Scheiben. Ein dritter Diener goss einen dicken Eintopf aus Aal und Zwiebeln in die Schalen. Der Duft von Hefe und Fisch mischte sich im aufsteigenden Dampf. Artus atmete begierig ein. »Seht ihr, wie leicht es ist, die Ritterschaft wieder aufzubauen? Ein Kinderspiel. Es braucht nicht mehr als ein Turnier.« »Die Ritterschaft aufbauen und die Nation neu erstehen lassen, das sind zwei Paar Schuh, Euer Majestät«, wandte Sir Gawain ein. Sein Kommentar überraschte Artus mit vollem Mund. Mordred schaltete sich ein. »Nein, auch das ist nur ein Spiel, wenngleich in größerem Maßstab.« Gawain sah ihn finster an. »Welches Spiel könnte Camelots Ehre wiederherstellen?« »Das Spiel des Krieges natürlich«, erwiderte Mordred. »Warum sonst sammelt unser König die größten Krieger des Landes um sich, wenn nicht, um einen Krieg zu führen?« Gawain wandte sich an Artus, der immer noch kaute. »Ist das wahr? Ist dies wirklich Euer Plan?« »Mein Plan ist d-die Gerechtigkeit des Königs«, stotterte Artus. Er langte nach einem Becher und trank einen großen Schluck. »Ein Auftrag für einen Ritter.« »Gebt mir einen Auftrag, und ich will das Unrecht verfolgen. Ich will nach Benwick segeln und Lancelot den Kopf abschlagen«, versprach Sir Gawain. 186
Die Worte klingelten in Artus' Ohren, in seinem Kopf und auf den Lippen. »Vergesst Lancelot...« »Er hat meine Brüder Gaheris und Gareth getötet. Er hat sie kaltblütig umgebracht, als sie unbewaffnet Eure Königin bewacht haben ...« »Er kannte sie nicht und wusste auch nicht, dass sie unbewaffnet waren ...« »Er hat Eure Frau verschleppt und die Ritterschaft und die Nation zerstört...« »Können wir Lancelot nicht vergessen?« »Nein! Ich kann es nicht, die Nation kann es nicht, und Ihr könnt es nicht. Camelot kann nicht leben, solange Lancelot lebt«, erklärte Gawain entschieden. »Liebt Ihr ihn denn mehr als Camelot?« »Nein.« »Dann ruft all Eure Krieger zusammen, füllt die Tafelrunde auf und zieht nach Benwick, um den Verräter zu fassen.« Artus sah sich in die Zange genommen. Er blickte zur Schale, in der das Aalfleisch dunkel im Eintopf schimmerte. Er blickte zu seinen Rittern. In ihren Augen spiegelte sich seine eigene Gestalt - gebrochen und vom Unglück gezeichnet. »Ist das der einzige Weg, Camelot wieder zur alten Größe zu verhelfen?« Einmütiges stummes Nicken war die Antwort. »Dann, nun, dann soll es sein. Wir rufen das Land zu den Waffen und ziehen gegen den Verräter in den Krieg. Ich werde selbst die Truppen führen und meinen Sohn auf dem Thron zurücklassen. Er soll ihn hüten, bis Guinevere und ich zurückgekehrt sind.«
Zum ersten Mal auf dieser eigenartigen Feier brachen die verbliebenen Ritter der Tafelrunde in Hochrufe aus. Lancelot stand auf der Treppe des Palasts und hielt einen Stab hoch. »Seht her, Bürger von Benwick. Eine einfache Waffe ist es, doch sie wird euch stark machen.« Auf dem weiten Platz unter ihm drängten sich die Bauern. Krieger gingen zwischen ihnen hindurch und verteilten Stäbe. Abwesend befingerten die Leute die Stecken. Ein junger Mann beschloss, seinem Bruder das Holz über den Kopf zu ziehen. 187
»Damit werdet ihr größer.« Lancelot packte den Stab am Ende und wirbelte ihn in einem Bogen herum. »Dies hier ist mein Raum. Solange ich diese Waffe gut führe, kann niemand in meinen Raum eindringen.« Stäbe wirbelten herum, und die ersten Anwesenden gingen zu Boden. »Ja, ihr habt es verstanden — aber rückt ein wenig auseinander. Brecht euch nicht gegenseitig die Knochen. Ja, richtig so. Fegt den Gegnern die Füße weg und zieht euch zurück. Nicht einmal ein Ritter kann kämpfen, wenn er am Boden liegt.« Lancelot unterbrach die Vorführung. Er stemmte den Stab neben sich auf die Stufe und stützte sich darauf. Bauern ließen die Stäbe kreisen und säbelten sich um. So laut wurde das Gelächter und so gereizt das Knurren, dass ihn niemand mehr hören konnte. »Na schön«, sagte Lancelot zu sich selbst. »Dann wird Guinevere wenigstens genügend Freiwillige haben, wenn sie ihre Heilkünste vorführt.« Zum Bedauern vieler Bauern mit aufgeschlagenen Fußgelenken war die Königin jedoch nicht in der Nähe. Sie war genau genommen etwa zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Königin Guinevere reiste mit einer Garde aus Hebridern und einer ganzen Kompanie aus dem Feenland auf staubigen Landstraßen. Sie saß auf dem Kutschersitz eines großen Wagens, hielt die ledernen Zügel und dirigierte das Sechsergespann. Auf der Ladefläche lagen dicke, mit den entsprechenden Namen beschriftete Getreidesäcke - Roggen, Weizen und Gerste. Weitere leere Säcke baumelten seitlich am Wagen und knufften gelegentlich die Feenarbeiter, die dort hockten. Die meisten von ihnen waren Heinzelmänner - fleißige Hausgeister, die daran gewöhnt waren, mit Menschen zu arbeiten. Einige Zwerge hatten ihre Äxte abgelegt, um bei der Landarbeit zu helfen, und natürlich waren auch Feen dabei, deren Aufgabe es war, sich um Pflanzen in jeder Größe zu kümmern. Die kleineren Angehörigen des Feenvolks fuhren auf dem Wagen, die größeren Tuatha liefen dane 187
ben. Trolle bildeten die Nachhut und trieben eine bunte Schar von Vieh, Ziegen und Schweinen vor sich her. Ein Gehört tauchte vor ihnen auf dem Hügel auf. Guinevere ließ noch nicht einmal die Zügel knallen, sondern sprach nur zu den Pferden. »Da ist es. Könnt ihr das süße Gras riechen? Dort gibt es Wasser. Bringt uns hin, und dann könnt ihr grasen und trinken.« Die Pferde nickten und nahmen den Hang in Angriff. Guinevere starrte am hohen Gras vorbei zum Bauernhaus. Es war ein kleines, heruntergekommenes Gebäude aus Feldstein, unbearbeiteten Baumstämmen und Lehm. Das Strohdach war dünn und grau. Hinter dem Haus stand eine windschiefe Scheune aus den gleichen Baustoffen.
Der Wagen blieb vor dem Gebäude stehen. Guinevere kletterte mit Hilfe eines Hebridenwächters herunter. Er legte die Hand an den Mund und rief zum Haus hinüber: »Hier kommt Königin Guinevere von Benwick.« »Was?«, tönte es von drinnen heraus. »Hier kommt Königin Guinevere von Benwick.« »Ja, und ich bin König Lancelot«, sagte ein zahnloser alter Bauer, als er den Vorhang zurückzog, der ihm als Tür diente. Dann starrte er, und seine Augen und sein Mund waren drei erstaunte Löcher. »Verdammt will ich sein.« »Nicht, wenn wir es verhindern können«, sagte Guinevere. »Wir wollen dein Getreide und dein Vieh holen. Alles, was du nicht unbedingt brauchst, um über den Winter zu kommen.« »Was?«, bellte er. »König Artus kommt mit seinem Heer. Sie werden Benwick belagern.« »Was kümmert mich Benwick?«, erwiderte der alte Bauer. »Benwick kümmert dich, weil du dort sein wirst. Alle werden dort sein. Das Heer von Camelot wird über das Land herfallen und alles plündern, dessen es habhaft werden kann, und alles verbrennen, was ihm nicht von Nutzen ist. Sie werden jeden töten, den sie finden.« »Dann seid Ihr gekommen, um es an ihrer Stelle zu nehmen.« »Im Austausch für deine Ernte und dein Heim bieten wir dir Un 188
terkunft in der Stadt und Essen, solange die Belagerung dauert. Wenn sie gebrochen ist, wirst du Hilfe bekommen, um deinen Hof wieder aufzubauen, und Nahrung, bis die erste Ernte eingebracht wird«, beruhigte Guinevere ihn. »Wir machen allen Bauern das gleiche Angebot.« Der Mann kratzte sich das schrumpelige Gesicht. »Und wenn ich mich weigere?« »Dann behalte dein Essen und versuche allein gegen Artus zu kämpfen. In der Stadt wirst du dann jedoch nicht willkommen sein.« Der Alte breitete ergeben reisigdürre Arme aus. »Na schön. Ihr könnt haben, was in der Scheune ist. Na ja, und zwei Kühe. Lasst die dritte und das Maultier hier. Und genug Heu, um sie zu futtern. Ich habe zwei Speicher mit Futtergetreide und zwei weitere mit Weizen. Das bekommt ihr sowieso nicht alles auf den Wagen.« »Gebt ihnen auch Wasser«, sagte Guinevere zu den Treibern, die das Pferdegespann zur Scheune führten. Unterdessen langte die Königin in ihren Reisemantel und nahm eine Schriftrolle, einen Federkiel und ein Töpfchen Tinte heraus. »Dann sage mir deinen Namen so, wie du ihn nennen wirst, wenn du an den Toren der Stadt um Zuflucht bittest.« »Antoine.« Sie presste die Lippen zusammen. »Es dürfte hunderte von Antoines geben.« »Antoine vom Hügel soll es dann sein«, gab er zurück. Sie notierte den Namen. »Mindestens einen Tag, bevor die Schiffe landen, wird ein Reiter kommen und alle in die Stadt rufen. Sieh zu, dass deine Siebensachen gepackt sind. Du kannst eine Wagenladung in die Stadt bringen.« Der alte Bauer sagte seinen auf königliche Weisung angenommenen Namen her. »Antoine vom Hügel, Antoine vom Hügel ...« Ein Lächeln teilte seine Lippen. Mit knarrenden Rädern kehrte der Wagen zurück. »Gibt es sonst noch etwas, das du wissen willst, Antoine vom Hügel?« Der Mann starrte den Wagen an. So schnell war es gegangen, und
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es sah aus, als hätten sie nicht mehr als zwei Säcke Getreide genommen. Abwesend sagte er: »Ja, ich habe eine Frage. Warum macht eine Königin die Arbeit des Seneschalls?« Der Wagen hielt vor Guinevere an, und sie sprang leichtfüßig hinauf. »Meine Freunde und ich verstehen sich darauf, die Ladung geschickt zu verstauen.« Sie schnalzte und lenkte das Gespann wieder auf die Straße. Zwei Kühe, die Antoine gehörten, hatten sich in die Herde eingereiht. Der alte Farmer stand auf der Schwelle seines Hauses und kratzte sich am Kopf. Dann rannte er zur Scheune und warf die Türen auf. Sein Maultier und die letzte Kuh begrüßten ihn. In einer Ecke des Dachbodens lagerte genügend Heu für den Winter. Der Rest der Scheune war blitzblank leer geräumt. »Verdammt will ich sein.« Es war ein frostkalter Morgen. Die Wintersonne spendete helles Licht, aber keine Wärme. Flüchtlinge drängten sich auf den Straßen. Sie mühten sich unter schweren Lasten und hätten eigentlich schwitzen müssen, doch nichts konnte die Kälte aufheben. Der Krieg kam. Der Krieg gegen König Artus von Camelot. Nur der Anblick von Benwick wärmte sie. Die fünf zum Hinterland gelegenen Tore waren weit geöffnet. Krieger bemannten sie und prüften jeden Namen auf der Liste. Sie lasen im Buch des Lebens. Wer hier notiert war, konnte Unterkunft, Essen, Sicherheit und Hoffnung beanspruchen. Ausgeschlossen zu sein bedeutete, dass man schaudernd durch die Straßen laufen und betteln musste. Niemand wurde vertrieben. Jeder, der außerhalb Benwicks blieb, musste sterben. König Lancelot und Königin Guinevere überwachten persönlich die Unterbringung der Flüchtlinge. Auf Rasa und einer schneeweißen Stute ritten sie von Tor zu Tor. Sie sprachen ihr Urteil über jene, die sich nicht ausweisen konnten, und gaben heißen Apfelwein und Brot an diejenigen aus, die eintreten durften. Bisher hatte es keine größeren Schwierigkeiten gegeben. Bis eine Kriegstrompete am Tor zum Hafen erklang. 189
Lancelot stellte sich in den Steigbügeln auf und blickte über die Köpfe der schlurfenden Flüchtlinge hinweg. Er hob eine Hand an die Stirn, um die Sonnenstrahlen abzuschirmen. Vor dem schwarzen Bogen des Hafentors sah er Schwerter blitzen. »Bleib hier«, sagte er zu Guinevere, während er Rasa schon zum Galopp antrieb. »Schwerlich«, sagte sie und ließ ihr Tier dem seinen hinterhersetzen. Mit aufgebrachtem Grunzen folgten die Leibwächter. Über die von Reif überzogenen Pflastersteine ritten sie dahin. Der Weg fiel durch das Labyrinth der unteren Vorstadt ab und stieg zum Tor hin, wo der Kampf ausgebrochen war, wieder leicht an. Benwicks Wächter standen in weitem, wachsamem Halbkreis und hielten mit den Schwertern eine Gruppe edler Krieger in Schach, die am Tor Halt gemacht hatten. Als Lancelot sich näherte, erkannte er die Tracht der Ritter der Tafelrunde. »König Lancelot«, rief der Hauptmann der Wache, »diese Ritter der Tafelrunde verlangen Eintritt.« »Lionel!«, begrüßte Lancelot die Ritter. »Hector! Bors!« Sein Blick wanderte über die anderen der Gesellschaft, es waren etwa zwanzig und alle seine Freunde. Lancelot hielt sein Pferd an. »Was tut ihr hier? Ist das die gefürchtete Invasion?«
Die Gesellschaft lachte. Lionel sprach für sie alle. »Aber nein, Lancelot. Artus kommt, und er fuhrt ein riesiges Heer an. Nichts ist mehr wie früher. Gawain und Mordred haben jetzt das Heft in der Hand. Die Tafelrunde ist voller Fremder. Wir haben Camelot verlassen. Wir wollen uns dir anschließen.« Der Hauptmann der Wache unterbrach ihn. »Es könnten Spione sein. Meuchelmörder.« »Ach, halt den Mund«, sagte Königin Guinevere kurz angebunden, als sie ihr Pferd neben dem ihres Gatten zügelte. Beide stiegen ab, liefen rasch an der Wand der Schwerter vorbei und gingen ihren früheren Kameraden entgegen. Die Leibwächter des Königs und der Königin kreischten erschrocken und sprangen von den Pferden. Sie rannten los, doch sie kamen zu spät. 190
Lancelot und Guinevere umarmten schon die ersten Ritter und hießen sie in Benwick willkommen. Artus stand im Bug eines sächsischen Langschiffs. Das einsame Segel blähte sich im spätwinterlichen Wind. Der Mast knarrte, als das Schiff durch die weiß schäumenden Wellen zog. Trommeln schlugen einen unerbittlichen Rhythmus. Zwischen den Böen setzten die Ruder ein. Fünfzig Männer, die halbe Besatzung, trieben das Schiff durch die Wogen. Zehn Pferde standen im Heck in unbequemen Abteilen. Querab segelten zweihundert weitere Schiffe der gleichen Art. Jedes war bis zur Reling mit kampfeslustigen Kriegern voll gestopft. Es war ein Wahnsinn. In Herbst und Winter, als die Männer daheim am Herd bei ihren Frauen hätten bleiben sollen, waren sie nach Camelot geritten. Sie hatten auf gefrorenen Turnierplätzen gekämpft, mit Mänteln über der Rüstung gestritten und manchmal nur aufgegeben, um endlich wieder ins Warme zu kommen. Die Sieger waren zu Rittern ernannt worden. Artus kannte nicht einmal ihre Gesichter. Sie saßen auf Plätzen, die noch die Namen der Verschiedenen trugen. Wer im Turnier verlor, wurde als Kämpfer für Artus' Invasionsheer rekrutiert. Während des langen Winters hatten sie Camelots Vorräte erschöpft. Sie mussten Benwick überfallen, und sei es, um Nahrung für die hungrigen Männer zu ergattern. Krieger mussten essen, um zu kämpfen, und kämpfen, um zu essen. Sobald Artus dieses Heer einberufen hatte, war der Krieg unvermeidlich geworden. Es war Wahnsinn. Neben Artus stand Gawain, steif wie eine Statue. Der kalte, lange Winter hatte seine Rachsucht nur noch verstärkt. Es war erbärmlich, einen so großen Mann auf einem so beschämenden Feldzug zu sehen - erbärmlich war es, aber in diesen Tagen nur zu gewöhnlich. Nichts Großes und Edles hatten diese Männer mehr an sich. »Es ist eine ernste Angelegenheit«, sagte Gawain, als hätte er die Gedanken des Königs belauscht. Er blickte zum Himmel, der die Farbe schmutziger Wolle hatte. »Ein finsteres und ernstes Geschäft ist es, aber dennoch notwendig. Wenn es getan und Lancelot tot ist und 190
Guinevere zu Euch zurückkehrt, dann werden wir wieder Licht und Farben sehen.« Artus raufte seinen Bart. »Glaubst du das wirklich?« Gawain zuckte zusammen, als hätte ihn die Frage überrascht. »Ja. Das glaube ich wirklich.« Er nickte heftig. Artus richtete den Blick auf die tobende See und die schmale graue Küstenlinie. »Da ist es. Unser graues Ziel. Da ist Benwick.«
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30. Die Belagerung beginnt Mit grimmiger Miene ritt Gawain inmitten der Ritter der Tafelrunde, wie man die Neuzugänge nannte. Nur eine Hand voll der fünfzig hatten Camelot länger als ein paar Monate gedient. Doch sie waren die Ehrenwertesten unter den Deserteuren, den Verrätern und den Feiglingen. Gawain starrte zu den Gestalten auf der Stadtmauer hinauf. Eine hob einen Bogen, der sich schmal und böse vor dem Himmel abzeichnete. Ein Pfeil löste sich und stieg hoch in die Luft. Gawain und die anderen sahen ihn kommen und drängten sich instinktiv um den König. Der Pfeil landete ein paar hundert Fuß vor ihnen in der gefrorenen Erde. Feiglinge. Kein Boot war ausgelaufen, um die Blockade zu brechen. Kein Krieger hatte sich gegen sie gestellt, um die Landung in der Nähe von Benwick zu verhindern. Kein Knabe mit einem Stock war geblieben, um das Land zu verteidigen. Die Hufe und Stiefel Camelots zogen eine schlammige Bahn durchs Land. Gawain und seine Ritter bildeten die Vorhut eines Heeres von zwölftausend Kriegern. Sie marschierten, um die Stadt einzukesseln, doch vor allem wollten sie den Feind einschüchtern. Voraus und rechts neben der nach Süden führenden Straße stand ein Bauernhaus, stabil aus Ziegeln und Balken gebaut. Es war von einer kleinen Mauer umgeben, und ein Kornspeicher duckte sich hinter dem Haupthaus. Ein kleines Anwesen in ausgezeichneter Lage. Wann immer die Kompanie eine Kreuzung erreichte, hatte Gawain einem Abteilungskommandanten befohlen, ein Lager einzurichten. An dieser Kreuzung sollte nun das königliche Lager aufgeschlagen werden. »Da ist es, Majestät«, sagte Gawain und deutete zu dem großen Ge 191
bäude. »Dies soll Euch als Palast dienen, solange Ihr nicht in Camelot seid.« Der König nickte, wirkte aber im harten Winterlicht ein wenig pikiert. »Sieht gemütlich aus.« Gawain schickte zwei andere Ritter vor, um das Gebäude zu sichern. »Bald werden wir ein Feuer im Herd und einen Braten in der Röhre haben — alle Bequemlichkeit, die man von einem Heim erwartet.« Selbst in Gawains eigenen Ohren klang die Behauptung übertrieben. In diesen Tagen gab es keine Bequemlichkeit. Doch er fühlte sich verpflichtet, den König zu beruhigen. »Ein Belagerungskrieg muss kein Durcheinander sein. Es kommt auf den präzisen Einsatz der Kräfte, auf Vorhersagbarkeit und die Einteilung der Ressourcen an. Hier siegt man nicht mit Schwertern, sondern mit dem Inventarbuch.« Artus nickte und wedelte mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. Einer der Ritter trat aus der Vordertür des Gebäudes und meldete winkend, dass alles in Ordnung sei. Gawain lächelte verkniffen. »Ah, seht Ihr? Da haben wir es. Vorhersehbar.« Er rief die Namen seiner zehn besten Ritter und befahl ihnen, beim König und dessen persönlichem Gefolge zu bleiben. Die anderen sollten die verbliebenen Abteilungen durch die Sümpfe führen, um die Stadt zu umgehen und alle Zugänge zu sperren. Als die Kompanien sich aufteilten, bellte Gawain neue Befehle: »Schlagt das Lager auf. Teilt Melder ein. Schickt Holzfäller in den Wald, um Feuerholz zu schlagen. Wartet auf weitere Befehle.« Artus zog eine Augenbraue hoch. »Du scheinst deine Rolle zu genießen.«
»Die äußere Erscheinung trügt zuweilen, Majestät«, antwortete Gawain. »Ich genieße es keineswegs. Allerdings bin ich froh, dass wir endlich den Verräter zur Rechenschaft ziehen. Ich bin froh, dass meine Brüder gerächt werden. Doch dies ist eine schlimme Aufgabe. Der Krieg ist immer schlimm.« Sein Gesicht hellte sich auf, als die Gefährten ihre Pferde vor dem Bauernhaus zügelten. Es war groß genug, um dem König private Gemächer zu bieten 192
und die elf Ritter in weiteren Räumen zu beherbergen. Der untere Teil war aus dicken roten Ziegeln gebaut, das obere Stockwerk bestand aus Flechtwerk und Lehm und ragte drei Fuß aus der Mauer empor. Das Strohdach war neu und dicht. »Zweifellos ist das Innere ebenso ordentlich«, verkündete Gawain, als er vom Pferd stieg. Artus stieg neben ihm ab und ging zur Tür. Sie ließ sich leicht öffnen und bewegte sich mühelos in den Scharnieren. Der König duckte sich unter dem Türsturz durch und betrat den vorderen Raum. Gawain folgte ihm. Im Hauptraum war kein einziges Möbelstück mehr vorhanden. An den Wänden waren noch Umrisse zu sehen, wo Tische und Bänke gestanden hatten. Die rechteckigen Flecken auf dem zerkratzten Holzboden verrieten, wo Teppiche zusammengerollt worden waren. Artus sah sich erbost im leeren Raum um und marschierte in den nächsten. Er war ebenso kahl. Irgendjemand hatte den Kamin mit Steinen gefüllt. Der König stieg die Treppe hinauf. Kein Bett, keine Pritsche, keine Liegestatt. »Nicht unbedingt die gleiche Bequemlichkeit wie daheim.« Gawain war ihm beunruhigt gefolgt. »Wir werden Männer aussenden, um das Notwendige im Umland zu requirieren. Wir schicken sie sofort los. Bis zum Ende der Woche wird es hier aussehen wie in einer königlichen Residenz.« »Und wenn die anderen Gehöfte auf ähnliche Weise ausgeräumt wurden?« »Dann brennen wir sie nieder«, sagte Gawain voller Hass. »Und schicken Boote nach Camelot, um die Möbel zu holen.« Von unten rief jemand etwas herauf. »Der Kornspeicher ist leer.« »Wir haben Vorräte«, sagte Gawain und hob beschwichtigend die Hände, als wollte er einen Ausbruch verhüten. »Und wir können weitere Vorräte aus Camelot schicken lassen. Das ist nur eine Frage der Nachschublinien.« Artus schritt zum Fenster und blickte zum Garten hinaus, der winterlich tot unter ihm lag. »Sie haben jeden Happen Essen in die Stadt gebracht. Sie hatten zur Vorbereitung so viel Zeit wie wir.« Er wand 192
te sich an Gawain, und ein zorniger Funke glomm in seinen Augen. »In diesem Krieg der Lagerbücher sind wir offenbar schon jetzt ins Hintertreffen geraten.« »Ein Reiter kommt«, rief jemand von unten. Mit wortlosem Nicken drehten sich die beiden Männer um, stiegen die Treppe hinunter und traten durch die Vordertür hinaus. Der Reiter war ein junger Mann auf einem Pony. Die Staubwolke hinter ihm wies zur Stadt. Er trug das Blau und Weiß von Benwick, doch oben an seinem Speer war die weiße Parlamentärsflagge befestigt. Das Gesicht des Boten unter dem blonden Schopf war sehr ernst. Er hielt direkt auf die Gruppe der Ritter und Krieger zu. Hände wurden auf Schwertgriffe gelegt, als der junge Mann sein Pferd zügelte. Es bäumte sich kurz auf, beruhigte sich aber nach einem Zug an den Zügeln wieder.
Er legte eine Hand an den Mund. »Ich habe eine Botschaft für König Artus.« Gawain trat gemessen vor und sprach den Boten an. »Ich bin Sir Gawain und werde sie ihm übermitteln.« Der junge Mann griff unter seinen Wappenrock und holte ein Kästchen mit einer Schriftrolle hervor. Er warf sie Gawain zu, verneigte sich einmal im Sattel und sagte: »Man hat mir aufgetragen, die Antwort abzuwarten.« Gawain betrachtete das Kästchen. Es war mit getriebenem Metall verziert, und die beiden Hälften wurden mit dem Siegel von Benwick zusammengehalten. Er brachte die Schachtel zu Artus, der das Siegel brach und die Schriftrolle herauszog. Der Text lautete: An den König Artus von Camelot, Herr über ganz Britannien, meinen Freund und meinen Herrscher Von König Lancelot von Benwick und North Uist Seid gegrüßt! 193
Ich bin sehr traurig über die Ankunft Eurer Truppen auf meinem Gebiet, und ich wäre noch viel trauriger, wenn Ihr gegen meine Landsleute kämpfen würdet. Ich bitte Euch um Frieden. Lasst uns unsere Länder vereinen, auf dass beide in neuem Glanz erstrahlen. Zwischen uns ist schon genug Unheil geschehen. Jetzt soll die Versöhnung beginnen. Ich erwarte begierig Eure Antwort. König Lancelot Artus starrte den Brief lange an. Er fuhr mit den Fingern über die Buchstaben, als wollte er die Tinte prüfen. Schließlich schaute er auf. Unsicherheit flackerte in seinen Augen. »Es wäre gut, wenn wir uns versöhnen könnten«, sagte er schlicht. Gawain sah ihn böse an. »Der Mann hat Eure Frau.« Das Licht in Artus' Augen flammte zu feurigen Zwillingen auf. »Ich habe meine Frau am Pranger getötet, erinnerst du dich nicht? Für mich ist sie tot.« »Und für mich sind meine Brüder tot.« Die beiden Männer starrten einander an. Schließlich erstarb das Licht in Artus' Augen. »Ich warte auf Eure Antwort«, erinnerte sie der Bote. Artus senkte den Blick, und Gawain rief ihm die Antwort hinüber. »Sage Lancelot, dass wir erst innehalten werden, wenn er tot ist.« Er hob die Schriftrolle. »Und danke ihm für das Material zum Feuer machen.« Als der Frühling langsam vom Land Besitz ergriff, baten König Lancelot und Königin Guinevere ihre Ritter zu einem sehr seltsamen Festmahl. »Seht«, rief Lancelot und deutete mit rot gewandeten Armen hinüber zu einem Tisch, der mit prächtigem Essen beladen war: geröstetes Wildschwein, Fasan, Hummer, Roggen- und Weizenbrot, bauchige Weinflaschen und Bierfässchen. Auf der anderen Seite stand ein alter Wagen, auf dem ganz ähnliche Speisen aufgetürmt waren. Lancelot 193
betrachtete die Köstlichkeiten und wandte sich an seine verwirrten Ritter. Er strahlte. »Dieses Festessen werden wir mit unseren Feinden teilen. Ich schicke ihnen eine Kostprobe von allem und dazu den folgenden Brief: An den König Artus von Camelot, Herr über ganz Britannien, meinen Freund und meinen Herrscher Von König Lancelot von Benwick und North Uist
Seid gegrüßt! Viele Male habt Ihr schon meine Friedensangebote verschmäht. Ich weiß auch, dass das Weinfass, das ich Euch schickte, zerstört und das Schwein geprügelt wurde, bis es davonlief. Ich weiß, dass Ihr wenig von diesen Gaben haltet. Heute Abend will ich Euch jedoch zu einem Fest einladen. Mein Hof wird genau das essen, was auch Ihr hier bekommt. Ich kann Euch versichern, dass nichts vergiftet und alles von bester Qualität ist. Ich bitte Euch nur darum, Euch freundlich an die Tage zu erinnern, ah wir zusammen in der Tafelrunde gespeist haben, während Ihr esst. Euer ergebener Diener König Lancelot Niemand wagte es, sich zu rühren. Es war ein Krieg, ein Belagerungskrieg, und ein einziges Festessen auszurichten war schon übertrieben. Gleich zwei zu arrangieren und dazu noch eines für den Feind war einfach lächerlich. Sir Lionel ergriff als Erster das Wort. »Weißt du, was als Nächstes passieren wird, mein Vetter? Weißt du, was mit all dem Essen geschehen wird?« Lancelot legte den Kopf schief. »Ich habe eine recht genaue Vorstellung. Der Wagen wird in das dunkle Lager rollen. Krieger, schlank wie Kojoten im Winter, werden aufstehen und ihm wie mit einem 194
Führstrick folgen, weil ihre Nase sie anzieht. Der Fahrer wird den Wagen vor König Artus' Quartier anhalten, und jemand wird die Botschaft ins Haus übermitteln. Heraus kommt Artus, die Schriftrolle in den zitternden Fingern haltend, mit funkelnden Augen. Hinter ihm kommt Gawain, der kein Wort sagen, sondern die Schultern gegen den Wagen stemmen und ihn umwerfen wird.« Lancelot führte mit seiner eigenen Schulter vor, wie er es sich vorstellte, und deutete mit Gesten einen beeindruckenden Tumult an. »Danach wird er sich eine Weile auslassen. Wollte nur deutlich machen ... Feiglinge verstecken sich hinter Geschenken ... werdet Ihr mir morgen dafür danken .. .< Und gleichzeitig wird er damit beschäftigt sein, nach den Köpfen von Rittern zu treten, die herbeieilen, um etwas aufzuklauben.« Als er geendet hatte, lachten die Ritter, und die Gesellschaft strebte eifrig zu den vorgesehenen Sitzplätzen. Lancelot winkte den Dienern, den Wagen fortzubringen und die Pferde anzuschirren. »Eine sehr amüsante Taktik«, gab Sir Lionel zu, als er sich vor den dampfenden Wildschweinbraten setzte. »Aber ist es nicht dumm, das Essen zu verschwenden? Das Wertvollste, was eine Stadt unter Belagerung überhaupt besitzt?« Lancelot blickte zu Guinevere. »Oh, dieses Essen ist nicht verschwendet. Sobald der Wagen umgekippt und die Ladung zerstört ist, wird das Lager doppelt so hungrig sein wie zuvor.« »Und wenn sie es nicht vernichten? Was ist, wenn sie es essen?« »Dann haben wir gewonnen. Denn dann haben sie mit uns gefeiert.« Aus dem Frühling wurde Sommer. Natürlich speiste König Artus nicht mit König Lancelot. Das Belagerungsheer hatte die schlimmsten und entbehrungsreichsten Monate überstanden. Bald konnte es wieder von dem leben, was das Land hergab. Lancelot und Guinevere kannten jedoch andere Felder, die sie abernten konnten. Sie stiegen eine dunkle Wendeltreppe hinunter. Nur die Laterne, die Lancelot trug, beleuchtete ein Stück weit das steinerne Loch. Der 194
schwache Schein reichte nicht bis unten. Sie befanden sich unterhalb der Kerker und unter den Fundamenten. Dieser einsame dunkle Schacht war die stärkste Waffe, die Benwick gegen die Belagerung ins Feld fuhren konnte. Ein reiner Brunnen, der vom Feind nicht erreicht werden konnte, bedeutete, dass die Stadt nie an Wassermangel leiden würde. Doch die Erbauer des Schlosses hätten sich nicht träumen lassen, dass der Brunnen eines Tages noch einem ganz anderen Zweck dienen sollte. Endlich erreichten sie den Grund. Ein steinerner Gang war rings um eine weite schwarze Wasserfläche gebaut worden. Tiefe Strömungen wellten leicht die Oberfläche. Lancelot setzte die Laterne auf die Treppe. Er zog die königlichen Gewänder aus und legte sie zur Seite. Er wollte im Wasser nicht behindert sein. Guinevere folgte seinem Beispiel. Sie entkleideten sich bis auf die samtene Unterwäsche. Lancelot lächelte. Er streckte die Hand aus und berührte ihr Kinn, und auch Guinevere lächelte. Sie hatten es nicht so geplant, doch die ursprüngliche Kraft des Wassers, die tiefe, stille Dunkelheit und die unverstellte Schönheit der menschlichen Körper übten eine eigenartige Faszination aus. Inmitten ihrer Vereinigung wanderten Lancelot und Guinevere oft spontan ins Feenreich. Dies war ein Schnittpunkt zwischen Körper und Seele, zwischen Feenwelt und Menschenwelt. Es lag nahe, dass sie an diesem Ort die alten Riten vollzogen. Einander umarmend sprangen sie ins Dunkel. Der kalte Puls der Erde erfasste sie und riss sie hinab. Das Licht der Laterne blieb hinter ihnen zurück. Dann, als das beharrliche Drängen des Wassers verschwunden war, gab es nur noch sie beide. Das war genug. Im Schloss Dalachlyth tauchten sie zwischen umgekippten Kalksteinsäulen und turmhohen Bäumen wieder auf. Sie waren seit Beginn der Belagerung unzählige Male hierher gekommen und hatten Trost bei ihrem Volk gesucht. Dieses Mal aber wollten sie mehr als Trost bekommen. Immer noch umschlungen, erhoben sich der König und die Königin der Feenwelt nicht einmal, um ihr Volk zu begrüßen. Zwischen 195
Klee und schimmernden Teichen blieben sie Arm in Arm liegen. Dies war ihr Königshof. Das Volk wartete ihnen von hängenden Ranken und nickenden Blättern aus auf. Selbst die Luft war voller Geister, die schweigend auf ihre Befehle warteten. »Es ist Mittsommer, ihr lieben Leute«, sprach Guinevere gelassen. Ihre Stimme trug durch den ganzen Palast und erreichte jedes aufmerksame Ohr. »Eine Jahreszeit, in der man feiern sollte.« »Erhebt euch in dieser Nacht in den Ländereien um Benwick«, fuhr Lancelot fort. »Treibt euren Schabernack mit allen, die ihr dort findet.« Guinevere lachte leise. »Sollen die Schnürsenkel verknotet sein.« »Sollen Weinschläuche geleert werden.« »Sollen Pferde freigelassen werden.« »Sollen junge Männer den Visionen von jungen Mädchen folgen.« »Sollen alte Männer ihre erzürnten Frauen sehen.« »Verwirrung soll herrschen in den Reihen von Camelot.« Schon strömte das Feenvolk nach oben und entfernte sich von den Herrschern. Die Luft pulsierte vor Lachen. Unzählige Stimmen sagten nur: »Wie Ihr es wünscht.« Es war eine erbärmliche Nacht. Schreie und Rufe in allen Quartieren. Männer jagten Phantome. Sie torkelten unter dem gleißenden Mond. Pferde brachen aus Koppeln aus und
rasten wer weiß wohin. Stöcke sprangen hoch und zischten, als hätten sie sich in Schlangen verwandelt. Schläfer wachten unversehens in Baumwipfeln auf. Wächter schlugen sich selbst bewusstlos, weil sie von unsichtbaren Insekten angegriffen wurden. Von Mondaufgang bis Monduntergang herrschte der Irrsinn. Als die Morgensonne endlich Seelenfrieden verhieß, war Gawain noch lange nicht bereit, sich dem Frieden hinzugeben. Er kämpfte sich aus dem Bettzeug, das sich irgendwie um seine Füße geknotet hatte, zog das Nachtzeug aus, das sich in ein Frauennachthemd verwandelt hatte, streifte ein Hemd über, das verdächtig nach Käse roch, und sammelte aus den Ecken des Raumes, wo sie die ganze Nacht getanzt hatten, die Einzelteile seiner Rüstung zusammen. Natürlich musste er auch die Schnürsenkel seiner Stiefel durchschneiden und 196
neu schnüren, bevor er sie anziehen konnte. Er fand sein Schwert, das in einem stinkenden Aal steckte, reinigte es und verwahrte es am Schwertgurt. Zwei Stunden brauchte er, um ein brauchbares Pferd und einen benutzbaren Sattel zu finden. Doch der Morgen war noch lange nicht zu Ende. Er band eine Parlamentärsflagge an die Spitze einer Lanze, stellte sie in den Köcher und ritt nach Benwick. Sechs Monate lang waren die Belagerer nicht auf Bogenschussweite an die Stadt herangekommen. Beinahe wünschte Gawain, sie sollten auf ihn schießen. Das sähe den Feiglingen ähnlich. Es war seltsam, wie schnell das Land unter den Pferdehufen dahinflog. Sie hatten so lange die feindliche Festung angestarrt, dass sie größer schien, als sie tatsächlich war. Gawain ritt bis fast in den Schatten der Stadtmauern. Er hatte eine Ausfallpforte bemerkt, zu der er seine Beute vielleicht locken konnte. Von dort aus rief er hinauf. »Ich will mit König Lancelot und mit den so genannten Rittern sprechen, die zu ihm übergelaufen sind.« Der Mann auf der Mauer dachte lange, lange nach. »Euer Tonfall klingt mir nicht so, als brächtet Ihr den Frieden.« »Allerdings«, brüllte Gawain. »Ich will auch nicht den Frieden bringen. Ich will den Krieg bringen. In den letzten sechs Monaten haben wir gelernt, dass König Lancelot recht geschickt darin ist, einfach nur herumzusitzen. Geschickter sogar noch als König Artus. Wenn es aber ums Kämpfen geht, dann lässt er seine Kobolde, seine Untertanen aus dem kleinen Volk, die ganze Arbeit tun. Wo sind denn sein Mut und seine Ehre? Dieser Mann hat kaltblütig meine Brüder getötet - meine unbewaffneten Brüder. Er hat die Gemahlin des Königs verschleppt und die Herzen seiner Kameraden korrumpiert und ist mit ihnen allen geflohen, um sich bei den Feen zu verstecken. Ich will keinen Frieden mit diesem Mann. Ich will Krieg!« »Das sind seltsame Worte für einen Unterhändler«, sagte der Wächter auf der Mauer trocken. Gawain stellte sich in den Steigbügeln auf, legte die Hände vor den Mund und rief laut genug, dass ganz Benwick es hören konnte: »Bringt meine Botschaft zu König Lancelot und seinen so genannten Rittern. 196
Ist einer von ihnen Manns genug, heute Morgen herauszureiten und mit mir im Turnier zu kämpfen? Ich werde mit Freuden jeden Einzelnen seiner so genannten Ritter besiegen, um das Recht zu erstreiten, am Ende auch ihn zu besiegen. Und wenn ich siege, dann werde ich ihn töten.« Gawains Gesicht war puterrot, als er sich wieder setzte. Er hielt mit
schwitzender Hand die Lanze fest - die unbemalte Eichenlanze des Longinus, die nie ihr Ziel verfehlte. »Sagt ihm das.« »Nicht nötig«, ließ sich eine neue Stimme vernehmen. Gawain drehte sich um und sah Lancelot selbst auf der Mauer stehen. »Er hat es gehört.« 197
31. Schlimme Neuigkeiten Der Morgen dämmerte rot über dem Kanal. Es schien, als wären Benwick und Britannien nicht durch Wasser, sondern durch Blut voneinander getrennt. Auf diesen blutigen Fluten mühte sich ein kleines Schiff. Das einsame Lateinersegel knatterte wütend im böigen Wind. Der Bug stieß durch die Wellen. Das Wasser, das über das Dollbord schwappte, wurde sogleich mit dem Eimer wieder ins Meer befördert. Ein einzelner Mann bildete die gesamte Besatzung des Bootes. Er ließ den Eimer in der Bilge stehen und überprüfte das festgezurrte Segel. Als Nächstes zog er die Seile nach und kehrte zum Ruder zurück. Dann klemmte er einen anderen Klotz daneben und kletterte wieder zu seinem Eimer in die Bilge. Manchmal sah er auf seinen Runden auch voller Sehnsucht zu den Rudern, die an einer Seite festgesteckt waren, als wünschte er, er könne mit schierer Muskelkraft das Boot übers Wasser treiben. Sein grober Rock und die Hose waren nass vor Schweiß und Gischt. Auf der Stirn hatte sich eine Salzkruste gebildet. Auf den Armen und Beinen hatte er viele Schnitte. Ein langer rostroter Streifen lief von der Schulter bis zur Hüfte quer über den Rücken seines Hemdes. Bald konnte er die Kleidung ablegen. Im hohen Heck lag seine zusammengefaltete Montur - die Rüstung und die Waffen eines Ritters der Tafelrunde. Er war Sir Ronwyn, einer der neuen Ritter und erst kurz vor Beginn der Belagerung von Benwick in den Kreis aufgenommen. Die Kennzeichen seiner Stellung waren ihm natürlich heilig, aber dies war nichts im Vergleich zu dem versiegelten Kästchen mit der Schriftrolle, das unter ihnen lag. Ronwyn war unter Androhung der Todesstrafe darauf vereidigt worden, die Botschaft bei Sir Mordred abzuliefern. 197
Britannien war nahe. Endlich näherte er sich seinem Ziel. Das Land war den ganzen Morgen über von einem grauen Streifen zu einem braunen herangewachsen. Jetzt arbeitete das Sonnenlicht sogar ein Relief heraus. Links erhob sich der natürliche Steinbogen, den man Turtle's Door nannte. Rechts lag eine geschützte Bucht, die Conroy Bay hieß. An diesem Morgen wimmelte es hier vor Fischern. Einige fuhren hinaus, während andere schon wieder einliefen. Ronwyns Boot neigte sich, als es die Einfahrt der Bucht erreichte und in ruhigeres Wasser kam. Er kehrte zum Segel zurück und ließ etwas Leine aus. Das Segel erschlaffte ein wenig, und das Boot verlor einen Teil seiner halsbrecherischen Fahrt. Ronwyn legte die Leine fest und trimmte das Ruder. Er fuhr jetzt zwischen Fischerbooten. Die Männer warfen großmaschige Netze aus, die an Schwimmkörpern hingen. Näher zum Strand hin sah er geankerte Boote. Dort zogen Männer Hummerreusen herauf. Ronwyn ließ das Segel weiter erschlaffen. Das Boot hatte noch genug Schwung und trieb langsam zur Pier. Zuerst legte er die Heckleine fest, um den Bug vom Wind gegen die Anlegestelle drücken zu lassen. Kaum dass die Leinen festgezurrt waren, riss Ronwyn sich auch schon die blutigen, nassen Sachen vom Leib und warf sie aufs Deck. Bass erstaunt starrten ihn die Fischer an. Mit
ernster Miene legte er seine Ritterkleidung an, die Rüstung und die Farben, und gürtete sein Schwert. Die neugierigen Augen wurden mit jedem Gegenstand, den er hinzufügte, größer. Von einem zerlumpten Seemann hatte er sich in einen kämpferischen Ritter verwandelt. Als Letztes nahm Ronwyn das versiegelte Kästchen an sich und hielt es vor der Brust fest. So trat er auf die Pier. »Ein Pferd«, verlangte er mit einer Stimme, die noch heiser von der See war. Er schritt zum Land, wo zwei Männer einen Wagen mit Fisch beluden. »Ein Pferd!«, rief er noch einmal lauter. Die beiden Männer antworteten nicht, sondern starrten ihn nur dumm an. »Im Namen von König Artus verlange ich euer Pferd«, sagte Ronwyn. 198
Der ältere der beiden — ein graubärtiger, kräftiger Mann —, sagte: »Ihr könnt unser Pferd nicht nehmen. Wir besitzen kein anderes, und wir haben keine andere Möglichkeit, den Wagen zu ziehen.« »Ich muss bei Androhung der Todesstrafe eine dringende Botschaft an Sir Mordred überbringen.« Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich breitbeinig auf. »Sucht Euch ein anderes Pferd.« Ohne das Kästchen von der Brust zu nehmen, zog Ronwyn das Schwert und schlug zu. Der erste Schlag durchtrennte den Hals des Mannes bis auf den Knochen und ließ das Blut herausspritzen. Der zweite Schlag riss dem anderen Mann den Bauch auf. Keiner der Schläge war besonders gut gezielt, doch beide waren tödlich. Es brauchte noch vier oder fünf weitere Hiebe, um das Pferd aus dem Geschirr zu bekommen. Mit einem beinahe rachsüchtigen Gefühl riss Ronwyn die Leinen herunter, bis nur noch die Zügel da waren. Er packte sie und schwang sich auf den bloßen Pferderücken. Unter den Blicken der gaffenden Fischer ritt der junge Ritter gen Camelot. »Seht nur, edle Gäste«, rief Sir Mordred, als er einen Kelch aus geschliffenem Kristall hob, in dem blutroter Wein schwappte. »Der Überfluss Britanniens.« Überall an der großen Tafel wurden ähnliche Pokale von adligen Händen gehoben. Die Gäste tranken. Es war der beste Jahrgang aus dem Weinkeller seines Vaters, der jetzt auf den Zungen der wichtigsten Adligen perlte, sie erfreute und löste. »So feiert nun, ihr alle, diese dritte Nacht des Mittsommers. Eine neue Jahreszeit beginnt im Land - eine Jahreszeit der Freude und des Überflusses!« Mordreds Ruf hallte zwischen den Deckenbalken und wehte zwischen den Bannern durch den Raum. »Freude und Überfluss!«, wiederholten die Gäste. Sir Mordred ließ sich auf dem doppelt breiten Sitz nieder, der einst Guinevere und Artus gehört hatte. Er kam sich keineswegs klein vor auf diesem großen Thron. Mordred schwebte im siebten Himmel. Im Namen seines Vaters, der unterwegs war, um Lancelot in 198
Benwick zu bekämpfen, hatte Mordred alle großen Herzöge des Landes und alle kleinen Könige zur Mittsommernachtsfeier nach Camelot eingeladen. Fast alle waren gekommen. Es gab keine Turniere, die Zuschauer anlocken konnten, denn die Krieger waren fort. Dafür gab es reichlich einsame Frauen, doch Mordred wusste, dass auch dies keine ausreichende Verlockung war. Die Herzöge und Könige waren vor allem gekommen, weil das Land in Aufruhr war. Sie waren gekommen, weil sie fürchteten, alles zu verlieren, was sie besaßen, oder weil sie hofften, noch mehr zu gewinnen. Mordred zögerte keine
Sekunde, sein besonderes Talent einzusetzen und jedem das zu versprechen, was er am liebsten hören wollte. Der Wein hatte schon von Natur aus die Fähigkeit, Feinde zu Freunden zu machen und den Herrschenden die Sorgen zu nehmen. Mordred hatte diesen Zauber noch mit einem Zusatz verstärkt, der die Gefühle stärkte und die Vernunft einschläferte. Mit derlei Tränken hatte er seine Leute drei Tage lang bewirtet, bis er sicher war, dass er sie in der Tasche hatte. Jeden Einzelnen von ihnen. Als der Eintopf aufgetischt wurde, erhob Mordred sich von seinem Sitz und wandte sich an die Gesellschaft. Die Gesichter wurden vom Essen abgewandt, und aller Augen ruhten auf ihm. »Alles, was euch umgibt, meine Freunde — die Wandbehänge aus Babylon, die mit Gold verzierten Stuckdecken, die Kamine aus Marmor, die Samtvorhänge - all die Pracht Camelots wurde uns aus dem blühenden Wohlstand Britanniens geschenkt. Ihr alle, jeder von euch, hat geholfen, diese Stadt so prächtig zu machen, wie sie heute ist.« Höflicher Applaus war die Antwort auf diese Bemerkungen, doch Mordred war noch lange nicht fertig. »Es wird Zeit, dass diese Stadt die erwiesenen Wohltaten zurückzahlt. Es wird Zeit, dass Camelot nun seinerseits das Land verschönt. Möge der Reichtum Britanniens, der hier in Camelot zusammengefügt wurde, wieder hinausfließen, um das Land zu bereichern, das ihn hervorgebracht hat.« Die freudige Reaktion auf diese Worte kam von Herzen. Die Leute hatten solche Versprechungen in den letzten drei Tagen schon unzählige Male gehört und jede Einzelne davon begierig aufgesogen. 199
»Wenn mein Vater siegreich von Benwick zurückgekehrt ist, werde ich mich mit ganzer Kraft bei ihm für euch verwenden. Ich werde nicht ruhen, bis er einen großen Teil der jährlichen Steuern an eure Königreiche und Herzogtümer zurückfließen lässt, damit auch ihr Vorhänge aus Babylon und mit Gold verzierte Decken bekommen könnt.« Daraufhin bekam er mehr als eine bloße Ovation. Es war ein irrwitziger, sprachloser Ausbruch von Freude, der die Deckenbalken beben ließ. Der Lärm wurde lauter und lauter und hätte noch weiter zugenommen, wären nicht in diesem Moment die riesigen Türen knarrend nach innen aufgestoßen worden. Die Gäste drehten sich um, die lachenden Gesichter halb erstarrt. Sie waren daran gewöhnt, von ihrem Gastgeber dramatische Überraschungen aufgetischt zu bekommen, doch niemand hätte mit dem gerechnet, was sie nun zu sehen bekamen. Ein Ritter zu Pferd nahte durch die offene Tür. Als er den Lichthof der Lüster erreichte, wurde deutlich, dass er über und über mit Schmutz bedeckt war. Er kauerte auf dem nackten Rücken des Reittiers, und seine Hände waren von Blut besudelt, weil er sich die Haut an den roh abgeschnittenen Zügeln wund gerieben hatte. Das Pferd war keineswegs ein Streitross, sondern ein Wagengaul, der eher an die Arbeit auf dem Bauernhof gewöhnt war. Wo ein hölzernes Kästchen hing, war der Schenkel des Tiers wund gerieben. Der Ritter hielt an, und der Geruch von Schweiß und Sorge breitete sich wie eine Wolke um ihn aus. Die Erregung der Adligen wich blanker Abscheu und einer nicht eben geringen Furcht. Wachsbleich stand Mordred auf. »Was hat das zu bedeuten?«
Der Ritter schien zu erschrecken, als er die Stimme vernahm. Er verneigte sich auf dem Pferderücken. »Verzeiht mir, großer Mordred. Ich bin Sir Ronwyn, zuletzt zur Belagerung von Benwick eingeteilt. Den Tod missachtend, bin ich mit höchster Geschwindigkeit hierher gereist, um Euch Neuigkeiten von der Schlacht zu bringen.« »Neuigkeiten!«, wiederholte Mordred aufgeregt. »Nun, dann lasst sie uns hören.« Der Ritter griff zur Holzkiste auf dem Schenkel des Pferds, band sie 200
los und stieg ab. Seine Beine waren steif und zitterten, als wäre er den ganzen Tag geritten. Ronwyn knirschte mit den Zähnen und trug die Kiste vor sich her. Als er Mordreds Platz an der Tafel erreicht hatte, nahm er von einer Kette am Hals einen Schlüssel und öffnete die Kiste. Drinnen lag eine versiegelte Hülse mit einer Schriftrolle. Mordred beugte sich andächtig vor und nahm die Hülse heraus. Er betrachtete sie sorgfältig und untersuchte auch das Wachssiegel. »Das ist Gawains Siegel, und es ist intakt«, bestätigte er leise. Er brach das Wachs, öffnete die Hülse, nahm die Schriftrolle heraus und rollte sie auf. Dann holte er tief Luft und las laut: An Prinz Mordred, derzeit Souverän von Britannien und wahrer Sohn des Königs Artus Von Sir Gawain, Kommandant bei der Belagerung von Benwick Seid gegrüßt! Mein Herz zerbricht fast, und nicht nur wegen des bösen Schlages, der mir zugefügt wurde, sondern auch wegen der noch schlimmeren Neuigkeiten, die ich zu berichten habe. Sichtlich ernüchtert schaute Mordred auf. Er betrachtete die Gesichter in der Runde und bat still um Erlaubnis, den Rest leise für sich zu lesen. Ernste Blicke hießen ihn laut fortfahren. Am Morgen des Mittsommers wünschte ich den Belagerungszustand endlich zu einem Abschluss zu bringen und ritt bis vor die Mauern von Benwick. Dort schlug ich Lancelot und seinen verräterischen Rittern einen Wettkampf vor. Über die Belagerung sollte noch am gleichen Tag im Turnier entschieden werden. Als Streiter für die Sache König Artus' wollte ich mich allen Rittern stellen, die mich herausforderten, und ich wollte sie alle niedermachen, bis nur noch Lancelot übrig bliebe. Dann wollte ich auch ihn unterwerfen, den König von 200
Benwick, und hierauf sollte sein Gebiet wieder an König Artus und Camelot fallen. Falls er mich aber unterwerfen sollte — den Streiter von König Artus — dann sollte die Belagerung aufgehoben werden, und wir wollten als Geschlagene heimkehren. So wurde es verabredet, und den ganzen Morgen über nahmen meine Kräfte sogar noch zu, und ich stellte mich einem Ritter nach dem anderen und warf sie alle nieder. Ich führte die heilige Lanze des Longinus, die nie ihr Ziel verfehlt. Endlich war von Lancelots Rittern keiner mehr übrig, der mich fordern konnte, und er kam selbst herunter, um sich dem Kampf zu stellen. Er wusste, dass er mich nicht schlagen konnte, solange ich die Lanze des Longinus trug, und deshalb ersann er einen bösen Trick. Als wir aufeinander losritten, die Lanzen ausgerichtet, schoss ein Bogenschütze von der Mauer einen Pfeil ab, der den Hals meines Pferdes durchbohrte und es taumeln und schließlich stürzen ließ. Erschrockenes Stöhnen war in der lauschenden Menge zu hören. Mordred brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen, um ja keines der folgenden Worte untergehen zu lassen. Die Lanze des Longinus fuhr in die schlammige Erde und wurde mir aus der Hand gerissen. Noch während ich stürzte, ritt Lancelot an mir vorbei und rammte mir seine eigene Lanze in die Seite.
Jemand klagte herzerweichend. Männer fassten sich entsetzt an die Seiten. Ich starb in diesem Augenblick, auch wenn es noch Stunden dauern wird, bis die Vergiftung meiner Eingeweide mich dahinraffen wird. Meine Innereien quellen aus den Löchern im Bauch und im Rücken. Ich liege hier und diktiere dem jungen Sir Ronwyn diese Worte. Er hat geschworen, sie in größter Eile an Euch zu übermitteln oder bei dem Versuch zu sterben. 201
Mit wachsender Achtung besahen die Adligen Sir Ronwyn, der keuchend vor Mordred in einer Haltung kniete, die seine Erschöpfung deutlich verriet. Ich wollte, diese schmerzliche Geschichte wäre mit meinem eigenen Tod zu Ende, doch Lancelots Bosheit machte hier nicht Halt. Als ich mich auf dem zertrampelten Boden wand, kehrte er zurück, um sich an meiner Not zu weiden. Er hob die Lanze des Longinus, die er nur zur Verteidigung König Artus' zu führen versprochen hatte. Wie ein tollwütiger Wolf heulte er seinen Triumph hinaus. Sein Wolfspack — die ehrlosen Ritter, die zu ihm übergelaufen waren — stimmten auf den Mauern in sein Geheul ein. Ganz Benwick johlte über den Triumph des Bösen. Dann aber ritt aus unseren Reihen eine königliche Gestalt herbei. Es war König Artus höchstselbst. Er saß auf einem weißen Hengst und trug nicht nur seine königlichen Gewänder, sondern auch seine Rüstung. Eben jene, die er getragen hatte, als er ganz Britannien erobert hatte. Auf dem Rücken trug er Excalibur in Rhiannon, und seine Augen blitzten hell. Oh, er bot einen prächtigen Anblick. Ich danke Gott, dass ich lange genug lebte, um ihn zu sehen und zu hören, was er nun zu sagen hatte. »Lancelot, du kriechender Wurm, du hast die Frau deines Königs gestohlen, du hast seine Ritter gestohlen, und du hast sein ganzes Land gestohlen. Wie kannst du es wagen, in deiner Verderbtheit zu frohlocken? Du hast noch nicht den Sieg errungen. Du hast den Streiter König Artus' bezwungen, doch nicht König Artus selbst. Nun lege die Lanze des Longinus weg, da du geschworen hast, sie immer nur im Kampf für mich zu führen. Lass uns gerecht kämpfen. Einer von uns möge den anderen töten, und dann sei es überstanden.« Stolz erfüllte die Gesichter der Zuhörer. Es war, als hätten sie selbst das strahlende Antlitz des Königs gesehen. 201
Doch Lancelot war ganz der alte Feigling und sagte: »Ich werde die Lanze beiseite legen, wenn du Excalibur und Rhiannon ablegst.« Unser König hatte keinen Grund, sie zur Seite zu legen, weil er diese Waffen rechtmäßig führte; schließlich waren sie ihm von Merlin und der Herrin der Nebel gegeben worden. Er weigerte sich. Lancelot sagte: »Dann wollen wir mit diesen übermächtigen Waffen kämpfen und sehen, wer gewinnt.« König Artus stimmte zu. Zwar musste die Lanze des Longinus wie immer ihr Ziel treffen und ihn aus dem Sattel schleudern, doch die Scheide Rhiannon würde nicht zulassen, dass sein Blut vergossen wurde. Artus würde durchbohrt, aber nicht getötet werden, und sobald die beiden Männer zu Fuß kämpf en, konnte der König den Rebellen mit Excalibur erschlagen. So ritten die beiden Männer in entgegengesetzte Richtungen und bereiteten sich auf den Kampf vor. Mordred schaute auf und leckte sich die Lippen. Die Schriftrolle zitterte in seinen Händen. Rings um ihn starrten die Edelleute ihn an, und ihre Gesichter waren weiß wie Papier. König Artus gab seinem Pferd die Sporen. Es sprang los und galoppierte. Sir Lancelot trieb sein Pferd an, und es lief los. In der Stadt wie im Belagerungsheer war nicht einmal ein Tuscheln zu hören. Das Donnern der Hufe erschütterte alle Herzen. Lanzen wurden ausgerichtet, Schilde gehoben. Unser König ritt, wie er gegen Lot von Lothian und gegen Alle von Sussex geritten war. Seine Lanze traf verfing sich in Lancelots Schild, schlug Funken und rammte gegen seine Schulter. Lancelots Lanze aber traf genauer, wie es ihrer göttlichen Herkunft entsprach. Er zielte nicht aufs Herz oder auf den Kopf des Königs, wie es ein echter Krieger getan hätte, sondern auf eine Stelle genau unterhalb und
etwas rechts der Kehle. Die Lanze traf und durchschlug die Rüstung. Sie durchdrang Haut und Muskeln. Sie zerquetschte die Rippen, durchschlug die Lunge und kam am Rücken unseres Königs 202
wieder heraus, wo sie das grässlichste Werk überhaupt vollbrachte. Dort traf sie die Scheide Rhiannon, die Lancelot vor allem mit diesem Stoß zerstören wollte, denn wenn er sie zerstört hatte, dann konnte er auch unseren König töten. Rhiannon zersprang, und Excalibur wurde zerstört, und der Stoß der Lanze ließ aus König Artus' Leib eine Fontäne von Blut aufschießen. Tränen standen jetzt in den Augen aller Zuhörer im Raum. Noch quollen sie nicht haltlos hervor, denn noch waren die letzten Worte nicht gesprochen. Ich habe von dort, wo ich lag, alles gesehen, von meinem blutigen Lager, wo Sir Ronwyn mich fand und barg. Ich sehe es noch jetzt vor mir, obwohl ich bereits auf dem Totenbett liege und dem jungen Ritter meine letzten Worte sage. So viel Blut ist geflossen, und unser König ist gestürzt wie eine leblose Puppe. Ich bin sicher, dass er schon tot war, noch bevor er auf den Boden schlug. Jetzt rannen die Tränen der Ritter haltlos, und sogar König Artus' Sohn musste weinen. König Artus von Camelot ist tot, und nie hätten wir ihn dringender gebraucht als heute. Als Artus und ich Seite an Seite lagen, führte Lancelot seine Ritter und sein Heer aus der Stadt. Sie überfielen uns und töteten viele und pressten die anderen in ihren Dienst. Wir sind geschlagen. Der Mörder, der König Artus tötete, befehligt jetzt die Reste seines Heeres und seiner Ritterschaft. Guinevere ist an seiner Seite, und er hat geschworen, über den Kanal zurückzukehren und Camelot selbst zu erobern. Er kommt, um euch zu vernichten, genau wie er uns vernichtet hat. Dies sind meine letzten Worte, Mordred: Haltet ihn auf. Nur Ihr könnt das Königreich Eures Vaters retten. 202
Mordred las die letzten Worte gebannt und mit leiser Stimme, als wünschte er, niemand sonst im Raum könne lauschen. Doch sie hörten es alle. Jeder Einzelne von ihnen. Die Mitternacht malte die Fenster der Kapelle schwarz. Kerzen spendeten das einzige Licht - tausende Kerzen in tausenden von Fäusten. Ganz Camelot war zur feierlichen Zeremonie angetreten. Dicht gedrängt standen die Menschen im Kirchenschiff, verrenkten die Hälse, starrten an den Säulen vorbei und flüsterten unter Tränen Gebete. Der Atem der Menschen stand drückend im Raum, und die dunklen Winde der Nacht brachten keine Linderung. Eine Glocke schlug die Stunde, und der Laut stach in die Herzen der Versammelten. Der klagende Ton schwand und erstarb, und dann kam der nächste schreckliche Schlag. Zwölf Schläge, und jeder sprach vom Untergang. Hinten in der Kapelle regte sich etwas. Irgendetwas war dort erschienen. Die Menschen drehten sich um, und die Kerzen folgten der Bewegung. Gold schimmerte dort. Auf einem Lager, das von sechs starken Männern getragen wurde, lag kein Leichnam, sondern das Abbild eines Leichnams. Der goldene Mantel war aus Lumpen zusammengenäht. Es war der Mantel König Artus'. Am Abend seiner Krönung hatte er ein goldenes Gewand getragen. Um sein zusammengewürfeltes Heer anzuspornen, hatte er den Mantel in Streifen gerissen und jedem Krieger ein Stück als Banner gegeben. Jahre später, nachdem ganz Britannien erobert war, hatte er die Streifen wieder eingesammelt, um einen neuen Mantel machen zu lassen. Dieser Mantel lag jetzt auf dem Lager und nahm den Platz des abwesenden Artus ein. Am Ärmel lag ein goldenes Zepter und am Kopf die Krone des Königs. Für eine Beerdigung braucht man einen Toten. Dies war die beste Nachbildung, die man in Camelot bewerkstelligen konnte.
Die dicht gedrängt stehenden Menschen teilten sich vor der Bahre. Unter Tränen sahen sie zu, wie sie vorbeigetragen wurde. Kerzen wurden gehoben, um dem schimmernden Mantel zusätzlichen Glanz zu verleihen. Mitten durch die Menschenmenge kamen die Überreste des Königs. Endlich erreichten sie den Altar. 203 Dort wartete schon Mordred. Er betrachtete die Symbole und neigte den Kopf. Die Kerze, die er trug, sonderte eine wächserne Träne ab, die auf den Mantel fiel. Dann hob er den Kopf, als hätte er neuen Mut geschöpft. »König Artus ist tot.« Die kummervoll gemurmelten Worte wurden in der Menge weitergetragen und verklangen. »König Artus ist tot, doch sein Königreich wird leben«, fuhr Mordred fort. Andächtig hob er den goldenen Mantel hoch und legte ihn sich über die Schultern. Mit ruhigen Fingern nahm er das goldene Zepter. Mit der anderen Hand hob er die Krone. Er setzte sie sich auf den Kopf und rief: »Heil König Mordred!« Die Menge gab eine ohrenbetäubende Antwort. »Heil dir, König Mordred!« Mordred schritt den Weg zurück, den die Bahre gekommen war. Das Volk teilte sich vor ihm. Als er vorbeischritt, fielen sie einer nach dem anderen auf die Knie und unterwarfen sich. Sie sanken nieder, und er schritt durch die Kapelle seinem Thron entgegen. Alle unterwarfen sich. 203
32. Verbündete Lancelot legte die Hand auf eine Zinne, die am Morgen noch kalt war, und setzte sich in die Schießscharte daneben. Er musste nachdenken. Unter ihm, direkt jenseits des tiefen Schattens unter der Mauer, hielt sich Gawain auf seinem stampfenden Streitross bereit. Der Untergang drohte. Gawain war ein vortrefflicher Krieger, und während die Sonne zum Zenit stieg, wartete er voller Ingrimm. Die wahre Gefahr jedoch lag in seiner Hand — die Lanze des Longinus, geschnitten aus einer Eiche, die älter war als Christus. Niemals verfehlte sie ihr Ziel. Wer an diesem Tag gegen Gawain antrat, wurde mindestens aus dem Sattel geworfen. Wer von Gawain getötet werden sollte, der musste sterben. »Was sagt Ihr nun, Ihr angeblicher König? Könnt Ihr Eure gestohlene Braut jetzt noch retten? Und Eure gestohlene Ritterschaft? Euer gestohlenes Land? Heute Morgen ruft Euch das Blut von Gaheris. Das Blut Gareths schreit aus meinen Adern nach Genugtuung. Kommt her, Lancelot, stellt Euch mir!« Lancelot griff nach dem bröseligen Stein. Er musste reagieren. Es war Selbstmord, gegen Gawain zu kämpfen, und Lancelots Tod wäre auch Guineveres Tod und das Ende Benwicks. Er schien dazu verdammt, den Menschen, die er liebte, den Tod zu bringen. Lancelot stand auf. Der Sand von der Mauer haftete noch an seinen Fingern. »Ihr sollt heute Eure Genugtuung bekommen, Sir Gawain«, rief er hinunter. »Eure Brüder waren große Männer und hätten einen besseren Tod verdient als jenen, den ich ihnen gab. Ihr seid ein großer Mann und verdient ein würdevolles Ende. Ich wünschte nur, ich müsste es Euch nicht schon heute bereiten.« Gawain lachte. Das Geräusch grollte tief in seinem Bauch wie ein 203
gefährlicher Husten. »Einer von uns wird heute ein schlimmes Ende nehmen, Lancelot. Ihr oder ich.«
»Kämpft gegen mich!«, rief eine neue Stimme. Lancelot starrte den Wehrgang hinunter. Sein Cousin Lionel kam mit wütenden Schritten herbei. »Ich werde gegen Euch kämpfen, Gawain.« Lancelot hielt ihn auf. »Lionel«, flüsterte er. »Hast du gesehen, welche Waffe er trägt?« »Oh, ich sehe, welche Waffe dieser Feigling trägt«, rief Lionel. »Deine Lanze trägt er, die dir von den Göttern selbst gegeben wurde. Er sollte deine eigene Lanze nicht im' Kampf gegen dich führen. Lass mich deshalb deine Lanze sein, mein König, und lass mich diesen Mann aus dem Sattel fegen.« »Das werde ich nicht zulassen«, knurrte Lancelot. Gawain lachte böse. »Er hat noch weniger Mut als du, Lionel. Oder er setzt wenig Vertrauen in dich. Ich nehme deine Herausforderung an. Komm herunter, Lionel, und zeig mir deinen Zahnstocher.« Die Schmähung tat ihre Wirkung. Lionel drehte sich auf der Stelle um und marschierte zur nächsten Treppe. Sein Pferd stand unten bereit. Lancelot - sein Vetter und sein König haderte mit Lionels silbernem Rücken, doch der Ritter hörte nur mehr seine eigene Wut in den Ohren rauschen. Er sprang auf sein wartendes Pferd und ritt mit klirrenden Hufeisen zur Ausfallpforte, die auf seinen Ruf hin geöffnet wurde. Lancelot sah wütend zu, wie die Wächter die schwere Winde drehten. Ein Steinblock, der zugleich als Tür und tödliche Falle diente, stieg langsam empor. Der Durchgang war gerade eben breit und hoch genug für einen einzelnen berittenen Kämpfer. Lionels Kniekappen scheuerten an den Wänden entlang, als er sein Pferd durch die Pforte trieb. Es scheute und wollte nicht unter den schweren Stein treten, doch Lionel drängte es weiter. Kaum hatte der peitschende Schwanz den engen Raum verlassen, da drehte sich die Winde schon wieder, und der Stein fiel mit einem lauten Knall herunter. Lancelot drehte sich um und sah über die Mauer aufs freie Feld, wo die beiden Feinde aufeinander treffen wollten. Gawain ließ sein Streitross zu einem Ende der Fläche traben. Das 204
Pferd drehte sich um und stieg. Gawain war doppelt so schwer wie Lionel, und sein Pferd entsprach seinen eigenen Maßen. Er war von selbstgerechtem Zorn erfüllt. Lionel auf der anderen Seite war geschmeidig und ruhig. Er war ein schmächtiger Mann, doch ein glücklicher Sohn Galliens. Die Hochrufe der Wächter auf der ganzen Mauer begleiteten ihn. Der Kampf zog sie an wie das Aas die Geier. Sie hockten sich hin und schielten über die Steine, um nach unten zu blicken. Mit morbider Neugierde sahen sie zu und stießen kehlige Schreie aus. Der bevorstehende Kampf lockte nicht nur Wächter an. Auf dem Pflaster drunten klapperten Hufe. Lancelot blickte hinunter und sah seine Ritter, zwanzig an der Zahl, mit vollen Farben und Lanzen aus-reiten, als wäre es ein ganz gewöhnliches Turnier. Sie banden die Pferde fest und stiegen auf die Brustwehr. Ihre Gesichter glühten, weil sie auf einen guten Kampf hofften. Lancelot war übel. Er drehte sich um und blickte zur Ebene. Es war lange trocken gewesen, und das Gras war noch bleich nach der Winterzeit. »Endlich eine Gelegenheit zu kämpfen«, sagte Sir Bors, der neben ihn getreten war. »Die Draufgänger konnten es wohl nicht mehr erwarten«, fügte Sir Hector hinzu. »Ich bin froh. Es geht mir nicht anders.« Bors starrte seinen Kameraden gelassen an. »Ich bin der Nächste.«
»Ja«, stimmte Sir Hector freundlich zu. »Ich bin der Erste, und du bist der Nächste.« Sie nahmen es als Spiel. Sie kämpften nicht einmal für Lancelot. Und alle waren sie dem Tode geweiht. Lancelot wollte seine Kameraden nicht sterben sehen, doch er wollte auch nicht einen weiteren Sohn Lots töten. Das Donnern der Hufe drunten riss ihn aus den Gedanken und unterband jeden weiteren Wortwechsel. Auf einmal existierte nichts anderes mehr außer den beiden Männern, die auf einer sommerlich trockenen Ebene aufeinander zu galoppierten. Staub wallte in bleichen Wolken unter den Hufen der Pferde auf. Die Reiter beugten sich begierig vor, die Schilde vors Herz gezogen und die Lanzen ausgerich 205
tet. Sie wirkten wie zwei junge Hirsche, die mit vorgestreckten Hörnern rauften. Das Hufetrommeln brach ab, als Lanzen krachend auf Schilde trafen. Lionels Lanze traf und zerbrach in tausend Stücke. Gawains Lanze - Lancelots Lanze - traf besser. Sie blieb an Lionels Schild hängen, riss ihn zurück und prallte gegen die Schulter und den Arm, die den Schild gehalten hatten. Knochen brachen. Lionel wurde aus dem Sattel geschleudert und stieß einen leisen Schrei aus, als er sich überschlug. Mit weißen Augen raste sein Pferd davon. Er blieb auf dem verletzten Arm im Staub liegen. Gawain ritt weiter. Er nahm das Tempo zurück und ließ sein Pferd traben, dann hob er die Lanze des Longinus und sandte seinen Siegesschrei zum Himmel. »Blut für Blut! Wer will sich mir als Nächster stellen?« Bors klatschte Hector die Rückseite seines Panzerhandschuhs vor die Brust. »Lass uns beide gehen. Du kannst Lionel helfen, und ich kämpfe. Wenn danach von Gawain noch etwas übrig ist, kannst du es haben.« Hector lächelte freundlich und nickte. »Gebt uns noch einen Augenblick Zeit«, rief er über die Mauer. »Wir haben reichlich Kräfte!« Sie drehten sich um und polterten die Treppe hinunter zu ihren Pferden. Als sie aufbrachen, riefen ihnen ihre Gefährten, die anderen Ritter, Ermunterungen nach. »Keine Sorge, wir sind direkt hinter euch.« - » Wärmt ihn für mich auf.« - »Pass auf, dass er dich nicht auf den Kopf schlägt, sonst geht seine Lanze kaputt.« Lancelot klangen jedoch nur Hectors Worte in den Ohren: Wir haben reichlich Kräfte. Tatsache war, dass es so viele gar nicht waren. Es waren seine Freunde und Kameraden. Er wollte sie nicht alle ins Grab schicken. Im Augenblick freilich schienen sie darauf zu brennen, sich selbst ins Grab zu befördern. Die Winde drunten begann zu arbeiten, und das Ausfalltor aus Stein öffnete sich wie die Pforte einer Gruft. Hinaus ritten Bors und Hector. Hochrufe von den Mauern begleiteten sie, als sie auf die Ebene donnerten. Bors winkte, als wollte er die Zuschauer bei einem Fest begrüßen. Er ließ sein Pferd tänzeln, um die Huldigung zu empfan 205
gen. Gawain baute sich unterdessen vor seinen eigenen Leuten auf, die knapp außerhalb der Bogenschussweite begierig warteten. Hector ritt zu Lionel, stieg ab und hob den Verletzten mit beiden Armen auf. Er legte Lionel auf sein Pferd und führte das Tier zurück zur Pforte. »Guinevere«, murmelte Lancelot bei sich. Er tippte dem nächsten Wächter auf die Schulter. »Lauf und hole Königin Guinevere und ihre Heiler.« Der junge Mann lächelte und deutete zur Ausfallpforte. »Sie ist schon dort. Auch Lancelot lächelte jetzt, doch es war kein fröhliches Lächeln.
Guinevere stand mit ihren weiß gewandeten Jüngerinnen bereit und wartete darauf, dass Hector mit Lionel zurückkehrte. Sie rang die Hände. Als spürte sie die Aufmerksamkeit ihres Gatten, blickte sie zu ihm herauf, deutete zur Pforte und rief: »Du gehst nicht dort hinaus.« Lancelot antwortete nicht, sondern wandte sich wortlos ab. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war Lancelot unsicher, wie er sich verhalten sollte. Es schien keine Rolle mehr zu spielen. Die ganze Welt rauschte an ihm vorbei und stürzte auch ohne sein Zutun in den Untergang. Auf der Ebene ritten die beiden Streiter zu den gegenüberliegenden Seiten des Platzes und stellten sich auf. Die Hochrufe von den Mauern und vom Feld erstarben, bevor der Kampf auf Leben und Tod begann. Jeder Hufschlag trug weit in der warmen Luft. Die Reiter machten kehrt und richteten die Pferde aus. Quer übers Feld sahen sie einander in die Augen. Sogar ihr Atem schien im gleichen Rhythmus zu gehen. Hacken pressten sich in die Flanken der Pferde. Die Tiere wieherten und galoppierten los. Sie flogen über den Grund, der von vorherigen Kämpfen schwarz aufgeworfen worden war, zu der Stelle, die durch Lionels Blut markiert wurde. Lancelots Knöchel wurden weiß, als er die Brüstung packte. Er knirschte mit den Zähnen. Die Rösser näherten sich einander. Die Hufe klangen wie pochende Herzen. Lanzen wurden ausgerichtet. Die Männer prallten aufeinander. 206
Bors' Waffe traf nicht einmal ihr Ziel. Sie war einen Fuß zu kurz. Gawains Lanze zerstörte den inneren Rand von Bors' Schild. Die Eichenspitze rutschte nach innen, schlug auf den Brustpanzer und fand einen Ansatzpunkt. Sie verbeulte den Stahl und zermalmte das Fleisch wie eine Keule. Rippen brachen in tausend Stücke. Was wie Bors' Schrei klang, war ein Geräusch, das von der Lanze selbst kam. Einen Augenblick hing er noch daran, dann rannte das Pferd unter ihm fort, und er stürzte zu Boden. Gawain ritt weiter, befreite die Lanze des Longinus und hob sie hoch. Die Zuschauer auf seiner Seite jubelten, und in den Jubel mischten sich wütende Schreie. Bors, der im Staub lag, schnappte nach Luft wie ein gestrandeter Fisch. Er presste die Hände mit den Panzerhandschuhen auf den eingedrückten Brustpanzer. Metall kratzte über Metall. Er warf die Handschuhe fort, löste eilig die Bänder und riss den Brustharnisch ab. Es schien, als könnte er nun leichter atmen, doch dann drang Blut durch sein weißes Hemd. »Holt ihn«, rief Lancelot. »Hector, bringe ihn herein!« Der Ritter hatte Lionel bei Guinevere abgeliefert und war schon aufs Feld zurückgekehrt, weil er hoffte, als Nächster kämpfen zu können. Doch nun ritt er geradewegs zu seinem gefallenen Kameraden. Lancelot ballte die Hände zu Fäusten, dass der Staub zwischen den Fingern knirschte. Er schleuderte ihn wütend ab und fuhr den Wächter neben sich an. »Hol Rasa. Und hol meine Lanze. Hole den Helm und die Handschuhe. Alles, was ich brauche. Du hast fünf Minuten.« »Ja, mein König«, sagte der Wächter mit aufgerissenen Augen. Er rannte fort. Lancelot ging zur Treppe. Er spürte Guineveres Blick auf sich ruhen. Ihre Augen flehten ihn an, doch er ließ sich nicht beirren. Er sah zu Lionel, dessen Arm gerade geschient wurde. Priesterinnen beugten sich über ihn und sangen Lieder, um die Wunden zu heilen. Lionel schlummerte in der Verzückung des Kriegers, er gab sich dem Fieber des ge-
schundenen Körpers hin und war von so großen Schmerzen gezeichnet, dass sie fast schon lustvoll schienen, während weiß gewandete Schön 207
heiten sich um ihn kümmerten. Lancelot wurde beinahe übel. Dieses Losrennen mit gesenktem Geweih und die Brunftschreie danach - das konnte doch nicht alles sein, was die Ritterschaft ausmachte. Er stieg die Treppe zur Straße hinunter und ging zu seiner Frau. Tränen standen in ihren Augen. »Du weißt, was geschehen wird, nicht wahr?« Lancelot biss die Zähne zusammen. »Ich weiß, dass ich gegen ihn kämpfen muss.« »Er hat die Lanze des Longinus. Sie verfehlt niemals ihr Ziel. Er will dich töten, und wenn du dich ihm stellst, dann wirst du sterben.« »Vorher war es meine Lanze«, murmelte Lancelot. »Vielleicht erinnert sie sich an mich.« »Vor dir hat sie Christus gehört, und sie hat ihn getötet«, erwiderte Guinevere. Ein kleines Keuchen entfloh ihren Lippen, als hätte sie gerade etwas an einer Klippe fallen lassen. Sie schlang die Arme um ihn und ließ die Tränen fließen. »Lass uns nach Dalachlyth gehen, Lancelot. Lass das Feenvolk sich von den Ebenen erheben und ihn in die Tiefe ziehen, damit sie ihm das elende Fleisch von den Knochen reißen können.« Sein Atem traf ihren Nacken. Auch er weinte jetzt. »Und so soll ich den letzten Sohn Lots töten lassen?« »Besser so, als dass er dich tötet«, sagte Guinevere. Er hielt sie voller Ingrimm fest. »Warum lasse ich nicht einfach die Bogenschützen auf dem Wall auf ihn schießen? Ich kann es nicht. Das weißt du. Ich muss mich ihm stellen.« Sie zog sich zurück und starrte ihn mit tränenüberströmten Augen an. »Du musst sterben?« Lancelot erwiderte ihren Blick. »Von dem Augenblick an, als du als Wechselbalg fortgegeben und mit Artus vermählt wurdest, hat uns das Schicksal auf die eine oder andere Weise mit dem Tod konfrontiert. Wir haben uns entschieden und überlebt, doch es war eine schlimme Wahl. Dies hier ist nicht anders als alles andere. Tod auf dem Feld oder Tod auf der Mauer. Ich muss mich entscheiden. In den nächsten Augenblicken wird über mein Leben oder Sterben entschieden, und du musst mich leben oder sterben lassen.«
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Sie konnte nicht antworten, sie konnte ihn nur verzweifelt in die Arme schließen. So blieben sie stehen, bis Hector kam. Er trug Bors wie einen erlegten Widder auf den Armen. Ja, der Verletzte atmete noch, aber das Blut bedeckte ihn von den Schultern bis zu den Knien. Guinevere küsste Lancelot zum Abschied. »Lebewohl, mein Geliebter«, sagte sie und wandte sich dem Verletzten zu. »Lebewohl«, sagte Lancelot. Hinter ihm auf der Straße wartete schon sein eigenes Schicksal -Rasa, die Lanze und der Schild. Neben dem Pferd stand ein Wächter, der sich gerade die Stirn mit dem Ärmel abwischte. Lancelot nickte zum Dank. Er ging hinüber, legte Panzerhandschuhe und Helm an, nahm den Schild und stieg auf. Gerüstet ritt er zur Ausfallpforte. Am schmalen Ausgang traf er auf Sir Hector, der in die gleiche Richtung wollte. »Ich habe mich für die nächste Runde gemeldet, mein König«, sagte Hector lächelnd. »Ja, und ich bin dein König«, erwiderte Lancelot. »Folge mir und halte dich bereit, mich nach drinnen zu tragen, wie du die anderen getragen hast.«
Das freudige Lächeln des Ritters wirkte mit einem Mal enttäuscht. »Wie Ihr wünscht, mein König.« Sie ritten, Lancelot zuerst, durch die schmale Passage und unter der tödlichen Falle hindurch auf die blutige Ebene. Auf Mauer und Feld erhoben sich Hochrufe, als König Lancelot zum Vorschein kam. Immer lauter wurden die Rufe, die von Hoffnung, Freude, Stolz, Aufregung, aber auch Furcht und Zorn sprachen. Die Luft schien förmlich unter diesem Lärm zu flimmern. Lancelot hob nicht die Hand und ließ sein Pferd nicht steigen. Er ritt nur schweigend auf den zertrampelten Boden hinaus und wandte sich seinem Ende des Feldes zu. Gawain auf der anderen Seite jubelte. Er brüllte seine Freude zum Himmel hinauf und hob die Lanze des Longinus wie einen Blitzableiter. Ein Gewitter von Hochrufen und Schreien antwortete ihm. Dies sollte der Höhepunkt werden. Die Schlacht, die über die Belagerung entschied. 208
Für Lancelot fühlte sich alles falsch an. Die Lanze war zu leicht. Rasa zuckte nervös. Lancelot hatte nicht den rechten Willen zum Kampf. Er wollte Gawain nicht töten. Er wollte auch selbst nicht sterben, doch er war ausgeritten, um das eine oder das andere zu tun. »Für meine Brüder Gaheris und Gareth kämpfe ich gegen dich, Lancelot du Lac!«, rief Gawain über das Feld herüber. »Für die Ehre meines Königs Artus und seiner Königin Guinevere kämpfe ich gegen dich, Lancelot du Lac! Für die Ritterschaft und für Camelot und für alles, was recht ist, kämpfe ich gegen dich, Lancelot du Lac!« Lancelot konnte den blutrünstigen Jubel, der durch diesen Ruf ausgelöst wurde, kaum ertragen. Jetzt musste er etwas erwidern. Seine Leute warteten auf der Mauer. Was sollte er sagen? Er wusste selbst nicht, woher die Worte kamen, die er aussprach. »Ich kämpfe aus keinem dieser Gründe gegen dich. Um deiner Brüder willen, die zu meinem Bedauern so unglücklich sterben mussten, will ich dich nicht töten. Um der Ritterschaft und Camelots willen und nach allem, was recht ist, will ich dich nicht töten. Und doch sitze ich hier und bin bereit, meinen Freund zu bekämpfen und meinen Lehnsherrn zu bekriegen und zu tun, was ehrlos ist, nur weil ich es tun muss. Lieber Gawain, verzeihe mir, wenn dir meine Lanze und mein Schwert an diesem Tag ein Leid zufügen, wie sie schon allen anderen, die ich liebe, Leid zugefügt haben.« Keine Hochrufe folgten auf diese Worte. Wälle und Felder lagen in verblüfftem Schweigen. Selbst Gawain saß stumm auf seinem Ross, als wartete er, ob noch etwas käme. Sein Pferd stampfte ungeduldig. Gawain schnaubte. »Glaube nicht, dass du dich hier herausstehlen kannst, indem du auf die Tränendrüsen drückst, Lancelot«, erwiderte er, doch seine Stimme klang traurig. »Ich weiß, dass dies nicht möglich ist«, erwiderte Lancelot. Er richtete Rasa auf der von Hufen aufgewühlten Erde aus. »Dann wollen wir kämpfen«, schloss er. »Ja«, fauchte Gawain und ließ sein Pferd die Hacken spüren. Lancelot zögerte kurz und fragte sich, warum Rasa sich nicht bewegte. Er spürte es also auch, dieses Widerstreben. Lancelot drückte seinem Reittier die Hacken in die Seiten und beugte sich nach vorn 208
über den Hals, um mit dem Angriff zu beginnen. Rasa galoppierte den schwarz aufgewühlten Weg hinunter.
Alles fühlte sich falsch an — Pferd und Lanze, auch der Feind —, doch ein echter Krieger fand das Richtige immer nur in sich selbst. Mars-Smetrius sprach in Lancelots Gedanken. Tausend Turniere wisperten in seinem Blut. Der Schild hob sich wie von selbst an die richtige Stelle. Die Lanze kam wie von selbst herunter, als er so schnurgerade ritt wie vom Bogen abgeschossen. Lancelot näherte sich seinem Feind, seinem Freund. Sein Stoß sollte vollkommen sein und Gawain vom Pferderücken fegen, ohne ihn zu töten und sogar ohne ihn zu verwunden. Auch Gawains Stoß konnte nicht anders als vollkommen sein. Was er wollte, musste die Lanze des Longinus für ihn tun. Donnernd näherten sich die Pferde einander. Die Lanzen überbrückten den leeren Raum. Sie schlugen gleichzeitig ein, im gleichen Augenblick trafen die Spitzen die Schilde. Beide saßen auf dem gleichen Fleck, mitten auf dem Metall. Nach links gezogen, hätte der Stoß den Schild fortgerissen und den Arm des Reiters zerschmettert. Nach rechts hätte der Stoß den Brustharnisch getroffen und die Rippen gebrochen. Im Zentrum aber warf der Stoß den Mann mitsamt dem Schild aus dem Sattel. Beide kippten zurück. Ihre Pferde rannten weiter, während die Männer mit ihren verhakten Lanzen auf den Boden krachten. Staub hüllte sie ein. Die Rufe von den Mauern und vom Feld erstarben rasch. Wer hatte überlebt? Welcher der beiden mochte sich danach erheben? Keuchend und taumelnd kam Gawain auf die Beine. Er wirkte wie ein wütender Bär. Seine Leute brüllten begeistert. Auch Lancelot kam wieder auf die Füße und stand auf. Hochrufe drangen von den Mauern herab. Er war taub dafür. Denn er sah nur den Mann vor sich stehen und die Lanze des Longinus im Dreck liegen. »Du hast mich verschont«, keuchte er. »Du hättest mich auf der Stelle töten können, doch du hast darauf verzichtet.« Gawain lächelte und zeigte Zähne, an denen Staubkrümel klebten. 209
»Noch nicht. Ich will dich töten, aber ich wollte nicht die Lanze das Werk tun lassen.« Er langte über die Schulter nach hinten und zog sein Schwert. Eine mächtige Klinge war es, die in der Morgensonne funkelte. »Dies hier wird dir den Tod bringen.« Grimmig zog Lancelot auch sein eigenes Schwert aus der Scheide. Die von Mars verzauberte Sachsenklinge hatte ihm all die Jahre gut gedient. Er musste fürchten, dass sie ihm dieses Mal viel zu gut dienen würde. »Ich will dich nicht töten, mein Freund.« »Dann wirst du selbst getötet werden«, antwortete Gawain. Mit einem Brüllen griff er Lancelot an. Lancelot wartete reglos auf den Angriff. Gawain war ein starker Mann, doch im Schwertkampf konnte er sich nicht mit Lancelot messen. Dieser Schlag, der kreischend vorgetragene Schlag über Kopf, dieser Angriff, der alles auf eine Karte setzte, konnte leicht abgewehrt werden, um die Schwertspitze in den Boden fahren zu lassen und den Mann mit einem Rückhandschlag zu töten. Dies war es, was Mars-Smetrius Lancelot zuflüsterte. Dies war es, was Lancelot voller Ingrimm plante. Als die beiden Krieger aufeinander prallten und Lancelot das Schwert hob, um den Hieb abzuwehren, sah er im Dreieck zwischen den Klingen Guinevere auf der Mauer stehen. Ihr Gesicht war so bleich wie der Kalkstein. Es musste etwas Gutes in der Welt geben. Es musste einen anderen Ausweg geben als Tod und wieder Tod.
Lancelot schlug Gawains Schwert zur Seite. Es kam herunter und blieb im Boden stecken. Sofort setzte Lancelot mit einem eigenen Schlag nach. Ja, er durchschlug die Rüstung und schnitt dem Mann die Schulter auf. Ja, Blut sprudelte hervor, und der Schwertarm war unbrauchbar. Doch der Schlag tötete nicht. Gawain ließ den Schwertgriff los und presste die zweite Hand auf die blutende Wunde. Er fiel auf die Knie. »Töte mich, Lancelot. Töte mich, wie du meine Brüder getötet hast. Unbewaffnet!« Lancelot sah traurig hinab. »Ich werde dich nicht töten, Gawain. Guinevere soll dich versorgen. Sie soll dich heilen. Der ganze Krieg soll geheilt werden.« »Nein!«, rief der Ritter. »Diese Hexe wird mich nicht berühren. Ar 210
tus' Heiler werden sich um meine Verletzungen kümmern. Ich werde gesund, und dann komme ich zurück und töte dich.« Lancelot rief zum Belagerungsheer hinüber, man möge von dort Heiler schicken. Dann kehrte er seinem Freund den Rücken und schritt zurück zur Stadt. Drei Monate ließ Gawain sich Zeit. Er lag auf Artus' eigenem Bett im Bauernhaus. Wundbrand breitete sich in Wellen vom Schnitt in der Schulter aus. Keine Egel, kein Kornbrand und keine Gebete konnten ihn aufhalten. Die Krankheit breitete sich aus wie der Hass und griff schließlich nach Gawains Herz. Der Todeskampf hatte begonnen. Artus saß am Bett und hielt die Hand seines treuesten Ritters. Draußen hinter den Läden hatte die Sonne die Welt verlassen. Rote Wolken drängten heran. Die anderen Ritter knieten ringsum im herbstlich braunen Gras und hielten Ehrenwache. Sie wussten, dass in dieser Nacht eine große Seele von ihnen gehen würde. Ein Hustenanfall schüttelte Gawain. Er drehte sich mühsam auf die Seite und spuckte in eine schon halb gefüllte Schale. Keuchend legte er sich wieder hin. Tränen standen in seinen Augen. »Dann«, würgte er hervor, »dann hat er uns wohl alle geschlagen.« Artus drückte wortlos die Hand des Ritters. »Manchmal gewinnt das Böse.« Artus konnte nicht widersprechen. Er war wie alle anderen von Lancelot niedergeworfen worden. Doch immer noch liebte er ihn. Alles, was Gawain fühlen konnte, war Hass. Gawains Augen weiteten sich, als eine neue Schmerzwelle ihn erfasste, und er öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Als der Anfall vorbei war, sagte er: »Begrabe mich nicht in ... in diesem Loch. Schick mich nach Camelot zurück ... begrabe mich bei meinen Brüdern ... zwischen Guineveres Rosen.« »Ja«, beruhigte König Artus ihn. »Ich schwöre es.« Ein kleines Lächeln bildete sich auf Gawains Gesicht, als er ein letztes Mal seinen gealterten Herrscher betrachtete. Das Lächeln blieb sogar noch im Gesicht, als Gawain schon nicht mehr da war. 210
Der letzte Lebenshauch wich aus dem Leib, und Artus schloss ihm die Augen. Er gab die Hand des Mannes frei, die so weich war wie Teig, stand auf und schritt zum Fenster. Er warf die Läden auf und blieb stehen, ins letzte rote Glühen des Tages gehüllt. Die Ritter unten auf dem Gras sahen, verstanden und weinten.
An einem frostigen Herbstmorgen ritt ein Mann mit der Parlamentärsflagge nach Benwick. Es war nicht irgendein Mann, der sich den Mauern näherte, sondern König Artus selbst. Er trug die königlichen Gewänder und nahte im langsamen Schritt. In Windeseile machte die Neuigkeit in Benwick die Runde. Die ganze Stadt strömte an die Stadtmauern, um das Schauspiel zu beobachten. Auch Lancelot und Guinevere waren dort. Sie sahen geduldig zu, wie ihr Herrscher sich näherte. Als er nahe genug war, knieten König und Königin von Benwick nieder und neigten die Köpfe. Die Wachen neben ihnen folgten ihrem Beispiel. In Wellen kniete das Volk vor König Artus von Camelot nieder. Er ritt noch ein Stück, blieb stehen und betrachtete sie alle. Dann zog er ein kleines Kästchen mit einer Schriftrolle aus seinen Gewändern. Er nahm die Rolle heraus, räusperte sich und rief sie an. »Wir waren Narren, wir alle.« Er hob das Papier. »Während wir einen sinnlosen Krieg gegeneinander geführt haben, hat Sir Mordred den Thron von Camelot übernommen und sich selbst zum König krönen lassen. Er hat ein Heer aufgestellt, um uns draußen zu halten.« Ungläubiges Tuscheln erfüllte die Luft. Der alte Monarch rollte das Dokument zusammen und steckte es fort. »Während ich versucht habe, dein Königreich zu besetzen, Lancelot, hat Mordred das meine erobert.« Lancelot stand auf und streckte die Arme aus, um Artus zu empfangen. »Mein Herrscher, mein Freund, du hast mein Königreich in der Tat erobert. Das Volk von Benwick und auch ich, sein König, werden im kommenden Kampf an deiner Seite stehen. Wir wollen unsere Heere vereinen. Wir werden nach Britannien segeln, die Ratte stellen und Camelot zurückerobern.« 211 König Artus sah seinen ersten Ritter und seine ehemalige Königin wortlos an. Lancelot fuhr fort. »Nicht Mordred hat dir das Königreich genommen, Artus, sondern ich war es. Und jetzt werde ich dir dein Königreich zurückgeben. Die Belagerung von Benwick ist aufgehoben. Gemeinsam werden unsere Heere dir deinen Thron zurückgeben. Wir werden Camelot wieder aufbauen!« In der Stadt und draußen stießen die Krieger glückliche Schreie aus. 211
33. Die Schlacht von Dover Als der vergangene Winter im Sterben gelegen hatte, waren zweihundert Schiffe von Britannien nach Benwick gesegelt. Als der neue Winter seine Herrschaft über die Welt festigte, kehrten sechshundert Schiffe zurück. Wellen schäumten weiß vor den eilenden Booten. Ruder tauchten tief in die blauschwarzen Fluten. Die Fäuste der See trommelten gegen die Dollborde. Der Wind, der Welle um Welle emporsteigen ließ, blähte zugleich die Segel der Armada. In langer Kette fuhren die Schiffe nach Norden und ließen eine brodelnde Spur im Meer zurück. Pferde wieherten in den Unterständen im Heck. Lanzen lagen längs zum Kiel bereit, Schwerter hingen an den Hüften der Ruderer. Bald würden sie kämpfen müssen. Im Bug des größten Schiffes standen König Artus und König Lancelot in voller Rüstung beieinander - der alte Krieger und der junge. Sie starrten zu den großen weißen Uferdämmen hinaus. Dahinter lag ihr Ziel. Dahinter lag Camelot. In der Morgensonne waren die weißen Klippen blendend hell und überstrahlten fast die Segel der Schiffe, die sich in großer Zahl unterhalb der Klippen bereithielten: Mordreds Schiffe, die er gegen die Angreifer ins Feld führen wollte. Es sah aus, als wären es nahezu
tausend. Selbst auf diese Entfernung war klar, dass sie zum Kampf ausgelaufen waren. Segel näherten sich einander aus gegensätzlichen Richtungen im gleichen Wind. Kiele drehten sich zu Lancelots und Artus' Flotte hin. »Wie hat er so viele Schiffe zu Wasser bekommen?«, fragte Artus sich laut. »Wir haben bei unserem Angriff auf Benwick jedes seetüchtige Schiff mitgenommen.« Lancelot starrte angestrengt nach vorn. »Darauf gibt es zwei Ant212
Worten. Zuerst einmal hat Mordred viele neue Verbündete gewonnen und verfügt nun über ihre Schiffe und Männer. Wir müssen gegen Fremde kämpfen, um unsere Heimat zurückzugewinnen.« Artus schürzte grimmig die Lippen. »Und die zweite Antwort?« »Vielleicht sind sie gar nicht alle seetüchtig. Mordred muss nicht den Kanal überqueren. Es reicht ihm, dafür zu sorgen, dass wir nicht landen können.« Die vereinte Geschwindigkeit der beiden feindlichen Flotten brachte die Schiffe einander schnell näher. Alle Schiffe Mordreds trugen vorn große Eisenblöcke. Sie waren fast ohne Besatzung, nur ein Mann war am Ruder und ein zweiter an den Segeln. Ein Dritter war jeweils an Deck beschäftigt und goss etwas aus. »Wir werden ihnen eine halbe Meile vor dem Strand begegnen. Dort haben wir zwanzig Fuß Wasser unter dem Kiel, und die Wellen sind fünf Fuß hoch«, meinte Lancelot erbost. »Sie wollen uns rammen und verbrennen.« »Signalisiere der Flotte, man soll auf die Rammsporne achten«, rief Artus dem Bootsmann zu. Die Meldung ging herum, doch sie verbreitete sich zu langsam. Die feindlichen Schiffe waren schon bis auf wenige hundert Fuß heran. »Am besten wir halten direkt darauf zu«, entschied Lancelot. »Entweder wir verfehlen sie, oder wir treffen sie Bug zu Bug. Die Breitseite dürfen wir ihnen nicht bieten.« »Ruder einziehen«, befahl Artus. »Wenn ein Schiff die Ruder trifft«, erklärte er Lancelot leise, »werden die Männer böse geschlagen oder sogar von Bord gefegt.« Dann, wieder lauter: »Die Bogenschützen bereit!« Lancelot runzelte die Stirn. »Sie werden nicht lange genug an Bord bleiben, um sich von uns erschießen zu lassen.« In fünfzig Fuß Entfernung sprangen Mordreds Männer von den Dollborden ins kalte Meer. Die Schiffe aber fuhren weiter, denn die Taue waren festgezurrt und die Ruder festgeklemmt. Flammen züngelten auf den Deckplanken empor. Bald brannten alle Aufbauten lichterloh. Nach wenigen Augenblicken standen auch Masten und Segel in Flammen. Der Wind, der ins Segeltuch fuhr, fachte den 212
Brand nur noch weiter an. Im Nu verbrannte der Stoff, doch die Schiffe brauchten ihn nicht mehr. Sie rasten heran und suchten ihr Ziel. Ein brennendes Schiff hielt direkt auf das Boot des Königs zu. Lancelot spürte, wie der Bug abdrehte. »Nein!«, befahl er. »Haltet darauf zu!« Der Steuermann richtete das Schiff neu aus, und es näherte sich wieder dem brennenden Schiff. »Wir werden bei lebendigem Leibe verbrannt!«, rief Artus. Lancelot schüttelte den Kopf. »Wir werden durchstoßen. Wir sind doppelt so schwer und haben Rückenwind. Festhalten!«
Die beiden Könige kauerten sich hinter die Galionsfigur, die einem Drachen nachempfunden war. Alle Menschen an Bord hielten sich fest und kauerten sich hin. Vor ihnen verschwanden Meer und Himmel und wichen einer einzigen hohen Flamme. Dann stießen die Schiffe zusammen. Von einer Welle getragen, schlug das brennende Schiff zu hoch ein. Der Rammsporn traf den Drachen am Bug und brach ihn ab. Die Holzfigur krachte zwischen den beiden Königen aufs Vorschiff. Der Rammsporn pflügte weiter, wurde aber noch einmal gehoben und glitt harmlos vorbei. Der Wind trieb das Schiff aus Benwick weiter. Der Bug fraß sich geradewegs durch die brennende Kimm. Ein Riss, so breit und hoch wie ein Mann, tat sich auf. Dann sackten die Schiffe gemeinsam ins nächste Wellental. Holz splitterte, und der Riss verbreiterte sich, bis das brennende Schiff seinen Bug verloren hatte. Wasser stürzte hinein. Wo gerade noch Flammen gebrannt hatten, stieg Dampf auf, und dann war es vorbei. Die nächste Welle hob Artus' Schiff wieder hoch, doch hinter ihm ging Mordreds Schiff unter. Über die schmorenden Reste des Rumpfes hinweg segelten sie weiter. Als sie auf dem nächsten Wellenkamm waren, sah Artus sich um. Die meisten seiner Schiffe hatten die Vorhut durchbrochen und fuhren weiter zu den weißen Klippen. »Rudergänger, rudert!«, rief Artus begeistert. Sie hatten an Fahrt verloren, und eine weitere Welle von gegnerischen Schiffen näherte sich. Diese Abteilung war voll bemannt, und die Soldaten standen schon an den Dollborden bereit. »Bogenschützen bereitmachen.« 213
Lancelot überlegte mit ernster Miene. »Wir werden sie eine Viertelmeile vor dem Strand in zehn Fuß tiefem Wasser treffen. Sie werden versuchen, längsseits zu kommen und uns mit Enterhaken festzulegen. Das Beste ist es wohl, vorbeizufahren, zu landen und dort erst zu kämpfen.« »Schwertträger, macht euch bereit, die Enterhaken zu kappen!«, rief Artus. Er klopfte Lancelot auf den Rücken. »Warum haben wir nicht schon früher so gekämpft?« Lancelot zog sein Schwert und beobachtete die sich nähernden Schiffe. »Wir waren immer zu sehr damit beschäftigt, gegeneinander zu kämpfen.« Die Schiffe näherten sich einander. Mordreds Männer duckten sich hinter die Dollborde und hielten die Enterhaken bereit. Der Bug glitt vorbei. Mordreds Hauptsegel wurde aus dem Wind genommen, und das Tuch wurde schlaff. Das Schiff kam längsseits heran. Enterhaken flogen wie Spinnweben. Die Seile rollten ab, die Männer hielten sich bereit. Lancelot griff nach oben, schnappte einen Enterhaken aus der Luft und riss daran. Der Mann, der das Ende des Seils festhielt, stürzte zwischen den Schiffen ins Wasser. Lancelot warf die metallene Kralle zurück und durchschnitt das gegnerische Hauptsegel. Ein weiterer Enterhaken kam geflogen, traf die Reling und verfing sich. Lancelot schlug das Seil durch. Doch es waren zu viele. Die Schiffe wurden gegeneinander gezogen, und die Männer sprangen herüber. Den Ersten erwischte Artus mit seinem Schwert und pfählte ihn mitten durch den Bauch. Der König nahm den Arm herunter, und der Mann stürzte in die kochende See. Ein zweiter Angreifer warf sich auf den König. Sie stürzten aufs Vordeck, der Verräter obenauf. Sein Schwert holte zu einem Schlag aus, der Artus enthaupten sollte. Lancelots Klinge war schneller. Er fing den Schlag ab, lenkte das Schwert zur Seite und stieß dem Mann die Spitze ins Herz. Noch während der Gegner zusammensackte, half Lancelot Artus auf die Beine.
Statt die Hand zu nehmen, hob Artus den getöteten Angreifer hoch, reckte sich und schleuderte ihn einem neuen Angreifer ent 214
gegen. Die Männer prallten mitten in der Luft zusammen, und der Lebende wie der Tote stürzten zwischen die knirschenden Rümpfe. Die gefesselten Schiffe wurden zum Spielball der Wellen. Der Wind drückte sie aufs Meer hinaus. Wellen ließen die Dollborde aneinander scheuern. Lancelot hackte die Seile der Enterhaken durch und rief: »Wir müssen uns freikämpfen.« Artus folgte seinem Beispiel und durchtrennte weitere Leinen. »Selbst wenn wir die Männer töten, müssen wir noch gegen das Meer kämpfen.« Lancelot lächelte. »Nicht mehr lange.« Guinevere hatte ihre Heere drunten versammelt — Blauwale, Pottwale, Kraken und Leviathane. Sie und die Najaden, die Seikies und Kelpies, das Meeresvolk und die Sargasso-Geister, sie alle hatten sich in den Tiefen vereint und formierten ihre Kräfte. Mit einer Hand drückte Guinevere sich eine Atemmuschel auf Mund und Nase, mit der anderen hielt sie die Mähne eines Narwals. Sie klammerte sich an das Tier, dessen Haut sie in der dunklen Kälte wärmte. Nun stieg es begierig auf. In Spiralen lief das Wasser vom Horn. Ringsum tauchten weitere Geschöpfe auf - Delfinschulen, gespenstische Rochen, große Gruppen von Aalen. Die Meereswesen vereinigten sich mit den Geistwesen, um aufzusteigen und die seltsamen Gestalten droben zu bekämpfen. Alle Geschöpfe, die Füße hatten, waren Fremdlinge im Meer. Jedes Boot dort oben hatte den Zorn der Wesen drunten erregt. Doch sie wollten warten, bis Guinevere das Zeichen gab. Mit einem letzten Schlag der Schwanzflosse brach der Narwal durch die Wellen empor ans Licht. Vor sich sah Guinevere zwei Schiffe, die mit Seilen aneinander gebunden waren und zu sinken drohten. Sie benötigte nur eine Sekunde, um die Zeichen von Benwick auf einem der beiden Schiffe zu erkennen. Der Narwal tauchte wieder unter, und Guinevere lenkte ihn vorsichtig zum Schiff auf der Steuerbordseite. Das Geschöpf gehorchte, 214
schwamm genau unter den Kiel und schlug ein einziges Mal kräftig mit dem Schwanz zu. Aus der brodelnden Tiefe eilten kleinere Wesen herbei und stürzten sich auf den Rumpf. Haie bissen und rissen Holzstücke heraus. Kraken streckten die Arme aus, zerrten Männer vom Deck und drückten sie unter Wasser. Wale tauchten auf, zerschmetterten den Rumpf und zerbrachen die Planken. Wasser drang durch die Öffnungen ins Schiff. Männer sprangen von Bord und wurden von Delfinen durchgeprügelt. Im flachen Wasser sank das Schiff. Als Guinevere mit ihrem Narwal zum zweiten Mal auftauchte, sah sie, wie die Krieger von Benwick die letzten Leinen abschnitten. Sobald es vom untergehenden Wrack befreit war, nahm das Schiff wieder Fahrt auf und richtete den Bug aufs Land aus. Guinevere blickte zum nächsten Schiff, das in Bedrängnis geraten war. Dort standen Artus und Lancelot im Bug. Der Narwal tauchte. Guinevere hielt sich fest und atmete die kalte Luft aus der Muschel ein.
Artus und Lancelot. Beide Könige, beide Gatten und beide geliebt. Wie war es nur dazu gekommen, dass sie zwei Männer liebte? Als die kalten Strömungen sie fortzogen, wurde ihr klar, warum. Welche größeren als diese beiden Männer hätte es je gegeben? Aus dem Schlick tauchte der Narwal wieder auf. Sie lenkte ihn zum feindlichen Schiff. Er schlug den Schwanz gegen den Rumpf, und die Bewohner der Tiefe kamen herbei, um zu töten. Hinter sich hörte Guinevere Holz splittern und brechen. Der Narwal sprang aus dem Wasser, und als sie auf seinem Rücken emporgetragen wurde, nahm Guinevere die Muschel vom Gesicht und rief zu ihren geliebten Gatten hinüber: »Wir treffen uns am Ufer!« Die Könige von Britannien und Benwick hielten sich im ramponierten Bug des Schiffes fest. Die Drachenfigur war verschwunden, zerstört. Das Schiff brauchte sie nicht. Jetzt standen Artus und Lancelot vorn und wiesen die Richtung. Durch das Wasser, in dem Tote trieben, schob sich das Schiff weiter. Brennende Boote und unterge 215
gangene Wracks lagen hinter ihnen. Vor ihnen lag der Strand von Dover. »Wir haben vier Fuß Tiefgang. Näher als hundert Schritt kommen wir nicht heran«, erklärte Lancelot. Er deutete zu der Linie, wo das grüne Meer sich über dem Sand gelblich färbte. »Das Schiff wird auf Grund laufen, und dann müssen wir uns durch die Wellen kämpfen, um das Ufer zu erreichen. Siehst du die Truppen dort drüben auf der grünen Ebene über den Klippen? Die werden uns mit Pfeilen eindecken.« Artus nickte lächelnd. Während des ganzen Kampfes hatte Lancelot jedes taktische Problem gelöst. Jetzt aber war ihm eine Kleinigkeit entgangen. »Ja, sie stehen höher als wir, aber schau dich doch nach beiden Seiten um.« Lancelot sah nach Steuerbord, wo zweihundert Schiffe, auf eine Länge von zwei Meilen auseinander gezogen, zum Strand liefen. Auf der Backbordseite bot sich ihm das gleiche Bild. Mordred hatte jedoch nur im Zentrum Bogenschützen postiert. »Wir beschäftigen die Bogenschützen, während unsere Flanken vorstoßen und sie angreifen«, erklärte Artus. Lancelot legte zustimmend den Kopf schief. »Ja, das ist gut. Aber wenn man einen Bogenschützen beschäftigen will, dann muss man sich selbst damit beschäftigen, seine Pfeile herauszuziehen.« Artus lachte lauthals. »Solange du keinen drin stecken lässt, ist doch alles in Ordnung.« Unter dem Kiel war das erste Kratzen von Sand zu hören. Das Schiff wurde langsamer, alle an Bord ruckten ein wenig nach vorn und hielten sich fest. Dann lief ein Knirschen durch den Rumpf. Der Wind knatterte im Segel, doch das Schiff war aufgelaufen. Ein letzter Ruck, und es stand. »Britannien wartet!«, rief Artus. Er wirkte fast wie ein kleiner Junge, begierig auf den Kampf, als er über die Reling sprang. Mit lautem Platschen versank er im Wasser und verschwand für einen Augenblick. Mit Schlamm überzogen tauchte er wieder auf. Das Wasser strömte an Excaliburs Griff hinab 215
und schwappte in Rhiannon. Vor ihm schlugen die ersten Pfeile ins Wasser und blieben im Sand stecken. »Ihr habt euren König gehört«, rief Lancelot. »Britannien erwartet uns!« Er sprang in die schäumende Brandung und ging zunächst ebenso unter wie Artus. Dann stemmte er die Füße in den Sand und kämpfte sich zum Land. Nach wenigen Augenblicken
war er, genau wie tausend weitere Krieger, in einer Reihe mit Artus unterwegs. Alle knirschten mit den Zähnen, als lächelten sie. Die Klippen warfen einen hellen Widerschein auf die Gesichter. »Sie können uns nicht aufhalten«, sagte Lancelot zu Artus, als ein wahrer Hagelschauer von Pfeilen vor ihnen im Wasser niederging. Sie stiegen über die Schäfte hinweg und stampften weiter durchs knietiefe Wasser. »Dies ist unser Land.« »Ja«, bekräftigte der König, als wäre ihm die Einsicht erst jetzt gekommen. »Dies ist unser Land!« Im nächsten Augenblick brachten die Feinde einen Einwand vor, denn ein Pfeil prallte von Lancelots Helm ab, bevor er ins Wasser klatschte. »Da brauchen wir wohl das Visier«, meinte Lancelot und klappte seines herunter. »Das Visier, genau«, bestätigte Artus. Auch er schloss sein Visier, und unter der Blende quoll der graue Bart hervor. Das Wasser schwappte jetzt um seine Füße, und die Männer fingen an zu rennen. Artus griff über die Schulter und zog Excalibur, Lancelot zog sein eigenes Schwert. Es tat gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Man bekam Lust zu rennen, und die Pfeile, die ringsum mit dumpfem Knall in den Sand fuhren, verstärkten dieses Bedürfnis. Lancelot schwenkte das Schwert über dem Kopf hin und her. »Ich frage mich, ob man die Pfeile noch in der Luft abfangen kann.« Ein weiterer Schauer folgte, und tatsächlich konnte sein Schwert zwei Pfeile abwehren. »Siehst du, was ich meine?« Artus deutete auf Lancelots Hals, und trotz des Visiers war zu sehen, dass er die Augen weit aufgerissen hatte. »Nein, eigentlich nicht.« 216
Lancelot hob die freie Hand und spürte den Schaft, der in einem Loch in der Halsberge und im Kettenhemd steckte. Gleich darauf spürte er, wie warmes Blut über seine Brust lief. »Ja«, keuchte er. Er konnte kaum noch atmen. Artus legte einen Arm um Lancelot, stützte ihn und rannte los. Er wollte hinter einigen Grasinseln in Deckung gehen. Im Lauf der Jahre hatte sich hier genügend Sand gesammelt, um eine spärliche Deckung vor den Klippen zu bieten. Artus packte seinen Freund und rollte ihn hinter die Grassoden. Dort blieben sie keuchend liegen, während eine weitere Salve von Pfeilen niederprasselte. »Was macht deine Verletzung?«, fragte Artus. »Da habe ich jetzt wohl so einiges am Hals«, scherzte Lancelot, doch keiner von ihnen lachte. Artus lugte übers Gras hinauf, dann zog er sofort wieder den Kopf ein, denn ein Pfeil flog knapp vorbei und bohrte sich in den Sand. »Ich habe das Gleiche immer über Mordred gedacht.« Dieses Mal lachten sie. »Hast du nicht gesagt, wir müssten ... vorsichtig sein ... und dürften keinen Pfeil stecken lassen?«, fragte Lancelot. Er schnappte wieder nach Luft. »Das habe ich gesagt. Und du weißt ja, ich bin der König. Mein Wort ist Gesetz. Dann wollen wir es uns mal ansehen.« Sie wechselten die Position, bis beide in Deckung des kleinen Hügels lagen. Artus zog Lancelots mit Blut getränkten Wappenrock weg. Der Pfeil war hinter drei Metallplatten gefahren und hatte den Halter des Brustpanzers zerstört. »Miese Rüstung, mein Sohn.« »Die verdammten Sachsen. Kannst du sie mir ausziehen?« Artus schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Noch nicht.«
»Wie kommen wir denn voran?« Artus starrte zum Strand. Tote lagen herum, gespickt mit Pfeilen. Andere Krieger hockten hinter ähnlichen Erhebungen, um aus der Schusslinie zu kommen. Niemand rückte mehr gegen die Klippen vor. »Eigentlich ganz gut.« Er sah wieder den Pfeil an. »Ich wünschte nur, Guinevere wäre hier. Sie könnte das im Handumdrehen erledigen.« 217
»Sie sagte, sie werde am Strand zu uns stoßen. Ich frage mich, wo sie ist.« Artus zog seinen Helm vom Kopf, und die weißen Locken fielen über die Schultern. Das vom Bart umrahmte Gesicht wirkte besorgt. »Ich hoffe beinahe, sie kommt nicht.« Ein neuer Pfeilhagel unterbrach ihn, und er musste sich ducken. »Nicht in diese Todesfalle.« Lancelot nickte, dann schwiegen die beiden Männer. Der Wind trieb die Wellen krachend ans Ufer, und das Wasser lief zwischen Steinen und im Kies entlang. Möwen kreisten über den aufgelaufenen Schiffen und suchten nach Nahrung. Es hätte eine liebliche Szene sein können, wäre das Land nicht vom Krieg zerrissen gewesen. Artus blickte zum Ufer. Einige seiner Männer waren aufgestanden und starrten zur Klippe. Keine Pfeile kamen mehr geflogen, um sie zu töten. Der König veränderte seine Stellung und lugte zur weißen Wand und den Gestalten droben. Immer noch waren auf der mit Gras bewachsenen Ebene Kämpfer zu sehen. »Es ist schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal geschossen haben«, bemerkte Lancelot. Artus grinste. »Sie können nicht mehr schießen.« Er ließ Lancelot los und stand auf. »Was machst du? Man wird dich erschießen.« »Wie ich schon sagte, sie können nicht mehr schießen. Guinevere hat sie alle erwischt.« Trotz des Pfeils im Hals richtete Lancelot sich auf und starrte zur Klippe hoch. Ganz oben stand Guinevere in Gesellschaft von Tuatha, Dryaden, Heinzelmännchen und Sylphen. Nachdem sie die Geister der Tiefe gerufen hatte, war sie zu denen in den Wäldern gewechselt. Sie hatte Mordreds Schiffe versenkt und sein Heer ausgelöscht. »Mit einer Königin wie ihr«, sagte Artus, »ist es kein Wunder, dass wir Könige sind.« »Sie sagte ... sie wolle uns ... am Strand treffen ...« »Ach, wir wollen nicht kleinlich sein ...« Lancelot brach zusammen. Der Sand unter ihm war rot. »Ich brauche sie ...« 217 Als er erwachte, sah Lancelot zuerst das lächelnde Gesicht seiner Liebsten. Guinevere zog sich ein wenig von ihm zurück. Ihre Finger waren blutig. Er spürte nichts mehr von dem Pfeil, der ihn durchbohrt hatte. Artus stand neben ihr. Sie hatten ihm das Leben gerettet, alle beide. Sie grinsten, dunkle Silhouetten vor den weißen Klippen und dem blauen Himmel. Die Heere von Benwick und Britannien waren gelandet. Sie eroberten die Insel zurück. 217
34. Abmachungen Umgeben und beschützt vom Waldvolk, lagerten in dieser Nacht die Heere von Artus und Lancelot. Mordreds Streitmacht, die auf dem Meer und zu Lande geschlagen worden war, floh nach Nordwesten. Seeliehunde bissen sie in die Hacken, und Geister des Waldlandes summten wie Mücken in ihren Ohren. Sie kehrten zu ihrem so genannten König nach Camelot zurück und erzählten ihm, dass Artus gelandet sei und mit aller Macht gegen Camelot marschiere.
»Als Nächstes nehmen wir Camelot ein.« Artus hob den Krug und brachte den Trinkspruch aus. Das Bier, das aus einem ans Lagerfeuer gerollten Fass frisch gezapft worden war, schäumte über. »Als Nächstes nehmen wir Camelot ein«, wiederholten Lancelot und Guinevere. Sie tranken kräftig, nachdem sie am Abend kräftig gegessen hatten - einen gegrillten Eber hatten sie mit ihren Kommandanten geteilt, und die Truppen hatten gekochten Fisch bekommen. Das Heer hatte genug Vorräte für einen langen Feldzug mitgenommen, doch nach dem heutigen Sieg wussten sie, dass der Krieg gegen Mordred schnell und mit voller Kraft geführt werden konnte. Zur Feier aßen und tranken sie. Als vom lodernden Feuer nur noch Glut übrig war, saßen König Artus, König Lancelot und Königin Guinevere beisammen. Es gab keine Steine oder Baumstümpfe in der Nähe, deshalb hockten sie auf ihrem Gepäck. Mit Gesichtern, die vom Wind, vom Bier und vom Feuer gerötet waren, starrten sie zufrieden in die Glut. Die Anstrengungen des Tages, die sie so lange verleugnet hatten, machten sich nun in jedem Knochen bemerkbar. Doch keiner von ihnen nickte ein. Hier zu sitzen, satt und still und frei, war ein wundervolles Gefühl. Sie schwiegen, wie man nur unter guten Freunden schweigen kann. 218
Lancelot erhob sich schließlich als Erster. Er legte eine Hand auf den verheilten, aber noch empfindlichen Hals und sagte: »Dieser Pfeil hat mich stärker mitgenommen, als ich vermutet hätte. Ich muss schlafen.« Er streckte sich, hob seinen Packen auf und ging über die Lichtung zu seinem Zelt. »Gute Nacht«, sagten Guinevere und Artus gleichzeitig. Sie sahen einander an, lächelten und wandten den Blick ab. »Ich könnte auch etwas Schlaf gebrauchen«, erklärte Artus. »Wir haben morgen einen langen Marsch vor uns.« »Gute Nacht«, antwortete Guinevere, womöglich eine Spur zu hastig. Der König stand auf und ließ die bittere Anspielung unbeantwortet. Er trug seinen Packen in die entgegengesetzte Richtung zu seinem eigenen Zelt. Guinevere sah ihm schweigend nach, wie er fortging, immer noch mächtig, immer noch männlich, wenn auch grau nach vielen Jahren. Artus begrüßte leise den Wächter und duckte sich in sein Zelt. Drinnen zündete er eine Laterne an, die sein Bild, riesig und ein wenig verzerrt, auf die Leinwand malte. Er wühlte in seinem Packen herum und suchte offenbar die Nachtkleidung. Guinevere blickte zum anderen Ende der Lichtung. Lancelots Zelt war dunkel. Vielleicht schlief er schon. Zwei Könige, zwei Männer, zwei Zelte. Guinevere schlug die Hände vors Gesicht. Zu dritt konnten sie Camelot zurückgewinnen. Doch was dann? Sollte sie neben Artus auf dem Thron sitzen? Oder neben Lancelot? Sollte Dalachlyth und das Schloss der Rose leer bleiben? Oder sollte Camelot ein weiteres Mal verfallen? Sie konnte nicht die Königin zweier Könige sein. Doch sie war mehr als eine Königin. Guinevere war auch eine Frau. Nur bei Lancelot konnte sie eine Frau sein. Sie stand auf, nahm ihr Gepäck, atmete noch einmal den scharfen Geruch der glühenden Holzstücke ein und ging über die Lichtung. Der Wächter grüßte sie stumm. Sie zog die Zeltplane zurück und trat ein, verstaute ihren Packen und legte sich neben den Mann. »Ich habe gehofft, dass du kommst«, sagte Lancelot leise.
»Ich habe gehofft, dass du nicht schläfst«, erwiderte Guinevere. Sie nahm ihn in die Arme und rollte sich auf ihn. 219
»Bist du sicher? Obwohl dein Gemahl da drüben schläft?« Sie schnürte ihr Leibchen auf. »Mein Gemahl ist direkt hier unter mir.« Sie zog es sich über den Kopf. »Du weißt, was ich meine.« Ihr Lächeln war sogar im dunklen Zelt zu sehen. »Ich habe heute eine Schlacht gewonnen und gefeiert und getrunken. Es gibt aber noch etwas, das ich tun möchte, und das kann ich nicht mit Artus tun.« Sie beugte sich über ihn und küsste das empfindliche Fleisch am Hals, das sie geheilt hatte. »Das bist du mir schuldig.« »Das bin ich dir schuldig«, antwortete Lancelot mit gespieltem Ernst. Er lachte und zog sich selbst das Hemd aus. »Außerdem ist das die beste Art und Weise, in unserem Feenkönigreich nach dem Rechten zu sehen«, schnurrte Guinevere ihm ins Ohr. »Viel angenehmer, als in einen kalten Teich zu springen.« Lancelot rollte sich herum und küsste sie. »Viel angenehmer.« Mitten in der Glut kam ihnen eine Vision - nicht von ihrem prächtigen Feenkönigreich, sondern eine schreckliche Vision. Artus marschierte. Er war in Gold gekleidet. Excalibur strahlte wie ein Stern in seiner Hand. Überall um ihn und hinter ihm marschierte das gewaltige Heer von Benwick und Britannien. Es war, als legte Artus eine weiche Schleppe über die winterliche Erde. Er zog sie hinter sich her zu den vereisten Ufern des Somerset Cam. Am anderen Ufer näherte sich eine einsame Gestalt — Mordred. Schmalbrüstig, böse, verdorben, schlenderte er unbeschwert einher. Von der Hüfte nahm er ein Schwert, welches das Licht fraß. Es zog einen Schatten hinter sich her, einen Schatten, der sich wie eine Träne in der Welt ausbreitete und alles in Dunkelheit versinken ließ. Mordred lief den mit Raureif überzogenen Hang hinunter bis zum Fluss, auf dem das Eis glitzerte. Artus trat ins kalte Wasser und watete. Mordred blieb am Ufer stehen und tauchte die Schwertspitze hinein. Die Waffe fraß die Wärme und das Licht. Der Fluss war im Nu hart überfroren. Eiskristalle liefen stromauf und stromab, bis das ganze Wasser steinhartes Eis war. In der Mitte war auch Artus eingefro 219
ren. Er war kein Mann mehr, sondern eine Figur aus Eis. Nur Excalibur blieb unverändert. Mordred schritt über die gläserne Fläche zu Artus. Er nahm Excalibur und hielt beide Schwerter hoch - strahlendes Licht und verschlingender Schatten. Er hielt Tag und Nacht in den Händen. Lächelnd trat er einmal heftig zu. Artus' Eisgestalt zersprang. Die Splitter flogen wie Kometen über den gefrorenen Fluss. Dann blieben sie liegen und verwandelten sich wieder in Fleisch - in Fleischstücke. Das Blut quoll aus ihnen aufs Eis. Artus war nicht mehr. Mordred schritt über die blutigen Beinstümpfe seines Vaters, die noch im Fluss gefroren waren, und fiel mit beiden Schwertern über die Truppen her. Er zerfetzte sie. Nacht und Tag kamen über sie, und er beförderte sie ins Grab. Erschrocken und schwitzend erwachten Guinevere und Lancelot. Sie lagen einander in den Armen und keuchten in der Dunkelheit. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Lancelot.
»Es bedeutet, dass wir Mordred in diesem Winter nicht angreifen können«, erklärte Guinevere. »Wenn wir es tun, werden wir alle getötet werden.« Mordred starrte aus einem Turmfenster Camelots. Er sah ein düsteres Land. Der Morgen wollte nicht kommen. Die Sonne wollte nicht aufgehen. Jeden Tag zeigte sie sich nur wenige Stunden als blutrote Kugel, die hinter wattigen Wolken verborgen blieb. Der Nachtfrost hatte sein Gewand über das Gras gelegt, und die schwächliche Sonne konnte es nicht schmelzen. Nur die Füße der Flüchtlinge vermochten dies, die fliehenden Füße von Mordreds ehemaligem Heer. Auf See und an Land besiegt, taumelten die Männer nach Camelot zurück. Mordred hatte einen Triumphzug für seine Truppen vorbereitet, und die Gefangenen, vor allem Lancelot und Guinevere, sollten an Ketten vorgeführt werden. Artus sollte zu diesem Zeitpunkt schon tot sein, wären Mordreds Pläne aufgegangen. 220
Sein Heer kehrte jedoch nicht in Marschformation zurück, sondern zerlumpt. Es kehrte nicht mit Lancelot und Guinevere in Ketten zurück, sondern von ihnen geschlagen und besiegt. Und am schlimmsten überhaupt, Mordreds Krieger mussten berichten, dass Artus noch lebte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Krieger ihren Offizieren Meldung machten und diese den Adligen und diese wiederum Mordred. Dann würde jeder wissen wollen, warum sie gegen ihren eigenen, lebendigen König hatten kämpfen müssen. Mordred hasste diese Wendung — nicht, weil es keinen Ausweg mehr gab, sondern weil der Ausweg so widerwärtig war. Er kniete vor der Fensterbank nieder, ein Kind im Gebet. Er schloss die Augen und faltete die Hände. »Mutter, meine Gifte haben mich selbst vergiftet. Ich bereue, dass ich meinen Kräften mehr vertraut habe als deinen. Ich hatte gehofft, die Lüge von Artus' Tod wahr machen, die Truppen Lancelots auf dem Kanal aufhalten und die Feenkönigin in Ketten vor meinen Thron fuhren zu können. Alles, was ich erreicht hatte, wird nun wieder aufgehoben. Ich bitte dich, Mutter, wenn ich jemals dein Sohn war, dein als Gegengewicht zu Artus geborener Sohn, der sein Königreich zu Fall bringen sollte, dann komm und hilf mir, es zu zerstören.« Morgan war keine echte Göttin, doch sie war eine mächtige Zauberin. Sie lauschte mit magischen Ohren jedem Wort, das ihr Sohn sprach. Hinter Mordred, aus seinen eigenen grauen Schatten auf dem Steinboden, nahm sie Gestalt an. Dunkelheit wob sich zu einem Zobelpelzmantel, der mit schwarzen Spitzen verziert war. Nur das Gesicht war weiß. Viel zu bleich zwischen den dunklen Locken. »Danke, mein Sohn, dass du mich gerufen hast«, sagte sie leise. Mordred wandte sich vom Fenster ab und stand auf. Er hatte Mühe, die Ablehnung aus seinem Gesicht zu verbannen. »Wirst du es tun?« »Ich habe es bereits getan«, sagte sie und lächelte bezaubernd. Dank ihrer Magie war sie jung geblieben, jünger als er. In ihrer Trauerkleidung wirkte sie beinahe wie ein junges Mädchen, das vor einem erwachsenen Mann stand. »In der letzten Nacht habe ich Lancelot und 220
Guinevere eine Vision geschickt. Sie haben Angst, in diesem Winter gegen dich zu kämpfen.«
Mordred musste wider Willen grinsen. »Können sie Artus und die Truppen überzeugen, die kalten Monate über zu lagern?« »Nein«, erwiderte sie. »Natürlich nicht. Aber sie werden dich bedrängen, dich zu ergeben.« »Was?«, rief Mordred erbost. Morgans Gesicht verlor jede Spur von Freundlichkeit. Ihre Augenlider waren wie aus Porzellan geformt. »Du kannst die Bedingungen deiner Kapitulation bestimmen.« »Bedingungen?« »Du wirst deine Ritterschaft zurückbekommen. Du wirst den Titel Prinz Mordred führen, und du wirst ein großes Anwesen in Powys erhalten. Als königlicher Erbe wirst du Artus' Nachfolge antreten, sobald er tot ist.« »Ich soll warten, bis Artus tot ist?« »Du bist ein Giftmischer«, fauchte Morgan ärgerlich. »Du entscheidest, wann Artus tot ist. Besser diese Bedingungen annehmen, als dass Artus dich morgen tötet.« Angesichts ihrer Vorhaltungen schlug Mordred die Augen nieder und nickte. Der Plan war gut. Er hatte alles, was einen guten Plan ausmachte - trotz der Niederlage konnte er noch siegen und die Auseinandersetzung vom Schlachtfeld an den Hof verlagern. Dort fanden Kämpfe statt, die Mordred leicht gewinnen konnte. »Danke, Mutter.« »Du musst die Bedingungen für deine Kapitulation heute noch aufsetzen. Verberge sie zwischen anderen unverschämten Forderungen, auf die du mühelos verzichten kannst.« »Das lässt sich einrichten«, sagte Mordred und rieb sich die Hände. Morgan schüttelte den Kopf. Ihr Körper löste sich bereits wieder in den Schatten auf. »Es ist nicht so leicht, wie du denkst.« Sie verschwand, als die ersten Fäuste an die Tür trommelten. »Lass uns herein, Mordred«, knurrte eine vertraute Stimme. »Ich bin's, Llangolth, Herzog von Gwynedd, und bei mir sind zwanzig weitere deiner Adligen. Artus lebt! Der König, den wir für tot hielten, lebt noch! Lass uns herein.« 221
Mordred bereitete sich innerlich auf das vor, was kommen musste, und ging zur Tür. Bewusst verbannte er jeden Ausdruck von Furcht aus seinem Gesicht, legte sich eine Miene der Verwirrung und Sorge zu und riss die Tür weit auf. »Artus lebt?« Herzog Llangolth stolzierte herein wie ein Wolf, und hinter ihm kam die Meute seiner Adligen. Die Nackenhaare waren gesträubt und die Zähne gebleckt. Sie kreisten Mordred ein. »Alle berichten es!«, sagte der Herzog. »Sie sagen, er habe gestern in der Vorhut gekämpft. Er habe neben Lancelot gekämpft, der ihn doch angeblich getötet hat.« »Oh«, keuchte Mordred, als hätte die Neuigkeit ihm einen körperlichen Schlag versetzt. »Oh!« Er breitete die Arme aus. »Wie wird mir? Wenn dies wahr ist, wenn mein Vater wirklich noch lebt, welche Freude ist es doch! Aber wenn es wahr ist, dann muss er mich für den größten Verräter aller Zeiten halten!« »Nicht nur dich, sondern auch uns«, knurrte Llangolth. »Du hast uns gesagt, er sei tot.« Mordred schüttelte wie benommen den Kopf. »Nein, das habe ich euch nicht gesagt. Ihr habt dieselbe Nachricht gehört wie ich, vorgelesen von derselben Schriftrolle.« Er schritt zu einer Truhe, klappte sie auf und wühlte darin herum. »Wo ist das verdammte Ding?« »Das ist jetzt einerlei. Artus lebt, und er marschiert gegen uns. Er hält uns alle für Verräter, und das wären wir wirklich, kämpften wir auch nur eine Sekunde weiter gegen ihn«, erklärte Llangolth.
Mordred hielt inne und starrte durch die Wand hindurch in weite Fernen. »Wir sind jetzt schon Verräter, ob wir es so wollten oder nicht. Wir haben bereits Truppen ins Feld geschickt, um Artus' Rückkehr zu verhindern. Er könnte unser aller Köpfe fordern ...« Einer der Adligen stieß einen ängstlichen kleinen Schrei aus. Nun wusste Mordred, dass er sie überrumpelt hatte. »Es sei denn, wir ergeben uns ihm.« »Wir sollen uns ergeben?« »Ja«, fuhr Mordred eifrig fort, als wäre ihm die Idee gerade erst gekommen. »Wir formulieren die Bedingungen für unsere Kapitulation und sagen ihm, wir wussten nicht, dass unser König noch lebte. So 222
bieten wir ihm unsere Kapitulation unter der Bedingung an, dass wir unsere Titel, Stellung und Ländereien behalten dürfen, dass keiner von uns geköpft werde und dass es keine Strafsteuern oder anderen Maßnahmen gegen uns geben werde. Dann ergeben wir uns und erneuern unsere Lehnstreue.« Das Gesicht des Herzogs war blutrot und aufgedunsen. Er starrte Mordred an. »Also, dann schreibe. Wir werden alle unterzeichnen. Nun schreibe schon!« Eine kalte Woche war vergangen seit dem Sieg in Dover. Artus und seine Verbündeten waren stetig ins Landesinnere vorgerückt und hatten eine Meile vor dem Fluss Cam ihr Lager aufgeschlagen. An diesem frostigen Morgen stieg Artus auf ein Streitross. Excalibur und Rhiannon waren auf seinem Rücken befestigt und die Lanze des Longinus steckte neben ihm im Köcher. In vornehmster Gesellschaft wartete er auf dem Feld am Cam, das Camlaun genannt wurde. Rechts neben ihm saß Lancelot auf Rasa. Voll ausgestattet und aufgeputzt, sahen Reiter und Pferd so prächtig aus wie nie. Die übrigen Ritter des Königs vervollständigten die Versammlung: Lionel, Hector, Bors und Lancelots Freunde, dazu die neuen Ritter, die Benwick belagert hatten. Sie waren jetzt vereint und strahlten in ihren Rüstungen und feinen Gewändern. Hinter ihnen warteten die vereinten Heere der Verbündeten, insgesamt achtzehntausend Mann stark. An diesem Morgen aber hatten sie sich nicht zum Krieg versammelt, sondern um Frieden zu schließen. Mordred wollte sich ergeben. Die Nachricht hatte Artus noch im Lager in Dover erreicht. Das ursprüngliche Angebot war schlicht und ergreifend widersinnig gewesen, und dies hatte Artus auch gesagt und seine Ansicht mit einem Marsch über sechzig Meilen ins Landesinnere bekräftigt. Dann kam ein weiteres Angebot, besser zwar, aber immer noch unannehmbar. Die verbündeten Heere zogen daraufhin nach Nordwesten gen Camelot. Erst dort an den Ufern des Cam traf ein vernünftiges Angebot ein. Mordred sollte ein Stück des wilden Powys bekommen und darüber herrschen, und er sollte als Thronfolger anerkannt werden. Artus sollte die Adligen, die sich auf Mordreds 222
Seite geschlagen hatten, nicht hinrichten lassen. Einfach ausgedrückt, sollte Artus seinen Thron zurückbekommen, und Camelot sollte wieder so sein, wie es vor der Belagerung Benwicks gewesen war. Die Verschwörer — sie bezeichneten sich inzwischen als betrübte Adlige — behaupteten, sie hätten voller Kummer und in Unwissenheit gehandelt, da sie ihn tot geglaubt hätten. Sie sprachen von einem gefälschten Bericht aus Benwick, der bisher allerdings nirgends aufgefunden werden konnte. Artus glaubte ihnen kein Wort, doch das war auch nicht nötig. Er hatte genug vom Krieg. Sollten die Ratten doch leben, solange auch das Volk leben durfte. Im Kanal schwammen
ohnehin schon zu viele Tote. Zu viel Blut hatte die Klippen rot gefärbt. Schluss mit dem Krieg. Artus wollte die kälteste Zeit des Winters lieber in seinem warmen Bett in Camelot verbringen. Wenn nur Guinevere ein Teil des Handels hätte sein können. Wenn sie nur die Gefangene Mordreds und nicht Lancelots geworden wäre. Artus schob den Gedanken beiseite. Kein Abkommen konnte aufheben, was in dieser Hinsicht geschehen war. »Dann wollen wir uns versammeln«, sagte Artus einfach. Er gab seinem Pferd die Hacken. Es lief den überfrorenen Hang von Camlaun hinunter. Die Gesellschaft seiner Ritter folgte ihm, das Fußvolk blieb auf dem Feld zurück. Artus und seine Eskorte näherten sich dem mit Eis verkrusteten Flussufer. Zwischen sanften Hügeln floss der Cam kalt und klar dahin, runde Felsen lagen in seinem Bett. Jenseits des Flusses wartete der so genannte König Mordred auf einer kleinen Anhöhe. Zwar war er gekommen, um zu kapitulieren, doch er war ähnlich prächtig herausgeputzt wie sein Vater. Er war von seinen eigenen Kriegern umgeben — Ritter mochte Artus sie nicht nennen. Sie waren ein Haufen Fremder, kaum mehr als Räuber in guten Kleidern. Die Helme waren poliert, aber darunter steckten gebrochene Nasen, faule Zähne und eine ehrlose Gesinnung. Das Balg hatte Schläger mitgebracht, die ihn verteidigen sollten. Artus kicherte. Es spielte keine Rolle. Sie waren nicht zum Kämpfen gekommen, sondern weil sie sich ergeben wollten. Für den Fall, dass sie irgendetwas versuchten - Artus hoffte beinahe, dass sie etwas
223 im Schilde führten -, hatten seine Truppen den Befehl, sofort anzugreifen. Beim ersten Blinken von nacktem Stahl sollten die Briganten lernen, wie echte Ritter kämpften. Die Heere von Benwick und Britannien würden Camelot wieder einnehmen, und dann sollte es keine Bedingungen mehr geben. Mordred sollte mit Excalibur im Auge sterben, oder falls er floh, sollte er die Lanze des Longinus in den Rücken bekommen. Ob durch Vertrag oder Krieg, am Ende des Tages wollte Artus wieder in Camelot herrschen. Wasser spritzte hoch, als er sein Pferd durch die flache Furt des Cam lenkte. Das Tier wieherte leise, sobald es die Kälte spürte, doch gleich darauf konnte es die Hufe schon wieder aufs andere Ufer setzen. Rasa und Lancelot blieben dicht neben Artus. Lancelots Augen waren klar wie die eines Adlers. Er machte sich Sorgen über den Ausgang dieses Tages. Er hatte eine Vision gehabt und fürchtete, sie könne trotz allem noch wahr werden. Sein Blick fiel auf den Winterwald hinter Mordred. Er betrachtete allerdings nicht die Truppen, die sich dort aufgestellt hatten, sondern die Zweige der Bäume. »Was siehst du?«, fragte Artus leise. Sein Atem dampfte in der kalten Morgenluft. »Ich dachte, ich hätte in den Baumwipfeln etwas gesehen«, antwortete Lancelot erregt. »Nicht etwas, sondern jemanden.« »Wen denn?« Lancelot sah seinen König an, und die Lippen waren schmal wie Schnüre. »Morgan le Fey«, sagte er schließlich. Artus lachte laut darüber, als wollte er den schlimmen Namen verbannen. »Du und deine Visionen.« Die Ritter lenkten ihre stampfenden Pferde aus dem Wasser heraus und ließen sie am anderen Ufer die gefrorene Böschung hinaufklettern. Gleichmäßig pochten die Hufe und trugen die Reiter zu Mordred. Wollte er wirklich kapitulieren? Oder plante er einen Hinterhalt? Doch wenn dies zutraf, warum stand er dann so verwundbar in der Vorhut? Artus ritt zu seinem Sohn und hielt sein Pferd an. Alle um ihn, all seine Ritter, schlossen sich ihm an. Der Atem stand weiß vor dem 223
Helm des Königs, und seine Augen waren eisblau, als er Mordred anstarrte. Ohne Trotz, ohne irgendeinen anderen Ausdruck als Reue, erwiderte dieser den Blick. »Ich ergebe mich und will mich mit einem Abkommen unterwerfen und vor dir niederknien, Vater«, erklärte er traurig. »Aber muss ich wirklich vor deinem Pferd niederknien?« Irgendetwas in Artus sagte: Ja, lass ihn vor dem Pferd niederknien. Doch es war sein Sohn. Ein Bastard, ein missratener, verräterischer Sohn, doch immer noch sein Sohn. »Sitzt ab«, rief Artus seinen Begleitern zu. Der König Britanniens und seine Ritter stiegen von den Pferden. Der angebliche König Britanniens und seine Ritter fielen unterdessen auf die Knie. Mordred verschränkte die Hände. »Verzeih mir, Vater.« Trauer und Hoffnung durchfluteten Artus. Es schien so, als wäre das Fenster zur Zukunft weit aufgeworfen worden und als käme eine frische Brise von dort herein. Artus sammelte sich, griff unter den Wappenrock und zog den letzten Vertragsentwurf hervor, den Mordred geschickt hatte. Er entrollte das Dokument und nahm einen Federkiel zur Hand, der noch keine Tinte gesehen hatte. Damit trat er zu seinem Sohn und hielt ihm beides hin. »Mit Blut werden wir dies unterzeichnen, du und ich, Mordred. Tinte ist nicht genug für solche Dinge. Wir müssen uns durch unser Blut binden.« Immer noch auf den Knien hockend, nickte Mordred wortlos und nahm den Vertrag und den Federkiel an. Er langte nach seinem Schwert, doch er zog es nicht. Nur sein Finger fuhr über die Klinge. Dann hob er die Hand. Ein rotes Rinnsal lief seinen Finger hinunter. Er tauchte den Federkiel hinein und unterzeichnete den Vertrag mit seinem Namen. Dann schüttelte er das Blut von der Hand, saugte am Finger und gab Artus die Schriftrolle zurück. Der König griff über seine Schulter nach hinten und ließ einen Finger über Excaliburs Schneide gleiten. Er zog die Hand wieder nach vorn, doch da war kein Blut. Die Scheide Rhiannon hatte ihn geheilt. »Willst du mit meinem Blut unterschrieben?«, fragte der immer 224
noch kniende Mordred. »Wenn nicht, wirst du dein Schwert und die Scheide ablegen müssen.« »Nein!«, rief Lancelot neben Artus. »Er wird sie nicht ablegen. Er wird nicht mit seinem Blut unterzeichnen. Er wird es mit meinem tun. Ich trage so sehr wie er die Schuld daran, dass wir Camelot verloren haben. Soll mein Blut den Pakt zwischen euch besiegeln.« Mordred lächelte hinterhältig, seine Zähne waren rot verfärbt. Er nickte zustimmend. Von seinem Finger tropfte es auf den Boden. Lancelot langte nach seinem Schwert. Er wollte es tun wie die anderen und sich schneiden, ohne den Stahl blank zu ziehen, damit die Heere nichts sahen. Er packte den Griff und suchte mit dem Zeigefinger den Ansatz der Klinge. Ohne Vorwarnung zog er sie ganz heraus und ließ sie zwischen Artus und Mordred herunterfahren. Beide Könige wichen zurück. Lancelots Schwert zerschnitt eine rote Viper, die zischend aus Mordreds Blut entstanden war. Es war keine bloße Einbildung. Die getrennten Hälften der Schlange wanden sich zwischen ihnen auf dem Boden. Lancelot hackte weiter darauf ein und zerschnitt sie in drei und vier Teile. Immer noch wand sich die Schlange. Sein Schwert hob sich und fuhr nieder. Mordred und Artus beobachteten das blutige Schauspiel erschrocken und entsetzt. Endlich blieben die Stücke der Schlange reglos liegen, und das schreckliche Zischen hörte auf. Erst jetzt hörten sie das Donnern der gegeneinander vorrückenden Heere. Auf der anderen Seite des Cam und im Wald hatten die Soldaten nackten Stahl und Blut gesehen. Sie griffen an. Der Vertrag war vergessen, nun herrschte Krieg.
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35. Die Schlacht von Camlaun Es kommt, wie es geplant war, dachte Lancelot. Mordred hatte sie alle übertölpelt. Mordred oder seine Hexenmutter. Sie hatten Artus hergelockt und Blut in eine Viper und den Vertrag in einen Krieg verwandelt. So war es geplant gewesen. Nun gut, dann sollte Mordred sterben. Lancelot hatte als Erster das Schwert gezogen und damit alle anderen Krieger in Bewegung gesetzt. Jetzt wollte er zustoßen. Er ging auf Mordred los. Der angebliche König stieß sich rückwärts von den Knien hoch und rollte sich ab. Er presste die verkrüppelte Hand an den Körper und trippelte davon. Statt den Usurpator zu treffen, traf das Schwert auf Stahl. Einer von Mordreds Strolchen baute sich auf. Metall klirrte gegen Metall. Ein fleischiger Arm drückte Lancelots Schwert zur Seite. Der Krieger griff an. Lancelot wich zurück. Er zielte auf den Hals des Kerls, und sein Schwert drang tief ins Fleisch. Blut ließ den Schnee schmelzen. Der Mann fiel schlaff zu Boden. Der erste Tote an einem Tag, an dem es noch viele Tote geben sollte. Blut und Eis, so hätte es nicht sein sollen. Aber wenigstens war die Vision nicht wahr geworden. Wenigstens hatte Mordred nicht Artus getötet. Nun gut, wenn es keinen Vertrag gab, dann sollte eben Krieg sein. Lancelot drängte sich vor und baute sich vor seinem König auf. Heftig schwang er sein Schwert und wehrte die Hiebe von drei Kriegern gleichzeitig ab. Ach, das war schon eher nach seinem Geschmack. Wieder griffen sie an. Lancelot schlug eine Klinge weg, dann die zweite und die dritte. Er musste mehr tun als nur verteidi 225
gen. Drei Angreifer und drei Grundmanöver - Parade, Riposte und Angriff. Der Mann auf der rechten Seite stach nach Lancelot. Dieser fing den Angriff ab und drückte das Schwert zurück. Der Mann auf der linken Seite holte zu einem Schlag aus, der Lancelot enthaupten sollte. Lancelot hob seine Klinge und drehte dem Gegner das Schwert aus der Hand. Der dritte direkt vor ihm stach nach seinem Bauch. Mit einem raschen Schritt zur Seite gelangte Lancelot direkt vor seinen Feind und durchbohrte ihn. Als der Mann zusammenbrach, durchtrennte Lancelot schon dem nächsten Angreifer den Hals. Der Letzte hatte unterdessen das Schwert fallen gelassen und rannte weg. Lancelot trat in den Bereich, den er sich frei gehackt hatte. Die Verräter zogen sich vor ihm zurück, doch neben ihm drängte jemand nach vorn. König Artus ging mit Excalibur in der Hand zum Angriff über. »Was tust du da?«, fragte Lancelot. »Wenn sie dich töten, dann ist alles vorbei.« Excalibur gab ihm die Antwort. Es fiel wie ein Hammer und zerschmetterte einen Gegner. »Ich bin ein Kriegerkönig, Lancelot. Ich habe meine Nation mit dem Schwert in der Hand aufgebaut, und so will ich sie auch zurückgewinnen.« Er machte einen weiteren Schritt den Hang hinauf und hackte einen Mann in zwei Teile. Lancelot hatte Angst, als er den König in diesem Dickicht von Stahl sah, doch dann erinnerte er sich an Rhiannon. Solange Artus diese Scheide trug, konnte er nicht verbluten. Mehr noch, als er sah, wie sein Herrscher einen Mann nach dem anderen angriff und besiegte, ohne auch nur einen Schlag hinnehmen zu müssen, war Lancelot klar, dass der
Kriegerkönig auf sich selbst Acht geben konnte. »Mach nur nicht so schnell«, rief Lancelot lachend. »Wir kommen ja kaum noch mit.« »Ich kann es nicht erwarten«, gab Artus mit bösem Grinsen zurück. »Ich bin auf dem Rückweg nach Camelot.« Hinter ihnen begann ein größerer Angriff. Sie hörten Hufe über den Boden donnern. Jemand stieß Lancelot an der Schulter an, und als er sich umdrehte, sah er Rasa. Das kluge Tier hatte Artus' Pferd gleich mitgebracht. »Wenn wir schon nach Camelot ziehen, dann wollen wir es stan 226
desgemäß tun«, rief Lancelot. Er schwang sich auf Rasas Rücken. Das Pferd stieg und machte mit den Vorderhufen zwei Rebellen nieder, die den König angriffen. Grinsend zog sich auch Artus in den Sattel. »Was wäre die Kavallerie ohne Pferde?« Die Ritter der Tafelrunde griffen das Stichwort auf und stiegen ebenfalls auf ihre Pferde. Sie griffen weiter an. Wie Erntehelfer auf dem Feld mähten sie die Verräter nieder. Das Abkommen sollte an diesem Tag wirklich mit Blut unterzeichnet werden. Mit mehr Blut, als man überhaupt auf einen Vertrag schreiben konnte. Als die Ritter vorstießen und Mordreds Bande stellten, wartete Guinevere schon im Wald. Sie rief das Volk der Wälder. Dryaden mochten die Kälte nicht und tauchten nur träge aus den alten Eichen auf, in denen sie lebten, doch sie kamen. Die Feen glühten in der frostkalten Luft in hellerem Blau als sonst. Die Geister des Waldes schliefen gewöhnlich im Winter. Nur wenige waren gekommen, um Zeuge der Unterzeichnung des Vertrages zu werden. Die Wassergeister dagegen waren leichter zu rufen. Solange der Fluss noch strömte, schwammen sie in ihm. Seikies, Kelpies, Najaden und Wassernixen sahen aus der Tiefe zu, während die Pferde durch die Furt liefen. Sie waren naturgemäß sehr neugierig auf alles, was in ihren Wassern planschte, doch sie zögerten, sich in vollem Tageslicht zu zeigen. Nur die Luftgeister - die Irrlichter, Gespenster und die Winde -versammelten sich bereitwillig. Der Winter verlieh ihnen sogar zusätzliche Kräfte. Schnee und Graupel, Frost und Stürme und die Kälte waren die Waffen, die sie trugen, und sie waren begierig, ihre Waffen einzusetzen. Guinevere musste sie sogar mühsam überzeugen, dass es vielleicht gar nicht nötig sei. Dann aber blitzte Lancelots Schwert. Es schien, als hätte er Mordred oder Artus getötet Guinevere wusste es nicht zu sagen. Die Klinge fuhr herunter und kam mit Blut bedeckt wieder hoch. Noch einmal wurde sie gehoben und gesenkt. Mordred und Artus stürzten zurück, und von Lancelots Schwert spritzte Blut auf sie. 226
Guinevere riss die Augen auf. Was geschah dort? Ihre Frage wurde von zehntausenden brüllenden Mündern und trampelnden Füßen beantwortet. Einer großen Woge gleich stürmten die Heere von Benwick und Britannien auf den Camlaun. Die Schwerter blitzten in den Händen, während die Männer rannten. Knirschend ging es über die vereiste Uferböschung des Flusses hinweg, laut platschend durch die steinige Furt und dann auf der anderen Seite wieder hinauf. Auch im Wald hinter Mordred erhob sich Gebrüll. Dort blinkten Schwerter wie die Flügel von Motten vor den Stämmen. Sie wollten kämpfen, sie alle. Und sie alle mussten sterben. »Kommt, Kinder des Waldes«, rief Guinevere drängend. »Kommt und kämpft!«
Sie hatte Mühe, die Wesen zu wecken, doch das Brüllen der Männer vermochte, was sie nicht erreicht hatte. Aus unzähligen Spalten kamen Dryaden hervor, hölzern und schlank. Feen strömten aus allen Öffnungen und umschwärmten sie aufgeregt. Guinevere breitete die Arme aus, rannte los und zog sie hinter sich her. Nun folgte ihr das Waldvolk, das bei Tageslicht sonst so heimlich tat und mehr als Traum denn als Wirklichkeit schien. Guinevere erreichte den Cam nicht an der flachen Stelle, wo die Truppen ihn überquerten, sondern bei den Tiefen dahinter. Sie tauchte ein. Schneidend kalt war es, doch sie schwamm. Ihr Geist breitete sich im Wasser aus und beschwor all die Geheimnisse herauf, die in ihm lebten. Erhebt euch, Kinder der Wogen. Kommt und kämpft! Am anderen Ufer stieg sie auf trockenen Boden. Das Wasser strömte von ihr, doch nicht alles war Wasser. Auch Wassergeister waren dabei. Fließend und wild erhoben sich Wasserpferde und stampften. Auf ihrem Rücken ritten Selkie-Krieger, die eine menschenähnliche Gestalt angenommen hatten. Starke und zornige Najaden umströmten ihre Herrin. Die Reihen der Anderwelt mehrten sich. »Kinder der Lüfte«, rief sie, als sie den Hügel hinauflief. »Kommt! Kämpft!« Kreischende Geister stürzten aus dem grauen Himmel. Sie entfes 227 selten eiskalte Wirbelstürme und zogen Fahnen von Reif hinter sich her. Einige hatten Gesichter wie Menschen. Sie klagten, wenn sie vorbeizogen. Andere hatten keine feste Form und konnten doch heulen, dass einem das Blut in den Adern stockte. Alle stürzten begierig dem Feind entgegen. Guinevere hatte sich in einem weiten Bogen bewegt, um Mordreds Flanke anzugreifen. Jetzt lief sie durch seine grimmigen Krieger wie eine Erscheinung. Gekleidet in Luftgeister, Wassergeister und Waldgeister, war sie kaum auszumachen, doch ihre Berührung war unverkennbar. Eis bildete sich auf den Gesichtern der Krieger, verstopfte die Nasen und ließ die Augen erfrieren. Wurzeln packten die Füße der Kämpfer und zogen sie zu Boden, wo sie in Stücke gehackt wurden. Geheul zerstörte die Ohren der Krieger, bis das Blut herauslief und sie betäubt umhertaumelten. Guinevere raste durch ihre Reihen und zog die Geister hinter sich her. Die müßigen Träume ihres Volks wurden zu Albträumen. Für jeden Mann, der von den Feenwesen erschlagen wurde, zogen sich drei weitere sabbernd vor Angst zurück. Es war schrecklich, doch so war der Krieg. Das Land sollte nicht von Fremden beherrscht werden. Seit seiner Jugend hatte Artus nicht mehr auf diese Weise gekämpft. Nicht seit er Camelot erobert hatte. Er hatte fast schon den blutigen Preis vergessen, den er hatte zahlen müssen, um sein Königreich aufzubauen. Heute wollte er den gleichen Blutpreis entrichten, um das Land von Mordred zu befreien. Mordred — wo war er überhaupt? Wenn dieser eine Wurm starb, dann musste kein anderer mehr sterben. Es ging nicht einfach nur um Rache. Jeder Augenblick, den Mordred noch lebte, bedeutete, dass eine weitere Gallone Blut vergossen wurde. Artus und seine Ritter hatten sich durch Mordreds Leibgarde einen Weg frei gehackt und kämpften jetzt gegen berittene Krieger. Artus hob den Kopf über das Kampfgetümmel und sah sich nach dem falschen König um. Auf Händen und Knien war er eine Viertelmeile gekrochen und hatte sich so dem Kampf entzogen. Er wollte zu einer Senke in der Nähe, vermutlich, um sich hinter einem Felsen zu verstecken. 227 Mit lautem Knurren schlug Artus das Schwert seines gegenwärtigen Feindes zurück. Er ließ Excalibur niederfahren und spaltete den Mann sauber vom Helm bis zum Herz. Der Leichnam kippte vom kreischenden Pferd. Er war Artus im Weg, eingeklemmt von der Kavallerie hinter ihm.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, steckte Artus Excalibur in die Scheide und zog die Lanze des Longinus. Er richtete sie über das im Weg stehende Pferd hinweg auf den nächsten Reiter und warf ihn vom Pferd. »Ja! Ja!«, rief der König und ließ sein Pferd die Hacken spüren. Da es nicht laufen konnte, stieg es, doch als es herunterkam, hatte sich ein kleiner freier Raum gebildet. Das Pferd sprang vor, und ein weiterer Krieger war in Reichweite der Lanze. Auch er wurde aus dem Sattel geworfen. »Ja! Ja!« Artus trieb sein Ross zum Trott an. Er räumte sich den Weg mit der Lanze frei und drängte die reiterlosen Pferde zur Seite. Als kämpfte er mitten im Krieg ein Turnier, stieß König Artus weiter vor, bis sein Pferd im Galopp laufen konnte. Nach wenigen Augenblicken war er an zehn und dann an zwanzig feindlichen Reitern vorbei. Die letzten wurden nicht einfach vom Pferd gefegt, sondern von der Lanze getötet. Kraftvoll riss er die Waffe aus dem sterbenden Fleisch und galoppierte in den lichten Wald dahinter. Diese blutigen Händel waren im Grunde doch nur ein Kampf zwischen Vater und Sohn. So hatte es begonnen. So sollte es auch enden. Die Lanze weiter nach vorn ausgerichtet, ritt König Artus über den Hügelkamm, hinter dem Mordred verschwunden war. »Wohin willst du?«, rief Lancelot inmitten des Schwerterklirrens. Artus stürmte wie ein Irrer durch die Kavallerie der Verräter. Er gebrauchte jetzt sogar seine Lanze statt des Schwerts. Mit ihr schnitt er sich einen schmalen Weg frei, der sich unmittelbar vor ihm öffnete und sich direkt hinter ihm wieder schloss. »Wo will er hin?«, fragte Lancelot die anderen Ritter. Niemand antwortete ihm, sie hatten alle Hände voll zu tun. »Wohin er auch will, ich folge ihm.« 228
Rasa verstand. Er drängte sich durch die Herde der reiterlosen Tiere. Hier gab es niemanden mehr zu töten, hier schössen nur kopflose Pferde hin und her und wollten fliehen. Lancelot drängte sich durch sie hindurch, wie sich ein Treiber durch die Schafe drängt. Er musste sich weit zur Seite lehnen, um überhaupt noch einen berittenen Verräter zu erwischen. Er schlug nach rechts, traf ein Schwert und schleuderte es fort. Die Klinge drehte sich einmal um sich selbst und prallte gegen den Brustharnisch eines zweiten Kriegers. Der überraschte Mann sah Lancelots zweiten Stoß nicht kommen. Er wurde am Schulterstück getroffen und ging zu Boden. Lancelot reckte den Hals, um das Gedränge zu überblicken, und sah eben noch Artus' Pferd verschwinden. Es galoppierte über eine Erhebung und lief ins Tal dahinter. Noch schlimmer, zwei von Mordreds Reitern wendeten die Pferde, lösten sich aus der Meute und hetzten dem König hinterher. »O nein, das kommt nicht infrage«, knurrte Lancelot. Rasa sprang los und schob sich rücksichtslos durch die anderen Pferde. Sie scheuten vor ihm, und er konnte galoppieren. Das letzte Tier, ein rotgrauer Wallach, bekam den Hauptstoß ab. Rasas Schulter traf seine Hüfte, und das Tier drehte sich um sich selbst wie ein Hund, der sich niederlegt. Es wieherte zornig, doch Rasa war schon vorbei. Er zog den Kopf ein und stemmte die Hufe in den gefrorenen Boden. Beängstigend nahe flogen die Bäume vorbei. Rasa suchte sich einen Weg, der parallel zu der Spur verlief, die von einem der Reiter gezogen worden war. Mit ausgreifenden Schritten verringerte der weiße Hengst die Distanz, bis er neben den Schecke kam und zwischen ihnen nur noch eine dünne Reihe von Bäumen war.
Der Reiter sah herüber und erwartete, einen seiner eigenen Männer zu sehen. Er riss die Augen auf. Lancelot blickte nach vorn, schätzte die Entfernung zum nächsten Baum ab und schlug zu. Seine Klinge traf den Hals des Mannes. Schnell zog er das Schwert zurück und riss damit den Reiter aus dem Sattel. Er überschlug sich und krachte gegen den Baum. 229
»Wo ist der Zweite?«, knurrte Lancelot. Rasa wendete und schoss zum zweiten Reiter. Er war einen Steinwurf entfernt und näherte sich rasch der Stelle, an der Artus verschwunden war. Mit trommelnden Hufen suchte Rasa sich den besten Weg. Die Muskeln spannten und entspannten sich unter dem weißen Fell. Er holte auf, als stünde das andere Pferd still. Sie kamen näher. Lancelot hatte noch nicht einmal Zeit, das Schwert vor sich auszurichten. Rasa rammte einfach das andere Tier, das aufschrie und stürzte. Pferd und Reiter prallten gegen eine alte Eiche. Während sie noch strampelten, rannte Rasa schon weiter. Er brach aus dem Wald und wurde langsamer, lief sogar im Halbkreis zurück. »Was machst du, Rasa?«, rief Lancelot. »Wir müssen Artus finden.« Rasa schnaubte nur und stampfte. Lancelot schaute auf und sah drei weitere Männer aus Mordreds Kavallerie kommen. »Oder wir sorgen dafür, dass es denen da nicht gelingt«, sagte er. Noch keuchend vom letzten Kampf stellten sich Reiter und Pferd den drei Neuankömmlingen entgegen. Lancelot steckte das Schwert in die Scheide und nahm die Lanze aus dem Köcher. »Vielleicht sollte ich es wie Artus versuchen.« Er richtete die Lanze aus und griff an. Was ist geschehen? Was ist da mit meinem Blut passiert? Im Winter kommen doch keine Schlangen hervorgekrochen. Schlangen bilden sich sowieso nicht aus Blut. Was war das? Fragen um Fragen gingen Mordred durch den Kopf, als er sich kriechend vom Schlachtgetümmel entfernte. Schlacht? Was war denn eigentlich aus dem Abkommen geworden? Er hatte doch den Kampf an den Königshof verlagern wollen, wo er siegen konnte. Ein kleiner Mann mit verkrüppeltem Arm und ein blutrünstiger Vater — welche Chance hatte Mordred jetzt noch? Warum war es so weit gekommen? Es gab nur eine einzige Antwort auf all diese Fragen. Morgan le Fey. Sie hatte die Natter gerufen. Sie hatte den Vertrag vorgeschlagen, und sie hatte ihn gebrochen. Aber warum? Mordred wollte Antworten haben. Bei Gott, er konnte die Antworten verlangen. Immerhin war er noch der König. Und wer war eigent 229
lieh seine Mutter? Nur eine wütende Hexe. Aber um ihr Fragen zu stellen, musste er überleben, und um zu überleben, musste er sich aus der Schlacht stehlen. Er war jetzt weit genug vom Kampfgeschehen entfernt, um sich umdrehen und laufen zu können. Mordred rannte über einen Höhenzug und ins nächste Tal hinunter. Hier lagen viele Felsen verstreut, große graue Steinplatten standen aus der Erde hervor. Ein Bach plätscherte den Hügel herunter. Am anderen Ende des Tals hatte sich ein mit Eis bedeckter Teich gebildet, hinter dem sich der Bach verlor. Unter einigen Steinplatten waren Hohlräume, kleine Höhlen sogar. An anderen Stellen lehnten Keile aus Stein gegeneinander und bildeten dreieckige Unterstände. Hier konnte er sich verbergen, vielleicht sogar unbeschränkt lange. Hier konnte er seine Mutter herabrufen. Geduckt huschte Mordred zwischen den Bäumen entlang zur steil abfallenden Klippe am Ende der Ebene. Schließlich fand er ein passendes Versteck, schmal und dunkel und tief,
und schob sich rückwärts hinein. Die Steine schienen sich um ihn zu schließen. Die Schritte hallten laut. Er erreichte das Ende des Ganges und hockte sich hin. Sogar sein Herzschlag schien ihm laut. Wenigstens war es dunkel. Nur ein einziger langer Lichtbalken fiel von der Außenwelt herein. Mordred kauerte nieder. »Mutter«, flüsterte er atemlos. Es klang wie ein erstickter Schrei. »Mutter, was hast du mir angetan?« Sie lauschte auf alles, was er sagte. Sie kam. Dieses Mal musste sie sich nicht erst aus der Dunkelheit zusammenfügen, denn hier war es immer dunkel. Sie umfing ihn. Glaubst du denn, du seiest der Einzige, der den Krieg gewinnen will? »Ich glaubte dich auf meiner Seite«, klagte Mordred. »Ich dachte, wenn ich siege, dann siegst auch du.« Nein. Hättest du gesiegt, dann wäre Artus nach Camelot zurückgekehrt und hätte geherrscht, bis du ihn tötest, und dann hättest du Camelot beherrscht, bis jemand anders dich getötet hätte, und dann hätte dieser wiederum geherrscht, bis er selbst getötet worden wäre. Verstehst du, dass dies etwas war, das ich nicht wollte? »Du willst nicht, dass jemand anders mich tötet?« 230
Nein. Ich will Camelot überhaupt nicht haben. Ich will, dass überhaupt kein Sterblicher dieses Land regiert. Ich habe dies alles so eingerichtet, nicht damit du gewinnst oder damit Artus siegt, sondern damit kein Mensch den Sieg erringt. Mordred hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewusst, wie groß seine Angst sein konnte. Unwillkürlich begann er zu keuchen. »Du willst Anarchie und schlimmste Zerstörung?«
Wie wenig du mich doch kennst, mein Sohn. Bevor Camelot entstand, haben die alten Mächte das Land beherrscht. Die Römer konnten sie nicht unterwerfen. Sie haben den Antoniuswall und den Hadrianwall gebaut, um die Kräfte draußen zu halten, doch das hat nur die Pikten aufgehalten. Das Volk, das die alten Mächte anbetete. Selbst die Kelten konnten die alten Mächte nicht unterwerfen. Dann kam Artus und baute Camelot, das aufi Feenreich gründet, und nutzte die alten Mächte. Doch er hat sie mit diesem neuen Christus vermählt. Merlin ist nun fort, und Guinevere ist fort. Geblieben sind nur das christliche Schwert und die christliche Lanze und der christliche Kelch. Sogar die Ritter ziehen die Mönchskutte an. Wenn Christus auf dem Thron von Camelot sitzt, dann werden die alten Mächte unwiderruflich sterben. »Mutter, ich werde mich doch nicht Christus zuwenden!«, protestierte Mordred.
Alle Menschen wenden sich Christus zu, denn er ist der Gott der Menschen. Besser ist es, wenn überhaupt kein Mensch Camelot regiert. Besser, dass es überhaupt kein Camelot mehr gibt. Endlich verstand Mordred, und mit dem Verstehen ergriff eine eigenartige Ruhe Besitz von ihm. »Dann willst du also, dass dieser Tag das Ende von Camelot ist. Auch das Ende von uns allen?« Er bekam keine Antwort. Seine Mutter war fort. Etwas bewegte sich vor Mordreds Versteck. Er lugte hinaus und sah seinen Vater, König Artus, hereinschauen. 230
36. Tod »Willst du nicht hinaussteigen?«, fragte König Artus. Er spähte in das tiefe Loch. Da unten kauerte sein Sohn in der Dunkelheit. »Oder soll ich hereinkommen?« Mordred presste sich an die Steinwand. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. »Willst du mich denn kaltblütig ermorden?« Das graue Nachmittagslicht verlieh Artus' Gesicht die gleiche Farbe wie dem Bart. Wie eine Statue stand er dort. »Du hast mich mit deiner Schriftrolle kaltblütig ermorden wollen.
Aber nein, ich werde dich dennoch nicht kaltblütig umbringen. Ich werde dich heißblütig umbringen. Komm heraus und stell dich mir.« »Du hast Excalibur. Wie soll es ein gerechter Kampf sein, wenn du Excalibur hast?« »Du hast ein Schwert, Mordred. Es ist ein gerechter Kampf.« »Du hast die Scheide Rhiannon. Sie heilt dich. Du kannst nicht verletzt werden.« »Ich werde die Scheide weglegen und schwören, sie nicht zu benutzen, während wir uns duellieren.« Er hob die Hand und zog Scheide und Schwert von seiner Schulter. Dann nahm er Excalibur aus der Scheide und warf Rhiannon auf einen flachen Stein in der Nähe. Die nächsten Worte brüllte er fast wie einen Befehl. »Los jetzt, komm heraus!« Mordred holte noch einige Male tief Luft. Dann, immer noch geduckt, trippelte er nach vorn. »Geh weg da, sonst kann ich nicht herausklettern und mein Schwert ziehen.« Artus nickte und wich ein wenig zurück. »Warum ist es nur so weit gekommen, Sohn?« »Das solltest du mir erklären«, gab Mordred zurück, als er den Ausgang der Höhle erreichte. »Du bist doch derjenige, der mich heraus 231
ruft, weil er mich töten will.« Draußen im Freien angelangt, streckte er sich ausgiebig. »Aber egal. Es ist zu spät, du bist nicht mehr mein Vater. Da kannst du mich auch töten.« Artus nickte grimmig. »Bewaffne dich.« Mordred zog zum ersten Mal, seit der Kampf begonnen hatte, das Schwert aus der Scheide. Es war scharf, und er konnte gut damit umgehen, doch seine tödlichste Waffe war bereits in Gebrauch. »Wenn ich mich recht erinnere, ging es mit unserer Beziehung bergab, als du dich entschlossen hast, deine eigene Schwester zu vergewaltigen.« Der König zuckte sichtlich zusammen, als er diesen Hieb einstecken musste. Er trat vor und hob Excalibur. Mordred zog sich zurück und hob sein Schwert zur Abwehr. »Wahrscheinlich sollte man es dir sogar hoch anrechnen, dass du sie nicht einfach umgebracht hast, als du mit ihr fertig warst. So weit ich es verstehe, ist es ja das Vorrecht eines Tyrannen, zu vergewaltigen und zu morden.« Excalibur kam in einem Schlag herunter, der eher mit Zorn als mit Präzision geführt war. Mordred sprang zur Seite und wehrte das Schwert ab. Es prallte auf den Boden, und er beugte sich gelenkig vor, um Artus einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. Mordred zog sich zurück, bevor Excalibur wieder gehoben werden konnte. Blut tränkte den grauen Schnurrbart des Mannes. Es war kein tödlicher Schlag, solange nicht viel Gift in die Wunde gespült wurde, doch das erste Blut war geflossen, und dies war empörend. Knurrend griff Artus weiter an, doch Mordred wich zu dieser und jener Seite aus und sprang über Steine. Der König folgte ihm. »Bleib stehen, du Welpe. Willst du dich mit mir duellieren, oder willst du schon wieder mit eingezogenem Schwanz weglaufen?« Mordred sprang auf ein höheres Sims und trat einen Stein los. Er flog und krachte gegen Artus' Brustharnisch. »Den Zweikampf will ich wohl, Vater. Aber ich führe ihn auf meine Art.« Unermüdlich und ernst kletterte der König hinterher. »O ja, du führst ihn auf deine Art. Deine Art ist Täuschung, Lüge und Hinterlist.« 231
»Es ist eine Art«, sagte Mordred. Er sprang unvermittelt neben seinen Vater und wollte ihn stechen.
Artus war zu schnell fiir ihn. Excalibur fing das Schwert ab und schleuderte es zur Seite, dann fuhr die Klinge wieder herab. Sie konnte Stein schneiden und durchtrennte Mordreds Brustharnisch wie Papier. Auch das Fleisch darunter zerschnitt sie und drang bis in die Eingeweide vor. Mordreds Bauch platzte auf, und er stürzte rückwärts vom Sims. Krachend landete er eine Stufe tiefer auf dem Stein. »Verdammt«, grollte Artus. Er hatte seinen Sohn nicht abschlachten wollen. Er hatte ihn rasch und sauber töten wollen, doch Mordreds Possen hatten ihn abgelenkt. Zähneknirschend drehte Artus sich um und sprang eine Stufe tiefer, um seinen Sohn zu töten. Doch Mordred war nicht mehr da. Keuchende Atemzüge waren aus der Höhle unter dem Stein zu hören. Artus beugte sich vor und lugte hinein. »Komm heraus, Sohn. Du wirst dort unten elendig zugrunde gehen. Komm heraus und lass es uns zu Ende bringen.« Ein Schwert hackte aus der Dunkelheit nach ihm. Es durchschlug Artus' Helm und drang in seinen Schädel vor. Artus taumelte zurück; das Schwert kreischte auf dem verbeulten Helm, als es herausgezogen wurde. Artus setzte sich und tastete blind um sich, als er vom Stein kippte. Mit einem Auge konnte er nicht mehr sehen, denn aus dem Loch schoss eine Blutfontäne. Artus hob die Hand und betastete die Wunde. Knochensplitter ragten daraus hervor, und sein Schädel war zum Teil eingedrückt. Er brüllte. Das Geräusch kam ihm selbst fremd vor. Es hallte seltsam. Das Brüllen verwandelte sich in ein Lachen. Das Lachen seines Sohnes. Aus der Höhle drang Mordreds Stimme. »Du musst wissen, die Klinge ist vergiftet. Du kannst dem Tod nicht entkommen. Na, wer wird jetzt elendig verrecken?« Artus' Arme pendelten hilflos, Excalibur bebte. »Wir sterben beide, mein Sohn.« »Nein, mein Vater«, erwiderte Mordred leichthin. »Denn du musst wissen, dass ich Rhiannon habe. Du hast die Scheide nahe bei mir lie 232
gen lassen, und sie wird mich heilen. Sobald mein Bauch zusammengeflickt ist, komme ich wieder heraus und gewähre dir die Gnade eines raschen Todes.« Artus kam schwankend auf die Knie hoch, dann auf die Beine. Er konnte kaum das Gleichgewicht halten. Er zwang sich, schleppte sich zum Rand des Absatzes und glitt hinter. Als er unten stand, torkelte er zu seinem Pferd. »Na, und wer flieht jetzt, Vater?«, höhnte es hinter ihm. Mordred rutschte in seiner Spalte hin und her und wollte aufstehen, doch sein Stöhnen verriet, dass er noch nicht so weit war. »Wer ist jetzt der Feigling, Vater?« Artus erreichte sein Pferd und blieb einen Augenblick stehen, um Kräfte zu sammeln. Er lehnte den Kopf an die Flanke des Tiers. Blut lief in einer breiten Bahn über das Fell. »Du kannst nicht einmal in den Sattel steigen, geschweige denn fortreiten.« Artus packte den Sattel und zog. Er zog sich nicht hinauf, sondern holte die Lanze des Longinus aus dem Köcher. Mit beiden Händen hielt er sie und schritt zum Steinblock und dem Spalt darüber zurück. Wieder tönte Gelächter aus der Dunkelheit. »Alter Narr. Du kannst mich nicht töten. Du kannst mich nicht einmal verletzen, solange ich die Schwertscheide habe. Die Lanze hat vielleicht Christus getötet, aber sie kann nicht Mordred töten.« Steif kletterte Artus wieder auf den Vorsprung und bückte sich über die Spalte, wobei er darauf achtete, außerhalb der Reichweite von Mordreds Schwert zu bleiben. Er richtete die
Lanze aus und zielte in die Dunkelheit. Sie verfehlte nie ihr Ziel. Mit einem wortlosen Brüllen stieß er zu und legte sein ganzes Gewicht in den Stoß. Sie traf das Ziel und zerschmetterte es. Es gab einen lauten Knall, dann drang das gläserne Klirren von Edelsteinen aus der zerstörten Scheide. Mordred kreischte vor Wut. Artus wich zornig zurück, baute sich auf und hielt die Lanze bereit. Mordred stürzte, das Schwert vor sich haltend, aus der Höhle. Die Lanze des Longinus stach zu. Sie durchstach, was von Mordreds Brustharnisch noch übrig war, die drang durch Haut und Mus 233
kein, zerstörte die Knochen und fuhr dem Mann durchs Herz. Blut und Wasser strömten heraus. Mordreds Augen wurden grau. Er ließ das Schwert fallen und brach tot auf dem Stein zusammen. Artus ließ die Lanze los. Auch er stürzte. Zusammen verbluteten sie auf dem großen Menhir, zwei Opfer im Tod vereint. Lancelot riss die Klinge aus dem Helm des dritten Reiters. Der Mann kippte zur Seite. Sein Pferd scheute, als wollte es ihn wieder auffangen, und rannte gegen einen Baum. Der Mann prallte gegen die Rinde und rutschte herunter. Wieder waren Hufschläge zu hören. Lancelot schaute auf. Fünf weitere Verräter lösten sich aus der Kavallerieabteilung. Sie zielten mit Fingern auf Lancelot und trieben ihre Pferde mit Tritten an. Drei konnte er aufhalten, aber fünf? Müde hob er sein Schwert. »Wir wollen weiter, Rasa.« Das Pferd reagierte nicht. Der Hengst stand einfach da, während das Trommeln der Hufe immer lauter wurde. Doch es waren nicht nur Hufe. Irgendetwas brach aus dem Boden hervor - Wurzeln, Schösslinge, Ranken, Dornendickichte. Hunderttausend sich windende Ranken sprengten die gefrorene Erde und stiegen hoch. Sie verflochten sich miteinander und bildeten ein undurchdringliches Dickicht zwischen Lancelot und der angreifenden Kavallerie. Zwischen den Zweigen bewegten sich andere, körperlose Dinge - Finger, Arme, Schultern, Gesichter und die schiere Willenskraft der Feenwesen. Ein ganzes Heer hatte sich erhoben, um die Kavallerie zu bekämpfen. In ihrer Mitte stand eine lebendige Frau. Sie trat aus dem Dornendickicht, verwandelte sich von Geist in Fleisch und rannte zu Lancelot. Guineveres Gesicht war kreidebleich. »Artus«, keuchte sie, als sie Lancelot erreichte. Er zog sie hinter sich auf Rasa. »Wir müssen zu ihm.« Bevor Lancelot etwas sagen konnte, galoppierte der Hengst schon zum Höhenzug und in die Senke dahinter. Guinevere klammerte sich an Lancelot. Ihre Hände waren kalt. Rasa überwand die Anhöhe und lief schon wieder bergab. Die Hufeisen schlugen Funken aus den 233
Steinplatten, als er zum Bach hinunterlief. Er sprang hinüber, und als er auf der anderen Seite wieder hinaufkletterte, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Dort auf dem Steinsims lagen Artus und Mordred, Vater und Sohn. Mordred war von der Lanze des Longinus gepfählt worden. Sie hatte sein Herz zerstört, und das Blut bildete eine große Lache unter ihm. Artus lag neben ihm auf dem Rücken. In einem tiefen Spalt in Helm und Kopf stand Blut. Es füllte eine Augenhöhle und lief in stetigem Strom die Schläfe des Königs hinunter. Obwohl schwer verwundet, hielt er Excalibur fest umfangen.
Guinevere glitt vom Pferderücken und stieg zu Artus hinauf. Sie ging neben ihm auf die Knie und tastete rasch die Wunde ab. »Wir müssen ihm den Helm abnehmen«, sagte sie zu sich selbst, doch die Stahlkanten hatten sich in die Wunde gefressen. Lancelot kniete sich neben sie und versuchte vorsichtig, den Helm zu entfernen. Es gelang ihm nicht. Das Metall hatte sich wie mit Fingern festgekrallt. »Es spielt keine Rolle ...«, sagte Artus schwach. »Du bist wach!«, keuchte Guinevere. »Mordreds Schwert war vergiftet«, sagte Artus. »Selbst wenn ihr mir den Helm abnehmt... könnt ihr mich nicht heilen.« Lancelot sah sich verzweifelt auf dem Sims um. »Wo ist die Scheide? Wo ist Rhiannon?« »Zersprungen«, erwiderte Artus. Trotz des Helms und trotz des Gifts legte Guinevere die Finger sanft auf die klaffende Wunde. Sie begann zu singen. Ihre Finger zitterten. Winzige Fünkchen Energie kreisten in der blutigen Höhlung. Sie zerrten am verletzten Fleisch und wollten den Lebensfunken wiedererwecken. Doch das Gewebe war bereits abgestorben, und das Gift drang tiefer ein. Sie konnte es mit ihrer Magie nicht mehr erreichen. »Erinnerst du dich an Mount Badon?«, sagte Artus seufzend. »Wie ich eine offene Wunde hatte und du mich heiltest ... Stunden um Stunden ...« »Ja«, sagte sie und versuchte zu lächeln, obgleich in ihren Augen die Tränen standen. Sie sang weiter. 234
»Erinnerst du dich an Bedgrayne? Lot hätte mich beinahe getötet ... nur du und Rhiannon habt mich gerettet.« »Wir werden dich auch heute retten«, versprach Guinevere. Der König fasste ihre Hand und zog sie von der Wunde weg. Sein Blut verschmierte ihre Finger. »Nein. Dies ist das Ende. Du weißt es.« Guinevere sah Lancelot an. »Heb ihn hoch. Ich kann ihn nicht heilen, aber Brigid ...« »Ja«, sagte Lancelot. Er legte Excalibur auf Artus' Brust, schob die Arme unter ihm durch und hob ihn an. »Dort!«, sagte Guinevere. Sie deutete zu der Stelle, wo sich der Bach in einen mit Eis bedeckten Teich ergoss. »Dort.« Mit der Geschmeidigkeit der Tuatha trug Lancelot seinen König über den Steinsims, den Hang hinunter und bis zum Teich. Guinevere folgte ihm und hielt nur kurz inne, um die Lanze des Longinus aus Mordreds Leichnam zu ziehen. Sie schleifte sie hinter sich her über die Felsen, hob sie und rammte sie ins Eis, das sogleich splitterte. Blut strömte ins Wasser. Sie warf den Speer weg und nahm Artus' Hände. »Nach Avalon.« »Nach Avalon«, sagte der König schwach. Sie sprangen ins eiskalte Wasser und gingen sofort unter. Blut trübte den Teich. Über ihren Köpfen schloss sich die Oberfläche wieder, Eiskristalle wuchsen knisternd zusammen. Dann verschwand alles, und sie wirbelten durch die Dunkelheit. Artus, Lancelot und Guinevere fuhren durch die kalten Adern der Welt. In der Dunkelheit und Kälte klammerten sie sich aneinander. Auf einmal standen sie am See von Avalon. Er dampfte in der Winterluft. Nebelgeister tanzten auf der spiegelnden Fläche. Aus diesen Schwaden erhob sich die Insel weit und schön in sommerlicher Wärme.
»Warum sind wir am Ufer und nicht auf der Insel?«, fragte Lancelot sich. Blut und Wasser liefen aus Artus' Bart, und seine Haut war grau. »Excalibur ...« »Was?«, fragte Lancelot. »Merlin hat das Schwert ursprünglich hier versteckt ... vor den 235
Göttern verborgen. Rhiannon bildete sich im See aus geopferten Diamanten. Die Scheide verbarg Excalibur. Jetzt ist Rhiannon zerstört, und nun muss Excalibur ins Wasser zurück ... vor den Göttern verborgen werden ...« Lancelot starrte das Schwert an, die beste Klinge, die es jemals auf der Welt gegeben hatte. »Wirf es hinein, Lancelot«, sagte Artus. »Nein, ich kann nicht.« »Es darf nie wieder einem Sterblichen in die Hände fallen. Nicht, bis es einen neuen Artus und ein neues Camelot gibt.« Lancelot schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir sind mit dem alten Artus und dem alten Camelot noch nicht fertig.« »Wirf es hinein, Lancelot ... es ist der Preis für unsere Überfahrt.« Lancelots Atem strich über die silberne Klinge, schlug sich als Schleier darauf nieder und verdunstete. Er legte den König auf den gefrorenen Boden am See, bettete Artus' Kopf ins Gras und nahm das Schwert. Es war wunderschön - leicht, mächtig, ausgewogen. »Tu es jetzt.« Lancelot hob Excalibur über den Kopf. Er holte tief Luft und schleuderte die Klinge auf die Wasserfläche hinaus. Funkelnd wie ein Stern flog sie durch die Luft. Sie drehte sich um sich selbst, spaltete den Nebel und hüllte sich wie mit Spinnweben damit ein. Auf der Oberfläche war einen Herzschlag lang das Abbild des unvergleichlichen Schwerts zu sehen, als es eintauchte. Eine Hand kam aus dem Wasser und fing die Klinge auf - eine schlanke und doch starke Frauenhand. Brigids Hand. Dies war der Preis für ihre Überfahrt. Langsam zog sie die Klinge hinab. Als die Spitze verschwunden war, tauchte die Fähre dort auf, wo sie immer gewesen war. Zwei Frauen standen auf der Fähre - Brigid, in strahlende Gewänder aus Licht gekleidet, und Morgan Le Fey, in ebenso strahlende Gewänder aus Dunkelheit gekleidet. Zwischen ihnen stand der Fährmann mit seiner Kapuze, der das Boot bewegte. Winzige Wellen schwappten vor dem Bug und breiteten sich im glasklaren Wasser aus. Das Boot schien sich überhaupt nicht zu bewegen, doch auf einmal war es am Ufer. 235
»Bringt ihn her«, sagte Brigid schlicht. Sie öffnete die Arme, um alle drei zu empfangen. »Warum ist Morgan le Fey hier?«, fragte Guinevere, als Lancelot sich bückte und Artus aufhob. Brigids Gesicht war heiter in den Gewändern aus Licht. »Sie ist seine Halbschwester und ein Teil der Macht des Landes. Sie ist mein Schatten geworden und hat das Recht, hier zu sein. Sie wird heute nichts Böses tun. Es ist nur recht, Guinevere, dass wir drei heute hier sind.« Lancelot trug Artus auf beiden Armen und trat auf die Fähre. Guinevere folgte ihm. Der Fährmann stemmte den Pfahl in den schlammigen Grund und stieß ab. Das Boot entfernte sich geräuschlos von der Welt. Gleich darauf hüllten die Nebelschwaden die Gesellschaft ein.
»Du kannst ihn heilen«, sagte Guinevere zu Brigid. »Du wirst ihn heilen. Mordreds Gifte sind kein Hindernis für dich.« »Diese Wunde wurde lange vor Mordreds Angriff geschlagen, und in ihr wirken vielfältige und starke Gifte. Manche Wunden sind tödlich.« Guinevere fing Lancelots Blick ein, und beide verstanden. Das Boot bewegte sich nicht, doch sie kamen an. Avalons sommerlicher Atem begrüßte sie und brachte den Duft der Äpfel mit, den Geruch von Klee und Wasserfällen und der Heimat. Lancelot atmete tief ein. Die Gerüche erfüllten ihn mit einer plötzlichen, eigenartigen Hoffnung. Er trat von der Fähre auf die mit Gras bewachsene Böschung und blickte nach oben. Dort am Hang stand Brigids Hütte. Er schritt darauf zu und trug Artus, als wäre der König ein Kind. Guinevere musste rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Lächelnd schauten sie auf die sommerlichen Hügel. Wie konnte Artus von Camelot an einem Tag wie diesem und auf einer Insel wie dieser sterben? Wie konnte das Paradies erlauben, dass ein großer König einfach verschied? Sie erreichten die Tür der Hütte. Guinevere warf sie auf. Lancelot trat ein und stieß mit dem Kopf an den Türsturz. »Verdammt«, fluchte er leise und errötete, als er sah, dass Brigid und Morgan schon drinnen standen. 236
Brigid hatte jetzt wieder ihren alten Körper und das einfache Kleid angelegt, das Lancelot so gut kannte. Sie winkte und zeigte auf Lancelots altes Lager, das noch zerwühlt von seiner letzten Übernachtung war. »Lege ihn dort ab. Wir wollen es ihm bequem machen.« Morgan, die jetzt nicht mehr zu sein schien als eine junge Frau in teuren schwarzen Kleidern, sah zu, wie Lancelot den König ablegte. Artus' Kopf berührte das Kissen, und das Leinen drängte empor, umgab die Wunde und zog das Blut heraus. Guinevere stieß Lancelot zurück. »Lass mich zu ihm«, bat sie fast verzweifelt. Sie kniete nieder. »Er ist mein Gatte.« Lancelot nickte und zog sich zurück. Er keuchte. Es war ein langer Aufstieg den Hügel herauf gewesen. Guinevere strich mit den Fingern über Artus' Kinn. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Lippen. Dann zog sie sich zurück, und ihre Tränen schimmerten auf seinem Gesicht. »Was soll ich nur ohne ihn tun?«, fragte sie leise schluchzend. »Was wollen wir alle ohne ihn tun?«, fügte Brigid hinzu. Lancelot sah seine Tante an. Sie hatte eine Schaufel in der alten Hand, die sie ihm nickend übergab. Mit einem letzten Blick zu Guinevere, die um ihren Gatten weinte, nahm Lancelot die Schaufel. »Lebe wohl, guter König.« Er duckte sich unter dem Türsturz durch und ging zum Obstgarten. Dort hinten gab es einen guten Platz. Dort, wo er den Sachsen begraben hatte. Lancelot zog sich bis zur Hüfte aus. Ihm wurde heiß bei der Arbeit unter der Sommersonne. Doch die Erde war schwarz und tief und ließ sich mit der Schaufel leicht ausheben. Zuerst hatte er sich gesträubt. Er wollte dabei sein. Er war Artus' Ritter, sein Verbündeter und sein Freund. Doch er war auch Artus' Rivale und der Mann, der ihm Guinevere gestohlen hatte. Das war der wahre Grund dafür, dass Brigid ihn fortgeschickt hatte.
Guinevere musste frei sein, um trauern zu können. Sie liebte Artus. Sie liebte ihn viel mehr, als Lancelot je klar gewesen war. Es war richtig, dass sie jetzt mit ihm allein war. 237
Das Grab war halb ausgehoben — drei Fuß tief auf der ganzen Länge —, als Guinevere unten kreischte. Lancelot steckte die Schaufel in die Erde und sprang aus dem Loch. Er rannte einige Schritte den Hügel hinunter, dann hielt er inne. Es war ein Reflex, sofort loszulaufen, wenn Guinevere in Not war, doch er konnte jetzt nicht zu ihr. Sie musste frei sein, um zu trauern. Tante Brigid war bei ihr. Nichts Böses konnte ihr geschehen. Sie musste frei sein. Der Schrei verwandelte sich in Wehklagen. Nein, Guinevere war nicht in Gefahr. Sie schrie, weil Artus gerade gestorben war. Lancelot ließ den Kopf hängen. Artus war gerade gestorben. Die Welt hatte sich unwiderruflich verändert. In der Hütte unten wurde es still. Lancelot drehte sich um, stieg wieder hinauf und sprang ins Grab. Er packte die Schaufel und grub weiter. Stille Tränen fielen in die fruchtbare Erde. So konnte er helfen. Es sollte ein gutes, tiefes Grab werden, und er wollte die Steinhauer bitten, eine Platte zu schneiden, die man darauf legen konnte. Lancelot selbst wollte den Grabspruch meißeln. Das war es, was er tun konnte. Das Grab war schultertief, als Brigid kam. Kummer zerfurchte ihr Gesicht. Sie ging langsam, und eine zweite Schaufel diente ihr als Krücke. Bleischwer waren ihre Schritte. »Schon gut«, rief Lancelot zu ihr herauf. »Ich brauche keine Hilfe. Ich bin fast fertig. Geh zu Guinevere zurück.« Brigid blieb. Sie stieg ganz herauf zur Grabstätte, stach die Schaufel ins Gras, lehnte sich schwer darauf und hielt inne, um zu Atem zu kommen. »Ich sagte, ich bin fast fertig. Du kannst doch kaum den Hügel heraufsteigen, ganz zu schweigen von ...« Sie setzte den Fuß auf die Schaufel, kippte sie und grub eine Grassode aus, die sie zur Seite warf. Sie setzte die Schaufel auf gleicher Höhe daneben ein zweites Mal an, stach das Blatt ein und löste ein weiteres Stück Rasen ab. 237 »Was machst du da?«, fragte Lancelot. »Siehst du nicht, dass ich hier schon fünf Fuß tief gegraben habe? Willst du, dass Artus da drüben begraben wird?« Brigid nahm die nächste Schaufel Erde auf. Sie hatte begonnen, neben dem ersten ein zweites Grab auszuheben. »Oh!«, stöhnte Lancelot. Er fiel auf die Knie. »Oh, Brigid! Nein!« Sie antwortete nicht, sondern schaufelte wortlos weiter. 237
37. Nur die kleinen Dinge Alle Buchstaben hatten die gleiche Größe. Das war wichtig. Nicht nur der Abstand, auch die Größe war wichtig, sodass es aussah, als gehörten sie zusammen, was ja auch der Fall war. Auf die kleinen Dinge kam es an. Große Dinge gab es sowieso nicht mehr, also waren die kleinen umso wichtiger. Lancelot bückte sich, blies den Staub aus der letzten Kerbe und rieb mit dem Daumen über den Stein. Er war glatt, keine Scharten und Kanten. Der Schnitt war sauber und tief, fünf Meißelbreiten hoch und drei breit. Die Breitseite des Meißels gab den Abstand zwischen den Buchstaben vor, und der Schriftzug war gerade, weil Lancelot die Schneide seines
Schwerts als Lineal benutzt hatte. Jetzt war er beim letzten Buchstaben angelangt, und auch der musste richtig ausgeführt sein. Er setzte den Meißel an, um den letzten Querbalken zu schlagen. Das Metall klirrte wie eine nervöse Glocke auf dem Stein. Ruhig hob er die Hand und legte den Meißel zur Seite. Steinstaub und Schweiß klebten in seiner Handfläche. Seine Hände waren so kalt wie der Stein. Er rieb sie aneinander. Die Hexe hatte sie getötet. Nein. Das war immer sein erster Gedanke, wenn er sich Gedanken erlaubte, und immer war ein Nein die Antwort. Brigid hätte es nicht zugelassen. Außerdem war es viel zu leicht, der Hexe einen Vorwurf zu machen. Es war viel schwerer, sich vorzustellen, dass die Liebe sie umgebracht haben könnte. Die Liebe zu Artus. Und noch schwerer zu denken, dass die Liebe für sie nicht auch Lancelot umgebracht hatte. Das waren die großen Dinge, aber er hatte genug von großen Dingen. Auf die kleinen Dinge kam es an, und große Dinge gab es sowieso nicht mehr. Er nahm Hammer und Meißel wieder auf und war nach drei wei 238
teren Schlägen fertig. Er blies nicht einmal mehr den Staub weg. Das sollten Wind und Regen und die Zeit tun. Lancelot hatte getan, was er tun konnte, und jetzt war er fertig. Er stand auf und las noch einmal die Worte. Eigentlich hatte er sie nie wieder lesen wollen, doch wenn das Auge solche Schrift erblickt, dann dringen die Worte ungerufen ein.
HIER RUHT ARTUS, EINST DER KÖNIG UND IMMER DER KÖNIG Auf der zweiten Platte stand:
HIER RUHT GUINEVERE, DES KÖNIGS HERZ Lancelot presste den Meißel an die Brust. Er schnitt sich. Da warf er ihn weg und den Hammer gleich dazu. Sollten die Steinhauer das Werkzeug im Stechginster finden, oder mochten sie es niemals finden, sodass die Zeit mit ihm tat, was sie eben tun wollte. »Du bist fertig.« Tante Brigid. Er hatte sie nicht heraufkommen hören, oder vielleicht war sie auch die ganze Zeit da gewesen. Er erschrak nicht. Wenn es nur noch um die kleinen Dinge geht, ist nichts erschreckend. »Ja«, sagte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Sie sehen schön aus. Du hast gut gearbeitet.« »Ja.« »Komm doch herunter zur Hütte. Ich habe Apfelwein.« »Ich habe keinen Durst.« »Dort unten wartet jemand auf dich.« »Ich will niemanden sehen.« »Doch, das willst du. Du willst ihn bestimmt sehen. Komm schon.« »Ich bleibe noch eine Weile.« »Und dann kommst du?« »Noch eine Weile, dann komme ich.« »Na schön. Ich halte den Apfelwein warm.« »Ich habe keinen Durst.« 238
»Vielleicht bist du nachher durstig.« Sie ging fort. Er hörte die alten Füße auf den Steinen scharren. Er sah sie immer noch nicht an. Die Geräusche verrieten ihm, dass sie fort war.
Er legte sich auf Guineveres Grabstein. Der kalte Stein tat weh, weil er sich wegen der Hitze das Hemd ausgezogen hatte. Wie Eis fühlte es sich an. Er gefror darauf. Er spürte die Buchstaben auf der Haut und spürte, wie sie sich eindrückten. Er wollte ihr Grabstein sein. Nur dass die Schrift auf ihm rückwärts lief. Sogar ihr Name lief rückwärts. Vielleicht starb er jetzt genau wie sie aus Liebe. Er fühlte sich ringsum von einer zähen, bedrückenden Schwermut eingehüllt. Wenn er die Augen schloss, gab es nichts anderes mehr. Als die Sonne niedrig stand, erwachte er. Die Worte hatten sich in seine Brust gepresst. Seine Wunde blutete, bis das G ihres Namens ausgefüllt war. Er war nicht aus Liebe gestorben. Lancelot stand auf und stieg den Hügel hinunter. Die Abendsonne zog kabbelige Bahnen aufs Wasser, doch alles andere hatte die Farbe von glühender Holzkohle. Die Bienen hatten sich aus den Bäumen zurückgezogen und waren nacheinander in ihren Löchern verschwunden. Der Wind zerrte unruhig am trockenen Gras. Es hätte eine Nacht wie damals in seiner Kindheit sein können. Alles war wie früher - der süße Klee unter den Füßen, der Wind, der wie mit Geisterfingern an seinen Händen zog, das Tageslicht, das in einer Reihe langsamer, farbenprächtiger Blitze unterging und einer sternenklaren Nacht wich. Brigid war die Alte und wartete unten in der Hütte, aus deren Kamin sich der Rauch kräuselte. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten war er innerlich klar und eins mit sich und nicht von Widersprüchen zerrissen. Nur die Gräber auf dem Hügel waren neu. Ein Grab, das alles verändert hatte. Das waren die großen Dinge, aber er war fertig mit den großen Dingen. Lancelot erreichte die Hütte, öffnete die Tür und trat ein. Er stieß sich nicht den Kopf an, es passierte schon seit drei Tagen nicht mehr. Er war wohl früher mit zu hoch erhobenem Haupt gegangen. 239 Brigid war da und rührte einen Eintopf um. »Ich hoffe, du kannst noch ein wenig bleiben«, sagte sie. Sie schaute auf und lächelte traurig. »Du kannst bleiben, solange du willst. Ich weiß, dass du nach Benwick und zur Fröhlichen Wacht und nach Dalachlyth und zum Schloss der Rose zurück musst, aber die können warten, bis du wirklich bereit bist.« Er setzte sich. Alles fühlte sich an und roch wie immer. »Du kannst sogar bei den Überresten Camelots herauskommen. Nachdem die Heere sich dezimiert haben und die Könige fort sind, werden die Herzöge und Räuber alles plündern ... Camelot könnte Hilfe gebrauchen ...« »Wo ist er?« Brigid sah ihn fragend an. »Wer denn?« »Du sagtest, jemand warte auf mich.« »Hast du ihn denn nicht draußen gesehen?« »Ich habe niemanden draußen gesehen.« Tante Brigid lächelte und lachte dann. »Du siehst heute wirklich nicht viel. Geh lieber hinaus und schau dich noch einmal um.« Lancelot stand auf, ging zur Tür und duckte sich hindurch. In der Ferne lag der dunkelnde Himmel wie zerfetztes Papier über zackigen Bergen. Vor diesem Riss bewegte sich etwas Weißes, Großes. Es lief quer über einen Hügel, durchs nächste Tal und wurde sogar noch größer. Ein vertrautes Pochen auf der Erde ertönte, und Lancelot lächelte. »Rasa.« Brigid war hinter ihn getreten. »Ich weiß auch nicht, wie er hergekommen ist, aber er hat es geschafft. Er sucht dich.« Der Hengst kam näher. Mit fließender Anmut bewegte er sich über den dunklen Hügel. So schwer seine Hufe auch waren, sie rissen nicht das Gras auf. Er schüttelte zur Begrüßung die Mähne und kam in vollem Galopp heran, rannte ein Stück vorbei, stieg und kam in leichtem Trab zurück.
Lancelot streckte die Hand aus und streichelte das schöne weiße Fell. »Eigentlich sollte es mich nicht überraschen«, fuhr Brigid fort. »Er stammt ja von hier, dies ist seine wahre Heimat. Und seine Langlebig 240
keit weist auf verborgene Kräfte hin.« Froh sah sie zu, wie Lancelot dem Hengst die Schulter rieb. »Er trägt dich, wohin auch immer du willst - zu deinen vier Königreichen und in das vom Krieg zerrissene Britannien in ihrer Mitte.« »Nein«, widersprach Lancelot. Seine Hand lag ruhig auf dem Pferderücken, und er atmete hörbar ein. »Nein. Schau mich nur an. Ich bin kein König. Ich bin auch kein Ritter. Ich bin nicht mehr Lancelot du Lac.« Brigid kniff die Augen zusammen. »Doch, das bist du. Hier ist dein Pferd, das eines Ritters würdig ist, und da drinnen liegen deine Rüstung und dein Schwert.« »Es ist mein Pferd, aber er war schon mein, bevor ich irgendetwas wurde. Noch bevor ich ein Krieger wurde. Ihn will ich behalten, doch was den Rest angeht - die Rüstung und das Schwert, die Ehre und die Königswürde - damit will ich nichts mehr zu tun haben. Gib das alles deinem nächsten Tuatha-Wechselbalg.« Immer noch ohne Hemd schwang er sich in den Sattel. Brigid starrte ihn an. »Was tust du da? Wohin willst du?« Er schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.« Mit einem Schnalzen wendete er Rasa. »Lebe wohl, Tante Brigid.« »Lebe wohl, Lan... Lebe wohl, mein Kind.« Rasa wechselte vom Schritt in den Trab und in den Galopp, und dann waren sie fort. »Wenn du einem Wasserkobold ins Auge siehst, bist du noch vor dem Morgengrauen tot«, erklärte Elias, der älteste der drei Brüder. Mit langen Schritten lief er eilig über den Fußweg. Braune Augen suchten nervös das Schilf ab, als wollte er Frösche fangen, doch in Wirklichkeit hatten sie es auf Geister abgesehen. »Es spielt keine Rolle, ob du ihn direkt ansiehst oder durch einen Spiegel wie die Meduse. Du musst so oder so sterben.« Aidan, der zweite Bruder, konnte nur im Dauerlauf mithalten. Sein rotes Haar wippte. »Und wenn du nicht beide Augen aufhältst?« Er kniff eines zu, um seinem Bruder zu zeigen, was er meinte. »Dann wirst du schlimm krank«, meinte Gabe, der Jüngste. 240
»Nein, du musst sterben«, erklärte Elias. »Ich sagte doch, wenn du einem Wasserkobold ins Auge siehst, bist du tot. Da reicht auch ein einziges Auge.« Er hob den Zeigefinger. »Und wenn du blinzelst?«, wollte Aidan wissen. »Sei nicht so albern. Wenn du Geister suchst, ist das nicht wie beim Angeln. Ein Fisch springt nicht hoch und saugt dir die Seele aus.« »Was, die saugen dir die Seele aus?«, fragte Gabe. »Ja, und dann läufst du ohne Seele herum.« »Was passiert denn, wenn sie dir die Seele schon ausgesaugt haben, und sie erwischen dich noch einmal?«, bohrte Aidan. »Dann saugen sie dir was anderes aus«, meinte Gabe. »Deine Milz oder so.« Elias schnaubte und blieb wie angewurzelt stehen. Er fuhr zu den anderen herum, die hinter ihm hergerannt waren. »Nun seid doch mal ernst«, zischte er. »Was will ein Geist denn mit einer Milz? Die brauchen nur Seelen. Nein, jetzt hört auf mit der Fragerei. Die hören sonst eure Fragen, und dann wissen sie, dass ihr keine Ahnung habt, und schon holen sie euch als Erste. Dafür haben sie einen Riecher.«
»Haben Geister überhaupt einen Riecher?«, fragte Aidan. »Da kommt jemand«, platzte Gabe heraus. Die drei verstummten und lauschten. Hinter ihnen auf dem Weg war das dumpfe Pochen von Hufen zu hören. Seit Camelot gefallen war, konnte man auf keiner Straße mehr vor Räubern sicher sein. »Runter vom Weg. Da ins Gebüsch, los!«, sagte Elias. Er stieß die anderen beiden an. Er war der Anführer, und wenn seine Brüder umgebracht wurden, dann musste er sich dafür verantworten. Das Gebüsch war dicht, und niemand würde sie dort vermuten. Er schob sie weiter. »Aua!«, beschwerte sich Gabe. »Aua!«, fiel Aidan ein. »Still, sonst hört er euch.« »Aber das sind Kletten.« So war es. Elias bemerkte es erst, als er selbst ins Gebüsch eindrang und die Kletten durch sein Hemd pieksten. Die Hufschläge waren jetzt sehr nahe. »Still. Bleibt einfach still, bis er vorbei ist.« 241
»Ich kann nicht«, sagte Aidan. »Ich hab eine in der Hose.« »Ich ha-hab eine verschluckt«, würgte Gabe. »Still doch!« »Aiiihhh!« brüllte Aidan und sprang aus dem Gebüsch. Elias wollte ihn einfangen, doch er konnte ihn nicht mehr erreichen. Dankbar sprang er ebenfalls aus den Kletten. Er erwischte Aidans Fußgelenk und zog ihn vom Weg herunter. Auch Gabe befreite sich aus dem Gebüsch und legte sich einfach auf seinen Bruder. So lagen sie alle drei übereinander, als der Reiter aus der Dunkelheit kam. Das Pferd blieb polternd stehen. Drei Augenpaare blickten ängstlich hinauf. Es war ein weißes Pferd. Nicht nur weiß, sondern gespenstisch weiß, und viel zu groß, um echt zu sein. Dampf stand vor den Nüstern, und die Augen glühten rot. Noch schlimmer aber war der Reiter. Ein wilder barfüßiger Kerl mit zerlumpten Hosen ohne Hemd. Er hatte einen zottigen Bart, der bis zu einem blutigen, verkehrt herum geschriebenen G auf der Brust herunterhing. Auch die Haare waren verfilzt, und die Augen starrten wild auf die Jungen herab. »Seht ihm nicht in die Augen«, rief Gabe. »Er ist ein Wasserkobold.« »Der sieht aber nicht nach einem Kobold aus«, widersprach Aidan. Selbst Elias hatte Schwierigkeiten, seiner Angst Herr zu werden. »Was bist du? Ein Mann oder ein Geist?« Die Gestalt auf dem Pferd antwortete nicht, und das Schweigen war Antwort genug. »Wir haben nämlich gar keine Seelen mehr«, fuhr Elias fort. »Wir haben heute schon einen von euch getroffen, du kommst also etwas zu spät.« Immer noch schwieg die Erscheinung, nur in den Augen irrlichterte es. »Wie kommt es eigentlich, dass dieser Pferdegeist so riecht wie ein richtiges Pferd?« »Das ist überhaupt kein Geist.« Elias kaute an der Unterlippe und wandte sich noch einmal an den Reiter. »Und ein Räuber bist du auch nicht, oder wenn, dann bist du ein schlechter. Du hast keine Säcke für die Beute und nicht einmal Hosentaschen. Alles, was du uns wegneh 241
men könntest, wären unsere Hemden, aber da sind lauter Kletten drin.« Er kniff abschätzend die Augen zusammen. »Warte mal. Du bist ein Ritter.« Er deutete aufgeregt auf die Gestalt. »Du bist Sir Lancelot! Lancelot du Lac. Du bist der König von Benwick! Du
bist derjenige, der Guinevere geheiratet und gegen Gawain gekämpft und für Artus gefochten hat. Alle dachten, du seiest mit ihm gestorben, aber das stimmt wohl nicht. Da bist du also! Lancelot du Lac!« Während Elias sprach, wich das irre rote Flackern aus den Augen des Mannes. Es schien, als erwachte er aus einem Traum. Er erinnerte sich, wer er war, und er erschrak. Das Pferd warf den Kopf hin und her, als wollte es Feinde wegfegen. Es stampfte, machte kehrt und rannte los. Es galoppierte den Weg hinunter bis zu der Stelle, wo der Brue in die Sümpfe von Glastonbury mündete. Ohne anzuhalten, lief es ins Wasser. Hoch spritzte der Schlamm hinter ihm auf. Tiefer und tiefer lief das Pferd ins Wasser, bis es über seine Schultern schwappte. Der Reiter beugte sich im Sattel vor und schöpfte Wasser, das er über sich warf, als wollte er sich waschen. Er spritzte es sich auf Gesicht und Kopf und rieb sich mit dem schlammigen Wasser ein. Bald schwamm das Pferd in tieferem Wasser, und der Mann spritzte sich unablässig weiter nass. Dann verschwanden sie in der Dunkelheit. »War das wirklich Sir Lancelot?«, fragte Aidan. Elias schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Lancelot war ein großer Mann. Nicht wie der da. Sicher nicht.« »Aber wer war er dann, und warum ist das Pferd so schnell weggerannt?« »Ich weiß nicht, was er war«, sagte Elias. »Ich glaube, das wusste er selbst nicht.« 242
Vorboten und Vorzeichen Der irre Reiter reiste durch die Welt und die Anderwelt und kam manchmal sogar zur Höhle der Verzückung. An diesem Morgen schien die Sonne, genau wie Merlin es befohlen hatte, und die Vögel jagten über das blaue Firmament. Er und Nyneve saßen in ihren jugendlichen Erscheinungsformen unter dem Vordach ihres Palasts und tranken Tee. In Form und Stil erinnerte das Gebäude viel eher an eine römische Villa als an ein britisches Herrenhaus. Auf einer Hügelkuppe gelegen, überblickte es einen weiten Hang voller Wildblumen und niedriger Bäume bis hin zu einer schimmernden Bucht. Alles war, wie Merlin es bestimmt hatte. Alles bis auf den Irren, der tropfnass ans Ufer ritt. Pferd und Reiter schüttelten sich das Wasser aus den Haaren. Erstaunt und wie betäubt sahen sie sich um. Nyneve und Merlin beobachteten schweigend den fernen Krieger. Sie zeigten keine Angst. Sie herrschten in diesem Paradies und konnten ihn viel schneller hinauswerfen, als er den Zugang gefunden hatte. Doch sie beobachteten ihn genau. Es geschah nur selten, dass jemand kam, den sie nicht erwartet hatten. Als das Schweigen unerträglich wurde, rieb Merlin sich über das glatt rasierte Kinn. »Der Tee ist gut heute Morgen.« Nyneve lächelte und flocht sich das Haar hinter dem Kopf zu einem Knoten zusammen. »Du solltest hinuntergehen.« »Ich sollte ihn prügeln«, sagte Merlin leichthin. »Er ist verloren, wie du es warst. Er weiß nicht, wer er ist.« Merlin trank einen Schluck Tee. »Er will es auch nicht wissen. Lancelot du Lac ist Lancelot du Lethe geworden. Er spült seine Erinnerungen fort.« »Hab etwas Mitleid ...«
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»Mitleid mit dem Mann, der Guinevere verrührt und die Tafelrunde zerstört und Artus getötet und Camelot ruiniert hat?« Nyneves sanfter Blick verschwand, als sie den Zorn ihres Gatten sah. »Er ist verrückt, Merlin. Ich dachte, dass du das besonders gut verstehen kannst.« »Aus dem Irrsinn ist Camelot entstanden, und dem Irrsinn ist Camelot wieder anheim gefallen«, sagte Merlin. »Ich war ein Irrer, der ein Gott wurde, und er war ein Gott, der ein Irrer wurde. Wir sind Gegensätze. Es gibt keine Gemeinsamkeit zwischen uns.« »Ihr seid Spiegelbilder füreinander. Alles ist zwischen euch.« Sie streckte die Hand aus und legte ihre schlanke Hand auf seine Finger. »Du hast Camelot erbaut, o ja, und er hat Camelot zerstört. Du vergisst aber, dass Camelot dich gerettet und ihn verdammt hat.« Nyneve beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Geh zu ihm.« »Was soll ich ihm sagen?«, fragte Merlin laut, doch er war schon unterwegs. Er legte den jungen Körper ab, und sein Geist flog den unebenen Hügel hinunter. Unten nahm er eine neue, oder besser eine ganz alte Gestalt an. Mit weißem Bart und weißem Haar und dem zerlumpten Reisemantel und dem verbeulten Hut tauchte er direkt oberhalb von Pferd und Reiter wieder auf. Ironisch verzog er den Mund. »Willkommen«, sagte er. Lancelot erschrak nicht. Er drehte langsam den Kopf. Seltsam blickten seine Augen, als wären sie Spiegel. »Wo bin ich?« Merlin zuckte mit den Achseln und breitete die Hände aus. »Du bist hier. Jetzt habe ich aber auch eine Frage. Wer bist du?« Lancelot blinzelte bedächtig und schien die Frage langsam zu trinken. Er hob die Hand an die Brust. Ein mit Blut rückwärts geschriebenes G war dort zu sehen. »Ich bin ich«, sagte er. Merlin hätte beinahe gelacht. »Gut gesagt. Du bist du, und ich bin ich, und wir sind hier.« »Dies scheint ein schöner Ort zu sein.« Lancelot sah sich um. »O ja, ein sehr schöner Ort«, gab Merlin zurück. Der Zorn stieg in ihm auf. »Weißt du, es gab noch einen anderen schönen Ort. Einen wunderschönen Ort namens Camelot mit einem guten König und einer sehr guten Königin. Aber das ist jetzt alles weg.« 243 »Alles weg«, wiederholte Lancelot. »Wahrscheinlich kennst du keinen solchen Ort.« »Nein«, antworte Lancelot leise. Merlin nickte. »Ich bin einst genau so gewandert wie du. Ein ganzes Jahrhundert lang. Ein Knabe und ein Schwert haben mich gerettet. Wie lange willst du noch wandern, Lancelot du Lac? Wer soll dich retten?« Lancelot richtete sich im Sattel auf. »Ich bin hier nicht wirklich willkommen.« »Nein, das bist du nicht.« Sein Pferd stampfte mit einem Huf auf und bewegte sich zur Bucht. Merlin sah dem Reiter mit den wilden Haaren mit unbewegter Miene nach. Wasser spritzte hoch und benetzte Fesseln und Knie des Pferdes. Merlin hätte eigentlich nicht mehr hören können, was Lancelot als Nächstes sagte, doch Merlin war überall in den Wassern und wusste, was sie wussten: »Ich werde wandern, bis es einen neuen Artus gibt und bis ein neues Camelot entsteht.« 243
Danksagung Danke, Brian, für herausgeberische Einsichten und Anregungen. Danke, Jim, für kluge Führung auf dem Produktionsweg. Danke, Tom, für einen Verlag, der Bücher wie dieses veröffentlicht. Danke, Mom und Dad, für das Wochenende der fünf Kapitel. Danke, Jennie, Eli, Aidan und Gabe, dass ihr einen Autor in eurem Haus ertragen habt.