Klaus Holzkamp Subjektwissenscbajtliche
Grundlegung
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Klaus Holzkamp Subjektwissenscbajtliche
Grundlegung
Klaus Holzkamp untersucht in diesem grundlegenden Werk den Prozeß des Lernens aus der Perspektive des lernenden Subjekts und seiner Motive. Er unterstreicht die Bedeutung des Lernens als Erweiterung subjektiver Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten und grenzt dieses »expa1zsive Lernen« vom gängigen Verständnis des Lernens als eines von anderen auferlegten und kontrollierten Prozesses ab. In seinem weiterführenden theoretischen Ansatz macht er den inneren Zusammenhang der verschiedenen, meist isoliert behandelten Seiten des Lernproblems deutlich. »Er bietet eine enorme Fülle von lerntheoretischen Betrachtungen, die für das gesamte Spektrum der pädagogischen Leserschaft von Belang sein dürfte.« Kunst + Unterricht
»Indem Holzkamp seine Analyse an bekannten Alltagsphänomenen ansetzt und die relevanten Konzepte der Unterrichtsforschung reflektiert, erlangen seine Kategorien und Einschätzungen eine eindrucksvolle Gültigkeit und Klarheit.« Psychologische LiteraturumschaN
ISBN
II
9 7
~?a-3-5~3-35317-3
11111
173
www..ca•f•..de
Klaus Holzkamp, der Begründer der Kritischen Psychologie, rollt in diesem grundlegenden Werk zur Lernpsychologie das Lernproblem aus einer neuen Perspektive, der des lernenden Subjekts und seiner Motive, auf. Er betont damit das Lernen als Erweiterung subjektiver Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten gegenüber dem gängigen Verständnis von Lernen als von anderen auferlegt und kontrolliert. Diese Sichtweise ist- wie Holzkamp ausführlich zeigt- nicht nur für den Behaviorismus charakteristisch: Sie wurde auch von modernen kognitivistischen und handlungstheoretischen Ansätzen nicht überwunden. Nach der Behandlung der vielfältigen Aspekte des Lernens als »allgemeinmenschlichem« Problem werden die institutionellen, insbesondere schulischen Lernmöglichkeiten und -behinderungen auf den Begriff gebracht und die verschiedenen Mechanismen herausgearbeitet, durch welche in der Schule engagiertes produktives Lernen entmutigt und die bloße Demonstration, ja Vortäuschung von Lernresultaten als zur Situationsbewältigung »zweckmäßig« nahegelegt wird. Holzkamp schildert, in welcher Weise es - da der Lehrer als Organisator der Lernprozesse der Schülerinnen/Schüler bestellt ist und diese dadurch mit ihren eigenen Lernanliegen in den schulischen »Untergrund« gedrängt sind- zu einer Verwahrlosung der Lernkultur kommen muß, mit der gesellschaftliche Ressourcen menschlicher Produktivität in unverantwortlicher Weise verschleudert werden. Holzkamp macht in seinem weiterführenden theoretischen Ansatz den inneren Zusammenhang der verschiedenen Seiten des Lernproblems deutlich. So erscheinen auch das Bewegungslernen und das Behalten/Erinnern nicht mehr als isolierte physiologienahe bzw. innermentale Prozesse, sondern werden als Aspekte gegenständlicher menschlicher Lebenspraxis begreifbar. Klaus Holzkamp betrachtet dieses Werk als einen wesentlichen Schritt über seine Grundlegung der Psychologie (Campus 1983) hinaus, weil er hier neue Möglichkeiten zur Durchdringung konkreter Probleme menschlicher Lebenstätigkeit eröffnet.
Klaus Holz~mp
Lernen Subjektwissenschaftliche Grundlegung
Campus Verlag Frankfurt/New York
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Holzkamp, Klaus: Lernen : subjektwissenschaftliche Grundlegung I Klaus Holzkamp. - Studienausg. - Frankfurt!Main ; New York: Campus Verlag, 1995 ISBN 978-3-593-35317-3
Studienausgabe 1995
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertun~ ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright© 1993 bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Atelier Warminski, Büdingen Datenkonvertierung: Camptext Fotosatz, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Kapitell Hinführung auf das Verfahren der Problementwicklung
17
Vorbemerkung 19 • Explikation des Subjektstandpunkts als Diskursebene subjektiver Handlungsgrunde 21 • Impliziter Begrundungsdiskurs und nomologisches Selbstmißverständnis in der Psychologie 27 · Kriterien für den Nachweis von Begrundungsmustern in vermeintlich nomologischen Theorien 33
Kapitel2 Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Grundansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
2.1 Kritik/Reinterpretation des lerntheoretischen Grundansatzes behavioristischer SR-Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Vorbemerkung: Tierexperimentelle Fundiertheit SR-psychologischer Lern· theorien? 41 • Klassisches Konditionieren: Signallernen 46 • Instrumentelles bzw. operantes Konditionieren: Lernen-am-Erfolg 54 · Gesamt· einschätzung: Induktiv begrunderes Lernen bei auf Gegebenheitszufälle reduziertem Realitätsaufschluß 57 · SR~heorien unter lerntechnologischem Aspekt: Manipulation von Begrundungsprämissen zur Erzielung »gewünschten« Verhaltens 63
6
Inhalt
2.2 Kritik/Reinterpretation kognitiver Erweiterungen des SR-psychologischen Lernkonzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Vorbemerkung 69 · Unterscheidung zwischen Lernen und Ausführung, damit Ausdifferenzierung eines Konzeptes selbständiger Lernmotivation 69 · Bestätigung von Erwartungen als/anstatt Verstärkung 78 · Der andere Mensch als Lernagens: •lernen am Modelle 88 · Das Konzept des •Selbst« im lerntheoretischen Kontext 94 · Gesamteinschätzung: Realitätsbezug des Subjekts als bloße Sichtweise unter Ausklammerung der Möglichkeit aktiver Welteinwirkung 110
2.3 Kritik/Reinterpretation des Gedächtnis-Konzepts als kognitivistischer Fassung des Lernproblems . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Vorbemerkung 118 · Theoretische Grundkonzeptionen kognitivistischer Gedächtnisforschung 121 · Die Aufhebung der mystifizierenden Hineinverlegung des Subjekts ins •Systeme als Voraussetzung begründungstheoretischer Reinterpretierbarkeit der kognitivistischen Gedächtnismodelle 134 · Anstatt ..Gedächtnis«: Behalten/Erinnern im Begründungsdiskurs 139 • Gesamteinschätzung: Gerichtetheit auf Permanenz des Gelernten in den Schranken immanent-sprachlicher Bedeutungsbezüge 146
2.4 Kritik/Reinterpretation der handlungstheoretisch-kybernetischen Fassung des Lernproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
152
Vorbemerkung 152 · Das Grundmodell der Handlungsregulation 153 · Lernen als regulatorisch gesteuertes Lernhandeln 157 • Lernregulation im Begründungsdiskurs: Vom Subjektstandpunkt begründete Optimierung der Ablaufsorganistion des Lernvollzugs 163 · Gesamteinschätzung: Regulation als sekundär begründeter Lernaspekt unter Ausklammerung primärbedeutungsbezogener Lernbegründungen 167
Kapitel3 Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Theorie lernenden Weltaufschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
3.1 Ansatz der Theorieentwicklung: Typische Lernproblematiken .
177
Vorbemerkung: Das Problem des Anfangs 177 · Typische Lernproblematiken als Spezifizierung von Handlungsproblematiken; Lernhaltung und Lernprinzipien 182 · Operativer und thematischer Lernaspekt; die emotional-motivationale Begründungsstruktur des Lernens im Spannungsfeld zwischen expansiven und defensiven Lerngründen 187 · Zur Funktion von Beispielen und ein exemplarisches Beispiel: Schönbergs Orchestervariationen als Lernproblematik 194
Inhalt
3.2 Dimensionen und Verlaufsformen des Zugangs zur Bedeutungsstruktur des Lerngegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
206
Vorbemerkung 206 · Potentieller Lerngegenstand und Vorgelerntes 207 · Die Herausbildung von Lernproblematiken: Ausgliederung eines aktuellen Lerngegenstandes als Erfahrung einer »Lerndiskrepanz« 211 · Selektive Funktion von Lernproblematiken: Aktualisierung bestimmter Dimensionen an potentiellen Lerngegenständen als unterschiedlicher Ausprägungen von ,.flachheit!fiefe« 218 · »Problemlösen« und/ oder ..Entwicklungsstufen« als Muster zur Konzeptualisierung qualitativer Lernfortschritte? 226 · Qualitative Lernsprünge durch Reflexion auf das bisherige Lernprinzip und Diskrepanzerfahrungen höherer Ordnung 239 • Nochmals: Zum Verhältnis zwischen thematischem und operativem Lernaspekt 248
3.3 Kategoriale Explikation des »Lernsubjekts« auf seine standortspezifischen Bestimmungen in lebenspraktischen Bedeutungszusammenhängen ......... _. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
Vorbemerkung 252 · Körperliche Situiertheit: Spannungsfeld zwischen intentionaler Gerichtetheit auf den Lerngegenstand und ,.zurückhaltender• Körperlichkeit 253 · Mental-sprachliche Situiertheit: Beachtungslenkung/ »inneres Sprechen« als Prozeßbestimmungen der Lernintention 258 · Personale Situiertheit: Die »Fähigkeit« zu lernen im biographischen Kontext und das Verhältnis von Verfügungsinteresse und Grenzerfahrung 263 · Überleitung: Theoretische Annäherungen an den lebenspraktischen Zusammenhang des Lernhandeins vom Bewegungslernen und vom mentalen Lernen (Behalten/Erinnern) her 269
3.4 Annäherung vom Bewegungslernen her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Vorbemerkung 271 · Gegen physiologische, mathematische und operative Reduzierungen des Bewegungskonzeptes 272 · Hilfsbewegungen und Bewegungshandlungen; Bewegungslernen als wachsende Bedeutungsadäquatheil von Bewegungshandlungen 280 · Praktisches Eindringen in den Bedeutungsgehalt von Lerngegenständen: Relative Überwindung der körperlichen Schwerfälligkeit/Unverfügbarkeit meiner Bewegungen 287
3.5 Annäherung vom mental-verbalen Lernen (Behalten/Erinnern) her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung 295 · Aufhebung der kognitivistischen Sprachimmanenz {Systemimmanenz): Mentale, kommunikative und objektivierende Modalität des Behaltens/Erinnerns 296 · Herstellung der Permanenz des Behaltenen: Eindringen in modalitätsübergreifende Bedeutungsstrukturen/Verweisungszusammenhänge 309 · Zum Verhältnis von Lernen und Behalten/Erinnern:
295
8
Inhalt Spezifizierung von Lernproblematiken als Behaltens-/Erinnernsproblematiken 318 · Zum Verhältnis von Mitlernen und intentionalem Lernen: Affinitive Selbstorganisationsprozesse im Rahmen intentionaler Lernhandlungen 324
Kapitel4 Konzeptuelle Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
4.1 Die Bedeutungsanordnung »Schule«: Historisches Muster institutionell verfaßten Lernens . . . . . . . . .
341
Vorbemerkung: Schulische Bedeutungsstrukturen und ihre Analyse 341 · Genealogie der Schule als ·Disziplinaranlage• (Foucault) 349 • Schuldisziplin im Spiegel administrativer Vorschriften 1: Isolierung, Rang, Zeitökonomie, Organisation von Entwicklungen 359 · II: Überwachung, Sanktionierung, normalisierende Differenzierung 363 · III: Leistungsbewenung im Widerspruch zwischen zugeschriebener pädagogischer Verantwonung des Lehrers und von ihm geforderter Veneilungsorientienheit der Notengebung 368 · Mystifikation von Noten als numerische Daten: Totalität individualisierender Bewenungen als Legitimation »gerechtere Zuweisungen unterschiedlicher Berufslaufbahnen/Lebenschancen 377
4.2 Lehrlernen: Entöffendichung des Subjektstandpunkts der Lernenden als strategisches Implikat der Schuldisziplin . . . . . . .
385
Vorbemerkung 385 · Offizielle Kontamination von Lehr- und Lernzielen: Fiktion schuladministrativer Planbarkeit von Lernprozessen mit dem Lehrer als deren •Subjekt« 387 • Auflösung des Widerspruchs zwischen vorausgesetzten optimalen Lehrlernbedingungen und geforderter Unterschiedlichkeit der Leistungsbewenungen: Das schulische Konstrukt natürlicher Begabungsunterschiede 399 • Schulische Sondermaßnahmen gegenüber Lehrlerndefiziten unterhalb des »Normalen• zwischen zusätzlichem Normalisierungsaufwand und Ausgrenzung 403 · Psychologische Wissenschaft im Einklang mit der Schuldisziplin: Lerntheorien als (implizite) Lehrlerntheorien m Sichtverkürzung auf die offizielle Seite des Schulprozesses 406
4.3 Begründungsanalytische »Ent-deckung« der Schulwirklichkeit vom Standpunkt des Lernsubjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung 424 · Methodische Hinführung: Unterrichtsklima; Klassenraum-Diskurs; Begründungsanalyse 425 · Machtstrategische Widersprüche: Grunderfahrung des Eingekreist-Seins; verdecktes Verhältnis; Normalisierung auf defensives Lernen hin 441 · Interpersonale Beziehungen in der
424
Inhalt
9
Schulklasse: Vereinzelung durch Bewertung vs. gebrochene kollektive Bedrohungsabwehr 453 · Monopolisierung des Fragens beim Lehrer und Marginalisierung von Schülerfragen im Kontext der schultypischen Frage-Antwon-Bewenungssequenz: Lernen ohne Fragen und umgekehrt 461 · Schuldisziplinäre Ignoranz gegenüber den immanenten Verlaufsformen expansivweltaufschließenden Lernens: Verwahrlosung schulischer Lernkultur 476
4.4 Lernen über die Schuldisziplin hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
486
Vorbemerkung 486 · Statt .. schule" als privilegien-universeller Lernstätte: Nebeneinander spezieller Lernsituationen mit unterschiedlicher Tiefenstruktur des Lerngegenstandes 487 · Subjektive Lernbiographien: Verhältnis lebensgeschichtlich (für mich) bedeutsamer Episoden expansiven Lernens im schulischen und außerschulischen Kontext 491 · Interpersonale Lernverhältnisse jenseits des Lehrlernkurzschlusses: Panizipatives Lernen und kooperatives Lernen 501 · Möglichkeiten/Behinderungen expansiven Lernens in Lernstätten I-gruppen außerhalb der Schuldisziplin 516 · Überwindung der Denk-/Praxisfigur bedrohtheitszentriener Lernformierung: Von instrumentellen zu intersubjektiven Lernverhältnissen 522
4.5 Gesichtspunkte aus der subjektwissenschaftlichen Analyse institutioneller Lernverhältnisse für die Schulreformdiskussion
532
Vorbemerkung 532 · »Lebensnähe« und politische Relevanz von Lernkonstellationen als Mittel zur Förderung expansiven Lernens? 533 · Zersetzung expansiver Lernmöglichkeiten durch schuldisziplinäre Bewertungsuniversalität: Grenzen der Schulreform? 539 · Das Planungsparadox und die Zukunft des Lernens 553
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
564
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
588
Einleitung
Sofern man dem Augenschein trauen wollte, könnte man meinen, daß das Lernen heute kaum (noch) als Problem grundsätzlicher Art zu betrachten ist: Schließlich hat sich die Psychologie fast bis zum Überdruß damit beschäftigt, und im öffentlichen Leben ist - so scheint es - das Lernen durch die vielfältigen Institutionen unseres Bildungssystems und dessen wissenschaftliche Fundierung/Begleitung bestens betreut und gut aufgehoben. Um zu begründen, warum ich dennoch den folgenden grundsätzlichen Text über Lernen geschrieben habe, berufe ich mich zunächst auf bestimmte Eigenheiten des allgemeinen Vorverständnisses, aus dem sich vor aller weiteren Information gewisse Vermutungen darüber ergeben mögen, worum es in meinen anschließenden Ausführungen gehen wird: Ich werde (so mag man von da aus annehmen) hier sicherlich unter irgendeinem Aspekt zur Klärung der Frage beitragen wollen, wie man bestimmte andere in möglichst effektiver Weise dazu bringen kann, das zu lernen, was sie lernen sollen oder müssen: Kinder, Schüler, Arbeitslose, Behinderte etc., also Gruppen von Individuen, die das Lernen aus jeweils verschiedenen Gründen (noch bzw. wieder) nötig haben. Weniger naheliegend dürfte demgegenüber die Vermutung sein, ich würde mich im folgenden mit Lernproblemen gesunder Erwachsener mit Arbeitsplatz beschäftigen, oder gar, daß es dabei um das jeweils eigene Lernen, also auch das Lernen der Leserinnen und Leser gehen könne: Das Ansinnen, daß es für einen selbst noch etwas zu lernen gibt, würde - wenn ausdrücklich an einen herangetragen - u.U. sogar eher als Zumutung erlebt werden, indem man darin den oft beschworenen »erhobenen Zeigefinger« derjenigen wittert, die glauben, es besser zu wissen und mich deshalb belehren zu müssen. Anders: Lernen erscheint hier als etwas, das man günstigenfalls hinter sich hat, aber in jedem Falle schnell hinter sich bringen will; die Möglichkeit, daß Lernen keine Beeinträchtigung, sondern im Gegenteil eine Form der Realisie· rung meiner Selbständigkeit als Erwachsener und deswegen in meinem genuinen Lebensinteresse sein könnte, wäre so (obwohl doch eigentlich jedem irgendwie bekannt) im alltäglichen Lernverständnis abgedrängt oder mindestens widersprüchlich überformt.
12
Einleitung
Ein solches gebrochenes Verhältnis zum eigenen Lernen verweist auf allgemeinere Verflochtenheiten des Lernens mit gesellschaftlicher Macht: Gerade weil nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch generelle Haltungen, Lebensgewohnheiten, Handlungsbereitschaften, Urteilskompetenzen der Individuen dem Vernehmen nach durch Lernen entstanden sind und geändert werden können, hatten herrschende Instanzen von je her ein besonderes Interesse daran, das Lernen zu okkupieren und der Bevölkerung zuzuteilen. So sieht sich heute Lernen offiziell in unterschiedlichen Erscheinungsformen an Belehren gebunden, ja es wird tendenziell mit Belehrt-Werden gleichgesetzt, wobei das Belehren seinerseits in die Zuständigkeit von Institutionen gegeben ist, die in verschiedener Weise Kontrolle über die Lernenden anstreben. Nur auf diesem Wege scheint das Lehren/Lernen einerseits - soweit zuträglich - zu entwickeln, andererseits aber mittels Kanalisierung, Selektion, Einschwörung auf erwünschte Denk- und Sichtweisen derart zu beschränken, daß die herrschende Ordnung (d.h. das, was man von der jeweiligen politischen Position darunter vt~rsteht) nicht durch ein »Zuviel« des Lernens gefährdet wird. Als Institutionen eines solchen kontrollierten Lernens - die naturgemäß Gegenstand intensiver politischer Beeinflussungsversuche sind - imponieren heute die Familie (als Objekt der Familienpolitik), die Medien (als Objekt der Medienpolitik), insbesondere aber die Schule (i.w.S.), die offenbar wirkungsvollste Instanz indirekter Herrschaftssicherung durch Lernreglementierung, die demgemäß ein permanentes Kampffeld politischer Vereinnahmungsbemühungen darstellt. Entsprechend eng sind im öffentlichen Bewußtsein die Verflechtungen und Überschneidungen der Bedeutungshöfe von »Schule« und »Lernen«. Lernprozesse sind in dieser Sicht nicht nur hauptsächlich ein Resultat von Unterrichtung, sondern diese findet bevorzugt, systematisch, planmäßig durch die Schule statt. Die Bewältigung von Aufgaben und Problemen außerhalb der Schule wäre demnach wesentlich die Anwendung dessen, was in der Schule gelernt, und ein Versagen bei der Problembewältigung Indiz dafür, daß in der Schule nicht hinreichend gelernt bzw. das Gelernte wieder vergessen wurde. Wenn sich der Erwachsene dann- etwa aus beruflichen Notlagen wie Arbeitslosigkeit heraus - gezwungen sieht, wiederum zu lernen, d.h. sich belehren zu lassen, so erscheint ihm qies bevorzugt als ein »Die-Schulbank-Drücken«, also ein Rückfall in eigentlich längst überwundene Lebensphasen der Abhängigkeit und Unselbständigkeit. Damit verdeutlicht sich ein zentrales Dilemma: Durch die ideologische Verquickung von Lernen und Beschulung, Zwang, Reglementierung, Vereinnahmung »Von oben• enthält der Protest gegen Gängelung, Entmündigung, Fremdbestimmung des Lernens häufig auch einen Protest gegen das Ansinnen zu lernen überhaupt: Indem man so angesichts der »Enteignung« des Lernens dessen allgemeine Funktion als Voraussetzung des Erkennens und der Realisierung eigener Lebensinteressen
nicht erfassen kann, reproduziert und befestigt man hier gerade jenen Zustand der Fremdbestimmung, gegen den man mit der Abwehr der Lernzumutung protestieren will. Die traditionelle psychologische Lernforschung nimmt in all ihren Erscheinungsformen diesen Widerspruch nicht zur Kenntnis, sondern schlägt sich durchgehend naturwüchsig auf die Seite der Kontrollierenden, setzt also Lernen mit reglementiertem Lernen gleich. Für die behavioristische SR-(StimulusResponse-}Psychologie, die vom zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts an rund vierzig Jahre als allgemeine »Lerntheorie« das Feld beherrschte, versteht sich dies schon aus dem methodischen Grundansatz: Die Initiierung von Lernprozessen bedeutet hier wesentlich die Herstellung solcher U mweltkontingenzen (durch den Experimentator}, die bei den Individuen (per klassischem oder instrumentellem Konditionieren} bestimmte vorhergesagte oder erwünschte Verhaltensweisen hervorrufen. In der sowjetischen Tätigkeitstheorie ist dieses methodische Schema nicht so offensichtlich, läßt sich aber als Einfluß von Pawlows »Theorie der höheren Nerventätigkeit« (die ihrerseits den Behaviorismus beeinflußte} häufig dennoch mehr oder weniger deutlich aufweisen. In jedem Falle aber wird hier Lernen mit UnterrichtetWerden in pädagogischen Kontexten, also letztlich fremdinitiiertem Lernen gleichgesetzt. Mit der Ablösung der Hegemonie des Behaviorismus durch die des Kognitivismus seit den späten fünfziger Jahren trat bei uns das Lernkonzept zunächst als Grundbegriff in den Hintergrund und machte anderen Grundbegriffen, wie Informationsverarbeitung und Gedächtnis, Platz. Neuerdings erlebte zwar in dem Maße, wie sich der »konnektionistische« gegenüber dem »symbolischen« Kognitivismus zur Geltung bringen konnte, der Begriff des Lernens eine gewisse Renaissance: Jedoch wurde damit (auch wo man hier von selbstorganisiertem Lernen spricht) die Identifikation von Lernen mit fremdkontrolliertem Lernen keineswegs überwunden (s.u.). Der gemeinsame Nenner, aufgrund dessen Lernen praktisch kaum anders gedacht werden kann denn als Lernen-unter-fremder-Kontrolle, liegt im allen traditionell-psychologischen Ansätzen inhärenten Verständnis der Psychologie als Wissenschaft vom Außenstandpunkt bzw. (richtiger) Standpunkt dritter Person (s.u.) und dem damit gesetzten Bedingungsmodell: Demgemäß ist psychologische Forschung - auch wo auf theoretischer Ebene umfassendere und liberale Konzepte angestrebt werden - auf methodischer Ebene prinzipiell mit dem Aufweis von Zusammenhängen zwischen fremdgesetzten Bedingungen und dadurch hervorgerufenen Verhaltens- oder Erlebnisweisen (unabhängigen und abhängigen Variablen) identifiziert: So kann man auch die Erfahrungen der Lernenden, selbst wenn man sich explizit darauf beziehen möchte, dennoch nur als abhängige Größe von hergestellten und
14
Einleitung
vorausgesetzten Bedingungen zu Gesicht bekommen, womit die individuelle Subjektivität hier wiederum lediglich als Forschungsobjekt in Erscheinung tritt. Sofern meine vorstehenden Darlegungen im Prinzip adäquat sind, wäre also das benannte widersprüchliche Lernverständnis (Lernen als Zumutung und als Lebensmöglichkeit) mit den bisher vorliegenden Lerntheorien nicht konzeptualisierbar, sondern Lernen lediglich platt als Kontrollfunktion abgebildet (also die Lernzumutung quasi wissenschaftlich stilisiert und zementiert). Dies wiederum verweist auf eine allgemeinere Problematik, die sich aus dem skizzierten gemeinsamen methodologischen Nenner der Außenperspektive und des Bedingungsmodells ergibt: den Umstand, daß das Lernen als
Problem vom wissenschaftlichen Standpunkt des Lernsubjekts in den traditio· nellen Lerntheorien nicht vorkommt. An dieser Stelle nun scheiden sich (wenn man mir diese Plattheit hier einmal erlauben will) die Geister: Von der Position der traditionellen Psychologie aus ist dies selbstverständlich und nicht zu ändern, und zwar deswegen nicht, weil - gleichviel wieweit und in welcher Weise man subjektive Gegebenheiten als Forschungsgegenstand berücksichtigen mag - der Standpunkt der Forschung als Standpunkt wissen. schafdieher Objektivität notwendig mit dem Außenstandpunkt zusammenfällt. Gerade diese Voraussetzung ist es nun aber, die mit der subjektwissenschaftlichen Zuspitzung der Kritischen Psychologie immer eindeutiger von uns angezweifelt wurde. Als Resultat dieser Entwicklung versuchen wir aufzuweisen, daß in einer gegenstandsadäquaten psychologischen Forschung der wissenschaftliche Standpunkt mit dem (verallgemeinerten) Subjektstandpunkt der Betroffenen zusammenfällt. So mag es vielleicht nachvollziehbar sein, wenn ich (angesichts der geschilderten Problemsituation um das Lernen) im folgenden auf der Basis unseres subjektwissenschaftlichen Ansatzes eine Lernkonzeption zu entwickeln versuche, welcher der bisher ausgeklammerte
Standpunkt des Lernsubjekts als Standpunkt der wissenschaftlichen Analyse zugrundeliegt. Beim Versuch der Realisierung dieses Vorhabens müßte sich gleichzeitig am Exempel erweisen, ob das Konzept einer Psychologie vom Subjektstandpunkt (wie viele unserer Kolleginnen und Kollegen aus der etablierten Psychologie meinen dürften) eine bloße Worthülse und gleichbedeutend mit dem Aufgeben jedes wissenschaftlichen Anspruches überhaupt ist, oder ob man (wie wir meinen) von da aus einen neuen, umfassenderen und fruchtbareren wissenschaftlichen Zugang, hier zum Problem des Lernens, finden kann. Der eingangs von mir umschriebene Augenschein, das Lernproblem sei psychologisch abgegrast und institutionell befriedet, ließe sich also jetzt als der wissenschaftlichen und institutionellen Ausklammerung des Lernsubjekts geschuldete Scheinharmonie einstufen. Von da aus mag verständlich
Einleitung
15
sein, daß ich eine erneute grundsätzliche Beschäftigung mit Lernen keineswegs für obsolet, sondern im Gegenteil als Versuch der analytischen Durchdringung der glatten Oberfläche auf die darin liegenden Widersprüche hin und von da aus Gewinnung neuer Erkenntnisdimensionen für besonders dringlich halten muß (wobei die in diesen einleitenden Bemerkungen zunächst ungeschützt hingestellten Voreinschätzungen ihre Begründetheit erst noch zu erweisen haben). Von diesem Grundansatz aus versteht sich, daß- sofern in einer Lerntheorie vom Standpunkt des Lernsubjekts wirklich ein umfassenderer Zugang zum Lernproblem möglich ist als vom Außenstandpunkt der traditionellen Lerntheorien - deren Erkenntnisbeschränkungen sowie ggf. relativer Erkenntnisgehalt aus der Sicht des subjektwissenschaftlichen Ansatzes auch tatsächlich aufweisbar sein müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Lernsubjekt in den traditionellen Theorien ja nicht real verschwunden sein kann, sondern offenbar nur in irgendeiner Weise theoretisch wegreduziert, verleugnet, damit konzeptionell verfehlt wird. So sehen wir uns vor der Aufgabe, solche Verdrängungen und Verkehrungen theoretisch zu durchdringen und das »Lernsubjekt« in seinen jeweils besonderen Verkürzungen wieder diskursfähig und diskutierbar zu machen. Nur mit einer solchen Reinterpretation können die im Vergleich zu den traditionellen Lerntheorien umfassenderen Erkenntnismöglichkeiten einer Lerntheorie, die explizit vom Standpunkt des Lernsubjekts entwickelt wird, sichtbar werden. Gleichzeitig soll damit ein neuer psychologischer Beitrag zur laufenden erziehungswissenschaftliehen und bildungspolitischen Grundsatzdiskussion, insbesondere über Schule und Schulreform, eingebracht werden. Den Angelpunkt des folgenden Textes bildet die Erarbeitung der allgemeinen Grundbegrifflichkeit einer Lerntheorie vom Standpunkt des Lernsubjekts und seiner genuinen Lebensinteressen, also die Aufschlüsselung des Lernens aus dem Zusammenhang menschlichen Handeins im Kontext gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten (im 3. Kapitel). Einerseits sind erst auf dieser Grundlage die historisch bestimmten institutionellen Lernverhältnisse, insbesondere die erwähnte öffentliche Gleichsetzung von Lernen mit (schulischem) Lehrlernen, auf die Widersprüche und Restriktionen, die sich daraus für das Lernen vom Subjektstandpunkt ergeben, aufzuschlüsseln: Damit soll die benannte Enteignung des Lernens, wo nicht überwindbar, wenigstens - auch als Anreiz für notwendige pädagogisch-bildungspolitische Klärungen- schärfer auf den Begriff zu bringen sein (Kapitel4). Andererseits aber kann unsere lerntheoretische Grundbegrifflichkeit, da der »Subjektstandpunkt« ja keine besondere Art Psychologie konstituieren, sondern eine adäquatere Herangehensweise an psychologische Probleme überhaupt markieren soll, ihrerseits nicht einfach neben die traditionellen Lerntheorien
16
Einleitung
gestellt, sondern muß (wie gesagt) im Durchgang durch diese entwickelt werden: Dem dient die vorgängige Kritik und Reinterpretation vorfindlieber lerntheoretischer Grundansätze-SR-Theorien des Lernens, kognitivistischer Theorien, handlungstheoretischer Lernkonzepte - als Herausarbeitung ihres (in der subjektwissenschaftlichen Theorie des Lernens aufzuhebenden) relativen Erkenntnisgehalts (in Kapitel 2). Alldem voranzustellen war aber der Versuch, die Frage, was »Psychologie vom Subjektstandpunkte bedeutet und was auf dieser Grundlage die Kritik/Reinterpretation und Weiterentwicklung der Lernpsychologie heißen kann, soweit zu beantworten, daß die anschließenden inhaltlichen Ausführungen über Lernen verständlich werden dies im folgenden 1. Kapitel, dem wir uns nun zuwenden wollen.
Kapitell Hinführung auf das Verfahren der Problementwicklung
19
Vorbemerkung Das Vorhaben der Entwicklung einer lerntheoretischen Konzeption vom Standpunkt des Lernsubjekts ergab sich also einerseits aus unserer in der Einleitung dargelegten Globaldiagnose des Zustands der gegenwärtigen Lernpsychologie. Andererseits aber handelt es sich dabei (wie schon angedeutet) um eine Konkretisierung unseres langjährigen »kategorialanalytischen« Projekts der Kritischen Psychologie, wie es u.a. von Holzkamp (1973), Osterkamp (1975 u. 1976) und Schurig (1976) erarbeitet wurde und wie ich es in der »Grundlegung der Psychologie« (1983)- im folgenden GdP- integriert und weiterentwickelt habe: Dort wurden unser subjektwissenschaftlicher Ansatz und die Konzeption einer »Psychologie vom Subjektstandpunkt« aufgrund umfangreicher logisch-historischer Analysen an biologischem, ethologischem, anthropologischem, ethnologischem, gesellschaftlich-historischem Material entfaltet und aus umfassenden begrifflichen Zusammenhängen verdeutlicht (zur historischen Einordnung des kritisch-psychologischen Grundansatzes vgl. Maiers 1992, Kap. 2, sowie- insbesondere bezüglich des Verhältnisses zur Kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie und zum tätigkeitstheoretischen Ansatz - die laufenden Forschungsarbeiten von Keiler, vgl. 1991). Von da aus liegt es zunächst nahe, hier als Hinführung auf das folgende eine zusammenfassende Darstellung des Verfahrens und der Resultate kritischpsychologischer Kategorialanalyse voranzustellen. Indessen: Meine entsprechenden Versuche waren nicht sehr erfolgreich. Ein entsprechender Entwurf erwies sich bei seiner Erprobung als für Leser, denen die Kritische Psychologie neu war, weitgehend unverständlich und für diejenigen, die sie schon kannten, unbefriedigend. Es stand zu befürchten, daß eine derartige - notwendig abstrakte und komprimierte - Zusammenfassung als retardierendes Moment wirken und die Leser ungeduldig machen, damit den späteren Einstieg in die inhaltlichen Ausführungen über Lernen weniger fördern als behindern würde. So habe ich schließlich auf die zusammenfassende Präsentation des kritisch-psychologischen Grundkonzeptes verzichtet und statt dessen eine andere Darstellungsweise gewählt: Ich führe jeweils am On nur soviel grundsätzliche kategorialanalytische Konzeptionen ein, wie mir zum Verständnis der jeweils anschließenden Darlegungen unbedingt nötig erscheint, und verweise im übrigen auf die Literaturstellen, wo die jeweilige Begrifflichkeit im Zusammenhang dargestellt und begründet wurde. Dies bedeutet, daß man aus der folgenden Arbeit zwar viel über Lernen in subjektwissenschaftlicher Sicht, aber wenig Systematisches über die Kritische Psychologie erfährt: Sofern man sich darüber kundig und urteilsfähig machen will, muß man den von mir angegebenen Literaturhinweisen nachgehen. - Damit
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Hinführung auf das Verfahren der Problementwicklung
verbinde ich die stille Hoffnung, daß man aus der Art, wie im folgenden ein psychologisches Zentralproblem wie .. Lernen« inhaltlich entfaltet wird, u.U. sogar in besonders günstiger Weise Zugang auch zu unserer subjektwissenschaftlichen Grundkonzeption finden und dabei weniger leicht zu Fehldeutungen und Mißverständnissen kommen mag als beim direkten Ansatz an der kritisch-psychologischen Grundbegrifflichkeit. Zu den allgemeinen konzeptuell-methodologischen Hinweisen, die ich trotz allem nicht ganz vermeiden kann, gehören die folgenden vorbereitenden Erläuterungen darüber, wie der schon benannte .. Subjektstandpunkt•, von dem aus wir das Lernproblem neu aufarbeiten wollen, genauer zu verstehen ist, inwiefern von da aus eine Reinterpretation der traditionellen Lerntheorien möglich und nötig ist, und in welchem Verhältnis die von uns zu erarbeitende subjektwissenschaftliche Lerntheorie zur vorfindliehen Psychologie des Lernens steht. Dem noch vorauszuschicken sind jedoch einige kurze Hinweise, was im Kontext der benannten kritisch-psychologischen Kategorialanalysen mit dem Begriff ..Kategorien« gemeint ist, welche Funktion also den von uns erarbeiteten Kategorialbestimmungen bei der Entwicklung des subjektwissenschaftlichen Ansatzes und dessen lerntheoretischer Konkretisierung zukommt: »Kategorien« sind unserer Definition nach jene in psychologischen Theorien enthaltenen Grundbegriffe, von denen der Grad und die Art des Gegenstandsbezuges der Theorien abhängt, durch welche also bestimmt ist, welche Ausschnitte oder Aspekte der Realität jeweils überhaupt thematisierbar sind. Sie sind damit den eigentlichen theoretischen Zusammenhangsannahmen und deren Empiriebezug vorgeordnet: Durch den Versuch einer empirischen Realisierung von Theorien stehen zwar diese Zusammenhangsannahmen, nicht aber die bei deren Formulierung verwendeten Grundbegriffe in Frage. (So wäre die in einer Theorie enthaltene Kategorie »Reiz« vom Resultat des Versuchs einer empirischen Realisierung dieser Theorie keineswegs mitbetroffen. Vielmehr hängt es vom in Kategorien wie der des »Reizes• ermöglichten/beschränkten Gegenstandsbezug ab, was in der Theorie überhaupt zur empirischen Realisierung ansteht). Die aus den in ihnen enthaltenen Kategorialbestimmungen sich ergebenden Eingrenzungen des Gegenstandsbezuges von Theorien werden unserer Auffassung nach von der traditionellen Psychologie kaum mitreflektiert, in jedem Falle aber verfügt diese über kein wissenschaftliches Verfahren zur Kritik/Rechtfertigung ihrer kategorialen Voraussetzungen. Die •Wissenschaft• setzt dort vielmehr erst bei der Theorienprüfung ein, also dann, wenn darüber, was man vom Gegenstand überhaupt zu Gesicht bekommen kann, bereits entschieden ist. Das von der Kritischen Psychologie entwickelten kategorialanalytischen Verfahren soll dagegen selbst empirisch-wissenschaftlich fundierbar sein, allerdings nicht im Sinne der »aktualempirischen« Forschung, sondern als »historisch-empirische« Vorgehensweise (vgl. GdP, Kap. 1.3).
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Im folgenden werde ich - aus den erwähnten Gründen der Vermeidung unzumutbarer Umwege und Verzögerungen- den Prozeß der historisch-empirischen Gewinnung unserer Kategorialbestimmungen nicht entfalten, sondern lediglich in Darstellungszusammenhängen, wo dies unerläßlich ist, einige der so erarbeiteten Grundkonzepte einführen wobei, wie schon gesagt, mit der Erläuterung dessen, was »Psychologie vom Subjektstandpunkte im Kontext unseres subjektwissenschaftlichen Ansatzes heißt, begonnen werden soll.
Wem die folgenden Darlegungen immer noch reichlich komprimiert vorkommen, der sei darauf verwiesen, daß die hier geforderte Rezeptionsanstrengung nur kurze Zeit in Anspruch genommen wird, und daß die eingeführten Bestimmungen sich im übrigen aus ihrer Funktion innerhalb der inhaltlichen Darlegungen in jeweils konkreten Zusammenhängen später selbst erläutern werden.
Explikation des Subjektstandpunkts als Diskursebene subjektiver Handlungsgründe Der Standpunkt des Subjekts schließt - phänomenologisch gesehen - eine
Perspektive, d.h. eine besondere »Ansicht« der Welt (einschließlich der eigenen Person) eben von jenem Standpunkt ein. Darin ist- da ja hier der Standpunkt als der des Subjekts akzentuiert wird - mitgesagt, daß diese Perspektive intentionalen Charakter hat, d.h. daß sich damit das Subjekt mit seinen Absichten, Plänen, Vorsätzen bewußt auf die Welt und sich selbst bezieht. So gesehen kann man das Subjekt als eine Art von lntentionalitätszentrum kennzeichnen, das von seinem Standpunkt aus auch andere Menschen als Intentionalitätszentren mit deren jeweils standpunktabhängiger Perspektive/Intentionalität erfährt: Die darin liegende reziproke Perspektivenverschränkung ist die allgemeinste Bestimmung der Intersubjektivität als Kennzeichen zwischenmenschlicher Beziehungen. - Der so umschriebene »Standpunkt« meint keineswegs eine räumlich-geographische Fixierung: Auch wenn ich mich in der Welt bewege und aktiv in sie eingreife, geschieht dies von meinem Standpunkt aus, der - auch wenn er sich ändert - stets mein Standpunkt mit einer je bestimmten/begrenzten Perspektive bleibt. Mit diesem Standpunkt stehe ich nicht neutral in der Welt, sondern verhalte mich zu ihr als ein sinnlich-körperliches, bedürftiges, interessiertes Subjekt. Meine Absichten, Pläne, Vorsätze als Charakteristika meiner Intentionalität sind inhaltliche Stellungnahmen und Handlungsentwüife vom Standpunkt meiner Lebensinteressen. Entsprechend nehme ich den anderen als intentionales Zentrum seiner Lebensinteressen, die zu den meinen in einem bestimmten Verhältnis stehen, wahr.
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Die Welt, in der wir uns gemeinsam befinden und auf die wir uns von »je meinem« Standpunkt und in .. je meiner• Perspektive mit unseren Handlungen richten, ist aufgrund der in ihr durch gesellschaftliche Arbeit produzierten allgemeinen Gebrauchszwecke (•verallgemeinertes Gemachtsein« des Hauses »ZUm« Wohnen, des Hammers »ZUm« Nägeleinschlagen, etc., vgl. GdP, S.29tff) sowie der dadurch konstituierten sozialen Verhältnisse für uns objektiv bedeutungsvoll- und zwar nicht im Sinne bloß sprachlicher Bedeutungen, sondern im Sinne von sachlich-sozialen •Gegenstandsbedeutungen•, auf die sich die sprachlich-symbolischen Bedeutungen verallgemeinernd und verdichtend beziehen (vgl. GdP, 226ff). Dieses Bedeutungskonzept ersetzt innerhalb der von uns erarbeiteten Kategorialbestimmungen die gängige psychologische ,.Reiz•-Kategorie, in welcher von der gegenständlich strukturierten menschengeschaffenen Welt nur unmittelbare Einwirkungen auf den Organismus übrigbleiben (vgl. Holzkamp 1988, S.377f). Die sachlich-sozialen Bedeutungen in unserem Sinne (vgl. dazu etwa Osterkamp 1975, Kap. 3.3.2, und GdP, Kap. 6) sind - indem ich durch deren Realisierung an der gesellschaftlichen Verfügung über Mittel und Ressourcen der Lebensbewältigung teilhaben kann- der individuell handlungsrelevante Aspekt in sich strukturierter, objektiver gesellschaftlicher Lebensbedingungen in ihren historisch bestimmten, klassen- und schichtspezifischen Ausprägungen, stellen also eine Vermittlungsebene zwischen gesellschaftlichen Lebensbedingungen und individuellem Handeln dar. Diese Vermittlungen werden in der Ontogenese zunächst nur über das Vortun und Mittun der Erwachsenen, die dem Kind damit die verallgemeinerten. Bedeutungsgehalte verschiedener Weltaspekte praktisch nahebringen (.. KindErwachsenen-Koordination•), aufschließbar: In dem Maße, wie auf diesem Wege die sprachlich-symbolisch strukturierten Verweisungszusammenhänge der Bedeutungen durchdrungen und synthetisiert werden können, kann ich mir die darin liegenden sozialgesellschafliehen Handlungsvoraussetzungen über meine individuelle Lebenspraxis erschließen, ohne dabei stets auf die direkte Unterstützung Kundigerer angewiesen zu sein (vgl. GdP, Kap. 8.2). Mit der Hervorhebung der Handlungsrelevanz der Bedeutungen als jeweils mir zugekehrter Seite der Welt ist nicht gesagt, daß meine Handlungen dadurch determiniert werden. Da entwickelte gesellschaftliche Systeme sich in gewissem Maße auch ohne permanente Beiträge jedes einzelnen ihrer Mitglieder erhalten können, stellen die Bedeutungen von Weltgegebenheiten vielmehr für mich lediglich {wenn auch klassen-und schichtspezifisch ungleich zugeteilte) Handlungsmöglichkeiten dar (vgl. GdP, S.235ff). Zu diesen Möglichkeiten kann ich mich bewußt ..verhalten«: Ich kann sie - in Abhängigkeit von meiner jeweils konkreten Lebenssituation - ergreifem oder verweigern, nur in bestimmten Aspekten und Dimensionen realisieren oder sogar gewisse, mit den hergestellten Brauchbarkeiten mitgeschaffene, aber damit nicht intendierte ..Verwendbarkeiten• (vgl. GdP, S.446ff) in Handlungen umsetzen - man kann einen Hammer, anstatt mit ihm Nägel einzuschlagen, wegen seines Gewichtes auch als Briefbeschwerer benutzen, oder ein Haus, statt darin zu wohnen, in Handlungsumsetzung seiner ,.Brennbarkeit• auch anzünden (vgl. dazu KeilersUnterscheidung zwischen ,.funktionswert« und ,.funktionalcharakter•, 1987, S.223ff).
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Da die Bedeutungshaftigkeit denjenigen Aspekt der Welt darstellt, über den ich mich allein als handelndes Subjekt auf diese richten kann, sind auch nicht produzierte, •natürliche« Tatbestände in die gesellschaftlich produzierten Bedeutungszusammenhänge einbezogen und werden nur in diesem Kontext, nämlich in Abhebung davon, für mich in ihrer Besonderheit als •Natur« (auch als •innere Natur« des Menschen) faßbar und handlungsrelevant (vgl. GdP, S.232f), etc. (Das damit eingeführte Bedeutungskonzept wird später in unterschiedlichen Darstellungszusammenhängen genauer auseinandergelegt werden.)
Aus dem Verständnis menschlichen Handeins als Realisierung von Bedeutungen, d.h. gesellschafliehen Handlungsmöglichkeiten, ergibt sich, daß die Charakterisierung des Subjektstandpunktes als ,.Jntentionalitätszentrum« noch verdeutlicht werden muß: Intentionale Bezogenheit auf die Welt ist keineswegs nur ein kognitiver oder mentaler Akt, sondern schließt die aktive Umsetzung derartiger Handlungsmöglichkeiten ein. Dabei muß das Subjekt -je nach seiner konkreten Lebenslage und den darin gegebenen Freiheitsgraden - sich nicht auf die Realisierung vorgegebener Bedeutungen beschriinken, sondern kann in handelndem Weltzugriff seine Lebensbedingungen aktiv umgestalten, damit deren Bedeutungsaspekt als Inbegriff von Priimissen seiner eigenen Handlungsbegründungen/Handlungen verlindern (vgl. GdP, S.354ff). •Subjektiv« ist demnach von uns stets im Sinne eines subjekthaltaktiven Weltbezuges bzw. Weltzugriffs als Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen zu verstehen (vgl. auch Osterkamp 1975, Kap. 3.3). Aus der Art, wie wir den Standpunkt/ die Perspektive des Subjekts in der sachlich-sozial bedeutungsvollen Welt bis zu dieser Stelle kennzeichneten, ist noch nicht hinreichend ersichtlich, wie daraus eine psychologische Wissenschaft bzw. Lerntheorie vom Subjektstandpunkt entwickelbar sein kann. Dazu muß vielmehr kategorialanalytisch differenzierend hervorgehoben werden, daß Erfahrungen vom Standpunkt des Subjekts dadurch diskursfähig und wissenschaftlich verhandelbar werden, daß sie in der Sprache subjektiver Handlungsbegründungen artikuliert und kommuniziert werden können (vgl. dazu GdP, Kap. 7.4). Dies läßt sich unter den folgenden Aspekten auseinanderlegen: •Gründe« sind als solche stets »je meine Gründe«, also (anders als •Ursachen«, »Bedingungen«, »Ereignisse«) quasi »erster Person«. Damit ist, sofern man von Handlungsgründen redet, der Standpunkt des Subjekts, das diese Gründe »hat« bzw. für das bestimmte Handlungen (so und so) begründet sind, notwendig impliziert. Umgekehrt kann man Aussagen •vom Standpunkt des Subjekts«, wenn man deren Spezifik nicht verfehlen will, nur auf
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der Diskursebene subjektiver Handlungsgründe einbringen und zur Diskussion stellen. Weiterhin werden in bestimmten Handlungsbegründungen nicht Geschehnisse außerhalb meines Zugriffs, sondern eben meine Intentionen, Absichten, Pläne »begründet«. Dabei gehen »äußere« Ereignisse zwar auch in Handlungsbegründungen ein, ebenso können dabei kausale Zusammenhänge berücksichtigt werden, aber nicht unter dem Aspekt ihrer direkten Ein- bzw. Auswirkungen, sondern (in der Art, wie ich sie erfahre) als »Prämissen« für die Begründung meiner Handlungsvorsätze: Derartige Prämissen sind nicht eindeutig von außen determiniert, sondern vom Subjekt im Kontext seiner Handlungen aktiv selegiert bzw. hergestellt, mithin sowohl Voraussetzung wie Resultat des Handlungsverlaufs. Die (mit Bezug auf den Begründungszusammenhang) äußeren Bedingungen, die zu Begründungsprämissen gemacht werden können, sind Aspekte eben jener sachlich-sozial bedeutungsvollen Welt, wie wir sie gerade charakterisiert haben: Bedingungen als Begründungsprämissen akzentuieren an den Weltgegebenheiten deren Bedeutungen, d.h. die durch gegenständliche gesellschaftliche Praxis geschaffenen Handlungsmöglichkeiten, durch deren Realisierung ich Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen' erreichen kann. In die gegenständlichen und symbolischen Bedeutungsverweisungen, durch welche die Welt strukturiert ist, bin ich selbst in meiner körperlich-sinnlichen Existenz einbezogen, indem ich für mich und andere im Kontext der Bedeutungszusammenhänge erfahrbar und in meinen Handlungen wie meiner Befindlichkeit darauf verwiesen bin. So gesehen gehören zu den »äußeren« Bedingungen als Prämissen von Handlungsbegründungen auch solche, die meiner Person, etwa meinem Körper zugehören, aber meiner intentionalen Verfügung entzogen sind, wie körperlicher Schmerz, aber ebenso für mich unverfügbare »psychische« Geschehnisse. In den Begründungsprämissen ist also im Ganzen die meinen Intentionen gegenüber widerständige Realität verkörpert, die ich in meinen Handlungsvorsätzen nicht aufheben, sondern nur berücksichtigen kann: Veränderungen dieser Realität sind für mich nicht durch Vorsätze, sondern (wenn überhaupt) nur durch deren Umsetzung in wirkliche Handlungen möglich, womit ich auf diesem Wege auch selbst an der Ver-
änderung von Bedingungen/Bedeutungen als Prämissen für meine Handlungsbegründungen teilhaben kann (s.u.). Darüber hinaus ist mit der Kategorie »subjektive Handlungsbegründungen« auch der (über die Bedeutungen vermittelte) Rückbezug auf meine Lebensinteressen (an der Wahrung und Entwicklung meiner subjektiven Lebensqualität durch Verfügung über die dazu notwendigen Bedingungen, s.u.) mitgemeint: »Begründet« ist ein Handlungsvorsatz nicht schon, wenn er sich ,.logisch« aus bestimmten Prämissen ergibt, sondern erst, wenn für mich
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stringent ist, daß ich angesichts der gegebenen Prämissenlage zur Wahrung meiner Lebensinteressen {wie ich sie sehe) diesem Vorsatz gemäß handeln muß (oder müßte).- Dieser Umstand wird auch inderneueren Diskussion um das philosophisch-sozialwissenschaftliche Handlungskonzept {dessen Verhältnis zu unserer Position wir hier nicht näher erörtern können, vgl. Holzkamp 1986) berücksichtigt. Dabei bezieht man sich heute häufig auf die (von William Dray, 1985, vorgeschlagene) Spezifizierung von Handlungsgründen als »guten Gründen« {»good reasons«): Wenn ein Handlungsvorsatz für mich begründet ist, so heißt dies, daß ich gute Gründe habe, so handeln zu wollen, daß ich also in meinem eigenen Interesse vernünftigerweise beabsichtige, so zu handeln (vgl. auch Beckermann 1985, S.48). Die Klärung von Handlungsgründen ist wesentliches Bestimmungsmoment meines »inneren Sprechens«, bei dem ich permanent mit mir aushandle, was ich in meiner jeweiligen Lage tun oder lassen sollte, wenn ich mir nützen, wenigstens aber nicht selbst schaden will (s.u.). Schließlich läßt sich der benannte standpunktbezogene intersubjektive Beziehungsmodus von »lntentionalitätszentrum« zu »lntentionalitätszentrum« im Kontext der subjektiven Handlungsbegründungen kategorial konkretisieren als intersubjektive Begründetheit/Verständlichkeit von Handlungsintentionen: Ich mache mich dem anderen dadurch verständlich, daß ich ihm die Gründe für mein Handeln, genauer: die Prämissen, unter denen für mich mein jeweiliger Handlungsvorsatz begrundet (d.h. in meinem Interesse »vernünftig«) ist, nachvollziehbar mache; und entsprechend »Verstehe« ich den anderen, soweit ich nachvollziehen kann, aufgrund welcher Prämissen, wie sie für ihn gegeben sind bzw. von ihm wahrgenommen werden, sein Handlungsvorsatz für ihn aus seinen Interessen begründet, d.h. vernünftig ist. {vgl. dazu etwa GdP, S.349ff und Holzkamp 1986, S.218ff). Mit der so gefaßten Ebene der »subjektiven Handlungsgründe« ist - um einem möglichen Mißverständnis entgegenzutreten - keineswegs in »rationalistischer« Weise behauptet, menschliche Handlungsvorsätze seien immer (im beschriebenen Sinne) »gut begrundet« oder »Vernünftig«. Hier ist vielmehr lediglich der Beziehungsmodus oder die Diskursform angesprochen, worin mit der Frage nach der Begründetheit auch die Frage nach der Unbegründetheit oder Unvernünftigkeit von Handlungsintentionen überhaupt sinnvoll gestellt werden kann: Bloß »kausal« bedingte Ereignisse können - da nicht von meinem Standpunkt aus .. begrundet«, sondern lediglich ..Vorgänge dritter Person« - auch nicht »unbegrundet« und »unvernünftig« sein {wenn die Milch überkocht, so ist dies weder begrundet/vernünftig noch unbegründet/unvernünftig, sondern lediglich ein »kausal«, etwa durch den Hitzegrad der Herdplatte, bedingtes Ereignis). Ebensowenig ist mit Heraushebung der intersubjektiven Reziprozität
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zwischen Begründetheit meines Handlungsvorsatzes und Verständlichkeit des Vorsatzes einer anderen Person gesagt, daß die Handlungsintentionen des anderen für mich aktuell tatsächlich immer verständlich sind. Faktische »Unverständlichkeit« bedeutet auf der intersubjektiven Beziehungsebene aber nicht »kausale« Bedingtheit der Handlungen des anderen, sondern bezeichnet meine mangelnde Einsicht in die Prämissen, unter denen für den anderen seine Intentionen »begründet« sind, impliziert also, daß ich- wenn mir dessen Prämissen hinreichend bekannt wären - auch seine Handlungsvorsätze als für ihn begründet »Verstehen« würde. Meine Verständnislosigkeit dem anderen gegenüber zwingt mich also keineswegs, die Diskursform der »subjektiven Handlungsgründe« zu verlassen und die Handlungen des anderen nur noch unter dem Gesichtspunkt ihrer kausalen Bedingtheit zu betrachten: Wenn ich es dennoch tue, so ist dies (formal gesehen) das Resultat meiner Entscheidung, den anderen aus dem »menschlichen« Beziehungsniveau der Intersubjektivität auszugrenzen und ihn (dauernd oder vorübergehend) »Von außen« auf die Ursachen seines Verhaltens hin zu betrachten (vgl. Holzkamp 1986, S.219f). Da die Ebene der »subjektiven Handlungsgründe« kategorial als Diskursform bestimmt ist, sind damit auch keinerlei außengesetzt-.mormative« Forderungen, daß der Mensch in so oder so vorentschiedener Weise »begründet« oder »Vernünftig« handeln soll, verbunden. Die Bedeutungen (wie wir sie umschrieben haben) dürfen keineswegs als Inbegriff von normativen Handlungsbestimmungen, die ich (etwa im gesellschaftlichen Interesse) realisieren soll, angesehen werden. Diese stellen (wie gesagt) vielmehr für mich lediglich Handlungsmöglichkeiten dar, die ich nach Maßgabe meiner jeweils konkreten Lebensinteressen in bestimmten An- und Ausschnitten - oder auch gar nicht zu Prämissen für meine Handlungsbegründungen machen kann. Wir haben es hier also mit keinem vom Außenstandpunkt formulierten Modell über die Rationalität menschlichen Handeins zu tun, an dem das empirische Handeln der Individuen zu messen ist (vgl. dazu etwa Frey 1990). Von uns wird lediglich angenommen, daß ich von meinem Standpunkt aus nicht »begründet« gegen meine eigenen Interessen (wie ich sie wahrnehme) handeln kann. Auch diese Voraussetzung könnte natürlich angezweifelt werden, nur hätte man sich dadurch die Grundlage entzogen, von der aus allein begreiflich wird, daß ich meine eigenen Handlungsvorsätze begründen, damit anderen verständlich machen kann und daß Handlungsvorsätze anderer für mich als begründet verständlich werden können: Ein Mensch, dem ich unterstelle, daß er bewußt seine eigenen Lebensinteressen verletzen, also »grundlos« handeln kann, ist damit- indem sein Tun und Lassen absolut beliebig ist- für sich selbst und andere notwendigerweise »unfaßbar« - in der gleichen Weise, wie auf dem kausalen Niveau der Bedingungs-Ereignis-Zusammenhänge ursachenlose
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Ereignisse nicht faßbar, ja nicht einmal .. denkbar« sind. So gesehen kann man die Voraussetzung, daß niemand bewußt seinen eigenen Interessen zuwiderhandelt, als einziges »materiales Apriori• des intersubjektiven Beziehungsmodus bezeichnen: ein Grundpostulat, das - obzwar selbst nicht weiter zurückführbar und ableitbar - als notwendige Voraussetzung der Möglichkeit intersubjektiver Kommunikation/Interaktion nur bei Ableugnung dieser Möglichkeit selbst aufgegeben werden kann {vgl. GdP, S.350).
Impliziter Begründungsdiskurs und nomologisches Selbstmißverständnis in der Psychologie Die von uns projektierte Erarbeitung einer Lernpsychologie vom Subjektstandpunkt ist also gleichbedeutend mit der Reinterpretation und Weiterentwicklung lernpsychologischer Konzeptionen auf der Diskursebene subjektiver Handlungsgründe. Daraus ergeben sich hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den traditionellen Theorien und unserem subjektwissenschaftlichen Theorieansatz die folgenden Konsequenzen: Da wir von unserem kategorialen Ansatz aus den »Standpunkt des Subjekts« nicht zum Gegenstand der Analyse machen, sondern als Standpunkt der Forschung übernehmen, sind die »Gründe«, die jemand für sein Handeln haben mag, nicht etwas, das wir - von einer davon abgehobenen theoretischen Position aus - in der Forschung mituntersuchen, berücksichtigen, erfragen wollen: Vielmehr muß die Theoriesprache, in der wir unsere Reinterpretation der bestehenden Lernpsychologie und weiterhin auch unsere eigenen lerntheoretischen Konzeptionen zu formulieren haben, selbst eine Sprache aufder Diskursebene der Handlungsgründe sein. So gesehen ist auch der Unterschied zwischen bloß deskriptiven, vorwissenschaftliehen Aussagen und eigentlichen wissenschaftlichen Theorien nicht in Termini der Absetzung der eigentlichen Theorienbildung von subjektiven Begründungszusammenhängen, sondern innerhalb der Diskursebene der Handlungsbegründungen herauszuheben. Mit anderen Worten: i.e.S. wissenschaftliche (Lern)theorien müssen von uns auf eine Weise gegenüber deskriptiv-vorwissenschaftliehen Aussagen qualifizierbar und spezifizierbar sein, daß die Zugehörigkeit beider Aussageformen zur Ebene der »subjektiven Handlungsgründe« nicht aufgehoben oder auch nur relativiert ist. Dem steht aber nun die Tatsache gegenüber, daß die von uns zu reinterpretierenden Lerntheorien im »nomothetischen« oder »nomologischen« Selbstverständnis der Mainstream-Psychologie als solche Satzsysteme angesehen werden, die die Ableitung von empirisch prüfbaren Hypothesen über kausale
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Beziehungen zwischen Bedingungen und Ereignissen bzw. (in anderer Wendung) die » Vorhersagbarkeit« von Ereignissen aus Bedingungen - sog. »Wenn- DannHypothesen«- ermöglichen. Dies gilt nicht nur für das i.e.S. experimentellstatistische Vorgehen, sondern für alle Konzeptionen in der Psychologie, die sich in ihrem methodischen Grundverständnis - wie vermittelt und relativiert auch immer - an diesem Modell orientieren. Demnach wären auch die meisten jener »qualitativen« Denkansätze, die in kritischer Absetzung von der quantitativ ausgerichteten Psychologie entwickelt worden sind, dennoch deren so gefaßtem Grundmodell verhaftet: Dabei sollen zwar einerseits z.B. »subjektive Theorien« berücksichtigt werden, wird einer prinzipiellen »Subjektorientierung« der Psychologie das Wort geredet , wobei aber andererseits die wissenschaftliche Perspektive nach wie vor mit der »Außenperspektive« gleichgesetzt, die Subjektperspektive also immer noch lediglich als Gegen· stand, nicht aber als Standpunkt wissenschaftlicher Forschung verstanden ist (vgl. etwa Hoff 1990). Dies bedeutet jedoch, daß man auch hier- sobald man die Formulierung von herausgehobenen und abgrenzbaren Hypothesen versucht - notwendigerweise auf deren irgendwie geartete Fassung als kausale bzw. bedingungsanalytische Wenn-Dann-Hypothesen verwiesen ist. (Zur Problematik der Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden im subjektwissenschaftlichen Methodenzusammenhang vgl. Markard 1991). Das Verhältnis zwischen der »Wenn-« und der »Dann-Komponente« der Hypothesen ist gemäß gängigem psychologischem Selbstverständnis dadurch gekennzeichnet, daß es sich dabei um voneinander unabhängige »kontingente« Faktizitäten handeln soll, deren Zusammenhang sich aus keinerlei immanenten Konstruktionsmerkmalen der Theorie ergibt, der sich mithin bei der empirischen Prüfung auch als nichtexistent erweisen (die Hypothese damit als »falsifiziert« an der Realität scheitern) kann: Nur aufgrund dieser Voraussetzung ist die jeweilige Wenn-Dann-Hypothese als empirisch gehaltvoll, also als Teilaussage innerhalb des Theoriesystems »empirischer Wissenschaft« im traditionellen Sinne zu betrachten und der Anspruch zu begründen, daß in aus den Theorien abgeleiteten Hypothesen tatsächlich echte »Vorhersagen« über reale Verhältnisse formulierbar seien (eine stringente Darstellung dieser wissenschaftstheoretischen Position findet sich bei Gadenne 1984).
Die von uns kategorial herausgehobene Theoriesprache der »subjektiven Handlungsgründe« ist nun aber mit einer solchen Auffassung über die Form von Theorien und ihrer empirischen Prüfung unvereinbar: »Ereignisse« erscheinen darin nicht als kausale Bedingungen für andere Ereignisse, sondern (wie gesagt) in ihrer Bedeutungshaftigkeit als »Prämissen« für Handlungs-
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begründungen. Die Begründungen stehen zu den Prämissen nicht im Verhältnis empirischer Kontingenz, sondern diskursiver Schlüssigkeit: Sie ergeben sich für mich in Ansehung meiner Interessen (wie ich sie wahrnehme) als »vernünftige« Konsequenz aus den Prämissen. Deranige Annahmen über Begründungszusammenhänge enthalten demnach keinerlei »Vorhersagen« über reale Ereignisse, können mithin auch nicht als solche »an der Realität scheitern«, es kann sich lediglich herausstellen, daß sie, da hier die darin vorausgesetzten Prämissen nicht vorliegen, auf eine bestimmte reale Situation nicht anwendbar sind. Wenn ich mir etwa unter der Prämisse, es fängt an zu regnen, vorgenommen habe, um nicht naß zu werden, den Schirm aufzuspannen, so ist damit nicht »Vorhergesagt«, daß es tatsächlich regnen wird. Die »Begründetheit/Vernünftigkeit« dieses Handlungsvorsatzes ist demnach als solche keineswegs durch den Umstand falsifiziert, daßes-wie sich bald herausstellt - gar nicht regnet, das Aufspannen des Schirms also überflüssig wäre: Es hat sich nur erwiesen, daß die Prämissen für diesen vernünftigen Handlungsvorsatz im konkreten Falle nicht vorliegen. »Empirische Prüfungen« nach An der Überprüfung von traditionellen Wenn-Dann-Hypothesen sind also mit Bezug auf Annahmen über Begründungszusammenhänge schon aus formalen Gründen unmöglich: Selbst, wenn man keinen einzigen empirischen Fall aufweisen könnte, auf den die Begründungsannahme anwendbar ist (wenn etwa »Regen« als meteralogisches Phänomen plötzlich verschwinden würde}, bliebe die Begründetheit des hier angesetzten Zusammenhangs zwischen Prämissen und Handlungsvorsätzen davon unberührt; reale Verhältnisse sind also kein irgendwie gearteter Prüfstein für die Begründungsannahmen, sondern eben mögliche Anwendungsfälle oder »Beispiele« für den darin angesetzten »vernünftigen« Zusammenhang zwischen Prämissen und Handlungsvorsätzen; falls ein solcher »Anwendungsbezug« nicht herstellbar ist, bedeutet dies lediglich, daß nicht diese, sondern eine andere, die Bestimmungen der Begründungsannahme erfüllende Anordnung realer Verhältnisse als Beispiel dafür taugt (ich habe dies 1986, S.220ff, ausführlicher auseinandergelegt und komme später noch darauf zurück). Mit unserer Bestimmung von »Theorien« als Annahmen über subjektive Begründungszusammenhänge haben wir einen zentralen Grundzug psychologischer Theorienbildung gemäß unserem Verständnis von Subjektwissenschaft in erster Annäherung kategorial expliziert. Diese Art Theorienbildung findet sich nicht nur in der Kritischen Psychologie (und wird in dieser Abhandlung später lerntheoretisch konkretisiert werden), sondern auch in der Psychoanalyse, die (wie ich andernorts, 1984a, ausgeführt habe} als früher subjektwissenscthaftlicher Denkansatz in der Geschichte der Psychologie zu betrachten ist. Von da aus versteht sich, daß das Konzept »bewußter« Handlungsbegründungen keineswegs- wie man vielleicht meinen könnte- mit dem Freudschen Konzept des »Unbewußten• in Widerspruch steht. Im Gegenteil: Die Eigenart und Funktion des »Unbewußten«
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ist auf der Diskursebene von ,.faktischen« Bedingungs-Ereignis-Zusammenhängen nicht faßbar (und wurde demgemäß von der akademischen Psychologie konsequent verfehlt). Vielmehr konstituiert sich das •Unbewußte« (als Begriff und Erfahrung) aus den Lücken und Brüchen »begründetere, •vernünftiger« Lebensentwürfe, ist also außerhalb des Kontextes von Begründungszusammenhängen als deren partielle Negation gar nicht •denkbar«. Entsprechend wird die subjektive Notwendigkeit und Funktion der ..Verdrängung« ins Unbewußte nur als Versuch begreifbar, den Diskurs einer aus den eigenen Lebensinteressen (wie ich sie wahrnehme) begründeten, •Vernüftigen« Lebensführung trotz damit nicht zu vereinender •anstößiger« Impulse in seiner Geschlossenheit aufrechtzuerhalten: Verdrängungen sind also nicht (unmittelbar) das Resultat bestimmter ..Bedingungen«, sondern haben primär als solche bestimmte ,.Gründe« (in welche gewisse Bedingungen als •Prämissen« eingehen). Gängige Einlassungen, in denen Freuds Lehre für »irrationalistischec Positionen in Anspruch genommen und gegen die Vernunft als Leitlinie menschlicher Lebensführung ins Feld geführt werden soll, gehen also an der Sache vorbei: Freuds Theorie ist (und darin liegt ihr potentiell aufklärerischer Charakter)- gerade indem sie die Widersprüche und Brüche des Bemühens um ihre Verwirklichung begreifbar und (im Rahmen des Möglichen) überwindbar machen will- der menschlichen Vernunft als zentralem Lebenswert unauflösbar verpflichtet: ..... die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat« ... »auf die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen ... « (Freud, FGW 14, S.377 bzw. 378).
Mit der Heraushebung des Verhältnisses zwischen dem subjektwissenschaftlichen Begründungsdiskurs und dem nomologischen Bedingtheitsdiskurs der von da aus zu reinterpretierenden Lerntheorien ist auf eine historische Gegenüberstellung von zwei Arten Psychologie verwiesen: den Dualismus zwischen einer »geisteswissenschaftlichen«, »ideographischen« o.ä. und einer »naturwissenschaftlichen«, »nomothetischen« o.ä. Psychologie: Die Problematik der Berechtigung dieses Dualismus ist heute in der Kontroverse um die Unterscheidung zwischen einer Psychologie der »Ursachen« und einer Psychologie der »Gründe« aktualisiert und erfuhr eine wissenschaftstheoretische Akzentuierung durch die in der amerikanischen Wissenschaftsphilosophie intensiv geführte »Causes vs. reasons«-Diskussion (vgl. dazu Lenk 1979; Beckermann 1985). In manchen Positionen der Psychoanalyse wurde in diesem Problemzusammenhang deren Sonderstatus als einer hermeneutischen, »deutungswissenschaftlichen« Disziplin in Absetzung von der nomologischen, ,.faktenwissenschaftlichen« Mainstream-Psychologie reklamiert und so einer mehr oder weniger unverbundenen Koexistenz beider »Psychologien« das Wort geredet (vgl. dazu Holzkamp 1985). Aus unserem Ansatz, den geschilderten »Begründungsdiskurs« als methodologischen Rahmen für die Reinterpretation der überkommenen Lerntheorien und Grundlage der eigenen Theorieentwicklung zu benutzen, geht hervor, daß wir den angesprochenen Dualismus zurückweisen. Andernfalls wären ja der Reinterpretationsrahmen und die zu reinterpretierenden Theorien in zwei verschiedenen Psychologien anzusiedeln, und wir würden mit
Impliziter Begründu~gsdiskurs und nomologisches Selbstmißverständnis
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unseren Reinterpretationsversuchen das Zu-Reinterpretierende von vornherein nicht ..erreichen« können. Für eine umfassende Rechtfertigung unserer Kritik an jeder Art ..Verdoppelung« der Psychologie ist hier nicht der Ort (vgl. dazu Maiers 1992a, 1992b}. Im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang sei nur darauf verwiesen, daß der Subjektstandpunkt im Diskurs ,.begründeten« Handeins gemäß unserem Grundansatz als Spezifik der Gegebenheitsweise und
des Beziehungsmodus der individuellen Lebenstätigkeit auf menschlichem Niveau zu betrachten und in der wissenschafliehen Vorgehensweise zwar zu analysieren und zu verallgemeinern, aber legitimerweise nicht zu unterschreiten ist (vgl. GdP, etwa Kapitel 9.3}. Dies heißt aber, daß auch die zu reinterpretierenden Mainstream1'heorien des Lernens, sofern in ihnen Ausagen über menschliches Handeln in seiner Spezifik enthalten sind, letztendlich (wie rudimentär auch immer} »Begründungstheorien« des Lernens wären. Demgemäß müßten wir bei unseren Reinterpretationsbemühungen die traditionellen lernpsychologischen Konzeptionen in der theoretischen Diskursform subjektiver Handlungsgründe dergestalt kritisch analysieren können, daß dadurch die Unangemessenheit ihrer eigenen,
im nomothetischen Bedingtheitsmodell verankerten Wissenschaftlichkeitskriterien deutlich wird. Die Selbsteinschätzung der überkommenen Lernpsychologie als nomothetische Erklärungswissenschaft vom »Standpunkt dritter Person« müßte sich mithin als Selbstmißverständis erweisen, durch welches das eigene wissenschaftliche Vorgehen mystifiziert und so letztlich der von der einschlägigen Mainstream-Psychologie selbst erhobene Anspruch auf wissenschaftliche Durchdringung menschlichen Lernens nicht hinreichend erfüllt werden kann. »Reinterpretation« bedeutet also so gesehen das Herausanalysieren der hinter den nomologischen Theorieformulierungen verborgenen begründungstheoretischen Struktur der vorfindliehen Theorien. Nur unter Voraussetzung einer solchen Reinterpretation (mit welcher die traditionellen Lerntheorien sozusagen vom nomologischen Kopf auf die begründungstheoretischen Füße gestellt werden)* ist der relative Erkenntnisgehalt der Mainstream1'heorien heraushebbar und in den Kontext der erwähnten positiven Ausarbeitung einer Begründungstheorie des Lernens einzubeziehen. Auf diesem Wege sind dann auch die aus der mangelnden wissenschaftlichen Reflexion des Begründungscharakters der jeweiligen Theorie erwachsenen
*Mit der Verwendung des Terminus •nomologisch« (synonym mit •nomothetischc) in kritischem Bezug auf das variablenpsychologische Verallgemeinerungskonzept ist keineswegs eine generelle Absage an die Forderung nach Verallgemeinerbarkeit wissenschaftlicher Aussagen verbunden: Entsprechende terminologische Differenzierungen finden sich bei Maiers (1992a, b).
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Beschränkungen und Widersprüche aufweisbar und in weiterführende For• .. schungsfragen zu deren Oberwindung zu fassen. Die Auffassung, daß psychologische Theorien, obwohl sie sich selbst als empirischer Prüfung zugänglich betrachten, tatsächlich implizite, aus logischen Gründen selbsteviden· te Strukturen darstellen, wird nicht nur von mir vertreten. So wurde von jeweils bestimmten Theorien behauptet, sie würden fälschlicherweise als •empirisch« betrachtet, seien aber in Wirklichkeit nur Explikationen von selbstevidenten Alltagsannahmen- vgl. etwa Calder (1977) mit Bezug auf die Attributionstheorie und Vollmer (1982) mit Bezug auf die Rottersche Erwartungs-mai-Wert.:fheorie. Weiterhin analysierte Brandtstädter (1982, 1984) an vielen Beispielen stringent heraus, daß und auf welche Weise in bestimmten vermeintlich empirischen Hypothesen statt kontingenten lediglich »apriorische«, begriffliche bzw. sprachliche Zusammenhänge formuliert sind, die experimentell nicht geprüft werden können; dabei differenzierte er die jeweiligen Implikationszusammenhänge in »begriffsstrukturelle Implikationen« als definitorische Zusammenhänge, ,. formalstrukturelle Implikationen« als formale Notwendigkeiten und »sachstrukturelle Implikationen•, die sich aus sachlichen Konstruktionsprinzipien, Regeln und Schemata des Aufbaus von Objekten ergeben (1984, S.154ff). Während in den damit benannten Argumentationen lediglich auf im Prinzip vermeidbare Fehler und Inkonsequenzen innerhalb der ansonsten als »nomothetisch• verstandenen psychologischen Theorienbildung hingewiesen wird, vertritt Smedslund (etwa 1978a, 1978b, 1979) die radikale Auffassung, psychologische Theorien seien im Ganzen- oder doch in wesentlichen Teilen - selbstevidente Common-Sense.:rheoreme, deren •empirische« Prüfung weder möglich noch notwendig sei, so daß hier die faktisch durchgeführten Experimente als »Pseudoempirie« einzustufen wären. Er fordert von da aus eine prinzipielle Umorientierung der Psychologie von einer vermeintlich empirischen Wissenschaft in eine Formaldisziplin nach Art der Euklidischen Geometrie, in welcher die alltagstheoretischen Vorstellungen vereindeutigt und in ihren logischen bzw. axiomatischen Zusammenhängen auf den Begriff gebracht werden. Konsequenterweise kam er von da aus zu einer positiven Wendung seiner bisher kritisch gegen psychologische Theorien gerichteten Analysen, indemer-in einem »the ancient Greek geometers« gewidmeten Buch, »PsychoLogie« (1988)- einen ersten so verstandenen Systematisierungsversuch der »common sen· se psychology« vorlegte; hier wurden in den Bereichen »being aware and active•, »wanting and believing«, ,.feelingc, »acting•, »characteristics of personsc, »personal changesc, und »interacting« die jeweils implizierten Zusammenhangsannahmen nach »Definitionen«, »Theoremen« und »Corrolarien« quasi axiomatisiert. Dabei setzt Smedslund voraus, daß die implikativen Common-Sense-Strukturen nicht- wie die Geometrie- allgemeingültig, sondern kulturabhängig und historischem Wandel unterworfen sind, womit er die Psychologie in gewisser Weise als eine historische Wissenschaft versteht, in der das »Analytische« und das (historisch) »Zufällige« (»arbritary«) in ihrem jeweils konkreten Wechselverhältnis zu untersuchen sind, Unsere dargestellte Konzeption geht einerseits in die gleiche Richtung wie die von Smedslund, unterscheidet sich aber andererseits dadurch von dieser, daß wir psychologische Theorien nicht global als Explikationen von »Alltagstheorien« betrachten, sondern ihnen eine spezifische Struktur zuschreiben, die sich daraus ergibt, daß die individuelle
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Lebenstätigkeit in einen subjektiv begründeten/verständlichen Handlungszusammenhang einbezogen ist, innerhalb dessen unter Voraussetzung bestimmter Prämissen und Intentionen bestimmte Handlungsvorsätze sich implikativ aus dem Kriterium vernünftigen Handeins im eigenen Lebensinteresse ergeben: Dies ist es unserer Konzeption nach, das in psychologischen Theorien abgebildet werden muß bzw. (sofern sie sich auf menschliches Handeln beziehen) notwendigerweise, auch entgegen der offiziellen »nomologischen« Selbsteinschätzung, abgebildet ist. Damit ist gesagt, daß Theorien, sofern in ihnen nur derartige implikative Begründungsaussagen enthalten sind, nicht im traditionellen Sinne empirisch prüfbar, sondern lediglich auf Situationen, in denen diese Strukturen gegeben sind, identisch anwendbar sein können, so daß man entsprechende Prüfungsversuche tatsächlich mit Smedslund als •Pseudoempirie« einzuordnen hat. Das schließt aber nicht aus, daß derartige Theorien so gefaßt werden können, daß mit Bezug darauf empirische Geltungsbegründungen anderer Art möglich sind (vgl. dazu Holzkamp 1991b). Dabei kann über die Frage, ob und ggf. auf welche Weise auch innerhalb des subjektwissenschaftlichen Forschungsansatzes Experimente durchführbar und sinnvoll sein können, nicht prinzipiell vorentschieden werden: Dies muß sich jeweils aus der konkreten Fragestellung der im KonteXt bestimmter Bedeutungs-Begründungszusammenhänge realisierten Forschungsprojekte ergeben. Mit diesen Hinweisen ist das Verhältnis zwischen unserem begründungstheoretischen Ansatz und den anderen benannten Konzeptionen über psychologische Theorien als implikative Strukturen natürlich keineswegs schon hinreichend geklärt. Besonders die (bisher in der psychologischen Grundlagendiskussion weitgehend ignorierte) Position von Smedslund muß von uns in Zukunft noch eingehend diskutiert und auf ihre Bedeutung für unsere Grundkonzeption hin beurteilbar werden.
Kriterien für den Nachweis von Begründungsmustern in vermeintlich nomologischen Theorien Nachdem wir unsere Auffassung, traditionelle (Lern)theorien seien (sofern auf menschliche Handlungen bezogen) eigentlich im Gewande von nomologischen Theorien auftretende Begründungstheorien, soweit entwickelt haben, sehen wir uns (wie angekündigt) vor der Aufgabe, dies durch entsprechende Reinterpretation vorfindlieber Lerntheorien auch tatsächlich nachzuweisen. Um dies zu bewerkstelligen, sind unsere Darlegungen bisher aber noch nicht hinreichend spezifiziert. Wir benötigen dazu vielmehr entsprechende, möglichst präzise und handliche Kriterien, die wir mithin erst darlegen müssen, ehe wir uns - mit ihrer Hilfe - an die ins Auge gefaßte begründungstheoretische Kritik/Reinterpretation der Mainstream.:fheorien des Lernens machen können. - Bei der Entwicklung solcher Kriterien muß ich glücklicherweise nicht von vorn anfangen, sondern kann mich auf entsprechende Kriterien beziehen, die ich in einer früheren Arbeit entwickelte: Dort habe ich, was hinsichtlich der Lerntheorien hier erst darzulegen ist, mit
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Bezug auf sozialpsychologische Theorien bereits ausgeführt, indem ich den Nachweis zu erbringen versuchte, daß die wesentlichen sozialpsychologischen Theorien (K.onsistenztheorien, Entscheidungstheorien, Einstellungstheorien, Theorien über Gruppenprozesse, über soziale Wahrnehmung/Kognition) obzwar sie sich selbst als empirisch prüfbare nomologische Wenn-Dann-Aussagen verstehen - tatsächlich als •Begründungstheorien« mit bloßem Anwendungsbezug zu den experimentellen Befunden betrachtet werden müssen (Holzkamp 1986, vgl. auch Feger, Graumann, Holzkamp & Irle 1986). Ich ging dort davon aus, daß es im Interesse möglichst eindeutiger Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen empirischen Zusammenhangsannahmen und Aussagen über Begründungszusammenhänge zweckmäßig ist, die Form der empirischen Zusammenhangsannahmen {im Sinne der Mainstream-Psychologie) als nomologischen Wenn-Dann-Aussagen soweit wie möglich beizubehalten und sodann Kriterien einzuführen, an denen prüfbar ist, wieweit hier tatsächlich empirische Wenn-Dann-Hypothesen vorliegen bzw. wieweit man es in Wirklichkeit mit {als nomologische Wenn-Dann-Annahmen maskierten) Aussagen über Begründungszusammenhänge zu tun hat. Als wesentliches Kriterium dieser Art benannte ich das versuchsweise Einschieben der Formel »vernünftigerweise« zwischen die Wenn- und die Dann-Komponente der (vermeintlichen) empirischen Hypothese: Sofern dieses Einschiebsel im Satzzusammenhang logisch stringent ist, tritt damit zutage, daß zwischen der Wenn- und der Dann-Komponente tatsächlich kein kontingenter empirischer Zusammenhang, sondern ein •rationaler«, •inferentieller« (•erschlossener«), »implikativer«, i.w.S. »definitorischer« Zusammenhang vorliegt, indem hier nicht ausgesagt ist, welches Verhalten faktisch durch die Ausgangsbedingungen bewirkt wird, sondern, welches Verhalten unter eben diesen Ausgangsbedingungen - soweit sie zu Handlungsprämissen gemacht werden •vernünftig«, d.h. ,.gut begründet« ist. Beispiel: Wenn es kalt ist, dann zieht man sich warm an; wenn es kalt ist, dann zieht man sich vernünftigerweise warm an. Durch das Einschiebsel »vernünftigerweise« wird deutlich, daß hier die (vielleicht unterstellte) empirische Zusammenhangsannahme in Wirklichkeit eine unexplizierte Begründungsaussage darstellt. Es widerspricht hier näm· lieh der Art des logischen Satzzusammenhangs, irgendwelche »kausalen« Faktoren anzunehmen, durch welche Leute bei Kälte »automatisch« warme Sachen anziehen. Vielmehr ist, wenn man es sich einmal bewußt gemacht hat, klar, was gemeint ist: Bei Kälte haben die Leute »gute Gründe«, sich warm anzuziehen (und tun dies also auch nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten). Dementsprechend wird hier die Nichtrealisierung der Dann-Komponente auch keineswegs im Sinne empirischer Evidenz gegen die Wenn-Dann-Hypothese interpretiert: Wenn jemand sich bei Kälte nicht warm anzieht, so bedeutet dies in diesem Kontext lediglich, da er sich (bei Ansetzung der hier unterstellten Definition von »vernünftig•) eben nicht vernünftig verhält, womit die formulierte inferentielle Zusammenbangsannahme per definitionem nicht auf ihn anwendbar ist.
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Gegenbeispiel: Wenn es kalt ist, dann bekommt man Grippe; wenn es kalt ist, dann bekommt man vernünftigerweise Grippe. Hier wiederum tritt durch das Einschiebsel in keiner Weise ein Begründungszusammenhang zwischen Wenn- und Dann-Komponente hervor, sondern die Formel •vernünftigerweise« gehön im Gegenteil eindeutig einer anderen, hier •unpassenden« bzw. •unsinnigen« Diskursebene an. Tatsächlich trägt die Kälte u.U. als irgendwie geaneter kausaler Faktor, aber nicht als •guter Grunde, zur Entstehung der Grippe bei.
Vorgeblich empirische Wenn-Dann-Hypothesen, die- wie sich durch das Einschiebsel •vernünftigerweise« herausgestellt hat - in Wirklichkeit Begründungszusammenhänge zwischen der Wenn- und der Dann-Komponente implizieren, wurden von mir als •typische Begründungsmuster« oder kurz »Begründungsmuster« (»BGMs«) bezeichnet (1986, S.221ff).Ich werde diesen Terminus hier allgemeiner, zur Kennzeichnung der Begründungsstruktur von psychologischen Theorien überhaupt, verwenden. Die BGMs unterscheiden sich (womit ich an dieser Stelle meine früheren Aussagen präzisiere und teilweise korrigiere) in folgender Weise von •echten« empirischen Wenn-DannHypothesen: Die Wenn-Komponente wird vom Inbegriff empirischer Antezedenz-Bedingungen für ein dadurch •bedingtes« Verhalten zum Inbegriff von Bedingungen, sofern sie von der Versuchsperson (i.w.S.) zu »Prämissen« für ihre subjektiven Handlungsbegründungen gemacht werden; die Dann-Kom· ponente wird vom Inbegriff der durch die Antezedenz-Bedingungen hervorgerufenen Verhaltensweisen der Vp zum Inbegriff von Handlungen als Umsetzung von Handlungsvorsätzen der Vp als (für sie) •gut begründete«, •vernünftige« Konsequenzen aus den Handlungsprämissen. Die »Zwischenvariablen« zwischen Wenn- und Dann-Komponente werden vom Inbegriff »Verborgener«, physiologischer, subjektiver Vermittlungsinstanzen, durch welche die Art der Wenn-Dann-Beziehung spezifiziert ist, zum Inbegriff von impliziten oder expliziten Intentionen der Vpn, durch welche für sie bestimmt ist, was »Begründetheit« bzw. »Vernünftigkeit« ihrer Handlungen in Ansehung ihrer Lebensinteressen (an der Erhaltung/Erhöhung ihrer Lebensqualität durch Verfügung über die dafür relevanten Daseinsumstände, s.u.) innerhalb der gegebenen Bedingungs-/Prämissenkonstellation bedeutet. Ein »Begründungsmuster« (als Explikation einer empirischen Wenn-Dann-Hypothese in Richtung auf eine ,.ßegründungstheorie«) hätte demnach folgende Form: Be-
dingungen/Bedeutungen -+ Handlungsprämissen -+ intentionale Zwischenglieder -+ Handlungsvorsatz -+ Handlung. Der eigentliche Begründungszusammenhang besteht dabei in der Beziehung Handlungsprämissen -+ intentionale Zwischenglieder -+ Handlungsvorsatz. Dieser wiederum erhält seinen Stellenwert und seine Funktion als Begründung von realen Handlungen durch den Umstand, daß (wie dargestellt) vom Subjekt nur wirkliche Weltgegebenheiten und Lebenszusammenhänge in ihrer gegenständlich-symbolischen
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Hinführung auf das Verfahren der Problementwicklung
Bedeutungshaftigkeit zu Prämissen für seine Handlungsbegründungen gemacht werden können, und daß es durch die Realisierung seiner Vorsätze gemäß seinen Lebens- und Verfügungsinteressen handelnd auf diese (mithin auch auf jene, die seinen Handlungen als »Prämissen« dienten) einwirken kann. Somit gehören die »Bedingungen/Bedeutungen« und die »Handlungen« zwar notwendig zu einer hinreichenden Bestimmung von subjektiven Begründungszusammenhängen. Innerhalb dieser stellt aber aber das Verhältnis zwischen Bedingungen/Bedeutungen und Prämissen einerseits sowie Handlungsvorsätzen und Handlungen andererseits ein selbständiges, die bloß inferentiell-implikativen Beziehungen zwischen Prämissen, Intentionen und Handlungsvorsätzen überschreitendes Problem, nämlich das Problem des Realitätsbezugs der Handlungsbegründungen dar. Genauer: Aus der Art meines Weltzugangs ergeben sich Handlungs- und Verfügungsmöglichkeiten zwar nur von je meinem Standpunkt und in je meiner Perspektive, wobei mir darin aber gleichzeitig mitgegeben ist, daß die Welt als objektive Realität das, was mir von ihr zugänglich ist, allseitig und unausschöpfbar überschreitet (s.u.). Als weiteres Kriterium zur Identifizierung von BGMs in vorgeblich empirischen Wenn-Dann-Aussagen habe ich zur Ergänzung der ..Vernünftigkeits«-Kriteriums die versuchsweise Negation oder Umkehrung des behaupteten Zusammenhangs, etwa durch Einfügung des Wortes »nicht« zwischen die Wenn- und die Dann-Komponente- quasi nach Art eine »Gegenprobe«- vorgeschlagen ( 1986, S.230ff). Sofern es sich nämlich in einem bestirnten Falle tatsächlich um eine echte nomothetische Wenn-Dann-Hypothese handelt, so muß die empirische Nichtbestätigung der Hypothese aufgrundder sprachlichen Fassung der Hypothese genauso möglich sein wie die Bestätigung: Nur in diesem Fall hat die Bestätigung der Hypothese ja einen empirischen Gehalt. Sofern aber die Negation der Hypothese von vornherein als logisch unsinnig erscheint, bzw. aufgrund ihrer sprachlichen Fassung eine Nichtbestätigung der Hypothese apriori nicht im Sinne empirischer Gegenevidenz akzeptiert werden kann, spricht dies dafür, daß hier tatsächlich gar kein kontingenter Bedingungs-Ereignis-Zusammenhang, sondern ein implikativinferentieller Begründungszusammenhang gemeint ist. Beispiel: Wenn es kalt ist, zieht man sich warm an; wenn es kalt ist, zieht man sich nicht warm an bzw. aus. Die •Gegenhypothese« ist hier von vornherein weniger glaubwürdig als die ursprungliehe Hypothese, und zwar deswegen, weil man das darin angesprochene Verhalten implizit für »unvernünftig« hält: Kein •vernünftiger Mensch« geht in dünnen Sachen nach draußen oder zieht sich gar noch aus, wenn es kalt ist. Sofern für die Gegenhypothese empirische Evidenz vorläge, würde man dies entsprechend keineswegs in Richtung auf ein Scheitern der Ursprungshypothese an der Empirie interpretieren (und das Aufgeben dieser Hypothese erwägen), sondern man würde vielmehr den Begründungs-
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zusammenbang- genauer, die intentionalen Zwischenglieder- der Hypothese zu differenzieren suchen: Wenn jemand dünn angezogen bei Kälte nach draußen geht, so will er sich vielleicht abhärten, o.ä. Aufgrund einer deranigen Intentionsdifferenzierung hat man das ursprüngliche Begründungsmuster, »Wenn es kalt ist, zieht man sich vernünftigerweise warm an« in die Fassung umgewandelt: »Wenn es kalt ist und man sich abhänen will, zieht man sich vernünftigerweise nicht warm an«. Damit wird auch deutlich, daß in der ursprünglichen Hypothese implizit ein anderes intentionales Zwischenglied mitgedacht war, etwa: ..Wenn es kalt ist und man nicht frieren bzw. sich aktuell vor Erkältung schützen will, zieht man sich vernünftigerweise warm an« (vgl. 1986, S.222f). So hat man also hier zwei verschiedene BGMs, die jeweils unterschiedliche intentionale Spezifikationen der Lebensinteressen des Subjekts enthalten, und die scheinbare empirische Evidenz gegen die erste Hypothese verdeutlicht sich als Anwendungsfall der zweiten Hypothese. Beide, sich scheinbar widersprechende Hypothesen stehen also nun friedlich nebeneinander. Eine empirische Prüfung im eigentlichen Sinne ist eben im Falle von BGMs schon aus formalen Gründen nicht möglich. Gegenbeispiel: Wenn es kalt ist, bekommt man eine Grippe; wenn es kalt ist, bekommt man keine Grippe. Hier ist die Negation keineswegs unsinnig bzw. verweist keineswegs auf die Unvernunft dessen, der bei Kälte keine Grippe bekommt. Die empirische Bestätigung der Gegenhypothese ist dementsprechend empirisch gehaltvoll. Daraus geht hervor, daß die ursprüngliche Hypothese in dieser Form nicht beibehalten werden kann, sondern mindestens -etwa durch Hinzunahme weiterer Antezedenz-Bedingungen - umformulien werden muß. Hier fühn also empirische Gegenevidenz nicht, wie im BGM-Falle, zu interpretierenden Denkbewegungen zur unverändenen Beibehaltung der ersten Hypothese durch Abspaltung eines anderen BGMs (womit sich die letztliehe Überflüssigkeit der vermeintlichen •Hypothesenprüfung« erweist), sondern schlägt verändernd auf die ursprüngliche Hypothese selbst durch.
Aus diesen letzten Darlegungen verdeutlicht sich, daß die Annahme, es könne zwischen psychologischen Theorien, sofern die Theorien als BGMs explizierbar sind, eine empirisch entscheidbare Konkurrenz geben, irrig ist: Die Beziehung zwischen BGM.:Yheorien und experimentellen Daten ist, wie dargelegt, kein Prüfbezug, sondern lediglich ein Anwendungs- oder Beispielbezug. Empirische Beispiele aber können prinzipiell für unübersehbar viele, auch einander widersprechende oder ausschließende Begründungstheorien beigebracht werden. Dies bedeutet, daß eine etwa imponierende Vergleichbarkeit zwischen Theorien hinsichtlich der darin angesprochenen Empirie, womit sie nach empirischen Kriterien in Konkurrenz gesetzt werden könnten, nur dadurch entstehen kann, daß die Prämissen/Intentionen, aus denen hervorgehen würde, daß sie tatsächlich auf unterschiedliche Anwendungsfälle bzw. Beispiele bezogen sind, nicht hinreichend spezifiziert wurden. So läßt sich etwa eine solche Scheinkonkurrenz zwischen dem BGM »wenn es kalt ist, wählt man vernünftigerweise wärmere Kleidung« und dem BGM >>wenn es kalt ist, wählt man vernünftigerweise keine wärmere Kleidung« ja sofort dadurch auflösen, daß man die intentionalen Bestimmungen innerhalb
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Hinführung rtuf dtzs Veiftthren der Problementwicklung
beider .widersprechender« BGMs (z.B. in der vorgeschlagenen Weise) spezifiziert: .Wenn es kalt ist und man nicht frieren bzw. sich aktuell vor Erklärung schützen will, wählt man vernünftigerweise wärmere Kleidung«, und .wenn es kalt ist und man sich abhärten (damit langfristig für seine Gesundheit etwas tun) will, wählt man vernünftigerweise keine wärmere Kleidung«. Damit hat man die beiden ·Theorien« explizit auf unterschiedliche Beispielfälle hin auseinanderdividiert, und es wird deutlich, daß sie •eigentlich« schon immer miteinander vereinbar gewesen waren, was nur durch die mangelnde Intentionsspezifizierung verschleiert war (vgl. Holzkamp 1986, S.232). Die von uns zu leistende Explikation von BGMs aus vermeintlich empirischen Theorien schließt also, sofern wir dabei auf scheinbar konkurrierende Theorien stoßen, immer auch die Auflösung dieses Scheins der Konkurrenz durch den Ausweis unterschiedlicher Spezifikation oder Spezifizierbarkeit der Prämissen bzw. Intentionen in der einen und in der anderen Theorie ein. An diesen letzten Ausführungen wird einmal mehr deutlich, daß,- wie allgemein, so auch im Kontext der BGM-Identifizierung- das Urteil der ,.unvernünftigkeit« {da bzw. sofern man den Begründungsdiskurs nicht verlassen kann oder will) stets nur vorläufigen Charakter haben kann: Es muß sowohl im Interesse intersubjektiver Verständigung wie analytischer Präzisierung von BGMs stets darum gehen, beim zweiten Hinsehen die Prämissen/Intentionen herauszuarbeiten, unter welchen die jeweiligen Handlungen wiederum als ,.begründbar«, d.h. vernünftig verständlich werden. Damit offenbart sich gleichzeitig, daß man in dem ersten ,.unvernünftigkeits«-Urteil unabgeklärt tatsächlich andere {etwa die eigenen) Prämissen/Intentionen hypostasiert bzw. universalisiert hatte.
Kapitel2 Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Grundansätze
2.1 Kritik/Reinterpretation des lerntheoretischen Grundansatzes behavioristischer SR-Psychologie
Vorbemerkung: Tierexperimentelle Fundiertheit SR -psychologischer Lerntheorien? Wenn wir nun also daran gehen wollen, mittels der dargelegten Kriterien zunächst die SR-psychologischen Lernkonzepte begründungsanalytisch zu reinterpretieren, so sehen wir uns - noch bevor wir damit begonnen haben - vor folgender Schwierigkeit: In den experimentellen Standardanordnungen, mit welchen die SR-theoretischen Lerngesetze empirisch geprüft werden sollten, dienten bekanntlich Tiere (Ratten, Tauben etc.) als Versuchsorganismen; Konditionierungsexperimente mit Menschen hatten demgegenüber mehr sekundären, demonstrativen o.ä. Charakter. Dem lag die Auffassung zugrunde, die Gesetze des Lernens seien universell-organismischer Natur, also für Tiere und Menschen gleichermaßen gültig, könnten aber in Tierexperimenten aufgrund der hier möglichen rigoroseren Bedingungskontrollen exakter nachgewiesen werden. Sofern man diese Vorstellung für angemessen hält, muß man unseren Versuch einer begründungsanalytischen Reinterpretation SR-psychologischer Lerntheorien von vornherein als aussichtslos einschätzen: Da man Tieren ja noch keine Handlungsgründe zuschreiben dürfe, die SR.:fheorien des Lernens aber aufgrundvon Tierexperimenten empirisch abgesichert seien, könne man doch aus den gleichen Theorien, wenn diese auf menschliches Lernen bezogen werden, nicht plötzlich »Begründungsmuster« explizieren wollen. Die diesem möglichen Einwand zugrundeliegende Überzeugung von der tierexperimentellen Fundiertheit SR-psychologischer Theorien über menschliches Lernen ist nun aber innerhalb der psychologischen Wissenschaftlergemeinschaft bis heute mindestens brüchig geworden. Einer der Gründe dafür liegt darin, daß mit der zunehmenden Rezeption ethologischer Ansätze und Befunde in der Psychologie die SR-psychologische Auffassung von einem durch elementare Lernmechanismen charakterisierbaren abstrakten »Organismus<< immer stärker durch die Annahme artspezifr.scher Lernmechanismen problematisiert und zurückgedrängt wurde. So wurde es auch immer zweifelhafter,
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
wieweit an bestimmten Tierarten gewonnene Resultate auf andere Tierarten, also auch auf den Menschen, verallgemeinerbar seien. Solche Zweifel entstanden und verstärkten sich zunächst aufgrundvon •anomalen« Befunden innerhalb der Konditionierungsexperimente mit Tieren. So stellte man bei einschlägigen Forschungen zum Klassischen Konditionieren ziemlich bald fest, daß sich nicht alle ·Reflexe« gleich gut konditionieren lassen, und daß manche Tierarten bestimmte Verknüpfungen einfach nicht lernen konnten (in einerUntersuchungvon D'Amato & Schiff, 1964, ergab sich etwa, daß vier von acht untersuchten Ratten auch nach 7 330 Durchgängen noch nicht gelernt hatten, einen Hebel loszulassen, um einen Schock zu vermeiden). Ähnliche Anomalien ergaben sich auch bei Experimenten zum Instrumentellen Konditionieren, so in Untersuchungen von Garcia & Kölling bzw. Garcia, Ervin & Kölling (beide 1966) über •Geschmacksaversionen« von Ratten, weiterhin in Forschungen zum •spezifischen Hunger« (Sammelreferat bei Rozin & Kalat 1972), über •unverstärktes« Pickverhalten von Tauben (Williams & Williams 1969), u.v.a: Hier erwies sich durchgehend, daß die Tiere im Experiment Verhaltensweisen zeigten, die sie gemäß den unterstellten Konditionierungsgesetzen eigentlich nicht hätten zeigen dürfen, was auf •angeborene« Verhaltensdispositionen zurückgeführt wurde (neuere Konzepte und Resultate dazu sind in LoLordo & Droungas, 1989, referiert). Eine Sonderstellung unter derartigen Berichten über unerwartete, möglicherweise biologisch bedingte ..Verhaltensirregularitäten« nehmen die Beobachtungen des Ehepaares Breland ein. Die Brelands, unmittelbare Schüler Skinners, hatten eine kommerzielle Firma, die •Animal Behavior Enterprises« gegründet, in der für verschiedene Zwecke (Werbung, Fernsehspots, Unterhaltungsindustrie) die Skinnerschen Techniken der Verhaltensmodifikation angewendet wurden. In ihrer ersten Veröffentlichung darüber (Breland & Breland 1951) werden zunächst noch die dabei erzielten großen Erfolge herausgehoben. Knapp zehn Jahre später (1960) berichten die Brelands jedoch über so ausgeprägte Verhaltensirregularitäten der von ihnen dressierten Tiere, daß die Brauchbarkeit der Skinnerschen Theorie für derartige Dressurzwecke generell angezweifelt wird. Es hatte sich nämlich - wie die Brelands in verschiedenen sorgfältig recherchierten ·Fallgeschichten« sehr überzeugend schildern - herausgestellt, daß die zunächst mit Hilfe der Skinnerschen .Verstärkungspläne• (s.u.) erreichten gezielten Verhaltensmodifikationen bei verschiedenen Tierarten nach mehr oder weniger langer Zeit durch artspezifische Verhaltensweisen überlagert und schließlich verdrängt wurden (so zeigen etwa Waschbären, die auf das Einstecken von Münzen in ein Sparschwein dressiert worden waren, nach einiger Zeit statt dessen ihr arttypisches ,.waschverhalten•, rieben die Münzen also, statt sie in den Behälter zu stecken, permanent aneinander; Hühner, die eine Art von Pingpong-Spiel mit Kapseln gelernt hatten, kümmerten sich mit der Zeit immer weniger darum, sondern fingen völlig •unverstärkt« an, den Kapseln nachzujagen, sie immer wieder •einzufangen«; Schweine "vergruben« Münzen, statt sie, wie gelernt, in einen Behälter fallen zu lassen, etc.). Die Brelands interpretieren den Umstand, daß derartige Verhaltensweisen der Tiere in den üblichen psychologischen Tierexperimenten nicht auftreten, damit, daß dort die Beobachtungszeiten zu kurz sind und zu wenig unterschiedliche Tierarten untersucht werden. Die per Konditionierung erlangten Verhaltensänderungen wären so gesehen keinesfalls als dauerhafte Lernerfolge, sondern lediglich als vorübergehende, quasi experimentell erzwungene Abweichungen vom artspezifischen Verhaltensrepertoire anzusehen. - Für
Kritik/Reinterpretation behavioristischer SR -Psychologie
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inen solchen ,.zwangscharakter« der Skinnerschen Tierdressuren sprechen auch Befunde ,.adjunctive behavior« als •spontane• Begleiterscheinungen der Anwendung von Skinners ,.Verstärkungsplänen«: •Nichtverstärktes« exzessives Trinken, Fressen von nichteßbarem Material wie Holzspänen und Papier, tickartiges U mherrennen, ungezielte Aggressionen, etc. (vgl. Falk 1967, 1969, 1970, sowie Staddon &: Simmelhag 1971). Zur Erklärung solcher konditionierungstheoretisch unverständlichen tierischen Verhaltensweisen werden von den Autoren ethologische Gesichtspunkte eingeführt, so etwa (von Falk) der Versuch gemacht, einen Zu~mmenhang zwischen •adjunctive behavior« und den in der Ethologie beschriebenen ·Ubersprungbewegungen• herzustellen,
~ber
Diesen und vielen anderen experimentelle Befunden über »Ausnahmen« oder Einschränkungen hinsichtlich der Gültigkeit der SR-psychologischen Lerngesetze wurde auch auf allgemeinerer konzeptioneller Ebene Rechnung getragen. So unterschied etwa Seligman {1970), u.a. in Interpretation der erwähnten Befunde von Garcia & Kölling {1966), zwischen »biologisch vorbereiteten«, »biologisch nicht vorbereiteten« und »biologisch entgegengesetzt vorbereiteten« K.onditionierungen; in ähnliche Richtung gingen Überlegungen von Balles (1970, 1972) speziell mit Bezug auf das Vermeiden-Lernen, In solchen Konzeptionen wurden jedoch zunächst zwar »angeborene« biologische Faktoren als zusätzliche Bedingungen, die das Lernen fördern oder behindern können, eingeführt, die Universalität der Lerngesetze selbst (also auch deren Anwendbarkeit auf Menschen) wurde aber noch nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen. Im Laufe der weiteren Entwicklung kamen dann aber auch daran Zweifel auf und die SR-theoretische Grundvoraussetzung tierexperimenteller Fundierbarkeit menschlicher Lernforschung wurde als solche problematisiert. Dies mag einmal darauf zurückzuführen sein, daß man die Ethologie allmählich auf eine adäquatere Weise rezipierte, und so etwa zur Kenntnis nahm, daß Lorenz (seit 1961) die ältere Vorstellung einer einfachen Trennbarkeit zwischen »angeborenen« und »gelernten« Faktoren zurückwies, indem er die artspezifische Ausprägung des Lernens selbst bei verschiedenen Tierarten demonstrieren konnte. Größere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang indessen wohl der Umstand, daß die Kognitive Psychologie (die mindestens seit den frühen sechziger Jahren zum beherrschenden psychologischen Grundansatz geworden war) mit ihrer Theorie der Informationsverarbeitung als dezidiert humanpsychologische Alternative zur SR-Psychologie auftrat, womit auch die Zuständigkeit der SR-Psychologie für menschliches Lernen zweifelhaft werden mußte. Die von da aus nahegelegte Arbeitsteilung kam z.B. deutlich auf der berühmten Konferenz an der schwedischen Umea-Universität im Jahre 1984, »Perspectitives on Anima! Learning and Human Memory«, zum Ausdruck. In dieser Konferenz setzten prominente Vertreter der SR-Psychologie (z.B. Rescorla, Olton und Estes) und der Kognitiven Psychologie (z.B. Tulving, Crowder und Craik) ihre
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
Auffassungen ins Verhältnis, wobei nicht nur (wie schon am Titel ersichtlich) die Beiträge der SR-Psychologie unter »animallearning« rubriziert, sondern auch die SR-Psychologen selbst wiederholt (ohne deren Protest) als »animal psychologists« bezeichnet wurden (vgl. Nilsson & Areher 1985). Daran könnte man ablesen, daß die SR-Psychologie unter der Hegemonie der Kognitiven Psychologie (mindestens durch ihre in Umea anwesenden Vertreter) ihren Universalitätsanspruch mehr oder weniger stillschweigend aufgegeben hat. Auch das, was neuerdings gelegendich unter der Bezeichnung »ecological psychology« firmiert (vgl. etwa Davey 1989), ist (soweit ich sehe) im wesentlichen Lernforschung an Tieren auf SR-theoretischer Grundlage, aber unter Einbeziehung artspezifischer Umwelten. Im Zusammenhang mit derartigen Problematisierungen ergab sich vom Standpunkt der Kognitiven Psychologie noch eine andere Art von Einwänden gegen die Auffassung der SR-Psychologie von der humanpsychologischen Verallgemeinerbarkeit tierexperimenteller Konzepte und Befunde. Die Diskussion darüber kann mit dem Stichwort »awareness« oder » Wissentlichkeit« charakterisiert werden: Der in den SR-theoretischen Konzepten enthaltenen Grundauffassung, die Lerneffekte unterlägen bestimmten universellen, für Tiere und Menschen gleichermaßen gültigen Konditionierungsgesetzen, stehen nämlich mannigfache Experimente mit dem Befund gegenüber, daß »Konditionierungseffekte« beim Menschen nur dann auftreten, wenn das Versuchssubjekt sich der Tatsache und der Art der Verstärkung bewußt ist, wenn es also dessen »gewahr« (»aware«) wird, welche seiner Reaktionen bzw. Verhaltensweisen in welcher Anordnung und Reihenfolge im Experiment »verstärkt« werden. - Die vielfältigen experimentellen Versuchsanordnungen, mit denen dieses Wissendichkeits-Argument bekräftigt oder widerlegt werden sollte, hat Brewer (1974), der sich vom kognivitistschen Standpunkt gegen den Mechanizismus der SR.:fheorien wendet, in sorgfältiger und umfassender Weise zusammengetragen und diskutiert. In dieser Arbeit, die den bezeichnenden Titel trägt »There is no convincing evidence for operant or classical conditioning in human adults«, kommt Brewer zunächst zu der Auffassung, das Gros der in Experimenten mit Menschen erzielten (scheinbaren) Konditionierungseffekte müsse tatsächlich darauf zurückgeführt werden, daß die Versuchspersonen die jeweiligen Verknüpfungen bewußt hergestellt haben, wobei es aber einige wenige Experimente gebe, bei denen die Beteiligung von »awareness« nicht nachweisbar sei. Darüber hinaus konnte Brewer zeigen, daß innerhalb der Geschichte der einschlägigen Forschungsbemühungen automatische Konditionierungseffekte vorwiegend in früheren, methodisch noch wenig differenzierten Untersuchungen angenommen wurden, während mit der Verfeinerung der Versuchsmethodik Befunde über K.onditionierungen
Kritik/Reinterpretation behavioristischer SR-Psychologie
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ohne ,.awareness« immer seltener wurden. Von da aus sei es naheliegend, auch die verbleibenden wenigen Fälle »bewußtlosen« Konditionierens auf noch nicht identifizierte methodische Mängel zurückzuführen. Dabei muß m.E. die prinzipielle Schwierigkeit, •awareness• innerhalb experimenteller Anordnungen generell auszuschließen, berücksichtigt werden: So wurde z.B. im Kontext der »Signal detection theory« auf die Unmöglichkeit hingewiesen, ,.ßewußtseinsschwellen• von den ·Antwonprozessen« der Individuen zu unterscheiden (vgl. z.B. Swets, Tanner & Birdsall1961); ebenso ergab sich in der Tradition der Forschungen zur ..wahrnehmungsabwehr•, daß man die »Bewußtseinsschwelle« von der ,.Äußerungsschwelle« der Vpn abheben müsse, d.h. daß aus dem Umstand, daß Vpn über bestimmte ·Reizkonstellationen« nicht berichten, keineswegs der Schluß ableitbar sei, daß sie sie nicht wahrgenommen hätten (vgl. etwa Nothman 1962). In diesem Forschungszusammenhang wurde weiterhin die Auffassung problematisien, man könne bewußte und nichtbewußte Prozesse als einfache Alternativen gegenüberstellen: tatsächlich handele es sich dabei um einen kontinuierlichen Übergang von undeutlicherer zu deutlicherer .. Reizerfassung•, wobei es wiederum von einer Vielzahl von Bedingungen abhänge, wann eine Versuchsperson tatsächlich äußert, daß sie etwas gesehen oder bemerkt habe (vgl. etwa Brown 1961 und Haber 1966).
Nun ist die aus der früher dargelegten Einsicht in die artspezifische Besonderheit von Lernmechanismen und aus der »Awareness«-Problematik sich ergebende Konsequenz, bei der Diskussion des SR-psychologischen Konditionierungsiemens auf das Argument der tierexperimentellen Fundiertheit zu verzichten, zwar heute in der Psychologie keineswegs Allgemeingut: Man kann sich offensichtlich nur schwer dazu durchringen, ca. 30 Jahre intensiver tierexperimenteller Forschung für die Humanpsychologie einfach abzuschreiben (dies um so weniger, als das »naturwissenschaftliche« Selbstverständnis der Psychologen sich zu einem gewissen Teil auch auf die vorgebliche Fundiertheit der Lerntheorien in exakter experimenteller Tierforschung gründen mag). Immerhin aber darf man angesichts der geschilderten Problemtage die Voraussetzung, daß bei tierischem und menschlichem »Konditionierungslernen« tatsächlich die gleichen Lerngesetze anzunehmen sind, wohl mindestens für sehr fragwürdig halten: Es könnte doch auch sein, daß Entsprechungen tier-und humanexperimenteller Befunde bei der »Prüfung« derartiger Gesetzesannahmen keineswegs mit den gleichen »Lernmechanis~enc erklärt werden dürfen, sondern daß es sich dabei nur um oberflächliche Ahnlichkeiten von Lernprozessen grundsätzlich verschiedener Art handelt. Demnach wäre die scheinbare »Konditionierbarkeit« von Menschen keinesfalls durch die entsprechende Konditionierbarkeit von Tieren erklärt, sondern der Umstand, daß menschliches Lernen unter bestimmten experimentellen o.ä. Bedingungen als »Konditionierung« erscheint, wäre umgekehrt selbst er-
klärungsbedürftig.
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
Da derartige Erklärungen sich in diesem Kontext nur auf menschliches Lernen beziehen, hätte der SR-psychologische Ansatz hier seinen tierexperimentellen Bonus eingebüßt und könnte von da aus andere Ansätze, die nicht auf tierisches Verhalten anwendbar sind, auch nicht als prinzipiell illegitim zurückweisen. Sofern man gemäß dem »Awareness«-Argument bewußte Lernaktivitäten als möglich in Rechnung stellt, würde sich mithin aus dem Umstand (scheinbarer) menschlicher Konditionierbarkeit die Frage ableiten lassen, unter welchen Bedingungen Individuen bewußt Verhaltensweisen zeigen, die dem Konditionierungsverhalten von Tieren ähneln. So gesehen stünde auch dem Versuch einer begründungsanalytischen Reinterpretation nichts mehr im Wege, wobei die benannte Frage hier auf das Problem spezifizierbar ist, unter welchen Prämissen Individuen mit »guten Gründen«, also
»vernünftigerweise« in einer ~ise lernen, die von außen, also vom Drittstandpunkt, als Konditionierung erscheint. - Damit haben wir beim Versuch der Rechtfertigung unseres Vorhabens, aus SR-Theorien Begründungsmuster explizieren zu wollen, gleichzeitig die Fragestellung unserer anschließenden Reinterpretationsbemühungen ein Stück weit präzisiert.
Klassisches Konditionieren: Signallernen Die SR.:fheorie (oder SR-Psychologie) ist- um dies noch einmal zu pointieren - eine psychologische Grundkonzeption, in der »Stimuli« (»Reize«) und »Responses« (»Reaktionen«) von Organismen bzw. Individuen als Elemente oder kleinste Einheiten des Verhaltens gesetzt sind, wobei die einzelnen theoretischen Annahmen sich auf die Art der Verknüpfung zwischen Stimuli und Responses zu höheren Einheiten beziehen. Die SR-Psychologie gehört damit zu den assoziationistischen Grundansätzen i.w.S. Die Prozesse der Assoziationsbildung werden als »Konditionieren« (»conditioning«) spezifiziert, wobei zwei Arten von Konditionieren unterschieden werden, heute als klassisches Konditionieren (dem wir uns zunächst zuwenden) und instrumentelles Konditionieren (auf das wir später kommen) bezeichnet. Das Konzept des klassischen Konditionierens geht bekanntlich auf Watsons Adaptation von Pawlows Konzept des »bedingten Reflexes« zurück, wie er in der Standard-Anordnung des berühmten Hundeexperiments demonstriert wurde: Unbedingter Stimulus (US): Futterpulver; unbedingte Reaktion (UR): Speichelabsonderung des Hundes auf Futterpulver hin; bedingter (»conditioned«) Stimulus (CS): Glockenton; bedingte Reaktion (CR): Speichelabsonderung nur auf Glockenton hin. Der Lernprozeß, wie er in dieser Anordnung gefaßt wird, besteht in der Ersetzung des Futterreizes durch den
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(ursprünglich •neutralen«) Glockenton aufgrundvon dessen mehrfacher Darbietung in zeitlicher ,.Kontiguität« (Nachbarschaft) mit dem Futterreiz, nämlich jeweils kurz davor (Reizsubstitution). Das Konzept der » Verstärkung« bezieht sich in diesem Kontext auf die bedingte Reaktion (CR): Diese wird verstärkt mit der Häufigkeit der erwähnten Zusammendarbietung von und Ge häufiger der Glockenton kurz vor dem Futterpulver dargeboten wird, um so stärker, dauernder, ist die Speichelsekretion nur auf den Glockenton hin, also die CR). Als Gegenbegriff zur Verstärkung fungiert dabei das Konzept der Löschung oder Extinktion: Wenn der Glockenton mehrere Male ohne den US (Futtergeruch) dargeboten worden ist, wird die CR (Speichelsekretion auf Glockenton) gelöscht (vgl. Pawlow 1903, in 1953, S.122).- In der Folge wurde die ursprüngliche Einschränkung dieses Schemas auf angeborene Reflexe bzw. autonome Reaktionen der glatten Muskulatur immer mehr relativiert, indem man auch Willküraktivitäten der querge· streiften Skelettmuskulatur als UR einführte. Der konditionierte Stimulus wurde dabei häufig als Signal, mit welchem das Auftreten des unkonditionierten Stimulus angekündigt wird, und das klassische Konditionieren entsprechend als Signallernen bezeichnet (weitere lerntheoretische Konzepte im Umkreis des Klassischen Konditionierens werden von mir später bei Bedarf eingeführt). Im folgenden soll nun also versucht werden, aus dem Theorieschema des Klassischen Konditionierens, wenn es auf Menschen angewendet wird, (mittels der früher, auf S.33ff, benannten Kriterien) Begründungsmuster zu explizieren, um von da aus zu entsprechenden Reinterpretationen zu gelangen. Damit sind wir sogleich an einen SR-psychologischen Theorieansatz geraten, der aufgrund seiner besonders ausgeprägten •physiologischen« Charakteristik dem Aufweis darin enthaltener Aussagen über Begründungszusammenhänge besonderen Widerstand entgegenzusetzen scheint. Versuchen wir zunächst, das Klassische Konditionierungsschema in seiner dargestellten allgemeineren Fassung als empirische Wenn-Dann-Hypothese zu formulieren: wenn kurz vor einem bestimmten Reiz (US), auf den die Vp konstant in spezifischer Weise zu reagieren pflegt (UR), ein anderer Reiz, der bei der Vp zunächst keine Reaktion hervorrief (CS), dargeboten wird, dann reagiert die Vp (nach einer gewissen Anzahl von Durchgängen) allein auf den CS in gleicher (oder ähnlicher) Weise wie auf den US, zeigt also eine bedingte Reaktion (CR). Solange man das Verhältnis zwischen CS und US in dieser Weise strikt als bloß zeitliche Nähe (KonJiguität) definiert, scheint die Einfügung von •vernünftigerweise« zwischen die Wenn- und Dann-Komponente hier wenig Sinn zu machen. Nun wird aber (wie gesagt) im Klassischen Konditionierungsschema- weil es offenbar in der rein »zeitlichen« Fassung kaum psychologisch handhabbar und interpretierbar ist - häufig das Verhältnis
us
es
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Grundansätze
zwischen es und US- selbst mit Bezug auf tierexperimentelle Anordnungen - als »Signallernen« gefaßt und damit inhaltlich spezifiziert; entsprechend wird der es als Signal, Hinweisreiz, Ankündigung o.ä. des US bezeichnet. Mithin können wir, im Einklang mit dem einschlägigen Sprachgebrauch, die Wenn-Dann-Hypothese des Klassischen Konditionierens so umformulieren: Wenn mit einem bestimmten Reiz (CS) das Auftauchen eines anderen Reizes (US) angekündigt, signalisiert, etc. wird, dann reagiert die Vp (nach einer Reihe von Durchgängen) allein schon auf diesen (ursprünglich neutralen) Hinweisreiz (eR) in vergleichbarer Weise wie auf den signalisierten Reiz (UR). Angesichts dieser abgeänderten Fassung erscheint die Möglichkeit, (per Einfügung von »Vernünftigerweise«) das Klassische Konditionierungsschema als BGM zu explizieren, keineswegs mehr so sinnlos wie mit Bezug auf die ursprüngliche Fassung. »Signale«, »Hinweise«, »Ankündigungen« sind nämlich als solche immer Signale, Hinweise, Ankündigungen für jemanden, und zwar offensichtlich (da nicht für den Experimentator) für den Nersuchsorganismus«. Darin liegt nun aber ein - wenn auch minimales, so doch offenbar unvermeidliches - Zugeständnis an den Subjektstandpunkt des »konditionierten« Individuums: Somit wäre hier - jenseits des offiziellen Verständnisses - im Konzept der Klassischen Konditionierung die Deutung der bedingten Reaktion der Vpn als auf irgendeine Weise »begründet/verständlich« im Interesse psychologischer Sinngebung mitgemeint und bedarfsweise explizierbar. Wenn man nun allerdings die BGM-Fassung des Klassischen Konditionierens, dergemäß eine Vp »gute Gründe« hat, bereits auf die Ankündigung eines Reizes in gleicher Weise zu reagieren wie auf einen ursprünglichen Reiz, für sich betrachtet, so stellt sich heraus, daß eine solche Formulierung zwar einerseits keineswegs- wie bei echten empirischen Wenn-Dann-Aussagenvon vornherein »aus dem Diskurs fällt«. Andererseits kann man unter diesen Umständen aber auch nicht schon positiv behaupten, daß eine derartige BGM-Explikation berechtigt ist: Da man hier nichts über die inhaltliche Eigenart und die situationeHe Einbettung der Beziehung zwischen Signal und Signalisiertem als möglicher Begründungsprämisse erfährt, lassen sich auch keine Aussagen darüber machen, wieweit darin die Reaktion auf das Signal anstelle der Reaktion auf das Signalisierte als »begründet« impliziert sein mag, d.h. aufgrundwelcher Intentionen die Vp in Ansehung ihrer Lebensinteressen zu einem solchen Handlungsvorsatz kommen könnte. Bei Berücksichtigung unserer generellen Vorannahme, daß vermeintlich automatische Konditionierungseffekte beim Menschen tatsächlich durch begründete Handlungen der Vpn zustandekommen können, würde daraus folgen: Die Bedingungen, unter denen Klassisches Konditionieren (als Phänomen) bei Menschen auftritt, sind mit dessen allgemeiner Fassung allein in Termini des Verhältnisses zwischen Signalreizen und unbedingten Reizen etc. unterbestimmt.
Kritik/Reinterpretation behavioristischer SR-Psychologie
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In Wirklichkeit muß die »Reizkonstellation« hier durch weitere, inhaltliche und situationeHe Bestimmungen (die theoretisch nicht abgebildet sind) spezifiziert sein, damit es zu »K.onditionierungseffekten« kommt, die in diesem Kontext dann auch als »begründet« explizierbar wären. -Um zu verdeutlichen, was dies heißt, sei zunächst aus den »20 Szenarien aus dem Alltag«, mit welchen Steiner (1988) in seinem bekannten Lehrbuch die Struktur verschiedener Lerntheorien veranschaulicht, das erste, unter dem Motto »Angst vor weißen Schürzen - Klassisches Konditionieren« stehende Szenario - eine Abwandlung des berühmten »Kleiner-Albert-Experiments« von Watson & Rayner (1920) - referiert: .. Eine junge Mutter sitzt mit ihrem knapp anderthalbjährigen Kind im Wartezimmer des Augenarztes. Nachdem das letzte Mal die verstopften Tränenkanäle gespült werden mußten, steht heute lediglich die Nachkontrolle an. Das Kind ist viel unruhiger als sonst, aber die Mutter lenkt es mit Geschichtenerzählen geschickt hab. Wie nun die Arztgehilfin eintritt, beginnt das Kind wie am Messer zu schreien und zu strampeln. Das ist eine Reaktion auf die neue Reizsituation, die mit dem Eintreten der Arztgehilfin, die das Kind zuvor nicht kannte, eingetreten ist. Die Reaktion ist völlig eindeutig; sie ist der Ausdruck für eine starke Emotion, für Angst, für Furcht vor etwas, vielleicht auch für einen Widerwillen gegen etwas. Eine charakterististische Reizsituation löst eine ebenso charakteristische Reaktion aus.« (S.14) In Verfolgung der »Lerngeschichte« dieser Reaktion verweist Steiner zunächst darauf, daß allgemeine Erregungszustände wie die »Angst« des benannten Kleinkindes eine »elementare natürliche Verhaltensweise« und deswegen für die Klassische Konditionierung von großer Bedeutung seien. Sodann fragt er nach der Art der »Reizsituation«, die das Weinen und Schreien des Kindes ausgelöst habe, wobei er als ·Reizkonfiguration« etwa eine Figur im weißen Kittel innerhalb des Kontextes der gesamten Arztpraxis heraushebt (S.16f}. Weiterhin charakterisiert er die »ursprüngliche Konditionierung des Kindes« in folgender Weise: .. Mit Sicherheit hat das Kind beim vorausgegangenen Spülen der Tränenkanäle einen bedeutenden Schmerz verspürt. Dieser war ein Reiz für das Kind, auf den es mit natürlichen Verhaltensweisen reagiert hat, vor allem mit denen, die ihm damals zu Gebote standen: mit einer abwehrenden Körperbewegung (Zusammenzucken, Strampeln) und vor allem mit Schreien. So zu reagieren, mußte das Kind nicht lernen; diese Reaktionen gehören wohl zu den elementaren, in gewissem Sinne das Überleben sichernden Verhaltensweisen. Viele weitere Reaktionen, jedenfalls von außen beobachtbare, waren in dieser Situation nicht möglich, weil der Arzt nämlich die Mutter gebeten hatte, das Kind auf dem Arm zu halten und seinen Kopf zu fixieren. Die Tatsache, daß sich das Kind nicht bewegen konnte, stellte nun ihrerseits eine Reizkonfiguration in Form von visuellen, taktilen, aber auch inneren Reizen dar. Das Faktum ferner, daß es sich nicht wehren konnte, also keine Verhaltensalter· nativen hatte, führte zweifellos zu einer erhöhten Erregung des gesamten Organismus. Beim ersten Mal erfolgte eine Angstreaktion unmittelbar auf den Schmerz, der das Spülen verursachte. Im Wiederholungsfalle, d.h. heute beim erneuten Arztbesuch, antizipiert das Kind - aufgrund der oben beschriebenen Reizsituation - den Schmerz und löst damit die Angstreaktion aus.« - •Sehen wir uns noch einmal die ursprüngliche Situation an, so
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
erkennen wir etwas Wichtiges: Das Kind nimmt zwar zweifellos den Schmerz wahr (zuerst taktil, dann innerlich, organisch), erkennt aber höchst wahrscheinlich die eigentliche Ursache, nämlich die Spülflüssigkeit bzw. die Spülnadel als auslösenden Reiz nicht. Selbst wenn es die Nadel rein optisch wahrnehmen würde, wüßte es nicht, was dies für ein Instrument ist und daß dieses eigentlich die schmerzhaften Konsequenzen nach sich zieht. Hingegen sieht und spürt es die umgebende Situation: Es sieht und hört den behandenden Arzt, dessen Gesicht und Teile seiner weißen Schürze. Durch eben diese besondere, hoch geschlossene Schürze unterscheidet sich der Arzt von vielen anderen Menschen, denen das Kind schon begegnet ist und die es kennt. Der Schmerz als Reiz wird nun mit dem für das Kind offensichtlichen Verursacher, d.h. mit dem Arzt und dessen auffallenden Merkmalen gepaart. Innerhalb der gesamten Reizsituation verbindet sich die weiße Schürze als gleich· zeitig und am gleichen Ort auftretender Teilstimulus mit dem Schmerz und löst von jetzt an, auch ohne daß dieser Schmerz unmittelbar eintritt, die entsprechenden Reaktionen aus.•
.. ucs
-+
UCR
-+
CS
-+
CRc
,.Halten wir folgendes fest: Am Anfang steht ein körperlicher Reiz, ein Schmerz. Dieser Schmerz ist der unbedingte oder unkonditionierte Reiz ... UCS ... Dieser löst eine ebenso unbedingte oderunkonditionierte Reaktion aus ... UCR ... ,eben die Angst des Kleinkindes ... Später löst ein anderer, ursprünglich neutraler Reiz die Angstreaktion des Kindes aus. Dieser Reiz, der dann als Auslöser fungiert (wir haben angenommen, es sei die weiße Schürze), wird als bedingter oder konditionierter Reiz bezeichnet ... CS ... und die Angstreaktion des Kindes als die bedingte oder konditionierte Reaktion ... CR ... « (S.16f).
Wieweit läßt sich nun aus der klassischen K.onditionierungsanordnung, wie sie Steiner hier inhaltlich und situationell konkretisiert hat, ein BGM explizieren, wieweit ist also das Schreien und Strampeln des Kindes beim Anblick der weißbekittelten Arzthelferin, von Steiner als •konditionierte Reaktion« eingestuft, als Resultat eines begründeten Handlungsvorsatzes des Kindes reinterpretierbar? Auf den ersten Blick scheint ein solcher Reinterpretationsversuch schon dadurch ad absurdum geführt, daß das Kind ja unter Bedingungen strampelt und schreit, wo ein erneuter schmerzhafter Stich durch den Tränenkanal gar nicht ansteht, weiterhin dadurch, daß Schreien und Strampeln wohl kaum als Realisierung eines begründeten Handlungsvorsatzes angesehen werden können - wenn man nicht sogar der Auffassung ist, ein eineinhalbjähriges Kind könne ohnehin noch keine begründeten Handlungsvorsätze fassen, und sei so von vornherein besser als Reaktionsmechanismus nach Art des klassischen Konditionierungsschemas charakterisiert. Aber sehen wir etwas genauer zu: Wenn man zunächst die von Steinerbenannten »Reizkonstellationen• (d.h. in unserem Sinne Bedeutungskonstellationen) betrachtet, so erweist sich die mögliche Vorstellung, das Kind hätte- wenn es •vernünftig• gehandelt haben würde -erkennen müssen, daß diesmal•nichts passiert•, als das, was man früher in der Psychophysik ,.Qbjektentgleisung« nannte: Als unangemessene
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Projektion der Sicht des Experimentators auf die Sicht der Vp - Steiner hebt, im Interesse der Anwendbarkeit des Schemas des Klassischen Konditionierensauf sein Beispiel, an verschiedenen Stellen heraus, was das Kind hier alles nicht wissen und tun kann bzw. darf, damit der Konditionierungsmechanismus funktioniert. So wird von ihm angenommen, das Kind weiß nicht, daß sein Schmerz von der Spülnadel bzw. Spülflüssigkeit verursacht wurde etc., so daß für das Kind nur der auffallend weißbekittelte Arzt als »offensichtlicher Auslöser« des Schmerzes übrigbleibt. Weiterhin weiß das Kind - wie wir ergänzen können- auch nicht, daß .. diesmal« nur eine »Nachkontrolle« ansteht: Man hat es ihm nicht gesagt (oder es konnte es noch nicht verstehen). So gibt es vom Standpunkt des Kindes also hier keinen anderen Anhaltspunkt für die Annahme, es werde gleich wieder schmerzhaft werden, als den - diesmal die Artzhelferin bekleidenden - auffallenden weißen Kittel. Wenn man die dergestalt radikal reduzierte »Prämissenlage« in Rechnung stellt, so ergibt sich also, daß das Kind unter diesen Bedingungen beim Anblick des Kittels der Arzthelferin sehr wohl »gute Gründe« für die Annahme haben könnte, es ginge »gleich wieder los«: Es bleibt ihm mangels weitergehender Information sozusagen »gar nichts anderes übrig«. Somit können wir versuchsweise verallgemeinern, »Klassisches Konditionieren« beim Menschen sei begründetes Handeln bei extrem eingeschränktem Realitätszugang - insbesondere durch situationalen und/ oder experimentellen Entzug der Einsicht in solche sachlichen und sozialen Bedeutungsunterschiede der »Unbedingten« und der »bedingten Reizkonstellationen«, aus denen unterschiedliche Handlungsvorsätze als »Vernünftig« begründbar gewesen wären: Die Gleichheit der »Reaktion« des Individuums auf den CS und den US, der für eine mechanische »Reizsubstitution« aufgrund bloßer Kontiguität zu sprechen scheint, ist so gesehen tatsächlich durch den Experimentator o.ä. selbst hergestellt, indem Realitätsaufschluß, der zu unterschiedlichen Prämissen und Handlungskonsequenzen geführt hätte, der Vp vorenthalten (bzw. in Alltagssituationen »weggedacht«) wird. Bleibt aber immer noch der mögliche Einwand, das >>Strampeln und Schreien« des Kindes sei doch eine (wie Steiner meint) natürliche, elementare Reaktion und nicht die Realisierung eines Handlungsvorsatzes- womit auch die benannte Interpretation der Reizkonstellation als extrem eingeschränkte Prämissenlage quasi in der Luft hinge. - Dem wäre zunächst entgegenzuhalten, daß schon die »unbedingte Reaktion« des Kindes, das Schreien und Strampeln beim Durchstich des Tränenkanals, wenn man die von Steiner eingeführten speziellen Bedingungen (»Fixierung« des Kopfes, damit Wehrlosigkeit des Kindes etc.) berücksichtigt, keineswegs als sonderlich »natürlich« und »elementar«, sondern in dieser Situation eher als gut begründet, d.h. verständlich erscheint: Das Kind wehrt sich hier sozusagen mit den ihm verbleibenden
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
Mitteln {Steiner sagt ja selbst, daß es keine ..Verhaltensalternativen« hatte) gegen die Zumutung einer solchen aus seiner Sicht willkürlichen und undurchschaubaren Prozedur - wobei der damit unterstellte »Handlungscharakter« eine starke emotionale lnvolviertheit des Kindes keineswegs ausschließt. Bezüglich der »bedingten Reaktion« sagt Steiner {in Überschreitung der SRpsychologischen Begrifflichkeit) selbst, das Kind »antizipiert« die Wiederholung der benannten Zwangsprozedur. Wir können hinzufügen, daß es (angesichts der benannten reduzierten »Prämissenlage«) gute Gründe für eine solche Antizipation hatte. Der Umstand, daß es darauf (von außen gesehen) in gleicher Weise »reagiert« wie auf die Prozedur des Tränenkanal-Durchstichs selbst, ist in diesem Kontext wiederum keinesfalls ein zwingender Beleg für den »automatischen« Charakter der Übertragung des {damit zum CR werdenden) UR auf die zunächst neutrale »Reizsituation« (CS). Vielmehr kann das »Schreien und Strampeln«, als Realisierung eines Handlungsvorsatzes betrachtet, in beiden Fällen durchaus unterschiedliche Intentionen ausdrücken: Im ersten Fall (US) etwa die Intention des Kindes, das Aufhören einer quälenden Prozedur zu erreichen, im zweiten Falle (CS) die Intention des Kindes kundzutun, daß es mit einer Wiederholung dieser Prozedur nicht einverstanden ist und nach Hause möchte o.ä.'Der Tatbestand, daß die Handlungsumsetzung hier ebenfalls in »Schreien und Strampeln« besteht, verweist wiederum darauf, daß dem Kind (wie esSteiner geschildert hat) die Mittel zu einer differenzierten intentionsgemäßen Handlungsrealisierung nicht zur Verfügung stehen. So kann es (da mit anderthalb Jahren nicht hinreichend sprachmächtig) etwa nicht zu der Sprechstundenhilfe sagen: »Also, wenn Sie jetzt wieder zu pieken anfangen wollen, da mache ich nicht mit«; ebensowenig zur Mutter: »Jetzt reicht's mir, wenn Du mit mir keinen Ärger kriegen willst, bring mich hier weg«. Außerdem hat das Steinersehe Kind vielleicht (wie viele Kinder) die Erfahrung gemacht, daß man seine differenzierteren Absichtsbekundungen normalerweise nicht beachtet, geschweige denn sich danach richtet. Also bleibt dem Kind »vernünftigerweise« nichts anderes übrig, als eben zu schreien und zu strampeln. Das Klassische Konditionieren wäre demnach als ein BGM zu explizieren, das nicht nur durch Bedeutungskonstellationen mit spezifisch eingeschränkter, die Unterschiede zwischen US und CS nivellierender Prämissenlage, sondern auch mit spezifisch eingeschränkten Alternativen der Handlungsumsetzung, durch welche die Gleicheit des CR und des UR quasi vorgetäuscht wird, charakterisiert ist. {In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß nach Lideil schon im Pawlowschen Hundeversuch nur dadurch die Gleichheit der Speichelsekretion als UR und CR sichergestellt werden konnte, daß man den Hund an einem Gestell festband und so daran hinderte, in »artspezifischer« Weise winselnd und schwanzwedelnd den
Kritik/Reinterpretation behavioristischer SR-Psychologie
,.es.. zu umschmeicheln; vgl. Lorenz,
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1973, S.121 und Osterkamp, 1975,
S.147ff.) An dieser Stelle mag man, selbst wenn man der vorstehenden BGM-Reinterpretation soweit gefolgt ist, einwenden wollen, damit sei aber keineswegs erwiesen, daß »alle• bei Menschen beobachteten •klassischen• Konditionierungseffekte entsprechend reinterpretierbar seien. So falle hier jede Möglichkeit der BGM-lnterpretation doch mindestens dann weg, wenn es sich beim UR und CR um Reaktionen des »autonomen Nervensystems• handelt. - Nun hat sich ja aber schon bei Diskussion des Steinersehen Beispiels gezeigt, daß das .schreien/Strampeln• des Kindes- von Steiner umstandslos als natürlich-elementare Reaktion im Sinne der ursprünglichen Theorie des •bedingten Reflexes• eingestuft bei Berücksichtigung der don benannten Situationellen Bedingungen und mangelnden Artikulationsmöglichkeiten des Kindes - als rigoros reduzierte »Handlung•, u.U. mit einer ..autonomen• Reaktionskomponente, reinterpretierbar ist. Von da aus wäre zu diskutieren, ob z.B. die »galvanische Hautreaktion« (GSR) als beliebte UR/CR in humanpsychologischen Experimenten zum Klassischen Konditionieren nicht ebenfalls nur die •autonome• Komponente einer impliziten Handlung der Vpn darstellen könnte: Deren Äußerung und Erfassung wären demnach hier nicht (wie bei Steiner) durch unterstellte mangelnde Artikulationsfähigkeiten der Vp, sondern einfach durch die experimentelle Prozedur der Bestimmung der GSR unterbunden, bei der allein die als Index für emotionale Erregung angesehene Hautfeuchtigkeit gemessen und der Vp keine Gelegenheit zur Äußerung der möglichen Gründe für ihre Erregung gegeben wird. Eine genauere Begründungsanalyse der experimentellen Situation vom Standpunkt der Vp könnte hier also durchaus erbringen, daß deren ,.bedingte Reaktion• als unter den einschränkenden Bedingungen der Versuchsanordnung •begründete/ verständliche« Handlung betrachtet werden kann, die im Experiment lediglich in ihrer autonomen Komponente, nämlich als GSR, in Erscheinung tritt. Von da aus böte sich u.U. auch eine neue Erklärung dafür an, daß bestimmte autonome Reaktionen, wie der Lidschlagreflex, beim Menschen kaum als »klassisch« zu konditionieren nachweisbar sind: Vielleicht tritt diese Reaktion - anders als z.B. die GSR als allgemeine Erregungskomponente von Handlungen - nicht als autonomer Aspekt impliziter (oder expliziter) Handlungen auf, sondern ist tatsächlich als unspezifisch physiologische •Reaktion• lediglich durch isolierte »Reize• auszulösen und deswegen -da für die Vpn nicht in einem Begründungszusammenhang stehend- auch nicht .. konditionierbar«.
Wenn man das Schema des Klassischen Konditionierens in all seinen Aspekten als BGM umformulieren wollte, wären allerdings noch viele komplizierte Fragen zu klären, so das Problem der einschlägigen Reinterpretierbarkeit von Konzepten wie »Stimulusgeneralisation«, »Stimulusdifferenzierung«, »Irradiation« etc. in Humanexperimenten, weiterhin das Problem der Relevanz oder Irrelevanz der (üblicherweise schlecht experimentell reproduzierbaren) Aussagen über genauere quantitative Beziehungen, etwa des unterschiedlichen zeitlichen und US in ihrem Einfluß auf den KonditionierungsAbstands zwichen effekt, etc. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß es uns hier lediglich darauf ankommen mußte, die Möglichkeit einer begründungsanalytischen
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Reinterpretation, selbst von scheinbar so •physiologienahen« Lernmechanismen wie dem Klassischen Konditionieren und damit die Aufhebbarkeit ihres psychologischen Gehalts in einer umfassenderen Begründungstheorie des Lernens aufzuweisen - unabhängig davon, wieweit sich dabei bestimmte Spezialeffekte (zunächst) unseren Reinterpretationsbemühungen entziehen mögen.
Instrumentelles bzw. Operantes Konditionieren: Lernen-am-Erfolg Die Theorie und Standardanordnung des Klassischen Konditionierens war zwar die erste theoretische Konkretisierung des behavioristischen Grundansatzes und läuft bis zur Gegenwart als untergeordnetes Lernmodell der SRPsychologie mit: Sie wurde aber im Ganzen gesehen von anderen theoretischen Konzeptionen/Standardanordnungen zurückgedrängt, die heute (seit Hilgard & Marquis 1940) als •Instrumentelles Konditionieren« zusammengefaßt werden. Dieses Konzept wurde zunächst von Thorndike (in Verbindung mit dem ,.Effektgesetz« des Lernens) eingeführt (1911, revidiert ab 1933), bildete sodann die Grundlage für das umfassende System der Gesetzmäßigkeiten des Lernens durch »Triebreduktion« von Hull (etwa 1943 und 1952) und gewann schließlich herausragende Bedeutung als Basis von Skinners (bis heute einflußreicher) Theorie des •operanten Konditionierens« (etwa 1938 und 1953).- Die Spezifik des Konzepts der Instrumentellen Konditionierung gegenüber dem Klassischen Konditionieren läßt sich global so kennzeichnen: Als •verstärkend« betrachtet man hier nicht die Häufigkeit des MiteinanderVorkommens des und des US in der von den Aktivitäten des Organismus unabhängigen Versuchsanordnung, sondern die Häufigkeit, mit der der Organismus durch sein eigenes Verhalten eine •Belohnung« (als •positive Verstärkung«) bzw. eine Beendigung von Schmerz, Stress etc. (als •negative Verstärkung«) erreicht. Das Konzept •Kontiguität« bzw. •Kontingenz« beund sonzieht sich hier also nicht auf die zeitliche Konfiguration von dern auf das zeitliche Verhältnis zwischen der Aktivität des Organismus und der darauf folgenden Verstärkung als ..Verhaltenskonsequenz«. Die weiteren SR-theoretischen Konzepte (wie •Extinktion«, •Generalisierung«, •sekundäre Verstärkung«, »intermittierende Verstärkung« etc.) werden dabei in ihrer Definition dem anderen Kontext angepaßt (s.u.). Eine frühe Versuchsanordnung zur Realisierung dieses Konditionierungsschemas ist der Thorndike'sche •Katzenkäfig«, aus welchem die Katzen durch ..Versuch und Irrtum« per Hebeldruck nach draußen und zum Futter gelangen können. Größere Bedeutung und Verbreitung gewann das »Labyrinth« (•maze«): Hier
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Kritik/Reinterpretation behavioristischer SR-Psychologie
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durchlaufen Ratten ein Gangsystem mit verschiedenen Abzweigungen, von denen jeweils eine in die Sackgasse und die andere weiter führt, bis am Ende schließlich die Futterkammer erreicht ist. Die berühmteste Anordnung dieser Art ist die ,.Skinnerbox«, in welcher die Tiere durch Drücken oder Picken auf einen Hebel an bestimmte Futter· oder Wasserquanten gelangen oder etwa auch einen elektrischen Schmerzreiz beenden können. Mit dem Terminus »instrumentelles« Konditionieren ist also auf den Umstand abgehoben, daß hier die eigenen Aktivitäten der Organismen als Mittel der Gewinnung von Verstärkungen fungieren. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang in dem (von Schlosberg, 1937, eingeführten) Terminus »Lernen-am-Erfolg«, der heute oft zur Abhebung vom klassischen Signallernen benutzt wird. Während (wie sich zeigte) das Schema des Klassischen Konditionierens nur unter Einbeziehung weiterer je konkreter inhaltlicher und situationaler Bestimmungen als BGM reinterpretierbar ist, liegt der BGM-Charakter des (auf menschliches Lernen bezogenen) Instrumentellen Konditionierens- wie mir scheint - auf der Hand. So läßt sich dieses Schema für den Fall ,.positiver Verstärkung« schlicht so als BGM formulieren: Wenn jemand für eine bestimmte Handlung mehrfach eine Belohnung erhalten hat, dann führt er (bei Abwesenheit anderer Begründungsprämissen) vernünftigerweise diese Handlung zum Zwecke der neuerlichen Herbeiführung des belohnenden Ereignisses wieder aus (die entsprechenden Formulierungen für den Fall ,.negativer Ver· stärkung«, ,.Extinktion«, ,.sekundärer Verstärkung« etc. kann ich mir, da auch dort der BGM-Charakter evident ist, sparen). Zur Bekräftigung dieser BGMInterpretation sei hier gleich auch das zweite meiner (früher dargelegten) einschlägigen Kriterien, die ,.Gegenprobe« mittels Negation der vermeintlichen Wenn-Dann-Hypothese, in Anwendung gebracht: Wenn jemand für eine Handlung belohnt wurde, dann wird er diese Handlung nicht wieder ausführen. Es ist offensichtlich, daß die empirische Realisierung dieser Annahme keineswegs- wie bei einer echten empirischen Wenn-Dann-Hypothese als Evidenz gegen die Gültigkeit des genannten Verstärkungs-Gesetzes fungieren kann. Vielmehr wird man angesichtsder augenscheinlichen »Unver· nünftigkeit« des Unterlassens einer Handlung, für die man belohnt worden ist, nach Gründen für das scheinbar abwegige Verhalten der Vp suchen. Dabei mag man etwa in Erwägung ziehen, daß der als ,.positiver Verstärker« eingeführte Reiz bei dieser besonderen Vp wirkungslos ist bzw. als »Strafreiz« wirkt, daß andere, nicht identifizierte Faktoren in der Reizkonstellation den Verstärkungseffekt überdeckt haben, daß die Vp die Instruktion nicht begriffen hat, etc.: Man wird also - in der früher dargestellten typischen Weise (vgl. S.37f)- die unpassenden empirischen Befunde durch Intentionsbzw. Prämissenspezifizierung weginterpretieren, weil man aufgrund des
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Implikationsverhältnisses der Wenn- und der Dann-Komponente der urspriinglichen Annahme diese aus logischen Griinden gar nicht aufgeben kann. Wenn nun also die allgemeinen »Gesetze« des instrumentellen bzw. operanten Konditionierens sich als BGMs explizieren lassen und ihr Verständnis als empirische Aussagen demnach ein Selbstmißverständnis darstellt: Wie verhält es sich dann aber mit den vielfältigen experimentellen Einzelbefunden durch Variieren verschiedener Dimensionen der einschlägigen Standardanordnung, insbesondere auf der Basis der beriihmten Skinnerschen Nerstärkungsplänec? - Ich will auch hier nicht alle Einzelanordnungen und -resultate ausführlich durchdiskutieren. Vielmehr soll nur einer der spektakulärsten, auch bei praktischen Anwendungen immer wieder herangezogenen Befunde von Ferster & Skinner ( 1957): erhöhte Löschungsresistenz bei intermittierender (d.h. nicht jedesmal, sondern nur in einer bestimmten Häufigkeit, Rate, etc. als Verhaltenskonsequenz auftretender) Verstärkung, exemplarisch auf implizite Begriindungszusammenhänge hin untersucht werden. Dazu referiere ich wiederum zunächst eine einschlägige Veranschaulichung aus der Literatur, diesmal Beispiele, die Lefrancois unter der Überschrift »Verstärkungspläne im täglichen Leben« in seinem verbreiteten Lehrbuch »Psychologie des Lernens« (1986) angeboten hat: »Beispiel!«: ·Ein Angler geht 22 Jahre lang zum selben Fluß angeln. Jedesmal, wenn er hingeht, fängt er mindestens 4 Fische (kontinuierliche Verstärkung). Nun, zu Beginn dieses verschmutzungsbewußten Jahrzehnts, fängt er plötzlich keinen Fisch mehr (Entfernung der Verstärkung}. Nach vier erfolglosen Versuchen hängt er das Angeln an den Nagel (schnelle Abschwächung nach kontinuierlicher Verstärkung)«. - »Beispiel 2«:- »Ein anderer Mann hat im selben Fluß auch 22 Jahre lang gefischt. Manchmal hat er dabei etwas gefangen, manchmal auch nicht. Es gab Jahre, da fing er in der ganzen Saison keinen einzigen Fisch. Aber es kam auch vor, daß er an einem einzigen Tag bis zu 18 Forellen fing (intermittierende Verstärkung). Zu Beginn unseres verschmutzungsbewußten Jahrzehnts nun fing auch er keine Fische mehr (Entfernung der Verstärkung). Am Ende dieses Jahrzehnts wird dieser Angler wahrscheinlich immer noch zum Fluß gehen (langsame Abschwächung, d.h. erhöhte Löschungsresistenz/K.H., nach intermittierender Verstärkung)« (S.40f).
Diese Beispiele sind, wie leicht zu sehen, - obwohl sie als Exempel für die empirische Wirkung kontinuierlicher bzw. intermittierender Verstärkung gemeint sind - tatsächlich Veranschaulichungen »Vernünftigen« Verhaltens bei (vom Autor konstruierter) spezifisch residualer Prämissen/age. Der erste Angler muß aufgrund seiner kontinuierlichen Fangerfolge davon ausgehen, daß das Wasser bisher von (beißfreudigen) Fischen gleichmäßig bevölkert war. So ist es von ihm nur »vernünftig«, beim Ausbleiben des Fangerfolges sehr bald nicht mehr zufällige Fehlschläge zu unterstellen, sondern anzunehmen, daß die Fische durch irgendeinen systematischen Faktor verschwunden
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sind bzw. nicht mehr beißen, womit weitere Angelversuche sinnlos sind (die Möglichkeit, das Fischereiamt anzurufen, und nachzufragen, was mit den Fischen im Fluß geschehen ist, wird ihm ja von Lefrancois nicht eingeräumt}. Der zweite Angler muß dagegen aufgrund seines andersartigen residualen Weltaufschlusses (als Handlungsprämisse) annehmen, daß der Fluß mit Fischen, die sich in Rudeln bewegen, bzw. deren Beißfreudigkeit auf unvorhersehbare Weise schwankt, bevölkert ist: Für diesen Fall erscheinen die Fangmißerfolge zunächst als nichts besonderes, sondern in der normalen Schwankung der früheren Fangquoten und deren zeitlicher Verteilung liegend. So wäre es ziemlich »Unvernünftig«, während er sonst bis zur nächsten Fangperiode weitergeangelt hat, gerade diesmal schon nach einigen erfolglosen Versuchen das weitere Angeln aufzustecken. Das Weiterangeln mag sich darüber hinaus aus dem In-Rechnung-Stellen eines Unsicherheitsbereichs der bisherigen Schwankungen begründen (o.ä.). Typischerweise werden nun diese Beispiele für alltägliche »Vernunftschlüsse« bei reduzierter Prämissenlage durch SRtheoretische Termini wie »kontinuierliche« vs. »intermittierende Verstärkung« quasi als Anwendungsfälle objektiver empirischer Lerngesetze mystifiziert, womit durch die Unterstellung einer mechanischen Wirkung der verschiedenen »Verstärkungspläne« auf das Verhalten dessen psychologisches Verständnis verhindert wird.
Gesamteinschätzung: Induktiv begründetes Lernen bei auf Gegebenheitszufälle reduziertem Realitätsaufschluß Nachdem wir die Theorien des Klassischen und Instrumentellen Konditionierens als verborgene Begründungstheorien reinterpretiert haben, stellt sich für uns die Frage, mit welcher Art von Begründungstheorien wir es dabei eigentlich zu tun haben. Welche speziellen theoretischen Verkürzungen ergehen sich daraus, daß von den lebenspraktischen Zusammenhängen zwischen Daseinsumständen, Prämissen, Gründen und Handlungen, wie wir sie früher kategorialanalytisch gekennzeichnet haben, nur solche übrigbleiben, die sich aus den Konzepten des klassischen bzw. instrumentellen Konditionierens explizieren lassen? Geht man dieser Frage nach, so stellt sich heraus, daß von der bedeutungsvollen, in sich strukturierten Welt, aus der die Prämissen für meine Handlungsbegründungen stammen und in die ich aufgrund meiner begründeten Handlungsvorsätze verändernd hineinwirken kann, nur ganz begrenzte Aspekte aus der SR-theoretischen Grundbegrifflichkeit reinterpretierbar sind: Bestimmte (vom Forscher eingeführte oder konstruierte} Wiederholungen der Konstellation von Einzelereignissen, und zwar im Schema des
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Klassischen Konditionierens der es als Antezedenz des US, und im Schema des instrumentellen Konditionierens der Verstärkerreiz als Konsequenz einer bestimmten Handlung. Als Kriterium für derartige Verknüpfungen stehen dabei allein bestimmte Regelmäßigkeiten der zeitlichen Abfolge von es und US bzw. Handlung und Handlungskonsequenz zur Verfügung. Die Bildung der Prämissen des Vorsatzes für eine künftige Handlung kann hier also nichts weiter sein als eine Extrapolation der bisher erfahrenen Ereignisabfolgen nach dem Motto »weil es bisher so war, wird es wieder so sein«. Als Indizien dafür dienen entweder allmählich sich verdeutlichende Gleichförmigkeiten des bisherigen Miteinandervorkommens von es und US bzw. Handlung und Handlungskonsequenz in der Zeitfolge oder (bei komplexeren Nerstärkungsplänen« o.ä.) einfache Reihenfortsetzungen bzw. der Aufbau von »subjektiven Wahrscheinlichkeiten« über das Auftreten der zur Frage stehenden Sequenz, etc. Man könnte die hier angesprochene Residualform des Lernens mithin- wenn man unter »Induktion« die ..Verallgemeinerung aus der Erfahrung« im Millschen Sinne versteht - als »induktives Lernen« bezeichnen. Aus der Reduzierung der Zugangsmöglichkeiten zur Welt auf die Erfahrbarkeit zeitlicher Verhältnisse voneinander isolierter Einzelereignisse ergibt sich, daß beim so gefaßten induktiven Lernen die auf solche Bedeutungsrudimente bezogene Prämissenbildung und die daraus abgeleiteten Handlungsvorsätze inhaltlich weitgehend unfundiert sein müssen: Sicherlich wird sich bei einem - nach der Kenntnisnahme hinreichend vieler Wiederholungen allmählich der Eindruck verfestigen, der es sei tatsächlich ein Signal für das Auftreten des US bzw. man habe die jeweils folgende »Verstärkung« tatsächlich durch das eigene Handeln hervorgebracht. Dies ist aber nichts weiter als das Resultat subjektiver Kausalattributionen. Faktisch hat man - was sich spätestens dann herausstellt, wenn die entsprechenden Sequenzen plötzlich nicht mehr auftreten - keinerlei Einsicht in einen sachlichen Zusammenhang zwischen Signal und Signalisiertem. Entsprechend hat man auch keinen Einblick in die Bedingungen, aufgrundderer ggf. einer bestimmten Handlung eine »Verstärkung« bzw. »Belohnung« folgt: Die jeweilige Handlung und die daraufhin verabreichte Belohnung haben inhaltlich nichts miteinander zu tun, die Belohnung wie ihr Ausbleiben sind vom Standpunkt des Subjekts nichts als ein bloßes blindes Faktum. Ebensowenig kann die Vp nach sachlichen Kriterien darauf Einfluß nehmen: Der Umstand, daß ggf. bisher auf eine bestimmte Handlung die Belohnung erfolgte, ist tatsächlich nicht das Resultat der Handlung, sondern für die Vp ebenfalls lediglich ein undurchdringliches Zusammentreffen (das aus der Sicht des Experimentators etwa nach entsprechenden, den Vpn verborgenen Verstärkungsplänen eingerichtet ist). Man kann mithin das jeweilige Miteinandervorkommen von es und US bzw. Handlung und Handlungskonsequenz als »Zufall« bezeichnen, nicht
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im Sinne des wahrscheinlichkeitstheoretischen Zufallsbegriffs, sondern im Sinne von »Gegebenheitszufällen«, die in ihrem Auftreten weder verständlich noch erklärlich sind, sondern einfach in ihrem Sosein hingenommen werden müssen. Induktives Lernen wäre so spezifiziert als Lernen von in diesem Sinne
zufälligen Regelhaftigkeiten von Ereignisfolgen. Die in der SR-Psychologie vollzogene Reduzierung in sich strukturierter sachlichsozialer Bedeutungszusammenhänge auf in Form von Gegebenheitszufällen angeordnete isolierte Einzelereignisse ergibt sich schon aus der kategorialen Eigenart der dabei benutzten Grundbegriffe. So hat das Konzept des »Reizes« als psychologischer Basisbegriff (nicht nur) der SR-Theorie zwar innerhalb der Physiologie, wo es um die Untersuchung physikalisch meßbarer Einflußgrößen auf den Organismus geht, seinen guten Sinn. Was aber ist damit gewonnen, in der Psychologie bestimmte, dem Individuum gegebene sachlich-soziale Bedeutungskonstellationen (etwa die in Steiners Beispiel benannte ,.Arztpraxis•) als ..Reiz« bzw. »Reizkonstellation« zu bezeichnen? Man könnte versucht sein, darin lediglich eine der in der Psychologie nicht seltenen wissenschaftsförmigen Terminologisierungen alltäglicher Tatbestände zu sehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die psychologische Verwendung des Reizbegriffs schon eine bestimmte Funktion hat, nämlich die, aus den jeweils als Reiz bezeichneten alltäglichen Bedeutungskomplexen nur bestimmte Aspekte •herauszuschneiden«, andere aber auszuklammern und zu eliminieren: Wenn ich von einem Welttatbestand als von einem •Reiz« rede, so berücksichtige ich ihn nur in seinen unmittelbaren Auswirkungen aufden »Organismus«. ..Reiz« ist ja eine Affektation der Körperoberfläche in ihren •sensiblen« Zonen. Im Reizbegriff wird mithin die Außenwelt quasi in organismischen Termini ausgedrückt, die Welt wird nur als Inbegriff jeweils isolierter ..Reizquellen« berücksichtigt, verschwindet mithin als in sich strukturierter Verweisungszusammenhang hinter den Einwirkungen, die von ihr auf den Organismus ausgehen (vgl. dazu die eindringende Kritik der Verwendung des Reizbegriffs in der Psychologie von Gundlach 1976). Das gleiche gilt für die weiteren, als Spezifizierungen des Reizkonzeptes eingeführten SR-psychologischen Grundbegriffe. So sind etwa »Verstärkerreize« bestimmte Weltgegebenheiten nur unter dem Aspekt ihrer verhaltensändernden Wirkung auf den Organismus: Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhänge werden lediglich unter dem nivellierenden Gesichtspunkt berücksichtigt, welche ..Verstärkungskontingenzenc in ihnen gegeben sind. Ihre weiteren sozialen und gegenständlichen Beschaffenheiten als Beziehungen untereinander sind hingegen (obzwar für das Subjekt wichtig) für den auf individuelle Verhaltensänderungen fixierten Psychologen uninteressant. Auch die im Kontingenz-Begriff selbst angesprochenen faktisch-zufälligen zeitlichen Anordnungen von Einzelereignissen sind direkte Implikate der Fassung der U mweltkontingenzen als »Reizkonstellation•, d.h. Inbegriff der Wirkung isolierter unabhängiger Reizquellen auf den Organismus und deren Durchsetzung in der experimentellen Realität.
Wenn man nun im begründungstheoretischen Kontext genauer danach fragt, in welchen alltäglichen Situationen jenseits der vom Forscher entsprechend eingerichteten experimentellen Anordnungen das Subjekt tatsächlich induktive Lernprozesse im geschilderten Sinne vollziehen mag, so ergibt sich, daß
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die Konfrontation mit isolierten Gegebenheitszufällen, aus welchen man nur mittels induktiver Prämissengewinnung Handlungsvorsätze begründen kann, eher zu den Sonder- oder Grenzsituationen des Alltags gehören. Normalerweise hat man es von vornherein mit sachlich-sozialen Bedeutungskonstellationen zu tun, denen gegenüber »Lernen« kaum als Verknüpfung zufälliger Elemente, sondern eher als irgendwie geartetes Eindringen in die Strukturmerkmale solcher Konstellationen zu bestimmen wäre. Bestenfalls mag man einräumen, daß gelegentlich beim Kontakt mit neuen Weltgegebenheiten zur Reduktion der ersten Unsicherheit induktive Orientierungsweisen begründet sein könnten: Dies kann man aber »vernünftigerweise« lediglich als einen ersten vorläufigen Schritt betrachten, der alsbald durch Lernaktivitäten, in denen die gegebenen realen Zusammenhänge erfaßt und durchdrungen werden können, zu überwinden ist. Um die damit angesprochene Beschränkung zu veranschaulichen, sind die in der SR-psychologischen Literatur benannten Beispiele für Lernen im Alltag kaum geeignet, und zwar deswegen, weil hier tendenziös solche Situationen ausgewählt wurden, die nach dem Muster der benannten experimentellen Anordnungen konstruiert sind und demgemäß entsprechend ausgedachte Grenz- und Sondersituationen verallgemeinern: So wird im angeführten Angler-Beispiel von Lefrancois dem Fischebeißen im Fluß, in den der Angler nicht hineinsehen kann, einfach eine Verteilung der Fische gemäß dem Konzept der kontinuierlichen bzw. intermittierenden Verstärkung gesetzt, woraus dann die entsprechenden induktiven Alltagsschlüsse des ersten bzw. zweiten Anglers verständlich werden. Im Steinersehen Beispiel wird die gleiche Voraussetzung auf anderem Wege eingeführt, indem das Kind als »anderthalbjährig« dargestellt ist und so dessen Unverständnis sachlicher und sozialer Zusammenhänge innerhalb der Lebenssituation »Arztpraxis« und Zurückgeworfensein auf die Orientierung an Koinzidenzen zufälliger Merkmale und Ereignisse seinem geringen »Entwicklungsstand« angelastet werden kann. Tatsächlich ist es kaum möglich, im Alltag, wie er (ohne entsprechende experimentelle oder auch pädagogische Eingriffe, s.u.) vorgefunden ist, Beispiele zu finden, in denen die Anwendungsvoraussetzungen für das Konzept des »induktiven Lernens« halbwegs erfüllt sind, bei denen man also nicht zur Demonstration dieser Lernweise von wesentlichen Bestimmungen der jeweiligen Situation abstrahieren muß. So habe ich (in einer Lehrveranstaltung) zur Veranschaulichung von Klassischem Konditionieren im Alltag das Lernen eines Autofahrers, auf das Bremslicht des vor ihm fahrenden Autos mit Bremsen zu reagieren, entsprechend zu schematisieren versucht: US .. schnelle Abstandsverringerung zum vorfahrenden Auto; UR = Bremsen auf Abstandsverringerung hin; CS • Bremslicht des vorfahrenden Autos; SR • Bremsen allein bei Wahrnehmung des Bremslichtes. Die Konditionierung käme demnach zustande durch
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das häufige Auftauchen des Bremslichtes voranfahrender Wagen kurz vor der wahrnehmbaren Abstandsverringerung, also die Kontiguität zwischen US und es. Dadurch wird der es (Bremslicht) zum ·Signal« für den US. Betrachtet man jetzt noch die UR, das Bremsen auf die Abstandsverringerung (US) hin, als relativ festgelegte, •automatische« Notfallreaktion, die per Reizsubstitution nun auf den es hin erfolgt und damit zur eR wird, so scheinen hier die Bestimmungen des Klassischen Konditionierens {i.w.S.) halbwegs erfüllt. Auch die BGM-Fassung und K.onzeptualisierung dieser Bestimmungen als Merkmale •induktiven Lernensc macht weiter keine Schwierigkeiten: Die induktive Verallgemeinerung des Faktums der häufigen Aufeinanderfolge der isolierten Ereignisse ·Bremslicht« und ,.Abstandsverringerung« als Prämisse für den Handlungsvorsatz, das nächste Mal schon auf das Licht hin zu bremsen, scheint ohne weiteres als Fall von »vernünftigem« Handeln bei spezifisch reduziertem Umweltaufschluß einzuordnen. Wenn man nun aber den Blick auf dieses Beispiel nicht durch die vorgefaßte Absicht, daran das Klassische Konditionieren zu demQJlstrieren, fixiert, sondern die hier angeführte Situation unvoreingenommen betrachtet, so wird schlagartig deutlich, daß bestenfalls ein total ahnungsloser Mitfahrer (am besten: von einem anderen Stern) die benannten »induktiven« Lernprozesse vollziehen mag, daß aber kein Autofahrer auf diesem Wege die Bedeutung des Bremslichtes lernt - schon deswegen nicht, weil er und sein Auto die Phase, in der sich die Verknüpfung zwischen Bremslicht und Abstandsverringerung in mehrfachen »Durchgängen« erst herstellt, wohl kaum unbeschadet überstehen würden. Tatsächlich lernt der Autofahrer (wenn er es nicht schon vorher wußte) in der Fahrschule, daß das Leuchten des Bremslichtes kausal durch den Bremsvorgang des vorfahrenden Autos hervorgerufen wird, weil das Auto vom Hersteller im Einklang mit der Straßenverkehrsordnung (oder so) zum Zwecke der Verhütung von Auffahrunfällen so gebaut worden ist. »Lernen« bedeutet hier also nicht Verknüpfung zufälliger Einzelereignisse, sondern Er-
fassen eines bestimmten, in die !.feit hineingebauten und deswegen real vorfindliehen sachlichen Bedeutungszusammenhangs. Das Problem für den Autofahrer ist hier demnach nicht der •induktive« Erwerb der Verknüpfung von Bremslicht und Abstandsverringerung, sondern höchstens - bei Einsicht in deren sachlichen Zusammenhang - die Umsetzung des darin begründeten Handlungsvorsatzes, also etwa die hinreichende Beachtung der Bremslichter und ggf. das rechtzeitige Treten der Bremse des eigenen Autos, etc. Darauf bezogene Lernprozesse sind aber mit dem Schema des Klassischen K.onditionierens (und des Konditionierungsiemens überhaupt) nicht abzubilden.
Mit der Reduzierung der gegenständlich-bedeutungsvollen Welt auf isolierte Einzelereignisse als Gegebenheitszufälle ist im Schema des Konditionierungslernens noch eine weitere gravierende Einschränkung des Weltbezugs der Individuen verbunden. - Gegenständliche Bedeutungen sind gemäß unseren Kategorialbestimmungen keine Handlungsdeterminanten, sondern bloße objektive Handlungsmöglichkeiten, wobei das Individuum also prinzipiell immer die Alternative des Nichthandeins oder Andershandeins hat (vgL etwa GdP, S.233ff). In der SR-Psychologie ist indessen - schon in der Bestimmung des elementaren kategorialen Begriffspaars »Reiz-Reaktion« - diese Möglichkeitsbeziehung auf eine einseitige Beziehung der Außendetermination des Lernens reduziert: Es wird davon ausgegangen, daß beim Individuum
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angesichts bestimmter (vom Experimentator hergestellter) »Umweltkontingenzen« automatisch bestimmte Verhaltensänderungen resultieren. Die Lesart, daß ein Individuum ja nicht notwendig auf eine bestimmte »Reizanordnung« mit dem »vorhergesagten« Verhalten antworten muß, sondern dies nur tun wird, wenn es entsprechende Gründe dafür hat, ist hier also kategorial nicht in Rechnung gestellt, praktisch aber durch entsprechende Vorkehrungen ausgeschlossen. Während man Tiere einfach in das Labyrinth oder die Skinnerbox hineinsetzen und damit den Versuchsbedingungen unterwerfen kann, müssen bei menschlichen Vpn, damit diese sich der Experimentalkonstellation aussetzen und darin verharren, besondere Vorkehrungen getroffen werden: Dies ist normalerweise die - implizite, d.h. durch die Versuchsanordnung gesetzte, und/ oder verbale, vom Experimentator gegebene - »Instruktion«, durch welche qua Konvention und/ oder sozialem Druck theoretisch unreflektiert sichergestellt ist, daß das Subjekt im Experiment auch bereit und willens ist, etwa gemäß den »Anordnungen« (im doppelten Sinne) des Experimentators zu »lernen«. Nur sofern die Vpn solchen Anordnungen folgen, sind die Voraussetzungen z.B. der Anwendung des Konzeptes »Konditionierung« auf deren Verhalten erfüllt. Im Begründungsdiskurs bedeutet dies, daß die Grenz- und Sondersituationen, in welchen das Subjekt mit »guten Gründen« so handelt, wie im Konditionierungsschema vorgesehen, nicht nur durch den geschilderten extrem reduzierten Weltaufschluß, sondern darin auch durch eine Konstellation gekennzeichnet ist, in welcher mir begründetermaßen nichts anderes übrigbleibt, als »nach Anordnung« zu »reagieren•, d.h. andere Handlungsalternativen als in Ansehung meiner Interessen unbegründbar beiseitezulassen. So gesehen wäre das »induktive Lernen«, sofern die dieses konstituierenden Versuchsbedingungen von der Vp zu Prämissen ihres begründeten Handeins gemacht werden, gleichzeitig ein Lernen unter (äußerem) Zwang. Aufgrund der durch ein solches erzwungenes Lernen hergestellten scheinbaren Korrespondenz meines Verhaltens mit den Bestimmungen des SRtheoretischen Konditionierungsschemas sind - theoretisch wie durch die Versuchsanordnung - die intentionalen Zwischenglieder zwischen Handlungsprämissen und Handlungsvorsätzen quasi stillgestellt; indem ich mich im Experiment mithin so benehme, als ob ich nur aufgrund der eingeführten »Reizkonstellation« tätig werde, täusche ich eine kurzschlüssig-direkte Verbindung zwischen meinen Prämissen und Handlungen vor, die dann in der SRTheorie als Verbindung zwischen »Reiz« und »Reaktion« abgebildet (d.h. für bare Münze genommen) wird. Mit der Verdrängung der intentionalen Zwischenglieder ist aber auch die Gegründetheit meiner Handlungsintentionen in meinen Lebens- und Verfügungsinteressen unsichtbar. Mithin kann, indem
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erzwungenes Lernen mit Lernen überhaupt gleichgesetzt wird, die emotionale Wertung der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und ihrer Beschränkungen, also das Problem der subjektiven Voraussetzungen motivierten Lernens, hier gar nicht erst in den Blick geraten. Daraus ergibt sich, daß die SR~heorie _ auch in ihrer begründungstheoretischen Reinterpretation - zur Klärung der emotional-motivationalen Aspekte des Lernens samt der mit der Lernintention oder Lernzumutung etwa verbundenen Widersprüche und Konflikte vom Standpunkt des Subjekts nichts beizutragen hat.
SR-Theorien unter lerntechnologischem Aspekt: Manipulation von Begründungsprämissen zur Erzielung »gewünschten« Verhaltens Der begründungstheoretische Gehalt SR-psychologischer Lerntheorien läßt sich unter einem bestimmten Aspekt noch verdeutlichen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß dabei nicht nur auf das Faktum des Zusammenhangs zwischen Verstärkungskontingenzen und Verhaltensänderungen verwiesen ist, sondern Vorkehrungen benannt sind, mit denen man bestimmte »erwünschte« (»desired«, »appropriate«) Verhaltensweisen erzeugen bzw. unerwünschte bzw. unangemessene Verhaltensweisen eliminieren können solL So fungiert das Modell des Klassischen Konditionierens etwa als spezifisches Schema, mit dem Reaktionen auf unerwünschte Reize eliminierbar oder in solche auf erwünschte oder mindestens neutrale Reize modifizierbar sein sollen. Auf diese Weise soll etwa bei Trinkern - nach dem Muster des erwähnten »Kleiner-Albert-Experiments« (Watson & Rayner 1920)- die Schnapsflasche als CS bzw. Signal für das Auftreten eines »aversiven« Reizes (etwa eines mittels Tablette hervorgerufenen schlechten Geschmacks) »gelernt« und so der Widerwillen gegenüber dem schlechten Geschmack als UR zum Widerwillen gegen die Schnapsflasche als CR führen, etc. Das instrumentelle bzw. operante Konditionieren ist z.B. von Skinner als Mittel zur Erzeugung beliebiger tierischer oder menschlicher Verhaltensweisen durch entsprechende Einrichtung von Verhaltenskonsequenzen konzipiert und (etwa mit der »Skinnerbox« bzw. mit Anordnungen zur »programmierten Unterweisung« etc.) praktisch erprobt worden (daraus entstanden ja mannigfache psychologische Anwendungsfelder, etwa als ..Verhaltenstherapie« oder als Schemata zur Verhaltensmodifikation in der Schulklasse). Dabei läßt sich der damit hervorgehobene lerntechnologische Aspekt der SR~heorie keineswegs eindeutig von deren grundwissenschaftlicher Version trennen: Vielmehr ist die präskriptive Verwendung zur gezielten Veränderung von Verhaltensweisen in gewisser Weise
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schon in der Struktur der SR.:fheorien und ihrer Standardanordnungen vorgeprägt und tritt in den benannten praktischen Anwendungen nur besonders deutlich hervor. So gesehen ist die dargestellte kategoriale Reduktion sachlich-sozialer Bedeutungskonstellationen als individuelle Handlungsmöglichkeiten auf isolierte Gegebenheitszufälle ohne Handlungsalternativen nicht nur ein faktisches Implikat der SR-theoretischen Grundbegrifflichkeit, sondern enthält gleichzeitig eine Handlungsanweisung an den psychologischen Forscher und/ oder Praktiker: Derartige Grenz- und Sondersituationen sollen als Zwangslagen hergestellt werden, in denen besonders günstige Voraussetzungen für die Erzeugung von jeweils gewünschtem Verhalten bei den Individuen bestehen. So ist evident, daß Individuen, die sich in eindeutigen sachlich-sozialen Lebenszusammenhängen finden und daraus die Prämissen für in ihren Interessen gegründete Handlungsvorsätze/Handlungen gewinnen können, gegen sachfremde Verstärkungspraktiken o.ä. weitgehend immun sein dürften. Demnach ist es nur konsequent, wenn man zur »Verhaltensmodifikationc nach Möglichkeit solche Umgebungsbedingungen selegiert oder herstellt, in denen den Individuen möglichst geringer Realitätsaufschluß, insbesondere möglichst geringe Einsicht in übergreifende, handlungsrelevante Weltzusammenhänge erlaubt ist, so daß die unter diesen Umständen gesetzten »Verstärkungen« als isolierte Einzelereignisse ihre Wirkung tun können, d.h. von den Individuen mangels Alternativen zu Handlungsprämissen gemacht werden. Manche der gesellschaftlich vorgefundenen »Umgehungen« erfüllen offensichtlich schon von sich aus die Voraussetzungen für die Verunsicherung der Individuen. So meint Lefrancois (1986): »Es ist tatsächlich nicht unzureffend, eine Analogie zwischen einem Klassenzimmer und einer Skinnerbox zu ziehen. In dieser Analogie ist der Lehrer der Versuchsleiter, d.h. er kontrolliert die Verabceichung von Verstärkung und Bestrafung. Auf der anderen Seite sind die Schüler die Ratten in der Skinnerbox« (S.46). Normalerweise aber müssen bestimmte therapeutische, pädagogische etc. •Environments« zu Zwecken der ..Verhaltensmodifikation« gezielt hergestellt werden; dies reicht vom Einbau bestimmter ..Verstärkungskontingenzen• in ansonsten vorgegebene »Umwelten« bis zur Schaffung spezieller, nach SR-theoretischen Prinzipien aufgebauter Spezialschulen, -heime, -hospi· täler etc. Als verunsichernde Bedingungen dienen dabei etwa »verarmte« Umgehungen, die den Individuen keine Gelegenheit zu Handlungen außer den »erwünschten« geben, die Bereitstellung von Räumen, in denen die Individuen zunächst von allen ihnen vertrauten und wertvollen Dingen, Befriedigungsmöglichkeiten o.ä. getrennt sind, wobei diese ihnen dann planmäßig als ..Verstärkung« für gewünschtes Verhalten zurückgereicht werden, weiterhin gezielter kurzfristiger Entzug der sonst angebotenen »Verstärkungen«, das sog. »time-out«, zur Erhöhung der Willfährigkeit gegenüber den dann wieder gewährten Belohnungen etc. Als konzeptuelle Grundlage für solche Praktiken der Schaffung verhaltensmodifikatorisch günstiger Umgehungen wird etwa von Kanfer & Philips in ihrem klassischen
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Lehrbuch der Verhaltenstherapie (1970) insbesondere das Skinnersche Schema das •ope· ranten Konditionierens« empfohlen: •lts character as a content-free technology makes the perant model unusually weil suited to the design of special erivironments for panicular ~havioral goalsc. Dieses operante Modell •formed the basis for construction of special therapeutic-educational or prosthetic (künstlichen/K.H.) environments in hospitals, schools, penal institutions, and other settings. In the same fashion, parents can be taught to revise reinforcement contingencies to make the home a more constructive environment, that is, less likely to promote problematic behaviors in family membersc (S.318)
Damit verdeutlichen sich die den SR-Theorien inhärenten Begründungsmuster in ihrer spezifischen Struktur: Ich finde mich nicht nur in bestimmten Situationen drastisch reduzierten Weltaufschlusses und demgemäß verengter Handlungsalternativen, sondern {mehr oder weniger bewußt) einem anderen Subjekt gegenüber, dessen Intentionen mit den meinen hinsichtlich kritischer Dimensionen in Widerspruch stehen und das durch die Manipulation meiner Handlungsprämissen mir Gründe dafür liefern will, meine Intentionen den seinen anzugleichen. Man hat es hier also mit einem sozialen, genauer: interpersonalen, Arrangement zu tun, in welchem der Experimentator bzw. Praktiker die Vp bzw. den Klienten quasi zu überlisten versucht, wobei die möglichen Ausflüchte und Tricks der anderen Seite in Rechnung gestellt und neutralisiert werden müssen. Dies ist nicht nur meine Interpretation, sondern wird offensichtlich vom Standpunkt des Experimentators/ Praktikers auch so gesehen, indem hier die Rede von •Strategien«, ·Taktiken« o.ä., die gegenüber den Betroffenen zur Erzielung des gewünschten Verhaltens in Anschlag zu bringen seien, weitgehend zur offiziellen Terminologie gehört. In diesem technologischen Kontext ist etwa die Kategorie der ..Verstärkung« (begründungstheoretisch betrachtet) vom Inbegriff realer Bedingungen/Prämissen für die Änderung von Handlungsvorsätzen etc. zu einem Mittel in der Hand des Experimentators/Praktikers umakzentuiert, den Betroffenen Gründe für die Vernachlässigung ihrer eigenen Interessen zugunsten der Interessen des Psychologen und/ oder Auftraggebers zu unterschieben. Das Verstärkungs-Konzept ist seinem theoretischen Gehalt nach für diese Funktion deswegen besonders geeignet und universell einsetzbar, weil die Art der verabreichten ..Verstärkungen« mit dem Inhalt der jeweils zu modifizierenden Handlungen und den dabei zugrundeliegenden Interessen nichts zu tun hat. Als »Verstärkung« fungiert, unabhängig davon, was gerade •Verstärkt« werden soll, alles, von dem man annimmt, daß es von den Betroffenen begehrt, gemocht, geschätzt wird: Bei Kindern bevorzugt Süßigkeiten wie (besonders gut portionierbare) Gummibärehen oder Schokolinsen, ansonsten alles Beliebige, wenn es nur für das jeweilige Individuum begehrenswert ist häufig vermittelt über die Ausgabe von •Tokens«, Spielmarken, als •sekundären
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Verstärkern«, die gesammelt und in einer bestimmten Menge gegen •primäre Verstärker« eingetauscht werden können. •Soziale Verstärker« stehen dabei funktional auf der gleichen Ebene wie die bisher benannten •materiellen Verstärker«: »Freundlichkeit«, ·Zustimmung« oder auch das allfällige gezielte ·Lohen« von Kindern (»praising a child.. /Kanfer & Phillips 1970, S.364) etc. Da ich hier dazu gebracht werden soll, meine eigenen interessengegründeten Handlungsvorsätze/Handlungen um von außen gewährter Vergünstigungen willen zu modifizieren, und dabei mit gewissen bei mir hypostasierten Bedürftigkeiten, Schwächen etc. gerechnet wird, hat das taktische VerstärkungsArrangement- wie mir scheint -etwas von einem Bestechungsversuch gegenüber den Betroffenen an sich. Entsprechend ist mit der Kategorie der »Extinktion« (als Gegenbegriff zu »Verstärkung«) unter lerntechnologischem Aspekt nicht lediglich deskriptiv das Verschwinden einer Handlung mangels Verstärkung, sondern präskriptiv eine Technik, um unerwünschte Verhaltensweisen zum Verschwinden zu bringen, umschrieben. Kanfer & Phillips reden in diesem Sinne von •Extinction as a Therapeutic Tactic« (1970, S.283}. Eine besonders verbreitete Art der so gefaßten •Extinktion« ist das Ignorieren von Bemühungen der Betroffenen, Beachtung, Zuwendung, sozialen Kontakt o.ä. zu erreichen (•ignoring inappropriate behaviors«/Kanfer & Phillips, S.303}: Unter der Annahme, daß diese unerwünschten Verhaltensweisen lediglich das Resultat entsprechender sozialer »Verstärkung« sind, läßt man sie gezielt und vorsätzlich unbeachtet, um sie so allmählich zu ,.löschen«. Der begründungstheoretische Hintergrund dieser Taktik ist an einem von Steiner in dem schon erwähnten Lehrbuch angeführten weiteren Beispiel, diesmal unter der Überschrift »So bleibt Michael ein Störefried- Vom operanten Konditionieren und den Tücken mit der Verstärkung« (1988, S.54ff) m.E. besonders eindrucksvoll zu veranschaulichen. Steiner stellt hier »Michael« als einen Schüler dar, der durch allerlei unerwünschtes Verhalten die Beachtung der Lehrerin auf sich ziehen will und weist darauf hin, daß diese, wenn sie auf Michaels Provokationen (und sei es mit Bestrafungen) reagieren würde, dessen Störaktionen ungewollt begünstigen müßte: .Die Lehrerin verstärkt ausgerechnet das unerwünschte Verhalten ihres Schülers, obwohl sie ganz sicher das Gegenteil beabsichtigt! Tücke der Verstärkung!!« (5.56). Sodann empfiehlt er als in diesem Kontext angemessene Strategie der Lehrerin die Extinktion von Michaels Störaktivitäten durch deren Ignorieren und erläutert dies auf folgende Weise: ,.was würde sich ereignen, wenn die Lehrerin nicht auf Michaels Störaktionen reagieren würde - mit keinem Ton, mit keinem Blick? Wenn sie sich so verhalten würde, als hätte Michael nichts gesagt und nichts getan? Wenn das Verhalten von Michael nicht die geringste Reaktion von seiten der Lehrerin zur Folge hätte? Das Ergebnis wäre für Michael
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negativ: weder soziale Zuwendung noch die Freude, die Lehrerin ,im Griff' zu haben, noch Applaus von seiten gewisser Kameraden. Wahrlich eine uninteressante Bilanz. Wozu eigentlich noch weitermachen? Hin und wieder ein Versuch vielleicht; aber auch dann: beharrlich keine Reaktion von seiten der Lehrerin! Für Michael keine Chance auf Erfolg ... Michael würde höchstwahrscheinlich mit seinen Störmanövern aufhören, und wir hätten eine mustergültige Extinktion vor uns« (Steiner 1988, S.57).
An diesen Formulierungen Steiners wird der im offiziellen Bedingtheilsdiskurs der SR-Psychologie enthaltene implizite Begründungsdiskurs in spezifischer Weise deutlich: Man tut, indem man das Konzept der »Extinktion« verwendet, zwar offiziell so, als ob das damit erreichte Verschwinden einer bestimmten Verhaltensweise der mechanische Effekt der einschlägigen Umweltkontingenzen wäre, wobei man aber, um das Zustandekommen dieses Effekts konkret verständlich zu machen, ungewollt (und notwendigerweise) in den Begründungsdiskurs fällt. Was Steiner hier tatsächlich empfiehlt, ist denn auch die Manipulation der Handlungsprämissen des »Störefrieds« Michael in einer Weise, daß ihm keine Gründe für sein •störendes« Verhalten mehr übrigbleiben - womit Michael dazu gebracht würde, seine (sicherlich ungekonnt vorgetragenen) Intentionen, als Subjekt zur Kenntnis und ernstgenommen zu werden, gegenüber den Intentionen der Lehrerin nach störungsfreier Bewältigung ihres Unterrichts »begründet« zurückzustellen. Unser (damit abgeschlossener) Aufweis spezifischer Beschränkungen des SR-psychologischen Lernkonzeptes ist (wie erinnerlich) dadurch möglich geworden, daß wir die SR-theoretischen Annahmen und Konzepte als implizite Begründungsmuster reinterpretierten und dadurch mit unseren allgemeinen begründungstheoretischen Bestimmungen ins Verhältnis setzen konnten: Auf diesem Wege konnte dann gezeigt werden, daß die als allgemeine Gesetze universalisierten SR-psychologischen Lernkonzepte tatsächlich nur auf Grenz- und Sondersituationen menschlichen Lernens (Reduziertheit des Weltzugangs auf isolierte Gegebenheitszufälle mit eingeschränkten Handlungsalternativen) anwendbar sind, wobei die Herstellung derartig reduzierter und verarmter Situationen gleichzeitig •lerntechnologisch« zur Prämissenmanipulation von Handlungsgriinden ausgenutzt werden kann. Dabei hat sich allerdings auch der (prinzipiell ja selbstevidente) Umstand verdeutlicht, daß aus der begründungstheoretischen Reinterpretation zwar die benannten kritischen Konsequenzen, keineswegs damit aber auch schon über die aufgewiesenen Beschränkungen hinausgehende lerntheoretische Konzepte zu gewinnen sind. Um in dieser Richtung voranzukommen, müssen vielmehr zunächst weitere, den SR-theoretischen Restriktionen wo möglich nicht in gleicher Weise unterworfene, traditionelle Lernkonzeptionen der begründungstheoretischen Kritik/Reinterpretation unterzogen werden - womit wir uns
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schrittweise einer Problemlage annähern, jenseits derer die Weiterentwicklung subjektwissenschaftlicher Lernkonzepte nur noch durch eigene theoretische Anstrengungen zu bewerkstelligen sein wird.
2.2 Kritik/Reinterpretation kognitiver Erweiterungen des SR-psychologischen Lernkonzeptes
Vorbemerkung Um die sechziger Jahre wurde (wie schon gesagt) die bis dahin seit über dreißig Jahren unbestrittene Vorherrschaft der SR-Psychologie durch die Dominanz der Kognitiven Psychologie abgelöst. Dies führte dazu, daß der Begriff des .. Lernens«, der in der SR-psychologischen Phase eine theoretische Schlüsselstellung innehatte, nun von anderen Zentralkonzepten, wie etwa »Gedächtnis«, abgelöst wurde, deren Bedeutung für das Lernkonzept nicht offen zutageliegt, sondern erst analytisch herauszuarbeiten wäre. Ehe wir (im Kapitel 2.3) dazu kommen, haben wir jedoch dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die SR-Psychologie von der Kognitiven Psychologie keineswegs gänzlich verdrängt wurde, sondern - obzwar unter der Hegemonie der Kognitiven Psychologie - bis heute fortbesteht, dabei allerdings unter dem Einfluß des herrschenden Kognitivismus bestimmte »kognitive« Vorstellungen und Konzepte in sich aufgenommen hat: Es sind diese kognitiven Erweiterungen der SR-Theorie, die wir als darstellungslogisch vorgeordnetes Problem zunächst unter begründungsanalytischen Vorzeichen zu reinterpretieren versuchen müssen.
Unterscheidung zwischen Lernen und Ausführung, damit Ausdifferenzierung eines Konzeptes selbständiger Lernmotivation Die mit der kognitiven Wende einsetzenden Versuche, SR-theoretische Konzepte »kognitiv« zu erweitern, haben einen Vorläufer in Edward Chase Tolmans »purposivem« oder »molarem Behaviorismus«, der schon in den dreißiger Jahren entwickelt, dann aber durch die immer verstärkte Dominanz der orthodoxen SR-Psychologie verdrängt und sodann im Zuge der neueren »Kognitivierung« der SR!fheorie reaktualisiert und (mindestens partiell) rehabilitiert wurde. Da Tolman wesentliche Grunddifferenzierungen
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einer »kognitiven« Lerntheorie einführte, die dann später aufgegriffen und in dieser Forschungsrichtung zum Allgemeingut wurden, soll in unserer folgenden Diskussion - obwohl er ausschließlich Rattenexperimente durchführte Tolmans Vorläuferfunktion berücksichtigt werden. Den wesentlichen Ansatz für die tierexperimentelle Realisierung seiner (damals unzeitgemäßen) Versuche einer kognitiven Ausweitung der SR-psychologischen Lerntheorien gewann Talman durch eine Umstrukturierung der traditionellen Standardanordnung des »Labyrinths« von einem Gangsystem, in welchem ausschließlich Fehler und Durchlaufzeiten registrierbar sind, in ein Orientierungsfeld mit unterschiedlichen räumlichen Anordnungen und Verbindungen der Gänge und der Möglichkeit für die Tiere, die Futterkammer auf verschiedenen Wegen zu erreichen: Schon diese Anordnung legt sozusagen eine kognitive Sicht auf die Aktivitäten der Tiere nahe. Eine globale Variation der Versuchsbedingungen, die sich Tolman bei der dergestalt neugefaßten Standardanordnung anbot, war das Weglassen und Wiedereinführen der Futterkammer bzw. deren Füllung selbst: Eine solche Variation wäre in der SR-psychologischen Labyrinth-Konstruktion mit ihren theoretischen lmplikationen weitgehend sinnlos gewesen, da ja so über die Kumulation der Auswirkung von Verstärkungsbedingungen auf das Lernen in Abhängigkeit von der Anzahl der Durchgänge nichts zu registieren ist. Für Tolman mit seinem in der genannten Version des Labyrinths vergegenständlichten Interesse an kognitiven Leistungen der Tiere bot sich indessen damit die Möglichkeit, den Aspekt der Orientierung im Labyrinth von dem Aspekt der Verstärkungswirkungen experimentell zu trennen und damit auch das SR-psychologische Postulat, daß die Verstärkung als Verhaltenskonsequenz eine notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen der Lerneffekte ist, zu problematisieren. Eine der wichtigsten theoretischen Fassungen dieses Ansatzes ist Tolmans Konzept des »latenten lernens« bzw. »inzidentellen Lernens«, zu dem Talman (1932, S.343) Experimente von Blodgett (1929), Williams (1924), Elliot (1929}, und Tolman & Honzik (1930b, 1930c) nennt und referiert. Bei solchen Untersuchungen wird typischerweise in der Experimentalgruppe zunächst eine erste Orientierungs- bzw. Inspektionsphase eingeführt, in welcher die Ratten ohne gefüllte Futterkammer (also unter Abwesenheit von .Verstärkungsbedingungenc) in das Labyrinth gelassen werden und dort mehr oder weniger beiläufig hin- und hergehen, herumschnüffeln etc. In einer zweiten, der Testphase, werden dann mit den gleichen Tieren die üblichen Lernversuche bei gefüllter Futterkammer durchgeführt. In der Kontrollgruppe durchlaufen andere Ratten nur die Testphase. Beim Vergleich der Lerneffekte in der Experimental- und der Kontrollgruppe stellte sich in den benannten Untersuchungen heraus, daß die Tiere der Experimentalgruppe in der Testphase weniger Durchgänge bis zum fehlerfreien Erreichen der Futterkammer brauchten als die der Kontrollgruppe.
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Tolman interpretierte dies mit der Annahme, daß die Tiere während der Inspektionsphase trotz der Abwesenheit von .Verstärkungen• die Anordnung und die Abzweigungen der Gänge im Labyrinth gelernt hätten, wobei diese zunächst •latenten« oder •inzidentellen• Lerneffekte dann innerhalb der Testphase unter Verstärkungsbedingungen manifest geworden sind, also vergleichsweise bessere Lernleistungen ermöglicht hätten.
Aus derartigen Konzepten und Resultaten ergaben sich nun für Tolman zwei für die spätere Entwicklung der kognitiv erweiterten Lerntheorien sehr bedeutsame begriffliche Differenzierungen: Zum einen die Unterscheidung zwischen »learning« und »performance« (Lernen und Ausführung), wobei er heraushob, daß die jeweiligen »Effekte« eines Verhaltens als Verstärkungsbedingungen zwar für die Ausführung bzw. Realisierung des Gelernten, nicht aber für den Lernprozeß selbst wesentlich seien (1932, S.364); zum anderen zur begrifflichen Ausdifferenzierung einer von der Verstärkung unabhängigen, d.h. auch selbständig »motivierten« tierischen Orientierungsaktivität, die von Tolman (etwa 1932, S.32) als Explorationsverhalten umschrieben wurde. Die Unterscheidung zwischen Lernen und Ausführung wurde nach der kognitiven Wende (nun unter Bezug auf humanpsychologische Experimente) von Bandura populär gemacht: »Die sozial-kognitive Lerntheorie (dies Banduras Version einer kognitiv erweiterten SR.:rheorie/K.H.) unterscheidet zwischen Erwerb und Ausführung, weil Menschen nicht alles in die Tat umsetzen, was sie lernen« (1979, 5.37). Dabei geht auch Bandura davon aus, daß ..Verstärkungen« nur für die Ausführung, nicht aber für den Erwerb von Verhaltensmöglichkeiten relevant seien. Die dazu von ihm und seinen Mitarbeitern (mit Kindern) durchgeführten Experimente haben eine ähnliche Struktur wie die geschilderten Untersuchungen zu Tolmans Konzept des »latenten Lernens«. So wird in einem Experiment von Bandura (1965) zum »ModellLernen« (s.u.) der Erwerb von Verknüpfungen ohne Verstärkung aus dem Umstand erschlossen, daß Kinder Einzelheiten einer Filmszene, die sie (ohne Belohung) betrachtet hatten, später unter Belohnungsbedingungen berichten konnten, also offensichtlich vorher ,.latent« gelernt haben müssen. Die Telmansche Vorstellung eines selbständig motivierten Explorations· verhaltens wurde etwa von Berlyne aufgegriffen und gehört seit dessen zusammenfassenden Darstellungen zum ,.Neugier- und Explorationsverhalten« mit der Annahme eines eigenständigen Neugier- bzw. Explorationstriebes schon bei Tieren (1960, 1963) weitgehend zum Allgemeingut insbesondere auch unter Vertretern kognitiv erweiterter Lerntheorien. In diesem Zusammenhang bürgerte sich die allgemeinere (wesentlich auf Menschen bezogene) Unterscheidung zwischen »extrinsischer« und »intrinsischer« Lernmotivation ein, wobei unter ,.extrinsischer« Motivation der Antrieb zu Lernaktivitäten
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aufgrund außengesetzter Nerstärkungen« im überkommenen SR-theore-tischen Sinne verstanden wurde, und die »intrinsische Motivation« im wesentlichen den Umstand bezeichnete, daß es auch Lernprozesse (wie das geschilderte explorative Lernen) gibt, die ohne solche außengesetzten Verstärkungen zustandekommen, bei denen mithin die •Motivation« zu einer Lernaktivität auf irgendeine Weise in dieser selbst liegen müsse. Das Konzept der »intrinsischen Motivation« wurde in der Folge auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen theoretischen Zusammenhängen genauer zu bestimmen versucht. Heckhausen (1989, S.455f} unterscheidet in einer zusammenfassenden Darstellung folgende Bedeutungsvarianten dieses Konzeptes: 1. Triebe ohne Triebreduktion (im Sinne des benannten .. Neugiertriebes•, durch den keine Gewebedefizite reduziert werden), 2. Zweckfreiheit (als aus sich selbst stimulierter, insbesondere spielerischer oder schöpferischer Aktivitätsantrieb), 3. Optimalniveau von Aktivation oder Inkongruenz (unteroptimale Aktivation bzw. überoptimale Inkongruenz, etwa zwischen Erwartungen und eingehender Information, implizieren die Tendenz zur Aktivitätserhöhung bzw. Verminderung der Inkongruenz), 4. Selbstbestimmung (etwa die Erfahrung eigener Verursachung als Motivator), 5. Freudiges Aufgehen in einer Handlung (völliges Absorbiertwerden durch das Erlebnis der voranschreitenden Handlung). Heckhausen stellt nach einer kritischen Analyse der verschiedenen Konzepte von •intrinsischer Motivation• eine weitere, 6. Fassung, »Gleichthematik (Endogenität} von Handlung und Handlungsziel«, zur Diskussion: •Intrinsisch ist Handeln dann, wenn Mittel (Handlung) und Zweck (Handlungsziel) thematisch übereinstimmen; mit anderen Worten, wenn das Ziel gleichthematisch mit dem Handeln ist, so daß dieses um seiner eigenen Thematik willen erfolgt. So ist Leistungshandeln intrinsisch, wenn es nur um des zu erzielenden Leistungsergebnisses willen unternommen wird, weil damit die Aufgabe gelöst ist oder die eigene Tüchtigkeit einer Selbstbewertung unterzogen werden kann. Das Handlungsergebnis, eine bestimmte Leistung, ist dabei selbst nicht wieder ein Mittel im Dienste eines anderen, nichtleistungsthematischen Zweckes; wie etwa damit, einem anderen zu helfen oder ihm zu imponieren oder um eine Geldsumme für einen bestimmten Zweck zu verdienen ... « {1989, S.459). Als weitere Form von •intrinsischer« Motivation akzeptiert Heckhausen nur noch das benannte ,.freudige Aufgehen in einer Handlung«, das als »sachinhärente Stimulation« bezeichnet wird und besonders eindringlich dann erfahrbar sein soll, •wenn das schnelle Wechselspiel zwischen einzelnen Tätigkeitsschritten und den teils 'eigensinningen' Rückantworten des Gegenstandes dem Handelnden alle Kompe· tenz abfordert, damit der angezielte Geschehensablauf weder blockiert wird noch eine sonstwie unbeeinflußbare Wendung nimmt«. Als Beispiel wird auf den »kaum zu über· bietenden Grad von Fesselung« durch die Beschäftigung mit einem Flipperautomaten ver· wiesen (Heckhausen und Rheinberg 1980, S.22).- Ich komme später darauf noch zurück.
Mit der Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation ergab sich zwangsläufig die Frage, unter welchen Bedingungen bzw. bei welcher Art von Aktivitäten Lernprozesse eher durch intrinsische bzw. durch extrinsische Motivation gefördert würden. Dabei impliziert ja bereits die Annahme, jemand könne (auf welche Weise auch immer) •intrinsische
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motiviert werden, daß es die interessanten, anregenden, spannenden Aktivitäten, insbesondere aber auch kreativen, etwa künstlerischen oder handwerklichen, Tätigkeiten sind, die das Individuum »von sich ausc, also intrinsisch motiviert, ausüben und entwickeln wird. Dies wiederum enthält die Konsequenz, daß extrinsische Motivatoren, also außengesetzte Belohnungen nur dann Ieistungs- bzw. lernfördernd wirken, wenn die jeweiligen Aktivitäten eben nicht schon in sich belohnend, nicht interessant etc. seien. So stellte McGraw (1978) in einem Überblick über die einschlägigen Untersuchungen fest, daß es gerade die langweiligen Routineaufgaben, wie einfache Rechenaufgaben, Auswendiglernen von Listen etc. sind, die durch außengesetzte Belohnungen verbessert werden können, während derartige Belohnungen bei in sich interessanten Aufgaben, wie kniffligen Denksportaufgaben o.ä. überflüssig wären. Im Gegenteil: Hier könnten sich die zusätzlichen Belohnungen unter bestimmten Umständen sogar eher als behindernd erweisen, nämlich dann, wenn in Antizipation der in Aussicht gestellten Belohnung die Zuwendung zur Aufgabe nachlasse, schnelle Routinelösungen bevorzugt würden, etc. Von da aus formulierte McGraw in Auswertung seines Überblicks ein •two-factor prediction model«, (•Zweifaktoren-Vorhersagemodell•) (S.57), dem gemäß die förderliche oder behindernde Wirkung von Belohungen auf zwei Dimensionen variieren soll: Je »aversiver« bzw. »algo· rithmisch« festgelegter eine Aufgabe, um so stärker sei die begünstigende Wirkung , je •attraktiver« bzw. »heuristisch« offener die Aufgabe, umso stärker die behindernde Wirkung äußerer Belohnungen.
Die damit angesprochenen Interferenzenaufgrund der zusätzlichen »extrinsischen« Belohnung »intrinsisch« motivierter Aktivitäten waren in der Folge Gegenstand einer eigenen Forschungstradition. Die dabei erzielten Effekte werden in Untersuchungen wie der von Lepper, Greene & Nisbett (1973) demonstriert: Kinder, denen in der Erstsituation eine extrinsische »Belohnung« (eine mit lobenden Worten überreichte Urkunde) versprochen und verabreicht worden war, gaben Malaktivitäten mit besonders attraktiven Buntstiften in Wiederholungssituationen eher auf als Kinder, die keine Belohnung bzw. eine unangekündigte Belohnung erhalten hatten. Die Autoren führen dies darauf zurück, daß in der Erstsitzung bei den Kindern aufgrund der Erwartung des Preises eine extrinsische Motivation geweckt worden sei, und diese habe - wie in der Wiederholungssitzung offenbar wurde - den »inneren Antrieb« zu der Malaktivität zerstört. Den allgemeineren theoretischen Kontext der Arbeit bildet eine damals häufiger diskutierte »OberrechtfertigungsHypothese«, die die Autoren durch ihre Befunde als bestätigt betrachteten: As in the »Overjustification hypothesis ... predicted, children in the expectedaward condition spent less time playing with the drawing materials than children in the other conditions« (S.134). Mit solchen Überlegungen und Demonstrationen wurde also nicht nur
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-wie mit der Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation- eine Geltungseinschränkung der SR-psychologischen Doktrin der Verstärkung als Lernbedingung auf in sich uninteressante Aufgaben vorgeschlagen: Vielmehr sollte gezeigt werden, daß Verstärkung in bestimmten Situationen (nämlich dann, wenn eine Aufgabe als solche interessant ist, also »intrinsische Motivation« zu ihrer Ausführung weckt) darüber hinaus lernbehindernd, also kontraproduktiv sein kann. - Ein Überblick über die vielfältigen Ansätze und Befunde zur »Überveranlassung« beliebter Tätigkeiten findet sich bei Heckhausen {1989, S.461ff) unter der Überschrift: .. Korrumpierung intrinsischer Motivation durch extrinsische Bekräftigungen«. In einem speziellen theoretischen Kontext wurde die allgemeinere Frage nach den Bedingungen gestellt, unter denen äußere Anreize und Belohnungen bei den Individuen sogar aktiven Widerstand gegen die Realisierung der belohnten Aktivität hervorrufen können. Derartige Verhaltensweisen wurden von Brehm {1966) als Reaktion auf den mit der Belohnung verbundenen Verlust der Wahlfreiheit des Individuums interpretiert und dem von ihm so bezeichneten Phänomen der »Reaktanz« zugeordnet. In einer typischen Untersuchung, die Brehm zusammen mit Judith Weiner durchgeführt hat (vgl. Brehm 1966, S.82ff), wurden in einem Supermarkt Handzettel mit der Werbung für eine bestimmte Brotsone verteilt, an denen jeweils ein Vierteldollar befestigt war: Das war genau der Preis für eine Packung des angepriesenen Brotes. Dies führte zu einer beträchtlichen Steigerung des Absatzes dieser Brotsorte. Als andere Versuchsbedingung heftete man an die Handzettel einen Geldbetrag, der um zehn Cents höher war als der Kaufpreis für das Brot. Dadurch wurde nun aber keineswegs (wie nach der Verstärkungs-Konzeption zu erwarten gewesen wäre) eine noch größere Umsatzsteigerung erreicht, sondern im Gegenteil, der einschlägige Umsatz nahm eher ab. Brehm interpretiert dies so: Während die Beigabe des passenden Geldbetrages quasi wie eine Einladung zum Gratiseinkauf gewirkt habe, hätten sich die Käufer durch den überhöhten Betrag persönlich genötigt, d.h. in ihrem Entscheidungsspielraum eingeschränkt gefühlt und mithin Widerstand gegen das Ansinnen der Werbemaßnahme geleistet. Dies sei ein spezifischer Fall von »Reaktanz« als Versuch, den eigenen ..Verhaltensspielraum« zurückzugewinnen (•to reestablish one's behaviorial freedom«, 5.90). Wenn wir nun die bisher dargestellten, mit kognitiven Erweiterungen der SR-Psychologie verbundenen begrifflichen Differenzierungen unter begründungstheoretischem Aspekt betrachten, so erweist sich zunächst die geschilderte Unterscheidung zwischen ..Lernen« und »Ausführung« als in dieser Hinsicht äußerst bedeutsam: Während nämlich in der orthodoxen SR:rheorie .. Lernen« und Nerhaltensänderung« praktisch gleichgesetzt wurden, also
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das Lernkonzept noch so universell wie unspezifisch bleiben mußte, hebt sich nunmehr das »Lernen« als von den übrigen Handlungen unterscheidbare spezielle Form von Handlungen heraus, und es stellt sich demgemäß die Frage, durch welche besondere Begründungsstrukturen das Lernhandeln gegenüber anderen Handlungen ausgezeichnet sein mag. Weiterhin legt sich aus der aufgewiesenen Möglichkeit, »inzidentell«, d.h. ohne speziellen Vorsatz zu lernen, die Frage nahe, wie denn ein derartiges beiläufig-nichtintendiertes Lernen hinsichtlich seiner Begründungsstruktur vom eigentlichen, d.h. »intentionalen« Lernen abhebbar sein könnte. Wenn mithin in diesem Kontext neue Fragen an eine zu entwickelnde Begründungstheorie des Lernens sich verdeutlichen, so heißt dies jedoch nicht, daß damit auch schon weiterführende Gesichtspunkte für die Klärung dieser Fragen, d.h. die nähere Bestimmung der speziellen Begründungsstruktur des Lernens bzw. des intendierten gegenüber dem »inzidentellen« Lernen, gewinnbar seien. Im Gegenteil: In der Art, wie hier das Konzept der Lernmotivation an die Stelle einer differenzierten Begründungsanalyse von Lernhandlungen gesetzt wird, werden die genannten Fragen eher verdunkelt als einer Lösung nähergebracht. Schon die Rede von einem verselbständigten »Neugier- und Explorationstrieb« erweist sich (mit Bezug auf menschliche Individuen) bei näherem Hinsehen als (in der traditionellen Psychologie verbreitete) reiftzierende (verdinglichende) »Verdoppelung« des Phänomens, indem die »neugierigen«, »explorativen« Aktivitäten der Individuen aus einem dem zugrundeliegenden Trieb »erklärt« werden, womit (in unserem theoretischen Kontext) die weitere Frage, welche Gründe die Individuen für diese Aktivitäten haben können, genauer: unter welchen Prämissen und bei welchen Intentionen sie subjektiv begründet sind, von vornherein abgeschnitten ist. Diese Gefahr reifizierender Begriffsbildung ist auch im Konzept der »intrinsischen Motivation« - trotz der dargestellten verschiedenen Versionen keineswegs ausgeräumt: Hierbei handelte es sich offensichtlich zunächst um eine Art von Lückenbüßer, der da einspringen soll, wo das SR-psychologische Verstärkungskonzept nicht greift. Dabei kam man mangels anderer Konzeptualisierungsmöglichkeiten zu der Konsequenz, daß Aktivitäten bzw. Lernprozesse, die ohne außengesetzte Verstärkungen erfolgen, aus sich heraus, um ihrer selbst willen, eben »intrinsisch motiviert« sich vollziehen müssen. Aber auch den dargestellten entwickelteren, kognitive Aspekte in höherem Grade einbeziehenden Konzeptionen von »intrinsischer Motivation« sind m.E. - schon aufgrund des Begriffs »intrinsisch« als gemeinsamen Nenners - bestimmte Implikationen inhärent, die mindestens »tautologieverdächtig« erscheinen: Interessante Tätigkeiten werden ausgeführt, weil sie
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interessant sind, schöpferische Tätigkeiten werden ausgeführt, weil sie schöpferisch sind, oder allgemeiner: Die intrinsisch motivierten Handlungen werden ausgeführt, weil sie ausgeführt werden. Im Begründungsdiskurs würde dies bedeuten: Bei intrinsischer Motivation handeln die Individuen, obwohl sie keinen Grund dazu haben. Durch diese in der Vorstellung von »Handlungen um ihrer selbst willen« liegende Kurzschlüssigkeil wäre auch hier die weitere Frage nach den Prämissen abgeschnitten, unter denen die Individuen »gute Gründe« haben, bestimmte Handlungen in Abwesenheit von äußeren Belohnungen auszuführen oder auch nicht auszuführen. Dieselbe Frage stellt sich nun aber auch im Hinblick auf die Belohnungen als Agenzien »extrinsischer Motivation«, da es auch hier sowohl gute Gründe geben kann, die belohnten Handlungen auszuführen, wie dies nicht zu tun oder dem sogar Widerstand entgegenzusetzen. So erweist sich unter begründungsanalytischen Kriterien die Unterscheidung zwischen »intrinsischer« und »extrinsischer Motivation« als unangemessen ausschließende Gegenüberstellung, durch welche die umfassende Klärung und Differenzierung der Prämissen- und Intentionsstruktur von Lernhandlungen abgeschnitten wird, wobei die Terminologisierung von Lerngründen als »Lernmotivation« in diesem Kontext nicht nur überflüssig ist, sondern den geschilderten Reifikationen und Tautologisierungen eher Vorschub leistet (vgl. dazu Holzkamp 1986, 5.227). Die damit aufgewiesenen Widersprüche und Kurzschlüssigkeilen prägen auch die dargestellten theoretischen Ansätze über mögliche Interferenzen bei zusätzlicher extrinsischer Motivation intrinsisch motivierter Aufgaben: Einerseits hat man es hier durchgehend mit (obzwar nicht als solche reflektierten) offenen Ausformulierungen von Begründungsmustern zu tun. Andererseits ist aber aufgrund der geschilderten Verkürzungen des Begriffspaars »intrinsische-extrinsische Motivation« eine hinreichende Klärung/Differenzierung der jeweiligen Prämissen-/Intentionsstrukturen unterbunden. So handelt es sich in McGraws » Zweifaktoren-Vorhersagemodelle bei dem dort unterstellten empirischen Zusammenhang zwischen Unattraktivität/Festgelegtheit einer Aufgabe und der Wirksamkeit von Belohnungen einerseits tatsächlich um ein BGM etwa der folgenden Art: Wenn Aufgaben langweilig sind bzw. die Art ihrer Lösung sich von selbst versteht, so wird man sie vernünftigerweise nur dann ausführen, wenn irgend etwas anderes dabei herausspringt. Dementsprechend ist die Gegenannahme, langweilige Aufgaben würden gerade dann besonders gern ausgeführt, wenn nichts dabei herausspringt, nach begründungslogischen Kriterien unsinnig, und McGraw befindet sich im Irrtum, wenn er meint, hier eine empirisch prüfbare ..Vorhersage« formuliert zu haben. Andererseits aber ist der weiterhin angesetzte Zusammenhang zwischen wachsender Attraktivität bzw. heuristischer Offenheit, also »intrinsischer« Motivierbarkeit einer Aufgabe und der Behinderung ihrer Bewältigung durch zusätzliche Belohnungen in dieser Form unterbestimmt. Dies nicht etwa deswegen, weil es sich hier nun plötzlich doch um einen empirischen Zusammenhang handeln würde, sondern deswegen, weil, im gleichen BGM-Gesamtkontext, an
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dieser Stelle durch das Konzept der •intrinsischen Motivation« eine zureichende intersubjektive Differenzierung der Prämissen/Intentionen, unter denen es zu den genannten Behinderungen kommen kann, abgeschnitten ist: Hier wird aufgrund der kurzschlüssigen Gleichsetzung von Attraktivität und intrinsischer Motivation nichts über die Gründe gesagt, aus denen eine bestimmte Aufgabe (ohne äußere Belohnung) •vernünftigerweisec auszuführen ist. Demgemäß läßt die dergestalt unklare Struktur des angesetzten BGMs auch keine Inferenzen darüber zu, aus welchen Gründen man sich unter der zusätzlichen Bedingung/Prämisse der äußeren Belohnung von der Aufgabe abwenden bzw. abbringen lassen könnte. Entsprechend unterbestimmt müssen mithin die experimentellen ·Anwendungsfällec solcher unzulänglicher BGMs sein - mit den üblichen unklaren Befunden und anschließender reichlicher Gelegenheit zur •Prämissenspekulation«. Dies läßt sich an der als Beispiel geschilderten Untersuchung von Lepper, Greene und Nisbett verdeutlichen. - Einerseits ist die hier »geprüfte• »Üverjustification•-Hypothese explizit als BGM formuliert, denn ein Handeln mit »Justification« bedeutet »gerechtfertiges«, also gut begründetes Handeln (vgl. Messinger 1971, S.514); demnach ist hier ein Begriindungsmuster angesetzt, durch welches man •zu viele« und sich deswegen wechselseitig behindernde •gute Gründe« für eine Handlung haben kann. Dennoch bleibt auch in diesem Zusammenhang aufgrund der Unterstellung »intrinsischer Motivation« weitgehend unklar, warum die Kinder, da sie für ihre Zeichenaktivitäten einmal eine Belohnung antizipieren konnten, beim nächsten mal vergleichsweise früher damit aufhören also sich nicht weiterhin für das Malen engagieren und die Belohnung als zusätzlichen Bonus mitnehmen. Vielleicht deswegen, weil sie aus dem Umstand, daß sie für das Malen eigens mittels »Belohnung« bestochen worden sind, schließen, daß es dann schon nicht so interessant gewesen sein kann? Oder weil für sie Leistungen, die ,.zensiert« wurden, prinzipiell als abgeschlossen erscheinen? Man könnte sich unter den Bedingungen der Schulsituation sicherlich noch vielfältige weitere Gründe dafür denken (s.u.). Jedenfalls sollte sich auch hieran verdeutlichen, wie durch die verdoppelnde Hypostasierung einer beson· deren »Motivation« die begründungsanalytische Aufklärung eines typischen Handlungszusammenhangs abgeschnitten wird. Auch Brehms ,.Reaktanz«-Konzept steht sein BGM-Charakter deutlich auf die Stirn geschrieben. Indessen ist auch darin eine Reifikation enthalten, die Unterstellung einer genuinen Motivation des Menschen in Richtung auf die Erhaltung oder Rückgewinnung von .Verhaltensspielraumc; und diese Hypostasierung nährt auch hier, indem dadurch hinreichende Klärungen der jeweiligen Intentions- bzw. Prämissenstrukturen abgeschnitten sind, die Illusion einer empirischen Prüfbarkeit des Konzeptes. So wird etwa im Kontext der vorliegenden Untersuchung nicht erwogen, daß man ja durchaus auch gute Gründe haben könnte, trotzdes Gewinns von 10 Cents über dem Verkaufspreis (und dem nach Brehm dadurch eingeschränkten Verhaltensspieraum) die hier angesprochene Brotsone zu kaufen: Etwa deswegen, weil man diese Art Brot iehr gerne ißt, weil man das zu Werbezwecken verteilte Geld trotz des Übereifers der Werbeleute nicht einfach einstecken will, weil man den Umstand, daß hier Psychologen ein Feldexperiment anstellen, durchschaut und diesen wegen der darin liegenden Unterstellung der eigenen Manipulierbarkeil die Resultate etwas verderben will etc.: Nur, wenn man aus den hier ansetzbaren möglichen Begründungszusammenhängen ein bestimmtes Begründungsmuster »herausschneidet« und alle anderen Möglichkeiten ignoriert, kann man zu so etwas wie einer Theorie, z.B. der
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..Reaktanz«, kommen, die ihren Charakter als besondere »Theorie• geradezu aus der Beliebigkeit der Auswahl gerade dieses Begründungszusammenhangs gewinnt.
Aus diesen letzten Darlegungen verdeutlicht sich eine spezifische kritische Funktion der begründungstheoretischen Analyse vorfindlieber Ansätze: Die Identifizierbarkeit solcher Konzepte, die durch die zirkuläre Unterstellung bestimmter Erscheinungsformen als »Ursache ihrer selbst« deren begründungsanalytische Aufklärung abschneiden, indem sie ein Wort an die Stelle psychologischen Verständnisses setzen. Im gegenwärtigen Diskussionszusammenhang haben wir dies am Konzept der (»extrinsischen-intrinsischen«)Motivation aufgewiesen, das sich somit nicht als Konstrukt zur Erklärung psychischer Erscheinungen, sondern als Deckbegriff mit dem Effekt der Verhinderung einer solchen Erklärung erwiesen hat. Der analytische Begriff, durch welchen unserer Auffassung nach im gegenwärtigen Kontext der Deckbegriff der »l.ernmotivation« ersetzt werden muß, ist das Konzept der »Lernbegründungen«, in welchem die Notwendigkeit immer weitergehender Prämissen/bzw. Intentionsaufklärung und -differenzierung impliziert ist. Dies bedeutet (um auch an dieser Stelle einem verbreiteten Mißverständnis entgegenzutreten) keineswegs, daß wir damit den Bezug auf die emotionale Verankerung des Lernens »rationalistisch« suspendiert hätten: Dieser Bezug ist ja mit unserer kategorialen Explikation der Gegründetheit von Handlungs-, also auch Lernintentionen in den subjektiven Lebensinteressen der Individuen von vornherein mitgemeint. Was wir allerdings leugnen, ist, daß mit dem gängigen Konzept der »Motivation« die Bedeutung der Emotionalität für menschliches Lernhandeln adäquat begrifflich faßbar ist. Die Frage, wie unter Einbeziehung unserer Kategorialbestimmungen zum emotional-motivationalen Aspekt des Handeins eine angemessene theoretische Entfaltung des Problems der Lernmotivation im Begründungsdiskurs möglich sein kann, setzt zu ihrer Klärbarkeit indessen noch weitere Zwischenstufen unseres Darstellungsganges voraus und wird deswegen erst später systematisch aufgegriffen.
Bestätigung von Erwartungen als/anstatt ~rstärkung Mit der geschilderten Abhebung des eigentlichen Lernens von der »Ausführung« und der Annahme, daß nicht das Lernen, sondern lediglich die Ausführung durch ..Verstärkungen« bedingt sei, stellte sich bereits für Tolman die Frage, mit welchen Prinzipien man das Zustandekommen von Lernprozessen und -ergebnissen sonst zu erklären habe. In diesem Problemzusammenhang führte er einen Begriff ein, der später geradezu zum Zentralkonzept der kognitiv erweiterten Lerntheorien werden sollte, das Konzept der Erwartung. -
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.Erwartungen« (,.expectationscc) sind nach Talman (etwa 1932, S.71ff) die elementaren Einheiten des Orientierungslernens, in welchen das Tier zu antizipieren lernt, daß angesichts eines Stimulus 5 1 seine Reaktion R 1 zu einem zweiten Stimulus S2 führen wird. Solche Erwartungen als dreigliedrige 5 -R 1-S 2-Verbindungen haben nach Talman eine dem Verstärkungskonzept ~aloge Funktion, wobei hier aber nicht eine von außen gesetzte Belohnung, sondern das Eintreffen der jeweiligen Erwartungen innerhalb der Orientierungsaktivität den Lerneffekt bedingen soll: Wenn die ,.Erwartung«, daß bei Vorliegen von 51 die Orientierungsaktivität R 1 zum Auftauchen von 52 führt, sich erfüllt, wird diese (die Erwartung) erhöht, wenn nicht, abgeschwächt. Die Lernaktivitäten regulieren sich mithin, (wie Tolman, 1932, 5.440, sagt) durch das »Testen« der in den Erwartungen antizipierten ,.Kontingenzen«.l. Krechevsky, der wohl bekannteste Schüler von Talman (der sich später in D. Krech umbenennen ließ) bezeichnete in diesem Zusammenhang die Explorationsaktivitäten von Ratten als Bildung und Testen von »Hypothesen« (1932, vgl. auch Talman & Krechevsky 1933) und kam so (meines Wissens als erster) darauf, kognitive Aktivitäten nach Analogie wissenschaftlicher Verfahren zu konzeptualisieren: eine Vorgehensweise, die später innerhalb der Kognitiven Psychologie zu einer der zentralen Modalitäten der Theorienbildung werden sollte (s.u.). Die bereits bei Tolman antreffbare Unentschiedenheit zwischen einer gänzlichen Ablösung des Verstärkungskonzeptes und seiner Umdeutung bzw. Ergänzung durch das Erwartungskonzept kennzeichnet auch die kognitiv erweiterten SR-Theorien des Lernens nach der kognitiven Wende. So bürgerte sich hier die Lesart ein, daß für das Zustandekommen von klassischen wie instrumentellen Verstärkungseffekten nicht die bloße zeitliche Kontiguität ausreicht, sondern daß darüber hinaus der CS »Information« über das Auftreten des US bzw. die Verhaltenskonsequenz Information über die zukünftigen Effekte des Verhaltens vermitteln muß. Innerhalb der Forschungstradition eines kognitiv liberalisierten Behaviorismus, in welcher Verstärkungsvorgänge unter kognitivistischen Vorzeichen als Prozesse der Informationsübermittlung untersucht werden, haben seit den frühen siebziger Jahren bis heute die Ansätze und Experimente von Rescorla und seinen Mitarbeitern einen wichtigen Stellenwert. Um zu zeigen, wie in diesem Kontext versucht wurde, die bloße Kontiguität vom Informationsgehalt der Verstärker experimentell unterscheidbar zu machen, sei die folgende Untersuchung von Rescoda (1972) mit dem Titel: ,.Informational variables in Pavlovian conditioning« etwas genauer dargestellt: Rescorla geht in diesem Experiment der Frage nach, ob die bloße Kontiguität (zeitliche Nähe) des es zum US ausreicht, um den klassischen Konditionierungseffekt herbeizuführen, oder ob der es als (zunächst) neutraler Reiz •reliable Information• über das
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Auftreten des US enthalten muß, wenn es zur Konditionierung kommen soll. Der Grad der relibalen Information wird dabei operational definiert als Höhe der Korrelation des Auftretens des (späteren) es und des US, anders ausgedrückt, der bedingten Wahrscheinlichkeit bzw. des Vorhersagewerts, mit der I dem aufgrund des Auftretens des es das Auftreten des US antizipiert werden kann. Um diese Fragestellung experimentell realisieren zu können, müssen die Kontiguität zwischen es und US einerseits und der so gefaßte Informationsgehalt des es für das Auftreten des US andererseits in ihrer Verstärkungswirkung voneinander unterscheidbar gemacht werden. Dazu ist aber die übliche Prozedur des Klassischen K.onditionierens, bei der der es immer vom US gefolgt ist, ungeeignet, da hier die beiden Faktoren sich notwendigerweise zusammen verändern. Dies ist aber anders, wenn man nicht durehgehend, sondern nur •intermittierend• verstärkt, d.h. den US nicht jedesmal, sondern nur mit einer bestimmten Häufigkeit zusammen mit dem neutralen Reiz darbietet. Hier kann man nämlich die Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens von US und es und den Vorhersagewert des es für das Auftreten des jeweils nächsten US unabhängig voneinander variieren. So ist der genannte Vorhersagewen gleich Null, wenn die intermittierende Darbietung des US lediglich zufällig auf die Serie der es verteilt wird: Hier erhält z.B. der Hund, wenn zusammen mit der Glocke der Futtergeruch auftaucht, keinerlei Information darüber, ob- wenn es das nächste mal klingelt- ihm wieder Futter(pulver) vorgesetzt wird oder nicht. Entsprechend wächst der so gefaßte Informationsgehalt in dem Grade, wie zwischen dem Auftreten eines bestimmten und des jeweils nächsten US in der Gesamtserie ein systematischer, überzufälliger Zusammenhang hergestellt ist. Entscheidend bei dieser An von Versuchsanordnung ist, daß hier bei gleicher Anzahl von Verstärkungen der Informationsgehalt des es für das Auftreten des US von null in Richtung auf positive (und negative) Vorhersagewerte variiert werden kann. Sofern nur die Häufigkeit der jeweils einzelnen Koppelungen zwischen es und US, also die Kontiguität, den Konditionierungseffekt herbeiführt, müßte die konditionierte Reaktion hier in jedem Falle mit gleicher Stärke auftreten. Sofern hingegen der Konditionierungseffekt nur aufgrund des Informationsgehalts des es für das Auftreten des jeweils nächsten US in der Gesamtserie zustandekommt, dürfte allein im Falle des positiven Vorhersagewerts eine Konditionierung resultieren, bei einem Informationsgehalt von Null dagegen dürftees-trotzgleicher AnZIIhl von Koppelungen - zu keiner klassischen Konditionierung kommen. Genau dieses Verhältnis hat sich nun im Experiment von Rescorla ergeben. Das würde aber bedeuten, daß eine Klassische Konditionierung nur unter den traditionellen Bedingungen der Kontiguität zwischen es und us nicht zustandekommt, sondern daß hier eine irgendwie geartete kognitive Repräsentation der bedingten Wahrscheinlichkeit, mit der innerhalb der gesamten Reizserie aufgrund eines es das Auftauchen des us »Vorhersagbar« ist, angenommen werden muß. (Ein Überblick über seine einschlägigen Untersuchungen zum KK findet sich bei Rescorla 1980; vgl. auch Rescorla & Wagner 1972 sowie die Überblicksdarstellungen zu dieser An »kognitiver« SR.:rheorien von Dickinsan 1989 und Amsel1990.)
Rescorla selbst hat sich - soweit ich sehe -(vielleicht zur Vermeidung des darin liegenden Anthropomorphismus) gescheut, die »Information« des CS für das Auftreten des US bzw. einer bestimmten Verhaltenskonsequenz für weitere Verhaltenskonsequenzen mit dem hier naheliegenden Konzept der »Erwartung« ZU konkretisieren (wieweit kann beim Auftauchen des es das
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anschließende Auftauchen des US »erwartet« werden bzw. wieweit sind angesichts einer bestimmten Verhaltenskonsequenz als instrumenteller Verstärkung weitere gleichartige Verhaltenskonsequenzen zu »erwarten•). Diese ter· minologische Zurückhaltung wurde jedoch naturgemäß in dem Maße aufgegeben, wie das tierexperimentelle Untersuchungsschema zugunsten humanpsychologischer Anordnungen zurücktrat. So gesehen liegt etwa Bolles (1972) durchaus im Trend, wenn er in die SR-Theorien des Lernens explizit das ,.Erwartungs«-Konzept einführen will und dabei das Klassische Konditionieren als »Erwartung einer Situations-Folge-Kontingenz« und das Instrumentelle Konditionieren als »Erwartung einer Verhaltens-Verhaltensfolge-Kontingenz« umschreibt. Typisch in diesem Kontext ist es auch, wenn Bolles dabei den ..Erwartungs«-Begriff unter den Vorzeichen der kognitiven Wende als
,.Speicherung von Information aufgrund des Lernens von Umweltkontingenzen« spezifiziert. In der Folge findet sich geradezu eine Inflation des Erwartungs-Konzeptes. Dabei sind die zwei »Erwartungs«-Formen, die sich aus der Parallelisierung mit dem Klassischen und Instrumentellen Konditionieren ergeben, manchmal als Ersatz, manchmal als nähere Bestimmung des ..Verstärkungsc-Konzeptes, häufig anzutreffen (so unterscheidet etwa Bandura zwischen »Reiz-Reiz-« und ..Verhaltens-Reiz-Erwartungen«). Darüber hinaus werden aber mannigfache weitere Erwartungsformen eingeführt, wie »Erfolgserwartungen« aufgrund der »Erfolgswahrscheinlichkeit« (Atkinson), •Kontrollerwartungen« (Seligman), »Ergebnis-« und »Wirksamkeitserwartungen« (Bandura) etc. (vgl. dazu etwa den Überblick bei Mielke 1984, S.40ff). - Ich komme später noch darauf zurück. Bis heute besonders intensiv diskutiert ist eine bestimmte Variante von »Erwartungstheorien«, in welcher der •Wert« eines angestrebten Gegenstandes als weitere Variable hinzugenommen wird und bestimmte einschlägige ..Vorhersagen« aus dem Produkt von •Erwartung« und •Wert« gewinnbar sein sollen. Eine besonders folgenreiche motivationspsychologische Version derartiger »Erwartungs-mal-Wert-Theorien« ist das »Risikowahl-Modell« von Atkinson (1957, 1964). Dieses Modell (in seiner ursprünglichen Form) will durch Erfassung der •Motivierungsstärke« die Wahl von Aufgaben, also Handlungstendenz zur Aufgabenbewältigung, vorhersagen. Dazu werden von Atkinson - in einer Aufdifferenzierung des Lewinsehen Konzeptes der ..Valenz«, d.h. d~ ,.Aufforderungscharakters« von Umweltgegebenheiten - folgende situa· t've Motivierungsbestimmungen unterschieden: die subjektive ,.Erfolgswahrscheinlichkeit« der Aufgabenlösung als »Erwartungs«-Variable und der »Anreiz« der Aufgabe als •Werte-Variable. Zu diesen Situationsvariablen als Bestimmungen der Motivierungsstärke kommen nach Atkinson zwei überdauerndpersonabhängige Variablen, nämlich das Motiv, Erfolg zu erzielen und Mißerfolg zu vermeiden. Diese situativen und personabhängigen Variablen wurden
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von Atkinson in eine Formel gefaßt, durch welche sie additiv bzw. multiplikativ gegeneinander gewichtet werden. Dabei wird u.a. die Abhängigkeit der Motivierungsstärke von der Erfolgswahrscheinlichkeit (unter Absehung von den personalen Faktoren) in der Formel als umgekehrte U-Kurve gefaßt: Moti vierungsstärke = Erfolgswahrscheinlichkeit X (1 - Erfolgswahrscheinlichkeit). Bei zunehmender Erfolgswahrscheinlichkeit nimmt demnach zunächst die Motivierungsstärke zu, bis zu einem Kulminationspunkt, hinter dem sie wieder abnimmt. Am meisten •motivierend« wären danach Aufgaben mit mittlerer subjektiver Erfolgswahrscheinlichkeit, d.h. mittlerem wahrgenommenen Schwierigkeitsgrad. Die Variable der Stärke des personalen Erfolgs- bzw. Mißerfolgsmotivs ist weiterhin so in die Formel eingebracht, daß von der Stärke des persönlichen Motivs die Steilheit der benannten umgekehrten U-Kurve abhängt: Nur bei maximaler personaler Motivstärke führt der mittlere Schwierigkeitsgrad der Aufgabe zu maximaler Motivierungsstärke, bei abnehmender Motivstärke dagegen flacht sich die V-Kurve immer mehr ab etc. Atkinsons Risikowahl-Modell trug entscheidend zur Theoretisierung der »Leistungsmotivations«-Forschung bei, wie sie von McClelland (seit 1953) inauguriert und bei uns vor allem von Heckhausen (etwa 1963, Übersicht 1989, Kap. 8) vertreten wurde, und kann als ·die« Theorie der Leistungsmotivation betrachtet werden. Der Grad der erlebten Leistung wird in dieser Forschungstradition als Resultat der Selbstbewertung von Handlungsergebnissen an einem externen Gütemaßstab und die Stärke der Leistungsmotivation als Grad der Antizipation eines durch Vergleich mit diesem Maßstab enstehenden Erfolgsbzw. Mißerfolgserlebnisses (als Erwartungs-mal-Wert-Variable) verstanden. Hinzu kommt auch hier das Leistungsmotiv als Persönlichkeitsvariable, näher bestimmt als •Hoffnung auf Erfolg« bzw. »Furcht vor Mißerfolge. Dieses Konzept wurde (auch angesichts der üblichen widersprüchlichen Resultate von Versuchen seiner empirischen Realisierung) in der Folge auf mannigfache Weise differenziert und verändert. Dies geschah etwa durch die selbständige quantitative Erfassung des Erfolgs- und des Mißerfolgsmotivs (Heckhausen bestimmte von da aus den Wert, der von der Stärke des Erfolgsmotivs übrigbleibt, wenn die Stärke des Mißerfolgsmotivs davon subtrahiert wird, als »Nettohoffnung«. Weiterhin führte man (in für die Trendgeschichte traditioneller theoretischer Konzepte in der Psychologie typischer Weise) sukzessiv zusätzliche Variable ein, die über die von Aktinsan berücksichtigten Dimensionen hinaus die Stärke der Leistungsmotivation bestimmen sollen (s.u.). Eine andere, genuin lernpsychologisch gemeinte Variante der Erwartungsmal-Wert-Theorien wurde von Rotter als »soziale Lerntheorie« entwickelt. Damit hatte er zunächst (1954) lediglich vor, für die Klinische Psychologie neue
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theoretische Grundlagen zu schaffen, wobei diese Theori: ab~r später ( 1972) verallgemeinert und von ~otter (1975, 197~) selbst aus~ruckltch als ?er Vereh bezeichnet wurde, dte SR-psychologtschen Verstarkungstheonen und ~e kognitiven Theorien zu integrieren. Außerdem sollte dabei - anders als in bloßen Persönlichkeitstheorien - die Interaktion des Individums, insbesondere mit den sozial relevanten Aspekten seiner Umgebung, berücksichtigt werden. Der »Wert« wird von Rotter SR-psychologisch als Verstärkungswert definiert, der als das Ausmaß bestimmt ist, in dem ein bestimmter Verstärker vom Individuum gegenüber anderen Verstärkern bevorzugt wird. »Erwartung« als »kognitive« Variable ist für Rotter (1952) die subjektive Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Verstärkung als Folge eines spezifischen Verhaltens auftreten wird, was Bolles' »Erwartung der Verhaltens-Verhaltensfolge-Kontingenz« entspricht. (Später, 1972, führte Rotter noch eine weitere Art von Erwartungen, solche hinsichtlich generalisierter Ereignisklassen, ein und kam in diesem Zusammenhang zu der berühmten Unterscheidung von Erwartungen über die interne vs. externe Kontrolle des Verhaltens, was ich hier noch beiseitelasse und in der Folge innerhalb eines anderen Problemzusammenhangs diskutiere). Aus den Faktoren des Nerstärkungswerts« und der »Erwartung« konstruierte Rescorla nun (unter Einbeziehung von situationalen Faktoren) eine Formel, aus der das »Verhaltenspotential« als Wahrscheinlichkeit der Ausführung eines bestimmten Verhaltens in der gegebenen Situation »vorhersagbar« sein soll. Diese Formel (die in der Struktur an die Formeln in Hulls »System« erinnert) besagt grob gesprochen: Das Verhaltenspotential in einer bestimmten Situation hängt einmal davon ab, wie hoch die Erwartung ist, daß ein bestimmter Verstärker in einer bestimmten Situation als Folge des eigenen Verhaltens auftritt, und zum anderen davon, wie groß der Verstärkungswert ist, den diese Verhaltensfolge für die Person hat. Dabei setzt Rotter voraus, daß die Variablen der »Erwartung« und des »Wertes« unabhängig voneinander sind, und faßt im übrigen deren Verhältnis nicht streng als Produkt (»Erwartung X Wert«), sondern als variables Verhältnis (•Erwartung & Wert«), das jeweils empirisch genauer zu bestimmen ist. In der durch die Rottersche Theorie eröffneten Tradition einschlägiger experimenteller Untersuchungen wurde z.B. die These der Unabhängigkeit von .. Erwartung« und ,.Wert• "überprüft« und vielfältig in Zweifel gezogen. Weiterhin ging es um die genaue Fassung des Verhältnisses zwischen diesen beiden Variablen, wobei man ebenfalls zu den üblichen widersprüchlichen Befunden kam (vgl. etwa den Kurzüberblick von Grabitz, 1985). Darüber hinaus wurde bis in die neuere Zeit eine Vielzahl von Abänderungen und Ergänzungen der Rotterschen Theorie vorgelegt und experimentell "geprüft«. Ein Überblick darüber findet sich etwa bei Krampen & Wünsche (1985), die selbst ein ..differenziertes Erwartungs-Wert-Modelle entwickelt und damit empirische ..Vorhersagen• über verschiedene Aspekte der Bereitschaft zu politischer Partizipation versucht haben.
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Um einen Einsatzpunkt für die nun wiederum anstehende begründungs.) theoretische Diskussion des Erwartungskonzeptes zu finden, beziehe ich mich auf unsere früheren Versuche, die in den SR;rheorien enthaltenen Begründungsmuster an Beispielen zu veranschaulichen. Dabei wird deutlich, daß in den einschlägigen Schilderungen die Kennzeichnung der jeweiligen Konditionierungseffekte in Termini von »Erwartungen« der jeweils Betroffenen wenn nicht tatsächlich ausformuliert ist - so doch inhaltlich unmittelbar naheliegt: Steiners anderthalbjähriges Kind schrie und strampelte beim Anblick des »Weißen Kittelscc, weil es daraufhin eine Wiederholung der schmerzhaften Prozedur des Tränenkanal-Stechens »erwartete«. Lefrancois' zweiter Angler konnte, nachdem er bisher nur gelegentlich einen Fisch gefangen hatte, beim Ausbleiben jedes Fanges eher »erwarten•, daß doch wieder ein Fisch anbeißt, als der erste bisher permanent erfolgreiche Angler. Steiners »Störefriedcc Michael kann, da die Lehrerin ihn plötzlich mit seinen Störaktionen leerlaufen läßt, allmählich immer weniger »erwarten•, wiederum ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Dies alles deutet darauf hin, daß mit der geschilderten Reformulierung des klassischen bzw. instrumentellen Konditionierens etwa als »Reiz-Reiz-ce bzw. »Reiz-Reizfolge-Erwartungcc o.ä. lediglich jene Begründungsmuster explizit terminologisiert und damit (obzwar unreflektiert) in der Theorie anerkannt worden sind, die faktisch »schon immer« in den jeweiligen Konditionierungsschemata enthalten waren und aus denen - wie dargestellt - allein verständlich wird, daß bzw. unter welchen U rnständen Versuchspersonen sich den Verstärkungsgesetzen gemäß verhalten. Indem somit im Grundkonzept der »Erwartung• der BGM-Charakter der jeweiligen theoretischen Annahmen in höherem Grade als in den orthodoxen Lerntheorien offengelegt ist, verschärft sich aber auch der Widerspruch, der daraus entsteht, daß dabei trotz aller kognitiver Erweiterungen der SR-psychologische Theorierahmen letztlich unangetastet bleibt. Dies führt zu einer charakteristischen Zweideutigkeit und Verfremdung des im Phänomen der »Erwartungen« liegenden Subjektbezuges: Einerseits ist mit der Einführung des Erwartungs-Konzeptes prinzipiell eine gewisse Relativierung des SR-psychologischen Außendeterminismus verbunden, indem hier dem Subjekt eine spezifische Möglichkeit der Einschätzung von »Umweltkontingenzen• eingeräumt wird, die der Annahme von deren mechanischer Wirksamkeit auf das Verhalten entgegenzustehen scheint. In der Tat werden darin häufig kognitive Liberalisierungen der SR-theoretischen Konditionierungsschemata gesehen und wird dabei etwa vorgebracht, daß »Reize« nicht als solche wirken, sondern in der Art, wie das Individuum sie einschätzt und seine Schluß. folgerungen daraus zieht. So stellt etwa Steiner (1988) bei der Diskussion einer seiner früher benannten »Szenarien« fest, .. daß es nicht der Reiz als eine physikalische Gegebenheit (etwa ein visuell oder akustisch wahrgenommenes
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Muster) ist, der ein entsrrechendes Verhalten ... auslöst.• sonder~ ~aß no~h weitere, gar nich~ unmtttelb~r beobachtba~e Informatt~ne? mt~ tm_ Sptel 'nd die einen Emfluß auf dte Art und Wetse haben, wJe eme Sttuatton ... :.ah~nommen und wie dann darauf reagiert wird. Mit anderen Worten, der Reiz als Informationsträger wird interpretiert« (S.27}. Andererseits muß man aber im Rahmen des offiziellen SR-psychologischen Rahmenschemas angesichtsderartiger »kognitiver« Unbestimmtheitsbereiche mit den eigenen Ansprüchen der möglichst exakten Vorhersage von Verhaltensweisen aus den Reizbedingungen in Konflikt geraten. Daraus resultiert dann der Versuch, die zugestandenen kognitiven Prozesse doch wieder möglichst weitgehend außendeterministisch einzuschränken, d.h. hier: »Erwartung« so näher zu bestimmen und zu operationalisieren, daß diese in ihrer Ausprägung und in ihren Wirkungen objektiv »vorhersagbar« wird. Seinen deutlichsten Ausdruck findet diese Ambivalenz in den dargestellten, sehr verbreiteten Versuchen, den »Erwartungs«-Begriff wahrscheinlichkeitstheoretisch zu fassen: Hier wird die alltagssprachliche Redeweise: Wenn ich etwas erwarte, dann halte ich sein Eintreffen für nicht sicher, sondern nur mehr oder weniger »wahrscheinlich«, unversehens in eine mathematische Bestimmung verkehrt: »Erwartung« ist ausdrückbar in Termini der Ereigniswahrscheinlichkeit (so bei Bolles und Rotter} bzw. der relativen Häufigkeit (bei Rescorla) etc. In Konsequenz dieser Mathematisierung des Erwartungskonzeptes muß man versuchen, dieses objektiv, d.h. unter Ausklammerung des Subjekts der Erwartung, zu definieren: Dies schon bei Tolman ( 1932), der (zur Bekräftigung seines behavioristischen Bekenntnisses) »Erwartung« nicht »subjektiv«, sondern lediglich »explanativ« verstanden wissen wollte. Weiterhin hob nach der kognitiven Wende Bolles (1972) hervor, »Erwartung« sei von ihm- da als •Speicherung von Information aufgrund des Lernens von Umwelt-Kontingenzen« bestimmt- »objektiv« definiert. Entsprechende Bestimmungen finden sich auch bei Rotter etc .. Da der Erwartungs-Begriff als solcher im Begründungsdiskurs steht und damit ein Subjekt impliziert, das etwas erwartet, würden derartige Versuche der Objektivierung des Erwartungskonzeptes, konsequent durchgehalten, nichts anderes als dessen Eliminierung bedeuten, indem hier allein direkte, in wahrscheinlichkeitstheoretischen Termini ausdrückbare »Vorhersagen« vom »Reiz« auf die »Reaktion« übrigbleiben (s.u.). Die damit aufgewiesenen Widersprüchlichkeiten sind naturgemäß auch nicht dadurch zu vermeiden, daß man - wie in den »Erwartungs-mal-WertTheorien« -zur Erwartungsdimension eine weitere, eben die »Wert«-Dimension, hinzunimmt. Zunächst muß man sich klar machen, daß es sich auch hierbei um Begründungsmuster handelt: Der »implikative« bzw. »inferentielle« Charakter dieser Theorien ergibt sich keineswegs erst aus der (häufig
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterprrttation lemtheorrttischer Ansätze
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diskutierten) möglichen begrifflichen Abhängigkeit der Wert- von der Er . wartungsdimension (oder umgekehrt), sondern allein schon aus dem geschil.: derten BGM-Charakter der Theorien, wie er im Erwartungs-Konzept akzen. tuiert ist. So ist Atkinsons Risikowahl-Modell- wovon man sich leicht überzeugen kann- in seinen situativen Dimensionen die ,.formelhafte« Verkleidung eines Begründungsmusters über die Prämissen, unter denen die Wahl einer bestimmten Aufgabe •vernünftig« sein könnte. Eine der Hauptaussagen des Modells, die umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen Motivierungsstärke und erlebter Aufgabenschwierigkeit, läßt sich entsprechend etwa so um. schreiben: Wenn eine Aufgabe •zu leicht« bzw. ,.zu schwer« ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, sich mit ihr zu befassen, im ersten Falle, weil es sich nicht lohnt, im zweiten Falle, weil es zu nichts führt (wobei die Prämissen, unter denen dies ein in sich schlüssiges BGM darstellt, natürlich spezifiziert werden müssen). Ebenso ist die in der erwähnten Rotter'schen Formel enthaltene Aussage, jemand habe eine umso stärkere Bereitschaft, zur Erreichung eines bestimmten Ziels aktiv zu werden, je sicherer er ist, daß das Ziel für ihn erreichbar ist, und je mehr ihm die ZieHerreichung bedeutet, selbstredend mitgemeint, daß er •vernünftigerweise« bzw. •mit guten Gründen« diese Bereitschaft habe: Nur so ist überhaupt verständlich, warum Rotter gerade diesen und nicht einen beliebigen anderen Zusammenhang formuliert hat. Dies verdeutlicht sich noch durch die •Gegenprobe«: Jemand strebt besonders intensiv ein Ziel an, das er für nicht erreichbar hält und dessen Erreichung ihm nichts bedeutet. Da dies •unvernünftig« bzw. •unverständliche wäre, würde niemand ein entsprechendes Resultat als empirische Gegenevidenz gegen Rotters •Gesetz« betrachten, sondern vielmehr herauszufinden suchen, warum (in unserer Sprache) die im •Gesetz« enthaltenen Prämissen für •vernünftiges« Handeln in diesem Falle offensichtlich nicht realisiert sind. Dies heißt aber, daß auch positive experimentelle Befunde nicht im •Gesetz« formulierte Vorhersagen empirisch bestätigen, sondern bestenfalls einen Anwendungsfall oder ein »Beispiel« für •vernünftiges« Verhalten bei Vorliegen der darin implizierten Prämissen und Intentionen darstellen. Dementsprechend stehen die erwähnten weiteren Theorienbildungen als Kritik, Präzisierung, Differenzierung der Rotterschen Theorie keineswegs (wie man glaubt) nach dem Kriterium der empirischen Gültigkeit in Konkurrenz mit dieser oder untereinander: Vielmehr handelt es sich hier (wie früher unter allgemeineren Gesichtspunkten aufgewiesen, vgl. S.37f) lediglich um unterschiedliche Begründungsmuster, in denen verschiedene Handlungsprämissen und -intentionen angesetzt sind, wobei die dazu beigebrachten empirischen Befunde, sofern positiv, Anwendungsfälle oder Beispiele dafür darstellen: Alle theoretischen Versionen stehen hier also aufgrund ihres BGM-Charakters
gleichberechtigt und empirisch unentscheidbar nebeneinander. So könnte rnan sich prinzipiell der globalen Einordnung von Vollmer (1982) anschließen, der als Resultat seiner Analyse des implikativen Charakters des •expectancyvalue models• feststellt: ·The expectancy-value model in psychology is therefore probably best understood as a special version of a general hermeneutical model of explanation called the practical syllogism• (5.97). Aus dem Selbstmißverständnis, es handle sich bei den Erwartung-malWert-Modellen um empirische Gesetzesaussagen, ergibt sich nun aber, daß ihr möglicher Erklärungswert im Sinne der Explikation typischer Begründungsmuster menschlichen Handeins bei eingeschränkten Begründungprämissen durch die Art ihrer Fassung in den dargestellten Formeln weitgehend wieder zunichte gemacht wird: Hier sind bestimmte Dimensionen voneinander isoliert und auf spekulative Weise in einen mathematischen Funktionszusammenhang gebracht. Dadurch wird die Illusion genährt, es handle sich um universelle quantitative Gesetzmäßigkeiten, und in dem (notwendigerweise letztlich vergeblichen) Versuch, experimentelle Daten zu gewinnen, die den hypostasierten Kurvenverläufen entsprechen, wird wiederum das Weiterfragen nach der spezifischen Prämissenstruktur der zugrundeliegenden typischen BGMs unterbunden. Aus den allfälligen Abweichungen zwischen den vermeintlichen theoretischen Vorhersagen und den Daten wird nicht die Notwendigkeit einer Spezifizierung und Differenzierung der Prämissen, unter denen eine Versuchsanordnung als •Beispiel« für das Begründungsmuster taugt, abgeleitet. Statt dessen werden immer weitere, als universell empirisch gültig gedachte Dimensionen in die Formeln der Modelle aufgenommen, womit durch die pseudoquantitative Verfremdung menschlicher Handlungsgründe der Weg intersubjektiver Klärung ihrer typischen Prämissen- und Intentionsstrukturen versperrt ist. Der mögliche Erkenntniswert solcher Modelle als bruchstückhafter Ansätze zu typischen Begründungsfiguren menschlichen Handeins unter spezifischen Prämissen wäre mithin gegen das in ihnen vergegenständlichte »mathematische« Selbstmißverständnis erst begründungstheoretisch zu rekonstruieren. Ein Problem, das noch gesondert zu behandeln wäre, manifestiert sich in der dargestellten Einführung des Erfolgs- bzw. Mißerfolgsmotivs als »Persönlichkeitsvariable« in das Risikowahl-Modell Atkinsons und weiterhin die allgemeine Theorie der Leistungsmotivation. Ein entsprechender Ansatz findet sich auch in Rottees Erwartung-mal-Wert-Theorie, als Einführung der Persönlichkeitsvariabien »interne-externe Kontrollerwartungen•. Da wir die Darstellung dieses Konzeptes indessen (wie gesagt) aus darstellungssystematischen Gründen auf später verschoben haben, soll auch die begründungsanalytische Kritik der Einführung von Persönlichkeitsvariablen erst dort im Zusammenhang entfaltet werden.
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Der andere Mensch als Lernagens: »Lernen am Modell« Eine weitere Ebene der kognitiven Ausgestaltung SR-psychologischer Lernkonzepte ergibt sich aus der Berücksichtigung des Umstandes, daß man nicht nur aufgrund eigener Erfahrungen, sondern auch in Verwertung der Erfahrungen anderer Individuen lernen kann. Eine Frühform dieser Sichterweiterung findet sich in der - noch orthodox SR-theoretischen - Konzeption von Miller & Dollard ( 1941) zum ,.Jmitationslernen«. Einen ersten Schritt in Richtung auf kognitive Erweiterung der SR.:fheorie geht ein Ansatz des »Sozialen Lernens«, in dessen Mittelpunkt das Konzept des »vicarious reinforcement«, also der »Stellvertretenden Verstärkung« steht. Ein solcher stell vertretender Verstärkungseffekt wurde etwa von Berger ( 1962) im Schema das »klassischen Konditionierens« experimentell demonstriert. Seine Versuchsanordnung (mit Menschen) war folgendermaßen beschaffen: Der jeweilige Beobachter sah mit an, wie das Modell - eine vermeintlich andere Vp, die in Wirklichkeit vom Experimentator instruiert worden war- (wie aus ihrem Verhalten angenommen werden mußte) elektrische Schocks erhielt. Die Beobachter zeigten beim Anblick des scheinbar geschockten Modells mittels GSR (galvanischer Hautreaktion) festgestellte emotionale Reaktionen, was Berger als stellvertretende Verstärkung interpretierte. Das •Schocke-Verhalten des Modells wurde als US und die emotionale Reaktion des Beobachters als UER (unkonditionierte emotionale Reaktion) aufgefaßt. Kurz vor dem »Schockverhalten« des Modells bot Berger den Beobachtern einen neutralen Stimulus, Abdunkeln des Lichtes, dar, der nach mehreren Durchgängen schließlich allein die emotionale Reaktion hervorrief, die somit zur konditionierten emotionalen Reaktion (CER) wurde.
Die Spezifik des Konzeptes der »Stellvertretenden Verstärkung« gegenüber dem Imitationskonzept von Miller & Dollard besteht in folgendem: Während Miller & Dollard im Sinne der traditionellen SR-psychologischen Auffassungen davon ausgingen, daß Lernprozesse an die Verstärkung von Verhaltensweisen des Lernenden gebunden sind, also Imitation nur qua Verstärkung des imitierenden Beobachter-Verhaltens gelernt werden kann, ist hier vorausgesetzt, daß die Übernahme des Modell-Verhaltens durch den Beobachter allein schon dadurch zustandekommt, daß der Beobachter wahrnimmt, wie das Modell verstärkt wird, also ohne daß der Beobachter selbst für sein imitatives Verhalten irgendeine Verstärkung erhält. Dabei wird die Imitation durch »Stellvertretende Verstärkung« von Berger nicht lediglich als ein Sonderfall neben der Imitation aufgrund der Verstärkung des imitierenden Verhaltens, sondern als Modell des sozialen Lernens überhaupt aufgefaßt, somit kritisch gegen den älteren Imitationsansatz gewendet. Einen Schritt weiter in die gleiche Richtung (der kognitiven Erweiterung SR-theoretischer Vorstellungen) geht nun Bandura mit seinem Konzept des ..observationallearning«, »beobachtenden Lernens«, das im Mittelpunkt seiner
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.sozial-kognitiven Lerntheorie« in ihrer ersten Ausarbeitungsstufe steht (vgl. etwa Bandura 1976; die zweite Ausarbeitungsstufe um das Konzept der ,.Selbstwirksamkeit« wird von mir später dargestellt}. - Bandura unterscheidet (wie schon gesagt} im Anschluß an Talman zwischen dem Prozeß des Erwerbs der Bereitschaft zur sozialen Verhaltensangleichung einerseits und dem Prozeß der Aktualisierung dieser Bereitschaft in manifestem Verhalten andererseits. Beide Prozesse können nach Bandura zeitlich mehr oder weniger weit auseinanderliegen und sind in ihrer Eigenart von verschiedenartigen Bedingungen abhängig. Der Prozeß des Erwerbs der Bereitschaft zur sozialen Verhaltensangleichung wird dabei als eine Folge von verborgenen, •covert«, Wahrnehmungsresponses auf das Modell-Verhalten verstanden. Deswegen redet Berger hier auch nicht von »Imitation«, sondern eben von »beobachtendem Lernen«. Dabei ist nach Bandura der stellvertretende Verstärkungswert der vom Beobachter wahrgenommenen Konsequenzen des Modell-Verhaltens eine mögliche, aber keine notwendige Bedingung der Verhaltensangleichung. Vielmehr reiche die bloße Kontiguität zwischen den verschiedenen Elementen des Modell-Verhaltens (bzw. deren kognitive Verarbeitung, s.u.} für den Erwerb der Bereitschaft zur Verhaltensangleichung aus. Der Prozeß der Aktualisierung der genannten Verhaltensbereitschaft zu manifestem Verhalten des Beobachters ist dagegen nach Bandura von den jeweils besonderen Verstärkungsbedingungen, unter denen der Beobachter steht, etwa auch von dem instrumentellen Verstärkungswert der auf dem Wege über das beobachtende Lernen ermöglichten Verhaltensweisen, abhängig. - Bandura und seine Mitarbeiter führten - wie üblich - zur empirischen Konkretisierung dieser theoretischen Konzeption eine Reihe von Experimenten durch, von denen eine typische Untersuchung (Bandura 1965} als Beispiel geschildert werden soll. In diesem Experiment wurden drei Versuchsgruppen hergestellt. In der ersten Gruppe sahen die Beobachter- 66 Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren- einen Fernsehfilm, in welchem ein erwachsenes Modell zunächst aggresives Verhalten produzierte und später für dieses Verhalten großzügig belohnt wurde. In der zweiten Gruppe wurde ein Film dargeboten, der mit dem ersten Film identisch war, nur daß hier das Modell im Anschluß an das aggressive Verhalten bestraft wurde. In der dritten Gruppe - der Kontrollgruppe -wurde den Kindern nur der erste Teil des Films gezeigt. Es folgte also weder eine Belohnung noch eine Bestrafung des Modells. Das dargebotene aggressive Verhalten bestand in einer recht komplizierten Folge von Schlägen, Beschimpfungen etc., die das Modell einer großen Puppe zufügte, die ihm »im Wege stand«. In dem Film mit der Belohnungsbedingung wurde dem Modell von einem ~iteren Erwachsenen im Anschluß an das aggressive Verhalten eine große Menge von für ~mder attraktiven Getränken, Süßigkeiten etc. überreicht, wobei das Modell- während es dJe Nahrung eifrig konsumierte - als »Strong champion«, der es der Puppe aber richtig
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gegeben habe, gefeiert wurde. In dem Film mit der Bestrafungsbedingung wurde von dem zweiten Erwachsenen (im Film) das Modell wegen seiner Aggression gegenüber der Puppe so lange heftig gescholten, bis es sich ängstlich zurückzog. In einem zweiten Versuchsabschnitt wurden alle Kinder - jeweils einzeln - in einen • Überraschungsspielraume geführt, in welchem sich- neben einer großen Menge anderen Spielzeugs - auch die Puppe aus dem Film sowie die Gegenstände, mit denen die Puppe dort vom Modell traktiert worden war, befanden. Das Verhalten der Kinder wurde von zwei Beurteilern hinter einer Einwegscheibe nach einem Schema, das quantitative Abstufungen ermöglichte, registriert. Im dritten Versuchsabschnitt wurden den Kindern - ohne daß ihnen die Filme noch einmal gezeigt worden waren - attraktive Getränke und Süßigkeiten dafür in Aussicht gestellt, daß sie möglichst viele Einzelheiten des vorher im Film beobachteten Modellverhaltens in ihrem eigenen Verhalten reproduzierten. Jedes mal, nachdem eine richtige Reaktion erfolgt war, erhielt das jeweilige Kind einen Teil der Süßigkeiten bzw. Getränke. Bandura kam zunächst zu dem Befund, daß sich die Kinder in den drei Versuchsgruppen auf die erwartete Weise hinsichtlich ihrer Imitationsraten unterschieden. Kinder, die den Film mit der Belohnungsbedingung gesehen hatten, zeigten gegenüber der Kontrollgruppe höhere Imitationsraten, die Kinder, die den Film mit der Bestrafungsbedingung gesehen hatten, niedrigere Imitationsraten als die Kontrollgruppe. Im dritten Versuchsabschnitt, in dem die möglichst vollständige Reproduktion des Modell-Verhaltens durch die Kinder belohnt worden war, traten jedoch hinsichtlich der Imitationsraten zwischen den drei Gruppen keine Unterschiede mehr auf. Dieses letzte Resultat wurde von Bandura als besonders bedeutsam betrachtet. Es schloß daraus, daß die wahrgenommenen Belohnungen bzw. Bestrafungen des Modells also •stellvertretenden Verstärkungen• - nicht den Erwerb der vorgängigen aggressiven Modell-Verhaltensweisen, sondern lediglich die Ausführungs-Responses in der ersten, unbelohnten Imitationssituation beeinflußt haben. Nur so sei erklärlich, daß durch die spätere Belohnung einer möglichst vollständigen Reproduktion der Modell-Aggressionen weitere Aggressions-Items reproduzierbar wurden und die Wirkungsunterschiede der verschiedneo stellvertretenden Verstärkungen verschwanden. Die lernende Übernahme der Verhaltensweisen des Modells ist demnach laut Berger als ein verborgener, •mediativer• Prozeß unabhängig von der stellvertretenden Verstärkung zu betrachten: Die entsprechenden Verhaltensmöglichkeiten müßten in allen drei Versuchsgruppen sozusagen •bereitgelegen• haben, da es ja möglich war, sie durch Belohnung der Beobachter zu aktualisieren.
Wie ersichtlich, ist es die von uns früher diskutierte Differenzierung zwischen eigentlichem •lernen• und •Ausführung«, durch welche Bandura quasi die Leerstelle innerhalb der SR-psychologischen Begrifflichkeit fand, in die er seine Vorstellung der Möglichkeit unverstärkten Lernens einfügen konnte. Dabei wurde also- indem Bandura die Annahme der Notwendigkeit von Verstärkung als Vorbedingung für das Ausführen des durch Beobachtung anderer Gelernten beibehielt - der SR-psychologische Erklärungsrahmen zwar kognitiv erweitert, blieb aber im Prinzip erhalten. Im weiteren wurde das hier angenommene •verborgene•, »mediative« Zwischenglied, in
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welchem das eigentliche beobachtende Lernen des Modell-Verhaltens erfolgen soll, von Bandura durch Hereinnahme von Vorstellungen aus der zeitgenössischen Kognitiven Psychologie differenziert und ausgestaltet (vgl. etwa Bandura 1976, S.23ff und 1979, S.31ff). Um nun auch die damit geschilderten Konzeptionen des Beobachtungsbzw. Modell-Lernens begründungstheoretisch reinterpretieren zu können, sei zunächst der allgemeine Umstand herausgehoben, daß unter den Vorzeichen des ,.Lernens von anderen« an den Handlungsbegründungen der früher (S.25) benannte Aspekt, daß begründete Handlungen als solche für mich und andere verständlich sind, in bestimmter Weise hervortritt. Wenn ich mir ein Urteil darüber bilde, wieweit ich in einem bestimmten Fall von anderen lernen kann, so schließt die Klärung meiner eigenen Gründe nämlich notwendig in irgendeiner Weise das Verständnis der Gründe ein, die andere für ihre Handlungen haben könnten. Anders: Wenn ich mich frage, warum ich für mich übernehmen soll, was andere tun, so frage ich mich gleichzeitig, warum die anderen das tun, dessen Übernahme hier zur Frage steht. Im Schema des ,.Beobachtungslernens« bzw. ,.Modell-Lernens« sind es dabei entweder nur die Handlungsgründe des Modells, oder- in jenen Dreierkonstellationen, innerhalb welcher ich beobachte, wie das Modell von einem Dritten ,.belohnt« oder ,.bestraft« wird - darüber hinaus die Gründe des Dritten für sein belohnendes oder bestrafendes Verhalten, die in meine eigenen Lerngründe eingehen. Eine implizite Einsicht in die Ei'genart solcher intersubjektiv verschränkter Begrün· dungsmusterläßt sich z.B. aus vielen Ventilationen Banduras über die Gründe von Verhaltensangleichungen ablesen, so in Formulierungen wie: •Menschen ... werden modellierte Verhaltensweisen dann eher in ihr eigenes Repertoire aufnehmen, wenn diese zu Ergebnissen führen, die einen gewissen Wert für sie besitzen, als wenn sie nicht-belohnende oder bestrafende Wirkungen zeitigen• {1979, S.37t) ...Unter den zahllosen Reaktionen, die auf dem Wege der Beobachtung erworben werden, werden jene Verhaltensweisen, die für andere von Nutzen zu sein scheinen, gegenüber solchen Verhaltensweisen bevorzugt, bei denen sich negative Konsequenzen beobachten lassen. Auch die Art, wie Menschen ihr Verhalten selbst einschätzen, entscheidet darüber, welche durch Beobachtung erlernten Reaktionen tatsächlich ausgeführt werden. Menschen zeigen die Verhaltensweisen, die sie selbst als befriedigend empfinden, und lehnen diejenigen ab, die sie persönlich mißbilligen« (S.38)...Sieht man, wie Modelle bestraft werden, neigt man dazu, ähnliche Verhaltensweisen zu hemmen. Sieht man dagegen, wie andere bedrohliche oder verbotene Tätigkeiten ausführen, ohne daß sie aversive Konsequenzen erfahren, kann dies unter U mständen die eigenen Hemmungen reduzieren« (5.58).- Man mag sich den (von Bandura nicht identifizierten) BGM-Charakter derartiger Aussagen wiederum selbst durch Einfügen von »vernünftigerweise« sowie die Einfügung von .. nicht• als ,.Gegenprobe« in die Dann-Komponente solcher Formulierungen Banduras evident machen und sich sodann verdeutlichen, wie die •guten Gründe« des Beobachters hier jeweils {mehr oder weniger implizit)
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mit den angenommenen •guten Gründen« des Modells und ggf. des genannten •Dritten« vermittelt sind.
So offensichtlich also auch die Eigenart der theoretischen Aussagen über Beobachtungslernen und Modell-Lernen als Begründungsmuster ist, so deutlich treten bei genauerem Hinsehen die Verkürzungen dieser Konzepte zutage, die daher rühren, daß man ihren Charakter als BGMs wiederum nicht reflektiert und deswegen die hinreichende Klärung der Prämissen bzw. Intentionen, unter denen sie »begründet/verständlich« sind, unterläßt. Damit bleiben zwangsläufig auch die zugehörigen experimentellen Befunde hinsichtlich ihrer Geeignetheit als Beispiele/ Anwendungsfälle für die jeweiligen BGMs unterbestimmt und vieldeutig. So ist etwa in der geschilderten Untersuchung von Berger (1962) zur •stellvertretenden Verstärkung• - obwohl hier dem Anspruch nach ein universelles Modell sozialen Lernens realisiert werden soll- sowohl in den theoretischen Konzepten wie in den experimentellen Anwendungsfällen die Prämissen- und Intentionslage der involvierten Instanzen aus der Sicht des Beobachters weitgehend unbestimmt: Warum wird z.B. das Modell vom Experimentator geschockt? Warum läßt sich das Modell dies gefallen? Warum darf ich als Beobachter dabei zusehen? Warum dunkelt der Experimentator immer, kurz bevor das Modell den Schock erhält, das Licht ab? Etc. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Beobachter im Zuge seiner eigenen Handlungsbegründungen notwendigerweise (und wenn auch u.U. nur implizit) irgendwelche, dem Experimentator unbekannten Antworten auf diese Fragen gefunden hat, so imponiert auch hier die Beliebigkeit der Interpretation des resultierenden ..Verhaltens« im Sinne des um das Konzept der stellvertretenden Verstärkung erweiterten klassischen Konditionierungsschemas. Im KonteXt von Banduras Theorie des Beobachtungsiemens korrespondiert der mangelnden Spezifizierung der Prämissen- und Intentionslage in den theoretischen Annahmen häufig geradezu die experimentelle Strategie, auch die Vpn auf diese Beschränkungen festzunageln, d.h. ihr implizites Weiterfragen nach den Gründen von Modellen und Dritten für deren vorgeführtes Verhalten zu unterbinden. So wird im dargestellten Banduraschen Experiment (1965) einerseits in den theoretischen Bestimmungen unklar gelassen, welche Gründe das Modell haben soll, die Puppe mit so komplizierten (zum Zwecke später differenzierter Erfassung der Behaltensleistung erfundenen) Handlungsfolgen zu attackieren und zu traktieren, warum der Dritte (obwohl doch nur eine Puppe das Objekt ist) dieses Verhalten in einem Falle mit allen möglichen Getränken und Süßigkeiten belohnt, im anderen Falle mit Beschimpfungen und Drohungen darauf reagiert. Andererseits wird davon ausgegangen sowie durch die Darbietungsweise und Instruktion sicherzustellen versucht, daß die Beobachter solche Vorführungen tatsächlich schlucken und im Sinne der Experimentatoren für bare Münze nehmen. Von da aus versteht sich auch, daß hier (wie öfter in Experimenten aus dem Bandura-Kreis) ohne inhaltliche Gründe kleinere Kinder als Versuchspersonen herangezogen wurden: Offensichtlich ist von diesen weniger als von erwachsenen Vpn zu befürchten, daß sie angesichts der geschilderten Merkwürdigkeiten der Versuchsanordnung nicht mehr mitziehen; vielleicht auch sind die Kinder eher bereit, die gesamte Versuchsprozedur als ein von den Erwachsenen angezetteltes, etwas seltsames Spiel hinzunehmen, bei dem man immerhin einiges erben kann.
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Um zur Verdeutlichung der Grundstruktur solcher Versuchsanordnungen noch ein anderes. ebenfalls mit Kindern angestelltes Experiment aus dem Bandura-Kreis (Walters & Parke 1975) anzuführen: Hier ging es um die •Prüfung« des BGMs, daß •abweichendes Verhalten« durch die Beobachtung eines belohnten Modells verstärkt, bei Bestrafung des Modells bzw. bei Ausbleiben negativer Konsequenzen dagegen •gehemmt« wird. Die Modellsituation bestand wiederum aus einem Film, wobei hier eine erwachsene Frau (offensichtlich die Mutter) ein Kind anwies, nicht mit einem Spielzeug zu spielen, das auf einem Tisch lag, und sodann den Raum verließ. In ihrer Abwesenheit begann das Kind (im Film) mit dem verbotenen Spielzeug zu spielen. Als Fortsetzung der Szene wurden sodann drei Versionen hergestellt: Im •Belohnungsfilm« gab die zurückkehrende Mutter, obwohl sie sah, daß das Kind mit dem verbotenen Spielzeug spielte, diesem noch weiteres Spielzeug und beschäftigte sich liebevoll mit ihm. Im »Bestrafungsfilm« riß die Mutter bei ihrer Rückkehr dem Kind das Spielzeug aus der Hand, schüttelte es (das Kind), etc. Im »Film ohne Konsequenzen« betrat die Mutter die Szene nicht noch einmal. - Die Kinder, die als ,.Beobachter« fungieren sollten, wurden (ebenso wie Kontrollgruppen-Kinder ohne Filmdarbietung} einzeln in einem Raum mit Spielzeug geführt und folgendermaßen instruiert (Übers. K.H.): •,Du setzt Dich jetzt hier hin ... Dieses Spielzeug hier ist für jemand anders bereitgelegt worden. Deshalb faßt Du es besser nicht an'.« Dann wurde ggf. angekündigt ,.,Nun werde ich (Dir) einen Film zeigen:. und einer der Filme vorgeführt. Anschließend sagte die VI zu dem jeweiligen Kind: »,Ich komme gleich und spiele ein Spiel mit Dir, aber ich habe etwas vergessen und muß es holen gehen. Während ich fort bin, kannst Du Dir dieses Buch ansehen ... Ich werde die Tür schließen, damit niemand Dich stört, und wenn ich zurückkomme, klopfe ich an, damit Du weißt, daß ich es binlc (S.159). Danach wurde das Kind 15 Minuten allein gelasssen und hinter einer Einwegscheibe daraufhin beobachtet, wieweit es verbotswidrig mit dem Spielzeug spielte. (Weitere Versuchsstadien und Instruktionen lasse ich beiseite). In dem damit geschilderten Experiment (das im übrigen die »erwarteten" Ergebnisse erbrachte) wimmelt es geradezu vor theoretisch unbestimmten und experimentell unerfaßten Begründungen, d.h. mangelnder Spezifizierung der in ihnen enthaltenen Prämissen und Intentionen: Welche Gründe hat die Mutter im Film, dem Kind das Spielen mit dem Spielzeug zu verbieten? Aus welchem Grund ist die Mutter in der »Belohnungsversionoc, obwohl das Modellkind ihr Verbot übertreten hat, besonders freundlich zu diesem? Warum darf ich (als Beobachter-Kind) nicht mit dem vorhandenen Spielzeug spielen, nur, weil es für jemand anders »bereit gelegt« worden ist? Warum wird mir ggf. ein Film gezeigt, in welchem auch ein Kind vorkommt, das mit einem bestimmten Spielzeug aus unerfindlichen Gründen nicht spielen darf? Warum kündigt die Versuchsleiterin vor Verlassen des Raumes entgegen den sonstigen Gepflogenheiten der Erwachsenen vorher an, daß sie anklopfen wird, wenn sie zurückkommt? - All solche Fragen werden hier weder bei der Theorienbildung noch der experimentellen Realisierung als möglich zur Kenntnis genommen; statt dessen wird die Korrespondenz zwischen der mangelnden Prämissen- und Intentionsspezifizierung in den theoretischen Konzepten und entsprechend eingeschränkten Sichtweisen der Vpn einfach unterstellt, d.h. ein mögliches Weiterfragen der Kinder nach den Gründen der beteiligten Instanzen für ihre Verhaltensweisen, wo möglich, autoritär unterbunden und im übrigen als nichtexistent vernachlässigt: So sind die experimentellen Anordnungen wegen des BGM-Charakters der Theorien selbstredend nicht deren »Prüfungen«, aber noch nicht einmal hinreichend gesicherte Beispiele für das darin Gemeinte,
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da die theoretisch angesetzte reduzierte Prämissen/Intentionslage des Beobachters beim Modell-Lernen in das Verhalten der Vpn hineingedeutet anstatt daraus expliziert ist.
All derartige Praktiken der Umdeutung, Unterdrückung etc. von möglichen Äußerungen der Vpn ergeben sich mit Zwangsläufigkeit aus der allgemeinen SR-psychologischen Doktrin, der gemäß das Verhalten der beteiligten Individuen in der Konstellation des Modell-Lernens nur als Konsequenz der hergestellten Umweltkontingenzen betrachtet werden darf: So müssen die »Freiheitsgrade« der Vpn, die man einerseits durch die Einbeziehung kognitiver Aspekte in die Versuchskonstellation zugelassen hat, andererseits bei der Erhebung und Interpretation der Befunde wieder weggebügelt werden (ich komme noch darauf zurück).
Das Konzept des »Selbst« im SR-theoretischen Kontext Da Reflexivität/Selbstreflexivität als eine elementare Gegebenheitsweise menschlichen Bewußtseins zu betrachten ist, wundert es nicht, daß mit der Rehabilitation des »Bewußtseins« nach der kognitiven Wende in der Psychologie auch das »Selbst« als Begriff und als Phänomen wiederum Beachtung fand. Faktisch kann man gerade in neuester Zeit eine Art von Selbst-Boom konstatieren, wobei die Vorsilbe »Selbst« in verschiedenen Verbindungen vorkommt: »Selbstkonzept«, »Selbstwahrnehmung«, »Selbstkontrolle•, »Selbstaufmerksamkeit«, »Selbsterfahrung«. Uns interessiert dieses Konzept hier wiederum nur in seinen lerntheoretischen Implikationen: Wir müssen uns fragen, welche neuen Gesichtspunkte und Konsequenzen sich innerhalb unserer begründungstheoretischen Reinterpretationsversuche daraus ergeben, daß - in gewisser Hinsicht als Komplementärbegriff zur Berücksichtigung des »anderen« als Lernagens - unter kognitivistischer Hegemonie SR-theoretische Ansätze um das »Selbst«-Konzept erweitert wurden. Dabei ist auch hier zunächst auf Vorformen im Rahmen der orthodoxen SR-Psychologie zu verweisen: So hat etwa Skinner (wenn auch erst spät) in seine Theorie der operanten Konditionierung das Konzept der »Selbstverstärkung« als Grundlage der »Selbstkontrolle« hineingenommen, wobei er den Verdacht, daß er damit seine Theorie »mentalistisch« erweitert habe, aber gleich wieder zurückweist: Selbstverstärkung sei grundsätzlich nichts anderes als Fremdverstärkung, nur, daß hier die Verstärkungskontingenzen nicht vom Experimentator, sondern eben vom Individuum selbst hergestellt würden (vgl. etwa Skinner 1953, S.285). Diese Vorstellung fand auch in die technologischen Anwendungsbereiche der Verhaltenstheorie Eingang, indem
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hier den Klienten eine Art von Selbstmanipulation der Verstärkungsbedingungen als besonders wirksames Mittel der Erzielung gewünschten bzw. Beseitigung unerwünschten Verhaltens empfohlen wurde (vgLdazu etwa Kanfer & Phillips, 1970, S.407ff, und insbesondere Watson & Thorpe, 1975, mit ihrem verbreiteten Lehrbuch .. Einübung in die Selbstkontrolle«). Die theoretische Schwierigkeit, die aus der hier implizierten Verdoppelung des Individuums in den Akteur und das Objekt der Verstärkung für die SR.:rheorie entstehen muß, wurde dabei (soweit ich weiß) nicht gesehen, jedenfalls nicht diskutiert. Die Funktion einer wirklichen kognitiven Erweiterung SR-psychologischer Vorstellungen gewann das »Selbst«-Konzept dadurch, daß es in lerntheoretische Konzeptionen Eingang fand, die bereits die früher diskutierte kognitive Ausweitung mittels expliziter Ergänzung oder Ersetzung des Verstärkungsbegriffs durch den Begriff der Erwartung vollzogen hatten. Von besonderer Bedeutung war in diesem Problemzusammenhang die dargestellte »soziale Lerntheorie« von Rotter: Hier wurde (wie schon angedeutet) das ursprüngliche SR-theoretisch formulierte »Erwartung-mal-Wert«-Konzept in der Folge dadurch ausgeweitet, daß Rotter neben den speziellen, auf das Eintreffen von Verstärkungen bezogenen Erwartungen eine weitere Art von Erwartungen, nämlich verschiedene Formen »generalisierter Erwartungen« einführte. Das wichtigste (oder mindestens folgenreichste) Rottersche Konzept dieser Art ist die Erwartung der »internen versus externen Kontrolle der Verstärkung«, auch als »locus ofcontrol« bezeichnet, heute bei uns unter dem Terminus »interne/ externe Kontrollüberzeugung« tradiert: Nach Rotter werden die »Erwartungen« eines Individuums (gemäß der früher erwähnten Formel eine der Determinanten des »Verhaltenspotentials«) verstärkt/ abgeschwächt oder bleiben unverändert, je nachdem, ob das Individuum das (positive bzw. negative) Ereignis auf seine eigenen Aktivitäten oder auf von ihm unbeeinflußbare Faktoren zurückführt. In der Folge wurde dieses zunächst situationale Konzept dann in eine »Persönlichkeitsvariable« umgedeutet und sollte mit entsprechend konstruierten Skalen meßbar gemacht werden (zur deutschen Fassung vgL Piontkowski 1989). Die persönlichkeitstheoretische Version des Konzepts der externen/ internen Kontrollüberzeugung ist für unsere Themenstellung jedoch irrelevant: Wir beziehen uns in der Folge nur auf die ursprüngliche (und später gelegentlich reaktualisierte) situationale Fassung. Das erste Experiment, in welchem dieser Effekt situationell erzeugt werden sollte, stammt von Phares, einem Schüler Rotters: Phares ( 1957) arbeitete in seinem Experiment mit •skill versus chance situations«: Seine Versuchspersonen erhielten die Aufgabe, Farben bzw. Längen von Linien miteinander zu vergleichen. Einer Gruppe von Vpn wurde gesagt, diese Aufgabe sei so schwierig, daß der Erfolg weitgehend vom Zufall oder Glück abhängen würde. Eine andere Gruppe wurde
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instruiert, daß Erfolg bei der Aufgabenlösung möglich sei und- gemäß früheren Erhebungen- als abhängig von den Fähigkeiten der jeweiligen Individuen betnchtet werden müsse. Der Hälfte der ..Skillc-Vpn wurde die Linienvergleichs-Aufgabe und der anderen Hälfte die Farbenvergleichs-Aufgabe gegeben. Die »Chancec-Vpn wurden in gleicher Weise behandelt. Durch diese Anordnung, in der die »Skillc- und die ,.chancec-Vpn jeweils die gleiche Aufgabe erhielten, sollte nach Phares jede Möglichkeit ausgeschaltet werden, daß Unterschiede des Erwartungs-Verhaltens durch die Art der Aufgabe und nicht durch die unterschiedliche Instruktion als kritische Variable zustande kommen. Alle Gruppen wurden in einer fixierten Ordnung partiell positiv bzw. negativ verstärkt (in dem ihnen gesagt wurde, daß ihre Aufgabenlösung falsch oder richtig sei). Zur Messung der Erwartungs-Stärke wurde die Anzahl von (gegen Geld eintauschbaren) Plastik-Chips benutzt, die die Versuchspersonen bereit waren, auf ihre Erfolgschancen beim jeweils nächsten Schätzversuch zu verwetten. Als Resultat dieses Experiments ergab sich unter anderem, daß verstärkungsbedingte Erwartungsänderungen sowohl der Ausprägung wie der Häufigkeit nach bei den ,.Skillc-Vpn größer waren als bei den ·Chancec-Vpn. Neben der hier verwandten experimentellen Technik, interne bzw. externe Kontrollerwartungen (als •skill« vs. »chance«) bei gleicher Aufgabe über die Instruktion zu erzeugen, wurde in anderen Experimenten der entsprechende Effekt durch Einführung unterschiedlicher Aufgaben, die als nur durch Zufall bzw. durch eigene Fähigkeiten lösbar erscheinen sollten, zu erzielen versucht (so etwa in einer Untersuchung von Rotter, Livennt & Crown, 1961, einer Aufgabe zur ..außersinnlichen Wahrnehmung• und einer Aufgabe zur Prüfung einer »ruhigen Hand«).Dabei wurden mehr oder weniger eindeutig die gleichen Befunde: ausgeprägtere und häufigere Erwartungsänderungen bei der ·Skili«-Aufgabe, eingebncht. In der dann anschließenden Serie weiterer Experimente hatten jedoch - wegen ihrer größeren bedingungsanalytischen Stringenz - die Anordnungen mit Verwendung der Instruktions.:rechnik offenbar besonderes Gewicht (ein Überblick findet sich etwa bei Knmpen 1982, S.79ff).
Im »Locus of Control«-Ansatz von Rotter wird faktisch das »Selbst« als »Ursprung« von Handlungen in die theoretischen Bestimmungen des Erwartungsiemens aufgenommen, indem die Situation des Lernens potentieller Kontrolle der Verstärkungsbedingungen durch das Subjekt einer Lernsituation, in der ein solcher Einfluß auf die Verstärkungsbedingungen nicht möglich ist, gegenübergestellt wird. Dabei ist allerdings einmal präzisierend festzustellen, daß im »locus of control« nur die verallgemeinene Erwartung (»generalized expectancy«) der subjektiven Kontrolle/Nichtkontrollierbarkeit, nicht aber die reale Möglichkeit des Subjekts, Kontrolle über die Lernbedingungen auszuüben, angesprochen ist. Zum anderen wird die Annahme des Einflusses des ,.Jocus of control« auf das Erwartungslernen hier auf soweit unstrukturierte Situationen eingeschränkt, daß der Grad der tatsächlichen Beeinflußbarkeit der Aufgaben durch eigene Aktivitäten für die Vpn nicht eindeutig beurteilt werden kann: Nur für diesen Fall können die verallgemeinerten Kontrollerwartungen bei der Einschätzung des subjektiven Einflusses auf die Bewältigung einer konkret vorliegenden Aufgabe durchschlagen. Rotter
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hat in einem Artikel zur Klärung von Mißdeutungen seines Locus of controlKonstruktes (1982, S.SO) ausdrucklieh die Vernachlässigung dieser beiden Momente als Griinde für Fehleinschätzungen herausgehoben. Eine weitere Konzeption, in welcher SR-theoretische Vorstellungen unter den Vorzeichen der ·Selbstkontrolle« kognitiv erweitert wurden, und die wie Rotters •l..ocus of Controlc-Konzept- auf das Lernen von generalisierten Erwartungen bezogen ist, ist die Theorie der »gelernten Hilflosigkeit« von Seligman. Auch dieser Ansatz enthält für uns thematisch irrelevante persönlichkeitstheoretische Implikationen, indem hier •gelernte Hilflosigkeit« als Entstehungsvoraussetzung von Depressionen betrachtet wurde (vgl. Seligman 1975/ 1979): Wir diskutieren Seligmans Hilflosigkeits-Konzept ebenfalls nur als kognitiv erweiterte Theorie des Erwartungs-Lernens. Die erste Fassung der Theorie der gelernten Hilflosigkeit stand im Zusammenhang mit Tierexperimenten. Zunächst wurde in Untersuchungen mit Hunden aufgewiesen, daß Tiere, die die Unbeeinflußbarkeit des Auftretens und Aufhörens eines elektrischen Schocks durch ihr eigenes Verhalten gelernt hatten - anders als Tiere, die den Schock aktiv beenden konnten, und Kontrolltiere - in einer zweiten Versuchsphase die Gelegenheit, dem Schock zu entkommen, nicht ausnutzen konnten (Overmier & Seligman 1967, Seligman & Maier 1967). Diese Konzeption des Lernens von Hilflosigkeit als quasi übergeordnetem Kontingenz-Lernen, in welchem nicht einzelne Verknüpfungenzwischen Verhaltensweisen und (negativen) Verstärkungen als Verhaltensfolgen, sondern die Erwartung der generellen Nichtkontingenz zwischen eigenem Verhalten und dem Fortdauern oder Aufhören des aversiven Reizes gelernt wird, wurde in weiteren Experimenten mit Katzen, Fischen, Ratten und schließlich auch mit Menschen realisiert (Überblick bei Maier & Seligman 1976, vgl. auch Maier 1989). Repräsentativ für solche Untersuchungen, in welchen •menschliche« Analogien zu den genannten Tierstudien hergestellt werden sollten, ist die folgende Arbeit von Hiroto (1974): In diesem Experiment wurden College-Studenten in der ersten Untersuchungsphase auf drei Versuchsgruppen veneilt: Der ersten Gruppe (Vermeidbarkeits-Gruppe) wurde ein sehr lautes Get.iusch dargeboten, das die Vpn durch viermaliges Drücken eines Knopfes beenden konnten. Der zweiten Gruppe (Unvermeidbarkeits-Gruppe) wurde der Lärm nach dem Muster der ersten Gruppe in gleicher Intervallfolge exponien wie der ersten Gruppe, nur daß er hier unabhängig von Reaktionen der Vpn begann und aufhöne. Die dritte Gruppe (Kontrollgruppe) erfuhr keinen Lärm. In der zweiten, der Testphase des Experiments erhielten alle Vpn eine Vorrichtung, mit der sie durch Bewegung eines Hebels nach Darbietung eines roten Lichts als diskriminativem Hinweisreiz den Lärm vermeiden (,.avoidance«) bzw. ihm, nachdem er jeweils begonnen hatte, entkommen konnten (•escapec). Auch hier lernten (analog zu den Resultaten der Tierexperimente) die .Vermeidbarkeits-Gruppe« und die Kontrollgruppe schnell, dem Lärm zu entkommen, während das
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typische Individuum der ·Unvermeidbarkeits-Gruppe« unfähig war, den Lärm abzuschalten, und ihm jeweils bis zum Ende passiv lauschte. Diese Unterschiede traten nur bei den Flucht-Reaktionen, nicht aber bei den Vermeidungsreaktionen auf.
Das Konzept der »Hilflosigkeit« wurde zunächst in enger Anlehnung an die geschilderten Experimente bestimmt. So spricht etwa Hiroto (1974, S.187) vom ,.failure to escape«, als •the defining characteristic of learned helplessness«. Später kam Seligman (1975/1979, S.52) zu folgender allgemeinerer Definition: ..Die Erwartung, daß eine Konsequenz von den eigenen willentlichen Reaktionen unabhängig ist, (a) senkt die Motivation, diese Konsequenz kontrollieren zu wollen, (b) interferiert mit der Fähigkeit zu lernen, daß die eigenen Reaktionen die Konsequenz tatsächlich kontrollieren ... « Dies wird an anderer Stelle (Abramson, Seligman & Teasdale 1978) noch so erläutert: Die Hypothese der gelernten Hilflosigkeit •is ,cognitive' in that it postulates that mere exposure to uncontrollability is not sufficient to render an organism helpless, rather, the organism must come to expect that outcomes are uncontrollable in order to exhibit helplessness« (S.50, Hervorh. K.H.). Die in dieser Definition vollzogene Generalisierung der ursprünglichen, mehr •operationalen« Bestimmungen von Hilflosigkeit besteht wesentlich darin, daß als Voraussetzung für die Entstehung der Hilflosigkeit nicht mehr lediglich die Ausgeliefertheit (•inescapabilty«) an zufällig, d.h. unabhängig vom eigenen Verhalten, auftretende und wieder verschwindende negative Ereignisse (Strafreize), sondern allgemeiner die Unkontrollierbarkeit von positiven wie negativen Ereignissen benannt wurde. Entsprechend versuchten Hiroto & Seligman (1975) aufzuweisen, daß »Hilflosigkeit« nicht nur mittels unvermeidbaren Lärms, sondern auch mittels unlösbarer Problemaufgaben (Anagramme) erzeugt und geprüft werden kann, wobei die Autoren aus dem Umstand, daß unvermeidbarer Lärm auch »Hilflosigkeit« bei der Problemlösung und umgekehrt die Unlösbarkeit von Problemaufgaben auch •Hilflosigkeit« in Lärmsituationen erzeugte, die Fassung dieses Konzeptes als eine Art von generalisierter »Eigenschaft« (•induced trait«) begründeten.- Abgesehen von solchen mehr systemimmanenten Varianten kam es aber auch zu seiner grundsätzlichen Revision der Hilflosigkeitstheorie (Abramson, Seligman & Teasdale 1978), mit der insbesondere attributionstheoretische Gesichtspunkte adaptiert wurden. Ich gehe - weil damit der theoretische Gehalt des Hilflosigkeitskonzeptes m.E. eher verwässert wird - darauf nicht näher ein. Für die weitere Diskussion sei die ursprüngliche, enge Fassung des Konzeptes der »gelernten Hilflosigkeit« zusammenfassend auf den Begriff gebracht: »Failure to escape«, also subjektive Unfähigkeit, trotz objektiv bestehender Möglichkeiten einer schmerzhaften, bedrohlichen Situation durch eigenes Handeln zu entkommen. Diese Unfähigkeit wurde vorgängig »gelernt«
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als eine generalisierte Erwartung aufgrund erfahrener Unabhängigkeit zwischen dem Gang der schmerzhaften Ereignisse und den Aktivitäten des Individuums zu ihrer Abwendung (was ich auch tue, es hat ja doch keinen Zweck). Eine dritte Konzeption, in welcher die erwartungstheoretische Ausweitung SR-psychologischer Vorstellungen durch Einbeziehung des »Selbst«Konzeptes zugespitzt wird- und die mit Rotters und Seligmans Konzepten in offensichtlicher Beziehung steht- ist die Theorie der »Selbstwirksamkeits-Erwartungen« (»expectations of self-efficacy«) von Bandura. Dieser Ansatz stellt die zweite Entwicklungsphase der »sozial-kognitiven Lerntheorie« Banduras dar, in die seine (von mir auf S.88ff dargestellte und diskutierte) frühere Theorie des »Beobachtungs«- bzw. »Modell-Lernens« als Teilaspekt einbezogen ist. Banduras Darlegungen über »Selbstwirksamkeit« stehen - anders als Rotters und selbst Seligmans Konzeptionen- ihrem Ursprung nach eindeutig im Kontext von Ansätzen zur kognitiven Ausweitung der SR-theoretischen Verhaltenstherapie, von wo aus dann allgemeinpsychologische Generalisierungsversuche unternommen wurden. In diesem Zusammenhang wird von Bandura (1977b) ein »theoretical frameworh entwickelt, >>in which the concept of selfefficacy is assigned a central role for analyzing changes in fearful and avoidant behavior«. »In this conceptual system, expectation of personal mastery affects both initiation and persistence of coping behavior« (S.193) . Es geht also um die Herausarbeitung der Funktion der Selbstwirksamkeits-Erwartungen bei der Bewältigung furchterregender, Vermeidungstendenzen hervorrufender Situationen. Bandura definiert sein Konzept der Selbstwirksamkeits-Erwartungen in Abhebung von bloßen >>Ergebnis-Erwartungen<<: »An outcome expectancy is defined as a person's estimate that a given behavior willlead to certain outcomes. An efficacy expectation is the conviction that one can successfully execute the behavior required to produce the outcome. Outcome and efficacy are differentiated, because individuals can believe that a particular course of action will produce certain outcomes, but if they entertain serious doubts about whether they can perform the necessary activities such information does not influence their behavior« (S.193). In den Selbstwirksamkeits-Erwartungen spricht sich also - wie Bandura noch näher ausführt- das Individuum nicht bloß die Fähigkeit zu, eine bestimmte Situation zu bewältigen, und es meint auch nicht lediglich, über das Wissen darüber zu verfügen, was in der Situation zu tun ist: Zur Antizipation der tatsächlichen Wirksamkeit muß das Individuum darüber hinaus annehmen, daß es auch mit aktuellen Widerständigkeiten der Situation und eigenen Beeinträchtigungen bei der Umsetzung seiner Fähigkeiten und seines Wissens fertig werden wird. Dabei wird von Bandura die Selbstwirksamkeits-Erwartung
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folgendermaßen gegenüber anderen Verhaltensdeterminanten qualifiziert: Die Erwartung kann dann nicht in Ausführungsaktivitäten umgesetzt werden, wenn die faktischen Fähigkeiten dazu fehlen und wenn das Indiduum keinen Anreiz (»incentive•) hat, in dieser Weise zu handeln: »Given appropriate skills und adequate incentives, however, efficacy expectations are a major determinant of people's choice of activities, how much effort they will expend, and how long they will sustain effort in dealing with stressful situations« (1977b, S.94). Die erste und gleichzeitig methodisch repräsentative Untersuchung, in der die Selbstwirksamkeits-Erwartungen als Verhaltensänderungen vermittelnder kognitiver Prozeß experimentell realisiert werden sollten, ist die Arbeit von Bandura, Adams & Beyer (1977) über die Selbstwirksamkeits-Erwartungen als »mediative« Variable bei verschiedenen therapeutischen Unterstützungen zur Bewältigung von Schlangen-Phobien: Die Versuchspersonen für diese Studie waren über Zeitungsanzeigen rekrutierte Individuen mit einer schweren, die alltägliche Lebenspraxis beeinträchtigenden Schlangenphobie. Die Stärke des phobischen Vermeidungsverhaltens wurde durch eine Serie von 28 Stationen zunehmend bedrohlicheren Umgangs mit einer rotschwänzigen boa constrictor erhoben, angefangen von der Annäherung an den Glaskäfig, in dem die Schlange sich befand, über das Herausnehmen der Schlange mit behandschuhten und bloßen Händen bis zum Halten der Schlange 12 cm vor dem Gesicht und schließlich dem Tolerieren des Herumkriechens der Schlange auf dem eigenen Körper ohne Abwehr mit den Händen. Die Selbstwirksamkeits-Erwartungen wurden nach der Höhe, Stärke und Generalisierbarkeit getrennt erhoben: Die Höhe der Selbstwirksamkeits-Erwartungen war operationalisien als die Einstufung der antizipierten Situationsbewältigung anband einer Liste mit den genannten Stationen wachsend bedrohlicherer Interaktion mit der Schlange; die Stärke der Erwartungen wurde für die je angegebene Station mit einer 100%-Wahrscheinlichkeitsskala (von geringerer zu höherer Sicherheit der Bewältigung der Situation) eingeschätzt; zur Bestimmung der Generalisierbarkeit der Selbstwirksamkeitserwartungen schätzten die Vpn die Höhe und Stärke ihrer antizipierten Fähigkeit zur Situationsbewältigung mit Bezug auf eine unbekannte Schlange gleicher An. Außerdem wurde die mit jeder Station des Schlangen-Umgangs verbundene Stärke der Furcht mit einer 10-Punkte Skala mündlich angegeben. - Die Wirksamkeits-Erwartungen wurden jeweils nach dem Pretest des Vermeidungsverhaltens, vor dem Posttest und nach dem Posttest gemessen. Zur (ungefähr einwöchigen) therapeutischen Behandlung der Phobien zwischen Pretest und Posttest wurden drei Bedingungen eingeführt: (1) Teilnehmendes Modellieren (•participant modeling•), bei dem die Vpn nach kurzem angstreduzierendem Vormachen durch den Therapeuten die aufgelisteten Schlangen-Interaktionen mit einer anders gefärbten boa constrictor von der »leichtesten« zur »schwersten• Station aktiv ausführten (•enaktivec Information); (2) Reines .Modellieren« (•modelingc), bei welchem die Versuchspersonen lediglich zusahen, wie der Therapeut die gleiche Serie von zunehmend bedrohlichem Schlangenumgang ausführte (»stellvertretende« Information); (3) Kontrollgruppe ohne jede Behandlung.- Als Resultate wurden u.a. angeführt, daß nach der Behandlung mit enaktiver Information, aber fast in gleicher Höhe auch nach der Behandlung mit stellvertretender Information,
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das Vermeidungsverhalten (verglichen mit der Kontrollgruppe} reduziert werden konnte, und daß die Veränderungen der Selbstwirksamkeits-Erwartungen (nach ihrer Höhe, Stärke und Generalisierbarkeit) von der Erhebung nach dem Pretest bis zur Erhebung vor dem Posttest einen genauen »Prädiktor« für die entsprechenden Veränderungen des Bewältigungsverhaltens beim Umgang mit der Schlange durch die verschiedenen therapeutischen Behandlungen darstellten.
In ähnlich geplanten Experimenten wurden z.B. der Effekt •systematischer Desensibilisierung« (Entspannung, verbunden mit vorgestellten Schlangenszenen wachsender Bedrohlichkeit) auf die Selbstwirksamkeits-Erwartungen und Bewältigungs-Fortschritte von Bandura & Adams (1977} untersucht, ebenso die Verallgemeinerbarkeit der Befunde auf eine andere Art von Phobie, die Agoraphobie (Platzangst}, von Bandura, Adams, Hardy & Howells (1980}. Weitere Arbeiten befaßten sich (über die Analyse von Phobien hinausgehend) mit Effekten der Selbstwirksamkeits-Erwartungen bei der Bewältigung von ~?zia ler Unsicherheit, der Angst vor öffentlichem Reden, und der Rauchgewohnheit (Uberblick bei Mielke 1984, S.lOOff, bzw. 113ff). Darüber hinaus wurde auch bei der Selbstwirksamkeits.:fheorie eine Ausweitung auf das Leistungsverhalten versucht, so in der Untersuchung von Bandura & Schunk (1981} über das Lösen von Mathematik-Aufgaben, wobei anstelle der Annäherungsschritte an das gefürchtete Objekt Lösungsschritte bei Aufgaben zunehmender Schwierigkeit als Index der Verhaltensänderung dienten. In derartigen Untersuchungen war indessen- wie Mielke (1984, S.121, S.123} hervorhebt- die Operationalisierung der Selbstwirksamkeits-Erwartungen ungleich schwieriger als in den Experimenten zum Vermeidungsverhalten; außerdem verwischen sich hier - wie analog bei den entsprechenden Ausweitungsversuchen von Seligmans Theorie der »gelernten Hilflosigkeit«, s.o. - zunehmend die Grenzen des Selbstwirksamkeits-Konstruktes mit Konstrukten aus dem Bereich der Leistungsmotivation, wie »Hoffnung-auf-Erfolg/Furcht vor Mißerfolg« o.ä.
Zum Verhältnis zwischen seiner Theorie der »Selbstwirksamkeits-Erwartungen« und den Konzepten der »internen/ externen Kontrollerwartungen« von Rotter sowie der »gelernten Hilflosigkeit« von Seligman hat sich Bandura (l977b, S.204f) selbst geäußert: Das Locus of Control-Konstrukt bezieht sich nach Bandura mehr auf »causal beliefs about action-outcome contingencies« als auf •personal efficacy«; die Erwartung, daß eine bestimmte Aktivität von den eigenen Fähigkeiten (•skills«) abhängig sei, könne ganz unterschiedliche Effekte auf die Selbstwirksamkeits-Erwartungen haben; so müsse die interne Attribution von Fähigkeiten dann die Erwartungen der eigenen Wirksamkeit stark beeinträchtigen, wenn das Individuum über die entsprechenden Fähigkeiten nicht zu verfügen meint. Auch Seligmans Ansatz der »gelernten Hilflosigkeit« leidet nach Bandura an einer unzureichenden Unterscheidung zwischen »efficacy« und »Outcome expectations«: Ein Individuum könnte es aufgegeben haben, einem aversiven Ereignis zu entgehen, weil es sich dessen Bewältigung nicht zutraut, oder weil es meint, daß sein Verhalten deswegen keinen Effekt hat, weil die Umwelt als solche unbeeinflußbar ist, bzw. weil es annimmt, permanent für seine Bewältigungsversuche bestraft zu werden (Bandura 1977b, S.204f}. Diese Passage hat offensichtlich einen bestimmten Aspekt der erwähnten attributionstheoretischen Revision des » Hilflosigkeitsc-Konzeptes angeregt: Bei Abramson, Seligman & Teasdale {1978, S.51) ist sie anläßlich der Begründung der Unterscheidung zwischen
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-persönlicher« und -universeller Hilflosigkeit« wörtlich und im Ganzen zitiert. Diese Differenzierung kann aber m.E. nur die Funktion einer Präzisierung des ursprünglichen Hilflosigkeits-Konzeptes haben, da dort von vornherein persönliche Hilflosigkeit gemeint war, womit man diese also auch als Erwartung mangelnder Selbstwirksamkeit umschreiben könnte. Entsprechend konnte der Unterschied zwischen Ergebnis- und Selbstwirksamkeits-Erwartungen mit der Gegenüberstellung von •Hoffnungslosigkeit« (Beck 1967) und »Hilflosigkeit« verdeutlicht werden: .. Hoffnungslosigkeit« ist demnach eine Konsequenz geringer Ergebnis-Erwartungen und ·Hilflosigkeit« eine Konsequenz geringer Selbstwirksamkeits-Erwartungen. Diese Unterscheidung wird von Weiner & Litman- Adizes (1980) mit dem Beispiel eines Schiffbrüchigen illustriert, der sich zwar selbst nicht in der Lage sieht, seine Rettung zu bewerkstelligen, also ·hilflos• ist und entsprechend geringe Selbstwirksamkeits-Erwartungen hegt, womit er aber noch nicht •hoffnungslos• zu sein braucht, da er- etwa bei Berücksichtigung des Umstandes, daß er sich in der Nähe einer vielbefahrenen Schiffsroute befindet - durchaus hohe Ergebnis-Erwartungen hinsichtlich seiner Rettung haben kann (vgl. Mielke 1984, S.64f).
Im folgenden geht es nun wieder darum, die vorher dargestellten Konzeptionen begründungstheoretisch zu reinterpretieren. Dabei soll zunächst (mehr pflichtgemäß) auf den offensichtlichen Tatbestand hingewiesen werden, daß es sich bei den drei dargestellten Theorien nicht (wie die Autoren meinen) um Annahmen über empirische Wenn-Dann-Zusammenhänge, sondern um Begründungsmuster handelt: Internelexterne Kontrollerwartungen: Wenn ich annehmen muß, daß ich durch mein eigenes Verhalten bestimmte positive oder negative Ereignisse herbeiführen bzw. meiden kann (»Skillc-lnstruktion), so werde ich vernünftigerweise diesen Effekt meines Verhaltens auch für die Zukunft (den nächsten Durchgang) erwarten. Muß ich dagegen annehmen, daß bestimmte positive oder negative Ereignisse nicht durch mich zustandezubringen sind (»Chance«-lnstruktion), so werde ich vernünftigerweise auch nicht die Erwartung haben, sie zukünftig (im nächsten Durchgang) herbeiführen bzw. meiden zu können. Gegenprobe: Der Befund, daß jemand positive/ negative Ereignisse, die er beeinflussen zu können meint, nicht zukünftig herbeiführen bzw. meiden zu können erwartet (und umgekehrt), widerspricht der hier unterstellten Definition von •vernünftigem Verhalten•, ist also keine empirische Nichtbestätigung, sondern lediglich kein •Anwendungsfall« oder .. Beispiel« des hier implizierten BGMs. Gelernte Hilflosigkeit (Urfassung): Wenn ich permanent die Erfahrung gemacht habe, daß ein aversives Ereignis unabhängig von meinen Aktivitäten auftritt und verschwindet, so werde ich von einem bestimmten Zeitpunkt an vernünftigerweise nicht mehr versuchen, Einfluß auf dieses Ereignis auszuüben -dies auch dann, wenn die früher fehlende Einflußmöglichkeit nunmehr objektiv besteht. Gegenprobe: Das Resultat, daß jemand, der »gelernt« hat, daß er bestimmte Ereignisfolgen nicht beeinflussen kann, nunmehr gerade versucht, sie zu beeinflussen, ist keine empirische Nichtbestätigung, sondern lediglich der Anwendungsfall für ein BGM mit anderen bzw. Spezifizierteren Prämissen (s.u.). Selbstwirksamkeits-Erwartungen: Wenn ich gemäß den von Bandura genannten Informationsquellen (1) bisher mit bestimmten Mitteln eine Situation bewältigen konnte,
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und/ oder (2) wahrgenommen habe, daß andere mit den gleichen Mitteln die Situation bewiiltigen können, und/ oder (3) mich jemand verbal davon überzeugen konnte, daß ich mit den und den Mitteln die Situation bewältigen kann, so werde ich angesichts der gleichen oder einer ähnlichen anstehenden Bedrohungssituation vernünftigerweise erwarten, daß ich diese bewältigen kann und diese Erwartung (entsprechende Fähigkeiten und Motivation vorausgesetzt) auch in Handlungen umsetzen. Wenn ich dagegen (4) aktivitätsstörende emotionale Reaktionen bei mir wahrnehme, deren Auftreten ich auch für die zukünftige Bedrohungssituation antizipieren muß, so werden meine Erwartungen, diese Situation bewältigen zu können, vernünftigerweise weniger hoch und stark ausfallen. Gegenprobe (auszugsweise): Der Befund, daß jemand, der bisher mit gleichen Mitteln eine Situation bewältigen konnte, dies in einer gleichartigen zukünftigen Situation nicht schaffen zu können erwartet, ist keine empirische Falsifikation, sondern ein Beispiel für ein anderes BGM, dessen Prämissen entsprechend zu spezifizieren wären. Die empirische Prüfbarkeit der Selbstwirksamkeits-Theorie ist auch von Smedslund, in seinem Artikel •Bandura's theory of self-efficacy: A set of common sense theorems« (1978a) angezweifelt worden. Smedslund übersetzt in dieser Arbeit- gemäß seiner früher, S.32, dargestellten Auffassung von psychologischen Theorien als Explikationen logisch notwendiger Beziehungen in Alltagstheorien - wesentliche Annahmen der Selbstwirksamkeits.:fheorie in alltagssprachliche Statements und versucht auf diesem Wege nachzuweisen, daß diese keinen empirischen Gehalt haben, sondern lediglich begriffliche Implikationen darstellen. Er kommt dabei zu überzeugenden .. Formalisierungen«, die allerdings daran leiden, daß Smedslund (wie dargestellt) nicht bis zur Erfassung des Charakters psychologischer Theorien als Annahmen über Handlungsbegründungen vorgedrungen ist und so deren implikative Strukturen nicht als Beziehungen zwischen Prämissen, interessenfundierten Intentionen und Handlungsvorsätzen spezifizieren kann. So ist er nicht in der Lage, z.B. Banduras in seiner Replik {1978b) formuliertem Gegenargument, wenn psychologische Theorien auf logisch notwendige Alltagstheoreme zurückgingen, seien die doch gravierenden Unterschiede und Widersprüche verschiedener theoretischer Annahmen mit Bezug auf das gleiche Phänomen unverständlich, etwas entgegenzusetzen (und übergeht es entsprechend in seinem ,.Jetzten Wort«, 1978b). Tatsächlich ist (wie früher, S.37f dargelegt) das Phänomen der Theorienkonkurrenz keineswegs mit dem »implikativen« BGM-Charakter von Theorien unvereinbar, sondern verweist lediglich darauf, daß in den scheinbar konkurrierenden Theorien implizit unterschiedliche Annahmen über die Prämissen bzw. Intentionen innerhalb des angenommenen Begründungszusammenhangs enthalten sind: Sofern die jeweiligen Prämissen/Intentionen nur hinreichend expliziert und spezifiziert werden, löst sich jedoch das scheinbare Konkurrenzverhältnis auf, indem sich herausstellt, daß die Theorien in Wirklichkeit verschiedene BGMs mit unterschiedlichen Anwendungsfällen darstellen, also gar nicht auf derselben Ebene vergleichbar sind.
Wenn man nun die hier zu diskutierenden drei Ansätze unter begründungstheoretischen Gesichtspunkten miteinander vergleicht, so deutet sich zunächst an, daß man diese unter einem bestimmten Aspekt als BGMs betrachten kann, in denen vom Subjektstandpunkt typische Situationen von Lernschwierigkeiten angesprochen sind: Im Konzept der »internen/ externen Kontrollerwanungen« etwa die Schwierigkeit, daß ich bei der Uneilsbildung
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über erreichbare Erfolge oder Mißerfolge meines Handeins aus früheren Erfolgen/Mißerfolgen dann nichts lernen kann, wenn ich von der Prämisse ausgehen muß, daß diese Erfolge/Mißedolge nicht durch mich (Skill-Situation), sondern ohne mein Zutun, etwa durch bloßen Zufall, zustandegekommen sind (Chance-Situation); im Konzept der »gelernten Hilflosigkeit« die Schwierigkeit, daß ich unter der Prämisse, ein aversives Ereignis sei in seinem Auftreten und Verschwinden von meinem Handeln unabhängig, keinen vernünftigen Grund für weitere Kontroll-Versuche mehr sehen mag (»why try?«) und mir so einschlägige Lernmöglichkeiten verbaut hätte; im Konzept der .. Selbstwirksamkeits-Erwartungen« schließlich die Schwierigkeit, daß ich als »Phobiker« - von vornherein von der Prämisse ausgehe, eine bestimmte bedrohliche Situation nicht bewältigen zu können und so erst gar nicht versuchen kann, den Umgang damit zu lernen, etc. -Bei solchen Reformulierungsversuchen stellt sich allerdings gleich heraus, daß die damit angesprochenen Lernschwierigkeiten irgendwie noch unterbestimmt sind, so daß sie weder klar voneinander abgegrenzt werden können noch unter den aus den jeweiligen Ansätzen entnehmbaren Prämissen in ihrer Begründung subjektiv hinreichend zwingend erscheinen. Ein intersubjektiv nachvollziehbarer Aufweis der Eigenart und Besonderheit derartiger typischer Schwierigkeiten würde also vor allem weiteren eine genauere Spezifikation der dabei an-
gesetzten Prämissen erfordern. Im Hinblick auf das Konzept der •gelernten Hilflosigkeit« läßt sich dies an einem von Wortman & Brehm (1975) stammenden Ansatz zur theoretischen Integration der Hilflosigkeits-Theorie mit der Reaktanz:fheorie bis zu einem gewissen Grade veranschaulichen: Aus den beiden Konzepten - so wie sie sind - scheinen zunächst entgegengesetzte ..vorhersagen« über das Verhalten der Versuchspersonen angesichts von • Kontrollverluste ableitbar: Nach der (von uns bereits früher, S.77f, angesprochenen) Reaktanz:fheorie müßten die Vpn auf Kontrollverlust als •Freiheitsentzug« mit vermehrten Anstrengungen, die Kontrolle wiederzugewinnen, reagieren; gemäß der Theorie der gelernten Hilflosigkeit dagegen wäre als Konsequenz des Kontrollverlustes gerade das Aufgeben weiterer Kontrollversuche, eben •Hilflosigkeit«, zu erwarten (wobei für beide Versionen empirische Evidenz beizubringen ist). Wortman & Brehm versuchen nun diese »at first glance ... opposing predictions« (5.307) dadurch zu überwinden, daß sie für den Reaktanz- und den Hilflosigkeitseffekt unterschiedliche Ausgangsbedingungen setzen, denen gemäß Individuen, die noch erwarten, die verlorene Kontrolle wiedergewinnen zu können, auf den Freiheitsverlust mit •Reaktanz« zu dessen Überwindung antworten, während Individuen, die sich von der Unmöglichkeit, Kontrolle zu erlangen, überzeugt haben, Hilflosigkeit zeigen: »Thus, among individuals who initially expect control, the first few trials of helplessness training should act as a threat to their freedom. They should experience increased motivation to exert control and improved performance should occur. But despite his increased motivation to do so, the individual comes to learn through extended helplessness training that he can not control the outcome. When a person becomes convinced that . he cannot control his outcomes, he will stop trying«. Also: •Reactance will precede
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helplessness for individuals who originally expect control« (S.308). Gemäß diesem integrativen Modell sind nach Wortman & Brehm die genannten widersprüchlichen, teilweise für die Reaktanztheorie und teilweise für die Hilflosigkeitstheorie sprechenden experimentellen Befunde darauf zurückzuführen, daß dabei u.a. die Variablen der Höhe des anfänglichen Kontrollstrebens und der Länge des Hilflosigkeitstrainings nicht identifiziert und erfaßt worden sind; bei Berücksichtung dieser Variablen müßte demnach »vorhersagbar« sein, unter welchen experimentellen Bedingungen »Reaktanz« bzw...Hilflosigkeit• auftritt (wofür denn auch entsprechende Befunde beigebracht werden konnten). Es muß wohl nicht ausführlich dargelegt werden, daß der hier vorgelegte Integrationsversuch tatsächlich einen Fall der (früher, S.37f, prinzipiell auseinandergelegten) Aufhebung scheinbarer Konkurrenz zwischen BGMs durch Prämissenspezifikation darstellt: Unter der Prämisse, daß die verlorene Kontrolle noch zurückgewonnen werden kann, ist die vermehrte Anstrengung in dieser Richtung vernünftig/begründet, unter der Prämisse, daß die zunächst außer Kontrolle geratenen Ereignisse tatsächlich unabhängig von meiner Aktivität eintreten und verschwinden, hingegen das Aufgeben des Kontrollversuchs. Aufgrund dieser Prämissenspezifikation lassen sich dann auch experimentelle Anordnungen herstellen, deren Befunde Anwendungsfälle I Beispiele für die eine bzw. die andere BGMVersion sind, so daß der Schein der Konkurrenz des empirischen Geltungsanspruchs verschiedener Theorien aufgehoben ist (vgl. dazu auch Brandtstädter 1982, S.272f). In unserem gegenwärtigen Argumentationszusammenhang relevant ist der Umstand, daß hier von Wortman & Brehm im Bemühen, die Anwendungsvoraussetzungen der beiden Theorien von einander abzugrenzen, die Hilflosigkeitstheorie (als BGM) in ihren Prämissen ein Stück weit über die Originalfassung hinaus spezifiziert worden ist: Es ist damit der »Umschlagspunktc genauer expliziert, von dem an die Erfahrung der Unbeeinflußbarkeit des Auftretens/Verschwindens aversiver Ereignisse begründetermaßen zu »Hilflosigkeit« führt, nämlich dann, wenn diese Unbeeinflußbarkeits-Erfahrung als Handlungsprämisse stärker geworden ist als die etwa vorher bestehende Überzeugung, die Ereignisse wieder in den Griff bekommen zu können. Mit dieser Präzisierung ist das vorher unklare Verhältnis der Situation der »Hilflosigkeit« zu der Reaktanz-Situation als anderem typischen Begründungsmuster nunmehr verdeutlicht, und somit können für die »Hilflosigkeitsc-Problematik Anwendungsfälle aufgesucht oder hergestellt werden, die mit Anwendungsfällen des Reaktanz-BGM nicht mehr kollidieren.
Sofern man den BGM-Charakter von Theorien wie den hier zu diskutierenden erkannt hat, ist also auch in diesem Kontext klar, daß die Vereindeutigung des Verhältnisss zwischen Theorien und empirischen Befunden nur durch die Spezifizierung der in den Theorien enthaltenen Prämissen (oder intentionalen Bestimmungen) möglich ist, wobei theoretische Verallgemeinerungen (was später noch genauer darzulegen ist) hier soweit erreichbar sind, wie mit der Spezifik gleichzeitig die »typischen« Bestimmungen einer Begündungskonstellation präziser zu fassen sind. Allerdings ist dies - aufgeund des »nomologischen Selbstmißverständnisses« - auch innerhalb der Forschungstraditionen zu den genannten Lernschwierigkeiten keineswegs systematisch realisiert worden (selbst Wortman & Brehm sitzen ja, wie aus
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der vorstehenden Schilderung hervorgeht, diesem Mißverständnis auf, indem sie die prinzipielle Bedeutung ihrer »priimissenspezifizierenden« Denkbewegung nicht erkennen können, sondern hier eher einen Zufallstreffer erzielt haben). Nachdem wir die drei dargestellten Ansätze unter begründungstheoretischem Aspekt als verschiedene Formen von typischen Lernschwierigkeiten expliziert haben, die zu ihrer präzisen Fassung und Unterscheidung weitergehende Spezifizierungen der ihnen inhärenten Begründungsmuster erfordern würden, stoßen wir nun auf eine damit zusammenhängende weitergehende Frage: Wieweit ist angesichts der An der jeweiligen Begründungsmuster die Oberwindbarkeit der je besonderen Lernschwierigkeiten theoretisch abbildbar? Anders: Wieweit ist die in unserer Konzeption kategorial angelegte Gegründetheit von Handlungsintentionen im Interesse an erweiterter Verfügung über meine Lebensverhältnisse in den geschilderten Theorien über Handlungseinschränkungen durch Lernschwierigkeiten berücksichtigt oder ausgeklammert? Mit der Theorie der internen/externen Kontrollerwartungen ist - wie dargelegt - ausgesagt, daß - sofern das Zustandekommen einer Leistung Bedingungen, die von mir nicht beeinflußt werden können, zugeschrieben wird (externe Kontrollerwartungen)- Erfahrungen über bisherige Erfolge oder Mißerfolge die Erwartung des Erfolgs/Mißerfolgs bei der Bewältigung der nächsten Aufgabe vergleichsweise weniger veriindern. Darauf bezieht sich die Feststellung von Phares, daß unter solchen Umständen Individuen ,.fearn a great dealless, and this decrement in learning seems directly attributable to the effects on expectancy of a belief that, in a given situation, they do not control the relationship between behavior and reinforcement« {1976, S.30, Hervorh. geänden/K.H.). Von da aus erscheint die Frage nach der Oberwindbarkeit der hier vorliegenden Schwierigkeiten zunächst einfach zu beantworten: Mittels der Ersetzung der externen durch interne Kontrollerwartungen, womit nunmehr frühere Erfolgs-/Mißerfolgserfahrungen in höherem Maße auf die Erwartungsbildung hinsichtlich des Erfolgs bei der nächsten Aufgabe durchschlagen, also in diesem Sinne »Lernen« stattfindet. - Dabei ergibt sich aber in begründungstheoretischer Sicht sogleich eine erste Komplikation: Auf welche Weise soll das Subjekt selbst eigentlich den Übergang von externer zu interner Kontrollerwartung vollziehen können? Im Experiment wird dies den Vpn ja durch den Wechsel etwa von der »Chance«- zur »Skill«-Instruktion, also von außen, nahegelegt. Das Problem, ob und wie die
Individuen durch eigene kognitive Aktivitäten zu »internen« Kontrollerwar· tungen gelangen und so ihr Erwartungs-Lernen befördern können, ist im Kon· text von Rotters Theorie (soweit ich sehe) nicht einmal formulierbar. - Bei
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genauerem Hinsehen stößt man im Zuge des begründungstheoretischen Reinterpretationsversuchs hier jedoch noch auf eine weitere Schwierigkeit, aus der sich besonders weitreichende prinzipielle Konsequenzen ergeben. Dabei wird nämlich deutlich, daß die hier aufgewiesene Lernschwierigkeit genau genommen auch durch das Lernen aufder Grundlage interner Kontroll· erwartungen nicht wirklich überwunden ist, da das Subjekt nach Lage der Dinge weder durch die Übernahme externer noch interner Kontrollerwartungen tatsächlich Aufschluß über seine Möglichkeiten der Problembewältigung gewinnen kann. Besonders prägnant verdeutlicht sich dies aus dem U rnstand, daß in den geschilderten Standard-Experimenten (wie dargestellt, vgl. S.95f) die ,.Chance«- und die »Skill«-lnstruktion (aus Gründen methodischer Vergleichbarkeit) den Vpn angesichtsder gleichen Aufgabenstellungen (die, wie gesagt, entsprechend unstrukturiert sein müssen) gegeben wird, womit also Einblicke in die inhaltliche Beschaffenheit der Aufgabe als Grundlage der Erwartungsbildung von vornherein ausgeschlossen sind. Offenbar resultiert es schon aus Rotters Definition der »internen/ externen Kontrollerwartungen« als besonderer Form »generalisierter Erwartungen« (s.o., 5.96), daß man es hier nicht mit »Veridikalen«, d.h. realitätshaltigen Urteilen, sondern recht eigentlich mit Oberverallgemeinerungen, also Vorurteilen zu tun hat, wobei sowohl die Meinung, bestimmte Aufgabenlösungen entspringen »externen« Faktoren, wie die Meinung, die Lösung der Aufgabe hänge von einem selbst ab, in diesem Sinne sachlich unbegründet, also »Vorurteilshaft« ist. Aus alldem ergibt sich nun aber die Konsequenz, daß die hier zur Frage stehenden Lernschwierigkeiten nicht durch einen Wechsel der Kontrollerwartungen, sondern nur dadurch überwindbar ist, daß man im Lernen die Alternative externe vs. interne Kontrollerwartungen überwindet, also über
die Ebene solcher »generalisierter Erwartungen« als »Vorurteilen« im Ganzen hinausgelangt. Wie derartige Lernaktivitäten zur Durchdringung von Vorurteilen hinsichtlich der subjektiven Bewältigbarkeit von Aufgaben theoretisch zu bestimmen wären, darüber findet sich naturgemäß im Rahmen der Rotteeschen Theorie kein Hinweis, so daß es hier auch nichts begründungstheoretisch zu reinterpretieren gibt (s.u.). Auch die Theorie der »gelernten Hilflosigkeit« (in ihrer Urfassung), als Begründungsmuster einer Lernschwierigkeit verstanden, krankt zunächst an der gleichen Problematik wie die Rotteesche Theorie: Der Übergang vom Zustand der ,.Hilflosigkeit« zu dem der »Nichthilflosigkeit« ist an den Übergang von der Erfahrung der Nichtkontrollierbarkeit zur Erfahrung der Kontrollierbarkeit des Auftauchens und Verschwindens aversiver Ereignisse gebunden. Damit ist die Vp hier zwar nicht von der Instruktion des VI abhängig, aber davon, wieweit von diesem im Experiment andere Bedingungen, nämlich jene der ,.Kontingenz« zwischen eigenem Verhalten und aversiven
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Ereignissen, hergestellt werden. Die Frage, auf welche Weise das Subjekt selbst einen solchen Übergang vollziehen und damit die »Hilflosigkeit« durch eigene Lernaktivitäten überwinden könnte, bleibt auch in diesem theoretischen Kontext unklärbar. - Weiterhin ist -wie früher dargestellt -auch die »gelernte Hilflosigkeit« als »generalisierte Erwartung«, also ..Vorurteile zu betrachten, wobei dies - anders als in Rotters Konzept - allerdings in der Hilflosigkeitstheorie als explizite Bestimmung enthalten ist, indem hervorgehoben wird, daß aufgrund der »Hilflosigkeit« vom Individuum Möglichkeiten des Entkommens aus der aversiven Situation, obwohl objektiv vorhanden, nicht ausgenutzt werden können. Jedoch lassen sich offenbar auch daraus keine theoretischen Gesichtspunkte darüber ableiten, wie das Individuum lernenden Zugang zu diesen objektiven Möglichkeiten erlangen und so die Ebene des Hilflosigkeits-Vorurteils durchdringen könnte: Aus dem vorgängigen »Hilflosigkeits.:fraining« kann (sofern dies hinreichend lange durchgeführt wurde) das Subjekt mangels anderer Realitätsaufschlüsse nur zu der Konsequenz gelangen, daß hier »nichts zu machen« und jeder weitere Versuch unvernünftig ist. Die Änderung der Versuchsanordnung in der Testphase, wodurch jetzt vorher nicht gegebene objektive Entkommensmöglichkeiten bestehen, ist zwar dem Experimentator bekannt, aber der Vp nach effektivem Hilflosigkeitstraining notwendig unzugänglich: Diese Chance kann für sie nicht zur subjektiven Realität werden, womit die Feststellung, bei Hilflosigkeit würden gegebene Möglichkeiten nicht ausgenutzt, eigentlich an der Sache vorbeigeht. Vielmehr könnte die Vp hier paradoxerweise nur hinter die neue Fluchtmöglichkeit kommen, soweit sie aus dem Hilflosigkeitstraining nichts »gelernt« hätte, nämlich trotzdem gelegentlich »probieren« würde, ob die ursprüngliche Unkontrollierbarkeit der aversiven Ereignisfolge noch besteht. Wie aber eine solche Distanzierung vom vorgängigen »Erwartungslernen« als Voraussetzung für die Überwindbarkeit der Hilflosigkeit seinerseits »gelernt« werden könnte, ist wiederum im Rahmen der theoretischen Vorstellungen, diesmal der Seligmanschen Theorie, nicht ausmachbar. Banduras Selbstwirksamkeits-Theorie unterscheidet sich mit Bezug auf das gegenwärtig diskutierte Problem insofern grundsätzlich von den beiden vorher besprochenen Konzeptionen, als hier die Bedingungen, unter denen Selbstwirksamkeits-Erwartungen gefördert und damit die Voraussetzungen zur Bewältigung von furchterregenden Situationen geschaffen werden können -also das Problem der Überwindbarkeit der einschlägigen Lernschwierigkeit - im Mittelpunkt der (klinisch ausgerichteten) Konzeptionen und Experimente steht: Erfahrungen aufgrunddirekter Verhaltensausführung, »Stellvertretende« Erfahrungen, verbale Überzeugung und Rückschlüsse aus dem eigenen emotionalen Erregungszustand sollen hier ja die Prämissen hergeben, unter denen das Subjekt Gründe für den Handlungsvorsatz haben kann, mit
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der furchterregenden Situation schrittweise umgehen zu lernen. Allerdings werden auch hier die verschiedenen »lnformationsquellen« als Prämissen der Erwartungsänderung den Vpn durch den Experimentator zur Verfügung gestellt: Die Frage, wie die Individuen im Zuge ihrer eigenen Lernaktivitäten sich derartige Informationen zugänglich machen können (d.h. auch, warum sie dies bisher nicht getan haben) bleibt wiederum theoretisch ungeklärt. Wieweit aber sind (abgesehen davon) in der Selbstwirksamkeits.:fheorie Konzepte enthalten, mit denen die prinzipielle Überwindbarkeit der zur Frage stehenden Lernbehinderung verständlich zu machen ist, und wieweit sind auch hier nur Veränderungen innerhalb einer bestimmten Ebene von Lernschwierigkeiten konzeptualisierbar? Dies ist mit Bezug auf die Standard-Untersuchungen zur Selbstwirksamkeits.:Yheorie schwerer zu beantworten als im Kontext der Experimente zu Rotters und Seligmans Theorie, und zwar deswegen, weil hier die Lernbehinderung nicht (per Instruktion, durch Erfahrungen der Unkontrollierbarkeit aversiver Ereignisfolgen etc.) im Experiment herbeigeführt, sondern durch die Auswahl von Phobikern quasi ,.fertig« in die Versuchsanordnung hineingetragen wurde, wobei über die außerexperimentellen Lernprozesse, die zu den Phobien geführt haben könnten, soweit ich sehe, nirgends etwas ausgesagt ist. So lassen sich die hier implizierten theoretischen Vorstellungen hinsichdich der Begründungsstruktur der Phobien als typische Lernbehinderungen nur mit Blick auf die im Experiment angesetzten Lernprozesse zur Überwindung der Phobien erschließen: Durch das (über die gestärkten Selbstwirksamkeits-Erwartungen vermittelte) Lernen des Umgangs mit dem gefürchteten Objekt soll auch schon die Phobie als Lern- bzw. Lebensproblem zu beseitigen sein. Hier wird also nach verhaltenstherapeutischer Manier das Symptom der psychischen Schwierigkeiten mit diesen selbst gleichgesetzt. Das heißt aber, daß die Konzepte der Selbstwirksamkeits.:fheorie die Überwindbarkeit der einschlägigen Lernbehinderung eben nur unter der Voraussetzung verständlich machen können, daß diese tatsächlich nur durch diejenigen Lern- bzw. Informationsdefizite gekennzeichnet ist, die in der experimentellen »Behandlung« reduziert werden sollten. Sofern in den Phobien aber subjektive Lebensschwierigkeiten beschlossen sind, die sich in den phobischen Symptomen nur (in wie immer mystifizierter Form) äußern, aber nicht damit zusammenfallen, ist die Überwindbarkeit der Lernbehinderung gleichbedeutend mit der Bewältigbarkeit der hier zugrundeliegenden Lebenschwierigkeiten, also wiederum anband der vorfindliehen theoretischen Vorstellungen nicht begründungstheoretisch begreiflich zu machen. Im Gegenteil: so gesehen könnte das hier konzeptualisierte und in den Experimenten praktizierte bloße »Weglernen« der phobischen Symptome- da damit den Bemühungen um Selbstklärung eine falsche Richtung gewiesen und zudem der Ansatzpunkt, von dem aus herausgefunden
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werden könnte, was »wirklich dahinter steckt«, beseitigt wird - eher das Verkennen als das Erkennen der in den Phobien verkapselten Lebensproblematik fördern. (Bandura selbst hat allerdings in seinem Konzept des ,.reziproken Determinismus« die Beschränkungen seiner ,.selbstwirksamkeitstheorie« schrittweise aufzuheben versucht, vgl. 1977b/1979, 1978a, 1981 und 1986, wobei er jedoch, soweit ich sehe, zu lerntheoretischen Konkretisierungen dieses kategorial erweiterten Ansatzes bisher kaum gekommen ist.) Als Resultat unserer Diskussion der Theorie der ,.internen-externen Kontrollüberzeugungen«, der ,.gelernten Hilflosigkeit« und der ,.Selbstwirksamkeit« unter dem Aspekt, wieweit dabei die Überwindbarkeit der implizierten Lernbehinderungen konzeptuell abbildbar ist, können wir zunächst festhalten: In keiner dieser durch das ,.selbst«-Konzept erweiterten ..Erwartungstheorien« sind begriffliche Möglichkeiten enthalten, um theoretisch verständlich zu machen, daß und in welcher Weise das Subjekt selbst dazu kommen kann, die jeweilige Lernbehinderung durch eigene LLrnaktivitäten zu überwinden, d.h. die Bedingungen/Prämissen, unter denen die dargestellten Verkürzungen des Realitätszugangs als einzig verbleibende, also ..vernünftige« Urteilsbildung erscheinen, zu verändern (auf prinzipiellere Implikationen und Konsequenzen dieser Beschränkung komme ich noch zurück).
Gesamteinschätzung: Realitätsbezug des Subjekts als bloße Sichtweise unter Ausklammerung der Möglichkeit aktiver Welteinwirkung Am Schluß unserer Begründungsanalyse der orthodoxen SR-psychologischen Konditionierungstheorien (in Kap. 2.1) haben wir uns die Frage gestellt, welche Aspekte der bedeutungsvollen Welt sachlich-sozialer Handlungszusammenhänge, aus der die Prämissen für unsere Handlungsbegründungen stammen und in die wir von da aus handelnd hineinwirken, von den so verstandenen Lerntheorien tatsächlich abbildbar sind. Dabei hat sich erwiesen, daß dort nur Grenz- und Sondersituationen des ,.induktiven« Lernens von ,.Kontingenzen«, d.h. Regelhaftigkeiten isolierter Gegebenheitszufälle bei rigoros eingeschränkten Handlungsalternativen konzeptuell faßbar werden. Inzwischen haben wir nun die vorfindliehen Versuche kognitiver Erweiterungen der SR-psychologischen Lerntheorien begründungsanalytisch diskutiert. Entsprechend erhebt sich für uns jetzt (am Ende von Kap. 2.2) die Frage, in welchem Maße und in welcher Hinsicht durch solche Erweiterungen die aufgewiesenen theoretischen Restriktionen überwindbar und - über
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die schon hervorgehobenen begrifflichen Differenzierungsmöglichkeiten zwischen .. Lernen« und »Ausführung« bzw. inzidentellem und intentionalem Lernen hinaus - neue Perspektiven einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie sichtbar werden. Unter diesem Aspekt sollen zunächst die drei früher begründungstheoretisch reinterpretierten Erweiterungs-Konzepte: ,.Erwartung«, »Modell-Lernen«, »Selbst«, nochmals durchgegangen werden. Im Hinblick auf das Erwartungs-Konzept hatten wir am On herausgehoben, daß hier einerseits in der begründungsanalytischen Fassung von »Erwartung« als Urteilsbildung potentiell das subjekthaft-aktive Moment des Lernens heraushebbar gewesen wäre, wobei aber diese Möglichkeit durch die Gleichsetzung von »Erwartung« und (operational bestimmbarer) ..Wahrscheinlichkeit« praktisch wieder zurückgenommen wurde. In unserem gegenwärtigen erweiterten Problemzusammenhang ist dem hinzuzufügen, daß durch diese widersprüchliche »Wahrscheinlichkeits«-Fassung des Erwartungskonzeptes dessen lerntheoretischer Erklärungswen wiederum gravierend eingeschriinkt und verarmt ist: Um Erwartungen in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken zu können, werden nämlich Einzelereignisse, deren relative Häufigkeit bzw. Übergangswahrscheinlichkeit bestimmbar ist, benötigt. Dies heißt, daß die »Welt« hier wiederum auf Folgen isolierter Gegebenheits· zufälle {" U mweltkontingenzen«) reduziert ist. Auf diese Weise ist aber das so verkürzte Erwartungslernen dem induktiven Lernen weitgehend angenähert. Dies bedeutet, daß auch das Konzept des Erwartungsiemens aufgrund seiner wahrscheinlichkeitstheoretischen Reduktion {bestenfalls) Lernprozesse in solchen Grenz- und Sondersituationen des Alltags abzubilden vermag, bei welchen die Erfassung von sachlich-sozialen Bedeutungszusammenhängen warum auch immer - unmöglich ist und nur zufällige Ereignisfolgen als Urteilsgrundlage übrig bleiben. Dabei kann eine derartige Situation begrenzten Weltaufschlusses wiederum mangels übergreifender Gesichtspunkte nicht in ihrer Begrenztheit theoretisch identifizierbar werden, sondern wird mit Lernen überhaupt gleichgesetzt. Ich habe dies früher bezüglich des induktiven Lernens als SR-psychologisch faßbarer Restform am Beispiel des Lernens der Funktion des Bremslichtes beim Autofahren veranschaulicht (vgl. S.60f). Hier sei, unter Einbeziehung des Erwanungskonzeptes, darüber hinaus angeführt, daß, wenn ich z.B. gelernt habe, per Lichtschalter die Lampe anzumachen, dies normalerweise keineswegs als Resultat des Erwerbs von »Erwartungen« aufgeund der Wahrscheinlichkeit, mit der auf das Knipsen das Lichtangehen folgt, also Lernen von ..Verhaltens-Verhaltensfolge-Kontingenzen« o.ä., zu betrachten ist. Vielmehr habe ich hier den sachlichen Zusammenhang zu verstehen gelernt, daß der Schalter den Stromfluß zur Lampe freigibt, so daß- in Abwesenheit von Störbedingungen - bei der Schalter· betätigungdie Lampe angehen muß. Ein Rest von Unsicherheit, durch welchen man hier nicht von ,.Wissen•, sondern nur von •Erwartung« reden kann, ergibt sich lediglich daraus,
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daß das Vorliegen der Störbedingungen eben nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann: Wenn die Birne oder der Schalter entzwei ist o.ä., kann ich die Lampe nicht mit dem Schalter zum Leuchten bringen. Sofern ein solcher Fall eintritt, minden dies aber keinesfalls notwendig meine .. Erwanung« in der Weise, daß ich beim nächsten Schaltversuch das Angehen der Lampe für weniger •wahrscheinlich« halten werde. Ich •Weiße jetzt vielmehr (eventuell nach einer kurzen Desorientierungsphase, s.u.), daß- wenn die Störung nicht beseitigt wird - die Lampe nicht einschaltbar sein kann, und werde dies - vernünftigerweise - keineswegs solange immer wieder versuchen, bis die subjektive Wahrscheinlichkeit, daß ich das Licht doch noch ankriege, auf Null gesunken ist, sondern statt dessen sofon die Birne auswechseln oder den Elektriker rufen.
Aus diesem Beispiel sollte sich verdeutlichen, daß die •erwartungstheoretische« Vorstellung von normalen Lernprozessen im Alltag nach Art von Erwartungsbildungen durch Wahrscheinlichkeitsschätzungen genau genommen eine schwerwiegende Fehlorientierung ausdrückt und vermittelt: Man lernt innerhalb der realen Lebenspraxis, soweit möglich, zur Bewältigung der Alltagsprobleme nicht Übergangswahrscheinlichkeiten (bzw. relative Häufigkeiten), sondern eben (wie immer verkürzt und unvollkommen) die Erfassung sachlicher bzw. sozialer Bedeutungszusammenhänge. Die Reduzierung der gelernten Urteile auf »Erwartungen« heißt dabei nicht das Zurückgeworfensein auf bloße Wahrscheinlichkeitsurteile, sondern ergibt sich aus bestimmten Begrenzungen der Einsicht in die jeweiligen sachlich-sozialen Bedeutungsstrukturen, führt also nicht einfach zu verringerter Urteilssicherheit, sondern vielmehr zum Versuch, die fehlenden Einsichten doch noch zu erreichen. Wahrscheinlichkeits-Urteile sind dabei zwar nicht ausgeschlossen, finden sich aber eher »in den Falten« der auf die sachlich-soziale Bedeutungserfassung gerichteten Lernaktivitäten, etwa als vorübergehende Ratlosigkeit (z.B. kurzes zielloses Herumprobieren am Lichtschalter, bis man sich klar gemacht hat: es geht nicht, mal Birne auswechseln o.ä.), oder eben in Grenzsituationen extremer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit etc. In jedem Falle aber ist »Lernen« hier in seiner Eigenart und Funktion gänzlich verfehlt, wenn man es lediglich als Gewinnung größerer Sicherheit im Rahmen von Wahrscheinlichkeitsurteilen bestimmen will: Vielmehr muß es darum gehen, theoretisch verständlich zu machen, wie im Lernen die Ebene bloßer Gegebenheitszufälle/ »Wahrscheinlichkeiten« immer wieder in Richtung auf die Ebene sachlich-sozialer Zusammenhangseinsicht überschritten werden kann (vgl. unsere späteren Ausführungen über »qualitative Sprünge« im Lernprozeß). Bei der früheren Diskussion des »Modell-Lernern« haben wir aufgewiesen, daß hier zwar im Prinzip mit der Berücksichtigung der intersubjektiven Verständlichkeit von Handlungen eine neue begründungstheoretische Theorie-
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ebene akzentuierbar ist, wobei aber durch das Selbstmißverständnis der »Bedingtheit« des Verhaltens der Vpn {im Experiment) die Prämissen der Handlungsgrunde des Lernenden, des Modells und der involvierten Dritten weitgehend unspezifiziert bleiben und so die Daten mehrdeutig und letztlich uninterpretierbar sind. Im Anschluß daran lassen sich im gegenwärtigen Darstellungskontext gewisse charakteristische kategoriale Verkürzungen bei der theoretischen Abbildung der typischen Gründe für das Lernen von anderen verdeutlichen: Im Konzept des Modell-Lernens wird nämlich (wie geschildert) prinzipiell davon ausgegangen, daß es lediglich die unmittelbaren Konsequenzen des Modellverhaltens für das Verhalten Dritter sind, durch welche der Beobachter zur {zunächst implizit gespeicherten und bei entsprechenden Verstärkungsbedingungen entäußerten) Angleichung an das Verhalten des Modells bzw. zur Hemmung ähnlicher Verhaltensweisen sich veranlaßt sieht. Die Welt des Beobachters besteht also auch in dieser Sicht {wie in den SR-psychologischen Theorien einschließlich ihrer erwartungstheoretischen Erweiterungen) aus zufälligen Kontingenzen, nur daß diese jetzt nicht nur als Kontingenzen für den Beobachter, sondern auch als Kontingenzen für das beobachtete Modell gefaßt, also quasi einen Schritt nach außen verlagert sind. In anderer Wendung: Auch innerhalb der hier theoretisch konzipierten Gesamtstruktur des Beobachtungs- bzw. Modell-Lernens sind nur (ob nun selbst erfahrene oder beobachtete) unmittelbare Reizeinwirkungen auf den Organismus berücksichtigt, die unabhängige Bedeutungstruktur der sachlich· sozialen Weltzusammenhänge, auf die sich die Handlungen/Handlungsgrunde beziehen, bleibt aber auch hier ausgeklammert. Dies schließt ein, daß auch im Konzept des Modell-Lernens die SR-psychologische Doktrin von der zwangsläufigen Determiniertheit des Verhaltens durch die gesetzten Bedingungen nicht aufgegeben ist: So meint man, daß die hergestellte Modellierungssituation als »Reizkonstellation« automatisch auch ein entsprechendes (ob nun implizites oder explizites) Verhalten des Beobachters hervorrufen muß, und macht deswegen (obwohl diese hier implizit mitgedacht sind) auf der Theorieebene keine ,.offiziellen« und systematischen Angaben über die Begründungsstruktur der Modellsituation und die Gründe, aus denen der Beobachter angesichts der gegebenen Prämissenlage sein Verhalten an das Modellverhalten angleichen soll. Demgemäß ist auch die methodische Problematik nicht faßbar, woher man in der jeweiligen Versuchsanordnungeigentlich wissen kann, daß die theoretisch angenommenen Begründungszusammenhänge nun auch tatsächlich von den Vpn realisiert worden sind. Diese Kritik läßt sich noch radikalisieren, wenn man die Analyse auf das
Konzept des Modell-Lernens als ganzes in seinem Verhältnis zu der Diskursebene
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Begründungsanalytische KritikiReinterpretation lerntheoretischer Ansätze
subjektiver Handlungsgründe ausweitet. Dabei stellt sich nämlich heraus, daß hier zwar einerseits das herkömmliche SR-psychologische Lernverständnis durch Einbeziehung der sozialen Dimension des »Lernens von anderen« unter kognitiven Aspekten bereichert und differenzien wird, daß dies aber andererseits mit einer charakteristischen, aus der Verhaftetheit in SR-psychologischen bzw. bedingtheitsanalytischen Vorstellungen resultierenden Problemverkürzung geschieht: Wie schon aus der hier eingeführten Begrifflichkeit: »Beobachter«, »Modell« etc., hervorgeht, ist dabei nämlich lediglich einseitig der mögliche Einfluß des Modells auf den Beobachter berücksichtigt, die Beobachterposition aber auf die passive Außensicht des Modell-Verhaltens reduzien, also die andere Seite des Beobachter-Einflusses auf das Modell ausgeklammen. Damit ist der Beobachter in seinem Bemühen, sich das Verhalten des Modells bzw. des Dritten auf ihre Gründe hin verständlich zu machen, quasi auf sich selbst zurückgeworfen: Er kann sich nur »innerlich« die Frage stellen, warum dieser oder jener dies oder das tun mag, aber er kann niFht die (meist auch nur im Film o.ä. gezeigten) Referenzpersonen selbst danach fragen. Damit ist nicht nur der »Beobachter« systematisch an der Erweiterung des für den Prozeß der lernenden Uneilsbildung relevanten Realitätsaufschlusses gehindert, sondern der intersubjektive Beziehungsmodus menschlichen Handeins kategorial verfehlt, damit auf theoretischer Ebene das interpersonale Frage- und Antwonspiel mit der Möglichkeit wechselseitiger Rückfragen, damit auch die Perspektive des fragenden Lernens suspendien (s.u.). Bei der begründungsanalytischen Diskussion des »Selbst«-Konzeptes haben wir früher am Beispiel von Rotters Theorie der gelernten Hilflosigkeit und Banduras Theorie der Selbstwirksamkeit - nachdem diese als Konzepte typischer Lernschwierigkeiten bei unzulänglicher Prämissenspezifikation expliziert worden waren - herausgehoben, daß - obwohl hier der Standpunkt des Subjekts in gewisser Weise thematisiert wird - die subjekthaft-aktive Überwindbarkeit der jeweiligen Behinderungssituationen dennoch nicht theoretisch abbildbar, also die hier thematisierte besondere Form von Erwartungslernen letztlich nur als Lernen von Realitätsverkennungen, ..Voruneilen«, o.ä. faßbar wird. Der prinzipiellere Grund für diese theoretischen Beschränkungen liegt (wie wir im gegenwänigen Diskussionskontext hinzufügen) offensichtlich auch hier in der nicht überwundenen Verhaftetheit im SR-psychologischen Kontingenz-Denken. Demgemäß sind die dabei angesprochenen Erwartungsänderungen - über welche »kognitiven« Zwischenstationen auch immer - letztlich nur aus Änderungen von U mwelt-Kontingenzen erklärlich zu machen, die in der Regel von dritter Seite hergestellt worden sein müssen, damit es zur Änderung der Erwanungen kommen kann. Begründungstheoretisch
Kritik/ReinterJmttltion lrognitiwr El"f«iterungtn dn SR-Psychologie
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bedeutet dies: In der Sicht solcher Theorien ist das Subjekt den Bedingungen/Prämissen, unter denen es begründet nur zu Lernprozessen mit dem Resultat der Vorurteilsbildung, der Hilflosigkeit, der objektspezifischen Furcht etc. kommen kann, ausgeliefert: Hier führt aus eigener Aktivität, also ohne fremdgesetzte Bedingungsänderungen, kein Weg hinaus. Aus dem gleichen Zusammenhang versteht sich eine zweite prinzipielle Beschränkung der diskutierten »Selbst«.:fheorien: Die Überwindung der jeweiligen Lernbehinderungen- und sei es mittels außengesetzter Bedingungs-/ Prämissenänderungen - ist hier nur soweit konzeptualisierbar, wie dabei die gleiche Art von Lernprozessen unterstellt werden kann, die auch zur Entstehung der Lernschwierigkeit geführt haben, nämlich das Erwartungslernen als induktive Urteilsbildung, d.h. Fortschreibung von zufälligen Kontingenzen innerhalb erfahrener Ereignisfolgen bei der Einschätzung zukünftiger Ereignisse: Rotter hat seinen Erwartungs-Begriff (wie dargestellt) explizit dergestalt wahrscheinlichkeitstheoretisch definiert; entsprechend sind die Erwartungsänderungen oder deren Ausbleiben aufgrund interner bzw. externer Kontrollüberzeugungen als induktive Verallgemeinerungen der (vermeintlich) bisher selbst herbeigeführten bzw. nur zufällig eingetretenen Erfolge/ Mißerfolge mit Bezug auf den nächsten Versuch der Aufgabenlösung zu betrachten. Die »gelernte Hilflosigkeit« beeinhaltet nichts weiter als den induktiven Schluß: Weil bisher nichts zu machen war, wird auch jetzt nichts zu machen sein. Und auch in Banduras »Informationsquellen« für die Änderung der Selbstwirksamkeits-Erwartungen ist (wenn auch vermittelter) im wesentlichen die induktive Verallgemeinerung früherer (eigener oder fremder) Erfahrungen bei der Einschätzung der eigenen Wirksamkeit angesprochen. Wenn nun aber (was in Rotters und Seligmans Theorie offensichdich ist und bei Banduras Theorie angenommen werden kann) die jeweiligen Lernschwierigkeiten selbst als Resultate des induktiven Erwartungsiemens aufzufassen sind, so kann bei einer Konzeptualisierung der Lernprozesse zur Oberwindbarkeit dieser Schwierigkeiten nicht wiederum die gleiche Art des induktiven Erwartungsiemens angesetzt werden. Um dies zuzuspitzen: Da es gerade die (früher herausgehobenen) Beschränkungen der induktiven Urteilsbildung sind, aus denen hier die Verkürzungen des Realitätszugangs herrühren, können die Lernaktivitäten in Richtung auf eine Aufhebung solcher Verkürzungen nicht wiederum als Prozesse induktiver Urteilsbildung geJaßt werden. Vielmehr müßte man hier über theoretische Mittel zur Konzeptualisierung von Lernaktivitäten verfügen, in welchen eine neue Ebene der Urteilsbildung über
die sachlich unfundierten, bloß induktiven Urteile (vgl. S.58f} hinaus erreicht werden kann (vgl. dazu wiederum unsere späteren Ausführungen über qualitative Lernsprünge). Derartige Denkmittel sind aber in den durch das Kontingenz-Konzept gesetzten theoretischen Schranken der hier diskutierten Theorien
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
nicht zu entwickeln. So sehen wir uns vor dem merkwürdigen Umstand, daß angesichts der geschilderten Lernbehinderungen in solchen Theorien Lernprozesse offensichtlich nur als Verkürzung, nicht aber als Aufichlüsselung des Realitätszugangs durch die Lernenden konzeptualisierbar sind. Daraus verdeutlicht sich auf kategorialer Ebene, welchen Beschränkungen das in die diskutierten Erwartungstheorien einbezogene »Selbst«·Konzept aufgrund der benannten, nicht hinterfragten SR-theoretischen Rahmenbestimmungen unterliegt: Die Mächtigkeit des Subjekts als Ursprungs seiner eigenen Handlungen ist hier zurückgestutzt auf die subjektive Veränderbarkeit von Erwartungen hinsichtlich dieser Mächtigkeit. Dabei werden - mindestens in Rotters und Seligmans Theorie - implizit die •subjektiven« Erwartungen als Verkennungen der wirklichen Sachverhalte aufgefaßt, also das .. subjektive• mit dem .. Objektiven« in Gegensatz gebracht. Aber auch bei Bandura geht es in diesem Kontext nicht um .. Selbstwirksamkeit«, sondern lediglich um .. Selbstwirksamkeits-Erwartungen«. In jedem Falle also wird Subjektivität als bloße Sichtweise des Individuums von dessen wirklichen, realitätsverändernden Handlungen abgekoppelt. Aufgrund der damit abgeschlossenen Diskussion der verschiedenen Ansätze zur kognitiven Erweiterung der SR-psychologischen Lerntheorien verdeutlicht sich, daß offenbar der psychologiegeschichtliche Kompromißcharakter solcher Erweiterungsversuche selbst- Zugeständnisse an die Kognitive Psychologie ohne Aufgeben der eigenen SR-theoretischen Grundposition - wirkliche konzeptuelle Neuorientierungen verhindert: Da »S« und »R« als kategoriale Rahmenbestimmungen hier unangetastet bleiben, können nämlich die einbezogenen kognitiven Konzepte gar keinen anderen Charakter haben als den von »Zwischenvariablen«, die zwischen S und R eingeschoben sind. Es handelt sich hier mithin um eine - wenn auch exzessive - begriffliche Ausgestaltung der »Black Boxe, deren Relation zur Welt und zu menschlichem Handeln (damit auch empirische Verankerung) mithin immer noch als lediglich über »Reize« und »Reaktionen« vermittelt denkbar ist. Die außendeterministische und assoziationistische Grundlage der SR-Theorien bleibt also erhalten. Dies impliziert auf der einen Seite, daß die kognitiven Konzepte, in denen doch eigentlich Möglichkeiten und Dimensionen menschlicher Welterkenntnis abbildbar sein müßten - indem sie nur als über »Reizkonstellationen« mit der Welt in Kontakt stehend vorgestellt werden können - auf eigentümliche Weise »in sich« zurückgebogen und auf von der Weltbeziehung abgehobene, bloß »innerliche« Prozesse verwiesen sind: Statt des kognitiven ZugriffS auf die sachlich-sozial bedeutungsvolle Welt bloße realitätsentbundene »Erwartungen«, Desorientierungen, Vorurteile o.ä .. Auf der anderen Seite bedeutet dies, daß
Kritik/Reinterpretation kognitiver Erweiterungen der SR-Psychologie
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die Ergebnisse kognitiver Urteilsprozesse hier immer nur als in »Reaktionen« umsetzbar erscheinen, wobei diese aber per definitionem nicht unmittelbar durch die Kognitionen, sondern - mit diesen »vorhersagbar« vermittelt (quasi über deren Kopf hinweg) durch die Reizkonstellation determiniert gedacht werden. So wird menschliche Subjektivität im Prinzip zu einem bloßen Epiphänomen. Das Subjekt als Ursprung von Handlungen, damit auch als Ursprung seiner eigenen Lernaktivitäten, ist in diesem theoretischen Rahmen unvorstellbar. Dies schließt ein, daß die Frage nach meinen Lerngründen in ihrem Interessenbezug auch hier nicht einmal gestellt werden kann: Das SichEinlassen des Lernsubjekts auf (experimentell oder »technologisch« hergestellte) Zwangslagen als subjektive Scheinbestätigung der bedingungsanalytischen Doktrin der Außendetermination des Verhaltens wird hier- trotz aller kognitiven Erweiterungen - nach wie vor als einzige Form menschlichen Lernens universalisiert. So stehen wir nunmehr vor der Frage, wieweit die Perspektive einer Überwindung der benannten außendeterministischen Einseitigkeiten, damit der Konzeptualisierbarkeit lernenden Weltzugangs des aktiven Lernsubjekts, sichtbar wird, wenn wir jetzt - jenseits der bloßen Diskussion kognitiv erweiterter SR!fheorien - die Kognitive Psychologie als den »Hegemon« der Epoche selbst in die Analyse einbeziehen. Wieweit also sind die aus der begründungstheoretischen Reinterpretation vorfindlieber Ansätze gewonnenen Gesichtspunkte einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie quasi »vom Kopf auf die Füße zu stellen«, wenn nun die einschlägigen kognitivistischen Grundkonzepte in die Reinterpretationsbemühungen einbezogen werden?
2J Kritik/Reinterpretation des »Gedächtnis«-Konzeptes als kognitivistischer Fassung des Lernproblems
Vorbemerkung Mit der kognitiven Wende, durch welche sich (wie gesagt) die bisher dominante SR-Psychologie in die zweite Reihe verwiesen sah, wurden einerseits kognitive Ansätze und Fragestellungen der alten Bewußtseinspsychologie die von Ebbinghaus inaugurierte assoziationspsychologische Gedächtnisforschung, die Würzburger Schule der Denkpsychologie, die Berliner Schule der Gestalttheorie, etc. - die seinerzeit durch die behavioristische Umwälzung zurückgedrängt worden waren - Mitte oder Ende der fünfziger Jahre wieder aufgegriffen. (Insoweit konnte Sigmund Koch, der kritische Historiograph der Mainstream-Psychologie, die kognitive Wende in Anlehnung an die Feeudsehe Formel als »Wiederkehr des Verdrängten« charakterisieren.) Anderererseits aber gewann der neue Kognitivismus von Anfang an dadurch gegenüber der alten kognitiven Psychologie seine Besonderheit, daß hier die kognitiven Prozesse nach dem Muster wissenschaftlicher und technischer Verfahren modelliert wurden: Als •Hypothesenprüfungen«, •Strategien«, »Heuristiken«, •intuitive Statistik« etc., vor allem (und die anderen Aspekte einbeziehend) aber als »lnformationsverarbeitungs·Prozesse« durch Computer. Dabei muß die Besonderheit der Kognitiven Psychologie auf dem Hintergrund der sich ungefähr gleichzeitig entwickelnden interdisziplinären •cognitive science« gesehen werden, in welcher u.a. die Computer-Simulation psychischer Prozesse (etwa mit der Konstruktion computergestützter .. Lernmaschinen« o.ä.) versucht wurde und sich das heute sehr bedeutsame Gebiet der •artificial intelligence« (AI), also ·künstlichen Intelligenz« (KI) herausbildete. Hier sollen nicht psychische Prozesse simuliert, sondern leistungsfähige Hilfsmittel zur Problemlösung, Wissenskumulation etc. in verschiedenen Bereichen entwickelt werden. Die eigentliche Kognitive Psychologie ist (trotz vielfältiger Verbindungen und Überschneidungen) gegenüber diesen Bereichen dadurch gekennzeichnet, daß es hier nicht (notwendig) um reale Computeranwendungen, sondern um die theoretische Modeliierung kognitiver Prozesse nach Analogie der Computer-Hardware und besonders -Software geht.
Kritik/Reinterprttation des Kognitivismus
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Die den Kognitivismus kennzeichende theoretische Computer-Metaphorik war es wohl auch, aus der die Möglichkeit der Durchsetzung des kognitiven ,.Paradigmas« gegenüber der SR-Psychologie erwuchs: Man hatte jetzt dem wesentlich an der Physik und Physiologie orientierten Naturwissenschaftlichkeitsanspruch der SR-Psychologie einen offenbar gleichrangigen, aus der Informatik bzw. Computerwissenschaft entliehenen wissenschaftlichen Exaktheitsanspruch entgegenzusetzen, wobei man gleichzeitig dadurch im Vorteil war, daß nunmehr auch bisher nicht als wissenschaftsfähig geltende Bewußtseinsprozesse streng wissenschaftlich untersuchbar schienen. Die durch solche Bedingungen begünstigte Entwicklung verlief so rasch, daß bereits im Jahre 1967 Eric Neisser- in seinem Buch •Cognitive Psychology«den Vollzug des •Paradigma-Wechsels« verkünden und dokumentieren konnte. Wenig später kam es zu den ersten Gründungen einschlägiger Zeitschriften, so im Jahre 1970 der Zeitschrift »Cognitive Psychology« (die noch heute zu den einflußreichsten psychologischen Periodika gehört). Mit dieser Wende vollzog sich naturgemäß ein Wechsel der psychologischen Wissenschaftssprache von der bisherigen Stimulus-Response.:ferminologie zur metaphorisch gemeinten Computer.:ferminologie: Statt von »Reiz«, »Reaktion«, »Kontingenz«, »Verstärkung« etc. redet man hier mit Bezug auf das menschliche Individuum von »Input«, »Output«, Enkodierung und Abruf, verschiedenartigen »Speichern« (als computersprachlicher Fassung des Gedächtnisses), hierarchischen Such- und Entscheidungsbäumen etc. Dabei kommen (in einem bestimmten Zweig der Kognitiven Psychologie, s.u.) innerhalb dieses neuen Sprachduktus auch kybernetische Konzepte über Steuerung und Kontrolle in offenen Systemen als fließende Einregulierng der IstWerte auf einen Soll-Wert durch Rückkoppelungsprozesse zur Geltung. In unserem Problemzusammenhang besonders wichtig ist der schon erwähnte Umstand, daß mit der neuen »kognitiven« Terminologie auch der Begriff des »Lernensc, der bisher im Mittelpunkt der SR-psychologischen Theorienbildung stand (so daß man die ganze Richtung berechtigt als »Lerntheorie« bezeichnen kann), nunmehr seine zentrale Position einbüßte. Dies ging so weit, daß in dem erwähnten Manifest der kognitiven Wende von Neisser (1967) der Terminus »Lernen« als in irgendeinem Sinne systematischer Begriff praktisch nicht mehr vorkommt. In neuerer Zeit hat das Konzept des Lernens allerdings durch den im Umkreis der »Künstlichen Intelligenz« angesiedelten (und von manchen als Alternative dazu betrachteten) ,.konnektionistischen« Ansatz eine gewisse Wiederbelebung erfahren - allerdings selbst wieder in einer reduzierten, mehr »metaphorischen« Weise, indem bestimmte Optimierungsvorgänge, die in nach dem Muster neuronaler Netzwerke aufgebauten und programmierten Computern erreicht werden können, als »Lernprozesse« des Systems bezeichnet werden (s.u.).
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
Wenn also .. Lernen« im Kognitivismus kaum eine selbständige konzeptionelle Bedeutung hat: Warum beschäftigen wir uns dennoch in unserer Arbeit über Lernen mit bestimmten Aspekten der Kognitiven Psychologie? Dies versteht sich einerseits daraus, daß aus der erwähnten kybernetischen Variante der Kognitiven Psychologie, insbesondere durch deren handlungstheoretische Weiterentwicklungen, wesentliche Gesichtspunkte für die Entfaltung eines begründungstheoretischen Lernkonzepts gewinnbar sind (dies wird jedoch erst im nächsten Teilkapitel2.4 dargestellt und diskutiert); weiterhin daraus, daß - während andere Zweige des Kognitivismus, wie »Begriffsbildung«, »Problemlösen« etc. (wie z.T. später noch erörtert) mehr der abgrenzenden Präzisierung des Lernkonzepts dienlich sind - das kognitivistische Gedächtnis-Konzept für die Klärung des Lernproblems unmittelbar relevant ist. Dies geht soweit, daß man (wie etwa aus einer Gegenüberstellung der SRpsychologischen und kognitivistischen Grundbegriffe von Bredenkamp & Wippich, 1977, S.13f, hervorgeht) das »Gedächtnis« in gewissem Sinne als die
kognitivistische Fassung oder Spezifzzierung des SR·theoretischen Lernkonzeptes betrachten kann. In die gleiche Richtung weist die Benennungsänderung einer (besonders wichtigen und repräsentativen) psychologischen Zeitschrift, die noch im Jahre 1962 unter dem Skinner verpflichteten Titel •Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior• gegründet, aber 1985, mit ihrem 24. Band, in ..Journal ofMemory and Language• umbenannt wurde. Zur Begründung weisen die Herausgeber (M.A. Just und P.A. Carpenter), darauf hin, daß diese Umbenennung eigentlich schon seit mehreren Jahren überfällig gewesen sei, da sie dem wirklichen Inhalt der Zeitschrift und der Natur des Forschungsfeldes entspreche. Im gleichen Trend werden in neueren Gesamtdarstellungen das •Lernen« (im SR-psychologischen Sinne) und das ..Gedächtnis« (als kognitivistisches Konzept} oft zusammen abgehandelt, meist, indem einem ersten Teil über »Lernen« ein zweiter Teil über »Gedächtnis« folgt. Nicht selten kommen nach der Durchsetzung der kognitiven Wende beide Bezeichnungen, »learning« und »memoryc, schon im Titel einschlägiger Lehrbücher o.ä. vor, so u.a. bei Stein & Rosen (1974), Crowder (1976), Flaherty et al. (1977), Wickelgren (1977), Hintzman (1978), Tarpy & Mayer (1978), Bugelski (1979), Ellis et al. (1979), Spear & Campbell (1979) und Houston (1981).
Aus der damit dargelegten Nähe zwischen »Lernen« und »Gedächtnis« (die ja auch dem alltäglichen Vorverständnis entspricht) ist der Umstand, daß wir uns im folgenden mit der kognitivistischen Gedächtnisforschung beschäftigen wollen, wohl hinreichend plausibel gemacht. Dies bedeutet aber nun keineswegs, daß das begriffliche Verhältnis zwischen »lernen« und »Gedächtnis« in der Literatur schon geklärt worden ist, so daß wir bei unseren Analysen darauf zurückgreifen könnten. Im Gegenteil: In den einschlägigen Darstellungen werden ziemlich durchgehend das »lernen« als Spezialität der SR-Psychologie und das .. Gedächtnis« als Spezialität der Kognitiven Psychologie mehr oder weniger begriffslos aneinandergereiht oder gegenübergestellt.
Kritik/Reinterpretation des Kognitivismus
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So müssen wir also bei unseren Bemühungen um eine begründungstheoretische Kritik und Reinterpretation der kognitivistischen Gedächtnisforschung auch die Voraussetzungen dafür zu schaffen suchen, später den Stellenwert des Gedächtniskonzepts innerhalb einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie genauer auseinanderlegen zu können.
Theoretische Grundkonzeptionen kognitivistischer Gedächtnisforschung Wie im Kognitivismus generell Fragestellungen aus der frühen bewußtseinspsychologischen Phase der Psychologie vor der Durchsetzung des Funktionalismus/Behaviorismus aufgegriffen und neu gefaßt wurden, so knüpft auch die kognitivistische Gedächtnisforschung an klassischen Untersuchungen, nämlich denen von Ebbinghaus und seinen unmittelbaren Nachfolgern über das menschliche Gedächtnis an. Ebbinghaus {1885 etc.} ging es (gemäß dem »Strukturalistischen« Grundansatz der damaligen Psychologie) - wie Wundt - nicht um die Bedingtbeiren des Verhaltens anderer Menschen, sondern um die Aufbauelemente und -gesetze des Psychischen. Das Phänomen, dessen Aufbau Ebbinghaus erforschen wollte, war jedoch nicht das Bewußtsein im Ganzen, sondern spezieller das Gedächtnis als quasi zeitlicher Prozeß-Aspekt des Bewußtseins. Aber auch dabei war es sein Ziel, die Elemente, hier von Gedächtnisprozessen, zunächst möglichst rein, d.h. unbeeinflußt von zusätzlichen komplizierenden Faktoren, zu erfassen, um so den Gedächtnis-Aufbau »Von unten« her auf die assoziativen Verknüpfungsgesetze der Elemente hin untersuchen zu können. Das »Gedächtniselement«, das Ebbinghaus unter dieser Zielsetzung herausanalysierte (und das in gewissem Sinne die gleiche forschungsstrategische Funktion hatte wie Wundts einfache Empfindungen und Gefühle), war die »sinnlose Silbe«: Ein Kunstwort aus drei Buchstaben, zwei Konsonanten und einem von diesen umschlossenen Vokal, z.B. MUB, NUF, MEV. Durch das Lernen und spätere Reproduzieren bzw. Wiedererkennen solcher sinnloser Silben sollten die Gesetze des Behaltensund Vergessens ohne Verfälschungen durch schon vorher im Alltag Gele~ntes und Eingeprägtes, eben in reiner Form, faßbar werden. Dazu entWtckelten Ebbinghaus und seine Mitarbeiter (so insbesondere Müller & Schumann, 1894) spezifische »Gedächtnismethoden«, z.B. »Methode des Erlernens«, »Ersparnismethode«, »Methode des Behaltens«; das zeitliche Verh~tnis zwischen Lernen und Vergessen des Materials wurde in sog. Gedächt~tskurven bzw. Vergessenkurven dargestellt (vgl. die später von dem Ebbingaus-Schüler Jost, 1897, aufgestellten •Jostschen Gesetze«) etc.
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
Die kognitivistische Gedächtnisforschung hat mit der klassischen Gedächtnisforschung gemeinsam, daß dabei so gut wie ausschließlich sprachliches bzw. symbolisches Material (i.w.S.) benutzt wird, allerdings neben sinnlosen Silben zunehmend auch bedeutungsvolle Wörter, Sätze, bis hin zu ganzen Texten. Das entscheidende Spezifikum der Gedächtnisforschung nach der kognitiven Wende ist jedoch- wie gesagt- die Verwendung von aufdie Computer-Metapher gestützten Termini und Modellen. Dabei wurde praktisch von Anfang an (seit den fünfziger Jahren) nicht nur das Gedächtnis in Analogie zum Computerspeicher gesetzt, sondern man entwickelte darüber hinaus theoretische Konzepte, in denen das Gedächtnis als aus nicht nur einem, sondern aus zwei bzw. drei unterschiedlichen Speichern bestehend modelliert wurde. Die (heute allerdings gebrochene, s.u.) Herrschaft von solchen »Mehrspeicher-« oder »Mehrkomponentenmodellen« begann wohl mit Broadbent (1959), dessen Untersuchungen über die begrenzte Kanalkapazität des menschlichen Sensoriums die Annahme eines ,.zwischenspeichersc (•buffer«), der bei Überschreitung der sensorischen Aufnahmefähigkeit die einkommende Information kurzfristig festhalten kann, als vom bisher allein betrachteten Langzeitgedächtnis unterscheidbar nahelegte. Im weiteren wurde daraus, über mehrfache U mdeutungen und Erweiterungen, ein Dreispeichermodell des Gedächtnisses, wie es von Atkinson & Shiffrin (1968) in Zusammenfassung vorgängiger Untersuchungen und Diskussionen entworfen worden ist und in gewissen Strömungen der Kognitiven Psychologie noch heute (teilweise abgewandelt und ergänzt) tradiert wird. Demnach hat man einen Ultrakurzzeitspeicher mit einer Haltezeit von 1I 4 bis 2 Sekunden als »Sensorisches Register« (SR), einen Kurzzeit-Speicher (Short term memory = STM) mit mehreren (5-20) Sekunden Haltezeit und einen Langzeit·Speicher (LTM) mit unbegrenzter Haltezeit (das eigentliche •Gedächtnis«) zu unterscheiden. Dabei ist vorausgesetzt, daß Schwierigkeiten bei der Aktualisierung von Daten aus dem Langzeit-Speicher nicht auf Grenzen der Haltezeit, sondern auf Mängel der Wiedererinnerung, also des Abrufprozesses, zurückgehen. Der Informationsfluß soll gemäß diesen Modellvorstellungen vom SR zum STM, von da aus zum LTM und (beim Erinnern als »Abruf« aus dem LTM) wieder in den STM (und von da aus u.U. noch in eine Art von •Response-Generator«, der die Umsetzung der Information in manifestes Verhalten besorgt) gehen. Die Differenzierung zwischen sensorischem Register und Kurzzeitspeicher wurde als Übergang von der bloßen Reizinformation zu einer ersten (von mir gleich näher charakterisierten) Versprachlichung im STM gekennzeichnet, wobei die Aufnahme der Information in das sensorische Register aufmerksamkeitsunabhängig, deren Überführung in den STM aber nur aufgrundvon Aufmerksamkeitsprozessen vollziehbar sein soll (vgl. etwa Crowder & Morton 1969).
Kritik/Reinterpretation des Kognitivismus
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Zur Begründung der Unterscheidung zwischen STM und LTM wurde etwa auf vielfältige Befunde verwiesen, denen gemäß der STM eine gegenüber dem LTM begrenzte Aufnahmekapazität haben soH (entsprechend den meisten experimentellen Resultaten zwischen 5 und 9 gleichzeitig rezipierbare Items), so daß, um die weitere Informationsaufnahme zu ermöglichen, der Inhalt des STM im LTM abgelegt werden muß. - Weiter wurden experimentelle Ergebnisse angeführt, aus denen hervorgehen soU, daß die im Kurzzeit-Speicher enthaltenen Informationen nur durch aktive Kontrollprozesse wie Wiederholen, Memorieren und andere Behaltensstrategien zu fu:ieren, also quasi durch eine Verbalschleife a~frechtzuerhalten sind. Solche Aktivitäten sollen die Voraussetzung für die Uberführbarkeit in den LTM darstellen, wo sie dann ohne besondere Behaltensstrategien verharren. (Lediglich im STM gespeicherte Telefonnummern z.B. halten sich nur durch inneres Wiederholen und erzwingen alsbaldiges Wählen, da sie sonst wieder entfallen, während im LTM gespeicherte Telefonnummern jederzeit beliebig abrufbar sind, vgl. Schönpflug & Schönpflug 1983, S.204). Häufig wurde dabei- indem man das Ausmaß der genannten Kontrollprozesse als zeitabhängig betrachtete eine einfache Entsprechung zwischen der Verweildauer im STM und der Behaltensleistung im LTM angenommen und experimentell »bestätigt«. - Als besonders schlüssig zur Begründung für die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen STM und LTM gelten Befunde, aus denen hervorgeht, daß bei manchen Formen von Amnesie der Kurzzeitspeicher bei voller Funktionsfähigkeit des Langzeitspeichers gestört sein kann (vgl. etwa Milner 1970 und Warrington 1971). In besonderem Grade theoretisch relevant sind Hypothesen und Resultate über verschiedene »Kodierungstufen« bei der Aufnahme der Information in den Kurzzeitspeicher und bei deren Übergang in den Langzeit-Speicher: Während im Kurzzeitspeicher, obzwar der Input bereits durch die Überführung aus dem sensorischen Register in sprachlicher Form vorliegt, per Kodierung dennoch eine mehr sensorische Ordnung nach den akustischen bzw. phonetischen Merkmalen der verbalen ltems entstehen soll, wird als Resultat einer zweiten Kodierungsstufe eine Ordnung nach (sprachlichen) Bedeutungsbeziehungen unabhängig von der sinnlichen Erscheinungsweise der Elemente, also eine semantische Ordnung unterstellt (vgl. Baddeley 1966) also etwa im STM phonetische Ordnung nach Klangähnlichkeit: BAUM, SAUM, RAUM, TRAUM, und im LTM semantische Ordnung: KAMPF, KRIEG, FEHDE, SCHLACHT (vgl. Schönpflug & Schönpflug 1983, S.205). Die Kodierungsprozesse sind im übrigen, in mehr oder weniger enger Verbindung mit dem geschilderten Mehrspeicher-Modell, noch differenzierter untersucht und klassifiziert worden. Dabei unterschied man etwa eine »reduktive Kodierung«, in welcher (ggf. innerhalb des STM) aufgrund der
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begrenzten Aufnahmekapazität die Information hinsichtlich bestimmter Aspekte selegiert, in »Chunks« bzw. »Clustern« gebündelt etc., und so auf bestimmte Kennwerte für die Gesamtinformation reduziert wird, von einer »elaborativen Kodierung«, in welcher (ggf. im LTM) von den Individuen zwecks Behaltens und Abrufbarkeit aktiv Bedeutungsimplikationen und -zusammenhänge, die ursprünglich im Material gar nicht enthalten waren, herausgehoben werden (vgl. dazu die ausführlichen Darstellungen von Bredenkamp & Wippich II, 1977, S.40ff). Auf der Grundlage des Dreispeicher-Modells sind auch darauf bezogene Vorstellungen über die Eigenart des Wiedererinnerns, also der »Abrufvorgänge«, entwickelt worden. So wurde etwa angenommen, daß bei jedem Abrufvorgang zunächst eine spezifische Abrufinformation (»probe information«) im STM quasi als Frage an das LTM im STM gespeichert ist, wodurch selektiv bestimmte Informationen aus dem LTM aktiviert und (u.U. per Eintritt in das STM) zugänglich bzw. bewußt gemacht werden. Dabei soll mit jedem vollzogenen Abruf die damit aktivierte Information im LTM gegenüber anderen Informationen selektiv gestärkt, d.h. aktualisierbar werden, womit - wenn weitere LTM-Inhalte erfordert sind - zur Relativierung solcher Einengungen die Abruf-Information ausgewechselt werden muß. Die Wirksamkeit einer Abruf-Information ist - so wird angenommen - darüber hinaus von bestimmten Kontext·Bedingungen abhängig: Demnach kann - wenn der Kontext, in dem eine Information steht, sich von der Speicherungssituation bis zur Abrufphase verändert hat- der Zugang zum LTM blockiert sein. Weiterhin werden für bestimmte Abruf-Schwierigkeiten Interferenzen zwischen ähnlichen ltems (etwa im STM phonemische Ähnlichkeiten, im LTM semantische Ähnlichkeiten) verantwortlich gemacht, wodurch mit der Aktualisierung einer ähnlichen irrelevanten Information die relevante (d.h. in der Abruf-Information erfragte) Information quasi verstellt wäre (vgl. dazu auch Bredenkamp & Wippich II, 1977, S.88ff). Neben der Unterscheidung zwischen SR, STM und LTM sind- in wechselndem Verhält!J.is zum Dreispeicher-Modell - weitere Unterscheidungen verschiedener Gedächtnisarten vorgeschlagen, diskutiert und teilweise wieder verworfen worden. Die wohl relevanteste dieser Unterscheidungen, die sich bis heute weitgehend eingebürgert hat, ist die von Tulving (1972) erst· mals eingebrachte Differenzierung zwischen einem »episodischen« und einem »Semantischen« Gedächtnis. - Als dem episodischen Gedächtnis zugehörig gelten Gedächtnisinhalte, die sprachliche Repräsentanzen jeweils bestimm· ter, raumzeitlich bzw. geographisch-historisch fixierbarer Ereignisse darstellen, bei denen der Einprägungsvorgang lokalisiert werden kann: Ich habe dich das letzte mal vor 3 Jahren in Kopenhagen gesehen (was impliziert, daß ich mir damals an diesem Ort eingeprägt habe, was ich heute erinnern kann).
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Im semantischen Gedächtnis dagegen sollen nicht Repräsentanzen konkreter Ereignisse, sondern Repräsentanzen begrifflicher Strukturen oder Ordnungen gespeichert sein, wobei der Zusammenhang zwischen diesen Repräsentanzen nicht im raumzeitlichen Bezugssystem, sondern nach Regeln, Formeln, Algorithmen hergestellt ist, die über die aufgenommene Information hinausgehende Inferenzen, Schlußfolgerungen enthalten bzw. gestatten. So habe ich das mir Statement »ein physischer Gegenstand kann sich nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten befinden« niemals für sich genommen eingeprägt, kann es aber dennoch über Inferenzaktivitäten jederzeit aus meinem semantischen Gedächtnis abrufen. Aber auch einfache sprachliche Über- und Unterordnungen, wie »Löwen sind Säugetiere« oder »ein Mann ist ein männlicher Mensch«, haben keine »episodische«, sondern eine »semantische« Struktur, gehören also nicht zu meinem anschaulichen ... ~ltwissen«, sondern zu meinem »propositionalen« (aussagebezogenen) Wissen als Grundlage (und Resultat) von Denkaktivitäten aller Art (vgl. Bower & Hilgard 1984, S.258f).- In Abhängigkeit von der somit unterstellten unterschiedlichen Struktur des episodischen und semantischen Gedächtnisses werden für beide auch unterschiedliche Arten von Wiedererinnerns- bzw. Abrufvorgängen zur Aktualisierung der jeweiligen Repräsentanzen angenommen: Mit Bezug auf »episodisch« gespeicherte Repräsentanzen soll das Erinnern in raumzeitlich orientierten Suchprozessen bestehen (warte mal, 1984 waren wir in Norwegen in Ferien, danach bin ich krank geworden, seitdem waren wir nicht mehr weg, also muß der Oesterreich-Urlaub früher gewesen sein). Beim Erinnern von Repräsentanzen im semantischen Gedächtnis dagegen bewege man sich innerhalb der dort »abgelegten« sprachlichen, logischen, axiomatischen Ord· nungen hin und her, um schließlich den Schnittpunkt im Wissenssystem zu finden, der jeweils konkret »gefragt« ist (ob ich dies als »ideologisch« bezeichnen kann, hängt davon ab, wieweit mit »Ideologien« lediglich verschleiernde Rechtfertigungssysteme oder auch positive Welt- und Lebensdeutungen gemeint sind; nach dem aktuellen Bedeutungszusammenhang scheint die erste Variante hier angemessener). Zur Spezifizierung derartiger Zusammenhangsstrukturen wurden im weiteren verschiedene Modelle sog. semantischer Netzwerke vorgeschlagen, in denen unterschiedliche hierarchische, topographische etc. Ordnungsprinzipien der einschlägigen Gedächtnisrepräsentanzen angenommen und untersucht werden ( vgl. etwa Bredenkamp & Wippich II, 1977, S.108ff). - Dieses zunehmende Interesse an semantischen Strukturen führte (wie erwähnt) zu bestimmten Änderungen der Materialien für die Gedächtnisforschung von einzelnen Elementen (sinnlosen Silben, Buchstaben, Symbolen, Worten) und deren Auflistung hinweg zu ganzen Texten bzw. Diskursen, deren Rezeption, Strukturierung und Reproduktion empirisch analysien wurde (die neueren Entwicklungen dieses Forschungszweiges sind
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von Bower, der - z.B. zusammen mit Anderson - dazu selbst Modellvorstellungen bzw. Resultate beigetragen hat, zusammenfassend dargestellt worden; vgl. Bower & Hilgard 1984, S.275ff). Mit der wachsenden Bedeutung semantischer Zusammenhänge und Strukturen inner· halb der kognitivistischen Gedächtnisforschung gingen (naturgemäß) zunehmende termi· nologische und theoretische Bezüge zur Linguistik einher - wobei derartige Affinitäten entscheidend dadurch begünstigt wurden, daß auch die Linguistik (in bestimmten Strömungen) eine ..informationalec Wende durchgemacht hat und heute als Kognitive Linguistik sich mehr oder weniger der Computer-Metapher verpflichtet sieht. Als eine Art von Reaktion darauf, aus welcher die (später noch zu diskutierende) •semantische« Einseitigkeit moderner kognitivistischer Gedächtnisforschung schlaglichtartig erhellt, wurde von Cohen & Squire (1980) eine weitere Unterscheidung, nämlich die zwischen :~proposi· tionalem Gedächtnis« (•knowing that«) und :~prozeduralem Gedächtnis« (•knowing how«) als wesentlich nahegelegt (und ebenfalls u.a. mit Hinweis auf die getrennte Störbarkeit beider •Gedächtnisse« bei amnestischen Patienten begründet). Damit werden praktisch alle bisher unterschiedenen Gedächtnisarten (bis auf das in diesem Zusammenhang nicht diskutierte ..Sensorische Register«), da an verbalem bzw. symbolischem Material realisiert, auf die Seite des •propositionalen«, d.h. aussagebezogenen, Gedächtnisses geschlagen: Auf diese Weise ist die hier bisher vernachlässigte Selbstverständlichkeit in Erinnerung gebracht ist, daß auch nichtverbale Aktivitäten in entsprechenden Fähigkeiten oder Fertigkeiten (etwa eine Ebene feilen oder Klavierspielen zu können) als •gespeichert« und bei Bedarf ,.abrufbar« betrachtet werden können. Tulving, der (wie gesagt) seinerzeit die Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis eingeführt hatte, zog daraus in neuerer Zeit (1985a, b) die Konsequenz, indem er das episodische und semantische Gedächtnis (einschließlich vorgeordneter Kurzzeitspeicher) als »deklaratives« Ge· dächtnis zusammenfaßte und diesem das »prozedurale Gedächtnis« gegenüberstellte, das keine Bewußtseinsprozesse voraussetze, im ganzen ein primitiveres System darstelle und deswegen bereits bei Tieren zu finden sei. Damit ist hier zwar einerseits eine wenigstens klassifikatorische Einbeziehung der nichtverbalen Verhaltensweisen, wie sie von der SRPsychologie untersucht wurden, in das Gedächtnis-Konzept vollzogen. Andererseits aber wird auf diese Weise deutlich, daß praktisch die gesamte, aus der Ebbinghausschen Tradition des verbalen Assoziationsiemens stammende und theoretisch wie methodisch auf verbal-symbolisches Material fixierte kognitivistische Gedächtnisforschung bis in ihre neuesten Entwicklungen zur Analyse des menschlichen Bewegungsiemens kaum beigetragen hat: Statt dessen wurde das Problem des •motor learning« einem Spezialgebiet überantwortet, in welchem zwar u.a. auch theoretische Anleihen bei der kognitivistischen Gedächtnisforschung gemacht werden, die aber im wesentlichen ihre eigene konzeptuelle Tradition, die kaum auf die Entwicklung des Kognitivsmus im Ganzen zurückwirkte, hervorgebracht hat (ich komme darauf zurück).
Die üblichen, mit dem Umfang des empirischen Materials stetig wachsenden Schwierigkeiten bei der Reproduktion und Interpretation der Befunde (die hier nicht im einzelnen dargestellt werden sollen) führten nun dazu, daß seit den frühen siebziger Jahren (mindestens neben den Speichermodellen) ein anderer theoretischer Grundansatz hervortrat: Die alternative Modeliierung
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von Gedächtnisprozessen im Konzept der »Verarbeitungsebenen« (»Ievels of processing«) von Craik & Lockart, das 1972 in einem berühmten Artikel zum erstenmal vorgestellt wurde. Craik und Lockart glossieren in diesem Artikel (»Levels of Processing. A framework for memory research«) die den überkommenen MehrspeicherModellen zugrundliegende Konzeption des »Speichers« als »box model« und stellen diese von da aus hinsichtlich ihrer theoretischen und empirischen Tragfähigkeit grundsätzlich in Frage: Die damit verbundene Vorstellung des Durchlaufs der Information durch verschiedene fixierte Speicher sei zu onflexibel und würde zudem die verschiedene Behaltensdauer von unterschiedlich kodierten ltems eher (durch die Definition der »Speicher«) hypostasieren als wirklich erklären. Außerdem seien vorliegende experimentelle Befunde (hinsichtlich Behaltenskapazität, Kodierung und Eigenart des Vergessensprozesses) mit dem Speichermodell nicht hinreichend zu interpretieren. Das alternative Modell von Craik & Lockart bezieht sich (in seiner ursprünglichen Form) wesentlich auf den Einprägungs- bzw. Kodierungsprozeß als erste Phase des Gedächtnisvorgangs. Die Besonderheit dieses Modells besteht global gesehen darin, daß hier in einer generellen U morientierung der Untersuchungsstrategien die Behaltensleistung nicht als Eigen·
schaft des jeweiligen Speichers, sondern als Nebenprodukt der perzeptiv-begrifflichen Verarbeitung des Materials betrachtet wird. Dabei kehrt man das Verhältnis zwischen Kodierung und Haltezeit quasi um: Die kürzere oder längere Haltezeit ist demnach nicht das Charakteristikum verschiedener Speicher mit unterschiedlichen Kodierungsformen, sondern unterschiedliche Kodierungsformen führen aufgrund unterschiedlich intensiver Auseinandersetzung mit dem Material zu verschiedenen Haltezeiten. Diese verschiedenen Kodierungsformen werden als unterschiedliche Nerarbeitungsebenen« (»Ievels of processing«)- 1. Analyse von physikalischen oder sensorischen Zügen, 2. figurale Mustererkennung bzw. phonetische Identifizierung, also perzeptuelle Ebene, 3. semantische Analyse - näher bestimmt. Im Konzept der sensorischen Prozessebene ist das »sensorische Register«, in der perzeptuellen Ebene das STM und in der semantischen Ebene das LTM (einschließlich der dazu ~eigebrachten experimentellen Befunde) reinterpretiert bzw. »funktionaliSiert«. Die somit herausgehobenen Ebenen werden - dies ist ihre entscheidende Bestimmung- durch wachsende »Tiefe« (»depth«) der Auseinandersetzung mit dem Material, d.h. Akzentuierung der elaborativen Kodierung gekennzeichnet. Dabei sollen auch innerhalb einer Verarbeitungsebene noch unterschiedliche Grade der Verarbeitungstiefe möglich sein, z.B. indem man auf der semantischen Ebene den Kontext eines Begriffs unterschiedlich umfassend
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und eindringend expliziert. Demnach wäre die Verarbeitungstiefe eher ein Kontinuum mit qualitativen Umschlägen von einer Ebene zur nächst höheren. Generell wird dabei angenommen, daß es von der so gefaßten Tiefe der Informationsverarbeitung abhängig sei, wie stark sich die jeweilige Gedächtnisspur ausprägt, wie lange also die entsprechende Information behalten wird. Der dergestalt angenommene Zusammenhang zwischen ProzeßebenenTiefe und Behaltensdauer wird mit Hinweis auf damit verbundene wachsende Aktualisierbarkeit von schon erworbenen, stabilisierenden Wissens-Kontexten begründet: Während auf der sensorischen Ebene lediglich aktuelle Merkmale, die entsprechend schnell wieder entfallen, kodierbar seien, werde das Material auf der perzeptuellen und besonders auf der semantischen Prozeßebene in vorhandene Wissensstrukturen eingeordnet, so als Teil bzw. Aspekt des schon erworbenen überdauernden Wissens integriert und damit selbst
überdauernder Wissensbestand des Individuums. Eine in diesem Zusammenhang charakteristische experimentelle Untersuchung (mit zehn Einzelexperimenten) stammt von Craik lk Tulving (1975): Hier bot man den Vpn eine Liste mit Wörtern kurzzeitig dar, wobei vor der Darbietung jedes Wortes eine darauf bezogene Frage gestellt wurde. Als wesentliche unabhängige Variable diente die Variation der Fragen hinsichtlich der damit zu induzierenden Verarbeitungstiefe (•depth of semantic involvement«, S.268) bei der Kodierung der jeweiligen Wörter: Eine sensorische Analyse des jeweiligen Wortes sollte durch Fragen über dessen physische Struktur (ist das Wort in Großbuchstaben gedruckt?) induziert werden; eine phonemische Analyse durch Fragen über die Reim-Charakteristik (reimt sich das Wort auf »train«?); eine semantische Analyse durch kategoriale Fragen (ist das Wort ein Tiername?) oder durch Satzergänzungs-Fragen (paßt das Wort in den Satz »the girl placed the - on the table•?). Nach einer langen Serie von derartigen Fragen mit anschließenden Wortdarbietungen (wobei jeweils die Hälfte der Fragen mit Ja bzw. mit Nein zu beantworten waren) wurden die Vpn (mit verschiedenen .. Gedächtnismethoden«) einer für sie unerwarteten Behaltensprüfung unterzogen. Als allgemeines Resultat ergab sich dabei, daß die Versuchspersonen bei den »tieferen« Kodierungsformen sowohllängere Zeit zur Einprägung brauchten wie in der Behaltensprüfung zu besseren Resultaten kamen. Um die Frage zu beantworten, wieweit nur die längere Dauer der Kodierungsphase oder tatsächlich die wachsende Verarbeitungstiefe zu den besseren Behaltensleistungen geführt hatte, wurden u.a. in einem weiteren Experiment Bedingungen hergestellt, unter denen komplexere sensorische Kodierungsaufgaben längere Zeit in Anspruch nahmen als leichtere semantische Kodierungen, wobei sich ergab, daß dennoch auf dem semantischen Verarbeitungsniveau bessere Behaltensleistungen erzielt wurden etc. Als eine Quintessenz aus ihren (hier nur ausschnitthaft dargestellten) Untersuchungen heben die Autoren heraus: .. AU these studies conform to the new Iook of memory research in that the stress is on mental operations, items are remernbered not as presented stimuli acting on the organism, but as components of mental activity. Subjects remernher not what was 'out there' but what they did during encoding« (S.292).
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Weiterhin wurde innerhalb der Verarbeitungsebenen-Konzeption die unterschiedliche Funktion der Aufmerksamkeit für die Kodierung auf den verschiedenen Ebenen hervorgehoben: Die sensorische Kodierung verlaufe ohne Aufmerksamkeits-Zuwendung. Die perzeptive Kodierung sei dagegen an Aufmerksamkeitsprozesse gebunden, wobei die so kodierten Inhalte nur solange behalten würden, wie ihnen Aufmerksamkeit zugewendet wird, nach dem Aufmerksamkeitsentzug aber vergessen; generell wird davon ausgegangen, daß die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses dem Individuum phänomenal präsent sein müssen, also keinen bewußtseinsunabhängigen Bestand haben. Die semantische Kodierung schließlich komme durch spezifische intensivierte Aufmerksamkeitszentrierung auf die perzeptiv kodierten Inhalte zustande und sei, wenn vollzogen, in ihrem Bestand nicht mehr von der Aufmerksamkeit bzw. vom Bewußtsein abhängig etc. Von diesen Vorstellungen aus kamen Craik & Lockart zu einer Differenzierung verschiedener Typen des Einprägensprozesses: Im »Typ 1«-Prozeß erfolge die Einpriigung durch bestimmte Aktivitäten des Memoeierens innerhalb der perzeptiven Verarbeitungsebene, ohne daß dabei eine den aktuellen Einprägungs- bzw. Festhaltensprozeß überdauernde Gedächtnisspur zustandekäme. Im »Typ 11«-Prozeß dagegen erfolge eine zunehmend tiefere Analyse des Materials; das Einprägen geschehe mithin durch den Übergang zur höheren, semantischen, Prozeßebene, womit ein Festhalten des Gedächtnisinhal· tes über die aktuelle Kodierungs-/Einprägungssituation hinaus erreichbar sei. In diesem Problemzusammenhang kommen die Autoren u.a. zu einer neuen Deutung von vorliegenden experimentellen Resultaten über den Effekt der Wiederholung für das Behalten: Das memorierende Wiederholen der einzuprägenden ltems führe als solches, d.h. wenn es innerhalb der gleichen (perzeptiven) Prozeßebene verharre, nicht zu einer Verbesserung der überdauernden Behaltensleistung. Wiederholen sei vielmehr nur dann für die Bildung von Gedächtnisspuren effektiv, wenn damit eine wachsende Tiefe der Analyse und Ver· arbeitung, also der Übergang zur höheren, semantischen Prozeßebene erreicht werde.
Die damit gekennzeichneten Verarbeitungsebenen sind von allem Anfang an nicht als notwendig zeitlich aufeinanderfolgende Stufen, sondern eher als unterschiedliche ,.funktionale« Niveaus der Informationsaufnahme bestimmt. So heben Craik & Lockart (1972, S.675f) ausdrücklich hervor, daß man unter bestimmten Umständen die Reizgegebenheiten zunächst auf einem tieferen, d.h. semantischen Niveau auffassen kann, ehe man sich über die dem zugrundeliegenden figuralen bzw. phonetischen Merkmale klar wird, so daß man hier- anders als hinsichtlich des Informationsflusses von •Speicher« zu •Speicher« - keine •Hierarchie von notwendig aufeinanderfolgenden Schritten« annehmen dürfe. Diese allgemeinere ,.funktionale« Sicht wurde bekräftigt durch spätere Konzeptionen in der gleichen Forschungstradition, in denen das VerarbeitungsebenenModell nicht auf die Erklärung von Einprägungs- bzw. Kodierungsprozessen
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beschränkt blieb, sondern durch zusätzliche Annahmen über entsprechende Verarbeitungsebenen des Abrufprozesses {im episodischen Gedächtnis) ergänzt wurde: Während bei relativ geringerem zeitlichem Abstand zwischen der Kodierungs- und der Abrufphase die Abrufinformation lediglich zur Selektion des zu reproduzierenden Ereignisses in einem »rückwärts gerichte· ten seriellen Suchprozeß« (»backward serial search«) diene, sei es bei längerem zeitlichen Zurückliegen der Einprägungsphase nicht mehr möglich, sämtliche auf das gesuchte Ereignis hinführende Ereignisse durchzugehen. In diesem Falle sei der Abruf von Information als ein Rekonstruktionsprozeß aufzufassen, bei welchem die verfügbare Abrufinformation genutzt wird, um die ursprüngliche Kodierung des gesuchten Ereignisses wieder herzustellen. In diesem Falle hänge es von der »Tiefe« des Prozeßniveaus der Kodierung der Abrufinformation - damit dem Grad und der Art ihrer zusammenhangstiftenden Funktion - ab, wieweit das gesuchte Ereignis aus den unmittelbar verfügbaren Erinnerungsbruchstücken rekonstruiert werden kann {vgl. Craik & Jacoby 1975). In einem neueren Grundsatzartikel hat Craik {1985) noch einmal die im Verarbeitungsebenen-Ansatz enthaltenen prinzipiellen Vorstellungen über die Eigenart des »Gedächtnisses« herausgehoben: Dieser Konzeption nach sei das Gedächtnis nicht als strukturelles System - quasi als Ding im Kopf- zu betrachten, sondern vielmehr als Prozeß des Sich-Erinnerns, der von der jeweiligen aktuellen Reizsituation, der Kontextinformation und dem verfügbaren Vorwissen geleitet sei. Dieser Erinnerungsprozeß sei als eine Rekapitulation der ursprünglichen Erfahrung aufzufassen, wobei es von der Art der jeweili· gen Erinnerungsaufgabe abhänge, wieweit sich diese Rekapitulation in einem relativ »wörtlichen« Durchgang durch die erfahrenen Ereignisse oder als Rekonstruktion aufgrund von Information höherer Ordnung, die aus der Erfahrung abstrahiert worden ist, vollziehe. Das Gedächnis enthalte demgemäß nicht selbst irgendwelche Bilder, sondern habe vielmehr lediglich das Potential, aufgrund der spezifischen aktuellen Information erst derartige Bilder zu produzieren, die somit als Resultat einer Interaktion zwischen Gedächtnisfunktion und der je konkreten Informationslage aufzufassen seien. Das SichErinnern sei in dieser Sichtweise kein passiver, von der Abrufinformation mechanisch ausgelöster Prozeß, sondern ein aktiver, von den Individuen bewußt intendierter Vollzug, in welchem unterschiedliche Rekapitulations· bzw. Rekonstruktionsstrategien angewendet würden, um die Erinnerungsaufgabe zu bewältigen. Entsprechend seien auf menschlichem Niveau die phänomenalen Charakteristika des Erinnerns, wie die Erfahrung des Vergangenseins (»feelings of ,pastness:C), durch welche das Individuum etwa das Sich-Erinnern vom Wahrnehmen zu unterscheiden vermag, hinsichtlich ihres funktionalen und genetischen Zusammenhangs in Rechnung zu stellen. - Diese seine
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,.prozessuale« Sichtweise auf das Gedächtnisphänomen akzentuiere bestimmte (mindestens seit Bartlett 1932) auch von anderen Autoren vertretene Auffassungen in spezifischer Weise und habe sich für ihn während seiner zehnjährigen Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet als dem verbreiteten »Strukturellen« Verständnis des Gedächtnisses, wie es etwa in den MehrspeicherModellen zum Ausdruck komme, überlegen erwiesen (Craik 1985, S.200f). Auch das Verarbeitungsebenen-Modell wurde von dem Prozeß der mit wachsenden Datenmengen zunehmenden Mehrdeutigkeit und mangelnden Interpretierbarkeit der Befunde nicht verschont (vgl. etwa Bower & Hilgard 1985, S.245) und entsprechend mehr oder weniger radikal kritisiert, wobei diesem Ansatz z.B. der Mangel an einheitlicher Erklärungskraft vorgeworfen wurde. In diesem Zusammenhang wurde etwa auch auf die Ähnlichkeit dieses Ansatzes mit dem eigentlich zu überwindenden Mehrspeicher-Ansatz hingewiesen, vor allem darauf, daß die »Schichtung« des Gedächtnisses in einen perzeptiven, einen phonematischen und einen semantischen Subspeicher sich praktisch unverändert auch in der »Levels of processing...:rheorie wiederfinde. Besonders einflußreich wurde die Kritik von Baddeley am Verarbeitungsebenen-Modellunter dem Titel ,.The trouble with Ievels: A reexamination of Craik and Lockart's framework for memory researchc (1978). Im Zuge solcher Problematisierungen kam es - auch durch das Aufgreifen neuerer Entwicklungen in der Informatik/ Computerwissenschaft - in der Folge zu einer modifizierten Reaktualisierung der Mehrspeichermodelle, wobei einerseits bestimmte Aspekte des Verarbeitungsebenen-Modells berücksichtigt wurden, und man andererseits teilweise Gesichtspunkte aus dem Problemhereich der »Programmsprache« einführte, also etwa kognitive Theorien nach Art programmsprachlicher »Produktionen« (IF-THEN-Ketten) zu formulieren versuchte - vgl. dazu etwa das Modell des »Maltheser-Kreuzes« von Broadbent (1984) und insbesondere das in neuererZeitbesonders populär gewordene ·ACT"-Modell« von Anderson (1983), s.u. Neue Gesichtspunkte mit Bezug auf das kognitivistische Verständnis des »Lernens« - mit anderen, von den klassischen Speichermodellen abweichenden Vorstellungen über die Kumulation der Information - ergeben sich aus dem (schon erwähnten) im Umkreis von »Künstlicher Intelligenz« und Computersimulation psychischer Prozesse angesiedelten Forschungszweig des »Konnektionismus• bzw. (dies eine andere Benennung) der künstlichen »Neural Networks« (vgl. etwa Rumelhart & McClelland 1986 und McClelland & Rumelhart 1986, quasi als konnektionistische Gründungsmanifeste). Diese Arbeitsrichtung hat sich (nach zunächst im Konkurrenzkampf mit der klassischen KI auch durch mangelnde Forschungsförderung wieder unterdrückten
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Vorläufern schon in den Sechziger Jahren)- auch unterstützt durch die Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit bestimmter schneller, parallel prozessierender Computer - zu einem regelrechten Trend entwickelt: Hier soll das klassische Programmiermodell der Symbolmanipulation durch ein leistungsfähigeres Modell •verteilter« Repräsentationen ersetzt werden, das in Analogie zu •natürlichen« neuronalen Netzwerken im Gehirn (»brain metapher«) »Knoten« als Einheiten und einsinnige Signalwege als »Connections« zwischen den Einheiten enthält. Dabei wird angenommen, daß solche Netzwerke mit einem jeweils bestimmten »Environment« interagieren, so daß manche Einheiten (als »input units«) Signale aus der Umgebung empfangen und andere Einheiten (als »Output units«) Signale an die Umgebung abgeben, außerdem »Verborgene« Einheiten, die in keiner eindeutigen Beziehung zum Input oder Output stehen, bestimmte Vermittlungsfunktionen haben, etc. Das Spezifikum solcher künstlicher »Neural Networks« besteht nun darin, daß der Rechner hier nicht durch vollständig vorgegebene Programmbefehle gesteuert wird, sondern (aufgrund geeigneter Algorithmen) in zeitlichen Annäherungsprozessen durch Bewegen großer Datenmengen aus dem (u.U. scheinbar chaotischen) Input kumulativ bestimmte Regelmäßigkeiten extrahiert werden können, die durch veränderte Gewichtungen, d.h. Aktivierungen der Verbindungen zwischen den Knoten des Netzwerks, zustandekommen: Deswegen redet man hier auch von adaptiv-»selbstorganisierenden« Programmen (Verwandtschaften etwa zu Maturanas Konzept der »Autopoiesis« sind offensichtlich, sollen hier aber nicht diskutiert werden). - Das Problem, ob der Konnektionismus tatsächlich einen Fortschritt gegenüber der Symbol-KI darstellt, als neues Paradigma in der Informatik bzw. der Kognitiven Psychologie betrachtet werden darf, den Status eines kruden Assoziationismus überschreitet etc., war und ist Gegenstand heftiger Kontroversen (vgl. etwa Fodor & Pylishyn, 1988, als Parteigänger der Symbol-KI, und Smolensky, 1989, der den Konnektionismus gegen deren Kritik verteidigt). Die erwähnte Herausbildung von Regularitäten als Optimierung der System· funktion unter jeweils bestimmten Randbedingungen (Fehlerminimierung durch wiederholte Gewichtungsmodifikationen der Informationsübertragungen im Netz anband eines gewünschten Outputs) wird in diesem Kontext häufig als »Lernen« des Systems bezeichnet. Je nach der Stärke des Eingriffs der Randbedingungen in den kumulativen Optimierungsprozeß unterscheidet man dabei etwa »supervised learning« mit Umgebungsinformation über die angemessene Lösung, »reinforcement learning«, bei welchem die Umgebung lediglich mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf den Output des Systems reagiert, und »unsupervised learning«, in welchem die Regelmäßigkeiten ganz ohne Umgebungsinformation allein aus dem Signalfluß im Network selbst entstehen (vgl. u.a. etwa Hinton 1988).- Als für das Netzwerk
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spezifische Form des »Lernens• wird verbreitet das »Lernen• durch »back propagation• herausgestellt: Eine Komplizierung des »reinforcement learning•, wobei die am Zustandekommen eines unrichtigen Ergebnisses beteiligten Gewichtungen nicht um einen festen Betrag erhöht oder erniedrigt werden, sondern das Ausmaß der Erhöhung/Erniedrigung einer Gewichtung vom Grad ihrer Beteiligung am Ergebnis abhängig gemacht wird. Die Resultate von Prozessen lokaler Fehlerminimierung werden dabei an alle Parameter des Netzwerks zurückgemeldet. - Solche konnektionistischen »Lern--Konzepte sind auf verschiedene Problemfelder angewendet worden, so u.a. z.B. auch zur Computer-Simulation der selektiven Aufmerksamkeit im SLAM (Selective Attention Model) von Phaf, van der Hejden & Hudson (1990): Hier sollte gezeigt werden, daß man unter Voraussetzung lediglich zweier Mechanismen (»object selection« und »attribute selection«) mit Hilfe entsprechender Spezifikationen des Netzwerk-Modells die zeitliche Herausfilterung von Aufmerksamkeitsprozessen (mit •natürlicher« Streuung von Reaktionszeiten etc.) angesichtsvon mehrdeutigen Environments simulieren kann. -Im Ganzen gesehen sind (so wird angenommen) aufgrund solcher »Lernfähigkeiten« die konnektionistischen Systeme weder auf die Koordination und Supervision durch eine übergeordnete Zentralinstanz noch auf eindeutige Vorgaben angewiesen, sondern können sich jeweils ..selbst« (d.h. mittels kumulativer Approximationsprozesse) an die häufig unpriizisen, unvollständigen, stets wechselnden Eigenschaften der Umwelt (soweit sie in den System-Environments berücksichtigt sind) anpassen. Die Beziehung des so verstandenen konnektionistischen Ansatzes zum Gedächtniskonzept versteht sich generell aus dem Umstand, daß die Optimierungsvorgänge in den Computer-Netzwerken- indem hier zeitliche Verlinderungen berücksichtigt werden, mit welchen die jeweils schon extrahierten Regelmäßigkeiten weiter vereindeutigt oder stabilisiert werden - kumulativer Art sind. Daraus ergeben sich lmplikationen des Konnektionismus hinsichtlich der Konzeptualisierung und Implementierung von GedächtnisFunktionen. Pionierarbeit in diesem Bereich leistete Kohonen, so in seiner Arbeit mit dem Titel »Self-organization and associative memory« (1984). Die dabei entwickelten Modellvorstellungen weichen jedoch aufgrund der Konstruktionsprinzipien der neural networks prinzipiell von den Speichermodellen der Symbol-KI ab. Die »Architektur« eines bestimmten NetzwerkModells, die Anzahl, Art und Wechselwirkung der dabei eingeführten Module etc. ergeben sich aus der jeweils gestellten Aufgabe (Mustererkennung, Spracherwerb, Aufmerksamkeit etc.}, womit auch die Art der genannten Kumulationsprozesse entsprechend unterschiedlich ausfallen muß. Im Ganzen gesehen ist, wie schon aus der Affinitität seiner »Lern«-Konzeptionen zu verschiedenen Spielarten der .Verstärkung« hervorgeht, der
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Konnektionismus - obwohl im kognitivistischen Kontext von Künstlicher Intelligenz und Computer-Simulation entstanden - inhaltlich u.U. angemessener als eine bestimmte Art von Computerisierung SR-theoretischer Grundansätze zu betrachten und deswegen nur bedingt der Kognitionswissenschaft zuzurechnen- was aber noch genauer zu untersuchen wäre (vgl. dazu Lenz & Meretz 1992). Nach der damit abgeschlossenen Darstellung der kognitivistischen Gedächtnis-Konzeptionen und ihrer Varianten bzw. Alternativen müßte jetzt gemäß unseren bisherigen Gepflogenheiten - der Aufweis ihres impliziten BGM-Charakters und der daran anschließende Versuch ihrer begründungstheoretischen Reinterpretation folgen. Nun ergibt sich aber im gegenwärtigen Problemzusammenhang eine spezifische Schwierigkeit: Einerseits versteht sich schon aus der Formulierung der kognitivistischen Gedächtnistheorien in Termini der Computer-Hardware und besonders -Software, daß es sich dabei (soweit überhaupt die i. e. S. psychologische Ebene angesprochen ist) um Begründungsmuster handeln muß, und zwar deswegen, weil die Computer/Computerprogramme ja als Hilfsmittel zur optimalen Bewältigung bestimmter Aufgaben konstruiert wurden, so daß auch in den als Computer-Analogien formulierten Gedächtnistheorien in irgendeiner Weise •gut begründete«, »vernünftige« Kognitionsaktivitäten angesprochen sein müssen. Andererseits aber ist es (mindestens teilweise) nicht auf Anhieb möglich, derartige Begründungsmuster zu identifizieren, weil das Subjekt (der »Akteur«), von dessen Standpunkt aus die Begründetheit der kognitiven Aktivitäten allein faßbar werden könnte, in den kognitivistischen Gedächtnistheorien kaum auszumachen ist. Diese Problematik muß von uns erst bewältigt werden, ehe wir zu unseren Reinterpretationsversuchen übergehen können. Dem dient der folgende eingeschobene Abschnitt.
Die Aufhebung der mystifizierenden Hineinverlegung des Subjekts ins »System« als Voraussetzung begründungstheoretischer Reinterpretierbarkeit der kognitivistischen Gedächtnismodelle Um einen Ansatz zur Klärung der benannten Schwierigkeit zu finden, muß man sich verdeutlichen, daß die direkt auf Computerstrukturen und/ oder -Operationen bezogenen Aussagen, wenn sie in metaphorischer Weise als kognitionstheoretische Termini benutzt werden- indem hier der Computer quasi vom Hilfsmittel zum Modell menschlicher Kognition umgedeutet wird (vgl. Holzkamp 1989)- eine spezifische Transformation durchmachen: Bei
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der Anwendung von realen Computern/Computerprogrammen steht der ,.User« als Subjekt der Anwendung eindeutig außerhalb des informationsverarbeitenden Systems. Wenn nun aber der Computer als Modell menschlicher Kognitionsprozesse verwendet wird, so ergibt sich daraus die naheliegende, d.h. - wenn dem nicht reflexiv gegengesteuert wird - spontan sich durchsetzende Tendenz, auch den Anwender des Computers in Termini des .Systems« zu modellieren. Damit geht aber sein Platz außerhalb des Systems verloren und das System wird so quasi zum »Subjekt« seiner eigenen Anwen· dung. Anders: Sofern hier das individuelle Subjekt so betrachtet wird, als ob es ein Computer sei, kann es nicht gleichzeitig als Benutzer, Programmierer, Hersteller des Computers abgebildet werden. Damit wäre quasi keiner mehr da, der außerhalb des Computers diesen benutzen, programmieren etc. könnte: Vielmehr ist das Subjekt der Computeranwendung und -programmierung hier in das informationsverarbeitende System-Individuum selbst hineinverlegt und das wirkliche individuelle Subjekt damit mystifiziert. Die Tendenz zu einer solchen Mystifizierung des Handlungssubjekts muß dann noch begünstigt werden, wenn man bereits die Operationen des realen Computers derart versprachlicht, daß dieser in quasi animistischer Weise als selbständiges »Subjekt« seiner Operationen erscheint, also schon auf dieser Ebene dessen •Mittel«-Charakter verlorengeht, womit das dergestalt konstituierte Computer-Subjekt mit der metaphorischen Fassung des Computers als Modell menschlicher Kognition unmittelbar in das Individuum »hineinwandert«. So charakterisiert etwa Bower die gängige Verwendung der Computer-Sprache, in welcher seiner Auffassung nach »äußerst attraktive Metaphern und Analogien für psych~logische Deutungsversuche« angeboten werden, um deren •Nutzen« zu verdeutlichen, auf folgende Weise: »Man sagt von programmierten Maschinen, daß sie Stimuli entdecken, identifizieren, vergleichen und klassifizieren; daß sie Informationen speichern und wieder abrufen; daß sie lernen und Fragen beantworten; daß sie denken, Probleme lösen und über die Verwendung von Strategien entscheiden usw. Weil wir die ,Mechanik' dessen sehen können, wie diese Prozesse im Computerprogramm ausgeführt werden, glauben wir, daß wir jetzt verstehen, wie richtige Organismen diese Dinge tun, die wir mit den angegebenen Namen bezeichnen« (Bower & Hilgard 1984, S.215). Die auf diesem Wege vorerst noch implizit vollzogene Hineinverlagerung des Computer-Subjekts in das Individuum, damit Eliminierung des wirklichen Handlungssubjekts aus der Wissen~~haftssprache, wird mit aller Klarheit offenbar, wenn Bower aus seinen Uberlegungen die Konsequenz zieht: »So ist das kognitive System in der Lage, sich selbst für erfolgreiche Anpassungen und Handlungen in seiner U rnweit zu programmieren« (a.a.O., S.227, Hervorh. K.H.). In dieser Modellvorstellung vom sich selbst programmierenden Computer, worin der Computer
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vom Hilfsmittel des Menschen zur mythischen »Causa sui« stilisiert wird (also die Computer-Metapher sich quasi selbst aufhebt), verdichten sich in besonders zugespitzer Weise gängige kognitivistische Denk- und Redeweisen, in welchen •informationsverarbeitende Systeme« oder Untersysteme animistisch als Subjekte ihrer eigenen Operationen angesehen werden und so der metaphorische Computer mit allerlei Homunculi bevölkert ist, die •von innen« dessen Anwendungsarten, die Wechselwirkung seiner Teilsysteme u.ä., planen und realisieren. Diese Homunculus-Annahme ist in den Anfängen des Kognitivismus gelegentlich offengelegt, problematisiert, aber auch (so von Attneave, 1961, in einem Artikel »In defence of homunculi«) verteidigt worden. In der Sprache der heutigen Kognitiven Psychologie dagegen ist die »Homunculisierung« von Systemkomponenten vielerorts mehr oder weniger unhinterfragt gang und gäbe, wobei oft - besonders wenn nicht theoretische Modelle diskutiert, sondern die Aktivitäten von Versuchspersonen im Experiment interpretiert werden - damit vermischt auch Formulierungen antreffbar sind, in denen von wirklichen Individuen als Ursprung der Systemoperationen die Rede ist - dies als Ausdruck der prinzipiellen Unklarheit darüber, wo und was in der kognitivistischen Theorie eigentlich das »Subjekt« sei. Begriffsverwirrungen wie die damit aufgewiesenen sind von Herrmann (1982) als »System-Akteur-Kontaminationen« innerhalb des Kognitivismus umschrieben und an Beispielen sprachanalytisch expliziert worden. Von da aus stellt er an die Wissenschaftssprache der Kognitiven Psychologie die Forderung, sie müsse »stilrein sein; Kontaminationen ... aus mehreren disparaten Modellvorstellungen oder auch Sprachspielen müssen vermieden werden«. Demnach habe man sich zu »entscheiden, ob man den Kognizierenden beispielsweise als informationsverarbeitendes System konzipiert, zu dem Untersysteme von der Art der Speicher, Prozessoren und dgl. gehören und dessen output registriert wird, oder ob man ihn etwa als ein absichtsvoll handelndes Subjekt konzipiert, welches Situationen interpretiert, welches sich Ziele setzt und welches die Folgen seiner Handlungen bewertet« (S.7). Im Kontext unseres gegenwärtigen Argumentationszusammenhangs, wo es um die Aufhebung der Mystifizierung des Subjekts kognitiver Aktivitäten innerhalb der impliziten Begründungsmuster kognitivistischer Gedächtnistheorien geht, können wir diese Forderung nach »Stilreinheit« noch spezifizieren: Zur Vorbereitung ihrer begründungstheoretischen Reinterpretation sind die Konzepte der kognitivistischen Gedächtnisforschung (wo nötig bzw. möglich) so zu analysieren und zu reformulieren, daß dabei mystifizierende Hineinverlegungen von »Subjekten« in das Individuum als »informationsverarbeitendes System« aufgehoben und demgegenüber der reale Subjektstandpunkt von Individuen außerhalb des •Systems« rekonstruiert ist.
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Wenn man unter diesen Gesichtspunkten die dargestellte Entwicklung der kognitivistischen Gedächtnisforschung von den »Mehrspeicher-Modellen« zur Theorie der ..Verarbeitungsebenen« überblickt, so zeigt sich, daß man die damit vollzogene kategoriale U morientierung in gewissem Sinne selbst schon als Aufhebung der mystifizierenden Hineinverlagerung des Subjekts in das System durch Rekonstruktion des realen Subjektstandpunktes betrachten kann: Aus der Craik & Lockartsehen Programmatik, die menschlichen Behaltensleistungen seien nicht als Eigenschaft des jeweiligen »Speichers«, sondern als Ergebnis der unterschiedlich »tiefen« perzeptiv-begrifflichen Verarbeitung des zu behaltenden Materials aufzufassen, verdeutlicht sich »ex negativo«, daß in den damit kritisierten Mehrspeicher-Modellen, indem man hier unterschiedliche Kodierungsprozesse usw. als abhängige Größe der jeweiligen Speicherart definiert, tatsächlich irgendwie die Speicher selbst als Sub-
jekte des Transfers der Information von einem Speicher zum anderen und der damit vollzogenen Kodierungsleistungen o.ä. unterstellt sind. Dabei werden solche Systemsubjekte oft direkt benannt - »der Kurzzeitspeicher ruft Information aus dem Langzeitspeicher ab« - häufig wird deren Explikation aber auch durch Passiv-Formulierungen, wie »die einkommende sensorische Information wird im Kurzzeitspeicher unter phonematischen Gesichtspunkten kodiert« umgangen etc. Im Verarbeitungsebenen-Modell dagegen ist es zweifelsfrei das reale Subjekt außerhalb des »Systems«, das hier aufgrund unterschiedlicher Tiefe der Materialverarbeitung die Information in verschiedener Weise, etwa phonematisch oder semantisch, kodiert, von dessen Aktivitäten es also abhängt, was wie lange behalten wird (daraus resultiert die konzeptuelle Überlegenheit des Verarbeitungsebenen-Modells gegenüber dem Mehrspeicher-Modell, unabhängig von den erwähnten Schwierigkeiten bei deren empirischer Realisierung). Die Überwindung des »introjektiven« Systemsubjekts und Rekonstruktion des wirklichen Subjekts außerhalb des Systems im VerarbeitungsebenenAnsatz bedeutet eine Aufhebung oder mindestens Zurückdrängung der Computer-Analogie. Entsprechend ist in dem geschilderten, aus der Kritik an Craik & Lockart erwachsenen Roll-Back der Speicher-Modelle (vgl. S.131) mit der Bekräftigung der computer- bzw. programmsprachlichen Fassung der Gedächtnistheorien die Entmystifizierung des Subjekts als kategorialer Fortschritt unversehens wieder rückgängig gemacht. Mithin findet man in diesem Kontext im erwähnten ACr-Modell von Anderson wiederum als gängige Redeweise die Einsetzung von homunculi als »Subjekte« in das System, so in Formulierungen wie: Übung führe »to increased production strength, when the system has no reason to judge the performance as failure« (1983, S.252, Hervorh. K.H.): Nicht menschliche Subjekte, sondern »Systeme« haben demnach Gründe für bestimmte Handlungen bzw. Urteile!
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Auch in der skizzierten neuen Arbeitsrichtung des Konnektionismus ist die Deutung der Systeme bzw. Netzwerke als Subjekte ihrer eigenen Optimierungsaktivitäten gang und gäbe. Formulierungen wie die von Williams (1988) in seiner Arbeit »Connectionist learning through gradient following«: »the objective is for the network to discover statistical regularities or clusters in the stream of input patterns« (S.6, Hervorh. K.H.), stehen mithin für beliebig viele andere. Allgemeiner gesehen ist bereits die hier übliche Verwendung des Begriffes »Lernen« zu problematisieren: Indem dabei die jeweils aufgewiesenen Prozesse der Optimierung, Fehlerminimierung, Approximation o.ä. als »Lernprozesse« des Systems oder des Netzwerks bezeichnet werden (so heißt es etwa bei Dalenoort, 1990, programmatisch •intelligent systems can learn; if a system cannot learn it is not intelligent•, S.9), sind wiederum diese unter der Hand als Subjekte des »l..ernens« eingesetzt. So ist hier durch eine Art von animistischem Etikettenschwindel der Umstand verschleiert, daß dabei von menschlichem Lernen, das ein wirkliches Subjekt voraussetzt, das hier lernt, überhaupt nicht die Rede ist. Zusätzliche Verwirrung bringt ein solcher Sprachgebrauch in diesem Kontext dadurch mit sich, daß im Konzept der •neural networks« ja gerade Optimierungs-, Regulierungs- und Stabilisierungsprozesse abbildbar werden sollen, die ohne bewußte Intentionen von Subjekten allein aufgrund der Struktur bzw. Architektur der jeweiligen Netzwerk-Modelle (einschließlich ihrer Wechselwirkung mit dem in bestimmter Weise definierten Environment} ablaufen: Se/bstoptimierung, Selbstregulierung, Selbstorganisation bedeutet hier Optimierung, Regulierung, Organisation nicht durch ein außerhalb des Systems stehendes •Selbst«, sondern eben allein durch das System •selbst«. Damit ist also eine unspezifische Ebene der Ordnung und Vereindeutigung der Umgebungsbeziehung unterhalb des i.e.S. psychologischen Niveaus menschlicher Subjektivität angesprochen, die gleichzeitig wieder mystifiziert wird, indem durch die benannte Redeweise der Systemfunktion der Netzwerke etc. selbst schon Subjektcharakter zugesprochen ist. So bleibt der Umstand mehr oder weniger dunkel, daß mit dem konnektionistischen Netzwerk-Modell über subjekthaft-aktives menschliches Handeln noch gar nichts ausgesagt wor· den ist; dementsprechend kann auch das Verhältnis zwischen den in NetzwerkModellen abbildbaren unspezifischen Optimierungsprozessen und der Ebene subjektiv intendierter Lernhandlungen erst gar nicht zum Problem werden.*
* Den •psychologischen« Verfremdungen und Mystifikationen innerhalb der konnektionistischen Wissenschaftssprache, ihren Gründen und Konsequenzen, ist die Diplomarbeit von Lenz & Meretz (1992) gewidmet. Dort wird auch demonstriert, daß und in welcher Weise das Netzwerk-Modell ohne mystifizierende Einführung von System-Subjekten verschiedener Art versprachlicht werden kann. Ich bin in meinen vorstehenden einschlägigen Ausführungen dieser Arbeit wesentlich verpflichtet.
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Anstatt »Gedächtnis«: Behalten/Erinnern im Begründungsdiskurs Wenn wir uns nach diesen Zwischenüberlegungen nun dem bisher aufgeschobenen Versuch einer begründungstheoretischen Reinterpretation der kognitivistischen Gedächtnisforschung etc. zuwenden, so wird sogleich deutlich, daß es sich bei der in den Mehrspeichermodellen praktizierten analogisierenden Hineinverlegung von Computer-Speichern »in« das Individuum um eine Spielart jener verdinglichenden Begriffsbildungen handelt, wie wir sie früher an den Motivations-Vorstellungen der (kognitiv erweiterten) SR-Theorie aufgewiesen haben: Auch hier sind die verdinglichenden Bezeichnungsweisen der Alltagssprache, in welchen mein »Gedächtnis« quasi als Ursache meiner Behaltensleistungen unterstellt wird (ich »habe« eben ein »schlechtes Gedächtnis« o.ä.) ohne reflexive Hinterfragong wissenschaftlich stilisiert: Die Art und der Umfang des Behaltens werden zirkulär aus den Systemeigenschaften des jeweiligen Speichers >>erklärt«. Damit wird auch an dieser Stelle das Weiterfragen nach den Begründungszusammenhängen meiner ,.Gedächtnisleistungen«, d.h. den Bedingungen/Prämissen und Intentionen, von denen deren Besonderheit und Effektivität abhängen, abgeschnitten. Dies verdeutlicht sich noch, wenn wir die Art und Weise berücksichti,gen, wie man zu der begrifflichen Aufdifferenzierung immer weiterer »Speicher« kam: Dabei wurde offensichtlich bestimmten ausmachbaren funktionalen oder inhaltlichen Verschiedenheiten von Gedächtnisleistungen einfach eine besondere Speicherart (Ultrakurzzeitspeicher, Kurzzeitspeicher, episodischer und semantischer Langzeitspeicher, Arbeitsspeicher, prozeduraler und deklarativer Speicher etc.) unterschoben und daraus dann die Besonderheit der jeweiligen Behaltens-/Erinnernsaktivitäten »erklärt«. Entsprechend beliebig könnten (gemäß der unbegrenzten Heraushebbarkeit speziellerer funktionaler oder inhaltlicher Eigenheiten der Behaltens-/Erinnernsprozesse) immer weitere Speicherarten hinzuerfunden werden (eine Facette der von Herrmann, 1982, so genannten kognitivistischen »Begriffsinflation«). Gleichermaßen beliebig ist auch die Weise, in der solche Speicheraufteilungen wieder rückgängig gemacht wurden- bis (etwa bei Norman, 1978) nur noch ein Einspeicher-Modell bzw. (wenn man die Beibehaltung der Annahme eines sensorischen Registers berücksichtigt) Zweispeicher-Modell übrigblieb. Nach Aufhebung bzw. Reflexion der genannten Mystifizierungen des Handlungssubjekts und der damit zusammenhängenden reifizierenden Begriffsbildungen läßt sich nun auch der BGM·Charakter der funktionalen Konzepte in den Mehrspeichermodellen explizieren: Es wird klar, daß die don angesprochenen »Strategien«, »Suchprozesse« etc. auf Aktivitäten des Subjekts bezogen sind, deren sich dieses »vernünftigerweise« zur Optimierung
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seiner Behaltens- und Abrufleistungen bedient. Die theoretische Spezifizierung der Voraussetzungen für die Anwendung dieser oder jener der benannten »Strategien« etc. ist also nicht auf vorfindliehe Empirie bezogen, sondern eben (qua BGM) die Definition »gut begründeter« Kognitionsaktivitäten unter den jeweils spezifizierten Bedingungen als Prämissen. - Entsprechendes läßt sich auch an Konzepten nachweisen, in denen die Optimierungsfunktion der benannten Aktivitäten nicht schon aus der Wortbedeutung selbst hervorgeht, wie etwa an dem kognitivistischen Grundkonzept der »Kodie· rung«: Die »reduktive Kodierung«, Bildung von »Clustern«, »Chunks« etc., soll ja (wie dargestellt) der Überwindung der begrenzten Kapazität zur Aufnahme verschiedener Informationseinheiten durch Bildung von übergeordneten Kennwerten für mehrere Elemente o.ä. dienen, ist also auch eine »Strategie«, hier zur Optimierung des Behaltens trotz begrenzter Aufnahmekapazität. M.a~.: Die »reduktive Kodierung« ist ein unter der Prämisse meiner begrenzten Kapazität zur Aufnahme mehrerer Elemente »gut begründeter• Versuch ·der Realisierung meiner Behaltensintention, d.h. es ist »vernünftige, unter dieser Prämisse und Intention mehrere ltems zu höheren Einheiten zusammenzufassen, um diese Einheitenbildung bei Bedarfper »Dekodierung• durch Dekomposition wieder rückgängig machen ZU können: So kann ich nämlich sehr viel mehr Elemente behalten und erinnern, als ich gleichzeitig aufzufassen und festzuhalten vermag. Entsprechend läßt sich auch das Konzept der »elaborativen Kodierung« (u.U. in Form erhöhter ..Verarbeitungstiefe«) als BGM verdeutlichen: Es ist unter der Prämissen des Gegebenseins unverbundener Elemente »vernünftig«, diese Elemente in übergreifende, schon etablierte Wissenszusammenhänge einzuordnen, weil so das jeweilige Element durch seine Ortung innerhalb derartiger Zusammenhänge leichter reproduzierbar ist, o.ä.- Auch der Umstand, daß es sich bei den »Produktionen«, wie sie von Newell & Sirnon in die kognitivistische Theorie eingeführt und (wie erwähnt) etwa von Anderson als Basiskonzepte seines ACr-Modells benutzt worden sind, tatsächlich um Begründungsmuster handelt, ist hat man dies einmal expliziert - offensichtlich: Die Produktionen sind ja in psychologische Theoreme konvertierte Befehlsfolgen als Computerprogramme, wobei der BGM-Charakter solcher Theoreme sich unmittelbar aus dem Charakter der in den Programmen enthaltenen »IF-THEN«-Ketten als Mittel zu optimaler Problemlösung anband von Erfolgsrückmeldungen ergibt, die in ihrer »psychologischen« Wendung quasi als Selbstinstruktionen fungieren (s.u.): Die jeweiligen »IFs« sind so gesehen quasi die Prämissen, unter denen die »THENs« als kognitive Operationen »gut begründet«, d.h. »Vernünftig« sind. Anderson bringt dies - allerdings wiederum ohne daraus die erforderlichen theoretisch-methodologischen Konsequenzen zu ziehen - selbst zum Ausdruck, etwa wenn er in dem angeführten Zitat feststellt, »the system
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(d.h. das darin mystifizierte Subjekt/K.H:) has no reason to judge the perforrnance as failure« (1983, S.252, Hervorh. K.H.).- Weitere derartige Beispiele sind - da beliebig beizubringen - wohl nicht erforderlich. Man mag nun gegen solche BGM-Explikationen einwenden, dabei sei ja vorausgesetzt,
daß die Individuen die jeweiligen Operationen intendiert, also bewußt vollziehen, es könne sich hier aber doch auch um »automatische«, »unbewußte« o.ä. Mechanismen handeln, deren subjektive Begriindetheit man also nicht annehmen dürfe. Tatsächlich werden solche automatischen Prozesse in manchen Auspriigungen der kognitivistischen Gedächtnisforschung mehr oder weniger eindeutig unterstellt, was sich sicherlich schon aus dem ,.mechanischen• Charakter der hier analogisierend •introjizierten• Computer-Operationen ergibt. Somit fänden wir an dieser Stelle ein Problem wieder, das wir bereits als Frage der .awareness« von Konditionierungsprozessen innerhalb SR-psychologischer Experimente diskutiert haben (vgl. S.44ff), wobei mindestens die dort begrundeten Zweifel an einer methodisch tragfähigen Nachweisbarkeit der Nichtbeteiligung des Bewußtseins auch auf die hier zu erörternde Problemlage zu übertragen sind. Dariiber hinaus ist man bei der Verteidigung des automatischen oder mechanischen Charakters von Gedächtnisoperationen im Rahmen des kognitivistischen Ansatzes in einer noch ungleich schwierigeren Situation, da die Kognitive Psychologie ja gerade zur Rehabilitation des menschlichen Bewußtseins gegenüber seiner Eliminierung durch die SR-Psychologie angetreten ist. Ent· sprechend •mentalistisch« sind denn auch wesentliche Konzepte der kognitivistischen Gedächtnisforschung: •Aufmerksamkeit«, ,.Strategien«, ja sogar ,.ziele« und •Intentionen« (gerade deswegen war man gezwungen, einschlägige Homunkuli, die aufmerksam sein, Strategien verfolgen, Ziele oder Intentionen haben können, in das informationsverarbeitende System einzusetzen). Wenn man unter diesen Umständen die Automatismus.:rhese beibehalten will, so bleibt einem mithin nichts anderes übrig, als derartige Konzepte nachträglich mit dem Attribut •automatische zu versehen, also automatische Aufmerksamkeits· prozesse, Strategien, Ziele, Intentionen zu unterstellen, womit die beabsichtigte Rehabilitierung des Bewußtseins in der Psychologie unversehens wieder zurliekgenommen wäre.
Aufgrund der bisherigen Diskussion bietet es sich an, im begründungstheoretischen Kontext nicht von »Gedächtnis« zu sprechen, sondern von »Behalten« und »Erinnern« als menschlichen Handlungen: Mit dieser ,.funktionalen« Terminologie (wie sie ja bereits etwa von Craik vorgeschlagen wurde, vgl. S.130f) sind zum einen alle Anklänge an die diskutierten reifizierenden Begriffsbildungen vermieden, und zum anderen ist damit der aufgewiesene BGM-Charakter der einschlägigen Theorien, etwa in der Spezifizierung des Behaltens bzw. Erinnerns als in der Behaltens- bzw. Erinnernsintention begründete Strategien o.ä., leicht auf den Punkt zu bringen. Damit erhebt sich nun aber sogleich die Frage, wie das Verhältnis zwischen Behalten und Erinnern im Begründungsdiskurs genauer zu bestimmen ist. Innerhalb der traditionellen Gedächtnisforschung (sei es klassischer oder kognitivistischer Art) wird meist schon durch die Art der Standardanordnungen das Verhältnis zwischen Behalten und Erinnern als kontingente Beziehung zwischen unabhängiger und abhängiger Variable aufgefaßt: In den
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jeweiligen Anordnungen wird hier (innerhalb welcher Designs auch immer) ein erstes Stadium des Lernens, Einpriigens, Behaltens, der Übung des Materials einem zweiten Stadium der Reproduktion, des Abrufs, des »retrieval«, des »recall«, gegenübergestellt. Im ersten Stadium des Lernens sollen dabei die unabhängigen Variablen eingeführt sein, von denen aus die Reproduktion des gelernten Materials im zweiten Stadium vorhersagbar werden soll. »Behalten« und »Erinnern« werden hier also als Wenn-Dann-Komponenten einer empirischen Hypothese aufgefaßt, deren Glieder sich in keinem logischen bzw. implikativen, sondern eben in einem kontingenten, bloß faktischen Zusammenhang befinden. - Diese Nariabilisierung« des Verhältnisses zwischen Behalten und Erinnern schlägt sich auf theoretischer Ebene darin nieder, daß hier in verschiedenen Versionen das Behalten als ein Prozeß aufgefaßt wird, dessen Effektivität zwar mittels Erinnernsprüfung festgestellt werden kann, der aber als solcher mit dem Erinnern nichts zu tun hat. Entsprechend erscheint dabei auch das Erinnern als ein selbständiger Prozeß, der zwar durch die Art des Behaltensprozesses beeinflußt wird, aber in sich keinerlei Bestimmungsmomente des vorgängigen Behaltens impliziert. Eine besonders schlagende und verbreitete Konkretisierung erfährt diese wechselseitige konzeptionelle Isolierung von »Behalten« und »Erinnern« innerhalb der klassischen Gedächtnisexperimente, aber auch vielerorts innerhalb der kognitivistischen Gedächtnisforschung gebriiuchlichen Gleichsetzung des Lernens bzw. Einprägens eines bestimmten Materials mit dessen Übung, d.h. Wiederholung, wobei die Anzahl der Wiederholungen mehr oder weniger eindeutig als Maß für den Grad des »lernens« (also Behaltens in unserem Sinne) genommen wird. Besonders schwerwiegend ist dabei, daß diese theoretische Gleichsetzung von Lernen/Behalten und Wiederholung bereits in die Standard· methoden zur Messung der Behaltensleistung, wie sie von Ebbinghaus bzw. Müller & Schurnano eingeführt und seither in mannigfachen Abwandlungen immer wieder benutzt wurden, eingegangen ist: So wird der Vp bei der Methode des »Erlernens« eine Liste mit sinnlosen Silben (oder anderem Gedächtnismaterial) solange wiederholt dargeboten, bis sie sie fehlerfrei reproduzieren kann, wobei die Anzahl der dazu nötigen Wiederholungen als Maß für die Gedächtnisleistung dient; die »Ersparnismethode« und die »Methode des Behaltens« basieren bei etwas anderer Struktur ebenfalls auf diesem Wiederholungskonzept. Dies ist unabhängig davon, ob das Gelernte sodann durch •gepaarte Assoziationen«, »serielle« Reproduktion von Listen oder ,.freie Reproduktion« abgefragt wird. - Der allgemeinere theoretische Rahmen für eine derartige Gleichsetzung von Einpriigen und Wiederholen ist die geschilderte assoziationistische Grundüberzeugung als Charakteristikum prak· tisch der gesamten traditionellen Gedächtnisforschung bzw. die ebenso ver· breitete Vorstellung des »Einpriigens« als »Spurenbildung« im Gedächtnis bzw.
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im Gehirn: Die »Festigkeit« der assoziativen Verknüpfungen bzw. die Ausprägung der Spurenbildung erscheint danach als selbstverständliches Resultat der Anzahl der Wiederholungen im Einprägungsprozeß. Damit ist notwendig zugleich eine Isolierung des Einprägevorgangs von der Erinnerungsanforderung impliziert: Die jeweiligen Assoziationen bzw. Spuren bilden sich unabhängig vom Erinnernsprozeß und werden über diesen lediglich in ihrem jeweiligen Ausprägungsgrad diagnostizierbar. Wenn man das Behalten nun im Begründungsdiskurs als intendierte menschliche Handlung reinterpretiert, so wird (wie schon aus unseren früheren Darlegungen hervorgeht) deutlich, daß es sich bei dem Verhältnis zwischen »Behalten« und »Erinnern« um keine kontingent-empirische, sondern um eine inferentie/1-implikative Beziehung handelt: Meine Behaltensaktivitäten sind darin begründet, daß ich später (in welcher situationalen Konkretisierung auch immer) das Behaltene erinnern will. Behaltensintentionen ohne antizipierte Erinnernsanforderung sind vom Subjektstandpunkt offensichtlich sinnlos; bzw., noch weiter zugespitzt, die Behaltensintention ist in gewisser Weise mit der Intention, mich später an das Behaltene erinnern zu wollen, identisch. - So haben wir es in den einschlägigen Experimenten wiederum mit einer Variante der schon früher aufgewiesenen Inkongruenz zwischen der bedingungsanalytischen Begriffsbildung des Experimentators und dem begründeten Handeln der Versuchsperson unter den gesetzten Bedingungen als Handlungsprämissen zu tun: In der Theorie ist von durch Obung, d.h. Wiederholung geförderten Einprägungsprozessen die Rede, wobei implizit davon ausgegangen wird, daß die Vpn mit der Übernahme der Lernaufgabe ebenfalls nur Gründe dafür sehen, das Material zu Einprägungszwecken möglichst oft mechanisch zu wiederholen; dies kommt u.a. in der geschilderten Auffassung zum Ausdruck, daß die Einprägeleistung der Vpn umso besser ist, je mehr Zeit ihnen für das »innere« Wiederholen des Materials zur Verfügung steht (diese Annahme wird gelegentlich »Gesamtzeithypothese« genannt, vgl. etwa Baddeley, 1979, S.34ff). Vom Subjektstandpunkt der ~hin gegen antizipiert diese eine bestimmte Erinnerungsanforderung und begründet darin ihre jeweilige Behaltensstrategie mit den vorgegebenen Versuchsbedingungen als Handlungsprämissen - dies wiederum unabhängig davon, wieweit ihr die Tatsache und/ oder die Art der späteren »Prüfsituation« vom Experimentator mitgeteilt wurde oder nicht: Sie muß sich in Abwesenheit anderer Informationen hier notwendig selbst bestimmte Hypothesen über die Art der Erinnernsanforderung bilden, da sie andernfalls keinerlei Gründe für das vom Experimentator verlangte intendierte Lernen des Materials hätte, also gar nicht in der Lage wäre, dessen Instruktion nachzukommen.
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Die in Gedächtnisuntersuchungen aufgrund nomologischer Theorienbildung mit assoziationistisch-mechanistischen Vorannahmen bestehende Diskrepanz zwischen dem, was die Vpn hier tatsächlich tun, und den Annahmen des Experimentators darüber ist von Miller, Galanter & Pribram (1960) in ihrem Buch ~Plans and the structure of behaviorc (auf das wir später noch in prinzipielleren Zusammenhängen eingehen) überzeugend veranschaulicht und konkretisiert worden. Die Autoren legen - obwohl sie diese selbst in den Trend der damals im Aufschwung begriffenen Kognitiven Psychologie einordnen- ihrer Arbeit tatsächlich einen um die Begriffe der »Intentionalität~ und des ,.p]anes• zentrierten Ansatz zugrunde, der (obwohl nicht konsequent zuendegebracht und später kaum in seiner Eigenart erkannt und weitergeführt, s.u.) sie zu Einsichten über kognitive Prozesse vom Standpunkt des Subjekts befähigt hat, die den Rahmen des üblichen kognitivistischen Denkens weit überschreiten. In ihrem mit den traditionellen Gedächtnisexperimenten befaßten Kapitel ,.p]ans for remernberinge (S.125ft) stellen sie dementsprechend die Forderung nach Berücksichtigung der Intentionalität, damit Subjektivität der Vpn im Experiment gegen deren übliche, in theoretischen Vorurteilen gegründete Vernachlässigung heraus. Wie aber gewinnt man Zugang zur Intentionalität/Subjektivität der Versuchspersonen im klassischen Gedächtnisexperimem? Miller, Galanter & Pribram finden darauf die gleiche Antwort, wir wir sie im Kontext unseres »intersubjektiven« Methodenansatzes gegeben haben: »Ürdinarily the simplest way to find out what a person is doing is to ask him« (S.126). Gerade dieses Fragen werde aber von den Psychologen aus Gründen methodischer »Objektivität« eliminiert. Wenn man jedoch eine Vp danach frage, was sie in den traditionellen, mit sinnlosen Silben durchgeführten Untersuchungen getan habe, so stelle sich heraus, daß diese, um die ihnen aufgetragene Aufgabe des »memorizing• erfüllen zu können, notwendig die Absichten des Experimentators durchkreuzen müsse, indem sie versucht, die sorgfältig ausgesuchten •sinnlosen Silben• dennoch in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen: »Weil, it wasn't easy, but he did it• (S.l26). Miller, Galanter & Pribram bringen dafür mannigfache Beispiele aus ihrer experimentellen Arbeit und verallgemeinern diese mit der Feststellung, daß die Vpn dabei »two different kinds of plans• ausführen müßten: »Ün the one hand, the subject is attempting to construct a Plan that will, when executed, generate the nonsense syllables in the correct order. But at the same time he must adopt a Plan to guide his memorizing, he must choose a strategy for constructing the Plan for recall« (S.128). Dafür stünden der Vpn verschiedene Wege offen: Sie könnten z.B. die sinnlosen Silben in Worte übersetzen, diese in Sätze einordnen und aus diesen eine Geschichte erfinden, um bei der geforderten Wiedergabe (als seriellem Lernen) den gleichen Weg rückwärts zu gehen und so die korrekte Reihenfolge der Silben rekonstruieren zu können. Ein anderer möglicher Plan bestehe in der rhythmischen Gruppierung der Silben, ein wieder anderer darin, die Silben in einem imaginären Raum anzuordnen und beim Erinnern jeweils dahin zu »blicken« und die Reihenfolge der Silben dort »abzulesen•, wo sie »Stehen« (S.l28t). Dies wird von Miller, Galanter & Pribram in folgender Weise verallgemeinert auf den Begriff gebracht: ,.Unless a person has some kind of Plan for learning, nothing happens. Subjects have read nonsense syllables hundreds of times and learned almost nothingabout them ifthey were not aware that they would later be tested for recall. In order to get the Iist memorized, a subject must have that mysterious something called an ,intent to learn'.
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An intention to learn means that the subject executes a Plan to form a Plan to guide recall«. Solche Pläne mögen, so Miller, Galanter & Pribram, u.U. lediglich fragmentarischer Natur sein, mehr oder weniger ..absent minded« und zufällig erfolgen, wobei die Vpn also auch ohne eindeutige und bewußte Intentionen einiges lernen könnten (s.u.): »The important thing• sei jedoch »to have a Plan to execute for generating the recall response; ordinary, but not invariably, that Plan will not be achieved without intend to learn, that is to say, without a metaplan for constructing a Plan that will guide recall« (5.129}
In dieser Sichtweise ist nun auch die Funktion der Wiederholung für das Lernen bzw. Einprägen des Materials im Gedächtnisexperiment begründungstheoretisch reinterpretierbar: Die Wiederholung hat so betrachtet keineswegs schon als solche einen »einprägenden«, »spurenbildenden« etc. Effekt, sondern ermöglicht lediglich unter bestimmten experimentellen Bedingungen die Entwicklung einer adäquaten subjektiven Strategie zur Erfüllung der antizipierten Erinnernsanforderung (so wird die Vp im von Miller, Galanter & Pribram angeführten Beispiel die Strategie der Verknüpfung der sinnlosen Silben mit sinnvollen Wörtern, deren Einordnung in Sätze und die Zusammenfügung dieser Sätze zu einer Geschichte nicht schon beim einmaligen Lesen einer Liste fertig haben, sondern erst von Wiederholung zu Wiederholung allmählich aufbauen können). Von da aus würden sich dann auch die erwähnten widersprüchlichen Befunde über den Effekt der Wiederholungen für den Behaltensprozeß erklären (so fanden, wie dargestellt, etwa Craik & Lockart, daß bloßes Wiederholen ohne erhöhte Nerarbeitungstiefe« keine Verbesserung der Erinnerungsleistung bringe, was etwa von Baddeley bestritten und gegen die Verarbeitungsebenen.:fheorie ins Feld geführt wurde): Wiederholungen werden dann die Erinnernsleistungen verbessern, wenn bei den Vpn im Experiment die Bedingungen/Prämissen und die Intentionen dafür gegeben waren, diese Wiederholungen zum Aufbau von an der Antizipation der Erinnernsanforderung orientierten Behaltensstrategien zu nutzen; keine förderliche Wirkung der Wiederholungen auf die Erinnerung bestünde hingegen dann, wenn für die Vpn keine Möglichkeit und/ oder kein Grund zur Entwicklung derartiger Strategien vorhanden war. Befunde, in denen ein Zusammenhang zwischen Wiederholung und Erinnerungsleistung feststellbar ist bzw. fehlt, sind mithin - wie stets bei der bedingungsanalytischen »Brechung« des Verhältnisses zwischen Experimentator und Versuchsperson - in diesem Kontext notwendigeweise mehrdeutig und letztlich uninterpretierbar, weil hier über die nur in intersubjektivem Frage- und Antwortspiel aufzuweisenden wirklichen Handlungsbegründungen der Vpn hinwegspekuliert wird. Aus unserer (an das Konzept der Verarbeitungsebenen angelehnten und begründungstheoretisch gefaßten) Umformulierung von »Gedächtnis«-Modellen in Konzepte über intentionale Behaltens-/Erinnernsaktivitäten ergibt
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sich, daß die vorgeblich besonderen Funktionen von »Speichern« o.ä. als funktionale Spezifika der jeweiligen Behaltensstrategien verstanden werden müssen: Es hängt so gesehen von der Art der intendierten Erinnernsleistung ab, welche Arten von typischen Behaltens-/Erinnernsstrategien dabei begründetermaßen in Anschlag zu bringen sind, wobei bestimmte Inhalte um so dauerhafter behalten werden können, je umfassender und stabiler die schon vorhandenen Wissensstrukturen sind, in denen das Zu-Behaltende durch die jeweilige Behaltensstrategie verankert wird. Eine Uminterpretation dessensorischen Registers, Kurzzeitspeichers und Langzeitspeichers unter solchen Gesichtspunkten ist (mindestens im Prinzip, also unabhängig von den jeweiligen inhaltlichen Bestimmungen, s.u.) in Craik & Lockans Konzept der »Tiefe« der Verarbeitung bereits versucht worden (wobei der BGM-Charakter dieses Ansatzes auf der Hand liegt). In entsprechender Weise müßten nun aber auch andere Einteilungen, wie etwa die dargestellte gängige Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis reinterpretierbar sein. Die Voraussetzungen dazu sind (wie sich zeigen wird) auf dem gegenwärtigen Stand unserer Diskussion allerdings noch nicht gegeben, wir kommen deshalb später, bei der Darlegung einer bestimmten Entfaltungsstufe der von uns zu erarbeitenden subjektwissenschaftlichen Lerntheorie, darauf zurück.
Gesamteinschätzung: Gerichtetheit aufPermanenz des Gelernten in den Schranken immanent-sprachlicher Bedeutungsbezüge Wir weiten jetzt wiederum den begrifflichen Rahmen der Darstellung aus, indem wir die bloße Begründungsanalyse überschreitend unsere kategorialen Bestimmungen der umfassenden sachlich-sozialen Bedeutungskonstellationen, die als Prämissen in die Handlungsbegründungen eingehen, explizit auf die bisherigen Resultate unserer Reinterpretation der kognitivistischen Gedächtnistheorien beziehen: Welche prinzipiellen Beschränkungen und Möglichkeiten des von uns bisher reinterpretativ daraus gewonnenen Konzepts subjektiv begründeter Behaltens-/Erinnernsaktivitäten werden in dieser Sichtweise erkennbar? Welche über die Schlußfolgerungen aus der Reinterpretation (kognitiv erweiterter) SR-psychologischer Ansätze hinausgehenden Fragestellungen für die weitere lerntheoretische Analyse sind auf diesem Wege zu explizieren? Aus den kognitiven Erweiterungen der SR.:fheorien ergab sich für uns (wie dargestellt) die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Lernen und Ausführung und weiterhin der Aufdifferenzierung des Lernens in intendierteS
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und inzidentelles Lernen. Wie verhält sich nun das neue Konzept der intendierten Behaltens-/Erinnernsaktivitäten zu diesen begrifflichen Differenzierungen? - Offensichtlich ist einerseits das »Behalten/Erinnern« (zunächst gleichviel ob intendiert oder inzidentell) zwanglos dem »Lernen« zuzuordnen (entsprechend redet man in der traditionellen Gedächtnisforschung häufig statt von der Behaltens-oder Einprägungsphase auch von der >>l..ernphase« als erstem Stadium des experimentellen Ablaufs). Andererseits aber ist, wenn man von »Lernen« als »Behalten« redet, ein bestimmter Aspekt des Lernens hervorgehoben, nämlich die Dauerhaftigkeit oder Permanenz des Lernresultats: Dies ist es ja, was in den Vorstellungen vom >>Gedächtnis« als »Speicher« etc. seinen verdinglichten Ausdruck findet. Damit verdeutlicht sich, daß eine derartige Permanenz im Konzept des Lernens implizit stets in irgendeiner Weise mitgemeint sein dürfte: »Lernen« hat demnach nicht schon dann stattgefunden, wenn in einer bestimmten Situation erfahrungsbedingte Änderungen der Leistung, Einstellung etc. feststellbar sind, sondern erst dann, wenn diese Änderungen über die spezielle Situation, in der sie erworben wurden, hinaus erhalten bleiben, so daß in einer nächsten einschlägigen Situation weitere Änderungsprozesse quasi darauf aufbauen können. Eine solche transsi· tuationale Permanenz und Kumulation soll in unseren späteren Ausführungen als (weiteres) spezifisches Merkmal des Lernhandeins aufgegriffen werden. Bei Akzentuierung der Unterscheidung >>inzidentell-intendiert« verdeutlicht sich, daß im inzidentellen Lernen die Permanenz sich irgendwie von selbst, als Nebeneffekt der Erfahrungsbildung, herstellen muß. Bei intentionalem Lernen sind dagegen zwei Möglichkeiten in Rechnung zu stellen: Entweder sind hier die Lernintentionen auf andere Dimensionen als das Behalten/Erinnern (etwa »Können« oder »Verstehen«) gerichtet, dann ergibt sich die Permanenz als lediglich mitintendiert; oder das Behalten/Erinnern stellt die einzige oder mindestens dominante Dimension der Lernintentionen dar, dann ist die Permanenzintention das Spezifikum der Lernaktivitäten. lnten· diertes Behalten/Erinnern wäre so bestimmt als intentionales Lernen unter der Dominanz der Permanenzintention. Definitorisch gesehen könnte mithin die Gedächtnisforschung, indem hier Lernaktivitäten thematisiert sind, bei welchen das Individuum in verselbständigter Weise die Dauerhaftigkeit seiner Lernresultate anstrebt, als ein Spezialfall der Lernforschung eingestuft werden. Faktisch allerdings stehen (wie gesagt) in den einschlägigen Forschungstraditionen »Lernen« und »Gedächtnis« weitgehend begriffslos nebeneinander, so daß wir im Laufe unserer weiteren Überlegungen die sich aus einer derartigen Verhältnisbestimmung ergebenden lerntheoretischen Konsequenzen erst noch herausarbeiten müssen. Ein weiteres Desiderat, das in unserer späteren lerntheoretischen Entwicklungsarbeit aufzugreifen ist, ergibt sich aus folgendem: Wenn man die (immer:
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intendierten) Behaltens-/Erinnernsaktivitäten, wie wir sie in Reinterpretation der kognitivistischen Gedächtnisforschung gekennzeichnet haben, im Lichte unserer benannten Kategorialbestimmungen betrachtet, so wird schon auf den ersten Blick deutlich: Die dort angesprochenen Strategien etwa des Clustering, der Kodierung verschiedener Art, des Suchens, der Rekonstruktion, Ortung in semantischen Netzwerken, die verschiedengradige Verarbeitungstiefe etc. werden niemals als in sachlich-soziale Bedeutungszusammenhänge hineinwirkende, realitätsverändernde, spurenhinterlassende, praktische Handlungen, sondern durchgehend als lediglich •innere«, gedankliche, mentale Handlungen verstanden. Dies geht soweit, daß selbst dort, wo etwa vom »prozeduralen Gedächtnis« die Rede ist, üblicherweise keineswegs- wie man meinen könnte - »äußere« Handlungsfolgen, sondern wiederum bloß mentale »Prozeduren« gemeint sind. (So stellt etwa Anderson mit Bezug auf das »Produktionsgedächtnis« als seine Version des »prozeduralen Gedächtnisses« zunächst fest, darunter könnte ja ein Gedächtnis für eigentliche moto· rische Fähigkeiten, wie Fahrradfahren oder Schreibmaschineschreiben verstanden werden, die ACT".:fheorie befasse sich aber in diesem Kontext ausschließlich mit kognitiven, programmsprachlich formulierbaren Prozeduren, wie Entscheidungsfindung, mathematisches Problemlösen, Sprachentstehung etc., vgl. 1983, S.215). - Können denn aber derartige externe, praktische Handlungen überhaupt als Behaltens-/Erinnernsaktivitäten fungieren, macht es also einen Sinn, sie in diesem Kontext zu vermissen? Genau diese Frage ist es, die wir später, wenn wir bei der Auseinanderlegung unseres Entwurfs einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie soweit gekommen sein werden, aufgreifen müssen. Allgemeiner gesehen tritt bei Reflexion der möglichen Bezüge menschlichen Behaltens und Erinnerns auf die sachlich-sozial bedeutungsvolle Welt der Umstand hervor, daß durch die kognitivistische Gedächtnisforschung derartige Bezüge radikal ausgeklammert sind: Zwar wird (gerade in den neueren Entwicklungen des Kognitivismus) zunehmend auf die »Bedeutung« des zu behaltenden und erinnernden Materials abgehoben, dabei sind jedoch (im Einklang mit der allgemeinen Beschränkung der traditionellen Gedächtnistheorien auf sprachlich-symbolische Gegebenheiten) ausschließlich i.w.S. sprachliche Bedeutungen gemeint, deren Beziehung zu den gegenständlichen Weltbedeutungen unsichtbar bleibt (s.u.). Auch wo innerhalb des Kognitivismus die Wechselwirkung des Systems mit bestimmten Merkmalen des »Environments« in Rechnung gestellt wird, handelt es sich nicht um die wirkliche Umgebung, sondern nur um die programmsprachliche Repräsentanz vori bestimmten gesetzten Umgebungs-Parametern. So tritt hier an die Stelle der Welt das »Weltwissen« und an die Stelle der Berücksichtigung der verschiedenen
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Ausprägungen sachlich-sozialer Bedeutungsstrukturen im Handlungs- und Praxiszusammenhang der Individuen die Unterscheidung verschiedener ,.Wissensdomänen« o.ä. (vgl. dazu die kritischen Analysen von Lave, 1988, etwa S.83ff). Durch eine derartige Sprachimmanenz scheint das Subjekt in die ..innere« Welt seiner sprachlichen Bedeutungsbezüge eingesperrt: Es führt mit Bezug auf mein eigenes Handeln wie mit Bezug auf meine Erfahrungsmöglichkeiten auch hier kein Weg hinaus in die wirkliche, historisch geworde·
ne, von »uns allen« in unserer Lebenspraxis geteilte gesellschaftliche Lebenswelt. Graumann & Sommer (1985) haben dies in verallgemeinerter Weise aufgewiesen, indem sie als Hauptgefahr der »Computerisierung« kognitionspsychologischer Modellbildungen »Einkapselung (encapsulation) und, deswegen, Realitätsverlust (loss of reality)« herausheben: »Die gesamte Welt, einschließlich dessen, was wir soziale Realität nennen, ist (in der Kognitiven Psychologie/K.H.) konzentriert in individuellen ,brains' and ,minds', als kognitive Repräsentationen zwischen Input und Output von Information eingeschlossen, um verarbeitet, gespeichert und abgerufen zu werden« (S 66f., Übers. K.H.). Aus der Reflexion auf die Ausklammerung realer sachlich-sozialer Bedeutungszusammenhänge fällt auch neues Licht auf die (schon angedeutete) Kontinuität des Assoziationsprinzips (i.w.S.) von der SR-Psychologie zum Kognitivismus: In der SR-Psychologie bezieht (wie früher etwa im Kontext unseres Bremslicht-Beispiels aufgewiesen, vgl. S.60f) das Konzept der Konditionierung als assoziativer Verknüpfung von Signal und Signalisiertem bzw. Verhalten und Verhaltenskonsequenz seine theoretische Unverzichtbarkeit daraus, daß die »Welt« hier nicht in ihren vergegenständlichten Bedeutungszusammenhängen, sondern nur als Inbegriff von isolierten Gegebenheitszufällen sichtbar wird, so daß alle Verknüpfungsleistungen dem Individuum aufgebürdet werden müssen. Wenn nun, wie gerade herausgestellt, im Kognitivismus in dieser Richtung quasi noch ein Schritt weitergegangen wird, indem die »Welt« im Ganzen durch Zentrierung auf bloß »innere« Prozesse der Informationsverarbeitung ausgeklammert ist, so würde daraus folgen, daß hiertrotzaller Kritik an der SR-Psychologie deren prinzipiell »assoziationistischer« Denkweise kaum etwas entgegengesetzt werden könnte, vielmehr in diesem Punkt eine (vielleicht z. T. verschwiegene) Kontinuität zwischen SRTheorie und Kognitivismus aufweisbar sein müßte. Eine solche Fortschreibung assoziationistischer Prinzipien von der SRPsychologie zur kognitivistischen Gedächtnisforschung wurde auf überraschende Weise in der schon erwähnten, an der schwedischen Universität Umea abgehaltenen Konferenz unter dem Thema »Perspectives on learning and memory« (vgl. Nilsson & Areher 1985) deutlich. Bei der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen beiden Grundansätzen wurde dabei immer wieder
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das Assoziationsprinzip als möglicher »gemeinsamer Nenner« benannt -einschlägige Diskussionen ziehen sich wie ein roter Faden durch fast alle der dort gehaltenen Beiträge. Man war sich unter SR-Psychologen und Kognitivisten in U mea weitgehend einig, daß das Assoziationsprinzip (möglicherweise in ausgeweiteter und ·liberalisierter« Form) psychologisch unverzichtbar sei und ein wesentliches Verbindungsglied zwischen beiden Positionen darstelle. So konnten denn Rönnberg & Ohlsson (1985) bei ihrer Synopse der in Umea gehaltenen Beiträge hervorheben, daß das Assoziationsprinzip nicht nur- erwarteterweise - die moderne SR-Psychologie beherrscht, sondern {mindestens implizit) den wesentlichen Ansätzen kognitivistischer Gedächtnisforschung zugrundeliegt: »Human memory theorists, in their turn, have hidden the explicit associative assumptions in their models. Closer scrutiny reveals that the association isalive and weil established even in such models« {S.184). Dies gilt nicht nur für die Aufbauprinzipien des sensorischen Registers und Kurzzeitgedächtnisses, sondern- wie Nilsson & Areher hervorheben- ebenso etwa für die modernen Modelle des semantischen Gedächtnisses: In den hier formulierten Konzepten über semantische »Netzwerke« oder »Hierarchien« sei die Assoziation notwendig als strukturbildender Faktor vorausgesetzt. Auch auf die assoziationistische Grundlage des ACr-Modells von Anderson wird von den Autoren hingewiesen (S.294, vgl. dazu Anderson selbst, 1983, S.202). Nilsson & Areher fassen zusammen: »The association is a robust concept and perhaps necessary to the fields of learning and memory• (S.295).- Auch der moderne Konnektionismus muß (obwohl man über die Besonderheiten des kognitivistischen gegenüber früheren, einfachen Formen des Assoziationismus streiten kann, vgl. etwa Fodor & Pylishyn 1988 und Smolensky 1989) - da hier Knoten und gerichtete Verbindungen angenommen sind, zwischen denen durch rückwirkende Gewichtungsmodifikation Verbindungen sich herausbilden - in einem weiteren Sinne als eine besondere Art von Assoziationismus bezeichnet werden. Dementsprechend konnte (wie dargelegt) etwa K.ohonen (1984) das »Gedächnis« in konnektionistischer Fassung umstandslos als »associative memory« bezeichnen. Wenn wir auf unsere drei »Gesamteinschätzungen« jeweils am Ende der begründungstheoretischen Reinterpratationsversuche der vorher diskutierten traditionellen lern- bzw. gedächtnistheoretischen Ansätze zurückblicken, so verdeutlicht sich, daß dabei in jeweils anderem Kontext das kategoriale Problem des beschränkten Weltbezuges im Mittelpunkt der Kritik stand: Die •Welt« der SR-theoretischen Konzeption erwies sich als Inbegriff isolierter Einwirkung von Umweltkontingenzen auf den Organismus (wobei der konnektionistische Weltbezug u.U. als eine Spielart des SR-theoretischen aufgefaßt werden kann). Nach Diskussion der kognitiv erweiterten SR-theoretischen
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Lernkonzepte erwies sich, daß mit dem hier (explizit und implizit) zugrundeliegenden ..Erwanungskonzept« der aktiv-änderende Ausgriff des Subjekts auf seine Lebenswelt (damit auch Veränderung der Prämissen des eigenen Handelns) nicht konzeptualisierbar ist. Aus der Erörterung der kognitivistischen Gedächtnisforschung ließ sich verallgemeinern, daß hier der ..Input« und der .. Output«, also die Eingabe- und Ausgabefunktion des ..Systems•, an die Stelle der unabhängigen Lebenswelt tritt und daß dabei die Sprache (i.w.S.) quasi als undurchdringliche Mauer zwischen dem Subjekt und der Außenwelt steht. Aus alldem ergibt sich, daß wir diese Beschränkungen in unserer später zu erarbeitenden subjektwissenschaftlichen Lerntheorie rückgängig machen bzw. vermeiden müssen. Es muß uns gelingen, den subjekthaft-aktiven Charakter des Lernens als Zugang des Subjekts zur wirklichen Welt sachlich-sozialer Bedeutungszusammenhänge zu konzeptualisieren. Oder (anders gewendet): Wir müssen zu lerntheoretischen Grundkonzepten jenseits der (gleichviel ob aus dem SR-psychologischen Reiz-Reduktionismus oder der kognitivistische Sprachimmanenz resultierenden) Weltlosigkeit der traditionellen Lerntheorien gelangen. Bevor wir damit beginnen können, ist jedoch erst noch ein weiterer lerntheoretischer Grundansatz darzustellen und zu reinterpretieren, der der später zu erarbeitenden subjektwissenschaftlichen Lernkonzeption einen wesentlichen Schritt näher kommt: Aus der kognitivistischen Tradition erwuchs (wie schon erwähnt) neben der gerade diskutierten Gedächtnisforschung noch ein anderer lernpsychologisch relevanter Entwicklungszweig als .. kybernetischer« Theorieansatz, wie er heute in Gestalt der Handlungs· regulationstheorie vorliegt. Mit diesem Ansatz ist in gewissem Sinne eine Verbindung zwischen dem Kognitivismus und dem tätigkeitstheoretischen Ansatz, aus dessen kritischer Rezeption unsere subjektwissenschaftliche Grundkonzeption entstanden ist, hergestellt. So könnte von da aus der Übergang zwischen unseren Reinterpretationsbemühungen und eigener lerntheoretischer Entwicklungsarbeit in besonders stringenter Weise vollziehbar werden.
2.4 Kritik/Reinterpretation der handlungstheoretischkybernetischen Fassung des Lernproblems
Vorbemerkung Neben der gängigen »Reiz«-Konzeption (die, wie gesagt, nicht nur für die SRPsychologie bestimmend ist, sondern auch in der kognitivistischen Gedächtnisforschung mit dem Konzept des »sensorischen Input« konserviert wurde) gab es - wenn auch am Rande des Mainstream - immer wieder Ansätze, in denen die scheinbar kausal fixierte Reihenfolge Reiz .... Reaktion mit dem Hinweis problematisiert wurde, daß »Reize« dem Organismus ja nicht notwendig einfach gegeben sein müssen, sondern von diesem auch aktiv aufgesucht oder erzeugt werden können. Demnach müsse das einsinnige ReizReaktions-Schema durch ein Modell der Wechselwirkung zwischen Reizen und Reaktionen erweitert werden (was- da »Reaktionen« ja so gesehen den »Reizen« vorhergehen können- eine prinzipielle Problematisierung der Angemessenheit dieses Begriffspaars und konzeptuelle Neufassungen nahelegt). Solche Vorstellungen, die z.B. schon von John Dewey (1896) in seinem berühmten Artikel »The reflex arc concept in psychology« klar auf den Begriff gebracht wurden, finden sich in verschiedenen physiologischen, biologischen etc. Ansätzen, in psychologisch folgenreichster Weise aber in dem (schon früher- bei der Reinterpratation der kognitivistischen Mehrspeichermodelle - von mir unter speziellen Gesichtspunkten herangezogenen) Buch von Miller, Galanter & Pribram ( 1960), »Plans und the Structure of Behavior«, in dem das kybernetische Regelkreis-Modell die Darstellungsgrundlage bildet. Diese Arbeit wird einerseits zu den wegbereitenden Frühwerken der kognitiven Wende gerechnet (auch die Autoren selbst sehen sich in diesem Kontext), ist aber innerhalb des Kognitivismus zwar immer wieder respektvoll angeführt, aber (wegen seiner handlungstheoretischen Tendenzen, s.u.) in den wesentlichen Aspekten kaum wirklich rezipiert worden. Ernsthaft aufgegegriffen wurden die Grundauffassungen von Miller, Galanter & Pribram dagegen von einer anderen psychologischen Entwicklungslinie, die weitgehend außerhalb des Mainstream liegt: der (schon erwähnten) Handlungsregulationstheorie, wie sie von dem Dresdner Arbeitspsychologen Wilfried Hacker
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begründet wurde und bei uns etwa von Walter Volpert, Siegfried Greif, Michael Stadler, Norbert Semmer, Rainer Oesterreich und Heiner Dunkel vertreten wird. Es ist wohl auf Anhieb evident, daß- da (wie gezeigt) die Weltlosigkeit der bisher diskutierten traditionellen Lerntheorien wesentlich mit der außendeterministischen Einseitigkeit der zugrundeliegenden Reiz-Kategorie zusammenhängt - theoretische Ansätze, in denen die Einwirkung des Individuums auf die Welt schon in der Konzeptualisierung elementarer menschlicher Realitätsbeziehungen berücksichtigt wird, für unsere weiteren Analysen von großem Interesse sein müssen. Dabei ist zwar einerseits einzuräumen, daß die Handlungsregulationstheorie als solche keine »Lerntheorie« darstellt (und auch nicht, wie die kognitivistischen Gedächtnismodelle, als Lerntheorie interpretiert werden kann); andererseits aber liegen verschiedene Arbeiten vor, in denen explizit versucht wird, die Begrifflichkeit der Handlungsregulationstheorie für die Analyse von Lernprozessen fruchtbar zu machen, auf die wir uns im weiteren beziehen können. Damit ist der nächste (und letzte) Schritt unserer begründungstheoretischen Kritik- und Reinterpretationsbemühungen vorgezeichnet. Zunächst soll dabei die Handlungsregulationstheorie samt der dieser vorausgehenden Theorie von Miller, Galanter & Pribram in ihren allgemeinen Grundzügen dargestellt werden, ehe wir dann auf deren lerntheoretische Spezifizierung und zu unserer darauf bezogenen begründungstheoretischen Diskussion kommen.
Das Grundmodell der Handlungsregulation Miller, Galanter & Pribram (1960) greifen in ihrem Buch zwei miteinander zusammenhängende Grundfragen auf: Sie wollen mit ihrer Konzeption das von ihnen diagnostizierte •theoretical vacuum between cognition and action« innerhalb der Kognitiven Psychologie (S.13) überwinden. Dies wiederum soll erreicht werden durch eine konzeptionelle Neufassung des unmittelbaren Weltkontaktes der Individuen unter Zurückweisung des traditionellen Stimulus-Response-Schemas. In diesem Problemzusammenhang kritisieren Miller, Galanter & Pribram den dem SR-Schema zugrundeliegenden »klassischen« Reflexbogen (Stimulus --+ Rezeptor --+ afferenter Nerv --+ verbindende Fasern --+ efferenter Nerv -+ Response) als eine Art von Einbahnstraße, an deren Ende der passive Organismus von jeder weiteren Erfahrung abgeschnitten sei. Als alternative Fassung der Grundeinheit psychologischer Analyse schlagen sie das Modell der »Rückkoppelungsschleife« (»feedback loop«) vor, wie es von Norbert Wiener als kybernetischer »Regelkreis« konzipiert
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
wurde, in welchem ein jeweiliger »Istwert« unter Berücksichtigung externer »Störgrößen« kontinuierlich auf einen »Sollwert« hin einreguliert wird. Rückkoppelungsvorgänge dieser Art finden sich nach Miller, Galanter & Pribram bereits auf den unspezifischen organismischen Ebenen des Energieund lnformationsflusses: Charakteristisch für menschliches Verhalten seien indessen solche Regelungsprozesse auf der Ebene der Verhaltenskontrolle. Derartige elementare Kontrolleinheiten werden hier als TOTE-Einheiten (test -+ operation -+ test -+ exit) bezeichnet (und am Beispiel der kontinuierlichen Kontrollprozesse mittels Regulation der Operationen durch Vergleichen von Ist- und Sollwert beim Nageleinschlagen veranschaulicht). Solche TOTE-Einheiten unterscheiden sich - so Miller, Galanter & Pribram prinzipiell vom traditionellen SR-Schema: »Because stimulus and response are correlative und contemporaneous, the stimulus processes must be thougt of not as preceding the response but rather as guiding it to a successful elimination of the incongruity. That is to say, stimulus and response must be considered as aspects of a feedback loop« (S.30). Die so gefaßten TOTE-Einheiten sind nach Miller, Galanter & Pribram nicht, wie die SR-Einheiten, in sich abgeschlossen, sondern weisen in zweierlei Hinsicht über sich hinaus: Einmal sind die TOTEs auf horizontal-zeitlicher Ebene als Elemente von Sequenzen eines kontinuierlichen Kontrollprozesses aufzufassen, die erst mit dem Zusammenfallen von Ist- und Sollwert enden. »Exit« ist mithin keineswegs (notwendig) das reale Ende der Aktivität, sondern grenzt lediglich analytisch eine TOTE-Einheit gegenüber der nächsten ab. Zum anderen aber können (wie ebenfalls am Beispiel des Nageleinsehtagens exemplifiziert wurde, vgl. S.35) nach Miller, Galanter & Pribram bestimmte TOTE-Einheiten auch als Teiloperationen innerhalb übergeordneter TOTE-Einheiten zusammengefaßt und umgekehrt die Operationsglieder gegebener TOTE-Einheiten in untergeordnete TOTEs aufdifferenziert sein, womit den Kontrollprozessen hier grundsätzlich »hierarchischer« Charakter zukommt. In der Möglichkeit, die TOTE-Einheiten als in hierarchischer Weise ineinander verschachtelt aufzufassen, liegt nun aber nach Miller, Galanter & Pribram deren wesentliche theoretische Potenz zur Überwindung des benannten »vacuums« zwischen Kognition und Aktion: Hier bestünde nämlich die Möglichkeit, durch eine Art von »Mehrebenen-Beschreibung« die einzelnen Instanzen von der unmittelbaren Ausführungsaktivität bis zu kognitiven Verarbeitungsformen verschiedenen Allgemeinheitsgrades in ihrer Strukturähnlichkeit (als rückgekoppelte Kontrollvorgänge verschieden hoher Ordnung} zu fassen und auf dieser Grundlage in ihrer jeweiligen Besonderheit zu spezifizieren. Die Autoren bezeichnen abgrenzbare TOTE-Sequenzen, mit welchen die Individuen auf der Grundlage ihres bisherigen Wissens (»image«} ihre Aktivitäten organisieren, als Pläne (»Plans«). Dabei konzeptualisieren sie
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den hierarchischen Charakter solcher Planungsaktivitäten durch die Unterscheidung von »Meta-« bzw. »Subplänen« verschiedener Ordnung, wobei die übergeordneten Pläne mehr »Strategischen« und die untergeordneten Pläne, besonders die, in denen die unmittelbare Aktivitätsausführung geplant ist, mehr »taktischen« Charakter hätten. In der weiteren Ausführung ihrer Theorie kommen Miller, Galanter & Pribram nun zu einer speziell psychologischen Qualifizierung ihrer bisher mehr formal-kybernetisch gefaßten Begrifflichkeit: Sie explizieren den Tatbestand, daß in den IDTE-Einheiten und den daraus gebildeten Plänen jeweils ein Subjekt mitgedacht ist, das in seinen Operationen den Sollwert, an den es sich annähern will, bewußt antizipiert und dabei das zu erreichende Resultat danach bewertet, wieweit es ihm in Ansehung seines Vorwissens als wünschenswert erscheint. Daraus folgt für die Autoren, daß die »Intention« und ,.Bewertung• (•evaluation•) als wesentliche Bestimmungsmomente des Planens zu betrachten sind: Sie räumen deswegen diesen mehr phänomenologischen Konzepten in bewußter Abkehr von deren SR-psychologischer Vernachlässigung einen zentralen Stellenwert ein (vgl. S.59ff) und diskutieren ausführlich deren Verhältnis zueinander innerhalb individueller Planungsaktivitäten. In der Handlungsregulationstheorie wird einerseits das zentrale Konzept von Miller, Galanter & Pribram, das zyklische Modell des Handeins als sequentielle und hierarchische Organisation von Rückkoppelungseinheiten, übernommen, andererseits wird hier das Schwergewicht auf die Organisation von Arbeitshandlungen und deren möglichst effiziente Planung/ Ausführung innerhalb der unmittelbaren Produktion gelegt. Dies führt dazu, daß die taktische Ebene der Ausführungsaktivitäten innerhalb der hierarchischen Handlungsplanung weitgehend mit der Ebene motorischer Ausführungshandlungen gleichgesetzt wird (auch bei Versuchen, die Handlungsregulationstheorie auf weitere Bereiche der menschlichen Lebenstätigkeit anwendbar zu machen, herrscht dieser •handwerkliche« Aspekt vor). Zum anderen werden hier die bei Miller, Galanter & Pribram relativ locker gefügten Grundkonzepte der Handlungsplanung streng systematisiert und kodifiziert. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang das (auch auf Einflüsse aus der sowjetischen Psychologie zurückgehende) Verständnis des Handeins als eindeutig »zielgerichtet« - während Miller, Galanter & Pribram gerade zu bedenken gaben, daß die Fassung von Lebensplänen »in terms of concrete and specific objectives, in terms of ,goals', invites the disaster of planlessness«: ·The problern is to sustain life, to formulate enduring Plans, not to terminate living and planning as if they were tasks tobe finished« (1960, S.113f). Solche Auffassungsunterschiede ergeben sich -wie mir scheint- u.a. daraus, daß Miller.
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Galanter & Pribram mit ihrer Begrifflichkeit mehr die spezifische Rationali-
tät menschlichen Alltagsplanens faßbar machen wollten, während in der Handlungsregulationstheorie diese Begrifflichkeit eben zuvörderst unter der Fragestellung der Rationalisierung des Arbeitshandeins aufgenommen wurde (s.u.). Die zyklischen, ineinander verschachtelten Rückkoppelungseinheiten, die von Miller, Galanter & Pribram als TOTEs gefaßt wurden, sind bei Hacker, dem Begründer der Handlungsregulationstheorie, als NVR-Einheiten« definiert: statt »Test --+ operation --+ test --+ exit« »Veränderung --+ Vergleich --+ Rückmeldung« (vgl. etwa Hacker 1973, S.l04ff). Dabei werden die VVREinheiten, wie die TOTE-Einheiten, als gleichzeitig prozessual aufeinanderfolgend und hierarchisch strukturiert modelliert. In Kodifizierung dieser Vorstellungen Hackers entwickelte insbesondere Volpert (z.B. 1983a) das »Modell der hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganisation«, das heute das Kernstück der Handlungsregulationstheorie bildet. Dieses Modellläßt sich global folgendermaßen kennzeichnen: Zuerst wird das jeweils zu erreichende Ziel antizipiert. Sodann wird von da aus eine Reihe zielbezogener Handlungsschritte geplant (sog. Generierung von »Transformationen•). Danach werden die einzelnen Schritte (angefangen von der Stamransformation über vermittelnde Transformationen bis zur Ausführungstransformation) nacheinander ..durchgearbeitet«. Im Anschluß daran wird der Regelkreis durch Rückmeldung des Handlungsresultats zur Zielantizipation geschlossen: Sind deren Bestimmungen erfüllt, so ist der Handlungsvollzug beendet. - Die so modellierten Handlungszyklen können nun selbst wieder zu Teilhandlungen innerhalb übergeordneter Handlungsvollzüge werden. Verallgemeinert läßt sich dies abbilden als hierarchisches System mit einem generellen Handlungsziel an der Spitze und immer spezielleren Handlungszielen zur Basis hin: Die erfolgreiche Rückmeldung nach der Durcharbeitung von Transformationen führt also nach diesem Modell zunächst zur Aktivierung weiterer, untergeordneter Teilziele, wobei erst am Schluß der Generierung/Durcharbeitung der Handlungsschritte zu Zielen •niedrigster Ordnung« die eigentlichen Ausführungshandlungen stehen. Die Genese solcher hierarchischer Systeme verläuft dabei nach Volpert (der sich damit auf das Interiorisierungskonzept der Tätigkeitstheorie bezieht, s.u.) quasi in umgekehrter Richtung, nämlich als »Verbalisierung/Verinnerlichung• äußerer Handlungen im Zuge des ,.Aufbaus einer hierarchisch-sequentiellen Organisation des Handelns« (1975, 5.148). Diese hierarchische Anordnung hat nach Volpert die Funktion eines analytischen Mittels, um gegebene oder zu erzeugende Handlungsverläufe je nach Bedarf weiter aufzugliedern oder unter allgemeineren Zielsetzungen zusammenzufassen.
Die so bestimmten zyklischen Regulationsvollzüge werden über die Heraushebung ihrer sequentiell-hierarchischen Ablaufscharakteristik hinaus quasi vertikal nach verschiedenen Regulationsebenen mit unterschiedlichen kognitiven Strukturmerkmalen aufgegliedert: Hacker (1973, S.153ff) kam dabei zu drei Regulationsebenen: »Perzeptive und begriffliche Regulation von
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Arbeitstätigkeiten« als orientierende kognitive Strukturen am Objekt, »intellektuelle Regulation von Produktionsarbeiten« als übergeordnete Beurteilungsprozesse des Verhältnisses der auszuführenden Handlung zu generelleren Produktionszielen und schließlich »sensumotorische Ausführungsregulation von Arbeitstätigkeiten«. (Diese Gliederung wird meist abweichend von der m.E. sinnvolleren Anordnung Hackers quasi von unten nach oben als »sensumotorische•, »perzeptiv-begriffliche« und »intellektuelle« Handlungsregulation referiert; vgl. Volpert 1975, S.119f). Von der Konzeption der sequentiell-hierarchischen Handlungsorganisation in Wechselwirkung der verschiedenen Regulationsebenen aus stellt man innerhalb der Handlungsregulationstheorie Verbindungen sowohl zu bestimmten Konzepten der sowjetischen Psychologie wie zu kognitivistischen Vorstellungen über die Speicherung und Abrufbarkeit handlungsrelevanter Information her: Nach Hacker (1973) sind es »operative Abbildsysteme« (Oschanin) als »innere Repräsentationen« (die damit an die Stelle des »image« bei Miller, Galanter & Pribram treten/K.H.), aus denen das Individuum die jeweiligen »Handlungspläne« bzw. »Aktionsprogramme« abruft (vgl. auch Greif 1983, S. 92). -Die allgemeinste Richtgröße der Planung von Handlungsverläufen ist dabei für die Handlungsregulationstheorie die (auf der intellektuellen Regulationsebene angesiedelte) »planende Strategie« des Handelns, von der aus alle Teilaspekte der Handlung bewertet und ausgerichtet werden. Die damit skizzierte Grundkonzeption wurde in einer Reihe arbeits- und sozialpsychologischer Problemfelder angewendet. Dabei kam es zu einer immer stärkeren Tendenz, den Anwendungsbezug der Handlungsregulationstheorie in andere Bereiche (so die Allgemeine Psychologie, vgl. Stadler & Seeger 1981, die Klinische Psychologie, vgl. Raeithel & Bergold 1985, etc.) hinein auszuweiten. Auch auf theoretischer Ebene wurde das Modell in neuerer Zeit sowohl nach innen differenziert wie auf grundsätzlicher Ebene relativiert und flexibilisiert (vgl. dazu meinen Überblick, Holzkamp 1986, S.387ff).
Lernen als regulatorisch gesteuertes Lernhandeln Wie ist nun im Kontext derartiger theoretischer Vorstellungen über Handlungsplanung als sequentiell-hierarchischen Rückmeldungsprozeß das Lernen in seiner Besonderheit zu bestimmen? - Miller, Galanter & Pribram (1960) behandeln diese Frage in zweierlei speziellen Problemzusammenhängen: Einmal analysieren sie den Prozeß des Lernens von »sinnlosen Silben« etc. in den üblichen Gedächtnisexperimenten in Begriffen der bewußten, strategischen Planung mit der Intention einer Bewältigung der antizipierten
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Erinnernsaufgabe (ich habe dies früher eingehend dargestellt und diskutiert, vgl. S.144f). Zum anderen interpretieren sie das Lernen von motorischen Fähigkeiten und Gewohnheiten (»motor skills and habits«) als Automatisierung von Plänen: »Habits and skills arePlansthat were originally voluntary but have become relatively inflexible, involuntary, automatic«. Daraus ergebe sich das Problem, »how learned Plans become automatized« (S.82). Die Autoren diskutieren in der Folge dieses Problem (am Beispiel des Fliegenlernens) als Frage nach den Möglichkeiten und Vermittlungen der »Strategischen« Ebene verbaler Instruktionen und Selbstinstruktionen und der »taktischen« Ebene der unmittelbar motorischen Ausführungshandlungen (ich komme noch eingehend darauf zurück). Solche Automatisierungen von Plänen haben nach Miller, Galanter & Pribram die Funktion, das Individuum von mehr
taktischen Planungen im Interesse weitergespannter strategischer Planungen zu entlasten: Wenn die in das Fliegen eines Flugzeugs involvierten taktischen Planungsschritte einmal automatisiert seien, könne das Individuum sich nun übergeordneten strategischen Plänen, etwa der Planung eines Fluges von San Francisco nach Chicago, zuwenden. Auf grundsätzlichere Weise wird das Problem der Besonderheit des Lernens von Volpert (etwa 1974) angegangen: Er grenzt zunächst die Prinzipien der Handlungsregulationstheorie explizit von denen der SR:fheorie ab: Während die SR.:Yheorie eine lineare Verkettung von Einheiten voraussetze, die allein von gelernten Übergangswahrscheinlichkeiten bestimmt sei, konzeptualisiere die Handlungsregulationstheorie Sequenzen von Einzelhandlungen als elementare Regelvorgänge, die durch eine hierarchische Handlungsorganisation derart überformt seien, daß die höheren Ebenen gegenüber den niedrigeren jeweils als Steuer-, Überwachungs- und Kontrollinstanzen wirken (S.23ff). Auf dieser Basis bestimmt Volpert das »Lernen« als eine bestimmte Art von Handlungen, die den Aufbau von Handlungskompetenzen zum Ziele haben: »Wenn wir von der Definition ausgehen, Lernen sei die Weiterentwicklung von Handlungssystemen ... , dann ist Lernen sozusagen Handeln in zweiter Dimension: Handeln, dessen Ziel unmittelbar oder mittelbar die Verbesserung gegenständlicher Handlungen ist. Damit würden die bisherigen Überlegungen zur Handlungsstruktur auch für das Lernhandeln gelten, dieses wäre aber noch durch zusätzliche Merkmale zu kennzeichnen, welche eben den Aspekt der individuellen Entwicklung von Handlungen akzentuieren« (1974, 5.106). In Konkretisierung dieses Verständnisses von •Lernen« hebt nun Volpert an anderer Stelle (1975) - ähnlich wie Miller, Galanter & Pribram - die StereotypisierunglAutomatisierung als Erwerb von Fertigkeiten im Zuge der hierarchisch-sequentiell gegliederten Handlungsfolgen mit der Konsequenz der Entlastung der Bewußtseinskapazität für höhere, intellektuelle Planungs- und Kontrollprozesse als ein Spezifikum von·
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Lernhandlungen hervor. Diese Automatisierungsprozesse stellt Volpert wiederum in den Zusammenhang der »Verbalisierung/Verinnerlichung« äußerer Handlungen, wobei »Stereotype Folgen von Handlungsforderungen erkannt und als entsprechend stereotype und ,von selbst ablaufende' Sequenzen von Handlungsteilen angeeignet werden« (1975, 5.148, s.u.). Die umfassendste Diskussion des Lernproblems im Kontext der Handlungsregulationstheorie stammt von Dulisch (1986): Er hat diesem Thema ein ganzes Buch - mit dem programmatischen Titel »Lernen als Form menschlichen Handelns« - gewidmet. - Dulisch konzentriert seine Darstellung (wie wir) auf das bewußte und intendierte Lernen, in Abgrenzung vom bloß »beiläufigen Lernen« (nach Tolmans Terminologie »inzidentellen Lernen«, s.o.) als möglichem Nebeneffekt beliebiger Handlungsvollzüge (5.149). Das eigentliche »Lernhandeln« wird von ihm definiert als »ein Handeln ... , das in bewußter Weise auf die Verbesserung der eigenen Handlungsvoraussetzungen gerichtet ist und auf das Bereitstellen von Dispositionen für das zukünftige Handeln zielt« (S.149f). »Das bewußte Ziel der Lerntätigkeit ist eine relativ dauerhafte Veränderung der eigenen Gedächtnisstrukturen; oder anders ausgedrückt: Die Lerntätigkeit richtet sich auf den Aufbau und die gedächtnismäßige Verfestigung von Handlungsdispositionen bzw. -kompetenzen« (5.150). Dies impliziert nach Dulisch, daß im »Rahmen der Analyse von Lerntätigkeiten ... zwischen zwei Handlungsarten zu unterscheiden (sei), und zwar zwischen der Lerntätigkeit, die als ein zielgerichtetes Verhalten das Lernen bewirken will, und zwischen dem Handeln, zu dem der Lerner sich im Rahmen der Lerntätigkeit befähigen will« (5.151). Diese Art des Handeins wird von Dulisch (in Anlehnung an Strathenwerth) als die »,Bezugshandlung' der Lerntätigkeit« bezeichnet. Zur Abgrenzung zwischen beiden Handlungsarten stellt Dulisch präzisierend fest: »Da Menschen in erster Linie Handlungsdispositionen entwickeln, indem sie diese Handlungen im Rahmen der Lerntätigkeit real oder nur vorstellungsmäßig zu vollziehen versuchen, werden zwischen der Lerntätigkeit und der jeweiligen Bezugshandlung in der Regel vielfältige Überschneidungen bestehen« (5.151). Aus dem Umstand, daß dabei sowohl Lernhandlungen wie »Bezugshandlungen« als »Handlungen« - nur mit verschiedener Zielsetzung- zu betrachten sind, leitet Dulisch die Rechtfertigung dafür ab, (wie Volpert) die Grundkonzepte der Handlungsregulationstheorie auf das Lernen zu übertragen. Als Veranschaulichungsgrundlage für seine weiteren einschlägigen Konzeptualisierun~en bringt Dulisch {1986, S.l58f) folgendes Beispiel ein: Ein Auszubildender erfährt, daß m der bevorstehenden schriftlichen Abschlußprüfung möglicherweise das Thema »Rostbildung« gestellt wird. Deswegen will er sich die dafür nötigen Kenntnisse •relativ dauerhaft, d.h. zum mindesten bis zur Prüfung«, aneignen. Er informiert sich zunächst darüber, wie differenziert und umfassend sein einschlägiges Wissen sein müßte, um den erwarteten
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Anforderungen zu genügen, und prüft von da aus, wieweit seine schon vorhandenen Kenntnisse mit Bezug darauf hinreichend sein könnten. Aufgrund der dabei festgestellten Wissensmängel macht der Auszubildende sich Gedanken über die zum Schließen der Wissenslücke sinnvolle Vorgehensweise, etwa die Auswahl angemessener Texte, die zur Zielerreichung notwendigen Teilschritte, die optimale Art der Einprägung etc., und geht sodann an die Ausführung der Lernhandlung. Dabei prüft er einerseits schon während des Lernvollzuges mehrfach, wieweit er mit den jeweiligen Teilaktivitäten sein Ziel erreicht hat, und versucht andererseits abschließend sich ein Bild darüber zu machen, wieweit er mit seinen Vorbereitungen die erwarteten Prüfungsanforderungen erfüllen wird. - Diese verschiedenen Stadien dieses (hier nur verkürzt dargestellten) Vorbereitungsprozesses werden von Dulisch (S.158ff) folgendermaßen auf den Begriff gebracht: •Entwickeln von Vorstellungen über die Bezugshandlung der Lerntätigkeit«; »Lernzielbildung•, »Orientieren zum Zwecke der Lernzielkonkretisierung«, »Soll-Ist-Vergleiche; .. Entwickeln eines Lernplanes«; »Aufbau einer hierarchischen Lernziel- und Lernprogrammstrukturc; ,.p)anung und Realisierung der Lerntätigkeit•; ..aktionsbegleitende Kontrollprozesse«; •resultative Kontrollprozesse«, etc.
Zur weiteren Ausarbeitung der in diesem Beispiel enthaltenen Vorstellungen über Lernen als Handlungsregulation stellt Dulisch die »hierarchischsequentielle Organisation des Lernhandelns« (S.215ff) in den Mittelpunkt seiner Darstellungen. Dabei übernimmt er im Rahmen dieses Konzeptes einer »hierarchischen Lernzielstruktur« von Miller, Galanter & Pribram deren (dargestellte) Unterscheidung von »Strategien« und »Taktiken«, wobei er sich auf Mandl und seine Mitarbeiter bezieht: »Unter Lernstrategien werden zielgerichtete Aktivitäten verstanden, die intentional dazu eingesetzt werden, Prozesse des Verstehens, Einprägens, Behaltens und Erinnerns zu verbessern ....Taktiken sind elementare kognitive Prozesse oder Operationen; Strategien organisieren diese Prozesse in einer problemadäquaten Sequenz. Strategien betreffen die Auswahl spezifischer Taktiken für die jeweiligen Anforderungen einer Lernaufgabe, sie erlauben also die flexible oder ,intelligente' Verwendung von kognitiven Operationen. Strategien überwachen, bewerten und regulieren Einsatz, Verlauf und Erfolg von Taktiken« (Ballstaedt, Mandl, Schnotz & Tergan 1981, S.285, zit. nach Dulisch, S.219). Die »l.erntaktiken«, so faßt Dulisch diese Unterscheidung zusammen, »beziehen sich demnach auf den Lernvollzug und die relativ vollzugsnahen, bewußtseinsfernen Regulationsprozesse, während die Lernstrategien die übergeordneten, bewußten Pläne darstellen, die die Vollzugseinheiten steuern und kontrollieren« (S.219). In K.onkretisierung des hierarchisch-sequententiellen Lernmodells unter· scheidet Dulisch (S.226ff) drei »Komponenten des Lernhandelns«, die »Antizipationskomponente«, die »Realisationskomponente« und die »Kontrollkomponente«. - Unter dem Stichwort »Antizipationskomponente« werden insbesondere die übergeordneten, auf bestimmte Veränderungen der Handlungsvoraussetzungen gerichteten Zielbildungsprozesse diskutiert, da die
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Antizipation der obersten Handlungsziele, wie dargestellt, gemäß der Handlungsregulationstheorie die Bildung von Teilzielen bis hin zu denen, die der Ausführungshandlung unmittelbar vorgeordnet sind, erst ermöglicht (S.226ff). _ Die »Realisationskomponente« charakterisiert nach Dulisch den eigentlichen ..Lernvollzug«, den er in Übertragung des genannten Volpertschen Modells des »Durcharbeitens eines Planes« auf die Lernhandlungen als ,.Durcharbeiten eines Lernplanes« spezifiziert (S.231ff). Dabei wird auf die besondere Bedeutung, die in diesem Zusammenhang dem Norplanen« und der ,.dafür notwendige(n) Fähigkeit zur Voraussicht« zukommt, hingewiesen: ,.Erst die übergreifende antizipative Vorstrukturierung des Lernvollzuges ermöglicht es dem Individuum, sich der Bewältigung der Lernanforderungen ,strategisch' zu nähern« (S.233). - Mit dem Terminus »Kontrollkomponente« ist das Konzept der »Rückmeldung« des Handlungserfolges durch Vergleich des jeweiligen Istzustandes mit dem Zielzustand, das den Kern der Handlungsregulationstheorie bildet, auf das Lernhandeln übertragen (S.235ff). Dabei unterscheidet Dulisch (mit Sacharowa) zwischen »resultativen, aktionsbegleitenden und antizipativen Kontrollprozessen«: Die resultativen Kontrollprozesse beinhalten nach Dulisch den Vergleich zwischen dem jeweiligen Ziel oder Teilziel des Lernhandeins und dem tatsächlich erreichten Lernergebnis, wobei sowohl in der äußeren Welt wahrnehmbare Produkte wie der nur introspektiv zu erfassende Entwicklungsstand der eigenen Lernvoraussetzungen die Vergleichsbasis bilden könnten. Charakteristisch für die lernvollzugsbegleitenden Kontrollprozesse sei, »daß sie den Lernverlauf überwachen, die Übereinstimmung zwischen dem Handlungsprogramm und dessen Realisierung überprüfen, sowie eine flexible, an die jeweiligen äußeren und inneren Gegebenheiten angepaßte Realisierung des Vollzugsprogramms ermöglichen« (S.239). Unter den antizipativen Lernkontrollprozessen schließlich können nach Dulisch »alle die Prüfprozesse verstanden werden, die der Lerner vor der eigentlichen Realisation der entsprechenden Lerntätigkeitseinheit vollzieht. Vorausschauend kann der Lerner beispielsweise prüfen, ... inwieweit er aufgrund seiner gegebenen Lernvoraussetzungen zur Realisation eines Lernzieles in der Lage ist, ... welcher Anstrengungsaufwand zur Erreichung des Lernzieles notwendig ist und ob dieser Anstrengungsaufwand unter motivationalen Gesichtspunkten erfolgversprechend ist, schließlich »inwieweit ein ins Auge gefaßtes Aktionsprogramm einen Beitrag zur Erreichung eines Lernzieles leisten kann«. »Grundlage für die antizipativen Kontrollprozesse« ist dabei nach Dulisch »das metakognitive Wissen des Lerners über die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses, über die Besonderheiten des eigenen Gedächtnisses und über die situations- und aufgabenspezifische Effizienz bestimmter Lernstrategien und -taktiken. Erst dieses Wissen ermöglicht es der Person, mögliche Lernverläufe gedanklich
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durchzuspielen und die entsprechenden Lernergebnisse und -folgen abzuschätzen« (5.240). Ein besonderes, übergeordnetes Anliegen des Buches von Dulisch ist die kritische Diskussion des gängigen Konzeptes des »selbstgesteuerten Lernens« unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten (wobei hier mit der Vorsilbe •selbst« nicht, wie im Modell der neuronalen Netzwerke, systemeigene Organisationsprozesse gemeint sind, sondern auf das Subjekt als Ursprung der Handlungsintention verwiesen ist). Dazu erörtert er- unter der Überschrift »l..ernhandeln zwischen Selbststeuerung und Fremdsteuerung« (S.264ff) nacheinander vier, seiner Auffassung nach nicht hinreichend unterschiedene bzw. oft miteinander vermengte Bedeutungen der Bezeichnung •selbstgesteuertes Lernen«: »Selbstregulation•, »Autonomie«, »Selbstbestimmung• und »kollektive Selbststeuerung (Mitbestimmung)«.- Die Prozesse der »Selbst· regulation« verdienen nach Dulisch keine Hervorhebung als spezifische Qualität des Lernens, da (wie in seinen vorgängigen Ausführungen aufgewiesen) jedes menschliche Lernen - unter wie restriktiven Bedingungen auch immer - ein vom Lernenden über die Antizipation von Zielen und Teilzielen kontrollierter, also »selbstregulativer« Prozeß sei (S.266ff). - Ebensowenig habe die »Autonomie« (wie man dieses Konzept heute normalerweise verstehe) etwas mit »Selbststeuerung« des Lernens i.e.S. zu tun: Der Grad der Autonomie würde vielmehr lediglich daran bemessen, wieweit dem Lernenden (bevorzugt in Lehrlernsituationen) die Einbeziehung externer Lerngegenstände (Informationsquellen) und Lernhilfen in die Planung, Realisierung und Kontrolle seines Lernhandeins gestattet ist. Dabei sei das (später von mir noch eingehend diskutierte/K.H.) »entdeckende Lernen« ein Lernprozeß mit hoher •autonomer« Komponente. Hier werden dem Lernenden hier lediglich bestimmte, vorher ausgewählte Materialien angeboten und wird ihm dann selbst überlassen, daran gewisse Gesetzmäßigkeiten, Regelhaftigkeiten o.ä. (auf deren Vermittlung es dem Lehrenden ankommt) herauszufinden, etc. (S.268ff)- Dagegen sei die »Selbstbestimmung« (S.274ff) des Lernhandeins tatsächlich in höherem Grade als wirkliche Verfügung des Lernenden über den Lernprozeß zu verstehen, indem der Grad der Selbstbestimmung davon abhänge, wieweit der Lernende jeweils die Möglichkeit hat, verschiedene Wege zu beschreiten und eigenständig Entscheidungen mit weitreichender Bedeutung zu fällen. »Während sich« - so präzisiert Dulisch das Verhältnis der drei bisher diskutierten Konzepte der ..Selbststeuerung• des Lernens »der Aspekt der Selbstregulation auf den Bereich des Lernvollzugs bezieht und bei dem Aspekt der Autonomie vollzugsnahe Regulationsprozesse im Vordergrund stehen, bezieht sich der Aspekt der Selbstbestimmung eher auf Entscheidungs- und Planungsprozesse, die im Modell der hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganisation auf einer übergeordneten, vollzugsfernen
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Ebene angesiedelt werden können. Je weitreichender die Ziele und Aktionsprogramme sind, auf die sich die Entscheidungsmöglichkeiten des Lerners beziehen, als desto größer kann im allgemeinen der Grad der Selbstbestimmung im Lernen gelten« (S.275). - Unter dem Stichwort der »kollektiven Selbstbestimmung• diskutiert Dulisch schließlich verschiedene Aspekte der ,.Selbststeuerung im Lernhandeln in einem sozialen Bezugsrahmen« (S.283ff). Er zeigt auf, in welcher Weise durch die Einbindung in eine Gruppe die individuellen Lernmöglichkeiten und damit Selbstbestimmung zwar u.U. ausgeweitet, aber unter bestimmten Bedingungen auch eingeschränkt sein kann. Solche Einschränkungen seien nur zu vermeiden, wenn in kooperativen Lernprozessen der Gesichtspunkt der Selbstbestimmung durch den der Mitbestimmung ergänzt werde, etc. (vgl. dazu meine späteren Ausführungen über kooperatives Lernen).
Lernregulation im Begründungsdiskurs: l-'Om Subjektstandpunkt begründete Optimierung der Ablauftorganisation des Lernvollzugs In der Handlungsregulationstheorie einschließlich des durch sie aufgegriffenen Ansatzes von Miller, Galanter & Pribram ist - wie aus der vorstehenden zusammenfassenden Darstellung hervorgehen sollte - der Bedingtheitsdiskurs der Mainstream-Psychologie auf kategorialer Ebene weitgehend verlassen: Indem hier menschliche Aktivitäten bzw. Handlungen als von Subjekten intendiert, zielgerichtet etc. bestimmt sind, findet man sich mit seinen theoretischen Aussagen objektiv eindeutig im Begründungsdiskurs. Im Vergleich mit der SR-Psychologie (samt ihrer kognitiven, erwartungstheoretischen Erweiterungen) bedeutet dies, daß dabei die Theorien durchgehend nicht als Annahmen überkontingenteempirische Wenn-Dann-Beziehungen, sondern als Annahmen über Zusammenhänge zwischen bestimmten Prämissen und darin begründeten Handlungsvorsätzen/Handlungen formuliert sind: In den Konzepten über ,.Pläne«, ,.hierarchisch-sequentielle Handlungsorganisation« nach dem ,.Rückmeldungsprinzip« etc. ist nichts darüber ausgesagt, wie beliebige vorfindliehe Individuen tatsächlich handeln, sondern wie man unter je gegebenen Prämissen »Vernünftigerweise« handelt, also auch lernt (bzw. handeln oder lernen sollte, s.u.). Im Vergleich mit den kognitivistischen Grundvorstellungen heißt dies, daß hier das Handlungssubjekt nicht auf verschiedene Weise ins ..System« introjiziert und durch diese Mystifikation eine Bedingtheit der Systemparameter vom ,.sensorischen Input« o.ä. vorgetäuscht ist, sondern als Ursprung der Handlungen zweifelsfrei das empirische Subjekt
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außerhalb des Systems bestimmt wird - zugespitzt in der von der Handlungsregulationstheorie vollzogenen »materialistischen« Gleichsetzung von Handlungsausführung und stofflicher Realitätsveränderung durch das handelnde Subjekt. So eindeutig m.E. der kategoriale Charakter der Handlungsregulationstheorie als Handlungstheorie im Begründungsdiskurs ist, so klar ist es auch, daß von deren Vertretern diese ihre eigene Position nicht hinreichend theoretisch reflektiert und in den Konsequenzen entwickelt ist: Hier wird keineswegs deutlich erkannt, daß eine Handlungstheorie im Sinne einer Handlungsbegründungstheorie notwendig den verallgemeinerten Subjektstandpunkt als Standpunkt der Theorie impliziert, und es werden so subjektwissenschaftliche Konzepte mit Konzepten vom Außenstandpunkt vermischt. Daraus wiederum ergibt sich, daß aus dem eigenen Ansatz die methodologischen Konsequenzen einer Abkehr vom experimentell-statistischen Forschungsschematismus der nomologischen Psychologie nicht gezogen werden können und man so weitgehend der Fiktion, Annahmen über Begründungszusammenhänge könnten empirisch »geprüft« werden, verhaftet bleibt. Indessen, eine umfassende kritische Diskussion der Handlungsregulationstheorie liegt nicht in der Linie unseres gegenwärtigen Darstellungszusammenhangs (vgl. dazu Haug, Nemitz & Waldhubel, 1980, sowie Holzkamp, 1986b). Vielmehr sollen die verschiedenen Bestimmungen dieser Theorie hier nur soweit diskutiert werden, daß ihre Relevanz und ihr Stellenwert innerhalb der zu entwickelnden Begründungstheorie des Lernens deutlich wird. Beim Versuch der Einordnung des Lernkonzeptes der Handlungsregulationstheorie in unseren umfassenderen begründungstheoretischen Ansatz springt sogleich das von Hacker eingeführte, in der Handlungsregulationstheorie weitgehend anerkannte Konzept der »Regulationsebenen« als widerständiges Moment ins Auge: Die Unterscheidung zwischen »sensumotorischercc, »perzeptiv-begrifflicher« und »intellektueller Handlungsregulation« ist offensichtlich weniger auf Erfahrungsgegebenheiten vom Subjektstandpunkt rückbeziehbar, sondern stellt eher einen reifizierenden Schematismus vom »Standpunkt dritter Person« dar, wobei der hier implizierte Stufenaufbau vom »Sensorischen« zum »Kognitiven« gewisse Ähnlichkeiten mit den von uns kritisierten Aufbauprinzip der verschiedenen »Speicher« bzw. Nerarbeitungsebenencc in der kognitivistischen Gedächtnisforschung aufweist (ich komme später darauf zurück). Jedoch scheint mir hier einerseits in jedem Falle ein Problem angesprochen, das auch in unseren weiteren Darlegungen geklärt werden muß: Die Frage nach der Konzeptualisierung des Verhältnisseszwischen »mentalen« Handlungen und »motorischen« Handlungen, u.U. als stoffliche Eingriffe in reale Umstände. Dabei ist andererseits die Fassung
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dieses Verhältnisses in Termini der »Regulationsebenen« offenbar keine notwendige Bestimmung der für die Handlungsregulationstheorie kennzeichnenden Konzeption hierarchisch-sequentieller Handlungsorganisation, sondern stellt eher eine zusätzliche Modellvorstellung dar. (Dies geht schon aus dem Tatbestand hervor, daß Miller, Galanter & Pribram 1960 in ihrem 6. Kapitel - wie erwähnt, am Beispiel des Fliegenlernens - die Beziehungen zwischen verbalen (Selbst}instruktionen und motorischer Umsetzung analysieren, ohne dabei auf schematische Vorstellungen fixierter Regulationsebenen o.ä. zurückzugreifen, s.u.) Somit spräche im Prinzip nichts dagegen, im Rahmen der Grundvorstellungen der Handlungsregulationstheorie das Verhältnis zwischen dem mentalen Aspekt und dem Aspekt der Bewegungsumsetzung meines Handeins ohne Benutzung von Konzepten, die vom Subjektstandpunkt nicht ausweisbar sind, zu diskutieren. - Ähnliches gilt grundsätzlich für Hackers aus der sowjetischen Psychologie übernommenes (und ebenfalls in der Handlungsregulationstheorie verbreitetes) Konzept des »operativen Abbildsystems«: Dieses Konzept ist zwar wiederum als verdinglichend»subjektloses« Konstrukt unter verschiedenen Aspekten problematisierbar, aber, soweit ich sehe, ebenfalls kein konstitutiver Bestandteil der Handlungsregulationstheorie: Man gerät mit ihren zentralen Bestimmungen keineswegs in Widerspruch, wenn man derartige Vorstellungen beiseitelassen und die Weltbeziehung des Subjekts im Rahmen begründungstheoretischer Denkansätze diskutieren will (s.u.). Ein weiteres prinzipielles Hindernis beim Versuch der Einbeziehung der Grundbestimmungen der Handlungsregulationstheorie in unsere begründungstheoretische Lernkonzeption könnte in ihrem oft von deren Kritikern hervorgehobenen und auch von deren Vertretern diskutierten normativen bzw. präskriptiven Charakter und der daraus resultierenden »Starrheit« des Modells der Handlungskontrolle liegen: Ist damit nicht unversehens der Standort des Subjekts in Richtung auf einen mit dem subjektwissenschaftlichen Ansatz prinzipiell nicht zu vereinenden äußeren »Kontrollstandpunkt« überschritten? Tatsächlich nähert sich diese Theorie, schon aufgrund ihrer ursprünglichen Hackersehen Aufgabenstellung als Mittel der Optimierung industrieller Produktion, gelegentlich dem Übergang von einer Handlungsregulations- zu einer Handlungsreglementierungstheorie. Aus die~em Kontext versteht sich dann auch die Gleichsetzung zwischen Handlungstntentionen mit eindeutigen Handlungszielen, in deren Antizipation das Handeln über die verschiedenen Teilziele bis zur Handlungsausführung streng durchrationalisiert werden soll.- Jedoch scheinen mir auch mit Bezug darauf Zweifel berechtigt, ob man es dabei tatsächlich mit essentiellen Bestimmungen der Handlungsregulationstheorie zu tun hat: Gegen die Vorstellung, das Konzept der sequentiell-hierarchischen Handlungsorganisation
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sei als solches ein präskriptives Modell zur Normierung des (Arbeits)handelns an Produktionszielen o.ä. spricht nämlich zunächst schon der Umstand, daß Miller, Galanter & Pribram (1960), obwohl in ihrem Plan-Konzept der hierarchische wie der sequentielle Aspekt des Handeins im Prinzip voll ausgeprägt sind, ihre Theorie keineswegs präskriptiv als ein Modell der Rationalisierung menschlicher Aktivitäten fassen. Im Gegenteil, sie betrachten dieses Modell eher als eine Konzeption zur deskriptiven Explikation von lebenspraktischen Planungsansätzen, oft auch nur -bruchstücken, in der alltäglichen Lebensführung (so illustrieren sie ihr Plankonzept etwa am Beispiel der Tagesplanung eines Individuums nach dem morgendlichen Aufstehen und stellen in diesem Zusammenhang fest: We »recognize that you do not draw out long and elaborate blueprints for every moment of the day. You do not need to. Rough, sketchy, flexible anticipations are usually sufficientc (S.5). Im gleichen Sinne stellt Volpert - in Verteidigung gegen den Vorwurf der »Starrheit« etc. des hierarchisch-sequentiellen Modells - heraus, er habe sich »bemüht, allgemeine Handlungsziele und die Pläne zur Erreichung dieser Ziele weniger als Ausgangspunkt eines quasi-automatischen Ablaufs, als vielmehr als Anstöße für variables und autonomes Handeln aufzufassen«. In der benannten Kritik werde das »sequentielle Moment im Modell der hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganistion restriktiver verstanden ... , als dies das Modell erfordert oder impliziert« [1984b, S.75). Ebenso sei eine »Weniger systematische als vielmehr episodische Unterordnung von Teilzielen unter Oberziele mit dem Modell gut vereinbar« (S.75): Auch das »hierarchische Moment« werde also •gemeinhin in einer restriktiven Weise aufgefaßt ... , welche die Logik des Modells gar nicht erfordert« (S.76). Sofern man die Bestimmungen der Handlungsregulationstheorie in ihrem allgemeinen, von den genannten Fixierungen und Restriktionen befreiten Charakter versteht, verdeutlicht sich, daß sie tatsächlich· als generelle Kenn· zeichen des Handeins vom Subjektstandpunkt explizierbar sind: So werden in meinen Handlungen - da ich bestimmte Teilaktivitäten vernünftigerweise vor bzw. nach anderen Aktivitäten vollziehe - bestimmte sequentielle Anordnungen erfordert sein; ebenso läßt sich der Umstand, daß ich dabei vernünftigerweise bestimmte Über- und Unterordnungen- sei es nach der Wichtigkeit, der logischen Priorität, des praktischen Voraussetzungs-Polge-Verhältnisses o.ä. - berücksichtigen muß, als hierarchische Struktur meines Hand· lungsvollzuges kennzeichnen. Um der hier durch die Terminologie nahegelegten Gefahr narrnativistischer Fehldeutungen zu entgehen, sollte man sich verdeutlichen, daß die gleichen Organisationsaspekte des Handelfis auch alltagssprachlich umschrieben werden können: Ich bin in vielerlei Handlungskontexten laufend damit beschäftigt, mir zurechtzulegen, was ich vernünfti· gerweise zuerst und was ich danach tue, wie ich verschiedene Anforderungen
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so unter einen Hut bringen kann, daß ich damit auch fertig werde, auf welche Weise ich der Gefahr, mich zu verzetteln, durch Besinnung auf das, was für mich am wichtigsten bzw. vorrangig ist, begegnen kann, etc. In gewisser Weise sind sogar meine Alltagshandlungen, gleichviel was ich gerade tue, kaum anders zu vollziehen, als im Modus solcher an meinen Handlungsintentionen ausgerichteter Planungen (wie bruchstückhaft und ,.ad hoc« sie auch immer angesetzt sein mögen}. Die ,.hierarchisch-sequentiellen« Modellvorstellungen der Handlungsregulationstheorie treffen in womöglich noch eindeutigerer Weise auch meine Lernhandlungen: Das intentionale Lernen, wie wir es bisher innerhalb unserer Reinterpretationsbemühungen diskutierten, impliziert im Begründungsdiskurs stets in irgendeiner Weise geplantes Vorgehen mit strategischen und taktischen Vorkehrungen und entsprechend organisierter l..ernregulation. In dem Maße, wie eine solche Ausrichtung des Lernhandeins bei mir zurücktritt, nivelliert sich mein verselbständigt intendiertes Lernen (definitionsgemäß} mehr oder weniger zu bloß inzidentellem Lernen. Demnach können derartige (von reifikativen oder normativen Verzerrungen befreite} Konzepte bei der Weiterentwicklung unserer begründungstheoretischen Lernkonzeption auf jeden Fall ihren Platz beanspruchen. - Wie aber ist der Stellenwert einer als Begründungstheorie identifizierten Handlungsregulationstheorie umfassender einzuordnen, wenn wir jetzt wiederum unsere allgemeinen kategorialen Bestimmungen der Beziehung des aktiven Subjekts zu den Handlungsmöglichkeiten sachlich-sozialer gesellschaftlicher Bedeutungsstrukturen explizit in die Analyse einbeziehen? Und was ergibt sich, wenn wir die dabei erlangten Resultate mit den im gleichen Bezugsrahmen gewonnenen Aussagen über die Möglichkeiten/Beschränkungen SR-theoretischer bzw. kognitivistischer Lernkonzeptionen ins Verhältnis setzen?
Gesamteinschätzung: Regulation als sekundär begründeter LErnaspekt unter Ausklammerung primär-bedeutungsbezogener Lernbegründungen In der Handlungsregulationstheorie ist (wie bereits eingangs festgestellt} schon mit dem ihr zugrundeliegenden kybernetischen Rückmeldungsprinzip der Außendeterminismus der (auch kognitiv erweiterten) SR.:fheorien des Lernens überwunden; ebenso findet sich die durch die Art des Gegenstandsbezugs kognitivistischer Gedächtnisforschung gesetzte ,.Einkapselung« des Subjekts in bloß sprachimmanent-mentale Strukturen im Grundansatz der Handlungsregulationstheorie nicht wieder. Wieweit hat diese damit aber
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auch schon die Beschriinkungen des Weltbezuges der SR-Psychologie und des Kognitivismus, wie wir sie in den früheren Gesamteinschätzungen hervorgehoben haben, hinter sich gelassen?- Um uns der Klärung dieser Frage anzunähern, versuchen wir zunächst möglichst priizise zu bestimmen, worauf sich die Begriffe der Handlungsregulationstheorie (immer: in ihrer lerntheoretischen Version) eigentlich beziehen: Offensichtlich hat man es hier mit einer bestimmt geaneten konzeptuellen Differenzierung des intentionalen Lernens, zu tun: Hier wird eine Begrifflichkeit bereitgestellt, mit welcher genauer faßbar werden soll, wie man vernünftigerweise seine Lernhandlungen zu regulieren und zu organisieren hat, wenn man die jeweilige Lernintention realisieren will. Dabei erweist sich, daß diese Begrifflichkeit auf die verschiedenen früher diskutienen Lernkonzepte ziemlich universell anwendbar ist, nämlich immer dann, wenn dabei irgendwelche intentionalen Aspekte des Lernens (ggf. mittels begründungstheoretischer Reinterpretation) herausgehoben sind: In solchen Fällen lassen sich stets mehr oder weniger eindeutig auch bestimmte planerische oder organisatorische Gesichtspunkte aus den intentionalen Begründungszusammenhängen explizieren. So ist es sicherlich nicht schwer, schon an den Begründungsmustern, wie ich sie früher in Beispielen von Steiner bzw. Lefrancois für Klassisches bzw. Instrumentelles Konditionieren aufdecken wollte - den Versuchen des Kindes in der Arztpraxis, neuerlicher Schmerzufügung zu entkommen, den Bemühungen der Lehrerin, »Michael den Störefried« zu disziplinieren, dem Verhalten des 1. und 2. Anglers angesichts unterschiedlichen Beißverhaltens der Fische - zielbezogen-regulatorische Momente zu entdecken. Dies gilt um so mehr für Konzepte, in denen menschliche Handlungen von vornherein schon in Termini, die denen der Handlungsregulationstheorie nahestehen, nämlich als ..Strategien«, »Taktiken« etc. beschrieben werden, so wenn etwa in der kognitivistischen Gedächtnisforschung von »Suchstrategien« o.ä. die Rede ist. Auch die von uns als lerntheoretisches lmplikat des ,.Gedächtnis•-Konzeptes herausgehobene verselbständigte .. Permanenzintention« des Lernens läßt sich in handlungsregulatorische Modellvorstellungen einbeziehen, nämlich dann, wenn man als ,.ziele, das mit der jeweiligen hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganisation zu erreichen ist, eben (wie Dulisch 1986, S.150) »eine relativ dauerhafte Veränderung der eigenen Gedächtnisstrukturen« benennt.
Aus alldem verdeutlicht sich, daß die Handlungsregulationstheorie, quasi als Kehrseite ihrer universellen Anwendbarkeit, gegenüber der Besonderheit der jeweils konkreteren lerntheoretischen Vorstellungen weitgehend neutral ist. Daraus versteht sich auch, daß die Handlungsregulationstheorie, wenn man sie zu einer irgendwie »vollständigen« Handlungs- bzw. Lerntheorie ausbauen will, ohne Probleme durch traditionelle Theorien, in denen Aussagen über die von der Handlungsregulationstheorie nicht abgedeckten Problemaspekte enthalten sind, ergänzt werden kann (so findet sich etwa in Dulischs Teilkapiteln über den Motivationsaspekt menschlichen Handeins und zur
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Lernmotivation, 1986, S.88ff bzw. S.242ff, nicht viel mehr als eine Überblicksdarstellung der heute gängigen Motivationstheorien; ebenso wird zur Konkretisierung des »Lernziels« der dauerhaften Veränderung eigener Gedächtnisstrukturen auf einschlägige Konzepte der kognitivistischen Gedächtnisforschung zurückgegriffen: vgl. Dulischs 2. Kapitel). Wir können also zunächst festhalten: Während (wie dargestellt) der Vergleich und die kumulative Aufarbeitung der SR.:Yheorie des Lernens und der kognitivistischen Gedächtnisforschung durch deren Bezug auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche (averbales und verbales Lernen) kompliziert wurde, ist die Handlungsregulationstheorie offensichtlich aus anderen Gründen nicht so ohne weiteres mit den bisher diskutierten Theorien vergleichbar. Sie hebt nämlich an unterschiedlichen Lernkonzeptionen abstraktiv lediglich einen bestimmten Aspekt heraus: die Regulierbarkeit des Lernens durch Handlungs· organisation aufein Ziel hin, o.ä. Somit wäre weiter zu fragen, welche theoretischen Implikationen sich aus der Hervorhebung des regulatorischen Lernaspekts ergeben, d.h. auch: was mit der Einführung dieses Aspekts in die zu entwickelnde subjektwissenschaftliche Lerntheorie gewonnen sein könnte, insbesondere, wo es darum geht, die früher benannte »Weltlosigkeit« der traditionellen Lernkonzepte theoretisch zu überwinden. Mit dem Modell der Handlungsregulationstheorie ist (wie gesagt) in Zurückweisung gängiger Hypostasierungen der Reaktivität von Verhaltensänderungen der aktive Charakter menschlicher Lernhandlungen begrifflich faßbar gemacht. Ist damit aber auch schon das Lernen als subjekthaft-aktiv in unserem Sinne theoretisch konzeptualisiert worden? - Für diese Bestimmungen ist wesentlich, daß die Welt kategorial als Inbegriff von »Bedeutungen«, d.h. gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten verstanden wird, durch deren aktive Realisierung ich Verfügung über die individuell relevanten gesellschaftlichen Lebensbedingungen erreichen kann. Ein so gefaßter Bedeutungsbezug ist aber durch die Begrifflichkeit der Handlungsregulationstheorie keineswegs abbildbar. Statt gesellschaftlicher Bedeutungen kommen hier vielmehr nur individuelle »Lernziele« in den Blick, die durch eine angemessene Organisation meiner Lernaktivitäten besser erreichbar werden sollen. Welche inhaltliche Bedeutung die jeweiligen Zielsetzungen für mich haben, bleibt dabei außen vor. Anders: Mit dem Modell der Handlungsregulationstheorie ist zwar ausgesagt, daß es - vorausgesetzt ein bestimmtes Lernziel soll erreicht werden - gute Gründe dafür gibt, dies in den angegebenen hierarchisch-sequentiellen Planungsschritten zu versuchen: Welche guten Gründe man haben könnte, das jeweilige Lernziel überhaupt erreichen zu wollen, bleibt dagegen unhinterfragbar. Die in der Handlungsregulationstheorie enthaltenen Begründungsmuster haben mithin einen in gewisser Weise sekundären Charakter: Die primären Gründe für die Realisierung einer Lernhandlung
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sind bei der Formulierung von Griinden, diese so und so zu organisieren, einerseits implizit vorausgesetzt, andererseits aber in der Handlungsregulationstheorie als solche nirgends angesprochen. Diese kategoriale Verkürzung ergibt sich offenbar schon aus dem hier zugrundeliegenden kybernetischen Rückmeldungsprinzip. Die Rückmeldung wird dabei nämlich zwar einerseits als Ergebnis der Aktivität des Individuums gefaßt - in diesem Punkt ist also das traditionelle Reiz-ReaktionsSchema überwunden-, andererseits aber ist die Rückmeldung selbst nicht in Termini von Eigenanen der wirklichen Welt, sondern nur in Termini von deren unmittelbarer Einwirkung auf die Handlungen des Individuums konzeptualisien- und in diesem Punkt bleibt man im ..Reiz«-Denken befangen. So reduziert sich die Welt auf jeweils einzelne, von mir durch meine Aktivitäten provoziene ..Antwonen«, die Vermitteltheit der Rückwirkungen meines Tuns durch die von mir unabhängigen inneren Zusammenhangsstrukturen der Weltgegebenheiten bleibt aber unerkennbar. Dementsprechend sind kategoriale Bestimmungen über in sich zusammenhängende Bedeutungsstrukturen als Inbegriff gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen im Modell der Handlungsregulationstheorie prinzipiell nicht theoretisch zu konkretisieren: Die ..Welt« ist für derartige psychologische Grundansätze lediglich ein soziologisch, ökonomisch oder physikalisch beschreibbarer Tatbestand außerhalb der Zuständigkeit der Psychologie; die Möglichkeit von psychologischen Konzeptualisierungen einer •Welt (in ihren objektiven Strukturen) für das Subjekt« liegt jenseits ihres Horizonts. Der vorstehende Aufweis kategorialer Verkürzungen der Handlungsregulationstheorie deckt sich im Prinzip mit Leontjews tätigkeitstheoretischer Kritik am kybernetischen Rückkoppelungsmodell, wie ich sie 1990 in einem Anikel mit dem Titel ·Die ~eltlosig keit' der traditionellen Psychologie und Leontjews Version des Widerspiegelungsprinzipsc referien habe (Zitate im folgenden nach diesem Text). Leontjew hebt als das Grundmerkmal des Tätigkeitskonzepts die Explikation der ..Vermitteltheit« der Beziehungen des Organismus/Individuums zur Welt hervor. Dabei trete der Gegenstand der Tätigkeit auf ,.zweierlei Weise in Erscheinung: primär in seiner unabhängigen Existenz, ... sekundär als Abbild des Gegenstandes, als Produkt der psychischen Widerspiegelung seiner Eigenschaften«. Auf der Grundlage der so verstandenen •Gegenständlichkeit« der Tätigkeit charakterisien Leontjew die Beziehung des Subjekts zur Welt als Inbegriff von •SubjektObjekt-Objekt-Beziehungen«, wobei das Psychische •mit einem Inhalt versehen wird, der von« dessen ..eigenem Inhalt verschieden ist, mit einem Inhalt, der der gegenständlic;hen Welt selbst zugehön. Das Problem dieser ,Zuteilung' schafft den Gegenstand der psychologischen Wissenschaft!« {nach S.48t). Diese Auffassung von der Gegenstandsvermitteltheil der Tätigkeit bildet nun die Grundlage für Leontjews Kritik am ..Unmittelbarkeitspostulatc der traditionellen Psychologie, darunter auch von •kybernetischen« bzw. •informationstheoretischen« Konzepten wie ..Verhaltensregulierung durch Rückkoppelung« (nach S.53): Zwar ist, so Leontjew, in
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der Tätigkeit in gewissem Sinne eine »Ringstruktur• enthalten, indem die gegenständliche Umwelt bereichernd auf die psychische Widerspiegelung zuriickwirkt. Jedoch bestehe die ,.Hauptsache hier nicht in der Ringstruktur an sich, sondern darin, daß die psychische Widerspiegelung der gegenständlichen Welt nicht unmittelbar durch äußere Einwirkungen (einschließlich der ,Rückwirkungen') hervorgerufen wird, sondern durch diejenigen Prozesse, in denen das Subjekt praktische Kontakte mit der gegenständlichen Welt aufnimmt, Prozesse, die daher notwendigerweise deren unabhängigen Eigenschahen, Zusammenhängen und Beziehungen unterworfen sind•. Man könne die methodischen Schwierigkeiten der Psychologie nicht dadurch beseitigen, daß man das dem Unmittelbarkeitspostulat folgende •Ausgangsschema 'von innen heraus' kompliziert ... Um sie zu beseitigen, muß man ... prinzipiell ... das Postulat der Unmittelbarkeit aufgeben• (nach S.53). Derartige Verkürzungen bei der Konzeptualisierung des menschlichen Weltbezugs aufgrunddes Rückkoppelungsprinzips riihren m.E. daher, daß man zwar die Notwendigkeit psychologischer Konzepte zur Erfassung der aktiven Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt erkannt, solche Konzepte dann aber vorschnell in physikalisch-technischen Modellen, hier im Regelkreismodell, formalisiert hat: Auf diese Weise ist so etwas wie die .Bereicherung• des Psychischen durch praktischen Umweltkontakt nicht mehr begrifflich abbildbar; dies deswegen nicht, weil die wirkliche Welt, wie sie je mir gegeben ist, im Banne solcher Modelle generell ausgeklammert bleibt. Damit wende ich mich keineswegs generell gegen Formalisierungsversuche in der Psychologie: Nur kann die adäquate inhaltliche Fassung der jeweiligen Beziehung nicht durch die Formalisierung erreicht werden, sondern muß dieser vorhergehen und in der Art der Formalisierung beriicksichtigt werden.
Wenn man nun auch hier wieder die Grenz- und Sondersituationen umschreiben wollte, auf welche (diesmal) das Lernkonzept der Handlungsregulationstheorie aufgrund der aufgewiesenen Verkürzungen allein anwendbar wäre, so muß einem zunächst klar sein, daß vom Standpunkt des Subjekts eine Eliminierung der inhaltlichen Lerngründe zugunsten bloß sekundärregulatorischer Lernbegründungen genau genommen nicht denkbar ist: Ich habe - sofern ich tatsächlich lerne - natürlich immer inhaltliche Gründe dafür (gleichviel, ob diese Gründe nun in der Erweiterung meiner Verfügungsinteressen fundiert sind, womit die Lernintention »motiviert« umsetzbar wäre, oder ob ich lediglich Gründe habe, mich durch das Lernen bestimmten Zwangslagen entziehen zu wollen: Ich komme darauf zurück). Vom »Drittstandpunkt« aus sind Reduzierungen auf lediglich sekundär-regulatorische Lerngründe hingegen durchaus denkbar (und wohl nicht nur in Grenz- und Sondersituationen): Solche Reduzierungen werden nämlich immer dann vorliegen, wenn die Theorie bzw. deren Anwender an den inhaltlichen Lerngründen des Betroffen nicht interessiert ist, sondern nur organisatorische Vorkehrungen getroffen werden sollen, um ein möglichst effektives, ökonomisches etc. Lernen zu ermöglichen. Praktisch impliziert dies stets eine irgendwie geartete Überordnung von Lehrsituationen über Lernsituationen auf die Weise, daß die Entscheidung über Lerninhalte der •lehrenden« Instanz i.w.S.
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Begründungsanalytische Kritik/Reinterpretation lerntheoretischer Ansätze
(also etwa auch dem Auftraggeber, der »Gesellschaft« etc.) vorbehalten ist, während dem Lernenden nur die möglichst ökonomische, effektive, also etwa nach dem Modell der Handlungsregulationstheorie gesteuerte Realisierung der fremdgesetzten Lernziele zugestanden wird (s.u.). Dies gilt - wider den ersten Augenschein - auch da, wo man im Rahmen solcher theoretischer Vorstellungen unter den Vorzeichen selbstbestimmten Lernens dem Lernenden die Setzung seiner Lernziele selbst überlassen will: Da hier nämlich mangels entsprechender kategorialer Konzepte der Interessenbezug des Lernziels vom Standpunkt des Lernsubjekts nicht thematisierbar ist, kann aufgrund dieser Sichtbeschränkung notwendig auch die »freiwillige« Übernahme von Lernzielen nur als freiwillige Akzeptanz fremdgesetzter Ziele- u.U. als freiwillige Wahl zwischen fremdgesetzten Alternativen (»wollt Ihr einen Hund oder ein Schwein zeichnen?«)- abgebildet werden. Die traditionelle Verkürzung von »Motivation« auf »inneren Zwang« (s.u. S.169f) wäre also auch hier nicht überwunden. (Über solche theoretischen Restriktionen kommt man in den Schranken der Handlungsregulationstheorie auch dann nicht hinaus, wenn man, wie Dulisch, sich für selbstbestimmtes Lernen engagieren will: Die damit verbundenen emanzipatorischen Absichten werden hier notwendigerweise durch die Theorie sabotiert.) Wenn man sich nun vergegenwärtigt, daß die benannten Arrangements, in welchen »Lernen« nur unter dem sekundären Aspekt der Lernorganisation initiiert und zur Kenntnis genommen wird, die Situation des Lernsubjekts von dessen Standpunkt charakterisieren, so können wir (quasi auf einem Umweg) nun doch noch zu Aussagen über die »Sondersituationen«, auf die die Handlungsregulationstheorie beziehbar ist, kommen: Es handelt sich dabei um solche Situationen, in denen das Subjekt, indem nur das »Wie«, aber nicht das »Üb« der Verfolgung eines Lernziels zur Disposition steht, seine inhaltlichen Lerninteressen (bzw. deren Abwesenheit) ignoriert sieht, also dies die hier vorliegende Variante 4er schon mehrfach aufgewiesenen Diskrepanz zwischen den »Bedingheitsdeutungen« der Theorie und den begründeten Handlungen des davon betroffenen Subjekts - ggf. seine Handlungen »Verünftigerweise« so organisieren wird, daß es den gestellten Lernanforderungenauf möglichst effektive Weise ausweichen kann (s.u.). Wenn wir nun also die theoretischen Potenzen des Konzepts der Handlungsregulation - Überwindung außendeterministischer und mentalistischer Reduktionen - für die von uns zu entwickelnde subjektwissenschaftliche Lerntheorie nutzen wollen, so muß (wie aus unseren damit abgeschlossenen Analysen hervorgeht) zum einen der Anspruch der Handlungsregulationstheorie, eine eigenständige Theorie des Lernhandeins in Konkurrenz mit
Kritik/Reinterpretation der Handlungsregulationstheorie
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anderen Theorien konzipiert zu haben, auf kategorialer Ebene problematisiert werden: Die Handlungsregulation kann vielmehr lediglich als ein sekundärer Aspekt von primär auf inhaltliche Bedeutungskonstellationen bezogenen Lernhandlungen berücksichtigt werden - womit die Theoretisierung dieses lernenden Bedeutungsbezugs also durch die Handlungsregulationstheorie nicht geleistet, sondern im Gegenteil für ihre sinnvolle Einbeziehung vorausgesetzt ist. Dabei muß es weiterhin von der Art der dabei zu erarbeitenden subjektwissenschaftlichen Konzeptualisierung des lernenden Weltaufschlusses (in Überwindung der benannten Weltlosigkeit traditioneller Lerntheorien einschließlich der Handlungsregulationstheorie) abhängen, wie das Verhältnis zwischem inhaltlichem und regulatorischem Aspekt des Lernens näher zu bestimmen ist.
Kapitel3 Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Theorie lernenden Weltaufschlusses
3.1 Ansatz der Theorieentwicklung: Typische Lernproblematiken
Vorbemerkung: Das Problem des Anfangs Im Anschluß an die vorstehende begründungsanalytische Reinterpretation vorfindlieber Lerntheorien soll nun der Versuch gemacht werden, in »Aufhebung« der dabei gewonnenen Resultate positiv die Hauptlinien einer Begründungstheorie des Lernens herauszuarbeiten_ Dabei sind wir von vornherein mit dem erwähnten Umstand konfrontiert, daß das Lernkonzept in den verschiedenen früher diskutierten Theorien auf sehr unterschiedliche, teilweise unvergleichbare bzw. sich überschneidende Weise (als Konditionierungslernen, Erwartungslernen, Behalten/Erinnern, averbales Lernen, verbales Lernen, Lernregulation etc.), bestimmt ist, die wir mit der zu schaffenden Lerntheorie irgendwie in Beziehung bringen müssen. Wie aber beginnen?- Diese Frage nach dem Anfang ist keineswegs nebensächlich oder eine bloß äußerliche Angelegenheit der Darstellungsweise. Vom Anfang hängt es vielmehr ab, wieweit wir unsere theoretische Begrifflichkeit von den allgemeinen Bestimmungen des Lernens zu dessen verschiedenen konkreten Erscheinungsformen ohne Sprünge und Brüche entwickeln können, wieweit es uns also gelingen kann, die Aspektvielfalt unseres Gegenstandes so zu berücksichtigen, daß dabei gewisse Aspekte nicht einseitig vordergründig werden, andere jedoch vernachlässigt oder ausgeschlossen sind, und daß so die wesentlichen Momente schließlich in ihrem Verhältnis zueinander transparent werden (vgl. dazu die Analyse von W.F. Haug, 1974, S.16ff., zum »Anfang« des Marxschen »Kapital«). Das damit umrissene Problem des angemessenen Ausgangskonzepts zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen allgemeinen Bestimmungen und der Erfassung der je konkreten Beschaffenheiten von Lernhandlungen wird häufig dadurch zu lösen bzw. zu umgehen versucht, daß man eine Einteilung der verschiedenen bisher in der Psychologie thematisierten Lernformen erstellt und diese von da aus nacheinander systematisch abarbeitet.
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Grundbegrifllichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
So unterscheidet etwa Gagne (1973) auf diesem Wege acht •Lerntypenc, nämlich •Signallernen« (klassisches Konditionieren), ·Reiz-Reaktions-Lernen« (instrumentelles Konditionieren), •Kettenbildung« (Assoziationslernen) mit den Unterformen der motorischen Kettenbildung und der •sprachlichen Assoziation«, weiterhin ·Diskriminationslernen«, ,.ßegriffslernen«, •Regellernen« und •Problemlösenc: Er bewegt sich also mit dieser Auflistung schrittweise aus der auf bloß averbal-motorisches Lernen bezogenen SRPsychologie hinaus und in die Kognitive Psychologie hinein. Edelmann (1986) kommt an· gesichts der .Vielfalt der Lernprozesse« auf gleichem Wege zu einer ähnlichen Einteilung: Er unterscheidet •assoziatives Lernen« (dem er das klassische Konditionieren subsumiert) »instrumentelles Lernen•, ,.ßegriffsbildung und Wissenserwerbc sowie •planvolles Handeln und Problemlösen«. Solche Aufteilungen finden sich - häufig in weniger ausdifferenzierter Form - in den allermeisten moderneren Gesamtdarstellungen, aber auch Definitionsversuchen des Lernens. So ergänzte in dem Hilgard/Bowerschen Standardlehrbuch über Lerntheorien Bower (1984) bei der Neufassung des zweiten Teils die bisherige, auf averbal-motorisches Lernen im Sinne der SR-Psychologie zentrierte Darstellung umstandslos um ein gesondertes Kapitel über ..Lernen• als Informationsverarbeitung. Aber auch Bateson (1972) und im Anschluß an ihn Engeström (1987) bieten Einteilungen verschieden »hoher« Lernformen mit dem Konditionierungslernen als grundlegender Lernform an (s.o., S.238). Selbst Piaget (etwa 1981, S.63) unterscheidet das .. Lernen« im weiteren Sinne, wie es es in seiner kognitiv-genetischen Theorie faßt, vom ,.Lernen« im engeren Sinne als bloßem Konditionierungslernen, mit dem seine Theorie nichts zu tun habe. (Zur allgemeinen methodologischen Problematik solcher Lernkategorisierungen vgl. Keiler & Schurig 1978.)
In derartigen aggregativen Einteilungsverfahren bildet - abgesehen von sonstigen Differenzen - die Unterscheidung zwischen averbalem und verbalem Lernen bzw. motorischem Lernen und kognitiv-mentalem Lernen den kleinsten gemeinsamen Nenner, so daß man davon ausgehen kann, daß hier in irgendeiner Weise Grundaspekte des Lernkonzeptes angesprochen sind. Damit ist jedoch der Zusammenhang zwischen allgemeinen Bestimmungen und konkreten Erscheinungsformen des Lernens ersichtlich keineswegs konzeptuell geklärt, sondern - indem die unterschiedliche theoretische Herkunft und teilweise kontroverse Beziehung der verschiedenen Lernkonzepte aus einem historischen Verhältnis in ein systematisches Verhältnis verkehrt wer· den -lediglich suspendiert: Nicht einmal, wieweit und in welchem Sinne das, was man da zusammengestellt hat, als »Lernen« zu verstehen ist, kann so noch fragwürdig werden. Damit wird die Möglichkeit einer Zuständigkeitsabgrenzung verschiedener Lerntheorien vorgetäuscht, womit sich etwa Vertreter bestimmter Lernkonzepte qua Unzuständigkeit um die anderen Konzepte nicht kümmern müßten und der Chronist dazu berechtigt wäre, wenn er von einer Lernform redet, über die anderen zu schweigen: Eine solche Stillstellung von Kontroversen ist eine Spielart jener eklektizistischen Lösungen, wie sie heute in der traditionellen Psychologie als Heilmittel gegen all ihre Widersprüchlichkeiten und Begriffslosigkeiten verbreitet sind.
Ansatz der Theorieentwicklung: Typische Lernproblematiken
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Als geeigneteres Ausgangskonzept zur begrifflichen Durchdringung des Verhältnisses zwischen allgemeinen und besonderen Bestimmungen des Lernens bietet sich - besonders im Kontext i.w.S. tätigkeitstheoretischer Ansätze _ die individualgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung verschiedener Lernformen an: Dabei werden bestimmte ontogenetisch frühe Arten des Lernens als Grundformen herausgehoben, um von da aus höhere Lernarten als stufenweise Komplizierungen, Verinnerlichungen o.ä., der jeweiligen Grundform auf den Begriff bringen zu können. So betrachtet man etwa - wie Wygotski (s.u.)- das unmittelbare soziale Lernen als ursprüngliche Lernweise des Kindes, woraus sich über die Entstehung der •inneren Sprache« erst individuelle Formen des Lernens herausbilden sollen. Oder man geht - wie Galperin (1967)- davon aus, daß das Kind zunächst äußere Tätigkeiten erlernt und diese dann mit dem Aufbau verschiedener Stufen geistiger Operationen schrittweise verinnerlicht. In ähnlicher Weise bestimmt Volpert (etwa 1976, S.27), das •sensumotorische Lernen« als ontogenetische Grundform des Lernens, aus der sich per Interiorisierung die höheren Formen des Lernens entwickeln sollen. Derartige entwicklungspsychologische Analysen von Lernprozessen sind es sicherlich für sich genommen wert, ausführlich dargestellt und diskutiert zu werden. Jedoch würden sich, wenn ich dieses Verfahren zur Grundlage für die Ausfaltung unserer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie machen würde, so schwerwiegende Schwierigkeiten und Nachteile ergeben, daß ich den Ansatz an ontogenetischen Grundformen als Anfang meiner Analyse schließlich verworfen habe. Um diese Entscheidung verständlich zu machen, sei zunächst hervorgehoben, daß die ontogenetische Entwicklung von Lernvoraussetzungen (wie immer man sonst dazu stehen mag) ohne die Berücksichtigung der Unterstützung des Kindes durch Kundigere, im Normalfall Erwachsene, in keinem Falle sinnvoll konzeptualisiert werden kann (vgl. dazu die Ausführungen über die »Kind-Erwachsenen-Koordination« in GdP, Kap. 8.2). So sind etwa von Wygotski Lernfortschritte von Kindern meist (so z.B. im Zentralkonzept der ·Zone der nächsten Entwicklung«, etwa 1971, S.236ff) in Begriffen der spezifischen Unterstützung durch Erwachsene charakterisiert. In von Wygotski beeinflußten Lern- und Entwicklungstheorien finden sich entsprechende Konzepte, wie der Begriff des »Coaching«, insbesondere aber - se1t Wood, Bruner & Ross (1976)- der Begriff des »scaffolding« als Kennwort für vielfältige und differenzierte Formen der indirekten Unterstützung von Kindern durch Erwachsene mittels Bereitstellung von •Gerüsten« verschiedener Art (vgl. etwa Greenfield 1984). Galperins Theorie der Bildung geistiger Operationen kann vollends genauso gut oder besser denn als Lerntheorie als didaktische Unterrichtstheorie verstanden werden. Gleiches gilt - wie noch zu
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Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
zeigen - für neuere tätigkeitstheoretische Stufenkonzepte, wie etwa den Ansatz von Dawydow (1982). So erweist sich, daß Konzeptualisierungen des Lernens aus dem Kontext ontogenetischer Analysen der Lernentwicklung- aufgrund der notwendigen Verflochtenheit kindlicher Lernfortschritte mit Unterstützungsaktivitäten Erwachsener - prinzipiell in Termini des .. Lehrens« (im weitesten Sinne) erfolgen müssen oder (vorsichtiger ausgedrückt), daß eine klare analytische Scheidung von »Lernen« und »Lehren« hier kaum möglich (und deswegen auch nicht anzutreffen) ist. Die Aufhebung der gängigen Vermischung von Lernen und Lehren (um gerade dadurch auch das Verhältnis des Lernens zum Lehren auf seine wesentlichen Bestimmungen hin durchdringbar zu machen) ist aber - wie schon in der Einleitung hervorgehoben - eine zentrale Voraussetzung für die Erarbeitung einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie, wie wir sie verstehen. Wir können mithin schon aus diesem Grunde unsere lerntheoretische Grundbegrifflichkeit nicht sinnvoll von ontogenetischen Stufungen der Lernentwicklung her zu entfalten versuchen. Dahinter steht aber noch ein prinzipiellerer Grund: Bei einer Charakterisierung des Lernens in Termini der Wechselwirkung zwischen kindlichem Lernen und U nterstützung durch die Erwachsenen ist der Entwicklungsweg zum Erwachsenen hin schon konzeptionell als Weg von der Dominanz der interpersonalen Unterstützung zu immer größerer Selbständigkeit des Hemanwachsenden gekennzeichnet. Das Lernen des Erwachsenen ist damit vollends im wesentlichen negativ, als Lernmöglichkeit ohne die für die kindliche Lernentwicklung notwendigen Unterstützungsformen charakterisiert. Positive Bestimmungen des Lernens vom Subjektstandpunkt (auch) des Erwachsenen sind demnach auf diese Weise kaum zu gewinnen. Statt der von uns gesuchten Grundbegrifflichkeit subjektwissenschaftlicher Lerntheorie bliebe demnach nicht viel mehr als eine Leerstelle. Entsprechend ist in den ontogenetisch hergeleiteten Lernkonzepten zwar ausführlich vom Lernen anderer, nämlich von Kindern und Heranwachsenden" von »je meinem« Lernen aber kaum die Rede. Man kommt offensichtlich, wenn man das Lernen »von unten«, frühkindlichen Grundformen, her entwickeln will, nicht so recht »oben« an: Die so erarbeiteten Konzepte scheinen gegenüber dem Lernen jenseits ontogenetischer Stufungen ihre Tauglichkeit einzubüßen (s.u.). Aus diesen Gründen habe ich mich entschlossen, bei der folgenden Erarbeitung unseres subjektwissenschaftlichen Lernkonzeptes die Grundbestimmungen des Lernens nicht in frühen Stadien der Ontogenese, sondern in der Weltund Selbstsicht von »je mir« als Lernsubjekt zu suchen (deswegen wird die Entwicklungspsychologie des Lernens im folgenden nicht systematisch
Ansatz der 7beorieentwicklung: Typische Lernproblematiken
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behandelt). Dabei muß - wenn wir die aufgewiesene Weltlosigkeit der traditionellen Lerntheorien überwinden wollen - vor allem anderen das Lernen als möglicher Zugang des Lernsubjekts zur sachlich-sozialen Welt gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge verständlich gemacht werden können. Dazu soll- in einer Art von abstrahierend-konkretisierendem Verfahren -zunächst das »Lernen« vom Standpunkt des (noch abstrakt gefassten) Lernsubjekts zunächst so allgemein charakterisiert werden, daß dabei nur diejenigen Bestimmungen herausgehoben sind, die das Lernhandeln gegenüber dem Handeln überhaupt spezifizieren. Sodann sind diese Bestimmungen zunächst an einem möglichst entwickelten Lernprozeß, der mithin alle anderen Lernbestimmungen in sich aufheben würde, d.h. für uns: an Lernhandlungen mit Bezug aufeinen möglichst entwickelten gesellschaftlichen Lerngegenstand zu entfalten. Erst auf dieser Grundlage kann man dann die standortspezifischen Bestimmungen der Lernsubjekte und von da aus die BeschaffenbeiteD jeweils konkreter Lernhandlungen samt der darin einbeschlossenen Beziehung zwischen motorischem und mentalem Lernen und schließlich die historische Bestimmtheit institutioneller Lernverhältnisse konkretisierend zu erschließen suchen, die - sofern die Ausgangsabstraktion angemessen ist - eben als Spezifizierungen der allgemeinsten Lernbestimmungen - in ihrem Verhältnis zueinander begreifbar werden, wobei auch der interpersonale Aspekt des Lernens ohne Hypostasierung von Lehrlernbeziehungen verständlich werden soll. -Diese hier nur skizzierte Verfahrensweise soll sich auf dem Wege ihrer Realisierung schrittweise selbst erläutern. (Dabei muß sich auch herausstellen, wieweit die im folgenden versuchte Befreiung der Lerntheorie von entwicklungspsychologischen Bestimmungen vertretbar ist, oder sogar einen Gewinn an Klarheit und Relevanz lerntheoretischer Bestimmungen erbringen mag). Das von uns gewählte Ausgangskonzept, von dem aus wir in der geschilderten Weise unsere lerntheoretische Begrifflichkeit entwickeln wollen, ist das der »typischen Lemproblematiken«. Dabei ist die Wahl gerade dieses Initialkonzeptes (obwohl sie natürlich das Resultat vielfältiger vorgängiger Überlegungen und Abstraktionsversuche ist) in der Darstellung nicht vorab verbindlich zu machen, sondern kann ihre Berechtigung erst an der wirklichen Funktion dieses Konzepts im Zuge der folgenden theoretischen Entwicklungsarbeit erweisen.
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Grundbegrißlichkeit einer subjektwissenschaftlichen I..erntheorie
Typische Lernproblematiken als Spezifizierung von Handlungsproblematiken; Lernhaltung und Lernprinzipien Aus unserem Grundansatz einer Psychologie vom Standunkt des Subjekts ergibt sich, daß einer solchen subjektwissenschaftlichen Psychologie nichts zum Problem werden kann, was nicht auch den Subjekten zum Problem wird- nur so mischt sich die Wissenschaft nicht ungebeten in meine Angelegenheiten, und nur so ist jene grundsätzliche Interessenkonkordanz zwischen Forschern und Betroffenen gegeben, die eine notwendige methodelogische Voraussetzung subjektwissenschaftlichen Vorgehens darstellt (vgl. GdP, etwa 5.567). Ausgangspunkt subjektwissenschaftlicher Forschungsfragen, ja in gewisser Weise sogar der Konstituierung des Forschungsgegenstands, sind demnach im Begründungsdiskurs bestimmte, sich aus meinem Handlungsvollzug ausgliedernde Problemsituationen, in denen das Subjekt einerseits »gute Grunde« hat, auf eine bestimmte Weise zu handeln, andererseits aber die Problemsituation so nicht zu bewältigen vermag - und sich angesichts eines derartigen Handlungsproblems, oder (wie wir, um den widerspruchliehen Charakter solcher Konstellationen zu betonen, lieber sagen wollen) einer derartigen Handlungsproblematik (bildlich gesprochen) hilfesuchend an die Wissenschaft wendet. Dabei kann dieses Interesse des Subjekts deswegen mit dem Gegeninteresse der Wissenschaft rechnen, weil diese die scheinbar bloß individuelle Problematik auf in der Bedeutungs-/Begründungskonstellation, durch die sie hervorgerufen wurde, liegende typische Züge hin analytisch durchdringbar machen kann (wobei die Bezeichnung »typisch« sich hier also niemals auf Menschen, sondern immer nur auf Lebenssituationen bezieht). Es sind mithin solche typischen Handlungsproblematiken, die, global gesehen, mögliche Gegenstände subjektwissenschaftlicher Forschung ausmachen. Derartige typische Handlungsproblematiken sind auf vielfältige Weise spezifizier- und differenzierbar, so daß unterschiedliche subjektwissenschaftliche Gegenstandsbereiche resultieren können. Im Rahmen unseres Themas ist dabei diejenige Spezifizierung relevant, durch welche typische Handlungsproblematiken zu typischen Lernproblematiken werden. Dabei setzen wir zunächst voraus, daß es auch Handlungsproblematiken gibt, die nicht mittels Lernen, sondern auf andere Weise zu bewältigen sind. Von da aus haben wir uns zu fragen, wodurch demgegenüber solche Handlungsproblematiken ausgezeichnet sein sollen, zu deren Überwindung das Subjekt sich gerade aufs Lernen verwiesen sieht. Dabei ist (im Anschluß an frühere Begriffsbestimmungen) zunächst hervorzuheben, daß- wenn in diesem Zusammenhang von Lernen die Rede ist nicht das inzidentelle Lernen also (wie wir uns jetzt ausdrücken wollen) das
Ansatz der 1heorieentwicklung: 7ypische Lernproblematiken
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Mitlernen gemeint ist. Mitlernen begleitet nämlich mehr oder weniger jeden Handlungsvollzug und ist demnach auch bei der Bewältigung jeder Handlungsproblematik auf die eine oder andere Weise involviert. Ebenso liegen Lernaktivitäten, die zwar grundsätzlich intendiert sind, aber in der jeweiligen Bedeutungskonstellation als zweifelsfrei notwendig oder unumgänglich erfahren werden - da für das Subjekt unproblematisch - am Rande unserer Gegenstandsbestimmung und unseres Interesses: Vielmehr kommt für uns zur Spezifizierung gerade von Lemproblematiken nur der Bezug auf intentionales Lernen, also Lernen aufgrund einer speziell darauf gerichteten Handlungsvornahme, in Frage. Von Lernen in diesem (engeren) Sinne kann (wie früher dargelegt) aber nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn in der Lernintention die Gewinnung einer die jeweilige Situation überschreitenden Permanenz und Kumulation des Gelernten mitintendiert ist, d.h. das Erworbene nicht sofort wieder verlorengeht, sondern transsituational derart erhalten geblieben ist, daß nun im weiteren an diesem neuen Niveau angesetzt werden kann. Lemproblematiken wären mithin gegenüber primären Handlungsproblematiken dadurch ausgezeichnet, daß hier auf der einen Seite die
Bewältigung der Problematik aufgrund bestimmter Behinderungen, Widersprüche, Dilemmata nicht im Zuge des jeweiligen Handlungsablaufs selbst, ggf. durch bloßes Mitlernen o.ä., möglich erscheint: Auf der anderen Seite aber gibt es hier gute Gründe für die Annahme, daß in (mindestens) einer Zwischenphase aufgrund einer besonderen Lernintention die Behinderungen,
Dilemmata etc., die mich bis jetzt an der Überwindung der Handlungsproblematik gehindert haben, aufgehoben werden können, so daß daran anschließend bessere Voraussetzungen für die Bewältigung der Handlungsproblematik bestehen. Eine Handlungsproblematik wäre demnach dadurch bzw. solange als Lernproblematik spezifiziert, daß bzw. wie hier in der geschilderten Weise vom Subjekt eine Lernhandlung ausgegliedert, quasi eine Lernschleife eingebaut ist, um im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten beizukommen. Für die Dauer dieser Lernschleife würde dabei also die ursprüngliche Handlungsproblematik-dadas Lernen nach Art und Ausmaß durch die darin liegenden nicht aktuell überwindbaren Schwierigkeiten bestimmt ist- zu einer (um den von Dulisch vorgeschlagenen Terminus sinngemäß zu adaptieren} Bezugshandlung für die Lernhandlung, wobei ein derartiges Sonderverhältnis im Maße des Voranschreitens der Lernhandlungen sich wieder aufhebt und in normale Bewältigungsaktivitäten bzw. unproblematische Handlungsvollzüge übergeht (in denen neue Widersprüche und Dilemmata, die wiederum das Lernen herausfordern, natürlich schon ange· legt sein können). Mit der Ausdifferenzierung von Lernhandlungen und Bezugshandlungen innerhalb einer Lernproblematik entsteht zwangsläufig die Frage nach deren
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Grundbegri!Jlichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
genauerem Verhältnis zueinander: Was unterscheidet denn nun präzise Lernhandlungen von sonstigen Handlungen, was tut man also eigentlich, wenn man .. lernt«? -Im Kontext der Handlungsregulationstheorie sollen, wie dargelegt, Lernhandlungen durch eine besondere Art von Zielgerichtetheit von den Bezugshandlungen unterscheidbar sein, nämlich durch Gerichtetheit auf die Verbesserung der eigenen Handlungsvoraussetzungen. Unserer Auffassung nach geht es beim Lernen zwar um die Verbesserung von Handlungsvoraussetzungen, wobei die Annahme einer darauf gerichteten Zielbezogenheit des Lernens aber das Phänomen kaum trifft (eher auf einen- später noch genauer zu kennzeichnenden- Grenzfall des Lernens anwendbar ist). Der Übergang von direkten Bewältigungshandlungen zu intendierten Lernhandlungen scheint vielmehr eher durch eine (vorübergehende) Suspendierung der für das Bewältigungshandeln charakteristischen Zielbezugs gekennzeichnet zu sein: Ich halte - da ich bei der Problembewältigung auf direktem Wege nicht weitergekommen bin - quasi erst einmal inne, versuche Übersicht und Distanz zu gewinnen, um herausfinden zu können, wodurch die Schwierigkeiten entstanden sind und auf welche Weise ich sie lernend überwinden kann. Dies schließt ein, daß ich möglicherweise bestimmte Fixierungen und Einseitigkeiten meines bisherigen Handelns, also zu unmittelbare und kurzschlüssige »Zielgerichtetheiten« meines bisherigen Handeins reflektierbar machen muß. Es gilt also, der Handlungsproblematik bei der Überführung in eine Lernproblematik durch Dezentrierung, Standpunktwechsel, gedankliche Variation o.ä. neue Aspekte zur Überwindung meiner Festgefahrenheit abzugewinnen. Dies bedeutet auch, daß ich hier meine eigenen Schwächen o.ä. in anderem Licht sehe als im Kontext der direkten Problembewältigung, nämlich nicht lediglich als Hindernisse bei der Zielannäherung o.ä., sondern als selbständige Hinweise darauf, wie meine Schwierigkeiten zum Zwecke ihrer lernenden Überwindung präzise zu fassen sind. Die Übernahme der jeweiligen subjektiven Lernproblematik impliziert so gesehen den Übergang zum (intendierten) »Lernen« als einer bestimmte Haltung (der Distanzierung, Dezentrierung, Aspektierung etc.), durch welche ich mir bewußt vornehme, nicht so weiterzumachen wie bisher (dies hat ja nichts gebracht), sondern erst einmal soweit Orientierungen zu finden, daß ich Hinweise dafür, wo es hier in welcher Weise etwas für mich zu lernen geben könnte, finden und so die Handlungsproblematik bewußt als Lernproblematik übernehmen (oder eine solche Übernahme für mich verwerfen) kann (vgl. dazu unsere spätere ausführliche Diskussion zum »affinitiven Lernen« auf S.324ff). Aus diesen Andeutungen zum Lernen als besonderer »Haltung« geht hervor: Lernen kommt nicht einfach dadurch von selbst in Gang, daß von dritter Seite entsprechende Lernanforderungen an mich gestellt werden; mein Lernen kann keineswegs durch irgendwelche dafür zuständigen Instanzen
Ansatz der Theorieentwicklung: Typische Lemproblematiken
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(etwa den Lehrer oder die Schulbehörde) über meinen Kopf hinweg geplant werden. Lernanforderungen sind nicht eo ipso schon Lernhandlungen, sondern werden nur dann zu solchen, wenn ich sie bewußt als Lernproblematiken übernehmen kann, was wiederum mindestens voraussetzt, daß ich einsehe, wo es hier für mich etwas zu lernen gibt. Dies schließt ein, daß »Fehler« nicht, wie in traditionellen, insbesondere SR-theoretischen Ansätzen angenommen, automatisch als »Rückmeldungen« (etwa qua »Verstärkung«) den Lernprozeß regulieren: Vielmehr muß ich das, was von Anforderungseite als ,.Fehler« ausgegeben wird, erst einmal als mein Kriterium übernehmen, ehe ich im Kontext meiner Lernproblematik meine Handlungen daran orientieren kann. Dabei liegt ein wesentliches Moment der Durchdringung einer Lernproblematik sicherlich häufig darin herauszufinden, was mit Bezug darauf überhaupt als »Fehler« zu gelten hat, wobei das Ausgliedern/Identifizieren von Fehlern bereits wichtige Fortschritte bei der Überwindung einer Lernproblematik markiert. Die gängige Vorstellung des »l..ernens aus Fehlern« - oder auch des Lernens, Fehler zu vermeiden - liegt also quasi diesseits der notwendigen Differenzierung zwischen Lernanforderungen und Lernproblematiken und hat deswegen für uns kaum analytische Bedeutung. - Die damit benannten wichtigen Implikationen unseres Konzeptes der subjektiven Lernproblematiken werden später für uns noch in vielfältigen Zusammenhängen relevant werden. Aufgrund der Unterscheidung von drittseitigen Lernanforderungen und subjektiven Lernproblematiken bedürfen manche unserer früheren Ausführungen der Präzisierung. So haben wir früher die Standardanordnungen um die Theorien der internen-externen Kontrollüberzeugung von Rotter, der gelernten Hilflosigkeit von Seligman und der Selbstwirksamkeitserwartungen von Bandura als jeweils bestimmte »typische Lemscbwierigkeiten« (vgl. S.103ff und S.106ff) und gewisse Untersuchungskonstellationen der kognitivistischen Gedächtnisforschung als •typische Behaltens-/Erinnernsstrategien« (vgl. S.146) reinterpretiert. Mit Bezug auf die drei Erwartungstheorien des Lernens ist jetzt zu präzisieren, daß das Gemeinte treffender mit dem Konzept der »typischen Lernproblematiken« zu kennzeichnen ist, da die Vpn hier nicht eigentlich mit fremdgesetzten •Anforderungen«, sondern mit (durch die Anordnung induzierten) subjektiven Widersprüchen und Dilemmata, denen sie (vergeblich) durch Lernen zu entkommen trachten, konfrontiert sind. Bei den Behaltens-/Erinnerungskonstellationen handelte es sich dagegen offensichtlich in Wirklichkeit um durch die experimentelle Konstellation gesetzte •Anforderungen«, wobei mit dem Konzept der subjektiven Lernproblematiken aber nun die Möglichkeit besteht, den vorausgesetzten bedingungsanalytischen Überzeugungen, daß mit dem Stellen der Anforderungen auch schon automatisch das Lernen beginnt, begrifflich differenzierter entgegenzutreten - etwa durch den Hinweis, daß hier keineswegs ausgemacht und auszumachen ist, ob die Vp unter den gegebenen Prämissen Gründe hat, die hergestellte experimentelle Zwangslage tatsächlich als Lernproblematik zu übernehmen (also mit instruktionsgemäßen Bemühungen um Einprägung des Materials o.ä. zu beantworten) oder als bloße Handlungsproblematik (etwa durch Raten, Musterabzählen etc.) zu bewältigen (ich komme darauf zurück).
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Grundbegrißlichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
Die damit angedeutete Differenz zwischen Handlungsproblematiken (Bezugshandlungen) und - durch spezifische Lernhaltungen initiierte - Lernproblematiken muß nun je nach dem konkreten Handlungszusammenhang in unterschiedlicher Art und Deutlichkeit zutagetreten. - Sofern im Zuge menschlicher Handlungen, also auch solchen zur Überwindung von Handlungsproblematiken, nur ,.mitgelernt« wird, ist ersichtlich eine Unterscheidung von Bezugs- und Lernhandlungen und die Identifizierung besonderer Lernproblematiken noch nicht möglich. Aber schon wenn man aufgrund bestimmter Schwierigkeiten einen Handlungsvollzug einmal wiederholt, treten Bezugsund Lernhandlungen andeutungsweise auseinander. Dabei ist hier die Vorstellung impliziert, wenn ich es nochmals versuche, wird es besser gehen, also eine elementare Gleichsetzung des Lernens mit ,.üben«. Entsprechende Vorstellungen liegen natürlich auch zugrunde, wenn ich den benannten Handlungsabschnitt nicht nur einmal, sondern mehrfach wiederhole. Bezugshandlungen und Lernhandlungen würden sich auf dieser Ebene also lediglich dadurch unterscheiden, daß man in der Lernhandlung das gleiche tut, wie in der Bezugshandlung, nur öfter (über 1.70 zu springen lernt man, indem man es immer wieder versucht; eine schwierige Stelle in einem Klavierstück zu spielen, lernt man, indem man diese Stelle immer wieder spielt). Dabei stellt sich mit der Akzentuierung der Lernhaltung aber u.U. bereits im praktischen Lernvollzug die (früher schon andiskutierte) Frage, ob man denn tatsächlich durch bloße Wiederholung etwas lernen kann, ob sich also erfolgreiche Lernhandlungen tatsächlich nur durch ihren Wiederholungscharakter von den zugeordneten Bezugshandlungen unterscheiden: So werde ich beim Hochsprung-Üben, wenn ich etwa merke, daß ich die Latte stets mit meinen Hacken reiße, wohl kaum immer wieder in der gleichen Weise springen, sondern vielmehr gezielt versuchen, das nächste Mal die Hacken hochzunehmen; beim Klavierüben werde ich die schwierige Stelle, wenn ich sie nach einigen Wiederholungen immer noch nicht bewältigen kann (nach der alten klavierpädagogischen Maxime ,.langsam üben ist schnell üben«) erst einmallangsam üben. Abgesehen von solchen der Lernhaltung geschuldeten Variationen der Bezugshandlungen durch die Lernhandlungen können zwischen beiden aber auch sehr viel indirektere Zusammenhänge bestehen: So kann ich, um meine Hochsprung-Leistungen zu verbessern, bestimmte Turnübungen machen oder beim Klavierspielen angesichts schwieriger Passagen bestimmte Forcierungen und Verkrampfungen zu vermeiden .. lernen«. - Bezugshandlungen und Lernhandlungen können -etwa in (i.w.S.) schulischen Lehr-Lernverhältnissen- institutionell auf vielfältige Weise auseinandergerissen und in ihrem Zusammenhang mystifiziert sein, was soweit gehen kann, daß die Bezugshandlungen, auf die hin das Lernen faktisch erfolgen soll, dem Lernenden weitgehend unzugänglich sind und Kontrollinstanzen verschiedener Art als Lernagens einspringen (s.u.).
Ansatz der 'Jheorieentwicklung: 7ypische Lernproblematiken
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Die jeweils besondere Art, in der ich im Resultat meiner distanzierendumorientierenden Lernhaltung zur Überwindung einer Lernproblematik meine Lernhandlungen gegenüber den Bezugshandlungen »vernünftigerweise« qualifizieren muß, um mich im Lernen den jeweilig übergeordneten Bezugshandlungen annähern zu können, lassen sich als bestimmte Prinzipien, an denen ich meine Lernhandlungen orientiere, herausheben. Solche Lernprinzipien stehen sicherlich mit regulatorischen Lernstrategien zur sequentiell-hierarchischen Organisation der Lernhandlungen (etwa im Sinne der Handlungsregulationstheorie) in engem Zusammenhang, sind aber dennoch diesen gegenüber durch ihren Inhaltsbezug spezifiziert. Sie sind (wie schon bei der Skizzierung der initialen Lernhaltung, aus der die Prinzipien ausgegliedert werden, gesagt) nicht primär antizipativ am Lernziel orientiert, sondern vielmehr an der Bedeutungsstruktur, die in der übergeordneten Bezugshandlung umzusetzen ist (später wird dieser Unterschied von uns durch Abhebung des »thematischen« vom »operativen« Lernaspekt noch verdeutlicht werden). So ergibt sich etwa das Prinzip des »Erst-langsam-Übens« aus der Bedeutungsstruktur des Klavierspiels als Inbegriff primär zu realisierender Handlungsmöglichkeiten: Mit Bezug auf die Umsetzung der Bedeutungsstruktur »Hochsprung« o.ä. wäre Langsam-Üben dagegen ein ungeeignetes Lernprinzip. Ebenso werde ich zur lernenden Annäherung an die Bezugshandlung »Ein-Gedicht-Sprechen« vernünftigerweise kaum Hanteln stemmen wollen. Nur in dem Maße, wie ich mir über das jeweils zu realisierende inhaltliche Lernprinzip im klaren bin, steht die angemessene regulatorische Lernstrategie zur möglichst effektiven, erfolgskontrollierten Annäherung an die Bezugshandlung überhaupt zur Frage. Erst muß mir klar sein: Die Bezugshandlung »Klavierspielen« o.ä. erfordert als Lernprinzip »Langsam-Üben«, ehe ich am Maßstab der optimalen Annäherung an die Bezugshandlung meine Übungspraxis entsprechend organisieren kann (s.u.).
Operativer und thematischer Lernaspekt; die emotionalmotivationale Begründungsstruktur des Lernens im Spannungsfeld zwischen expansiven und defensiven Lerngründen Die Überwindung einer Lernproblematik impliziert (wie schon gesagt) einerseits die antizipatorisch an der Aufhebung der jeweiligen Problematik orientierte Organisation und Planung des Lernhandelns. Andererseits ist aber allein mit einer genaueren begrifflichen Fassung dieser Planungsebene, wie sie im hierarchisch-sequentiellen Modell der Handlungsregulationstheorie vorliegt, die Überwindung bzw. Bewältigung der jeweiligen Lernproblematik
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nicht zu theoretisieren; dies deswegen nicht, weil die dort entwickelte Begrifflichkeit eben nur den sekundär-regulatorischen Lernaspekt berücksichtigt, den primär-bedeutungsbezogenen Lernaspekt aber theoretisch ausklammert.- Um klären zu können, wie diese Beschränkung konzeptuell zu überwinden ist, müssen wir unsere friiher (S.22} eingeführten und seither in der Darstellung »mittransportierten« kategorialen Minimalbestimmungen über die gegenständlich bedeutungsvolle menschliche Lebenswelt hier ein Stück weit genauer explizieren: Im Zuge der Entstehung verselbständigter gesellschaftlicher Strukturen und Erhaltungssysteme- damit »gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz« (vgl. GdP, Kap. 6.3) - bilden die Produktions- und Reproduktionsprozesse, ikonischen und diskursiven Symbolwelten und darin liegenden gesellschaftlichen Denkformen eine eigene umfassende Synthese: So sieht sich das Individuum den gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen in ihren verschiedenen Aus- und Anschnitten stets als in sich gegliedenen Verweisungszusammenhängen gegenüber: Diese muß es in seinem Lebensinteresse soweit individuell erfassen, daß es subjektiv begründet über seine Lebens- und Entwicklungsbedingungen verfügen, d.h. subjektiv handlungsfähig werden kann. In diesem Kontext arbeiteten wir heraus, in welcher Weise die für die höchsten vormenschlichen Entwicklungsstufen charakteristische »individuell-antizipatorische Aktivi· tätsregulation«, mit der gesellschaftlich-historischen Entwicklung bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Synthese immer mehr zum unselbständigen »operativen« Teilmoment menschlicher Handlungen wird: Zunächst dadurch, daß die Handlungen auf die individuelle Teilhabe an überindividuellen, kooperativ-gesellschaftlichen Lebensgewinnungsaktivitäten bezogen sind, so daß die Handlungsstruktur nicht mehr nach dem Muster der in sie einbeschlossenen operativen Ebene bloß individuel/-antizipatorischer Planung und Regulation begriffen werden kann (vgl. GdP, S.279ff); weiterhin, indem (bei »gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit«) die Handlungen weitgehend auf die Realisierung/Veränderung in sich selbständig strukturiener gesellschaftlicher Handlungs- und Denkmöglichkeiten (als Bedeutungsstrukturen) gerichtet sind: So haben die perzeptiv-operativen Bestandteile der Handlung zwar einerseits nach wie vor die Funktion der individuellen Realisierung der Handlungsvorsätze, sind aber im Verhältnis zu dem über die Realisierung/Veränderung gesellschaftlicher Bedeutungszusammenhänge vermittelten inhaltlichen Aspekt der Handlungen weitgehend unspezifisch, sekundär, geworden (vgl. GdP, S.307ff). Somit wird deutlich, daß der in der Handlungsregulationstheorie konzeptualisierte regulatorische Lernaspekt, da es sich dabei um eine individuell-antizipatorische Aktivitätsregulation handelt, von unseren kategorialen Rahmenvorstellungen her als theoretische Konzeptualisierung des operativen Handlungs-, also auch Lernaspekts gekennzeichnet werden kann. Die früher aufgewiesene universelle Anwendbarkeit wie der sekundär-inhaltsneutrale Charakter des Modells hierarchisch-sequentieller Handlungsregulation verdeutlichen sich damit hier als Implikat des unspezifischen und sekundären Charakters des operativen Handlungsaspekts, als dessen theoretische Konkretisierung dieses Modell eingeordnet werden kann.
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Durch den auf diese Weise kategorial herausgehobenen operativen Lernaspekt ist nun auch schon die Richtung angedeutet, in welcher der inhaltlichbedeutungsbezogene Aspekt, den wir von nun an den thematischen Lernaspekt nennen wollen, genauer begründungstheoretisch zu explizieren ist: Da (wie gezeigt) die operativen Lerngründe gegenüber den inhaltlich-thematischen Gründen sekundär sind, ist die Frage nach Lerngründen hier gleichbedeutend mit der Frage nach den primären, thematischen Lernbegründungen, aus denen sich die operativ-regulatorischen Lerngründe ableiten - womit die Begründungsfrage hier eben nur auf thematischer Ebene diskutiert werden kann. Da wir weiterhin im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang bei der Explikation des Konzepts der Lernproblematiken vom Subjektstandpunkt sind, können wir an dieser Stelle fremdgesetzte Lernanforderungen (noch) nicht als thematische Begründungsprämissen des Lernens in Rechnung stellen. Wie kann man aber theoretisch verständlich machen, daß das Subjekt selbst von seinem Standpunkt aus Gründe haben kann, sachlichsoziale Bedeutungszusammenhänge durch Lernen in seinen Handlungen zu realisieren? Aus dem gerade reaktualisierten kategorialen Zusammenhang ist klar, daßangesichtsder benannten Problemlage zur Klärung dieser Frage nur der Rückgriff auf die- in unserem Handlungsmodell zwischen die »Prämissen« und ..Vorsätze« eingeschobenen - Lebensinteressen, d.h. hier: Lerninteressen des Subjekts übrigbleibt. Die menschlichen Lebensinteressen aber sind unserer Gesamtkonzeption nach wiederum psychologisch zu konkretisieren als emotional·motivationale Qualität von Handlungsbegründungen (womit kognitive und emotionale Momente hier auf spezifische Weise integriert sind). Die begründungstheoretische Explikation des thematischen erweist sich also als gleichbedeutend mit der Explikation des emotional-motivationalen Lernaspekts. Um dies genauer zu fassen, ist hier wiederum ein kurzer Rückgriff auf weitere kategorialanalytische Bestimmungen der Kritischen Psychologie unumgänglich: Die subjektiven Lebensinteressen, in welchen die Gründe des Individuums für die handelnde Realisierung von Bedeutungen/Handlungsmöglichkeiten fundiert sind, lassen sich kategorial in ihren allgemeinsten Zügen als elementare subjektive Notwendigkeit, Ver-
fügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen zu gewinnen bzw. zu bewahren, bestimmen (vgl. Osterkamp 1976, Kap. 4): Dabei sind die Gewinnung der Weltverfügung bzw. Abwehr von deren Bedrohung nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern machen die allgemeine Lebensqualität subjektiver Befindlichkeit in ihren vielfältigen konkreten Erscheinungsformen aus. In diesem Kontext wurde von uns - auf der Basis des Begriffspaars •verallgemeinerte-restriktive Handlungsfähigkeit« (vgl. Holzkamp 1990c)der emotionale Aspekt meiner Befindlichkeit als Erfahrung der jeweiligen Bedeutungen als •Bedeutungen für mich« im Spannungsfeld zwischen emotionalem Handlungsengagement und emotionaler »Innerlichkeit« gekennzeichnet (vgl. GdP, S.402ff). Auf dieser Grundlage charakterisierten wir die motivationale Qualität meiner Handlungsgründe als
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Verhältnis zwischen den mit einem Handlungsresultat antizipierbaren Verfügungsmög· lichkeiten (in ihrer emotionalen Wertigkeit) und den zu seiner Realisierung aufzubringenden Anstrengungen bzw. in Kauf zu nehmenden Risiken im Spannungsfeld zwischen echter Motivation und (verinnerlicht-motivationsförmigem) Zwang (Osterkamp 1976, S.57ff).
Aufgrund solcher kategorialen Differenzierungen ergibt sich für uns die Notwendigkeit einer entsprechend differenzierenden theoretischen Qualifikation meiner thematischen Lernbegründungen in Abhängigkeit davon, wieweit mit der lernenden Realisierung sachlich-sozialer Bedeutungszusammenhänge die lernende Erweiterung/Erhöhung meiner Verfügung/Lebensqualität oder lediglich die durch das Lernen zu erreichende Abwendung von deren Beinträchtigung und Bedrohung antizipierbar ist: Sofern vom Subjektstandpunkt eine Lernhandlung aus der damit zu erreichenden Erweiterung/Erhöhung meiner Verfügung/Lebensqualität begründet und in diesem Sinne motiviert realisierbar ist, muß von mir ange· sichts einer bestimmten Lernproblematik der innere Zusammenhang zwischen
lernendem Weltaufschluß, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität unmittelbar zu erfahren bzw. zu antizipieren sein. Dies schließt ggf. auch die lernende Durchdringbarkeit meiner Interessen daraufhin ein, in welchem Sinne und in welcher Hinsicht Interessen anderer in ihnen enthalten sind, so die Erfaßbarkeit von Möglichkeiten gemeinsamen, verfügungserweiternden Handelns. »Lernmotivation«, wie wir sie verstehen, ist also der Inbegriff von Lerngründen, die einerseits allgemein im Interesse an der handelnden Erweiterung/Erhöhung der Verfügung/Lebensqualität fundiert sind, wobei aber andererseits - und darin liegt ihr Spezifikum als Lernbegründungen - die wachsende Verfügung/Lebensqualität als Implikat des lernenden Weltaufschlusses antizipierbar ist: Die zu erwartenden Anstrengungen und Risiken des Lernens werden hier also unter der Prämisse von mir motiviert übernommen, daß ich im Fortgang des Lernprozesses in einer Weise Aufschluß über reale Bedeutungszusammenhänge gewinnen und damit Handlungsmöglichkeiten erreichen kann, durch welche gleichzeitig eine Entfaltung meiner subjektiven Lebensqualität zu erwarten ist: Lernhandlungen, soweit motivational begründet, sind mithin quasi expansiver Natur.* Dabei ist, soweit ich an meine Lernhandlungen den Gesichtspunkt ihrer motivationalen Begründbarkeit anlege, stets impliziert, daß ich bei mangelnder Motivation die Möglichkeit habe bzw. gehabt hätte, eine Lernhandlung zu unterlassen. Dies verweist aber auf die benannte prinzipielle Alternative der lnteressenfundiertheit von Handlungsbegründungen, daß ich angesichts
,. Dieser Terminus hat keinen inhaltlichen Bezug zum Konzept des •learning by expand· ing« von Engeström (1987)
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einer gegebenen Lernproblematik auch dann Gründe für die Realisierung von Lernhandlungen haben kann, wenn eine Erhöhung der Weltverfügung/ Lebensqualität dabei nicht antizipiert werden kann, aber mit der Unterlassung oder Verweigerung des Lernens für mich eine Beeinträchtigung meiner Weltverfügung/Lebensqualität droht. So sehe ich mich begründetermaßen gezwungen zu lernen, obwohl die Möglichkeit der motivationalen Begründung der Lernhandlung (mit der Alternative des Nichtlernens) für mich nicht besteht. Damit bin ich gleichzeitig von Perspektiven der gemeinsamen Verfügung über die Lebensverhältnisse abgeschnitten und auf mich selbst - meine unmittelbare Bedrohtheit und Bedürftigkeit - zurückgeworfen. In diesem Fall sind meine Lerngründe also nicht expansiver, sondern (wie wir uns ausdrücken wollen) defensiver Natur.- Mit der damit eingeführten Differenzierung von thematischen Lernbegründungen in expansive und defensive Lerngründe sind bestimmte Voraussetzungen dafür geschaffen, um die Prämissen-/Intentionsstruktur je konkreter Lernproblematiken auf das darin beschlossene Verhältnis expansiver und defensiver Lerngründe quasi begründungslogisch zu analysieren. Damit dies verständlich wird, ist dem möglichen Mißverständnis entgegenzutreten, unser Konzept der expansiven Lerngründe gehöre auf irgendeine Weise in die Nachbarschaft des früher von uns dargestellten und diskutierten Konzeptes der »intrinsischen Motivation«: Expansiv begründetes Lernen bedeutet ja gerade nicht Lernen um •seiner selbst«, sondern Lernen um der mit dem Eindringen in den Gegenstand erreichbaren Erweiterung der Verfügung/Lebensqualität willen. Damit im Zusammenhang geht es in expansiv begründeten Lernhandlungen eben nicht um die Rückbeziehung des Lernens auf einen bloß individuellen »Spaß an der Sache« o.ä., sondern um die Überwindung meiner Isolation in Richtung auf die mit dem lernenden Gegenstandsaufschluß erreichbare Realisierung verallgemeinerter gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten in meinem subjektiven Erleben. Auch in Heckhausens Fassung der •intrinsischen Motivation« als •Gleichthematik (Endogenität) von Handlung und Handlungsziele (vgl. S.72f) ist (unabhängig davon, wieweit dieses Konzept in anderen Problemzusammenhängen sinnvoll sein mag) die Spezifik der expansiven Lernbegründungen nicht getroffen. Dies geht schon aus seiner erläuternden Feststellung hervor, •l..eistungshandeln« sei •intrinsisch, wenn es nur um des zu erzielenden Leistungsergebnisses willen unternommen wird, weil damit die Aufgabe gelöst ist oder die eigene Tüchtigkeit einer Selbstbewertung unterzogen werden kann« (1989, S.459): Die Selbstbewertung der eigenen Tüchtigkeit wäre unserer Konzeption nach, da hier die Verfügungserweiterung nicht als Implikat des inhaltlichen Zugangs zum Lerngegenstand gefaßt ist, in jedem Falle kein expansiver Lerngrund, während die Begründung •weil damit die Aufgabe gelöst ist« - indem hier nicht nach dem Grund, den das Individuum dafür haben könnte, die Aufgabe zu lösen, weitergefragt wird- wiederum die für die Theorie der •intrinsischen Motivation« typische zirkuläre Verkürzung enthält.
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Aus der Unangemessenheit einer Gleichsetzung zwischen expansiven Lerngründen und »intrinsischer Motivation« deutet sich schon an, daß auch die Gleichsetzung zwischen defensiven Lerngründen und »extrinsischer Motivation« inadäquat sein könnte, da in beiden Begriffspaaren offensichtlich unterschiedliche Gegenstandsebenen angesprochen sind. In der Tat ist mit »extrinsisch motiviertem« Lernen - dies, wie dargestellt, eine Sammelbezeichnung für jede Art von instrumentellem bzw. operantem Konditionierungslernen - keineswegs Lernen zur Abwendung eines Verlustes an Weltverfügung, sondern einfach Lernen zur Gewinnung bestimmter Vergünstigungen (positive Verstärkung) bzw. zur Vermeidung der Einbuße bestehender Vergünstigungen (negative Verstärkung) gemeint. Dabei ist -gemäß dem SRpsychologischen Grundansatz - die Möglichkeit der Veifügung über die Befriedigungsquellen bzw. Nerstärkungsbedingungen« durch das Lernsubjekt hier begrifflich prinzipiell nicht abbildbar, diese werden vielmehr von vornherein als außengesetzt und damit dem kognitiven wie realen Zugriff des Lernenden entzogen angesehen: Nur so ist ja die verstärkungsvermittelte Fremdsteuerung des Verhaltens in »gewünschter« Richtung erreichbar, die- wie dargestellt - in der SR-psychologischen ..Verhaltenstechnologie« als explizites Ziel formuliert, aber auch den grundwissenschaftlichen Ausprägungen der SR-Psychologie als Erkenntnisinteresse inhärent ist. Demgemäß ist vom Standpunkt des Lernsubjekts - sofern dieses in der früher geschilderten Weise durch eine entsprechend reduzierte Prämissenlage auf bloßes Konditionierungslernen zurückgeworfen ist - das Gewährtwerden bzw. der Entzug von Vergünstigungen ein bloßer Gegebenheitszufall, dem gegenüber es (etwa qua »Wahrscheinlichkeiten«-Lernen) zwar bestimmte »Erwartungen« herausbilden kann, über den es aber keinerlei Verfügung hat. Vom Konzept der expansiven-defensiven Lerngründe her fällt neues Licht auf das Verhältnis zwischen Lernproblematiken und den Handlungsproblematiken, aus denen die Lernproblematiken ausgegliedert sind: Während, wie dargelegt, bei expansiv begründetem Lernen die Erhöhung der Verfügung/ Lebensqualität unmittelbar als durch das Lernen erreichbare Erweiterung/ Vertiefung des Weltaufschlusses intendiert wird, tritt dieser Zusammenhang bei defensiv begründetem Lernen zurück. Hier geht es mir primär darum, den drohenden Verlust der gegebenen Verfügung/Lebensqualität durch Machtinstanzen mittels Lernen abzuwenden. So ist der lernende Weltaufschluß, da über ihn diese Bedrohung nicht unmittelbar zu beseitigen ist, gegenüber der Bedrohungsbewältigung sekundär: »Lernen« ist für mich hier nur deswegen bzw. soweit angezeigt, wie ich dadurch den drohenden Verfügungsentzugvermeiden kann. Damit wäre bei defensiv begründetem Lernen aber genau genommen gar nicht die Überwindung einer l.ernproblematik, sondern die Überwindung einer durch Lernanforderungen gekennzeichneten
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primären Handlungsproblematik die dominante Intention, womit auch die (früher von uns gekennzeichnete) spezielle Lernhaltung als Distanz/Dezentrierung/ Aspektierung tendenziell auf eine bloße Bewältigungshaltung reduziert wäre: Es muß mir in dieser Konstellation lediglich darum gehen, der Situation, in welcher die Lernanforderung gestellt ist, möglichst umgehend ohne den drohenden Verlust an Verfügung/Lebensqualität - damit auch an . sozialer Zuwendung und Unterstützung- zu entkommen. Im Extremfall, d.h. wenn die Prämissenlage dies zuläßt, mag man dabei sogar gänzlich ohne wirkliches Lernen auszukommen meinen (etwa, indem man durch das in der Schule verbreitete Abschreiben, Sich-Vorsagen-Lassen etc. den Lernerfolg zur Gänze vortäuscht, s.u. ). Aber auch, soweit Lernen zur Situationsbewältigung in mehr oder weniger großem Umfang erforderlich scheint, färbt die bloß defensive Begründetheit des Lernens notwendigerweise auf dessen Art und Erfolg ab: Da es hier nicht primär um das Eindringen in den Lerngegenstand, sondern um die Abrechenbarkeit des Lernerfolgs bei den jeweiligen Kontrollinstanzen geht, muß der darauf zentrierte Lernprozeß notwendig auf vielfältige Weise in sich zurückgenommen, gebrochen, unengagiert vollzogen werden, dabei die Zuwendung zum Lerngegenstand durch Zweifel darüber, wieweit das jeweils Gelernte zur Situationsbewältigung überhaupt •nötige, d.h. gefordert ist, zersetzt sein. Die so resultierende widersprüchliche Mischung aus Lernen und Lernverweigerung ist von mir an anderer Stelle ( 1987) als widerständiges Lernen bezeichnet und genauer beschrieben worden. Dabei sollte aus dem vorher entfalteten Argumentationszusammenhang klar sein, daß derartige widerständige Lernformen zwar auf defensiv begründetes Lernen verweisen, aber nur dann entstehen, wenn ich mir den defensiven Charakter des Lernens, also den äußeren Lernzwang, nicht bewußt mache, sondern mich in abwehrender und realitätsverleugnender Weise quasi der •Dynamik« defensiven Lernens überlasse: Das bewußte .Verhalten« zu dem Umstand, daß ichangesichtseiner bestimmten Bewältigungs-/Lernproblematik nur defensiv zu lernen imstande bin, eröffnet mir dagegen perspektivisch die Alternative der Lernverweigerung oder der (in einem •qualitativen Lernsprung« zu vollziehenden) Gewinnung eines umfassenderen Zugangs zum Lerngegenstand, also von Möglichkeiten expansiv begründeten Lernens in Austragung des Konflikts mit den meine Verfügung/Lebensqualität bedrohenden Machtinstanzen bzw. deren strukturellen Abkömmlingen (s.u.). Allgemeiner ist in diesem Kontext die Besonderheit herauszuheben, durch welche »Lernmotivation« in unserem Sinne sich von den einschlägigen traditionellen Motivationstheorien kritisch abhebt: Gerade der Begriff der •intrinsischen Motivation« stellt - wie früher, S.75ff, geschildert - eine Art von
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reifizierendem Deckbegriff dar, mit dem bestimmte inhaltliche Handlungstendenzen durch das Unterschieben einer entsprechenden »Motivation« quasi verdoppelt werden und so das Weiterfragen nach den Begründungsprämissen und -intentionen der jeweiligen Handlung unterbunden ist. Das gleiche gilt für traditionelle Definitionen anderer Arten von Motivation, etwa (um nur einige der von Heckhausen in seinem Lehrbuch von 1989 benannten Motivationsarten anzuführen) •l..eistungsmotivation«, Motivation zur »Hilfeleistung«, »Aggression« als Motivator, »Anschlußmotivation«, •Intimitätsmotivation«, •Machtmotivation« etc. Gemäß unserer Konzeption ist das Begriffspaar •Motivation-Zwang« hingegen kein Konzept zur Ersetzung von Handlungsgründen durch inhaltlich fixierte »Antriebs-« und ·Richtungsfaktoren«, sondern zur Qualifikation der Lernbegründungen selbst: Dementsprechend handelt es sich bei dem Konzept der expansiven-defensiven Lerngründe (in welchem •Motivation-Zwang« auf das Lernhandeln konkretisiert ist) um ein analytisches lmtrument, mit welchem die Qualität der Prämissen-/Intentionsstruktur einer Lernproblematik vom (verallgemeinerten) Subjektstandpunkt genauer aufzuschlüsseln ist. Auf diesem Wege kann man prinzipiell nicht zu den üblichen Einteilungen in bestimmte Motivationsarten kommen: Es ist vielmehr davon auszugehen, daß es genau so viele Konfigurationen expansiver und defensiver Handlungsgründe wie Lernproblematiken (also unbestimmbar viele) gibt, und Verallgemeinerungen werden hier nicht mittels Abstraktion von den jeweils speziellen Begründungsfiguren, sondern quasi •durch diese hindurch«, als Heraushebung typischer Begründungsstrukturen von Lernproblematiken, angestrebt (s.u.).
Zur Funktion von Beispielen und ein exemplarisches Beispiel: Schönbergs Orchestervariationen als Lernproblematik Nachdem wir bis hierher das Konzept der subjektiven Lernproblematiken einschließlich seines emotional-motivationalen Aspekts in den Grundzügen entfaltet haben, wäre (unserer Vornahme gemäß) nunmehr die schrittweise Rekonstruktion immer konkreterer Bestimmungen dieses Konzeptes fällig. Indessen ist mir bei den ersten einschlägigen Versuchen deutlich geworden, daß dies kaum lediglich allgemein oder abstrakt möglich ist, sondern daß sich hier von der Art der Aufgabe her die Heranziehung von Beispielen mehr oder weniger aufdrängt. Von da aus erscheint es mir zweckmäßig, diese Komplikation in einem eingeschobenen Darstellungsteil systematisch anzugehen, d.h. zunächst die Funktion von Beispielen innerhalb der theoretischen Entwicklungsarbeit prinzipiell zu diskutieren, auf dieser Grundlage Kriterien
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für eine angemessene Beispielauswahl zu entwickeln und danach ein konkretes, exemplarisches Beispiel als Grundlage für die weiteren Analysen darzustellen. Wenn ich also zunächst allgemein über die Rolle von Beispielen in der psychologischen Forschung zu reflektieren versuche, so wird mir deutlich, daß innerhalb theoretischer Entwicklungen in der Psychologie, auch (und vielleicht besonders) in der Arbeitsrichtung, der ich mich zurechne, gerade an zentralen Schaltstellen der Argumentation Beispiele erfunden wurden und tradiert werden: so bei Leontjew das »}äger.:freiber-Beispiel«, das »Axt-Beispiel«, das ,.Löffel-Beispiel«, das Beispiel von der »bitteren Süßigkeit« u.a. Dabei sind diese Beispiele keineswegs bloß beliebige Veranschaulichungen davon unabhängiger theoretischer Aussagen, sondern gehören zur »Theorie« selbst: Erst aufgrund der Beispiele wird hinreichend deutlich, was mit der Theorie gemeint ist, ja, wird die theoretische Botschaft erst eigentlich überzeugend, so daß man nicht daran vorbeigehen kann. In diesem Zusammenhang fällt mir auf, daß ich innerhalb der vorstehenden Ausführungen selbst in verschiedenen Kontexten fremde und selbsterfundene Beispiele eingebracht habe: »Zahnarzt«, »Michael der Störefried«, »Angler«, das »Bremslicht-Beispiel .. , das »Lichtanschalt-Beispiel« etc., und dies nicht lediglich deswegen, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, sondern vor allem, weil mir nur so hinreichend faßbar wurde, was mit einer bestimmten kritischen oder als weiterführend gedachten Aussage gemeint sein soll. Und von da aus komme ich schließlich auch auf den dargelegten Umstand, daß im Kontext unseres begründungstheoretischen Ansatzes experimentelle Untersuchungen legitimerweise nicht als Prüfungen von Theorien, sondern nur als Beispiele für die jeweiligen theoretischen Annahmen eingestuft werden können. Ich verdeutliche mir, daß meine Gepflogenheit, zu den dargestellten (und später reinterpretierten) lerntheoretischen Konzeptionen jeweils mindestens ein dazu durchgeführtes Experiment (häufig als Exemplar einer bestimmten Standardanordnung) relativ ausführlich zu schildern, keineswegs bloß aus dem Bestreben nach abstrakter dokumentarischer Gründlichkeit o.ä. entsprang: Jedes der vorgeführten Experimente hatte eben die benannte Funktion von Beispielen, aus denen überhaupt erst hinreichend klar zu machen war, worin die Besonderheit der darin exemplifizierten Theorie besteht und wie sie sich von anderen Theorien unterscheidet. {Man möge sich das etwa an dem auf S.l03ff angestellten Vergleich zwischen Rotters Theorie interner I externer Kontrollerwartungen, Seligmans Theorie der gelernten Hilflosigkeit und Banduras Selbstwirksamkeitstheorie verdeutlichen: Ohne Rückgriff auf die jeweils für eine Theorie typischen Experimente - etwa •skill vs. chance«, Nermeidbarkeit vs. Unvermeidbarkeit«, Training von Schlangenphobikernhätte ich mir und anderen niemals zureichend deutlich machen können, daß
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und in welcher Hinsicht es sich dabei tatsächlich um verschiedene Theorien handelt). Beispiele sind, sollte man meinen, sofern sie tatsächlich Beispiele für das Gemeinte sind, im Prinzip beliebig. Allerdings liegt in der damit formulierten Einschränkung >>im Prinzip« der springende Punkt: Beispiele können offensichtlich, selbst wenn sie einschlägig sind, das Gemeinte besser oder weniger gut treffen, d.h. explizierbar machen. In unserem Darstellungszusammenhang hat das gesuchte Beispiel darüber hinaus sogar eine bestimmte, aus dem Gesamtzusammenhang der Argumentation sich ergebende Funktion: Es muß zur Veranschaulichung der begrifflichen Aufdifferenzierung von Lernproblematiken mit Bezug auf einen möglichst entwickelten gesellschaftlichen Lerngegenstand taugen, um von da aus später immer konkretere Züge des Lernens bis hin zur Explikation der Lebenspraxis des wirklichen Lernsubjekts rekonstruieren zu können. Nach welchen Kriterien aber kann ich zur Auswahl eines so qualifizierten Beispiels kommen? Zunächst muß die als Beispiel gesuchte Lernproblematik auf eine Bedeutungsstruktur beziehbar sein, an welcher das höchste Entwicklungsniveau gesellschaftlicher Symbolwelten in ihren komplexen und vielschichtigen Verweisungen auf primäre sachlich-sozialen Bedeutungen eindeutig ausmachbar ist: Deswegen wären scheinbar elementare Lernformen, wie sensumotorisches oder soziales Lernen, da deren Bedeutungskontext erst von der entwickelsten Form aus rekonstruierbar werden kann, an dieser Stelle als Beispiel noch ungeeignet. Dabei erscheint es mir zweckmäßig, das Beispiel so zu wählen, daß die konkreten Lernformen, wie sie in den früher diskutierten traditionellen Lerntheorien angesprochen sind, darin nicht als Selektionskriterium genommen werden: Auf diese Weise ist es leichter, die gesuchten allgemeinen Bestimmungen der Überwindung von Lernproblematiken von der Frage nach dem (später zu diskutierenden) Verhältnis zwischen motorischen und mentalen Lernhandlungen zu unterscheiden: Die in dem Beispiel zu exemplifizierende Lernproblematik soll mithin weder (wie in der Handlungsregulationstheorie und der SR-Theorie vorausgesetzt) im Bereich äußerlich-gegenständlicher noch (wie in der kognitivistischen Gedächtnisforschung vorausgesetzt) im Bereich bloß immanent-verbaler Handlungszusammenhänge angesiedelt sein. Darüber hinaus ergeben sich aus dem Stellenwert des Beispiels als Veranschaulichungsgrundlage bei der Entwicklung allgemeinster Züge des lernenden Weltaufschlusses aber noch weitere Selektionskriterien. Es dürfen in dem Beispiel keine Lernsituationen in konkreten institutionellen Kontexten von Lehrlernverhältnissen (i.w.S.) aufgegriffen werden, es darf sich also nicht auf Lernproblematiken in der Schule oder Hochschule, im Rahmen von beruflicher Ausbildung, Fortbildung, Weiterbildung, ebensowenig auf solche in sozialpädagogischen oder therapeutischen
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Einrichtungen zur Förderung Lernbehinderter, Überwindung einschlägiger psychischer »Störungen« etc. beziehen: Ein so spezifiziertes Beispiel würde die argumentationsstrategische Funktion der folgenden Analysen sabotieren, erst einmal zu grundlegenden Bestimmungen des lernenden Weltzugangs vom Subjektstandpunkt zu gelangen, um so die allfälligen Verkürzungen und Einseitigkeiten der Behandlung von Lehr-Lernsituationen zu vermeiden: Dies steht im Einklang mit der (in der Gesamteinleitung formulierten) generellen Zielsetzung unserer Arbeit, das Lernen gegenüber seiner üblichen Degradierung zu einer außengesetzten Anforderung an bestimmte Problemgruppen (Kinder, Jugendliche, Auszubildende, Benachteiligte, Arbeitslose, etc.) als allgemeine Menschenmöglichkeit konzeptionell Zurückzugewinnen und so erst die Grundlage für eine nichtrestriktive Diskussion auch der benannten spezielleren Lernprobleme zu schaffen. Das Beispiel, das ich unter solchen Gesichtspunkten ausgewählt habe, läßt sich (wie schon in der Überschrift zu diesem Abschnitt gesagt) unter das Motto »Schönbergs Orchestervariationen als Lernproblematik« stellen: Bei den Orchestervariationen von Schönberg handelt es sich um eine hochentwickelte symbolische Bedeutungsstruktur, die aber nicht sprachlicher, sondern ästhetisch-musikalischer (also i.w.S. ikonischer) Art ist. Die in dem Beispiel aufgewiesene Lernproblematik impliziert dabei weder aktuelle sozialkommunikative Beziehungen irgendwelcher Art, noch steht sie in wie immer gearteten direkten Lehr-/Lernzusammenhängen, sondern hat sich für mich als konkretes Individuum im Zuge meiner Lebensführung ergeben und wurde auch nur in diesem Zusammenhang allein von mir angegangen (womit man die hier involvierte Art des Lernens in gewisser Weise als »autonomes Lernen« im Sinne von Max Miller, 1986, S.l40ff, bezeichnen kann, s.u.). Mit dem Rückgriff auf meine eigene Selbsterfahrung ist dabei einerseits der Subjektstandpunkt als Standpunkt der Analyse konkret realisiert, und andererseits habe ich damit die Möglichkeit, die Beschreibung nach den Anforderungen unseres Diskussionszusammenhanges ohne Einbußen an Authentizität zu spezifizieren und zu differenzieren. Man mag gegen dieses Beispiel einwenden, es sei individualistisch. Dem würde ich entgegenhalten, daß - da die Bedeutungsstruktur, auf die die Lernproblematik sich bezieht, gesellschaftlicher Art ist- auch die Lernhandlungen zu deren Überwindung quasi ein Prozeß der Nachvergesellschaftung sind: Die Gesellschaftlichkeil des Individuums ist ja nicht an die aktuelle Anwesenheit anderer gebunden. Weiter mag man gegen das Beispiel vorbringen, es sei elitär. Aber elitär könnte es doch höchstens genannt werden, wenn man andere von der Realisierung bestimmter gesellschaftlicher Erfahrungsmöglichkeiten aus· schließen, nicht aber wenn man, wie durch die vorliegende Beispiel-Auswahl, andere in diese Möglichkeiten einbeziehen will. Das Beispiel sei doch aber, so könnte man fortfahren,
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weit hergeholt und fernliegend. Dem würde ich den Zweizeiler von Wilhelm Busch, •Das Zebra wohnt in fernen Zonen, für die, die weit ab davon wohnen•, entgegenstellen: Warum muß einem denn Schönbergs Musik ferner liegen als etwa Dulischs Prüfung eines AZUBI über Rostbildung? Auch mag man gegen das Beispiel vorbringen, es sei doch aber nur für Kenner, jedoch nicht für •normale Menschen« verständlich. Warum aber sollen nicht auch normale Menschen auf manchen Gebieten Kenner sein oder werden können? Sicherlich habe ich damit nicht alle möglichen Bedenken gegen das Beispiel angesprochen: So könnte man fragen, warum hier ein einzelnes Subjekt sich in einem mehr kontemplativen Handlungszusammenhang bloß rezeptiv einem schon ausgegliederten Lerngegenstand gegenübersieht, also gemeinsames Lernen in praktischen Lebensbezügen, dabei die aktive Konstitution von Lerngegenständen, zurückgestellt ist. Ich kann die Erörterung der darin liegenden Auffassungsunterschiede, Mißverständnisse, oder auch nur voreiligen Antizipationen jedoch hier nicht vorwegnehmen: Entsprechende Klärungen werden sich (günstigenfalls) aus späteren Diskussionszusammenhängen ergeben. So möchte ich die diesbezüglich Skeptischen bitten, sich durch ihre Bedenken nicht ablenken zu lassen und ihnen (wie natürlich allen anderen auch) empfehlen, sich der nun folgenden Darstellung des Beispiels in Ruhe zuzuwenden.
Zur Vorgeschichte. Ich hatte über Arnold Schönbergs »Zwölftonmusik« bisher kaum mehr als die gehobene Allgemeinbildung des musikinteressierten Laien zur Verfügung: Die Grundregel des Schönbergsehen Kompanierens mit zwölf Tönen ist die Vorschrift, daß (von gewissen, fest definierten Ausnahmen abgesehen) ein bestimmter Ton innerhalb der chromatischen Zwölftonskala jeweils erst dann wieder verwandt werden darf, wenn alle übrigen elf Töne vorgekommen sind- dies zum Zwecke der Vermeidung des Entstehens tonaler Zentren, also zur rigorosen Durchsetzung der »Atonalität«. Gemäß dieser Regel werden für jede Komposition spezielle »Reihen« aus 12 verschiedenen Tönen zusammengestellt, welche - sowohl in ihrer Grundgestalt wie als Umkehrung (Kopfstand), Krebs (von hinten nach vorne) sowie Krebsumkehrung als kontrapunktische Figuren aus der alten Musik - das Material für die Komposition darstellen, also dort rhythmisiert, übereinandergeschichtet, zerlegt, etc. werden. Im Zusammenhang mit solchen Globalvorstellungen hatte sich bei mir (vermutlich auch im Einklang mit verbreiteten Sichtweisen) das Urteil etabliert, die so nach dem Zwölftonprinzip komponierten Stücke könnten eigentlich keine »richtige Musik« sein, da der Komponist hier kaum seinen Inspirationen folgen und schöpferisch tätig werden könne, sondern darauf festgelegt sei, die Töne nach musikfremden Gesichtspunkten anzuordnen, wobei die dabei resultierenden Tonfolgen und Zusammenklänge notwendigerweise musikalisch mehr oder weniger zufällig sein müßten. Da hier mithin - so meinte ich - quasi mathematische Konstruktionsmerkmale vorherrschen, sei diese Art von Musik offenbar mehr etwas zum Lesen als zum Hören, etc. Im Einklang mit dieser Einschätzung hatte ich zwar die Musik anderer Vertreter der klassischen
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Moderne wie Bartok, Strawinsky, Hindemith, mehr oder weniger bemüht (und subjektiv erfolgreich) zu rezipieren und zu verstehen gesucht, um Schönberg und die Neue Wiener Schule aber stets einen Bogen gemacht. Aus Gründen, die ich nicht mehr eindeutig rekonstruieren kann, wohl aber besonders aufgrund der mehrfachen Begegnung mit der Einschätzung Schönbergs als größten Komponisten des 20. Jahrhunderts o.ä., wurde ich jedoch (seit Mitte der achtziger Jahre) zunehmend unsicher, ob diese Abstinenz zu rechtfertigen sei, d.h. ob ich mir aufgrund meiner unhinterfragten und ungeprüften Vorbeurteilung nicht wesentliche musikalische Erlebnisund Erfahrungsmöglichkeiten versperren könnte. So kam ich schließlich zu der Vornahme, ein repräsentatives Werk von Schönberg versuchsweise mit der gleichen Aufmerksamkeit und Konzentration zu Ende zu hören, wie ich dies bei anderen, mir von vornherein genehmeren Werken der neuen Musik auch zu tun pflegte. Meine Wahl fiel dabei auf die Orchestervariationen op. 31 (entstanden 1926-1928): Diese sind, wie ich erfuhr, Schönbergs erstes Zwölftonwerk für Orchester und gelten als ein besonders bedeutendes und repräsentatives Dokument der neuen Technik. Der Anlaß für das hier dargestellte Lernprojekt war also keine wissenschahliehe Fragestellung, sondern ein persönlicheslebenspraktisches Ungenügen. Ich ahnte damals noch nicht, daß ich meine Schönberg-Erfahrungen später als Beispiel in ein Buch über Lernen einrücken würde. Demnach habe ich meinen Lernprozeß nicht aktuell systematisch dokumentiert - die damaligen Einschätzungen können also von nachträglichen Deutungen nicht klar unterschieden werden - und auch sonst keine exakten untersuchungstechnischen Vorkehrungen getroffen. Als methodisches Muster für subjektwissenschaftliche Aktualempirie ist das folgende somit kaum geeignet.
Ich kaufte mir also eine CD mit der Aufnahme der Variationen {unter Karajan), erfuhr aus dem Beiheft, daß das Werk aus einer Introduktion, neun Variationen und einem Finale besteht, daß darin neben oder im Zusammenhang mit dem reihenförmigen Thema und seinen drei Spiegelungen (,.rückläufig, kopfständig und in rückläufigem Kopfstand«) die B-A-C-H-Figur verarbeitet ist, daß Schönberg hier aus Gründen der Farbigkeit neben einer großen Orchesterbesetzung auch Celesta und Mandoline zum Einsatz brachte, etc. Während ich das Stück das erste Mal anhörte - einer Situation, auf die ich mich äußerlich (durch Schaffung günstiger Rezeptionsbedingungen) und innerlich (durch das Bemühen um Ernsthaftigkeit und Unvoreingenommenheit) gründlich vorbereitet hatte - spielte sich bei mir etwa folgendes ab: ,.Aha, dies ist also die Introduktion, klingt reizvoll, bißeben impressionistisch, erinnert mich jetzt etwas an Richard Strauß; da ist ja die B-A-C-H-Figur. Und jetzt kommt wohl das Thema: Cello mit Begleitung? Ist als Melodie
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irgendwie sperrig, merkwürdige Sprünge, wie soll man das denn behalten und nachher in den Variationen wiedererkennen? Und das ist offenbar die erste Variation; au wei; sicher: Charaktervariationen, aber mindestens bei der ersten Variation müßte man doch das Thema noch irgendwie heraushören können«. Von der zweiten oder dritten Variation an läßt sich der Rezeptionsvorgang immer weniger als »innerer Monolog« rekonstruieren: Das musikalische Geschehen begann an mir vorbeizurauschen. Ich versuchte, zunehmend vergeblich, irgendwelche Haltepunkte und Orientierungen zu finden. Wenn es mir für kurze Momente gelang, wieder hinzuhören, so vermittelte sich mir stets der Eindruck eines Chaos, in dem die einzelnen Instrumente weitgehend unabhängig nebeneinander her spielen. Die tumultuösen Abläufe, in denen für meine Fassungskraft viel zu viel passierte, gingen mir auf die Nerven. An manchen Stellen fühlte ich mich durch ein irgendwie absichtslos-unstrukturiert vor sich hinlaufendes Tingeltangel provoziert. Von meiner angestrebten üblichen Bewußtseinslage musikalischen Genusses keine Spur. Statt dessen geriet ich schließlich (besonders während der leisen Passagen) in eine leicht dösige Verfassung, aus der ich jedesmal durch irgendwelche Orchesterschläge aufgeschreckt wurde. Plötzlich war das Ganze mit einem dieser unmotiviert-bizarren Orchesterschläge zu Ende. Stille. Angesichts meiner Frustration und Ratlosigkeit nach dem ersten Anhören der Orchestervariationen hätte ich nun meinen Versuch mit Schönberg als gescheitert erklären können, etwa mit der Begründung, meine frühere Einschätzung sei eben doch zutreffend gewesen, dies sei halt keine »richtige Musik«; oder mit der intropunitiven Rechtfertigung, ich sei eben musikalisch zu ungebildet für so etwas: Es gibt doch soviel schöne Musik auf der Welt, warum muß es denn auch gerade Schönberg sein? Um den Fehlschlag weniger prinzipiell zu inszenieren, hätte ich auch die Schuld auf das Stück schieben und die Angelegenheit wiederum vertagen können: Vielleicht waren die Orchestervariationen als Einstieg doch nicht so geeignet, u.U. später mal mit einem Klavierstück versuchen. Tatsächlich aber war mir klar, daß die Angelegenheit »Orchestervariationen« für mich damit nicht zu Ende war, sondern daß ich im Gegenteil weiter versuchen würde, dennoch irgendwie an dieses Stück heranzukommen. In der Terminologie dieser Arbeit: Ich akzeptierte mein Unverständnis und meine gereizte Ablehnung beim ersten Hören des Stückes als subjektive Lernproblematik. - Die Gründe dafür sind für mich schwer rekonstruierbar: Vielleicht erinnerte ich mich daran, daß ich auch andere moderne Stücke, aber sogar Beethovens letzte Klaviersonaten und Streichquartette, teilweise nicht gleich beim ersten Hören voll mitgekriegt hatte. Dagegen spricht allerdings, daß dabei Widerwillen nie das Resultat des ersten Hörens gewesen war. Vielleicht war ich auch nur hartnäckig oder »pflichtbewußt« und wollte die Sache nicht so schnell aufgeben. Offenbar
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aber bildete sich darüber hinaus während des Hörens-und dies muß der entscheidende Grund gewesen sein - bei mir eine Ahnung heraus, daß in den Abläufen des Stückes irgendwie mehr an musikalischer Aussage enthalten ist, als mir (schon) zugänglich war, so daß sich die weitere Bemühung darum für mich lohnen würde. Dabei mag gerade die Heftigkeit meiner Ablehnung für mich ein Indiz dafür gewesen sein, daß mit Schönbergs Werk bei mir unhinterfragte und liebgewordene Formen musikalischen Erlebens erschüttert worden sein könnten, so daß - falls es mir gelänge, Zugang zu dem Stück zu finden - neue Dimensionen künstlerischer Erfahrungsmöglichkeiten für mich eröffnet würden, etc. Darüber, auf welche Weise ich die Lernhaltung gewinnen könnte, von der aus mein Verständnis des Stückes zu fördern wäre, hatte ich allerdings zunächst keine genaueren Vorstellungen (woher auch?). Das einzige für mich denkbare Lernprinzip bestand in dieser Phase im »Mitkriegen-Wollen« des Stücks, und so fuhr ich die Strategie, das Stück unverdrossen immer wieder anzuhören, um zu sehen, was dabei passiert, d.h. etwa bei einem Durchgang gemachte neue Erfahrungen so zu reflektieren, daß sie in den weiteren Durchgängen verwertet werden können. (Bei diesem Vorhaben kam mir entgegen, daß Schönberg selbst einmal gesagt hat, man müsse jedes seiner Stücke zehnmal hören - wobei zehn Durchgänge mir aber keineswegs ausgereicht haben.) Ich will die Veränderungen meiner Hörhaltung, die sich im Laufe dieser (im Abstand von Tagen, höchstens einer Woche inszenierten) Wiederholungen ergaben, wiederum als Bruchstücke des inneren Monologs pointiert zusammenfassen: Du mußt gleich richtig zuhören, und Dich nicht darauf verlassen, daß sowieso alles nochmal kommt. Du mußt dich nicht auf wörtliche oder fast wörtliche Wiederholungen fixieren: Auch hier gibt es Anklänge an jeweils Früheres, aber mehr in Form permanenter Veränderungen; es kommt offenbar darauf an, dabei die alte Figur gleichzeitig mit ihrer variierten Gestalt mitzukriegen. Also: Hören in Entwicklungen. - Du mußt nicht nur das als •Melodie« anerkennen, was die üblichen Quarten, Quinten und Terzen als Stützpunkte und den bekannten regelmäßigen Periodenaufbau hat: Hier können - qua Reihentechnik - alle Intervalle an der Melodienbildung beteiligt sein. Außerdem müssen die Melodien, da darin normalerweise gleiche Tonhöhen nicht wiederholt werden, irgendwie komplexer und weitergespannt werden: Neues Melodiebewußtsein I -Du mußt in anderer Weise auf die Instrumentierung achten: Diese hat hier offensichtlich nicht nur koloristische, sondern irgendwie •strukturelle« Funktion, offenbar sind bestimmte Zusammenhänge häufig nur über die Instrumentierung herauszuhören.- Du darfst Deine Beachtung nicht jeweils nur auf eine Stimme fokussieren und das, was sonst noch passiert, außer acht lassen (darf man ja in anderen polyphonen Stücken, etwa einer Fuge von Bach, auch nicht). Erfordert ist eine »multifokale« Rezeption, »Verteilte Aufmerksamkeit« oder besser (stammt der Ausdruck nicht von Freud?) »gleichschwebende Aufmerksamkeit«.
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In der Tat wird z.B. in der Unterscheidung zwischen »relativem lernen« und »funJ4. mentalem Lernen«, wie sie von Miller ( 1986, etwa S.140ff) im Anschluß an bestimmte Auf. fassungen Piagets vorgeschlagen wurde, nicht etwa (wie ich friiher irrtümlich annahm, vgl. 1987, S.22ff) der Übergang vom •relativen«, also graduellen Lernen zum ,.fundamentalen«, also als qualitativer Sprung vollzogenem Lernen, zu konzeptualisieren versucht. Vielmehr ist hier das ,.fundamentale Lernen« als eine die •Aneignung von Basistheorien« betreffende gesonderte Lernform vom •relativen Lernen« als »Aneigung von anwendungsbezogenem Wissen« abgetrennt (S.140). Das ,.fundamentale Lernen« selbst wird sodann- in dieser Hinsicht den früher dargelegten, von Montada herausgehobenen Vorstellungen Piagets entsprechend - als Aufhebung eines •Selbstwiderspruchs« im Erreichen eines vordefinierten höheren kognitiven Strukturniveaus (etwa den Übergang vom VOroperatorischen zum operatorisehen Niveau der Lösung von Piagets Problem der ·Balkenwaage«) analysiert. Weiterhin handelt es sich etwa in der von Bateson (1972, S.279ff) konzipienen Stufeneinteilung des Lernens (•Lernen lc bis ·Lernen III« bzw. •Lernen IV•) um eine explizit logisch konstruierte Unterscheidung verschiedener Strukturniveaus des Lernens, und zwar deran, daß •lernen 1.. im wesentlichen als Lernen gemäß den Gesetzen des klassischen und instrumentellen Konditionierens bestimmt wird, »Lernen n.. sodann in der Möglichkeit der Reflexion und Veränderung der Voraussetzungen für Lernen I•, und •lernen IIl• wiederum in der Veränderbarkeit der Voraussetzungen für ·Lernen ll« etc. bestehen soll. Dabei ist mir unklar geblieben, wieweit Bateson sein Konzept nur zur Einteilung verschiedenaniger Lerntheorien und zugehörigen empirischen Befunde benutzen will und wieweit damit tatsächlich der Übergang von einer Lernstufe zur nächsthöheren bei einem je identischen Individuum theoretisch faßbar werden soll. Klar scheint mir aber, daß für den letzten Fall auch hier wiederum nur das Erklimmen der logisch vorkonstruierten und präskriptiv vorausgesetzten höheren Lernstufe, nicht aber die Generierung qualitativer Lernsprunge vom Standpunkt des Lernsubjekts zur Frage stehen kann. Diese Sichtweise bestätigt sich m.E. auch in der Art, wie Engeström (1987) Batesons Lernstufen in sein - u.a. von Wygotski beeinflußtes - Konzept des •learning by expandingc einbezieht und in diesem Kontext etwa •Entwicklung• als »the transitions between the Ievels of lt4ming• (im Sinne Batesons) verstehen will (S.163) - Entwicklung also dergestalt als lernendes Durchlaufen eines logisch vorkonstruierten Rasters von Lernstufen betrachtet.
So können wir aus dem Ergebnis unserer Diskussion des Verständnisses qualitativer Sprünge im Kontext der vorfindliehen Problemlöseforschung und der Theorien über Entwicklungs- oder Lernstufen quasi als Auftrag an unsere weiteren Konzeptualisierungsbemühungen festhalten: Qualitative Sprünge als Resultat von Lernhandlungen können nur dann adäquat begrifflich gefaßt werden, wenn die dabei zu erreichenden höheren Stufen bzw. Stufenfolgen nicht vorab nach irgendwelchen kognitionspsychologischen, pädagogisch-didaktischen, entwicklungslogischen etc. Kriterien vorkonstruiert sind: Vielmehr müssen am Verlauf von Lernprozessen selbst Gesichtspunkte aufweisbar sein, aus denen verständlich wird, unter welchen Umstän· den dabei vom Lernsubjekt im Zuge des Lernfortschritts qualitative Sprünge vollzogen werden und ggf. wie die Eigenart dieser Sprünge durch die Art des
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vorgängigen Lernvollzugs und der sich dabei ergebenden Widersprüche bestimmt ist. - Wie aber kann man zu derartigen Gesi~htspunkten gelangen?
Qualitative Lernsprünge durch Reflexion auf das bisherige Lernprinzip und Diskrepanzerfahrungen höherer Ordnung Zum Einstieg in die unter diesen Vorzeichen von uns zu leistende theoretische Analyse halten wir zunächst fest, daß (wie gesagt} nicht jede Lernproblematik zu ihrer Überwindung qualitative Lernsprünge erfordert, sondern bestimmte Lernproblematiken durch •von Anfang bis Ende« kontinuierliche Lernfortschritte überwunden werden können: Wodurch also sind solche Lernproblematiken und die aus ihnen explizierbaren Diskrepanzerfahrungen, Gegenstandsausgliederungen, Dimensionen des lernenden Weltaufschlusses etc. ausgezeichnet, durch welche vom Subjektstandpunkt im Fortgang des Lernprozesses ein Stadium erreicht ist, von dem aus weiteres Lernen nur noch als qualitativer Sprung möglich wird? Aus unseren früheren Darlegungen über die Ausgliederung von Lernproblematiken ergibt sich, daß diese Besonderheit in bestimmten Spezifika des Verhältnisses zwischen der Elaboriertheit einer Lernproblematik und der durch die Struktur des Lerngegenstands ermöglichten .Tiefe« des lernenden Gegenstandsaufschlusses zu suchen ist: Auf der einen Seite muß hier die Tiefe des Lerngegenstands so ausgeprägt sein, daß dessen Bedeutungsstrukturen in sich mehrere Vermittlungsebenen aufweisen; auf der anderen Seite aber die Lernproblematik beim gegebenen Stand des Vorwissens vom Subjekt noch so wenig elaborierbar, daß durch die Diskrepanzerfahrung auf der jeweiligen Dimension zunächst nur eine inter· mediäre Zwischenebene der Tiefenstruktur des Lerngegenstandes erreichbar ist. Damit wäre also die lernende Aufschlüsselung der Bedeutungsstruktur des Lerngegenstands, d.h. der in ihm liegenden Verfügungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, nicht schon beim vorgegebenen Entfaltungsgrad der subjektiven Lernproblematik adäquat möglich, sondern nur dadurch, daß die Lernproble· matik selbst im Zuge des Lernprozesses so verändert und entwickelt wird, daß von einem bestimmten Stand des Lernvollzuges an die Beschränkung auf eine intermediäre Zwischenebene in Richtung auf die weitere lernende Aufschlüsselung der Tiefenstruktur des Lerngegenstandes überwindbar ist. Der Umschlag von der Dominanz der Bestimmungen der ursprünglichen Lernproblematik zur Dominanz der (im Lernvorgang selbst entwickelten} Bestimmungen der entfalteteren Lernproblematik beim Vollzug der Lernhandlungen wäre so gesehen gleichbedeutend mit einem qualitativen Lernsprung. Demnach würde es zu qualitativen Lernsprüngen dieser Art umgekehrt dann
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Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
Variationen in ihrem inneren Verhältnis und im Verhältnis zum ganzen Stück immer klarer präsent gemacht werden konnten.
Die damit versuchte begriffliche Aufschlüsselung des Vollzugs qualitativer Lernsprünge hat (wie mir erst nachgängig klar wurde) gewisse substantielle Ähnlichkeiten mit dem von mir in GdP (1983,S.78ff) aus der Rekonstruktion des Umschlags von vorpsychischen zu psychischen Lebenserscheinungen herausabstrahierten »Fünfschritt« qualitativer Sprünge. Insbesondere die Art und Weise, wie im gegenwärtigen Diskussionskontext der Übergang von der punktuellen, noch dem alten Lernprinzip untergeordneten Erweiterung des Gegenstandszugangs bis zu dessen Dominantwerden als neuem Lernprinzip und dem dadurch ermöglichten höheren Niveau lernenden Gegenstandsaufschlusses nachgezeichnet wurde, läßt sich unschwer als eine besondere Ausprägungsform der früher herausgehobenen Sequenz »Funktionswechsel« --+ »Dominanzwechsel« --+ »neue Entwicklungsrichtung« identifizieren. Damit tritt an unserem jetzigen Argumentationszusammenhang der Umstand, daß zum Vollzug und Verständnis qualitativer Lernsprünge eine Art von Vorlauf der im Umgang mit dem Gegenstand gewonnenen Erfahrung vor deren Reflexion und Umsetzung in ein neues Lernprinzip angenommen werden muß, in verallgemeinerter Weise hervor. Dies schließt gleichzeitig eine Bekräftigungunserer früheren Darlegungen über die zentrale Relevanz der emotional-motivationalen Wertungsvorgänge für die Herausbildung von Lerndiskrepanzen in einem erweiterten Zusammenhang ein. Aus unseren entsprechenden Ausführungen ist nämlich zu entnehmen, daß nur in dem Maße, wie bei der Anwendung des alten Lernprinzips dessen Ungenügen zunächst als emotional-komplexqualitative Umgangserfahrung mit dem Lerngegenstand hervortritt, dieses dann auch als Beschränkung des alten zugleich mit der Perspektive des neuen Lernprinzips auf den Begriff zu bringen ist. Der geschilderte Umstand, daß die erweiterten Zugangsmöglichkeiten zunächst nur »punktuell« faßbar werden, immer wieder »wegrutschen« etc., verweist so gesehen auf deren noch unreflekltiert emotionalen Charakter und damit zugleich auf die Notwendigkeit, im bewußten »Verhalten« zur eigenen Emotionalität, das, was an Weltbeziehungen darin steckt, faßbar, hier: die Diskrepanz zwischen schon realem und darüber hinausgehendem möglichen Gegenstandsaufschluß als Diskrepanz zwischen altem und neuem Lernprinzip verstehbar und so in intentionale Lernhandlungen umsetzbar zu machen. Damit verdeutlicht sich auch, in welchem Sinne die früher schon benannten Widersprüche als Charakteristika qualitativer Lernsprünge heraushebbar sind: nicht als logische Widersprüche innerhalb von »Denkaufgaben« o.ä. (zu deren »Lösung«, wie dargestellt, Lernaktivitäten nicht als notwendig vorauszuset· zen sind), sondern als inhaltliche Widersprüche zwischen meinem aufgrund
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des gegenwärtig angewendeten Lernprinzips allein erreichbaren realen Stand und dem in der komplexqualitativ-emotionalen Umgangserfahrung sich andeutenden möglichen Stand des lernenden Gegenstandsaufschlusses. Genauer: Die Diskrepanzerfahrung (•höherer Ordnung«) wandelt sich im Prozeß der Herausbildung qualitativer Lernsprünge vom zunächst nur komplexqualitativ-emotionalen Ungenügen zur Identifizierung des expliziten Widerspruchs zwischen den realen Beschränkungen des »alten« und den erweiterten Möglichkeiten des Weltzugangs durch das •neue« Lernprinzip, wobei dieser Widerspruch allein durch »Lernen« - nämlich im Zuge der Realisierung der •neuen« Möglichkeiten durch lernendes Eindringen in den Gegenstand auf dem durch das neue Lernprinzip erreichbaren höheren Niveau - aufzuheben ist. Dabei mag auch das •neue Prinzip« - obwohl es einerseits die Voraussetzung für das Lernen auf höherem Niveau ist - sich andererseits erst mit dem hier vollziehbaren Lernfortschritt immer mehr in seiner Eigenart verdeutlichen - und dabei möglicherweise neuerlich bestimmte Grenzen offenbaren, die auf das Erfordernis eines weiteren qualitativen Lernsprungs verweisen (so im Schönberg-Beispiel des Sprungs zur Verallgemeinerbarkeit des Neuen Hörzustands als genereller Hörhaltung, was hier aber nicht mehr ausgeführt werden soll. Mit unserer vorstehenden theoretischen Konzeptualisierung qualitativer Lernsprünge wurde - wie deutlich werden sollte - die eingangs angezielte »Metaebene« erreicht, von der aus nicht mehr universelle Stufen des qualitativen Umschlags vorgegeben werden müssen, sondern die Tatsache, wie die Eigenart der jeweiligen Sprünge sich ganz und gar aus der Beschaffenheit der jeweiligen initialen Lernproblematik in ihrem Verhältnis zur Tiefenstruktur des Lerngegenstands ergibt. Lernsprünge, wie wir sie verstehen, vollziehen damit nicht sich als Annäherung an einen irgendwie außengesetzten •Endzustandc, sondern werden von mir als Lernsubjekt vollzogen, indem ich während des Versuchs der Überwindung einer bestimmten Lernproblematik bei einem gewissen Stand lernender Gegenstandsannäherung in Ansehung des Zusammenhangs zwischen Weltaufschluß und Verfügungs-/Lebenserweiterung »gute Gründe« habe, ein »prinzipiell.. höheres Niveau lernenden Gegenstandszugangs zu realisieren. Wie die Eigenart der qualitativen Lernsprünge, so ist auch die Besonderheit des in ihrem Vollzug zu reflektierenden »alten« und »neuen« Lernprinzips nicht generell zu kennzeichnen, sondern hängt von der jeweiligen Lernproblematik/Lerndiskrepanz, wie ich sie von meinem Standpunkt ausgegliedert habe, ab. Dabei muß allerdings (wie in unserem Rekurs auf den emotionalmotivationalen Aspekt qualitativer Lernsprünge schon implizit mitgemeint) unsere früher dargestellte kategoriale Differenzierung in expansiv und defensiv begründetes Lernen bei der Spezifizierung der jeweiligen Lernprinzipien
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Nochmals: Zum Verhältnis zwischen thematischem und operativem Lernaspekt Bei der bisherigen Entfaltung unserer lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit stand - da es um die Konzeptualisierung des lernenden Weltaufschlusses ging - der thematische Aspekt des Lernens im Vordergrund. Dies heißt aber nicht, daß damit der operative Lernaspekt irrelevant geworden wäre. Vielmehr enthält jede Lernproblematik für mich mit der thematischen Diskrepanzerfahrung notwendigerweise immer auch operative Vorstellungen, Entwürfe etc., wie ich dabei begründetermaßen meine Lernvollzüge so zu planen und zu organisieren habe, daß ich das antizipierte Lernresultat in möglichst sinnvoller Weise erreichen kann. Dies heißt aber, daß mit der begrifflichen Differenzierung des thematischen Lernaspekts sich auch die Frage nach dessen Verhältnis zum operativen Aspekt neu stellt. Dieser Frage soll im folgenden gesondert nachgegangen werden, wobei ich mich wiederum am Beispiel meiner Lernaktivitäten zur Aufschließung der Schönbergsehen Orchestervariationen entlang bewegen will. Um mir nicht nur das erste Hören, sondern auch jeden weiteren Durchgang des Anhörens dieses Stückes zu ermöglichen, waren selbstredend jeweils bestimmte Vorkehrungen: Schaffung entsprechender ,.freier Zeit«, Aufsuchen des Ortes, wo der CD-Player steht, dessen Anschalten, Einlegen der richtigen Scheibe, Drücken der ..Play«.:raste etc. erforderlich, die man als klassische operative Verrichtungen etwa in Termini der Handlungsregulationstheorie beschreiben kann. Neben mehr äußerlichen wurden im Fortgang des Lernprozesses auch mannigfache mentale Kontroll- und Regelungsaktivitäten, etwa die angeführten Selbstinstruktionen, vollzogen. All solche Operationen sind einerseits (auf dieser Allgemeinheitsebene betrachtet) in der herausgehobenen Weise gegenüber dem Lerninhalt neutral, könnten also jede für sich auch zur Kennzeichnung von Lernhandlungen benutzt werden, die in beliebig anderer Weise inhaltlich bestimmt sind. Andererseits aber deutet sich hier schon an, daß man es dabei keineswegs mit einer in sich geschlossenen operativen Lernregulierung als .. Abarbeiten eines Lernplans« o.ä. zu tun hat, sondern daß sowohl die Auswahl der jeweiligen Operationen wie deren Aufeinanderfolge offensichtlich nur aus dem übergeordneten thematischen Zusammenhang (der damit sozusagen das geistige Band zwischen den einzelnen Lernoperationen darstellt) und dem sich daraus ergebenden Lernprinzip verständlich werden. Um dies genauer zu fassen, gehen wir einen Schritt näher heran und betrachten eine bestimmte (von mir bei der Darstellung des Beispiels selbst schon so genannte) Strategie, die auf dem Weg, mir die Orchestervariationen zugänglich zu machen, für mich von zentraler Relevanz war: Die permanente
Dimensionen und Vf!Tlaufsformen des Zugangs zum Lerngegenstand
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Wiederholung des Anhörens dieses Stücks: Das Wiederholen stellt ja, etwa als ,.üben« näher bestimmt, gemäß traditionell-lerntheoretischer Auffassung ein universelles Vehikel von Lernfortschritten dar und könnte somit ebenfalls als generelle, vom jeweiligen thematischen Zusammenhang unabhängige Lernoperation eingestuft werden. Diese Sichtweise wäre auch noch im Hinblick auf unsere frühere Reinterpretation von Wiederholungen als Möglichkeiten des progressiven Aufbaus von Behaltens-/Erinnernsstrategien (5.145) halbwegs durchzuhalten. Betrachten wir nun aber die Funktion, die dem Wiederholen in dem von mir geschilderten Lernprozeß zum Verständnis der Orchestervariationen zukam: Dort versuchte ich, von Wiederholung zu Wiederholung immer weiter in die Aufbau- und Organisationspinzipien des Stückes einzudringen, indem ich Erfahrungen, die ich in einem jeweils bestimmten Durchgang mit den musikalischen Abläufen machte, Zusammenhänge und Strukturen, die ich (zunächst ansatzweise) dabei heraushören konnte, durch Selbstinstruktionen festzuhalten, beim nächsten Durchgang wiederzufinden und von da aus weiteren Zugang zu der Musik zu gewinnen trachtete (vgl. dazu die Schilderung der Folge derartiger Selbstinstruktionen auf S.201). So zeigt sich also, daß hier die durch die Wiederholungen ermöglichte operative Strategie der Selbstinstruktionen ihrerseits nur als dessen sprachliche Fassung unselbständiges Teilmoment des thematischen Eindringens in die Struktur des Lerngegenstandes, also (um den de Groot-Seidelschen Ausdruck hier sinngemäß heranzuziehen) des »progressiven Vertiefens« des Gegenstandsaufschlusses war. Die Wiederholungen selbst stellten so quasi nur den oberflächlichsten Niederschlag eines dahinterstehenden thematisch zentrierten Lernprinzips dar. Eine entsprechende Abhängigkeit der operativen von den thematischen Lernaspekten läßt sich auch bezüglich des dargestellten Übergangs von der Strategie, das ganze Stück wiederholt abzuhören, zur Strategie des wiederholten Hörens einzelner Variationen aufweisen. Dabei handelt es sich bestenfalls auf den ersten Blick um eine allein aus operativer Sicht verständliche •hierarchische« Sequenz vom Allgemeinen zum Besonderen o.ä. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß (wie aus meiner Schilderung auf S.200ff hervorgeht) mit dem weiteren Eindringen in die Verlaufsstruktur des Stückes der Charakter der Zwölfton-Komposition als •entwickelnde Variation« der Reihe in ihrer Grundgestalt, Umkehrung, Krebsführung und umgekehrten Krebsführung, immer deutlicher werden mußte. Von da aus wurde es in dem Grade, wie ich mich in Realisierung des initialen thematischen Lernprinzips immer »tiefer« in die Musik hineinhörte, immer zwingender, dieses allgemeine Variationsprinzip nun auch in seinen konkreten Erscheinungsformen innerhalb der verschiedenen Variationen i.e.S.genauer zu verfolgen und zu diesem Zweck (dies die operative Konsequenz) jede Variation für sich mehrfach
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Grundbegri!Jlichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
zentralnervöse Mechanismen der Bewegungssteuerung annahm (vgl. etwa Lashley 1951). Eine der dadurch angeregten, bis heute andauernden Hauptkontroversen ist durch die Gegenüberstellung: allgemeine, zentrale »motor programs« vs. mehr periphere Feedback-Prozesse der Bewegungskontrolle, zu kennzeichnen. Entsprechend entstanden in diesem Gebiet spezielle Methodentraditionen, wobei »Tracking«-Anordnungen, in welchen ein fremdbewegter Zielpunkt unter verschiedenen Bedingungen durch Eigenbewegungen der Vpn »Verfolgt« werden muß, einen prominenten Platz einnehmen. Dabei zeichnet sich in neuerer Zeit eine gewisse Trendänderung der Konzepte und Versuchsanordnungen ab: Das Schwergewicht verlagerte sich vom Gesamtprozeß der »motor control« auf die isolierte Untersuchung einzelner Komponenten, wie Sequenzierung, Zeitverhältnisse, Kraftaufwand, um so zu Regulationseinheiten des Bewegungsablaufs (»Modulen« o.ä.) zu gelangen, die in unterschiedlicher Anordnung bei verschiedenen Bewegungsarten antreffbar sein sollen (vgl. Keele & lrwy 1987; repräsentative Aufsatzsammlungen zur Forschungsrichtung des »motor learning« etwa bei Stelmach & Requin, 1980, und Jeannerod, 1990).
Gegen physiologische, mathematische und operative Reduzierungen des Bewegungskonzeptes Beim Versuch, durch den damit skizzierten Forschungsansatz hindurch sich dem lebenspraktischen Kontext motorisch-mentaler Lernprozesse vom Subjektstandpunkt anzunähern, stößt man zunächst auf ein Hindernis, das wir bereits früher, bei der Diskussion der kognitivistischen Gedächtnistheorien, ausführlich kritisch hervorgehoben haben: Auch in der Forschungsrichtung des »motor learning« wird das Lernsubjekt auf unterschiedliche ~ise ins »System« verlegt und durch eine derartige »Homunkulisierung« das wirkliche Subjekt der Lernhandlungen so mystifiziert, daß es theoretisch nicht mehr faßbar ist. Aussagen, in denen »Systeme« z.B. zu Subjekten von Vorhersagen, Erwartungen etc. werden - wie die Formulierung von Jordan (in seinem Experiment über Freiheitsgrade des motorischen Lernens): »... allows the system to predict the results it expects to obtain ... « (1990, S.798)- sind auch hier an der Tagesordnung.- Eine zweite Beschränkung liegt in der im vorigen Teilkapitel von uns diskutierten Kontamination der phänomenalen und der neurophysiologischen Bezugsebene der theoretischen Interpretation und in den damit produzierten Pseudoerklärungen (theoretischen »Stilbrüchen« im Sinne von Herrmann, vgl. S.136), was sich hier (wohl durch die auf Lashley zurückgehende neurophysiologische Tradition der gesamten Forschungsrichtung
Annäherung vom Bewegungslernen her
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begünstigt) geradezu als Prinzip der Theorienbildung zuspitzt: Beschrieben werden die Bewegungen häufig sogar in Termini von Zielen und Intentionen, bei ihrer Erklärung greift man aber so gut wie durchgehend auf die Annahme physiologischer bzw. neurophysiologischer Mechanismen zurück, noch dazu meist ohne den tatsächlichen Aufweis entsprechender Prozesse, also in Form von spekulativen Unterstellungen, so, wenn es bei MacKenzie & Van Eerd {1990) in ihrer Untersuchung zur Motorik des Pianospiels heißt: »There must be mappings among multiple representations {musical, auditory and motor) in the central nervous system« (S.367, Hervor. K.H.). Ein umfassenderes, mit den beiden benannten zusammenhängendes Hindernis beim Versuch der lebenspraktischen Explikation der Forschungsrichtung des »motor learning« liegt in der (sicherlich auch mit dem geschilderten Trend zur Analyse isolierter Bewegungskomponenten zusammenhängenden) fast durchgehenden Tendenz zu einer Reduktion von Handlungsverläufen auf Einzelbewegungen bzw. durch restriktive Randbedingungen fixierte stereotype Abläufe in den experimentellen Standardanordnungen. So sind schon in den erwähnten, besonders beliebten Tracking-Experimenten die Bewegungen darauf beschränkt, der fremdbewegten Marke »hinterherzulaufen«, der Zusammenhang zwischen Handlungsintention und Handlungsverlauf ist so stillgestellt. Dabei ist häufig eine beträchtliche Diskrepanz zwischen dem Anspruch der theoretischen Fragestellungen und ihrer experimentellen Realisation feststellbar. So will z.B. Rosenbaum (1987) verschiedene Ebenen des »action planning« herausarbeiten, untersucht dabei im Experiment aber lediglich aus dem Handlungszusammenhang isolierte »rapid finger movements«. Keele & Irvy (1987) benutzen zur Analyse des •modularen« Aufbaus von Handlungsfolgen so spezialisierte und isolierte Bewegungen wie So-schnell-wie-möglich-hintereinander-Klopfen. Selbst McKenzie & Van Eerd (1990) ziehen in ihrer erwähnten Untersuchung zur Motorik des Klavierpiels einerseits professionelle Pianisten als Versuchspersonen heran, verlangen von diesen dann aber andererseits nicht mehr als das Spielen einer C-Dur-Skala in verschiedenen Tempi gemäß vorgegebenen Metronomschlägen (s.u.). Im ganzen gesehen ist festzuhalten, daß die theoretischen Erklärungsansätze im Bereich von •motor control•./ »motor learning« unseren gegenwärtigen Bemühungen, das Bewegungslernen auf sein Verhältnis zu mentalen Lernprozessen im lebenspraktischen Kontext hin zu durchdringen, in gewissem Sinne geradezu entgegengerichtet sind. In den benannten kurzschlüssigen Substitutionen psychologischer Erklärungen durch physiologische Versatzstücke wird nämlich dem umfassenderen Handlungs- und Lebenszusammenhang des Bewegungsiemens quasi der Rücken zugekehrt. Selbst wo man theoretisch auf komplexere Bewegungsabläufe abhebt, geht
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Grundbegrijjlichkeit einer subjektwissenschaftlichen Theorie
Die Konzeption der lnteriorisierung als allgemeines Prinzip der Entstehung des Psychischen aus äußeren, materiellen Handlungen wurde unter Bezug auf Wygotski besonders von Galperin (in seiner schon erwähnten ·Theorie der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen•, z.B. 1967) und Leontjew (z.B. in seiner Studie über die Genese des Gedächtnisses, 1977, 5.313 ff) vertreten, war aber innerhalb der sowjetischen Psychologie keineswegs unumstritten, wobei auch die Berechtigung, sich mit dem so gefaßten lnteriorisierungskonzept auf Wygotski zu beziehen, angezweifelt wurde. Keiler (1984/85) ist dieser Problematik nachgegangen und wies dabei von Wygotski zu Galperin und Leontjew einen eigentümlichen Perspektivenwechsel auf: Während Wygotski einen Funktionswandel des Psychischen durch Hineinwachsen der sozialen Verhaltensformen in das Individuum im Auge gehabt habe, sei von Galperin und Leontjew der Richtungsaspekt von ..außen« nach •innen«, d.h. die Umwandlung der materiell-gegenständlichen Tätigkeit in .. höhere« geistige Prozesse, hervorgehoben worden. Diese Problemverschiebung wurde nach Keiler bereits Ende der 50iger Jahre von Rubinstein kritisiert, der geltend gemacht habe, daß jede äußere Tätigkeit bereits in sich psychische Komponenten enthalte, es sich also lediglich um den Übergang der psychischen Prozesse von einer Daseinsweise in eine andere handele (vgl. dazu Rubinstein 1963, S.212ff). In diese bis in die neuere Zeit fortgeführte Auseinandersetzung innerhalb der sowjetischen Psychologie wurde etwa von Asmolow & Welitschkowski (1988, S.24ff) eingegriffen, indem sie hervorhoben, daß u.a. auch Dawydow und Talyzina die Interiorisation als Mechanismus des Übergangs von der äußeren, praktischen in die innere oder Erkennistätigkeit auffaßten und damit der Problematik konfrontiert seien, daß ihrer Vorstellung nach die äußere Tätigkeit keine i.e.S. psychischen Komponenten aufweist. Die Autoren stellen dem die Auffassung Wygotskis gegenüber, der unter äußeren Prozessen soziale verstanden habe. Sie zitieren Wygotski mit dem Satz: •Jede psychische Funktion war eine äußere, weil sie eine soziale war, bevor sie eine innere, eigentlich psychische Funktion wurde; sie war zunächst eine soziale Beziehung zwischen zwei Menschen« (S.25). In weiterführender Weise kritisieren neuerdings Lave & Wenger (1991) vom Standort der (ursprünglich tätigkeitstheoretisch orientierten) kaliforniseben »Kognitiven Anthropologie« das Interiorisierungskonzept im ganzen: •lt establishes a sharp dichotomy between inside and outside; it suggests that knowledge is largely cerebral and takes the individual as the nonproblematic unit of analysis. Furthermore, learning is too easily construed as an unproblematic process of absorbing the given, as a matter of transmission and assimilation« (S.47). Interiorisierung sei hier •viewed as an individualistic acquisition of the cultural given. There is no account of the place of learning in the broader context of the social world« (S.48f). Von da aus stellen sie dem lnteriorisationskonzept ihr Konzept der »Partizipation« gegenüber, auf das ich noch ausführlich zurückkomme.
Zur Gesamteinschätzung des lnteriorisierungs-K.onzeptes sei (im Anschluß an frühere Ausführungen) in unserem Darstellungszusammenhang hervorgehoben, daß - indem hier die Beziehung zwischen »äußeren« (sei es materiellen, sei es sozialen) und mentalen Handlungen als ein genetisches »Nacheinander« aufgefaßt ist, deren je gegenwärtiges Verhältnis unfaßbar wird. Die ehemals »materiellen« bzw. »sozialen« Handlungen sind so gesehen per lnteriorisierung zu nur noch »inneren« Handlungen, Bewußtseinsprozessen o.ä.
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geworden; der doch offensichtliche Umstand, daß auch das erwachsene Individuum ja noch »materielle« Handlungen ausführt bzw. wirkliche soziale Beziehungen unterhält, ist mit dem lnteriorisierungskonzept streng genommen nicht vereinbar. So gesehen hat der Begriff der lnteriorisation (entgegen den materialistischen Zielsetzungen seiner Urheber) tatsächlich jene »individualistischen• Implikationen, auf die Lave & Wenger verwiesen haben; die Annahme einer materiellen oder sozialen Genese ändert nichts daran, daß als deren Ergebnis lediglich innerpsychische Prozesse übrigbleiben. - Grundsätzlich impliziert die im lnteriorisierungskonzept enthaltene Vorstellung eines Weges vom (materiell oder sozial) »Äußeren« zum »Inneren« den Standpunkt dritter Person: Allein in dieser Außensicht können die ehemals für alle zugänglichen Aktivitäten als nunmehr »in« die andere Person hineingewandert und so nur noch dieser zugänglich, aufgefaßt werden. Vom Subjektstandpunkt, also »je meinem« Standpunkt, sind dagegen auch meine körperlichen Lebensäußerungen, etwa Bewegungshandlungen, ebenso wie meine wirklichen sozialen Beziehungen, einerseits Aspekt meiner Erfahrung untl verweisen andererseits auf diejenigen jenseits meines Zugriffs liegenden realen Umstände, die hier von mir erfahren werden, sind mithin so gesehen »innerlich« und »äußerlich« zugleich. Das Verhältnis zwischen Welt- und Selbsterfahrung bzw. Bewegungshandlungen und mentalen Handlungen wird mit jeder Form der Innen-Außen-Analogie vom Drittstandpunkt nicht angemessen abgebildet. In der erwähnten zweiten Version der Verhältnisbestimmung zwischen motorischen und mentalen Handlungen durch die Handlungsregulationstheorie, dem von Hacker (etwa 1973, S.153ff) eingebrachten Schema der »Regulationsebenen«, werden (wie früher dargestellt) drei derartige Regulationsebenen unterschieden: »perzeptive und begriffliche Regulation von Arbeitstätigkeiten«, »intellektuelle Regulation von Produktionsarbeiten« und »Sensumotorische Ausführungsregulation von A rbeitstätigkeiten« bzw. - in der gebräuchlich gewordenen umgestellten Reihenfolge - »sensumotorische«, »perzeptiv-begriffliche« und »intellektuelle« Handlungsregulation (vgl. Volpert 1975, S.119f). Hierbei hat man es nicht mit einem genetischen Modell, sondern eher mit einem Schicht-Modell zu tun, das aber in mancher Hinsicht ähnliche Implikationen hat wie das lnteriorisations-Konzept: Mit den »Regulationsebenen« sind nicht verschiedene Aspekte des Handeins herausgehoben, sondern scheint vielmehr unterstellt, daß die verschiedenen »Ebenen« im Handlungsvollzug eine nach der anderen, entweder von oben nach unten oder von unten nach oben, durchlaufen werden. Dies würde jedoch heißen, daß etwa während der sensumotorischen Handlungsregulation nicht gleichzeitig eine intellektuelle Handlungsregulation stattfinden kann, so daß
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wiederum an die Stelle einer Bestimmung des Verhältnisses etwa zwischen motorischen und mentalen Handlungen die Annahme eines bloßen Nacheinander, hier nicht genetischer Stufen, sondern verschiedener Handlungsebenen, getreten wäre. Aber selbst, wenn man diese Schlußfolgerung nicht für zwingend halten will, bleibt die Voraussetzung, daß das sensumotorische Handeln als auf der »untersten« Ebene angesiedelt irgendwie elementarer sei als etwa das intellektuell-mentale Handeln. Darin liegt aber wiederum eine (wohl auch an neuroanatomischen bzw. -physiologischen Konzepten verschieden »hoher« Hirnanteile orientierte} vorgefaßte »Schicht«-Einteilung vom Standpunkt dritter Person, die durch »je meine« Erfahrungen keineswegs gedeckt ist. Es spricht tatsächlich nichts dafür, daß etwa Bewegungshandlungen wie Klavierspielen oder ein Bild malen in irgendeinem Sinne »elementarer« (und vielleicht damit sogar noch »niedrigeren« Hirnanteilen zuordenbar) sein sollen, als etwa das mühsame Zusammenrechnen von 2 + 2 »im Kopf... Mit einer solchen Begrifflichkeit werden m.E. Erfahrungen nicht aufgeschlüsselt, sondern eher verstellt (s.u.). Der gleiche problematische Denkansatz charakterisiert m. E. auch die dritte Version der Verhältnisbestimmung von motorischen und mentalen (Lern)handlungen durch die Handlungsregulationstheorie: Die selbstverständliche Voraussetzung, daß im Modell der »hierarchisch-sequentiellen Handlungsorganisation« die »Durcharbeitung« der jeweiligen Zielhierarchien gleichbedeutend ist mit einer immer weitergehenden Annäherung an die - schließlich auf der untersten Ebene der Hierarchie erreichten - sensumotorischen Ausführungshandlungen. So findet sich etwa in Volperts graphischer Darstellung des hierarchisch-sequentiellen Modells als ,.ziel- und Aktionsprogramm der untersten Ebene« umstandslos deren Kennzeichung als Nollzugsimpuls und Bewegungsentwurf« (so 1974, S.28). Entsprechend heißt es bei Munzert: »Die konkrete Ausführung von Handlungen wird vermittels der Ebene der sensumotorischen Regulation gesteuert. Eine Theorie, die das Eingreifen und das Verändern von Umwelt erklären will, muß die ,Nahtstelle' zwischen internen Planungsprozessen und Umweltveränderungen untersuchen« (1984, S.3). Auch Dulisch vertritt, etwa anläßtich der Unterscheidung strategischer und taktischer Ebenen der Regulation des Lernhandelns, die gleiche Auffassung: Die »l.erntaktiken«, so faßt er (wie auf S.160 referiert) diese Unterscheidung zusammen, »beziehen sich demnach auf den Lernvollzug und die relativ vollzugsnahen, bewußtseinsfernen Regulationsprozesse, während die Lernstrategien die übergeordneten, bewußten Pläne darstellen, die die Vollzugseinheiten steuern und kontrollieren« (S.219, Hervorh. K.H.). Mit solchen Auffassungen wird offensichtlich zunächst ein bestimmter
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Typ von Handlungs- bzw. Lernproblematiken, in denen die Handlungs- bzw. Lerndiskrepanz sich auf Bewegungen bezieht, mit »Lernen« überhaupt gleichgesetzt, also der Umstand, daß die Überwindung solcher Problematiken (u.U. durchaus ·hierarchisch-sequentiell« organisiert) auch im Erreichen bestimmter mentaler Möglichkeiten (etwa verständigem Hören der Schönbergseben Orchestervariationen) bestehen kann, ignoriert. Weiterhin findet sich auch in diesem Kontext die Vorstellung eines Durchlaufs (hier durch die Zielhierarchie) bis zu den sensumotorischen Aktivitäten als »Unterster« Ebene, womit das Verhältnis von mentalen Handlungen und Bewegungshandlungen wiederum auf eine Art von sukzessivem »Abstieg« verkürzt wird. Dem entspricht die Vorstellung von Ausführungshandlungen als vollzugsnahe, also bewußtseinsfern: Die Bewegungen werden demnach hier nicht bloß als u.U. »automatisierbar« (s.u.) aufgefaßt, sondern sollen offenbar als solche »automatische und physiologienahe-mechanisch ablaufen; der Umstand, daß Bewegungen in sich mentale Momente enthalten, (dabei, wie das benannte Klavierspielen und Malen, aber etwa auch der Tanz, dezidiert »geistiger« Natur sein können), bleibt hier außen vor. Hinter alldem steht, wie mir scheint, die Tendenz der Handlungsregulationstheoretiker, (auch bei tätigkeitstheoretischen Erweiterungen) Handlungen (mindestens ,.richtige• Handlungen) mit materiell-eingreifenden Handlungen gleichzusetzen, also in gewisser Weise •Handeln• generell als ,.Handwerken• zu verstehen. Dem wiederum könnte ein Gesellschaftsbild inhärent sein, in welchem die vergegenständlichende gesellschaftliche Arbeit als immer noch (wie auf früheren, kooperativ-gesellschaftlichen Stufen) alleiniges Resultat vergegenständlichender individueller Arbeitshandlungen aufgefaßt wird. So würde übersehen, daß (wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe) mit der Herausbildung des gesamtgesellschaftlichen Systemcharakters der Produktion/Reproduktion die unmittelbaren Aktivitäten zur stofflichen Transformation der Natur immer mehr in ,.die dem gesellschaftlichen System zugehörigen Ziel-Mittel-Konstellationen« (so die Maschinerie, heute immer mehr in die Automation) übergehen. •Es ist nicht mehr, wie im unmittelbarkooperativen Stadium, zentral das je einzelne Mitglied der Gesellungseinheit, das durch ,seiner Hände Arbeit' in Gemeinschaft mit anderen die Natur zur menschlichen Lebenswelt umformt, vielmehr werden nun in immer höherem Maße ,mit den Händen' solche Mittel geschaffen, die ,selbsttätig~< die stoffliche Transformation der Natur besorgen und ..von der Hand nur noch ,bedient' werden müssen«. Die Umformung der materiellen Natur zur gesellschaftlichen Lebensgrundlage •wird also immer mehr zu einer gesamtgesellschaftlichen Systemfunktion, taugt so immer weniger zur allgemeinen Charakterisie· rung der psychischen Lebensaktivität einzelner Individuen« (GdP, S.308, Hervorh. teilweise weggelassen}.
Wie die vorstehende Diskussion ergeben hat, kann es auch mit den Denkmitteln der Handlungsregulationstheorie nicht gelingen, vom Subjektstandpunkt das Bewegungslernen auf seinen Zusammenhang mit übergreifenden mentalen Lernprozessen hin theoretisch zu durchdringen: Dem entgegen
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steht vor allem die Vorstellung menschlicher Bewegungen als gegenüber der kognitiv-mentalen Ebene elementar, naturhaft, automatisch, bewußtlos etc., wodurch widersprechende Erfahrungsevidenz weggeleugnet und das Bewegungslernen eher aus dem subjektiven Lebens- und Handlungszusammenhang isoliert als in seinem Stellenwert darin verdeutlicht wird. Die allgemeineren Gründe für solche Verkürzungen könnten darin liegen, daß (wie ausgeführt) die Handlungsregulationstheorie generell den operativen Aspekt des Handeins universalisiert, also den inhaltlich-thematischen Aspekt nicht zu Gesicht bekommt: Muß mit der darin liegenden Reduzierung des Handlungsablaufs auf die Ebene individuell-antizipatorischer Regulation nicht zugleich mit der Eliminierung inhaltlicher Bedeutungshaftigkeit auch jener Bedeutungsbezug der Bewegungen/ des Bewegungsiemens verloren gehen, über den deren Verhältnis zu übergreifenden mentalen Handlungszusammenhängen allein angemessen zu rekonstruieren wäre?- Mit dieser Frage ist der nächste Schritt unseres Versuchs einer Annäherung an die im lebenspraktischen Kontext bestehenden kognitiv-mentalen Bezüge und Implikationen des Bewegungsiemens vorgezeichnet.
Hilftbewegungen und Bewegungshandlungen; Bewegungssternen als wachsende Bedeutungsadäquatheit von Bewegungshandlungen Als Ansatz für die folgenden Überlegungen knüpfen wir an unsere früheren Ausführungen an, denen gemäß-aufgrundder Unhintergehbarkeit der körperlichen Situiertheit vom Subjektstandpunkt - in jede Handlung, also auch jede Lernhandlung, körperliche Bewegungen involviert sind (vgl. S.256}. Wie aber kann man angesichts einer solchen Universalität der Bewegungen dennoch »Bewegungslernen« als gesondertes Analysethema herausheben? Um dies zu klären, explizieren wir hier eine Differenzierung, die in den früheren Darlegungen schon mitgedacht war: Die mögliche Einbezogenheit von Bewegungen in unterschiedliche Phasen und/ oder Aspekte des Handlungsverlaufs, von denen es abhängt, ob die Bewegungen für mich tatsächlich den Stellenwert von Bewegungshandlungen oder lediglich die Funktion von den eigentlichen Handlungen vorhergehenden oder diese begleitenden Hilftbewegungen haben. Mit »Hilfsbewegungen« sind solche Bewegungen gemeint, mit welchen ich mich in eine körperliche Lage, Haltung o.ä. bringe, durch die die eigentlichen (Lern)handlungen von mir überhaupt erst ausführbar sind oder werden. Dazu gehören etwa jene ortsverändernden Bewegungen, durch die ich vor dem
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Hören der Schönbergsehen Orchestervariationen in den Raum gelangt bin, wo der CD-Player steht, weiterhin die Arm- und Handbewegungen des Einlegens der CD in den Player, das Drücken auf die »Playc.:raste etc. Dabei müssen derartige Hilfsbewegungen nicht vor der eigentlichen (Lern)handlung liegen, sie können diese auch begleiten, indem dadurch von mir die körperlichen Bedingungen für die jeweilige Handlung optimiert oder hergestellt werden, so die Regulierung der Lautstärke des Wiedergabegeräts während des Hörens oder- in anderem Handlungszusammenhang- das Umblättern eines Buches, über das ich mich vorher - ebenfalls per Hilfsbewegung - mit der Absicht, darin zu lesen, gebeugt hatte. Die (Lern)handlungen i.e.S. sind dabei von den Hilfsbewegungen sehr leicht dadurch zu unterscheiden, daß sie zur Realisierung meiner eigentlichen Handlungs-/Lernintention als dem, worauf es mir hier ankommt, ausgeführt werden: Ich ..will«, wenn ich die Orchestervariationen abhören möchte, ja nicht ins Schlafzimmer gehen, die CD in den Player einlegen etc., nur muß ich, wenn es dazu kommen soll, eben die benannten Hilfsbewegungen ausführen. Ebenso will ich beim Lesen eines Buches nicht dessen Seiten umblättern, ich muß dies nur tun, um weiterlesen zu können. In den bisher angeführten Beispielen waren die eigentlichen Handlungen, die durch die Hilfsbewegungen ermöglicht, vorbereitet etc. werden, als mentale Handlungen, (Musikhören, Lesen) näher bestimmt. Auf das Verhältnis zwischen mentalen Lernhandlungen, insbesondere als »Behalten/Erinnern«, zu den Hilfsbewegungen komme ich jedoch erst später - bei dem Versuch der Annäherung an den lebenspraktischen Kontext des Lernens von der anderen, »mentalen« Seite her - genauer zu sprechen. Im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang muß hingegen hervorgehoben werden, daß die Bestimmung der Handlungen, auf die die Hilfsbewegungen vorbereiten, als mentaler Art keineswegs zwingend ist. Man kann es dabei vielmehr ebenfalls mit Bewegungen zu tun haben, so daß man die Hilfsbewegungen von den eigentlichen Bewegungshandlungen zu unterscheiden hätte. Die Abgrenzung zwischen diesen macht keine größeren Schwierigkeiten als mit Bezug auf die mentalen Handlungen: Das Öffnen des Badezimmerschranks, Herausnehmen und Einschalten des Rasierers sind als Hilfsbewegungen klar von dem eigentlich intendierten motorischen Rasiervorgang abzugrenzen. Dabei können die Bewegungen sogar in beiden Fällen gleichartig sein. Ich gehe (oder, wenn ich verspätet bin, laufe) zur Aschenbahn und bewege mich zur Starteinrichtung, um an einem Hundertmeterlauf teilzunehmen: Dies ist eine ortsverändernde Hilfsbewegung. Sobald ich aber nach dem Startschuß zu laufen beginne, wird daraus die eigentliche, hier intendierte Bewegungshandlung. Hilfsbewegungen und eigentliche Bewegungshandlungen sind also keine unterschiedlichen Bewegungsarten. Vielmehr ergibt es sich aus dem Bedeutungs-/
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Eigendynamik und der »Eigensinn« meiner »Physis« in ihrem Verhältnis zur stofflichen Welt - im Maße der aus dem gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhang erwachsenden Höhe der Leistungs- und/ oder Vollkommenheitsansprüche in immer höherem Grade - systematisch in die Lernanstrengungen einbezogen werden müssen - woraus sich auch die gesellschaftliche Organisiertheit des »Übens«, »Trainings« etc. in institutionellen Lehr-/Lernkonstellationen, Musikschulen, Tanzakademien, Sportvereinen oder -hochschulen etc., versteht (s.u.). Durch die besondere körperliche Eingebundenheit und »Zurückgehaltenheit« der Umsetzung von Lernintentionen beim Bewegungslernen tritt das Problem der »Fähigkeiten« mit Bezug darauf in spezieller Weise hervor. Volpert hat sich mit diesem Problem im Kontext des sensumotorischen Lernens ausführlich befaßt (1971, 1976). Er konzeptualisiert dabei die Herausbildung von sensumotorischen Fähigkeiten bzw. (wie er lieber sagen will, vgl. 1976, 5.41) des sensumotorischen »Könnens«, im Kontext des schon dargestellten und diskutierten Modells der Regulationsebenen, indem er zwei Arten von Handlungsregulation unterscheidet: "···diejenige, die generell dem Können zugeordnet ist, und diejenige, die spezifischen Bestandteilen dieses Könnens, nämlich den Fertigkeiten zuzuordnen ist. Wir betonen bei der ersten Form der Regulation die volle Einbeziehung der höchsten Regulationsebenen und die Dominanz der Resultatantizipation. Bei der zweiten Form existiert auf der höheren Ebene ein Moto· rik-Superzeichen, das ebenfalls wesentlich durch die Ergebnisvorwegnahme bestimmt wird. Ein einziger Initialimpuls kann so die gesamte Bewegungsabfolge der Fertigkeit hervorrufen. Die Abfolge selbst wird - bei Eingriffsmöglichkeit der höheren Zentren - von niedrigeren Zentren, also ,automatisiert' geregelt. Dies ermöglicht eine schnellere zeitliche Abfolge der Bewegungen« (1971, 5.43, Hervorh. K.H.). Dabei wirken nach Volpert die taktile und visuelle Regulation zusammen. Die externe, also visuelle Regulation entspreche der Könnensregulation, die interne, kinästhetische, der Fertigkeitsregulation (5.45). Mit der Ausdifferenzierung der »automatisierten« Fertigkeiten bei der Fähigkeitsbzw. Könnensentwicklung durch sensumotorisches Lernen kommt es, so Volpert, zu einer Entlastung der höheren Regulationsebenen, d.h. deren Freisetzung für komplexere Leistungen des Könnens (5.41). Als Beispiel dafür nennt Volpert (1976, 5.41) das "Autofahrenkönnen« als isolierbare Anpassungsleistung. Eine »Fertigkeit• im Rahmen dieses »Könnens« sei die Folge »Auskuppeln -einen anderen Gang einlegen- Einkuppeln«. Im Normalfall löse das Superzeichen »Schalten« als Initialimpuls diese Folge von automatisierten Fertigkeiten aus (vgl. auch die Darlegungen von Munzert, 1984, 5.10, über die »5uperierung von Handlungsvollzügen«, wobei er mit Bezug auf Volpert die Superierung als spezifische Art der Redundanzausnutzung kennzeichnet, indem regelhafte Bedingungen »zweitsignalisch<< - d.h. sprachlich/K.H. - durch ein Signal repräsentiert werden).
In derartigen Modellvorstellungen verdeutlicht sich auf spezielle Weise, wie aus der Reduzierung des Bewegungshandeins auf die bloß operative Ebene der Zielbezogenheit ein in sich geschlossenes, von der Welt in ihrer gegenständlichen Bedeutungshaftigkeit abgeschottetes Regulationssystem entsteht: Hier scheint das Individuum bei der Herausbildung seiner motorischen
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Fertigkeiten/Fähigkeiten quasi allein auf sich selbst, seine bloß »innerpsychische vollzogenen Automatisierung von Bewegungsfolgen und die Generierung von Superzeichen zur Entlastung ·höherer« Zentren verwiesen. Damit wird {abgesehen von der früher dargelegten prinzipiellen Problematik des Regulationsebenen-Modells) verkannt, daß im Bewegungslernen nicht lediglich ·höhere Zentren«, sondern die Individuen selbst von der Kontrolle der Einzelbewegungen entlastet werden, indem sie die in den jeweiligen Weltanordnungen vergegenständlichten sachlichen {oder sozialen) Bedeutungszusammenhänge realisieren. Anders: Ich muß die Einzelbewegungen nicht total »in mir« zu einem System von Beziehungen verschiedenen Allgemeinheitsgrades integrieren - damit wäre ein solches »inneres« System tatsächlich radikal überfordert. Vielmehr sind •systematische« Beziehungen bereits in der Welt als sachlich-soziale Bedeutungsstrukturen vergegenständlicht, die ich im Lernen nur noch realisieren muß, womit meine Bewegungen durch ihre immer wachsende Gegenstandsadäquatheit immer stärker mit praktischem Weltwissen angereichert werden. So ist der Zusammenhang zwischen Auskuppeln, einen anderen Gang einlegen und Einkuppeln keineswegs erst durch das Superzeichen »Schalten« gestiftet, sondern als sachlicher Bedeutungszusammenhang sozusagen in das Auto hin~ingebaut (vgl. dazu unser Bremslicht-Beispiel und dessen Diskussion, S.60f und S.111). Im Lernprozeß würde demnach dieser zunächst nur mentalerfaßte Sachzusammenhang über den Bewegungsnachvollzug in die auf diese Weise selbst sekundär mit Bedeutung angereicherten Bewegungen hineingenommen, also zu gegenstandsadäquaterem, »tieferem« praktischen Bewegungswissen. Daraus ergibt sich, daß wir die Relevanz von •Fertigkeiten« und »Fähigkeiten« beim Bewegungslernen keineswegs leugnen: Nur muß m.E. bei deren Konzeptualisierung und Erforschung von der Vorstellung ihres bloß •inneren« Erwerbs, Aufbaus o.ä. Abschied genommen, vielmehr müssen sie als Fertigkeiten/ Fähigkeiten zur praktischen Realisierung von Bedeutungen/Handlungsmöglichkeiten in meinen individuellen Bewegungen, also unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung zwischen vergegenständlichtem und subjektivpraktischem Bewegungswissen analysiert werden {s.u.). Mit der Konzeption des Fähigkeitserwerbs als Ausbildung von sprachlichen Superzeichen (»Schalten«), mit denen bestimmte Sequenzen automatisierter Fertigkeiten {Auskuppeln - einen anderen Gang einlegen - Einkuppeln) durch einen Bewegungsimpuls im ganzen abgerufen werden können, ist die Funktion von innersprachlichen »Selbstinstruktionen« o.ä. thematisiert, wie wir sie bei der Diskussion der mental-sprachlichen Situiertheit als K.onkretisierung der Lernintention herausgehoben haben. Explizit wurde dieser Problemkreis von Volpert {1971) behandelt, indem er die Relevanz von »Selbstinstruktionen« bzw. •Selbstbefehlen« für das sportliche Training
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Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
Mit der Annäherung an den benannten Qualitätsumschlag des Lernprozesses tritt also, indem die ,.zurückhaltenden« Widerständigkeiten und Grenzen meiner Bewegungen zunehmend überwunden bzw. neutralisiert werden, auch das darauf bezogene Problem meiner »Fähigkeiten« immer mehr in den Hintergrund. Mit dem benannten qualitativen Lernsprung sind dann generell die Lernintentionen nicht mehr auf den Erwerb von Fähigkeiten, sondern auf das Erreichen von Bewegungsmöglichkeiten und -erfahrungen gerichtet, denen gegenüber (mangelnde) Fähigkeiten gerade mit ihrer Ausbildung zum »verschwindenden Moment« werden, meine Fähigkeit-Unfähigkeit angesichts des Gewinns an bewegungsvermittelten Verfügungs-/Erlebnismöglichkeiten also sozusagen kein Thema mehr ist. Entsprechend erhalten mit einem solchen Qualitätssprung der Möglichkeit nach gekonnte, bedeutungserfüllte Bewegungen die neue Qualität einer Erfahrung des Überschreitern der »Erden·
schwere« des eigenen Körpers und der widerständig-stofflichen Außenwelt in quasi unvermittelter Umsetzbarkeit meiner Bewegungsintention. Dem gemäß erscheint mir bei dergestalt »gekonntem« Klavierspiel meine auf Bedeutungsadäquatheit gerichtete Gestaltungsintention als direkt - quasi unter Umgehung der Bewegung meiner schwerfälligen Finger und der Holz-DrahtFilz-Mechanik des Klaviers - in musikalisches Geschehen umsetzbar. Beim Tanz mag sich so die Erfahrung einstellen, daß ich mit meinen Bewegungsintentionen wirklich die »letzte Faser« meines Körpers durchdringe. Beim Hochsprung die Erfahrung, daß mein Körper meinem über die Latte geworfenen ,.Willen« unmittelbar hinterherfliegt. (Die Jazzrockgruppe Weather Report hatte für den angestrebten Zustand des ..Abhebens•, Von-SelbstLaufens, In-sich-Groovens ihrer Musik den kollektiven Ausruf parat: Wir fliegen - we fly). Solche Erfahrungen bedeutungshaft-erfüllter Bewegungen sind-angesichtsder Unaufhebbarkeit meiner personal-körperlichen Situiertheit - sicherlich niemals auf die Dauer durchzuhalten, sondern stellen immer nur zeitlich begrenzte ,.glückliche« Augenblicke oder peak experiences dar. Dennoch sind es eben diese Erfahrungen eines unvermittelten sinnlich-praktischen Gegenstandsaufschlusses, auf die nichtrestriktives, expansiv begründetes Bewegungslernen letztlich aus, d.h., worin es motiviert ist.
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Vorbemerkung Bei unserem damit hinter uns liegenden Versuch der Annäherung an die motorisch-mentalen Bezüge konkreter Lernhandlungen im lebenspraktischen Bedeutungskontext vom traditionellen Ansatz des Bewegungsiemens her wiesen wir zunächst auf, daß und in welcher Weise in den Bewegungskonzepten des »motor learning« bzw. der Handlungsregulationstheorie menschliche Bewegungen auf die physiologische bzw. operative Ebene reduziert werden. Von da aus explizierten wir dann anband unserer bisher - in Ausfaltung des Konzeptes der •subjektiven Lernproblematiken« - erarbeiteten subjektwissenschaftlichen Bestimmungen des Lernens schrittweise den umfassenden Kontext des Bewegungsiemens auf der Ebene von Bedeutungszusammenhängen, wobei sich zeigte, daß einerseits unsere vorher auseinandergelegte Grundbegrifflichkeit zur Erfassung lernenden Weltzugangs auch zur konzeptuellen Aufschließung des Bewegungsiemens taugt, andererseits aber dessen Spezifik sich aus dem Erfordernis adäquater Bewegungsumsetzung von Bedeutungen innerhalb der mit einer Lernproblematik jeweils angeschnittenen Lerngegenstände ergibt. Wenn wir nun die Annäherung quasi von der anderen Seite, vom verbalen Lernen her, versuchen, so hätten wir dabei ebenfalls an den entsprechenden vorfindliehen Konzepten, hier der kognitivistischen Gedächtnisforschung (wie wir sie früher dargestellt und als •Behalten/Erinnern« reinterpretiert haben) anzusetzen. Der von da aus zu entfaltende Argumentationsgang ginge dann quasi in die umgekehrte Richtung: Während für das Konzept des Bewegungsiemens dessen umfassenderer, mental-symbolische Momente einschließender Handlungs- bzw. Bedeutungszusammenhang zu eröffnen war, wäre das verbale Lernen bzw. Behalten/Erinnern gerade unter Einbeziehung des umfassenderen Handlungs-/Bedeutungskontexts gegenständlicher, sinnlich-praktischer, in irgendeinem Sinne •motorischer« Lebenstätigkeit theoretisch zu konzeptualisieren. Dazu müßten wir allerdings auch hier zeigen können, daß mit Hilfe unserer lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit derartige Beschränkungen überwindbar (und von da aus recht
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Grundbegrifllichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
eigentlich erst als solche ausweisbar) sind und so eine weiterführende Theoretisierung des verbalen Lernens bzw. Behaltens/Erinnerns im lebenspraktischen Kontext möglich wird. Unter solchen Vorzeichen soll im folgenden die kognitivistische Gedächtnisforschung wiederum aufgegriffen und der Versuch gemacht werden, diese über deren bereits früher von uns geleistete Reinterpretation hinaus weiterzuentwickeln.
Aufhebung der kognitivistischen Sprachimmanenz (Systemimmanenz): Mentale, kommunikative und objektivierende Modalität des Behaltens/Erinnerns Bei unserer Reinterpretation der kognitivistischen Gedächtnisforschung haben wir - nach konzeptueller Aufhebung der Hineinverlegung des Subjektstandpunktesins »System« (S.134ff)- deren verschiedene Bestimmungen schrittweise als Momente des »Behaltens/Erinnerns« im Kontext von Handlungsbegründungen expliziert, dabei zunächst die Speicherkonzeptionen als Verdinglichungen von begründeten Handlungen zurückgewiesen, sodann die als Speicherfunktionen mystifizierten Aktivitäten des »Kodierens«, des »Suchens«, der ..Rekonstruktion« etc. in ihrer Eigenart als begründete mentale Handlungen verdeutlicht, weiterhin die übliche äußerliche Gegenüberstellung von Behalten und Erinnern als ..inneren« Begründungszusammenhang entfaltet etc. Dabei stellte sich heraus, daß das von Craik & Lockart vorgelegte Konzept der Nerarbeitungsebenen« in seiner kritischen Stoßrichtung gegen die Mehrspeicher-Modelle teilweise von uns aufgegriffen und zur näheren Bestimmung des Behaltens/Erinnerns im Begründungsdiskurs herangezogen werden konnte. Im umfassenderen lerntheoretischen Kontext wiesen wir schließlich auf, daß »Behalten/Erinnern« generell als Lernen bei Dominanz der Gerichtetheit auf Permanenz des Gelernten betrachtet werden kann, womit auf einer ersten Ebene die Notwendigkeit der Integration der bisher weitgehend getrennten (bzw. nur äußerlich aneinandergereihten) Konzeptionen der Lern- und der Gedächtnisforschung hervorgehoben wurde. - Im ganzen gesehen, traten auf dem Hintergrund unserer subjektwissenschaftlichen Kategorialbestimmungen im Zuge der benannten Reinterpretationsversuche bestimmte prinzipielle Grenzen der kognitivistischen Gedächtnisforschung in Erscheinung, die auch durch deren begründungsanalytische Reinterpretation nicht zu überschreiten waren: Die konzeptuelle »Eingeschlossenheit« der Funktionen des Gedächtnisses bzw. des Behaltens/Erinnerns »in« das kognitive ..System« (einschließlich seiner Umwelt-Repräsentanzen), d.h. die bloße Sprachimmanenz {i.w.S.) dieses Ansatzes, womit die kategorial aufweisbare
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lebenspraktische Bezogenheit des Subjekts auf die »Wirkliche Welt« als Inbegriff gesellschaftlich produzierter sachlich-sozialer Bedeutungszusammenhänge/Handlungsmöglichkeiten theoretisch unerfaßt bleibt. Gerade diese grundsätzliche Beschränkung als Facette der Weltlosigkeit traditioneller Lernbzw. Gedächtnistheorien war es aber, deren Überwindung wir als wesentliche Aufgabe der von uns zu entwickelnden Lerntheorie hervorgehoben haben (vgl. S.151)- eine Aufgabe, der wir uns nun, nachdem unsere theoretischen Überlegungen bis zu dieser Stelle gediehen sind, problemzentriert zuwenden können. Dabei wird auch unsere frühere vorläufige Bestimmung des Behaltens/ Erinnerns als auf Permanenz gerichtetes Lernen schließlich in einer umfassenderen und konkreteren Verhältnisbestimmung aufzuheben sein. Um dafür den adäquaten Ansatz zu finden, vergegenwärtigen wir uns zunächst, worin die prinzipielle Vorannahme besteht, die sowohl der kognitivistischen Gedächtnisforschung wie ihrer Kritik durch das Verarbeitungsebenen-Modell wie auch unseren früheren Reinterpretationsbemühungen zugrundeliegt: Es ist dies die Voraussetzung einer begrenzten »Speicherkapazität« bzw. (allgemeiner ausgedrückt) begrenzten Aufnahmefähigkeit des Individuums hinsichtlich der Menge des jeweils Zu-Behaltenden. Nur aus dieser Voraussetzung begründet sich die Unterscheidung verschiedener »Speicher«, wobei der jeweils höhere Speicher für die Kapazitätsmängel des niedrigeren aufkommt und so die Notwendigkeit des Durchlaufs der Information vom sensorischen Register zum Kurzzeitspeicher und schließlich Langzeitspeicher plausibel gemacht werden kann. (Besonders deutlich wird diese Konstruktionslogik des Speicheraufbaus in der bekannten Gesamtdarstellung der kognitivistischen Gedächtnisforschung von Baddeley, 1979, der die »Grenzen des Gedächtnisses• zu einem wesentlichen Aufbauprinzip seiner Arbeit macht.) Im Konzept der Nerarbeitungsebenen« entfällt zwar die Annahme primärer Speicher, aber die Unterscheidung einer sensorischen, phonematischen und semantischen Verarbeitungsebene ist von der vorgängigen Speichereinteilung abgeleitet und impliziert ebenfalls die Voraussetzung begrenzter Kapazität, diesmal der jeweils niedrigeren im Vergleich zur höheren Ver· arbeitungsebene. Darüber hinaus ist die Annahme von Kapazitätsgrenzen hier auch in wesentlichen funktionalen Grundbegriffen enthalten: So ist im Zentralkonzept der »Kodierung• stets in irgendeinem Sinne die Reduzierung der Menge des Zu-Behaltenden durch übergeordnete Kennwerte o.ä. gemeint, was nur sinnvoll bzw. als subjektiv begründet ausweisbar ist, sofern man von einer begrenzten mentalen Kapazität, die derartige Reduzierungen erforderlich macht, ausgeht. Ähnliches läßt sich auch für andere Grundkonzepte in diesem theoretischen Kontext aufweisen. Wenn man nun an dieser Stelle die inzwischen von uns explizierte körper· liehe Situiertheit des Subjekts aufgrund seiner sinnlich-stofflichen Standort-
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gebundenheit in die Betrachtung zieht, so erscheint die der kognitivistischen Gedächtnisforschung (und ihrer Reinterpretation) zugrundeliegende Voraussetzung begrenzter mentaler Kapazität in einem prinzipiellen Zusammenhang. Es zeigt sich nämlich, daß man es hier offenbar mit einem Spezialfall dessen zu tun hat, was wir früher als den mentalen Aspekt der mit der körperlichen Situiertheit gegebenen letztlich unaufhebbaren Schranken meiner intentionalen Verfügungsmöglichkeiten heraushoben, wobei wir ja unter den darin liegenden »mannigfachen Widerständigkeiten jenseits meiner Verfügung« die begrenzte Fassungskraft meines Denkens bereits ausdrücklich erwähnten (vgl. S.254). Während wir also im vorigen Teilkapitel unsere begründungstheoretische Aufschlüsselung des Bewegungsiemens (qua Lernproblematik) als Konzeptualisierung der relativen Überwindung körperlicher Unverfügbarkeit meiner Bewegungen entwickelten, haben wir nunmehr, mit unserem Annäherungsversuch vom Behalten/Erinnern her, uns die relative Überwindung der aus begrenzter Fassungskraft herrührenden körperlichen Unverfügbarkeit meiner mentalen Handlungen zum Problem zu machen: So etwas wie »Gedächtnis«, •Behalten« o.ä. (in welcher näheren Bestimmung auch immer) wird ja für je mich, und von da aus für die Wissenschaft, überhaupt nur zum möglichen Thema, weil ich einerseits meine eigene Gegenwart und Vergangenheit nicht in all ihren Aspekten und Einzelheiten mental zur Verfügung habe, andererseits aber dennoch in den damit gesteckten Grenzen nach Maßgabe meiner Lebensinteressen und darin gegründeter Handlungserfordernisse eine relative Verfügung darüber anstreben muß. Demgemäß haben wir also im folgenden zu klären, wie im Kontext einer je bestimmten Lernproblematik die relative Aufhebbarkeit der sinnlich-körperlichen Schranken der Fassungskraft meiner mentalen Handlungen durch Strategien des Behaltens/ Erinnerns (und fernerhin: des Lernens im allgemeinen) theoretisch aufgeschlüsselt werden kann. Von da aus läßt sich der Ansatzpunkt für unsere Annäherung an den lebenspraktischen Kontext des Lernens vom als sprachimmanent bzw. »innermental« gefaßten Konzept des Behaltens/Erinnerns her genauer formulieren: Im Rahmen der kognitivistischen Gedächtnisforschung samt unserer bisherigen Versuche ihrer Reinterpretation wird davon ausgegangen, daß die relative Aufhebung der Kapazitätsschranken meiner mentalen Handlungen wiederum nur durch mentale Strategien des Behaltens/Erinnerns möglich sein kann, so daß das Konzept »Gedächtnis« (i.w.S.) sich allein auf •innerpsychische« bzw. »innersystematische« Prozesse (u.U. samt neurophysiologischer Korrelate) des einzelnen Individuums bezöge. Wir haben uns demgegenüber- auf dem Hintergrund unserer kategorialen Herausarbeitung der sinnlich-praktischen Bezogenheit des Subjekts auf eine gegenständlich-
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bedeutungsvolle Welt - zu fragen, ob eine solche Gleichsetzung von Behaltens-/Erinnernsstrategien mit innermentalen Strategien theoretisch tatsächlich zwingend ist, oder ob die benannte relative Überwindung der mentalen Kapazitätsschranken nicht vielmehr nur mittels Berücksichtigung auch gegen-
ständlich-praktischer Strategiekomponenten des Behaltens/Erinnerns adäquat theoretisierbar sein kann. Daraus ergibt sich im weiteren die Frage, wie dabei das Behalten/Erinnern mit umfassenderen, als Zugang zur sachlich-sozialen Welt gegenständlicher Bedeutungen verstandenen Lernhandlungen (einschließlich des Bewegungslernens) ins Verhältnis zu setzen ist. Um für die Entwicklung des damit umschriebenen Problems einen Anfang zu finden, setze ich an einem früher (auf S.123) dargestellten Beispiel für die Abhängigkeit der Anwesenheit von Information im »Kurzzeitspeicher« von aufmerksamkeitsbegleitetem Memorieren an (das ich hier etwas ausgestalte): Eine Telefonnummer, etwa 36 98 76, die lediglich im Kurzzeitspeicher enthalten sei, müsse ständig innerlich wiederholt werden und erzwinge, wenn sie nicht entfallen solle, alsbaldiges Wählen. Um verständlich zu machen, wie ein Individuum angesichts dieser instabilen Situation seine Intention realisieren mag, die Telefonnummer dauerhaft zu behalten, könnte man bestimmte, in diesem Zusammenhang vernünftige Behaltens-/Erinnernsstrategien diskutieren, wie wir sie bei Miller, Galanter & Pribram (1960) als Verfahren zur Planung der antizipierten Erinnerungsleistung kennengelernt haben, etwa »3, 6 und 9 ist das Einmaleins mit der 3, und von da aus eine Zahl abwärts, bis 6 Ziffern voll sind«. Nun wird aber, wenn man kurz darüber nachdenkt, deutlich, daß in lebenspraktischen Zusammenhängen kaum jemand zum Behalten von Telefonnummern solche oder ähnliche Strategien benutzt: Wenn mir z.B. am Telefon diese Nummer genannt wird, ziehe ich vielmehr mein Telefonverzeichnis heran und schreibe sie mir auf. Auch das vorgeblich fürs Kurzzeitbehalten unerläßliche innere Wiederholen der Nummer, bis ich das Telefonverzeichnis gefunden und einen Stift genommen habe, gehört hier keineswegs zu meiner gebräuchlichen Behaltensstrategie: Ich stelle vielmehr, sobald ich zum Notieren bereit bin, die etwa inzwischen verlorengegangene Wahrnehmungspräsenz der Nummer wieder her, indem ich nachfrage »also wie war die Nummer?« und sie dann im Zeitraum ihrer Präsenz aufschreibe (dabei nötigenfalls nochmals nachfrage). Diese Behalteosstrategie könnte also etwa als folgende Sequenz von Handlungsschritten dargestellt werden: Hören der Telefonnummer - Behaltensintention -+ Telefonverzeichnissuchen und aufschlagen, Stift zur Hand nehmen- Nachfragen nach der Nummer- die Nummer quasi im Diktat, im Zeitraum der Wahrnehmungspräsenz, aufschreiben o.ä.
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Die damit exemplifizienen externen, praktischen Behaltens-/Erinnernshilfen wurden -obzwar im Mainstream der kognitivistischen Gedächtnisforschung ignoriert- von alternativen Ansätzen bzw. vom Rand des Kognitivismus aus gelegentlich hervorgehoben. - So verwies z.B. Hunter (1979) in einer deskriptiv-kulturgeschichtlichen Studie auf mannigfache •memory aiding devices«, wie •social ritual or the written or taped or computerized records which Ioom so large in contemporary societies« (S.2). Morris ( 1979) hob alltägliche »Strategies of learning and recallc hervor, wobei er auch die mnemotechnische Funktion externer Gedächtnishilfen diskutiene. Graumann {1986) steuerte unter dem Stichwort »Ökologie des Gedächtnisses« eine mehr phänomenologische Analyse zu dem Problem bei etc. -Der genetische Aspekt des Gedächtnisses wurde von l..eontjew (1977, S.313ff) in einer ausführlichen Studie im Kontext der »kulturhistorischen Schule« herausgearbeitet und theoretisiert, indem aufgewiesen werden sollte, daß sowohl in der gesellschahlich-historischen wie in der ontogenetischen Dimension die äußeren Vermittlungen des Gedächtnisses (wie gegenständliche Erinnerungshilfen verschiedener Art) primitive Vermittlungsweisen darstellen, die bei der Entwicklung höherer Formen des Gedächtnisses »verinnerlichte werden. Seit Beginn der achtziger Jahre wurde von Schönpflug und Mitarbeitern, insbesondere Muthig, der •äußere« Aspekt des Behaltens und Erinnerns im Konzept des »externen Speichers« auf den Begriff gebracht. Die theoretischen Grundlagen für die in diesem Zu· sammenhang durchgeführten Untersuchungen beziehen sich einerseits auf handlungstheoretische Ansätze außerhalb des konzeptuellen Repertoires der kognitivistischen Gedächtnistheorien, stellen aber andererseits auch vielfältige Verbindungen zu der hier gängigen »Computersprachlichen« Begrifflichkeil her (vgl. etwa Muthig & Schönpflug 1980, Muthig 1984, Schönpflug 1986a,b,c, 1987a,b, 1988, 1990).
Die in den genannten Arbeiten diskutierten »externen« Behaltensweisen sind ersichtlich als bestimmte Komponenten innerhalb einer jeweiligen Behaltens-/Erinnernsstrategie zu betrachten und erhalten im Kontext der anderenKomponentenihre Funktion und ihren Stellenwert. Um dem terminologisch Rechnung zu tragen, reden wir deshalb in diesem Zusammenhang von verschiedenen Modalitäten, die im Rahmen einer Behaltensstrategie wechseln können, und unterscheiden gemäß unseren bisherigen Darlegungen drei Arten derartiger Behaltens-/Erinnernsmodalitäten, nämlich mentale, kommunikative und objektivierende Modalitäten (das Konzept »Modalität«, wie es hier verwendet wird, hat im übrigen nichts mit »Sinnesmodalitäten« o.ä. zu tun). Mit »mentalen Modalitäten« sind solche gemeint, in denen das Behalten/ Erinnern nur durch beachtungsgelenkte bzw. innersprachliche Veränderungen des eigenen Erfahrungsbestandes erfolgt, also durch Aktivitäten, wie sie traditionellerweise als »Einprägen«, »Kodieren« »Suchprozesse« etc. bezeichnet werden: Sie seien hier zunächst nur negativ durch den Hinweis bestimmt, daß dabei keine externen Behaltens-/Erinnernsmittel herangezogen werden (s.u.).
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Als •kommunikative Modalitäten« werden Behaltens-/Erinnernsaktivitäten bezeichnet, sofern ich mir dabei das Wissen oder die Kenntnis konkreter anderer Personen durch - mündliche oder schriftliche - Nachfragen, Appelle etc. nutzbar mache oder durch die Fragen/ Appelle an andere die Wahrnehmungspräsenz einer zu behaltenden/ erinnernden Gegebenheit herzustellen suche: So, wenn ich (wie im angeführten Beispiel) eine Telefonnummer erfrage, aber auch, wenn ich andere hinsichtlich bestimmter vergangener Ereignisse um Auskunft bitte, wobei ich (worauf Graumann hinwies, vgl. 1986, S.68) in diesem Kontext auch einen anderen bitten kann, mich bei bestimmter Gelegenheit an etwas zu erinnern. Man hat es hier offensichtlich mit einer Spielart des intersubjektiven •fragenden Lernens« zu tun, wie wir es schon früher, bei der Reinterpretation des »Modell-Lernens« (vgl. S.l12ft), erörtert haben (s.u.). Das Konzept •objektivierende Modalitäten« bezieht sich auf jede Form von äußerer Fixierung des Zu-Behaltenden, etwa auf das in unserem Beispiel benannte Notieren der Telefonnummer, aber natürlich auch längere schriftliche Aufzeichungen, Tonbandmitschnitte etc., sofern sie (etwa beim Protokollieren o.ä.) von der Intention des Verfügharrnachens in einer antizipierten Erinnerungssituation geleitet sind. In diesem Zusammenhang wäre dann auch auf die wichtige und immer wachsende Bedeutung von Computern in der Funktion des Haltbar- und Verfügharrnachens von Wissen zu verweisen: aber nicht, wie im Kognitivismus, als Modell, sondern als Mittel menschlicher Kognition, wobei dieser Mittelcharakter nur dann hinreichend erfaßbar und einzuordnen ist, wenn die Theorie selbst nicht in Computer.:fermini formuliert ist (vgl. S.135t). Mit derartigen Objektivierungen stelle ich quasi selbst die potentielle Wahrnehmungspräsenz des Zu-Behaltenden bzw. ZuErinnernden her, die ich dann, sobald erforderlich, durch Nachlesen, Abhören, Ausdrucken etc. für mich aktualisieren kann. Indessen mag man auch weniger ausgearbeitete Fixierungen, wie Merkzettel auf der Treppe, das Zurechtlegen eines Buches, das ich mitnehmen und in der Bibliothek abgeben will, dazu rechnen. - Wenn man die Erinnernsstrategien für sich betrachtet, gewinnt der Terminus »objektivierend« einen etwas anderen Bedeutungsakzent als im Kontext von Behaltens-/Erinnernsstrategien: Hier objektiviere ich meine Erinnerung in dem Sinne, daß ich auf vorhandene schriftliche Fixierungen, Dokumente unterschiedlicher Art, Abbildungen etc. zurückgreife, wobei auch der Bezug auf »Mementos« und »Memoranda«, wie sie Graumann (1986) umschrieben hat, in diesen Zusammenhang gehört. Nicht nur die kommunikative, sondern auch die objektivierende Modalität hat einen
sozialen Aspekt, indem die Objektivationen von mehreren Menschen hergestellt und genutzt werden können. Mit diesem Aspekt (der in der kognitivistischen Gedächtnisforschung vernachlässigt wird) hat Schönpflug sich im Kontext seines erwähnten, handlungstheoretisch beeinflußten Konzeptes des •externen Speichers« systematisch beschäftigt:
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Die externen Speicher überträfen, so stellt Schönpflug fest, •das interne Gedächtnis an sozialer Zugänglichkeit, sofern sie gemeinschafdich von mehreren Personen anzulegen und zu nutzen sind ... « (1987a, S.607). Aufgrund dieser Funktion würden externe Speicher, etwa als •Gesetzbücher, Schulbücher, Vertragsdokumente, Kulturfilme, Schlagerplatten zu Pfeilern des Soziallebens ... Sie schaffen soziale Sicherheit und sozialen Frieden- zwischen Zeitgenossen und über die Generationen hinweg• (Schönpflug 1987b, S.38). Muthig (1984) hat zu diesem Konzept eine stammesgeschichtliche Begründung beigesteuert, indem er (in faktischer Entsprechung zu Osterkamps Darstellung der Entwicklungsstufen des Verhältnisses •Festgelegtheit/Modifikabilität•, vgl. dies. 1975, S.135ff und S.236f) aufzuweisen versuchte, wie die sich zunächst ausschließenden Funktionen des •Artgedächtnisses« und des individuellen Wissenserwerbs sich in der Anthropogenese mit den Möglichkeiten der Werkzeugherstellung und -verwendung sowie damit vollziehbaren Vergegenständlichungen kognitiver Prozesse auf höherem Niveau integrieren, indem hier über die externe Speicherung die Permanenz des Artgedächtnisses und die Flexibilität des individuellen Gedächtnisses miteinander verbunden seien (vgl. dazu auch Schönpflug 1990).
Zur genaueren Kennzeichnung des Verhältnisses der drei damit herausgehobenen Modalitäten innerhalb einer Behaltens-/Erinnernsstrategie könnte man auf die Vorstellung einer Sequenz von einander ablösenden Modalitäten, wie sie von uns schon anläßlich des Telefonnummern-Beispiels verwendet wurde, zurückgreifen: Häufig mag sich hinsichtlich der Modalitätenfolge aus dem konkreten Handlungskontext eine An von •pragmatischer Ordnung« (Dingler) ergeben, durch welche es begründet/vernünftig erscheint, die verschiedenen Modalitäten in einer bestimmten Reihenfolge zu kombinieren, z.B. zunächst kurz nachzudenken und, wenn mir das Gesuchte nicht einfällt, erst nachzufragen und nur bei unzulänglicher Auskunft nachzuschlagen. Diese Sequenz mag sich aber ändern, wenn das Nachschlagewerk direkt vor mir auf dem Tisch liegt oder wenn mir niemand einfällt oder niemand für mich erreichbar ist, den ich über den kritischen Sachverhalt befragen könnte. Dabei sind u. U. durchaus auch vermittelte Sequenzen zwischen kommunikativen und objektivierenden Modalitäten von der Art subjektiv begründet, daß ich einen anderen anrufe und ihn bitte, in einem Handbuch, das ich nicht zur Verfügung habe, für mich etwas nachzuschlagen. - Dabei sollte man sich vergegenwärtigen, daß zwar jede Behaltens-/Erinnernsstrategie als solche vom handelnden Subjekt getragen wird und in dessen Welt- und Selbsterfahrung einbezogen ist, daß aber dezidiert »mentale« Strategiekomponenten (wie wir sie spezifizien haben) hier keineswegs notwendiger Bestandteil einer Strategie sein müssen. Dies läßt sich leicht am dargestellten Telefonnummern-Beispiel aufweisen: Die dabei angesetzte Sequenz des ,.ßehaltens« der Telefonummer enthält ja keine irgendwie geaneten mentalen Strategien, wie Wiederholen, Memorieren etc., sondern besteht lediglich aus einer Abfolge kommunikativer und objektivierender Modalitäten, wobei hier das
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erneute Erfragen der Nummer an die Stelle mentaler Behaltensakte getreten ist. - Allgemein gesehen wären typische Modalitätssequenzen aus der jeweils konkreten Lernproblematik und der sich daraus ergebenden Bedingungs-/ Prämissenlage für die übergeordnete Behaltens-/Erinnernsstrategie vom Subjektstandpunkt abzuleiten, indem intersubjektiv herausgearbeitet wird, welche Reihenfolge, Vermittlung, Abwechselung der einzelnen Modalitäten zur Bewältigung der Lernproblematik unter den jeweiligen Bedingungen/Prämissen begründbar ist. Dabei ist auch die strategische Berücksichtigung gewisser .. metakognitiver« Einsichten in die Grenzen bestimmter Modalitäten zu berücksichtigen, durch die das Einspringen einer anderen Modalität subjektiv zwingend wird (wenn ich mir jetzt keinen Merkzettel dafür hinlege, habe ich dies- erfahrungsgemäß- endgültig vergessen). Aus diesen letzten Darlegungen mag schon hervorgehen, daß im Konzept der Erinnerns-/Behaltensmodalitäten eine bestimmte An von Orientierungsmöglichkeit mitgedacht werden muß, die in der traditionellen Gedächtnisforschung nicht sichtbar wird: Ich muß nicht nur die jeweiligen kritischen Inhalte behalten bzw. erinnern können, sondern ich muß auch behalten/ erinnern, ob und wie ich innerhalb der verschiedenen Modalitäten mir
diese Inhalte verfügbar machen bzw. deren Wahrnehmungspräsenz herstellen kann. Schönpflug unterscheidet (in seinen angeführten Arbeiten) demgemäß in diesem Kontext zwischen »Zielwissen« und »Quellenwissen«.- Die Art des Zusammenhangs und der daraus sich ergebenden An des Behaltens dieser beiden Momente ist zu verdeutlichen, wenn man sich klar macht, daß das Behalten bestimmter Inhalte, etwa Silben, Worte, Sätze, unabhängig von deren »Träger« eine der Fiktionen der traditionellen Gedächtnisforschung darstellt: Tatsächlich behalte/erinnere ich mit dem jeweiligen Inhalt mehr oder weniger deutlich auch die Art und weise, in der dieser mir als Wahrnehmungstat· bestand entgegentritt, also etwa mit der Nachricht auch die Person, die sie mir überbringt, mit dem geschriebenen Text auch das Buch, in dem er steht (das Erinnern des Inhalts ohne den Träger- und umgekehrt- ist eher als Grenzfall zu betrachten). Man kann demnach am Zu-Behaltenden jeweils zwei verschie· dene Aspekte, dessen Inhalt und dessen Quelle, Träger, Herkunft unterscheiden. Dabei mag im Behaltensprozeß je nach dem funktionalen Zusammenhang innerhalb der übergeordneten Strategie durch Beachtungslenkung mehr Gewicht aufden Inhalt oder mehr Gewicht aufdie Herkunft des jeweils Zu-Behaltenden oder Zu-Erinnernden gelegt werden: Undenkbar ist aber eine Rezeption von Inhalten ohne deren Träger, da so der Inhalt quasi »in der Luft« hinge, also keine materielle, wahrnehmbare Realität hätte; ebenso die Rezeption einer ..Quelle« oder eines ..Trägers« ohne deren Inhalt, weil dieser so gar nicht als Träger/Quelle von irgendetwas (Inhaltlichem) identifizierbar wäre.
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Da ich also auf diese Weise immer mit meinem inhaltlichen Wissen auch Herkunfts- oder Quellenwissen erworben habe, kann ich beim Erinnernsprozeß »bei Bedarf« auch den genannten Herkunftsaspekt gesondert akzen· tuieren, mir also etwa zu vergegenwärtigen versuchen, von wem ich eine bestimmte Nachricht erhalten, in welchem Buch ich einen bestimmten Text gelesen hatte etc., um auf diese Weise von der bloß mentalen zur kommunikati· ven bzw. objektivierenden Erinnernsmodalität übergehen zu können. Dies wird für mich stets dann subjektiv begründet sein, wenn ich mich angesichts einer einschlägigen Lernproblematik durch Herstellung der Wahrnehmungspräsenz eines bestimmten Inhalts vergewissern will; das wiederum insbesondere dann, wenn mir der Inhalt nicht mehr recht verfügbar, wenn er verblaßt ist, ich ihn mehr oder weniger »Vergessen« habe (s.u.), mir aber dessen »Träger« oder »Quelle« noch vergegenwärtigen kann (oder mir etwa darüber Aufzeichnungen gemacht, Verzeichnisse verfügbar habe etc.): So kann ich in >>kommunikativem« bzw. »objektivierenden« Rückgriff auf die Quelle wiederum die Wahrnehmungspräsenz des verblaßten Inhalts herstellen und so meiner Erinnerung aufhelfen. - Vorausgesetzt ist dabei allerdings, daß mir der jeweilige Inhalt nicht total »entfallen« ist, denn dies würde bedeuten, daß ich auch nicht mehr feststellen könnte, was die Quelle oder der Träger gerade dieses Inhalts ist; mit anderen Worten, ich wüßte dann gar nicht mehr, was ich suche, und könnte es infolgedessen auch nicht finden. Häufig dürfte aber aus der speziellen Eigenart des Trägers bzw. der Quelle (der Person eines Auskunftgebenden, dem Titel eines Buches) ein mindestens globaler Hinweis auf dort möglicherweise zu aktualisierende Inhalte liegen, so daß das - u.U. über das Ausprobieren mehrerer Alternativen laufende - Wiederfinden des Gesuchten dadurch erleichtert wäre. In den bisherigen Darlegungen deutete sich schon an, daß die Konzeption übergreifender Behaltens-/Erinnernsstrategien, die Sequenzen mit unterschiedlichen Modalitäten enthalten, die Explikation übergeordneter, an der
antizipierten Erinnernsaufgabe orientierter Regulations· und Aktualisierungs· aktivitäten erfordert, durch welche der optimale Stellenwert der jeweiligen Strategiebestandteile nach dem Gesichtspunkt der Begründetheit/Vernünftigkeit innerhalb der Gesamtstrategie gefunden werden kann. Damit ist in diesem Problemzusammenhang die Ebene meiner Situiertheit zur Welt und zu mir selbst angesprochen, die wir früher als »mental-sprachliche Situiertheit« diskutiert haben. Dabei wurde von uns das »innere Sprechen« als »prozessierende« Erscheinungsform meiner Lernhaltung/Lernintention herausgehoben. Im Kontext unserer gegenwärtigen Diskussion der Behaltens-/Erinnernsaktivitäten erscheint dieses innere Sprechen nun als eine relativ selbständige »Metaebene« (etwa im Sinne des verbreiteten Konzepts des »Metagedächtnisses«, vgl. Flawell & WeBmann 1977), wobei die früher angesprochenen
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Selbstkommentare, Selbstaufforderungen, Selbstinstruktionen, an mich selbst gerichteten Fragen auf unterschiedliche Teiloperationen innerhalb der jeweiligen Behaltens-/Erinnernsstrategie bezogen sind: Solche inneren Sprechakte enthalten (wie gesagt) zwar auch immer den Aspekt derBeachtens-und Zuwendungsfixierung bzw. -Ienkung, sind aber darüber hinaus inhaltlich bestimmt und so dazu geeignet, auf spezifische Weise aktivierend, lenkend, artikulierend, klärend in den Strategievollzug des Behaltens/Erinnerns einzugreifen. Durch die Einbeziehung des inneren Sprechens scheint nun auch ein theoretisches Grundproblem des Behaltens/Erinnerns, das schon früher von uns angesprochen wurde, auf einer neuen Ebene diskutierbar: daß ich, um mich intendiert an etwas erinnern zu können, doch eigentlich schon wissen müßte, um was es sich dabei handelt; so wäre mithin das Resultat der Erinnernsaktivität für deren Möglichkeit bereits vorausgesetzt, womit man es hier mit einem Zirkel zu tun hätte. Schönpflug (etwa 1988) hat diesen Zirkel durch Rückgriff auf das Konzept der »Makrooperatoren«, wie es von van Dijk entwickelt wurde (vgl. van Dijk 1980 sowie Kintsch & van Dijk 1978) überwinden wollen: Demgemäß werden im Behaltensprozeß an einem Inhalt (hier an einem sprachlichen Text) wesentliche, konstituierende Züge, eben als .. Makrooperatoren« (die quasi ein mental-sprachliches Pendant zu den früher diskutierten ,.motorischen Superzeichen« darstellen), herausgehoben, womit einerseits das .. Gedächtnis« des Individuums von den Einzelheiten des jeweiligen Textes entlastet, aber andererseits anband der Makrooperatoren der gesamte Text bei Bedarf in einem »äußeren Speicher« identifizierbar und abrufbar sei. Um genauer zu erfassen, in welcher Weise so etwas (außerhalb des engeren Bereichs der Computer-Anwendungen) vom Individuum vollziehbar sein könnte, mag man das von uns früher dargestellte kognitivistische Konzept der »Abruf-Information« (..probe information«) reinterpretativ heranziehen: Danach wäre im Kurzzeit-Speicher diese »probe information« quasi als eine ,.frage« an das Langzeitgedächtnis gespeichert, wodurch selektiv bestimmte Informationen aus diesem aktiviert und per Eintritt in den Kurzzeitspeicher bzw. Arbeitsspeicher zugänglich bzw... bewußt« gemacht werden. Wenn man nun diese Vorstellungen ohne Computerjargon zu umschreiben versucht und dabei besonders die Mystifikation des Kurzzeitspeichers als ..Subjekt« von Fragen beiseiteläßt, so verdeutlicht sich die Strategie des intendierten Erinnerns als das von mir selbst vollzogene Herantragen bestimmter Fragestellungen an meinen eigenen latenten und zu aktualisierenden Wissens- bzw. Erfahrungsbestand, an andere, oder an bestimmte Objektivationen wie Bilder, Bücher, Dokumente. Solche Fragestellungen sind innerhalb der Ebene meines inneren Sprechens zu spezifizieren als eine Art von Schlüssel/ragen, die mir Zugang zu den gesuchten Inhalten verschaffen
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können. Dabei ist davon auszugehen, daß mir solche Schlüsselfragen im Zuge einer Erinnernsstrategie nicht von Anfang an klar und deutlich zur Verfügung stehen (damit wäre mir ja tatsächlich auch das Gesuchte bereits mehr oder weniger klar verfügbar), sondern sich in einer Art von aktualgenetischem Prozeß erst allmählich verdeutlichen und präzisieren: So werde ich mit Bezug auf meinen eigenen Erfahrungs- und Wissensbestand oder auf bestimmte Objektivationen zunächst gewisse mehr oder weniger globale Umschreibungen versuchen, Alternativen herausheben und verdeutlichen, »Hypothesen« aufstellen und verwerfen, um mich so im Durchgang durch meinen latenten Erfahrungsbestand oder etwa im Durchblättern eines Buches allmählich an das Gesuchte heranzutasten. Sofern ich in kommunikativer Modalität direkt einen anderen befrage, werde ich -sofern die Antwort zunächst noch an dem, was ich wissen will, vorbeigeht- den anderen (vernünftigerweise) ebenfalls durch weitere Annäherungsfragen, Präzisierungen etc. zu leiten versuchen. Dabei ist zwar irgendeine Ahnung darüber, an was ich mich eigentlich erinnern will, also quasi ein sehr blasser und globaler •Makrooperator« stets vorausgesetzt, das intendierte Erinnern selbst ist aber als ein Annäherungs· prozeß des Prüfensund VerwerJens zu explizieren, in welchem sich in Wechselwirkung mit dem Durchgang durch die Inhalte die Fragen erst allmählich präzisieren und so (im günstigen Falle) zu wirklichen •Schlüsselfragen« werden, auf die es dann nur noch eine Antwort gibt, die also diejenige Leerstelle genau markieren, die allein durch das Gesuchte gefüllt werden kann. Innerhalb solcher Annäherungsprozesse muß das Individuum denn auch mit den früher benannten, mehr oder weniger kurzzeitigen Erinnerungs· hemmungen fertig werden, durch welche mir Inhalte, die ich •eigentlich« weiß, gerade jetzt nicht •einfallen« wollen. In diesem Kontext sind (wie dargelegt) innerhalb der kognitivistischen Gedächtnisforschung besonders Erscheinungen der »Interferenz«, d.h. Hemmung der Reproduktion des Gesuchten durch Dazwischentreten eines konkurrierenden ähnlichen Inhalts, experimentell analysiert worden. Zur Überwindung solcher und anderer Hemmungserscheinungen müssen die jeweiligen Erinnerungsstrategien von den Individuen u.U. geradezu als Taktiken konkretisiert werden: Tricks, mit denen man sich selbst in die Lage bringt, daß Entfallene wieder faßbar zu machen. Sofern die Hemmung durch Fixierung der Beachtung auf einen interferierenden Inhalt zustandegekommen ist, aber auch bei vorübergehen· der Leere im Kopf, also den berühmten ·Black-Outs«, dürfte etwa als mentale Taktik eine Zurücknahme der Beachtungsintensität, Dezentrierung der Beachtung, ein inneres Sich-Zurücklehnen, Abstand und Übersicht gewinnen, u.U. die Blockierung überwindbar machen (vgl. unsere späteren Darlegungen über affinitives Lernen). Möglicherweise helfen auch präzisere Formulierungen einer Schlüsselfrage, um so zu einer Entflechtung der sich wechselseitig
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behindernden Inhalte zu kommen. Dabei mag aber auch hier ein Wechsel der Modalität die •vernünftigste« Lösung sein, so - wenn mir ein bestimmter Name entfallen ist- die Nachfrage beim anderen, •Du, wie hieß der noch, der mit dem roten Pullover?«, oder das Durchsehen einer einschlägigen Namensliste, in der Hoffnung, daß ich den entfallenen Namen, wenn ich ihn vor mir sehe, also anläßlich seiner Wahrnehmungspräsenz, schon wiedererkennen werde. In den damit umschriebenen fragengeleiteten Behaltens-/Erinnernsstrate· gien werden (vernünftigerweise) in den kommunikativen und objektivierenden Modalitäten immer wieder innerhalb verschiedener Zusammenhänge Wahrnehmungspräsenzen hergestellt und wird bei mentalen Modalitäten das Erfahrene auf seinen realen Ursprung, seinen Realitätsbezug, hin zu durchdringen versucht: Es muß mir in Verfolgung einer Strategie ja daran gelegen sein sicherzustellen, daß ich mich in der antizipierten Erinnernssituation auch an das »Richtige« erinnere, bzw. daß das, was ich im Erinnernsprozeß aktualisiert habe, auch »der Wahrheit entspricht«, also keine Täuschung ist. So gesehen enthält eine begründete Behaltens-/Erinnernsstrategie immer auch auf der Ebene des inneren Sprechens mehr oder weniger deutlich ein Moment der Selbstkritik bzw. der Quellenkritik: Irre ich mich auch nicht, wenn ich mich an das und das zu erinnern glaube? Sagt der andere auch die Wahrheit, kann er das überhaupt wissen, was er mir mitgeteilt hat? Sind die Informationen, die ich aus einem bestimmten Buch entnommen habe, auch zuverlässig? Gerade die über kommunikative oder objektivierende Modalitäten hergestellte Wahrnehmungspräsenz offenbart dabei eine eigentümliche Kulis· senhaftigkeit: Hinter der Wahrnehmungsevidenz einer bestimmten Quelle, wie einer Auskunft oder eines Textes, steht immer noch eine weitere Wahrnehmungsevidenzder nächsten Quelle, auf die sich die erste Quelle stützt. So ist auch die Authentizitätskritik des Zu-Erinnernden ein unabgeschlossener Aspekt des Prüfens, Verwerfens und vorläufigen Annehmens innerhalb der jeweiligen Strategie. Eine neue Widerspruchsebene ist mit Bezug darauf dann erreicht, wenn man widersprüchliche Gründe und Gegengründe, durch welche ich mir bei einer Erinnerungsstrategie bewußt-onbewußt selbst im Wege stehe, womit eine Erinnerungsblockierung den Charakter einer partiell intendierten Selbstblockierung erhält, in Betracht zieht: Vielleicht will ich mich (in der mentalen Modalität) an einen bestimmten Sachverhalt, den ich einerseits aktualisieren möchte, andererseits gar nicht erinnern, weil mir dies peinlich ist, ich die daraus erwachsenen Konsequenzen scheue o.ä. Vielleicht ist (in der kommunikativen Modalität) der andere interessiert daran, mich über einen bestimmten Sachverhalt im Ungewissen zu lassen oder gar zu täuschen; vielleicht gibt es (in der objektivierenden Modalität) ideologische Verflechtungen
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in einem Text, die ich - will ich ihn als Quelle verwerten - erst zu durchdringen hätte. Mit solchen »inneren Fragen« befinden wir uns ersichtlich im Umfeld defensiver Handlungs- bzw. Lerngründe bei mir selbst, bei anderen oder »gefroren« in bestimmten Objektivationen, womit unsere früheren einschlägigen Bestimmungen hier in einen neuen, komplexeren Zusammenhang zu stellen sind (s.u.). Gerade aus der Einbeziehung der Metaebene des inneren Sprechens dürfte sich unter allgemeineren Gesichtspunkten verdeutlicht haben, wie unzulänglich eine bloß mental-sprachliche Analyse von Behaltens-/Erinnernsprozessen in den Grenzen der kognitivistischen Gedächtnisforschung ist, aber auch, daß eine bloß zusätzliche Beschäftigung mit »externen Speieherne ohne Neufassung der gesamten Grundbegrifflichkeit diesen Mangel kaum heilen kann. Aus dem aufgewiesenen inneren Zusammenhang zwischen mentalen, kommunikativen und objektivierenden Modalitäten von Behaltens-Erinnernsstrategien ergibt sich, daß man von der gängigen Vorstellung, das »eigentliche« Behalten/Erinnern sei das »innere«, bloß »sprachlichec, »individuelle«, und alle anderen Aspekte seien bestenfalls zusätzlicher Art, Abstand nehmen muß: Der Behaltens-/Erinnensaspekt menschlichen Handeins und Lernens ist von vornherein auf die Komplementarität mentaler, kommunikativer und objektivierender Modalitäten angelegt. Dies tritt zugespitzt auch darin in Erscheinung, daß das innere Sprechen, insbesondere innere Fragen, obzwar als solches mentaler Art, genuin auf die Überschreitung bloßer Selbstbefragungen in Richtung auf die Befragung äußerer Instanzen zur Erweiterung, Differenzierung, Kritik der eigenen Erfahrungen gerichtet ist: Dies ergibt sich schon aus der transitiven bzw. sozialen Natur des Fragens selbst. So liegt in den an »mich selbst« gerichteten Fragen, wenn ich sie nicht beantworten kann, in sich schon die Tendenz zu deren Transformation in entäußerte, »laute« oder »schriftliche« Fragen, etwa an verallgemeinerte andere in den Objektivationen oder auch an konkrete andere in sozialer Kommunikation. - Da mit derart entäußerten Fragen ein - ob nun über Objektivationen vermitteltes oder in unmittelbarer Kommunikation realisiertes - intersubjektives Frage-Antwortspiel eingeleitet sein kann, verdeutlicht sich hier die Perspektive eines gemeinsamen Erinnerns, etwa indem wir im unmittelbaren Kontakt uns wechselseitig befragen, Dritte einbeziehen, Dokumente hinzunehmen, um in unserem gemeinsamen Interesse herauszufinden, wann etwas geschehen und wie es gewesen ist; oder indem - z.B. in historischer Analyse - im Medium von Objektivationen die Vergangenheit bestimmter sozialer Erscheinungen, Ideologien, Institutionen oder sogar eines ganzen Volkes »in Erinnerung gebracht« wird.
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Herstellung der Permanenz des Behaltenen: Eindringen in modalitätsübergreifende Bedeutungsstrukturen und Verweisungszusammenhänge Aus der Art und Weise, wie wir durch Explikation des Unterschiedes und Verhältnisses mentaler, kommunikativer und objektivierender Modalitäten die Sprach- bzw. Systemimmanenz der kognitivistischen Gedächtnisforschung überwinden wollten, ergeben sich nun nicht nur Konsequenzen hinsichtlich der theoretischen Fassung von Behaltens-/Erinnernsstrategien: Vielmehr müssen von da aus auch unsere früheren in Reinterpretation des Konzeptes •Langzeitgedächtnis« versuchten Bestimmungen der Herstellung von Permanenz, Dauerhaftigkeit des Behaltenen in umfassenderen theoretische Zusammenhängen betrachtet werden. Dabei haben wir uns zunächst zu vergegenwärtigen, daß wir bei einer solchen Konzeptualisierung der Dauerhaftigkeit des Gelernten (wie dargelegt) auf physiologische Hilfsannahmen irgendwelcher Art nicht zurückgreifen können: Unsere Erfahrungen stehen zwar in mehr oder weniger großem zeitlichen Abstand zu ihrem ersten Vollzug und gehören so mehr oder weniger lange zum personalen Bestand, wobei dies aber primär ein Charakteristikum ihres subjektiven Gegebenseins im Bezugssystem der Vergangenheitsperspektive darstellt. Somit ist zwar vom Drittstandpunkt die unspezifisch-hirnphysiologische »Seite« dieses Festgehaltenseins thematisier- und erforschbar, vom Subjektstandpunkt aber gibt es schlechterdings keinen Punkt innerhalb der Vergangenheitserstreckung unserer Erfahrungen, wo man deren Überwechseln vom phänomenalen zum physiologischen Status- etwa als Prägung irgendeiner »Gedächtnisspur« oder »Ablage« in einem »Speicher« - annehmen könnte. Ebensowenig ausweisbar ist die Annahme, daß im Zuge der Erinnerung bestimmte physiologische Spuren aktiviert oder Inhalte physiologischer (bzw. transphänomenaler) »Speicher« abgerufen werden (s.o.)- Daraus folgt aber die Voraussetzung, daß alles, an das wir uns je erinnern können, uns prinzipiell auch in unserer weit· und Selbsterfahrung gegeben ist, nur u.U. lediglich als eine Hintergrundserfahrung, die durch unsere Beachtung bzw. inneres Sprechen in verschiedenen zeitlichen Koordinaten herausgehoben und faßbar gemacht wird. Dies läßt sich phänomenal als Evidenz umschreiben,
daß ich jeweils mehr weiß oder »habe«, als das,
was ich gerade deutlich erfasse bzw. dem ich mich gerade zuwende: In dem Hinweis, daß ich einen Erfah-
rungsinhalt durch Beachtungslenkung, inneres Sprechen o.ä. aktualisieren kann, ist für mich gleichzeitig erfahrbar, daß ich ihn latent bereits hatte. Wie dabei das Verhältnis zwischen dem latent Gegebenen und dem bewußt Erinnerten zu fassen ist, d.h. was in oder mit meinem vergangenheitsbezogenen Erfahrungsbestand geschieht, wenn ich meine Erinnernsintention darauf
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richte, dies ist allerdings keineswegs offensichtlich, sondern bedarf sorgfältiger Klärung (worauf wir gegen Ende dieses Teilkapitels noch zurückkommen müssen). Um nun also das Problem der Permanenz des Gelernten vom Subjektstandpunkt, d.h. ohne neurophysiologische Versatzstücke, theoretisch zu entwickeln, setzen wir an einem Konzept an, das schon früher, bei der Theoretisierung der Dimensionen lernenden Weltzugangs, für uns bedeutsam war und seither in verschiedenen Problemzusammenhängen herangezogen wurde: Dem Begriffspaar »Flachheit-Tiefe«, wie wir es im Anschluß an Craik &:: Lockart zur Charakterisierung des durch Lernen zu erreichenden wachsenden Gegenstandsaufschlusses eingeführt haben (vgl. S.22lff): Dort wurde von uns dargelegt, daß die Flachheit.:fiefe zwar einerseits ein allgemeines Kennzeichen der (nach bestimmten Dimensionen differenzierten) Lernhandlungen vom Subjektstandpunkt ist, andererseits aber von der Tiefenstruktur des Lerngegenstands selbst, d.h. der Ausprägung verschiedener Vermittlungsebenen der in ihm vergegenständlichten Bedeutungskomplexe, abhängt. Dabei hatten wir zwar schon darauf hingewiesen, daß Craik & Lockart mit dem Konzept der ..Verarbeitungstiefe«, d.h. Intensität der Auseinandersetzung mit dem Material, die •Haltezeit« des Erinnerten im Langzeitspeicher erklären wollten: Dieser Aspekt wurde jedoch bei unserer Konzeptualisierung des lernenden Gegenstandsaufschlusses zunächst nicht aufgegriffen - ist aber in unserem gegenwärtigen Diskussionszusammenhang von zentraler Relevanz. Wenn wir mithin unsere früheren einschlägigen Darlegungen nunmehr unter dem Permanenz-Aspekt explizieren, so können wir feststellen: Die Dauerhaftigkeit wächst in dem Grade, wie das Zu-Behaltende per Tiefe des Ge-
genstandszugangs in schon vorhandene überdauernde Wissensstrukturen integriert werden kann: Damit wird es seiner Flüchtigkeit entkleidet und selbst Teil des überdauernden Wissensbestandes des Individuums. Einerseits führt also eine bestimmte Behaltensstrategie in dem Maße zu dauerhaften Erweiterungen unseres Wissens, wie am schon Vorgewußten übergreifende, eindeutige Zusammenhänge mit bereits vorhandenen Wissensbeständen expliziert oder hergestellt werden. Andererseits wird in einer so qualifizierten Behaltensstrategie das Vorgewußte selbst weiter durchstrukturiert und bereichert, so daß auf diese Weise in den folgenden einschlägigen Behaltensaktivitäten (zusätzlich zu dem jeweils nichtintentional Mitbehaltenen) die Dauerhaftigkeit des Behaltenen auf neuer Basis zu erhöhen ist, hier also ein kumulativer Prozif/ immer reicheren und differenzierteren Zusammenhangswissens möglich wird. Wenn wir nun, nach der Heraushebung verschiedener Modalitäten des Behaltens/Erinnerns, bei der Bestimmung solcher Zusammenhänge über die Annahme bloß mentaler Strukturen, etwa nach Art »Semantischer Netzwerke«,
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hinausgehen und auch kommunikative und objektivierende Modalitäten von Behaltensstrategien berücksichtigen, so können wir dem hinzufügen: Die erwähnten Zusammenhangsstrukturen als Resultat und Grundlage der Dauerhaftigkeit des Zu-Behaltenden sind als übergreifende Organisations· formen unseres mentalen, kommunikativen und objektivierenden Inhalts· und Quellenwissens aufzufassen, in welche der Aufbau und die Nutzbarmachung spezifischer Kommunikationsmöglichkeiten mit einschlägig Kundigen genauso einbezogen ist wie eine durchschaubare und verfügbare Organisation meiner objektivierenden Behaltensmittel. Daraus ergibt sich, daß auch die scheinbar bloß mentalen Wissensstrukturen keineswegs selbstgenügsam sind, sondern mannigfache Verweisungen auf kommunikative wie objektivierende Quellen und Wissensbestände enthalten, wie umgekehrt aus den kommunikativen und objektivierenden Organisationsformen mannigfache Verweisungen auf mentale Wissensbestände und Aktualisierungsmöglichkeiten entnehmbar sind. Es wird deutlich geworden sein, daß wir uns bereits mit diesen Darlegungen auf prinzipieller Ebene von den tradierten Vorstellungen des Gedächtnisses als »inneren« Besitzes, den der einzelne in seinem Bewußtsein (oder in seinem »Spurenbestand«) mit sich herumträgt, entfernt haben: »Gedächtnis« ist für uns eher ein Charakteristikum der historisch gewachsenen Lebenslage, in die der Reichtum und die Klarheit der Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner sozialen wie gegenständlichen Mitwelt als konstituierendes Moment eingehen. Damit verdeutlicht sich als umfassenderer Erfahrungshintergrund des so verstandenen Gedächtnisses gleichzeitig meine personale Situiertheit, wie wir sie als Moment der standortspezifischen Bestimmungen des Lernsubjekts herausgehoben haben: Das Gedächtnis ist so gesehen ein Moment der Vergangenheitsperspektive meiner biographisch gewordenen Weltbeziehungen, wobei darin einerseits meine Art des Erfahrungsgewinns und Weltwissens enthalten ist, was aber andererseits von meinen wirklichen, historisch-konkreten Beziehungen zu bestimmten Infrastrukturen der von mir unabhängigen sachlich-sozialen Realität nicht getrennt werden kann; wie all meine personalen »Fähigkeiten«, so akzentuiert sich dabei auch mein Gedächtnis als selbständiger Erfahrungstatbestand aus den aufgewiesenen Grenzerfahrungen, hier der Erfahrung einer Differenz zwischen dem, was mir in meinem Leben tatsächlich zugänglich war oder zugestoßen ist, und dem, was ich davon in meiner gegenwärtigen Situation (noch) verfügbar habe. Der Reichtum und die Klarheit meines (auch durch vorgängige Behalteosaktivitäten kumulativ entwickelten) überdauernden Inhalts- und Quellenwissens (als »Gedächtnis«) bestimmen (unter sonst gleichen Umständen) auch die Eigenart und Effektivität meiner permanenzbezogenen Behaltens-/Er· innernsstrategien: Je umfassender und differenzierter die Organisation meines
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modalitätsübergreifenden Inhalts- und Quellenwissens ist, desto stärker ist meine Beachtung bzw. die Formulierung von inneren Schlüsselfragen dadurch angeleitet, desto genauer kann ich also den in meiner Wissens- und Verfügungsstruktur enthaltenen Verweisungen innerhalb einer Modalität, von einer Modalität auf die andere, von Quellen auf Inhalte und umgekehn, nachgehen und so das Gesuchte zur Überwindung der gegebenen Lernproblematik identifizieren: So erreiche ich mit wachsender Tiefe des Gegenstandsaufschlusses (auf der jeweils durch die Lernproblematik selegienen Dimension) gleichzeitig eine erhöhte Permanenz des Gelernten. Je geringer dagegen der Organisationsgrad meines Vorgewußten im Umkreis des Zu-Erinnernden, desto eher werde ich mit meinen auf dessen Aktualisierung gerichteten Aktivitäten stagnieren, Blockierungen ausgesetzt sein, in Sackgassen geraten, mich im Kreis bewegen etc. und so auch die Dauerhaftigkeit des Zu-Behaltenden nicht erreichen können. -Damit zeigt sich also: Ich kann nicht nur um so »besser« Neues behalten, sondern auch um so leichter und präziser latent Gewußtes erinnern, je mehr ich vorgängig schon »weiß«, sofern »Wissen« hier in der dargestellten Art als modalitätsübergreifende Verweisungsstruktur verstanden wird; die Vorstellung, das Gedächtnis sei ein Gefäß, das zu voll sein könnte, um noch etwas darin aufzunehmen bzw. darin etwas zu finden, muß also auch in diesem Problemzusammenhang als irreführende Reifizierung zurückgewiesen werden. Hier gilt vielmehr umgekehn: Je mehr, desto besser. Zugespitzt läßt sich dies an der förderlichen Funktion von mehrfachen Verweisungen aus verschiedenen Kontexten auf den gleichen Inhalt, also quasi »Überdeterminationen« (um diesen psychoanalytischen Ausdruck hier in anderer Bedeutung heranzuziehen) verdeutlichen: Auf diese Weise ist das Zu-Behaltende quasi mehrfach veranken, vernetzt o.ä. und damit besonders dauerhaft, und läßt sich das Zu-Erinnernde von verschiedenen Seiten her »einkreisen« und so aktualisieren. Unter den damit herausgehobenen Gesichtspunkten fällt auch auf das Phänomen des ~rgessens neues Licht: Vergessen ist so gesehen nicht nur Hemmungen und Widersprüchen bei der Erinnerung von »eigentlich« Gewußtem geschuldet, auch nicht nur aus flüchtigen und oberflächlichen Bezügen des Zu-Erinnernden zu den Strukturen des Vorgewußten verständlich: Auch Inhalte, die einst fest verankert und dauerhaft verfügbar waren, können wieder verloren gehen, nämlich dann, wenn durch Änderungen oder Um· brüche meiner personalen Situation die vorher aufgebauten Strukturen kommunikativer Frage- und Auskunftsmöglichkeiten und/ oder objektivierender Mittelorganisation zerstört oder desintegriert wurden. Auf diese Art können mir nicht nur die Verweisungswege abhanden gekommen sein, mit welchen ich bisher auf das Gesuchte zu kommen pflegte: Sogar die Inhalte selbst, deren dauerhafte Existenz für mich ja in gewisser Weise mit ihrer
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Bestimmtheit durch die modalitätsübergreifenden Zusammenhangsstrukturen identisch ist, können verloren sein: Meine verbliebenen bloß mentalen Verweisungsansätze hängen damit quasi in der Luft, bestehen aus lauter losen Enden, haben ihren Gegenpart eingebüßt und sind so funktionslos geworden. - Damit zeigt sich, daß die dargestellte kognitivistische Auffassung von der ..unbegrenzten Haltezeit« des »Langzeitspeichers« (vgl. S.122ff) problematisch ist, weil dabei (in der dargestellten Weise) bloß mentale Prozesse des isolierten Individuums in Rechnung gestellt sind: Die Dauerhaftigkeit des von mir Behaltenen/Erinnerten ist in unserer Sicht als abhängige Größe des Reichtums und der Geordnetheit meiner sozial und sachlich bedeutungsvollen Weltbeziehungen in der Vergangenheitsperspektive meiner personalen Situiertheit mit diesen entwickelt und kann mit deren Desintegration wieder abnehmen oder verloren gehen. Die Entwicklung oder Rekonstruktion meines »Gedächtnisses« ist so gesehen gleichbedeutend mit der Entwicklung/ Rekonstruktion meines Lebens- und Arbeitszusammenhanges, innerhalb dessen meine bloß mentale Wissensorganisation einen unselbständigen Teilaspekt darstellt. In unseren vorstehenden Überlegungen haben wir zunächst die Permanenz des Gelernten im Anschluß an frühere Reinterpretationen des Konzeptes» langzeitspeichere auf allgemeiner Ebene weiterführend theoretisch konzeptualisieren wollen. Wieweit sind nun aber auch die im Alltag gängigen und wissenschaftlich aufgegriffenen Unterscheidungen verschiedener Arten von »Gedächtnis«, insbesondere die populäre Unterscheidung zwischen »epi· sodischem« und »semantischem Gedächtnis« (als verschiedenen Formen von »Langzeitspeichern«) in diesem Kontext theoretisierbar?- Zur Klärung dieser Frage schließen wir an unsere früheren Darlegungen an, in denen aufgewiesen wurde, daß primäre Gedächtnis-Einteilungen wie die Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis als solche begriffliche Reifizierungen darstellen, die im Rahmen unseres theoretischen Ansatzes begründungsanalytisch reinterpretiert werden müssen. Von da aus bietet es sich im Einklang mit früheren einschlägigen Reformulierungen an, auch die scheinbar »im« Individuum fixierten Gedächtnisarten als (ins Individuum hineinverlegte) typische Lernproblematiken aufzufassen. In der Tat ist, wenn man einmal darauf reflektiert, (bereits vor genaueren begrifflichen Spezifizierungen) die Lesart begründungstheoretisch evident, daß im »episodischen« Kontext das Subjekt mit der Problematik konfrontiert sein mag, sich an bestimmte raumzeitlich fixierbare Ereignisse in seiner personalen Vergangenheitsperspektive nicht erinnern zu können, während es sich im »semantischen« Kontext vor der Problematik sehen könnte, etwa die ihm gegenwärtig nicht klare Bedeutung eines Begriffes erfassen zu sollen o.ä. Von da aus versteht es
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Grundbegrifllichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
sich von selbst, daß das Subjekt zur Überwindung der ,.episodischen« Problematik und zur Überwindung der ,.semantischen« Problematik gute Gründe hat, auch unterschiedliche Erinnernsstrategien, etwa die dargestellten » raumzeitlich orientierten Suchprozesse« bzw. den Durchgang durch begriff. liehe Klassifikationssysteme o.ä., in Anschlag zu bringen. Das gleiche gilt fUr die vorgängigen Behaltensstrategien, in welchen die Problematik, in einer antizipierten Erinnerungssituation sich an einen raumzeitlich zu ortenden Sachverhalt bzw. an bestimmte sprachliche Bedeutungszusammenhänge nicht erinnern zu können, zu überwinden ist (was durch Explikation der jeweilig konkreten Lerndiskrepanz und der daraus sich ergebenden relevanten Dimensionen der Gegenstandsannäherung genauer aufzuschlüsseln wäre). Es kann also (um dies noch einmal zusammenzufassen) hier nicht darum gehen, sich mit der Heraushebung verschiedener Gedächtnisarten zufriedenzu. geben, sondern diese als per Selbst- und/ oder Fremdattribution ..vereigenschaftete« typische Lernproblematiken weiter zu analysieren. Dabei wäre zunächst differenzierend in Rechnung zu stellen, daß auch innerhalb der als Lernproblematiken aufgeschlüsselten episodischen bzw. semantischen Gedächtnisform, wenn daran bestimmte Dimensionen verändert sind, andere Strategien mit Bezug darauf vernünftig/begründet sein können. So geht etwa aus der früher dargestellten Untersuchung von Craik & Jacoby (1975) hervor, daß im episodischen Kontext bei relativ geringem zeitlichen Abstand zwischen Behaltens- und Erinnernssituation ..rückwärtsgerichtete serielle Suchprozesse« als Erinnernsstrategien begründbar sind, während bei länger zurückliegender Behaltenssituation derartige Suchprozesse wegen der Unvollständigkeit der raumzeitlichen Verweisungsstrukturen nicht mehr möglich sind und demgemäß »Rekonstruktionsprozesse« einspringen müssen, mit welchen das gesuchte Ereignis quasi aus den vorhandenen Verweisungsansätzen erschlossen wird. Dies ist nach Craik & Lockart um so leichter möglich, je ,.tiefer« das Prozeßniveau der Behaltensaktivitäten, d.h. (in unserer Begrifflichkeit) je reicher und umfassender der modalitätsübergreifende Verweisungszusammenhang war, in den das Zu-Behaltende einbezogen wurde. Weiterhin wäre zur genaueren Aufklärung des theoretisierbaren Gehalts der Unterscheidung des episodischem vom semantischen Gedächtnis auf allgemeinerer Ebene zu reflektieren, wieweit Behaltensstrategien, in denen Situationen raumzeitlicher Orientierungsnotwendigkeiten antizipiert werden und Behaltensstrategien aufgrund der Antizipation von Notwendigkeiten der Verfügbarkeit begrifflicher Bestimmungen oder Zusammenhänge tatsächlich prinzipiell verschiedene Strategietypen darstellen, die auf grundsätzlich unterschiedliche Typen bzw. Dimensionen von Lernproblematiken verweisen. Dafür mag sprechen, daß raumzeitliche Orientierungen und
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begriffliche Bestimmungen tatsächlich in gewisser Weise »Orthogonal• zueinander stehen, d.h. kaum auf einander überschneidende Wissens- und Verweisungsstrukturen beziehbar sein könnten. Dagegen spricht, daß schließlich auch raumzeitlich »Gesuchtes«, wenn es aufzufinden sein soll, begrifflich identifizierbar sein muß; ebenso, daß aufgrund des Zueinanders von Inhaltsund Quellenverweisungen auch Begriffe nur bei Mitvergegenwärtigung ihrer jeweiligen raumzeitlich ortbaren Quellen oder Träger zu behalten oder zu erinnern sein mögen etc. Die Unsicherheit solcher Erwägungen verweist einmal mehr auf die Notwendigkeit einer umfassenden Typologie von Lernproblematiken mit klaren Bestim~.ungen des Verhältnisses der verschiedenen Typen, der Dimensionen ihrer Ahnlichkeiten und Unterschiede: Die Resultate dieser Art von »Aufgabenanalyse« wären an die Stelle der traditionellen Gedächtniseinteilungen, der Unterscheidung zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis wie anderer gebräuchlicher Differenzierungen, zu setzen, womit auch hier die reifizierende Abschneidung weitergehender Intentions- und Prämissenklärungen überwindbar wäre. Wie aber könnte man unter diesen Gesichtspunkten die Eigenart und das Zustandekommen individuell unterschiedlicher Behaltens- und Erinnerungsleistungen in verschiedenen Bereichen ohne Rückgriff auf die alltagspsychologische und wissenschaftlich stilisierte Annahme eines mehr oder weniger »guten« bzw. »schlechten Gedächtnisses« auf diesem oder jenem Gebiet aufzuschlüsseln versuchen? Um hier weiterzukommen, beziehen wir uns wiederum auf das in der Kognitiven Psychologie und Handlungsregulationstheorie gebräuchliche Konzept der »Automatisierung« und versuchen, ihm im gegenwärtigen Problemzusammenhang einen neuen begründungstheoretischen Gehalt abzugewinnen: Automatisiert oder besser routinisiert wären in diesem Kontext bestimmte Behaltens-/Erinnernsstrategien, soweit sie ohne
neuerliche Reflexion des Gegebenseins ihrer Begründetheitsprämissen zur Bewältigung neuer Lernproblematiken verwendet werden: Man hält es in solchen Fällen - aufgrund der mehr oder weniger bewußten Voraussetzung, daß die neue Problematik einem bereits bekannten, auf diesem Wege erfolgreich bewältigten Typ zugehört - nicht für erforderlich, noch eigens zu überprüfen, wieweit die Prämissen, unter denen die zur Frage stehende Strategie bisher erfolgreich war, in der neuen Problematik nun auch tatsächlich vorliegen. Dabei ist einerseits festzuhalten, daß selbstverständlich auch solche Argumentationsfiguren subjektiv begründet sind: Man sieht hier eben keinen vernünf tigen Grund, die Prämissenlage jedesmal eigens zu überprüfen. Andererseits aber ist mit einer solchen Routinisierung von Behaltens-/Erinnernsstrategien immer auch die Gefahr verbunden, angesichts bestimmter Problematiken, deren Prämissenstruktur zu klären man nicht für erforderlich hielt, unteroptimale oder gar verfehlte Strategien in Anschlag zu bringen. Damit
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haben wir es hier mit einer Widerspruchssituation zu tun, die es im Rahmen von Behaltens-/Erinnernsstrategien angesichtsneuer Problematiken immer neu aufzulösen gilt: Wieweit kann ich bereits Erprobtes auf die neue Problematik übertragen, und wieweit muß ich von Grund auf neu an diese heran. gehen? Da dieser Widerspruch, wie ersichtlich, niemals endgültig zu beseitigen ist, werde ich notwendigerweise mehr oder weniger ausgeprägte Routinen dieser Art entwickelt haben, durch welche ich einerseits bestimmte Vorteile habe, durch welche es aber andererseits auch, per unreflektierter Akzentuierung oder Fixierung bestimmter Strategieformen, bei gewissen Lernproblematiken zu Bewältigungsschwierigkeiten kommen muß. Nehmen wir z.B. an, ich hä~~e angesichtsvon Lernproblematiken, deren Überwindull& im Wiederfinden bestimmter Ortlichkeiten, einer Straße, eines Hauses oder des Autos im Parkhaus besteht, die Strategieroutine entwickelt, mich hier auf die kommunikative Modalität zu fixieren, d.h. jeweils andere zu fragen, wo es lang geht, wo dieses oder jenes sich befindet etc. - und zwar besonders solche Personen, von denen ich annehme, daß sie, anders als ich, normalerweise auf die jeweiligen Örtlichkeiten achten werden: Für diesen Fall wäre ich immer dann schlecht dran, wenn die erwarteten Prämissen in einer bestimmten Problematik nicht gegeben sind, wenn also derjenige, den ich zu fragen pflege, nicht da ist, der Befragte ausnahmsweise selbst nicht "aufgepaßt« hat und mir den falschen Weg weist o.ä.; dennoch mag diese Fixierung (obzwar nicht verallgemeinerbar) für mich ,.im großen und ganzen« funktional sein. Ähnliches mag man sich hinsichtlich der Fixierung auf die objektivierende Modalität beim Behalten/Erinnern von Namen, Telefonnummern etc. ausmalen. Darüber hinaus sind hier natürlich auch modalitätsinterne bzw. modalitätsübergreifende Fixierungen denkbar, etwa die Routine des ·Diagonallesens« von Büchern zur Einprägung ihres Inhalts, die bei Texten mit entwickelnder Darstellung, schrittweiser Einführung einer neuen Terminologie o.ä. fehlschlagen muß. Bei all derartigen Fixierun· gen wird es, wenn es sich um relativ überdauernde Routinen handelt, zwangsläufig auch zu mehr oder weniger ausgeprägten Brüchen oder Lücken innerhalb der modalitätsüber· greifenden Verweisungsstrukturen meines Inhalts· und Quellenwissens kommen.
Sofern ich nun - etwa im Experiment oder in der Schule - in Situationen gebracht werde, wo die Prämissen für die Effektivität der jeweiligen Strategieroutinesystematisch entzogen sind (etwa, indem ich grundsätzlich niemanden fragen oder nirgends nachschauen darf, mir die Zeit für bestimmte Strategieformen nicht zur Verfügung steht etc.) so ergibt sich aufgrund der dar· gestellten üblichen Reifikationstendenzen leicht das Bild: Ich habe ein »schlechtes Gedächtnis« für diesen oder jenen Sachverhalt, etwa ein schlechtes Ortsgedächtnis, Namensgedächtnis, Gedächtnis bei der Textrezeption, oder auch - globalisiert - »episodisches« bzw. »semantisches Gedächtnis«. Mein »schlechtes Gedächtnis« würde sich hier also für mich als die Kehrseite bestimmter normalerweise erfolgreicher Strategieroutinen entpuppen, ist aber in jedem Falle als Verkennung von Widersprüchen im Verhältnis zwischen
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Lernproblematiken und dazu angesetzten Behaltens-/Erinnernsroutinen eine reifizierende Verstellung der wirklichen Problemlage Damit wird auch klar, daß das vorgebliche schlechte Gedächtnis keineswegs eine (wie immer entstandene) persönliche Eigenschaft ist, sondern vom Subjektstandpunkt bzw. Standpunkt verallgemeinernder subjektwissenschaftlicher Forschung - wo nötig - d\lrch die Aufhebung der fixierenden Strategieroutinen, d.h. deren Umorganisation aufgrundpräziserer Prämissenanalyse von Lernproblematiken und der dadurch möglichen adäquateren Typisierungen von Problematiken und Strategien überwindbar werden kann. Dies schließt ein, daß die von mir als Aspekt meiner personalen Situiertheit erfahrenen einschlägigen ,.Fähigkeits•-Grenzen von mir reflektiert und problematisiert werden müssen, um dergestalt durch die Überwindung solcher Fixierungen und Beschränkungen mich und andere davon zu überzeugen, daß sie noch »diesseits« der unaufhebbaren Grenzen meiner personalen Verfügungsmöglichkeiten, hier: über meine früheren Erfahrungen und Widerfahrnisse, liegen (vgl. S.266f). Die Perspektive der Aufhebung unangemessener Routinen durch neuerliche Prämissenreflexion besteht jedoch dann nicht (mindestens nicht unmittelbar), wenn ich bisher nicht nur keinen Grund sah, angesichts neuer Problematiken die alten Strategieprämissen zu hinterfragen, sondern wenn ich - warum auch immer - positive Gründe dafür habe, die Prämissen bestimmter Behaltens-/Erinnernsstrategien nicht zu hinterfragen. Mit solchen zirkulären Begründungsfiguren, innerhalb derer das Unhinter/ragtlassen der »Vernünftigkeit« von Strategien selbst als »vernünftig« erscheint, habe ich mir selbst den Zugang zu meinen eigenen einschlägigen Handlungsgründen verbaut, man hat es hier also mit einer Art von »Double bindcc-Situation oder »Begründungsfalle« zu tun, durch welche Blockierungen von Behaltens- bzw. Erinnernsprozessen selbst immer wieder aktiv hergestellt werden. Es ist klar, daß wir uns mit solchen Überlegungen auf das Problem der Bedeutung von Abwehr- und Verdrängungsprozessen im KonteXt von Behaltens-/Erinnernsaktivitäten als Bestimmungen defensiv begründeten Lernens zubewegen. Als Beispiel im gegenwärtigen Problemzusammenhang nehme man etwa die verbreitete Art der Rezeption wissenschaftlicher Texte, die man als defensives Lesen bezeichnen könnte: Jene Art des ·kritischen« Um· gangsmit einem Buch oder einem Artikel unter dem dominanten Gesichtspunkt der Ent· deckung seiner Fehler und Schwächen, durch welche selektiv und aus dem Zusammenhang gerissen nur das zur Kenntnis genommen wird, aus dem die Unbrauchbarkeit des Textes oder sogar die generelle Inkompetenz des Autors zur Bearbeitung seines Themas hervorzugehen scheint. Hier ist (indem man sich unreflektiert der Konkurrenzförmigkeit wissenschaftlicher Kommunikation unter unseren gesellschaftlichen Verhältnissen über· läßt) die Möglichkeit, daß ich aus dem Buch oder Artikel (u.U. trotzbestimmter Fehler und Schwächen) lernenden Aufschluß über den behandelten Gegenstand gewinnen könnte, von vornherein ausgeschlossen: Statt derartiger expansiver Lerngründe habe ich vielmehr nur in defensiver Weise ein Interesse daran, durch öffentliche Kundgabe meiner •Kritik«
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Grundbegri./Jlichkeit einer subjektwissenschaftlichen Irmtheorie
mögliche Bedrohungen meiner eigenen wissenschaftlichen Vorstellungen abzuwenden, der •Konkurrenz« die Legitimation zu entziehen, so mein wissenschaftliches •Profile, dem ich meine berufliche und materielle Existenz verdanke, abzusichern und aufzuwenen - dies als wechselseitige Behinderung/Selbstbehinderung wissenschaftlicher Produktivität, versuchte Entmutigung des Betroffenen und Verwirrung Dritter, wie sie als •dynami. sche« Sabotage des Wissenschaftsfortschritts über weite Strecken den Umgang der Angehörigen bestimmter ..Wissenschaftlergemeinschaftenc charakterisieren (was natürlich viel genauer zu belegen und zu analysieren wäre).
Damit verdeutlicht sich auch das Problem der Überwindung derartiger dynamischer Blockierungen als ein besonderer Fall des früher diskutierten Problems der Möglichkeit •qualitativer Lernsprünge« zur Aufhebung defen· siv begründeter Lernprinzipien: Defensive Behaltens-/Erinnernsstrategien sind eben (gemäß unserer Bestimmung des Behaltens/Erinnerns als Lernen unter Dominanz der Permanenzintention) als eine bestimmte Erscheinungsform defensiv-selbstbehindernden Lernens überhaupt zu verstehen, so daß auch unsere früher erarbeitete Begrifflichkeit zur Analyse der Möglichkeitsvoraussetzungen qualitativer Lernsprünge darauf beziehbar ist (was hier nicht mehr näher ausgeführt werden soll).
Zum Verhältnis von Lernen und Behalten/Erinnern: Spezifizierung von Lernproblematiken als Behaltens-I Erinnernsproblematiken Wenn wir nun unseren bisherigen Argumentationsgang zur Annäherung an den lebenspraktischen Kontext des Lernens vom verbalen Lernen bzw. Behal· ten/Erinnern her überblicken und mit den (im Teilkapitel davor versuchten) Annäherungsbewegungen vom motorischen Lernen her vergleichen, so zeigt sich einerseits, daß die dabei schließlich resultierende Begrifflichkeit zur Aufschlüsselung der jeweiligen Besonderheiten von Lernhandlungen im einen und im anderen Falle keineswegs identisch ist: Dies war allerdings auch nicht zu erwarten, weil die jeweiligen »Ansatzstellen«, das Konzept des •motor learning« und die kognitivistische Gedächtnisforschung, keine rein systematische Gegenstellung markieren, sondern auch von lediglich realhistorischen Zügen geprägt sind, womit die von da aus zu gewinnenden Aus- und Anschnitte der lebenspraktischen Lernverhältnisse ebenfalls in gewissem Maße historisch zufällig sein müssen. Andererseits aber läßt sich, wir mir scheint, dennoch eine bestimmte gemeinsame Tendenz der einen wie der anderen Argumentationsbewegung und Begriffsentwicklung aufweisen. Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Rekonstruktion der lebenspraktischen Bezüge des Lernens gegenüber dessen vorfindlieber
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theoretisch-experimenteller Isolierung im einen wie im anderen Falle die Einbeziehung bestimmter Aspekte der übergreifenden sachlich-sozialen Bedeutungsstrukturen, wie wir sie vorgängig kategorial aufgewiesen haben, in unsere theoretischen Konzeptualisierungen erforderlich machte. Beim Ansatz am motorischen Lernen war dies die Thematisierung der Bedeutungsbezüge, durch welche die Inhaltlichkeit menschlicher Bewegungen überhaupt erst faßbar wurde: Auf diesem Hintergrund konnte das Bewegungslernen aus dem Kontext der umfassenderen Bedeutungsbezüge, deren Aspekt die in Bewegungen umsetzbaren Bedeutungen darstellen, verstanden werden. Beim Ansatz am Behalten/Erinnern erwies sich schon bei der ersten Konfrontation der einschlägigen kognivitistischen Konzepte/ Anordnungen mit Behaltens-/Erinnernsstrategien im lebenspraktischen Kontext, daß die gängige Beschränkung von »Gedächtnisc-Prozessen auf innermentale bzw. sprachimmanente Prozesse die Praxis des Behaltens/Erinnerns verfehlen muß, so daß die Erweiterung der bloß mentalen Strategien um »kommunikative« und »objektivierende« Strategiekomponenten für uns theoretisch zwingend wurde. Bei etwas genauerem Hinsehen zeigt sich nun, daß damit noch in einem spezielleren Sinne auf eine Konvergenz unserer beiden Annäherungsbewegungen vom motorischen Lernen bzw. Behalten/Erinnern her verwiesen ist. Diese ergibt sich daraus, daß mit der Explikation der kommunikativen und der objektivierenden Modalität des Behaltens/Erinnerns eine dabei erforderte Ausführung von Körperbewegungen mehr oder weniger eindeutig mitgemeint sein mußte. So ist schon in unserem dazu eingeführten Beispiel die dort benannte intermodale Sequenz des Behaltens/Erinnerns einer Telefonnummer dadurch gekennzeichnet, daß ich dabei u.a. das Telefonverzeichnis heranziehe, einen Stift zur Hand nehme, mir die Nummer aufschreibe etc. Allgemeiner gesehen ist (wie auch aus den dazu angeführten Arbeiten über externe, praktische Behaltens-/Erinnernshilfen ersichtlich} die objektivierende Modalität geradezu dadurch spezifiziert, daß darin Körperbewegungen eingeschlossen sind, sei es, indem ich selbst in sinnlich-materiellen Handlungen bestimmte Zeichen produziere oder Spuren hinterlasse, sei es, daß ich bestimmte schon vorliegende Objektivationen für mich (durch Herstellung von Wahrnehmungspräsenz} verfügbar mache (etwa ein Buch zur Hand nehme, darin blättere o.ä.}. Auch in der kommunikativen Modalität sind die Vorkehrungen zur Herstellung der Kommunikation kaum anders denn als Körperbewegungen irgendwelcher Art zu denken, und zwar nicht nur als Sprechbewegungen o.ä., sondern als Hingehen, Sich-Zuwenden, das Telefon bedienen etc., um sich in bestimmter Weise für die Realisierung der Kommunikation körperlich-sinnlich »in Positur« zu bringen. An dieser Stelle mag man einwenden, mit den damit angeführten Körperbewegungen handle es sich doch durchgehend um das, was von uns früher
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Grundbegrifjlichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
(auf S.280ff) als »Hilfsbewegungen« zur Ermöglichung motorischer oder mentaler Lernprozesse diskutiert wurde, nicht aber um eigentliche Bewegungshandlungen, wie sie in unserer Annäherung vom motorischen Lernen (gerade in Abgrenzung von den Hilfsbewegungen) diskutiert wurden. Dazu wäre jedoch zum einen festzustellen, daß aus den dargelegten »motorischen.. Momenten der objektivierenden bzw. kommunikativen Modalität des Behaltens/Erinnerns in jedem Falle hervorgeht, daß die dabei lernend realisierten Bedeutungskomplexe auf irgendeine Weise auch in Bewegungen umsetzbare Bedeutungen enthalten müssen, so daß man es in dieser Hinsicht mit keinem prinzipiellen Unterschied gegenüber dem Bewegungslernen zu tun hätte. Zum anderen wäre darauf hinzuweisen, daß (wie früher dargelegt), bestimmten Bewegungen ihr Charakter als Hilfsbewegungen nicht ein für alle mal eigen ist, sondern daß es von der Art der jeweiligen Ur-nproblematik abhängt, ob einer bestimmte Bewegung die Funktion einer Hilfsbewegung oder einer primär inhaltsbezogenen Bewegungshandlung zukommt. Dies heißt aber, daß mit Bezug auf denselben Bedeutungskomplex bei entsprechender Umakzentuierung der Lernproblematik aus Hilfsbewegungen im Kontext der objektivierenden oder kommunikativen Modalität des Behaltens/Erinnerns eigentliche Bewegungshandlungen, auf die selbständige Intentionen des Bewegungslernens zu richten sind, werden können (so wenn ichangesichtsvon Schwierigkeiten beim Versuch der Erstellung von Schreibmaschinenprotokollen mir vornehme, erst einmal richtig Schreibmaschineschreiben zu lernen)- womit die Grenzen zwischen Bewegungslernen und Behalten/Erinnern sich auch unter diesem Gesichtspunkt als fließend erweisen. Wenn man nun aus diesen Darlegungen verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen versucht, so kann man festhalten: Die Gemeinsamkeiten des Bewegungsiemens und des mental-verbalen Lernens bzw. Behaltens/Erinnerns, aus denen sich die benannte Konvergenz unserer respektiven Annäherungsbewegungen versteht, ergeben sich daraus, daß in den übergeordneten Bedeutungskomplexen als potentiellen Lerngegenständen primäre Gegenstandsbedeutungen einschließlich der in Bewegungen umsetzbaren Bedeutungen mit deren sekundär-symbolischen Repräsentanzen in einer Weise integriert sind, daß bei der Ausgliederung aktueller Lerngegenstände eine Isolierung beider Momente nicht möglich ist. Dies heißt, daß auch in den bedeutungsrealisierenden Lernhandlungen praktische und mentale Handlungsanteile zwar unterschiedlich akzentuiert sein mögen, aber niemals ohne realen Bezug aufeinander vorkommen können. Bewegungslernen einerseits und Behalten/Erinnern andererseits sind also nicht durch genuin unterschiedliche Funktionsgrundlagen und/ oder Lerngegenstände voneinander abgehoben, sondern stellen lediglich unterschiedliche Akzentuierungen des Lernens bei der Ausgliederung von aktuellen Lerngegenständen in Abhängigkeit von der
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jeweilig vorliegenden Lernproblematik dar. Die bei der Annäherung vom motorischen Lernen und vom Behalten/Erinnern her feststellbaren Konvergenzen verstehen sich also aus der übergreifenden Integration gegenständlicher und symbolischer Momente der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen. Differenzierungen hingegen entstehen auf einer anderen Ebene, nämlich dadurch, daß diese Bedeutungsstrukturen von verschiedenen Lernproblematiken her auf unterschiedliche Weise selegiert werden, wobei aber der Gesamtzusammenhang nicht eigentlich verloren geht, sondern nur unterschiedlich »angeschnitten« ist, woraus sich verschiedene Gewichtungen, perspektivische Gliederungen etc. mit Bezug auf das Ganze ergeben. Aufgrund dieses Rückbezuges auf unser Konzept der Lernproblematiken können wir nun das Verhältnis zwischen Lernen und Behalten/Erinnern (über die frühere mehr definitorische Bestimmung des Behaltens/Erinnerns als Lernen unter der Dominanz der Permanenzintention hinaus) konkreter zu fassen suchen. Dabei ist zunächst zu bestätigen, daß aufgrund der transsituationalen Permanenz und Kumulation, die die Lernhandlungen gegenüber Handlungen zur bloß aktuellen Situationsbewältigung (etwa »Problemlösen•) auszeichnen, das Behalten/Erinnern faktisch jeder Lernhandlung (ob nun motorischer oder mentaler Art) inhärent ist- was aber nicht heißt, daß es auch selbständig intendiert sein und deswegen als Erfahrungsgegebenheit gesondert hervortreten muß. Dazu kommt es vielmehr erst dann, wenn im Lernprozeß das Behalten/Erinnern als Erfahrungstatbestand dominant, d.h. (wie wir jetzt hinzufügen können), wenn aufgrund der Eigenart der jeweiligen Lernproblematik mangelndes Behalten und/ oder Erinnern die erfahrene Lerndiskrepanz wesentlich charakterisiert und so die Optimierung des Behaltens bzw. Erinnerns zur zentralen Dimension der intendierten Lernhandlungen wird. Verselbständigtes Behalten/Erinnern ist mithin (wie sich auch in diesem Problemzusammenhang bestätigt) keine gesonderte, etwa als »Gedächtnisfunktion« qualifizierbare, psychische Funktion, sondern ergibt sich lediglich aus einem bestimmten Typ von Lernproblematiken, nämlich solchen, in denen Behalten bzw. Erinnern dem Subjekt in herausgehobener, gegenüber anderen Lernintentionen dominanter Weise zum Problem wird. Wenn man nun nach gemeinsamen Merkmalen solcher als Behaltens-/Erinnernsproblematiken spezifizierten Lernproblematiken sucht, so imponiert zunächst, daß Behalten/Erinnern nur dann als eigenständige Problematik hervortreten wird, wenn dem Subjekt bestimmte Grenzen beim Präsenthalten, Vergegenwärtigen, Reproduzieren früherer Erfahrungen oder Handlungen vordergründig werden: Nur unter dieser Voraussetzung ist es begründet/»vernünftig«, im Lernen nicht direkt die (in der Bezugshandlung zunächst behinderten) erweiterten Verfügungsmöglichkeiten bzw. Möglichkeiten der
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Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
Abwehr des Verfügungsentzuges anzustreben, was die dabei zu erreichende. Permanenz des Gelernten ja einschließt, sondern sich verselbständigt auf Nachhaltigkeit des Gelernten zu richten. Deranige spezielle Lernproblematiken mögen zunächst daraus entstehen, daß in der Bedeutungskonstellation des dabei aktualisienen Lerngegenstandes ungewöhnliche, das normalerweise Bewältigbare übersteigende Anforderungen an meine eigene •Fassungs. kraft« (als Moment meiner körperlichen Situienheit) beschlossen sind und so entsprechende Grenzerfahrungen zugleich mit der Notwendigkeit des Hinausschiebens der erfahrenen Grenzen bei mir hervonreten - so etwa, wenn ich mich vor der Problematik sehe, als Schauspieler einen langen Text fehlerfrei zu sprechen, oder (dies eine entwickelte Spielan von Bewegungsproblematik) als Dirigent zur Verbesserung meines Kontaktes zum Orchester eine Symphonie •auswendig« zu dirigieren: In solchen Fällen bleibt mir meist kaum etwas anderes übrig, als das Behalten und Erinnern des Textes oder der Partitur - um so die unübersteiglichen Grenzen meiner Fassungskraft herauszufordern - sei~ ständig und systematisch zu lernen. Andere, sozusagen mehr diesseitige Bedeutungskonstellationen, aus denen sich für mich (im Falle ihrer Übernahme) verselbständigte Behaltens-/Erinnernsproblematiken ergeben können, liegen überall da vor, wo mir in institutionellen Lehrsituationen (i.w.S.) auferlegt ist, bestimmte Texte, Bewegungen etc. so zu reproduzieren, daß dabei gerade auf das isoliene Behalten/Erinnern bezogenen Gütemaßstäben entsprochen wird - so, wenn ich ein Gedicht so •auswendig lernen« soll, daß ich es zur Zufriedenheit des Lehrers •aufsagen« kann, oder wenn ich mir vorgenommen habe, beim Eiskunstlauf die Pflichtfiguren deran schulgerecht zu performieren, daß die Punktrichter eine Note möglichst nahe an 6 zu ziehen sich veranlaßt sehen. In deranigen Fällen geht es für mich ersichtlich nicht so sehr um die Annäherung an meine eigenen Grenzen als um die Erfüllung äußerer Normen, wobei hier sowohl die Isolierung des Behaltens/Erinnerns wie die dabei gesetzten Schwierigkeiten die (aus unterschiedlichen Gründen institutionell inaugurierte) Bewertung meiner »Leistungen« ermöglichen oder erleichtern.
Von den damit benannten Anforderungssituationen aus ist es nur noch ein Schritt zur Exemplifizierung solcher fremdgesetzter Anordnungen, deren Übernahme als Lernproblematiken die Zurückgeworfenheit auf bloß menta· le Modalitäten unter möglichst weitgehender Ausgrenzung kommunikativer und objektivierender Modalitäten des Behaltens/Erinnerns erfordern würde. Derartige Konstellationen liegen dann vor, wenn ich in der Schule beim Aufsagen des Gedichtes mir von meinem Nachbarn nicht einhelfen lassen, aber auch nicht im Gedichtband nachsehen darf, wenn ich in Prüfungen von allen »externen Gedächtnisstützen« isoliert bin oder wenn ich im psychologischen Gedächtnisexperiment mir weder Notizen machen noch einen anderen fragen darf, sondern die ltems auf der Liste bloß »innermental« behalten und erin· nern soll. Gerade an dieser letzten Anordnung läßt sich verdeutlichen, wie hier einerseits eine Anforderungssituation mit der Eliminierung kommuni· kativer und objektivierender Modalitäten vorgegeben (und deren Übernahme
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als Lernproblematik durch die Vp hoffnungsvoll vorausgesetzt) ist, andererseits aber diese Vorgabe theoretisch ignoriert und so die Fiktion genährt wird, man untersuche hier »das« Gedächtnis als selbständiges, isoliertes ..Vermögen« des Individuums. Anders: Man läßt hier per »Anordnung« der Vp (sofern sie mitspielt) gar keine andere Möglichkeit, als sich in »defensiv« begründeter Weise so zu benehmen, als ob sie ein isoliert prüfbares rein mentales Gedächtnis »hätte«, und sieht dieses ihr Benehmen dann zirkulär wiederum als empirischen Beleg für die Existenz eines solchen »Gedächtnisses« an. Aus der damit begründeten Tradition erwuchs dann eben der von uns dargestellte und diskutierte verselbständigte Zweig der kognitivistischen »Gedächtnisforschung« mit dem Pendent des ebenso isolierten Zweigs der Erforschung des »motor learningc, der »motor control« o.ä.: Hier wird der übergreifende Zusammenhang mentaler, kommunikativer und objektivierender Modalitäten des Lernens intradisziplinär zerrissen und sind damit die Voraussetzungen für eine dem lebenspraktischen Kontext gerecht werdende Analyse des Behaltens/Erinnerns wie des Bewegungsiemens eliminiert. Durch das daraus entstehende Erfordernis externer Lernkontrolle ist expansives Lernen weitgehend ausgeschlossen, also die traditionelle Gleichsetzung von Lernen mit defensiv begründetem Lernen bekräftigt (s.u.). Aus dem Umstand, daß Behalten/Erinnern nicht als ein integraler und lediglich über spezielle Lernproblematiken als verselbständigt akzentuierter Bestandteil des weltbezogenen Lernens, sondern als isolierte »Gedächtnisleistung« verstanden wird, erweisen sich nun die dabei auftretenden Schwierigkeiten als weitgehend hausgemacht. Dies gilt zunächst für die Schwierigkeiten, in die man die Vpn dadurch bringt, daß man ihnen im Experiment - zum Zwecke der Eruierung möglichst »reiner« Gedächtnisfunktionen nur die mentale Modalität des Behaltens/Erinnerns lassen möchte: Auf diese Weise erfährt man schlechterdings nichts darüber, auf welche Weise die Menschen in ihrer wirklichen Lebenspraxis die Dauerhaftigkeit des Gelernten zu erreichen pflegen und zu welchen »Leistungen« sie dabei fähig sind. Dies gilt aber auch für die Schwierigkeiten, in die man sich dadurch auf der theoretischen Ebene bringt: Man sieht sich durch die Fixierung auf lediglich »innermentale« Behaltens/Erinnernsfunktionen gezwungen, die Bedeutungsstrukturen und Verweisungszusammenhänge, zu denen das Individuum tatsächlich kommunikativ und/ oder über Objektivierungen Zugang hat, quasi »in« das Individuum bzw. kognitive System rückzuprojizieren, muß so auch hier (wie im früher dargestellten Fall der theoretisch-experimentellen Isolierung des Bewegungsiemens von gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhängen) alle Verknüpfungsleistungen dem einzelnen aufbürden, womit wiederum nicht nur dieser, sondern auch das theoretische Modell hoffnungslos überfordert ist: Es bleibt so theoretisch weitgehend unerfindlich, wie die Individuen
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tatsächlich jene Lern- und Behaltensleistungen zustandebringen können, die sie in ihrer Lebenspraxis doch tatsächlich zu vollziehen vermögen. Aus unserer theoretischen K.onkretisierung des Verhältnisses zwischen Lernen und Behalten/Erinnern sollte demgegenüber hervorgehen, daß auch das Behalten/Erinnern als (ob nun lediglich implizite oder per Lernproblematik akzentuierte) Grundbestimmung des Lernens nur dann angemessen theoretisierbar ist, wenn man einsieht, daß dabei die »innermentalen« Verweisungen nicht für sich, sondern nur als Teilsystem übergreifender, soziale und gegenständliche Bedeutungszusammenhänge einbeziehender Verweisungsstrukturen zu analysieren sind. Dies heißt nicht nur, daß die mentale Aufnahmefähigkeit des Individuums durch die »Speicherfunktion« der Welt, mit der es sich kommunikativ und objektivierend in Beziehung setzt, entlastet ist, sondern grundsätzlicher, daß hier die mentalen Aktivitäten genuin nur als Teilaspekte der lebenspraktisch-weltbezogenen Lernhandlungen funktionsfähig, also auf ihre Wechselwirkung mit kommunikativen und objektivierenden Modaliltäten hin angelegt und demnach isoliert genau genommen weder ausführbar noch auch nur denkbar sind. Dieanthropogenetische Herausbildung des gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhangs schließt eben die Erweiterung menschlicher Lernmöglichkeiten durch gesellschaftlich produzierte Bedeutungszusammenhänge als gegenständlich-symbolisches »Sozialgedächtnis« ein - was bei der lern- bzw. gedächtnispsychologischen Theorienbildung nicht per »Naturalisierung« des Individuums in seiner Umwelt weggebügelt werden darf.
Zum Verhältnis von Mitlernen und intentionalem Lernen: Affinitive Selbstorganisationsprozesse im Rahmen intentionaler Lernhandlungen Das Konzept der »modalitätsübergreifenden Verweisungszusammenhänge« (oder auch »Verweisungsstrukturen•) diente uns bisher als Möglichkeit zur begrifflichen Erfassung der inneren Gliederung des intendierten Lernens im Kontext subjektiver Lebenspraxis ohne verdinglichende Einteilungen und ohne Suspendierung der begründungsanalytischen Herangehensweise. Nun hat dieses Konzept aber darüber hinaus bestimmte Implikationen, durch welche -wie sich zeigen wird- unsere bisher als unproblematisch betrachtete Abgrenzung des intentionalen Lemens wm inzidentellen Lernen bzw. (wie wir uns ausdrückten) Mitlernen tangiert ist. Von da aus wird (wie sich zeigen soll) auch unsere allgemeine Vornahme, die Gesamtanalysen dieser Arbeit auf intentionales Lernen zu beschränken, in spezieller Weise fragwürdig. Um
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dies herauszuarbeiten, sind wir gezwungen, die Beziehung zwischen Mitlernen und intentionalem Lernen neu zu durchdenken und daraus auch Konsequenzen hinsichtlich der Strategien und Prinzipien des intentionalen Lernens zu ziehen. Zur Hinführung auf den damit zu eröffnenden Argumentationsgang sei zunächst daran erinnert, daß wir schon in unseren früheren Analysen innerhalb verschiedener Problemzusammenhänge gehalten waren, bestimmte Grenzen unseres intentionalen Zugriffs auf den Lernprozeß hervorzuheben, so die Verhaftetheit des Bewegungsiemens in unverfügbarer Körperlichkeit, die aus unserer körperlichen Situiertheit erwachsenden unüberwindbaren Beschränkungen unserer Behaltens-/Erinnernsintentionen etc. Besonders wichtig für unseren gegenwärtigen Diskussionszusammenhang sind dabei jene Passagen (im Kontext modalitätsübergreifender Verweisungszusammenhänge), aus denen hervorgeht, daß Lernen keineswegs stets als einfache, quasi reibungslose Durchsetzung der Lernintention betrachtet werden kann, sondern u.U. Lernen nur dadurch vorankommt, daß das intendierte Lernen sich seinerseits gewissen Zusammenhängen oder Strukturen anmißt, die bereits unabhängig von der aktuellen Lernintention bestehen. Solche Strukturen waren etwa mitgedacht, wo wir das Erinnern als Durchgang durch meinen latenten Erfahrungsbestand, um mich so allmählich an das Gesuchte heranzutasten, gekennzeichnet haben, besonders aber (an darstellungslogisch zentraler Stelle), wo wir »übergreifende Organisationsformen unseres mentalen, kommunikativen und objektivierenden Inhalts- und Quellenwissens« heraushoben, die nicht lediglich als Ergebnis, sondern vielmehr als Voraussetzung der Möglichkeit »permanenzbezogene(r) Behaltens-/Erinnernsstrategien« zu betrachten sind. Dazu stellten wir erläuternd fest: »Je umfassender und differenzierter die Organisation meines modalitätsübergreifenden Inhalts- und Quellenwissens ist, je stärker ist meine Beachtung bzw. die Formulierung von ,inneren' Schlüsselfragen dadurch angeleitet, je genauer kann ich also den in meiner Wissens- und Verfügungsstruktur enthaltenen Verweisungen innerhalb einer Modalität, von einer Modalität auf die andere, von Quellen auf Inhalte und umgekehrt, nachgehen und so das Gesuchte zur Überwindung der gegebenen Lernproblematik identifizieren ... « (s.o., S.311ff, Hervorh. geändert). Aus dieser Passage verdeutlicht sich nun auch, daß bereits in der Rede von »modalitätsübergreifenden Verweisungsstrukturen« das Angeleitetsein des Lernsubjekts durch vorgängig erfahrene Zusammenhänge mitgemeint ist: Hier »Verweise« ich nicht, sondern ich werde verwiesen, und zwar auf Zusammenhänge, die meiner Lernintention vorhergehen, also als Strukturen angeordnet sein müssen, deren Organisation unabhängig von meinen aktuellen Intentionen zustandegekommen ist. So treten also hier auf der Ebene des Vorgelernten oder Mitgelernten Prozesse in den Vordergrund, die man - mit
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dem heute aktuellen Terminus - als Selbstorganisation oder autonome Orga· nisation bezeichnen könnte. Dabei müssen wir allerdings erst noch herausfinden, was dies im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang sinnvollerweise heißen kann (vgl. dazu unsere Diskussion der Verwendung des •Selbst«· Konzeptes im Zusammenhang konnektionistischer Modellvorstellungen,
S.131ff). Dabei kommt unseren einschlägigen Bemühungen derUmstand entgegen, daß neuerdings Frank Galliker (1990) Analysen und Untersuchungen vorgelegt hat, die - wenn auch eingeschränkt auf sprachliche Bedeutungsbezüge als Versuch der Konzeptualisierung von Selbstorganisationsprozessen innerhalb von Bedeutungsstrukturen aufgefaßt werden können, wobei Gallikers Arbeit insofern auch in unseren allgemeineren Darstellungszusammenhang paßt, als er die selbstorganisierte Ausgliederung von Erinnerungen aus sprachlichen Bedeutungszusammenhängen thematisiert. Galliker analysiert Gesprächsprotokolle sprachphänomenologisch auf darin vorkommende ,.Yergangenheitsverweise«: Es soll herausgearbeitet werden, auf welche Art sich in von den Probanden erzählten Geschichten über ihre eigene Lebenslage sprachliche Bezüge auf frühere Vorkommnisse ausgliedern und wie derartige •unwillkürliche Erinnerungen« zu den gegenwartsbezogenen Darstellungen in Beziehung stehen. Die wesentliche konzep· tuelle Grundlage der Analyse bildet dabei Gallikers Differenzierung der Erzählungen in »definitive« und ,.affinitive Sätze«: •Definitive Sätze« sind •Sprechakte«, in denen das Subjekt Aussagen über ein davon getrenntes Objekt macht. In •affinitiven Sätzen« ist dagegen der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt nivelliert, sie sind nicht ,.feststellender•, sondern mediativer, sinnvermittelnder Art, haben nicht fixierenden und damit •ausschließenden«, sondern vielbezüglich •erschließenden« Charakter. •Im Grunde genom· men wird mit definitiven Sätzen etwas unterdrückt, während affinitive Sätze ,etwas aufkommen lassen'. Definitive Sätze, die als bewußte (Sprech-)Handlungen wirksam sind, haben einen eindeutigen Charakter. Sie sperren sozusagen alles ab, was nicht zum Vollzug des an sich endgültigen Aktes beiträgt«. Affinitive Sätze dagegen •erschließen gerade das, was durch die direkten Sprechakte weggeschoben bzw. ,verdrängt' wird, und können somit als ,vorbewußte Verbalisierungen' bzw. ,Thematisierungen' verstanden werden« (S.109). Der zentrale - als Affinitätshypothese bezeichnete - Beitrag Gallikers zum Erinnerungsproblem besteht nun in dem (aus seinem Material explizierten und exemplifizierten) Aufweis, daß definitive Sätze als solche Vergangenheitsverweise ausschließen, während in affinitiven Sätzen aufgrund der temporal ausgeweiteten Gegenwart und Eröffnung der zeitlichen Tiefendimension über Entsprechungsreihen Vergangenheitsbezüge impliziert sind und je nach dem Kontext ausgesprochen werden können. Die affinitive »So-WieSprache« erweckt Erinnerungen, wobei •affinitive Einheiten analogisch aufeinander verweisen. Indem die Einheiten sukzessive einander substituieren, ohne Realität zu eliminieren oder dingfest zu machen, wird Sinn konstituiert; ein schöpferischer Effekt, mit dem im Gegebenen das Vergangene evoziert wird« (S.116). Die sprachlichen Verweisungszusammenhänge, die in definitiven Sätzen abgeschnitten, in affinitiven Sätzen aber auf ihre Vergangenheitsbezüge hin geöffnet werden, konzeptualisiert
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Galliker (im Anschluß an einen Terminus von Oevermann) als •latente Sinnstrukturen«. Dies wird folgendermaßen erläutert: •Bei einer affinitiven Konstitution« der aktuellen sprachlichen Wirklichkeit •klingen vielfältige, zunächst kaum wahrnehmbare Konnotationen an. Die polyvalente sprachliche Infrastruktur wird geweckt. Mit der synchronischen Sprachverflechtung der Gegenwartsphrase deuten sich ,latente Sinnstrukturen' innerhalb der vorliegenden ,sprachlichen Konstellation' an. Die primär nur allgemein eingefaßte Wirklichkeit komplettiert sich in dem Maße, wie das hinter dem verlautbarten Wort stehende System von Relationen diachronisch realisiert wird«. ·Affinität bedeutet also, daß die Sinnzusammenhänge der aktuellen Sprache eingestimmt werden. Über die anklingenden Sinnrelationen werden vergangene Erlebnisse analog gegenwärtiger rekonstituiert« (S.132).
Die damit von Galliker angesprochenen Komplettierungs- bzw. Rekonstitutionsprozesse, die bei »affinitiver« Annäherung über Vernetzungen sprachlicher Bedeutungen »autonom«, ohne unser Zutun, ablaufen und so als Formen verbaler Selbstorganisation bezeichnet werden können, lassen sich in der Art, wie Galliker sie näher bestimmt, in gewissen Aspekten auf unser Konzept der »modalitätsübergreifenden Verweisungszusammenhänge« beziehen: So finden sich bei Galliker mannigfache Hinweise auf sprachliche Sinnrelationen, die den bloß »innermentalen« Bereich in Richtung auf die Einbeziehung kommunikativer und gegenständlicher Momente überschreiten, etwa, wo er feststellt: »Je reichhaltiger die aktuelle sprachliche Wirklichkeit ist, in der wir unser Sprechen synchronisieren, desto größere Wissensbestände eröffnen sich: Man denke vor allem an interessante Gesprächspartner, aber auch an anregende Bücher und,bedeutungsvolle Gegenstände« (S.133). Entsprechend wendet sich Galliker (gleich uns) gegen die gängige Vorstellung vom bloß »privatsprachlichen Charakter« der Wiedergabe des Vergangenen: »Da wir in einer sprachlichen Wirklichkeit zuhause sind, befinden wir uns immer schon im Brennpunkt semantischer Strukturen, die gesellschaftlich konstituiert sind und als solche nicht subjektiv, sondern intersubjektiv vermittelt werden. Die Sprache samt ihrer Struktur existiert, bevor der einzelne menschliche Organismus in sie eintritt« (5.133). Von da aus kritisiert auch Galliker die Lokalisierung einer »psychologisch verstandene(n) ,Speicherung' in einem verabsolutierend subjektivierten und von den latenten Sinnstrukturen abgeschnittenen ,Individuum~ als »das grundsätzliche Mißverständnis jener Gedächtnispsychologen, welche die Verdinglichung nicht aufzulösen versuchen, sondern vielmehr wissenschaftlich reproduzieren. Was quasi über einen programmsprachlichen Apriorismus' im isolierten Subjekt versammelt wird, wäre in die intersubjektive Infrastruktur eines Sprechers zu verlegen ... « (S.134f). Trotz dieser Konvergenzen ergeben sich für uns mit Gallikers Konzept Schwierigkeiten daraus, daß die »latenten Sinnstrukturen« als Ort affinitiver
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Selbstorganisationsprozesse von ihm zwar intersubjektiv, aber innersprachlich verstanden werden, während in unseren »modalitätsübergreifenden Verweisungszusammenhängen« nicht nur auf kommunikative oder gegenständliche Sprachbedeutungen, sondern auf wirkliche, sinnlich-körperliche Handlungen als Komponenten von Behaltens-/Erinnernsstrategien verwiesen ist. Wenn ich einen anderen Menschen um Auskunft bitte, jemanden anrufe, mir Notizen auf einem Zettel mache, ein Buch zur Hand nehme, ein Museum besuche, so ist dabei zwar immer auch Sprachliches beteiligt, dennoch handelt es sich nicht nur um sprachliche Aktivitäten, sondern um praktische Lokomotionen, Welteingriffe, Weltveränderungen o.ä., durch die aufgrund der gegenständlichen Bedeutungsbezüge die jeweiligen Möglichkeiten zu sprachlichen Äußerungen, sprachlicher Rezeption und sprachlicher Kategorisierung zu allererst geschaffen werden. Demnach müßten in die hier zugrundeliegenden Selbstorganisationsprozesse nicht nur »spontane« sprachliche, sondern auch motorische, perzeptuelle, kognitive Gliederungen, Akzentuierungen und Zuordnungen involviert sein, in welche die latenten sprachlichen Sinnstrukturen eingebettet sind. Dabei könnte man etwa an das »Geleitetwerden« von Oberflächenmerkmalen nach Art des »Deutens«, wie wir es früher (GdP S.387ff) gekennzeichnet haben, denken: So überlasse ich mich bei der Erschließung von ..Vergangenheitsverweisen« nicht nur den Konnotationen sprachlicher Sinnbezüge, sondern gehe etwa auch ,.ziellos« in meinem Zimmer hin und her, lasse meinen Blick über die Bücher im Regal schweifen, werde in passiver Aufmerksamkeit von einem bestimmten Buch angezogen, blättere darin herum, stelle es wieder zurück, schaue aus dem Fenster, wobei sich die sprachlichen Sinnbezüge dadurch fließend ändern und spontan anleitend auf meine praktischen Streifzüge zurückwirken mögen. Dabei ist die konzeptuelle Heraushebung von »affinitiven« gegenüber »definitiven« Zuwendungen zwar streng genommen nur in den von Galliker aufgeschlossenen sprachphänomenologischen Bereichen legitim: Dennoch scheinen mir noch genug Gemeinsamkeiten vorzuliegen, um diese Konzepte (auch wenn ich Bestimmungen vergleichbarer Präzision nicht beisteuern kann) in einem allgemeineren, die praktischen Momente einbeziehenden Sinne zu verwenden: »Affinitive« Zu- und Abwendungen wärenso-in Abhebung von »definitiven« - gekennzeichnet durch eine nicht aus-, sondern einschließende Herangehensweise, ein »Kommen-Lassen« von gegenständlichen wie sprachlichen Bedeutungsverweisungen, ein »Sich-Zurücklehnen«, Übersicht-Gewinnen, eine »distributive« (im Gegensatz zu ,.fixierender«) Beachtung, die Aufhebung von Festlegungen und Beschränkungen durch das ln-den-Blick-Nehmen des »Ganzen«, dabei das Sich-leiten-Lassen von ..Verwandtschaften«, das Fortgetragenwerden von einer Verweisung zur nächsten in den modalitätsübergreifenden Bedeutungsnetzen, dadurch Einbeziehung
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des Vergangeneo in seinem Verhältnis zum Gegenwärtigen. Die von Galliker umschriebenen sprachlichen Affinitäten wären dabei als ein Sonderfall bzw., besser, als inhaltliche Spezifizierungen und Präzisierungen der so gekennzeichneten allgemeineren Affinitäten hier stets mitgemeint. Indem wir die Selbstorganisationsprozesse auf der Ebene von Bedeutungen (in Ausweitung des Konzepts von Galliker) als »affinitive« Aufschließung modalitätsübergreifender Verweisungsstrukturen gekennzeichnet haben, deuten sich affinitive Zuwendungsweisen als wesentliche »Vorintentionale« Bewegungsformen des Behaltens/Erinnerns, d.h. aber des (gemäß unseren früheren Bestimmungen Behalten/Erinnern als »Permanenzfunktion« stets einschließenden) Lernens überhaupt an. Um dies näher ausführen zu können, müssen wir zunächst Anschluß an unsere bisherige Gesamtdiskussion des intentionalen Lernhandeins finden, also zu klären versuchen, wie das Verhältnis des geschilderten »affinitiven« Miterinnerns bzw. Mitlernens zum intentionalen Lernen genauer zu fassen ist. Schließen Lernintention und affinitives, also inzidentelles Lernen einander aus, so daß man die geschilderten affinitiven Orientierungs- und Klärungsprozesse nicht absichtlich herbeiführen könnte, sondern lediglich abzuwarten hätte, bis sie sich nach Art von »glücklichen Zufällen« selbst herstellen? Oder gibt es Möglichkeiten, das Konzept der »Lernintention« bzw. »Lernhaltung« in einer Weise zu explizieren, daß man der Konsequenz, mit den »Affinitäten« wesentliche Implikationen lernenden Gegenstandsaufschlusses vom Standpunkt des konkreten Individuums schon definitorisch aus dem bewußt-intendierten Lernhandeln ausschließen zu müssen, entgehen kann? Die damit angesprochene Problematik (die von Galliker, 1990, S.138ff, in mehr phänographischer Weise unter dem Kennwort »Freisetzung affinitiver Sprache« diskutiert worden ist) läßt sich (wie mir scheint) auf einer grundsätzlichen Ebene angehen, wenn man etwas genauer zusieht, was mit dem Konzept der Lernintention nicht ausgesagt ist: »Intention« ist in diesem Kontext nicht gleichbedeutend mit »Zielsetzung« - man kann auch intendiert ein Ziel aufgeben; Intention ist auch nicht gleichbedeutend mit Anspannung - man kann auch intendieren, sich zu entspannen; somit heißt Intention auch nicht notwendigerweise Fixierung, Ausschließung, definitives Herangehen man kann auch eine Aufhebung der Fixierung, eine »einschließende« Haltung, eine affinitive Zuwendungsweise bewußt intendieren. So gesehen erwiese sich die gängige Gleichsetzung von Intention und Zielsetzung, Anspannung, Fixierung, Identifizierung als eine unmittelbarkeitsverhaftete Kontamination allgemeiner Bestimmungen intentionalen Handeins mit dessen »naheliegenden« Erscheinungsformen, was man nur zu reflektieren und aufzuheben brauchte, um die angesprochene Problematik - zum mindesten auf definitorischer Ebene - zu überwinden.
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Auf phänomenaler Ebene bleiben damit aber immer noch Probleme, die daraus entstehen, daß affinitives Lernen zwar Nichtintentionalität begrifflich nicht notwendig einschließt, aber in seinem wirklichen Zustandekommen, schon als Mitlernen, irgendwie daran gebunden ist - die Aussage, man könne auch Nichtintentionalität intendieren, aber (eindimensional gesehen) einen Widerspruch enthält. Die Intention der Nichtintentionalität ist in unserem Diskussionszusammenhang denn auch eher als eine Art von »Metaintention« zu betrachten, indem ich hier intendiere, meine Intention, ohne sie preiszugeben, möglichst weitgehend so zurückzunehmen und stillzustellen, daß die »in der Sache liegenden« Verweisungszusammenhänge bei mir ungestört zu Geltung kommen. Es handelt sich dabei also um eine bestimmte Art von »Konzentration«, in welcher ich mich nicht auf etwas Bestimmtes konzentriere, sondern äußere Störungen, irrelevante Gedanken, »Ablenkungen« soweit von mir fernzuhalten, meinen Kopf quasi soweit »leer« zu machen trachte, daß eine bestimmmter Erfahrungszusammenhang »in« mir zur Geltung kommen kann. Galliker (1990, S.145) hat demgemäß die »Formel für die Freisetzung affinitiver Sprache, die im Rahmen definitiver Sprache das Erinnern einleiten kann« so umschrieben: »Nicht ich spreche, nicht du sprichst, sondern es spricht:.. - Dabei impliziert die intendierte Zurücknahme des intentionalen Eingriffs als konzentrierte Aufhebung der fixierenden Konzentration in sich ein labiles, prekäres Verhältnis, indem mir meine Metaintention bzw. Metakonzentration zur Zulassung affinitiven Lernens, wenn ich mich dabei zu weit zurücknehme, wegzurutschen droht, und so die intendiert zugelassenen, damit bewußt zur Kenntnis genommenen affinitiven Selbstorganisationsprozesse in bloßes Mitlernen außerhalb des Bereichs meiner intentionalen Zuwendung zurückfallen, und damit als Moment meines intendierten Lernhandeins verloren gehen. Da das Erfordernis affinitiven Lernens notwendig von der Art der jeweiligen Lernproblematik abhängt, käme es also im Rahmen der (in dieser Weise verallgemeinert gefaßten) Lernintention darauf an, [txierende, definitive Momente auf eine Weise mit affinitiven ins Verhältnis zu bringen bzw. abzuwechseln, die für mich aus der Art der jeweiligen Lernproblematik bzw. dem Prozeß ihrer Überwindung und den dabei auftauchenden Widerständen, Hindernissen, Dilemmata begründet ist. Somit erweist sich die Herstellung und Aufrechterhaltung des benannten prekären Gleichgewichts der intendierten Zurücknahme meiner Lernintention als allgemeine Bestimmung meiner (intentionales Lernen gegenüber bloßem Mitlernen qualifizierenden) generellen Lernhaltung selbst: Ich muß mit der lernenden Überwindung der Lernproblematik auch lernen, mich - wo und soweit es aus dieser erfordert ist - in bestimmten Stadien, Springpunkten etc. des Lernprozesses ohne Aufgeben der generellen Lernintention so ,.zurückzunehmen«, daß affinitive
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Lernphasen möglich werden und in den ,.definitiv« zu bestimmenden Lernfortschritt qualifizierend eingehen können. Die Zulassung von solchen affinitiven Selbstorganisationsprozessen als Qualifikation meiner Lernhaltung ist - unter thematischem Lernaspekt - bereits mehr oder weniger eindeutig die Voraussetzung dafür, daß die jeweilige Lerndiskrepanz überhaupt in weiterführender Weise aus der Lernproblematik ausgegliedert werden kann: Die früher auseinandergelegte, mit der Ausbildung der Diskrepanzerfahrung verbundene emotionale Wertung der in die Lernproblematik involvierten Bedeutungsbezüge als »Komplexqualität« kann nämlich nur in dem Grade auf die jeweils wesentliche Lerndimension, die das Eindringen in die Tiefenstruktur des Lerngegenstandes auf verangemeinerbare Bedeutungszusammenhänge hin möglich macht, zentriert werden, wie die involvierten modalitätsübergreifenden Verweisungen auf meine in der Bedeutungskonstellation gegebenen Handlungs-/Verfügungsmöglichkeiten und -behinderungen erst einmal in möglichst umfassender Weise affinitiv in meiner Erfahrung zugelassen sind. Bei sofortigem definitivfixierendem Zugriff dagegen kann die Diskrepanzerfahrung/Lerndimension nicht als im Schnittpunkt vielfältiger Verweisungen liegendes wesentliches Kennzeichen der jeweiligen Problematik ausgegliedert werden, die emotional bewerteten Komplexqualitäten schließen von vornherein relevante Bezüge des Lerngegenstands aus, und die Stelle, von der aus ich die Lerndiskrepanz als Leitlinie der Überwindung der Lernproblematik ansetzte, bleibt somit mehr oder weniger zufällig: So kriege ich, gerade weil ich unmittelbar und kurzschlüssig auf Festlegungen und Identifizierungen aus bin, die inneren und äußeren Bedeutungsbezüge des Lerngegenstands nur in beschränkter und einseitiger Weise mit und weiß letztlich selbst nicht, wo ich mit meinen Lernanstrengungen hingeraten werde. Affinitive Lernphasen sind aber nicht nur angesichts der initialen Lernproblematik, wo es für mich darum geht, die gegenstandsadäquate Diskrepanzerfahrung überhaupt erst einmal zu artikulieren, subjektiv begründet, sondern auch im weiteren Lernverlauf stets dann, wenn ich mich »einseitig« zu fixieren, in Sackgassen hineinzugeraten, mich zu verrennen drohe: In solchen Situationen werden durch verbesserte operative Planung, eindeutigere Zielsetzungen, bewußtere Lernanstrengungen die Schwierigkeiten und Hindernisse naturgemäß immer nur noch größer. Vielmehr muß es mir hier darum gehen, mich zurückzunehmen, auf die inneren Verweisungszusammenhänge meiner Beziehung zum Lerngegenstand zu ,.hören«, den Lerninhalt gegenüber meinen Bewältigungsversuchen und dem dadurch produzierten •psychischen Lärm« zur Geltung kommen zu lassen, also affinitiven Verweisungsreihen über das von mir bisher Ergriffene hinaus Raum zu geben, um danach auf einer neuen, umfassenderen Grundlage meine Lernhandlungen
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wiederum bewußt und definitiv voranbringen zu können. - Eine besondere Krisensituation des Lernprozesses, wo der Rückgang auf affinitives Lernen quasi systematisch unerläßlich wird, ist jene für unser Gesamtkonzept zentrale Art von Lernschwierigkeiten, die (wie früher herausgehoben) nicht mehr durch Optimierungen im Rahmen des initialen Lernprinzips, sondern nur durch »Diskrepanzerfahrungen höherer Ordnung«, d.h. Gewinnung eines neuen, die Grenzen des alten Prinzips aufhebenden Lernprinzips, also einen qualitativen Lernsprung möglich ist: Hier sind die Lernhindernisse ja gerade dadurch entstanden, daß ich das bisherige Lernprinzip mit dem Lernen überaupt gleichsetzte, also durch Fixierung darauf andere prinzipielle Möglichkeiten lernender Gegenstandsannäherung nicht in den Blick nehmen konnte. So komme ich dabei selbstredend ebenfalls nicht mit verbesserter operativer Planung, erhöhter mentaler Anspannung, klarerer Definition des »Lernziels« etc. weiter: In solchen definitiven Zuwendungsweisen liegt ja hier gerade die Krankheit, die man damit heilen will. Vielmehr muß ich so in die Tiefenstruktur des Lerngegenstandes eindringen können, daß dabei Vermittlungszusammenhänge, die ich bisher ignorierte, deren Einbeziehung aber eine prinzipiell andere Weise des Lernens erfordern würde, für mich sichtbar werden, also affinitive Lernmöglichkeiten errschließen. Nur auf diesem Wege kann ich sodann (günstigenfalls) in definitiver Weise das den nun erfahrenen neuen Vermittlungen angemessene Lernprinzip auf den Begriff bringen und so von nun an in prinzipiell anderer Art zu lernen versuchen. (Man möge sich dies an meinen früheren Ausführungen über die Gewinnung des Neuen Hörzustands als qualitativen Sprungs beim lernenden Eindringen in Schönbergs Orchestervariationen, S.203ff, veranschaulichen und dabei deutlich machen, daß die scheinbare Plötzlichkeit, d.h. aus dem bisherigen Lernprinzip nicht voll ableitbare »Neuheit« des Neuen Hörzustands auf eine vorgängige affinitive Lernphase hinweist, in welcher meine bewußten Lernbemühungen vorübergehend in den Hintergrund traten und neue Bezüge des Lerngegenstandes samt deren emotionaler Qualitäten vordergründig werden konnten, womit schließlich das qualitativ neue, den Neuen Hörzustand implizierende Lernprinzip in seiner Besonderheit gegenüber dem bisherigen Lernprinzip definitiv konzeptualisiert werden konnte.) Das damit umschriebene und veranschaulichte Zueinander von definitiven und affinitiven Lernphasen unter intendierter Zurücknahme intentionaler Fixierung charakterisiert indessen nur eine Ebene des Verhältnisses zwischen intentionalem Lernen und Mitlernen: »Dahinter« liegt noch eine weitere Ebene, die aus der beschriebenen Möglichkeit erwächst, in kommunikativer bzw. objektivierender Modalität die Bedingungen des Behaltens/ Erinnerns bzw. - allgemeiner - des Lernens durch eingreifende Weltveränderung zu optimieren. Daraus ergibt sich nämlich, daß die affinitiven Selbst-
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organisationsprozesse zwar als solche die Zurücknahme meines intentionalen Zugriffs voraussetzen, aber ihre Randbedingungen, von denen abhängt, was sich da auf welche Weise organisieren kann, von mir durchaus im Vollsinne intentional herstellbar und veränderbar sind. So ist das (in einem früheren Beispiel benannte) ,.ziellose« Umhergehen in meinem Arbeitszimmer, der schweifende Blick über Schreibtisch und Bücher etc. zwar für sich genommen als affinitiv akzentuierte Lernphase zu charakterisieren: Welche Bücher aber in meinem Regal stehen, welche Notizen ich mir gemacht habe, wer über mein Telefonverzeichnis als möglicher Gesprächspartner erreichbar ist etc., dies hängt von vorgängigen intentionalen Arbeitsphasen ab, deren Resultate nun in meinem Arbeitszimmer vergegenständlicht sind. So gesehen ist auf quasi indirekte Weise der mögliche Ertrag meines affinitiven Mitlernens durch intentional-objektivierende Komponenten des Vorgelernten mitbestimmt und kann es so zu einer Art Entwicklungsprozeß kommen, in welchem durch im Vorlernen geschaffene immer adäquatere Randbedingungen auch das, was in Phasen gegenwärtigen affinitiven Mitlernens der Möglichkeit nach resultieren kann, immer angemessener und weiterführender in den weiteren Lernprozeß eingeht. Dies gilt nicht nur für die kommunikativen und objektivierenden, sondern- da die verschiedenen Modalitäten wechselseitig aufeinander verweisen - auch für die mentalen Komponenten der modalitätsübergreifenden Verweisungsstrukturen (die Art der Ordnung in meinem Kopf und in meinem Arbeitszimmer, meinen Aufzeichnungen, meinen sozialen Arbeitsbeziehungen ist global gesehen die gleiche). Aus dem in meiner phänomenalen Biographie/personalen Situiertheit liegenden Reichtum meiner mentalen, kommunikativen und gegenständlichen Beziehungen zur sachlich-sozial bedeutungsvollen Welt ergeben sich mithin nicht nur die von meinem Standort aus bestehenden Möglichkeiten direkt intentionalen Eindringens in den Lerngegenstand, sondern auch die Voraussetzungen für die Fruchtbarkeit der in den intentionalen Lernprozeß einbezogenen Phasen des Zulassens einer affinitiven Selbstorganisation der Verweisungsbezüge. Da die Lernintention (wie dargestellt) in ihren Prozeßbestimmungen als Moment mental-sprachlicher Situiertheit, nämlich am Lernverlauf orientierte(s) Beachtungslenkung/inneres Sprechen konkretisiert werden kann, müßte das intendierte Zurücknehmen intentionaler Fixierung als Zur-GeltungBringen affinitiver Bezüge sich auch als spezifische Art der Beachtungszuwendung und innersprachlichen (Selbst}kommentierung näher bestimmen lassen. Am nächstliegenden ist sicherlich die Vorstellung, es gehe hier darum, die ·fixierende Aufmerksamkeit« in .distributive Aufmerksamkeit« aufzulösen, um so möglichst weite Bereiche des modalitätsübergreifenden Verweisungsnetzes in den (•inneren«) Blick nehmen zu können. Gewisse inhaltliche
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Differenzierungen einer solcherart zu verteilenden Beachtung ergäben sich dabei aus innersprachlichen Selbstkommentaren oder -aufforderungen wie: lehn' dich doch mal zurück; entspann' dich erst mal; laß' es (nämlich das, was in deinem Kopf vorgeht) doch einfach mallaufen und schau zu, was dabei herauskommt. Die hier zugrundeliegende Vorstellung, die Beachtungszuwendung/Kommentierung sei von den dabei beachteten/kommentierten Verweisungsstrukturen eindeutig zu trennen (so wie etwa ein- enger oder weiter eingestellter - Lichtkegel einer Taschenlampe davon getrennte Gegebenheiten lediglich in engerem oder weiterem Umkreis sichtbar macht) ist allerdings nur begrenzt adäquat. Bei genauerer Betrachtung wird vielmehr deutlich, daß die jeweiligen Beachtungs-/Kommentierungsweisen, da sie ja stets nur versprachlicht auftreten bzw. selbst innersprachlicher Art sind, in gewissem Sinne selbst als Bestimmungsmomente in die aufzuklärenden, bedeutungsbezogenen Verweisungsstrukturen eingehen müssen. Zu welchen affinitiven Selbstorganisationsprozessen es kommen kann, hängt also stets auch davon ab, in welchen Worten ich dabei mit mir oder zu mir rede: Damit wird nämlich die Bildung bestimmter Ähnlichkeitsreihen angestoßen, durch welche die Art der Selbstorganisation im ganzen beeinflußt ist. So ist es etwa von der Art der früher (S.305ff) angeführten innersprachlichen »Schlüsselfragen« abhängig, wieweit sie schon aufgrund der durch sie hervorgerufenen Konnotationen tatsächlich dazu geeignet sind, umfassendere Bedeutungszusammenhänge affinitiv aufzuschließen oder eher durch Vereigenschaftungen, Etikettierungen o.ä. zuzusperren. Um solche Zusammenhänge näher aufzuklären, sind sicherlich vielfältige empirische Analysen von der Art nötig, wie Galliker (1990) sie über die Voraussetzungen des Aufschließens oder Zuschließens sprachlicher Vergangenheitsverweise angestellt hat. Unsere Darlegungen über die Funktion affinitiver Lernmomente oder -phasen im Rahmen intendierten Lernens sind (wie aus unseren bisherigen Ausführungen schon deutlich geworden sein mag) zwar im Ansatz am Behalten/Erinnern entwickelt, aber - indem Behalten/Erinnern das Lernen in seiner Permanenz qualifiziert- (da auf Lernen überhaupt) auch auf das !Je. wegungslemen (wie wir es in Teilkapitel3.4 diskutiert haben) beziehbar. Dies ergibt sich schon aus dem erwähnten Umstand, daß die kommunikativen bzw. objektivierenden Modalitäten stets an Hilfsbewegungen gebunden sind, die - ohne daß dadurch an der Eingebettetheit in übergreifende Verweisungsstrukturen sich etwas ändert - als zu lernende Bewegungshandlungen umakzentuiert werden können. Entsprechend ist die Differenzierung in definitive und affinitive Beachtungszuwendungen/Selbstkommentare vollinhaltlich auch auf das Bewegungslernen anwendbar. Allerdings muß auch hier (vor dem Hintergrund der allgemeinen Bestimmungen) die Spezifik von affinitiven Selbstgliederungsprozessen mit Bezug auf Lernproblematiken, durch an
Annäherung vom mental-verbalen Lernen (Behalten/Erinnern) her
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aktuellen Lerngegenständen Möglichkeiten zum Bewegungslernen ausgegliedert sind, genauer herausgehoben werden. - Auf einer bestimmten Ebene ist dabei an das affinitive Zulassen der inhaltlichen Bedeutungshaftigkeit von Bewegungen durch Zurücknahme kurzschlüssiger operativer Fixierungen auf Lern- bzw. Übungs- oder Trainingsergebnisse zu denken - so eine bestimmte Art von Sich-Zurück-Lehnen und Entspannen, um wieder mehr Gespür für die Eigendynamik der Bewegungen zu entwickeln. In diesem Kontext ist die früher benannte affinitive Konzentration besonders relevant, indem hier alle forcierten, geradlinig zielbezogenen, ungeduldigen Bewegungsimpulse - mit denen ich mir bei der bedeutungsadäquaten Bewegungsausführung laufend selbst im Wege stehe - eingeklammert und stillgestellt sind: Das »Hinkriegen« und möglichst lange Festhalten einer derartig unabgelenkten, entrückten, »überlegenen«, erfüllten und erfüllenden Konzentrationshaltung ist (wie mir scheint} bei der Bemühung um das Erreichen möglichst vollkommener Bewegungsgestalten im künstlerischen oder sportlichen Bereich geradezu die zentrale Dimension lernender Gegenstandsannäherung. Solche affinitiven Phasen des Bewegungsiemens schließen immer auch eine Ausweitung der Zuwendung auf umfassendere Bedeutungsbezüge des Bewegungsablaufs ein. So wird man etwa im Sport - sofern man durch noch so intensives Training einer bestimmten Bewegungsfolge nicht weiterkommt, sondern mit wachsender Anstrengung eher immer schlechter wird - durch das Zur-Geltung-kommen-Lassen der übergeordneten Bewegungsgestalt, der diese Bewegungsfolge zugehört: Erfassung ihres Sinnes und ihrer Funktion innerhalb des Ganzen, damit erhöhte Bedeutungsadäquatheit der Bewegung, (günstigenfalls) die Verspannung und Blockierung überwinden können. Neben derartigen Ausweitungen innerhalb des Bereichs des BewegungsIemens sind auch solche affinitiven Defixierungen zu berücksichtigen, durch welche Verweisungen auf umfassendere symbolische Bedeutungszusammen· hänge in der Erfahrung zur Geltung kommen - so, wenn ich beim Klavierspiel angesichts der Stagnation beim Üben einer bestimmten schwierigen Passage mir deren Sinn im Kontext der inhaltlichen Gesamtaussage des Stückes vergegenwärtige und so vielleicht über die durch kurzschlüssig operative Zielbezogenheit beim Üben entstandenen Störungen des Bewegungsablaufs hinwegkommen kann. Unsere Darlegungen über affinitive Lernphasen und deren subjektive Begründetheit innerhalb des übergreifenden intendierten Lernens beziehen sich, wie wohl deutlich geworden sein wird, auf den thematischen Aspekt des Lernens und betreffen so in gewisser Weise dessen früher ausführlich diskutiertes Verhältnis zum operativen Lernaspekt: Dies deswegen, weil man (wie schon aufgewiesen) die Einseitigkeiten und Fixierungen bei der Ausgliederung von Lerndiskrepanzen bzw. im weiteren Verlauf der Überwindungsversuche der
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Grundbegrifflichkeit einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie
jeweiligen Lernproblematik global gesehen als phänomenale Dominanz des operativen Lernprozesses und damit verselbständigtes Hervortreten hierarchisch-sequentieller Zielbezogenheil des Lernens unter Vernachlässigung inhaltlich-thematischer Bedeutungsbezüge betrachten kann. In den affinitiven Lernphasen liegt so gesehen (zwar nicht die einzige, aber eine wesentliche) Möglichkeit, dem thematisch-inhaltlichen Aspekt des Lernens wieder Geltung zu verschaffen und so den operativ-planenden Aspekt des Lernens auf seine sekundäre, dienende Funktion im Gesamt des Lernprozesses zu verweisen. -Damit tritt an den schon öfter diskutierten Fragwürdigkeiten einer Theoretisierung des Lernens als dominant zielbezogenen Handeins - wie sie in der Tätigkeitstheorie und Handlungsregulationstheorie zu finden ist eine neue Facette zutage: Wenn man Lernen dergestalt als zielgerichtet- etwa, wie Dulisch, als ..Durcharbeiten eines Lernplans« - konzeptualisiert, so schließt man hier mit der Ausklammerung des thematischen Lernaspekts gleichzeitig die Möglichkeit und Begründetheit affinitiven Lernens aus, empfiehlt also mit dem Vorschlag einer primären hierarchisch-sequentiellen Strukturierung des Lernens recht eigentlich eine bestimmte Art selbstbehindernden Lernens. Anders: Ein zielgerichtetes Lernen unter Ausklammerung affinitiver Lernphasen kann nur dann mit dem Lernen überhaupt gleichgesetzt werden, wenn man dabei den (institutionellen) Entzug der Verfügung über die Lerninhalte, etwa im traditionellen Lehrlernverhältnis, als selbstverständlich voraussetzt. Dies ist ein Gesichtspunkt, den wir bei der späteren Analyse des Lehrens beachten müssen. Aus dem Umstand, daß affinitives Lernen nur bei Dominanz des thematischen Lernaspekts in seiner Funktion der Aufhebung von Fixierungen und Blockierungen des lernenden Gegenstandsaufschlusses zur Geltung kommt, ergibt sich auch, daß ich nur dann »gute Gründe« für das Zulassen affinitiver Selbstgliederungsprozesse haben kann, wenn mein Lernhandeln im Ganzen expansiv begründet, also {wie gesagt) aus dem Zusammenhang zwischen Gegenstandsaufschluß, Verfügungserweiterung und Lebensqualität motiviert ist. In dem Maße aber, wie das Lernen defensiv auf die Vermeidung von Bedrohungen und Benachteiligungen aus ist, wobei der Gegenstandsbezug zugunsten bloß aktueller Situationsbewältigung {mit der Tendenz der Entspezifizierung der Lernproblematik in Richtung auf eine unmittelbare Handlungsproblematik) zurücktritt, kann ich auch kein Interesse an der Zulassung affinitiver Lernphasen haben. Im Gegenteil: Die darin liegende vorübergehende Verunsicherung hinsichtlich des weiteren Vorgehens beim Lernen und Verzögerung eines vorweisbaren Lernresultats muß die Bedrohtheit durch antizipierte mögliche Benachteiligungen, Sanktionen etc. nur noch erhöhen, womit in diesem Kontext nicht nur äußere Ablenkungen o.ä., sondern auch affinitive Neuorientierungen des Gegenstandsbezuges als aufgabenirrelevant
Annäherung oom mental-verbalen Lernen (Behalten/Erinnern) her
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erscheinen und deswegen unterdrückt werden müssen. So gesehen ist also nicht nur offen fremdbestimmtes Lernen durch die Unterdrückung affinitiver Lernphasen gekennzeichnet: Auch die früher in unterschiedlichen Zusammenhängen diskutierten vielfältigen Formen defensiver Selbstbehinderungen durch widerständiges, im Verhältnis zum Lerngegenstand gebrochenes Lernen wären genauer daraufhin zu analysieren, wieweit und in welcher Weise dabei affinitive Selbstgliederungsprozesse als angstbesetzt unterdrückt und damit Fixierungen, Vereinseitigungen, Kurzschlüssigkeiten beim Versuch lernenden Gegenstandsaufschlusses unaufhebbar werden.
Kapitel4 Konzeptuelle Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
4.1 Die Bedeutungsanordnung »Schule«:
Historisches Muster institutionell verfaßten I..ernens
Vorbemerkung: Schulische Bedeutungsstrukturen und ihre Analyse Da wir innerhalb unserer lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit (im vorigen Kapitel) die Lerngegenstände als Aspekte übergreifender gesellschaftlicher Bedeutungsstrukturen auffaßten, waren die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, in denen und auf die hin Lernproblematiken hervortreten können, immer schon mitgemeint. Dies soll (wie für den Gesamtaufbau der Arbeit projektiert) im folgenden selbständig thematisiert werden, indem der Umstand, daß es sich dabei immer um historisch bestimmte Verhältnisse (etwa solche in der Bundesrepublik um die neunziger Jahre) handelt, explizit berücksichtigt wird. Wir müssen herausfinden, welche neuen Einsichten in die Lernprozesse vom Subjektstandpunkt, wie wir sie bisher zentriert auf das Konzept der Lernproblematiken begrifflich durchdringen wollten, zu erreichen sind, wenn die Bedeutungskonstellationen, die zu Prämissen für die subjektiv begründeten Lernhandlungen werden können, unter diesem Gesichtspunkt analysiert werden. Damit wird für die weitere Diskussion eine neue Vermittlungsebene relevant: Die Ebene der Vermittlung zwischen den jeweils konkreten institutionellen Anordnungen (quasi »Lernstätten«), an/in denen Lernproblematiken ausgegliedert werden können, und den gesamtgesellschaftlichen Strukturen, als deren Ausschnitte oder Mikrostrukturen die Lernstätten zu betrachten sind. Deshalb werden sich in der folgenden Darstellung derartige »historische« Bedeutungsanalysen vorübergehend verselbständigen: Erst wenn wir Genaueres darüber sagen können, wie man die jeweiligen institutionellen Lernstätten in ihrer historischen Bestimmtheit zu begreifen hat, können wir die Konsequenzen aufweisen, die sich daraus für die Begriindungsstruktur der Lernhandlungen vom Subjektstandpunkt ergeben. Mit der Thematisierung der historischen Bestimmtheit institutioneller Lernverhältnisse können wir mit Bezug auf die Art der dabei zu berücksichtigenden Institutionen nicht mehr allgemein bleiben oder exemplarisch
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
vorgehen, sondern haben es zwangsläufig immer mit jeweils dieser konkreten Lernstätte zu tun. Wo aber ansetzen und wie von da aus weiterverfahren? Schon aus dem Gesamtduktus der vorliegenden Arbeit ergibt sich, daß wir der Institution »Schule« dabei einen bevorzugten Stellenwert einräumen müssen: Wir haben- wie schon in der Einleitung (vgl. S.15f) dargelegt- die ..Schule« als Lernstätte bisher nicht systematisch in die Analysen einbezogen, weil wir zunächst einen selbständigen konzeptuellen Zugriff zum Lernen vom Standpunkt des Lernsubjekts ohne Behinderungen durch die gängige Kontamination von Lernen und (schulischem) Lehren gewinnen wollten. Nachdem wir nun unsere subjektwissenschaftliche Lernkonzeption soweit entwickelt haben, wäre jetzt das eingangs gegebene Versprechen einzulösen, damit einen tieferen Zugang auch zum Problem des schulischen Lernens und der darin unterstellten Lehrlernbeziehung zu eröffnen. Darüber hinaus wird Lernen nicht nur in der Öffentlichkeit weitgehend mit schulischem Lernen gleichgesetzt, sondern stellt auch für jeweils mich (als ehemaliger Schülerin oder ehemaligem Schüler) eine Art von universeller Grunderfahrung dar: Wie meine familiale Kindheit, so ist mir auch meine Schulzeit in vielfältigen Bezügen gegenwärtig, und zwar nicht nur als Inbegriff vergangener Lebensund Leidenserfahrung, sondern eingelassen in meine »erwachsene« Welt- und Selbstsicht: Deswegen kann ich .. Lernen« ohne .. Schule« kaum denken und vollziehen- sowohl, wenn ich mich derartigen Prägungen unreflektiert überlasse, als auch in der Art, wie ich mich davon zu distanzieren versuche. So gesehen ist die Aufarbeitung von ..schule« ein zentraler Aspekt subjektwissenschaftlicher Lernanalyse und darüber der Reflexion meiner individuellen Lernerfahrungen und -behinderungen, wobei erst von da aus auch die Befindlichkeit von Lernsubjekten in außerschulischen Lernstätten angemessen diskutiert werden kann. Dies heißt zwar nicht, daß- wie man vielleicht meinen könnte - die Diskussion von ..Schule« im vorliegenden vierten Kapitel das zentrale Anliegen dieses Buches ist, auf das die vorhergehenden Kapitellediglich vorbereiten: wohl aber, daß es sich im folgenden keineswegs nur um eine •Anwendung« der erarbeiteten lerntheoretischen Konzepte, sondern um deren weitere subjektwissenschaftliche Ausdifferenzierung handeln muß. Damit, daß wir im folgenden unsere Diskussion auf ·Schule« als Lernstätte zu zentrieren haben, finden wir uns - ob wir wollen oder nicht - innerhalb einer Wissenschaftstradition, die das, was wir bisher berücksichtigt haben, zeitlich wie inhaltlich weit überschreitet: der Forschungs- und Fragerichtung der modernen Erziehungswissenschaften. Selbst wenn wir die übergreifende Entwicklung der neuzeitlichen Pädagogik seit dem 17. und 18. Jahrhundert beiseite lassen und uns nur auf die Schulreformbewegung in der Bundesrepublik- die in den frühen sechziger Jahren begann, Mitte der siebziger Jahre
Die Bedeutungsanordnung »Schule•
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stagnierte bzw. zurückgedreht wurde und seit Mitte der achtziger Jahre einen neuen Aufschwung nahm (vgl. etwa Klemm, Rolff & Tillmann 1985 sowie Braun & Wunder 1987) - beziehen würden, sähen wir uns mit vielgestaltigen und differenzierten Diskussionszusammenhängen konfrontiert, mit einem widersprüchlichen Zueinander und Gegeneinander von erziehungswissenschaftlicher Konzeptbildung und Reflexion, praktischer Reformarbeit und politischer Umsetzungsbereitschaft bis Widerständigkeit. Während in der ersten Phase der Schulreform Themen wie Abbau des Bildungsprivilegs durch die Gesamtschule, Curriculumsrevision, Humanisierung des pädagogischen Umgangs im Mittelpunkt standen, sind seit dem Revival der Reform neue Konzeptionen hinzugekommen: Schule als »Lebensschule«, »Öffnung der Schule« zur Gemeinde hin als »Community education«, »soziales Lernen«, Regionalisierung und Individualisierung der Schulen: »Qualität von Schule«, »Schule mit Profil«, etc. (s.u.). Wie sollen wir uns diesen Diskussionen und Entwicklungen gegenüber verhalten? Aufgrund der Themenstellung dieser Arbeit ist klar, daß wir - da das Gebiet der Psychologie (wie weit man es auch immer fassen mag) dabei eindeutig überschritten ist - uns auf allgemeinerer Ebene hier nicht einmischen können: Schulreform ist ein genuines Aufgabenfeld der Erziehungswissenschaft. Ebenso klar ist aber, daß wir auch nicht völlig daran vorbeigehen können. Dies versteht sich daraus, daß es einen Überschneidungsbereich zwischen pädagogischer und psychologischer Betrachtung gibt, der schon durch die Benennung einer psychologischen Subdisziplin als »Pädagogische Psychologie« markiert ist: den Bereich des schulischen Lernens. Und gerade das Lernproblem scheint mir- was vielleicht der Uneindeutigkeit seiner Disziplinenzuordnung geschuldet ist - in den erwähnten SchulreformDiskussionen (soweit ich sie überblicken kann) eigentümlich unterbelichtet: Häufig wird dabei so geredet, als ob das Lernen in der Schule weiter kein Problem sei, als ob es- wenn man nur die entsprechenden pädagogischen Voraussetzungen dazu schafft - selbstverständlich und widerspruchsfrei in der Schule stattfinde. Gelegentlich wird die Behinderung von freien Lernaktivitäten der Schülerionen/Schüler durch die überkommenen autoritären und verkrusteten Unterrichtsstrukturen beklagt - wobei man aber mehr oder weniger eindeutig zu unterstellen scheint, daß mit der Realisierung des jeweils projektierten Reformvorhabens solche Lernschwierigkeiten von selbst verschwinden werden. Innerhalb der pädagogischen Teildisziplin ·Didaktik« als allgemeiner und schulfachspezifischer Theorie der Unterrichtspraxis ist zwar »Lernen« zwangsläufig stets mitgemeint, wird aber (soweit ich sehe) - m.E. schon aufgrund des wissenschaftssystematischen Ansatzes - kaum als selbständiges Problem analysiert, sondern eher als abhängige Größe der jeweiligen
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
didaktischen Arrangements angesehen. Sofern man sich in der pädagogischen Reformdiskussion auf Psychologie, insbesondere Pädagogische Psychologie, bezieht, geschieht das meist in mehr rezeptiver Weise, indem lernpsychologische Ansätze und Resultate- früher mehr »klassische« Lerntheorien, heute häufig kognitiv erweiterte Konzepte (wobei Begriffe wie »learning by doingc, »intrinsische Motivation« und »entdeckendes Lernen« besonders beliebt sind) - als wissenschafdich gesichert akzeptiert werden. Wie sollte man auch vom erziehungswissenschaftliehen Denk- und Methodenansatz her einen eigenständigen kritischen Zugang dazu finden? Von da aus ist der Beitrag, den wir (bestenfalls) zur erziehungswissenschaftliehen Schulreformdiskussion leisten können, in seinen Möglichkeiten und Grenzen umreißbar: Die von uns erarbeitete subjektwissenschaftliche Lernkonzeption müßte - da sie aus der Kritik traditioneller Lerntheorien entwickelt wurde- sich auf die Kritik und Weiterentwicklung auch der traditionellen pädagogisch-psychologischen Lernansätze (i.w.S.) hin spezifizieren und differenzieren lassen. Falls es uns gelingt, auf diesem Wege zu weiterführenden Einsichten über die Möglichkeiten und Beschränkungen schulischen Lernens zu kommen, könnten sich daraus Konsequenzen auch für die pädagogische Schulreformdiskussion ergeben: Es mag so deutlicher werden, auf welche Weise die Schule »reformiert« werden müßte, damit sinnvolles und produktives Lernen in ihr (eher als bisher) stattfinden kann- und welche Reformvorhaben an etwaigen schulischen Lernbehinderungen nichts ändern Ga sie u.U. sogar noch verstärken). Vielleicht können wir so bestimmte psychologische »Widerhaken« einbringen, die der Schulreformdiskussion partiell eine andere Richtung geben. Das folgende vierte Kapitel verfolgt demnach - dies sollte man nicht aus dem Auge verlieren -zwei gleichberechtigte und aufeinander bezogene Argu· mentationslinien: Die Ausdifferenzierung unserer subjektwissenschaftlichen Lernkonzeption durch Explikation historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse, ansetzend an der Institution »Schule«, und die Bereitstellung einer fundierteren lernpsychologischen Grundbegrifflichkeit und Denkweise als Beitrag zur pädagogischen Schulreformdiskussion. Der erste Schritt unserer Analyse institutioneller Lernverhältnisse im An· satz an »Schule« muß (wie gesagt) im Aufweis schulischer Bedeutungsstrukturen (als Konstellationen verallgemeinerter Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen) bestehen: Erst mit Bezug auf solche Bedeutungen als mög· liehen Handlungsprämissen wären dann auch die typischen Begründungsstrukturen von Lernhandlungen vom Standpunkt der der Schulinstitution
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unterstellten Subjekte herauszuarbeiten. Da wir im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang auf die institutionellen Lernverhältnisse in ihrer historischen Bestimmtheit gerichtet sind, können wir zu solchen Bedeutungsstrukturen nicht lediglich durch begriffliche Explikationen kommen, sondern benötigen dazu Resultate empirisch-historischer Analysen über die Bedeutungsanordnung »Schule«, wie sie sich im Zuge gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen herausgebildet hat und wie wir sie entsprechend hier und heute vorfinden. Wie aber an derartige Resultate gelangen? In der erwähnten pädagogischen Schulreformdiskussion ist häufiger von »Schulstrukturen« die Rede, oft akzentuiert auf die Gegenüberstellung von •äußerer Schulreform« als ..Strukturreform« und »innerer Schulreform« als Reform des unterrichtlichen Geschehens etc. Dabei gibt es Kontroversen über die relative Bedeutung »äußerer« und »innerer Schulreform«. So zitieren etwa Klemm, Rolff und Tilmann (1986, S.59) die Meinung von Erich Weniger, 1953, in der pädagogischen Theorie bestehe Einmütigkeit darüber, ,.,daß die äußere Schulreform, die Umgestaltung der Schulorganisation von zweitrangiger Bedeutung ist, daß es vielmehr auf die innere Wandlung des Erzieherischen und auf die Neufassung der Bildungsziele ankommt:. und stellen dem die Auffassung von Furck, 1969, gegenüber, daß es •,entgegen dem bestehenden Vorurteil ganz und gar nicht gleichgültig (ist), wie die Schule strukturiert ist. Behält man die Organisation unverändert bei und postuliert nur ein angeblich neues Verständnis von Bildung oder appelliert an demokratisches Bewußtsein, so ändert sich in der Praxis kaum etwas. Wirkliche Veränderungen in den ,Schulstuben' von Dauer sind dann auch stets mit Veränderungen der Schulorganisation verbunden gewesen:.. K.H. Braun (1989, S.58) wiederum hebt in Zusammenfassung der Resultate neuerer Diskussionen über das Verhältnis von innerer und äußerer Schulreform hervor: ,.Die Schaffung neuer Entwicklungsmöglichkeiten durch neue Bildungsinstitutionen, neue Bildungswege und verbesserte Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schulstufen und -formen, also die Strukturreformen,legen keineswegs eindeutig fest, was sich im Inneren der Schulen tatsächlich verändert.lnsofern ist die innere Schulreform, die Erprobung neuer Unterrichtsziele, -inhalte, und -medien, neuer Sozialformen im Unterricht und im Schulleben generell, eine relativ eigenständige Aufgabe für jede demokratische Schulreform.«
Derartige Schwierigkeiten bei der Verhältnisbestimmung zwischen »äußerer« und »innerer Schulreform« scheinen mir (mindestens teilweise) darin be-gründet, daß das Problem der »Schulstruktur« hier weitgehend gleichgesetzt wird mit dem Problem unterschiedlicher Organisationsformen von Differenzierungen, Übergängen, Durchlässigkeiten, Abschlüssen etc., zentriert auf das heute wohl am meisten umstrittene »Strukturproblem«: Dreigliedriges Schulsystem vs. Gesamtschule. Wenn man »Schulstrukturen« in dieser Weise versteht, so scheint das, was in der Klasse und im Unterricht geschieht, dadurch tatsächlich unterbestimmt, und man kann so die Reform des Unterrichtsprozesses, sozialen Umgangs, der Lehrpläne etc. als eine von der Strukturreform unabhängige Aufgabe betrachten. Wenn man andererseits darauf
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
beharrt, daß das Geschehen in den Schulstuben ohne Veränderung der »Strukturen« nicht wirklich reformierbar sei, so mag man angesichts des gängigen Struktur-Verständnisses wiederum Schwierigkeiten haben, dies argumentativ auszuweisen. Die damit benannten Schwierigkeiten sind möglicherweise leichter zu bewältigen, wenn man sich den Umstand in höherem Grade bewußt macht und in den Konsequenzen bedenkt, daß den jeweils unterschiedlichen Formen der Schullaufbahn-Organisation eine demgegenüber (relativ) invariante, die »Schule«, wie wir sie hier und heute vorfinden, als solche charakterisierende »Struktur« zugrundeliegt, nämlich die Struktur des jeweils konkreten Schulgebäudes, das da und da steht, »in« das man hineingehen kann, wo man dann auf bestimmte Anordnungen von Räumen, Sachen und Individuen stößt, etc. (s.u.). Diese Strukturen kann man als Bedeutungsstrukturen in unserem Sinne verstehen: Als das sinnlich-praktische Arrangement von vergegenständlichten
sachlich-sozialen Handlungsmöglichkeiten, -beschränkungen und -widersprüchen. Von den so gefaßten schulischen Bedeutungsstrukturen hängt es ab, was in der Schule überhaupt als Prämissen für begründetes Handeln der Schulinsassen, im Unterricht und anderswo, zur Verfügung steht, so daß kein Mensch etwas am »Inneren« der Schule reformieren kann, das durch die schulischen Bedeutungsanordnungen nicht ermöglicht ist. Auch die Analyse der Schule als konkreter Lernstätte, also Ort von Lernmöglichkeiten, -behinderungen und -widersprüchen vom Subjektstandpunkt, ist nur auf Grundlage der Erfassung so verstandener »Schulstrukturen« sinnvoll möglich. Da es mir (wie gesagt) schwer fiel, im Kontext der pädagogischen Schultheorie und Schulreformbewegung historisch-empirische Resultate über so verstandene schulische Bedeutungsstrukturen in für unsere weitere Diskussion wünschenswerter Konkretheit zu finden, habe ich im etwas weiteren Umfeld gesucht und bin dabei auf die Genealogie der »Schuldisziplin« von Michel Foucault in seinem Buch ,.überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnissesec (1977) gestoßen. Soweit ich überblicken kann, wurde- so intensiv Foucault gegenwärtig sonst diskutiert wird- diese Arbeit innerhalb der fachpädagogischen Schuldiskussion nicht zur Kenntnis genommen. Falls sich dieser Eindruck bestätigen sollte, wäre dies nicht weiter verwunderlich: Hat doch auch Foucault in diesem Buch die aufklärerische Geschichte der modernen Pädagogik etwa von Comenius über Rousseau, Condorcet, Lepepelletier, Pestalozzi, Schleiermacher bis hin zu Dewey, Gaudig und Kerschensteiner total ignoriert. Ebenso muß aus pädagogischer Sicht befremden, daß Foucault die Genealogie der Schuldisziplin lediglich als unselbständigen Teilaspekt der Genealogie anderer »Disziplinen«, allem voran des Gefängnisses,
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sodann des Militärs, des Hospitals und der Werkstatt analysiert. Zugeständnisse an Besonderheiten und relative Eigenentwicklungen der Schule gegenüber den übrigen ·Disziplinen«, oder etwa gar das In-Rechnung-Stellen einer .relativen Autonomie des Erziehungsbereichs« gegenüber gesamtgesellschaftlichen Prozessen und eines darin liegenden aufklärerischen Potentials {vgl. etwa Klafki 1989, S.22), sind ihm fremd. Wenn ich trotz all solcher Probleme dennoch auf Foucaults Arbeit zurückgreife, so deshalb, weil die An und Weise, wie er die verschiedenen Bestimmungen der •Schuldisziplin« aus ihrer historischen Entstehung analysien, tatsächlich in wesentlichen Hinsichten meinen Vorstellungen von •schulischen Bedeutungsstrukturen« nahekommt. So ist für ihn die Schule weder einfach Resultat bildungspolitischer Planung noch der Objektivierung bestimmter pädagogischer Handlungsintentionen, sondern vor allem eine (im historischen Selbstlauf entstandene) gegenständlich-praktische Anordnung von Sachen und menschlichen Körpern, also wirklich das •Schulgebäude«, in dem durch räumliche und interpersonale Arrangements bestimmte Handlungen und Beziehungen der Insassen ermöglicht und andere unterbunden werden. Weiterhin betrachtet Foucault die ·Disziplinen« - indem er sie als Manifestationen eines neuen Typs von Macht, der •Machtökonomie« im Inneren der Institutionen, auffaßt - als selbständige Träger von Strategien, Manövern, Technologien der Durchsetzung und Reproduktion von Machtverhältnissen. Damit ist in der An, wie hier die Institutionen als historischer Gegenstand entfaltet werden, deren Fassung in Termini ihrer Funktionalität als vergegenständlichte Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen im Kontext unseres Bedeutungskonzeptes unmittelbar nahegelegt. Schließlich geht es Foucault seinem Ansatz nach um die Herausarbeitung der vielfältigen Verflechtungen von •Macht« und •Wissen«, der Einheit von Machtstrategien und wissenschaftlichen Diskursen. Dabei faßt er (wie zu zeigen) die Wissenschaft im Zusammenhang der •Schuldisziplin« nicht als (von ihm hier ignoriene) Erziehungswissenschaft im umfassenderen Sinne, sondern als registrierende, beurteilende und messende Wissenschaft nach An der Psychologie: Dies kommt unserem Vorhaben, unser subjektwissenschaftliches Konzept schulischen Lernens über die Kritik der Pädagogischen Psychologie in der Schule zu entwickeln, entgeg~n. Man mag mir schon an dieser Stelle warnend entgegenhalten, ob ich - indem ich Foucaults Genealogie der •Schuldisziplin« zur inhaltlichen Konkretisierung schulischer Bedeutungsstrukturen in ihrer historischen Bestimmtheit heranziehe - mich nicht von vornherein auf eine falsche Fähne begeben könnte: Besteht nicht die Gefahr, daß die in der pädagogischen Diskussion
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A ufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
immer wieder hervorgehobenen Ambivalenzen und Widersprüche schulischen Lebens zwischen »Freiheitsverbürgung und Freizeitsentzug« (Habermas), Autonomie und Reglementierung, Schutz und Einsperrung, Lernchancen und Lernbehinderungen, etc. unter den Vorzeichen des »Disziplin«Konzeptes auf die jeweils restriktive Alternative hin eingeebnet werden und damit der Schule jede Entwicklungsperspektive verschlossen wird? Ich würde darauf (im Vorgriff auf spätere Ausführungen) erwidern: dann nicht, wenn man den Stellenwert des Konzepts »disziplinärer« Schulstrukturen im Zusammenhang der Gesamtanalyse schulischen Lernens adäquat bestimmt. Es geht hier nicht darum, die benannten Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen des Schullebens durch ein eindimensionales »Disziplin«-Konzept zu ersetzen. Vielmehr müssen die Bestimmungen der »Schuldisziplin« quasi eine Ebene tiefer angesiedelt werden: Der »disziplinäre« Charakter der Schule wäre zu verstehen als Inbegriff von historisch (relativ) invarianten Grundstrukturen der Reproduktion von Schule und schulischem Lernen, wobei aufgrundsolcher Strukturen der Umstand, daß sich die Schule nur in Form von Widersprüchen und Ambivalenzen reproduzieren kann - daß man sich in der Schule permanent mit Halbheiten zufrieden geben muß, daß man sich hier häufig korrumpiert und wider besseres Wissen handelt und daß vieles Erreichte letztlich wieder zurückgenommen werden muß, sich gegen die Intentionen seiner Urheber wendet, etc.- aus der Bewegungsform der Schule selbst erklärlich wird. Das Konzept der »Schuldisziplin« soll uns also heuristisch als ein analytisches Instrument dienen, als eine Art Skalpell, mit welchem - durch Aufdeckung der genannten zugrundeliegenden »disziplinären« Invarianten - schulische Lernmöglichkeiten, -widersprüche und -behinderungen vielleicht schärfer auf den Begriff zu bringen sind, als dies normalerweise möglich ist. Die Vermittlungen zwischen der »disziplinären« Grundstruktur und den verschiedenen Erscheinungsformen des Schulprozesses sollen wo möglich so deutlich faßbar werden, daß gängige Unklarheiten und Beschönigungen über die Möglichkeiten des Lernens in der Schule auf präzisere und radikalere Weise durchdrungen werden können. Mit den letzten Überlegungen habe ich, wie mir scheint, die Grenzen möglicher einleitender Klärungen im Vorgriff auf das noch nicht inhaltlich eingebrachte Foucaultsche Konzept der »Schuldisziplin« endgültig überschritten. Deswegen gehe ich nun zu dessen Darstellung über, um im Anschluß daran unsere schulischen Bedeutungsanalysen entfalten zu können. Dabei übernehme ich keinesfalls Foucaults Konzept im Ganzen und behaupte auch nicht, daß dies in toto mit unserem subjektwissenschaftlichen Grundansatz vereinbar ist. Auch kümmere ich mich nicht darum, ob Foucault meinem Gebrauch seiner Genealogie der Schuldisziplin zustimmen
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würde: Schließlich hat er selbst gelegentlich seine Bücher als Werkzeugkästen bezeichnet, aus denen sich jeder bedienen könne.
Genealogie der Schule als »Disziplinaranlage« (Foucault} Die Genealogie der Schule ist (wie gesagt) nur ein Aspekt von Foucaults Herausarbeitung des historischen Wandels institutionell verkörperter Machtverhältnisse von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert (und letztlich in unsere Zeit) hinein: Im Mittelpunkt seiner Analysen steht das Strafsystem und seine Veränderung zum modernen Gefängnis. Jedoch ist für Foucault, da sich gleichgerichtete Veränderungen etwa auch beim Militär, im Hospital, in der Fabrik, und eben in der Schule aufweisen lassen, ein allgemeinerer geschichtlicher Prozeß auszumachen, der herausanalysiert werden muß, damit die wesentlichen Bestimmungen des neuen Machttyps in den einzelnen Institutionen wiedererkannt werden können. Grob gesehen handelt es sich dabei - wie Foucault darlegt - um einen Übergang von der personifizierten Macht des Souveräns über seine Untertanen zur in den Institutionen vergegenständlichten Machtökonomie, an deren entpersönlichten Strategien vielfältige lokale Zentren auf verschiedene Weise beteiligt sind. Diese Machtökonomie gewinnt nach Foucault ihre gesteigerte Effektivität wesentlich daraus, daß eine klare Trennung von »Herrschenden« und »Beherrschten« nun nicht mehr möglich, jeder in gewisser Weise sowohl Opfer wie Täter der Macht ist, womit die Machtverhältnisse nicht mehr im Willen des Souveräns sichtbar in Erscheinung treten, nicht mehr einfach von »oben« nach »Unten« wirken, sondern sich im Inneren der Institutionen quasi durch die Betroffenen hindurch mittels eines flexiblen und wandlungsfähigen Systems wechselseitiger Kontrolle und Überwachung reproduzieren. Die allgemeinen historischen Voraussetzungen für diesen Übergang liegen nach Foucault in der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise mit sprunghafter Zunahme der Bevölkerung, Erhöhung des Lebensstandards, Anhäufung von Reichtümern, Verfeinerung und Differenzierung von Verbrechen und Vergehen, Wechsel von der Dominanz der Bandenkriminalität zur Dominanz individueller Eigentumsdelikte etc., womit die überkommenen grob-sinnlichen Mittel der Machtausübung zunehmend ineffektiv und so von der neuen Machtökonomie »überholt« werden. Die unterschiedlichen Vergegenständlichungen des neuen Machttyps werden von Foucault »Disziplinen« genannt, nicht im üblichen Sinne »disziplinierten Verhaltens«, der »Disziplinierung« bestimmter Personen, o.ä., sondern
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
als gemeinsamer Nenner verschiedener Institutionen, in denen sich die Machtökonomie jeweils konkret verkörpert: Das Militär, der Polizeiapparat, das Hospital, die Schule als ,.Disziplinen«, d.h. »Disziplinaranlagen« mit bestimmten charakteristischen »Methoden«, eher im Bedeutungsumfeld von durch spezifische methodische Zurüstungen gekennzeichneten wissenschaftlichen ,.Disziplinen«. -Der Begriff »Disziplin« und ,.Disziplinen« wird von uns nur in diesem spezifischen Foucaultschen Sinne gebraucht. Die Herausbildung der Disziplinen ist nach Foucault aus den Widenprüchlichkeiten des historischen Prozesses zu ventehen, .durch den die Bourgeoisie im Laufe des 18. Jahrhunderts zur politisch dominierenden Klasse wurde«: Damit sei einerseits die ..Einführung eines ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären rechtlichen Rahmens• mit der ,.Organisation eines parlamentarischen und repräsentativen Regimes« verbunden (Foucault 1977, S.284f- alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch). Andererseits aber bildeten die •Entwicklung und Verallgemeinerung der Disziplinarmlagen ... die dunkle Kehrseite dieser Prozesse. Die allgemeine Rechtsform, die ein System prinzipiell gleicher Rechte garantierte, ruhte auf jenen unscheinbaren, alltäglichen und physischen Mechanismen auf, auf jenen wesenhaft ungleichen und asymmetrischen Systemen einer Mikromacht - den Disziplinen. Wenn es das repräsentative Regime formell ermöglicht, daß der Wille aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität bildet, so garantieren doch die Disziplinen im Unterbau die Unterwerfung der Kräfte und der Körper. Die wirklichen und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoß zu den formellen und rechtlichen Freiheiten«. So sind nach Foucault die Disziplinen nur scheinbar •nichts anderes als ein Subsystem des Rechts ... Tatsächlich aber sind« sie •als eine Art Gegenrecht wirksam. Sie haben nämlich gerade die Aufgabe, unübenteigbare Asymmetrien einzuführen und Gegenseitigkeiten auszuschließen• (S.285). In der •Genealogie der modernen Gesellschaft bildeten sie zusammen mit der sie durchkreuzenden Klassenhernchaft das Gegenstück zu den Rechtsnormen der Machtverteilung« (S.286).
Die elementarste Ebene der Funktionalität von Disziplinarinstitutionen liegt nach Foucault in der Bewältigbarkeit der immer wachsenden Bevölkerungszahl mit Anhäufungen und Massenbewegungen verschiedener Art, aber auch immensem Anstieg der Schülerzahlen etc., bezieht sich also direkt auf eine neue Anordnung der menschlichen Körper im Raum. -Voraussetzung dafür ist, so Foucault, zunächst die »Klausur«, d.h. bauliche Abschließung bestimmter Orte gegenüber anderen Orten. So werden von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an in wachsendem Umfang Kasernen gebaut: Die ,.Armee, jene umherschweifende Masse, muß festgesetzt werden« (S.182). Wie die Kasernen erhalten auch die Fabriken, die Hospitäler, die Schulen feste Umfassungsmauern, wodurch man den Aus- und Eintritt, damit die Anzahl der Insassen kontrollieren, Mißbräuchen vorbeugen, Unbefugte fernhalten kann. - Die Fortsetzung dieser Abschließung nach innen ist nach Foucault die Par· zellierung der Körper innerhalb der jeweiligen Institution als elementare
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Lokalisierung: •Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum. Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einnistungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden«. Solche Vorkehrungen richten sich also •gegen das unkontrollierte Verschwinden von Individuen, gegen ihr diffuses U mherschweifen, gegen ihre unnütze und gefährliche Anhäufung ... Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann« (S.183). - Mit der Parzellierung sind die Körper prinzipiell gleichgeordnet, austauschbar, in bewegliche Ordnungen zu bringen, daraus ergibt sich als neuer Einteilungs- und Kontrollgesichtspunkt der »Rang«: .. der Platz in einer Klassifizierung, der Kreuzungspunkt zwischen einer Linie und einer Kolonne, das Intervall in einer Reihe von Intervallen. Die Disziplin ... individualisiert die Körper durch eine Lokalisierung, die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von Relationen verteilt und zirkulieren läßt« (5.187). Die Herausbildung der Disziplinen auf der Ebene einer Kontrolle durch die Herstellung der räumlichen Verteilungen von Körpern/Individuen tritt, wie Foucault aufweist, auch in einer neuen räumlichen Durchorganisation der Schulklassen in Erscheinung. Früher waren die Körper der Schüler /Lehrer in den Klassen unterschiedlich angeordnet - etwa nach dem Modell von Schlachtordnungen mit zwei gegnerischen Parteien (so in Jesuitenkollegs, vgl. S.187), besonders verbreitet wohl aber in einer Anordnung, durch welche »ein Schüler ... einige Minuten lang mit dem Lehrer« arbeitet, »während die ungeordnete Masse der anderen ohne Aufsicht müßig ist und wartet« (5.188). Im Katalog der großen Mozart-Ausstellung des Historischen Museums in Wien, 1990/91, findet sich (auf S.130) die Abbildung eines zeitgenössischen Gemäldes, »Unterricht in einer Knabenvolksschule«, auf welchem das mühsam geordnete Durcheinander eines so gestalteten Unterrichts eindrucksvoll sichtbar wird: Der Lehrer beschäftigt sich mit einem Kind, ein zweites wird gerade von einem Visitator examiniert, ein drittes steht weinend in der Ecke, während der Rest der Schüler unbeschäftigt in verschiedenen Gruppierungen herumsitzt. Das Prinzip des gleichzeitigen Unterrichtens mehrerer Schülerinnen/Schülerdurch einen Lehrer wurde (der Bildunterschrift zufolge) in Österreich erst durch die Reform des Abtes Johann Ignaz Felbiger (1724 - 1788) eingeführt.
Die U morganisation der Schulklassen im Zuge der Wandlung der Schule zu einer Disziplinarinstitution im Sinne Foucaults wird von diesem folgendermaßen geschildert: •Allmählich - vor allem nach 1762 - ,verflacht' sich der Schulraum; die Klasse wird homogen und besteht nur mehr aus individuellen Elementen, die sich nebeneinander unter dem Blick des Lehrers ordnen. Der ,Rang' beginnt im 18. Jahrhundert die große Form der Verteilung der Individuen in der Schulordnung zu definieren: Schülerreihen in
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der Klasse, Korridore, Kurse; jeder erhält bei jeder Aufgabe und bei jeder Prüfung einen Rang zugewiesen -von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr; Gleichschaltung der verschiedenen Altersklassen; Abfolge des Lehrstoffs und der behandelten Fragen in der Ordnung zunehmender Schwierigkeit. Und in diesem System obligatorischer Gleichschaltungen erhält jeder Schüler nach seinem Alter, seinen Leistungen, seinem Benehmen bald diesen Rang und bald einen anderen; er verschiebt sich ständig auf jenen Reihen, von denen die einen rein ideal eine Hierarchie des Wissens und der Fähigkeiten markieren, während die anderen die Verteilung der Werte und der Verdienste materiell in den Raum der Klasse oder des Kollegs übersetzen. In dieser ständigen Bewegung ersetzen sich die Individuen. In diesem Raum skandieren sich gleichgeschaltete Intervalle• {Foucault 1977, S.l88).
Die mit den Disziplinarinstitutionen herausgebildeten Anordnungen der Körper im Raum ermöglichen nun - so Foucault - verschiedene Formen darüber hinausgehender Kontrolle über die Tätigkeit der einzelnen Körper I Individuen durch deren Fixierung in der Zeit.- So kames-bevorzugt beim Militär, aber von da aus auch in anderen Disziplinaranordnungen- zu immer strengeren Vorschriften der Zeitplanung, Stundenplänen, der zeitlichen Durcharbeitung der Tätigkeiten, der Zuordnung von Zeiten, Gesten und Objekten, nicht nur mit dem negativen Zi~l der Verhinderung von Müßiggang und Leerlauf, sondern als positive Zeitökonomie, um aus der Zeit »immer noch mehr verfügbare Augenblicke, aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen« (S.198).- In unserem Darstellungszusammenhang von besonderer Relevanz ist jener zeitliche Aspekt der Disziplinaranlagen, die Foucault die »Organisation von Entwicklungen« nennt: Er weist auf, wie aus zunftmäßigen Lehrverhältnissen, die nicht nach einem festgelegten Programm gegliedert sind und mit nur einer Prüfung abschließen, die Organisation von stufenweisen Fortschritten wurde, mit gestaffelten Prüfungen, durch welche jedes Individuum einer bestimmten Stufe zuzuordnen, also die Rangzuweisung inhaltlich mit entsprechenden Fähigkeiten und Verhaltensweisen begründbar ist. Diese Organisation der »Disziplinarzeit« wurde zunächst in den Klöstern und beim Militär perfektioniert und griff »allmählich auf die pädagogische Praxis über- und spezialisiert die Zeit der Ausbildung, indem sie sie von der Erwachsenen-Zeit, von der Berufs-Zeit ablöst; indem sie durch abgestufte Prüfungen voneinander geschiedene Stadien organisiert; indem sie die Programme festlegt, die jeweils während einer bestimmten Dauer ablaufen müssen und Übungen von zunehmender Schwierigkeit enthalten; indem sie die Individuen je nach dem Durchlauf durch diese Serien qualifiziert« (S.205). »Und es ist daran zu erinnern, daß eben damals die Kontrolltechniken der Administration und der Wirtschaft eine gesellschaftliche Zeit serieller, gerichteter und kumulativer Art zur Geltung brachten: Entdeckung einer Evolution als ,Fortschritt'. Die Disziplinartechniken
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bringen individuelle Serien hervor: Entdeckung einer Evolution als ,Entwicklung'« (S.206). - Mit der Festlegung von Entwicklungsstufen trat nach Foucault eine Facette der Disziplinartechniken in den Vordergrund, durch welche in besonders sinnfälliger Weise eine Synchronisation des individuellen Vermögens mit den »vorgeschriebenen« Zeitreihen erreichbar schien: »Es handelt sich um die ,Obung'. Die Übung ist nämlich jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen. Indem sie das Verhalten auf einen Endzustand ausrichtet, ermöglicht die Übung eine ständige Charakterisierung des Individuums; entweder in Bezug auf dieses Ziel oder in Bezug auf die anderen Individuen oder in Bezug auf eine bestimmte Gangart. Auf diese Weise gewährleistet sie in der Form der Stetigkeit und des Zwanges sowohl Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung« (S.207f, Hervorh. K.H.). Auf der bisher dargestellten Ebene raumzeitlicher Durchorganisation der Disziplinarinstitutionen ruht nach Foucault eine spezifischere Ebene auf, die in gewisser Weise den Kern der Disziplinartechniken bildet, die intendierte Beeinflussung und Dressur der Individuen, die Foucault (im Anschluß an Wallhausen) als »gute Abrichtung« kennzeichnet - (im Einklang mit der Machtökonomie der Disziplinen) nicht als eine »herrschaftliche« Machtdurchsetzung von »oben« nach •unten«, sondern als eine wechselseitig verschränkte Form der Machtausübung im Inneren der Institutionen selbst: »Die Disziplin ,verfertigt' Individuen: sie ist die spezifische Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt. Es handelt sich nicht um eine triumphierende Gewalt, die aufgrund ihres Überschwanges an ihre Überlegenheit glaubt, sondern um eine bescheidene und mißtrauische Gewalt, die als eine sparsam kalkulierte, aber beständige Ökonomie funktioniert« (S.220}. - Als deren wesentliche Techniken benennt Foucault die »hierarchische Überwachung« und die »normierende Sanktion«. Die hierarchische Oberwachung tritt an die Stelle der von außen ausgeübten Aufsicht durch bestimmte, dazu eingesetzte Personen - dies einmal dadurch, daß die Beobachtung und das Beobachtetwerden dergestalt ins Innere der instituti?.nellen Beziehunßen verlegt werden, daß hier potentiell jeder gleichzeitig Uberwacher und Uberwachter ist, die Beobachter ihrerseits beobachtet werden können; das wiederum erfordert eine möglichst differenzierte Organisation von Sichtbarkeiten, womit - schon durch die Architektur der Anlagen, aber auch durch entsprechende Verhaltensregeln - der Möglichkeit nach jeder gewärtig sein muß, gesehen zu werden, ohne selbst zu sehen, sich also nirgends wirklich unbeobachtet wähnen kann, und so unerlaubte
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Zusammenrottungen, Ausschweifungen, Homosexualität erschwert, aber auch Refugien, in denen der einzelne sich vorübergehend der Kontrolle entziehen kann, eliminiert werden. Derartige differenzierte Organisationsformen des »Disziplinarblicks• entwickelten sich, so Foucault, beim Militär, in den großen Werkstätten und Fabriken, etc. »Dieselbe Entwicklung findet in der Umgestaltung des Elementarunterrichts statt: die Überwachung wird zu einer eigenen Aufgabe und zugleich in das Erziehungsverhältnis integriert« (S.227). Diese »hierarchisierte, stetige und funktionelle Überwachung gehört gewiß nicht zu den großen technischen ,Erfindungen' des 18. Jahrhundertsvielmehr beruht ihre schleichende Ausweitung auf den neuen Machtmechanismen, die sie enthält. Mit ihr wird die Disziplinargewalt ein ,integriertes' System, das von innen her mit der Ökonomie und den Zwecken der jeweiligen Institution verbunden ist und das sich so zu einer vielfältigen, autonomen und anonymen Gewalt entwickelt« (S.228). »Die Disziplin hält eine aus Beziehungen bestehende Macht in Gang, die sich durch ihre eigenen Mechanismen selbst stützt und aufsehenerregenden Kundmacbungen ein lückenloses System kalkulierter Blicke vorzieht« (S.229}. Die Techniken »normierender Sanktion« werden nach Foucault ausgeübt durch jene kleinen Strafmechanismen im »Herzen aller Disziplinarsystemec (S.230}, die nicht, wie die große Strafjustiz, Handlungen nach dem Prinzip »schuldig-nichtschuldig«, sondern Individuen auf vielfältig abgestuften Dimensionen von Vergehen, Verstößen, »Unregelmäßigkeiten«, beurteilen. Was seit Mitte des 18. Jahrhunderts »in der Werkstatt, in der Schule, in der Armee überhandnimmt, ist eine Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (,falsche' Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit)« (S.230). Darüber hinaus werden die Leistungen der Schülerinnen/Schülergenerell nach Graden dimensioniert und immer präziser als Abweichungen bewertbar. Die Strafen, mit denen derartige Abweichungen sanktioniert werden, sind, so Foucault, nicht nur »negative, sondern wesentlich auch positiv, »korrigie· rend«. Die Disziplinarsysteme »bevorzugen ... Bestrafungen, die in den Bereich des Übens, des intensivierten, vervielfachten, wiederholten Lernens fallen« (5.232}. Innerhalb dieses Systems von ..Vergütung und Sanktion, von Dressur und Besserung• muß der Lehrer (nach Demia, 1716) •,Züchtigungen so weit wie möglich vermeiden; im Gegenteil, er muß versuchen, häufiger Belohnungen auszuteilen als Strafen; denn die Faulen werden durch das Verlangen, ebenso belohnt zu werden wie die Fleißigen, mehr angeeifert als durch die Furcht vor Strafen; darum wird es sehr ersprießlich sein, wenn es dem Lehrer, der eine Strafe anwenden muß, zuvor gelingt, das Herz des
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Schülers zu gewinnen'« (S.233). - »Während in der Strafjustiz das Verbot als einfache Scheidelinie fungiert«, handelt es sich in den pädagogischen Einrichtungen um eine »Verteilung zwischen einem positiven und einem negativen Pol. Das gesamte Verhalten fällt unter gute oder schlechte Noten, unter Gutpunkte und Schlechtpunkte. Und das läßt sich sogar quantifizieren und zu einer Zahlenökonomie ausbauen. Eine ständig auf den neuesten Stand gebrachte Buchführung legt die Strafbilanz eines jeden jederzeit offen. Die Schuljustiz hat dieses System, von dem sich in der Armee und in der Werkstatt zumindest Spuren finden, sehr weit getrieben« (S.233). Um eine derartige pädagogische Buchführung an einem extremen Beispiel zu glossieren, wird von Foucault J.-B. de la Salle zitiert, der die Mikro-Ökonomie der Privilegien und Strafaufgaben, die von den christlichen Schulbrüdern organisiert wurde, darstellt: ,.Die Privilegien sollen den Schülern dienen, um sich damit von den Bußen zu befreien, die ihnen etwa auferlegt werden könnten ... Ein Schüler etwa, der die Strafaufgabe bekommen hat, vier oder sechs Katechismusfragen abzuschreiben, kann sich mittels einer bestimmten Zahl von Privilegienpunkten davon loskaufen; der Lehrer wird bestimmen, welche Zahl jeder Frage entspricht ... Da jedes Privileg eine bestimmte Punktzahl wert ist, können kleinere Privilegien auch als Wechselgeld dienen. Wenn etwa ein Kind, das über ein Privileg von 10 Punkten verfügt, eine Strafaufgabe hat, von der es sich mit sechs Punkten loskaufen kann, so gibt es dem Lehrer sein Privileg zurück und bekommt dafür eines von vier Punkten wieder« (S.233).
Allgemein gesehen zielt nach Foucault im »System der Disziplinarmacht ... die Kunst der Bestrafung nicht auf Sühne und auch nicht eigentlich auf die Unterdrückung eines Vergehens ab. Sie führt vielmehr fünf verschiedene Operationen durch: sie bezieht die einzelnen Tage, Leistungen und Verhaltensweisen auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist: Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann: Die Fähigkeiten, das Niveau, die ,Natur' der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ,wertenden' Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen (die ,Schandklasse' der Ecole militaire). Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend und ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend« (S.236, Hervorh. teilw. K.H.)- Als genereller historischer Hintergrund der auf diese Weise funktionierenden normierenden Sanktion wird von Foucault der Durchbruch der »Macht der Norm« herausgehoben: ,.zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen
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Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente. An die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machten, tritt mehr und mehr ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände mißt, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und Unterschiede nutzbringend aufeinander abstimmt. Die Macht der Norm hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und als präzises Meßergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann« (S.238f, Hervorh. K.H.). Als Machttechnik, die in gewisser Weise im Zentrum der Disziplinaranlagen steht, wurde von Foucault die •Prüfung« herausanalysiert. Darin sind einerseits die »Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion« kombiniert: »Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung« (S.238). Andererseits aber gehen die Strategien der Macht und die Diskurse des Wissens - die »Disziplin« als Anordnung der Machtökonomie und als wissenschaftlicher Bereich- in der Prüfung auf sichtbarste Weise eine Verbindung ein: •In ihr verknüpfen sich das Zeremoniell der Macht und die Formalität des Experiments, die Entfaltung der Stärke und die Ermittlung der Wahrheit« (5.238). Wie etwa das Spital durch immer differenziertere Prüfungsrituale der Diagnose und der Einordnung von Patienten, so wird in •gleicher Weise ... die Schule zu einem pausenlos funktionierenden Prüfungsapparat, der den gesamten Unterricht begleitet. Es geht immer weniger um jene Wettkämpfe, in denen die Schüler ihre Krifte maßen, und immer mehr um einen ständigen
Vergleich zwischen dem einzelnen und allen anderen, der zugleich Messung und Sanktion ist« (S.240, Hervorh. K.H.). - Diese Einheit von individueller Zuschreibung und Objektivierung wird nach Foucault ermöglicht durch eine mit der Ritualisierung und Perfektionierung der Prüfung immer stärker hervortretende Tendenz zur Dokumentierung der der Prüfung unterworfenen Disziplinarindividualität: ·Die Prüfung stellt die Individuen in ein Feld der Überwachung und steckt sie gleichzeitig in ein Netz des Schreibens und der Schrift; sie überhäuft sie mit einer Unmasse von Dokumenten. Von Anfang an waren die Prüfungsverfahren an ein System der Registrierung und Speicherung von Unterlagen angeschlossen« (S.244), der •Organisation von Vergleichsfeldern zum Zwecke der Klassifizierung, Kategorienbildung, Durchschnittsermittlung und Normenfixierung« (5.245). - Durch solche
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Dokumentierungen und Fixierungen von Prüfungsverlauf und -ergebnis wird jedes Individuum zu einer Aktenperson, zu einem •Fall«: ..Als rituelle und zugleich ,wissenschaftliche' Fixierung der individuellen Unterschiede, als Festnagelung eines jeden auf seine eigene Einzelheit (im Gegensatz zur Zeremonie, in der Standeszugehörigkeiten, Abstammungen, Privilegien, Ämter zu unübersehbarem Ausdruck kamen), zeigt die Prüfung das Heraufkommen einer neuen Spielart der Macht an, in der jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen erhält, in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ,Noten' festgelegt wird, die aus ihm einen ,Fall' machen« (S.247). Durch die Prüfung und den ihr angeschlossenen Aufzeichnungsapparat wird mithin einerseits das Individuum ,.in seinen besonderen Zügen, in seiner eigentümlichen Entwicklung, in seinen eigenen Fähigkeiten« festgehalten, dabei andererseits ,.ein Vergleichssystem« aufgebaut, »das die Messung globaler Phänomene, die Beschreibung von Gruppen, die Charakterisierung kollektiver Tatbestände, die Einschätzung der Abstände zwischen den Individuen und ihre Verteilung in einer ,Bevölkerung' erlaubt« (S.247). Diese »kleinen Notierungs-, Registrierungs-, Auflistungs- und Tabellierungstechniken, die uns so vertraut sind«, haben, so Foucault, »die epistemologische Blockade der Wissenschaften vom Individuum aufgehoben« (S.245f, Hervorh. K.H.): Erst durch die - in den Spitälern, den Schulen etc. eingeführten Methoden der Einzelbeschreibung, Anamnese, der Registrierung, des Vergleichs, der Messung, hat sich jener spezielle Wirklichkeitszugriff konstituiert, der den Individualwissenschaften zu ihrem besonderen empirischen Gegenstand verhalf: ..Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist« (S.246).- Damit es zum Gegenstand der Wissenschaft werden konnte, mußte sich im historischen Prozeß die Annäherung an das Individuum quasi umkehren: Nicht mehr die Verfahren der »aufsteigenden Individualisierung« durch Erzählungen von herausragenden Leistungen und Eigenschaften des verehrungswürdigen einzelnen, »Denkmäler oder Stiftungen, die das Überleben nach dem Tode sichern«, sondern •absteigende Individualisierung«: ..je anonymer und funktioneller die Macht wird, um so mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert: und zwar weniger durch Zeremonien als durch Überwachungen, weniger durch Erinnerungsberichte als durch Beobachtungen; nicht durch Genealogien, die auf die Ahnen verweisen, sondern durch vergleichende Messungen, die sich auf die ,Norm' beziehen; weniger durch außerordentliche Taten als durch ,Abstände' ... Alle Psychologien, -graphien, -metrien, -analysen, -hygienen, -techniken
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und -therapien gehen von dieser historischen Wende der Individualisierungsprozeduren aus. Als man von den traditionell rituellen Mechanismen der Individualisierung zu den wissenschaftlich-disziplinären Mechanismen überging, als das Normale den Platz des Altehrwürdigen einnahm und das Maß den Platz des Standes, als die Individualität des berechenbaren Menschen die Individualität des denkwürdigen Menschen verdrängte und die Wissenschaften vom Menschen möglich wurden - da setzten sich eine neue Technologie der Macht und eine andere politische Anatomie des Körpers durch« (S.248f). Durch die »Formierung des Wissens und die Steigerung der Macht« in einem geregelten Wechselwirkungsprozeß treten die Disziplinen also »über die Schwelle der ,Technologie'. Zunächst das Spital, dann die Schule, noch später die Werkstatt: sie sind durch die Disziplinen nicht einfach ,in Ordnung gebracht' worden; vielmehr sind sie dank ihnen solchermaßen zu Apparaten geworden, daß jeder Objektivierungsmechanismus darin als Subjektivierungs/Unterwerfungsinstrument funktioniert und daß jede Machtsteigerung neue Erkenntnisse ermöglicht« (S.287, Hervorh. K.H.). »Aufgrund dieser Verbindungen, die den technologischen Systemen eigen sind, konnten sich im Element der Disziplin die klinische Medizin, die Psychiatrie, die Entwicklungspsychologie, die pädagogische Psychologie, die Rationalisierung der Arbeit formieren. Es handelt sich also um einen zweifachen Prozeß: um eine epistemologische Enthemmung aufgrund einer Verfeinerung der Machtbeziehungen und um eine Vervielfältigung der Machtwirkungen dank der Formierung und Anhäufung der Kenntnisse« (S.288). Mit dieser Darstellung der aus ihrer .Verwissenschaftlichung« entstandenen Überhöhung der Disziplinen zu »Technologienc sind wir- durch die Entfaltung ihrer konkreten Bestimmungen hindurch - wiederum bei jenen von Foucault formulierten Auffassungen über die gesamtgesellschaftliche Funktionalität der Disziplinen, die wir unserer differenzierenden Charakterisierung voranstellten, angelangt: Dem historischen Unterlaufen der mit der Dominanz bürgerlicher Lebensverhältnisse garantierten formell-rechtlichen Gleichheit d~rch den Aufbau »unübersteiglicher Asymmetrienc und den Auss<;;hluß VOJ;l-·»Gegenseitigkeiten« im Reproduktionszusammenhang kapitalistischer Klassenherrschaft (vgl. S.349ff). Nun dürfte deutlicher geworden sein, auf welche Weise nach Foucault mit den »wirklichen und körperlichen« Disziplinen ohne äußere, sichtbare Machtmittel »die unumkehrbare Unterordnung der einen unter die anderen, die immer an eine Seite gebundene Übermacht, die ungleichen Positionen der verschiedenen ,Partner' hinsichtlich der gemeinsamen Regelung« sich durchsetzen (5.86). Demnach ist hier die Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse weder von außen
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aufgezwungen, noch von ,.oben« in die Köpfe eingepflanzt, sondern ergibt und versteht sich, indem jeder gemäß der ..Vernunft« der im Inneren der Institutionen wirkenden Machtökonomie sich in seinem eigenen Interesse zu den Lebensbedingungen und den anderen praktisch ins Verhältnis setzt, permanent von selbst. ,.zweifellos liegt hier der Grund dafür, daß man den kleinen Disziplinarprozeduren seit so langer Zeit eine solche Bedeutung zumißt: ihren kleinlichen listenreichen Erfindungen wie auch den Wissenschaften, die ihnen ein ehrenvolles Ansehen verschaffen« (Foucault 1977, S.286f).
Schuldisziplin im Spiegel administrativer Vorschriften L· Parzellierung, Rang, Zeitökonomie, Organisation von Entwicklungen Die damit skizzierten Foucaultschen Bestimmungen der ,.Schuldisziplin« sollen nun (wie gesagt) von uns aus dem Gesamtzusammenhang, in dem sie genealogisch entwickelt wurden, herausgelöst und - ohne daß wir damit jeder einzelnen historischen Ableitung zustimmen und ohne die Diskussion methodischer Alternativen - heuristisch als analytisches Instrument zur Durchdringung der Widersprüchlichkeiten schulischen Lebens und Lernens benutzt werden: Die institutionellen Bedeutungsstrukturen von ,.schule« werden von uns als sich im historischen Selbstlauf - teilweise ohne Wissen, teilweise wider die bessere Einsicht der Beteiligten - durchsetzende ,.disziplinäre« Grundstrukturen aufgefasst, die die Begründungsprämissen für schulische Lernhandlungen darstellen, durch welche die hier gegebenen Lernmöglichkeiten in spezifischer Weise eingeschränkt, kanalisiert, zurückgenommen sind. Auf dem Wege dahin wollen wir zunächst quasi noch einen Schritt näher an die Struktur der Schule, wie sie uns hier und heute gegeben ist, herantreten. Dazu versuche ich, die für die neunziger Jahre im Westteil Berlins gültigen Schulgesetze und -Verordnungen, wie sie vom Senator für Schulwesen herausgegeben bzw. erlassen wurden, exemplarisch* in Termini von Foucaults ,.schuldisziplin« zu interpretieren.
* Der
Frage der Verallgemeinerbarkeit der für unseren Problemzusammenhang einschlägigen Bestimmungen des Berliner Schulreglements auf nationaler und internationaler Ebene gehe ich - da ich hier lediglich die Fruchtbarkeit der Heranziehung solcher Schulreglements zur Konkretisierung schuldisziplinärer Bedeutungsstrukturen aufweisen, dieses Konzept aber nicht schon bis in die Einzelheiten ausführen will - nicht nach.
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Derartige Gesetze, Verordnungen, Rundschreiben repräsentieren natürlich nicht die volle Schulwirklichkeit. Sie bilden vielmehr eine Art von selbständiger administrativer Diskursebene, in welcher sich neben politischen Zielen auch erziehungswissenschaftliche Vorstellungen niederschlagen, aber nicht im genuinen Kontext wissenschaftlicher Problematisierungen, sondern der Reflexion entzogen und in ..Vorschriften« gegossen. Die Widersprüchlichkeiten und Unübersichtlichkeitendes realen Schullebens werden dabei unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was in den jeweils konkreten Schulgebäuden »eigentlich« stattfinden und ablaufen soll, und es werden Anweisungen gegeben und Ratschläge erteilt, nach denen Abweichungen wieder einreguliert werden können. Dabei ist die Brüchigkeit der Umsetzbarkeit solcher Regeln den Beteiligten mindestens teilweise (halb) bewußt, was aber niemanden daran hindert, im Rahmen dieses Regelwerks weiterzumachen. Von da aus liegt die Annahme nahe, ein solches Schulreglement eben auf jene praktischsinnlichen schulischen Grundstrukturen hin zu befragen, wie wir sie mit Foucault als »disziplinäre« Strukturen charakterisieren. Durch die genauere Betrachtung des Berliner Schulreglements wollen wir uns den analytischen Blick dafür schärfen, woraufhin die schulischen Lebensäußerungen - wenn auch häufig auf vermittelte und indirekte Weise - immer wieder »einreguliert« werden, welcher Art die »machtökonomischen« Verhältnisse in den Schulen als Lernstätten eigentlich sind, durch welche insbesondere schulisches Lernen sich - seiner vollen Möglichkeiten beraubt - stets nur in widersprüchlicher Weise, halbherzig und verwässert realisieren kann (s.u.). Das Material, auf das ich mich dabei beziehen will, ist die Dokumentation »Berliner Recht für Schule und Lehrer«, die (in zwei dicken Bänden) von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), Landesverband Berlin, unter der Redaktion von W. Mayer, J. K. Jaksch und K. Will (3. Auf!. 1990) herausgegeben wurde: Darin sind alle einschlägigen Gesetzestexte, administrativen Ausführungsvorschriften, Rundschreiben etc. enthalten und jeweils durch Zusatzlieferungen auf den neuesten Stand gebracht (ich verweise auf diese Dokumente und auf die daraus angeführten Stellen im folgenden durch die laufenden Nummern und Seitenzahlen, z.B. 200-1, wie sie in der GEW-Dokumentation angegeben sind, setze die zitierten Passagen in Anführungszeichen und hebe sie durch KAPI"IÄLCHEN ab).
Bei Durchsicht der benannten Dokumentation unter dem Gesichtspunkt ihrer lnterpretierbarkeit in Termini der »Schuldisziplin« frappierte mich auf Anhieb die Unmittelbarkeit, mit welcher bereits die räumlichen Anordnungen der Schule, wie wir sie alle kennen, durch Foucaults Konzeptualisierungen der Verteilung der Körper im Raum als elementarer Funktion der Disziplinaranlagen auf den Begriff gebracht und verallgemeinert werden können: Was sind die Schulgebäude anderes als bestimmte Erscheinungsformen der »Klausur«, d.h. baulichen Abschließung von bestimmten Orten gegenüber
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anderen, wie sie nach Foucault in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Festsetzung umherschweifender Massen aufkamen; Orte mit festen V mfassungsmauern, durch die man den Aus- und Eintritt, damit die Anzahl der Insassen kontrollieren, so Mißbräuchen vorbeugen und Unbefugte fernhalten kann (»ÜBEil DIE ÖFFNUNGSZEITEN DES ScHUlGEBÄUDES FÜR DEN ScHULBETiliEB ENTSCHEIDET DIE ScHULKONFEilENZ. SIE SOLLEN DEN ScHÜLERN uND ERZIEHUNGSBEilECHTIGTEN MITGETEILT WEIDEN«, 330-3)? Und was ist die Einfriedung jeweils fixierter Schülerzahlen in einzelne Klassenräume mit bezifferten Türen, die Zuweisung von Plätzen innerhalb der Klassenzimmer etc. anderes als eine Variante der damit einhergehenden »Parzellierung der Körper« (»jedem Individuum sein Platz und auf jeden Platz ein Individuum«); sowie die hierarchische Einstufung der Individuen und Klassen etwas anderes als eine Variante der Zuweisung eines »Ranges«, wie sie Foucault als »große Form der Verteilung der Individuen in der Schulordnung« seit dem 18. Jahrhundert gekennzeichnet hat, mit der Homogenisierung der Schülerinnen/ Schüler durch »Gleichschaltung der verschiedenen Altersklassen«: »DER BILDUNGSGANG GLIEDEKI' SICH ... IN AUFSTEIGENDE KLASSENSTUFEN, DENEN DIE ScHÜLER IN DEil REGEL JEWEILS FÜR DIE DAUER EINES ScHUlJAHRES ANGEHÖilEN (KLASSEN ODER JAHilGANGSSTUFEN)« (200-10)? Entsprechendes gilt für die mit dem Aufkommen räumlicher Anordnungen in den Disziplinaranlagen einhergehende Herausbildung der Zeitökono· mie, wie Foucault sie gekennzeichnet hat, die Vorschriften zur Zeitplanung, die Aufstellung von Stundenplänen, die Bemühungen um stete Erhöhung der Nutzzeit beim Militär, in den Werkstätten und eben in den Schulen: Auch hier und heute ist die Schule einem strengen und präzisen zeitlichen Reglement unterstellt, zentriert auf die Fixierung einer zeitlichen Grundeinheit als Tatsachenfeststellung und Vorschrift zugleich: »EINE UNTERRICHTS· STUNDE DAUEKI' 45 ... MINUTEN« (330-2). Danach ist dann einerseits der Schultag gegliedert und abgegrenzt: »DEil VollMITIAGSUNTEillliCHT UMFASST HÖCH· STENS SECHS UNTEillliCHTSSTUNDEN, Eil BEGINNT IN DER REGEL NICHT VOll ACHT UHR. UNTEillliCHT, DER NACH IJ.OO BEGINNT, IST NACHMITTAGSUNTEillliCHT« (330-2); dem entspricht eine wahrhaft »minutiöse« Regelung über die »Dauer der Pausen« (330-2), (die immer noch durch eine zentrale Glocke für die ganze Schule ein- und ausgeläutet werden). Andererseits dient die Schulstunde auch als Einheit bei der zeitlichen Verteilung des Unterrichts auf die einzelnen Schulfächer, wobei der Unterrichtsinhalt und seine zeitliche Zuordnung in Stundenplänen streng synchronisiert (und, da an der Zahl von Stunden pro Fach seine offizielle Relevanz sich dokumentiert, heftig umkämpft) ist: »DIE ANZAHL DEil UNTEillliCHTSSTUNDEN ... IN DEN EINZELNEN UNTEillliCHTS· FÄCHERN ... EilGIBT SICH ... AUS DER 5TUNDENTAFEL; HIERÜBER WEilDEN BESONDERE
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
VoRSCHRIFTEN ERLASSEN« (330-lf). Entsprechend sind •Stundentafelncc für die einzelnen Schultypen und Klassen als Tabellen vorgeschrieben, in denen die •LERNBEREICHE BZW. UNTERRICHTSFÄCHER« ALS ZEILENÜBERSCHRIFTEN UND DIE •ANZAHL DER ScHÜLERWOCHENSTUNDEN JE KLASSE« als Spaltenüberschriften fungieren (z.B. Stundentafel für die Grundschule, 410-20). Ein für unsere weitere Diskussion besonders folgenreicher zeitlicher Aspekt der disziplinären Machtökonomie, in den der räumliche Gesichtspunkt des Ranges integriert ist, ist die von Foucault herausgehobene »Organisation von Entwicklungen« durch Hervorbringung von Serien individuellen Fortschritts in festgelegten Stufen und vorgeschriebenen Zeitreihen, wobei das Aufsteigen jedes Individuums von einer Stufe zur nächsten durch gestaffelte Leistungsnachweise, Prüfungen etc. geregelt ist. Im Zentrum dieser Organisation der Disziplinarzeit, die nach Foucault von den Klöstern und dem Militär auf die pädagogische Praxis übergriff, steht auch hier und heute noch die ehrwürdige (oft kritisierte, aber offenbar unverzichtbare} Prozedur der Versetzungen und des Sitzenbleibens. Deren Charakter als Kriterium für die •Organisation von Entwicklungen« bei gleichzeitiger Binnenhomogenisierung der einzelnen Stufen kommt m.E. in folgender Formulierung (aus dem Berliner Schulgesetz) besonders plastisch zum Ausdruck: •DIE ENTSCHEI· DUNG OBER DIE VERSETZUNG EINES ScHOLERS SOLL ALS PÄDAGOGISCHE MAssNAHME DEN BILDUNGSGANG DES EINZELNEN ScHÜLERS MIT SEINER GEISTIGEN ENTWICKLUNG IN ÜBEREINSTIMMUNG HALTEN UND DIE LEISTUNGSFÄHIGKEIT DER AUF· STEIGENDEN KLASSE SICHERN« (200-11). Derartige Entwicklungen werden hier indessen nicht nur perSynchronisationdes »Leistungsstandes« jeder Schülerin und jedes Schülers mit ihrer/seiner Zugehörigkeit zur entsprechenden Klassenstufe (quasi als Korrektur des Prinzips der bloßen Alterszuordnung), sondern auch als kontrollierter Aufstieg von der Grundschule in »höhere« Schularten, so in die Oberschul-Zweige Realschule und Gymnasium, organisiert. Charakteristischerweise ist dabei, zusätzlich zu den Aufnahmekriterien, der endgültigen Beförderung eine •Probezeit« vorgeschaltet, die folgendermaßen geregelt ist: »DIE AUFNAHME IN DIE REALSCHULE ODER IN DAS GYMNASIUM ER· FOLGT PROBEWEISE. WÄHREND DER PROBEZEIT HABEN DIE LEHRER DIE BESONDERE PFLICHT, DIE ScHÜLER DARAUFHIN ZU BEOBACHTEN, OB SIE FÜR DEN BESUCHTEN ÜBERSCHULZWEIG GEEIGNET SIND ODER OB SIE VORAUSSICHTLICH DEN ANFORDE· RUNGEN DIESES ÜBERSCHULZWEIGES NICHT GEWACHSEN SEIN WERDEN UND DA· DURCH AUCH DIE ARBEIT IN DER KLASSE BEHINDERN« (4200-7). Derartige »Probezeiten«, ·Einführungsphasen« o.ä., also Zeitabschnitte, innerhalb derer die Beförderung noch rückgängig gemacht werden kann, sind als Initialstadien in allen höheren Beschulungsniveaus, Leistungskursen etc. installiert, um diejenigen Schülerinnen I Schüler, die da nicht hingehören, wieder entfernen
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und so die Homogenität der jeweiligen Gruppierungen (als Erfordernis der Machtökonomie) sichern zu können.
II: Überwachung, Sanktionierung, normalisierende Differenzierung Unter den von Foucault in ihrer Genealogie herausanalysierten Disziplinartechniken der »guten Abrichtung« mag die »hierarchische Überwachung« neuerdings gegenüber der von ihm beschriebenen Perfektion in den »Elementarschulen« des 18. Jahrhunderts an Systematik und Lückenlosigkeit abgenommen haben. So scheint die mir aus meiner Schulzeit bekannte Praxis, in die (für Schüler bestimmten) Toiletten nur Klotüren ohne Riegel einzubauen, um die Klosettzellen prinzipiell fremden Blicken zugänglich und so als Refugien und als Orte der (einsamen oder wechselseitigen) Onanie unbrauchbar zu machen, heute kaum noch vorzukommen; ebensowenig ist wohl das Lehrerkommando an die Klasse »Hände auf den Tisch« gegenwärtig noch üblich. Wieweit das »Petzen« als Praktik von Schülerinnen/Schülern, andere (u.U. vermittelt über die Zuträgerschaft der Eltern) beim Lehrer zu denunzieren, immer noch ausgeübt und akzeptiert wird, kann ich nicht überblicken. Immerhin aber gibt es in dem von uns hier herangezogenen Berliner Schulreglement genug Hinweise darauf, daß der von Foucault benannte »Disziplinarblick« auch noch jetzt und hier »in das Erziehungsverhältnis integriert« ist, dies am eindeutigsten als in speziellen Vorschriften geforderte Allgegenwart von »Aufsicht«: »WÄHREND DES AuFENTHALTS DER ScHOI.ER AUF DEM ScHuLGELÄNDE Muss IHRE BEAUFSICHTIGUNG GEWÄHRLEISTET SEIN ... DIE AuFSICHT WIRD voN LEHRERN ODER PÄDAGOGISCHEN MITARBEITERN AUSGEÜBT; SIE KANN IN BESONDEREN FÄLLEN VORÜBERGEHEND AUF ANDERE PERSONEN ÜBERTRAGEN WERDEN« (330-3). Aber auch in Anordnungen, die andere Aspekte des Schulalltags regeln sollen, wird dem »Lehrer« immer wieder die »Beobachtung« seiner Schülerionen/Schüler anempfohlen oder auferlegt, sei es zum Zwecke ihrer Beurteilung, sei es zur Prävention oder Aufdeckung von Fehlverhaltensweisen unterschiedlicher Art. Die administrative Relevanz solcher Aufsichts- und Beobachtungsaktivitäten tritt besonders scharf aus dem Negativen hervor, nämlich aus der Schärfe, mit der der Lehrer selbst sanktioniert wird, sofern er seiner »Aufsichtspflicht« erkennbar nicht hinreichend nachkam. Damit wiederum ist darauf verwiesen, daß die Lehrer nicht nur Aufsicht ausüben, sondern auch auf vielfältige Weise der (direkten und vermittelten) Aufsicht durch die Schülerinnen/Schüler, die Eltern, die Schulleitung, die Schulbehörde unterliegen, also in das von
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AufschlüsseJung historisch bestimmter institutioneJJer Lernverhältnisse
Foucault gekennzeichnete System hierarchisierter Überwachung einbezogen sind. Dies leitet uns hin zur zweiten Form der von Foucault aufgewiesenen Techniken »guter Abrichtung«, der »normierenden Sanktion«: Diese ist nicht nur, wie Foucault feststellt, das Herzstück aller Disziplinarsysteme, sondern bildet, wie sich zeigen soll, zusammen mit ihrer ritualisierten Form als »Prüfung« das Zentrum aller machtökonomischen Reproduktionsstrategien und -techniken auch der heutigen Schule als Disziplinaranlage (wie und soweit sie im Berliner Schulreglement gespiegelt ist). Der äußere, i.e.S. juristische Rahmen der schulischen Sanktionsmacht ist die gesetzliche Verankerung der »Schulpflicht«. Diese bestand offensichdich in zwei verschiedenen Ausprägungen: Einmal als bloßer» Unterrichtszwange (die Eltern waren verpflichtet, ihre Kinder dem Unterricht in irgendeiner Form, also etwa auch als Privatunterricht, zuzuführen) und zum anderen als eigentlichen ..Schulzwang«, d.h. als Pflicht, die Kinder in den öffentlichen Schulen unterrichten zu lassen. Dieser »Schulbesuchszwang« konnte sich bei uns erst in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 endgültig durchsetzen (vgl. Nevermann & Schulze-Scharnhorst, 1987, S.82). Im heutigen Berliner Schulgesetz sind der so gefaßten Schulpflicht und ihrer Durchsetzung im ganzen elf Paragraphen gewidmet, wobei die Ahndung von Verstößen da~~gen als Ordnungswidrigkeiten und Straftatbestände präzise gestaffelt ist. Uber den »INHALT DER ScHULPFLICHT« heißt es dort: »DIE ScHULPFLICHT ERSTRECKT SICH ~UF DIE B.EGELMÄ&IGE TEILNAHME AM UNTERRICHT UND DIE TEILNAHME AN DEN ÜBRIGEN VERBINDLICHEN VERANSTALTUNGEN DER SCHULE« (200-6); und über die »DURCHSETZUNG DER ScHULPFLICH"I«: »WER SEINE ALLGEMEINE ScHULPFLICHT ... NICHT ERFÜLI.l", wiRD DER ScHULE IM VERWAl.l"UNGsZWANGSVERFAHREN ZUGEFÜHKr, WENN PÄDAGOGISCHE BEMÜHUNGEN, INSBESONDERE AUCH HINWEISE GEGENÜBER DEN ERZIEHUNGSBERECHTIGTEN, OHNE ERFOLG GEBLIEBEN SIND« (200-7). -Der gesetzliche Schulzwang bestimmt hier als universelle Rahmenbedingung offensichtlich den besonderen Charakter der Schule als Disziplinaranlage - dies ersichtlich auch dort, wo von der Sekundarstufe an die einzelnen Eltern/Jugendlichen nicht mehr davon betroffen sind (s.u.). Wenn man den gesetzlichen Schulzwang als Bestimmung der ..disziplinären• Struktur der Schule betrachtet, so heißt dies (wie aus unseren früheren Darlegungen hervorgeht) einerseits gleichzeitig, daß damit nicht das Schulleben im Ganzen getroffen ist: Die Schule ist keineswegs, wie etwa das Gefängnis, eine bloße ,.zwangsanstaltc, sondern auch ein Ort von Lebensmöglichkeiten für die Kinder. Schon in ihrer historischen Entwicklung muß Schule, wie Braun & Odey (1989, S.t52} hervorheben, in ihrer ·Ambivalenz zwischen
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Kinderschutz und Kinderghetto« gesehen werden. H. von Hentig (1991) sieht den Wandel der Schule vom •Aufenthaltsort« zu einem ·Lebensort•, von einer Stätte bloßen Unterrichts zu einem .Lebensraum für Kinder• (S.442). Im gleichen Sinne verweist Becker (1991) etwa auf den Funktionsverlust der Familie, auf die marktbestimmte Manipulation von Peer-Gruppen, auf die Kindheit als •Medienkindheit« und hält von da aus für eine der wichtigsten gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben der Schule die •kompensatorische«: Hier müßten die Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten für die Kinder geboten werden, die sie anderweitig nicht mehr gewinnen könnten, die sie jedoch brauchen, um •als Erwachsener selbstbestimmt und verantwortlich leben zu können« (S.8). Andererseits muß hier aber beriicksichtigt werden, daß schulische Lebensmöglichkeiten wie die benannten, die Schutzfunktion der Schule, ihr Charakter als Lebensort, ihre Kompensationsfunktion, u.ä., eben unter den strukturellen Bedingungen eines staatlichen Zwangsverhältnisses stehen. Sie werden dadurch nicht unmöglich, aber widerspriichlich zuriickgehalten, zersetzt, pervertiert - wie etwa soll ich mich als Schülerin oder Schüler in der Schule als einem Lebensort zu Hause fühlen, wenn gleichzeitig meine Anwesenheit dort potentiell mit Polizeigewalt erzwungen ist? (Ich werde dies mit Bezug auf schulisches Lernen später ausführen.) Die positiven Lebensfunktionen der Schule können also den •Schulzwang« nicht ausgleichen oder mildern: Dieser liegt auf einer anderen, strukturellen Ebene. Wenn man bedenkt, daß die allgemeine Schulpflicht historisch gesehen als Erfolg der Arbeiterbewegung beim Kampf um die Verwirklichung eines allgemeinen Rechts auf Bildung betrachtet werden kann, so könnte einem deren Kodifizierung als gesetzlicher »Schulzwang• geradezu als ein Gegenschlag der Staatsseite erscheinen: Indem man zu etwas, auf das man sich ein Recht erkämpft hat, mit staatlichen Mitteln gezwungen wird, wird dieses Recht der Bevölkerung quasi enteignet, es tritt einem nun als fremde Macht gegenüber, und sein Zusammenhang mit der eigenen Emanzipation mag so im Bewußtsein verblassen.
Nur aus dem Schulzwang als Randbedingung erklären sich auch die Eigenart und Funktion der innerschulischen Quasigerichtsbarkeit mit »ÜRDNUNGSMASSNAHMEN GEGENDBEll ScHOLEllN«, wie sie im zeitgenössischen Berliner Schulgesetz (200-27) verankert ist: •(r) DIE ScHuLE soLL BEl KoNFLIKTEN UND STöRUNGEN IN DER UNTERRICHTSUND ERZIEHUNGSARBEIT GEGENÜBER DEN SCHÜLERN VORRANGIG ERZIEHERISCHE MITTEL EINSETZEN. SoFERN ScHOLER DIE oRDNUNGSGEMÄssE UNTERRICHTs- UND ERZIEHUNGSARBEIT ODER DEN ÄUSSEREN SCHULBETRIEB NACHHALTIG BEEINTRÄCHTIGEN ODER DIE AM ScHULLEBEN BETEILIGTEN GEFÄHRDEN, ••• KÖNNEN ÜRDNUNGSMASSNAHMEN GETROFFEN WERDEN.
ALS
NACHHALTIGE BEEINTllÄCHTIGUNG DEll
UNTElllliCHTS- UND EilZIEHUNGSARBEIT IST AUCH MEHRFACHES UNENTSCHULDIGTES FE&NBLEIBEN VOM UNTERRICHT ANZUSEHEN. (2) ÜRDNUNGSMASSNAHMEN SIND I. DEll SCHlliFTLICHE VE&WEIS, 2. DEll AUSSCHLUSS VON EINZELNEN FllEIWILLIGEN ScHULVERANSTALTUNGEN,
3· DEll AUSSCHLUSS VOM UNTERRICHT BIS ZU DllEI TAGEN,
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse DIE UMSETZUNG IN EINE PARALLELKLASSE ODEll ANDERE UNTERRICHTSGRUPPE, OIE UMSCHULUNG IN EINE ANDERE SCHULE MIT DEMSELBEN BILDUNGSZIEL DURCH DIE ScHULAUFSICHTSBEHÖllDE,
6. DEll AUSSCHLUSS VON DEll BESUCHTEN ScHULE, WENN DER ScHÜLER SEINE ScHULPFLICHT BEREITS EilFÜLLT HAT. DIE KÖllPEllLICHE ZücHTIGUNG BLEIBT VERBOTEN.«
Diese im Schulgesetz festgelegten Ordnungsmaßnahmen werden in Ausführungsvorschritten (202-1 bis 5) näher erklärt und spezifiziert, so etwa mit folgenden grundsätzlichen Erläuterungen (200-1): »ERZIEHUNGS· UND OanNUNGSMASSNAHMEN GEHÖREN IN EINEN PÄDAGOGISCHEN ZUSAMMENHANG, IN DEM DIE MOTIVATION ZU RICHTIGEN VERHALTENSWEISEN DEN VORRANG HAT VOR ZuRECHTWEISUNG UND BEsTRAFUNG. HIERBEI KOMMT PÄDAGOGISCHEN REAKTIONEN AUF POSITIVE VERHALTENSWEISEN VON ScHÜLERN EINE BESONDERE BEDEU· TUNG ZU« (man erinnere sich, das nach Foucaults Zeugnis Demia bereits 1719 den Lehrern die hier angesprochene Bevorzugung der Belohnung gegenüber der Bestrafung empfahl, s.o., S.354). Weiter heißt es hier: »BEI NEGATIVEM VERHALTEN VON SCHÜLERN IST ZUNÄCHST ZU PRÜFEN, OB NICHT ERZIEHUNGSMASS· NAHMEN AUSREICHEN. HIER KOMMEN AUSSEil EINEM KLÄRENDEN GESPRÄCH ZUM BEISPIEL TADEL, ZEITWEISER AusscHLUss AUS EINER UNTERRICHTSSTUNDE, NACH· BLEIBEN IN BETRACHT«. Das »klassische« Vor-die-Tür-geschickt-Werden« und »Nachsitzen« gehören also (obwohl umstritten und zeitweise verboten) hier wieder zu den legalen Ordnungsmaßnahmen. - Innerhalb der weiteren Ausführungsbestimmungenwird bei Festlegung der »0RDNUNGSMASSNAHMEN BEI UNENTSCHULDIGTEM FERNBLEIBEN VOM UNTERRICHT« (202-2) zur Durchsetzung der geschilderten disziplinären »Zeitökonomie« dem Schwänzen »NICHT MEHR SCHULPFLICHTIGER ScHÜLER« besondere Aufmerksamkeit gewidmet, indem ein minutiöses Verfahren der Fixierung, Aufsummierung, Anrechnung und Übertragung von »FEHLlEITEN« angeordnet wird, um so den Cut-off-Wert objektivierbar zu machen, jenseits dessen der »AUSSCHLUSS voN DER BESUCHTEN SCHULE ANZUORDNEN« ist. Weiterhin finden sich hier detaillierte ..VERFAHRENSBESTIMMUNGEN« hinsichtlich der Mitteilungen an den Schulleiter und Schulaufsichtsbeamten, der Anhörung der betroffenen Schülerinnen/Schüler und Erziehungsberechtigten, der »ANORDNUNG DER soFOIITIGEN VOLLZIEHUNG VON 0RDNUNGSMASSNAHMEN« (200-4), - all dies als Kennzeichen der von Foucault beschriebenen »Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen)« als Aspekt der kleinen Strafmechanismen »im Herzen« der schulischen Disziplinaranlage. Während der äußere Sanktionsrahmen der Ahndung von Schulpflichtverletzungen und die innerschulische Installation von Ordnungsmaßnahmen noch vorwiegend negativ bestimmt und auf Sondertatbestände spezifischer
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Verstöße bezogen sind, tritt der von Foucault hervorgehobene permanente und wesendich auch positive Charakter der »normierenden Sanktion« in jenen Mechanismen besonders hervor, die die Machtökonomie der Disziplinaranlagen in deren Innerem laufend regulieren - und die entsprechend das gesamte Berliner Schulreglement durchziehen: Diejenigen Techniken, die Foucault als in »Noten« oder »Punkten« ausgedrückte »,wertende' Messung« gekennzeichnet hat (vgl. S.355). Die schulische Notengebung (als wesentliche Operationalisierung der wertenden Messung) gilt in offizieller Definition als Installierung eines Bewertungsmaßstabs, an dem (für Lehrer, Schülerinnen/Schüler und Eltern) ersichtlich werden soll, wieweit Schülerinnen und Schüler den im Schulunterricht gestellten Anforderungen gerecht werden, um so ggf. zweckmäßige pädagogische Fördermaßnahmen einleiten zu können. Entsprechend wird im Berliner Schulgesetz die »NOTENSKALA« folgendermaßen spezifiziert: •ERTEILT WIRD DIE NoTE I. ,SEHR GUT' (1), WENN DIE LEISTUNG DEN ANFORDERUNGEN IN BESONDEREM MASSE ENTSPiliCHT, 2. ,GUT' (2), WENN DIE LEISTUNG DEN ANFORDERUNGEN VOLL ENTSPRICHT,
J·
,BEFiliEDIGEND'
(J),
WENN DIE LEISTUNG IM ALLGEMEINEN DEN ANFORDERUN-
GEN ENTSPRICHT,
4·
,AUSREICHEND'
(4), WENN DIE LEISTUNG ZWAil MÄNGEL AUFWEIST,
ABER IM GAN-
ZEN DEN ANFORDERUNGEN NOCH ENTSPRICHT,
S· ,MANGELHAFT' (s), WENN DIE LEISTUNG DEN ANFORDERUNGEN NICHT ENTSPRICHT, JEDOCH ERKENNEN LÄSST, DASS DIE NOTWENDIGEN GRUNDKENNTNISSE VORHANDEN SIND UND DIE MÄNGEL IN ABSEHBARER ZEIT BEHOBEN WERDEN KÖNNEN«,
6.
,UNGENÜGEND'
(6),
WENN DIE LEISTUNG DEN ANFORDERUNGEN NICHT ENT-
SPRICHT UND SELBST DIE GRUNDKENNTNISSE SO LÜCKENHAFT SIND, DASS DIE MÄNGEL IN ABSEHBARER ZEIT NICHT BEHOBEN WERDEN KÖNNEN«
(200-lOf).
Um die Funktion und Problematik einer solchen Notengebung im Reproduktionszusammenhang der Schuldisziplin adäquat diskutieren zu können, müssen wir (als Zwischenüberlegung) darauf hinweisen, daß in der auf die dargestellte Weise spezifizierten Notenskala eine Widersprüchlichkeit liegt, in welcher wesentliche organisatorische Dilemmata der Schuldisziplin im ganzen zum Ausdruck kommen: Aus den gerade angeführten Operationalisierungen der einzelnen Noten geht hervor, daß hier unmittelbar Schülerleistungen am Maßstab der vom Lehrer gestellten Anforderungen gemessen werden sollen, den Noten also eine quantifizierbare Rückmeldungsfunktion an die Schülerinnen/Schüler im Rahmen pädagogischen Handeins zugesprochen wird. Gegen diese Funktionsbestimmung spricht aber, daß die hier
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
eingeführten Zahlenwerte keineswegs (nach Art einer Ratioskala) auf einen Nullpunkt beziehbare Leistungsquanten repräsentieren: Es ist durch nichts begründbar, daß die 3 des einen Schülers in der einen Klasse und die 3 eines anderen Schülers in einer anderen Klasse tatsächlich für die gleiche Leistungshöhe stehen. Darüber hinaus ist (da die Noten ja nicht nachtest- bzw. meß. theoretischen Kriterien •geeicht« sind) nicht einmal garantiert, daß der Abstand zwischen den Noten, etwa zwischen 2 und 3 oder 3 und 4 jeweils gleiche Leistungsdifferenzen abbildet (Intervallskala). Dies würde aber heißen, daß die Noten streng genommen weder in irgendeinem Sinne objektive Rückmeldungen des Lehrers an die Schülerin oder den Schüler über seine Leistungen ermöglichen noch quantitative Vergleiche zwischen den Leistungen verschiedener Schülerinnen/Schülernoch auch numerische Rechenoperationen (Summierungen, Durchschnittsberechnungen etc.) erlauben, deren Resultate eindeutig auf die benoteten Leistungen der Schülerinnen/Schüler rückbeziehbar wären. Tatsächlich werden aber der Notengebung genau diese Funktionen offiziell zugeschrieben und die benannten Rechenoperationen extensiv ausgeführt, und dies, obwohl natürlich jeder wissen muß, daß es arithmetisch unsinnig ist. Dieser Widerspruch verweist darauf, daß der Benotung in der Schule noch ein anderer, in den offiziellen Funktionsbestimmungen nicht offengelegter Stellenwert zukommen muß, der von den benannten meßtheoretischen Fragwürdigkeiten unberührt ist. Indem wir dies schrittweise zu verdeutlichen suchen, beziehen wir uns wiederum auf die Bestimmungen des Berliner Schulreglements im Lichte von Foucaults Charakterisierung der Schuldisziplin, hier seinem Aufweis der disziplinären Techniken •normierender Sanktion« und deren Funktion der Herstellung von .Vergleichsfeldern« und ·Differenzierungsräumen«, innerhalb welcher die Betroffenen durch •Individualisierung« auf bestimmte Werte festgelegt und nach diesen miteinander verglichen werden (s.o., S.356).
Ill· Leistungsbewertung im Widerspruch zwischen zugeschriebener pädagogischer Verantwortung des Lehrers und von ihm geforderter Verteilungsorientiertheit der Notengebung Wenn man das Schulreglement im ganzen überblickt, so wird deutlich, daß zwar bei den Definitionen der Notenskala und auch sonst gelegentlich die Funktion der Noten als Rückmeldung der Anforderungserfüllung benannt wird, aber kaum offengelegt, nach welchen Kriterien dies intersubjektiv verbindlich zu machen ist. Statt dessen wird die Verantwortung dafür weitgehend dem einzelnen Lehrer zugeschoben. Entsprechend heißt es in § 10 des
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Berliner Schulverfassungsgesetzes (210-8}: »DER LEHRER UNTERRICHTET UND ERZIEHT DIE IHM ANVEKI'RAUTEN ScHÜLER UND BEUKI'EILT IHRE LEISTUNGEN GEMÄSS SEINER FACHLICHEN AUSBILDUNG IN EIGENER VERANTWOKJ'UNG ... «. Damit wird (wie im Kommentar von Nevermann & Schultze-Scharnhorst, 1987, S.47f, dargelegt), das Dilemma, daß individuelle Leistungsbewertungen notwendig vom Vorwissen, den Erfahrungen und Wahrnehmungen des Beurteilenden abhängig sind und deswegen mit Bezug auf die gleiche Leistung unterschiedlich ausfallen können, aus der öffentlichen Erörterung ausgeschlossen: ,.Die Juristen ,lösen' dieses Dilemma formal durch eine Kompetenzzuweisung: Der fachlich und pädagogisch ausgebildete Lehrer /Prüfer hat ein Bewertungsvorrecht«. - Dies heißt aber nun keineswegs, daß sich die Verwaltung generell als für die Benotungspraxis des Lehrers unzuständig erklärt. Sie reglementiert diese lediglich nach einem anderen Kriterium als dem der Leistungsrückmeldung, nämlich hinsichtlich der »Vergleichbarkeit« der indi· viduell differenzierenden Notengebung (entsprechende Vorschriften durchziehen das gesamte Schulreglement). Nicht zuvörderst die Beziehung der Note einer Schülerin oder eines Schülers zu ihrer/ seiner darin auszudrückenden Leistung, sondern die Beziehung dieser Note zu den Noten anderer Schülerinnen/Schüler (innerhalb eines festgesetzten Verg]eichsrahmens) ist hier also administrativ relevant. Wie aber ist eine solche Vergleichbarkeit individualisierender Notenwerte (im Verständnis des Schulreglements) zu erreichen, und welche Funktion wird dieser innerhalb der Schulorganisation zugesprochen? Ein schulisches Kernkonzept, an dem deutlich gemacht werden kann, daß dabei des Verhältnis zwischen Leistungsrückmeldung und Verallgemeinerbarkeit weniger geklärt als mystifiziert wird, ist das (im Berliner Reglement vielfältig verwendete) Bewertungskonstrukt »LEISTUNGSSTAND« der Schülerin oder des Schülers. Von der Wortbedeutung her könnte man annehmen, es ginge hier um die Konzeptualisierung der individuellen Leistungshöhe, gemessen an den Anforderungen des Unterrichtsgegenstandes. Bei der näheren Erläuterung des Leistungsstandes wird dieser Gesichtspunkt nun zwar keineswegs gänzlich beiseitegelassen, jedoch vollzieht sich hier fließend eine Akzentverschiebung in Richtung auf die Bestimmung des »Standes« aus dem Vergleich mit den Leistungen anderer Schülerinnen/Schüler. Dies läßt sich etwa an den »AUsFOHR.UNGSVOilSCHRIFTEN OBER SCHiliFTLieHE KLASSENARBEITEN« (313-1 bis 7) nachvollziehen. Dort ist zwar in vielfältigen Zusammenhängen von inhaltlichen »Lernzielen«, die an den »Rahmenplänen« zu orientieren seien und deren Erreichung durch die Klassenarbeiten kontraHierbar werden soll, die Rede (s.u.). Unter der Rubrik »BENOTUNG UND ANRECHNUNG« heißt es aber sodann, der Schulleiter sei berechtigt, »SICH DIE
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ERGEBNISSE DER SCHRIFTUCHEN KLASSENARBEITEN UNTER GLEICHZEITIGER VoRLAGE EINER GUTEN, EINER DURCHSCHNITI'UCHEN UND EINER SCHLECHTEN ARBEIT VORLEGEN zu LASSEN«. In eine ähnliche Richtung weist die folgende Vorschrift: »IN DER GRUNDSCHULE, DEN ÜBERSCHULZWEIGEN HAUPTSCHULE, REALSCHULE UND GYMNASIUM, DER GESAMTSCHULE, DEN BERUFSBILDENDEN ScHULEN SOWIE IN DEN SONDERSCHULEN IST UNTER JEDER SCHRIFTLICHEN KLASSENARBEIT EIN NorENSPIEGEL ANZUBRINGEN, AUS DEM DAS LEISTUNGSBILD DER KLASSE HERVORGEH"!« (313-3). Dieser »Notenspiegel« besteht (so ist es gegenwärtig in Berlin gebräuchlich) aus einem unter jede Klassenarbeit gestempeltem Schema mit den Noten 1 bis 6, in welches vom Lehrer die Verteilung der Klassenarbeiten pro Note eingetragen wird. So kann jedes Kind und jeder Erziehungsberechtigte seinen eigenen »Leistungsstand« bzw. den seines Kindes zwar nicht am Kriterium sachlicher Anforderungserfüllung, wohl aber in dem Sinne beurteilen, daß hier sichtbar wird, wo das Kind mit seiner individuellen Note innerhalb dieser Verteilung »steht«. Aus dem gleitenden Übergang vom Kriterium der Sachangemessenheit der Note zu dem der Vergleichbarkeit der Notengebung verdeutlicht sich die schulische Verselbständigung der Note, indem dabei weniger die benoteten Leistungen, sondern eher quasi zirkulär die Noten selbst bewertet werden. Die Sachgerechtigkeit des Lehrerurteils geht dabei natürlich irgendwie in die Note ein, aber- wie gesagt- in einer am Notenwert keineswegs eindeutig ablesbaren Weise. Die Vergleichbarkeit kann mithin hier nicht damit begründet werden, daß verschiedene Kinder, die etwa alle mit 3 benotet wurden, tatsächlich in ihren Leistungen gleich sind. Das administrative Augenmerk richtet sich denn auch zur Sicherung der ..Vergleichbarkeit« auf die Verteilung der Noten: Vergleichbar sind in dieser Sicht die Noten dann, wenn die jeweilige Notenstufe den »Stand« des Individuums im Verhältnis zur Verteilung der anderen Notenstufen kennzeichnet, womit eine aus der Notenverteilung begründbare Leistungsdifferenzierung der Schülerinnen/Schüler vorgetäuscht wird (die Bewertungen mithin sich auf eine Gesamtheit beziehen, die nach Foucault »sowohl Vergleichsfeld wie Differenzierungsraum« ist). Von da aus läßt sich nun schrittweise verdeutlichen, worauf die administrativen Forderungen, die an die Notengebung des Lehrers gestellt sind, letztlich abzielen: Er ist (während die Rückmeldefunktion und pädagogische Verwendung der Noten vorwiegend seine Sache sind) im offiziellen Schulinteresse vor allem gehalten, sich bei der Benotung am Klassendurchschnitt zu orientieren und von da aus seine Bewertungen zu differenzieren, also stets »gute« und »schlechte« Noten zu geben. Dabei kann der Klassendurchschnitt zwar in verschiedenen Klassen bzw. bei »leichten« und »Schweren« Fächern
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oder Arbeiten in gewissen Grenzen verschieden ausfallen. Zum-mindesten aber muß darauf geachtet werden, daß vom ..Durchschnitt« aus (wenigstens der Tendenz nach) Differenzierungen nach beiden Seiten, also in Richtung auf schlechtere bzw. bessere Noten, möglich sind. Diese Regelung läuft ihrer inneren Logik gemäß auf die Forderung nach der Annähe· rung an eine (intuitive) Normalverteilung der Notenwerte, d.h. etwa Vermeidung von Verteilungen, bei der die am häufigsten vergebenen Noten auf die niedrigsten bzw. höchsten Notenstufen 0-Kurve) fallen, hinaus. Eine derartige Konsequenz ist zwar (soweit ich sehe) nirgends im Zusammenhang kodifiziert - dies wäre wegen ihrer Widersprüchlichkeit und Problematik (s.u.) wohl auch kaum rechtlich vertretbar und politikfähig. Offensichtlich werden die Lehrer während ihrer praktischen Ausbildung mehr informell auf diese Art von •Normalisierungs«-Praxis der Notengebung getrimmt (vgl. dazu etwa Raapke 1971,
S.IX). Jedoch finden sich an verschiedenen Stellen der Berliner Schulverordnungen Hinweise, die Nevermann & Schultze-Scharnhorst {1987) in ihrem Kommentar so zusammenfassen: ..Schüler müssen ... nach einheitlichen Maßstäben beurteilt werden ... Vergleichsmaßstab kann der Leistungsstand der Klasse sein• (5.48, Hervorh. K.H.); und einmallassen die Autoren sogar die Katze aus dem Sack, indem sie - weitgehend isoliert vom Darstellungskontext - plötzlich anmerken: » ... sachfremd wäre auch, einfach die Gauß'sche Normalverteilung zugrunde zu legen« (S.48) - wobei daraus, daß die Autoren eine solche Anmerkung für nötig halten, hervorgeht, daß derartige ..Sachfremdheiten« offensichtlich nicht unüblich sind (vgl. auch de Groot 1971). Die klarsten einschlägigen Hinweise fand ich bei Becker {1991, 5.17): Innerhalb der »staatlichen Standardschule ... geht man«, wie er feststellt, •selbstverständlich davon aus, daß zum Beispiel bei einer Leistungsüberprüfung (Klassenarbeit o.ä.) der Anteil der ,guten' und ,sehr guten' Leistungen etwa dem der ,mangelhaften' und ,ungenügenden' entsprechen müsse, sonst gilt die Aufgabe als falsch gestellt«, und er präzisiert dies in einer Fußnote mit dem Hinweis, dies geschehe •etwa in Analogie zur Gauß'schen Normalverteilung, oft sogar in ihrer unmittelbaren Anwendung oder unter Berufung auf sie!«.
Eine bestimmte Extremvariante der Abweichung der Benotungspraxis von der benannten impliziten Normalisierungsanweisung wird indessen sogar im Berliner Schulreglement- innerhalb der »AUSFÜHRUNGSVORSCHRIFfEN ÜBER SCHRIFfUCHE KLASSENARBEITEN« - ausdrücklich moniert: »IST DAS ERGEBNIS EINER SCHRIFfUCHEN KLASSENARBEIT BEI MEHR ALS EINEM DRITTEL DER TEILNEHMENDEN SCHÜLERINNEN UND ScHÜLER EINER LERNGRUPPE MANGELHAFf ODER SCHLECHTER, SO ENI'SCHEIDET DER ScHULLEITER BZW. DIE SCHULLEITERIN ... NACH ANHÖREN DER LEHRKRAFT UND ERFOilDERLICHENFALLS UNTER HINZUZIEHUNG WEITERER IN DEM JEWEIUGEN fACH UNTERRICHTENDEN LEHRKRÄFTE, OB DIE ARBEIT GEWEKI'ET WlllD ODER EINE NEUE ARBEIT ZU SCHREIBEN ISl« (313-3). Eine Begründung für diese Vorschrift wird nicht gegeben, aber es scheint mir klar, daß hier ein eklatanter Verstoß des Lehrers gegen die implizite Regel differenzierter, am Klassendurchschnitt orientierter Notengebung abgemahnt
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wird. Die u.U. über den Lehrer und die Schülerinnen/Schüler verhängte Wiederholung der Arbeit hat dabei offensichtlich keine andere Funktion, als dem Lehrer die Möglichkeit einer (durch erfahrungsgemäß »leichtere« Aufgaben, Verschiebung des Bewertungsmaßstabs oder beides bewerkstelligte) Korrektur seines Fehlgriffs durch die zukünftige Normalisierung der Benotungsmaßstäbe am »Leistungsstand der Klasse« zu geben, so daß er nunmehr eine Notenverteilung lege artis abliefern kann.- Eine entsprechende explizite Vorschrift nicht mit Bezug auf ,.zu schwere«, sondern auf »ZU leichte« Arbeiten, bei denen von der (implizit mitgedachten) Normalverteilung dadurch abgewichen wird, daß etwa »mehr als einem Drittel« der Schülerinnen/ Schüler eine Eins gegeben wurde o.ä., habe ich nicht gefunden. Vielleicht deswegen, weil dieser Fall zu selten oder weniger konfliktträchtig ist. In der Schulpraxis ist es wohl mehr oder weniger gebräuchlich, einer versehentlich »ZU leicht« ausgefallenen Arbeit alsbald eine »schwerere« folgen zu lassen also im Effekt eine solche, die (warum auch immer) schlechter (d.h. eher um den Klassendurchschnitt verteilt) benotet werden wird. Diese »Verteilungsorientierte• Benotungspraxis hat (was später noch umfassenderer begründet wird), die schuladministrative Funktion, die Selektion der Schülerinnen/Schülerhinsichtlich des Erreichens der höheren Klassenstufen, weiterführender Schulzweige und mehr oder weniger qualifizierter Abschlüsse zu bewerkstelligen und als »gerecht« zu legitimieren. Darin liegt eine immanente Widersprüchlichkeit: Auf der einen Seite hat man hier nämlich das Kriterium der Sachangemessenheit der Notengebung faktisch zugunsten der Stellenwertbestimmung in der Verteilung als ·Differenzierungsfeld« zurückgedrängt; auf der anderen Seite aber muß man dieses Kriterium sowohl aus pädagogischen Gründen wie als offiziell vertretbarer Anspruch an eine »gerechte« Notengebung dennoch aufrechterhalten. So wird die Note, die eine Schülerin oder ein Schüler erhalten hat, einerseits dieser/ diesem als persönliches Leistungsmerkmal zugeschrieben: Nur so sind die Konsequenzen aus der Note für die Schullaufbahn etc. des betroffenen Individuums als »gerecht« zu legitimieren. Andererseits aber unterliegt der Maßstab, an dem die Benotung sich ausrichtet, als am »Durchschnitt« orientiert sachfremden Kriterien. Bei der geschilderten, an klasseninternen Bezugsgrößen ausgerichteten Benotungspraxis unterliegt dieser Maßstab dazu noch einer quasi fließenden Verschiebung: Er ist nicht nur von Klasse zu Klasse verschieden, so daß die gleiche Leistung in einer Klasse als Drei, in einer anderen Klasse (mit niedrigerem »l..eistungsstand«) als Eins bewertet werden könnte, sondern (wie gerade gezeigt) z.B. auch von Klassenarbeit zu Klassenarbeit, indem in Abhängigkeit davon, wie »gut• oder »schlecht« die Arbeit »ausgefallen« ist (vgl. dazu Ulmann 1991), das von der Schülerin oder vom
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Schüler angefertigte Produkt durch den Lehrer (sofern er lege artis verfährt, also seine Notengebung entsprechend »normalisiert«) besser oder schlechter benotet werden müßte. Auf diese Problematik wurde immer wieder hingewiesen und dazu - besonders von psychologischer Seite - der Vorschlag gemacht, zu deren Überwindung die traditionelle Notengebung durch »Standardisierte•, d.h. an umfassenderen Bezugsgruppen, meist einer Stichprobe aus Schülerinnen/Schülern der jeweiligen Jahrgangsstufe, •geeichte• Schulleistungstests zu ersetzen oder mindestens zu ergänzen (vgl. etwa Ingenkamp 1985). Dieser Vorschlag hat sich indessen (aus hier nicht näher zu untersuchenden Gründen), jedenfalls im deutschen Sprachraum, kaum durchsetzen lassen. Die benannte Widersprüchlichkeit zwischen pädagogisch erforderter Sachangemessenheit und administrativ erforderter Verteilungsorientiertheit der Notengebung wäre indessen dadurch ohnehin nicht zu beseitigen, da auch die in den standardisierten Schultests erreichten Werte (wenn sie auch an Verteilungen, die die einzelne Schulklasse überschreiten, orientiert sind), immer noch verteilungsorientiert (bei, wo möglich, anzustrebender Normalverteilung der Werte in der Bezugspopulation) bleiben.
Das schulorganisatorische Dilemma, eine (eindeutig) nach sachlich-inhaltlichen Kriterien begründbare Bewertungsgerechtigkeit nicht erreichen zu können bzw. vorspiegeln zu müssen, wird außer durch die Kontamination von Sachbezug und Verteilungsorientiertheil noch durch eine weitere Variante der Zurückdrängung/Vortäuschung des Sachbezuges der Bewertungen zu überwinden versucht, nämlich, indem ein zwar mit der Vergleichbarkeit zusammenhängendes, aber dennoch davon zu unterscheidendes Kriterium eingeführt wird, das als »Einheitlichkeit« der Notengebung selbständig versprachlicht ist: Diese ist im Schulreglement ebenfalls immer wieder gefordert. So heißt es im Berliner Schulverfassungsgesetz: »Es IST DIE PÄDAGOGISCHE AUFGABE DES SCHULLEITEilS ... , INSBESONDERE AUF EINHElTUCHE BEWEIO'UNGSMASS· S'JÄBE AN SEINEil SCHULE ... HINZUWIIlXEN« (210-14). Entsprechend steht in der Gesamtschulordnung: »AN DER GESAMTSCHULE WEilDEN IN DEN FACHKONFEllENZEN KillTElliEN ENTWICKELT UND VEitFAHllEN BEllATEN, DIE ZU EINEil EINHEITLICHEN LEISTUNGSBEWEIO'UNG FÜHltEN ... « (4300-8). Was hat nun in solchen Zusammenhängen die Forderung nach Einheitlichkeit zu bedeuten? Man könnte wiederum zunächst meinen, der Lehrer sei hier einfach dazu aufgefordert, gleiche Leistungen auch mit den gleichen Noten zu bewerten, o.ä. Dieser Interpretation steht aber entgegen, daß (wie dargestellt) die Sachangemessenheit der Notengebung in die persönliche pädagogische Verantwortung des Lehrers gestellt ist (der u.U. auch als Person juristisch dafür geradestehen muß) und offiziell deswegen kaum diskutiert wird. Tatsächlich geht es (wie mir scheint) in diesem Zusammenhang um etwas anderes, nämlich eine strategische Absicherung der verteilungsorientierten
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Notengebung durch Verschiebung des Gerechtigkeitskriteriums von der Korrespondenz zwischen Bewertung und Leistung zur Einheitlichkeit der Bewertungsbedingungen. Eine Note ist demnach gerecht, wenn die bewerteten Schülerinnen/Schülerdie gleichen äußeren Chancen zur Anforderungserfüllung hatten; präziser: wenn keine Anzeichen gegeben sind, daß bestimmte Schülerionen/Schüler gegenüber anderen durch Umstände, die mit der gestellten Anforderung nichts zu tun haben, bevorzugt oder benachteiligt worden sind. Nevermann & Schultze-Scharnhorst bringen dies in ihrem Kommentar zum Schulverfassungsgesetz folgendermaßen auf den Punkt: »Jede Bewertung ... gilt als gerecht, soweit sie nicht erkennbar ungerecht ist« (1987, S.47). - Aus der so gefaßten Einheitlichkeitsforderung versteht sich die penible und demonstrative Art, mit welcher »Täuschungen«, etwa Vorsagen, Abschreiben o.ä. verhindert werden sollen, Hilfsmittel bis auf jene, die ausdrücklich erlaubt sind und allen zur Verfügung stehen, entzogen werden, die Zeit, die den Schülerinnen/Schülernzur Bearbeitung einer bewertungsrelevanten Aufgabe gegeben ist, fixiert wird etc. (eine genaue Aufstellung der entsprechenden Rechtsgrundsätze findet sich wiederum bei Nevermann & Schultze-Scharnhorst, 1987, S.48f). Hier sei dies nur an einigen Bestimmungen innerhalb der »AUSFÜHRUNGSVORSCHB.IFTEN ÜBER DIE ABITURPRÜFUNG« DOKUMENTIEIU: »BEI ALLEN SCHRIFTLICHEN PRÜFUNGEN MIT AUSNAHME DER MODERNEN FREMDSPRACHEN IST DER DUDEN (RECHTSCHREIBUNG} IN AUsREICHENDER ANZAHL ALS HILFSMITTEL BEREITZUSTELLEN. WEITERE HILFSMITTEL SIND GEGEBENENFALLS ZU BEANTRAGEN ... Es IST SICHERZUSTELLEN, DASS ALLE KANDIDATEN, DIE DIE GLEICHE AUFGABE BEARBEITEN, GLEICHWEKI"IGE HILFsMITTEL ERHALTEN« (462-5). »DER SCHULLEITER STELLT SICHER, DASS VOR BEGINN DER SCHB.IFfLICHEN PRÜFUNG DIE KANDIDATEN AUF DIE BESTIMMUNGEN ÜBER .. . DAS VERFAHREN BEl TÄUSCHUNGEN ODER SONSTIGEN UNREGELMÄSSIGKEITEN .. . HINGEWIESEN« werden. •DIE AUFSICHT REGELT DER ScHULLEITER. EIN LEHRER Muss stA.NDIG IM PRÜFUNGSRAUM ANWESEND SEIN. ZuR BEAUFSICHTIGUNG KÖNNEN KANDIDATEN MEHRERER PRÜFUNGSFÄCHER UND -GRUPPEN ZUSAMMEN· GEFASST WERDEN«. »DIE BEARBEITUNGSZEIT BEGINNT - ZUGLEICH FÜR ALLE KANDIDATEN - NACH BEKANNTGABE DER AUFGABEN.« »fOR DIE ARBEIT EINSCHLIESSLICH DER ENTWURFE UND NOTIZEN DARF NUR VON DER ScHULE GE· LIEFEIUES, GEZÄHLTES UND GESTEMPELTES PAPIER VERWENDET WERDEN« (462-6). »DER PRÜFUNGSRAUM DARF VON DEN KANDIDATEN NUR FÜR KURZE ZEIT UND NUll. EINZELN -jEDOCH NICHT WÄHREND DER PAUSEN - VERLASSEN WERDEN«. »KANDIDATEN, DIE DIE ARBEIT VORZEITIG ABGEBEN, VERLASSEN DEN PRÜFUNGSRAUM. DER SCHULLEITER KANN BESTIMMEN, DASS DIESE KANDIDATEN AUCH DAS SCHULGRUNDSTÜCK VERLASSEN MÜSSEN« (462-7}. Durch die Ausführlichkeit und Präzision derartiger Vorschriften soll die Einheitlichkeit, damit »Gerechtigkeit« der Prüfungsbedingungen unangreifbar gesichert werden. Damit ist gleichzeitig
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vorgetäuscht, daß - sofern durch Einhaltung solcher Vorschriften die äußeren Bedingungen gleich und individuelle Begünstigungen und Benachteiligungen vermieden sind- auch die jeweiligen Noten selbst hinsichtlich ihres Bezuges zu den darin bewerteten Leistungen •gerecht« seien. Es handelt sich bei der Einheitlichkeitsforderung also quasi um ein weiteres Deckkriterium, hinter dem das Kriterium des Sachbezuges und der pädagogischen Sinnhaftigkeit von Bewertungen verschwindet. Aus den vorstehenden Darlegungen deutet sich schon an, in welcher Weise man sich auf schuldisziplinärer Ebene der administrativ erzeugten Legitimationsprobleme aufgrund der Unvereinbarkeiten sachgerechter und verteilungsorientierter Bewertung zu entledigen sucht: Indem (bei Bereitstellung der benannten Ersatzkonstruktionen) die Bearbeitung und Verschleierung derartiger Widersprüche dem Lehrer überlassen ist, der demgemäß die Rechtfertigungsschwierigkeiten der Institution zu verinnerlichen und in seiner Person auszutragen hat. Zu den fachlichen Kompetenzen des Lehrers gehört demnach nicht nur die persönliche Fähigkeit zur sachgerechten Beurteilung der Schülerinnen/Schüler, sondern auch die Fähigkeit, die administrativ geforderte, vom Klassendurchschnitt aus differenzierende Notengebung damit zu vereinen, d.h. die hier vorliegenden Unvereinbarkeiten im Interesse der institutionellen Legitimation der Schuldisziplin nicht sichtbar werden und nach außen treten zu lassen. So hat es der Lehrer irgendwie auszuhalten, daß er einerseits darum bemüht sein muß, der einzelnen Schülerin oder dem einzelnen Schüler durch seine Beurteilung jene inhaltlichen Rückmeldungen zu geben, die ihr I sein Wissen, Können oder Verständnis optimal fördern, aber andererseits die verschiedenen Notenstufen dergestalt auszuschöpfen hat, daß die Notendifferenzierung in sachfremder Weise auf den jeweiligen Klassendurchschnitt hin zentriert ist. Oder, zugespitzter: Der Lehrer muß damit fertig werden, daß er einerseits gemäß seinem pädagogischen Auftrag möglichst alle Kinder in der Klasse zu guten Leistungen bringen, aber andererseits durch die administrativ geforderte »Normalisierung« der Bewertungen den Kindern unterschiedliche, d.h. stets einem Teil von ihnen schlechte Noten geben muß. Zur Illustration der Dilemmata, in welche Lehrer (und ihre Schülerinnen/Schüler) dadurch gebracht werden können, sei folgender Bericht von Osterkamp (1984, S.45) auszugsweise zitiert: •Es gab vor einiger Zeit (5.3.1982) im Zweiten Deutschen Fernsehen einen Filme über einen Lehrer, •der in der Grundschule Mathematik unterrichtete und dem es innerhalb kurzer Zeit gelungen war, sämtliche Schüler für diesen Stoff zu interessieren und alle auf den vorgeschriebenen Wissensstand zu bringen ... Es wurde ganz deutlich, daß die Kinder« durch die Art, in welcher dieser Lehrer sie unterrichtete, •Spaß am Lernen hatten, selbstbewußt wurden, aufeinander einzugehen lernten und in der
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Auseinandersetzung mit der Sache und den Mitschülern sehr viel mehr begriffen, als beim üblichen Lernprozeß möglich gewesen wäre. Das Ende kam schnell. Der Lehrer wurde nicht etwa ob seiner hervorragenden Leistungen ausgezeichnet, sondern er bekam Ärger mit den Eltern und Vorgesetzten, weil er zu wenig Klassenarbeiten schreiben ließ und zu gute Noten gab. Das Argument, daß die Noten berechtigt seien, da alle Schüler das notwendige Wissen erworben hätten, zählte nicht. Er wurde gezwungen, zum alten Unterrichtsstil zurückzukehren und für die Klassenarbeiten so kurze Zeiten anzusetzen, daß erneut eine bestimmte Anzahl Kinder auf der Strecke blieb und die gewünschte Normalverteilung wiederhergestellt war.« .. Eines der letzten Bilder dieses Fernsehfilms zeigt, wie ein kleines Mädchen, das zuvor ungemein happy wirkte, endlich den vertrackten Stoff zu können und ,gut' zu sein, nach der letzten Klassenarbeit, die unter erschwerten Bedingungen, d.h. unter erhöhtem Zeitdruck geschrieben wurde, wieder mit ihrer altvertrauten ,Fünf' tapfer grimassierend in der Ecke saß ... Ein anderes Bild zeigte einen Jungen im Kreuzverhör durch seine Mutter. Er hatte eine ,Zwei' geschrieben. Alles, was die Mutter wissen wollte, war, wer noch besser war«.
Im ganzen gesehen ist auch hier das geschilderte widersprüchliche Verhältnis zwischen schulischen Arbeits- und Lernmöglichkeiten und der zugrundeliegenden, diese Möglichkeiten wiederum einschränkenden und kanalisierenden disziplinären Schulstrukur zu berücksichtigen: Dieser Widerspruch besteht auch quasi »im Inneren« der Schuladministration, die die positiven pädagogischen Aufgaben der Schule zugleich legitimatorisch zu unterstützen und disziplinär zu regulieren hat. Von da aus darf man die dargestellten administrativen Forderungen in Richtung auf Verteilungsorientiertheit/Normalisierung der Notengebung nicht dahingehend mißverstehen, daß auf diese Weise die Benotungspraxis des Lehrers quasi deterministisch fixiert wäre. Vielmehr sind die gesetzlich benannte »eigene Verantwortung« des Lehrers bei der Schülerbeurteilung und sein »Bewertungsvorrecht« damit keinesfalls gänzlich suspendiert: Es bleibt schon ihm überlassen, ja, wird von ihm mit Bezug auf seine pädagogische Kompetenz erwartet, die Notengebung in einem pädagogisch sinnvollen Zusammenhang zur Information, »Motivation« etc. der Schülerionen/Schüler einzusetzen. Nur ist er dabei gehalten, seine Benotungen in der Tendenz, auf lange Sicht, auch auf deren am Klassenmittel ausgerichtete Verteilung nach »oben« und nach •unten« hin zu orientieren. Die hier geforderte »Normalisierung« ist also als eine tendenzielle und längerfristige Einregulierung der - im übrigen pädagogischen Kriterien anzumessenden- Notenwerte in Annäherung an ihre »normale« Verteilung zu verstehen. Auf welche Weise der Lehrer diese Normalisierung bewerkstelligt, welche vorübergehenden Aussteuerungen er dabei in welchem Zeitraum zuläßt etc., dies ist so lange ebenfalls in seine Verantwortung gestellt, wie er dabei nicht •übertreibt«, nicht auffällig wird (etwa damit in die Öffentlichkeit tritt), bzw. (von der Administration her gesehen) mit seinem Ermessens-
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spielraum im Rahmen des implizit definierten ,.pflichtgemäßen• verbleibt. In diesem Kontext hat er dann die benannten Unvereinbarkeilen von pädagogischer Verantwortbarkeit und Verteilungsorientierung der Notengebung in seiner Person zu »leben•, also in sich auszutragen. Es scheint mir bedenkenswert, ob solche personalen Integrationsleistungen nicht als wesendieher Aspekt der Eignung des Lehrers gerade als eines Beamten zu betrachten sind: Zur damit verlangten Loyalität des Lehrers würde demnach gehören, daß er (als Gegenleistung für seine »beamtete« Abgesichertheit) die Durchsetzung der administrativen Machtökonomie in Übernahme der entsprechenden Legitimationskonstruktionen von Vergleichbarkeit, Einheitlichkeit, Gerechtigkeit, mitträgt, die strukturellen Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten der Schule als staatlicher Institution mit seiner Person deckt und die daraus entstehende Gebrochenheit der beruflichen Existenz samt dem damit verbundenen Leiden qua •Treuepflicht« in Kauf nimmt. Auch daraus versteht sich vielleicht die Sensibilität, mit der von staatlicher Seite auf möglicherweise illoyale Lebensäußerungen gerade der Lehrerschaft geachtet wird.
Mystifikation von Noten als numerische Daten: Totalität individualisierender Bewertungen als Legitimation »gerechter« Zuweisungen unterschiedlicher Berufslaufbahnenl Lebenschancen Aus dem Umstand, daß die Notengebung gegenüber dem inhaltlich-pädagogischen Zusammenhang verselbständigt ist und (als Instrument »normierender Sanktion•) offiziell vorwiegend der normalisierenden Differenzierung von Schülerinnen/Schülern dient, versteht sich auch, warum die früher benannte sachliche Unsinnigkeit einer numerischen Verrechnung von Notenwerten administrativ kaum relevant ist: Da die Noten hier nicht ausweisbar für etwas Zu-Messendes stehen, sondern zirkulär selbst als »Werte in sich• fungieren, unterliegen sie auch nicht meßtheoretischen Kriterien, sondern erscheinen mehr oder weniger eindeutig als bloße ,.zahlen•, mit denen man beliebig rechnen kann. Damit sind die Noten aber in ihrer Funktion normalisierender Differenzierung auf erweiterter Stufenleiter freigesetzt. Man kann so mittels Summierung, Durchschnittsberechung etc. aus Einzelnoten allgemeinere Kennwerte für die Einstufung der Schülerinnen I Schüler gewinnen, perGewichtungquantitative Vergleichbarkeilen zwischen verschiedenen Bewertungssystemen herstellen, etc. ohne den Umstand, daß man damit jede eindeutige Beziehung zur Ausprägung der benoteten Leistungen einbüßt, beachten zu müssen. Als Dokumente solcher Abstraktionsprozeduren findet man innerhalb des Berliner Schulreglements an kritischen Stellen immer wieder gespenstische »Wertungs«- oder »Umrechnungstabellen«, die dem Lehrer
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die jeweils geforderten Notenmanipulationen ermöglichen oder erleichtern sollen. So gibt es etwa eine Tabelle zur Umgewichtung von Notenwerten beim Auf- und Absteigen zwischen verschiedenen »LEISTUNGSSTUFEN« in der Hauptschule (4200-4f). Eine weitere Tabelle soll u.a. der Umrechnung von Notenstufen verschiedener Kurse innerhalb der Gesamtschule in die allgemeinen Notenstufen sowie der Punkt- in die Notenbewertungen dienen (4300-7). Die »GESAMTN<JI'E« wird- unbeschadet der meßtheoretischen Unzulässigkeit eines solchen Verfahrens -einfach aufgrund der Aufsummierung der Einzelnoten bestimmt. Da in der Kursphase der gymnasialen Oberstufe Noten mit »Tendenzen« ( + oder-) zugelassen sind, muß man diese dazu erst in (fiktive) numerische Werte überführen (4600-4): »FüR DIE ERMITTLUNGEN DER GESAMTQUALIFIItATION WERDEN DIE ZEUGNISN<JI'EN FÜR DIE VIER KuRsHALBJAHRE UND DIE NarEN FÜR DIE PRÜFUNGSLEISTUNGEN NACH FOLGENDEM ScHLÜSSEL IN PUNKTE UMGERECHNET: (Folgt Tabelle). Für die »BILDUNG EINES PRÜFUNGSERGEBNISSES BEl SCHRIFTLICHER UND MÜNDLICHER PRÜFUNG (VERHÄLTNIS 2: I)« im Abitur liegen- da hier auch die Vornoten in den verschiedenen Kursen berücksichtigt werden müssen - besonders komplexe Berechnungsgrundlagen vor. Entsprechend komplex ist die zugehörige Tabelle, in der die Zahlen sogar quasi dreidimensional angeordnet sind (4600-38). In den »AUSFÜHRUNGSVORSCHRIFTEN FÜR DIE ABITURPRÜFUNG« (462-1 bis 127) finden sich zusätzlich Tabellen zur gewichteten Berechnung der Gesamtqualifikation in jedem einzelnen Fach und schließlich noch zwei Tabellen »ZUR ERMITTLUNG DER GESAMTNOTE FÜR ABITUilZEUGNISSE« (462-127 und 128), in welchen die in den einzelnen Fächern erlangten Punkte zu (in Dezimalzahlen ausgedrückten) »DURCHSCHNITTSNarE(N)« rückgerechnet sind. Besondere Relevanz gewinnt die »GESAMTQUALIFiltATION«, wenn sie als zahlenmäßiger Ausdruck für die »ALLGEMEINE HocHSCHULREIFE« dienen soll. Deswegen finden sich an dieser Stelle besonders penible Rechenvorschriften: »DIE ALLGEMEINE HOCHSCHULREIFE WIRD AUFGRUND EINER GESAMTQUALIFII.tATION ZU· ERKANNT, DIE SICH Aus DER ADDITION DER PuNKTE FÜR DIE KuRSE DER KuRSPHAsE UND FÜR DIE PRÜFUNGSLEISTUNGEN ERGIBT. DIE GESAMTQUALIFiltATION EilRECHNET SICH AUS DEN LEISTUNGEN IN I. DEM ERSTEN BwcK, DER ~2 GRUNDKURSE UMFASST, 2. DEM ZWEITEN BWCK, DER DIE ACHT LEISTUNGSKURSE UMFASST UND J. DEM DRITTEN BwcK, DER DIE IM VIEKI'EN KuRSHALBJAHR BESUCHTEN KURSE DER VIER PRÜFUNGSFÄCHER, DARUNTER DIE BEIDEN LEISTUNGSKURSE SOWIE DIE LEISTUNGEN DER ABITURPRÜFUNG UMFASS'I« (4600-12). Diese extensiven und allgegenwärtigen numerischen Operationen mit den schulischen Noten könnten einen bei erstem Hinsehen schon einigermaßen fassungslos machen: Warum sagt denn keiner was dagegen, wo doch mindestens viele wissen (müßten), was hier geschieht? Bei genauerer Betrachtung
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findet man hier ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die erwähnte korrumpierende Wirkung der disziplinären Schulstrukturen. Von da aus wäre die gerade formulierte Frage vielleicht eher umgekehrt zu stellen: Warum sagt keiner etwas dagegen, obwohl viele wissen, daß hier etwas nicht stimmt und u. U. sogar darunter leiden, daß sie nichts dagegen tun? Offenbar deswegen, weil das Gros der Betroffenen auf unmittelbarer Ebene an einer Klärung letztlich nicht interessiert sein kann - dies angesichts der Einbezogenheit der Notengebung in eine Machtökonomie, innerhalb derer es nach Foucault keine einfache Wirkung der Macht »Von oben nach unten« gibt, sondern jeder in gewissem Sinne gleichzeitig Opfer und Täter ist (s.o., S.349}. So können, wie gezeigt, die Lehrer nur um den Preis ihrer Loyalität mit der Administration und deren Bewertungslogik ihre verbleibenden Spielräume sinnvoller pädagogischer Arbeit erhalten und akuter Gefährdung ihrer beruflichen Existenz entgehen. Aber auch die Eltern sind, wie schon angedeutet, soweit in diesen Machtmechanismus einbezogen, wie sie auf den - über die Notenstufen ermöglichten - Vergleich ihres Kindes mit anderen Kindern fixiert sind. Selbst den Schülerionen/Schülern wird (was später noch ausführlich zu diskutieren ist) durch die Machtökonomie der Schuldisziplin nahegelegt, ihren eigenen Erfolg oder Mißerfolg nicht zuvörderst in Termini von mehr oder weniger ausgeprägtem Wissen, Verständnis, Können, sondern von vergleichsweise mehr oder weniger guten oder schlechten Noten zu denken. - Nur weil sie dergestalt als Maßstab ihrer je eigenen Daseinsbewältigung von allen Beteiligten praktisch mitgetragen und reproduziert wurde, konnte es zu jener schulischen Totalität des Bewertens kommen, gemäß der hier nichts und niemand von pausenloser Bewertung verschont ist, wobei die inhaltlichen Bezüge der Wertung durch die Dominanz des individualisierenden Vergleichens laufend zersetzt und zurückgedrängt sind; eine Bewertungstotalität, die im geschilderten rechnerischen Aufbau immer allgemeinerer Bezugsebenen des wertenden Vergleichs ihren vollkommensten Ausdruck findet. Die Funktionalität einer solchen Bewertungsarithmetik versteht sich zunächst als Perfektionierung der geschilderten Techniken »normierender Sanktion« samt ihrer Ritualisierung in den Prüfungen: Die Individualisierung erfolgt hier nicht nur als quantifizierende Differenzierung einzelner Leistungen, sondern über die abstrahierende Berechnung von »Gesamtqualifikationen« als Differenzierung des •Wertes« der jeweiligen Gesamtperson: »Die Fähigkeiten, das Niveau, die ,Natur' der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert« (Foucault, s.o., 5.355}. So findet sich jeder durch die •Festnagelung auf seine eigene Einzelheit« per Gesamtnote im »Abstand« seines persönlichen Wertes zu dem Wert der anderen fixiert: Dies
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als quantitativ entwickeltste Gewinnung von (vorgeblich) präzisen »Meßergebnissenc, in die »die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede« eingebracht ist: »Ständige(r) Vergleich zwischen dem einzelnen und allen anderen, der zugleich Messung und Sanktion ist« (Foucault, s.o., S.356}. Damit verdeutlicht sich, daß aus dem Blickwinkel •normierender Sanktion« der •Persönlichkeit« jedem einzelnen Kind oder Jugendlichen zwar hohe Beachtung zugewandt wird, dies aber nicht aus Interesse an ihm in seiner subjektiven Wirklichkeit, seiner Problemsicht, seinen Schwierigkeiten mit der Schule, o.ä., sondern per ..absteigender Individualisierung• als Bestimmung seines Platzes im disziplinären »System von Normalitätsgraden•, also im Kontext von Machtstrategien zu seiner »Normalisierung«. Daraus ergibt sich denn auch, welche Funktion (im Berliner Schulreglement) der (dem Klassenlehrer o.ä. auferlegten) Führung eines ..ScHOLEilBOGEN(s)« über jeden einzelnen Schüler zukommt: Dazu wird zwar festgestellt »DER. ScHULEllBOGEN SOLL ZUM BESSEllEN VERSl'ÄNDNts DEJ. PEJ.SÖNLICHKEIT DES ScHOLEJ.S BEITJ.AGEN« (203-2). Die vorgedruckten »ANGABEN IM ScHOLEilBOGEN« enthalten hingegen lediglich die folgenden Punkte: Name; Vornamen; Geschlecht; Geburtsdatum, -ort; Staatsangehörigkeit; Anschrift; Telefonnummer; Name, Vorname, Anschrift, Telefonnummer der/des Erziehungsberechtigten; Beginn der Schulpflicht; Angaben über die Schullaufbahn in der allgemeinbildenden Schule; Vermerke über Kontakte mit den Erziehungsberechtigten und Einrichtungen, die den Schüler betreuen; übereignete Lehrmittel (204-7). Ergänzend dazu wird angeordnet: ,.DIE ÜBEJ. DEN SCHÜLER IN DEJ. SCHULE ENTSTANDENEN UNTEJ.LAGEN WEIDEN BEI DEM SCHÜLEJ.BOGEN AUFBEWAHKI', INSBESONDERE ZEUGNISABSCHJ.IFTEN, fMPFEHWNG ZUM SCHUL· ANFANG, ÜBEJ.SCHULEMPFEHWNG, UNTEJ.LAGEN OBEil DAS VEitHALTEN DES ScHOLEJ.S IN DEil ScHULE EINSCHLIESSLICH ÜBER ETWAIGE ÜllDNUNGSMASSNAHMEN. DARÜBER HINAUS WIJ.D DOIIT DER DEN ScHÜLER BETREFFENDE ScHRIFTVERKEHR GESAMMELT« (203-2). - Man mag es zynisch finden, daß hier ,.zum besseren Verständnis« der Schülerin oder des Schülers mittels Unterlagen beigetragen werden soll, in denen die Schülerin/der Schüler selbst kein einziges Mal zu Wort kommt. Indessen sollte man sich vergegenwärtigen, was unter schuldisziplinären Vorzeichen die Aufzeichnungen zum ..Verständnis der Persönlichkeit des Schülers« allein bedeuten können: Erstellung einer Art von Kaderakte, aus welcher der Lehrer und die Schulverwaltung Hintergrundsinformationen für die Behandlung einer jeweils individuellen Schülerin oder eines jeweils individuellen Schülers im Zuge der Reproduktion der Schuldisziplin gewinnen können.
Die Funktionalität der dargestellten Bewertungstotalität wird unter umfassenderen Gesichtspunkten noch deutlicher, wenn man sie nicht nur als auf die Schülerionen/Schüler bezogenes Mittel »normierender Sanktion«, son-. dern im Zusammenhang des institutionellen Gesamtprozesses der Schule betrachtet: Dann tritt nämlich hervor, daß das Gesamtsystem der schulischen »Organisation von Entwicklungen« ohne die Allgegenwart der Notengebung weder möglich noch legitimierbar wäre. So könnte man schon die ..Versetzungen« bzw. das »Sitzenbleiben« als selektive Regulation des Durchgangs durch die Klassenstufen weder geordnet vollziehen noch den betroffenen Schülerionen/Schülern und Eltern plausibel machen, wenn nicht die
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,.Noten« als vorgeblich objektiver Vergleichsmaßstab dafür, welche Individuen weiterkommen und welche zurückbleiben, etabliert und anerkannt wären. Entsprechendes gilt für die Ermöglichung oder Verhinderung des Übergangs von der Grundschule zur Realschule und zum Gymnasium sowie weiterhin zur gymasialen Oberstufe: Stets fungieren die besseren oder schlechteren Noten als eine Art von unhinterfragbarem Faktum oder Fatum, dem Lehrer, Schülerinnen/Schüler, Eltern unterworfen sind und in dem eine höhere, vom Willen der Beteiligten unabhängige Gerechtigkeit sich auszudrücken scheint. Dabei sind die Verteilungsorientierung der Notengebung wie ihre numerische Fassung und Verrechnung - trotz oder gerade wegen ihrer Unvereinbarkeit miteinander wie ihrer pädagogischen und meßtheoretischen Unsinnigkeit-dieGaranten dafür, daß die Noten zur Regulierung und Legitimierung der selektiven Kanalisierung von Schulkarrieren geeignet sind: Durch die normalisierende Differenzierung der Noten auf den Klassendurchschnitt hin werden, da so immer gute und schlechte Noten in einem bestimmten Verhältnis herauskommen, zwangsläufig und automatisch jene Unterschiede und Ungleichkeiten produziert, aufgrundderer immer nur ein Teil der Schülerinnen I Schüler in höhere Klassen und Schulzweige aufsteigen kann. Und durch die geschilderte Notenarithmetik ist einmal der numerische Charakter der Notenwerte und ihre Relativität mit Bezug auf den jeweiligen Klassendurchschnitt gegen alle meßtheoretische Vernunft offiziell durchgesetzt und damit ihre Geeignetheit als universelles Zuweisungskriterium vorgetäuscht; zum anderen hat man mit der numerischen Verrechnung die Möglichkeit, Notenkennwerte jeweils in dem Bezugssystem oder Allgerneinheitsgrad herzustellen, wie zu Zwecken innerschulischer Laufbahnzuweisung benötigt. - Allgemein gesehen sollte sich dadurch als positive machtökonomische Funktion des Notensystems (unter bürgerlich-demokratischen Verhältnissen) verdeutlicht haben, daß nur durch die Noten persönliche Privilegien und willkürliche Eingriffe »von oben« durch ein selbstregulatives System der Laufbahnbestimmung ersetzt werden konnten, das alle mittragen und das automatisch Ungleichheiten unter den Bedingungen formeller Gleichheit produziert. Womöglich noch deutlicher wird dies, wenn man die beschriebene Funktion von (fachspezifischen oder allgemeinen) »Gesamtnoten« oder »Durchschnittsnoten« für das Erreichen bzw. die Qualifikation von Schulabschlüssen, also der schulischen Herstellung von ..Berechtigungen« für Berufslaufbahnen berücksichtigt. In diesem Kontext dient die Notengebung direkt dazu, Ungleichheiten von Lebenschancen, die tatsächlich aus unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten verschiedener Klassen und Schichten der Bevölkerung stammen, als notwendige Konsequenz (vorgeblich) exakt
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mathematisch begründbarer, quantifizierter und auf das gleiche abstraktnumerische Referenzsystem bezogener Unterschiede im Leistungsniveau des jeweils einzelnen zu legitimieren. Das je persönliche Endergebnis des Durchgangs durch die Schullaufbahn erscheint so als pures Resultat eines auf verschiedenen Ebenen per Notengebung sich vollziehenden, damit objektiven Vergleichs individueller Meßwerte, wobei über die Art der Schulabschlüsse und der dabei erreichten Gesamtnoten das schulische Laufbahnsystem quasi als Differenzierung verschiedener Berufslaufbahnen in die außerschulischgesellschaftliche Realität hinein verlängert erscheint. Entsprechend geraten Fragen der Ankoppelung oder Abkoppelung zwischen schulischem Berechtigungswesen und Beschäftigungssystem (vgl. Klemm 1983), empirische Problematisierungen der gegenwärtigen und zukünftigen Auslesefunktion von Schule für den sozialen Aufstieg (vgl. Hansen & Rolff 1990), etc., leicht in das Umfeld von Krisendiskussionen über einen möglichen gesellschaftlichen Funktionsverlust der Schule. Aus der zu ihrer Legitimation erforderten gesellschaftlichen Funktion von »Schule« als Garant formeller »Gerechtigkeit« von Lebenschancen in Überspielung der den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen eigenen »ungerechten« Verteilung von materiellen Ausgangsbedingungen personaler Entwicklung versteht sich (wie mir scheint) das ungeheure Ausmaß der »Schrift· macht«, die gerade um die Abschlußprüfungen angeordnet ist: »Die Prüfung stellt die Individuen in ein Feld der Überwachung und steckt sie gleichzeitig in ein Netz des Schreibens und der Schrift: sie überhäuft sie mit einer Unmasse von Dokumenten« (Foucault, s.o., S.356). So folgen im Berliner Schulreglement der 38 Seiten umfassenden »VERORDNUNG ÜBER DIE GYMNASIALE ÜBERSTUFE« (4600), in der man ohnehin schon überreichliche Reglementierungen und Festlegungen der Prüfungsverfahren enthalten wähnen könnte, noch die (schon mehrfach zitierten) gesonderten »AusFÜHRUNGSVORSCHRIFTEN ÜBER DIE ABITURPRÜFUNG« (462), die sich über 128 enggedruckte Seiten erstrecken und in denen sich (wie teilweise schon von uns dokumentiert) penibelste Einzelanweisungen über Bedingungen und Verlauf der schriftlichen und mündlichen Prüfungen, über die Verhinderung, Identifikation und Ahndung von Täuschungen, Rechenvorschriften und Tabellen zur Ermittlung der Noten zu den einzelnen Prüfungen, Fächern und der Gesamtnote, Fixierungen der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der verschiedenen Schulgremien und Aufsichtsorgane etc. finden: Dies alles läßt sich m.E. nur verstehen, wenn man bedenkt, daß es dabei auch und wesentlich um den wasserdichten Nachweis der Objektivität der Abiturprüfung mit streng vergleichbaren/ einheitlichen Anforderungen und Bewertungen, also die Demonstration der »Gerechtigkeit«, mit der durch das Abitur Laufbahn-
Die Bedeutungsanordnung »Schule«
383
möglichkeiten und Lebenschancen eröffnet oder verschlossen werden, vor der größeren Öffentlichkeit geht. (Gelegentlich finden sich, wenn auch mehr am Rande, Hinweise darauf sogar im Schulreglement selbst, so, wenn es heißt: ,.GRUNDSATZ MUSS HIER SEIN, DIE VERGLEICHBARKEIT DER ANFORDERUNGEN UND ßEWEKI'UNGEN IN DER PRÜFUNG ZU SICHERN UND DAMIT DIE AKZEPTANZ DER PROFUNGEN IN DER ÖFFENTLICHKEIT zu ERHALTEN. DEM DIENT EIN NETz voN ÜBERREGIONALEN VEREINBARUNGEN; SIE STECKEN DEN RAHMEN AB, IN DEM ES HANDWNGSSPIELRÄUME GIBT.« - 4622-1.) - Diese {heute schon teilweise gegen ihre historische »Veraltung« und Erosion zu verteidigende) umfassende politisch-gesellschaftliche Legitimationsfunktion der Schuldisziplin (die in Foucaults Sicht zusammen mit der Durchsetzung bürgerlicher Klassenherrschaft, also des Widerspruchs zwischen der Garantie formeller Gleichheit und dem materiellen Fonbestand von ungleichen Verfügungs- und Entwicklungsmöglithkeiten, sich herausbildete, s.o., S.358) muß dann auch »Dach innen« auf die Gesamtorganisation der Schulinstitution zurückwirken. Demnach wären die geschilderten vielfältigen Strategien schulischer Machtökonomie einschließlich der das gesamte Schulleben durchziehenden »Schriftmacht«, über die man im Blick allein auf den pädagogischen Auftrag der Schule eher den Kopf schütteln möchte, aus der beanspruchten gesamtgesellschaftlichen Funktion von Schule als »gerechter« Verteilungsinstanz von Lebenschancen in ihrer Funktionalität begreifbar. Mit unseren letzten Überlegungen haben wir den Bereich schulinstitutioneller Bedeutungsanalysen immer eindeutiger in Richtung auf das umfassendere erziehungswissenschaftliche Problemfeld der gesellschaftlichen Funktionsbestimmung von Schule ver· lassen. Klafki (1989) hat die einschlägige Diskussion zusammengefaßt und kritisch bewertet. Er unterscheidet dabei die von außen an die Schule herangetragenen gesellschaftlichen Grundfunktionen von den pädagogischen Aufgaben, die die Schule sich im Rahmen ihrer relativen Autonomie selbst stellt, und hebt das widersprüchliche Verhältnis dieser beiden Funktionsaspekte heraus. Dem scheinen unsere Darlegungen über das Widerspruchsverhältnis zwischen schulischen Lebensmöglichkeiten und deren ..disziplinären« Behinderungen, etwa über den gerade erörterten Widerspruch zwischen der pädagogischen Forderung nach Sachgerechtigkeit von Bewertungen und deren ,.disziplinär« einregulierter Verteilungsorientiertheit, subsumierbar. Weiterhin differenziert Klafki die objektiven Grundfunktionen der Schule in •erstens eine Qualifizierungs· und Ausbildungsfunktion; zweitens eine Selektions- und Allokationsfunktion ... ; drittens eine Integrations- und Legitimationsfunktion ...« und •viertens die Funktion der Kulturüberlieferung« (S.7). Die von mir hervorgehobene Funktion der Schule als Garant von in objektiver Leistungsbewertung begründeter formeller •Gerechtigkeit« von Lebenschancen zur Legitimation fonbestehender Ungleichheiten der Ausgangsbedingungen personaler Entwicklung etc. scheint mir irgendwie zwischen den von Klafki benannten Funktionen der Qualifizierung, Selektion/ Allokation und Legitimation angesiedelt. Ich will dies hier aber nicht näher untersuchen. Für unseren Darstellungszusammenhang genügt es, wenn deutlich gemacht werden konnte, daß es derartige ..objektive• gesellschaftliche
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
Funktionsanforderungen sind, durch welche die ·disziplinärec Bewertungsuniversalität und darin gegriindete •Organisation von Entwicklungen« innerhalb der Schule abgestützt und legitimiert sind, woraus sich immer wieder machtstrategische Vorteile der Schuldisziplin gegenüber allen Tendenzen in Richtung auf die Eigenständigkeil schulischer Lebens- und Lernmöglichkeiten ergeben (s.u.).
4.2 I..ehrlernen:
Entöffentlichung des Subjektstandpunktes der Lernenden als strategisches Implikat der Schuldisziplin
Vorbemerkung Nachdem wir verschiedene Aspekte der »disziplinären« Strukturierung schulischer Bedeutungsanordnungen insoweit diskutiert haben, können wir uns auf unser eigentliches Vorhaben der subjektwissenschaftlichen Analyse solcher institutionellen Lernverhältnisse zubewegen, wobei im weiteren nach und nach unsere früheren Konzeptualisierungen des Lernens vom Subjektstandpunkt reaktualisiert werden sollen. Dabei soll in einem ersten Schritt zunächst lediglich der allgemeinste Ansatz unseres begründungstheoretischen Lernkonzeptes, die Explikation des intentionalen Lernens vom Subjektstandpunkt als subjektiv begründete Übernahme einer Handlungsproblematik als Lernproblematik (Kap. 3.1) reaktualisiert werden. Aus dieser Sicht fällt sogleich auf, daß »lernen« als Problematik vom Standpunkt des Lernsubjekts in Foucaults Konzeptualisierungen der Schuldisziplin wie deren von uns versuchter Spiegelung im Berliner Schulreglement praktisch nicht vorkommt. Foucault redet selten und mehr beiläufig von Lernen, statt dessen eher von Abrichtung, Dressur, Übung o.ä. und sieht dabei die Individuen durchgehend nicht als Aktivitätsursprung, sondern nur als Objekt fremder Einwirkung: »Die Disziplin ,verfertigt' Individuen: sie ist die spezifische Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt« (1977, S.220). Und wenn bei Foucault schon einmal vom »Subjekte die Rede ist, dann (in »Überwachen und Strafen«) meist in der französischen Akzentuierung des Begriffs in Sinne des unterworfenen Individuums (vgl. dazu W. F. Haug 1984): In diesem Sinne kennzeichnet Foucault etwa die Disziplinen als Apparate, innerhalb derer »jeder Objektivierungsmechanismus ... als Subjektivierungs-/Unterwerfungsinstrument funktioniert« (5.287). Die gleiche Tendenz der Subjektverleugnung zeigt sich im Schulreglement: Zwar ist dort zwangsläufig öfter von Lernen die Rede (wenn auch, wie Ulmann 1991, aufwies, lange nicht so häufig, wie man es in diesem Kontext annehmen müßte), aber praktisch ohne Berücksichtigung des Standortes/ der Perspektive von Schülerinnen I
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
Schülern als Subjekten von Lernaktivitäten (s.u.). So finden sich in den dargelegten Bestimmungen der institutionellen Bedeutungsanordung der Schule als Schuldisziplin kaum unmittelbare Anknüpfungspunkte zur Einbringung der von uns erarbeiteten Lerntheorie vom Standpunkt des Lernsubjekts. Angesichts dieser Darlegungen mag sich für manchen die schon früher aufgeworfene Frage wiederum aktualisieren, ob Foucaults Auffassung vom Subjekt überhaupt grundsätzlich mit dem subjektwissenschaftlichen Ansatz der Kritischen Psychologie vereinbar ist. Die Auseinandersetzung darüber bei der die Positionen (insbesondere aufgrund Foucaults subjekttheoretischer Wende in seinen letzten Arbeiten) keineswegs so einfach zu bestimmen sind, wie man nach Foucaults bekanntem Diktum vom •Tod des Subjekts« meinen könnte (vgl. dazu etwa W. Schmid 1991)- braucht jedoch hier nicht geführt zu werden. Im unserem Darstellungszusammenhang genügt es, wenn ich hervorhebe, daß Foucault, indem er die Einbezogenheit des Subjekts in die Reproduktion der Disziplinen als machtökonomische lnvolviertheit herausarbeitete, m.E. zunächst einmal einen wirklichen gesellschaftlich-historischen Entwicklungsprozeß getreu konzeptualisiert hat- und zwar dergestalt, daß damit sogar die Machtökonomie der Schule, wie sie sich in den Berliner Schulvorschriften spiegelt, trotz all ihrer temporalen und regionalen Besonderheiten in ihren Grundzügen verdeutlicht werden konnte: als das »Herausfallen« der Individuen als subjektiven Ursprungs von Lernhandlungen aus dem machtökonomischen Kalkül der Schuldisziplin. Auf dieser Grundlage kommt dann allerdings von unserer spezifischen subjektwissenschaftlichen Lernkonzeption her der Umstand in den Blick, daß der Subjektstandpunkt der Lernenden, indem er im Selbstverständnis der Schuldisziplin samt der daraus abgeleiteten Praxis offiziell unberücksichtigt bleibt, damit ja nicht abgeschafft, sondern lediglich »entöffentlicht«, also auf inoffizieller Ebene als Bestimmungsmoment der Schulwirklichkeit präsent und wirksam ist. Was auf diese Weise alles dem Auge der Schulöffentlichkeit (wie der offiziellen psychologischen Schulwissenschaft, s.u.) verborgen bleiben muß, welche Aspekte, Verlaufsformen, Erscheinungsweisen des lernenden Weltzugangs dabei unkenntlich sind, dies läßt sich vielleicht schon vorab an der Differenziertheit und Vielbezüglichkeit der von uns erarbeiteten begründungstheoretischen Lernkonzeption ermessen. Damit wird auch »denkbar«, in welchem Ausmaß der schulische Gesamtprozeß von seinen inoffiziellen, verdrängten Anteilen faktisch mitbestimmt sein dürfte - wobei sowohl eine »Unfaßbare« Veränderung der schulöffentlichen Prozesse durch die verdrängte Subjektivität der Schülerinnen I Schüler wie umgekehrt deren Prägung durch ihre Einbezogenheit in den Reproduktionsprozeß der Schuldisziplin in Rechnung zu stellen ist. Wenn wir im weiteren unsere Lerntheorie vom Subjektstandpunkt
Entö/fentlichung des Subjektstandpunktes der Lernenden
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in die Analyse der Schuldisziplin einbringen und dabei die Subjektivität der Schülerinnen/Schüler als entöffentlichten Aspekt thematisieren, so beziehen wir uns damit auf eine im Inneren der Institution vollzogene Differenzierung, die einerseits selbst in die machtökonomischen Strategien der Schuldisziplin einbezogen ist, aber (wie zu zeigen) andererseits in einem immanent widerständigen Verhältnis dazu steht und potentiell darüber hinausweist. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich, daß wir die Entöffentlichung des Lernsubjekts in der Schule in zwei Stufen bzw. unter zwei Gesichtspunkten zu behandeln haben: Einmal als die Frage nach den Erscheinungsformen, der Funktionalität und der Widersprüchlichkeit der Verkürzung intentionalen Lernens auf Lernen ohne Lernproblematik, d.h. subjektloses Lernen, aus der Sicht der offiziellen Schulorganisation wie der schulbezogenen Psychologie, und zum anderen als die Frage, welche Art von Handlungs- bzw. Lernproblematiken sich aus der so hergestellten Vereinseitigung des Bedeutungskomplexes »Schule« vom (entöffentlichten) Standpunkt der Schülerinnen/Schüler positiv begründungslogisch aufweisen lassen.
Offizielle Kontamination von Lehr- und Lernzielen: Fiktion schuladministrativer Planbarkeit von Lernprozessen mit dem Lehrer als deren »Subjekt« Im Berliner Schulgesetz heißt es in§ 1, »AUFGABE DER ScHULE«: ..AuFGABE DER ScHULE IST ES, ALLE WEKrVOLLEN ANLAGEN DER KINDER UND JuGENDLICHEN zuR VOLLEN ENTFALTUNG ZU BRINGEN UND IHNEN EIN HöCHSTMASS AN UirrEILSKRAFT, GRÜNDLICHEM WISSEN UND KöNNEN ZU VERMITTELN. ZIEL MUSS DIE HERANBILDUNG VON PERSÖNLICHKEITEN SEIN, WELCHE FÄHIG SIND, DER IDEOIDGIE DES NATIONALSOZIALISMUS UND ALLER ANDEREN ZUR GEWALTHERRSCHAFT STilEBENDEN POLITISCHEN LEHREN ENTSCHIEDEN ENTGEGENZUTRETEN SOWIE DAS STAATLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE LEBEN AUF DER GRUNDLAGE DER 0EMOKilATIE, DES FlliEDENS, DER FREIHEIT, DER MENSCHENWÜRDE UND DER GLEICHBERECHTIGUNG DER GESCHLECHTEil ZU GESTALTEN. DIESE PERSÖNLICHKEITEN MÜSSEN SICH DER VERANTWOKI'UNG GEGENÜBER DER ALLGEMEINHEIT BEWUSST SEIN, UND IHRE HALTUNG MUSS BESTIMMT WEilDEN VON DER ANERKENNUNG DER GLEICHBERECHTIGUNG ALLER MENSCHEN, VON DER AcHTUNG VOR JEDER EHRLICHEN ÜBERZEUGUNG UND VON DER. ANERKENNUNG DER NOTWENDIGKEIT EINER. FOKI'SCHiliTTLICHEN GESTALTUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN VERHÄLTNISSE SOWIE EINEil FlliEDLICHEN VERSTÄNDIGUNG DER VöLKER. DABEI SOLLEN DIE ANTIKE, DAS CHiliSTENTUM UND DIE FÜR DIE ENTWICKLUNG ZUM HUMANISMUS,
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
ZUll FREIHEIT UND ZUll DEMOKllATIE WESENTUCHEN GESELLSCHAFfLICHEN BEWEGUNGEN IHREN PLATZ FINDEN« {200-3). Dies sind sicherlich erstrebenswerte Zielsetzungen. Wie aber kann man aus den Schülerionen/Schülern solche vollkommenen »Persönlichkeiten« machen? Ganz einfach: Es ist die Aufgabe des Lehrers, die Schülerinnen/ Schüler durch »Unterricht« zu alldem zu »erziehen«: »DER LEHRER UNTERRICHTET UND ERZIEHT DIE IHM ANVEKfRAUTEN SCHÜLER ... « (Schulverfassungsgesetz, § 10, 210-8). Entsprechend ist »Erziehung-Zu« eine beliebte Formel bei der Bestimmung von allgemeinsten Erziehungszielen: So wird etwa, in einer »ERKLÄRUNG DER KuLTUSMINISTER-KONFERENZ (KMK)«, »ZuR STELLUNG DES ScHÜLERs IN DER ScHULE«, DIE »ZIELSETZUNG FÜR UNTERRICHT UND ERZIEHUNG« als in den einzelnen Landesverfassungen weitgehend übereinstimmend u.a. nach folgenden Punkten differenziert: »... zu SELBSTÄNDIGEM KRITISCHEM UKTEIL, EIGENVERANTWOKfLICHEM HANDELN UND SCHÖPFERISCHEil TKriGKEIT BEFÄHIGEN«, ... zu FREIHEIT UND DEMOKllATIE ERZIEHEN«, ..... ZU ToLERANz, AcHTUNG voR DER WüllDE DES MENSCHEN uND REsPEKT voR ANDEREN ÜBERZEUGUNGEN ERZIEHEN« (220-2). Ähnliche Formeln, wie Erziehung zum Frieden, zur Respektierung der Gleichberechtigung der Geschlechter, zur Toleranz gegenüber Ausländern, zur Multikulturalität, sind eine verbreitete Denkfigur in der Öffentlichkeit, die von der Schule übernommen wird: Alle Wünschbarkeiten dieser Welt werden aufgezählt, und ihre Realisierung soll dadurch erreichbar sein, daß die »Schule« eben dazu »erzieht«. Wäre nur zu fragen, warum es denn trotz einschlägiger »Erziehungsziele« und darauf bezogener Unterrichtsaktivitäten der Schule mit den dort angezielten erstrebenswerten Haltungen und Eigenschaften bei uns allen immer noch so sehr hapert. Warum also hat die Schule, obwohl sie dies pausenlos als ihr »Erziehungsziel« deklariert, die Vollkommenheit der Menschen und der Welt nicht endlich zustandegebracht? - Diese Fragen sind natürlich rhetorisch gemeint. Ich wollte in diesen einleitenden Darlegungen zunächst lediglich demonstrieren, in welcher Weise sich die benannte Entöffentlichung der Schulwirklichkeit vom Schülerionen/Schülerstandpunkt bereits in den allgemeinsten administrativen Bekundungen über Aufgaben und Ziele der Schule auswirkt: Die zitierten Auslassungen über die »Aufgaben der Schule« o.ä. können sicherlich nur in all ihrer Vollmundigkeit und Leerformelhaftigkeit vorgebracht werden, weil der Bereich, in dem die proklamierten Schulziele umgesetzt werden müßten, die subjektiv begründeten Lernhandlungen der Schülerinnen/Schüler, dabei offiziell nicht mitgesehen und mitgedacht werden. Nur so kann die Täuschung entstehen und verbreitet werden, daß die gleiche administrative Instanz, die die benannten Ziele proklamiert, diese pr~nzipiell (abzüglich störender Umstände, s.u.) auch zu
Entojfentlichung des Subjektstandpunktes der Lernenden
389
realisieren vermag. - Den machtökonomischen Gründen/Funktionalitäten dieser Entöffentlichung des Lernsubjekts und den Erscheinungsformen der damit produzierten realitätsverleugnenden Sicht auf schulisches Lernen wollen wir nun im einzelnen nachgehen. Dazu sollen zunächst auf allgemeinster Ebene die Gründe erörtert werden, warum die Schule bei der Umsetzung ihrer »Erziehungsaufgaben« ein umfassenderes Einverständnis der Schülerionen/Schüler nicht herzustellen und so deren Mithilfe nicht zu gewinnen vermag. In unserer Terminologie: warum die Schule den Umstand, daß intentionale Lernprozesse im Sinne schulischer »Erziehungsziele« nur zustandekommen können, sofern die Schülerionen/Schüler diese (zunächst fremdgesetzten) Ziele subjektiv begründet als »je meine« Lernproblematik akzeptieren und umsetzen, nicht offiziell zulassen kann. Der umfassendste Grund dafür ergibt sich aus der dargestellten, der Schule abgeforderten gesellschaftlichen Funktion: Diese hat, wenn sie ihre »disziplinäre« Struktur weiterhin legitimieren will, die verschiedenen gesellschaftlich präformierten Berufslaufbahnen mit entsprechend qualifizierten bzw. »berechtigten« Individuen zu bedienen. Dazu muß aber im Ganzen planbar sein, wie viele jeweils unterschiedlich berechtigte, mit entsprechenden Qualifikationsnachweisen ausgestattete Individuen am Ende der Beschulung »herauskommen«: Die Schule muß also in der Lage sein, den so gefaßten Output jeweils bedarfsgerecht zu produzieren. Deswegen kann sie eine Problematisierung von Lernzielen durch die Schülerionen/Schüler am Maßstab von deren subjektiven Lebens- und Verfügungsinteressen keineswegs in relevantem Ausmaß zulassen, vielmehr muß die Verfügung über den Schulprozeß (bei Strafe der Verfehlung ihrer gesellschaftlichen Legitimität) im ganzen von der Schule als staatlicher Institution bzw. ihrem Funktionär, dem »Lehrer«* beansprucht werden. So gesehen wäre der Lehrer also (wenn auch stellvertretend) zum eigentlichen (aktiv handelnden} »Subjekt« des Schulprozesses ein· schließlich der vorgesehenen Lernprozesse der Schülerinnen/Schüler berufen (vgl. dazu Keiler 1979/80). Daraus verdeutlicht sich die Berechtigung von
* Da wir in unseren gegenwärtigen Analysen auf die Explikation des Subjektstandpunkts der Schülerinnen/Schüler zusteuern und dabei den ,.Lehrer« weitgehend lediglich im Bedeutungskonstext von ..schule« als deren Funktionär berücksichtigen, wäre hier eine Geschlechtsdifferenzierung, also die Rede von .. Lehrerinnen/Lehrern« eher irreführend und unterbleibt deshalb. (Von •Lehrerinnen/Lehrern« müßte hingegen dann geredet werden, wenn die Schule von deren Subjektstandpunkt aus analysien werden sollte- dies wäre jedoch ein anderes Vorhaben).
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
Foucaults Verständnis der ,.disziplinären« als »Unterworfener« Subjektivität samt seinem schon zitierten Diktum: »Die Disziplin ,verfertigt' Individuen« (1977, S.220). Die von der Schule geforderte/beanspruchte Funktion der Planung des Outputs an Qualifikationsnachweisen/Berechtigungen manifestiert sich in ihren Konsequenzen für die Lernsubjekte eine Stufe konkreter auf der Ebene der Entwicklung von »Curricula«, »Lehrplänen« o.ä. Solche Lehrpläne sind bekanntlich ein bevorzugter Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen, dabei insbesondere auch bei Bemühungen um eine progressive Reform der Schule (vgl. dazu stellvertretend die Auseinandersetzungen um die •Hessischen Rahmenrichtlinien« während der Periode der Bildungsreform bei uns in den siebziger Jahren: Hier war die Curriculumsrevision bzw. die Erstellung von Richtlinien zur Curriculumsentwicklung eines der wesentlichen Diskussionsthemen, vgl. z.B. Dingeldey 1983). Deranige Debatten (und generell die verbreiteten ideologiekritischen Kontroversen um restriktive oder progressive bzw. •kritische« Lehrinhalte) sind jedoch für unseren gegenwärtigen Darstellungszusammenhang nicht einschlägig: Die Problematik der administrativen Planbarkeit des schulischen Output, damit der offiziellen Installierung des ·LehrerS'.. als stellvertretenden Subjekts der Lernprozesse der Schülerinnen I Schüler, ist unabhängig davon, ob dabei fortschrittliche oder konservative Lerninhalte geplant sind.
In erster Annäherung manifestiert sich die benannte Problematik der Lehrpläne (bzw. im Berliner Schulreglement: »Rahmenpläne«) in deren administrativer Unhintergehbarkeit und Unhinterfragbarkeit als materialem Apriori der Schulorganisation. Bei allen in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft angestrebten und zugestandenen Mitwirkungsrechten von Lehrern, Eltern und Schülerinnen I Schülern stehen diese Lehrpläne nicht zur Disposition (der Umstand, daß dem Lehrer, und u.U. auch einer »Schulkonferenz«, bei ihrer Realisierung bestimmte Spielräume verbleiben, ist keine Relativierung, sondern eher eine Bestätigung dieser Aussage); und sie können gemäß der geschilderten, staatlicherseits der Schule abverlangten Planbarkeit des Output an Qualifikationsnachweisen o.ä. nicht zur Disposition gestellt werden. Daraus versteht sich auch auf dieser Ebene, warum der Standpunkt der Schülerinnen/Schüler als realer Lernsubjekte in der Schule offiziell nicht zur Kenntnis genommen werden kann: Es gibt ja keinerlei Garantie dafür, daß die Lerngegenstände, zu denen die Schülerinnen I Schüleraufgrund ihrer Lebens-/Verfügungsinteressen begründetermaßen Zugang finden wollen/ können, ausgerechnet mit den Lerngegenständen übereinstimmen, die jeweils im Lehrplan benannt sind. Die Zulassung bzw. (richtiger) das offizielle Zur-Kenntnis-Nehmen entsprechender Lernproblematiken vom Standpunkt der Schülerinnen/Schüler würde dementsprechend zu Dauerkonflikten führen, die die Reproduktion des schulischen Lebens unmöglich machen:
Entöjfentlichung des Subjektstandpunktes der Lernenden
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eine klassische Konstellation der Konfliktverdriingung, hier durch administrative Ableugnung der Existenz bzw. der .. zulässigkeit« möglicher Eigeninteressen der Schülerinnen/Schüler an der lernenden Aufschlüsselung für sie problematischer Lerngegenstände. - So gesehen haben die Lehrpläne eine unmittelbar repressive Funktion zunächst einmal für den Lehrer, da er- weil administrativ daran gebunden - entgegen seinem pädagogischen Auftrag die inhaltlichen Lerninteressen der Schülerinnen/Schüler nicht in erheblichem Maße berücksichtigen darf (vgl. dazu die aufschlußreiche Befragung von Kunert, 1983, über den Umgang von Grund- und Hauptschullehrern mit dem Lehrplan). Dies ist wiederum ein Beispiel dafür, wie ,.disziplinäre« Schulstrukturen nicht nur »unbewußt«, sondern wider das bessere Wissen aller Beteiligten durchschlagen können: Jeder kennt »im Grunde« das Problem, aber nur, um es permanent abzuwehren oder zu verschieben. Aus diesen Darlegungen ergibt sich auf allgemeinerer konzeptioneller Ebene, warum schuloffiziell das Lernen sowohl praktisch wie begrifflich als notwendig an Lehren gebundengefaßt werden muß (wobei »Lehren« im weitesten Sinne zu verstehen ist, also damit nicht nur direkte persönliche Belehrung, sondern etwa auch die Bereitstellung von Materialien und Unterrichtsanordnungen verschiedener Art zu dem Zweck, bei den Schülerinnen/Schülern vom Lehrer intendierte Lernprozesse zu initiieren, mitgemeint sind, s.u.): Man kann es nicht praktisch zulassen und deswegen auch nicht offiziell »denken«, daß die Schülerinnen/Schülervon sich aus, aufgrundihrer eigenen Interessenlage und Zielsetzung lernen können, weil derartige Lernprozesse ja von der Schule nicht kontraHierbar und planbar sind und damit die gesamte machtökonomische Anordnung des Lernens als abhängiger Größe der Schulorganisation/Lehrereinwirkung ins Wanken geraten müßte. Die Leugnung der Vermittlung von Lernaktivitäten durch subjektive Lerngründe ist schon durch die begriffliche Kurzschließung von »Lehren« und »Lernen«, also Gleichsetzung von Lernen mit Lehrlernen, bewerkstelligt, womit der Widerspruch zwischen der offiziellen Vorstellung, Lehren erzeuge bei optimaler Unterrichtung durch den Lehrer aufgrund seiner beruflichen Kompetenz (normalerweise, s.u.) notwendig die vorgesehenen Lernprozesse, und der »dazwischen kommenden« Schul- und Lernrealität vom Standpunkt der Schülerinnen I Schüler durch mannigfache sprachlich-praktische Bedeutungsverschiebungen »gemanaged« werden kann. So wird es mittels der in diesem Kontext gebildeten institutionellen Denk- und Praxisformen der Schuladministration schon auf grundsätzlicher Ebene möglich, einerseits die »RECHTE DES EINZELNEN ScHÜLERS« in der demokratischen Schule hervorzuheben (»jEDEM ScHÜLER STEHEN UNMITTELBAR
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
INFORMATIONS- UND MITWIRKUNGSRECHTE ZU«), andererseits aber das schuladministrativ erhebliche Einbringen von eigenen inhaltlichen Lerninteressen durch die Schülerinnen/Schüler •selbstverständlich« nicht zu diesen Rechten zu zählen: »DER SPIELRAUM FÜR DIE WAHRNEHMUNG DER INFORMATIONS· UND BETEILIGUNGSRECHTE IST EINGEGRENZT DURCH DIE VERPFLICHTUNG, DIE FÜR DIE DuR.cHFÜHRUNG DES UNTERRICHTS ZUR. ERREICHUNG DES ScHULZWECKS VERBINDLICHEN BESTIMMUNGEN (z.ß. LEHRPLÄNE) ... ZU BEACHTEN« (220-6). Solche gravierenden Beschneidungen der Mitwirkungsmöglichkeiten der Schülerinnen/Schüler werden dabei nirgends begründet und können, selbst bei individuellem Problembewußtsein, schuloffiziell nicht zur Debatte gestellt werden. Dabei muß man zur Rechtfertigung dieses Denk- und Diskussionsverbots keineswegs die geschilderte Forderung nach Planbarkeit des schulischen Outputs zur Bedienung klassen- und schichtspezifisch unterschiedlicher Lebenschancen auf konfliktträchtige Weise offenlegen; dies ergibt sich vielmehr schon quasi von selbst aus der benannten begrifflich-praktischen Kontamination von »Lernen« mit »Lehrlernen«: Da niemand daran zweifeln wird, daß in der Schule »gelernt« werden muß, »lernen« aber vorgeblich nur durch »Lehren« zustandekommt, steht die Verfügung über die Lerninhalte allein dem »Lehrer« (nach Anweisung der Schuladministration) zu, da er ja in dieser Logik als Subjekt des Lebrens gleichzeitig »Subjekt« der Lernprozesse der Schülerinnen/Schüler ist.- Da die Gleichsetzung von Lernen mit Lehrlernen weitgehend dem öffentlichen Verständnis entspricht (s.u.), kann die Schule mit allgemeiner Akzeptanz dieser Lesart rechnen. So stößt sich offenbar kaum jemand daran, daß die »Lehrpläne« in der Schule keineswegs in eindeutiger Weise öffentlich präsent sind. Zwar mag der Lehrer in Elternversammlungen oder sogar in der Klasse den Verweis auf Lehrpläne gelegentlich zur Rechtfertigung seiner professionellen Zwänge bei der Gestaltung des Unterrichts benutzen. Eine Einführung der Lehrpläne als Unterrichtsmaterial und deren systematische Behandlung im Unterricht ist jedoch - obwohl doch darin steht, was die Schülerinnen/Schüler lernen sollen keineswegs üblich. Dies geht soweit, daß die Lehrpläne den Schülerinnen/Schülern nicht einmal bekannt sein müssen. Dabei kommen weder Schülerinnen/Schülernoch Eltern auf den Gedanken, eine öffentliche Diskussion der Lehrpläne vom Lehrer zu verlangen. Offenbar ist allen Beteiligten irgendwie klar, daß - da die Lehrpläne nicht zur Disposition stehen deren Diskussion überflüssig ist, und daß der Lehrer- wenn er zu weit gehende Gelegenheiten schüfe und zuließe, die Lehrpläne in Frage zu stellen damit seine Autorität als offiziell bestallte Lehrlernperson selbst untergraben und damit gleichzeitig die Loyalität gegenüber seinem ..öffentlichen Arbeitgeber«, der ihm diese Autorität übertragen hat, verletzen würde.
Entö/fentlichung des Subjektstandpunktes der Lernenden
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Wenn wir uns nun solche schulischen Lehrpläne- in Gestalt der von der zuständigen Berliner Senatsverwaltung herausgegebenen »vorläufigen Rahmenpläne« - näher ansehen, so verdeutlicht sich, auf welche Weise hier die Kontamination von »Lehren« und »Lernen« samt Ausklammerung des Lernsubjekts bereits durch die Wortwahl und Art der Formulierungen festgeschrieben ist. - Die dort vorfindliehen inhaltlichen Vorgaben des Unterrichtsstoffes sind fast durchgehend (für alle Klassenstufen und Schularten) in »LERNZIELE« UND »LERNINHALTE« gegliedert und tabelliert. Dafür zunächst folgendes Beispiel (1989/1990), wobei ich dort auch noch eingerückte »Hinweise zur Unterrichtsgestaltung« weglasse:
»KLASSE r/z ERSTSCHREIBEN LERNZIELE
LERNINHALTE
DAS KIND ERFASST DIE GRUNDLEGENDEN
GRUND- UND VERBINDUNGSFORMEN
FORM·, BEWEGUNGS· UND VERBINDUNGS·
SOWIE BEWEGUNGSABLÄUFE DER
ELEMENTE DER GEBUNDENEN SCHRIFT IN
GEBUNDENEN SCHRIFT
FORM DER LATEINISCHEN AUSGANGSSCHRIFT DAs KIND KANN BucHsTABEN,
WöRTER, SÄTZE, KURZE TEXTE:
BucHSTABENVERBINDUNGEN, WöRTER
KINDERTEXTE,
UND KURZE TEXTE IN GEBUNDENER
TEXTE AUS DER FIBEL UND ANDEREN
SCHRIFT AB- UND AUFSCHREIBEN
BücHERN
DAs KIND KANN DRUCKSCHRIFT-
WöRTER, SÄTZE, KURZE TEXTE:
VORLAGEN IN SCHREIBSCHRIFT
KINDERTEXTE,
UMSETZEN UND UMGEKEHRT
TEXTE AUS DER FIBEL UND ANDEREN BüCHERN
DAS KIND VERFÜGT SICHER ÜBER EINEN AUTOMATISIERTEN SCHREIBWORTSCHATZ
WöRTER, DIE FÜR DAS KIND BZW. DIE KLASSE VON BESONDERER BEDEUTUNG SIND, SOWIE WöRTER DES KLASSENWORTSCHATZES«
Sodann ein weiteres Beispiel aus dem vorläufigen Rahmenplan für die Sekundarstufe I, Fach Musik (1983):
394
Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
• KLASSENSTUFE
9
LERNZIELE
LERNINHALTE
»ST&UKTUilELLEil AsPEKT DIE ScHULEil KÖNNEN - DIASTEMATISCHE, llHYTHMISCHE UND
DIASTEMATIK: PENTATONIK, DIATONIK,
HAllMONISCHE VERLÄUFE ANALYSIEREN UND DARSTELLEN
CHROMATIK, GANZTONilEIHE; RHYTHMIK.: KoMPLEXE RHYTHMEN, TllloLE; HARMONIK: HAUPT- UND NEBENDREIKLÄNGE, DoMINANTSEPTIMENAK.KOilD, KADENz; ToNAl.l'ß'r - AroNALI'Ilb'
- MUSIL\LISCHE ST&UK.TUilEN
ÜllGANISATION VON
WEITEilVEilAilBEITEN UND VEilFilEMDEN
KLANGEIGENSCHAFTEN; VEllWENDUNG VERSCHIEDENEil SPIEU'ECHNIKEN: LEGIJO, STACCIJO, FLAGEOLETT, CON SOilDINO
- MELODIEN HAilMONISIEilEN UND AllllANGIEilEN, MusiKSTOCK.E SINGEN UND SPIELEN Ell\VEITEKI'E KADENZ; Voll-, ZwiSCHEN-, NACHSPIEL; VEilSCHIEDENE BESETZUNGEN«
Schließlich ein Beispiel aus dem Rahmenplan für die gymnasiale Oberstufe, Fach Latein ( 1977I 1990): •DRITTES KuRSHALBJAHR CICERO VERBINDLICHE LERNZIELE: I. EINBLICK IN DIE RÖMISCHE PHILOSOPHIE IN IHREM VERHÄLTNIS ZUR PRAGMATIK,
2. EINBLICK IN DIE ANEIGNUNG GRIECHISCHEil KuLTUR DURCH DIE RöMER,
J.
KENNTNIS WESENTLICHEil MERKMALE DER VEilAilBEITUNG DER PHILOSOPHISCHEN TRADITION DURCH CICERO ••• ,
4· fÄHIGK.EIT, PHILOSOPHIE ALS MITTEL ZUil LEBENSBEWÄLTIGUNG ZU SEHEN,
5·
EINBLICK IN DIE RÖMISCHE PLASTIK (VOLL- UND RELIEFPLASTIK, Po&TilAITKUNST).
Zull ERAilBEITUNG DER VERBINDLICHEN LERNZIELE KÖNNEN FOLGENDE L E ll N I N H A L T E DIENEN:
Entöffentlichung des Subjektstandpunktes der Lernenden
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A: DAS INDIVIDUUM AUF DEli. SucHE NACH VERHALTENSWEISEN IN DEli. GESELLSCHAFT B: PHIWSOPHISCHE GRUNDPROBLEME (LEBEN UND
Too,
LEIB UND SEELE, MAcHT
UND RECHT) C: DAS •DECOII.UM« UND DAS »UTILE« IN IHII.EII. ETHISCHEN UND ÄSTHETISCHEN DIALEI:TIIt 0: CICEII.OS LEBEN IN AUTOBIOGRAPHISCHEN ZEUGNISSEN
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T E : AuswAHL AUS DEM GEsAMTWEII.J: CICEII.os ENTSPII.. DEN GEWÄHLTEN LnN-
INHALTEN. EINE AusWAHL AUS EINER GROSSEN PHIWSOPHISCHEN SCHRIFT SOLL IM MITTELPUNI:T STEHEN, DAZU SIND NEBEN BRIEFEN CICEII.OS AUCH AUGUSTIN (c1v.) UND SENECA (ETWA DE III.A, OE BII.EV. VITAE, EPP. AD Luc.) EMPFEHLENSWERT.«
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich in den zitierten RahmenplanAuszügen (und- möglicherweise aufgrundeiner offiziellen Sprachregelungpraktisch im gesamten Berliner »Rahmenplanwerk«) der Lehrlernkurzschluß schon terminologisch festgeschrieben findet: Hier ist durchgehend in einem Kontext von »Lernzielen« und »Lerninhalten« die Rede, aus dem eindeutig hervorgeht, daß nur »lehrziele« bzw. »Lehrinhalte« (oder »Unterrichtsziele« bzw. »Unterrichtsinhalte«) gemeint sein können. Darin dokumentiert sich die dargestellte schuloffizielle Denk- und Praxisform, der gemäß das, was der Lehrer »lehrt« (in Abwesenheit störender Umstände, s.u.) automatisch auch von den Schülerionen/Schülern »gelernt« wird, so daß eine Unterscheidung von Lehren und Lernen hier eigentlich überflüssig erscheint. - Diese Kurzschlüssigkeit ist keineswegs einfach dadurch zu heilen, daß man in Korrektur des benannten Sprachfehlers jeweils »Lern-« durch »Lehr-« oder »Unterrichts-« ersetzt. Aus der Art der jeweiligen Spezifizierungen der Ziele bzw. Inhalte geht nämlich hervor, daß das, was der Lehrer jeweils zu lehren hat, durchgehend in Termini von Lerneffekten bei den Schülerionen/Schülern ausgedrückt ist: »DAS KIND ERFASST ... «, DAS »KIND KANN ... «, DAS »KIND VERFÜGT ... OBER«, DIE »SCHÜLER KÖNNEN ... «. Die Frage, woher man denn weiß, daß die diese hier jeweils das vom Lehrer »Gelehrte« als ihre Lernproblematik übernommen haben, ist so nicht einmal mehr stellbar: Das
Lernen der Schülerinnen/Schüler ist schuloffiziell allein ein Problem des Lehrers. Diese administrativ erzeugte Sichtverkürzung, der gemäß ..das Lernen nicht als eine Bewegung der Schüler ... ,sondern als ein Resultat der Bewegung des Lehrers« wahrgenommen wird, fand Gerhard Zimmer (1987, S.292f) auch in seinen bei der Analyse der Arbeitserziehung geführten Gesprächen mit Lehrern wieder. So berichtet er mit Bezug auf einen der interviewten Lehrer: ·Meine Frage, ob Schüler mit bestimmten Lernmaterialien Schwierigkeiten haben, wurde von ihm nicht verstandene, und verallgemeinert seine einschlägigen Beobachtungen so: ..Schwierigkeiten des Lernens werden also erkannt als Schwierigkeiten des Lehrens« (S.293).
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Wenn man nicht nur die Vornahme, Kindern in der Grundschule das Lesen und Schreiben beizubringen, als sicherlich unumstrittene Zielsetzung, sondern die weiteren angeführten »Lernziele und -inhalte« für die Sekundarstufe I und gymnasiale Oberstufe betrachtet und sich von da aus eine Vorstellung über das gesamte riesige »Rahmenplanwerke von der Einschulung über alle Schulzweige bis zum Abitur zu machen sucht, so tritt einem die benannte Lehrlernkurzschlüssigkeit quasi auf erweiterter Stufenleiter entgegen: Wird hier doch unterstellt, daß die Schülerinnen/Schüler, indem dies jeweils als »Lernziel« vorgeschrieben ist, tatsächlich auch dazu befähigt werden können, »MUSIKALISCHE STRUKTUREN ZU VERFREMDEN UND WEITER.ZUVEilAR.BEITENc, »MELDDIEN (zu) ARRANGIEREN«, »PHILDSOPHIE ALS MITTEL zua LEBENSBEWÄLTIGUNG ZU SEHEN«, WEITERHIN »EINBLICK IN DIE RÖMISCHE PHII.DSOPHIE IN IHREM VERHÄLTNIS ZUR PRAGMATIK«, »DIE RÖMISCHE PLASTIK (VOLL- UND RELIEFPLASTIK, PoKrllAITKUNST)« zu gewinnen und darüber hinausalldas sonst noch in den Rahmenplänen angezielte Können, Verständnis, Wissen mit Bezug auf praktisch sämtliche Wissenschafts- und Kulturbereiche in sich zu vereinen. Damit kehren hier nicht nur die schon in den benannten allgemeinen Aufgabenbestimmungen der Schule vorgefundenen realitätsverleugnend-illusionären Zielbestimmungen in ausdifferenzierter Form wieder: Darüber hinaus würde- wie man sich mit einer gewissen Beklemmung vergegenwärtigen mag -ein dergestalt umfassend »schulgebildeter« Mensch (wenn er denn »machbare wäre) nichts anderes darstellen als ein bloßes Produkt dessen, was andere sich für ihn als wissens- und könnenswert ausgedacht haben, ein von der Schuldisziplin »Verfertigtes« Bildungsmonster, dessen »Bildung« sich zwangsläufig dadurch selbst aufhebt, das sie nicht die seine ist. Zur Konkretisierung dieser allgemeinen Überlegungen wollen wir nun die schuldisziplinären Mechanismen, durch welche Lernen (unter Wegleugnung des Lernsubjekts) schulisch kontraHierbar und planbar gemacht werden soll, genauer betrachten. Anders: Es sollen die schulischen Denk- und Praxisformen konkretisiert werden, aufgrund welcher Strategien schulischer Machtökonomie, wie wir sie unter den Vorzeichen Foucaultscher Konzeptionalisierungen am Berliner Schulreglement verdeutlicht haben, als gleichzeitig zur Realisierung der schuloffiziell kurzgeschlossenen Lehrlernziele geeignet erscheinen können. Zunächst betrachten wir daraufhin die (im Schulreglement gespiegelte) schulische »Zeitökonomie« (s. u., S.361f) und verdeutlichen uns die »pädagogischen« lmplikationen der hier angesetzten elementaren Zeiteinheit »EINE UNTERRICHTSSTUNDE DAUEKI' 45 ... MINUTEN«: Aus der Art und Weise, wie mit dieser Zeiteinheit verfahren wird, geht m.E. klar hervor, daß diese gleichzeitig
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als eine elementare Lehrlerneinheit fungiert. 45 Minuten Unterricht eines dazu kompetenten Lehrers bedeuten hier nämlich offensichtlich identisch ein entsprechendes Lernquantum bei den Schülerinnen I Schülern, wobei die Art eines bestimmten Lernquantums durch das jeweilige »UNTERRICHTSFACH« bzw. den jeweiligen »LEllNBEREICH« determiniert ist. Nur daraus versteht sich der dargestellte zentrale Stellenwert der Stundenpläne, bzw. (nach Berliner Sprachregelung) »STUNDENTAFELN« und auch deren erwähnte permanente Umkämpftheit: Wenn z.B. die Festsetzung von 7 »SCHÜLERWOCHENSTUNDEN« in Deutsch und 5 »SCHÜLE.RWOCHENSTUNDEN« in Mathematik vorwiegend eine bloß organisatorische Maßnahme wäre, müßte dem nicht allzu großes Gewicht beigemessen werden. Sofern aber aufgrund des schulischen Lehrlernkurzschlusses das Verhältnis zwischen 7 und 5 Unterrichtsstunden gleichzeitig als ein Verhältnis 7 : 5 des zugeordneten Lernquantums wahrgenommen wird, heißt dies, daß hier »Mathematik« um zwei Einheiten weniger »in« die Schülerinnen/Schüler hineingetan werden soll als »Deutsch«: Wie will man dies denn rechtfertigen - ist »Deutsch« als Bildungsgut tatsächlich gerade in dieser Quantität wichtiger als »Mathematik« - und ist nicht die gesamte Reproduktion unseres kulturellen Erbes bedroht, wenn »Deutsch« nur -oder lediglich -um zwei Maßeinheiten mehr an die kommende Generation weitergereicht wird als »Mathematik«? Im ganzen gesehen scheint aufgrund der administrativen Verordnung von »Stundentafeln« {als Gegenstand permanenter Konkurrenz zwischen den verschiedenen Unterrichtsfächern) mit der zeitlichen Planung auch eine präzise inhaltliche Planung der Verteilung von fachspezifischem Lernquantum vollziehbar. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der disziplinären ..Verfertigung« von Individuen gemäß den wechselnden Anforderungen der von der Schule zu bedienenden beruflichen Laufbahnstrukturen- damit auch an das, was jeweils höherer Bildungsstand als Legitimation für die Eröffnung privilegierterer Laufbahnen heißen soll. Die zeitökonomische Implementierung von Lernquantum als Funktion des aufgewendeten Lehrquantums ist nun - damit diese sich planmäßig durchsetzen kann - an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die wiederum zu den dargestellten Bestimmungen der Schuldisziplin gehören, nämlich die benannte Homogenisierung der Schülerinnen/Schüler durch »Gleichschaltung verschiedener Altersklassen«, wobei mit der »Organisation von Entwicklungen« als zentralem »Schulzweck« die Homogenität der jeweils höheren Jahrgangsstufen, Leistungskurse, Übergänge in höhere Schularten etc. über den Mechanismus der Versetzung {oder äquivalente Mechanismen) garantiert werden muß {s.o., S.362f}. Da in der Schule (seit ihrer disziplinären Formierung) die Schülerinnen/Schüler nicht einzeln, sondern klassenweise unterrichtet werden, bedeutet dies im zeitökonomischen Kontext, daß die
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Schülerinnen/Schüler hinsiebtlieh dessen, was sie früher schon »gelernte haben, d.h. hinsichtlich des »Stoffes«, der schon »durchgenommen« worden ist, aufgrund optimaler Unterrichtung durch den Lehrer die gleichen Voraussetzungen mitbringen müssen: Nur so kann die Vorstellung einer prinzipiellen Entsprechung zwischen Lehrstoff und Lernresultat aufrechterhalten und die Gleichsetzung des Gelernten mit dem einschlägigen unterrichtlichen Zeitaufwand schulorganisatorisch legitimiert werden. Das »Herausfallen« einzelner Schülerinnen/Schüler aus dem dergestalt homogenen Klassenverband versteht sich im Bezugssystem der Lehrlernentsprechung daraus, daß die jeweilige Schülerin oder der jeweilige Schüler, während das unterrichtliche Lehrlernen stattgefunden hat, abwesend war, entweder wörtlich genommen, indem sie/ er häufig (aufgrund von Krankheit, Schwänzen o.ä.) »gefehlt« hat, oder im übertragenen Sinne, indem sie/ er geistig abwesend, also »unaufmerksam«, »abgelenkt« war, »nicht aufgepaßtc, sich »mit anderen Dingen beschäftigt«, häufig mit ihren/seinen Nachbarn »geschwatzt«, »Unfug« getrieben hat. So erklären sich die dargestellte besondere Penibilität, mit der gemäß dem Schulreglement »Fernbleiben vom Unterricht«, »Fehlzeiten« etc. registriert und sanktioniert werden, wie auch die ständige Anmahnung der »Aufmerksamkeit« der Schülerinnen/Schüler durch den Lehrer (teilweise immer noch mit gesonderter AufmerksamkeitsNote) in diesem Zusammenhang aus der schuloffiziell unterstellten Lehrlernentsprechung: Danach ist jede körperliche oder mentale Abwesenheit einer Schülerin oder eines Schülers vom Unterricht (da etwas, was schon »dran« war und vielleicht noch einmal »wiederholt« worden ist, normalerweise nie wieder »drankommt«) eine oft unwiederbringliche Einbuße an einschlägigem »Lernquantum«, damit ein Verstoß gegen die an der Klassenhomogenität orientierte disziplinäre Zeitökonomie des Unterrichtsgeschehens. Darin verdeutlicht sich ein bestimmter strategischer Aspekt der dargestellten schulischen Einrichtungen des »Sitzenbleibens«, der »Probezeit« etc.: Auf diese Weise sollen offensichtlich nicht nur bestimmte Schülerinnen/Schüler am Weiterkommen innerhalb des schulischen Laufbahnsystems gehindert, sondern es soll auch die jeweils betroffene Klasse von solchen Schülerinnen/ Schülern entlastet, damit die Gefahr der durch mangelnde Homogenität bedingten Störung der Lehrlernentsprechung verringert werden: So heißt es, wie schon angeführt, im Schulreglement zur Funktion des Sitzenbleibens, diese pädagogische Maßnahme solle nicht nur den Bildungsgang des einzelnen »Schülers« mit seiner geistigen Entwicklung in Übereinstimmung halten, sondern auch »DIE LEISTUNGSFÄHIGKEIT DER AUFSTEIGENDEN KLASSE SICHERN«. Entsprechend wird die >>Probezeit« vor der endgültigen Aufnahme in die Realschule oder ins Gymnasium damit begründet, dass auf diese Weise ggf.
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Schülerinnen/Schüler auszusondern sein sollen, die voraussichtlich den Anforderungen des jeweiligen Oberschulzweiges nicht gewachsen sein werden »UND DADURCH AUCH DIE AllBEITIN DER KLASSE BEHINDERN« (s.o., 5.362; zur Funktion der Homogenisierung von Schulklassen vgl. unter mehr bürokratietheoretischem Aspekt auch Lenhardt 1984, S.19tff).
Auflösung des Widerspruchs zwischen vorausgesetzten optimalen Lehrlernbedingungen und geforderter Unterschiedlichkeit der Leistungsbewertungen: Das schulische Konstrukt natürlicher Begabungsunterschiede Wenn man nun - in Fortsetzung unseres Aufweises der Implikationen verschiedener machtökonomischer Strategien im Hinblick auf die schuloffizielle Kurzschließung zwischen Lehren und Lernen- die (früher ausführlich diskutierte) »normalisierende Differenzierung« der Bewertungen/Benotungen hinzunimmt, so stößt man dabei zunächst auf folgenden Widerspruch: Einerseits müßte sich gemäß dem Lehrlernkurzschluß angesichts des auf die ganze Klasse bezogenen Lehraufwandes (unter Voraussetzung von deren Homogenität) aufgrund der dem Lehrer auferlegten persönlichen Kompetenz zu optimaler Unterrichtung das gleiche Lernresultat bei allen Schülerinnen/ Schülern der jeweiligen Klasse ergeben. Andererseits wird mit der administrativen Forderung nach normalisierender Differenzierung der Benotungen (wie ausführlich dargelegt) dem Lehrer eine (relative) Ausschöpfung der Notenskala durch sich um einen mittleren Wert verteilende Bewertungen nahegelegt, womit also gerade nicht gleiche, sondern verschiedene Leistungen bei den so benoteten Schülerinnen/Schülernunterstellt werden. Wenn man versucht, derartige aberflächenhaft aufscheinende Widersprüehlichkeiten genauer zu durchdringen, so stellt sich heraus, daß damit das Konzept des schuloffiziellen Lehrlernkurzschlusses keineswegs relativiert werden muß, sondern im Gegenteil dieser erst in den adäquaten Punktionszusammenhang der schulischen Machtökonomie zu stellen ist. Dabei verdeutlicht sich nämlich, daß die mit dem optimalen Unterrichtsaufwand des Lehrers angestrebte Gleichheit des Lernquantums aller Schülerinnen/ Schüler in einer Klasse und die Verschiedenheit der (bewerteten) Leistungen quasi unterschiedlichen Realitätsebenen zugeschrieben sind: Während die Lehrlernentsprechung durch den Lehrer gemäß seiner pädagogischen Verantwonung und Kompetenz hergestellt werden soll, resultieren die dennoch verbleibenden Leistungsdifferenzen in dieser Lesan aus davon unabhängigen
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Verschiedenheiten der Schülerinnen/Schüler. Damit ist die Hypostasierung der Lehrlernentsprechung einerseits beibehalten, aber andererseits nicht absolut, sondern konditional verstanden, nämlich quasi mit einer Ceterisparibus-Klausel: »in Abwesenheit störender Umstände« versehen. Diese »Störenden Umstände<< werden in der Person der Schülerionen/Schüler lokalisien, als Unterschiede, die nicht auf Mängel des Lehraufwandes bzw. -erfolgs zurückgehen, sondern die die je individuellen Schülerionen/Schüler als unab-
hängig von der Schule bestehende verschiedene Leistungsdispositionen, Lernfähigkeiten o.ä. (bedingt etwa durch »soziale Herkunft<<, »Elternhaus«, »Peergruppe<<, »Begabung«) charakterisieren. Durch diese Art von implizitem »Zweifaktorenmodell« ist die Annahme einer optimalen unterrichtlichen Förderung aller Schülerinnen I Schüler mit der dennoch feststellbaren Unterschiedlichkeit ihrer Leistungen vereinbar zu machen. Wir haben es hier also mit einem der Schulorganisation immanenten Konstrukt zu tun, durch welches die Schule auf der einen Seite über den Lehrer als ihren Funktionär dem allgemeinen gesellschaftlichen Bildungsauftrag zu genügen scheint, auf der anderen Seite aber auch ihre dargestellte Funktion der selektiven Zuordnung zu verschiedenen Schullaufbahnen und -abschlüssen »rational« begründen kann. Damit wäre das vielleicht zentrale Dilemma der Schule, im Namen der Gleichheit von Bildungschancen gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren zu müssen, machtökonomisch aufgelöst. So gesehen steht die Homogenisierungsforderung keineswegs im Widerspruch zur differenzierenden Leistungsbewertung in der Schulklasse. Im Gegenteil: Nur wenn garantiert ist, daß die Schülerionen/Schüler in ihrer schulischen Vorgeschichte einem gleichen Quantum an fachspezifischem Lehrangebot ausgesetzt waren, kann der Umstand, daß im je konkreten Fall trotz optimalen Unterrichtsaufwandes dennoch Leistungsunterschiede zu konstatieren sind, quasi rein auf unterschiedliche (wie immer außerschulisch zustandegekommene) Leistungsdispositionen der Schülerinnen/Schüler zu· rückgeführt werden. Damit ist die gesellschaftlich geforderte Gerechtigkeit der schulischen Selektionsmechanismen und Laufbahnzuweisungen ein weiteres Mal unterstrichen: Die trotz optimaler Unterrichtserteilung verbleibenden unterschiedlichen Leistungen der Schülerionen/Schüler und damit verbundenen verschiedenen Lebenschancen werden von der Schule nicht er· zeugt, sondern lediglich über das Benotungssystem sichtbar und in schulische Laufbahnkriterien umgesetzt. - In diesem Zusammenhang verdeutlicht sich unter einem bestimmten Aspekt die Funktionalität der früher dargestellten Mechanismen der Isolierung verschiedener Schülerinnen/Schüler voneinander sowie der peniblen schulischen Kontrolle der Einheitlichkeit von Prüfungsbedingungen etc.: Die damit angestrebte Vergleichbarkeit individueller
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Notenaufgrund der Einheitlichkeit der schulisch bereitgestellten Leistungsvonaussetzungen hat die schulstrategische Funktion, die dispositionellen Leistungsunterschiede der Schülerionen/Schüler »ungestört« zur Wirkung kommen zu lassen, also die Verantwortung für deren unterschiedliche, insbesondere mangelnde Leistungen von der Schule auf die schulunabhängigen Dispositionen des jeweils Einzelnen abwälzen zu können. Die verschiedenen »mitgebrachten« Unterschiede der Leistungsdisposition/ ,.Lernfähigkeit«, auf die sich die schulischen Bewertungsdifferenzierungen beziehen, bleiben im Prinzip in ihrer näheren Charakterisierung und Genese offen: Es könnte sich dabei grundsätzlich auch um Resultate unterschiedlicher familialer Sozialisationsbedingungen, häuslicher Arbeitsmöglichkeiten, sozialer Beziehungskonstellationen der Schülerionen/Schüler etc. handeln. An dieser Stelle ist sozusagen das Einfallstor für die in der Bildungssoziologie und -ökonomie entwickelten, vielfältigen und umstrittenen Modelle zur statistischen »Vorhersage« von .Status· Zuweisungen• o.ä., so das ..Wisconsin-Modell« zur Erfassung der Weitergabe von Berufspositionen von einer Generation zur anderen, indem etwa der Bildungsabschluß des Vaters, die Berufsposition des Vaters, der Bildungsabschluß des Sohnes und die erste Berufsposition des Sohnes in einem Pfadschema zur Vorhersage der nachfolgenden Berufspositionen des Sohnes dienen sollen (vgl. Blau & Duncan 1967). Dieses Modell wurde {wie Treiber & Weinert 1985, S.21, zusammenfassend darstellen) etwa durch Hauser mittels eines erweiterten Pfadschemas in folgende {jeweils in bestimmter Weise aufeinander bezogene) Instanzen ausdifferenziert: soziale Herkunft, kognitive Fähigkeit, Schulleistungen, Einfluß wichtiger Bezugspersonen, Berufsaspirationen, Bildungsaspirationen, Bildungsabschluß. Der •Einfluß wichtiger Bezugspersonen• wird dabei noch aufgeteilt in •Ermutigung durch Lehrer•, •Ermutigung durch Eltern« und »Schulabschlußaspirationen der gleichaltrigen Freunde•; dies alles, um am Ende der Pfadstruktur die »erreichte Berufsposition• vorhersagen zu können. Solchen Modellen sind nicht nur immanent verschiedene Schwächen attestiert worden (vgl. etwa Treiber & Weinert 1985, S.25ff); darüber hinaus leiden sie m.E. prinzipiell darunter, daß hier {wie für diese Art •soziologischer« Herangehensweise typisch} ungleichgeordnete Kategorien verschiedenen und ungeklärten Abstraktionsniveaus »kausal« aufeinander bezogen sind, so daß die etwa erreichten statistischen Befunde kaum sinnvoll interpretiert werden können. Dies schließt ein, daß ein eindeutiger Bezug zu Kennzeichen der sachlich-sozialen Bedeutungseinheit •Schule« {als •lernstatt•), wie wir sie zu analysieren versuchen (also auf das, was in der Schule den Betroffenen tatsächlich zur Erfahrung werden kann), hier kaum herstellbar ist. Wir brauchen uns deshalb im folgenden nicht genauer mit solchen Modellen zu beschäftigen.
Eine grobe Differenzierung »mitgebrachter« Leistungsunterschiede der Schülerionen/Schüler ist indessen, da schulstrategisch bedeutsam, auch in unserem gegenwärtigen Analysekontext relevant: Die Unterscheidung zwischen auf irgendeine Weise außerschulisch »gelernten« oder »erworbenen«
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-also »sozialisationsbedingten«- und •angeborenen« Unterschieden der Lej.; stungsfähigkeit. Dabei besteht hier offensichtlich bei der Schuladministration aus schulstrategischen Gründen die Tendenz, die Erklärungen durch Sozialisationsunterschiede weniger hoch zu gewichten und statt dessen mehr auf »natürliche« Dispositions- und Fähigkeitsunterschiede, also unterschiedliche »Begabungen• zu rekurrieren (vgl. dazu auch Lenhardt 1984, S.209ff).• Während nämlich •Sozialisationsdefizite« o.ä. ja potentiell von der Schule kompensiert und ausgeglichen werden könnten, ist dies im Hinblick auf •angeborene« Begabungsmängel und die damit gesetzten unveränderlichen Obergrenzen der Leistungsfähigkeit stets als Möglichkeit abzuleugnen. Nur mit Hilfe des Begabungskonstruktes ist also das benannte schulische Zweifaktorenmodell konsequent durchzuhalten, indem die Schule hier jeden Verdacht, sie habe selbst (entgegen ihrem demokratischen Auftrag) an der Produktion von schulischen Ungleichheiten als Grundlage unterschiedlicher Lebenschancen mitgewirkt, begründet zurückweisen kann. Damit würde hier die Schule unabhängig von den politischen Zielen der Administration und der Lehrer - allein aufgrund immanenter Stabilisierungsmechanismen des schulischen Organisationsprozesses angesichts objektiv widersprüchlicher gesellschaftlicher Vorgaben - der konservativen Grundüberzeugung, Klassenund Schichtunterschiede seien nicht die Ursache, sondern das Ergebnis unterschiedlicher personaler Leistungsmöglichkeiten, zuarbeiten. Dies ist ein weiterer Aspekt der Rechtfertigung von gesellschaftlichen Ungleich· heiten durch schulische »Begabungstheorienc, wie sie in vielfältigen Zusammenhängen bildungsökonomisch diskutiert worden sind (vgl. dazu auch die Beiträge von Bourdieu und seinen Mitarbeitern, etwa 1971, 1981). Aus diesem Problemzusammenhang versteht sich auch, daß von psychologischer Seite vorliegende Problematisierungen des »Begabungs-•Konzeptes (vgl. die Einführung von Heinrich Roth zu den Gutachten für den Deutschen Bildungsrat, 1969, bes. S.19-39, wo er Konsens über die wissenschaftliche Unbrauchbarkeit des Begriffs »Begabung« unterstellte) - zwar u.U. vorder· gründige Beachtung fanden (vgl. dazu Fend 1987), aber der Verbreitung des • Begabungsc-Etiketts bei der Strukturierung des Schulalltags kaum etwas an· haben konnten. Mit der »Naturalisierung« von schulisch bewerteten Leistungsunterschieden durch Rückgriff auf Begabungsunterschiede erhält die früher dargestellte, dem schulischen Bewertungssystem immanente Regulation der Notengebung
* Selbst im von der rotgrünen Koalition verabschiedeten neuen hessischen Schulgesetz von 1992 ist in aller Unschuld immer wieder von »Begabung• die Rede.
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auf (tendenziell) •normale verteilte Noten hin in ihrer Funktionalität für die selektive Laufbahnzuweisung noch eine weitere Stützung: Wenn man schulische Leistungen/Bewertungen als - etwa nach Art der Körpergröße - um einen Mittelwert •zufällig« streuend betrachtet, scheint die •normalisierende« Notendifferenzierung als quasi in der Sache liegend gerechtfertigt. Die aus dem allgemeinen Erziehungsauftrag der Schule/ des Lehrers sich ergebende Konsequenz, jeweils alle Schülerionen/Schüler so zu fördern, daß die Leistungen in der Klasse eher nach Art einer J-Kurve verteilt sind- also die allermeisten Schülerionen/Schüler den Anforderungen genügen - kann so mit Rückgriff auf die natürliche Unterschiedlichkeit der den Leistungen zugrundeliegenden Begabungen als in der Schulwirklichkeit nicht umsetzbare Idealforderung weggeschoben werden. Die geschilderten Prozeduren zür Herstellung von normalisierten Notendifferenzierungen durch Erhöhung bzw. Verminderung der Anforderungen und/ oder Bewertungsmaßstäbe verhülfen dann quasi nur noch der •Natur« zu ihrem Recht- eine spezielle schulische Variante selbsterfüllender Prophetie.
Schulische Sondermaßnahmen gegenüber Lehrlerndefiziten unterhalb des »Normalen« zwischen zusätzlichem Normalisierungsaufwand und Ausgrenzung Mit dieser quasi aus der Sache abgeleiteten Fundierung des impliziten NormalverteilungsmodeHs schulischer Leistungen durch Rückgriff auf korrespondierende natürliche Begabungsunterschiede erscheint eine weitere schulstrategische Differenzierung modellhaft begründbar: Es ergibt sich daraus nämlich zwanglos ein Unterschied zwischen Leistungen/Bewertungen, die im Bereich des Normalen streuen, und solchen, die außerhalb der Normalität liegen, also mit natürlichen Streuungen der Begabung nicht mehr erklärt werden können. Foucault hat diese Doppelfunktion der Normalisierung, Differenzierung nach innen und Abgrenzung nach außen (wie dargelegt) so charakterisiert: ·Als Unterschied zu aHen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen ... « (1977, 5.236). Auf die so gesetzten Leistungsunterschiede innerhalb und außerhalb der (modellhaft mitgedachten) Normalverteilung muß nun die Schuldisziplin machtstrategisch auf prinzipiell verschiedene Weise reagieren: Während die normalen Leistungsdifferenzen - bei Unterste11ung optimalen Lehraufwandes und gleicher Bewertungsvoraussetzungen - (wie gesagt) als •natürliche, d.h. unvermeidlich betrachtet und deswegen offizielllediglich konstatiert und zur Grundlage der geschilderten selektiven Laufbahnzuweisungen
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genommen werden, sieht sich die Schuleangesichts von Leistungen außerhalb der normalen Verteilung zur Spezialbehandlung der betreffenden Schülerionen/Schüler aufgerufen: bei Abweichungen nach oben etwa durch Einrichtung von speziellen Hochleistungskursen, Spezialschulen für »Hochbegabte« o.ä. (vgl. dazu Holzkamp 1992), und (dies der schulorganisatorisch erheblichere Fall) bei Abweichungen nach unten durch spezielle Sanktionierung, kompensatorische Förderung, und/ oder organisatorische Ausgrenzung der Betroffenen. Die schulökonomische Grundlage für solche Sondermaßnahmen ist die Annahme von systematischen Zusatzfaktoren, welche die normale Leistungs. verteilung überdecken, d.h. das Zustandekommen der Lehrlernentsprechung zusätzlich zu den unterstellten natürlichen Begabungsunterschieden behindern. Demnach wird (im Falle der Abweichungen nach unten) mit den Maß. nahmen zunächst das Ziel verfolgt, die aus der normalen Verteilung »herausgefallenen« Schülerionen/Schüler so weit wie möglich wieder zu »normalisieren«. Sofern man dabei im wesentlichen solche Faktoren diagnostiziert, durch welche (in der dargestellten Weise) die körperliche oder mentale Anwesenheit der Schülerionen/Schüler im Unterricht aktuell beeinträchtigt ist, kann man eine derartige Normalisierung klassenimmanent durch informelle Zurechtweisungen oder mit den früher geschilderten »ÜRDNUNGSMASSNAHMEN GEGENÜBER ScHÜLERN« (200-27) versuchen. Sofern indessen die als Garanten der Klassenhomogenität mitzubringenden Lernvoraussetzungen einer Schülerin oder eines Schülers als längerfristig unternormal erscheinen, kann der Lehrer (abgesehen von leichten Fällen, in denen er im Rahmen seiner geringen Spielräume durch individuelle Zuwendung kompensatorisch intervenieren mag) sich darum nicht kümmern: Dies würde seiner pädagogi· schen Aufgabenzuweisung, alle Schülerionen/Schüler einer Klasse mit optimalem Lehraufwand zu unterrichten, zuwiderlaufen. So sind dafür Sonder· einrichtungen zur Entlastung der regulären Schulklassen installiert. Soweit man noch hofft, einzelne Schülerionen/Schüler durch die Sondermaßnah· men bald wieder zu normalisieren, erhalten sie (gemäß dem Berliner Schulreglement) z.B. zusätzlichen »FÖRDERUNTERRICHT«, außerhalb des Klassenver· bandes, aber möglichst durch den selben Lehrer: »IM FöRDERUNTElllliCHT SOLLEN DIE ScHüLER DIE MöGUCHKEIT ERHALTEN, DIE IM REGEWNTERRICHT NICHT ERWORBENEN KENNTNISSE UND FEIITIGKEITEN NACHZUARBEITEN UND EIN· ZUÜBEN« (4101-1). Bei gravierenden »Störungen« einer Schülerin oder eines Schülers (und durch sie/ihn des Unterrichts) kann diese(r) innerhalb der Hauptschule aus dem allgemeinen Klassenverband herausgenommen und (in der Regel von Sonderschullehrern unterrichteten) »BEOBACHTUNGSKLASSEN FÜR VERHALTENSGESTÖKfE ScHÜLER«, sog. »BEO-KLASSEN«, zugeführt werden:
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,.AUFGABE DER BEo-KLASSEN IST Es, DIE BEZIEHUNGEN DER ScHÜLER zu UMWELT uND MITSCHÜLERN zu NORMALISIEREN MIT DEM ZIEL EINER BALDIGEN RücKFüHJWNG IN EINE ALLGEMEINE KLASSE DER ÜBEilSCHULE. DAZU GEHÖKr AUCH DIE SORGFÄLTIGE UND VIELSEm GE BEOBACHTUNG DER ScHÜLER, UM DIE U llSACHEN DEil FEHLHALTUNGEN PÄDAGOGISCH UND PSYCHOLOGISCH ZU EilGRÜNDEN ... « (4200-6). Sofern bei •Ieistungs« - bzw. •verhaltensgestörten« Schülerinnen/ Schülern die jeweiligen Maßnahmen zur Rückführung in den Regelunterricht fehlgeschlagen sind oder von vornherein als aussichtslos erscheinen, werden diese in eine »SCHULE FÜll LERNBEHINDEIITE (SONDERSCHULE)« eingewiesen: »DIE ScHULE FÜR LERNBEHINDEIITE UNTERRICHTET KINDER UND jUGENDLICHE, DIE WESENTLICH UND NICHT NUll VOllÜBERGEHEND IN IHREM LERNEN BEEINTRÄCHTIGT SIND UND TROTZ DES ANGEBOTS BESONDERER LERNHILFEN IN DER GRUND-, HAUPT- UND GESAMTSCHULE NICHT ODER NICHT HINilEICHEND GEFÖRDEKI" WERDEN KÖNNEN« (440-16). »DIE SCHULE FÜR LERNBEHINDEIITE HAT DIE AUFGABE, DEN SCHÜLERN UNTER ANWENDUNG SONDERPÄDAGOGISCHER MASSNAHMEN EINE INDIVIDUELLE UND ANGEMESSENE BILDUNG ZU VERMITTELN« (440-17). All solche besonderen Fördermaßnahmen bzw. -einrichtungen sind - wie zusammenfassend festgestellt werden soll - in ihrer Funktionalität nur angemessen zu verstehen, wenn man sie als Mittel zur Durchsetzung des Lehrlernens bei normalisierender Leistungsbewertung in den Regelklassen betrachtet: Auf diesem Wege werden die Schülerionen/Schüler entweder wieder in den Bereich normal verteilter Leistungen/Begabungen eingerückt oder für immer von den auf dieser Grundlage zu vollziehenden Selektionsprozeduren ausgeschlossen. Dabei sollte man sich verdeutlichen, daß die individuelle Förderung von »normalen« Schülerionen/Schülern zwar dem einzelnen Lehrer innerhalb der verbleibenden Spielräume seiner Verantwortung für die optimale Förderung aller Schülerionen/Schüler überlassen bzw. auferlegt ist, aber in schuloffiziell organisierter und abgesicherter Weise nur den unterhalb der »Normalität« liegenden Schülerionen/Schülern zuteil wird: So gehört es zwar zu den offiziellen Aufgaben des (Sonderschul-)Lehrers, jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler etwa bei dem Bemühen pädagogisch zu unterstützen, von der »Beo-Klasse« wieder zurück in die Regelklasse zu gelangen. Nirgends aber ist ein Lehrer administrativ angewiesen, innerhalb der Regelklasse alle Schülerinnen/Schüler individuell in ihrem Bemühen zu fördern, jeweils höhere Notenstufen zu erlangen, etwa von einer Drei auf eine Eins zu kommen. Das administrative Konzept einer allgemeinen Individualförderung würde nämlich dem Modell schulisch organisierter Lehrlernentsprechung bei natürlich streuenden Leistungen widersprechen. So springt hier also das Konstrukt natürlicher Begabungsunterschiede ein, womit die
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Optimierung aller Schulleistungen durch allgemeine Individualförderung als sachfremd und unrealistisch erscheinen muß. - So gesehen sind die schulorganisatorischen Anordnungen, durch welche eine solche Förderung auf erweiterter Stufenleiter unmöglich gemacht ist, zugleich pädagogisch legitimiert wie dazu geeignet, Zielsetzungen und Aktivitäten einzudämmen, die dem staatlichen Schulzweck der über die Unterschiedlichkeit der Schulnoten transportierten selektiven Laufbahn- und Abschlußzuweisung zuwiderlaufen.
Psychologische Wissenschaft im Einklang mit der Schuldisziplin: Lerntheorien als (implizite} Lehrlerntheorien in Sichtverkürzung auf die offizielle Seite des Schulprozesses Die Genealogie der Disziplinen schließt -wie dargestellt - nach Foucault die Herausbildung spezieller Wissenschaften ein, die sowohl aus den Disziplinen erst ihr Material und ihren Gegenstand gewinnen wie umgekehrt mit ihren Erkenntnissen in die disziplinären Machtstrategien einbezogen sind und diese als »Technologien« verallgemeinerbar machen: In diesem Prozeß konnten sich, wie Foucault darlegt, »im Element der Disziplin« u.a. die »Entwicklungspsychologie« und die »pädagogische Psychologie« formieren (19n, S.288). Dieser Gesichtspunkt soll jetzt unter Zentrierung auf die psychologi· schen Lerntheorien in unsere Diskussion eingeführt werden. Dabei ermäßigen wir unseren Anspruch gegenüber dem von Foucault, indem wir die Frage der Entstehung der Lerntheorien im Zusammenhang der Genese der Schuldisziplin hier beiseite lassen und uns mit der schwächeren Fragestellung begnügen, wieweit die Lerntheorien sich - unabhängig davon, ob sie in diesem historischen Zusammenhang entstanden sind - durch die Art ihrer Begriffsbildung zur Absicherung und Ausgestaltung des Schuldisziplinären Reproduktionsprozesses eignen. Weiterhin diskutieren wir diese Frage nicht ab ovo, sondern fädeln uns damit in unsere laufenden Analysen ein, setzen also die hier schon erarbeiteten Konzeptualisierungen voraus: das dargestellte schulorganisatorische Grundprinzip administrativer Planbarkeit von Schullaufbahnen und -abschlüssen, das daraus sich ableitende offizielle Prinzip des Lehrlernens samt der es absichernden und legitimierenden Konzepte, Mechanismen und Strategien. Dieser schulorganisatorische Funktionszusammenhang enthält, wie aufgewiesen, mannigfache der dazu erforderten Entöffentlichung des Lernsubjekts geschuldete Widersprüche, die wiederum durch bestimmte Deckkonstrukte administrativ »verdrängt« werden. Damit das gesamte machtökonomische
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Reproduktionssystem_ der Schule f~n~ti~nieren kann, ist es _einerse~ts nötig, benannten w1derspruchsehmm1erenden Konstruktionen •Im Inneren• der Schule •gemanaged• werden und daß sie andererseits nach außen Akzeptanz finden - mindestens aber nicht in einem Maße öffentlich angezweifelt werden, daß dadurch die gesellschaftliche Funktionalität der Schule ernsthaft gefährdet würde. Dazu ist, wie schon angedeutet, ein dem entgegenkommendes Denken in der Öffentlichkeit vorausgesetzt. Dies schließt wiederum u.a. ein, daß die schulbezogene bzw. auf Schule beziehbare psycho· logische Wissenschaft, für uns zuvörderst in Gestalt der etablierten Lerntheorien, in ihrer Grundbegrifflichkeit das widersprüchliche schulische Reproduktionssystem samt seiner widerpruchseliminierenden Konstrukte faktisch mitträgt. Demnach müßten die Entöffentlichung des Lernsubjekts, die Vorstellung der extern zu steuernden Planbarkeit des Lernens, also Kurzschließung zwischen Lehren und Lernen sich so in den lerntheoretischen Konzeptualisierungen wiederfinden, daß damit die Widersprüchlichkeit des Schulprozesses samt seiner Mystifizierungen wissenschaftlich gedeckt ist. Zugespitzt: Der benannten Einseitigkeit des offiziellen Schulverständnisses müßte eine Einseitigkeit lernpsychologischer Begriffsbildung entsprechen, von der aus die •andere Seite« der Schule als Erfahrungsfeld vom Subjektstandpunkt der Schülerinnen/Schüler nicht nur ebenfalls abgedrängt ist, sondern deren schuloffizielle Verdrängung nicht einmal benannt werden kann- Lerntheorien als (mindestens potentiell) •offizielle« Schulwissenschaft.
daß die
Wenn wir uns unter diesen Gesichtspunkten nun den traditionellen lern· theoretischen Grundansätzen, wie wir sie in Kapitel 2 dargestellt und diskutiert haben, zuwenden, so zeigt sich, daß wir von da aus unsere Betrachtensweise sogleich auf einen besonderen Aspekt ausrichten müssen. Das schuldisziplinäre Zentralkonzept des Lehrlernens enthält nämlich offensichtlich nicht nur eine personale Instanz, den Lernenden, sondern zwei Instanzen, den Lehrenden und den Lernenden, die - wie wir zeigten - in den schuloffiziellen Vorstellungen auf eine bestimmte Weise kurzgeschlossen sind. Wenn wir nun nach Entsprechungen des schulischen Lehrlernkurzschlusses in den benannten psychologischen Lerntheorien suchen, so befinden wir uns also zwangsläufig im allgemeinen Problembereich des •sozialen Lernens• oder (genauer) des interpersonalen Lernens. Schulisches Lehrlernen spezifiziert sich mithin auf theoretischer Ebene als eine bestimmte restriktive Form des interpersonalen Lernens, die mit der institutionellen Strukturierung der Schuldisziplin notwendig mitgegeben ist. Bei einem kurzen Blick auf die (in Kapitell diskutierten) psychologischen Lerntheorien in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen scheint zunächst
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evident, daß dort von interpersonalem Lernen nur in bestimmten Spezialfällen (am eindeutigsten mit Bezug auf die Ansätze zum »Lernen am Modell«) explizit die Rede ist. Etwa für die Theorien des klassischen und instrumentellen Konditionierens, die kognitivistischen Gedächtnistheorien und das Lernkonzept der Handlungsregulationstheorie scheint hingegen der interpersonale Aspekt des Lernens nicht konstitutiv, womit wir dort bei unserer Suche nach Entsprechungen für das schulische Konzept des Lehrlernens keinen Ansatzpunkt finden könnten. Ein solcher wird jedoch dann sofort sichtbar, wenn wir nach unserer früheren Gepflogenheit den Blick über die expliziten Formulierungen der Theorien hinaus auf die Standardanordnungen richten, in denen ihr Bezug zur Empirie geregelt ist: Die verschiedenen Varianten der traditionellen Lerntheorien verstehen sich (wie dargestellt) im Normalfall als Wenn-Dann- Aussagen, die- als »Vorhersagen« v'on »unabhängigen« auf »abhängige Variable(n)« operationalisiert- mittels experimenteller Bedingungskontrolle und statistischer Datenanalyse empirisch prüfbar sind. Demnach sind hier - auch, wo »innertheoretisch« nur eine Person, der Lernende, angesprochen ist - außertheoretisch, aber »inneroperational« stets zwei Personen mitgemeint: Der »Experimentator«, der die Vorhersagen formuliert und experimentell prüft, und die '»Versuchsperson«, an der diese Prüfung vollzogen wird - womit die Lerntheorien sich faktisch notwendig auf eine interpersonale Konstellation beziehen. Wenn man nun daran ansetzend zu klären versucht, wieweit und in welcher Hinsicht die damit benannte interpersonale Experimentalbeziehung mit dem schulischen Lehrlernkurzschluß vergleichbar ist, so fällt auf, daß das Lernergebnis im Rahmen des Variablenmodells zwingend als abhängige Variable gefaßt ist: Der Experimentator formuliert und realisiert die unabhängigen Variablen, von denen aus das, was die Vp unter diesen Umständen gelernt haben wird, vorhersagbar sein soll. Dabei ist zu berücksichtigen, daß - wie unsere begründungstheoretischen Reinterpretationsversuche erbrachten - im Rahmen dieses Variablenmodells der Standpunkt des Lernsubjekts zugunsten der Unterstellung eines (wie immer funktional auszudrückenden) direkten Effekts der Lernbedingungen (unabhängigen Variablen) auf die Lernresultate (abhängigen Variablen) geleugnet wird, so die Erfahrungen und Sichtweisen der Lernenden in den experimentellen »Untergrund« abgedrängt sind und nur als möglichst zu eliminierende Störgrößen imponieren. Von da aus bietet sich an, erst einmal auf dieser globalen Ebene das Verhältnis zwi· schen Experimentator und Vp als kurzgeschlossenes Lehrlernverhältnis zu interpretieren, innerhalb dessen der Experimentator als Lehrinstanz (i.w.S.) und die Versuchsperson als Lerninstanz fungiert {vgl. dazu Keiler 1979/80). Dem kommt entgegen, daß der Experimentator nicht nur die Bedingungen
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einrichtet, unter denen in hypothesengemäßer Weise gelernt werden soll, sondern der Vp meist auch verbal eine Instruktion gibt, durch welche sie erfährt, was und wie sie zu lernen hat: »Instruktion« durch den Lehrer ist ja mit Bezug auf die Schule häufig ein anderes Wort für »Unterricht«; demgemäß heißt eine bestimmte Variante der Unterrichtsforschung »Instruktionspsychologie« (s.u.). Man kann diese Parallelisierung indessen noch weiter treiben: Wie der Experimentator den vorhergesagten Effekt der unabhängigen Variablen auf den Lerneffekt als abhängige Variable nur durch bedingungsanalytische Planung, »experimental design«, isolieren zu können meint, plant (wie dargestellt) auch der Lehrer die möglichst »reine« Auswirkung seiner Lehrtätigkeit auf die Lernfortschritte der Schülerinnen/Schüler durch Bedingungskontrolle in der Schulklasse. Dazu gehört die Herstellung der »Einheitlichkeit« und »Vergleichbarkeit« der Lernbedingungen, die vom Experimentator in der Versuchsanordnung und vom Lehrer in der Schulklasse (wenn auch mit unterschiedlichen Techniken) gleichermaßen angestrebt werden. Selbst die trotz aller Planungsbemühungen verbleibende »Streuung« der erreichten Lerneffekte wird bei der experimentellen wie der schulischen Bedingungsanalyse in Rechnung gestellt, im Experiment etwa als »Standardabweichung«, in der Schulklasse als um den Durchschnitt variierende Notenverteilung- dann allerdings gemäß den unterschiedlichen »Zwecksetzungenc des Experiments und der Schule im einen Falle als Grundlage statistischer Urteilsbildung und im anderen Falle als Grundlage selektiver Laufbahnzuweisung, etc.- Wenn demnach in dieser Weise die kurzschlüssige, den Subjektstandpunkt der Vp verleugnende Beziehung zwischen Experimentator und Versuchsperson im Lernexperiment der kurzschlüssigen, den Subjektstandpunkt der Lernenden verleugnenden Lehrlernbeziehung zwischen Lehrer und Schülerinnen/Schülern in der Schulklasse entspricht, so können schon deswegen die von uns am schulischen Lehrlernkonzept aufgewiesenen, aus der Entöffentlichung des Subjektstandpunkts der Schülerinnen/Schüler herrührenden Widersprüchlichkeiten und Friktionen prinzipiell nicht in den psychologischen Lerntheorien abgebildet werden. Vielmehr muß aus deren Sicht der offizielle schulische Lehrlernkurzschluß als widerspruchsfrei-natürliche Lernwirklichkeit erscheinen, die von den Theorien nicht hinterfragbar, sondern nur genauer erklär- bzw. vorhersagbar ist - dies als Spielart wissenschaftsdisziplinärer Absicherung der Reproduktion und Legitimation der Schuldisziplin. Nun mag man diese globale These, die sich nicht an den verschiedenen konkreten Lerntheorien, sondern nur an deren gemeinsamer variablenpsychologisch-operationaler Grundlage festmacht, in Ansehung der vorfindliehen lerntheoretischen Begrifflichkeit noch für unbefriedigend halten: Kann man
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hier wirklich die Aktivitäten des Experimentators samt ihren theoretischen Konzeptualisierungen einfach und undifferenziert mit »Lehren« (im Kontext des Lehrlernens) gleichsetzen- dazu nochangesichtsdes Umstands, daß in manchen Lerntheorien die Selbsttätigkeit und Selbstkontrolle des Lernenden ja keineswegs eliminiert, sondern gerade besonders zur Geltung gebracht werden soll? Um solchen Zweifeln zu begegnen, wollen wir die zentralen Konzepte der traditionellen Lerntheorien - wenn auch mehr exemplarisch genauer daraufhin betrachten, auf welche Weise und in welchen Vermittlungen die (mögliche) konzeptionelle Reproduktion und Absicherung des schulischen Lernlernkurzschlusses bei ihnen in Erscheinung tritt. Wenn wir uns unter diesen Gesichtspunkten zunächst dem SR-psychologischen Zentralkonzept der »Verstärkung« zuwenden, so fällt sogleich auf, daß dieser Begriff in doppelter Bedeutung verwendet wird: Einmal im Sinne eines intentionalen Aktes des ,.verstärkenden« Experimentators: er ,.verstärkt« die Vpn in dieser oder jener Weise, zum anderen im Sinne eines nicht intendierten Widerfahrnisses, dem die Vp ausgesetzt ist: sie wird durch diese oder jene Ereignisse in bestimmter Weise ,.verstärkt« (so etwa durch das Beißverhalten der Fische in Lefrancois' Anglerbeispiel). Da nun ,.Lehren« im schulischen Kontext, wie wir darlegten, als intentionaler Akt des Lehrers zur Umsetzung der administrativen Lehrpläne o.ä. (wobei der Lehrer als ,.Subjekt« der Lernprozes. se der Schülerionen/Schüler fungieren soll) verstanden wird, können wir mithin von vornherein ..Lehren« nur dann in irgendeinem Sinne als ,.Verstärkung« interpretieren, wenn dieses dabei eben als intentionaler Akt des Verstärkenden, nicht aber als Widerfahrnis des Verstärkten aufgefaßt wird. Diese Einschränkung erscheint mir jedoch nicht allzu schwerwiegend: dies schon deswegen nicht, weil es sich bei den empirischen Ursprungsstellen des Verstärkungskonzeptes stets um vom Experimentator hergestellte oder eingerichtete ,.Reizkonstellationen« handelt, und zufällige Verstärkungsbedingungen meist lediglich in (mehr oder weniger weithergeholten) Beispielen angenommen werden. Darüber hinaus wäre in diesem Zusammenhang an den früher aufgewiesenen mindestens implizit- technologischen Charakter der Verstärkungstheorie (vor allem in ihrer wesentlichen Ausprägung als Theorie des instrumentellen bzw. operanten Konditionierens) zu erinnern: Wenn es darum geht, durch verschiedene Prozeduren des ..Kontingenzenmanagements« (intermittierende Verstärkung, Extinktion etc.) ,.erwünschtes« Verhalten der Vpn zu erzeugen bzw. »unerwünschtes« zu eliminieren, so ist dabei aber notwendig (ob in der Theorie reflektiert oder nicht) eine entsprechende Intention des Experimentators vorausgesetzt. In jedem Falle haben wir einzuräumen, daß ,.Verstärkung« eben nur dann mit .. Lehren« in Beziehung gebracht werden kann, wenn dabei eine intendierte Aktivität des Verstärkenden vorausgesetzt ist.
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So gesehen kann man .Verstärken« - wenn vom Lehrer in der Schule ausgeübt- m.E. ohne größere Probleme als eine schwache Form des »Lehrens« einstufen; ein Lehren nämlich, bei dem der Lehrer den Schülerionen/Schülern lediglich seine Zustimmung bzw. Ablehnung zu dem von ihnen gezeigten Verhalten signalisiert - ob nun nach Art des averbalen operanten Konditionierens, etwa durch Kopfnicken bzw. -schütteln o.ä., oder nach dem gängigen (auch im Bereich der kognitiv erweiterten SR.:fheorien verbreiteten) Muster als verbales ..Ja« oder »Nein« bzw. ,.falsch« oder »Richtig«. Diese Sichtweise findet sich ja auch tatsächlich nicht nur in einschlägigen Beispielen (so Lefrancois' Vergleich der Schulklasse mit einer Skinnerbox, innerhalb welcher der Lehrer als so oder so verstärkender Versuchsleiter fungiert, s.o., S.64), sondern praktisch umgesetzt in den früher benannten, besonders in den fünfziger und sechziger Jahren in den USA, aber auch bei uns verbreiteten Techniken der ..Verhaltensmodifikation«, angewandt auf die Schulklasse (Gesamtdarstellung bei O'Leary & O'Leary unter dem Titel: »Classroom Management. The successful use of behavior modification«, 1972). Vom bloßen Lehren durch .Verstärken« etc. läßt sich dann eine Stufenfolge zu stärkeren Formen des Lehrens, etwa durch verbale Erklärungen, Begründung des Fehlers, Aufzeigen von Alternativen ansetzen. So unterscheiden etwa Partridge & Paap ( 1988), die hier für viele andere stehen können, (im konnektionistischen Problemzusammenhang) zwei Arten des »external tutoring«: ..Learning by being told if you are right or wrong« (S.143) und »Learning by being told new facts, rules or heuristics« (S.141)- dies gleich noch ein Beispiel für die auch hier übliche Vermengung zwischen Lehren (•tutoring•) und Lernen.- Da nun (wie in verschiedenen Zusammenhängen ausführlich dargelegt) im Konzept der »Verstärkung•, auch in seiner kognitiven Erweiterung durch das Konzept der •Information•, die dadurch hervorgerufenen Verhaltensänderungen stets in außendeterministischer Weise als automatischer Effekt der Verstärkungsbedingungen aufgefaßt werden, können wir hier zusammenfassend festhalten: Sofern schulische Verhältnisse in irgendeiner Form auf der Grundlage des SR-theoretischen Verstärkungskonzeptes (eipschließlich seiner kognitiven Erweiterungen) lerntheoretisch analysiert und verändert werden sollen, ist dabei notwendig das schuldisziplinäre Konstrukt des Lehrlernens bei Entöffentlichung des Subjektstandpunkts der Lehrenden wissenschaftlich abgesichert und zu seiner Reproduktion beigetragen. Dies gilt (wie nun zu zeigen) auch für jene kognitiv erweiterten SR-psychologischen Konzepte um das »Lernen am Modell«, wie sie besonders von Bandura ausgearbeitet wurden (s.u., S.88ff) und ebenfalls, unter dem Kennwort »Modeling«, als Techniken zur Verhaltensmodifikation in der Schulklasse: empfohlen worden sind (vgl. etwa O'Leary & O'Leary 1972, KapitelS).- Die
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Besonderheit dieses Ansatzes liegt darin, daß hier der interpersonale Charakter des (Lehr)lernens sich nicht nur faktisch in der Beziehung zwischen der außertheoretischen Instanz »Experimentator« und der innertheoretischen Instanz »Versuchsperson« durchsetzt, sondern- als Beziehung zwischen »Beobachter« und »Modell« -explizit in die theoretischen Bestimmungen aufgenommen ist. Dabei geht es (wie ausführlich dargestellt) darum, Lernprozesse des »Beobachters« durch dessen Wahrnehmung der Kontiguität von Verhaltensweisen und Verhaltenskonsequenzen des Modells zu erklären bzw. zu initiieren. Dieses Arrangement ist wiederum vom Experimentator hergestellt, der somit die Vp zwar nicht direkt beeinflußt, sondern quasi einen Schritt zurücktritt, aber von da aus die interpersonale Beziehung zwischen Modell und Beobachter zur Erzeugung »Vorhergesagter« Lerneffekte beim Beobachter arrangiert. Das Verhalten der Vp, hier als »Beobachterverhalten«, fungien also nach wie vor als abhängige Variable und wird (in SR-theoretischer Tradition) als automatischer Effekt der vom Experimentator eingerichteten interpersonalen U mweltkontingenzen aufgefaßt: Der Charakter der Theorie als impliziten Begründungsmusters, mithin der Subjektstandpunkt der Vp, werden nicht zur Kenntnis genommen. - Daraus geht nun hervor, daß, wenn das Konzept des Modell-Lernens auf die Schulklasse angewendet wird- etwa der Lehrer auf präarrangierte Weise in seinem Verhalten zu bestimmten Schülerinnen/Schülern als »Modell« (quasi Vorbild} wirken soll, durch dessen Wahrnehmung das Verhalten anderer Schülerinnen/Schüler (als »Beobachtern«} modifiziert wird - man sich auch dabei in vollem Einklang mit dem Schuldisziplinären Konzept der Planbarkeit von Lernprozessen durch Lehrlernen, also der Entöffentlichung des Subjektstandpunkts der Lernenden, befindet: Nur daß »Lehren« dabei nicht als direkte Beeinflussung, sondern als intendiertes Arrangement von (hier interpersonalen) Lernbedingungen aufzufassen ist (diese Möglichkeit hatten wir ja bei unserer Definition des »Lebrens i.w.S.« von vornherein in Rechnung gestellt). Während die Konkordanz zwischen psychologischen Lerntheorien und schulischem Lehrlernen sich mit Bezug auf die Grundkonzepte der ..Verstärkung« und des »Modell-Lernens« relativ leicht aufweisen läßt, ist die Prahlernsituation offensichtlich komplizierter, wenn in bestimmten lerntheoretischen Ansätzen das Konzept des »Selbst« im Mittelpunkt steht, also gerade die Eigentätigkeit der Lernenden auf den Begriff gebracht und gefördert werden soll: Dies - so könnte man meinen - steht doch von vornherein im Widerspruch zur Abhängigkeit des Lernens vom Lehren, wie sie im schulischen Konstrukt des Lehrlernens vorausgesetzt ist. Nun haben wir allerdings bei unseren früheren Bemühungen um eine begründungstheoretische Reinterpretationder verschiedenen •Selbst«-Konzepte im Rahmen des kognitiv
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erweiterten SR-psychologischen Ansatzes des »Erwartungs-Lernens« stets ausführlich dargelegt, daß das damit theoretisch angesprochene subjekthaftaktive Moment des Lernens durch die Verhaftetheit im SR-psychologischen ,.Kontingenzcc-Denken praktisch wieder zurückgenommen ist: Demgemäß sind (wie ich dort zusammenfassend feststellte) die dabei angesprochenen Erwartungsänderungen - über welche kognitiven Zwischeninstanzen auch immer -letztlich nur aus Umweltkontingenzen erklärlich zu machen, die in der Regel von dritter Seite hergestellt sein müssen, damit es zur Änderung der Erwartungen kommen kann. Mit der »dritten Seite« war in diesem früheren Darstellungszusammenhang der Experimentator gemeint. Diesen können wir im Rahmen unserer gegenwärtigen Diskussion durch den »Lehrer« ersetzen. Wenn wir darüber hinaus das Lehren im schon angesprochenen weiteren Sinne verstehen, also auch die intentionale Herstellung von Lernbedingungen darunter fassen, so sind unsere früheren einschlägigen Reinterpretationen vollinhaltlich zugunsren unserer These der Entsprechung zwischen psychologischen Lernkonzepten und dem schulischen Konstrukt des Lehrlernens in Anschlag zu bringen (was wir hier, um Wiederholungen zu vermeiden, nicht erneut darlegen wollen). Da das »Selbstcc-Konzept im Rahmen des Kontingenz-Denkens letztlich nicht mehr an »Freiheiten« einräumt als die Freiheit, die vorgeschriebenen Umweltkontingenzen, von denen das eigene Verhalten abhängig ist, selbst herstellen zu dürfen bzw. zu sollen, sind die entsprechenden Techniken, wenn man sie sich in der Hand des Lehrers denkt, zwanglos in dessen ihm auferlegte pädagogische Lehraktivitäten zur Planung des Lernens einzuordnen: als partielle Delegation der Herstellung geeigneter Lernbedingungen an die Schülerinnen/Schülerdurch den Lehrer, unter dessen Anleitung und Oberaufsicht, um so auf pädagogisch geschickte und besonders ökonomische Weise die Realisierung der vorgegebenen »Lernziele« zu erreichen. Dies gilt, wie ebenfalls aus früheren Darlegungen hervorgeht (s.o., S.162f), im Prinzip auch für das Konzept des »selbstgesteuerten Lernensec im Verständnis der Handlungsregulationstheorie. Allerdings muß, um dies aufzuweisen, eine weitere begriffliche Differenzierung berücksichtigt werden. Dazu erinnern wir zunächst daran, daß (wie ausgeführt) in der Handlungsregulationstheorie zwar einerseits das zielgerichtet-aktive Handeln der Individuen ausdrücklich in Rechnung gestellt, andererseits jedoch lediglich auf den »operativen« Aspekt der Handlungsplanung und -ausführung bezogen ist, nicht aber auf den thematisch-inhaltlichen Aspekt der Ermöglichung oder Behinderung des lernenden Zugangs zu gesellschaftlichen Verfügungsund Lebensmöglichkeiten. Demnach kann sich ein - wie immer exzessiv als »selbstbestimmt« ausgelegtes - selbstgesteuertes Lernen im Rahmen der
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Handlungsregulationstheorie stets nur auf die subjektive Bestimmung der operativen Organisation des Lernens beziehen. Sofern (etwa bei Dulisch) die Möglichkeit der Mitbestimmung über Lerninhalte nahegelegt ist, geschieht das (wie dargelegt, s.o., S.172) ohne Deckung durch die Handlungsregulationstheorie. Bezogen auf die Schule bedeutet dies, daß bei •selbstbestimmtem Lernen« den Schülerionen/Schülern lediglich die Verfügung über die planende Organisation ihrer eigenen Lernaktivitäten übertragen ist, die Verfügung über die Lerninhalte aber (da von der Handlungsregulationstheorie aus nicht problematisierbar) selbstverständlich beim Lehrer verbleibt. Anders: Die sekundären Ausführungsziele können zwar die der Schülerinnen/ Schüler werden, die primären »Lernziele« bleiben aber die des Lehrers. Wenn man nun die (früher von mir aufgewiesene) Abhängigkeit des operativen Aspekts vom übergeordneten thematischen Aspekt des Lernens berücksichtigt und weiter in Rechnung stellt, daß der Lehrer über die ihm vorgegebenen Lehrpläne selbst wieder in seinem Unterricht inhaltlich gebunden ist, so wird zusätzlich klar, daß sogar ein aus der operativen Lernplanung begründeter, begrenzter Eingriff in Lerninhalte schon organisatorisch weitgehend •undenkbar« ist. (Entsprechend ist im früher diskutierten von Dulisch eingebrachten Beispiel der lernenden Vorbereitung auf eine Prüfung über »Rostbildung« die Möglichkeit, daß die zu lernenden Prüfungsinhalte in irgendeiner Weise Relevanz für die Lernplanung des Azubi besitzen oder gar von diesem im Prozeß lernender Prüfungsvorbereitung problematisiert werden könnten, natürlich kein Thema.) Demnach besitzt das selbstbestimmte Lernen der Schülerionen/Schüler sensu Handlungsregulationstheorie in diesem Kontext kaum größere konzeptuelle und praktische Mächtigkeit als die geschilderten ,.selbst«-Konzepte im Rahmen kognitiv erweiterter SR.:fheorien: Auch dies läßt sich im Rahmen des schulischen Lehrlernkonstruktes als pädagogisches Mittel, hier der Übertragung operativ-organisatorischer Aspekte des Lernens an die Schülerinnen/Schüler, im Interesse der durch den Lehrer zu bewerkstelligenden Optimierung seines Lehr(lern)erfolges einstufen. Ein Ansatzpunkt zur Konzeptualisierung der im Lehrlernkonstrukt vollzogenen Entöffentlichung des Subjektstandpunkts der Schülerinnen/ Schüler samt der benannten, dadurch entstehenden Widersprüche ist also auch durch die Handlungsregulationstheorie nicht zu gewinnen. In den vorstehenden Darlegungen sollte (wie am Beginn dieses Gesamtabschnittes gesagt) zunächst an den früher von uns diskutierten verschiedenen traditionellen Lerntheorien aufgewiesen werden, daß sie - indem dabei das experimentell-statistische Variablenschema durchgehend zugrundegelegt und nur veschieden theoretisch ausgestaltet ist- (wenn bzw. sofern auf schulische Verhältnisse bezogen) den Schuldisziplinären Lehrlernkurzschluß nicht
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konzeptuell durchdringen können, sondern auf ihre jeweils theorieeigene Weise reproduzieren müssen. Dabei haben wir die kognitivistische Gedächtnisforschung nicht eigens unter diesem Aspekt diskutiert, weil (wie mir scheint) neue Gesichtspunkte über die schon aufgewiesenen hinaus dabei kaum zu gewinnen wären. Indessen gilt in jedem Falle auch für diese, daß da sie in den hier für uns relevanten Strömungen ebenfalls dem experimentellen Variablenschema unterliegt - das Gelernte, Eingeprägte, Reproduzierte in die kurzschlüssige, den Subjektstandpunkt/Begründungsdiskurs der Vpn ausklammernde Beziehung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen einbezogen ist und ein selbständiger theoretischer Zugriff auf die entsprechende Kurzschlüssigkeit der schulischen Lehrlernbeziehung deswegen auch von da aus nicht gelingen kann. Zu beachten ist für uns jedoch im folgenden noch ein anderer weiter Bereich der Lernforschung, in dem nicht allgemeinpsychologische Lernkonzepte erarbeitet werden, die dann in ihrer (möglichen) Anwendung auf die Schulrealität zu diskutieren sind, sondern umgekehrt das schulische Lernen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht und die theoretische Diskussion von vornherein von da aus strukturiert ist (und die wir- da das Lernen in der Schule nicht im Zentrum unseres Gesamtvorhabens steht - bisher nicht systematisch dargestellt haben): die Pädagogische Psychologie in ihren Teilgebieten der psychologischen »Unterrichtsforschung«, »lnstruktionsforschung«, ·Lehrlernforschung« etc. Wir werden später in unterschiedlichen Problemzusammenhängen darauf zurückkommen. Im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang stehen wir jedoch zunächst nur vor der Frage, wieweit von da aus unsere bisherige Einordnung psychologischer Lerntheorien als Mittel der Verallgemeinerung und Absicherung des Schuldisziplinären Lehrlernkurzschlusses zu problematisieren und zu korrigieren ist. Dazu ist sogleich zu bemerken, daß innerhalb der benannten pädagogischpsychologischen Forschungsrichtungen (insbesondere in ihren moderneren Ausprägungen) typischerweise eigene Theorien des schulischen Lernens kaum erarbeitet worden sind. Vielmehr werden hier meist verschiedene schon vorfindliehe theoretische Ansätze - aus der Lernpsychologie, Entwicklungspsychologie, Kognitionspsychologie, Sozialpsychologie etc. - der Erforschung des Lernens in der Schule zugrundegelegt. Dabei ist - da hier einerseits die offizielle Schulwirklichkeit als Selektionskriterium dient und andererseits die aus anderen Bereichen entlehnten Theorien (noch dazu häufig in eklektischer Reihung) schärfere analytische Zugriffe gerade auf die Schulrealität nicht erlauben - von vornherein eine weitergehende theoretische Durchdringung des schulischen Reproduktionsprozesses mit seinen
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systemimmanenten Kurzschlüssigkeiten und Widersprüchen kaum zu erwarten. So geht z.B. aus zwei repräsentativen Gesamtdarstellungen zum »selbstgesteuenenc bzw. "selbstregulierten Lernen« von Neber (1982) und Zimmerman & Schunk {1989)- die im Bereich der pädagogisch-psychologischen Lehrlernforschung anzusiedeln sind hervor, daß man dort keineswegs tiefer in die Problematik dieses Konzeptes eingedrungen ist als die Handlungsregulationstheorie: Die Autoren stellen die Auffassungen verschiedener Theorien über die Selbststeuerung bzw. -regulierung des Lernens dar, diskutieren definitorische Probleme, schildern (uneinheitliche) empirische Befunde über die Bewährung im Unterricht, etc., ohne den Umstand, daß es sich dabei um ein strategisches Konzept in der Hand des Lehrers handelt, der den Schülerinnen/Schülern die Selbststeuerung/Selbstregulierung ihres Lernens zur Optimierung seiner Lehraktivitäten gewahrt und damit prinzipiell wieder zurücknimmt, zu hinterfragen. Der Tatbestand, daß selbst eine solche »eingeräumte« Selbststeuerung an den schuladministrativen Vorgaben (Lehrplänen u.ä.) eine unübersteigbare Grenze finden muß, wird dabei ebenfalls nicht problematisiert, sondern schlägt sich nur darin nieder, daß man die ausgewählten Beispiele häufig am Rande des obligatorischen Unterrichts mit seinen administrativen Restriktionen (etwa dem Projektunterricht) ansiedelt. Die Schulwirklichkeit vom Standpunkt der Schülerinnen/Schüler gehört in dieser Art von empirischer Schulforschung nicht zur möglichen Empirie (da, wo man in einem solchen Forschungskontext Schülerinnen/Schüler »beobachtet« oder »befragt«, geschieht dies notwendig vom »Standpunkt dritter Person«, hier: dem Standpunkt der Schuladministration in Gestalt ihres Funktionärs, des Lehrers, s.u.).
Mit dem Hinweis auf den Mangel an selbständiger theoretischer Durchdringung der Schulwirklichkeit in den benannten Forschungszweigen der Pädagogischen Psychologie können wir unsere gegenwärtige Diskussion indessen noch nicht beenden: Es gibt nämlich (mindestens) zwei theoretische Ansätze, die über die Betrachtung und Analyse schulischer Lernprozesse zu umfassenderen (zum Teil in die Allgemeine Psychologie hineinwirkenden) Konzeptualisierungen gelangt sind und die wir in unserem gegenwärtigen Diskussionszusammenhang nicht beiseite lassen dürfen: einschlägige Konzeptionen aus der sowjetischen Tätigkeitstheorie sowie Bruners (dieser nicht fernstehende) pädagogisch-psychologische Auffassungen, hier sein Konzept des »entdeckenden Lemens« (»learning by discovery«). Aus der Sicht der Tätigkeitstheorie wird, wie früher (S.179 und S. 233) dargelegt, der schulische Lernprozeß auf bestimmte Weise nach von den Schülerinnen I Schülern zu durchlaufenden Entwicklungsstufen strukturiert. Diese Stufen sind dabei, wie wir ebenfalls schon aufwiesen, wesentlich in Termini gestaffelter institutioneller bzw. pädagogischer Anforderungen gekennzeichnet, so wenn z.B. Leontjew die Entwicklungsstufen durch den Wechsel der dominanten Tätigkeit, etwa mit dem Übergang vom Norschulalter« zum
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,.Schulalter•, erklärt. In unserem gegenwärtigen Diskussionszusammenhang Jassen sich derartige Vorstellungen als bestimmte theoretische Erscheinungsformen des schulischen Lehrlernkurzschlusses explizieren: Dabei werden nämlich die jeweiligen Lehranforderungen weitgehend »in« die Kinder, als deren entsprechende Lernanstrengungen, hineinprojiziert, die kindlichen Lernprozesse also in Begriffen der Lehrprozesse, durch die sie hervorrufbar sein sollen, gekennzeichnet. Die Subjektivität der Kinder tritt hier höchstens als eine Art von Störfaktor hervor, so, wenn angenommen wird, der Übergang von einer Stufe zur nächsten sei für die Kinder in irgendeinem Sinne ..krisenhaft«, wobei die »Krise« dadurch ausgelöst werden könne, daß das Kind den neuen Anforderungen nicht sofort gerecht zu werden vermöge, aber auch dadurch, daß der institutionell vollzogene Übergang für ein Kind angesichts seiner Entwicklungsfortschritte auf der früheren Stufe zu spät komme {so Leontjew 1977, S.399). In jedem Falle erscheint-aufgrundder Kontamination von institutionellen Stufungen der Lehranforderungen mit Entwicklungsstufen des Lernens auf der Seite der Kinder - als •Subjekt« der Entwicklung auch hier mehr oder weniger ausgeprägt die jeweilige Lehrinstanz. - In unserer Sicht hätte man es dabei also mit einer wissenschaftlichen Absicherung der Schuldisziplin in dem Sinne zu tun, daß die schulische •Organisation von Entwicklungen«, wie Foucault sie kennzeichnete, als Charakteristikum sowohl der Institution wie der durch diese ..verfertigten« Individuen aufgefaßt wird und so die Differenz zwischen den gestaffelten Lehrplanungen der Schule und möglichen Lernproblematiken vom Subjektstandpunkt der Schülerinnen/ Schüler theoretisch eliminiert ist. Ähnliche Lehdern-Kontaminationen finden sich auch in den {ebenfalls bereits früher angesprochenen} mehr didaktisch begründeten Stufenfolgen im Kontext der sowjetischen Tätigkeitstheorie, so der ..Theorie der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen« von Galperin (vgl. etwa 1967}, die auch bei uns öfter angewendet wurde (so von Wilhelmer 1979): Hier werden die verschiedenen »Etappen« (1. Ausbildung einer Orientierungsgrundlage der Handlung, 2. materialisierte Handlung, 3. Übertragung der Handlung in die gesprochene Sprache, 4. äußere Sprache für sich, 5. innere Sprache: Denken) einerseits als allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Entstehung des Psychischen verstanden, andererseits aber umstandslos in Begriffen der Unterweisung durch den Lehrer im Unterricht, der das Erreichen der verschiedenen Etappen durch entsprechende Materialanordungen, Aufgabenstellungen und Instruktionen herbeiführen soll, gekennzeichnet, wobei der Mensch als Subjekt der psychischen Entwicklung unversehens zum »Schüler« wird (vgl. dazu die kritische Analyse von Ralph Baller 1988).
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Entsprechende Denkfiguren der Gleichsetzung von ·Lehren• und •lernen• gibt es auch bei neueren Vertretern tätigkeitstheoretischer Auffassungen, so bei Dawydow (1982, S.22), der folgende Instanzen der Lösung einer ·Lernaufgabe• unterscheidet: »- Transformation der Situation, um die allgemeine Beziehung des fraglichen Systems zu finden; - Modeliierung der ermittelten Beziehung in gegenständlicher und graphischer Form oder in Symbolform; - Transformation des Modells der Beziehung, um ihre Eigenschaften in ,reiner' Form zu erkunden;- Ermitteln und Konstruieren einer Reihe konkret-praktischer Aufgaben, die mit dem allgemeinen Verfahren zu lösen sind; -Kontrolle, wie die eben genannten Handlungen ausgeführt werden; - Bewertung der Aneignung des allgemeinen Verfahrens als Lösungsergebnis der vorliegenden Lernaufgabe«. Obwohl man es hier eindeutig mit einem didaktischen Schema zur Organisation von Lehraktivitäten des Lehrers zu tun hat, redet Dawydow umstandslos von »Lernhandlungen« und kennzeichnet dabei deren Zustandekommen in folgender Art: ·Die Schüler sind anfangs verständlicherweise nicht imstande, sich selbständig Lernaufgaben zu stellen und dann selbständig Handlungen zu ihrer Lösung zu vollziehen. Diese Komponenten der Lerntätigkeit sind deshalb zunächst die Angelegenheit des Lehrers. In dem Maße aber, wie sich beim Schüler die Lerntätigkeit ausbildet, gehen sie allmählich auf ihn über und kennzeichnen das Niveau seiner ,Fähigkeit zum Lernen'" (S.22). Auch hier wird also durch die Ineinanderprojektion von ·Lehren• und »Lernen• die theoretische Notwendigkeit, eine selbständige Begrifllichkeit zur Aufschließung von Lernhandlungen vom Standpunkt des Lernsubjekts zu erarbeiten, von vornherein unsichtbar; die Subjektivität des •Schülers• wird als eigenständige Größe negiert, er ist nicht als ein Individuum faßbar, das sich zu dem jeweiligen ..Lehrangebot• bewußt •verhalten• (und ihm u.U. auch Widerstand entgegensetzen) kann, sondern erscheint im Einklang mit seiner Schuldisziplinären Entöffentlichung als bloßer Abklatsch oder •Durchschlag• der Subjektivität des Lehrers als eigentlichen Vollstreckers der Lernhandlungen. - Der Ursprung derartiger tätigkeitstheoretischer Sichtweisen mag u.U. in Wygotskis berühmtem Konzept der ·Zone der nächsten Entwicklung•, d.h. der Differenz zwischen dem geistigen Entwicklungsstand, den ein Kind selbständig, und dem (höheren) Entwicklungsstand, den es durch die Hilfe anderer erreichen kann (vgl. Wygotski, etwa 1971, S.236ff) liegen: In der gängigen ausschließlich •unterrichtstheoretischen« Rezeption dieses Konzepts (deren Berechtigung von Keiler, 1991, S.139ff, problematisiert wird), ist die Vorstellung nahegelegt, daß substantielle Lernfortschritte des Kindes über seinen gegenwärtigen Stand hinaus nur durch die Unterstützung des Lehrers als dem eigentlichen Subjekt des kindlichen Lernens zustandekommen können (vgl. dazu auch die Darlegungen von Lave & Wenger 1991, S.48f, über die US-amerikanische
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Rezeptionsgeschichte und die Problematik des Begriffs ,.zone of proximal development«). Wir wollen diese Diskussion tätigkeitstheoretischer Positionen hier nicht erweitern und vertiefen. Statt dessen soll mit der Theorie des »entdeckenden J.,ernens« von Bruner ein Ansatz in die gegenwärtigen Überlegungen einbezogen werden, der - obwohl i.w.S. handlungs- bzw. tätigkeitstheoretischem Denken nicht fernstehend- hier geradezu eine diametrale Gegenposition zu den eben diskutierten mehr dirigistischen Auffassungen zu vertreten scheint (und deswegen, wie erwähnt, bei erziehungswissenschaftliehen Erörterungen über die Reform schulischer Lernbedingungen gern angeführt wird). Zwar war diese Theorie innerhalb der Psychologie von Anfang an umstritten (vgl. dazu Neber 1973), gerade aus der Analyse der Gründe dafür sind jedoch wichtige Gesichtspunkte zur Abrundung unserer Darlegungen zum Verhältnis von Lerntheorien und Schuldisziplin zu gewinnen.* Nach Bruner (1973) ist •Entdeckung ihrem Wesen nach ein Fall des Neuordnens oder Transformierens von Gegebenem ... Dies so, daß man die Möglichkeit hat, über das Gegebene hinauszugehen, das so zu weiteren neuen Einsichten kombiniert wird«. Das entdeckende Lernen führe zu starken Wirkungen, die darin begründet seien, ,.daß man dem Schüler gestattet, Dinge selbst zusammenzustellen, sein eigener Entdecker zu sein« (S.16). Dem Lehrer komme dabei die Funktion zu, .... dem Schüler nach besten Kräften ein fundiertes Verständnis des Gegenstandes zu vermitteln und ihn so gut wir können zu einem so selbständigen und spontanen Denker zu machen, daß er am Ende der Schulzeit allein weiterkommen wird« (S.17). Dies wird von Bruner durch folgende begriffliche Differenzierung erläutert: •Ich unterscheide zwischen dem Lernen nach der darbietenden Methode und nach der hypothetischen Methode. Bei der ersteren werden Entscheidungen über Methode, Tempo und Stil der Präsentation in erster Linie durch den Lehrer als den Darbietenden getroffen; der Schüler ist der Zuhörer. Wenn ich das mit Begriffen der strukturalen Linguistik ausdrücken darf, so muß der Sprecher ganz andere Entscheidungen treffen als der Zuhörer: Ersterer hat eine große Auswahl von Alternativen für das Strukturieren. Er nimmt den Satzinhalt vorweg, während der Zuhörer noch auf die einzelnen Worte gespannt ist; durch verschiedene Transformationen gestaltet er den Materialinhalt, doch dem Zuhörer sind diese internen Manipulationen überhaupt nicht bewußt. Bei der hypothetischen Methode kooperieren Lehrer und Schüler eher bei den in der Linguistik so genannten ,Entscheidungen des Sprechers'. Der Schüler ist kein an die Schulbank gefesselter Zuhörer, sondern übernimmt einen Teil der Ausgestaltung und kann ab und zu die Hauptrolle dabei spielen. Ihm sind die Alternativen bewußt, und er kann sogar eine ,AisOb'-Einstellung diesen gegenüber haben; wenn er Informationen erhält, kann er sie prüfen .. (S.17).
* Damit ist von uns keineswegs zum pädagogisch-psychologischen Gesamtwerk Bruners Stellung genommen: Sein Konzept des •entdeckenden Lernens« ist in diesem Kontext als nur ein, und keineswegs der wichtigste, Beitrag innerhalb dieses umfangreichen und vielbezüglichen Werkes zu betrachten.
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Einem solchen Lernen durch eigene Entdeckungen kommen, so Bruner, folgende Vorteile zu: •1. der Zuwachs an intellektueller Potenz, 2. der Übergang von extrinsischen zu intrinsischen Belohnungen, 3. das Lernen der heuristischen Methoden des Entdeckens und 4. die Hilfe für die Verarbeitung im Gedächtnis• (5.17}. Durch entdeckendes Lernen sollen - wie Bruner erläutert - die Kinder dazu gebracht werden, •Hypothesen zu entwerfen und zu überprüfen• und so vom •episodischen Empirismus• zum •kumulativen Konstruktivismus• voranzuschreiten (5.18}. Das Entdecken sei, so Bruner, eine •notwendige Bedingung, um die Vielfalt der Problemlösetechniken zum Transformieren von Informationen zu erlernen.• Dies diene dazu, die •Informationen verwendungsfähiger zu machen, zu lernen, wie man die eigentliche Aufgabe des Lernens bewältigt. Die Übung im Selbstentdecken lehrt einen, Informationen so zu erwerben, daß sie für das Problemlösen weitaus fruchtbarer« werden (5.20}. Damit sei gleichzeitig der Übergang von der •extrinsische(n)• zur •intrinsische(n) Motivation« vollziehbar, da das Kind hier •von der unmittelbaren Kontrolle durch Belohnungen und Bestrafungen der Umwelt befreit« werde. ·Das heißt, Lernen, das als Reaktion auf die Belohnungen durch Eltern oder Lehrer oder zur Vermeidung von Mißerfolg beginnt, kann schnell zu einem Plan führen, bei dem das Kind Hinweise dafür sucht, wie man sich dem anpaßt, was von ihm erwartet wird«. Bei entdeckendem Lernen dagegen nehme »das Kind die Entdeckung selbst als Belohnung«, es handle sich hier also um eine •autonome Selbstbelohnung« (5.21). Durch das Verfahren der Entdeckung werde zudem die Bewahrung des Gelernten im Gedächtnis gefördert, da Gedächtnisinhalte dann besonders gut reproduziert würden, wenn die Kinder dazu ihre Mediatoren selbst entwickeln könnten (S.26f}. Allgemeines Rahmenziel der Förderung des •entdeckenden Lernens« ist für Bruner eine von den jeweils konkreten Lerninhalten abgelöste generelle Problemlösefähigkeit: das •Erlernen der heuristischen Methoden des Entdeckens• (5.25}, etc.
Mit dieser (hier nur grob skizzierten) Brunerschen Konzeption des »entdeckenden Lernens« sind (wider den Augenschein)- indem die institutionellen Bedingungen des Schulprozesses dabei nicht mitreflektiert wurden - die Schuldisziplinären Formen des Lehrlernkurzschlusses und der Entöffentlichung des Lernsubjekts keineswegs überwunden. Im Gegenteil: Die darin liegenden Gebrochenheiten und Widersprüche treten gerade durch die Radikalität, mit der solche schulischen Restriktionen überschritten werden sollen (und faktisch ignoriert sind), womöglich besonders deutlich zutage. Zunächst ist nicht zu übersehen, daß es sich auch beim »entdeckenden Lernen• um eine Lehrmethode handelt, wobei »Lehren« wiederum im weiteren Sinne, als intendierte Einrichtung von Lernbedingungen, zu verstehen ist. Die im Entdeckungsprozeß liegenden Freiheitsgrade werden also auch hier den Schülerinnen/Schülernnach didaktischen Gesichtspunkten gezielt vom Lehrer zugestanden: Es wird »dem Schüler gestattet, die Dinge selbst zusammenzustellen«. So ist er zu einem »selbständigen und spontanen Denker zu machen« (s.o., Hervorh. K.H.). Das bekannte Paradox der geforderten Spontaneität: »sei spontan•, ist Bruner in diesem Kontext offensichdich
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nicht bewußt geworden. Statt dessen finden sich eindeutige Hinweise darauf, daß von Bruner die angeführten Vorzüge des entdeckenden Lernens im Einklang mit der schulischen Lehrlernkontamination als direkter Effekt der Lehre - Einrichtung von Lernbedingungen - kurzgeschlossen werden: Dies geht schon aus der gerade zitierten Formulierung hervor, daß die Lehrer durch die entdeckende Methode die Schüler zu selbständigen und spontanen Denkern machen können, weiterhin aus der Kennzeichnung des •Entdeckens« als •notwendiger Bedingung« für das Erlernen der Vielfalt von Problemlösetechniken, wird aber vollends deutlich, wo Bruner die Lehrmethode der Initiierung von Entdeckungen und die damit zu erzielenden Lerneffekte umstandslos ineins setzt: ,.zuwachs an intellektueller Potenz«, Übergang von •extrinsischen zu intrinsischen Belohnungen« etc. Der Tatbestand, daß hier Schülerionen/Schüler als selbständige Lernsubjekte involviert sind, die die vom Lehrer vorgegebenen Entdeckungsanlässe erst einmal zu ihrer Lernproblematik machen müssen, ehe mit diesen oder jenen Lehreffekten zu rechnen ist, wird auch von Bruner nicht anerkannt. - Hinzu kommen neue Widersprüchlichkeiten, die nur bei der •entdeckenden«, nicht aber bei der gebräuchlichen •darstellenden« Lehrmethode auftreten und die daraus entstehen, daß das, was die Schülerinnen/Schülerindem vom Lehrer dafür hergestellten Arrangement erst noch entdecken sollen, der Lehrer selbst ja notwendigerweise schon kennt: Demnach wird, indem einerseits gerade besonders viel Selbständigkeit der Schülerinnen/Schülererreicht werden soll, hier andererseits aus didaktischen Gründen gerade ein spezifisches Wissens- bzw. Einsichtsgefälle zwischen Lehrer und Schülerinnen/Schülern erzeugt. Anders: Die Entdeckungsaktivitäten der Schülerinnen/Schüler basieren auf speziellem Informationsentzug, entweder, indem ihnen vom Lehrer explizit •Rätsel«, deren Lösung er schon kennt, aufgegeben werden, oder indem sie darüber, daß das von ihnen zu Entdeckende dem Lehrer schon bekannt ist, im Unklaren gelassen sind. So gewinnt das Lehren hier u.U. gerade jenen manipulativen Einschlag, den Bruner durch das Konzept des »entdeckenden Lernens« doch gerade vermindern wollte (ich komme auf die damit sich andeutende Problematik im nächsten Teilkapitel zurück). Die möglichen Manipulationen und Täuschungen, die aus dem zur Initiierung von Entdeckungslernen erforderten Informationsentzug herrühren, werden in zugespitzter Weise an einer der vielen {mit unterschiedlichem Ausgang) zur Überprüfung des Brunerschen Konzeptes durchgeführten experimentellen Untersuchungen, der von Wortben {1973), deutlich: In diesem Experiment soll die Effektivität der ..Darbietungs-• und der »Entdeckungsmethoden• in einer Langzeitstudie unter kontrollierten Bedingungen verglichen werden. Dazu müssen die Lehrer vorher ein Trainingsprogramm absolvieren, damit sie dazu befähigt werden, den gleichen Lehrstoff (aus der Grundschulmathematik) nach der Darbietungs- bzw. der Entdeckungsmethode den Schülerinnen/Schülern
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nahezubringen. Während so z.B. bei der Darbietungsmethode der Lehrer das, was er weiß, voll einbringen und sich im Unterricht im Einklang mit seiner faktischen sachlichen Überlegenheit verhalten darf, werden ihm zur Realisierung der Entdeckungsmethode u.a. folgende Verhaltensweisen antrainiert: •Der Lehrer ist nicht die Hauptinformationsquelle für Arithmetik, sondern scheint von der Hilfe des Lernenden abzuhängen, wenn er Probleme löst. Manchmal zeigt er eine gewisse Unsicherheit in bezug auf den genauen Lösungsweg eines Problems. Edolgt eine Antwort - ob richtig oder nicht - überprüft er sie nach der langen, indirekten Methode, als ob ihm das Prinzip nicht bewußt wäre, das eine Lösung nach der kurzen direkten Methode gestatten würde. Gibt ein Schüler eine falsche Antwort, geht der Lehrer zum nächsten Problem über, als ob er sich nicht darüber klar wäre, daß die Antwort falsch ist. Weist ein Schüler auf den Fehler hin, reagiert der Lehrer überrascht ... « (S.277f). Gerade aus der Art, wie hier der Lehrer zur Erzeugung •entdeckenden« Verhaltens bei den Schülerionen/Schülern sich durch Täuschung und Schauspielerei als didaktisches Mittel (relativ) unwissend stellen soll, wird deutlich, daß dabei (im Edolgsfalle) die Abhängigkeit der Schülerionen/Schüler vom Lehrer als eigentlichem Subjekt ihres Lernens trotz der Intention, sie zu verringern - noch stärker und unangreifbarer gemacht würde: Die Schülerionen/Schüler wären so nicht nur faktisch dem Einfluß des Lehrers unter· worfen, sondern die Tatsache dieses Einflusses wäre für sie auch noch unerkennbar- damit Reflexion darauf und Widerstand dagegen vollends unmöglich (s.u.).
Die aus der Verhaftetheit in den schuldisziplinären Formen der LehdernKurzschließung herrührende Selbstaufhebung der pädagogischen Intentionen des »entdeckenden Lernens« läßt sich indessen noch auf einer weiteren Ebene aufweisen: Durch die Anleitung zum »Entdecken« soll ja nach Bruner das Kleben der Schülerionen/Schüler am Stoff überwunden und deren allgemeine »Problemlösefähigkeit« als »Erlernen der heuristischen Methoden des Entdeckens« gefördert werden. Dies ist zunächst immanent lerntheoretisch gesehen eine fragwürdige Voraussetzung. An dieser Stelle ist m.E. Ausubel zuzustimmen, wenn er sich gegen »Problemlösefähigkeit als primäres Erziehungsziel« wendet und dem entgegenhält: »Kritisches Denken kann ... nicht als generalisierte Fähigkeit gelehrt, sondern nur als analytische und kritische Aneignung einer bestimmten Disziplin« erworben werden (1973, S.Sl). In einer solchen (begrifflichen) Isolierung des formal-operativen Lernaspekts vom thematischen Lernaspekt ist jedoch darüber hinaus wiederum die schuldisziplinäre Abkoppelung der Schülerinnen/Schüler von der Verfügung über Lerninhalte festgeschrieben. Da man »Entdecken« an beliebigen Inhalten lernen und die dabei erreichten Problemlösefähigkeiten auf beliebige Inhalte anwenden können soll (dies wird gerade als ein großer Vorzug des entdeckenden Lernens ausgegeben), ist der Umstand, daß über die Lerninhalte von der Schuladministration und dem Lehrer (als deren Funktionär) vorentschieden ist, weder von der Theorie noch von den Schülerinnen/ Schülern (sofern diese sich theoriegemäß verhalten) problematisierbar- sind
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diese also, indem ihnen das ..Entdecken« gestattet werden soll, auch unter diesem Aspekt in ihren inhaltlichen Lern- und Verfügungsinteressen entöffentlicht. Die pädagogische Zielsetzung, in der Schule solle weniger ein bestimmter Stoff als die generelle Fähigkeit zum Denken/Problemlösen vermittelt werden, findet sich nicht nur bei Bruner. Vielmehr kann darin eine allgemeinere Tendenz pädagogisch-psychologischer Reformvorstellungen gesehen werden, die etwa Neber (1974) als ..Abwendung von der Betonung des Erwerbs von Inhalten ... und die neue Akzentuierung auf den Erwerb von Problemlösefähigkeiten selbst« charakterisiert (5.182). Dabei kann er sogar auf entsprechende Passagen in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates von 1970 verweisen: ..Viel wichtiger ist es aber, Denk- und Erkenntnisfähigkeiten zu fördern, indem durch anregende Situationen und Erfahrungen die Neugierde des Kindes in Wißbegierde verwandelt wird, die zu erfolgreichen Leistungs- und Verhaltensformen befähigt und deren Betätigung und Erfüllung Kinder glücklich macht« (zit. nach Neber 1974, 5.182). Der fragwürdige, schönfärberische Charakter solcher Auslassungen samt der darin liegenden I..ehrlernkurzschlüssigkeiten verdeutlicht sich im Lichte unserer früheren Analysen, in welchen wir aufweisen wollten, daß .. Lernmotivation« nicht durch (wie immer psychologisch aufgemachte) didaktische Vorkehrungen »hergestellt« werden kann, sondern nur aufgrund der Erfahrung des Zusammenhangs zwischen dem antizipierten Lernresultat und der Erweiterung meiner Verfügungs-/Lebensmöglichkeiten - also durch expansive Lerngründe zustandekommt. Brune;, indem er das ..Selbstentdecken« mit •autonomer Selbstbelohnung« qua »intrinsischer« Motiviertheit gleichsetzt, ignoriert diesen Zusammenhang und belastet sein Konzept des ..entdeckenden Lernens« mit den früher aufgewiesenen Widersprüchen und Fragwürdigkeiten des Konstrukts .. intrinsische Motivation« (s.o., S.75ff). Man sollte sich vergegenwärtigen, daß auch Motiviertheit, Freude an der Arbeit, oder gar »Glück« der Schülerinnen/Schüler nicht etwas ist, daß sich vom Lehrer, wenn er nur didaktisch-psychologisch »geschickt« genug ist, beliebig herstellen läßt: Zugestandene, eingeräumte, erlaubte Freizügigkeit unter Ausklammerung des inhaltlichen Welt- und Interessenbezugs der Lernsubjekte kann vielleicht kurzfristig attraktiv sein, wird aber - wenn man dahinter gekommen ist, daß dies alles für mich nichts bedeutet - unausweichlich langweilig. Nicht umsonst stellte jene berühmte New Yorker Grundschülerin an ihre Lehrerin die beunruhigende Frage: Fräulein, müssen wir heute wieder tun, was wir wollen?
43 Begründungsanalytische »Ent-deckung« der
l
Schulwirklichkeit vom Standpunkt des Lernsubjekts ;:j
Vorbemerkung Im damit abgeschlossenen ersten Schritt der Einbeziehung der vorher von uns erarbeiteten lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit in unsere gegenwärtige Analyse institutioneller Lernverhältnisse wurde (wie gesagt) nur das Konzept der »subjektiven Lernproblematiken« reaktualisiert: Dadurch sollte zunächst lediglich aus dem Negativen heraus faßbar und reflektierbar werden, daß in den schuloffiziellen Denk- und Praxisformen (einschließlich der darin befangenen psychologischen Ansätze) die Unmöglichkeit intentionalen Lernens ohne Obernahme einer Lernproblematik durch das Lernsubjekt unter den Vorzeichen administrativer Lernplanung verdrängt wird und so nur die kurzschlüssige Figur des Lehrlernens bei Entöffentlichung des Lernsubjekts übrig bleibt. Im folgenden Analyseschritt wenden wir uns nun - indem die früher im Ansatz am Konzept der Lernproblematiken erarbeitete weitere lerntheoretische Begrifflichkeit in die Gesamtanalyse zurückgeholt werden soll- den Lernsubjekten und ihren Problematiken als der entöffentlichten Seite der Schulrealität selbst zu. Damit sollen die (vorübergehend) verselbständigten bedeutungsanalytischen Ausführungen über die Schuldisziplin nun in ihrem umfassenderen Stellenwert als Voraussetzungen bzw. Prämissen subjektiver Handlungsbegründungen vom Standort und aus der Perspektive der entöffentlichten schulischen Lernsubjekte hervortreten. Da die traditionellen psychologischen Lerntheorien (wie gezeigt) der offiziellen Seite der Schulorganisation verhaftet sind, wird somit unsere subjektwissenschaftliche Lerntheorie, indem hier die Schuldisziplin vom durch diese entöffentlichten Standpunkt der schulischen Lernsubjekte analysiert werden soll, in diesem Kontext quasi selbst zu einer in gewissem Sinne subversiven Schulwissenschaft - dies allerdings verbunden mit der Absicht, im Zuge der historischen Überwindung (oder mindestens Reflexion) des schuldisziplinär beschränkten Lernens selbst allmählich zu einer öffentlichen Position zu werden.
»Ent-deckung« der Schulwirklichkeit wm Standpunkt des Lernsubjekts
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Methodische Hinführung: Unterrichtsklima; Klassenraum-Diskurs; Begründungsanalyse Mit unserer Feststellung, daß die Schule, wie sie vom Standpunkt/ aus der Perspektive der Schülerinnen/Schülergegeben ist, durch die Schuldisziplin und -wissenschaft (unter den Vorzeichen der administrativen Planbarkeit von Lernprozessen) entöffentlicht wird, ist die Wirklichkeit dieser inoffiziellen Seite der Schule natürlich nicht bestritten oder relativiert, sondern eben nur ihr quasi offiziöser Charakter herausgehoben: zwar unterhalb der Beachtungs- und Anerkennungsschwelle des herrschenden Bewußtseins, hier der Schuldisziplin und ihrer Wissenschaften, aber dennoch jedem als (ehemaligem) Schüler irgendwie bekannt. Nicht nur, daß auf dieser offiziösen Ebene die Lebens- und Leidenserfahrungen unserer Schulzeit mit ihren Verletzungen, Erniedrigungen, Gebrochenheiten, Halbheiten, Komplizenschaften, Blamagen, kleinen Triumphen und permanenten Entdeckungsängsten, mit Lügen, Täuschungen, Gemeinheiten im Medium von Unordnung und Überdruß, aber auch mit unversehens aufscheinender Solidarität, plötzlichen Erkenntnissen und überraschender humaner Qualität von Begegnungen, uns allen unvergeßlich sind: Auch in Gesprächen unter früheren Mitschülern, im privaten Umgang, auf Klassentreffen o.ä. sind sie immer wieder Gegenstand involvierten Austauschs und stiften manchmal merkwürdige regressive Gemeinsamkeiten diesseits inzwischen durchgemachter Entwicklungen und erreichter Positionen. Dabei gibt es durchaus auch umfassende und präzise ..Veröffentlichungen« solcher Erfahrungen, aber in einem Raum von Öffentlichkeit, durch den das öffentliche Selbstverständnis der Schuladministration und -Wissenschaft ausgespart und negiert ist, indem bewußt gemacht werden soll, was in der Schule nun tatsächlich geschieht, als literarische Verallgemeinerung und Verdichtung dessen, was wir sonst nur unter uns anzusprechen pflegen: Das alltägliche Elend des In-die-Schule-gehen- und In-der-Schulesein-Müssens als lebenslanges Trauma. (Aus der Vielzahl solcher literarischer Zeugnisse hebe ich hier nur das zweite Kapitel des elften Teils von Thomas Manns Buddenbrooks über einen Schultag des kleinen Hanno Buddenbrook heraus.) Wieweit und auf welche Weise ist diese Schulwirklichkeit aus der Sicht der Betroffenen nun in den wissenschaftlichen Diskurs einzubeziehen? Wir gehen (wie sich von unserem Gesamtansatz her versteht) davon aus- und wollen dies später inhaltlich konkretisieren - daß schulisches Lernen vom Standpunkt und aus der Perspektive der Lernsubjekte einschließlich der die Unterrichtssituationcharakterisierenden interpersonalen Beziehungen nur im subjektwissenschaftlichen Begründungsdiskurs (da hier die Entöffentlichung,
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indem sie selbst zum Thema gemacht wird, begrifflich durchdringbar ist) adäquat faßbar werden kann. Dabei sehen wir uns jedoch sofort dem möglichen, von traditioneller pädagogisch-psychologischer Seite zu erhebenden Einwand gegenüber, daß von dieser die Subjektivität bzw. die interpersonalen Beziehungen der Schülerinnen/Schüler doch selbstverständlich berücksichtigt seien, so daß der Einsatz irgendwelcher »begründungstheoretischer« Analysen total überflüssig sei. Dabei denke ich weniger an den möglichen Hinweis darauf, daß es auch innerhalb der vorfindliehen pädagogischen oder pädagogisch-psychologischen Forschung Beschreibungen der Schulwirklichkeit aus der Sicht der davon Betroffenen gebe: Dies ist zwar richtig und kann durch Beispiele belegt werden (ich nenne in diesem Kontext nur das .. Schulportrait« der Hermanndinger Oberschule von Hans Christoph Berg, 1976, unter dem Motto »Unerhört schulsatt und bildungshungrig«, wo auch andere solcher schuldeskriptiven Untersuchungen dargestellt und diskutiert werden). Indes sind derartige Ansätze (trotz aufschlußreicher und weiterführender Befunde) innerhalb der traditionellen Pädagogischen Psychologie mehr oder weniger randständig geblieben, wohl im wesentlichen deswegen, weil sie in gewisser Weise Übergangsformen zu den benannten literarischen Zeug· nissen darstellen und so den herrschenden psychologischen Methodenvorstellungen nicht genügen können (und in der Tat liegt im anekdotischen Charakter solcher Schuldeskriptionen ein methodisches Problem, s.u.). Vielmehr beziehe ich mich hier (zunächst) auf den Umstand, daß die moderne empirische Unterrichtsforschung, Lehrlernforschung etc. selbst in diesem Kontext vorbringen könnte, die Erfassung der Subjektperspektiven der Schülerinnen/Schülergehöre doch zu ihren allgemein angewendeten und anerkannten Standardverfahren. Was ist von unserer Position aus dazu zu sagen? Die Subjektperspektive von Schülerinnen/Schülern findet sich innerhalb der traditionellen psychologischen Unterrichts- bzw. Lehrlernforschung variabilisiert in Form von zu erhebenden, zu messenden, zu skalierenden Einstellungen, Einschätzungen, Sichtweisen der Schüler mit Bezug auf Schule, Lehrer, Unterricht etc. wieder. Die auf diese Weise gewonnenen »subjektiven« Daten werden dann meist mit »objektiven« Variablen (wie Schulleistungen, Lehrerinstruktion, Lernzeit, Vorkenntnissen) in Beziehung gesetzt. Ein integratives Konzept, mit welchem die Schule bzw. der Unterricht aus der Sicht bzw. in der Erfahrung der Schüler differenziert und umfassend darstellbar werden soll, ist das Konstrukt des »Schulklimas«, durch welches Schulen im ganzen als »sozialer Erfahrungsraum« charakterisierbar sein sollten (vgl. etwa Schreiner 1973) bzw. des klassenbezogenen »Unterrichtsklimas«. Gerade dieses Konzept gewann in neuerer Zeit zunehmend an Bedeutung und kann heute wohl weitgehend als repräsentativ für die Berücksichtigung
•Ent-deckung• der Schulwirklichkeit vom Standpunkt des Lernsubjekts
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subjektiver Faktoren des Unterrichtsgeschehens in der Pädagogischen Psychologie gelten. Eine umfassende Darstellung der Konzepte und Forschungen zum Unterrichtsklima stammt von Dreesmann (1982), auf dessen Arbeit ich mich im folgenden stütze. • Unterrichtsklima• ist (nach Dreesmann} ein •molares Beschreibungskonstrukt•, das bestimmte Merkmalskonfigurationen der unmittelbaren Lernumwelt im Schulklassenunterricht aus der Sicht von Schülern erlaßt (S.178}. Zur Spezifizierung dieses Konzeptes muß (so Dreesmann} klar getrennt werden zwischen •a} der objektiven Unterrichtsumwelt (beobachtbare Handlungen des Lehrers, Ausstattung des Klassenraumes}, b} dem individuellen Erleben dieser objektiven Umwelt (die Wahrnehmung des Lehrerverhaltens durch einen bestimmten Schüler) und c) dem kollektiven Erleben einer Klasse ... (alle Schüler stimmen weitgehend darin überein, daß zwischen ihnen eine gute Kameradschaft herrscht)• (S.179). Zur Bestimmung des Unterrichtsklimas werden (meist zu diesem Zweck speziell entwickelte) Skalen, sei es als Fragebogen, sei es als Semantische Differentiale o.ä., benutzt, wobei die benannte Unterscheidung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Erlebnisanteil (dem eigentlichen Klassenklima) perstatistischer Bearbeitung (etwa durch Selektion von solchen ltems, die einen bestimmten klasseninternen Streuungswert nicht überschreiten) operationalisiert werden soll. Das •Unterrichtsklima• wird nach verschiedenen Dimensionen ausdifferenziert, entweder durch Apriori-Klassifizierungen oder mittels reduzierender Beschreibung durch entsprechende multivariate Verfahren, etwa Faktorenanalysen oder Clusteranalysen. Als so gewonnene Dimensionen benennt Dreesmann (unter Einbeziehung einer eigenen faktorenanalytischen Untersuchung) die positive und negative Bewertung des Unterrichts, die offenbar einen wesentlichen Teil der subjektiven Unterrichtsrealität ausmache und (mit Einschränkungen) etwa nach ·Lehrerwärme«, •Mitsprache im Unterrichte, •individuelle vs. soziale Bezugsnorm« und •Förderung von Eigenverantwortung« differenzierbar sei. Zur Kennzeichnung weiterer Faktoren der Erlebensstruktur des Unterrichtsklimas werden ·Dimensionen der Beziehung zwischen den Schülern (Kohäsion bzw. Kameradschaft) sowie zwischen Schülern und Lehrern (Kooperation)«, jeweils aus der Sicht der Schüler, in den Vordergrund gestellt. Von fast gleichrangiger Bedeutung seien ·Dimensionen zur Identifizierung mit der Unterrichtsarbeit ... die die Erfahrungsnähe, Verständlichkeit, Erfolgsaussicht von Anstrengung ... beinhalten«. Relativ geringer sei dagegen •der varianzaufklärende Beitrag von Dimensionen wie Betonung von Wettbewerb und Ordnung bzw. Disziplin« (S.182}. Das dergestalt dimensionierte »Unterrichtsklima« wurde als abhängige Variable in übergreifende schulische Bedingungsgefüge einbewgen: Als Bedingungen, die das Unterrichtsklima beeinflussen, benennt Dreesmann (unter Bezug auf eigene und fremde Untersuchungen) ein •Gefüge, das sich zusammensetzt« aus •der objektiven Unterrichtsumwelt, aus den kognitiven Verarbeitungsprozessen der Schüler, der sozialen Dynamik der Klasse ... , dem Verhältnis zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen der Schüler und den sie fördernden oder hindernden Bedingungen ... , dem Verhältnis zwischen den von der Schulinstitution geprägten Rollen und den Persönlichkeiten von Schülern und Lehrer ... , dem Wechselspiel von Organisationsstrukturen, individuellen Merkmalen und dem jeweils daraus resultierenden bzw. bestehenden Klima ... « (S.185}. Weiterhin bezieht sich Dreesmann u.a. auf ein Modell von Moos (1979}, in welchem neben direkten Wirkungen wie dem Gesamtkontext (u.a. Schultyp, pädagogische Strategie, Fach} auch indirekte Wirkungen
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller lrrnverhältnisse
auf das Unterrichtsklima, wie architektonische Merkmale (z.B. Raumgestaltung) und organisatorische Merkmale (z.B. Klassengröße), benannt werden (Dreesmann 1982, S.186f). Weiterhin wurde das Unterrichtsklima auch als unabhängige Variable untersucht, um so herauszufinden, ob und in welcher Weise dieses die Schulleistungen beeinflußt, aber auch, wieweit kognitive oder affektive Schülermerkmale, Selbstbewertungen u.ä. durch das Unterrichtsklima mitbedingt sind (a.a.O, S.188ff; vgl. dazu auch Treiber & Weinen 1985, S.204ff).
Bei erstem Hinsehen mag es so scheinen, als ob in den damit benannten Ansätzen tatsächlich die von uns im gegenwärtigen Darstellungszusammenhang gesuchten Möglichkeiten zur Erforschung der subjektiven Seite der Schulwirklichkeit eröffnet sind. Selbst das Verhältnis der subjektiven Schulerfahrungen zu institutionellen Charakteristika der Schule scheint dabei gelegentlich angesprochen, so etwa, wenn als Fragestellungen derartiger Untersuchungen (wie erwähnt) die Erfassung des Verhältnisses zwischen dem »Schultyp«, den von der »Schulinstitution geprägten Rollen«, den schulischen »Ürganisationsstrukturen«, ja selbst den »architektonischen« Merkmalen der Schule einerseits und dem Unte~richtsklima andererseits formuliert werden. Zweifel daran, ob durch derartige Forschungsansätze tatsächlich die Schule als Erfahrungsraum vom Standpunkt der Lernsubjekte erfaßbar wird, mögen einem aber bereits dann kommen, wenn man auf die geschilderten Kennzeichen des In-der-Schule-Seins als unser aller gemeinsamer Lebensund Leidenserfahrung (wie sie etwa als Schultag Hanno Buddenbrooks verdichtet wurde) rekurriert: Vielleicht wird einem daraus schon deutlich, daß von dieser Art Schulerfahrung in den pädagogisch-psychologischen Forschungen zur Subjektperspektive der Schülerinnen/Schüler genau genommen nichts übrig bleibt. Wenn man den Gründen dafür etwas genauer nachzugehen versucht, dann zeigt sich, daß durch die Art und Weise, wie hier die »Schülersicht« wissenschaftlich faßbar gemacht werden soll, uns unsere gemeinsame Schulerfahrung quasi weggenommen wird. Vom methodologischen Dritt- oder Außenstandpunkt der traditionell-psychologischen Unterrichtsforschung wird nämlich aus dem, was uns doch unmittelbar und sinnlich-wirklich präsent war, auf einmal so etwas wie »interne(n) Mediationsbedingungen ,im Schüler' "• die »hypothetisch« zwischen das Lehrangebot und dessen sichtbare Resultate bei den Schülern eingeschoben werden. Im Banne des psychologischen Variablenschemas erscheinen also die Schulerfahrungen als »subjektiv« im Sinne einer bloßen, intersubjektiv unzugänglichen Privatsache des einzelnen, die, um wissenschaftlich bearbeitbar zu werden, »objektiven«, »fremdbeobachtbaren« Variablen zugeordnet werden muß. Auf diese Weise ist also
»Ent-deckung« der Schulwirklichkeit vom Standpunkt des Lernsubjekts
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das, was wir doch tatsächlich gemeinsam »haben«, .. in« die einzelnen Individuen hineingestopft, wird dadurch unsichtbar und muß dann hinterher von den ,.objektiv« beobachtbaren Variablen her (auf die bekannte spekulative Art) mühsam wieder enträtselt werden (vgl. dazu und zum folgenden etwa die Ausführungen über die •lrrealisierung« menschlicher Subjektivität durch das Variablen-Modell in GdP, S.522ff). Die damit aufscheinenden Schwierigkeiten sind dem Umstand geschuldet, daß im variablenpsychologischen Methodenansatz die verschiedenen Dimensionen der (Schul)erfahrung nicht vom Standpunkt derer analysiert werden, denen diese Erfahrungen tatsächlich gegeben sind, sondern vom Drittstandpunkt, also in Abwesenheit der »Sache selbst«, konfabuliert werden müssen. Anders: Der Ort der Synthese der einzelnen Aspekte je meiner Erfahrung liegt nicht bei Ge) mir, der/ die diese Erfahrung hat, sondern wird nach außen verlagert. So ist der innere Zusammenhang verloren, und an seine Stelle treten vielfältige und beliebige Hypothesen darüber, was im jeweiligen Subjekt wohl vorgehen mag und wie dies am besten aufzugliedern und in seinen Bestandstücken zu benennen ist. Diese Vieldeutigkeit ist auch nicht durch statistische Verfahren reduzierender Beschreibung wie etwa Faktorenanalysen zu beheben, da dort einerseits die Einheit des subjektiven Erfahrungsraumes aufgrund des Zusammenwerfens der subjektiven Daten verschiedener Personen in korrelativen Verteilungen eliminiert ist und andererseits (dies hängt damit zusammen) die schließlich gewonnenen •Faktoren« (schon weil niemand da ist, dessen subjektiven Erfahrungsraum sie charakterisieren) wiederum vom Drittstandpunkt des Forschers aus interpretiert werden müssen. Das Resultat ist in jedem Falle die willkürliche Erfindung immer weiterer subjektiver Dimensionen samt der Konstruktion dazugehöriger Skalen, wobei die Bevorzugung bestimmter Dimensionsstrukturen vor anderen nicht aus der Sache zu begründen und von den Betroffenen legitimierbar, sondern der Entscheidung bzw. dem Vorverständnis des Forschers überlassen ist. lntegrativ gedachte Konzepte wie ,.Unterrichtsklima« charakterisieren so keineswegs einen einheitlichen Erfahrungstatbestand, sondern sind nur eine globalisierende Bezeichnung für in ihrem Erfahrungsbezug uneindeutige und nachträglich vom Forscher benannte Dimensionsstrukturen. Aus der Variabilisierung der subjektiven Schulerfahrung ergibt sich auch, daß die Variablen zur Erfassung der Schülersicht und die Variablen über •objektive«, institutionelle, organisatorische, architektonische Merkmale der Schule äußerlich nebeneinander- und gegenübergestellt werden. •SubjektiVes« und ,.Objektives« erscheinen demgemäß vom methodelogischen Drittstandpunkt als in einem Ausschließungsverhältnis stehend: Was subjektiv ist,
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
ist nicht objektiv und umgekehrt. Der Umstand, daß die objektive, von mir unabhängige Realität sich nur vom Standpunkt der sinnlich-körperlichen Subjekte als widerständige, mir partiell entzogene Realität erfahren läßt, und daß umgekehrt objektive Realität nur im Sinne einer vom Subjektstandpunkt als objektiv gegebenen Realität gedacht/ erfahren werden kann, wird so wegabstrahiert. Damit geht der Bedeutungszusammenhang der Welt, die uns von unserem Standpunkt aus gegeben ist und das von da aus Zugängliche dennoch nach allen Seiten hin überschreitet, also die Weltseite der körperlichen Situiertheit sinnlich-konkreter Subjekte, verloren. Übrig bleibt das Stückwerk einzelner objektiver Variablen, deren Struktur auf die gleiche Weise erst per Drittstandpunkt eliminiert und hinterher aus Forschersicht dazugedacht ist, wie wir dies bezüglich der subjektiven Variablen gezeigt haben. So muß es nicht verwundern, daß die institutionelle Bedeutungsstruktur der Schule in ihren den Subjekten zugekehrten Infrastrukturen wie ihren gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen, damit auch deren historisch gewordene Charakteristik als schulische Disziplinaranlage, in der pädagogisch-psychologischen Unterrichtsforschung - trotz aller Versuche der Messung institutioneller oder organisatorischer Dimensionen - nicht vorkommt. Auch deswegen können wir unsere gemeinsamen Schulerfahrungen, die ja als Erfahrungen des Lebens, Leidens und (versuchten) Lernens in und unter den Verhältnissen der institutionellen Schuldisziplin spezifiziert sind, in den Ansätzen und Befunden der traditionellen Unterrichts- oder Lehrlernforschung nicht wiederfinden. Daran wird nun auch in diesem Kontext deutlich, daß und warum die traditionelle Psychologie, diesmal in ihren Ausprägungen als subjektbezogene empirische Schulforschung, indem sie den offiziellen Standpunkt der Schuladministration/ des Lehrersaufgrund ihres eigenen wissenschaftlichen Drittstandpunkts nicht hinterfragen kann, den entöffentlichten Teil der Schulwirklichkeit vom Standpunkt der Lernsubjekte nicht zu Gesicht bekommt: Durch die Variabilisierung der Schulwirklichkeit sind die institutionellen Gesamtverhältnisse der Schuldisziplin, durch welche unter den Vorzeichen administrativer Planbarkeit von Lernprozessen die Schülerinnen I Schüler als Lernsubjekte entöffentlicht werden müssen, prinzipiell nicht theoretisch abbildbar. Dies heißt aber auch, daß - wider den Augenschein - hier die Einbeziehung •subjektiver• Variablen aus Schülersicht bis hin zum Globalkonzept des »Unterrichtsklimas« keineswegs im Sinne einer Überwindung des Lehrlernkurzschlusses interpretiert werden kann: Die Thematisierung und Messung all dieser Variablen bzw. Dimensionsstrukturen sind genau besehen nichts anderes als eine (psychologisch besonders elaborierte) Facette der geschilderten schuldisziplinären Strategien, durch Ausschaltung/Neutralisierung
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von Störbedingungen auf Schülerseite die Wirkung des Lebrens auf das Lernen der Schülerinnen/Schüler möglichst optimal zur Geltung kommen zu Jassen. Wir gehen einen Schritt weiter: Da (wie dargelegt) schulische Lernverhältnisse - indem hier »Lernen« institutionell als Beziehung zwischen Lehrer und Lernenden präformiert ist - als eine bestimmte An interpersonalen Lernens zu spezifizieren sind, ist dieses in den aufgewiesenen Widerspruch zwischen der offiziellen und der entöffentlichten Seite der Schuldisziplin einbezogen. Somit findet die schulöffentliche Sicht auf die Beziehung zwischen dem Lehrer als »Subjekt« schulischer Lernprozesse und den Schülerinnen/ Schülern, an welchen diese vollzogen werden, ihr Pendant in der Art und Weise, wie diese Beziehung vom entöffentlichten Standpunkt der Schülerinnen/Schülererfahren wird. Demnach müssen wir bei unserem angekündigten Versuch, derartige Schul- und Lernerfahrungen begründungsanalytisch aufzuschlüsseln, die interpersonalen Beziehungen zwischen Lehrer und Schülerinnen/Schülernsowie diesen untereinander in ihrer entöffentlichten Gegebenheitsweise mitanalysieren können. Unser Zentralproblem ist dabei (wie schon angedeutet) die Erfassung der Vermittlungen zwischen der institutionellen Bedeutungsstruktur der Schuldisziplin, deren interpersonaler Konkretisierung sowie den dabei entstehenden Handlungs- bzw. Lernproblematiken und den darin begründeten Strategien zu deren Bewältigung vom Subjektstandpunkt der Schülerinnen/Schüler. Wenn wir zu diskutieren beginnen wollen, was dies in unserem begründungstheoretischen Kontext heißen kann, sehen wir uns aber schon wieder mit vorfindliehen Forschungsansätzen konfrontiert, die uns entgegenhalten können, die interpersonalen Beziehungen in der Schulklasse seien doch längst von ihnen untersucht. So empfiehlt es sich also auch an dieser Stelle, uns unserer eigenen Vorgehensweise über eine (wenigstens kursorische) Diskussion solcher Konzeptionen anzunähern. Dabei stoßen wir zunächst wiederum auf das Weichbild umfangreicher einschlägiger Konzepte und Untersuchungen im Rahmen der traditionellen psychologischen Unterrichts- bzw. Lehrlernforschung, wobei häufig sozialpsychologische Theoreme und Verfahren auf die Schulklasse als Sozialverband angewendet werden (u.v.a. vgl. etwa Piontkowski 1982 und Feldman 1986). Hier (wie auch in den vorstehend geschilderten Untersuchungen zur Subjektperspektive des •Schülers« und zum Unterrichtsklima) finden sich im einzelnen bemerkenswerte Ansätze und Resultate (auf die wir z.T. später noch zurückkommen). Unter den methodischen Aspekten, mit denen wir gerade befaßt sind, ergeben sich (wie ich beim Versuch, mir einen Überblick darüber zu verschaffen, feststellen mußte) für uns jedoch kaum wesentliche
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Aufschlüsselung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
neue Gesichtspunkte, so daß im gegenwärtigen Analysekontext eine genauere Darstellung und Diskussion überflüssig erscheint: Einmal nämlich sind die vorfindliehen Untersuchungen zur »Lehrer-Schüler-Interaktion«, zu Gruppenprozessen in der Schulklasse, zur Erfassung von schulischen Kommunikationsstrukturen etc. meistens traditionell variablenpsychologischer Art, womit aus deren Diskussion global gesehen kaum weitere methodische Aufschlüsse über die bei der Erörterung der variablenpsychologischen Ansätze zur Erforschung der subjektiven Perspektive der Schülerionen/Schüler und des Unterrichtsklimas gewonnenen hinaus zu erwarten sind. Weiterhin (und dies ergibt sich z.T. daraus) wird in solchen Untersuchungen der Zusammenhang zwischen den interpersonalen und den institutionellen Beziehungsstrukturen in der Schule (häufig schon deswegen, weil die Gruppenprozesse in der Schulklasse nach dem Muster allgemeiner sozialpsychologischer Modellvorstellungen betrachtet werden) kaum in grundsätzlicher Weise thematisiert: Institutionsmerkmale erscheinen auch hier (sofern sie überhaupt berücksichtigt werden) meist als isolierte unabhängige Variablen (oder Variablengruppen), deren Auswirkung auf die (als solche kontextunabhängig gesehenen) Interaktions-, Kommunikations-, Gruppenprozesse in der Schulklasse erforscht werden soll. In jedem Falle aber (dies gilt - soweit ich sehe - selbst für die wenigen Untersuchungen, auf die die erwähnten anderen Einschränkungen nicht voll zutreffen) wird auch hier der wissenschaftliche Drittstandpunkt eingenommen und mit dem offiziellen Standpunkt der Schuladministration/ des Lehrers identifiziert: Die schulischen Interaktions- und Gruppenprozesse werden allein unter dem Aspekt erforscht, wie durch deren Kenntnis und Kontrolle die Effektivität schuloffizieller Lehrlernplanung optimiert werden kann. Zur Klärung unserer Frage, wie man methodischen Zugang zu interpersonalen Beziehungen im entöffentlichten Raum der Schulwirklichkeit finden könne, ist daraus für uns also kaum etwas zu entnehmen. Die Forschungen zur Sozialpsychologie der Schulklasse im (erweiterten) Rahmen traditionell-variablenpsychologischen Vorgehens sind indes nicht der einzige einschlägige Bereich, mit dem wir uns auf dem Wege zu genauerer Kennzeichnung unserer begründungsanalytischen Verfahrensweise konfrontiert sehen: Vielmehr gibt es außerhalb der Psychologie, im Zusammenhang interpretativer Soziologie, ethnographischer, ethnomethodologischer Herangehensweisen, ebenfalls Konzepte zur Analyse der sozialen Beziehungsstruktur innerhalb von Schulklassen, die man global als diskursanalytische Ansätze kennzeichnen kann. Diese haben zwar inzwischen eine eigene Forschungstradition (vgl. Hammersley 1980), werden aber in der pädagogischpsychologischen Unterrichtsforschung höchstens am Rande - etwa als bisher in der Psychologie nicht beachtete Alternativen zur herkömmlichen
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Klassenraum-Forschung, o.ä. (vgl. etwa Piontkowski 1982, S.167ff) - zur Kenntnis genommen, meist aber ignoriert: dies wohl vor allem wegen der Unvereinbarkeit solcher Herangehensweisen mit den Methodenvorstellungen der Mainstream-Psychologie. Ich will diese Forschungstradition hier nicht im ganzen aufarbeiten, sondern beziehe mich (weil sich dessen Vorgehensweise für unsere weiteren Darlegungen als bedeutsam erweisen wird) nur auf Hugh Mehan, und zwar vor allem dessen Buch •Learning Lessons. Social Organization in the Classroom« {1979). Mehan grenzt sein Vorgehen zunächst gegen andere vorfindliehe Ansätze zur Erfor· schung sozialer Beziehungen in der Schulklasse ab: So gegen •quantification schemes of classroom interaction« (S.9ff), in denen (etwa nach dem Muster des Kategoriensystems von Bales) die Häufigkeiten bestimmter Interaktionsformen ausgezählt werden, womit die wechselseitige Synchronisation des sozialen Verhaltens unerfaßbar bleibt; weiterhin gegen ..conventional field studies« (S.14ff) durch globale •teilnehmende Beobachtung• im Klassenraum, da die so erstellten Berichte letztlich anekdotisch und theoretisch vieldeutig bleiben müssen. In Abhebung davon charakterisien er sein eigenes Verfahren als •constitutive ethnography«, in welcher es nicht lediglich darum gehe, die vorhandenen Strukturen sozialen Verhaltens zu beschreiben, sondern die interaktive Tätigkeit der Beteiligten zu erfassen, durch welche deranige soziale Strukturen allererst •konstituien« und immer wieder neu reproduzien werden: •Strukturen« werden hier also nicht unabhängig von den Aktivitäten des •Strukturierens« gesehen. Bei der näheren Kennzeichnung seines Vorgehens weist Mehan darauf hin, daß die Generalisierungen anband der Beobachtungen hier - da (innerhalb eines bestimmten Rahmens) prinzipiell alle Ereignisse erfaßt würden - nicht als Häufigkeitsverallgemeinerungen von einer erhobenen Stichprobe zu einer hypothetischen Gesamtheit, sondern eher als strukturelle Verallgemeinerungen zu verstehen seien: Ausnahmen würden nicht, nach An der »enumerativen Induktion«, an den Rand der Streuung verschoben und ausgefilten, sondern müßten im Sinne der •analytischen Induktion• zur Veränderung der theoretischen Interpretationen führen (S.20f). Der Empiriebezug der herausgehobenen Strukturierungsvorgänge sei im Prinzip aufgrund der Konvergenz der Forscher- und der Teilnehmerperspektiven gesichen bzw. zu sichern (S.22ff). Das Verhältnis dieser beiden Sichtweisen wird dabei so charakterisien, daß die theoretischen Konzeptualisierungen der beobachteten Interaktionsprozesse einerseits den Teilnehmern, wenn sie einmal damit konfrontien werden, selbstverständlich (da ihre alltägliche Praxis kennzeichnend) sein müssen, andererseits aber bisher nicht in dieser Weise reflektien und formulien werden konnten. So diene diese Untersuchungsmethode also »as a vocabulary for participants themselves to articulate their own tacit knowledge, thereby making the implicit explicit, the invisible visible« (S.l76). Die Daten für die konstitutiv-ethnograhische Analyse wurden in den von Mehan (1979) geschilderten eigenen Untersuchungen durch fest installierte Videogeräte in einer normalen rassisch gemischten Schulklasse (einer Grundschule in einem Voron von San Diego/Kalifornien) gewonnen. Dabei sind neun Unterrichtssituationen mit verschiedener Thematik vollständig jeweils so aufgezeichnet worden, daß alle an den Interaktionsprozessen Beteiligten sieht- und hörbar waren. Bei der Auswenung des Materials wurde
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die Ablaufsform von Gesprächssequenzen in den jeweiligen Unterrichtssituationen voJ1. ständig transkribiert. Um nicht nur jeweils individuelle Äußerungen, sondern die Ent-'1 stehung und Aufrechterhaltung von lnteraktionsstrukturierungen zu erfassen, wurden die .• Gesprächsbeiträge von vornherein nach dem Schema •Initiation .... Reply ..... Evaluationc . (S.37ff} geordnet. Dabei erwies sich diese dreigliedrige Gesprächssequenz der Auffonfe. ·• rung/ Anregung durch den Lehrer, der Entgegnung durch den Schüler und der Bewenunc : der Schüleräußerung durch den Lehrer einerseits als auf Interaktionsprozesse innerhalb , der hier untersuchten Unterrichtssituationen praktisch universell anwendbar. Anderer. seits aber unterschieden sich solche unterrichtlichen Gesprächssequenzen durchgehend ' von entsprechenden Sequenzen in außerschulischen Alltagssituationen, in denen typi- · scherweise nur die zweigliedrige Folge •Initiation .... Reply« auftritt, das dritte Glied der: rückbezüglichen Bewertung der gegebenen Anwort durch den Fragenden/Initiierenden! aber wegfällt. .· Dieser Unterschied zwischen dreigliedriger (ein abschließendes Bewertungsglied ein- i schließender) Gesprächsstrukturierung im Unterricht und zweigliedriger Gesprächt- • strukturierung im Alltag wurde von Mehan (S.193ff} ausführlich diskutiert, wobei er als Erklärung dafür in Erwägung zieht, die •ubiquitous presence of evaluation« sei offenbar eine •Special function of education«: •lt is said to be the teacher's responsibility in his or her role as educator to evaluate the quality of the student's performance ... «. Eine andere Möglichkeit »to account for the unique three-part sequence with its evaluative constituent is•, so Mehan, »to distinguish between elicitations in which the asker already has information und hence has no immediate need for information, and elicitations in which the asker : does not have information and has an immediate need for information« (S.194). Die typi· sehe Lehrerfrage sei aber von der ersten Art, also eine »known-information question•, bei ' welcher der Lehrer unter pädagogischen Zielsetzungen prüft, ob das Wissen, über das er schon verfügt, auch beim Schüler vorhanden ist. In diesem Kontext wäre die Bewertung der Schülerantwort durch den Lehrer ein funktionaler Abschluß der Gesprächssequenz. Bewertungen von Antworten auf »information·seeking questions«, wie sie für Alltagssituationen typisch sind, durch den Fragenden seien hingegen überflüssig bis bizarr (S.195). Mehan illustriert dies, indem er zwei Sequenzen gegenüberstellt: »Speaker A: ~hat time is it, Denise'? Speaker B: ,Two thirty'. Speaker B: ,Thank You, Denise' • und •Speaker A: ~hat time is it, Denise?' Speaker B: ,Two-thirty'. Speaker A: ,Very good, Denise' «: Bei der ersten Sequenz kann es sich um ein Gespräch innerhalb einer Alltagssituation handeln. Bezüglich der zweiten Sequenz ist man aber - aufgrund des dritten, bewertenden Gliedes »very good, Denise•- ,wenn man den Eindruck des Unsinnigen oder Bizarren vermeiden will, unausweichlich gezwungen, für das Gespräch den Kontext einer Unterrichtssituation (i.w.S.) hinzuzudenken (vgl. dazu auch Mehan 1985).- Mehan diskutiert den Unterschied zwischen Alltags- und Klassenraurn-Interaktion noch im Hin· blick auf eine andere von ihm herausgehobene lnteraktionsfigur, das •turn-taking• bzw. die •turn-allocation• (Das-Wort-Nehmen bzw. die ,.zuweisung des An-der-Reihe-Seins•) (S.190ff}: Ich komme darauf und auf das gesamte Problem später noch ausführlich zurück.
Wie kann nun der Stellenwen dieses ethnographischen Forschungsansatzes von Mehan zwischen den vorher diskutienen traditionellen psychologischen Verfahren zur Erfassung der Subjektperspektiven bzw. interpersonalen Be· ziehungen in der Schulklasse einerseits und unserer begründungsanalytischen
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t{erangehensweise andererseits bestimmt ~rden? - Zunächst ist festzuhalten, bei Mehan nicht darum geht, in Ubernahme des offiziellen Standpunkts der Schuldisziplin über die Erforschung von Interaktions- und Gruppenprozessen in der Schulklasse die administrative Lehrlernplanung zu optimieren, sondern mit dem unabhängigen •ethnologischen Blick« herauszufinden, was im Klassenraum zwischen dem Lehrer und den Schülern tatsächlich abläuft. Der Umstand, daß dieser ethnologische Blick nicht mit der offiziellen Lesart zusammenfällt, verdeutlicht sich darin, daß das hier zu erreichende wissenschaftliche Wissen (wie erwähnt) nach Mehan ein •verborgenes« oder •verschwiegenes Wissen« (»tacit knowledge«) darstellt, das die Beteiligten zwar implizit •haben«, das ihnen aber erst über die Konfrontation mit den Resultaten der wissenschaftlichen Analyse bewußt und damit verfügbar wird. Dabei ist die institutionelle Organisation der Schule hier nicht .. sozialpsychologisch« neutralisiert bzw. in einzelne, isolierte Variablen aufgelöst, vielmehr wird aufgewiesen, auf welche Weise die Beteiligten durch die Besonderheit der Strukturierung ihres interpersonalen Umgangs permanent dazu beitragen, so etwas wie •Unterricht« im Sinne der Schulinstitution überhaupt in Gang zu bringen und aufrechtzuerhalten. Die Vermittlung solcher Strukturierungsaktivitäten mit der institutionellen Struktur der Schule wird zwar von Mehan nicht explizit herausgearbeitet (dies wird von uns später nachzuholen sein): Dennoch ist ein solcher institutioneller Zusammenhang, indem die schulischen Interaktionssequenzen und -formen in ihrer Besonderheit gegenüber der Alltagskommunikation herausgestellt werden, stets mitgedacht. Das hier aufgedeckte •verschwiegene Wissen« enthält also ein deren offizielles Selbstverständnis überschreitendes Wissen über die Beschaffenheit einer Schulorganisation, die nur durch Interaktionsformen wie die •lnitiation-Reply-Evaluationc-Sequenz oder den Mechanismus der •Turn-allocation« aufrecht zu erhalten ist: So kann in derartigen Analysen in gewissem Sinne ein Beitrag zu eben jenem Vorhaben der Verwissenschaftlichung des entöffentlichten Aspekts der Schulwirklichkeit gesehen werden, in das wir gerade involviert sind.
daß es
Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß Mehans »ethnologischer« Standpunkt nicht mit dem Standpunkt der Schülerinnen/Schüler als entöffentlichter Lernsubjekte zusammenfällt und somit seine Analyse auch nicht begründungsanalytischer Art ist: Vielmehr ist- da (wie früher schon gesagt) u.E. die interpersonale Konkretisierung noch als Aspekt der Analyse der Bedeutungskonstellationen auf der Gegenstandsseite der Schulinstitution anzusehen ist- in unserer Sicht auch Mehans Untersuchung als bedeutungsanalytischer Art einzustufen. Er kann mithin den Subjektstandpunkt der Schülerinnen I Schüler schon deswegen nicht verfehlen, weil dieser gar nicht
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AufschlüsseJung hutarisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse
Thema seiner Untersuchung ist. Jedoch geht aus Mehans Analysen hervor, daß die interpersonalen Strukturierungsvorgänge, wie er sie aufgewiesen hat, für die betroffenen Subjekte von verschwiegenem zu bewußtem Wissen werden müssen, wenn die An der Handlungs- und Lernbegründungen vom Subjektstandpunkt angemessen analysierbar werden soll. Die Vermittlung zwischen Bedeutungen (als potentiellen Handlungsmöglichkeiten) und darauf bezogenen subjektiv begründeten (Lern)handlungen wird hier unmittelbar deutlich: Es sind Gedenfalls in zentralen Bereichen) eben derartige Interaktionsformen zwischen Lehrer und Schülerinnen/Schülern, »in« denen hier »je meine• Bewältigungs-/Lernaktivitäten allein erfolgen können. Ich kann, die Schuldisziplin als historisch bestimmten Bedeutungskomplex vorausgesetzt, schulische Bewältigungs-/Lernproblematiken nur dann in subjektiv begründeter Weise zu überwinden suchen, wenn dabei die gleichzeitige Reproduktion der schulspezifischen Interaktionsformen in der Klasse in meine Handlungsprämissen eingeht. Dies heißt aber, daß ich auch schulinstitutionelle Restriktionen, Kanalisierungen, Behinderungen meiner Lernhandlungen nur unter Berücksichtigung der institutionellen lnteraktionsstrukturierungen begründungsanalytisch zu durchdringen vermag, über die hier »lernen• allein begründet versucht werden kann. So enthält also die Diskursanalyse der Schulklasse, wie sie von Mehan unternommen wurde, indem hier die Beschränkungen schulischer Lernmöglichkeiten in den Formen institutionell präformierter Strukturierungen interpersonaler Beziehungen hervortreten, immer auch ein Element der Kritik an der vorfindliehen Schulorganisation. Diese Kritik ist in den letzten Teilen von Mehans Buch expliziert und mündet in die Diskussion einer »panizipatorischen« Alternative zur herkömmlichen Schule (1979, S.204ff, s.u.) Auf welche Weise können wir nun - in Abhebung von den bisher diskutierten Ansätzen/Forschungen zu Schülerperspektive, Unterrichtsklima und Klassenraurn-Diskurs - unser eigenes Verfahren der Begründungsanalyse der Bewältigungs-/Lernhandlungen vom schuldisziplinär entöffentlichten Subjektstandpunkt kennzeichnen und rechtfertigen? In diesem Problemzusammenhang müssen insbesondere mögliche Zweifel geklärt werden, ob so etwas überhaupt möglich ist, ohne in entsprechenden empirischen Unter· suchungen die Schülerinnen und Schüler selbst zu fragen, wie sie das machen, unter schulischen Bedingungen zu überleben und zu lernen. - Dazu ist zunächst festzustellen, daß -wie gezeigt - das Stellen von Fragen an die Schülerinnen/Schüler, nach An von variablenpsychologischen Fragebogenerhebungen und Skalierungen für uns nichts bringt. Darüber hinaus müssen wir uns jedoch klar machen, daß auch andere (qualitative, ,.freie« o.ä.) Formen von Interviews mit Schülerinnen/Schülern (ohne weitere Vorkehrungen)
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cJaran scheitern müssen, daß deren Bewältigungs-/Lernproblematiken ja eben von der Schuldisziplin bzw. dem Lehrer (in seiner Rolle als deren Funktionär) als nicht existent bzw. unerheblich entöffentlicht werden. Welches Interesse sollen die Schülerinnen und Schüler unter diesen Umständen daran haben, dem Forscher, dessen Identifikation mit der offiziellen Seite der Schule sie ja voraussetzen müssen, ihre Strategien zur Bewältigung der Lebenssituation ..schule« und der darin gestellten Lernanforderungen zu verraten? Die Wirksamkeit solcher Strategien lebt doch geradezu davon, daß sie von der Gegenseite nicht (voll) durchschaubar sind! (s.u.) Viel vernünftiger wäre es vielmehr von der Schülerperspektive aus, soweit Stellungnahmen nicht ganz vermeidbar sind, diese den schulöffentlichen Vorstellungen (wie die Schülerinnen/Schülersie wahrnehmen) anzupassen, so daß dem Forscher der gesuchte Einblick in die entöffentlichte Seite der Schule systematisch verwehrt würde. - Ein womöglich noch schwerer wiegendes methodisches Problem liegt darin, daß man von den Schülerinnen/Schülern vielleicht gar nicht erwarten kann, daß sie zu einer kohärenten Verbalisierung der Begründungsstruktur ihrer subjektiven Gesamtsituation in der Schule überhaupt fähig sind. Die geschilderte, von uns allen erfahrene Unordnung, Widersprüchlichkeit, Doppelbödigkeit der offiziösen Schulwirklichkeit mit ihren Halbheiten, Täuschungen, Verdrängungen dürfte sich vielmehr unmittelbar lediglich in entsprechend widersprüchlichen, isolierten, mit Täuschungen/Selbsttäuschungen durchsetzten Verbalisierungsmöglichkeiten niederschlagen (so daß es etwa der verdichtenden und synthetisierenden Sprachpotenz Thomas Manns bedurfte, um Schulerfahrung als Schultag Hanno Buddenbrooks in verallgemeinerter Form kommunizierbar zu machen). Somit wären (wie in Mehans diskursanalytischer Untersuchung verschwiegenes Interaktionswissen bewußt und reflektierbar gemacht wurde) auch im Rahmen des begründungsanalytischen Vorgehens den Betroffenen überhaupt erst einmal die sprachlich-begrifflichen Möglichkeiten an die Hand zu geben (d.h. vorher zu erarbeiten), mit deren Hilfe sie ihre subjektive Schulsituation in einer Weise reflektieren und verbalisieren können, die im Rahmen aktualempirischer Forschungen über Begründungsstrukturen der Bewältigung entöffendichter Schulrealität sinnvoll wäre. Demnach wären als wesentlicher Bestandteil unserer Begründungsanalyse quasi modellhaft typische Begründungsfiguren herauszuarbeiten, aus denen die (ehemaligen und aktuellen) Schülerinnen oder Schüler, wenn damit konfrontiert, einerseits unmittelbar ersehen können, daß hier die Schulrealität nicht vom Standpunkt der Administration/ des Lehrers, sondern von ihrem (verallgemeinerten) Standpunkt strukturiert ist, und durch die ihnen andererseits eine Begrifflichkeit angeboten ist, mit der sie - in Form der Bestätigung, Ergänzung, Korrektur oder Ablehnung der vorgeschlagenen Begründungsfiguren - ihre eigenen Erfahrungen in die Analyse einbringen können.
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Mit diesen Überlegungen verdeutlicht sich, daß die Theoretisierung des Subjektstandpunktes keinesfalls von vornherein schon die unmittelbare Einbeziehung der Betroffenen impliziert: Vielmehr ist ja unserer Konzeption nach der Subjektstandpunkt in den Theorien durch den Begründungsdiskurs als Theoriesprache - und nicht durch die Beteiligung von betroffenen Subjekten (die - wie gezeigt - ohne weiteres auch im Rahmen theoretischer Ansätze vom Drittstandpunkt aus erfolgen kann) - konstituiert. Damit stellt sich allerdings gleichzeitig die Frage, welche konzeptuellen Aspekte von Begründungstheorien noch ohne direkte empirische Kommunikation mit den Betroffenen als konkreten Individuen erarbeitet werden können, und wo die Grenze liegt, jenseits derer eine weitere Spezifizierung der subjektwissenschaftlichen Theorie nur noch in Kooperation mit den gemeinten Subjekten als Mitforschern möglich ist. Mit Bezug auf unseren Fall: Auf welche Weise und bis zu welchem Spezifikationsgrad kann ich (hier am Schreibtisch mit meinen Erfahrungen und meinen Unterlagen) sinnvoll den Versuch machen, die angesprochenen typischen Begründungsfiguren des (Lern)handelns unter den Voraussetzungen der Schuldisziplin herauszuarbeiten, welche näheren Bestimmungen muß ich jedoch dabei offenlassen (und späteren aktualempirischen Forschungsprojekten in Kooperation mit Betroffenen überantworten)? Dazu seien (auf dem Hintergrund der früher, GdP, S.SSOff, vorgeschlagenen methodologischen Prinzipien aktualempirischer Forschung) noch einige orientierende Hinweise versucht. Innerhalb des hier zu explizierenden Vermittlungszusammenhangs zwischen der institutionellen Bedeutungsanordnung der Schuldisziplin, deren interpersonaler Konkretisierung und den unter diesen Prämissen typischen Formen von (entöffentlichten) Handlungs-/Lernbegründungen der Schülerionen/Schüler sind die Schuldisziplinären Bedeutungsstrukturen nicht durch aktualempirische Klassenraum-Forschung, sondern (auf der Grundlage von Foucaults historisch-empirischer Genealogie der Schuldisziplin) am Berliner Schulreglement textanalytisch herausgehoben worden (mithin auch nur auf dieser Ebene gegen Einwürfe zu rechtfertigen). Die dargestellten interpersona· len Strukturierungen der Interaktion innerhalb der Schulklasse sind zwar von Mehan anläßlich einer empirischen Untersuchung aufgewiesen worden. Auf dem Hintergrund des Umstands, daß (wie gesagt) die interpersonalen Organisationsformen m.E. als Konkretisierungen schuldisziplinärer Bedeutungsanordnungen aufzufassen sind, wird (mir) jedoch der Stellenwert der hier gewonnen aktualempirischen Daten zweifelhaft: Sind Mehans Konzeptionen, z.B. die Herausstellung der Interaktionssequenz •lnitiation-replayevaluation«, tatsächlich das Ergebnis der empirischen Untersuchung? Dagegen spricht m.E. schon, daß - wie von Mehan aufgewiesen - diese dreigliedrige
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Sequenz (einschließlich des Bewertungsgliedes) nur innerhalb (i.w.S.) unterrichtlicher Situationen auftritt, im außerschulischen Alltag aber keinen Sinn macht: Derartige universelle Abgrenzungen sind nämlich kaum aus (immer nur Annäherungswerte liefernden, Ausnahmen enthaltenden) aktualempirischen Befunden zu rechtfertigen. Handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine Definition einer für die Schulinstitution typischen lnteraktionssequenz, die durch die empirische Untersuchung vielleicht angeregt, aber in Mehans Vorwissen über die Schule als historische Organisationsform begründet ist? So gesehen wäre hier die Heraushebung der interpersonalen Umgangsweisen in der Schule (was sich allgemein schon aus deren Zuordnung als Konkretisierung der Bedeutungsanalyse institutioneller Schulorganisation ergibt) in historisch-empirischem Wissen verankert, während die dazu angestellte Untersuchung mehr die Funktion einer Illustration der in der institutionellen Struktur der Schule enthaltenen möglichen interpersonalen Interaktionsformen (einschließlich der Spielräume, die diesen Umgangsweisen innerhalb des schulinstitutionellen Rahmens verbleiben) hätte. Die typischen Begründungsfiguren wären dann dadurch zu gewinnen, daß die Bedeutungsstrukturen der Schuldisziplin - einschließlich der darin eingeschlossenen interpersonalen Umgangsweisen - in ihren unterschiedlichen Aspekten als Prämissen von subjektiven Handlungs-/Lernbegründungen der Schülerinnen/Schüler aufgefaßt werden: Hier wären jeweils diejenigen typischen Begründungsfiguren herauszuarbeiten, die für das Lernsubjekt sich daraus ergeben müssen, daß dieses auf bestimmte schulische Bedeutungskonstellationen mit ihren Handlungsmöglichkeiten I-behinderungen und -widersprochen - wenn diese zu seinen Handlungsprämissen werden - zur Reproduktion seiner Schulexistenz begründetermaßen nur so und nicht anders antworten kann. Für solche Rückschlüsse stehen uns nicht nur unsere allgemeinen Charakterisierungen des Zusammenhangs zwischen Handlungsprämissen und interessenfundierten Handlungsbegründungen zur Verfügung, sondern darüber hinaus im Prinzip all unsere früher erarbeiteten begründungstheoretischen Konzeptualisierungen und Differenzierungen des lernenden Weltzugangs vom Standpunkt des Lernsubjekts (im 3. Kapitel). Dabei wird der Zusammenhang von Prämissen und Lernhandlungen jetzt quasi auf umgekehrte Weise angegangen: Während wir früher unsere systematisch entfalteten begrifflichen Aufschlüsselungen (des Verhältnisses zwischen allgemeinen Handlungsproblematiken und Lernproblematiken, defensiven und expansiven Lerngründen, der Lerndiskrepanzen und Dimensionen lernenden Weltaufschlusses nach Maßgabe des Übergangs von •Flachheit« zu •Tiefe«, der qualitativen Lernsprünge, der Beziehungen zwischen Bewegungslernen und Behalten/Erinnern etc.) jeweils durch danach ausgewählte
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Prämissenkonstellationen als Beispiele veranschaulichten, sind jetzt diese Prämissenkonstellationen als solche innerhalb der historisch bestimmten Be. deutungseinheit »Schuldisziplinc vorgegeben: Es kommt nun darauf an, diejenigen Dimensionen und Bewegungsweisen der Ausgliederung und Über. windungvon Lernproblematiken herauszuheben, die unter diesen Prämissen die vom Subjektstandpunkt begründeten Bewältigungs- und Lernweisen der Schülerionen/Schüler treffend kennzeichnen. Daraus verdeutlicht sich: Der folgende Aufweis von typischen Begründungs. figuren des Handelns/Lernens vom Standpunkt des entöffendichten schulischen Lernsubjekts sind in ihrem Kern begründungsanalytischer Natur. Die so gewonnenen Konstruktionen erhalten ihren aktualempirischen Bezug durch deren Konfrontation mit den Betroffenen, sofern diese im Versuch der Selbstsubsumtion herauszufinden versuchen, wieweit sie ihre eigenen Schulerfahrungendarin wiederfinden und in ihrer Struktur bewußt machen (also, nach Mehan, ihr verschwiegenes in reflektiertes Wissen überführen) können. Eine solche Konfrontation vollzieht sich zunächst zwangsläufig mit den Leserinnen und Lesern dieses Buches (als mindestens ehemaligen Schülerinnen oder Schülern), die nicht umhin können, die aufgewiesenen schulischen Bewältigungsweisen mit Bezug auf ihre eigenen Erfahrungen mehr oder weniger treffend bzw. unzutreffend zu finden - und so quasi zu virtuellen Mitforschenden zwangsverpflichtet sind, deren Stellungnahmen allerdings (normalerweise) nicht in den Forschungsprozeß rückgemeldet werden. Sofern eine solche Rückmeldung systematisch vorgesehen ist, erweitert sich die •psycho-logische• Begründungsanalyse mehr oder weniger ausgeprägt in ein (den Rahmen dieser Arbeit überschreitendes, aber von mir für die Zukunft ins Auge gefaßtes) aktualempirisches Forschungsprojekt unter subjektwissenschaftlichen Vorzeichen. Dabei ist der Umgang mit verschiedenen möglichen Kommentaren der Mitforscher über ihre beim Versuch der Selbstsubsumtion gemachten Erfahrungen auf die Konsequenzen, die daraus für den Forschungsprozeß gezogen werden müssen, methodisch zu elaborieren: Diese Konsequenzen müssen unterschiedlicher Art sein, je nachdem, ob die jeweilig vorgeschlagene theoretische Begründungsfigur von je mir als Betroffenem als AufschlüsseJung der eigenen Erfahrung akzeptiert, abgelehnt, korrigiert oder spezifiziert wird - von der Erwägung der Realitätsverfehlung über die einschränkende Abgrenzung des Begründungstyps bis zu dessen konkretisierender Ausgestaltung- wobei hier (gemäß dem Prinzip der analytischen Induktion) nicht Häufigkeiten die Urteilsgrundlage bilden, sondern (wie in Mehans Analyse) jeder einzelne Fall aufklärungsbedürftig ist. Ich will dies (da im Rahmen dieser Arbeit uneinschlägig) nicht genauer durchspielen (vgl. dazu etwa GdP, S.553f, Holzkamp 1990, S.10f, und Markard 1991, S.205ff).
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Machtstrategische Widersprüche: Grunderfahrung des Eingekreist-Seins; verdecktes Verhältnis; Normalisierung auf defensives Lernen hin zur Eröffnung unserer - soweit methodisch eingeführten - begründungsanalytischen Explikation der Schuldisziplinären Bedeutungsanordnungen und ihrer interpersonalen Konkretisierungen vom »entöffentlichten« Standpunkt der Schülerinnen/Schüler gehen wir quasi als diese in die Schule hinein: Wenn ich (als Schülerin/Schüler) ..in« der Schule bin, dabei bestimmte Räume betrete oder verlasse, gegenüber bestimmten anderen Personen in bestimmter Weise rede oder schweige etc., so weiß ich deswegen natürlich noch nicht in begrifflich faßbarer Form, daß ich mich dabei in einer historisch gewordenen Institution befinde, wie etwa Foucault sie als »Schuldisziplin« genealogisch charakterisiert hat. Dennoch müßte sich dies - da hier ja das faktisch-gegenständliche Schulgebäude als mögliche Lernstätte in seiner Bedeutungsstruktur gekennzeichnet wurde - in der spezifischen Weise, wie ich mich als in-der-Schule-seiend edahre, niederschlagen. Auf die allgemeinste Hintergrundsebene der so gefaßten Schulerfahrung kommt man m.E. dann, wenn man sich Foucaults Kennzeichnung der Schuldisziplin als Struktur machtökonomischer Strategien bzw. Methoden zur Verankerung von Macht· mechanismen »durch« die Betroffenen »hindurch« im Inneren der lnstitu· tion vergegenwärtigt: Daraus versteht sich nämlich, daß ich die Schule nicht als bloßes Ding erfahre, sondern - wie diffus auch immer - als eine Art kollektives »Subjekt«, das Pläne und Absichten hat, die in irgendeiner Weise auf mich (als Schülerin/Schüler), für die/ den die Einrichtung gemacht ist, bezogen sind. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Personalisierung der Schule, wodurch dieser bestimmte Absichten attribuiert werden o.ä., sondern um eine globale Erfahrung von (aus vielen einzelnen Kontrollen und Eingriffen gebündelten} - wirklichen machtökonomischen Intentionen der schuldisziplinären Bedeutungsanordnung. Dies dad nicht auf die Vorstellung ver· kürzt werden, daß ich dabei primär nur den Lehrer als Instanz auf mich ge· richteter Absichten etc. edahre: Der Ort der intendierten Pläne und Absichten ist vielmehr (aufgrund ihrer administrativen Durchorganisation) »die« Schule als ganze, wobei der ..Lehrer« zwar als der zentrale Exekutor der schulischen Intentionen imponiert, aber nur vor dem Hintergrund der Schule, die er vertritt und in die er eingebunden ist, als Lehrer auhreten und edahrbar werden kann. Deswegen hat die Schule, obwohl sie kein individuelles Subjekt ist, dennoch für mich in diffuser Weise Subjektcharakter (Foucault hat, wie schon erwähnt, der Kennzeichung der Machtökonomie von Disziplinar· anlagen als ..Strategie ohne Stratege« zugestimmt: Die Disziplinen enthalten danach »eine globale, kohärente, rationale Strategie, ... von der man aber
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nicht mehr zu sagen wüßte, wer sie entworfen hat«, 1977, S.133). So stehe ich zur Schule, »in« der ich bin, gleichzeitig in einer Art von interpersonalem Verhältnis. Indem ich erfahre, daß •man« (das kollektive Subjekt .. Schule«) hier etwas von mir will, ..die« bestimmte Absichten mit Bezug auf mich verfolgen, suche ich gleichzeitig, »deren« Prämissen/Gründe dafür zu verstehen, um meine eigenen, darauf rückbezogenen Intentionen in meinem Verfügungs-/ Lebensinteresse daran zu orientieren. Ich reagiere also nicht direkt auf schulische Ereignisse, sondern reflektiere die dahinterstehenden Pläne und Absichten in der Art, wie ich meine Pläne und Absichten darauf beziehe. Die Schuldisziplin als Träger machtökonomischer Strategien, wie wir sie früher ausführlich dargelegt haben, läßt sich für unseren gegenwärtigen Darstellungskontext vergröbernd als eine Art von konzentrischer Anordnung mit dem einzelnen •Schüler« im Mittelpunkt charakterisieren: Gesetzliche (oder faktische) Schulpflicht -+ Ordnungsmaßnahmen -+ permanente Aufsicht -+ Zeitdisziplin -+ Zwang zu räumlicher und mentaler Anwesenheit -+ Homogenisierung/Isolierung -+ Stattfinden von Unterricht -+ (Lernprozesse beim »Schüler«) -+ vergleichsorientierte Bewertung des einzelnen »Schülers« - darin auch seine mögliche Abwertung mit progressiv ausgrenzenden Sondermaßnahmen (nach dem Berliner Reglement: Sitzenbleiben, Förderunterricht, Beobachtungsklasse, Sonderschule) als drohender Konsequenz. Wenn man diese konzentrische, dem einzelnen ..Schüler« zugekehrte Bedeutungsanordnung nun als Struktur von Prämissen für dessen Handlungsgründel Handlungen interpretiert (und dabei die dargestellten, in diese Anordnung eingebetteten spezielleren Schulstrategien hinzudenkt), so verdeutlicht sich, daß die Schule durch die Koordination ihrer Pläne/ Absichten darauf aus ist, mich auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln derart einzukreisen, daß mir nichts anderes übrigbleibt, als mich dem .. Unterricht« in einer Weise auszusetzen, die die individuelle Bewertung meiner Leistungen, darin potentielle Abwertung und Ausgrenzung meiner Person durch Vergleich mit anderen erlaubt. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß ich (als Schülerin/Schüler) diese schulische Grunderfahrung des Eingekreist-Seins notwendig so auf den Begriff bringen kann; nicht einmal, daß sie mir stets in ihrem Gesamtzusammenhang präsent sein muß: Jedoch ergibt sich aus der (als Prämissenstruktur von Schülerhandlungen gefaßten) Machtökonomie der Schuldisziplin, daß ich - immer, wenn ich in meinen Handlungsintentionen mit denen der Schule in Konflikt gerate - auf Maßnahmen stoße, aus denen faktisch hervorgeht, daß ich eingekreist werden soll, d.h. daß mir Handlungsalternativen, die nicht im Dienste meiner Hinleitung oder Zurichtung auf individuell-vergleichende Bewertbarkeit stehen, systematisch verwehrt werden sollen. (So gesehen ist die Schule vom Standpunkt der
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Schuldisziplin in formal gleicher Weise eine Anordnung mit reduziener Prämissenlage zum Zwecke der Manipulation meiner Handlungsbegründungen in gewünschter Richtung, wie wir sie früher als typisch für SR-psychologische Lerntechnologien und ihre experimentelle Grundlage herausgestellt haben; vgl. S.67f). Das Arrangement der Einkreisung der Schülerionen/Schüler ist aus der Sicht der Schule quasi die schülerzentrierte Operationalisierung des Prinzips direkter Planbarkeit schulischen Outputs. Der Umstand, daß dabei das Lernsubjekt nicht tatsächlich eliminien, sondern nur entöffentlicht ist, verdeutlicht sich im gegenwänigen Darstellungszusammenhang darin, daß die Einkreisung vom Standpunkt der Schülerionen/Schüler in der beschriebenen Weise als intentionaler Akt der ..Schule« erfahren wird, wobei eben die darin enthaltenen Sichtweisen und damit verfolgten Absichten reflektiert und zu Prämissen meiner Handlungsbegründungen/Handlungen werden. Dabei ergibt sich für mich aus der Prämissenlage des Eingekreistseins begründungslogisch zwingend die Konsequenz, daß die Schule - indem sie mich durch die Einkreisung direkt auf den Schulzweck der isolierten Bewertbarkeit von Leistungen hinleiten zu können meint - mich als reflexives Subjekt, das sich zu diesen Plänen/ Absichten der Schule wiederum selbst •verhalten« und seinerseits Pläne und Absichten darin begründen kann, wegleugnet bzw. mißachtet. Indem die Schule zwar selbst Intentionen hat, mich (als Schülerin/ Schüler) aber offiziell nur als Material, an dem diese Intentionen unmittelbar zu realisieren sind, wahrnimmt bzw. akzeptiert, verleugnet sie das tatsächlich bestehende intersubjektiv-reflexive Verhältnis zwischen Schule und Schülern. Mehr noch: Die Schule stuft mein bewußtes Verhalten zu ihren Plänen und meine von mir darin begründeten Handlungen (auf dem Hintergrund ihres gesellschaftlichen Auftrags der Output-Planung zur Bedienung von unterschiedlichen Berufslaufbahnen) als zentralen Störfaktor ein, den es - obwohl man ihn einerseits wegleugnet - andererseits durch entsprechende Varianten, Differenzierungen etc. der schulischen Einkreisungsbewegung zu neutralisieren und zu unterdrücken gilt: Nicht nur in den schulischen Ordnungsmaßnahmen i.e.S., sondern in der gesamten schulischen Disziplinaranordnung drückt sich die fundamentale machtökonomische Ambivalenz aus, daß man die reflexiven Antwonen der Schüler auf die sie verplanende Schulinstitution, obwohl bzw. indem man die Fähigkeit der Schüler zu solchen Antworten ableugnet, dennoch laufend unter Kontrolle zu bringen versuchen muß. Dabei steht man vor dem Dilemma, daß sich die Schüler zu jeweils neuen und differenzierteren Kontrollmaßnahmen natürlich wiederum verhalten und sie in ihre Strategien einbeziehen werden, so daß man durch die administrative Fiktion der Planbarkeit von Subjekten »ohne sie«
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eben jene unklaren, unübersichtlichen, chaotischen Schulverhältnisse schafft und reproduziert, die man damit überwinden will. An dieser Stelle stoßen wir auf eine neue Facette der schon mehrfach diskutienen Strukturgleichheit zwischen der Schule und dem traditionell-psychologischen Experiment: Auch im Experiment wird das Verhalten der Versuchsperson einerseits als abhängige Variable, also direkter Effekt der eingeführten unabhängigen Variablen, aufgefaßt, aber andererseits dennoch der Umstand, daß die Vp sich zur Versuchsanordnung bewußt verhalten kann, inoffiziell dadurch zur Kenntnis genommen, daß man deren daraus sich ergebende, von denen des Experimentators abweichende Absichten und Pläne laufend zu kontrollieren trachtet. Der darin angelegte Regreß und das dadurch hervorgerufene experimentelle Chaos führen notwendig zu den widersprüchlichen und nicht reproduzierbaren Befunden, wie man sie tatsächlich antrifft. Dieses Dilemma ist sogar Gegenstand eines eigenen Forschungszweiges, der »Sozialpsychologie des Experiments« geworden, mit dem man den Unbotmäßigkeiten der Vpn durch spezielle Kontrollmaßnahmen begegnen (sie quasi immer perfekter einkreisen) wollte, auf diese Weise aber - anstatt ein Heilmittel zu finden - lediglich die Krankheit dagegen immunisiene, und so - wie es scheint - das gesamteVorhaben allmählich weitgehend aufgesteckt hat (vgl. dazu Markard 1984, Kap. 5).
Die Prämissenlage schulischer Einkreisungsversuche unter Verleugnung der Schülerionen/Schüler als reflexive Subjekte impliziert für mich (als Schülerin/Schüler) die generelle Konsequenz, daß das kollektive Subjekt »Schule« an mir als Bündnispartner bei der Bewältigung schulischer Anforderungen und Widersprüche offiziell nicht interessiert ist. Vielmehr führen die Einkreisungsstrategien der Schule mit ihren potentiell bedrohlichen Konsequenzen zur immer wieder neu sich reproduzierenden Entzweiung schulischen Lebens in zwei »Parteien« oder »Seiten«: Die Seite der Schuladministration I des Lehrers, die mich permanent und über meinen Kopf hinweg auf meine individuelle Bewertbarkeit hin kanalisieren und trimmen wollen, und die Seite der Schülerinnen I Schüler, die- um unter Schulbedingungen überleben und ihre Abwertung/ Ausgrenzung vermeiden zu können - versuchen müssen, dem strategisch und taktisch zu begegnen. Dabei läßt mir die schulische Einkreisungsbewegung, da sie von der anderen Seite »ohne mich« gesetzt, also kein möglicher Gegenstand gleichberechtigter Verhandlungen zwischen den Parteien ist, wenn ich mich ihr entziehen will, nur die Möglichkeit, die Pdmissen der Schulseite meinerseits so zu manipulieren, daß die daraus abgeleiteten schulischen Einkreisungsmaßnahmen möglichst ins Leere laufen, mir gewisse Freiräume lassen, und insbesondere der terminale Akt der Leistungsbewertung samt seiner möglichen existentiell bedrohlichen Konsequenzen mich nicht mit voller Wucht treffen kann. Solche Gegenmanipulationen sind aber nur dann der Möglichkeit nach effektiv, wenn sie der anderen Seite als solche verborgen gehalten werden. So sind die entsprechenden Strategien von der Schülerseite nur als verdeckte Strategien begründbar.
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Da (wie dargestellt) auch die Schulseite, indem sie ihre Einkreisungsbewegungen ohne die Schüler plant, ihre machtökonomischen Strategien im Blick auf die Schülerionen/Schüler in verdeckter Weise ansetzt und die Schüler dies nur mit gleicher Münze zurückzahlen, kann man darüber hinaus das Verhältnis zwischen den genannten schulischen Parteien - da man sich hier gegenseitig auf die Schliche zu kommen und einander auszumanövrieren trachtet im ganzen als verdecktes Verhältnis kennzeichnen (vgl. dazu die differenzierten deskriptiven Beiträge über das Verhältnis zwischen Lehrermaßnahmen und Schülertaktiken von symbolisch-interaktionistischer Seite - Zusammenfassung etwa bei Brumlik & Holtappeis 1987; in diesem Kontext und von derartigen Positionen aus hat etwa Zinnecker 1978 die Schule aus Schülersicht als ..Hinterbühne« und seine einschlägigen Berichte als »Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler« gekennzeichnet). Die damit skizzierte widersprüchliche Beziehung zwischen Schule und Schülern läßt sich noch zugespitzter charakterisieren, wenn man das Generalthema der Schule (und unserer Arbeit) »Lernen« in den Mittelpunkt derbegründungsanalytischen Diskussion stellt: Lernen ist allgemein gesehen ein zentrales Mittel meiner I..ebensbewältigung, das immer dann für mich aktuell wird, wenn ich {in Termini unserer lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit, Kap. 3.1) bestimmten Handlungsproblematiken nicht direkt beikommen kann, sondern dazu eine Lernschleife einlegen, also die Handlungsproblematik als Lernproblematik übernehmen muß. Lernen ist so gesehen in meinem unmittelbaren Verfügungs- und Lebensinteresse, ich will und muß durch Lernen meinen Zugang zu relevanten Aspekten meiner Lebenswelt erweitern, da ich nur so mit meinem Dasein zurechtkommen und dabei (als Kind oder Jugendlicher) meine Abhängigkeit von den Erwachsenen samt der damit verbundenen Beschränkungen meiner Lebensmöglichkeiten schrittweise reduzieren kann. In diesem Kontext sind meine Lernhandlungen (in unserem Sinne) expansiv begründet, d.h. motiviert aus dem Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluß, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität. Die Schule erscheint in dieser Sicht als ein von der Gemeinschaft gestelltes Angebot, in dessen Wahrnehmung ich bei der Überwindung meiner Lernproblematiken durch erweiterten und vertieften Weltaufschluß systematische Hilfe finde, wobei mir Wissen zur Verfügung gestellt wird und Zusammenhänge erklärt werden, die bisher jenseits meines Horizontes lagen. Wenn ich nun aber tatsächlich (als Schülerin/Schüler) »in« der Schule bin, so werde ich mit »Lernen« in einem gänzlich anderen Bedeutungszusammenhang konfrontiert: Einerseits gibt es hier - in Realisierung des pädagogischen Selbstverständnisses von Schule - tatsächlich in vielerlei Form für mich Wichtiges zu lernen, wobei mir auch Hilfe verschiedener Art zuteil wird.
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Andererseits ist dies alles aber überformt und zersetzt durch ein kont~ »schuldisziplinäres« Lernverständnis, das mir aus den geschilderten Strategien und Plänen der Schule in bezug auf mich entgegentritt: Aus meiner ge. schilderten Erfahrung des Eingekreist-Seins ergibt sich nämlich, daß •Lernen• im Verständnis der Schule offensichtlich nicht etwas ist, das in meinem Lebensinteresse liegt und bei dem ich lediglich Unterstützung brauche, sondern etwas, zu dem ich, indem mir Handlungsalternativen systematisch versperrt werden, von der Schulorganisation gezwungen werden muß: Man geht hier offenbar davon aus, daß ich aus freien Stücken - also ohne die dargestellten konzentrisch angeordneten schulischen ,.Maßnahmen« (Schulpflicht, Ordnungsmaßnahmen, Aufsicht, Anwesenheits- und Aufmerksamkeitspflicht, Bewertung/ Abwertung etc.)- mich dem »Unterricht« als schulischer Lernbedingung nicht aussetzen würde. Das heißt aber, daß mir die Schule als Disziplinaranordung ein eigenes genuines Lerninteresse zur Erweiterung meines Weltzugangs und meiner Lebensmöglichkeiten nicht zuerkennt. Mehr noch: Aus der Art schulischer Einkreisungsbewegungen geht sogar hervor, daß die Schule (im Zuge meiner Entöffentlichung als Lernsubjekt) mich bei der Einbringung eigener Lernproblematiken und deren Umsetzung in expansiv begründetes Lernen, wenn auch in verdeckter Weise, strategisch behindert. Um dies im weiteren schrittweise zu explizieren, heben wir zunächst die Position heraus, die in unserem Schema der konzentrischen Anordnung schuldisziplinärer Strategien die Instanz »(Lernprozesse beim ,Schüler')« zwischen »Stattfinden von ,Unterricht'« und »Vergleichsorientierte Bewertung des einzelnen Schülers• innehat: Dies verweist einerseits darauf, daß dem Schüler die Möglichkeit der Ausgliederung von Lerngegenständen nach Maßgabe der Dimensionsstruktur der jeweils für ihn entstandenen subjektiven Lernproblematik entzogen und durch den .. Unterrichtsstoff« ersetzt werden soll, der wiederum an den geschilderten Lernziel-Bestimmungen im administrativ vorgegebenen Lehrplan orientiert ist - womit die Lernziele nicht primär die des ..Schülers•, sondern die des Lehrers sind. Auf der anderen Seite geht daraus hervor, daß gemäß den strategischen Vorstellungen der Schule hier die disziplinär unterbundene Möglichkeit des »Schülers•, seine Lernfortschritte am Grad des Eindringens in den Lerngegenstand zur Überwindung jeweils seiner Lernproblematik zu bemessen, durch die Leistungsbewertung als externen Gütemaßstab und (latente) Ausgrenzungsbedrohung ersetzt ist: Damit wird (per Prämissenmanipulation) als Grund für die Lernanstrengung des .. Schülers• nicht der Zuwachs an Weltaufschluß im eigenen Verfügungsinteresse, sondern die Orientierung an der externen Leistungsbewertung begünstigt. Dies würde aber heißen, daß beim »Schüler«, indem ihm so die Perspektive des motiviert begründbaren expansiven Lernens administrativ
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verbaut ist, gleichzeitig das Lernen dadurch erzwungen werden soll, daß er sich dem Schuldisziplinären Bewertungssystem mit von ihm erbrachten Lernresultaten aussetzen muß, wenn er schulische Beeinträchtigungen und Bedrohungen seiner Verfügungs-/Lebensmöglichkeiten vermeiden will: Damit wäre also den Schülerinnen/Schülern das defensiv begründete Lernen als schulische Normalform des Lernens nahegelegt. Diese schulstrategische Tendenz kann als schülerzentrierte Ausprägungsform der übergreifenden schuldisziplinären Ideologie/Strategie der Planbarkeit/Planung des schulischen Outputs und des darin enthaltenen Lehrlernkurzschlusses verstanden werden: Bei der Zulassung oder gar Förderung expansiver Lernaktivitäten wäre das schulische Unterrichtsgeschehen wesentlich durch die von Schülerseite eingebrachten Lernproblematiken initiiert und strukturiert, somit den administrativ vorgeschriebenen Lehrplänen kaum unterzuordnen. Dagegen behält man (dies das schulstrategische Kalkül} die durch die Leistungsbewertung extern steuerbaren defensiven Lernaktivitäten der •Schüler« voll im Griff. Dem Lehrer als administrativ •eingesetztem« Subjekt des Schülerlernens stünden also damit die strategischen und taktischen Mittel zur Verfügung, um sich mit seinem Unterricht immer wieder gegen den Eigenwillen der Schülerinnen/Schülerals wirklicher (entöffentlichter} Lernsubjekte zu behaupten. Damit findet sich der Lehrer gleichzeitig in immer neuen Erscheinungsformen dem Widerspruch zwischen seinen eigenen pädagogischen Intentionen und den als Schulfunktionär von ihm abverlangten disziplinären Regulationsaktivitäten ausgesetzt, den er in seiner Person irgendwie •austragen« muß. In den pädagogisch-psychologischen Forschungen zu schulischer Lern- bzw. Leistungsmotivation wird die eben aufgewiesene schuldisziplinäre Gleichsetzung von Lernen mit defensivem Lernen in der eigenen Begrifflichkeit weitgehend reproduziert. Dadurch steht man theoretisch vor dem Dilemma, obwohl durch Übernahme der geschilderten ..disziplinärenc Tendenz zur Normalisierung auf defensives Lernen hin motiviertes Lernen als Möglichkeit weggeleugnet ist, dennoch ein schulisch .. brauchbares« Motivationskonzept anbieten zu müssen. Voraussetzung dafür ist zunächst die unreflektierte Reproduktion der von Ute Osterkamp herausgearbeiteten traditionell-psychologischen Gleichsetzung von •Motivation« und »innerem Zwang« {vgl. Osterkamp 1976, S.342ff und Holzkamp 1983, S.412ff): Das Motivieren anderer Menschen wäre in dieser Sicht gleichbedeutend damit, sie dazu zu bringen, freiwillig zu tun, was sie tun sollen. Entsprechend wird von der pädagogisch-psychologischen Motivationsforschung {im Banne des Lehrlernkurzschlusses) umstandslos der Lehrer als Motivator des Lernens seines Schüler betrachtet: Ihm wird als professionelle Kompetenz zugeschrieben und abverlangt, die Schülerinnen/Schüler, obwohl ihnen selbst expansiv begründetes, also wirklich motiviertes Lernen nicht zugestanden ist, dennoch in seiner Funktion als Subjekt schulischer Lernprozesse zum Lernen zu motivieren. Die Lernmotivations-Forschung sieht ihre Aufgabe wesentlich darin, den Lehrer dabei durch psychologische Hinweise zu unterstützen. Die darin liegenden
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Widerspruche (als weitere Facette der schon mehrfach hervorgehobenen »Unmöglichkeit« des Lehrerberufs) werden dabei von der traditionellen Motivationspsychologie naturgemäß kaum reflektien, sondern setzen sich mehr oder weniger direkt in widerspriichlichen theoretischen Bestimmungen durch. Die theoretischen Komplikationen mit dem Zwang zu immer weiteren begriffiichen Differenzierungen, unreduzierbaren Mehrdeutigkeiten etc., die sich auf dieser widersprüchlichen Grundlage- gerade beim Bemühen um sorgfältige und umsichtige Problembehandlung- ergeben müssen (vgl. dazu etwa die repriisentative Arbeit von Heckhausen & Rheinberg, 1980), sollen hier nicht im einzelnen dargestellt und diskutien, sondern nur an einer An von Extrembeispiel, dem pädagogisch-psychologischen Konzept der »intrinsischen Motivation« {dessen Problematik wir friiher, S.75ff, ausführlich dargelegt haben), verdeutlicht werden: In diesem Konzept werden auf der einen Seite im motivationspsychologischen Kontext der Selbsttätigkeit des Lernsubjekts die meisten Zugeständnisse gemacht: Der Schüler muß danach, damit er lernt, keineswegs laufend von außen (durch extrinsische Motivatoren) dazu gelockt oder gedriickt werden, er lernt vielmehr u.U. selbsttätig, aus Spaß am Lernen, motivien aus der zu lernenden ..Sache«. Auf der anderen Seite ist man aber beim Versuch, die Bestimmungen der intrinsischen Motivation (wie immer diese näher gefaßt sind) unter schuldisziplinären Vorzeichen umzusetzen, in eine unauflösbare Widerspruchssituation verstrickt. Dabei ergibt sich die erste Schwierigkeit schon daraus, daß man in diesem Kontext gehalten ist, dem Lehrer Mittel an die Hand zu geben, durch welche er - in psychologisch angeleitetem pädagogischem Handeln - das intrinsisch motiviene Lernen als besonderen • Motivationszustande (vgl. Heckhausen und Rheinberg 1980, S.llff) hervorrufen kann: Dies ist- da hier wiederum der Lehrer, wenn auch vermittelt, als Subjekt der Entstehung des vorgeblich vom »Schüler« selbst stammenden Motivationszustandes eingesetzt ist - offensichtlich eine neue Variante des schon am Konzept des entdeckenden Lernensaufgewiesenen Sei-spontan-Paradoxons. Diese Schwierigkeit spitzt sich aber dadurch noch zu, daß wirklich motivienes - also expansiv aus dem Zusammenhang zwischen Gegenstandsannäherung und Verfügungserweiterung des Lernsubjekts begriindetes - Lernen im Rahmen offizieller Schulwissenschah theoretisch nicht »denkbar« ist: So kann man die Voraussetzungen, unter denen freiwilliges Lernen allein möglich ist - nämlich die Ausgliederung der Lerngegenstände durch mich als Lernsubjekt nach Maßgabe dessen, Was mir selbst im Zusammenhang meiner Verfügungs-/Lebensinteressen problematisch geworden ist - nicht auf den Begriff bringen. Übrig bleibt also nur, freiwilliges Lernen voraussetzungslos, d.h. intrinsisch nur aus sich selbst motiviert, zu definieren. Demnach könnte man die friiher aufgewiesene tautologische Struktur des Konzepts der intrinsischen Motivation (man lernt, weil man lernt bzw. obwohl man keinen Grund dazu hat) als quasi schulstrategisch erzwungen betrachten. In diesem institutionellen Zusammenhang wäre auch die mögliche Funktionalität der •intrinsischen Motivation• als Deckbegriff, mit dem mir der abstrakte •Spaß am Lernen« als Ersatz für die mir entzogene Möglichkeit expansiven, an meinen Lebensinteressen orientierten Lernens angeboten ist, erneut zu diskutieren.
Wenn wir aufzeigen wollten, daß - indem der Entzug der Verfügung des Subjekts über den Lerngegenstand durch fremdgesetzte Bewertung kompensiert werden soll- »Lernen« schuldisziplinär mit »defensivem Lernen« identifiziert werden muß, so heißt dies natürlich nicht, daß damit das defensiv
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begründete Lernen schlagartig und endgültig bei den Schülerinnen/Schülern durchgesetzt ist: Einmal ist dabei zu bedenken, daß die disziplinäre Machtökonomie (wie dargestellt) keine von außen aufgeherrschte Macht ist, sondern sich erst im Zusammenwirken mannigfacher Strategien im Inneren der Disziplinen •durch die Individuen hindurch« tendenziell und langfristig zur Geltung bringt. Dabei stehen sich hier unter schuldisziplinärem Aspekt zwei Parteien- die offizielle Schule und die Schülerinnen/Schülerals entöffentlichte Lernsubjekte- gegenüber und suchen mittels verdeckter Strategien und Gegenstrategien einander zu übervorteilen. So kann die von uns angenommene schuloffizielle Gleichsetzung von Lernen mit defensivem Lernen immer nur annäherungsweise gegen mannigfache Widerstände und Widersprüche als langfristige Normalisierungstendenz praktisch werden. Zum anderen stellen die Schuldisziplinären Anordnungen, wie früher ausgeführt, ja nur die aus dem offiziellen Schulzweck der •gerechten« Zuweisung ungleicher Lebenschancen etc. entstandenen außengesetzten schulischen Grundstrukturen dar, denen stets durch die relative Autonomie der Schule ermöglichte pädagogische Intentionen gegenüberstehen, die Schülerinnen/Schüler in ihrer personalen Entfaltung, also auch in ihren expansiven Lernanstrengungen, zu unterstützen. Dabei muß allerdings auch bedacht werden, daß solche pädagogischen Intentionen - in dem Maße wie das Postulat administrativer Planbarkeit von Lernprozessen und der daraus erwachsende Lehrlernkurzschluß in das schulische Leben durchschlagen- immer wieder dem Normalisierungsdruck in Richtung auf defensives Lernen unterliegen und durch die letztlich überlegene Machtposition der Schuldisziplin zurückgeholt und zersetzt sind. Um vom Standpunkt der Schülerinnen/Schüler Zugang zu den damit angedeuteten strategischen Verwicklungen zu finden, ist zu berücksichtigen, daß defensives Lernen als wirkliche Lernaktivität auf der Seite der Schülerinnen/Schüler eine in sich instabile Handlungsweise ist, die sich nach zwei Richtungen hin zu stabilisieren trachtet: In Richtung expansiven Lernens und in Richtung der Reduzierung defensiven Lernens auf unmittelbare Problembewältigung (ohne Lernschleife): Die mögliche Tendenz der Schülerinnen/Schüler von defensivem auf expansives Lernen hin versteht sich schon daraus, daß die dargestellte subjektive Notwendigkeit, zur Erweiterung von Lebensmöglichkeiten und Überwindung von Abhängigkeiten Lernproblematiken auszugliedern und im eigenen Verfügungsinteresse anzugehen, ja nicht verschwindet, wenn man als Schülerin/ Schüler die Schule betreten hat. Vielmehr werden für mich im normalerweise defensives Lernen nahelegenden Unterricht immer wieder Lernproblematiken
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entstehen, die mein eigenes Verfügungs-/Lebensinteresse betreffen und mich deswegen dazu motivieren, sie in expansivem Lernen zu überwinden. Dabei finde ich möglicherweise im Lehrer - da dieser ja selbst den Widerspruch zwischen seinen pädagogischen Intentionen und seiner offiziellen Schulfunktion stets irgendwie »leben« muß- je nach Lage der Dinge mehr oder weniger ausgeprägt einen engagierten und nützlichen Helfer. Bei solchen Anlässen tendiert die Lehrer-Schülerbeziehung zu einem die schulische Machtökonomie unterlaufenden, da über Inhalte vermittelten, kooperativen Verhältnis (s.u.). - Solchen schuldisziplinär unplanmäßigen Tendenzen steht nun auf höchster Verallgemeinerungsebene die geschilderte schulische Bewertungstotalität gegenüber, der in diesem Kontext - über die diskutierte schuladministrative Funktion vergleichsorientierter Zuweisung von Berechtigungen hinaus - eine weitere, immanent-schulstrategische Funktion zuwächst: nämlich die Funktion, ausgeprägteren Tendenzen in Richtung auf expansives Lernen entgegenzusteuern und damit gleichzeitig eine zu weitgehende Kooperation bzw. - aus der Sicht der Schuldisziplin - Kollaboration zwischen Lehrern und Schülern zu verhindern. Dies ergibt sich nicht nur aus dem offensichtlichen Umstand, daß der Lehrer durch seine Bewertungsmacht die Schüler in einesachfremde (nicht aus inhaltlichen Kompetenzen begründbare) Abhängigkeit zwingen muß und damit, ob er will oder nicht, das Kooperationsverhältnis zersetzt, sondern in viel versteckterer und intimerer Weise dadurch, daß für den Schüler aufgrundder permanenten externen Kontrolle und Bewertung seiner »Leistungen« sein eigenes expansives Lerninteresse, damit die Basis der inhaltsvermittelten Kooperation mit dem Lehrer, laufend in Frage gestellt ist. Die Prämissenstruktur und Begründungslogik, die dazu führt, ist (wie ich bei anderer Gelegenheit, Holzkamp 1991, S.9, dargelegt habe) etwa folgendermaßen zu umschreiben: Wenn ich Gründe habe, bestimmte Handlungen, also auch Lernhandlungen, in meinem Interesse auszuführen, so muß die Realisierung solcher Handlungen - dies ist begründungslogisch eindeutig - nicht von außen kontrolliert und deren Nichtrealisierung auch nicht mit Strafen irgendwelcher Art belegt werden. Soweit also - dies der begründungslogisch stringente Umkehrschluß - alles, was ich in der Schule tue, aber besonders das Lernen bzw. Gelernte (in wie ,.verständnisvoller« und .. kindgerechter« Weise auch immer) vorgegeben, aufgegeben, angemahnt, abgefragt, zensiert etc. wird, so geht man offensicht· lieh davon aus, daß es für mich nicht auf eine einsehbare Weise nützlich ist, so daß ich auch keinen Grund dafür haben kann, es ,.von mir aus«, freiwillig zu übernehmen. Dieser Widerspruch tritt keineswegs nur auf, falls dabei schlechte Leistungen abgemahnt, sondern auch und besonders, falls gute Leistungen (durch Lob, Zensuren etc.) honoriert werden. Wenn - so muß ich mich dabei nämlich fragen - das Gelernte für mich nützlich und wissenswert ist, warum muß ich dann dafür noch zusätzlich belohnt werden? Begründungslogische Konsequenz: Da man mich in dieser Weise bestechen muß, wird es mit der Nützlichkeit für mich schon nicht so weit her sein.
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Als Veranschaulichung dieser Begründungskonstellation können in gewisser Weise die früher (S.73f) von mir dargestellten Konzepte und Untersuchungen zur .. überrechtfertigungs-Hypothese« im Sinne von McGraw {1978) genommen werden, so das in diesem Zusammenhang geschilderte Experiment von l..epper, Greene & Nisbett {1973): Daraus ging hervor, daß Kinder, die beim Malen mit besonderen Buntstiften großen Spaß hatten, die Arbeit {entgegen der behavioristischen Verstärkungstheorie) weniger häufig wieder aufgriffen und weniger lange fortsetzten, wenn sie inzwischen dafür belohnt worden waren. Im gegenwärtigen Argumentationskontext mag man dies so interpretieren, daß die Kinderaufgrund der Belohnung Zweifel daran bekommen hatten, ob ihnen das Zeichnen wirklich so viel Spaß macht (vgl. dazu auch Holzkamp 1991, S.9f). Hinweise in Richtung auf solche Zusammenhänge finden sich übrigens schon in Kurt Lewins berühmtem Essay »Die psychologische Situation von Lohn und Strafe• (1931). Dort heißt es: »Greift man zur Unterstützung des Ge- oder Verbotes zur Androhung von Strafe oder zum In-Aussicht-Stellen einer Belohnung, so ist dies jedoch« für das Kind »eher ein Ausdruck dafür, daß das Gebot oder Verbot ,sachlich' nicht oder nicht hinreichend ge· rechtfertigt ist• (S.67). Jedoch müssen solche Einsichten vom Standpunkt der Kinder I Schüler in Lewins Arbeit, die in gewissem Sinne als klassische ,.einkreisungsstrategischec Analyse vom Standpunkt der Erwachsenen/Lehrer betrachtet werden kann, leider marginal bleiben.
Aufgrund derartiger Begründungsfiguren vom Schülerstandpunkt hätte das schulische Bewertungssystem also die verdeckte schulstrategische Komponente, expansiv begründete Lernaktivitäten der Schülerionen/Schüler mit ihren die Planbarkeit schulischen Outputs störenden Konsequenzen durch Zersetzung der Lernmotivation {in unserem Sinne) in Richtung auf defensives Lernen hin zu ,.normalisieren« und dabei gleichzeitig den ,.Lehrer« und den ,.Schüler« auf ihre respektiven ,.Seiten« festzunageln. (Auf weitere schuldisziplinäre Zurüstungen mit dem Effekt der Behinderung expansiven Lernens gehe ich später ein.) Sofern sich aufgrundder Eigenart der jeweiligen schulischen Bedeutungs/ -Prämissenverhältnisse bzw. des Erfolgs darin gegründeter demotivierender schuldisziplinärer Strategien defensive Lernaktivitäten nicht in Richtung auf expansives Lernen überwinden lassen, ergibt sich für die Schülerinnen/Schüler eine Begründungskonstellation in der entgegengesetzten Richtung der Ermäßigung der aufgezwungenen Lernproblematiken zu bloßen Handlungsproblematiken. Defensives Lernen ist - wie dargestellt - durch die Auflösung des Zusammenhangs zwischen lernendem Weltaufschluß und dadurch erreichbarer erhöhter Verfügung/Lebensqualität gekennzeichnet: Ich sehe mich hier nur deswegen zum Lernen genötigt, weil ich nur auf diese weise Bedrohungen meiner Handlungsfähigkeit durch externe Machtträger ausweichen kann. Da ich dabei also vom Lernen als solchem nichts habe, werde ich den nötigen Aufwand an defensivem Lernen, sowie dies angesichts einer
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bestimmten Prämissenlage hingeht, zu reduzieren trachten, und zwar möglichst bis zu dessen Aufhebung in direkten (ohne Lernschleife vollzieh baren) Bewältigungsaktivitäten. Mit Bezug auf unser Schema der konzentrisch angeordneten Schulstrategien, in welchem die Instanz •(Lernprozesse beim Schüler)« zwischen die Instanzen •Stattfinden von ,Unterricht'« und •vergleichsorientierte Bewertung des einzelnen Schülers« eingeschoben ist, heißt dies in diesem Kontext, daß derartige defensive Lernprozesse (aufgrund der Suspendierung des Zusammenhangs zwischen Weltaufschluß und Verfügungserweiterung) für mich (als Schülerin/Schüler) nur soweit begründet sind, wie sie der Abwendung von bewertungsbedingten Bedrohungen meiner Verfügungs-/ Lebensmöglichkeiten dienen: Hingegen sind derartige Lernanstrengungen in dem Maße überflüssig, wie ich die entsprechenden Bewertungen auch ohne Lernen, durch bloße Vorspiegelung oder Vortäuschung der erwarteten Lernaktivitäten bzw. -resultate, zu erlangen vermag. Daraus ergibt sich die zentrale Funktion der Täuschung als {zugespitzter) Form verdeckter Strategien vom Standpunkt der Schülerinnen/Schülerals entöffentlichter (Lern)subjekte. Aus der widersprüchlichen Konstellation, daß im schultypischen defensivem Lernen als alltäglicher schulischer Aktivität mir meine Verfügung über den Lerngegenstand entzogen, das Lernen durch dessen externe Bewertung erzwungen und von mir (nach Maßgabe der dazu bestehenden Möglichkeiten) tendenziell durch bloße Vortäuschung von Lernprozessen/-resultaten ersetzt wird, entsteht - sofern diese Verflechtungen nicht bewußt reflektierbar sind (s.u.)- jene Lernweise, die ich früher (s.o., S.193 und 1987) als aus der Ungeklärtheit der im Lernprozeß realisierten Interessen und der sich daraus ergebenden Konsequenzen begründetes widerständiges Lernen umschrieben habe: Dabei würde also - da angesichts dieser U ngeklärtheit die möglichen Nachteile des Nichtlernens für mich meist nicht absehbar sind - das Lernen nur in Extrem- oder Sonderfällen einfach verweigert, im übrigen aber in unartikulierter und gebrochener Weise quasi partiell wieder zurückgenommen. Aus diesem Konzept, das sich hier aus dem Bedeutungs-/Prämissenzusammenhang der Schuldisziplin begründungsanalytisch verdeutlicht hat, geht einmal mehr hervor, daß nicht nur die »disziplinären« Strategien der Schulseite aus dem pädagogischen Auftrag der Schule herrührende Widersprüchlichkeiten enthalten müssen: Auch die Gegenstrategien der •Schülerseite« sind durch entsprechende Widersprüche - vorab den Widerspruch zwischen genuinen Lerninteressen und der vergleichsorientierten Ausrichtung an Noten/ Abschlüssen - vielfach gebrochen und partiell unbewußt, damit u.U. tendenziell selbstschädigend: ein dynamischer Aspekt der verdeckten Schulverhältnisse, der uns immer wieder beschäftigen muß.
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Um unseren letzten übergreifenden Gedankengang zusammenzufassen: Aus den globalen schülerzentrierten Einkreisungsstrategien der Schule mit der Tendenz zur Normalisierung der Schülerinnen/Schüler auf defensives Lernen hin ergeben sich für diese darin begründete Gegenstrategien, die Situation defensiven Lernens (je nach spezieller Priimissenlage) in Richtung auf expansives Lernen oder bloß vorgetäuschtes Lernen verlassen zu wollen. Daraus entsteht auf der Seite der Schuldisziplin die strategische Notwendigkeit, solchen Ausweichtendenzen gegenzusteuern, d.h. weder das expansive Lernen (als Störung der Unterrichtsplanung) noch die Vortäuschung von Lernprozessen/ -resultaten (jedenfalls in einem Ausmaß, das die Legitimität und »Gerechtigkeit« der schulischen Laufbahnzuweisungen in Frage stellen würde) gegenüber dem schulisch •vorgesehenen«, mit Lernen überhaupt gleichgesetzten defensiven Lernen dominant werden zu lassen. Die dadurch erforderten strategischen Varianten bzw. Mechanismen der schulischen Normalisierungstendenzen in ihrer Bedeutung als Prämissen des Handeins vom Standpunkt der Lernsubjekte sind im Zuge unserer weiteren Analysen genauer aufzuweisen und zu diskutieren.
Interpersonale Beziehungen in der Schulklasse: Vereinzelung durch Bewertung vs. gebrochene kollektive Bedrohungsabwehr Dazu setzen wir die folgenden Ausführungen eine Stufe konkreter an, indem wir den (früher dargelegten) Umstand artikulieren, daß die Schuldisziplinären Prozesse sich nicht direkt auf die einzelnen Schülerionen/Schüler beziehen, sondern stets vermittelt über interpersonale Verhältnisse innerhalb der Schulklasse: Dies heißt, daß auch die benannten schuldisziplinär konstituierten »Parteien«, Schuladministration/Lehrer auf der einen Seite und Schülerionen/Schüler als entöffentlichte Lernsubjekte auf der anderen Seite, sich mit ihren Strategien/ Gegenstrategien nicht unmittelbar gegenüberstehen, sondern in Form des interpersonalen Verhältnisses von Lehrer und Schülerinnen/ Schülern in einem jeweils bestimmten Klassenverband. Dieses Verhältnis wiederum ist (wie dargestellt) gepriigt durch die (von Foucault herausgearbeitete) in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Umorganisation des Schulunterrichts von unterschiedlichen bzw. lockeren Koordinationsformen zum systematischen Gruppenunterricht, in welchem jeweils ein Lehrer eine Anzahl von Schülerionen/Schülern einer Klasse unterrichtet, die ihm als homogenisierte und isolierte Elemente gegenüberstehen: Dadurch ist einerseits deren gleichzeitige Unterrichtung erst möglich geworden und soll andererseits die Klasse unter dem Disziplinarblick des Lehrers so kontrollierbar sein,
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daß sie sich der Beeinflussung durch den Lehrer nicht entziehen kann. Diese Koordinationsform charakterisiert (wie gezeigt) auch heute noch mehr oder weniger eindeutig das offizielle Lehrer-Schüler-Verhältnis in der Klasse: Die Schülerionen/Schüler sollen nach wie vor durch Versetzung/Sitzeobieiben und andere Maßnahmen so homogenisiert werden, daß sie gleiche Voraussetzungen für unterrichtsbedingte Lernprozesse mitbringen (und damit ihre Leistungsunterschiede als natürliche Begabungsunterschiede interpretien und als »gerechte« Basis für die differenzierenden Laufbahnzuweisungen genommen werden können). Dies schließt ein, daß die Schülerionen/Schüler immer noch (zur Ermöglichung individueller Bewertungen unter einheitlichen Bedingungen) voneinander isoliert und auf ihre »eigene Einzelheit« festgenagelt werden sollen. Dieses offizielle Schema der interpersonalen Klassenraurn-Organisation ergibt sich (wie aufgewiesen) aus der allgemeinen gesellschaftlichen Schulfunktion einer Absicherung der »Gerechtigkeit« laufbahnbedingter Ungleichheiten von Lebenschancen und setzt sich deswegen als dominante Tendenz häufig selbst innerhalb von Schulmodellen und/ oder didaktischen Konzepten durch, mit welchen dieses Schema überwunden werden soll (s.u.). In unserem gegenwärtigen Diskussionszusammenhang imponieren diese offiziellen Vorstellungen über die optimale interpersonale KlassenraurnOrganisation als flankierende Strategeme zur benannten schülerzentrierten Einkreisungsstrategie der Schuldisziplin: Nur durch die Homogenisierung/ Isolierung der Schülerinnen/Schüler im Klassenverband ist die Einkreisung nämlich tatsächlich auf den jeweils einzelnen »Schüler« in der Klasse zu zentrieren und dieser zum Gegenstand von- gemessen an den übrigen Schülerinnen I Schülern der Klasse- vergleichbaren, damit »gerechten« Bewertungen und u.U. daraus folgenden Sondermaßnahmen zu machen. Dies gilt - wider den ersten Augenschein - auch da, wo in bestimmten Spezialfällen gegenseitiges Sich-Helfen von Schülerinnen/Schülern in der Klassensituation zugelassen wird oder gar •kooperatives Lernen• zum •Erziehungszielc erhoben ist: Im ersten Fall wird das •peer teaching« als didaktisches Mittel eingesetzt, um die später wiederum mit Bezug auf jeden •Schüler« isoliert zu bewertende Leistung zu verbessern. Im zweiten Fall wird sogar häufig die •Kooperativität« selbst zum Gegenstand individueller Bewertung: • ... a cooperative contingency sets up a situation in which group members administer a highly contingent reward structure with their group mates; if they do what helps the group tobe rewarded, they receive praise; if they do not, they receive blame« (Slavin 1980, S.317). In jedem Falle aber kontrolliert der Lehrer (wie etwa auch bei der von uns aus· führlieh diskutierten Ermöglichung von Entdeckungslernen) - wenn auch manchmal mehr indirekt - die Konstellationen der gegenseitigen Hilfe bzw. der Kooperation zwischen Schülerinnen/Schülern - und zwar so, daß die isolierte Beurteilbarkeit jedes einzelnen in den existentiell bedeutsamen Situationen der Leistungsbewertung dadurch
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nicht beeinträchtigt wird (Überblick bei Foot, Morgan, & Shute 1990). Ich komme darauf,
was kooperatives Lernen vom Standpunkt der Lernsubjekte außerhalb des schuladministrativen Zugriffs heißen kann und welche Widerspruche damit verbunden sind, später noch ausführlich zuriick.
Die Schülerionen/Schüler müssen, wenn sie den durch den Lehrer in Ausübung seiner disziplinären Funktion versuchten Strukturierungen der interpersonalen Klassensituation zur Realisierung der schuladministrativen Eink.reisungsbewegungen und den daraus resultierenden Bedrohungen begegnen wollen, ihrerseits versuchen, in der Organisation ihrer interpersonalen Beziehungen innerhalb der Klasse der ihnen aufgeherrschten Homogenisierung/ Isolierung strategisch etwas entgegensetzen. Daraus ergibt sich in der einen oder anderen Form jene verdeckte, •subversive« Solidargemeinschaft zwischen den Schülerinnen/Schülerneiner Klasse, die in der schuloffiziellen Ideologie/ Wissenschaft als ,.KJassengemeinschaft« beschönigt bzw. als »soziale Gruppe« neutralisiert wird, der sich aber der Lehrer, wie er und alle anderen »eigentlich« wissen, tatsächlich gegenübersieht. Die zentrale strategische Funktion dieser Solidargemeinschaft ist die Aufhebung der Isolierung der Schüler voneinander zum Zweck einer Abwendung der in den schuloffiziell »angeordneten« einheitlichen und »vergleichbaren« Einzelbewertungen liegenden Bedrohungen; dazu dienen die bekannten taktischen Vorkehrungen wie Vorsagen, Abgucken- und Abschreibenlassen, aber auch vielfältige sublimere Versuche der Ablenkung und Manipulation des Lehrers, quasi als eine kollektivierte Form der früher benannten Vortäuschung von Lernprozessen/ -resultaten. Allgemeiner wird damit aber auch versucht, der auf allen Ebenen administrativ abgesicherten Übermacht des Lehrers von Schülerseite unter Ausnutzung des Umstandes, daß er in der Klasse nur einer, »Wir« aber viele sind, eine gewisse Gegenmacht entgegenzusetzen: So führt man (in unterschiedlichen lntensitäten und Erscheinungsformen) eine Art von Partisanenkrieg gegen den Lehrer, mit jenen Betrügereien, Obstruktionen, Störmanövern, »Streichen« etc., wie sie dann u.U. später zum Inhalt von Heldengeschichten bei Treffen ehemaliger »Klassenkameraden« (und beliebtes Thema von Autobiographien) zu werden pflegen. Die Lehrer-Schüler-Beziehung in der Schulklasse findet also quasi auf zwei Ebenen statt: Einer offiziellen Ebene, auf welcher dem Lehrer gleichzeitig anwesende einzelne Schülerionen/Schüler gegenüberstehen, die sich in vergleichbarer Weise seinem V nterricht aussetzen, und einer offiziösen Ebene, auf welcher der Lehrer, indem er unterrichtet, sich der Klasse als einer verdec;kten Solidargemeinschaft konfrontiert sieht, deren Täuschungs- und Obstruktionsversuchen er, um· den Unterricht geordnet durchführen zu können, unter Ausnutzung seiner institutionellen »Übermacht« irgendwie begegnen
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muß: Dies ist die konkreteste, interpersonale Ausprägung der geschilderten strategischen Gegenstellung der Schul- und der Schülerseite. Dabei sind nicht nur die Schülerstrategien entöffentlicht, sondern - da sie teilweise nicht dem offiziellen schulischen Selbstverständnis entsprechen - in gewissem Maße auch die darauf bezogenen Strategien des Lehrers (so, wie nach Freud die Abwehrmechanismen im - ansonsten bewußten - Ich selbst unbewußt seien müssen, um die Abkömmlinge des Unbewußten zurückdrängen zu können). -Als zentrale Aufgabe des Lehrers verdeutlicht sich damit auf dieser offiziösen Ebene, seine Klasse trotz deren Widersetzlichkeiten immer wieder »in den Griff kriegen« zu müssen: Darin liegt aus der Sicht der Schuldisziplin - da er seine offiziellen Funktionen nur auf dieser Basis ausüben kann - vielleicht die entscheidende professionelle Qualifikation des Lehrers. Um diese verdeckten Auseinandersetzungen richtig zu verstehen, muß man sich klar machen, daß dabei die Fronten zwischen der Schüler- und der Lehrerseite keineswegs eindeutig sind: So ist die Solidargemeinschaft der Schülerinnen/Schüler aufgrund der hier involvierten widersprüchlichen Interessen der kollektiven Gegenwehr und des individuellen Davon- und Vorankommens stets brüchig und gefährdet, erfordert so unter der Schülerschaft selbst »Maßnahmen« gegen einzelne Abweichler, die mit der Gegenseite zu kollaborieren scheinen (Streber, Petzer). Dabei sind solche Verdächtigungen nicht nur häufig ungerecht, sondern - indem etwa expansive Lerninteressen sogar durch die Mitschüler diffamiert und weggebügelt werden - auch selbstschädigend. Dies wiederum wird vom Lehrer (je nach Konfliktlage auf verschiedene Weise) ausgenutzt werden, z.B., indem er versucht, einzelne Schüler abzuwerben und zu sich herüberzuziehen oder auch bestimmte Schüler lächerlich zu machen, bloßzustellen, »vorzuführen«, die »Lacher auf seine Seite zu bringen«, o.ä., um sich damit seinerseits durch Zersetzung der Solidargemeinschaft der Schülerinnen I Schüler taktische Vorteile zu verschaffen. Schließlich mag der Lehrer unter bestimmten Umständen seine Parteilichkeit für die Schule gegen die Schüler relativieren, »ein Auge zudrücken«, »fünfe gerade sein lassen«, sich bei den Schülerinnen/Schülern anbiedern oder auch durch inhaltliches pädagogisches Engagement und Kooperationsangebote an die Schüler aus seiner disziplinär präformierten Lehrerrolle fallen - womit er sich selbst gegenüber »höheren« Stellen der Schulverwaltung (oder den Eltern) angreifbar machen würde (s.u.). Solche aus schuldisziplinären Bedeutungskonstellationen sich ergebenden gebrochenen und widersprüchlichen strategisch-taktischen Manöver der Schülerinnen/Schülergegen den Lehrer und umgekehrt {als manifester oder latenter Machtkampf unter den Bedingungen institutioneller Übermacht der
»Ent-deckung« der Schulwirklichkeit vom Standpunkt des Lernsubjekts
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Schul-/Lehrerseite) sind es, in deren (offiziell verschwiegenem) Kontext die unterrichtlich •vorgesehenen« interpersonalen Lehrer-Schüler-Interaktionen in der Klasse stehen: Diesen Kontext gilt es also zu berücksichtigen, wenn man über die geschilderten abstrakten Modeliierungen der subjektiven Sichtweisen der •Schüler«, sozialen Beziehungen in der Schulklasse, des »Unterrichtsklimas« o.ä. hinausgelangen und die mit den konkret-historischen Funktionen der Schuldisziplin vermittelten interpersonalen Beziehungsfiguren verstehen will, durch welche die Schulseite sich letztendlich immer wieder die machtstrategischen Vorteile verschafft, um die systemerhaltende Unterrichtsorganisation in der Klasse reproduzierbar und darin die tendentielle Normalisierung desLernensauf defensives Lernen hin durchsetzbar zu machen. Die zentrale Beziehungsfigur dieser Art, aus der sich weitere relevante Figuren ableiten lassen, ist m.E. die von Mehan diskursanalytisch aufgewiesene schultypisch-dreigliedrige Sequenz •Initiation ---. Reply ---. Evaluation«: Diese »Bewertungssequenz« ist unserer Konzeption nach die Konkretisierung und Operationalisierung der früher dargestellten Schuldisziplinären Bewertungstotalität auf die interpersonalen Verhältnisse in der Schulklasse hin. Dabei gewinnt auch an dieser Stelle eine zunächst als Außenrechtfertigung der schulischen Laufbahnzuweisungen dienende Funktion einen verdeckten strategischen Stellenwert: Die Bewertung ergibt sich keineswegs bloß aus der Aufgabe des Lehrers, die Leistungen der Schüler zu bewerten (dies könnte ja im Rahmen der offiziell vorgesehenen Anlässe zu Bewertungen - Zensierung von Klassenarbeiten, Zeugnisse o.ä. - hinreichend geschehen), sondern ist die lnteraktionsweise, in welcher der Lehrer als Lehrer durchgehend mit den Schülerinnen/Schülern in Beziehung tritt: Es gibt praktisch keine Lebensäußerung der Schülerinnen/Schüler, die der Lehrer nicht- durch •richtigfalsch«, •gut-schlecht« oder auch mannigfache averbale Kundgaben der Zustimmung oder Ablehnung, des Einverständnisses oder der Zurückweisungbewertet. Sofern eine Schüleräußerung vom Lehrer einfach beantwortet, aufgegriffen, weitergesponnen wird, steht dieser genau besehen schon etwas neben seiner Lehrerrolle. - Vordergründig dient der permanent bewertungsförmige Umgang des Lehrers mit den Schülerinnen/Schülern dazu, diese (wie mit einer •linken Geraden«) auf Distanz zu halten, darin die schuldisziplinäre Asymmetrie der Lehrer-Schüler-Beziehung immer wieder praktisch zu bestätigen: Der •Schüler« ist legitimer Gegenstand der Bewertung durch den Lehrer, aber nicht umgekehrt. Die Schülerinnen/Schüler sehen sich durch solche Bewertungen immer wieder neu in Frage gestellt, vereinzelt, auf sich selbst zurückverwiesen: Nicht die inhaltlichen Probleme, die es von mir zu bewältigen gilt, stehen hier im Vordergrund, vielmehr bin ich (da ich
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laufend die Bewertungen des Lehrers auf mich ziehe) offensichtlich selbst das
Problem. Darin deutet sich schon an, daß die Allgegenwart von Bewertungssequenzen nicht nur als aktuelle Bewältigungstechnik von Lehrerseite zu betrachten ist, sondern darüber hinaus einen längerfristigen strategischen Stellenwert gewinnt: Die Bewertungen des Lehrers werden - indem jede Bewertung eines bestimmten Schülers die nächste auf den selben Schüler bezogene Wertung mit determiniert - sich tendenziell differenzieren, schließlich auf konsistent unterschiedliche Bewertungen verschiedener Schülerinnen I Schüler hin fiXieren - dies quasi als aktualgenetischer Prozeß, der dann in die offiziellen Bewertungen (etwa auf Zeugnissen) miteingeht und so auf unmerkliche, •natürliche« Weise zu den differenzierend-normalisierenden Notenverteilungen beiträgt, zu denen der Lehrer (wie dargestellt) im Dienste der Schulfunktion der selektiven Laufbahnzuweisung gehalten ist. Dabei muß man davon ausgehen, daß der Lehrer, indem er bezüglich der spezifischen Bewertung einer Schülerin oder eines Schülers sich selbst festlegt, tendenziell quasi auch die Schülerin/den Schüler fostlegt, d.h. sie/ihn durch seine konsistenten Bewertungstendenzen und die damit verbundenen Er- oder Entmutigungen so •behandelt«, daß sie/ er sich in seinen bewertungsrelevanten •Leistungen« womöglich der individualisierenden Bewertungstendenz des Lehrers immer mehr angleicht - dies wäre ein Beitrag zur Herstellung jener - trotz vorausgesetzten gleichartig-optimalen Lehraufwands - verbleibenden scheinbar •natürlichen Begabungsunterschiede« zwischen den Schülerinnen/Schülern, wie wir sie früher ausführlich diskutiert haben: Die hier vom Lehrer abzuliefernden, um einen klassenspezifischen Mittelwert streuenden Noten· Verteilungen schüfen sich also quasi selbst (durch ihre Konsequenzen für das Lehrerverhalten) die entsprechenden Leistungsunterschiede bei den Schülerinnen/ Schülern. Wenn man in der pädagogisch-psychologischen Forschung die »Lehrerurteile« und die »Schülerleistungen• aus dem institutionellen Kontext schulischer Machtökonomie und ihrer strategischen Umsetzungen herauslöst und für sich in Beziehung setzt, so mag dabei eben jener »Pygmalion-Effekt« empirisch in Erscheinung treten, wie Rosenthai & Jacobson (1968) ihn aufweisen wollten: Hier führten die Autoren mit einem Intelligenztest im Abstand von einem Jahr eine Vor- und eine Nachuntersuchung durch. Mit Bezug auf einen Teil der Kinder (die Experimentalgruppe) wurde den Lehrern vorgespiegelt, auf· grund der Befunde des Vortests sei bei diesen Kindern eine außergewöhnliche Leistungs· steigerung zu erwarten; bei den übrigen Kindern (der Kontrollgruppe) unterblieb eine solche Mitteilung. Beim statistischen Vergleich der Vor· und der Nachtests stellte sich nun heraus, daß die Kinder der Experimentalgruppe in der Nachuntersuchung tatsächlich bessere Leistungen zeigten als die der Kontrollgruppe. Daraus wurde abgeleitet, daß hier nicht die reale »Begabung« der Schüler, sondern die entsprechende Erwartung des Lehrers
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für die Leistungssteigerung verantwortlich ist: Vermeintlich höhere Begabung wäre so gesehen als das Resultat einer unbewußten und subtilen Förderung, vermeintlich geringere Begabung als das Resultat einer ebenso subtilen Vernachlässigung oder Entmutigung des jeWeiligen Schülers durch den Lehrer anzusehen. In den durch diese Untersuchung angeregten vielen weiteren Arbeiten ließ sich z.B. demonstrieren, daß Lehrer, die Leistungsunterschiede ihrer Schülerinnen/Schüler in besonderem Maße auf unterschiedliche ,.Begabungen• zurückführten, eher dazu neigten, schlechte Schülerinnen und Schüler weniger zu fördern und stärker zu entmutigen. Dadurch, daß diese Schülerinnen/Schüler sich durch den Einfluß des Lehrers selbst für minderbegabt hielten, steckten sie ihre Bemühungen um Leistungsverbesserung eher als sinnlos auf, was sich dann in entsprechend schlechteren Leistungen niederschlug (quasi ein Pygmalion-Effekt unter »natürlichen• Bedingungen, vgL Rheinberg 1982, S.204).- Eine umfassende Darstellung der Untersuchungen und Konzepte zur Sozialpsychologie des Erzieherhandeins ,.in der Tradition der Pygmalion-Perspektive« (S.2) findet sich bei Hofer (1986). Derartige Ansätze und Untersuchungen wenden sich kritisch gegen einen naturalisierenden Begabungsbegriff, indem sie die Möglichkeit nahelegen, daß die traditionelle Zusammenhangsannahme, verschieden ,.hohe« Begabungen führten zu verschiedenen Leistungen/Leistungsbewertungen, u.U. angemessener quasi umgekehrt zu lesen ist: Unterschiedliche Leistungserwartungen des Lehrers führen (vermittelt über dessen pädagogische Aktivitäten) zu unterschiedlichen Schülerleistungen, die demnach irrtümlich als begabungsbedingt eingeschätzt werden. - Aus unseren Analysen sollte ja hervorgehen, daß Verschiedenheiten von Leistungsbewertungen in der Schule, obwohl diese Unterschiede- sei es bloß durch .. normalisierende Differenzierungen• der Urteile, sei es durch darüber vermittelte tatsächliche Differenzen der Schülerleistungen (qua PygmalionEffekt)- im Unterricht herstellbar sind, dennoch zur Rechtfertigung der ungleichen Zuweisung individueller Berufslaufbahnen/Lebenschancen (tendenziell) als Ausdruck natürlicher Begabungsunterschiede gedeutet werden müssen.
Somit hat (wie sich in den vorstehenden Darlegungen schon andeutete) der bewertungsförmige Umgang des Lehrers mit den Schülerionen/Schülern (interpersonal betrachtet)- über seine aktuelle Funktion einer individualisierenden Zersetzung der Solidargemeinschaft auf der Schülerseite hinaus - (besonders in seiner Kumulation und Verdichtung zu offiziell erteilten Noten) die längerfristige strategische Funktion einer Verankerung der (durch den Schulzweck erforderten) Begründung unterschiedlicher Leistungsbewertungen mit unterschiedlichen individuellen Begabungen im Selbsterleben der Schülerinnen/Schüler: Für mich (als Schülerin/Schüler) ist es auf unmittelbarer Ebene aus meinen Verfügungs-/Lebensinteressen begründet - ob nun durch Lernen oder dessen Vortäuschung-, den Lehrer zu möglichst positiven Bewertungen meiner »Leistungen« zu bringen. Mit dieser Strategie habe ich mich aber (ohne dies so zu reflektieren) bereits auf die vergleichend-differenzierenden Fähigkeits- bzw. Begabungszuschreibungen des Lehrers eingelassen.
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Damit ist von mir nicht lediglich die (in der pädagogisch-psychologischen Forschune vielfach untersuchte) Frage angesprochen, wovon die Selbsteinschätzung der Schülerinnen/Schüler als mehr oder weniger befähigt bzw. begabt abhängt (vgl. u.v.a. etwa Rheinberg 1982 und Meyer 1984). Vielmehr soll auf die schulischen Bedeutungs-/Prämissen. konstellationen hingewiesen werden, unter denen es für mich (als Schülerin/Schüler) als begründet erscheint, mich überhaupt erst einmal in Termini von mehr oder weniger hohen Fähigkeiten/Begabungen zu beschreiben und zu denken: Der Lehrer unterrichtet die gesamte Klasse auf die gleiche Weise, bewertet die Leistungen der Schülerinnen/Schü. ler aber unterschiedlich; also muß es - wenn ich eine mehr oder weniger positive oder negative Bewenung auf mich ziehe - an »mir«, d.h. meinen individuellen Fähigkeiten/ Begabungen liegen. Wenn ich nun unter diesen Vorzeichen versuche, durch (individuelles oder kollektiv vermitteltes) Vonäuschen von Lernresultaten meiner Abwenung durch den Lehrer (und den damit verbundenen Bedrohungen) entgegenzuwirken, so bin ich mithin gleichwohl dem strategischen Kalkül der Schulseite keineswegs entkommen. Im Gegen· teil: Indem ich durch Erschleichung einer guten Note vor mir und anderen zu verbergen suche, ob ich einer bestimmten Anforderung nur nicht nachkommen will oder tatsächlich nicht nachkommen kann, bin ich im Täuschungsfall- da ich hier etwas zu verheimlichen habe - in gewissem Sinne noch stärker auf mich selbst zurückgeworfen und in die Vereinzelung getrieben als anläßlich einer »verdienten« schlechten Benotung. Dies ist einer der Gründe dafür, warum die Schülerstrategie des Täuschens die Schuldisziplin nicht eigent· lieh in Frage stellt, sondern in gewissem Sinne eher bestätigt und deswegen - sofern die Täuschung nicht so effektiv und verbreitet ist, daß damit die differenzierende Normalisierung der Notengebung behinden wird - offiziös hinnehmbar ist. (Analysen zur Über· nahme schulischer Begabungsideologie durch die Schüler finden sich - von einem anderen Ansatz aus, aber mit ähnlichem Resultat- auch bei Lenhardt 1984, S.209ff.)
Die - als Antwort auf die schulische Bewertungsmacht und Bewertungspermanenz- der Schülerseite nahegelegte Deutung von Leistungsunterschieden in Termini verschiedener individueller »Begabungen« kann unter allgemeineren Gesichtspunkten im Kontext der von uns diskutierten schulischen Strategien der Normalisierung auf defensives Lernen hin gesehen werden: Die Schülerinnen/Schüler sind dadurch - selbst da, wo sie für sich relevante Lernproblematiken ausgliedern konnten oder könnten - vom Versuch einer Realisierung des Zusammenhangs zwischen Eindringen in den Lerngegenstand und Verfügungserweiterung auf die Frage zurückverwiesen, ob ich es denn »kann« oder »nicht kann«. Vor jeder Bewertung von Lehrerseite finde ich mich auf dem Prüfstand: Wird sich nun herausstellen, daß ich dümmer, unfähiger, unbegabter bin als die anderen? Meine Lernfortschritte werden mithin von mir- soweit ich keine Distanz dazu gewinnen kann- als Indiz gesehen, wieweit ich damit der Bedrohung durch meine »endgültige« Abwertung als minderbegabt etwas entgegenzusetzen habe, womit mein Interesse am Lerngegenstand mindestens tendentiell durch individuelle Bedrohungsabwehr, also defensiv begründet und dadurch zersetzt und zurückgestutzt wäre.
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Damit verdeutlicht sich auch, daß die Täuschung als Gegenstrategie der Schülerseite - obwohl als Befreiung vom schulischen Bewertungsterror gemeint - im Kontext der Selbsteinschätzung nach Maßgabe eigener Begabung einen genuin defensiven Charakter gewinnt: Indem ich damit die aktuelle Leistungsbewertung des Lehrers manipuliere, beseitige ich ja nicht den Selbstzweifel, ob ich es denn gekonnt hätte. Ich täusche hier nicht nur den Lehrer, sondern in gewissem Sinne auch mich selbst darüber, wozu ich im Vergleich zu den anderen tatsächlich fähig bin. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mein mögliches Versagen (aufgrund der früher dargestellten strategischen Verflochtenheiten in der Schulklasse) für den Lehrer (sofern er aus taktischen Gründen darauf nicht verzichten kann) Anlaß sein mag, mich in irgendeiner Weise •vorzuführen«, zu ironisieren, lächerlich zu machen, mit demonstrativen Ermahnungen zuzudecken. So mag hier in meiner Befindlichkeit eine Art Bodensatz aus Angst vor Bloßstellung, Eingeschüchtertheit, Zaghaftigkeit entstehen, durch welchen es mir geraten erscheint, mich der Kritik lieber erst gar nicht zu stellen, eigene Schwächen vor mir selbst und anderen zu verhehlen, mich (wo es geht) zu verstecken und unsichtbar zu machen, also keinesfalls mit eigenen Ansichten oder Einsichten zu exponieren - dies als Nebenprodukt des schulischen Begabungskonstruktes als Aspekt umfassenderer Strategien zur Normalisierung auf defensives Lernen hin.
Monopolisierung des Fragens beim uhrer und Marginalisierung von Schülerfragen im Kontext der schultypischen Frage-AntwortBewertungssequenz: Urnen ohne Fragen und umgekehrt In seiner Formulierung der schulspezifischen dreigliedeigen Sequenz »Initiation -+ Reply -+ Evaluation« bezeichnet Mehan das erste Glied deswegen in allgemeiner Form als •Initiation« und nicht als •Questionc, weil es ihm nicht auf eine grammatische, sondern auf eine funktionale Bestimmung ankommt: Dafür ist entscheidend, daß die initiale Aktivität des Lehrers eine bewertbare Reaktion des Schülers intendiert, einerlei ob diese Aktivität nun in einer Frage oder etwa in einer Aufforderung, einem angefangenen (durch die Schüler zu ergänzenden) Satz o.ä. besteht (vgl. Mehan 1977, S.43). Im Kontext unserer bisherigen Analysen der interpersonalen Klassenverhältnisse vom Schülerstandpunkt konnten wir diese Bestimmung als hinreichend übernehmen. Gewisse wesentliche Aspekte der dargestellten strategischen Gegenstellung der Lehrer- und der Schülerseite in der Schulklasse lassen sich jedoch nur dann angemessen diskutieren, wenn man die drei Instanzen nicht lediglich als »Initiation -+ Reply -+ Evaluation«, sondern spezieller als
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»Frage--+ Antwort--+ Bewertung« versteht. Der Frage kommt nämlich (wie sich übrigens auch aus Mehans Analysen ergibt) innerhalb der KlassenraurnInteraktion machtstrategisch eine spezielle funktionale Relevanz zu, die man an anderen Formen der »Initiation« nicht aufweisen kann, und die eher rückbezüglich an diesen bestimmte Eigenarten klarer hervortreten läßt. Wenn (wie Mehan darlegte) die benannte dreigliedrige Bewertungssequenz die Klassenraumsituation als spezielles interpersonales Verhältnis konstituiert (und außerhalb i.w.S. unterrichtlicher Konstellationen nicht zu finden ist), so heißt dies, daß damit auch die Frage, wenn man sie als erstes Glied der Bewertungssequenz einsetzt, in ihrem speziellen strategischen Stellenwert innerhalb der Schulklasse festgelegt ist. Das bedeutet vor allem anderen, daß - da die dreigliedrige Sequenz ja vom Lehrer eröffnet wird - in diesem Kontext auch das Subjekt des Fragens der Lehrer ist: Die Reproduktion schulklassenspezifischer interpersonaler Beziehungen ist dadurch charakterisiert, daß der Lehrer fragt und der Schüler antwortet. Dillon ( 1990) präzisiert dies (in seinem Standardwerk »The Practice of Questioning•) so: ..... children everywhere are schooled to become masters at answering questions and remain novices at asking them ... It is against the norm for students to ask questions. Hence classroom questioning means teacher questioning« (S.7). Dillon veranschaulicht dies auch durch Zahlen. So fand er in einer Unterrichtsstunde 84 Lehrer- und 2 Schülerfragen, und über das Schuljahr eine Frage pro Monat und Schüler. Wesendich ist hier aber nicht das Zahlenverhältnis, sondern der Funktionsunterschied zwischen Lehrer- und Schülerfragen: Lehrerfragen sind konstituierend für das Stattfinden von Unterricht, Schülerfragen dagegen nicht; der Unterricht reproduziert sich ohne eine einzige Schülerfrage. -Dies heißt natürlich nicht, daß wirkliche Gespräche, in welchen die Schüler fragen und der Lehrer sich an der Diskussion beteiligt, in der Schule nicht vorkommen können: Nur ist damit zwar nicht der pädagogische Auftrag des Lehrers, wohl aber der dafür schuldisziplinär gesetzte Rahmen ,.regulären V nterrichts« überschritten. Aus dem Umstand, daß die (für den Klassenraum-Diskurs) typische Lehrerfrage das erste Glied innerhalb der Sequenz ..Frage --+ Antwort -+ Bewertung« darstellt, ergibt sich, um welche Art von Frage es sich dabei handeln muß, nämlich um den Fragentyp, den Mehan in Abhebung von der .. information seeking question« als »known-information-question« bezeichnet (s.o., S.434): Der Lehrer muß die richtige, angemessene, o.ä. Antwort auf seine Frage schon vorher wissen, da er nur so die jeweilige empirische Antwort eines Schülers danach bewerten kann. - Innerhalb der ,.rationalen« Ansätze zur Analyse des Fragens wird dieses Moment im Kontext der ,.pragmatischen«
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Komponente der Beziehung zwischen Fragendem und Antwortendem nach den Gesichtspunkten Wissen des Fragenden, Wissen des Antwortenden, sowie Intentionen des Fragenden und des Antwortenden spezifiziert {vgl. Graesser 1985, S.3). Unter den vier »pragmatic modes« der Frage-AntwortBeziehung, die man dabei unterscheidet, werden die zwei hier für uns relevanten Modi folgendermaßen gekennzeichnet: Modus des ,.,Make it the Case that I Know'. In this mode there is the expectation that (a) the answerer is more knowledgeable than the questioner about the information referenced in the question and (b) the questioner wants the answer to supply the needed information. This ... mode is appropriate when the questioner has a problern and needs critical information«. Davon ist ein anderer pragmatischer Modus abzuheben, der als »,Make Me Know that You Know' « bezeichnet wird: »In this mode it is expected that (a) the questioner is more knowledgeable about the information referenced in the question and (b) the questioner wants the answerer to demoostrate that the answerer knows the information. A good example of this ... mode is in a teacher-student dialogue where the teacher asks the Student questions even though the teacher already knows the answers to the questions« {Graesser 1985, S.4). Dillon {1990) präzisiert diesen Frage-Antwort-Modus, »that which is in question is not actually the question itself as asked ... Something eise is in question, such as the student's demonstration of knowledge of the answer and the teacher's appreciation that the student knows the answer in some way ... The answers ... are foreknown by the teacher ... and not only are right or wrong, but also they are pre· determined to be right or wrong« {S.12). - Diese beiden für unsere weitere Diskussion kritischen Frage-Antwort-Modi sollen als »wissensuchende Frageinhaltliche Antwort« und »Vorauswissende Frage- wissendemonstrierende Ant· WOrt« bezeichnet werden.* Die typischen (vorauswissenden) Lehrerfragen werden, da im schuldisziplinär organisierten Gruppenunterricht der Lehrer die gesamte Klasse unterrichtet, im Prinzip an alle Schüler gleichzeitig gestellt: »Üne of the distinctive features of classroom questioning is that many people are asked questions all at once by one other person« (Dillon 1990, S.8). Dies erfordert - da nicht alle Schüler auch gleichzeitig antworten können - eine klassenspezifische Organisierung der Antwortreihenfolge. Mehan {1977) hat diese interpersonale Organisationsform eingehend analysiert und dabei {wie schon erwähnt) als »turn allocation« (etwa »Zuweisung-des-An-der-Reihe-Seins«)
*In ähnlichem Sinne unterscheidet Wilhelmer (1989) zwischen »echten« und »Unechten« Fragen.
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bezeichnet. Er hebt an der schultypischen An der »turn allocation« bestimmte Züge heraus, die diese exklusiv von alltäglichen Formen der Gesprächsorganisation unterscheidet: Während im außerschulischen Alltag normalerweise der jeweils aktuell Sprechende (indem er sich auf irgendeine Weise an diesen wendet) das Won an einen anderen Anwesenden weitergibt, nimmt der Lehrer im Klassenraurn-Gespräch dadurch eine zentrale Position ein, daß er - nachdem ein bestimmter Schüler gesprochen hat - das Wort jedesmal an sich zieht, die Schüler zum Sich-Melden auffordert, und sodann selbst den nächsten Sprecher mit Namen aufruft: ,.Jn fact, the individual nomination, invitation to bid, and invitation to reply procedures can be seen as specific practices by which the teacher, as current speaker, selects the students as next speaker. The participants' almost exclusive reliance on bis particular turn- allocation practice maintains lesson control in the teacher's hands. This choice helps her actualize her utilitarian concern for order in the classroom« (Mehan 1977, S.191). Man kann sich die Spezifik dieser Prozedur noch verdeutlichen, wenn man sie mit dem bei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen, Gremiensitzungen, (manchmal auch in Universitätsseminaren) üblichen Benennen eines Diskussionsleiters, der eine Rednerliste führt und die Anwesenden nach der Reihenfolge ihrer Meldungen aufruft, vergleicht: In der schultypischen Organisation der Frage-Antwort-Reihenfolge ist der Lehrer an keine Rednerliste (oder sonstige Verabredung, wann ihm das Wort zukommen soll) gebunden, sondern nach jeder Schülerantwort automatisch wieder »an der Reihe«. Weiterhin gibt es hier keinerlei Regeln, nach denen der Lehrer den jeweils nächsten Schüler aufzurufen hat. Auch das »Melden« (wohl heute immer noch meist durch Hochstrecken des ganzen Armes und zusätzlichen Schleuderbewegungen der Hand mit Fingerschnippen) konstituiert kein Recht, »drangenommen« zu werden, sondern dient dem Lehrer nur als zusätzliches Kriterium, um zu entscheiden, ob er jemanden aufrufen will, der demonstriert, daß er die Antwort weiß, oder lieber jemanden, der nicht »drankommen« will. Die Schülerinnen/Schüler ihrerseits haben weder eine legitime Möglichkeit, zu monieren, daß sie übergangen wurden, noch, auf das Wort zu verzichten (sich »von der Rednerliste streichen zu lassen«). Der Umstand, daß im Klassenraurn-Diskurs die Gesprächsführung total der Willkür eines Beteiligten überantwortet ist (was man außerhalb der Schulklasse kaum irgendwo tolerieren würde), läßt sich keineswegs aus dem pädagogischen Auftrag des Lehrers rechtfertigen, sondern ergibt sich im Schuldisziplinären Kontext daraus, daß hier die Lehrerfragen ja in die geschilderte Bewertungssequenz einbezogen sind: So muß es schuloffiziell ihm überlassen bleiben, von wem er unter welchen Bedingungen die Schülerantworten als Grundlage für deren Bewertung abfordert (s.u.).
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Aus der Reflexion der Handlungsgründe des Lehrers vom Standpunkt der Schülerinnen/Schüler, die in solche unterrichtsspezifischen Frage-AntwortBewertungs-Prozeduren einbezogen sind, folgtangesichtsder hier bestehenden Prämissenlage begründungslogisch konsequent, daß der Lehrer am Inhalt meiner Antwort nicht interessiert sein kann: Er erfährt daraus ja (bestenfalls) etwas, das er schon weiß/kennt. Das Interesse des Lehrers gilt vom Schülerstandpunkt vielmehr meiner Demonstration eines Wissens, über das der Lehrer bereits verfügt und das er zur Grundlage für die Bewertung meiner Antwort nimmt. Demgemäß erhalte ich typischerweise vom Lehrer auch keinerlei Rückmeldung zum Inhalt meiner Antwort, sondern nur die (wie immer kommunizierte) Reaktion ,.falsch« oder »richtig«. Dies bedeutet aber nun, daß auch ich (als Schülerin/Schüler) mich für das in der Lehrerfrage angesprochene inhaltliche Problem nicht interessieren muß. Vielmehr ist es für mich angesichts der hier vorliegenden Handlungsprämissen allein (aus meinen Verfügungs-/Lebensinteressen) begründbar, mich daran zu orientieren, was der Lehrer jeweils für eine »richtige« Antwort hält, was er also von mir »hören« will, womit er ,.zufrieden« ist {vgl. dazu Ulmann 1991). Somit sind unter solchen Prämissen Lernaktivitäten für mich nur soweit begründet, wie sie zu meiner demonstrativen Antwort im Sinne der Lehrererwartung unerläßlich sind, werden aber in dem Maße überflüssig, wie ich den Lehrer auf andere Weise, nämlich durch bloße Wissensvortäuschung, zufriedenstellen kann: dies die für defensiv begründetes Lernen typische Tendenz zur Reduktion von Lernproblematiken auf bloße Handlungsproblematiken. Die Täuschung liegt dabei für mich hier begründungslogisch noch besonders nahe, da es von meinem Standpunkt für den Lehrer, da er am Frageinhalt nicht interessiert ist, letztlich egal sein muß, ob ich das erfragte Wissen tatsächlich »habe« oder lediglich demonstriere; nur aus dieser von mir wahrgenommenen Gleichgültigkeit des Lehrers gegenüber der Differenz zwischen Wissen und dessen (bloßer) Demonstration ist es zudem verständlich, daß der Lehrer daran, auf welche Weise ich zu meinem Wissen gekommen bin (und woraus ggf. dessen Mängel zu erklären sind)- wie aus der unterrichtlichen Gesprächsorganisation hervorgeht - grundsätzlich desinteressiert sein müßte. Sofern der Lehrer tatsächlich Interesse zeigt, im einzelnen herauszufinden, warum ich etwa bestimmte Zusammenhänge nicht begriffen habe, um mich beim Suchen einer adäquaten Lösung pädagogisch unterstützen zu können, so überschreitet er damit wiederum tendenziell seine schuldisziplinäre Funktion, und es wird von den jeweiligen konkreten machtökonomischen Konstellationen abhängen, wieweit ich als Schülerin oder Schüler ihm dies abnehme, oder mich »Vorsichtshalber« lieber weiterhin bedeckt halte.
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Aus alldem ergibt sich, daß das offizielle Unterrichtsritual- vorauswissende Lehrerfragen, demonstrative Antworten und deren Bewertung nach dem Muster unterrichtsspezifischer »turn allocation« - von Schülerseite quasi begründungslogisch notwendig durch das traditionelle kollektive Täuschungsritual konterkariert ist, durch welches »richtige« Antworten zur Zufriedenstellung des Lehrers produziert werden sollen: dies nicht nur als Vorsagen, Spickzettel-Benutzung, Zuschieben von Zetteln oder aufgeschlagenen Büchern durch Mitschüler, etc. nach dem Aufruf durch den Lehrer, sondern auch schon durch Manipulation der »turn allocation« selbst: Sich-hinter-dem-Vordermann-Verstecken, besonders »demonstratives« Sich-Melden, Vorspielen aufmerksam-kooperativer Zuwendung (•Ein-schlaues-Gesicht-Machen«), »Fehlt!«-Rufe von Mitschülern, Antwort durch einen anderen Schüler (in der Hoffnung, daß der Lehrer dies nicht merkt) etc. Dem Lehrer ist die Tatsache solcher Täuschungsmanöver natürlich bekannt, aber er hat Gründe zum Einschreiten nur, wenn die Täuschung so auffällig und ungekonnt vorgetragen ist, daß er sie bemerkt haben muß- ansonsten gehört dies als Aspekt des »verdeckten Verhältnisses« zwischen Schule und Schülern zum untergründigen Konsens im Chaos des Schulalltags. - Über die gegenwärtige Verbreitung und Ausprägung solcher Täuschungsarrangements kann ich - da es sich dabei um ein nur aktualempirisch zugängliches Phänomen handelt hier natürlich keine Angaben machen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß (sofern hier der schuldisziplinäre Rahmen nicht überschritten ist) selbst Antworten, die ein Schüler ohne fremde Hilfe und ohne •unerlaubte<< Hilfsmittel gibt - da er sich dabei nicht (primär) am Gegenstand, sondern an der Lehrererwartung orientiert und sein Wissen nicht sachgerecht einbringen, sondern bloß demonstrieren muß - eine Art von Täuschungselement enthalten, das ggf. auch in seine defensiven Lernaktivitäten zur Vorbereitung auf die Beantwortung der Lehrerfragen eingeht (welche Worte hater-der Lehrerbenutzt, wie denkt er wohl darüber o.ä., also: was wird er hören wollen?). Aus der geschilderten, für den Schulunterricht typischen Frage-AntwortBewertungs-Sequenz ergibt sich vom Schülerstandpunkt, auf was die hier gestellten Fragen sich allein beziehen können. Es muß sich dabei um etwas handeln, das man (also auch der Lehrer) endgültig »wissen« kann, so daß eine darauf bezogene Antwort eindeutig als »richtig« oder ,.falsch« bewertbar ist: Entweder allgemein »anerkannte« Fakten oder »abgeschlossene Probleme• (in der Definition von Rainer Seidel, 1976, S.125ff), d.h. Probleme, für die es eine endgültige Lösung gibt, so daß für den Lehrer, der die Lösung kennt, mein Lösungsvorschlag daran als richtig oder falsch bemessen werden kann. Somit ist es von Schülerseite strategisch begründet, das hier implizierte schulische Weltbild bekannter Tatsachen und gelöster Probleme als globale
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Handlungsprämisse vorauszusetzen: Nur, wenn ich mich mit meinen Antworten in diesem Rahmen bewege, kann ich den Lehrer {soweit als Funktionsträger der Schuldisziplin betrachtet) befriedigen, also meine Abwertung und die damit verbundenen Bedrohungen vermeiden_ Das Problematisieren, In-Frage-Stellen, etc_ der vom Lehrer {gemäß den Vorschriften des Lehrplans) hypostasierten Fakten und Problemlösungen, etwa im Sinne »widersprechender Antworten« (vgL Michael Jäger 1985, $_56ff), würde dagegen u_D_ vom Lehrer zwar unter den Vorzeichen seiner pädagogischen Intentionen möglicherweise zunächst zugelassen, sogar begrüßt werden. Letztlich aber bliebe ihm in seiner disziplinären Funktion dennoch (dies eine weitere Facette der von ihm zu »lebenden« Widersprüche) nichts anderes übrig, als solche »Unplanmäßigen« Lebensäußerungen der Schülerinnen/Schüler, damit sie nicht ,.überhandnehmen« und außer Kontrolle geraten, doch wieder {und berechtigt) als »Störung des Unterrichts« einzustufen und deswegen leerlaufen zu lassen, abzuwürgen, zu unterbinden. So wäre auch in diesem Zusammenhang für mich der darin liegende mögliche Ansatz zu sachinteressiert-expansivem Lernen für die schulische Lebensbewältigung nur gebrochen verwendbar, risikobeladen und würde schließlich doch wieder auf defensives Lernen hin »wegnormalisiert«. Dies gilt (wider den ersten Augenschein) auch da, wo - etwa in höheren Klassen der gymnasialen Oberstufe oder im Abitur - in den Lehrplänen die Fähigkeit zum Problematisieren als •Erwartungshorizont« für die zu erbringenden Leistungen ausdrücklich vorgesehen ist: Was dabei als angemessene Problematisierung zu betrachten ist, welche alternativen Sichtweisen zugelassen sind, ist nämlich in den Lehrplänen, Unterrichtsbeispielen etc. mehr oder weniger eindeutig vorgeschrieben- und diesen (als sachangemessen, wissenschaftlich fundien o.ä.} hypostasienen Problematisierungsrahmen darf die Schülerin/der Schüler keinesfalls durch seine Antwon seinerseits problematisieren, wenn er nicht aus dem schulischen Bewenungsrahmen (als Richtschnur für die Möglichkeit/ Legitimität des Lehreruneils) herausfallen und damit entsprechende Sanktionen auf sich ziehen will. Pointien könnte man von da aus feststellen, daß wirklich wissenschaftliches, d.h. radikal problematisierendes Denken (und entsprechend expansives Lernen} eher zu schulischen Mißerfolgen fühn und deswegen (wo immer es sich hervorwagt} den Schülerinnen/Schülerndurch die disziplinäre Unterrichtsorganisation systematisch abgewöhnt wird.
Unsere bisherige begründungsanalytische Charakterisierung der schultypischen Frage-Antwort-Bewertungs-Sequenz läßt sich noch zuspitzen, wenn wir die in diesem Arrangement ausgesparte Schülerfrage in die Diskussion einbeziehen. Dabei ist zunächst allgemein der an dieser Stelle (für den unvoreingenommenen Betrachter) aufscheinende Widersinn zu würdigen: Ich {als Schülerin/Schüler) bin doch der offiziellen Lesart gemäß in der Schule, um zu »lernen«. So scheint es selbstverständlich, daß ich {gemäß dem
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hier einschlägigen Frage-Antwort-Modus, vgl. S.462) immer, wenn ich irn Zuge meiner Lernaktivitäten »ein Problem habe« und dazu •kritische Information« benötige, mich an den Lehrer, der über den jeweils thematischen Sachverhalt mehr weiß als ich, mit einer Frage wenden kann. Tatsächlich aber gehört die inhaltliche Beantwortung meiner dergestalt wissensuchenden Fragen nicht zu den unterrichtsorganisatorisch eingeplanten Aufgaben des Lehrers. Vielmehr muß vom Lehrer die Schülerfrage, da die unterrichtstypische Sequenz: Lehrerfrage, turn allocation, Schülerantwort, Lehrerbewertung, dadurch unterbrochen wird, -so gern er auch vielleicht im Rahmen seiner pädagogischen Intentionen darauf eingehen möchte - prinzipiell als potentielle Störung des Unterrichts eingestuft werden. Um mit dieser Störung umgehen zu können, verfügt der Lehrer - da (im Einklang mit der schulischen Bewertungstotalität) bewertende Stellungnahmen zu Schüleräußerungen im Zentrum seines disziplinären Repertoires der interpersonalen Unterrichtsregelung stehen - von seiner Funktion her stets über das Mittel, auch die Schülerfragen, statt sie einfach zu beantworten, wiederum erst einmal zu bewerten. Dabei ist die Bewertungsgrundlage hier soweit noch relativ eindeutig, wie die Schülerfrage als Ersuchen um Wiederholung, Verdeutlichung, Erläuterung der vorgängig gestellten Lehrerfrage - also als Nachfrage i.w.S. eingestuft werden kann: Hier bemißt sich die Berechtigung der Schülerfrage danach, wieweit ihre Beantwortung die Bewertbarkeit der anschließenden Schülerantwort optimieren könnte. Sofern sich die Schülerfrage jedoch genereller auf den behandelten Unterrichtsstoff bezieht, ergibt sich im Rahmen des geschilderten schultypischen Klassenraurn-Diskurses für den Lehrer als Resultat der Fragebewertung genau besehen nur die Alternative: »Das haben wir im Unterricht (noch) nicht behandelt, also brauchst Du es (noch) nicht zu wissen«, also anstatt einer Antwort ggf. eine Vertröstung auf später, oder »Das haben wir im Unterricht schon behandelt, also hättest Du es wissen müssen« (vgl. Ulmann 1991), d.h. eine Abwertung des Fragenden. Die inhaltliche Beantwortung der Schülerfrage wäre hier (da der Lehrer sich dabei wiederholen müßte) eine unterrichtsökonomisch ungedeckte, in sein Belieben gestellte Sonderleistung des Lehrers: In jedem Falle aber ist es für den Lehrer im Rahmen seiner Schuldisziplinären Funktion •naheliegend«, die Schülerin oder den Schüler, die/ der die Frage gestellt hat, für die sich darin dokumentierende Unaufmerksamkeit im Unterricht zu rügen (so u.U. den Schülereinwurf zu provozieren: da habe ich gefehlt!), vielleicht (gemäß einem gebräuchlichen Ritual) die an den Lehrer gestellte Frage an einen Mitschüler (der besser •aufgepaßt« hat) zur Beantwortung weiterzugeben (und damit die Zurückgebliebenheit des Fragenden hinter den anderen zu demonstrieren).
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Vom Standpunkt der Schülerionen/Schüler resultiert daraus, daß das Stellen wissensuchender Fragen im Unterricht mit einem spezifischen Risiko verbunden ist: Ich als Fragender gebe in diesem Modus ja schon dadurch, daß ich hier fragen muß, meine Unwissenheit mit Bezug auf den Frageinhalt kund. Dies aber kann für den notorisch •wertenden« Lehrer Anlaß dazu sein, das in meinem Wissenwollen implizierte Nichtwissen isoliert hervorzuheben und mich entsprechend abzuwerten. Die Art dieses Risikos verdeutlicht sich noch, wenn man das dargestellte verdeckte strategische Gegeneinander der Lehrer- und der Schülerseite in der Schulklasse berücksichtigt: Zwar mag es mir in bestimmten Konstellationen gelingen, durch mein Fragen beim Lehrer den Eindruck des Wissensdurstes und der Interessiertheit zu erwecken und damit gewisse taktische Vorteile zu erlangen (etwa den Lehrer von seiner nächsten Frage an mich abzulenken). Dabei besteht aber immer die in ihrem Ausmaß schwer abzuschätzende Gefahr, daß der Lehrer meine mit der Frage dokumentierte Unwissenheit seinerseits taktisch ausnutzt, mich also der Klasse •vorführt«, mir anstelle einer inhaltlichen Antwort lange ironische Belehrungen zuteil werden läßt (seht hin, er weiß das nicht!}, mich damit vor allen lächerlich machen will, etc: Dies als Variante der früher dargestellten Lehrer-Strategie, die verdeckte defensive Solidargemeinschaft der Schülerionen/Schüler durch Herausisolieren einzelner zu schwächen. Wissensuchende Fragen von Schülerionen/Schülern sind für ein solches strategisches Kalkül offenbar besonders geeignet, da die/ der Fragende sich in diesem Modus sozusagen freiwillig eine Blöße gibt und sich damit der K.ooperativität der Adressaten überantwortet: So muß ich als Schülerin/ Schüler, auch wenn der Lehrer gelegentlich auf den Inhalt meiner Fragen eingehen mag, immer damit rechnen, daß er mich bei anderer Gelegenheit - besonders in Situationen, wo er seine Position von der Klasse manifest angefochten sieht, es sich also (aus Schülersicht} nicht leisten kann, die Schwäche des Fragenden nicht auszunutzen- mich als Fragenden vor der Klasse bloßstellen wird. Mithin habe ich (als Schülerin/Schüler) gute Gründe, mit meinen wissensuchenden Fragen vorsichtig zu sein und sie im Zweifelsfalle lieber zu unterlassen: Mich bei der Kommunikation mit dem Lehrer fragend von meinen inhaltlichen Lerninteressen leiten zu lassen, ist eher leichtsinnig - ich sollte mir dies, um für mich nicht unnötige Bedrohungen heraufzubeschwören, besser abgewöhnen! Aus diesen Darlegungen über Lehrer- und Schülerfragen im Unterricht verdeutlicht sich unter einem bestimmten Aspekt der früher herausgehobene Umstand, daß das Lernen als eigenständige Lernhandlung der Schülerinnen/ Schüler in der Schuldisziplin keinen Platz hat: »Lernen« passiert ja gemäß dem schuloffiziellen Lehrlernkurzschluß- sofern die Schüler körperlich und
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mental dabei »anwesend« sind - automatisch durch den V nterricht (mit dem Lehrer als »Subjekt« des Lernens der Schüler). Die typischen vorauswissenden Lehrerfragen haben demnach mit dem Lernen nichts zu tun: Sie werden gemäß ihrer Funktion nur gestellt, wenn die Schülerinnen/Schüler bereits gelernt haben, also wissen (müßten). Aus den Antworten der Schüler darauf solllediglieb deren Leistungsdifferenz trotz gleicher Bescbulung als Grundlage für schulinterne und später -externe Laufbahnzuweisungen bewertbar werden. - Gleiches gilt für die Scbülerfragen: Diese sind vom Standpunkt der Schuldisziplin (wie gesagt) im Unterricht bestenfalls als Nachfragen, deren Notwendigkeit sich aus Aufmerksamkeitsschwankungen der dem Unterricht ,.folgenden• Schülerinnen/Schülern ergeben kann, tolerierbar. Als spontane wissensuchende Fragen stören sie dagegen- indem sie den Unterricht stören - auch den damit kurzgeschlossenen Lernprozeß der Schülerinnen/Schüler: Aus ihnen würde nämlich eine eigene Dynamik inhaltlicher Antworten und darauf bezogener weiterer Fragen erwachsen, womit dem (an Lehrplan und Pensum orientierten) Lehrer der Lehrlernprozeß aus der Hand zu gleiten drohte, also vorausgeplantes Lernen im Sinne der Schuldisziplin nicht mehr stattfinden könnte. Der Widerspruch zwischen der Relevanz des Fragens für menschliches Lernen und dessen Verkürzung und Beschneidung im Unterricht hat nun zu mannigfachen pädagogischen bzw. pädagogisch-psychologischen Versuchen geführt, das schulische Fragen zu emanzipieren und im Unterricht gemäß seiner Bedeutung zur Geltung zu bringen. Von unserer Konzeption aus gesehen findet man sich dabei im dargestellten Widerspruchsfeld zwischen disziplinären Zurüstungen und im Rahmen von Strategien/Gegenstrategien verbleibenden Spielräumen einerseits sowie zwischen der Schuldisziplinären Machtökonomie im ganzen und dem pädagogischen Auftrag der Schule andererseits. Dabei wenden wir uns zunächst den mannigfachen Versuchen zu, die
Lehrerfrage - über ihre bloße Funktion der Ermöglichung von Bewertungsakten des Lehrers hinaus - als selbständiges Mittel der Hervorbringung von Einsichten im Unterricht einsetzbar zu machen. Dies soll in didaktisch geplanter Weise innerhalb von Unterrichtsgesprächen erfolgen, durch welche, indem der Lehrer die auf seine Frage hin gegebene Schülerantwort in seiner jeweils nächsten Frage berücksichtigt, der Schüler schrittweise dazu gebracht wird, schließlich selbst die problemadäquate Antwort zu finden. Das Muster für einen derartigen »tutorialen Dialog« (vgl. etwa Piontkowski 1982, S.170ff) ist häufig der »sokratische Dialog• bzw. das »mäeutische« Verfahren als eine Art Geburtshelfer bei der Einsichtsgewinnung: Daraus werden dann
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bestimmte Fragesystematiken bzw. Gesprächsregeln abgeleitet, durch deren Anwendung der Lehrer beim Schüler Lernprozesse in Richtung auf die jeweils gesetzten Lernziele initiieren soll. In derartigen tutorialen Frage-Antwort-Sequenzen könnte die Lehrerfrage tatsächlich eine neue Funktion gewinnen, soweit hier nicht nur vorauswissend gefragt, sondern von der Schülerin oder vom Schüler ein Wissen eingeholt wird, über das nur diese(r) verfügen kann, nämlich das Wissen über ihren/ sei· nen gegenwärtigen Einsichtsstand, die vorhandene Vorinformation, die dabei auftretenden spezifischen Probleme etc. (wie etwa in den einschlägigen Frageregeln von Collins, 1977, in gewisser Weise vorgesehen). Mit einem solchen wissensuchenden Einschlag seiner Fragen hätte der Lehrer die Möglichkeit, im weiteren Frage-Antwort-Prozeß der Schülerin oder dem Schüler Hilfen zu geben, durch welche diese(r) im Unterricht selbst seine eigenen Lernproblematiken zu artikulieren und lernend zu überwinden versuchen könnte. In dem Maße, wie dieses Verfahren indes wirklich für den Unterricht bestimmend und damit den Schülerinnen/Schülernansatzweise expansives Lernen ermöglicht wäre, würde der Lehrer - indem er sich an seinem jeweils neuen, ihm aus den Schülerantworten zuwachsenden Wissen orientiert - den Unterrichtsverlauf mindestens partiell aus der Hand geben. Die Möglichkeit eines am Lehrplan ausgerichteten Unterrichts mit (fiktiv) antizipierbaren Lernresultaten würde hier also zumindest eingeschränkt - was einen ständigen Konflikt zwischen den Prinzipien des Unterrichtsverlaufs und den schuldisziplinären Planungsvorgaben einschließen müßte. Ein etwas genauerer Blick auf das Konzept des »tutorialen Dialogs« in seinen verschiedenen Varianten zeigt denn auch, daß dies so nicht gemeint also ein radikales Umdenken in Richtung auf eine (wirklich) schülerzentrierte Didaktik dabei nicht impliziert ist: Man geht hier - selbst da, wo wissensuchende Momente der Lehrerfragen in der einen oder anderen Weise benannt sind - durchgehend davon aus, daß das Ergebnis des Unterrichtsgesprächs stets schon prädeterminiert und dem Lehrer bekannt ist und der Schüler dabei nur - durch das didaktische Fragegeschick des Lehrers - selbst darauf kommen und es sich so in höherem Maße aneignen können soll. Das vorauswissende Fragen des Lehrers und das darin eingeschlossene Machtgefälle zum Schüler ist also in jedem Falle als dominanter Fragemodus hypostasiert - und damit die schuldisziplinäre Planung des schulischen Outputs letztlich nicht in Frage gestellt. Dabei spricht vieles dafür, daß durch die Art, wie hier der •sokratische Dialog« als Mo· dell zugrundegelegt ist, die Tendenz zur Ausrichtung des Unterrichtsgesprächs an den
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vorauswissenden Fragen des Lehrers keineswegs problematisierbar ist, sondern eher unterstützt wird: Danach soll im sokratischen Dialog (in der dabei meist unterstellten platonischen Deutung) der Befragte durch den Fragenden dazu gebracht werden, sich bewußt zu machen, was er (gemäß Platons Ideenlehre) •eigentlich« bereits weiß, wobei der Fragende (andernfalls könnte er den Befragten nicht darauf hinleiten) über dieses bewußte Wissen notwendig schon verfügt. Damit wäre- wie Bodenheimer (1984) in seinem Essay »Warum? Von der Obszönität des Fragens• am Dialog Menon (S.20ff) aufweisen will - die sokratische Methode in gewissem Sinne eine An von fragender Einkreisung des Befragten, bis ihm schließlich nichts übrig bleibt, als zuzugestehen: Der Fragende hat recht!, womit das Machtgefälle zwischen Frager und Befragtem (•Herr und Knechte) sich neuerlich bestätigen und zementieren würde. Das im Frageprozeß gelegentlich bekundeteUnwissendes Fragenden wäre in diesem Kontext nur vorgetäuscht, ein didaktischer Trick, um den Befragten zu verunsichern und damit seine Einsichtgewinnung voranzutreiben. - Dieses Verständnis der sokratischen Methode müßte natürlich unter umfassenderen Gesichtspunkten analysien werden (vgl. dazu etwa Apel1989, der die verschiedenen •Reflexionsdefizite« unterschiedlicher historischer Deutungen des •sokratischen Dialogs« am Maßstab der •Ausschaltung aller Motive außer dem des besseren Arguments•, S.65, kritisch diskutien): Im darauf Bezug nehmenden •tutoriellen Dialog• ist jedenfalls (in den mir bekannten Versionen) das Konzept der •unausweichlichen« Hinleitung des befragten Schülers zu dem vom fragenden Lehrer Vorausgewußten unverkennbar. Was als Einbeziehungvon Schüleraktivitäten in den Unterrichtsprozeß gedacht ist, würde sich demnach -unter den hier nicht reflektienen Voraussetzungen schuldisziplinärer Machtökonomieeher als das Gegenteil erweisen: Die Verlängerung der früher dargestellten schulstrategischen Einkreisungsbewegungen bis in die konkreten interpersonalen Lehrer-SchülerBeziehungen im Unterricht hinein. Eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit dieser sokratischen (oder sokratisch gemeinten?) Gesprächsführungstechnik mit dem früher dargestellten pädagogisch-psychologischen Konzept des •entdeckenden Lernens«, demgemäß die Schüler ebenfalls durch das Unterrichtsarrangementselbst auf das kommen sollen, was als Unterrichtsziel vorgegeben ist, scheint mir unverkennbar - wobei der Einsatz von Täuschungen des Schülers über den Wissensstand des Lehrers (wie an der früher dargestellten Untersuchung von Wonhen, 1973, demonstrien) donebenfalls zu den didaktischen Kunstgriffen gehön.
Nicht nur die V mstrukturierung der Lehrerfrage, sondern auch die systematische Einbeziehung von Schülerfragen in den Unterrichtsprozeß ist in verschiedenen Zusammenhängen gefordert worden. So räumte innerhalb der reformpädagogischen Bewegung (deren systematische Diskussion wir unswie erwähnt - im übrigen in diesem Buch versagen müssen) einer der Begründerder Arbeitsschule, Hugo Gaudig, der Frageaktivität des Kindes im Unterrichtsprozeß eine Schlüsselstellung ein. Ebenso forderte Wagenschein ein weitgehendes Fragerecht der Kinder im Schulunterricht. Copei charakterisierte seinen Entwurf der intellektuellen Erziehung mit dem Begriff ,.fragend-forschender Unterrichte. Geschichtlich gesehen ist in solchen Konzepten an eine andere, historisch (bisher) nicht durchgesetzte Art von Schule gedacht: Mit der organisatorischen Reproduktion der heute herrschenden
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Schule als Disziplinaranlage wäre (wie aus unseren früheren Darlegungen hervorgeht) ein Fragerecht der Schüler absolut unvereinbar; »Unterricht« im gebräuchlichen Sinne könnte unter dieser Voraussetzung nicht stattfinden. Systematisch gesehen können solche Konzeptionen mit dem gerade wieder erwähnten pädagogisch-psychologischen Konzept des »entdeckenden Lernens« im Sinne von Bruner in Zusammenhang gebracht werden (entsprechend hat Skowronek, 1973, die benannten reformpädagogischen Ansätze unter dem Thema »Das Prinzip des Entdeckens in der deutschen Didaktik« dargestellt). Die von uns aufgewiesene Problematik des Entdeckungsiemens - gelenkte Spontaneität mit vorgegebenem Unterrichtsziel unter fremdgesetzten Lehrlernbedingungen - läßt sich demgemäß auch an den Arbeiten ausmachen, in denen das Entdecken über die Zulassung von Schülerfragen transportiert werden soll. So sollen in einer stark beachteten Untersuchung von Suchman (1973) »die Kinder durch eine programmierte Folge von Problemen gelenkt« ... , •zwangsläufig die erregende Erfahrung selbständigen Entdeckens« machen (S.147). Dies soll dadurch bewerkstelligt werden, daß den Kindern ein bestimmter physikalischer Effekt vorgeführt wird und die Schüler hypothetische Fragen über dessen Zustandekommen stellen dürfen, die der Lehrer aufgrund seines Vorwissens mit •ja« oder •nein• beantwortet, bis das Kind auf diesem Wege schließlich herausbekommen hat, warum etwa ein ·bimetallischer Streifen•, von der einen Seite erhitzt, sich konkav, und von der anderen Seite erhitzt, konvex verbiegt und -in Wasser getaucht- wieder gerade wird (dies quasi eine Abart des •sokratischen Dialogs•, in welchem der Vorauswissende nicht die Rolle des Fragenden, sondern des Antwortenden übernimmt, um den Unwissenden auf ein prädeterminiertes Ergebnis hinzulenken). Demgegenüber analysiert Neber (1974) das Frageverhalten von Grundschülern in
nicht-definierten Situationen (Tafeln mit Elementen und Verknüpfungen von geringem Informationsgehalt), die auf unterschiedliche Weise strukturiert werden können, also kein »abgeschlossenes Problem« beinhalten. Der Versuchsleiter gibt den Schülern die Möglichkeit, mittels vorgegebener Frageklassen selbsttätig Wissen über diese Situationen anzufordern, womit die in den Fragen geäußerten jeweiligen Hypothesen von ihm bestätigt oder verworfen werden, womit jeder Schüler auf seine Weise Strukturmerkmale der Situation für sich aufschließen kann. Mit diesem Verfahren gelangen Neber tatsächlich weitergehende Einblicke in die spontanen kognitiven Strukturierungsaktivitäten der Schüler, und er kam von da aus zu einer Kritik an globalen Intelligenz- bzw. Fähigkeitskonzepten, in denen die wirklichen Prozeßvariablen des selbstgesteuerten Lernens eher verdeckt würden. Dennoch unterscheidet sich diese (wie mir scheint, sehr aufschlußreiche) experimentelle Studie insoweit nicht grundsätzlich von den sonstigen Untersuchungen zum Entdeckungslernen, als auch hier die gestellten Probleme nicht die der Schüler sind und die Resultate der Strukturierungsaktivitäten zwar nicht in ihrem genauen Resultat, aber (über die vorgegebenen Tafeln) hinsichtlich der Art der dabei zu erreichenden Ergebnisse vom Lehrer I Experimentator festgelegt sind.
Auch derartige pädagogisch-psychologische Untersuchungen zum fragenden Lernen sind (abgesehen von der geschilderten allgemeinen Problematik
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des Entdeckungslernens) im übrigen- wie die erwähnten reformpädagogischen Konzepte zum Fragen im Unterricht- nicht auf Unterrichtssituationen im Sinne der institutionellen Schuldisziplin beziehbar: ..Versuchspersonen« sind hier zwar •Schüler«, die Lernsituationen aber vom Experimentator gemäß seiner jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellung geschaffene Versuchsanordnungen: Dies versteht sich daraus, daß die hier provozierten Schülerfragen, selbst in ihrer Beschränktheit durch das Rahmenkonzept des Entdeckungslernens, mit der Schuldisziplinären Unterrichtsorganisation unvereinbar - und lediglich in von dieser gewährten pädagogischen Freiräumen möglich wären. Im ganzen gesehen wird in den beiden bisher diskutierten Ansätzen auf jeweils verschiedene Weise der Versuch gemacht, die schulorganisatorische Trennung zwischen •Lernen« und •Fragen« aufzuheben, indem das Fragen für das Lernen nutzbar gemacht wird: Im ersten Fall dadurch, daß der Lehrer durch seine Fragen selbständige Einsichtsprozesse beim Schüler initiieren will, im zweiten Fall dadurch, daß die Schüler durch Fragen vom Lehrer für ihren Lernprozeß relevantes Wissen anfordern können. Dabei werden das Vorauswissen des Lehrers und seine darin gegründete Bewertungsmacht aber nicht in Frage gestellt, womit die den Schülern scheinbar eingeräumte Möglichkeit, ihre eigenen Probleme lernend zu bewältigen, letztlich wieder zurückgenommen ist. - In dieser Hinsicht radikaler sind Ansätze, in denen die schultypische Frage-Antwort-Bewertungssequenz nicht nur nach innen ausgestaltet, sondern grundsätzlich problematisiert wird, so Dillons (aufgrund der Analyse von Unterrichtsprotokollen aus Versuchsklassen erarbeitetes} Konzept der Unterrichtsdiskussion mit der Einführung von Alternativen zur Frage/ Antwort als interpersonalem Kommunikationsmittel: Während nach Dillon (1990) im herkömmlichen Unterricht (den er •recitation• nennt) die •richtigen« Antworten prädeterminiert und vom Lehrer gewußt sind, wird in der .discussionc die jeweils angernesse Antwort gemeinsam gefunden: •After a student answers in recitation, we always hear ,right/ wrong' in so many words, and always from the teacher. In discussion we hear ,agree/ disagree', and we hear it from a student and/ or the teacher«. In '"··· recitation there is one and the same predetermined right answer for all students; in discussion there could be a different right answer for each student and even one right answerthat all students come up with, but not a predetermined right answer• (5.13). In der •recitation dass« ist gemäß diesem Konzept die Lehrerfrage zur Abprüfung plideterminierten Wissens unerläßlich. Zur Förderung des gemeinsamen Klärungsprozesses in der •discussion dass« haben sich dagegen nach Dillon andere Äußerungsweisen als für den Diskussionsfortschritt unter Beteiligung möglichst vieler fruchtbarer erwiesen, so etwa das »Statement• (in verschiedenen Ausprägungsformen), auf das normalerweise in längeren und komplexeren Beiträgen eingegangen werde als bei der Beantwortung einer
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Frage. (In die gleiche Richtung geht der Vorschlag von Bodenheimer 1984, bei theral?.eutischen Gesprächen das Fragen, mit welchem der Therapeut aus einer Position der Uberlegenheit sich selbst bedeckt hält und den Befragten tendenziell in die Enge treibt und bloßstellt, durch das •Sagen« zu ersetzen, mit dem man eigene Positionen einbringt, sich angreifbar macht und dem Partner überläßt, ob und in welcher Weise er dazu Stellung nehmen will.) Andere Alternativen zur Frage-Antwort seien, so Dillon, Kommentare, Metabemerkungen (etwa .dies ist eine gute Frage•), aber auch nach einem Gesprächsbeitrag zustimmend freundlich zu schweigen: in etwa drei Sekunden folge daraufhin erfahrungsgemäß ein weiterer Beitrag (S.l97). Zusammenfassend empfiehlt Dillon einem Lehrer, der in seiner Klasse eine gute Diskussion unter Beteiligung möglichst vieler Schüler initiieren will: .... use very few questions together with multiple alternatives to questioning« (S.236).
In Dillons Diskussionskonzept kann- da hier die Frage-Antwort-Bewertungssequenz aufgehoben ist- die diskutierende Gruppe (selbst wenn es sich dabei um eine zu Untersuchungszwecken dafür präparierte Schulklasse handelt) nur als Möglichkeit innerhalb pädagogisch »relativ autonomer« Freiräume gedacht werden, steht aber funktional außerhalb der diese dominierenden Schuldisziplin: Die von Mehan herausgehobene dreigliedrige Sequenz »Initiation --+ Reply --+ Evaluation« (deren Spezifizierung die FrageAntwort-Bewertungssequenz darstellt) beruht nämlich (wie wir früher zeigen wollten) keineswegs auf einer bloß gewohnheitsmäßigen Übereinkunft, die man mithin im Rahmen der Schuldisziplin durch eine andere Übereinkunft (etwa die Initiierung von Diskussionsklassen durch den pädagogisch aufgeklärten Lehrer) ersetzen könnte, sondern konstituiert die Reproduktion der disziplinären Schulorganisation auf der Ebene interpersonaler Beziehungen in der Klasse. Ihre Änderung wäre demgemäß gleichbedeutend mit einer Änderung der Funktion der Schulinstitution (unter Infragestellung ihres früher benannten Weltbildes bekannter Tatsachen und gelöster Probleme) in gesamtgesellschaftlicher Größenordnung. Wenn man dies übersieht, abstrahiert man von den aufgewiesenen Vermittlungsebenen: Schuldisziplinäre Bedeutungskonstellation, deren interpersonale Konkretion in der Klasse und darauf als Prämissen bezogene Handlungsbegründungen der Beteiligten. Was übrig bleibt, ist die früher diskutierte Verkürzung der sozialen Verhältnisse in der Schulklasse auf aktuelle Gruppenprozesse im Sinne des traditionellen sozialpsychologischen Ansatzes - womit einem auch auf diesem Wege der Forschungsgegenstand, die Schuldisziplin in ihrer historisch bestimmten gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit, verlorengegangen wäre. So hat sich also bei unserer Erörterung der angebotenen konzeptuellen Alternativen zur schuladministrativen Monopolisierung des Fragens auf vorauswissende Lehrerfragen bekräftigt: Perspektiven der Aufhebung der darin
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liegenden Trennung von Lernen und Fragen als Moment der Normalisierung schulischen Lernens auf defensives Lernen hin können nicht ohne die Perspektive einer Änderung der (dabei als Handlungsprämissen fungierenden) Schuldisziplinären Anordnungen sinnvoll diskutiert werden (was wir später, im letzten Teilkapitel, aufgreifen müssen).
Schuldisziplinäre Ignoranz gegenüber den immanenten Verlaufsformen expansiv-weltaufschließenden Lernens: Verwahrlosung schulischer Lernkultur Nachdem wir das schulische Lernen vom Standpunkt des Lernsubjekts unter verschiedenen Aspekten als tendentielle Normalisierung auf defensives Lernen hin diskutiert haben, soll dies nun in einem letzten Schritt der Reaktualisierung unserer (in Kapitel 3 ausgearbeiteten) lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit auf eine bestimmte Weise von der anderen Seite, nämlich vom Konzept des expansiven Lernens her, analysiert werden. Ich will aufzuweisen versuchen, daß die Schülerinnen/Schüler, wann immer sie sich, entgegen dem offiziellen Normalisierungsdruck, für ein inhaltliches Problem engagieren und dies in expansiver Weise als subjektive Lernproblematik übernehmen (wollen), sich dem weitgehenden schuloffiziellen Unverständnis hinsichtlich der zur Überwindung dieser Problematik subjektiv notwendigen mentalen Aktivitäten/Befindlichkeiten und aufzuschließenden Mittel gegenübersehen, wobei auch die Lehrer in ihren pädagogischen Intentionen von diesem Unverständnis betroffen sind, es aber gleichzeitig als Schulfunktionäre gegenüber den Schülerinnen/Schülernzur Geltung bringen müssen: Da die Schuldisziplin (wie dargestellt) den Schülerinnen/Schülern ein eigenes genuines Lerninteresse nicht zugesteht (also deren Lernen qua Lehrlernkurzschluß nur als abhängige Größe des Lebrens zu sehen vermag), kann sie auch die aus derart expansiven Lernaktivitäten sich ergebenden Haltungen, Ablaufsformen, Stufen, »inneren« Selbstverständigungsprozesse lernender Gegenstandsannäherung nicht zur Kenntnis nehmen. So muß der offiziellen Schuldisziplin der Umstand verborgen bleiben, daß sie durch die Art der Unterrichtsorganisation samt den darin einbeschlossenen interpersonalen Klassenraurn-Anordnungen etwaige eigene sachbezogene Lernbemühungen der Schülerinnen/Schüler sowie die Unterstützung dieser Bemühungen durch die Lehrer permanent behindert und stört. Die Schule als Lernstätte wäre auch unter diesem Aspekt mindestens genausogut als Stätte schulischer Lernbehinderung zu charakterisieren. Anders: In der offiziellen Schule wird die Erfahrungswelt des Lernens ignoriert und kann deswegen auch der Lernende als Lernender nicht respektiert werden.
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Nehmen wir an, ein vom Lehrer im Unterricht dargestelltes Problem hat mich (als Schülerin/Schüler) so nachhaltig betroffen und interessiert, daß ich es als meine Lernproblematik übernommen habe: Ich werde also in der dargestellten spezifischen Lernhaltung herauszufinden suchen, wo dabei meine Schwierigkeiten liegen (Herausarbeitung der Lerndiskrepanz und der relevanten Dimensionen der Gegenstandsannäherung), zu reaktualisieren, was ich darüber schon weiß und mir überlegen, in welchen allgemeineren Zusammenhang das Problem gehört (Aufdeckung tieferer Strukturebenen des Lerngegenstands) o.ä., dies alles in Erwägung bestimmter und Verwerfung anderer Möglichkeiten hin und her überlegend (inneres Sprechen, Gewinnung von Schlüsselfragen an mich selbst), um so die spannende Problematik wenigstens so weit für mich aufzuschließen, daß sie mir nicht wieder wegrutscht und ich mich später weiter darum kümmern kann etc. Dies heißt aber, daß ich mich damit schrittweise aus dem schuloffiziell vorgesehenen Unterrichtsarrangement hinausbewege und so Störungen und/oder Sanktionen von der Schul-/ Lehrerseite provoziere. Auf oberflächlichster Ebene gerate ich hier schon mit dem zeitdisziplinären 45-Minuten.:fakt der Schulstunde in Widerspruch: Es wird vielleicht gleich zur Pause klingeln, dann wird der Unterricht schlagartig abgebrochen (quasi der Ziegelstein fallen gelassen), Unruhe kommt auf, und meine initialen Klärungsbemühungen sind, bevor ich sie bewahren konnte, zerstört; falls ich in der Pause noch etwas auf meinem Platz bleiben und nachdenken (mir vielleicht ein paar Notizen machen) will, werde ich vom aufsichtsführenden Lehrer pflichtgemäß auf den Schulhof geschickt - und in der nächsten Stunde ist etwas total anderes dran. Viel gravierender ist es aber, daß sich im Zuge der Verfolgung meiner Lernproblematik, da ich ja nun innerlich damit zugange bin, unausweichlich meine Zuwendung zum weiterlaufenden Unterricht reduzieren muß. So kann ich die früher dargestellte (neben der körperlichen Anwesenheit) :Zentrale offizielle Voraussetzung für mein Lernen im Schulsinne, meine mentale Anwesenheit im Unterricht, gerade weil ich tatsächlich etwas zu lernen angefangen habe, nicht mehr erfüllen: Ich bin •unaufmerksam«, und der Lehrer hat, indem er für ein bestimmtes Problem mein Interesse wecken konnte, diese Unaufmerksamkeit selbst provoziert. Dies schließt ein, daß ich- wenn der Lehrer mich im Ablauf der »turn allocationcc aufruft- die Antwort schuldig bleiben muß: Ich habe (wie der Lehrer aus seiner Sicht konstatieren muß), •nicht aufgepaßtcc, vielleicht sogar- was der Lehrer bemerkt hat (und was für ihn der Grund war, mich •heranzunehmencc)- statt seinem Unterricht zu folgen, einen Moment nachdenklich aus dem Fenster geschaut: Also
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werde ich vom Lehrer geriigt und kassiere eine entsprechende Eintragung in sein Notizbuch (im Wiederholungsfalle ins Klassenbuch). Wenn ich dem Lehrer (was mir natürlich nicht einfällt) daraufhin wahrheitsgemäß antworten würde •tut mir leid, aber ich war noch mit dem beschäftigt, was Sie vorhin gesagt haben, soll ich Ihnen statt dessen mal erzählen, was für ein Problem ich damit habe?«, so wird dies von der Klasse u.U. als unbotmäßiger •Witz« mit Johlen begriißt, vom Lehrer aber im Rahmen des regulären Unterrichts als ,.freche Antwort«, •Unverschämtheit«, o.ä. neuerlich und schärfer geriigt und notiert werden müssen: Was außerhalb der Schule vielleicht der Anfang eines kooperativen Gesprächs, aus dem beide Gesprächspartner etwas lernen, hätte werden können, ist eben in der Schulklasse - da objektiv mit der Abhaltung des vorgeschriebenen Unterrichts nicht vereinbar - tatsächlich »Unmöglich«. Sobald wir den Aspekt hinzunehmen, daß (wie dargestellt) auf die Erweiterung des Gegenstandsaufschlusses gerichtete expansive Lernaktivitäten sich nicht auf die mentale Modalität beschränken lassen, sondern die Einbeziehungder kommunikativen Modalität (vgl. S.301ff) erfordern, lassen sich für die benannten expansiven Lernbemühungen im Unterricht weitere Komplikationen vorhersehen. Falls ich etwa an einer bestimmten Stelle festsitze, aber vermuten kann, daß ein anderer dariiber etwas weiß und mir weiterhelfen würde, so ist hier aus der Sachlogik des Lernprozesses heraus eine verbale Kontaktaufnahme konstituierender Bestandteil weiterer Gegenstandsannäherung. Wenn ich (als Schülerin/Schüler) aber über diesen Punkt (so leise wie möglich) den Schulkollegen neben mir in ein Gespräch zu ziehen versuche, so •schwätze ich mit meinem Nachbarn«: dies für den Lehrer ein neuerliches, u.U. sogar im Zeugnis zu vermerkendes Zeichen meiner Unaufmerksamkeit. Also eine entsprechende wissensuchende Frage an den Lehrer stellen? Selbst wenn ich mich dazu ordnungsgemäß melden und warten würde, bis ich aufgerufen werde, kann der Lehrer normalerweise eine solche Frage nicht zulassen und beantworten - dies auch dann nicht, wenn er daraus gemerkt hätte, daß ich was kapiert habe, und er mir eigentlich gerne weiterhelfen würde: Wenn er sich in dieser Weise auf die expansiven Lerninteressen seiner Schülerinnen/ Schüler einließe (was dem einen recht ist, ist dem anderen billig), verlöre er die Klasse unweigerlich aus dem Griff, so daß die schuldisziplinär vorgesehenen (fiktiven) Lehrlernprozesse und Bewertungen nicht mehr möglich wären. Wenn wir nun (neben der mentalen und der kommunikativen) auch die dritte, objektivierende Modalität lernenden Weltzugangs (vgl. S.301ff) in unsere Überlegungen einbeziehen, so ergeben sich noch weitergehende Einblicke in die Formen schuladministrativer Behinderung des expansiven, entwickelnd-
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sachinteressienen Lernens der Schülerinnen/Schüler: Aufgrund der zentralen schuldisziplinären Strategie der Vereinzelung der Schülerinnen/Schüler als Garantie •vergleichbarer« und »einheitlicher« Bewenung ist in allen bewertungsrelevanten Konstellationen nicht nur der Kontakt zwischen diesen offiziell unterbunden, sondern sind auch die im Unterricht und bei Prüfungen erlaubten Hilfsmittel weitgehend reduzien und bestenfalls in minimalem Ausmaß in für alle uniformer Weise zugelassen (,jeder einen Duden'). In diesem Zusammenhang erinnern wir an unsere früheren ausführlichen Darlegungen, mit denen wir (in Kritik an der traditionellen Auffassung von •Gedächtnis« als bloß individuellem Besitz) aufweisen wollten, daß man nur in dem Maße tiefes und nachhaltiges Wissen über einen Lerngegenstand gewinnen kann, wie man im Lernprozeß übergreifende Verweisungszusammenhänge mentalen, kommunikativen und objektivierenden Inhalts- und Quellenwissens herzustellen bzw. aufzuschließen vermag. Dazu gehören nicht nur der Aufbau/ die Nutzbarmachung spezifischer Kommunikationsmöglichkeiten mit den einschlägig Kundigen, sondern auch die Schaffung einer durchschaubaren und verfügbaren Organisation der zur lernenden Weltaufschließung erfordenen gegenständlichen Mittel und Quellen. Auf diesem Hintergrund tritt mit aller Deutlichkeit hervor, auf wie rigorose und systematische Weise die Schülerinnen I Schüler im schuldisziplinär formienen Unterricht von dem Aufbau und der Nutzung eines derartigen modalitätsübergreifenden Inhalts- und Quellenwissens abgeschnitten sind. Sogar mit dem benannten Zur-Verfügung-Stellen von für alle gleichanigen Hilfsmitteln sind die Erfordernisse lernenden Gegenstandsaufschlusses quasi auf den Kopf gestellt. Dies gilt auch für alle vom Lehrer eingebrachten Unterrichtsmedien, Tafeln, Projektionen oder gar multimedialen Anordnungen. Zu expansiven Lernaktivitäten gehön nämlich, daß ich im Zuge des Lernfortschritts mir selbst eine dem Inhalt der Lernproblematik gemäße Struktur von Informationsmöglichkeiten und Quellen aufbaue, die im weiteren eine sinnvolle Nutzbarmachung des jeweils bereits Gelernten ermöglicht. Indem hier über die zu verwendenden Mittel, Quellen und Medien normalerweise der Lehrer vorentscheidet, wird den Schülerinnen I Schülern ein weiteres Mal bekundet, daß dieser das eigentliche Subjekt ihrer Lernprozesse ist und daß ihre eigenen Lernproblematiken und die von da aus für sie jeweils notwendige individuelle Organisation ihrer Mittel/Quellen hier nicht interessieren. Im ganzen bedeutet dies, daß die Schule, um ihrer offiziellen Funktion gemäß vergleichbare und einheitliche Leistungsbewenungen zu ermöglichen, aufgrund der dazu erforderlichen Vorkehrungen (mindestens) in Kauf nimmt, daß die Schülerinnen/Schüler beim lernenden Aufbau eines sinnvollen und verfügbaren Weltbezuges (als Qualität ihrer •personalen Situiertheit«) zentral behindert werden.
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Darin tritt wiederum die schon öfter benannte Ähnlichkeit zwischen den traditionellen experimentalpsychologischen und den Schuldisziplinären Anordnungen hervor: Die Individuen werden hier gleichermaßen, um sie zu Elementen von Verteilungen zu machen, (zur Kontrolle von Störfaktoren) von ihren individuellen Beziehungen und Mitteln isoliert. Die von außen eingeführte Bedingung, deren Wirkung dadurch kontrollierbar werden soll, ist in einem Falle das experimentelle Treatment (die unabhängige Variable), im anderen Falle der Unterricht; der Output ist in einem Falle die statistische Verteilung der Daten, im anderen Falle die Verteilung der Noten in der Klasse. Das (fiktive) Ziel ist in beiden Fällen die Vorhersagbarkeit/Planbarkeit des Verhaltens der vereinzelten, beziehungs-und mittellos gemachten bzw. gedachten Individuen (als dergestalt abhängigen Größen).
Art und Funktion der schuldisziplinären Störung der subjektiven Voraussetzungen und Implikationen expansiver Lernprozesse der Schülerinnen/ Schüler werden in zugespitzter Weise deutlich, wenn wir einerseits die von uns früher ausführlich diskutierte essentielle Relevanz affinitiven Lernens für die Gewinnung lernenden Weltaufschlusses in Erinnerung rufen und andererseits verdeutlichen, wie man dies durch die Art der schulischen Unterrichtsorganisation radikal ignoriert. - Die funktionale Notwendigkeit affinitiver Lernphasen ergibt sich im Grunde schon aus unserem Verständnis des Lernens als Versuch der Überwindung subjektiver Lernproblematiken: Sofern in entsprechend restriktiven Situationen der thematische Inhaltsbezug des Lernens zurückgedrängt ist und die lediglich operative Realisierung fremdgesetzter Ziele dominant wird, kann (wie dargestellt) der Schein entstehen, als ob man menschliche Lernprozesse (etwa mit den Mitteln der Tätigkeitstheorie und Handlungsregulationstheorie) als eindimensional intendierte Zielantizipation und -annäherung im »Durcharbeiten eines Lernplans« (Dulisch) o.ä. modellieren kann. Bei Akzentuierung des thematischen Lernaspekts wird hingegen die Verkürztheit und Verkehrtheit dieser Vorstellung erkennbar. Da hier die versuchte Bewältigung der jeweiligen Lernproblematik mit der Explikation der dafür relevanten Dimensionen des Lerngegenstands zusammenfällt, muß das, was dann sekundär zum operativen Lernziel gemacht werden kann, (wie dargestellt) zuallererst im Lernprozeß selbst über die Analyse emotionaler Komplexqualitäten allmählich aus dem Gegenstand herausgeholt werden. Thematisch dominiertes expansives Lernen ist dem· nach - als Herausarbeitung der problematischen Gegenstandsdimensionen immer auch ein Prozeß der Vermeidung von Einseitigkeiten, Fixierungen, Verkürzungen, Irrwegen, Sackgassen beim Versuch der Gegenstandsannäherung. Dies wiederum kann nicht durch eine angespanntere operative Lern· planung und konsequentere Zielverfolgung o.ä. gelingen - damit geriete man notwendig immer mehr in die benannten Einseitigkeiten, Fixierungen etc. hinein. Vielmehr ist dazu (schon beiminitialenVersuch einer Aufschlüsselung meiner Lernproblematik, und dann immer wieder, wenn ich mich mit
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meinen Lernanstrengungen verrannt habe, insbesondere aber bei qualitativen Lernsprüngen als Gewinnung eines neuen Lernprinzips) eine quasi gegensinnige Lernbewegung erfordert. Dies ist eben jene (vorübergehende) Oefixierung, Distanz- und Überblickgewinnung, Zurücknahme, Besinnung, die wir (im Anschluß an Galliker) als affinitives Lernen bezeichnet haben: Die Zulassung von Verweisungsreihen (Verwandtschaftsbeziehungen, Ähnlichkeitsabstufungen, Vergangenheitsbezügen, pragmatischen Erst-Dann-Beziehungen o.ä.), aus denen die innere Ordnung der modalitätsübergreifenden Bedeutungsverweisungen, in die der Lerngegenstand einbezogen ist, hervorgeht -so daß ich (auch in rückbezogener Kritik) meine weiteren, wiederum bewußt gesteuerten »definitiven .. Lernaktivitäten in einem umfassenderen Zusammenhang aufgreifen kann. Das damit gekennzeichnete Abwechseln affinitiver und definitiver Lernphasen ist (wie dargestellt) keineswegs ein arbiträres Merkmal, sondern konstituierendes Moment der Lernhaltung expansiven Gegenstandsaufschlusses. Zur Diskussion der Frage, wieweit solche affinitiven Lernphasen durch die Schuldisziplin behindert werden, könnte man zunächst darauf verweisen, daß den Schülerinnen/Schülern hier ja generell die Verfügung über Lerninhalte entzogen sei, da diese Inhalte über die Lehrpläne vom Lehrer im Unterricht vorgegeben seien. Ihnen bliebe so von vornherein nur die Realisierung fremdgesetzter »Lernziele.. in dominant operativem, konsequentzielantizipativem Lernen: affinitive Lernphasen im Kontext thematisch dominierten Lernens seien deswegen hier weder möglich noch nötig. Nun haben wir zwar früher mehrfach aufzeigen können, daß vom Standpunkt der Schuldisziplin (und ihrer Wissenschaft) tatsächlich der thematische Aspekt des Lernens in verschiedenen Kontexten verleugnet und so (im Einklang mit dem Lehrlernkurzschluß) schulisches Lernen mit operativ-zielbezogenem Lernen gleichgesetzt ist. Dabei wird gerade in den geschilderten reformerischen Konzepten zum entdeckenden Lernen o.ä. die Abwendung vom Inhaltsbezug des Lernens und Akzentuierung des Erwerbs von bloß operativen Problemlösefähigkeiten paradoxerweise noch als besonderer Fortschritt in Richtung auf die Weckung der Neu- und Wißbegierde der Kinder gefeiert (vgl. S.423). Jedoch darf man (wie dargelegt) keineswegs daraus schließen, daß vom Standpunkt des entöffentlichten Lernsubjekts expansivinhaltsbezogenes Lernen in der Schule nicht dennoch möglich sei: Vielmehr wird sich dieses (zumal vom Lehrer im Rahmen des von ihm übernommenen pädagogischen Auftrags dazu mannigfache Anregungen ausgehen werden) -da aus den Verfügungs-Lebensinteressen der Schülerinnen/Schüler begründet - als eigentliches Lernen gegen seine schuloffizielle Wegleugnung immer wieder durchsetzen, was zu den geschilderten vielschichtigen Widersprüchen
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führen muß. Somit gehört auch die Ermöglichung affinitiver Lernphasen zu den subversiven Lerninteressen der Schülerionen/Schüler wie der Lehrer, und die Schulseite muß dem im Kontext ihrer machtökonomischen Strategien zu begegnen suchen. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt die verschiedenen Dimensionen schuldisziplinärer Anordnungen und Strategeme überblickt, so zeigt sich, daß den dargestellten, i.w.S. Zeitdisziplinären Konstellationen und Vorschriften (über ihre generelle Funktion der Normalisierung auf defensives Lernen bzw. Behinderung expansiven Lernens hinaus) gerade für die Eindämmung und Zurückdrängung affinitiver Lernphasen noch eine besondere Funktionalität zukommt - dies unter dem Aspekt, daß hier die Überwachung und Kontrolle nicht nur der äußerlich sichtbaren Aktivitäten, sondern auch der »Gedanken« der Schülerionen/Schüler in besonders effektiver Weise möglich scheint: Schon durch die elementare Zeiteinheit »Schulstunde«, die strengen Zeitvorgaben für Klassenarbeiten, aber auch die in der »turn allocation« enthaltene zeitliche Gliederung soll jede Schülerin und jeder Schüler auf die Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Zeit, damit ihre/ seine unablässige mentale Präsenz festgelegt werden: Wenn sie/ er auf irgendeine Weise »Zeit vertut«, zeitliche Rahmenbestimmungen überschreitet, gesetzte Zeitpunkte verpaßt, so hat dies aufgrund der Schuldisziplinären Organisation unmittelbare Auswirkungen auf ihre/ seine bewertbaren Schulleistungen mit den durch deren Abwertung gesetzten bedrohlichen Konsequenzen. So werden die Schnelligkeit des Auffassens und der Aufgabenbewältigung, die Kürze der Reaktionszeit bei der Anforderungserfüllung u.ä. schuldisziplinär zu einem inhaltlich nicht gedeckten, abstrakten Wert erhoben, der das Weiterkommen oder Zurückbleiben der Schülerionen/Schüler unmittelbar beeinflußt. Mit der Lockerung oder dem Anziehen der Zeitschraube (etwa in Klassenarbeiten) können, wie dargelegt, demgemäß die schulischen Selektionsbedingungen beliebig verschärft oder ermäßigt werden, und die Ausgrenzung von Schülerionen/Schülern aus dem normalen Klassenverband etwa in Förderklassen oder Sonderschulen begründet sich häufig wesentlich in der »Langsamkeit« der davon Betroffenen (wobei das Kriterium der Zeit· begrenzung typischerweise in den psychologischen Tests, mit denen ggf. die schulischen Selektions- bzw. Ausgrenzungsmaßnahmen zusätzlich unter· mauert werden, reproduziert ist). All dies dient keineswegs den Lerninteressen der Schülerinnen/Schüler, sondern direkt den organisatorischen Interessen der Schuldisziplin und im weiteren der Zurichtung der Schüler-/Schülerionen auf ihre Be- bzw. Ver· wertbarkeit.
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Außer in der Unterwerfung der Schülerinnen/Schülerunter ein gesetztes Zeitraster erscheint die schulische Zeitdisziplin auch als (versuchte) Synchronisierung der Schüler- mit den Lehreraktivitäten im Unterricht: Die mentalen Prozesse der Schülerinnen/Schüler sollen sich möglichst vollkommen den entsprechenden Intentionen des Lehrers anschmiegen. So soll der »Schüler«, indem er in pausenloser Aufmerksamkeit dem Unterricht folgt, stets auf dem Sprung sein, jeweils die Fragen zu beantworten, die der Lehrer im nächsten Moment stellen wird, an das zu denken, was der Lehrer gerade denkt, also eigene Impulse, Gedanken, Befindlichkeiten in ihrer immanenten Verlaufsform unterdrücken- besser: erst gar nicht haben. -Diese versuchte mentale Gleichschaltung dokumentiert sich auch in bestimmten unterrichtlichen Formen der Beförderung des Lehrlernens, wie etwa der (auch aus dem Berliner »Rahmenplan-Werk« ersichtlichen) Neigung zur Gleichsetzung des Lehrlernens im Unterricht mit dem »Oben« in verschiedenen Ausprägungen und Erscheinungsformen: Dabei werden die im Üben vollzogenen Wiederholungen (gemäß alltäglichen wie traditionell-psychologischen Auffassungen, s.u., S.249) - indem aus der Anzahl der Wiederholungen der Lernfortschritt direkt ablesbar scheint - als unmittelbares Vehikel des Lernens aufgefaßt. Damit scheinen die Lernaktivitäten der Schülerinnen/Schülerfür den Lehrer offenzuliegen: Er könnte demnach (im Prinzip) von Wiederholung zu Wiederholung verfolgen, wie diese »lernen.. , und Abweichungen von der linearen Beziehung zwischen Wiederholungszahl und Lernfortschritt der Unaufmerksamkeit der Schülerinnen/Schüler attribuieren. Mit den zeitdisziplinären Rastern und Synchronisationen werden die Schülerinnen/Schüler beim »Folgen« des Unterrichts quasi von diesem verfolgt: Ihnen soll keine Lücke, keine Luft gelassen werden, um an etwas anderes zu denken, abzuschweifen, sich zu entlasten, aus dem Felde zu gehen, sich dem Einfluß des Unterrichts körperlich und mental auch nur einen Moment zu entziehen. Dies wiederum wird bei den Schülerinnen/Schülern Ge nach Situation in unterschiedlichem Ausmaß) jene bekannten Ausweichund Entlastungsbewegungen hervorrufen, durch welche sie sich mit mannigfachen (individuellen und kollektiven) Gegenstrategien und -taktiken der Zumutung des pausenlosen Überwacht- und Eingekeiltseins durch den Unterricht direkt, oder wenigstens symbolisch, immer wieder zu entziehen trachten und die ihnen dann vom Lehrer als Schulfunktionär (in Wegleugnung des Umstands, daß er diese mittels Unterricht laufend selbst hervorruft) als individuelle Unbotmäßigkeiten bis Ordnungsverstöße attribuiert werden. All dies heißt aber, daß auch etwaige affinitive Lernphasen im Kontext sachinteressiert-expansiver Lernaktivitäten - da sie ja ebenfalls eine (wenn
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hier auch lernbezogene und voriibergehende) Entlastung von zielbezogen. operativ durchorganisiertem Lernen, ein produktives Abschweifen, Sichseinen-Gedanken-Überlassen bedeuten - von der offiziellen Schulseite gleichermaßen zeitdisziplinär unterdriickt, in ihren Äußerungsformen den geschilderten subversiven Ausweichbewegungen der Schüler zugeschlagen und entsprechend sanktioniert werden müssen. Genauer: Abstrakte Entlastungsbewegungen und affinitive Lernphasen (in verschiedenen Mischungen und Übergängen) führen, da ihre Existenz gleichermaßen schuloffiziell nicht zu. gestanden ist, vom Schulstandpunkt zu den gleichen »Unarten« bei den Schülerinnen/Schülern: Unaufmerksamkeit, Träumen, Herumbummeln, Den-Platz-Verlassen, Schwätzen, Unerreichbarkeit/Verstocktheit etc., und alle institutionellen Anordnungen und Maßnahmen der Schuldisziplin wirken unbarmherzig darauf hin, die Schülerinnen I Schüler wieder zur Ord· nung, auf Vordermann zu bringen, mit dem Lehrer zugewandtem, »aufmerk· samem« Gesicht auf ihrem Platz festzunageln und ihnen damit auch den letzten Rest eigenen Nachdenkensund Nachsinnens auszutreiben. Es ist in den Denkformen der Schuldisziplin offensichtlich radikal unvorstellbar, daß Schülerinnen I Schüler, die aussteigen, sich zuriickziehen, vorobergehend unzugänglich sind, »träumen«, den Raum verlassen, damit nicht notwendiger· weise den Unterricht stören und den Lehrer provozieren, sondern vielleicht nur mal in Ruhe gelassen werden wollen, um ein paar Dinge in ihrem Kopf klarzukriegen. (Wenn die offizielle Schulseite dies begreifen und institutionell beriicksichtigen, also den Schülerionen/Schülern die Luft zum Leben und Lernen lassen könnte, würden mit den Behinderungen affinitiven Lernens gleichzeitig die Bedingungen für das »abstrakte« Aussteigen jener Schülerinnen/Schüler, die gerade nicht unprogrammgemäß von einer Lernproblematik gefesselt sind, entfallen.) Von da aus verdeutlicht sich in zugespitzter Weise das aus der Entzweiung der Schule in einen öffentlichen und einen entöffentlichten Bereich erwachsende Grunddilemma der Schuldisziplin: daß nämlich - durch die schuloffizielle Lehrlernplanung und flankierenden Strategien - auf der Seite der Schülerionen/Schüler in immer wieder neuen Erscheinungsformen das Gegenteil erreicht wird: Widerständigkeit, Verweigerung, Täuschung etc. quasi als Rache (richtiger: als schulische Überlebensstrategien) derjenigen, deren su~ jektive Existenz man vom Standpunkt der Schuldisziplin ignorieren und mißachten zu können meint (wiederum richtiger: aufgrundder gesellschaftlichen Schulfunktion geplanten Outputs ignorieren muß). Mit der Verfeinerung der schulischen Planung bis zur versuchten zeitdisziplinären Gleichschaltung mentaler Prozesse der Schülerionen/Schüler erreicht man demgemäß keineswegs widerspruchsfreie »Folgsamkeit« im Unterricht, sondern spezifische körperliche und mentale Ausweichbewegungen, Aussteigen,
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Sich.:fotstellen, Sich-nach-innen-Zurückziehen, individuelle oder gemeinsame Manöver, um den Lehrer wenigstens vorübergehend von einem abzulenken, aber auch dauernd bedrohte Versuche, ohne oder gegen die Schuldisziplin Räume der Besinnung, der Distanz, des Überblicks zu gewinnen und sich so der disziplinären Vereinnahmung zu entziehen. Damit steht der Lehrer, je konsequenter er (pflichtgemäß) die Herrschaft über das Denken seiner Klasse anstrebt, in umso höherem Grade einer Vielfalt nicht »Zugelassener« subjektiver Impulse der Schülerionen/Schüler gegenüber, die alle nur eins gemeinsam haben: sich zu entziehen, um sich zu behaupten, mindestens nicht total unterzugehen. Da der Lehrer (wie gesagt), um seinen Unterricht abhalten zu können, dies - post festurn und prophylaktisch - immer wieder zu durchkreuzen und die Schülerionen/Schüler an die Kandare zu nehmen versuchen muß (mit neuerlichen, verfeinerten Widerstands- und Ausweichaktivitäten von Schülerseite im Gegenzug), resultiert daraus jene eingangs geschilderte halb verdeckte Unordnung, jene Mischung aus Streß, Überdruß, Mißtrauen, Druck, Bestechung, Feindseligkeit, Opportunismus, die den normalen Schulalltag grundiert (ich komme später noch in allgemeinerem Zusammenhang darauf zurück). So läßt sich am Kriterium der Ermöglichung affinitiver Lernphasen zugespitzt herausstellen, was mir (als Schülerin/Schüler) unter den Bedingungen der planenden, überwachenden, normalisierenden Schuldisziplin zum Lernen, wie es in meinem Interesse wäre, fehlt: Unbedrohtheit, Entlastetheit, Unbedrängtheit, Vertrauen und vor allem (was dies alles einschließt): Ruhe. »Das Wesen der Menschlichkeit entfaltet sich nur in der Ruhe«, sagt Pestalozzi 1826 (1976, S.63). Die Hilfe des Lehrers, die Mittel und Einrichtungen der Schule etc. könnten mir nur dann potentiell etwas nützen, wenn vor allem anderen diese Grundvoraussetzungen erfüllt wären, wenn ich also dadurch nicht permanent genötigt, belagert, in die Defensive gedrängt wäre, also aussteigen, vortäuschen, paktieren müßte, um zu überleben, sondern mich zum schulischen Angebot frei verhalten könnte. (Auch alle Erziehungswissenschaft und Didaktik dieser Welt bleibt nichtig, wenn sie nicht auf dieser Voraussetzung aufbaut.) Vor diesem Hintergrund imponiert die wirkliche Schule, die doch Lernstätte zu sein beansprucht, als Ort mitmenschlicher Verwahrlosung und darin Verwahrlosung der Lernkultur (vgl. dazu Zimmer 1987, S.376, und Rumpf 1987). Dabei ist (wie aus unseren früheren Darlegungen hervorgeht) die Änderung dieses Zustands nicht in das Belieben der Lehrer und Schüler gestellt: Man hat es dabei vielmehr mit der subjektiven Seite eben jener Schuldisziplin zu tun, die mit der Reproduktion ihrer eigenen gesellschaftlichen Funktionalität (der »gerechten« Zuweisung ungleicher Lebenschancen) die Verwahrlosung ihrer Lernkultur notwendig mitreproduziert.
4.4 Lernen über die Schuldisziplin hinaus
Vorbemerkung Nach dieser Zuspitzung stehen wir innerhalb unseres übergreifenden Darstellungsganges an der Schwelle, wo unsere Analyse schulischen Handeins unter der Dominanz der Schuldisziplin und der dadurch behinderten und zersetzten expansiven Lernmöglichkeiten der Schülerinnen/Schüler wie deren pädagogischer Unterstützung durch den Lehrer in die Diskussion von institutionellen Lernmöglichkeiten jenseits dieser Behinderungen umschlagen muß: Wie sind (falls es denn solche geben kann) diejenigen Bedingungs-/Bedeutungskonstellationen jenseits der Schuldisziplin (innerhalb oder außerhalb der Schule) in ihrer historischen Bestimmtheit zu charakterisieren, die typische Begründungsmuster ermöglichen, durch welche expansives Lernen als gegenüber Lernbehinderungen dominante Lernweise sich durchzusetzen vermag? Um dieser Fragestellung nachgehen zu können, müssen wir unseren methodologischen Ausgangspunkt ändern: Wir können die Analysen nicht mehr, wie bisher, am entöffentlichten Standpunkt der Schülerionen/Schüler als Lernsubjekten ansetzen, da die Entöffentlichung ja selbst als lmplikat der Schuldisziplinären Output-Planung und des dadurch induzierten Lehrlern· kurzschlusses aufgewiesen wurde, deren Beschränkungen wir jetzt gerade durchdringen wollen. Zwar müssen wir von unserer subjektwissenschaft· lichen Herangehensweise her auch zukünftig unsere Analysen vom verallgemeinerten Subjektstandpunkt aus realisieren, dieser Standpunkt und die von da aus sich eröffnende Perspektive müssen aber als außerhalb der Schuldiszi· plin angesetzt werden, da wir nur so Zugang zu den über diese hinausgehenden Lernmöglichkeiten finden können. Als ersten Schritt auf diesem neuen Wege ist zunächst das Verhältnis zwischen schulischem und außerschulischem Lernen, wie es sich in gängigen bzw. offiziellen Sichtweisen darstellt, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
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Statt »Schule« als privilegiert-universeller Lernstätte: Nebeneinander spezieller Lernsituationen mit unterschiedlicher Tiefenstruktur des Lerngegenstandes Dabei beziehen wir uns im folgenden auf diejenigen gängigen Vorstellungen, wie sie von uns schon ganz zu Anfang, in der Einleitung dieses Buches, als Implikate des offiziellen bzw. alltäglichen Denk- und Praxismusters der Schule als Lernstätte herausgehoben wurden: die weitgehende Gleichsetzung von richtigem, planmäßigem, effektivem Lernen mit schulischem Lernen: Dabei wird die Schule als legitime Lernstatt dem Alltagsleben (außerhalb der Schule} gegenübergestellt, die alltägliche Bewältigung von Aufgaben und Problemen wesentlich als Anwendung dessen, was in der Schule gelernt wurde, aufgefaßt und ein Versagen bei der Problembewältigung als ein Indiz dafür genommen, daß in der Schule nicht hinreichend gelernt wurde. Daraus ergibt sich der einfache Umkehrschluß: Da man tatsächlich über bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, müssen diese - mindestens aber ihre Voraussetzungen - in der Schule durch Lernen erworben worden sein. Ein solches Denkmuster der Übertragung von in der Schule Gelerntem auf den Alltag (•nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir«} ist innerhalb der traditionellen Pädagogischen Psychologie bzw. »educational psychology« im Konzept des •transfer oflearning« oder »training« theoretisch stilisiert. Hier wird als wesentliches Kriterium des Lernerfolgs die Transferierbarkeit des Gelernten auf andere Situationen definiert und operationalisiert, wobei die Frage, wovon es abhängt, wieweit schulisch Gelerntes auf außerschulische Situationen übertragbar ist, auch den allgemeinpsychologischexperimentell ausgerichteten Untersuchungen mehr oder weniger eindeutig zugrundeliegt. Die klassische theoretisch-experimentelle Bedingungsanalyse des Lerntransfer stammt von Thorndike, der in Kritik an dem um die Jahrhundertwende populären Konzept der schulischen »Formaldisziplinen« annahm, daß - je stärker verschiedenen Situationen spezifische Komponenten gemeinsam sind - um so eher ein •spread of improvement« von der einen auf die andere Situation zu erwarten ist (etwa 1913, S.397)- .Transfer von gemeinsamen Elementen«. Judd (1908) vertrat hingegen die Auffassung, daß -je allgemeiner das gelernte Prinzip sei- um so eher dieses Prinzip in neu zu lernenden Situationen wiedererkannt und angewendet werden könne •Transfer von Prinzipien«. Seither hat sich bis in die Ära der Kognitiven Psychologie hinein (vgl. etwa Sirnon 1980) eine Tradition empirischer TransferForschung gebildet, die über die alten Positionen und Kontroversen nicht wesentlich hinausgelangt ist. Dabei steht auch diese Forschungsrichtung m.E. eindeutig unter den Vorzeichen der offiziellen Gleichsetzung von Lernen
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mit administrativ planbarem Lehrlernen: Es soll herausgefunden werden, wie man bestimmte Lernsituationen vom Drittstandpunkt im Experiment bzw. in der Schule so gestalten kann, daß für jeweils angezielte Kriteriumssituationen möglichst optimale Transfer-Effekte vorhersagbar sind. Weiterführende Gesichtspunkte für die kritische Einschätzung der Transfer-Forschung sind in neuerer Zeit von der Sozialanthropologin Jean Lave beigesteuert worden, wobei die Frage, wieweit experimentellen bzw. schulischen Situationen hinsichtlich der Transferierbarkeit von Lerneffekten auf andere Situtionen eine bevorzugte Stellung eingeräumt werden kann, im Mittelpunkt der Erörterungen stand. Anband der Analyse von dreizehn repräsentativen Experimenten zum Lerntransfer arbeitete Lave (1988a, S.23ff.)- über den Aufweis theoretischer Unklarheiten, methodischer Schwächen und daraus resultierender uneindeutiger und uninterpretierbarer Befunde - grundsätzliche Ansatzmängel dieses Konzeptes heraus. Dabei diskutiene sie zwei Versionen des Transfer-Konzeptes: Die (wenn auch schon von Thorndike kritisierte, dennoch heute immer noch venretene) Vorstellung der schulischen Erwerbbarkeit von inhaltsentleenen Formalqualifikationen, die man (gerade wegen ihrer eigenen Inhaltsleere) auf beliebige Inhalte übenragen könne; und die (•funktionalistische•) Vorstellung, mit dem Lernen würden ..Werkzeuge« für die Problemlösung etc. erworben- gleichgültig ob man sich diese Werkzeuge in der Thorndike.:fradition als Fähigkeit zum Transfer von identischen Elementen oder in der Judd.:fradition von Prinzipien vorstellt: Mit der Werkzeug-Metapher sei nahegelegt, daß es keine Wechselwirkung zwischen Werkzeug und Situation gibt, sondern das Werkzeug unveränden auf verschiedene Situationen anwendbar ist. In beiden Fällen wird nach Lave die Situienheit und Kontextabhängigkeit jedes Lernens methodisch vernachlässigt und theoretisch wegabstrahien. Von da aus kommt Lave zunächst zu der Auffassung, daß das ,.learning transfer genre in cognitive studies offers little suppon for moving the study of activity out of the privileged and ostensibly constant setting of the laboratory« (1988a, S.43). Diese Überlegungen werden - indem dabei die auch von uns schon mehrfach angesprochene Parallelität zwischen psychologischem Experiment und Schule zugrundelegt wird - von Jean Lave und Mitarbeitern (in einer weiteren Arbeit) mit Bezug auf schulische Lernsituationen noch verallgemeinen, etwa, indem dafür plädien wird, »to take away the distinction inscribed by the putative gulf between school and the everyday world. The claim is that math in school is situated practice. School is the site of children's everyday activity; if it is different from activities children and adults engage in elsewhere, that makes school a site of specialized everyday activity - not a privileged site for universal knowledge giving« (1988b, S.l8). Generell kennzeichnet Lave die Schule, wie sie hier gesehen wird, als »aprivileged - noncontext«: In der damit pointienen Unterstellung, Schule sei als Stätte kontextunabhängigen, aber auf verschiedene Alltagszusammenhänge transferierbaren Lernens gegenüber dem Alltag ausgezeichnet, werde der Umstand mystifizien, daß diese selbst tatsächlich nichts anderes sei als eine Alltagssituation, damit ein •specialized setting« unter anderen (Lave, Smith, & Butler 1988).
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Wenn man diese Konzeption Jean Laves mit der von uns herausgearbeiteten Entzweiung der Schule in einen öffentlichen Bereich vom Standpunkt der Schuldisziplin und einen entöffentlichten Bereich vom Standpunkt der Schülerionen/Schüler in Zusammenhang bringt, so verdeutlicht sich: Die Vorstellung von Schule als privilegierter, auf den Alltag vorbereitender Lernstätte ist ein Bestimmungsmoment der offiziellen Ideologie administrativer Planbarkeit des Lernens; die Erfahrung von Schule als Alltagssituation charakterisiert dagegen die Schulrealität, wie sie vom (disziplinär entöffentlichten) Standpunkt der Schülerionen/Schüler tatsächlich jeden Tag zu bewältigen ist. Diese Differenz tritt noch schärfer hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Übertragbarkeit von schulisch Gelerntem auf Alltagssituationen ein Problem der Schuladministration sein mag, aber niemals zu einer unmittelbaren Lernproblematik vom Standpunkt der Schülerinnen/ Schüler werden kann. Die Handlungsproblematiken, aus denen u.U. Lernproblematiken ausgegliedert werden (müssen), sind vielmehr stets solche, die für die Schülerionen/Schüler in der Schule selbst virulent werden, also aus dem spezifischen Kontext der Schulsituation sich ergeben. Unser lerntheoretischer Ansatz an subjektiven Lernproblematiken und Laves Konzept der Situiertheit des Lernens heben demnach in dieser Hinsicht zwei Seiten des gleichen Problems heraus. Aus diesen Überlegungen folgt aber nun keineswegs, daß man in unterschiedlichen Lernsituationen nicht verschieden viel über andere Situationen lernen kann. Nur muß man, um dies verständlich zu machen, statt Ansätzen vom Standpunkt dritter Person wie das Transfer-Konzept Ansätze vom Subjektstandpunkt -wie unser früher (etwa S.221ff) dargestelltes Konzept der unterschiedlichen Flachheit.:fiefe von Lerngegenständen und der davon abhängigen strukturellen Verallgemeinerbarkeit des Gelernten - heranziehen. In dieser Sichtweise können wir einerseits bekräftigen, daß - wie jedes Lernen auch das schulische Lernen zunächst einmal der Bewältigung von Problemen, da wo sie entstanden sind, also hier von Schulproblemen, dient. Wir hätten dem jedoch hinzuzufügen, daß der Grad der damit erreichbaren Verallgemeinerungen sich sodann - wie angesichts jeder Lernproblematik innerhalb oder außerhalb der Schule- daraus ergibt, wieweit a) der mit einer Lernproblematik ausgegliederte Lerngegenstand in umfassende und »tiefe« Bedeutungsstrukturen einbezogen ist und wieweit b) diese Bedeutungskonstellationen in expansivem Lernen aufgeschlossen werden konnten. Unserer Konzeption nach besteht also kein Widerspruch zwischen Kontextabhängigkeit und Verallgemeinerbarkeit: Jede Situation ist kontextabhängig (darin unterscheidet sich die Schule nicht von Alltagssituationen), jede Situation (ob schulisch oder außerschulisch) ist aber in ihrer Kontextabhängigkeit gleichzeitig durch
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die mehr oder weniger ausgeprägte Tiefenstruktur des Lerngegenstandes spezifiziert: Von dieser je speziellen Tiefenstruktur und dem Grad ihrer Aufschließung in expansivem Lernen hängt es ab, wieweit das Gelernte nur auf isolierte Oberflächenbestimmungen beziehbar oder auf umfassende, •typische« gesellschaftliche Bedeutungskonstellationen hin verallgemeinerbar ist. Jede Lernproblematik ist demnach einerseits immer situationsspezifisch und erlaubt andererseits im lernenden Eindringen in den Bedeutungszusammenhang des damit ausgegliederten Lerngegenstands- quasi •durch« diesen •hindurch« - in Abhängigkeit von deren Tiefenstruktur unterschiedliche Verallgemeinerungsgrade. Man mag also den schon zitierten Gemeinspruch über den Sinn der Schule zunächst einmal getrost umkehren: •Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir«, wobei man dann allerdings hinzufügen müßte, daß die Schule doch wohl selbst zum Leben (zu was auch sonst?) gehört, und über die Verallgemeinerbarkeit von Lerngegenständen mit dem Hinweis, daß sie gerade in der Lebenssituation ·Schule« ausgegliedert wurden, für sich genommen nichts ausgesagt ist. Ihre Kritik an der Auffassung von Schule als eo ipso privilegierter Lernkonstellation hat Jean Lave (1988a} in ihrer groß angelegten Studie über (elementare) Mathematik in der Schule und in außerschulischen Situationen, wie im Supermarkt, in der Küche, bei der Berechnung einer Diät zur Gewichtsabnahme etc. in mannigfacher Weise empirisch konkretisieren können. Dabei verdeutlichte sich u.a., daß gute Leistungen in Schulmathematik keineswegs notwendig auch zu guten Rechenleistungen z.B. beim Einkauf im Supermarkt führen. Derartige Berechnungen folgen nämlich (nach Lave) einer spezifischen, den Verhältnissen im Supermarkt angemessenen Logik, wobei die hier relevanten Zahlverhältnisse auf mannigfache und zweckmäßige Weise mit typischen Sachverhältnissen in Beziehung gesetzt werden. Auf diesem Wege kommen auch •schwache« Schulrechner im Supermarkt zu praktisch fehlerfreien Kalkulationen. Der Umstand, daß sie dabei nicht »schulgerecht« vorgehen, ist vonseitender Schulmathematik (wie Lave darstellt) als generelle Fehlerhaftigkeit alltäglichen Rechnens interpretiert worden (wobei der Umstand, daß man dabei zu richtigen Ergebnissen kam, nicht weiter verunsichernd wirkte). So konnte Lave die Teilnehmer ihres Projekts (AMP • Adult Math Project) in ironischer Rede folgendermaßen einordnen: ..The participants of the AMP inhabit a world conventionally presumed tobe populated by faulty mathematicians« (1988a, S.6). Die Situationsspezifik von Rechenleistungen läßt sich noch überzeugender herausheben, wenn man das schulische Lernen von Mathematik selbst als situationsspezifisch begreift: Schülerinnen I Schüler lernen (so Lave) in der Schule nicht deswegen rechnen, um u.a. im Supermarkt, sondern um in der Schule zurechtzukommen, d.h. um (gemäß unserer Terminologie in defensivem Lernen) die Erwartungen des Lehrers zu erfüllen und so Mißerfolge und Blamagen zu vermeiden. Dies bedeutet aber, daß nicht nur im Supermarkt, sondern auch in der Schule von der offiziellen Schulmathematik abgewichen wird, nur hier aufgrund des speziellen situativen Kontexts in anderer Weise, nämlich zum Zwecke möglichst effektiver ·blame avoidance«.
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Welch verschiedene Erscheinungsformen deranige defensive Bewältigungsstrategien annehmen können, läßt sich an Unterrichtsbeobachtungen von Michael Hass demonstrieren, über die in einer anderen Arbeit (Lave, Smith, & Butler 1988) berichtet wird (vgl. dazu auch Holzkamp 1991, S.llf). Hier wurde die mathematische Praxis von 11 bilingualen spanischen Mädchen während einer dreiwöchigen Unterrichtseinheit über Multiplikation und Division eingehend dokumentiert. Die genauere Fragestellung ergab sich dabei aus dem Umstand, daß die Kinder nach den drei Wochen zwar die Erwartungen der Lehrerin voll erfüllten, aber - wie eine unabhängige Prüfung ergab - am Ende genau so wenig oder viel multiplizieren und dividieren konnten wie vorher. Die Erklärung für diese Diskrepanz lieferte die Beobachtung, daß die Kinder (denen Zusammenarbeit erlaubt war) während der drei Wochen mit Hilfe ihres bisherigen Repertoires Abzähl- und Umgruppierungsstrategien (auf der Ebene des Hinzutuns, Wegnehmensund Aufteilens) entwickelten, die zwar das Niveau des Multiplizierens und Dividierens im von der Lehrerin eingebrachten Sinne unterschritten, aber dennoch die Lösung der Aufgaben ermöglichten. Die Schülerinnen übernahmen also, wie in dieser Arbeit berichtet wird, nicht die von der Lehrerin angebotenen Multiplikations- und Divisionstechniken, sondern engagierten sich - um das Risiko falscher Antworten zu vermeiden - statt dessen in vertraute, improvisierte, kooperative Prozesse des Problemlösens. Dabei erweckten sie so vollkommen den Anschein, die Verfahrensweisen der Lehrerin benutzt zu haben, daß diese die richtigen Antworten als Beleg dafür betrachtete, also - wie gesonderte Interviews ergaben - gar nicht gemerkt hatte, wie diese Antworten tatsächlich zustandegekommen waren. Lave, Smith & Butler fassen diese Beobachtungen so zusammen: »Ün the basis of these descriptions it appears that, for the most part, such practice constituted cautiously out of known quantities. lt is aimed at success or at least survival in the classroom rather than focussed on deep understanding of mathematics. In more general terms: the everyday practice of math learning is a specialized activity, but not a privileged, value-neutral, decontextualized transmission of general knowledge. The dilemmas that motivate activity are ones of performance and blame avoidance to a strong degree. Learners must infer that the practice itself is of little value for the society, since they are taught by texts and evaluted by grades. There exists no legitimate field of practice other than the classroom itself ... «.
Subjektive Lernbiographien: Verhältnis lebensgeschichtlich {für mich) bedeutsamer Episoden expansiven l..ernens im schulischen und außerschulischen Kontext Da man (um die vorstehende Diskussion zusammenzufassen) keinen Grund hat, der Schule einen mythischen Sonderstatus als privilegiert-kontextfreie Lernstatt einzuräumen, sondern davon ausgehen muß, daß es nur kontextabhängige, also in diesem Sinne spezielle Lernsituationen gibt, ist schulisches Lernen dem Lernen in außerschulischen Situationen (in dieser Hinsicht) nicht als übergeordnet, sondern als gleichgeordnet zu betrachten: Es handelt sich im einen wie im anderen Falle um Lernen in alltäglichen Situationen mit von der Tiefenstruktur des Lerngegenstands abhängigen unterschiedlichen
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Verallgemeinerungsmöglichkeiten, die sodann defensiv verfehlt oder expansiv genutzt werden können. - Von da aus läßt sich nun genauer sagen, wie die gesuchte Perspektive zur Analyse des Lernens •über die Schule hinaus« näher zu kennzeichnen ist. Es handelt sich dabei nicht um eine Perspektive vom Standpunkt der privilegierten Lernstätte Schule auf vermeintlich davon abhängige alltägliche Lernsituationen, sondern um einen Standpunkt, von dem aus mir schulische und außerschulische Lernsituationen als •gleichberechtigt« in ihrem Verhältnis zueinander sichtbar werden können; also den Standpunkt einer Person, die außerhalb der Schule im Leben steht, d.h. ihre Schulzeit beendet hat und von da aus ihre schulischen und außerschulischen Lernerfahrungen im ganzen überschauen kann. Dies aber ist (wie wir aus dem Kontext unseres früher, S.263ff, dargestellten Konzeptes phänomenalbiographischer Perspektiven meiner personalen Situiertheit hinzufügen können) der (aus methodischen Gründen eingenommene) Standort des Rückblicks auf meine subjektive Lernbiographie. Dabei muß ich (gemäß unserer gegenwärtigen Fragestellung) meine schulischen und außerschulischen Lernerfahrungen unter dem Gesichtspunkt der Ermöglichung expansiven Lernens auf ihre personale Bedeutung als Voraussetzungen/Prämissen meiner gegenwärtigen Lebensführung/Handlungsmöglichkeiten hin zu explizieren suchen - und zwar in einer Weise, daß sich aus der Analyse ihres Verhältnisses zueinander im Zusammenhang meiner Lerngeschichte verdeutlicht, was in diesem Kontext expansives Lernen über die Schuldisziplin hinaus bedeuten kann. Für die damit an dieser Stelle erforderten lernbiographischen Analysen besteht - anders als bei den früheren Analysen vom Subjektstandpunkt der Schülerionen/Schüler »innerhalb« der Schule- kein hinreichend eindeutiger institutioneller Bedeutungs-/Prämissenrahmen, aus dem man entsprechende Begründungsfiguren hypothetisch ableiten (und die Betroffenen später damit konfrontieren) könnte (s.o., S.439f). Weiterhin sehe ich mich vor der Schwierigkeit, daß ich für das Verfahren, gegenwärtiges Wissen/Können auf die Lernkonstellationen, in denen es biographisch erworben wurde, hin ins Verhältnis zu setzen, keinen einschlägigen Vorlauf, auf den ich mich beziehen könnte, gefunden habe.* So kam ich auf den Ausweg, den ich innerhalb dieser Arbeit schon an anderer Stelle, bei der Einführung des Paradebeispiels von Schönbergs Orchestervariationen als Lernproblematik, gewählt hatte: Mich persönlich als »Fall« des jeweils einzunehmenden verallgemeinerten Subjektstandpunkts einzusetzen, also »Je-ich-als ... «) durch »Ich« (als K.H.)
* Auch die ..Lerngeschichten« der Teilnehmer des von Keiler initiierten Projekts "Studentisches Lernen« (1979/80) sind zwar in anderer Hinsicht aufschlußreich, aber nicht nach diesem Gesichtspunkt strukturiert.
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zu substituieren. Ich versuche also, unter den benannten Gesichtspunkten meine eigene Lernbiographie zu analysieren. Dem hier möglichen Vorwurf, dabei handele es sich doch nur um meine privaten Erfahrungen, versuche ich zunächst durch den Hinweis zu begegnen, daß Lernerfahrungen, die unter typischen gesellschaftlichen Bedingungen gemacht wurden, so privat nicht sein können, oder (richtiger), daß gerade in der Art der Privatheit dieser Erfahrungen der Grad des gesellschaftlich Typischen und der darin liegenden Verallgemeinerungsmöglichkeiten sich ausdrücken müssen. Weiterhin bemühe ich mich, dazu Beschreibungsbegriffe zu finden, die - wo nicht schon die jeweiligen Ausprägungsgrade - vielleicht wenigstens relevante Dimensionen lernbiographischer Erfahrungen ansatzweise verallgemeinerbar zu erfassen gestatten. Im übrigen muß ich das Urteil darüber, ob dies alles etwas gebracht hat, anderen bzw. (falls es dazu kommt) zukünftiger lernbiographischer Forschung überlassen. Dort wären dann auch die sicherlich komplizierten methodischen Probleme des Verhältnisses zwischen meiner gegenwärtigen Situation und der Art meiner Rückerinnerung, Fragen möglicher »Erinnerungstäuschungen« und ihrer Funktionalität im real- und phänomenalbiographischen Kontext (vgl. GdP, S.336ff) etc. systematisch zu klären. Wenn ich unter den benannten Vorzeichen zunächst auf meine schulischen Lernerfahrungen zurückblicke, so wird mir sogleich klar, daß ich in bestimmten Ab- oder Ausschnitten des Unterrichts offensichtlich »etwas gelernt« haben muß, ohne daß ich darin Akte eigentlichen, intentionalen Lernens wiederfinden kann: So habe ich offenbar auch da Lesen und Schreiben gelernt, wo mir dies nicht als gesonderte Lernproblematik vordergründig wurde (mindestens nicht in der Deutlichkeit, daß ich mich heute noch daran erinnern kann). Dabei mußte es sich also um etwas in der Nähe von Mitlernprozessen gehandelt haben, wobei die Anforderungen für mich so eindeutig in meinem Interesse lagen (schließlich muß ich lesen und schreiben können!), daß sie mir als zu übernehmende Lernanforderungen erst gar nicht problematisch wurden: also um unproblematisches Lernen, wie wir es früher expliziert haben (s.o., S.l83).- Von da aus wird mir deutlich, daß auch sonst in der Schule mit der Bewältigung des Unterrichts und des Schulalltags im allgemeinen - wie ich mindestens aus deren Resultaten ersehen kann - derartige unproblematische Mitlernprozesse noch diesseits der Alternative defensiven oder expansiven Lernens (die ja die- erzwungene oder motivierte- Übernahme einer Handlungsproblematik als Lernproblematik voraussetzt) stattgefunden haben müssen. Gleichzeitig aber vergegenwärtige ich mir, daß ungestörtes Mitlernen dieser Art in der Schule eigentlich eher einen Grenzfall darstellt, da die Schülerinnen I Schüler dort stets von- thematischen oder unthematischen - Anforderungen und Dilemmata umstellt sind, die u.U. nur
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als Handlungsproblematiken bewältigt werden können, wenn man sie in irgendeiner Weise als defensive Lernproblematiken auf sich nimmt. So findet sich mit fließenden Übergängen und ausgefransten Rändern zu diesem Bezirk/ Aspekt unproblematischen Lernens in meiner Lernerfahrung jenes weite Feld im Zwischenbereich von Lernverweigerung und defensiv normalisiertem Lernen, wie wir es früher als entöffentlichten Schulalltag kennengelernt und diskutiert haben: Ich könnte zu praktisch jedem der dort vom verallgemeinerten Standpunkt der Schülerinnen/Schüler aufgewiesenen Kennzeichen schulischer (Lern)behinderungen und versuchter Gegenstrategien mannigfache Veranschaulichungen aus meiner persönlichen Erfahrung als Schüler K.H. beisteuern. Da dies uns jedoch in unserer gegenwärtigen Diskussion nicht voranbringen würde, verzichte ich darauf. Hervorzuheben bleibt lediglich, daß sich der früher diskutierte Charakter des defensiven Lernens in der Schule als Bewältigungsweise bloß schulinterner bzw. schulspezifischer Bedrohungen und Dilemmata - also der Umstand, daß man dort nicht für das Leben, sondern für die Schule gelernt hat- aus meiner persönlichen Erfahrung bestätigt. Meine in diesem schuldisziplinären Kontext aufscheinenden (störenden) expansiven Lerninteressen und entsprechenden Umsetzungsversuche wurden offensichtlich so massiv behindert, eingeschränkt, zurückgepfiffen, daß deren Resultate in meiner weiteren intentionalen Lerngeschichte kaum Spuren hinterlassen haben. Nun stellt sich für mich jedoch aus lernbiographischer Sicht heraus, daß solche Erfahrungen keineswegs alles sind, was ich über meine schulischen Lernerfahrungen zu berichten habe. Vielmehr finden sich darin unprogrammgemäß expansive Lemphasen, zwar innerhalb der Schule, aber außerhalb der Schuldisziplin. Hier war das Eindringen in die Tiefenstruktur von Lerngegenständen dadurch ermöglicht, daß sowohl der Lehrer »aus der Rolle fiel«, also seine Funktion als Exekutor des Lehrplans und seine totale Bewer· tungshaltung (vorübergehend) einklammerte, um sich unvermittelt für die Sache, um die es ging, zu engagieren, als auch die Schüler (als Antwort darauf) all ihre strategisch-taktischen Manöver, Vorbehalte und Widerständigkeiten zeitweilig »vergaßen« und - auf dem Hintergrund ihres schulisch und außer· schulisch Vorgelernten - darauf einstiegen. Oft handelte es sich dabei nur um sehr kurze, blitzartige Erhellungen, die für mich gleichwohl bis heute bedeutsam sind - wie die Bemerkung eines Lehrers im Biologieunterricht: ,Macht Euch keine Sorgen, daß Euch das Onanieren schaden könnte, sondern fragt Euch lieber, wer warum ein Interesse daran hat, Euch dies einzureden' oder der speziell auf mich gemünzte Lehrer-Hinweis: ;wissen Sie was, Holz· kamp, arbeiten Sie oder faulenzen Sie, aber tun sie nicht beides gleichzeitig'·
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_ Darüber hinaus gab es aber (selten) auch länger andauernde Phasen dieser Art, die ich an anderer Stelle als schulische »Sternstunden« bezeichnet habe (1991, S.14ff)- Eine Sternstunde dieser Art habe ich dort (1991, S.15f) dargestellt: ,.Jn unserer Internatsschule im Harz hatten wir bis zu einem bestimmten Tag (als 11. Klasse) den üblichen Musikunterricht mit der üblichen Mischung aus Langeweile und Renitenz gehabt, wobei unsere Haltung zum Musiklehrer durch die Variante mitleidiger Belustigung geprägt war. An diesem Tage nun hörten wir, als wir die Aula, in der der Unterricht stattfand, schon verlassen hatten, vom Flur her Klavierspiel, das offensichtlich von unserem Lehrer stammte. Wir gingen in die (im Nachkriegswinter 1946) eiskalte Aula zurück, sezten uns leise in die letzte Reihe und hörten zu. Der Musiklehrer spielte im Wintermantel in überzeugender Weise alle vier Balladen von Chopin. Als er geendet hatte, und wir - diesmal nicht höhnisch, sondern eher zaghaft verlegen - Beifall klatschten, blickte er erstaunt hoch: Ach, Ihr seid ja noch da. - In der nächsten Musikstunde sagten wir zu ihm, wir hätten ja keine Ahnung gehabt, daß er so Klavier spielen könne, das sei schön gewesen, und er solle doch wieder was spielen. Er spielte, und wir kamen darüber ins Gespräch. Von da an hatten wir keinen Musikunterricht mehr, erfuhren aber viel Wichtiges und Eindrucksvolles über Musik. Für mich kann ich sagen, daß dadurch mein Verhältnis zur Musik bis heute wesentlich mitbestimmt wurde«.
Der expansive Charakter der durch diese Sternstunde und die daran anschließenden Musikstunden inaugurierten Lernprozesse können von mir (nach 45 Jahren) natürlich nicht mehr im einzelnen rekonstruiert werden. Offenbar konnte ich damals meine bisherigen Zugänge zu Musik über Klavierspiel o.ä. durch die Herangehensweise und die Kommentare des Lehrers um eine historische Dimension erweitern. Die entscheidende Besonderheit der Beziehung zwischen dem Lehrer und uns Schülerinnen/Schülern scheint mir jedoch evident: Sie lag darin, daß nicht der Lehrer etwas von uns, sondern wir etwas vom Lehrer wollten: Nämlich sein Können und Wissen für uns nutzbar und fruchtbar machen. Damit war die unterrichtsförmige »Initiation -+ Reply -+ Evaluationc-Sequenz außer Kraft gesetzt, und wir standen quasi in der Schule außerhalb der Schule. (Das Risiko für den Lehrer, der dies zuließ und förderte, war hier vielleicht deswegen nicht allzu groß, weil- jedenfalls dort und damals - Musik ohnehin etwas am Rande des Schulbetriebes stand und im Abitur nicht geprüft wurde).- Um noch eine andere Form von schulischen Möglichkeiten expansiven Lernens außerhalb der Schuldisziplin in die Diskussion zu bringen, soll eine weitere •Exklave« dieser Art (in der gleichen Schule im gleichen Zeitraum) - die für mein späteres Leben besondere Bedeutung hatte - kurz angesprochen werden: In unserer erwähnten Internatsschule im Harz konnten die Lehrer, wenn sie wollten, nachmittags außerhalb des offiziellen Unterrichts und ohne Bewertungen/Prüfungen, mit interessierten Schülern Arbeitsgemeinschaften einrichten. Unser Deutschlehrer bot
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in diesem Rahmen unserer Klasse eine Arbeitsgemeinschaft zu Schopenhauers Dissertation ·Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde• an, zu der ich mich- aus eher diffuser Vorinteressienheit heraus- zusammen mit vier oder fünf anderen meldete. Der Lehrer hielt diese AG im Stile eines (guten) Universitätsseminars ab, d.h. er betrachtete uns nicht als •Schüler•, sondern (da wir uns ja freiwillig und ohne Druck gemeldet hatten) als Gleichinteressiene. Wir gingen den Text abschnittweise durch, wobei Herr Sch. (ohne alle traditionell--didaktischen• Zurüstungen sowie ohne Rücksicht auf unsere mangelnden Vorkenntnisse und unser jugendliches Alter) jedesmal historische und analytische Erläuterungen gab und danach auf unsere Fragen wanete. Diese Fragen kamen (da wir uns erst daran gewöhnen mußten, daß wir hier fragen durften) erst spärlich und dann immer zahlreicher- und wurden alle vom Lehrer ausführlich beantwonet. Mich hat die Diskussion in dieser AG zunehmend aufgewühlt, da ich zu ahnen begann, was es heißt, wissenschaftlich zu denken und zu argumentieren: d.h. zu begründen, was man sagt, keine Denkschritte auszulassen und damit Resultate zu erschleichen, Wissen nicht vorzutäuschen, sondern permanent in Frage zu stellen, Einwände nicht selbstrechtfenigend abzuwenen und leerlaufen zu lassen, sondern in die weiteren Erwägungen einzubeziehen etc. Mir dämmene, daß die uns bisher vorgespiegelte schulische Scheinwelt bekannter Tatsachen und gelöster Probleme nicht alles ist, sondern daß dahinter und darüber hinaus erst die eigentlichen spannenden Fragen und Fraglichkeiten beginnen, und daß es für mich lohnend sein könnte, mich intensiv dafür zu interessieren. - Diese Eindrücke wurden jedoch (zunächst) bald wieder durch die Übermacht des Normalunterrichts (auch von Herrn Sch.) verschüttet.
Auch diese expansive Lernphase gehörte zwar zur Schule, war aber ebenfalls (wenn auch in anderer Weise als die geschilderte Sternstunde im Musikunterricht) schuldisziplinär randständig: Die Möglichkeiten expansiven Lernens konnten sich hier nur entfalten, weil - durch Auslagerung in eine Arbeitsgemeinschaft - die defensiv normalisierenden und behindernden Unterrichtsmechanismen stillgestellt waren, also der Lehrer sich nicht als von Amts wegen bewertungsfixierter ..Lehrer« und die Schüler sich nicht als .. Schüler«, die sich dem zu entziehen trachten, aufführen mußten. - Noch einen Schritt weiter aus der Schule hinaus {ohne deren Rahmen schon ganz zu verlassen) bewege ich mich mit dem folgenden Beispiel: Gegen Ende der 11. Klasse bekam ich Tuberkulose, mußte die Schule unterbrechen und machte zu Hause in Berlin Liegekur, wozu mir eine Laube in unserem Garten diente. Während dieser Zeit erhielt ich (durch vom Schulamt benannte Lehrer) Privatunterricht zur Vorbereitung auf das Abitur, u.a. in Mathematik. Da ich in Rechnen bzw. Mathematik bisher über eine Fünf nie hinausgekommen und mir meine mathematische Unbegabung immer wieder bescheinigt worden war, sagte ich zu dem dazu abgestellten Lehrer, Herrn H., etwa folgendes: ,Dies dürfte bei mir keinen Zweck haben, ich sollte wohl besser die Mathematik schleifen lassen und mich statt dessen auf andere Fächer konzentrieren. Außerdem ist mir total unverständlich, wie irgendein normaler Mensch sich für Mathematik interessieren oder gar dafür begeistern kann'. Herr H. antwonete, nun, er könne sich schon für Mathematik begeistern, aber müsse sich die Sache überlegen. In der nächsten Stunde machte er mir folgenden Vorschlag: Er wolle mir drei oder vier
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Unterrichtsstunden lang zu erklären versuchen, warum er Mathematik interessant finde, und ich könne nachfragen. Falls ich danach immer noch keine Lust hätte, Mathematik für das Abitur nachzuarbeiten, würden wir das Unternehmen abbrechen. Ich akzeptierte, und Herr H. erzählte mir zunächst einiges aus der Geschichte der Mathematik, kam dann auf mathematische Grundlagenprobleme und erklärte mir u.a., daß heutiger Auffassung nach die Zahlentheorie aus sich heraus nicht widerspruchsfrei zu entwickeln sei (Gödels Unvollständigkeitssatz gegen das Hilben-Programm). Mir wollte dies ganz und gar nicht einleuchten: Wie kann denn ein von Menschen ausgedachtes System in sich widersprüchlich sein, man müßte doch die Widersprüche einfach wegmachen können. Herr H. erklärte mir daraufhin, daß, wenn man in diesem System einen Widerspruch wegzumachen versuche, man damit zwangsläufig einen anderen produziere und umgekehrt, und daß dies an dem System, und nicht an der mangelnden Intelligenz der Mathematiker liege. Ich mußte dies schließlich einsehen (qualitativer Lernsprung?), und Herr H. führte mir im Anschluß daran noch verschiedene mathematische Dilemmata (lösbarer und unlösbarer Art) vor. Mit den Diskussionen darüber hatten wir das festgesetzte Maß von drei oder vier Unterrichtsstunden längst überschritten, als Herr H. mich fragte, was denn nun mit dem Mathematik-Abitur werden solle. Ich antwortete: Na, versuchen wir es, und wir legten daraufhin noch einige Monate Pauk-Stunden ein, die Herr H. durchgehend diskursiv zu gestalten wußte. In der (externen) Abiturprüfung fiel ich dann dadurch auf, daß ich den Prüfer dauernd in eine Diskussion über die mir gestellten Aufgaben zu verwickeln suchte, und man wollte - da dieser sich zeitweise darauf einließ - die Prüfung für ungültig erklären. Der (wohlwollende) Prüfer konnte jedoch dem Prüfungsausschuß glaubhaft machen, daß er mir mit seinen Antworten nur Bestätigungen meiner Geweils richtigen) Hypothesen, aber keine zusätzliche Information gegeben hatte. So bestand ich das Mathematik-Abitur schließlich (glücklich) mit einer Zwei.- Das mir von Herrn H. vermittelte mathematische Basisverständnis kam mir dann beim Psychologiestudium und späterer experimenteller Forschung zugute.
Die entscheidende Voraussetzung dafür, daß in der geschilderten Situation expansive Lernprozesse greifen konnten, lag (wie mir scheint) auch hier darin, daß Herr H. den Lerngegenstand »Mathematik« (ohne Gegängeltheit durch Lehrpläne) in seiner Tiefenstruktur entfalten und ich mich jederzeit durch wissensuchende Fragen in diesen Darstellungsprozeß einschalten konnte. Dies wiederum wurde nur dadurch möglich, daß - durch die Verabredung, bei der Abitur-Vorbereitung Mathematik möglicherweise auszusparen - die Schuldisziplin und ihre Bewertungsmacht als virtueller Rahmen meiner Gespräche mit Herrn H. vorübergehend in den Hintergrund traten und wir, quasi als Nebenprodukt unserer schon erprobten mathematischen Kooperation, die eigentliche Abiturvorbereitung (mit der in ein paar Monaten meine Mathematik-Kenntnisse quasi von null auf den damals für die externe Abiturprüfung in der Steglitzer Paulsen-Oberschule geforderten Stand gebracht wurden) relativ entspannt zu bewältigen vermochten. Von der lernbiographischen Exemplifizierung - wenn auch in verschiedener Art und wachsendem Maße schuldisziplinär randständig - schulbezogener
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Phasen soll nun zur Darstellung eindeutig außerschulischer Phasen expansiven Lernens übergegangen werden. Dabei fallen mir gleich bestimmte von mir als jüngerem, vielleicht 10- bis 13jährigem Schüler quasi als die Selbstachtung rettende Negation der gehaßten und vernachlässigten Schule unternommene Lernaktivitäten ein- systematisches Musikhören gegen das Verbot der Ehern (du sollst schlafen!) mittels Kleinempfänger unter der Bettdecke, versuchte Herstellung von (unbrauchbaren) mikroskopischen Präparaten und Schnitten nach dem Vorbild eines medizinstudierenden Nachhilfelehrers, Sternenbeobachung durch ein mit dem Kosmos-Baukasten hergestelltes Himmelsfernrohr (Abzeichnen der Plejaden auf dem Dach an kalten Winterabenden) samt Lektüre passender populärwissenschaftlicher Bücher etwa von Bruno H. Bürgel u.ä.. Ich sehe mich aber außerstande zu entscheiden, wieweit im Rahmen dieser z.T. mehr hobbyartigen Praktiken bloße Mitlernprozesse stattfanden und wieweit sich tatsächlich auch expansive Lernphasen aus diesen ausgegliedert hatten - und gehe deswegen nicht weiter darauf ein. Ebenso erscheinen mir weitere Beispiele für private expansive Lernaktivitäten des Erwachsenen (da •Schönbergs Orchestervariationen als Lernproblematik« ja schon ausführlich dargestellt und diskutiert wurden) an dieser Stelle unnötig. Nur ein Beispiel außerschulischen Lernens muß ich, um die spätere verallgemeinernde Diskussion angemessen führen zu können, hier noch einbringen - wobei ich in das schon geschilderte Szenario der Liegekur in der Gartenlaube zwischen Schulabbruch und externem Abitur zurückkehre: Beim Zusammensuchen von Lektüre zur Abkürzung des langen Liegens ging ich auch die Reihe der Bücher durch, die mein Vater zur Füllung seines neuen Bücherschranks bei einem Trödler als Meterware gekauft hatte. Dabei stieß ich auf Kants »Kritik der reinen Vernunft•, begann in der festen Überzeugung, daß dies für mich viel zu schwierig sei, beiläufig darin herumzulesen, las mich fest, fing (was ich bisher noch nie getan hatte) an, systematisch Auszüge daraus zu machen, besorgte mir anschließend die beiden anderen »Kritiken« (»Urteilskraft« und ,.Praktische Vernunft•), verfuhr damit in gleicher Weise und hatte so nach einem halben Jahr Liegekur alle drei Kritiken durchgearbeitet und rund 300 Seiten Auszüge angefertigt. Hier reaktualisierte sich offenbar mein Engagement aus Herrn Sch.s Schopenhauer·AG, wobei ich Kant aber noch viel spannender fand. Einige der dabei vollzogenen qualitativen Lernsprünge könnte ich leicht rekonstruieren, was hier aber zu weit führen würde. Voraussetzung für die Möglichkeit dieses aus dem Rahmen fallenden Unternehmens waren {vor dem Hintergrund des etwa in der Schopenhauer-AG Vorgelernten) m.E. wesentlich die Ruhe, Unabgelenktheit und das Gleichmaß der Lebensführung während der - generell von mir als Besinnungspause erlebten - Liegekur, wobei ich ja krank war, man mich deswegen, so weit es ging, ungeschoren ließ und niemand groß etwas von mir erwartete - sicher am wenigsten, daß ich hier Kant lesen und sogar zu Ende bringen würde. Ich erfuhr in dieser Situation das erste mal jene gelassene Konzentration, die ich inzwischen als Befindlichkeit gelingender wissenschaftlicher Arbeit kennengelerne habe. Genau besehen begann damit, noch vor dem Abitur, meine wissenschaftliche Lauf· bahn: Mir war klar, daß ich etwas in dieser Art weitermachen würde (und ich bewarb mich
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entsprechend gleich im Anschluß ans Abitur für das Studium der Psychologie und Philosophie an der FU Berlin, zu dem ich im Sommersemester 1949 zugelassen wurde). Dabei blieben Kants Problematisierungen m.E., wenn auch nicht ge!"11dlinig und ungebrochen, eine wesentliche Grundlage später entwickelter theoretischer Konzeptionen (einschließlich der Art der Marx-Rezeption).
Aus den damit abgeschlossenen lernbiographischen Berichten läßt sich (wie vage und anekdotisch sie immer sein mögen) die geschilderte offizielle Vorstellung individueller Bildungsgänge als Verhältnis von schulförmig geplantem Lernen in kontextfrei-privilegierten Lernstätten und der Übertragung (des Transfers) des so Gelernten auf Alltagssituationen m.E. stringent in ihrer Unangemessenheit verdeutlichen. Wenn man solche Bildungsgänge nicht vom Drittstandpunkt nach Durchschnittswerten formiert, sondern vom Standpunkt der Betroffenen ihre wirkliche lebensgeschichtliche Anordnung rekonstruiert, so wird evident: Es handelt sich dabei um - jeweils aus mehr kontinuierlichen Prozessen unproblematischen Mitlernens hervortretende - diskrete Episoden schulisch- und außerschulisch-expansiven Lernens als Eindringen in die Tiefenstruktur von Lerngegenständen. Solche Episoden traten lernbiographisch als weitmaschige Sequenzen auf, innerhalb derer die schulischen keineswegs (wie die offizielle Lesart unterstellt) notwendig die außerschulischen Episoden fundieren, sondern unterschiedliche Kombinationen möglich sind. So wurde die benannte schulische Lernepisode »Musik« bei mir einerseits sicherlich erst aufgrund des als Betätigung meines einschlägigen Interesses außerschulisch Vorgelernten möglich und ging andererseits m.E. als wesentliches Moment in die Voraussetzungen der sehr viel späteren Lernepisode »Schönberg als Lernproblematik« ein. Die Episode »Schopenhauer-AG« kann in gewissem Sinne als schulischer Vorlauf der außerschulischen Episode »Kant-Rezeption• betrachtet werden, wobei aber zu berücksichtigen ist, daß diese AG (wie auch der umfunktionierte Musikunterricht) als schuldisziplinär randständig betrachtet werden muß. Die außerschulische Kant-Episode und das darin Vorgelernte waren dann ihrerseits eine wesentliche Voraussetzung für einen (i.w.S.) schulischen Lebensabschnitt, das philosophisch-psychologische Universitätsstudium (um das sich wiederum lernbiographisch viele inner- und außerinstitutionelle Lernepisoden anordneten, die ich hier beiseite gelassen habe). Das Zustandekommen derartiger Lernepisoden kann man - wie an meinen Berichten veranschaulicht - nicht einfach als Resultat absichtsvoller Herbeiführung verstehen; adäquater ist vielmehr die Sichtweise, daß man es hier rnit einem Zueinander bestimmter, mehr oder weniger geplant aufgesuchter oder hergestellter Lerngelegenheiten und dem glücklichen Umstand, daß Episoden expansiven Lernens darin möglich wurden, zu tun hat. Dies gilt für
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die außerschulischen Lernepisoden (so sind durch die aufgrund meiner TbcErkrankung arrangierte Liegekur die Rahmenbedingungen dafür geschaffen worden, daß ich zufällig an Kant geraten konnte und dabei die Zeit, Muße und Bereitschaft hatte, mich in der geschilderten Weise engagiert und biographisch konsequenzenreich damit zu befassen). Dies gilt aber auch für die schulischen Lernepisoden, indem hier durch bestimmte Sonderbedingungen die Schuldisziplinären Mechanismen der Lernnormalisierung/ -behinderung (so durch die Negation von »Musikunterricht« in den Musikstunden, in der Schopenhauer-AG als nachmittägliche Sonderveranstaltung außerhalb der Bewertungstotalität oder der Situation privater Mathematik-Stunden unter zeitweiser Einklammerung ihrer Schuldisziplinären Rahmenbedingungen) in dem Maße zurückgedrängt worden waren, daß Episoden expansiven Lernens für mich darin auftauchen konnten. Der Umstand, daß zwar bestimmte Randbedingungen planbar sind, nicht aber das tatsächliche Erscheinen expansiver Lernepisoden, läßt sich noch verdeutlichen, wenn man den früher ausführlich dargestellten Ansatz· und Verlaufscharakter des expansiven Lernens selbst berücksichtigt: Schon die Übernahme einer Handlungsproblematik als expansiv, also motiviert begründet verfolgbare Lernproblematik kann nicht direkt geplant werden, weil dazu vorausgesetzt ist, daß ich als Lernsubjekt tatsächlich eine Lerndiskrepanz erfahre, bei deren Überwindung ich eine über den lernenden Gegenstandsaufschluß erreichbare erweiterte Verfügung/Lebensqualität antizipieren kann, also die Aneignung des Lerngegenstandes in meinem unmittelbaren Lebensinteresse ist. Dies wiederum hängt (wie dargestellt) nicht bloß von der Eigenart des Lerngegenstands (seiner Tiefenstruktur etc.) ab, sondern darüber hinaus von meinem durch meine konkrete personale Situiertheit und dem darin gegebenen Stand des Vorgelernten bestimmten Verhältnis zu diesem. Ebenso ist (wie früher gezeigt) die Dauer der jeweiligen Lernepisode wegen der in expansive Lernhandlungen notwendig einbeschlossenen Phasen zeit· entbundenen affinitiven Lernens nicht eindeutig vorhersehbar: Was jenseits der im Lehrlernkurzschluß begründeten schulischen Planungsillusion an expansiven Lernprozessen tatsächlich planbar sein kann, ist also zunächst weitgehend offen: Ich komme am Schluß noch darauf zurück.
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Interpersonale Lernverhältnisse jenseits des Lehrlernkurzschlusses: Partizipatives Lernen und kooperatives Lernen Während wir vorher interpersonales Lernen nur als dominiert von schuldisziplinärer Lehrlernbeziehungen mit der Tendenz zu defensiver Normalisierung berücksichtigten, ist bei unserer lernbiographischen Darstellung die Möglichkeit dominant expansiven Lernens in interpersonalen Konstellationen sichtbar geworden, die in ihren wesentlichen Zügen mit Begriffen des Lehrlernkurzschlusses und der Versuche, ihm zu entkommen, nicht mehr hinreichend gekennzeichnet werden können. Wie sind diese Konstellationen näher phänomenanalytisch-konzeptionell zu charakterisieren? Zur Klärung dieser Frage muß zunächst deutlich werden, wie die in unseren Beispielen aufgewiesenen interpersonalen Lernkonstellationen (vom Musikstunden- über das Schopenhauer- bis zum Mathematikbeispiel), obwohl in ihnen offenbar nach wie vor ein persongebunden-asymmetrisches Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden (i.w.S.) bestand, dennoch hinsichtlich ihrer Prämissen-/Begründungsstruktur so spezifiziert werden können, daß darin gleichzeitig dominant expansives Lernen als möglich verständlich wird - was unter der Bezeichnung »partizipatives Lernen« diskutiert werden soll. Dies wiederum impliziert eine konzeptuelle Differenzierung nicht nur nach der Seite Schuldisziplinären Lehrlernens, sondern auch nach der Seite interpersonaler Lernverhältnisse, in denen expansives Lernen sich ohne personale Asymmetrien entfalten kann, was von uns unter der Bezeichung »kooperatives Lernen« zu erörtern ist: Damit hätten wir dann jene Übergangsformen interpersonalen Lernens zwischen restriktivem Lehrlernen und personalautonomem Lernen (wie es in unserem Schönberg- und Kam-Beispiel illustriert worden ist) auseinandergelegt, mit denen (auf der Dimension Personalität-lnterpersonalität) auch die verschiedenen Formen wirklicher Lernaktivitäten außerhalb der Schuldisziplin in ihrem institutionellen Kontext später begründungsanalytisch aufschlüsselbar sein sollen. Das Konzept des »partizipativen Lernens« soll zunächst anband einschlägiger Konzeptionen von Jean Lave und ihren Mitarbeitern dargelegt und sodann von da aus weiter expliziert werden: Das •partizipative Lernen« wird (in der Arbeit von Lave & Wenger 1991, auf die ich mich im folgenden vorwiegend stütze) vom traditionellen schulischen Lernen zunächst dadurch unterschieden, daß es nicht als Beziehung zwischen ·Lehrer« und •Schüler«, sondern als Beziehung von »Neulinge und »Meister« (•newcomerc und »Oldtimer•, »novicec und •master« u.ä.) gekennzeichnet ist. Entsprechend ist die Organisationsform, durch die beideInstanzen in Kontakt treten, nicht als •Unterricht«, sondern als •apprenticeship•,
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also etwa ·Lehrzeit«, aber nicht im Sinne schulischen Lehrens, sondern der ·Lehre.. , in & 1 man als ,.Lehrlinge (Novize, newcomer) bei einem ·Meistere (Experten, oldtimer) geh~ verstanden. Daraus ergibt sich, daß als typische Konstellation, an der die partizipativea Lernprozesse aufgewiesen werden sollen, nicht primär der Schulunterricht, sondera ·Praktiker-Gemeinschaften« (•communities-of-practicec) herangezogen werden, innerhalb welcher die Neulinge über die Meister das spezielle Wissen/Können, das in der jeweiligen Praktiker-Gemeinschaft Standard ist, erwerben. So werden an ethnologischem Material •Apprenticeshipc-Verhältnisse etwa bei •Yucatec midwifes« {Hebammen) und .Val and Gola tailors« (Schneidern in bestimmten traditionalen Ethnien), aber auch innerhalb von Praktiker-Gemeinschaften in den USA wie •naval quartermasters« (kooperierenden Navigatoren eines Hubschrauber~ransportschiffes der US-Marine) und •meat cut· ters« in einem Schlachthaus aufgewiesen und diskutiert. Darüber hinaus sind - wie La-ve & Wenger (1991, S.63) hervorheben- bestimmte Arten von •apprenticeship« gerade für das Lernen von •high Ievels of knowledge and skill« charakteristisch, so im Bereich der Medizin, der Universität, des Gerichtswesens, des professionellen Sports und der Kunst. Der Verlauf des Lernens durch •apprenticeship« wird von Lave & Wenger als •Ugi· timate Peripheral Participation« gekennzeichnet: Dabei nehmen (idealerweise, s.u.) die Novizen zwar direkt an der Praxis der Meister/oldtimer teil (tun im Prinzip das gleiche wie diese), dürfen dabei aber zunächst noch legitimerweise in einer Randstellung ver· bleiben, durch welche sie von der Verantwortung für das zu leistende Produkt oder zu er· bringende Resultat der Praktiker-Gemeinschaft entlastet sind, Fehler machen, sich Zeit lassen, Fragen stellen, d.h. ihren eigenen Lernprozeß gezielt fördern können. Dazu gehört, daß die Art des Zusammenhanges zwischen dem Ergebnis und den dazu erforderten Aktivitäten den Novizen von den Oldtimern transparent gemacht wird (sie diesen gegenüber also ihr Wissen/Können nicht zurückhalten oder verschleiern} und weiterhin, daß den Novizen zeitweise relative Abgesonderheit ermöglicht wird, wo sie ihre Erfahrungen austauschen, zusätzliche Lernmöglichkeiten organisieren können u.ä. Der Lernprozeß der Novizen verläuft dabei kontinuierlich von der peripheren zur vollen Partizipation an der Praxis der jeweiligen Gemeinschaft, wobei sie nicht nur das erforderte Können/Wissen erwerben, sondern auch hinsichtlich erweiterter personaler Bezüge in die Praktiker-Gemeinschaft •hineinwachsen•, so allmählich immer mehr den Novizen-Status verlieren, sich (u.U. über institutionalisierte Zwischenstufen} dem Meister-Status annähern und schließlich selbst Meister werden.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Lehrlernen und (so verstandenem) partizipativem Lernen besteht also darin, daß ·Lehrer« und •Schüler« sich in einem dichotomen Ausschließungsverhältnis gegenüberstehen, während es zwischen Novizen und Meistern Übergänge gibt: So wird der Novize im Laufe des Lernfortschritts kontinuierlich zum Meister, nicht aber der ,.Schü· ler« zum »Lehrer«. Dies ergibt sich daraus, daß der Lehrer als Funktionär der Schuladministration den von dieser auferlegten Lehrplänen, darin formulier· ten •Lernzielen«, Vorschriften über die zu erreichenden Verhaltensweisen und Einstellungen der Schülerionen/Schüler verpflichtet ist und daran als einem Dritten deren Leistungen und Benehmen zu bewerten hat, während der Meister den Novizen lediglich die Möglichkeit gibt, das zu lernen, was er
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selbst kann, also den Unterschied zwischen ihm und den Novizen zu verringern. Aus der so vorliegenden entscheidenden Differenz der typischen Prämissenlage versteht sich wiederum (strukturell gesehen, also in Abwesenheit zusätzlicher Handlungsbedingungen I -priimissen) die unterschiedliche Intentionalitätsrichtung der Handlungsbegründungen von »Lehrern-Schülern« einerseits und »Novizen-Meistern« andererseits: Im Lehrlernverhältnis will der Lehrer etwas von den Schülerinnen/Schülern - sie müssen das lernen, was der Lehrer von ihnen fordert (funktionsgemäß fordern muß), wobei ihre eigenen Lerninteressen hier nicht gefragt sind und defensiv begründetes Lernen angezeigt ist. Im partizipativen Lernverhältnis will dagegen primär der Novize etwas von dem Meister. Dieser soll ihm sein {des Meisters) eigenes Wissen/Können derart vermitteln und preisgeben, daß der Novize selbst Meister werden, also potentiell dessen Stelle einnehmen kann. Damit sind hier - indem die durch wachsenden Gegenstandsaufschluß erreichbare Erweiterung der Verfügung/Lebensqualität dem Lernenden in der Person des Meisters quasi vorgelebt ist - die Lebensinteressen der Lernenden unmittelbar involviert und expansiv begründetes Lernen strukturell nahegelegt. Widersprüchlicher ist allerdings die Situation des Meisters: Er züchtet sich ja, indem er den Novizen ermöglicht, sich das anzueignen, was er selbst kann, u.U. Konkurrenten heran, die - in dem Maße, wie sie sich der Meister-Kompetenz annähern - ihn potentiell von seinem Platz verdriin.~en können (Lave & Wenger 1991, S.113ff, haben diesem Problem unter der Oberschrift »Contradictions and change: Continuity and displacement« eingehende Erörterungen gewidmet). Mit dem Konzept des »partizipativen Lernens«, wie es bis hierher dargestellt wurde, verfügen wir nun in gewisser Weise über die gesuchten begrifflichen Ansätze, um die - vorher in bestimmten Lernepisoden nur deskriptiv aufgewiesene - Möglichkeit expansiven Lernens innerhalb persongebundenasymmetrischer Verhältnisse jenseits des disziplinären Lehrlernens (MusikBeispiel, Schopenhauer-Beispiel, Mathematik-Beispiel) theoretisch zu verallgemeinern: Da hier die Lehrer nicht unterrichtend und bewertend auf die Schülerinnen/Schüler bezogen sind, sondern viel eher selbst das tun, was ihren eigenen Qualifikationen und Interessen entspricht- so der Musiklehrer Chopin spielen, der Deutschlehrer seine philosophischen Einblicke in den Schopenhauer.:fext vermitteln und der Mathematiklehrer durch Grundlagenklärungen seine Faszination an Mathematik verdeutlichen - sind diese (indem sie ihre Lehrerfunktion partiell und vorübergehend einklammern) von ihrer Funktion her treffender als •Meister• zu charakterisieren. Dadurch wiederum haben die Schülerinnen/Schüler die Möglichkeit, sich aus freier Entscheidung für das von den Meistern/Lehrern Dargebotene zu interessieren, indem sie einiges oder alles davon als ihre Lernproblematik übernehmen und weiterverfolgen. Dabei nutzen sie also die Performanz
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der Meister/Lehrer als Lerngelegenheit, um sich panizipierend in bestimmten Aspekten deren Können/Wissen anzunähern. Dazu gehön (wie schon erwähnt) auch, daß sie rnit Bezug auf die Performanz des Meisters/Lehrers wissensuchende Fragen stellen, d.h. in Abwesenheit der Bewenungsprozeduren sich auch Blößen geben, U nwissen eingestehen, Fehler machen dürfen, also ihren Novizenstatus sowohl praktizieren als auch zugeben können. Die Planung der eigenen Lernaktivitäten liegt hier also- da die Fragen und Anregungen von diesem ausgehen können - vorobergehend beim Novizen/Schüler.
Die an unseren Lernepisoden nur beiläufig und fiktiv sich andeutende Möglichkeit, schulisches Lernen (unter bestimmten Sonderbedingungen) als »apprenticeship«-Verhältnis zu konzeptualisieren, ist von Jean Lave und ihren Mitarbeitern (vgl. insbesondere Lave, Smith, & Butler 1987)- speziell mit Bezug auf den Mathematikunterricht - theoretisch durchdacht und praktisch erprobt worden. Wenn die Schule, so wird hier argumentiert, kein »privilegierter Nonkontext«, sondern eine unter anderen kontextabhängig-speziellen Lernsituationen darstellt (s.o., S.489ff), dann kann auch dem Mathematikunterricht nicht die Funktion zugeschrieben werden, auf Zahl- oder Symbolverhältnisse in kontextuell total verschiedenen Alltagssituationen anwendbares universelles Wissen in Mathematik zu vermitteln (ein Anspruch, der - wie sich in Laves AMP-Projekt ergab - tatsächlich auch nicht einlösbar ist). Vielmehr muß es in der Schule um Mathematik selbst gehen und um nichts sonst: Um die Entwicklung einer mathematischen Kultur im Klassenraum, durch welche die in der Mathematik aus dem Kontext ihrer eigenen historischen Entstehung und Funktion entstandenen oder von da aus strukturell erreichbaren Verallgemeinerungsmöglichkeiten aufschließbar werden. Die Schülerinnen/Schülersollen also begreifen lernen, welche Bedeutung Mathematik als kulturelles Erbe hat, welche Einsichtsmöglichkeiten und welche Bereicherung der Welt- und Selbsterfahrung dadurch zu erlangen sind, was also Mathematik als Mathematik für mich bedeuten kann. Unter diesen Vorzeichen ist es nicht mehr die Aufgabe der Lehrer, den Kindern nach vorgegebenen Lehrplänen Mathematik beizubringen und diese Vorgaben angesichts der (unausbleiblichen) Fehlschläge der Schülerinnen I Schüler bei dem Versuch der Anwendung des Gelernten auf den Alltag immer weiter zu perfektionieren. Auch die häufig angewendete didaktisch gemeinte Taktik der Veranschaulichung mathematischer Probleme durch Alltagsbeispiele führt dabei (so Lave 1988) - da im gängigen Transfer-Denken verhaftet - nicht weiter: Die schulüblichen •eingekleideten Aufgaben« - •ward problems« trügen vielmehr lediglich zur allgemeinen Verwirrung bei und würden von Mathematikern als »a real joke« eingestuft. Die Lehrer sollen vielmehr in der Schule das tun, was Mathematiker tun, nämlich Mathematik praktizieren, und die Schülerinnen/Schüler daran partizipieren lassen. Indem die Lehrer so nach Art von •Masters« ihre eigenen mathematischen Möglichkeiten
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realisieren und ihre eigene Faszination an mathematischen Strukturen und Beweisführungen bekunden, werden die Schülerionen/Schüler nicht mit vorgeschriebenem Stoff konfrontiert, sondern ihnen werden Gelegenheiten (»opportunities«) gegeben, nachzuvollziehen, was Mathematik heißt und was diese für sie bedeuten kann. Dabei können sie sich selbst aktiv in den Prozeß mathematischer Praxis einbeziehen, Fragen stellen, eigene Probleme einbringen und so allmählich {über den Novizenstatus hinaus) mathematisches Problembewußtsein entwickeln. Zur Entkräftung des naheliegenden Einwands, ein derartiges partizipatives Lernen von Mathematik überfordere die Schülerionen/Schüler und sei bestenfalls in den höchsten Klassenstufen zu initiieren, können die Autoren auf entsprechende Praxis eines der Mitautoren, Michael Butler, in einer Farmschule, deren Direktor er ist, verweisen. Ich will den Bericht darüber (da dieser an schwer zugänglicher Stelle veröffentlicht ist und eine umfassende Publikation noch aussteht), hier (frei übersetzt) ausführlicher wiedergeben: Farmschul-Kinder {die keine Noten erhalten) werden mit mannigfachen mathematischen Dilemmata konfrontiert, mit dem Ziel, ein tiefgründiges Verständnis mathematischer Prinzipien und mathematischer Praxis zu vermitteln. Die Farmschul-Lehrer wollen den Kindern helfen, wie gute Mathematiker zu denken. So werden die Kinder {im Alter zwischen 5 und 12 Jahren) systematisch dazu angeregt, interessante Muster von Zahlen, Figuren {shapes) und Verläufen zu finden, die Muster zu vergleichen und zu verallgemeinern, vorgegebene Probleme zu variieren, ihre eigenen Probleme und Probleme für andere zu erfinden {,erfinde ein Problem, indem das benutzt wird, was Du gerade über Quadratwurzeln gelernt hast, oder eins, das Symmetrie enthält, oder eins, auf das die Antwort ist: Dies ist unmöglich'). Die Kinder sollen ihre eigenen mathematisch vielversprechenden Beobachtungen in mathematische Fragestellungen überführen {,es ist spaßig, daß 4 + 6 dasselbe ergibt wie 5 + 5, aber 4 x 6 nicht dasselbe wie 5 x 5') und können dem über Tage oder Wochen nachgehen; sie können mehr als eine Lösung für ein Problem und mehr als eine Formulierung der I.ösung entwickeln, dabei lernen, den Charakter und die Sicherheit ihres Verständnisses zu berücksichtigen: ,Woher weißt Du das? Würdest Du Dein Frühstück darauf verwetten?' Die Kinder sollen darüber berichten, auf welchem Wege sie während einer speziellen Sitzung mit dem Lehrer zu einem Aha-Erlebnis hinsichtlich eines bestimmten Problems gekommen sind. Algorithmen für arithmetische Operationen sind zunächst als physische und numerische De- und Rekombinationen eingeführt, anfangs weitgehend frei, dann mit einer Serie vom Lehrer eingeführter Einschränkungen. In dieser Weise werden die amerikanischen Standardrezepte für Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren als Möglichkeiten unter vielen, mit besonderen und interessanten, aber keineswegs magischen Voneilen verständlich gemacht. Auf diesem Hintergrund kommen die Kinder allmählich zur Erfassung immer komplexerer Variationen eines einzigen metaprozeduralen Themas, etc. In dieser und anderer Weise versucht die Farmschule die allgemeine Vorannahme zu realisieren, daß Kinder lernen sollten, was Mathematiker tun, und nicht lediglich einige von diesen erarbeitete Dinge zu behalten wobei die Kinder eine Chance haben, herauszufinden, was an der Mathematik es ist, das die mathematischen Experten begeisten (•that delights practioners•).
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Allgemein gesehen kann man das Konzept des •apprenticeshipc-Lernens (wenn auch entsprechende Bezüge m.E. bislang nicht hergestellt wurden) als eine Weiterentwicklung der (von mir S.80ff und S.112ff ausführlich dargestellten und diskutierten) Konzeption des •Modell-Lernens« im Sinne von Bandura betrachten. Von da aus treten einerseits - auf dem Hintergrund der Fassung der partizipativen Lernbeziehung als intersubjektives Frage-Antwort-Spiel, dessen Begründungsstruktur, wo sie nicht ohnehin offenliegt, leicht expliziert werden kann - die aufgewiesenen situativen Restriktionen des Modell-Lernens als (theoretisch unterschlagenes) Abgeschnittensein des •Beobachters« von den Handlungsgründen des •Modells« etc. unter einem weiteren Aspekt hervor. Andererseits aber verdeutlicht sich, daß die für die Situation des Modell-I..ernens kennzeichnende Substitution des direkten Weltzugangs durch dessen bloße Erschließbarkeit aus dem Verhalten einer anderen Person in gewissem Sinne auch da noch vorausgesetzt wird, wo diese Person nicht als •Modell«, sondern als •Master• spezifiziert ist: Dem Novizen sind im Kontext partizipativen I..ernens die praktischen oder symbolischen Bedeutungskonstellationen des Lerngegenstandes nur so weit zugänglich, wie sie vom Meister bereits realisiert sind und seine darauf bezogenen Handlungen priigen. Die jeweilige Lernproblematik des Novizen entsteht nicht aus der Diskrepanz zwischen den direkt im Lerngegenstand enthaltenen Handlungsmöglichkeiten und deren noch beschriinkter Realisierbarkeit im eigenen Handeln, sondern aus der Diskrepanz zwischen den vom Meister realisierten und meinen dahinter zurückbleibenden Handlungsmöglichkeiten mit Bezug auf den Lerngegenstand. Qualitative Lernsprünge sind in diesem Rahmen nur möglich als Nachvollzug von Sprüngen, die der Meister bereits vollzogen hat. Das bedeutet aber, daß im partizipativen Verhältnis Lernproblematiken für mich nur im Rahmen des vom Meister Gekonnten/Gewußten entstehen können, während das Können/Wissen des Meisters selbst unproblematisiert bleiben muß. Seine Grenzen sind auch meine GrenzeiL Dies ergibt sich eben aus der im •apprenticeship«-Verhältnis implizierten Ein-
heit zwischen lernendem Weltzugang und der Art, wie der Meister in seind Person diesen Zugangfindet. Demnach sind mir die Handlungsmöglichkeiteil des Meisters zwar nicht so total verschlossen wie die des Lehrers (soweit: Schulfunktionär), aber ich kann sie nur über den langfristigen Prozeß meiner schrittweisen Überwindung des Novizenstatus, also lediglich in dem Maße, wie ich mich selbst dem Meisterstatus annähere, erreichen. Die gegefto wärtige Überlegenheit des Meisters ist hingegen - da sie ja quasi die Geschäft~' grundJage für das •apprenticeship«-Verhältnis bildet- von mir (wenn ich ni~ aus dem Vertrag aussteigen will) nicht anzweifelbar. Entsprechend findeJ! auch meine expansiven Lernhandlungen mit wissensuchenden Fragen~ hier ihre immanent unübersteigliche Schranke: So gesehen sind partizi~
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Lernbeziehungen quasi traditional organisiert, setzen von der jeweiligen Praktiker-Gemeinschaft akzeptierte Kriterien dafür voraus, wer jeweils den Meister-Status beanspruchen kann und wie die Lernschritte zu bestimmen sind, an welchen die Annäherung des Novizen an den Meister erkennbar ist; expansive Lernhandlungen sind demnach jeweils nur im Rahmen solcher traditionalen Regelungen zugelassen, aber nicht »darüber hinaus«. Die Genese solcher Beschränkungen und die besonderen Voraussetzungen der Funktionalität des partizipativen Lernens wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß (wie aus den angeführten, von Jean Lave eingebrachten ethnographischen Beispielen ersichtlich) »apprenticeship«-Anordungen (sowohl zeitlich wie strukturell) ursprünglich der Vermittlung »praktischer« Fähigkeiten/Fertigkeiten, dabei insbesondere - in unserer Terminologie dem Lernen durch transformierenden Nachvollzug von Bewegungsbedeutungen dienen: Dies gilt sicherlich für das Erlernen der Hebammen-Kunst, des Schneider-Handwerks etc., aber teilweise auch für das Lernen (von Jean Lave ja eigens erwähnter) künstlerischer Aktivitäten- wie etwa des (von uns früher als Beispiel benannten) Erlernens des Geigespiels. Hier erschließen sich (wie dargestellt, vgl. S.285f) die verschiedenen praktischen Bedeutungsaspekte des Lerngegenstandes, etwa der Geige, nicht über bloß verbale Charakterisierungen, auch nicht lediglich durch Zusehen, sondern allein durch den praktischen Bewegungsmitvollzug: Es sind (wie dargelegt) bestimmte Qualitäten der Stofflichkeit oder des Materialcharakters, die ich nur in direktem Kontakt über meine ebenfalls stofflich-sinnlichen Bewegungen erfahren kann und die erst darüber wiederum zum Inhalt mentaler Handlungsvollzüge, sprachlicher Kommunikation etc. werden können. Hier findet man also aufgrund der körperlichen Unmittelbarkeit der Gegenstandserfahrung beim Bewegungsnachvollzug von Bedeutungen eine durch bloß mentales Lernen nicht erreichbare Zugangsweise zum Lerngegenstand, woraus sich beim partizipativen Lernen die besondere subjektive Begründetheit der Wechselbeziehung zwischen Vortun, Mittun und (nachgeordneter) sprachlicher Kommunikation ergibt. Dies heißt aber, daß die benannte, für das Apprenticeship-Lernen charakteristische Einheit zwischen lernendem Gegenstandsaufschluß und dessen Gewinnung durch den Meister mit Bezug auf die transformierende Realisierung von Bewegungsbedeutungen unmittelbar evident erscheint: Es steht für mich (zunächst) außer Frage, daß das Flageolett oder der Springbogen so ausgeführt werden müssen, wie der Meister dies tut, und das ich - um es auch so hinzukriegen - herauszufinden habe, wie er das macht. Auch, wo es weniger um technische als um musikalische Fragen des Geigenspiels geht, wird mir der Meister vorspielen, wie er sich eine bestimmte Stelle denkt, und ich werde dies nachzuspielen versuchen,
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und darauf wird sich sodann unsere Diskussion beziehen. Auffassungsunterschiede werden dabei sicherlich erst in dem Maße zur Debatte stehen, wie ich den Novizenstatus so weit überwunden habe, daß ich halbwegs Geige spielen kann; und wenn ich tatsächlich meine eigene Auffassung im Spiel überzeugend gegen die des Meisters zur Geltung zu bringen vermag, so verweist dies darauf, daß ich selbst mich schon ein gutes Stück dem Meisterstatus angenähen habe. - Die partizipative Organisation des Lernprozesses ergibt sich demnach beim interpersonalen Lernen von Bewegungsbedeutungen (bei künstlerischer Betätigung, im Spon, etc.) offensichtlich weitgehend •aus der Sache«: Erst muß ich das können, was der Meister kann, ehe ich meinen eigenen Stil dagegensetzen sollte. Und erst dann wird mir die jeweilige Bewegungsgestalt allmählich unabhängig davon zugänglich, wie der Meister sie ausgefühn hat, so daß andere, neue Spielanen der Bewegungsfigur für mich machbar und denkbar werden. Der »traditionale« Charakter solcher Lernarrangements ist eine quasi selbstverständliche Folge des erwähnten Umstands, daß die Erfahrung sinnlich-körperlicher Bewegungen nicht total diskursiv auflösbar ist, so daß die Bewegungen auch nicht gänzlich unabhängig von der Wahrnehmung/ dem Nachvollzug ihrer (wie immer »audiovisuell« zubereiteten) konkreten Ausführung durch einen •Könner« hinreichend erlernbar sind. Indem wir damit die Funktionalität und Legitimität des panizipativen Apprenticeship-Verhältnisses im Bereich des Bewegungsiemens aufwiesen, sollten die Probleme dieser interpersonalen Lernorganisation außerhalb dieses Bereichs, mit Bezug auf dominant mental·verbales Lernen, schon deutlich geworden sein: In dem Maße, wie der Lerngegenstand mir nicht nur über die sinnlich-körperliche Performanz des Meisters, sondern direkt in seinen gegenständlich-symbolischen Bedeutungsstrukturen zugänglich ist, verlien die Voraussetzung einer langfristigen, personabhängigen Überlegenheit des Meisters an Überzeugungskraft. Es ist im Kontext expansiven Lernens nun nicht mehr verbindlich zu machen, warum - da bzw. soweit der Lerngegenstand mir jetzt unabhängig von seiner Realisierung durch den Meister gegeben ist - an diesem Kriterium nicht auch die jeweiligen Beiträge des Meisters selbst aktuell hinterfragbar sein sollen. Damit würde also die Überlegenheit des Meisters nicht mehr konsensuell unterstellt, sondern müßte sich in jedem Einzelfall aus der Art, wie er deren Infragestellung zu begegnen vermag, neu erweisen. Wenn demgegenüber dennoch auf der personalen Überlegenheit des Meisters als »Meister« beharrt würde, so hätte man darin eine diskursiv nicht ausweisbare autoritative Position zu sehen, mit welcher, in der Beschneidung wissensuchender Fragen, expansives Lernen tendenziell behinden wäre. Mit der Problematisierung der persongebundenen Asymmetrie zwischen
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dem Meister und den Novizen ist dabei nicht notwendigerweise auch dessen sachliche Überlegenheit angezweifelt: Es kann sich ja herausstellen, daß er angesichts jeder aktuellen In-Frage-Stellung die höhere Qualität seines Beitrags argumentativ aufzuweisen vermag. Allerdings ist dies nicht vorab sicher oder zu garantieren, womit der traditional fundierte Charakter des MeisterNovizen-Verhältnisses, und darin letztlich dieses selbst, in Frage gestellt wäre. So gesehen nimmt das partizipative Lernen als Ermöglichung expansiver Lernprozesse hier eine Mittelstellung ein: Auf der einen Seite eröffnet sich damit in der geschilderten Weise die Möglichkeit einer Zurückdrängung der im Lehrlernen liegenden Beschränkungen, auf der anderen Seite aber muß hier, in dem Grade wie (in bestimmten Lernkonstellationen) die potentiell in der traditional-persongebundenen Asymmetrie liegenden autoritativen Momente virulent und problematisch werden, expansives Lernen jenseits traditionalautoritativer Behinderungen in den Blick kommen. Qean Lave ist - wie mir Oie Dreier nach einem Besuch bei ihr berichtet hat - gegenwärtig dabei, ihr Konzept des »apprenticeship«-Lernens aufgrund seiner traditional-autoritativen Konsequenzen neu zu durchdenken und weiterzuentwickeln.) Gesucht ist hier demnach eine Fassung interpersonaler Lernverhältnisse, in welchen im Interesse unbehinderten expansiven Lernens Asymmetrien des Wissens/Könnens der Beteiligten zwar nicht beseitigt, aber jederzeit durch wissensuchende Fragen erreichbar und begründungspflichtig sind, wobei die besseren Argumente nicht mehr an überlegene Personen gebunden erscheinen, sondern von Person zu Person, wie auch innerhalb einer Person, wechseln können. Partizipatives Lernen wäre in diesem übergeordneten Kontext (um seine traditionale Absicherung ermäßigt) dem Sonderfall der längerfristigen sachlichen Überlegenheit einer Person geschuldet, wobei diese Überlegenheit aber nicht hypostasiert ist, sondern sich aus ihrer Infrage· stellung immer wieder neu erweisen muß - also jederzeit in anderen interpersonalen Verteilungen des Wissens/Könnens auflösen kann: Dies ist jene interpersonale Lernanordnung, die wir (wie angekündigt) als »kooperatives Lernen« bezeichnen und nun genauer diskutieren wollen. Dabei sollte aus der Herleitung dieses Konzeptes hervorgehen, daß mit •kooperativem Lernen« hier weder- wie etwa bei Wygotski (1971} oder Max Miller (1986}- eine ontogenetisch elementare Entwicklungsstufe des Lernens noch - wie in bestimmten tätigkeitstheoretischen Ansätzen, vgl. etwa Engeström (1987} - eine historisch-gesellschaftlich höhere, kollektive Lernstufe gemeint ist: dies schon deswegen nicht, weil wir, wie dargestellt (vgl. etwa 5.237), präskriptiv vorausgesetzte niedrigere oder höhere Entwicklungsoder Lernstufen generell als sinnvolle analytische Konzeptionen in Frage stellen mußten. Unser Konzept des kooperativen Lernens ergibt sich vielmehr aus dem Versuch, die in interpersonalen Lernepisoden gegebenen Möglichkeiten expansiven Lernens jenseits des
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Schuldisziplinären Lehrlernkurzschlusses (die wir vorher nur deskriptiv umschrieben hatten) nunmehr schrittweise begründungstheoretisch zu konzeptualisieren: Dabei war im Aufweis der in partizipativem Lernen aufgrund der Personalisierung des Könnens-/ Wissensgefälles verbleibenden Beschränkungen expansiver Lernprozesse gleichzeitig die Möglichkeit interpersonalen Lernens ohne derartige Personalisierungen/Beschränkungen mitzudenken-die nunmehr unter der Bezeichung •kooperatives Lernen« in ihrem Verhältnis zu personal-autonomem Lernen genauer analysiert (und später auf ihre institutionellen Voraussetzungen hin diskutiert) werden soll. Nur aus diesem Problemkontext sind die folgenden Ausführungen über Kooperation beim Lernen angemessen zu verstehen.
Beim kooperativen Lernen orientieren die Individuen - dies ist selbstevident - ihr Lernen an irgendwelchen Gemeinsamkeiten. Wie aber sind diese näher zu kennzeichnen? Als Antwort darauf mag naheliegen: Die Individuen müssen- wenn sie beim Lernen kooperieren wollen- sich ein gemeinsames Lernziel setzen. Aus unseren früheren Darlegungen geht jedoch hervor, daß wir uns darauf nicht einlassen können: Lernziele sind nämlich, wie wir ausführten, lediglich sekundär-operativer Art, so daß wir mit dem Rekurs auf gemeinsame Ziele das expansive, also thematisch bestimmte Lernen in Kooperation mit anderen, um das es uns hier ja geht, gleich wieder verloren hätten. Also bemühen wir unsere eigene Terminologie und korrigieren: Die Individuen müssen bei kooperativem Lernen eine gemeinsame Lernproblematik ausgliedern! Damit sehen wir uns aber vor der (ebenfalls aus unseren früheren Diskussionen sich ergebenden) Schwierigkeit, daß es - gemäß der Eigenart von Lernproblematiken, wie wir sie auseinandergelegt haben - eine für mehrere Personen gemeinsame Lernproblematik genau genommen nicht geben kann: Lernproblematiken sind ja unserer Konzeption nach vom Standpunkt und von der Perspektive des jeweiligen Lernsubjekts im Kontext seiner personalen Situiertheit ausgegliedert, so daß darin zwar der Lerngegenstand als außenweltliche Bezugsgröße enthalten ist, dies aber stets und notwendig in der Art, wie dieser aus jeweils meiner Perspektive angeschnitten ist. Da somit meine und Deine Lernproblematik, also auch mein und Dein Lerngegenstand, zwar auf einen außenweltliehen Bedeutungskomplex als gemeinsame Bezugsgröße verweisen (können), aber dennoch in der Art ihrer Gegebenheitsweise perspektivisch verschieden sind, mag man die gesuchte Gemeinsamkeit der Kooperierenden so umschreiben: Individuen müssen, sofern sie lernend kooperieren, ihre jeweiligen personalen Lernproblematiken/Lerngegenstände (unter Berufung auf deren gemeinsamen außenweltliehen Bezugspunkt) als (mindestens) so ähnlich bzw. so eindeutig aufeinander beziehbar definiert haben, daß ihre Kooperation beim Versuch einer Überwindung der je eigenen Lernproblematik durch lernende Gegenstandsannäherung als möglich und sinnvoll erscheint. Kooperatives Lernen beruht demgemäß auf einer Definition bzw. Vereinbarung darüber, was - unter
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Absehung von tatsächlich unaufhebbaren Differenzen -jeweils als unsere gemeinsame Lernproblematik gelten soll: dies ein Umstand, dessen Berücksichtigung (wie zu zeigen) für eine angemessene Explikation des KooperationsIemens entscheidend ist. Da bei kooperativem Lernen nicht mehr eine vermittelnde, interpretierende, bewertende, besserwissende oder -könnende Person zwischen mir (als Lernsubjekt) und dem Lerngegenstand steht, sondern wir als Lernsubjekte uns quasi nebeneinanderstehend einem offenen Feld von Handlungs- und Lernmöglichkeiten gegenüber sehen, können wir zur Überwindung unserer gemeinsamen (als gemeinsam definierten) Lernproblematik unsere Anstrengungen zusammentun und damit potenzieren: So ist die kommunikative Lernmodalität hier als reziproke Beziehung, also als permanenter, an der Überwindung der Lernprobleme orientierter Dialog zu installieren. Darüber hinaus können wir das im Lernprozeß sukzessiv aufzuschließende modalitätsübergreifende Inhalts- und Quellenwissen gemeinsam organisieren, objektivierende Zugänge und Mittel uns wechselseitig zur Verfügung stellen, geschützte Räume für affinitive Lernphasen schaffen, einer den anderen anregen und stimulieren, uns unsere Beiträge zurückspiegeln und so ihre kritische Reflexion befördern. Darin eingeschlossen ist eine Potenz, die nur in kooperativem Lernen eröffnet werden kann, nämlich die am gemeinsamen Problem orientierte Arbeitsteilung (i.w.S.}: Du liest dies, ich lese jenes, und wir machen uns dann wechselseitig kundig; Du machst Dich zum Experten auf diesem Gebiet, ich mache mich zum Experten auf jenem Gebiet, und wir tun dann unser Expertenturn zusammen. Zu einer solchen arbeitsteiligen Lernorganisation gehört auch die Gegensteuerung gegen die Desintegration unserer Anstrengungen, indem mindestens so viel Wissen/Können gemeinsam angeeignet wird, daß die je individuellen Beiträge für den übergreifenden Lernprozeß nutzbar gemacht werden können - Herstellung überlappender Zonen des Wissens/Könnens als optimaler Mittelweg zwischen den Alternativen »alle wissen alles« und »jeder kennt nur seinen Sektor«: »Distribution of knowledge« (vgl. dazu etwa Hutchins 1991}. Welche Möglichkeiten der Arbeitsteilung und kooperativen Wissensdistribution dabei bestehen, hängt natürlich von den jeweiligen gegenständlich-symbolischen Bedeutungsstrukturen ab, aus welchen der als gemeinsam gesetzte Lerngegenstand ausgegliedert ist: So werden sich andere institutionelle Kooperationsstrukturen (und andere Formen von Kooperationsbehinderungen, s.u.) ergeben, je nachdem, ob die Lernprozesse sich etwa im Feld von Arbeitsräumen, Bibliotheken, Kommunikationsmöglichkeiten im universitären Kontext oder im Feld jenes amphibischen Helicopter-Transporters der US-Navy vollziehen, dessen kooperative Navigation Hutchins (1987) analysiert hat.
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Über die damit angedeuteten konvergierend-synergetischen Momente hinaus liegen jedoch im kooperativen Lernen Potenzen einer anderen Quali. tät (und Widersprüchlichkeit), die sich aus dem benannten Umstand ergeben, daß dabei gemeinsame Lernproblematiken und -gegenstände ja nicht wirk. lieh bestehen, sondern nur als bestehend definiert sind, so daß Divergenzen personaler Perspektiven als unaufhebbar im Inneren des kooperativen Lern. prozesses erhalten bleiben. Somit gehen verschiedene Ansichten, Seiten, Les. arten des Lerngegenstands mit einer Direktheit in die kooperativen Lern. aktivitäten ein, die bei personal-autonomem Lernen für sich genommen schwerlich erfahrbar sind: Zwar kann ich auch als Individuum von meiner Perspektive aus andere Perspektiven in Rechnung stellen und lernend zu berücksichtigen versuchen, dabei sind mir die anderen Perspektiven aber wiederum nur aus meiner Perspektive zugänglich. Dies gilt im Prinzip auch, wenn ich in objektivierender Modalität andere Auffassungen und Sicht· weisen lesend zur Kenntnis nehme: Auch hier kann es sich um nicht mehr handeln als um fremde Sichtweisen in meiner Sicht. Anders ist die Situation jedoch, wenn mir die andere Perspektive im kooperativen Dialog unmittelbar als mit der meinen ins Verhältnis gesetzte Perspektive des anderen ent· gegentritt: Hier sehe ich durch seine Perspektive meine eigene_ Perspektive als von der des anderen abweichend unmittelbar in Frage gestellt, meine Sichtweise verliert also ihren ausgezeichneten Status und verdeutlicht sich als eine unter gleichursprünglichen und in gleicher Weise hinterfragbaren und zu rechtfertigenden anderen. So können wir - unter der Prämisse, daß wir lernend auf den gleichen Gegenstand bezogen sind - unsere Perspektivendivergenzen nicht auf sich beruhen lassen, sondern müssen sie im kooperativen Lernprozeß austragen: Eben darin liegt die spezifische Produktivität kooperativen Lernens (vgl. dazu auch Miller 1986, S.lSff). Die Art und Weise, in welcher derartige Divergenzen begründetermaßen kooperativ auszutragen sind, bemißt sich nach dem Stand unserer Lernbemühungen im Verhältnis zum Lerngegenstand. So können sich darin aktuelle Asymmetrien des Standes meiner und Deiner Gegenstandsannäherung ausdrücken: Es kann mir etwa in Ansehung Deiner Sichtweise deutlich werden, daß Du schon weiter in die Tiefenstruktur des Lerngegenstands eingedrungen bist, womit durch meine fortgesetzten Lernanstrengungen die Divergenz unserer Perspektiven sich auf dieser Dimension reduzieren müßte. Dabei kann sich für mich herausstellen, daß Du hier bereits einen qualitativen Lernsprung vollzogen hast, den ich mit Deiner Hilfe erst noch nachzuholen habe. Es kann sich aber auch ergeben, daß wir - ohne daß Asymmetrien vordergründig werden - den Lerngegenstand bisher sowohl in meiner wie in Deiner Perspektive »einseitig« betrachtet haben, und es mag sich
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herausstellen, daß wir mit unserem bisherigen Lernprinzip diese Einseitigkeiten nicht überwinden können, also versuchen müssen, von einem neuen Lernprinzip aus dialogisch eine • Lerndiskrepanz höherer Ordnung« herauszuarbeiten, d.h. gemeinsam jenen qualitativen Sprung zustandezubringen, durch welchen unsere bisher divergenten Perspektiven in einer entwickelteren Perspektive auf den Lerngegenstand aufgehoben werden. Dies alles sind stets nur relative Lösungen, da sich auf dem neuen Niveau der Gegenstandsannäherung notwendig wiederum Perspektivendivergenzen auftun müssen. Dabei ist in den bisher benannten kooperativen Umgangsweisen mit Perspektivendivergenzen die Bezogenheit auf einen gemeinsamen Lerngegenstand als •Geschäftsgrundlage« der Kooperation nicht angetastet. In dem Maße, wie die relative Aufhebung der Divergenzen über das tiefere Eindringen in den Lerngegenstand nicht gelingt, tritt aber die Frage in den Vordergrund: Liegen unsere Divergenzen tatsächlich nur in verschiedenen Perspektiven, oder beziehen wir uns vielleicht gar nicht mehr auf den gleichen Lerngegenstand? Können wir also unsere Vereinbarung, das wir gemeinsam eine Lernproblematik verfolgen wollen, überhaupt noch aufrechterhalten, oder müssen wir uns zugestehen, daß wir uns im Laufe unserer kooperativ gemeinten Lernaktivitäten inzwischen so weit auseinanderdividiert haben, daß wir uns nunmehr auf etwas Verschiedenes beziehen? Damit verdeutlicht sich eine Grundwidersprüchlichkeit kooperativen Lernens, die darin liegt, daß die Perspektivendivergenzen zwar, je größer sie werden, den gemeinsamen Lernprozeß in umso höherem Maße vorantreiben mögen - aber nur unter der Voraussetzung, daß sie noch unter der Prämisse eines gemeinsamen Gegenstandes im Inneren des Kooperationsprozesses aufgefangen werden können: Sofern die Divergenzen aber einen bestimmten Grad überschreiten, ist ihre Rückbeziehung als verschiedene Ansichten eines Lerngegenstandes nicht mehr aufrechtzuerhalten und die kooperative Lernbeziehung tendenziell in Richtung auf personal·autonomes Lernen jedes einzelnen Beteiligten verlassen. Da es für die Entscheidung zwischen der Alternative: verschiedene Perspektiven eines Lerngegenstandes oder ver· schiedene Lerngegenstände aber keine eindeutigen übergeordneten Kriterien gibt (wo sollten sie auch herkommen?), bedeutet dies, daß diese Alternative in kooperativen Verhältnissen expansiven Lernens immer mitzudenken ist. Im kooperativen Dialog darf also offiziell gefragt werden, ob angesichts bestimmter Divergenzen meine Lernprobleme und -interessen überhaupt noch hinreichend mit den Deinen oder den Euren konvergieren oder ob ich - weil meine Lernproblematik in der als gemeinsame definierten Problematik nicht mehr aufgehoben ist - diese vernünftigerweise ohne Dich/Euch (in autonomem Lernen) weiterverfolgen sollte.
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Ehe wir die Konsequenzen, die sich aus der damit umschriebenen Option des Aussteigen-Könnens für interpersonal-personale Prozesse expansiven Lernens ergeben, weiterverfolgen, soll das zwingende Erfordernis der Einräumung dieser Option als Bestimmungsmoment kooperativen Lernens von den Folgen her verdeutlicht werden, die entstehen müssen, wenn eine solche Option nicht als legitim und offiziell diskussionspflichtig eingeräumt wird: In diesem Falle müßte nämlich innerhalb der Kooperationsbeziehung eine bestimmte Perspektive, Sichtweise, Lesart, als apriori überlegen, zu bevorzugen, selbstverständlich, von allen ohnehin geteilt, ausgezeichnet sein, und zwar (da dies diskursiv nicht ausweisbar ist} durch- wie auch immer in Erscheinung tretende - eingeräumte oder erzwungene - Machtausübung. Dies kann etwa dadurch geschehen, daß innerhalb des (vorgeblich?} kollektiven Verhältnisses (mindestens} einer bestimmten Person- etwa deswegen, weil sich in vielen aktuellen Beiträgen ihre Kompetenz erwiesen hat, weil sie im weiteren sozialen Umfeld besonderes Ansehen genießt und so zum Sprecher der Gruppe geworden ist etc. - allmählich eine permanente persongebundene Überlegenheit zugeschrieben wird, womit ihre Perspektive unvermerkt und fraglos als gültige Perspektive, an der sich die anderen zu orientieren haben, anerkannt ist: Damit gewänne eine solche Person informell die Funktion eines •Meisters«, wodurch das kooperative Lernverhältnis faktisch in Richtung auf ein partizipatives »apprenticeship«· Verhältnis sich verändern würde - mit all jenen potentiellen Behinderungen expansiver Lernprozesse (im Bereich mental-symbolischen Lernens}, die wir früher dargestellt haben. Eine bestimmte Perspektive kann aber auch deswegen als apriori überlegen imponieren, weil man sich eben unter dieser anderweitig verankerten und ausgezeichneten Perspektive zusammengefunden hat, womit nur derjenige dazugehören würde, der die als gemeinsam deklarierte Perspektive akzeptiert und jeder tendentiell ausgeschlossen, der diese prinzipiell anzweifelt. In einem solchen Fall wäre die Voraussetzung, daß man in einen kooperativen Lernprozeß involviert sei, ein Selbstmißverständnis: Tatsächlich handelt es sich um ein verdecktes Lehr lernverhältnis, innerhalb dessen all jene die Lehrinstanz bilden, die sich mit der vorgefaßten Sichtweise in Übereinstimmung wissen und von der damit verbundenen Machtposition aus andere Sichtweisen bewerten, d.h. abwerten können. Damit würden - indem eine herrschende Teilperspektive als verbindliche Metaperspektive ausgegeben wird- die Lernprozesse der Personen mit divergenten Perspektiven entweder (in der früher geschilderten Weise) auf defensives Lernen hin normalisiert oder die abweichenden Personen aus der Lerngruppe ausgegrenzt: Unter derartigen Prämissen wäre expansives Lernen genau genommen selbst schon als
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abweichend indiziert.- Eine (vielleicht schwerer erkennbare) Variante einer derartigen Veränderung kooperativen Lernens in Richtung auf Lehrlernen liegt bereits dann vor, wenn als vorgefaßte Perspektive lediglich die Metaperspektive unanzweifelbar sein soll, daß kooperatives Lernen, Lernen im Kollektiv o.ä. die überlegene, (politisch) einzig vertretbare, von »Uns allen• verteidigte Lernform ist, womit jeder Beitrag nur so weit zulässig wäre, wie durch ihn die kollektive Lernweise selbst nicht angezweifelt oder sabotiert wird: Damit wären Perspektivendivergenzen nur bei Anerkennung einer gemeinsamen gegenstandskonstituierenden Generalperspektive erlaubt, die Frage, wieweit ich darin meine Lernproblematik und meine Lerninteressen (noch) aufgehoben sehe, aber schon als Frage verboten. So wäre ich also auf eine (wie immer zustandegekommene) .. herrschende Meinung« vergattert und den Belehrungen und Bewertungen jener ausgesetzt, die diese Meinung teilen und meine Abweichung, diesmal unter den Vorzeichen der Bewahrung unserer kollektiven Lern- und Arbeitsweise, sanktionieren und mich ggf. einvernehmlich ausgrenzen (können). Da die herrschende Meinung so nicht mehr argumentativ korrigierbar, sondern machtökonomisch hypostasiert ist, ist weiterhin die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß hier nicht nur die kollektive Lernform, sondern auch deren herrschende Perspektive gegen die Destruktion durch Abweichler geschützt werden soll. Aus diesen Darlegungen sollte hervorgehen, daß kooperatives Lernen nur dann als eigenständige, ungehindertes expansives Lernen ermöglichende Lernform gegenüber .. apprenticeship•- und Lehrlernverhältnissen erhalten werden kann, wenn man lernende Kooperation als eine offene Beziehung versteht und praktiziert, in der niemand, der in Frage gestellt wissen will, wieweit er sich der als gemeinsam definierten Lernproblematik/ Gegenstandsausgliederung noch subsumieren kann, ausgegrenzt wird. Dies heißt auch, daß hier Übergangsformen zwischen kooperativem Lernen und autonomem Lernen einzelner Beteiligter nicht verhindert, sondern ermöglicht und befördert werden, wobei- im Interesse des expansiven Lernfortschritts- das Wiedereinbringen autonom gewonnener Lernresultate in den kooperativen Lernverbund ausdrücklich begünstigt wird. So muß etwa die geschilderte Unmög:lichkeit, Divergenzen meiner und Deiner Sichtweise in Annäherung an den als gemeinsam definierten Lerngegenstand aufzuheben, keineswegs gleichbedeutend mit der totalen Beendigung unserer Kooperationsbeziehung zugunsten personal-autonomen Lernens sein. Es besteht nämlich etwa auch die Möglichkeit, daß wir die Divergenz unserer Perspektiven selbst als in der Sache begründet durchdringen können, also die darin liegende Perspektiven-Vielfalt als unreduzierbar begreifen, von da aus das Verhältnis der unvereinbaren Perspektiven zueinander auf den Begriff bringen und so das Weiterverfolgen
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meiner wie Deiner Perspektive als rational begründbar anerkennen können. So hätten wir es hier also nicht mit einer Trennung, sondern quasi mit einer Kooperation auf höherer Ebene, nämlich mit Bezug auf in ihrem Verhältnis geklärte autonom verfolgbare Lernproblematiken, zu tun, wobei Deine Resultate, wenn sie auch nicht mit den meinen synthetisiert werden können, dennoch die Besonderheiten meiner Herangehensweise und Gegenstandsausgliederung durch schärfere Verhältnisbestimmungen klarer faßbar machen mögen. In dieser Art ließen sich (gesellschaftlich-institutionelle Verhältnisse, die dies ermöglichen, vorausgesetzt) Dialogbeziehungen auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlicher Verbindlichkeit organisieren, in denen die Reziprozität der Kooperation gleichwohl erhalten ist, so daß im Kontext der übergreifenden Verweisungszusammenhänge des jeweiligen Lerngegenstands ein Netz von wechselseitigen Ansprechpartnern aufgebaut werden kann. Dabei wäre das personal-autonome Lernen einerseits lediglich ein Grenzfall der in verschiedenen Ringen angeordneten Kooperationsbeziehungen; andererseits aber ist autonomes Lernen mit der Ausgliederung von Lernproblematiken/ -gegenständen von je meinem Standpunkt in gewissem Sinne als unreduzierbar in allen kooperativen Formen expansiven Lernens enthalten: Nur ich selbst (wer sonst?) kann- wie intensive Konsultationen und Diskussionen dem immer vorhergegangen sein mögen - gemäß der interessengegründeten Zugangsweise zum Lerngegenstand von je meinem Standpunkt aus - letztlich entscheiden, ob ich jeweils meine Lernproblematik (vorübergehend?) einer gemeinsamen, kooperativ zu verfolgenden Lernproblematik subsumieren kann oder auf ihrer Differenz und Andersartigkeit bestehen muß. (Selbst wenn ich mich dabei irren sollte, kann mir auch diesen Irrtum in letzter Instanz niemand abnehmen.)
Möglichkeiten/Behinderungen expansiven Lernens in Lernstättenl-gruppen außerhalb der Schuldisziplin Bei unserer bisherigen Diskussion der Möglichkeiten expansiven Lernens über die dieses behindernde Schuldisziplin hinaus haben wir zunächst die offizielle Vorstellung von der Schule als privilegiert-universellem On des Lernensund vom Alltag als Feld bloßer Anwendung des schulisch Gelernten problematisiert: Schulisches und außerschulisches Lernen verdeutlichten sich so als bezogen auf gleichberechtigte spezielle Lernkonstellationen (mit aus ihrer jeweiligen Tiefenstruktur erwachsenden unterschiedlichen
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Verallgemeinerungsmöglichkeiten). Von da aus konnten wir in lernbiographischer Sicht Episoden expansiven Lernens jenseits Schuldisziplinären Lehrlernens in schulischen und außerschulischen Situationen beschreiben und miteinander ins Verhältnis setzen. Bis dahin war also die Vorstellung nahegelegt, als ob die Behinderungen expansiven Lernens an die Schuldisziplin gebunden seien, in Situationen außerhalb der Schuldisziplin dagegen expansives Lernen sich entfalten könne. Nachdem wir nun aber den Übergang interpersonaler Lernverhältnisse vom Schuldisziplinären Lehrlernen zu partizipativem Lernen und kooperativem Lernen phänomenanalytischbegrifflich ausdifferenzierten, wurde deutlich, daß die Auffassung, Restriktionen expansiven Lernens seien notwendig auf die Schuldisziplin beschränkt, konzeptuell nicht haltbar ist. Es hat sich nämlich gezeigt, daß nicht nur •partizipatives Lernen« außerhalb der Schuldisziplin unter bestimmten Voraussetzungen Behinderungen expansiver Lernmöglichkeiten einschließt, sondern auch das (als Möglichkeit zu deren Überwindung konzipierte) »kooperative Lernen« - da hier konzeptuell eine Offenheit vorausgesetzt werden muß, deren Bedrohung und Verteidigung ein inneres Moment der Kooperation darstellt- keineswegs eo ipso als Betätigung expansiven Lernens betrachtet werden darf. Die Frage, wieweit in außerschulischen Bedeutungskonstellationen typische Prämissenstrukturen gegeben sind, die expansives Lernen ermöglichen, ist also nicht konzeptueller bzw. phänomenanalytischer, sondern bedeutungs-/begründungsanalytischer Art. Dabei ist -weil keine historisch gewordene konsistente Institutionsstruktur wie die von •Schule« vorausgesetzt werden kann - eine systematische Behandlung dieser Frage hier kaum möglich. Wir wollen dennoch- im Interesse unserer Gesamtargumentation- einige (wie immer fragmentarische) Überlegungen darüber beizusteuern versuchen. - Wieweit also sind mit Bezug auf eindeutig außer· schulische Konstellationen interpersonalen Lernens, wo die disziplinäre Schulfunktion der Laufbahnzuweisung etc. administrativ nicht verbindlich zu machen ist, tatsächlich Gelegenheiten zu expansivem Lernen konsensuell bereitgestellt und lassen sich problemlos finden; und dies - da hier Asymmetrien ja nicht •vorgeschrieben« sind - womöglich nicht (nur) in partizipativen, sondern in voll entfalteten kooperativen Formen? Schon ein erster Blick zeigt, daß von einer derartigen allgemeinen Anerkennung und Förderung expansiver Lerninteressen im Bereich außerschulischen Zusammenlebens nicht die Rede sein kann. Mindestens in mehr oder weniger institutionalisierten Lernkonstellationen außerhalb der Schule - etwa gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen, politischen Schulungsinstitutionen, Volksbildungsstätten verschiedener Art o.ä. - lassen sich vielmehr leicht Lernanordungen ausmachen, die nach jenem Prinzip präskriptiver
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Planung von Lernprozessen organisiert sind, dessen Unvereinbarkeit mit der Dominanz expansiven l..ernens wir anläßlich der Analyse schuldisziplinärer Lehrlernanordnungen aufweisen wollten: Fixierungen des Verhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden, mit dem Einfluß der Lernenden mindestens partiell entzogenen Lehrplänen und öfter auch bestimmten Formen der »Organisation von Entwicklungen« etc. Dabei sind Notengebungen i.e.S. allerdings unüblich, Abschlüsse verschiedener Art (Zertifikate zu Fortbildungszwecken, Teilnahmebescheinigungen zur Erlangung unterschiedlicher Berechtigungen, Möglichkeiten zum formellen oder informellen Vorweis von Kompetenzen in bestimmten Arbeits- und Lebenszusammenhängen etc.) aber gebräuchlich, so daß hier die Bewertungsmacht mehr oder weniger ausgeprägt in den Lernkonstellationen präsent wäre. Dabei ist das Verhältnis zwischen den Planungsinstanzen der Lernprozesse und den der Planung unterworfenen Lernsubjekten hier zwar nicht - wie mit Bezug auf die Schule - unmittelbar in staatlicher Macht (und deren Distribution in die Institution hinein) gegründet, an deren Stelle treten aber meist in unterschiedlichen Differenzierungen das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsleitung, Parteileitung, in Fortbildungsveranstaltungen u.U. auch Betriebsleitung, oder auch das Gefälle zwischen (etwa akademisch, durch bestimmte gewerkschaftliche, politische oder berufliche Laufbahnen o.ä. ausgewiesenen) Lehrpersonen (Referenten, Teamern) einerseits und den Lernenden andererseits. Versuche theoretischer Begründungen solcher Lernarrangements verbleiben - wo sie vorliegen - häufig im Rahmen jener mehr konservativen oder mehr reformerischen lerntheoretischen Konzeptionen und/ oder pädagogisch-psychologischen Konzeptionen, wie wir sie früher diskutiert haben. Sofern Ansätze zur prinzipiellen Ableitung und Begründung der jeweiligen Lernziele vorliegen, stößt man dabei, ohne lange suchen zu müssen, auf jene allgemeinsten Formeln der »Erziehung-Zu«, wie wir sie als Kennzeichen der Präambeln von Schulgesetzen, schulischen Lehrplanwerken etc. kennen gelernt haben (vgl. S.387ff). Entsprechend ist etwa im Material zum Stufenplan der Jugendbildungsarbeit der IG Metall von »Erziehung zur aktiven Mitgliedschaft in den Gewerkschaften«, »Erziehung zu politischem und soziologischem Denken« u.a. die Rede, wobei auch Anklänge an das (etwa im Kontext des Entdeckungsiemens von uns aufgewiesene) »Sei-spontan«-Paradoxon gelenkter Selbsttätigkeit nicht fehlen: »Vermittlung von Fähigkeiten des kritischen Denkens« zum Durchschauen der »Mittel der Massenmanipulation« und des »historischen Zusammenhang(s) von Arbeit und Herrschaft« etc. (vgl. Wilhelmer 1977, S.42). Man mag sich schon an dieser Stelle fragen, wie es denn zu erklären sei, daß die Chancen, jenseits der administrativen Restriktionen im Umkreis der Schuldisziplin/Schule, im eigenen Verfügungs-/Lebensinteresse expansives
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Lernen zu entfalten, in solchen außerschulischen Lernanordnungen nicht genutzt werden, sondern man hier quasi freiwillig ähnlich strukturierte Lernbehinderungen wie die Schuldisziplinären installiert und hinnimmt. Indessen könnte uns dabei der Umstand, daß wir derartige Behinderungen expansiven Lernens bisher nur an im Rahmen umfassenderer außerschulischer Organisationen (Gewerkschaften, Parteien, Volksbildungseinrichtungen o.ä.) insti· tutionalisierten Lernstätten diskutierten, dazu verleiten, verkürzte Schlüsse zu ziehen. Wir wollen deswegen, ehe wir allgemeinere Klärungen versuchen, erst noch jene außerschulischen Lernkonstellationen mitdiskutieren, in denen Lernende nicht unter bestimmten organisatorischen Vorzeichen versammelt werden, sondern sich selbst als Betroffene zusammenfinden und dies unter der ausdrücklichen Vornahme, ihren gemeinsamen Lerninteressen ohne hierarchische Verhältnisse, ohne Aufbau oder Zulassung von Autorität -also in Überwindung schulischer Lernreglementierungen- kollektiv bzw. kooperativ nachzugehen: Freie Lerngruppen innerhalb der neuen sozialen Bewegungen -Friedensbewegung, Ökobewegung, Frauenbewegung - aber auch in mannigfachen spezielleren Kontexten alternativer, radikaldemokratischer Lebensformen, Betroffeneninitiativen (Selbsthilfegruppen, Selbsterfahrungsgruppen, alternativ-selbstorganisierte Sozialarbeit o.ä.). Die Bedeutung solcher Lerngruppen dokumentiert sich auch darin, daß sogar in den menschheitlichen Globalanalysen des Club of Rome (in seinem »Report on Education«) die Notwendigkeit eines neuen Lernens zur Sicherung des Überlebens und der Menschenwürde in ähnlicher Richtung akzentuiert wird, nämlich »as learning in groups.characterized by cooperation, dialogue and empathy, with the overall goals of supporting human survival and advancing human dignity«. Dabei ist weniger an institutionelles Lernen in der Schule, sondern an das Lernen in »local initiatives« (Bürgerbewegungen, Friedensbewegung, Anti-Atombewegung) gedacht: Man baut nicht auf etablierte Formen der Wissensaneignung, sondern auf »some nonviolant form of anarchy<<, auf »the collective wisdom of an informal community group of learners« (Poster 1982, S.23f, vgl. Botkin, Elmandrja & Malitza 1979). Die Perspektive einer Verbreitung des Lernens durch freien Zusammenschluß Gleichinteressierter in Zurückdrängung institutionell reglementierter und beschränkter Lernformen etc. entspricht sicherlich der Linie unserer Gesamtargumentation. Allein: Ist mit solchen außerschulisch-selbstorganisierten Lerngruppen die Dominanz des kooperativen Lernens als produktiver Aufhebung individueller Perspektivendivergenzen bereits gesichert? Dagegen spricht schon der Umstand, daß (wovon man sich beim ersten Hinsehen überzeugen kann) in den vielfältigen informellen und formellen Selbstdarstellungen solcher Gruppen zwar gelegentlich von Erfolgen, aber in unübersehbarem
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Ausmaß auch von Schwierigkeiten, Konflikten, Stagnation bis zum Scheitern durch Auseinanderfallen der Gruppe berichtet wird. Dabei verdeutlicht sich auf unterschiedliche Weise, daß die Restriktionen, die hier durch die Vermeidung institutioneller Verankerungen und organisatorischer Fixierungen überwindbar sein sollen, sich dennoch - hinter dem Rücken der Beteiligten - immer wieder in der kooperativ und solidarisch gemeinten Lerngruppe quasi von selbst herstellen: Eine Person wird unvermerkt zur »Autorität« hochstilisiert; es bilden sich Cliquen mit einem Führungsanspruch gegenüber den übrigen; manche Teilnehmer entwickeln sich zu permanenten Kritikern, die die Bemühungen der anderen sabotieren und ironisieren, Zweifel säen, Konkurrenz schüren; manche ziehen sich aus der gemeinsamen Arbeit zurück, werden (u.U. mit ein paar anderen zusammen) zu heimlichen Opponenten; persönliche Animositäten bilden sich heraus, was möglicherweise zu (die inhaltliche Arbeit blockierenden) endlosen gruppendynamischen Metadiskussionen führt; Konflikte brechen auf und werden vielleicht zunächst noch per Mehrheitsentscheidung durch Ausgrenzung von Minderheitspositionen, Ausschluß von zum Sündenbock stilisierten einzelnen o.ä. notdürftig beigelegt. Wenn dann die Gegensätze zwischen verschiedenen Fraktionen (Alten und Neuhinzugekommenen, Profis und Amateuren, Theoretikern und Praktikern, Pflichtmenschen und Hedonisten, Fundamentalisten und Pragmatikern) ein nicht mehr zu integrierendes Ausmaß erreicht haben, ist (meist anläßtich eines aktuellen Konfliktes} plötzlich allen klar, daß man sich trennen muß: Jeder geht seiner Wege, und u.U. beginnt dann innerhalb neu konstituierter Gruppen ein ähnlicher Zersetzungsprozeß. Die allgemeinsten Rahmenbedingungen für solche »selbstorganisierten« Störungen kooperativer Lernverhältnisse scheinen mir in dem grundlegenden Widerspruch zu liegen, daß hier einerseits die Gruppen sich aufgrund eines bestimmt gearteten (i.w.S.) politischen Engagements in Parteinahme für bestimmte und gegen anderen Positionen, durch welche das zu erreichende Lernergebnis im Prinzip schon feststeht, zusammengefunden haben, der dahin führende Lernprozeß aber andererseits dem Selbstverständnis der Beteiligten nach in radikal kooperativer Weise, ohne Reglementierung der Beiträge, mit konsensueller Lösung aller Konflikte, erfolgen soll: Dabei wird der von uns herausgehobene Umstand, daß kooperatives Lernen Perspektivendivergenzen der Beteiligten zwingend einschließt und so auf einer {stets hinterfragbaren) Definition einer als gemeinsam gesetzten Perspektive/Lern· problematik beruht, weggeleugnet und statt dessen unterstellt, man sei in der Lerngruppe real durch eine gemeinsame Perspektive und sich daraus ergeben· de Lernproblematik, also ein vorausgesetztes kollektives Lerninteresse, ver· bunden. Von da aus ist in der Lerngruppe a priori darüber vorentschieden,
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worauf das gemeinsame Lernen hinauslaufen muß: In einer einschlägig konstituierten Frauengruppe Einsicht in patriarchalische Mechanismen der Frauenunterdrückung, in einer Elterninitiative der Friedensbewegung Verständnis für den friedensgefährdenden Effekt von Kriegsspielzeug, in einer psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe Aufdeckung der unseren Lebensschwierigkeiten zugrundeliegenden frühkindlichen Konflikte. Wer innerhalb solcher gemeinsamer Lernprozesse etwa zu bedenken geben wollte, ob das Konstrukt .Patriarchat« tatsächlich zum Begreifen der Frauenunterdrückung beitrage oder nicht eher ein Klischee an die Stelle der Analyse setze, ob Aggression im Kinderzimmer und Krieg tatsächlich praktisch und begrifflich kompatibel seien, oder ein solcher Vergleich nicht eher in die Irre führe, ob ,.frühe Kindheit« tatsächlich zur genetischen Erklärung meiner gegenwärtigen Konflikte tauge oder nicht eher als deren mystifizierende Umschreibung zu betrachten sei, die/ der hat am Maßstab des präskriptiven Konsenses der jeweiligen Lerngruppe keinen konstruktiven Beitrag geleistet, nicht das Richtige gelernt. Deswegen wird sie/ er - sofern auf seinen Problematisierungen beharrend - sich auf irgendeine Weise dem Konformitätsdruck oder der (versuchten) Ausgrenzung durch die Gruppe konfrontiert sehen: Entweder Du machst mit oder Du gehörst nicht mehr zu uns. Die darin liegende Machtausübung durch die Hüter der herrschenden Meinung kann in ihren Erscheinungsformen und Konsequenzen unter Rückgriff auf die dargestellten Formen des Aufkommens von •Master«-Positionen, Lehrlernverhältnissen etc. innerhalb (vorgeblich) kooperativer Lernbeziehungen beschrieben werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß - da bzw. solange die konsensuelle Zustimmung der Mitglieder zum vorausgesetzten •Lernziel« und dessen kollektiver Verfolgung von diesen nicht offiziell problematisiert werden darf- •unerlaubte« inhaltliche Divergenzen und Zweifel an der Aufgehobenheit meiner Lerninteressen im Kollektiv zu eben jener Art von persönlichen Konflikten, Pakt- und Fraktionsbildungen, Antipathien, Verdächtigungen, untergründigen Sabotageversuchen, Ausgrenzungstendenzen, Schuldzuschreibungen verschoben werden müssen, wie ich sie gerade dargestellt habe: Da ein Ausscheren aus dem vorentschiedenen Konsens über das zu ~winnende Lernresultat und aus dem hypostasierten Kooperationsverhältnis offiziell •unmöglich« ist, verbleiben hier letztlich nur das Zwangsbündnis oder der Bruch. Damit sollte wenigstens exemplarisch deutlich gemacht werden, daß auch diejenigen alternativen Lernkonstellationen, in denen freies, kollektives Lernen jenseits institutioneller Restriktionen angestrebt ist, keineswegs die Gelegenheit zu unbehindertem expansivem Lernen (hier: in kooperativer Form) garantieren. So ergibt sich also das Gesamtbild, daß die für die Schuldisziplin
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charakteristischen Behinderungen des expansiven Lernens weder durch institutionelle außerschulische Lernstätten noch auch durch selbstorganisierte Lerngruppen auf der Betroffenenebene sicher und durchgreifend überwunden werden können. Dergestalt behindertes Lernen scheint hier irgendwie mit interpersonalem Lernen überhaupt gleichgesetzt, und Gelegenheiten zu gemeinsamem expansivem Lernen wären demnach nicht nur im Kontext der Schuldisziplin •randständig«, sondern auch in außerschulischen Lebenszusammenhängen keineswegs die Regel.
Überwindung der Denk-/Praxisfigur bedrohtheitszentrierter Lernformierung: VOn instrumentellen ZU intersubjektiven Lernverhältnissen Um sich verständlich zu machen, was dies bedeutet, hat man offenbar davon auszugehen, daß es Machtinteressen an der Einschränkung freien Lernens gibt, die so allgemein sind, daß sie sich nicht nur in der Schuldisziplin, sondern auch in den vielfältigen außerschulischen Lernarrangements, wie wir sie diskutiert haben, manifestieren können. Dabei scheint es naheliegend, unter Rückbezug auf unsere in der Gesamteinleitung formulierten VorwegProblematisierungen diese Machtinteressen mit den Interessen des Staates/ der Herrschenden gleichzusetzen und von da aus zu unterstellen, es handle sich hier um einen Zugriff der staatlich formierten Schuldisziplin auf außerschulisches Lernen - zwar nicht als (von uns ja als fiktiv aufgewiesener) Transfer des schulisch Gelernten auf den Alltag, aber als Durchsetzung der Strukturen schuldisziplinär restringierten Lernens im gesamten gesellschaftlichen Lebenszusammenhang. Durch die damit installierte ideologische Gleichung: Lernen = •schulförmiges« Lernen im außerschulischen Leben, entstünde so eben jene Verquickung von Lernen mit Beschulung, Zwang, Reglementierung, Vereinnahmung •von oben«, die wiederum die geschilderten Widerständigkeiten gegen die Lernzumutung implizieren würde: Enteignung expansiven Lernens in meinem Lebensinteresse durch die Kontrollinteressen der Herrschenden. Eine derartige (im Umfeld bestimmter ideologiekritischer Auffassungen gängige) Interpretation muß nun aber (von unseren inzwischen erarbeiteten Positionen aus) als in wesentlichen Punkten verkürzt betrachtet werden: Dies deswegen, weil die darin liegende •manipulationstheoretische« Voraussetzung der einfachen Wirkung einer extern gedachten Macht der Herrschenden von oben nach unten, damit auch des Einpflanzens herrschender Gedanken in
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die Köpfe der Beherrschten, kaum analytische Potenz besitzt. Vielmehr muß man hier- und in dieser Frageweise konvergiert unser begriindungstheoretischer Ansatz mit Foucaults machtökonomischer Analyse - zu bedenken geben: Zwar ist es verständlich, daß die Herrschenden in dieser Weise auf dem Weg über die Schuldisziplin Macht auf die Bevölkerung ausüben wollen, unverständlich ist aber, warum die Bevölkerung dabei gegen ihr eigenes Interesse mitmachen soll. Die analytische Grundlage zur Auflösung dieser U ngereimtheit Qenseits populärer psychoanalytischer Mystifikationen) findet man nur, wenn man die Interessen der Herrschenden nicht einfach denen der Beherrschten gegenüberstellt, sondern annimmt (und aufweisen kann), daß diese Interessen so miteinander verflochten sind, daß die Interessen der Beherrschten mit denen der Herrschenden wenigstens teilweise konvergieren, also die Macht nicht von außen einwirkt, sondern durch die Betroffenen hindurch in verteilter Weise zur Geltung kommen kann. Damit ist der Unterschied zwischen Herrschenden und Beherrschten zwar nicht geleugnet, es wird aber deutlich, daß die inneren Bedingungen der >>Beherrschbarkeit« der Beherrschten, die Überlappungen der Funktionalität (Machtökonomie) des Herrschens und des Beherrschtwerdens, hier das entscheidende Problem darstellen. Wenn wir mit dem so geschärften Blick die gesellschaftliche Funktionalität des Lernens betrachten, so wird - auf dem Hintergrund unserer lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit - deutlich, daß expansives Lernen innerhalb verschiedenartigster Machtkonstellationen potentiell ein widerstreitendes Moment, quasi einen Fremdkörper, darstellt. Wer nämlich in bestimmten Handlungsfeldern seine eigene Lernproblematik ausgliedert und zu bewältigen trachtet, der gewinnt - in dem Grade, wie er dabei Weltzusammenhänge lernend für sich aufschließen kann - in gewisser Weise eine unabhängige Position: Du meinst dies und Du meinst jenes, ich aber habe lernend erfahren, daß die Dinge sich möglicherweise so und so verhalten. Innerhalb von Interessenzusammenhängen unterschiedlicher Art ist (auf einer unmittelbaren Ebene, s.u.) jemand, dessen Lernen sich frei entfalten kann, quasi ein Unsicherheitsund Risikofaktor: Ich kann nicht eindeutig vorhersehen, wohin Dich Deine Lernanstrengungen führen werden, ob das, was bei Deinem Lernen herauskommt, in meinem Interesse ist oder diesem widerstreitet, ob Du dann noch auf meiner Seite bist oder auf der Gegenseite stehen wirst. Wenn also Individuen, die man unbehindert lernen läßt, sich der Kontrolle von Machtinstanzen verschiedener Art und Größenordnung zu entziehen drohen, also unsichere Kantonisten darstellen, so ergibt sich hieraus die unmittelbare machtökonomische Konsequenz, das Lernen wiederum in die Kontrolle einzubeziehen, d.h. so weit zuzulassen, wie es in meinem oder unseren Interesse ist, aber auf
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eine Weise zu kanalisieren und zurückzustutzen, daß dabei Resultate, die meinen/ unseren Interessen widerstreiten, nicht erreichbar sind. Wenn man nun annimmt, daß dieses machtökonomische Kalkül die ihm entsprechende Denk- und Sprachform finden müßte, so wird verständlich, warum das »Lernen« in so unterschiedlichen Kontexten mit fremdkontrolliertem Lernen gleichgesetzt wird (und warum in den traditionellen psychologischen Lerntheorien Lernen durchgehend nicht anders denn als Lernen-unter-fremdgesetzten-Bedingungen definiert werden kann). Um zu begreifen, wie es in den verschiedenen außerschulischen Lebensbereichen zu den aufgewiesenen Behinderungen expansiven Lernens kommen kann, muß man also keineswegs voraussetzen, daß diese Behinderungen aus der staatlich gelenkten Schuldisziplin dorthin exportiert sind. Vielmehr kann man innerhalb jedes lokalen Kontexts deutlich machen, aufgrund welcher Interessen ungehindertes expansives Lernen hier »gefährlich« (oder doch unfunktional) werden könnte, so daß man die gängige Kontamination von >>Lernen« mit >>Lernen-unter-Kontrolle« weitertransportiert - mindestens aber in seinem praktischen oder theoretischen Lernverständnis unreflektiert läßt. In den geschilderten instit~tionalisierten oder selbstorganisierten Lernstätten/-gruppen sind (wie gezeigt) die jeweils außengesetzten (gewerkschaftlichen, politischen, kulturellen, emanzipatorisch gemeinten) Interessen, von denen aus vorentschieden ist, was hier richtiges, authentisches, parteiliches Lernen heißen kann, mehr oder weniger eindeutig fixiert. Aber auch innerhalb interpersonaler Konstellationen mehr alltäglicher Art (etwa im Bereich der Familie bzw. privater Beziehungen) kann auf dem Hintergrund (latenter) Konflikt- und Konkurrenzverhältnisse expansives Lernen bestimmter Art als bedrohlich und ängstigend erfahren werden und wird dann auf unterschiedliche Weise verdächtigt, glossiert, zurückgepfiffen: etwa als Streberturn (der will sich vordrängen), Eingebildetheit (die hält sich für was besseres), Angabe (der tut so, als ob ihm das was bedeutet, als ob er was davon hat), wobei hier- ganz ohne Schuldisziplin- durch Entmutigungen (schaffst Du ja doch.nie), Bloßstellungen (was liest Du denn da, gib doch mal her), Ablenkungen (komm doch jetzt, hör doch auf mit dem Kram), Ruhestörungen (wir sind doch nicht in der Schule, ich will jetzt hier fernsehen) die Voraussetzungen für produktiv-weltaufschließendes Lernen entzogen werden können. So gesehen ist auch in Frage zu stellen, wieweit das, was wir als »autonomes Lernen« diskutiert haben, in einer bestimmten Situation tatsächlich so autonom sein muß, oder nicht ebenfalls - soweit man durch den damit erreichbaren unabhängigen Weltzugang irgendwie außer Kontrolle zu geraten droht - von anderen sabotiert oder auf »anständiges« Lernen zurückgestutzt werden mag: Warum bist Du denn ausgerechnet mit dem Schönberg, diesem
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esoterischen Zeugs, zugange? Was soll denn Tag für Tag diese Kant-Lesereiruhe dich lieber aus, damit Du wieder gesund wirst, oder kümmere Dich um Deine Schulbücher! Wenn man dies alles zusammennimmt, so verdeutlicht sich als Konsequenz, daß die Behinderung expansiven Lernensund Normalisierung auf defensives Lernen mit der konzeptuellen Gleichsetzung von Lernen mit Lehrlernen zwar in der Schuldisziplin auf besondere Weise administrativ perfektioniert, aber keinesfalls auf diese beschränkt ist, ja, nicht einmal dort ihren Ursprung hat: Vielmehr stellt innerhalb aller gesellschaftlichen Konstellationen, in denen es um die Wahrung von Machtinteressen geht, Abhängigkeitsverhältnisse konserviert, herrschende Meinungen und Praxen gegen Abweichungen gesichert, Konformität erhalten, Parteilichkeit für uns (unser Interesse} und Parteilichkeit gegen andere vor Brüchen und Aufweichungen bewahrt werden (sollen} - also eigentlich überall - expansives Lernen, indem dadurch mein unabhängiger Weltzugang, mein in der Sache gegründetes Wissen, meine authentische Erfahrung, gegen die Wechselbestätigung anerkannter Lesarten zur Geltung gebracht werden kann, eine Bedrohung dar. Defensiv normalisiertes Lernen ist dagegen nicht nur in der Schule, sondern (auf dieser Ebene) generell- da ich mich dabei nicht primär am Lerngegenstand, sondern an anderen ausrichte, deren Zustimmung oder Anerkennung durch Demonstration erwarteter Lernergebnisse zu gewinnen oder zu erhalten trachte - ungefährlich, ja erwünscht, mindestens aber das kleinere Übel. So ist es verständlich, daß die Gleichsetzung von richtigem, nützlichem, lobenswertem Lernen mit fremdkontrolliertem, formiertem Lernen nicht nur schulischer, sondern allgemeiner Brauch ist. Zwar ist die Schule quasi das unmittelbare Sprachrohr der politisch Herrschenden zur Unterbindung selbständigen Weltzugriffs und Formierung desLernensauf das derart »herrschende« Denken und Tun hin. (Carl-Heinz Evers, 1977, 5.101, fällt zu der schulischen Behinderung der Möglichkeit, »nach Zusammenhängen, Interessen und Ursachen« zu fragen, ·die vielzitierte Herrschaftsweisheit ein, man dürfe die Kinder nicht auf dumme Gedanken kommen lassen - es könnten ja die richtigen sein«.) Der schulische Anspruch geplanter Lernformierung findet aber nur öffentliche Akzeptanz, weil (bzw. soweit) in den verschiedenen lokalen Zentren bis ins Privatleben hinein die tendenzielle Gleichsetzung von Lernen mit fremdkontrolliert-formiertem Lernen der administrativ verordneten Lehrlernformierung der Schule aufgrundähnlicher funktionaler Einbettung entgegenkommt, die Macht also in den Bereich der Betroffenen hinein diffundiert. Dies ist m.E. (neben der dargestellten Dominanz
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der Schulfunktion »gerechter« Zuwetsung unterschtedhcher Lebenschancen)''i eine wesentliche Voraussetzung der gesellschaftlichen Permanenz von Schul-: disziplin: Jeder will die Schule für seine Überzeugungen gegen die der ande. ren einspannen, wobei also der Gebrauchswert der Schule im Kampf um die Köpfe von allen Parteien anerkannt ist, der schulische Lehrlernkurzschluß dabei nur eine Zuspitzung von Vorstellungen darstellt, die weithin Allgemeingut sind. Aus der offensichtlichen gesellschaftlichen Verbreitung des interpersonalen Verhältnisses restriktiver Lernformierung legt sich der Versuch nahe, diese in entsprechend verallgemeinerter Weise zu konzeptualisieren: Offenbar handelt es sich dabei um eine gesellschaftlich präformierte Denk-/Praxisfigur, die mir als Prämissenkonstellation die Annahme eines möglichen Zusammenhangs zwischen dem Lernfortschritt des anderen und der Bedrohung meiner eigenen Lebensinteressen als begründet nahelegt: In dem Maße, wie jemand durch expansives Lernen einen von meinem/ unserem Dafürhalten unabhängigen Weltaufschluß gewinnt, gefährdet er unter derart restriktiven Prämissen (ob er will oder nicht) potentiell unseren Konsens, unsere Ziele, die herrschende Meinung, die Selbstverständlichkeiten meiner Lebensführung, weiß man nicht mehr, wo er stehen wird, ist er nicht mehr in für die Absicherung meiner I unserer Handlungsfähigkeit hinreichender Weise vorhersagbar und berechenbar. Da aber der im expansiven Lernen zu gewinnende erhöhte Weltaufschluß aufgrund der damit verbundenen Erweiterung der Verfügungs-/Lebensmöglichkeiten gleichzeitig im Interesse des Lernenden ist, wird in dieser Denkfigur restriktiver Lernformierung ein notwendig umgekehrtes Verhältnis zwischen meinem Interesse und dem des expansiv Lernenden unterstellt: Die Entwicklung des anderen bedeutet hier notwendig die
Bedrohung meiner Handlungsfähigkeit, die Verletzung seiner Interessen ist also in meinem Interesse unausweichlich. Aufgrund dieser Zuspitzung ergibt sich nun für mich die Möglichkeit einer konzeptuellen Verallgemeinerung des darin involvierten Widerspruchsverhältnisses auf kategorialer Ebene. Um dies zu verdeutlichen, soll hier ein letztes Mal unsere frühere Darstellung der kategorialen Grundlagen kritischpsychologischer Forschung um ein für den jeweils lokalen Argumentationszusammenhang relevantes Konzept erweitert werden: Interpersonale lnstru· mentalverhältnisse als besondere Erscheinungsform unmittelbarkeitsverhaftet-restriktiver Handlungsfähigkeit (vgl. Holzkamp 1979, S.13ff, und GdP, S.383ff und 407ff). Instrumentalverhältnisse sind charaktersiert als bedroht· heitszentrierte Verkürzung von persönlichen Interessen auf miteinander unvereinbare individuelle Partialinteressen, woraus sich die Strukturierung der
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interpersonalen Beziehungen als »natürliches« Konkurrenzverhältnis zwischen einzelnen Individuen, die sich gegenseitig für ihre Interessen zu instrumentalisieren suchen, ergibt (mein bzw. »Unser« Vorteil ist immer der Nachteil der anderen und umgekehrt). Demnach kann man die Denk-Praxisfigur der Lernformierung als instrumentelles Lernverhältnis charakterisieren, in welchem die durch eigenständigen Weltzugang ermöglichte Unabhängigkeit des expansiv Lernenden nicht unter dem Aspekt seines subjektiven Verfügungs-/Lebensinteresses (das Verfügung über andere ausschließt}, sondern nur als Bedrohung unserer Handlungsfähigkeit gesehen wird, also vorausgesetzt ist, daß er sich natürlicherweise durch seinen lernenden Weltzugang potentiell Vorteile auf Kosten anderer verschafft. Aufgrund dieser Einordnung der Gleichsetzung der Denkfigur »Lernen = formiertes Lernen« als instrumentelles Lernverhältnis haben wir nun die Möglichkeit, die Überwindbarkeit dieser Denkform im gleichen kategorialen Kontext auf den Begriff zu bringen: Wir haben dabei den Umstand zu berücksichtigen, daß »restriktive Handlungsfähigkeit« bzw. »Instrumentalverhältnisse« unserer Konzeption nach ja nur Teile von Begriffspaaren sind, in welche die Alternativen zur Unmittelbarkeitsverhaftetheit des Handelns/ Denkens einbezogen sind: restriktive-verallgemeinerte Handlungsfähigkeit bzw. Instrumentalverhältnisse-intersubjektive Verhältnisse (Holzkamp 1979 und GdP, a.a.O., vgl. dazu auch Holzkamp 1990c}. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die früher dargestellten selbstschädigenden Implikationen restriktiver Handlungsfähigkeit an der Lernformierung als instrumentellem Lernverhältnis herausheben: Indem man in dadurch geprägten interpersonalen Lernanordnungen sich zu Zwecken der Bedrohungsabwehr wechselseitig an voll entfaltetem expansiven Lernen hindert, Lernresultate also nur so weit ermöglicht und zuläßt, wie sie den vorgefaßten (bzw. »herrschenden«) Konsens über das Gruppenanliegen nicht in Frage stellt, wird gleichzeitig die Möglichkeit, im Interesse der Beteiligten weitergehenden Aufschluß über den Lerngegenstand zu gewinnen, beschnitten: Ich betrüge mich, indem ich den jeweils anderen bei seinen (als bedrohlich gesehenen} Lernanstrengungen zurückpfeife (ihm vorschreibe, was er in welchem Ausmaß zu lernen hat}, quasi um die dabei sonst erreichbaren, auch für mich nützlichen und weiterführenden Erkenntnisse und Einsichten. Sofern in kooperativ gemeinten Lerngruppen ein gemeinsames Lernergebnis angestrebt ist, bedeutet dies, daß- sofern hier das Gruppenanliegen (und ggf. die darin liegende Parteinahme) nicht problematisiert werden darf - durch die Einschränkung der lernend auszutragenden Perspektivendivergenzen das Niveau des lernenden Weltaufschlusses in der Gruppe ein bestimmtes »mittleres« Maß nicht überschreiten kann.
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Aus den so umschriebenen selbstschädigenden Widersprüchlichkeiten inJ. Strumenteller Lernverhältnisse versteht sich die Gewinnung intersubjektiver Lernverhältnisse als Aufhebung dieser Widersprüchlichkeiten: Hier wird be. griffen, daß die lernende Erweiterung und Vertiefung des Weltzugangs und damit erreichbare Verfügungserweiterung/Lebensqualität nicht nur im Interesse dessen, der sie gerade erlangt hat, sondern im allgemeinen Interesse ist: Dein Lernfortschritt ist, da ich daran teilhaben kann, prinzipiell auch mein Lernfortschritt und umgekehrt. Die aus expansivem Lernen möglicherweise resultierende Anzweiflung herrschender Positionen stellt (wie nun einsehbar ist) nur oberflächlich eine Bedrohung für mich (als anderen) dar, spricht aber, recht besehen, nicht gegen den dabei ausscherenden Lernenden, sondern gegen die herrschende Meinung. Darin offenbaren sich nämlich rückwirkend die Problematik meiner bisherigen Überzeugungen, die Einseitigkeit unserer vorausgesetzten Parteinahme, die Scheinhaftigkeit unseres konsensuellen Bescheidwissens, also der Umstand, daß die fremdkontrollierte Formierung und Kanalisierung des Lernens auf ein zuträgliches oder (noch) tragbares Maß unser aller Lebensmöglichkeiten tatsächlich nicht absichert, sondern schmälen. Intersubjektive Lernverhältnisse schließen damit ein, daß man den jeweils anderen in seinen Lernanstrengungen nicht zensiert und zurückhält, sondern freiläßt, d.h. bewußt darauf verzichtet, ihn unter Kontrolle und im Griff behalten zu wollen. Während instrumentelle Lernverhältnisse - indem hier unabhängiges Lernen als Bedrohung der eigenen Positionen gesehen wird - ein permanentes Mißtrauen in deren Tragfähigkeit, ja in die argumentative Begründbarkeit von Denk- und Handlungsweisen überhaupt, einschließt, basieren intersubjektive Lernverhältnisse auf einem grundlegenden Vertrauen in die argumentative Vertretbarkeit meiner Auffassungen bzw. die Möglichkeit, Kontroversen mit Vernunftgründen auszutragen: Der aus der Lernkontrolle entlassene andere muß- wenn er von seinen freien Lernmöglichkeiten angemessen Gebrauch macht - sich meinen Positionen annähern, sofern diese triftig sind. Kommt er zu divergierenden Auffassungen, so ist es in meinem genuinen Verfügungs- und Lebensinteresse, daraufhin die eigene Position zu überprüfen. In der so umschriebenen Konzeption intersubjektiver Lernverhältnisse ist vorausgesetzt, daß die lernende Gegenstandsannäherung im Prinzip von meiner und Deiner Perspektive aus in einem gemeinsamen Weltbezug konvergieren kann, daß es also einen Lerngegenstand gibt, dem wir uns mehr oder weniger annähern, den wir mehr oder weniger ergreifen oder verfehlen können. Diese Voraussetzung ist in letzter Instanz nicht begründbar. Man kann dem Stets entgegensetzen, es gebe gar keine gemeinsame Welt jenseits unserer Sichtweisen oder Konstruktionen, demnach auch keine Vernunftgründe, mit denen über die Adäquatheit unserer Welterkenntnis entschieden werden kann. Bevor man daran gemessen unsere Voraussetzung dogmatisch nennen will, sollte man jedoch bedenken,
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daß nur so die Annahme zu rechtfenigen ist, im (expansiven) Lernen sei unabhängiger Weltaufschluß erreichbar, von dem aus herrschende Meinungen, verordneter Konsens und präskriptive Parteinahmen als willkürlich angezweifelt werden können. Wenn man jedoch davon ausgeht, jedes Lernresultat wäre genau so gut und schlecht wie das andere, kann man gegen die Formierung und Kanalisierung des Lernens (in der Schule und anderswo) kaum etwas vorbringen, und der kritische Verweis auf Lernmanipulation und Lernunterdrückung hätte keinen Sinn mehr: So eng kann Dogmatismus mit seinem Gegenteil verflochten sein!
Mit der kategorialen Einordnung der Denk-/Praxisfigur der Lernformierung als eines instrumentellen, im intersubjektiven aufhebbaren Lernverhältnisses sollte unsere Frage nach den Perspektiven des Lernens über die Schuldisziplin hinaus so weit verallgemeinerbar sein, daß die benannten, die jeweiligen lokalen Lernanordnungen durchziehenden Behinderungen expansiven Lernens samt deren Überwindbarkeit damit konzeptualisierbar werden. Demnach hat man vom Standpunkt des Lernenden anläßlich von Lernepisoden innerhalb unterschiedlicher institutioneller bzw. situativer Kontexte damit zu rechnen, daß in den dort vorfindliehen Bedeutungsanordnungen (auf verschiedene Art und in verschiedenem Grade) Denk- und Praxisformen instrumentellen Lernens beschlossen liegen, zu denen ich mich als Lernender auf die eine oder andere Weise verhalten muß. Dabei kann ich mich zum einen auf unmittelbarkeitsverhaftet-bedrohtheitszentrierte Weise mit den bestehenden Instrumentalverhältnissen abfinden und diese so in meinem eigenen Lernen reproduzieren: Dann bin ich nicht nur selbst den jeweiligen Formierungen meiner Lernbemühungen durch andere unterworfen, sondern beteilige mich zwangsläufig auch an der Formierung, Reglementierung, Kanalisierung des Lernens anderer, damit an der selbstschädigenden Beschränkung unseres Weltzugangs, d.h. unserer Verfügungs-/Lebensinteressen. Zum anderen habe ich aber auch die Alternative des Versuchs, mit meinen Lernaktivitäten gleichzeitig die bestehenden Instr1,1mentalverhältnisse so in Richtung auf intersubjektive Lernverhältnisse zu ändern, daß die Lernbeschränkungen dadurch überwindbar und im allgemeinen Interesse neue Möglichkeiten expansiven Gegenstandszugangs eröffnet sind. Im Maße der Geprägtheit der institutionellen Bedeutungsstruktur einer Lernanordnung durch Instrumentalverhältnisse bin ich also angesichts einer bestimmten von mir ausgegliederten Lernproblematik nicht nur mit deren inhaltlichen Dimensionen, sondern auch mit darin implizierten instrumentellen Lernbehinderungen konfrontiert. Wenn es bei meinen Lernanstrengungen zu Stagnationen des Lernfortschritts kommt, so hat dies mithin u.U. einen Doppelaspekt, indem sowohl mein bisheriges Prinzip der Gegenstandsannäherung wie darin mein bisheriges Sich-Einrichten in den gegebenen
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instrumentellen Lernverhältnissen problematisch werden kann. Im damit subjektiv notwendigen qualitativen Lernsprung geht es hier demnach nicht nur um ein neues Prinzip der Gegenstandsaufschließung, sondern gleichzeitig um die Überwindung der fortschreitendes expansives Lernen behindernden instrumentellen Formierung meiner Lernaktivitäten als Übergang zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit den interpersonalen (und diese prägenden gegenständlichen) Bedeutungsstrukturen der Lernstätte bzw. Lerngruppe: Das Lernhandeln selbst schließt hier also eine Veränderung der realen Lernbedingungen notwendig ein (s.o., S.246f). Aus diesen Darlegungen geht hervor, daß aufgrund der Einbeziehung des Gesichtspunkts der Lernformierung in die Analyse institutioneller bzw. interpersonaler Lernverhältnisse die Fragestellungen einer Lernforschung vom verallgemeinerten Standpunkt des Lernsubjekts- wie wir sie bisher entfaltet haben - um einen wesentlichen Aspekt erweitert werden müssen, indem die Bedeutungs-/Begründungsstruktur typischer Lernproblematiken auch auf die darin liegenden instrumentellen Lernverhältnisse explizierbar und damit die Möglichkeiten ihrer handelnden Umgestaltung zu intersubjektiven Lernverhältnissen konzeptualisierbar werden. Dadurch kann für die Lernsubjekte überhaupt erst faßbar und verbalisierbar werden, unter welchen Lernanordnungen in welcher Art sie bei ihren Lernanstrengungen verdächtigt, entmutigt, kanalisiert werden, aber auch, wo sie selbst in bedrohtheitszentrierter Weise die Lernanstrengungen anderer verdächtigen, entmutigen, kanalisieren - um so die herrschende Selbstverständlichkeit der Gleichsetzung von Lernen mit fremdkontrolliert-formiertem Lernen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen reflektierbar zu machen. Von da aus müßten dann die jeweils konkreten Möglichkeiten der Aufhebbarkeit instrumentalisierender Selbstschädigungen in intersubjektiven Lernverhältnissen als qualitativer Umschlag von der bloßen Gegenstandsannäherung zur U mgestaltung der Lernbedingungen im Zuge expansiven Lernens vom Standpunkt der Lernenden aufweisbar und auf ihre Realisierungsperspektiven diskutierbar werden. So könnten z.B. typische Entwichtigungen, Einschüchterungen, Iranisierungen von Lernbemühungen in bestimmten Familienkonstellationen, aber auch die politisch begründeten Lerninstrumentalisierungen in entsprechenden Bildungseinrichtungen oder selbstorganisierten Lerngruppen begrifflich und praktisch durchdringbar werden. In diesem Zusammenhang wäre etwa auch die Aporie der verordneten ,.Parteilichkeit« zu explizieren, d.h. die mit der herrschenden Gleichung zwischen Lernen und fremdkon· trolliertem Lernen in Einklang stehende Vorstellung, wenn man etwas im Interesse der eigenen Sache tun wolle, müsse man die Lernenden von vorn· herein darauf vergattern und Abweichler tendenziell ausgrenzen, als in der
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Lernpraxis solcher Einrichtungen/Gruppen enthaltene instrumentalisierendselbstschädigende Begründungsfigur herauszuarbeiten (zu den Problemen und Widersprüchen von •Parteilichkeit« am Beispiel der Flüchtlingsarbeit sind vom Projekt •Rassismus und Diskriminierung« wesentliche Analysen beigesteuert worden; vgl. etwa Osterkamp 1990); etc.: Dies alles stets unter dem Gesichtspunkt der Aufhebbarkeit von A.1ordnungen instrumenteller Wechselbehinderungen in intersubjektive Beziehungsstrukturen, innerhalb derer expansives Lernen und der damit zu erreichende Weltaufschluß als im allgemeinen, also auch meinem/unseren Interesse liegend erkannt und unterstützt wird - und von da aus des Aufweises der im jeweiligen institutionell-situationeilen Rahmen möglichen partizipativen oder kooperativen Lernprozesse.
4.5 Gesichtspunkte aus der subjektwissenschaftlichen Analyse institutioneller Lernverhältnisse für die Schulreformdiskussion
Vorbemerkung Die Analysen historisch bestimmter Lernverhältnisse (in diesem vierten Kapitel) folgten, wie eingangs gesagt, zwei verschiedenen Argumentationslinien: Der weiteren Ausarbeitung unserer lerntheoretischen Grundbegrifflichkeit unter institutionellem Aspekt und (damit verschränkt) der Explikation fundienerer lerntheoretischer Gesichtspunkte als Beitrag zur Schulreformdiskussion. Nachdem wir nun unsere subjektwissenschahliche Lerntheorie soweit entwickelt und dabei Hinweise auf mögliche Konsequenzen für schulisches Lernen jeweils am On gegeben haben, sollen abschließend die für Schulreform relevanten Aspekte unserer Darlegungen noch einmal gesondert aufgegriffen werden. Dabei beziehe ich mich im wesentlichen auf die früher (S.342ff) schon benannten neueren Entwicklungen der SchulreformBemühungen seit Mitte der achtzigerJahre-dies aber nicht, um auf allgemeiner Ebene in die Debatten einzugreifen, sondern lediglich, um aufgrund unserer inzwischen vorgelegten Analysen zum schulischen Lernen wo möglich einige Klärungen dazu beizusteuern, in welche Richtung die Schule zu verändern wäre, damit die Möglichkeit expansiven Lernens im Schulleben dominant werden kann. Mit einer solchen Thematisierung der Reformperspektive ist notwendig eine U makzentuierung unserer Herangehensweisen verbunden: Während wir bisher das Schwergewicht der Überlegungen auf die Beschränkungen expansiven Lernens unter Schuldisziplinären Bedingungen legten, blicken wir jetzt von der »anderen Seite« auf das Problem, indem wir aufzuweisen versuchen, durch welche reformerischen Entwicklungen die in der Schule zwar beschränkten, aber immerhin vorhandenen expansiven Lernmöglichkeiten für das schulische Lernen bestimmend, also gegenüber Tendenzen defensiver Normalisierung dominant werden könnten. Denjenigen, die meinen, wir hätten uns durch die Adaptation von Foucaults Archäologie der .. Schuldisziplin« eine solche Reformperspektive verbaut, sei in Erinnerung
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gebracht: Wir haben das Konzept der •Schuldisziplin« lediglich als heuristi· sches Prinzip eingeführt, um uns von da aus einen schärferen analytischen Zugriff auf schulinstitutionelle Lernverhältnisse zu eröffnen; weiterhin betrachten wir die Charakteristika der •Schuldisziplin« als Kennzeichen schulischer Bedeutungsstrukturen, die von vornherein in einem Widerspruchsverhältnis zu relativ autonomen pädagogischen Intentionen und schulischen Lebens-/ Lernmöglichkeiten stehen. Zudem muß man in Rechnung stellen, daß so etwas wie schulische ·Disziplinaranordnungen« (wenn auch relativ zum aktuellen Schulgeschehen invariant), da historisch entstanden, auch im Geschichtsprozeß veränderbar sind, also u.U. durch die Entwicklung überholt oder durch (schul)politische Aktivitäten überwunden werden können. Wir beziehen uns im folgenden - skizzenhaft und selektiv - auf solche Dimensionen der Schulreform, die für das Problem der Förderung expansiven Lernens in der Schule relevant sein könnten, diskutieren zunächst die mit den jeweiligen Reformkonzepten angezielten Fortschritte im Hinblick auf eine solche Lernförderung und verweisen sodann auf die (weiteren) Fortschritte, die erreicht werden müßten, wenn die Schule zu einer Stätte dominant expansiven Lernens werden soll.
»Lebensnähe« und politische Relevanz von Lernkonstellationen als Mittel zur Förderung expansiven Lernens? Die radikalste Forderung nach •Schulreform« ist sicherlich die Forderung nach Abschaffung der Schule: Hier soll die ,.Reform« soweit getrieben werden, daß ihr als genuin nicht reformierbar betrachteter Gegenstand selbst verschwindet. Solche Konzepte, die im Umkreis von •Entschulung« und •Antipädagogik« schon früher immer wieder diskutiert wurden, sind - worauf Klemm, Rolff & Tillmann (1986, S.llf) hinweisen- auch im Kontext der Krise der Schulreform in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren wiederum aktuell geworden. Gestützt wurde diese Sichtweise offensichtlich auch durch die schon erwähnte Favorisierung des ,.Lernens in sozialen Bewegungen«. Klemm, Rolff & Tillmann (1986) widmen dem ausführliche darstellende (S.139ff) und kritische (142ff) Erörterungen. Dabei wird deutlich: Aus einer solchen alternativen Sichtweise wurde nicht nur die Unentfremdetheit und Solidarität des Lernens etwa in der Friedensbewegung hervorgehoben und dem der schulische •lernknast«, der die Phantasie der Kinder abtöte, sie zu willfährigen Untertanen mache etc., gegenübergestellt, sondern dabei teilweise sogar die Abschaffung auch fortschrittlicher Schulformen wie
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der Gesamtschule gefordert. Klemm, Rolff & Tillmann halten dem entgegen, daß in solchen alternativen Lernkonzepten die Bedeutung der unmittelbaren Erfahrung überschätzt werde - diese könne nur Bestand und Potenz gewinnen, wenn sie - vor einem Fundus »bewährten« Wissens - wissenschaftlich reflektiert und verarbeitet sei. Weiterhin treten die Autoren den »alternativen Forderungen auf Abschaffung der Staatsschule oder gar der allgemeinen Schulpflicht« nachdrücklich entgegen, weil •damit unabdingbare Voraussetzungen für die Bildung breiter Bevölkerungskreise vernichtet würden. Nicht zufällig hat sich die Arbeiterbewegung stets für ein staatliches und unentgeltliches Schulwesen ausgesprochen, sie hat die allgemeine Schulpflicht immer als Schutzrecht für die Kinder der unteren sozialen Schichten verstanden« (S.l44); etc. Solange man nur unsere früheren Ausführungen über die schuldisziplinäre Normalisiernug des Lernens auf defensives Lernen hin, die systematische Behinderung expansiver Lernmöglichkeiten durch die Schuldisziplin etc. zur Kenntnis genommen hat, mag die Konsequenz nahegelegen haben, daß auch wir das Lernen außerhalb der Schule als Alternative begünstigen würden. Im Zuge unserer weiteren Analysen zum Lernen über die Schuldisziplin hinaus hat sich aber immer deutlicher eine Perspektivenveränderung vollzogen: Es stellte sich nämlich heraus, daß nicht nur in stärker institutionalisierten Lernkonstellationen außerhalb der Schule, sondern auch in selbstorganisierten Lerngruppen, etwa im Kontext der neuen sozialen Bewegungen, von systematischen Lernbehinderungen durch die Reglementierung kooperativer Lernverhältnisse in Richtung auf Lehrlernen etc. als zum mindesten häufigem Fall auszugehen ist (vgl. S.519ff). Demnach kann man offensichtlich den geschilderten Schuldisziplinären Lernbehinderungen durch bloßen Ortswechsel aus der Schule hinaus in freie Betroffenenorganisationen etc. keineswegs entkommen. Sicherlich spricht manches dafür, daß in solchen freien Lerngruppen leicht die unmittelbare Erfahrung überschätzt und die systematische Aufarbeitung des Erfahrenen vernachlässigt werden könnte. Viel schwerwiegender ist jedoch m.E. der Umstand, daß die Tendenzen zur defensiven Lernnormalisierung und Beschränkung expansiven Lernens, die sich in der Schule über die administrativ gesetzten Disziplinaranlagen herstellen, auch bei Lernprozessen in sozialen Bewegungen und Betroffeneninitiativen - wenn auch informell und »selbstorganisiert« - entstehen und sich reproduzieren können. (In unserem Arbeitszusammenhang ist eine Reihe einschlägiger Untersuchungen entstanden oder begonnen worden - so über Lernprozesse in SelbsthilfeGruppen, einer Amateur-Rockgruppe, einer alternativen Theatergruppe, bei freier Theaterarbeit und in einer renommierten alternativen •Ergänzungsschule«: Gegen das, was dort teilweise an wechselseitigen Behinderungen und
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Entmutigungen durch versuchte Selbstdurchsetzung auf Kosten anderer zutage trat, scheint mir die interpersonale Situation in einer durchschnittlichen Schulstube geradezu idyllisch). Gelegentlich antreffbare (bei Klemm, Rolff & Tillmann 1986, S.139f zitierte) euphorische Schilderungen der unentfremdeten solidarischen Lernmöglichkeiten in den sozialen Bewegungen sind also möglicherweise von der gleichen schönfärberisch-illusionären Art wie die früher (S.387ff) angeführten offiziellen Verlautbarungen über die »Erziehungsziele« der Schule. Man mag mir (selbst wenn man meinen Einschätzungen soweit zustimmt) entgegenhalten, die Überwindung der benannten Lernbehinderungen müßte doch aber innerhalb der sozialen Bewegungen, da wir hier »Unter uns« seien, ungleich leichter fallen als innerhalb der Schule, WO durch administrativobrigkeitsstaatliche Machteinwirkung jede wirkliche Veränderung unterdrückt würde. Indes scheint-mir, daß-solchen Argumentationen eine Vorstellung von •Macht« als von außen bzw. »oben« einwirkender und unterdrückender Instanz zugrundeliegt, in welcher Foucaults Analyse der historischen ·Überholtheit« einer derartigen •Macht des Souveräns« durch die moderne »Machtökonomie«, die durch die Betroffenen hindurch wirkt, und in der jeder in gewissem Sinne gleichzeitig Täter und Opfer ist (vgl. S.349f), vernachlässigt wird. Weiterhin beziehe ich mich in diesem Zusammenhang auf unsere Herausarbeitung einer Denk- und Praxisfigur bedrohtheitszentrierter Lernformierung, die als allgemeinerer gesellschaftlicher Unterdrückungsmechanismus zu betrachten ist, der in der Schule und etwa beim Lernen in sozialen Bewegungen nur auf unterschiedliche Weise in Erscheinung tritt. Wenn man aber so gesehen die Schule und außerschulische Lernkonstellationen als potentiell gleichermaßen der Lernformierung unterworfen zu betrachten hat, so könnte es aus strategischen Gründen sogar von Vorteil sein, mit den Analysen zur Überwindung solcher instrumenteller Lernverhältnisse nun doch wieder an der Schule anzusetzen: Die Schule ist zwar staatlich formiert, aber gleichzeitig in gewissem Maße demokratisch kontrolliert. Außerdem sind durch die auf die Schule zentrierten widersprüchlichen gesellschaftlichen Kräfte - Gewerkschaften, Parteien, Verbände etc. womöglich günstigere Bedingungen der öffentlichen Diskussion und ggf. Initiierung von Aktivitäten zur Überwindung der Lernformierungen gegeben als mit Bezug auf das Lernen innerhalb von (in ihrer Struktur schwerer verallgemeinerbaren) Bewegungen und Betroffeneninitiativen verschiedener Art. Die damit diskutierten Vorstellungen, in denen die Zukunft des Lernens in außerschulischen Lebenszusammenhängen gesehen wird, stehen bei den neueren Auseinandersetzungen um die Schulreform sicherlich mehr am
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Rande. Weniger radikale Auffassungen jedoch, die nicht die Ersetzung schulischer durch außerschulische l..ernkonstellationen, sondern die Herstellung und Intensivierung der Beziehungen zwischen schulischem und außerschulischem Leben fordern, bilden jedoch - unter dem Stichwort »Öffnung der Schule« geradezu einen Schwerpunkt der gegenwärtigen Schulreform-Debatten. Dabei erscheint unter einem bestimmten Aspekt das Konzept der .Öffnung« der Schule nur als der bewußte pädagogische Reflex einer schulischen Funktionsveränderung, die unter der Hand schon längst stattgefunden habe: ~Die Schule ist« - so H. von Henting (1991)- "seit längerem- nicht erst und nur in geringem Maßaufgrund der Reform- für einen immer größeren Teil der Schüler für einen immer größeren Teil des Tages der eigentliche Aufenthaltsort geworden. In ihn bringen sie Vorstellungen, Erlebnisse, Fragen, Verstörungen, Erwartungen mit, für die sich die alte Schule mit gutem Grund nicht zuständig fühlte. In der neuen ist es nicht mehr sinnvoll, zwischen Schule und der Welt da draußen, zwischen Lernen und Leben zu unterscheiden, und es ist schon gar nicht möglich, diese Erscheinungen abzuweisen« (S.441 ). Die sich daraus ergebenden Konsequenzen, die bisher nur unkontrollien und unbewußt aufgenommen geworden seien, müßten nun, so von Hentig, •offenbar gemacht werden und damit vorzeigbar, verantwonbar, veränderbar. Aus dem Aufenthaltsort soll ein Lebensart, ein On bewußter Erfahrungen werden« (S.442, vgl. dazu auch die Darlegungen von Becker, 1991, S.17ff, über die Notwendigkeit des Übergangs von der bloßen •lernschulec zur ,.Lebensschule«). Ein anderer Akzent in der Diskussion um die »Öffnung der Schule« wird da gesetzt, wo man weniger das Eindringen des »Lebens« in die Schule als den Ausgriff der Schule ins außerschulische .Leben• akzentuiert und sich dabei etwa auf das englische Muster der »Community Education« bezieht. In diese Richtung gehen etwa Vorstellungen von Klemm, Rolff & Tillmann (1986), in einer zukünftigen Schule könne der Schulunterricht »durch Erfahrungen in sozialen Bewegungen ergänzt« werden, was am Beispiel des Themas »Stadtsanierung« im Sozialkundeunterricht angesichts konkreten persönlichen Engagements von Lehrern und Schülern bei Hausbesetzungsaktivitäten kritisch erörtert wird (S.148). Allgemeiner gesehen bedeutet diese An von »Öffnung«- so K.-H. Braun (1991)für das »staatliche Schulsystem ... ,daß es sich gegenüber dem direkten sozialen Umfeld, gegenüber der Gemeinde, der Stadt, dem Stadtteil öffnen muß. Sie muß tatsächlich beweisen, daß die Kinder und Jugendlichen ,fürs Leben und nicht für die Schule lernen' (heute dürfte das den meisten Schulen schwer fallen). Jede einzelne Schule wird auf diese Weise lebendige und wirklichkeitsnahe Beziehungen zur Alltagswelt der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen aufzunehmen haben, und die tagtägliche Unterrichtspraxis und das Schulleben darauf einzustellen haben• (S.192).
Gegenüber dem Konzept der ,.Öffnung der Schule« sind von verschiedenen Seiten kritische Einschränkungen geltend gemacht worden. So meldet Rolff (1987) dagegen den •pädagogischen Vorbehalt« (5.216} an, daß- wenn die Masse der Schüler nicht unkritisch den .Verführungen der modernen Konsumgesellschafte verfallen sollten - entsprechende Voraussetzungen für •produktives Lernen« außerhalb der Schule erst im Schulunterricht geschaffen werden müßten: » ... die Instrumente der Aneignung und EntschlüsseJung von Erfahrungen müssen selber erst angeeignet
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werden. Für die meisten Jugendlichen setzt außerschulisches Lernen Schulbildung voraus• (S.217}. Becker (1991} äußert sich in der gleichen Richtung: •Bei aller Wertschätzung, die ich für das Programm der ,Community Education', für ,Nachbarschaftsschulen', ,Gemeinwesenorientierung' und dergleichen habe ... , bin ich doch skeptisch, wenn ein solches Programm mit dem Anspruch einer neuen, alle Probleme lösenden Heilslehre daherkommt. So wichtig es mir scheint, immer wieder aus der Schule herauszugehen, sich der Wirklichkeit der Welt, auch und gerade der sozialen, zu stellen, sie zu erforschen, vielleicht auch in sie einzugreifen, oder auch ,das Leben' (was immer das ist} in die Schule hineinzulassen, so sehr beharre ich andererseits darauf, daß die Schule ein besonderer, geschützter Raum ist, eben nicht dem Zugriff aller beliebigen Botschaften und Erfahrungen zugleich ausgesetzt, sondern ein von den Erwachsenen eindeutig verantworteter Raum für Kinder und Jugendliche, in dem auch Muße und zweckfreie Erkenntnis und Streit um Wahrheit möglich sind« (S.21}. Braun&: Odey (1989} sehen- indem sie ein Diktum von Oelkers, die Schule müsse •in einer Distanz zum Leben stehen ... , um diesem zu dienen,• zustimmend anführen (S.160} - in einem durch die ,.Öffnung der Schule• geförderten ..Denktypusc, der »sein Zentrum in der Unmittelbarkeit des Alltags hat«, eine •große Gefahr für die ,Öffnung der Schule', daß nämlich die Unmittelbarkeit der Lebenswelt, des Stadtteils, allenfalls die Region ,für die Welt' gehalten wird; oder aber, daß die ,große Welt' so gedacht wird, als hätte sie grundsätzlich die gleichen Strukturen wie der eigene Alltag• (S.161). ·Auf der Strecke bleibt bei diesem Erkenntnismodus ... jene kognitive Distanz, die erst in der Lage ist, den spezifischen Stellenwert einzelner Erfahrungen und Problemkomplexe im Gesamtzusammenhang deutlich zu machen• (S.161f}.
Mit ·dem Konzept der ,.Öffnung der Schule« sind sicherlich einerseits wichtige neue Aufgaben und Dilemmata der Schule im Zuge der gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung angesprochen; andererseits sind in der dargestellten Kritik an diesem Konzept zweifellos schwerwiegende Gefahren benannt, denen man nicht erliegen darf, wenn die ,.Öffnung der Schule« zu einer sinnvollen Perspektive werden soll. Ich will dies jedoch nicht genauer diskutieren, sondern mich (gemäß der Themenstellung dieses Teilkapitels) darauf beschränken zu prüfen, wieweit in ihrer ,.Öffnung« Möglichkeiten gesehen werden können - sei es direkt, sei es unter kritischer Aufarbeitung durch den Unterricht- die Schule von einem Ort defensiv normalisierten Lernens zu einer Stätte dominant expansiven Lernens zu machen. Ich will vorwegnehmen, daß ich solche Möglichkeiten nicht recht zu entdecken vermag. Eine Teilbegründung dafür ergibt sich schon aus unserer früheren Diskussion von Lernmöglichkeiten in außerschulischen Betroffenengruppen etc.: Wenn (wie dargelegt) in solchen »selbstorganisierten« Lernkonstellationen aufgrund der Denk- und Praxisfigur instrumenteller Lernformierung mit
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Behinderungen expansiven Lernens zu rechnen ist, so gilt dies auch für den Fall, daß die Schule durch »Öffnung« zum Stadtteil oder den neuen sozialen Bewegungen hin solche (vorgeblich) freien Lernweisen zu adaptieren sucht. Die Schule kann ihren eigenen »disziplinären« Lernformierungen auf diesern Wege keineswegs entgehen. Auch wenn {in quasi umgekehrter Richtung) die Kinder und Jugendlichen aufgrund veränderter Daseinsbedingungen neuerdings mit ihren außerschulischen Lebensschwierigkeiten in die Schule dringen, so wachsen der Schule zwar dadurch neue, mehr Sozialarbeiterische Aufgaben zu. An den schulischen Lernverhältnissen muß sich aber dadurch nichts ändern. - Da (verallgemeinert gesehen) die Gegenüberstellung von »Schule« und »Leben« eine ideologische Ungleichung darstellt und tatsächlich die Schule für die Kinder/Jugendlichen selbst eine spezifische Lebenssituationunter anderen ist (vgl. unsere Ausführungen auf S.487ff), gibt weiterhin ein Konzept wie »Lebensnähe« zur Charakterisierung von Lernkonstellationen nicht viel her. Wieso etwa ist ein Lernthema wie »Stadtsanierung« (im Zusammenhang mit regionalen Hausbesetzungen) als solches »lebensnäher« als etwa ein Trakl-Gedicht in seinen verschiedenen Versionen? Beides ist mir (als Schülerin/Schüler) gleichgültig, sofern es mir im Zuge schuldisziplinärer Einkreisungsbewegungen abverlangt und mir durch Bewertung entfremdet wird. Beides könnte für mein Leben bedeutsam sein, sofern es zu meiner Lernproblematik geworden ist und ich (vielleicht mit Unterstützung des Lehrers) die schulische Möglichkeit hätte, mich darin zu »vertiefen«. Was jeweils meinem Leben so »nahe« ist, daß ich meine Lernanstrengungen darauf beziehen will, dies ist nicht durch (wie immer »politisch« oder ,.fortschrittlich« gemeinte) Vorgaben der Schule/ des Lehrers ohne mich als Lernsubjekt zu entscheiden. Wieweit aber kann die ,.Öffnung der Schule« zur Entwicklung expansiven Lernens beitragen, wenn die »Öffnung« nicht unreflektiert und unvorberei· tet geschieht, sondern - wie die benannten Kritiker einer bedingungslosen Schulöffnung vorschlagen - die Instrumente der Entschlüsselung von Erfahrung vorher in der Schule angeeignet werden, in kognitiver Distanz zum »Leben« der Stellenwert bestimmter unmittelbarer Erfahrungen aus dem Gesamtzusammenhang begreiflich gemacht wird etc.? Derartige Argumenta· tionsfiguren (so triftig sie allgemeiner gesehen auch sind) scheinen mir, wenn man sie speziell auf »Lernen« bezieht -vor dem Hintergrund der fragwürdigen Gegenüberstellung von »Schule« und »Leben« -von der früher {S.487ff) ausführlich diskutierten Fehleinschätzung, die Schule sei eine kontextfrei-privi· legierte Lernstätte, die auf spezielle kontextabhängige Lebenssituationen vor· bereitet, nicht frei zu sein. Dementsprechend wird unterstellt, daß die Schule die auf eine sinnvolle Öffnung vorbereitenden Denk- und Reflexionsprozesse
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auch tatsächlich den Schülerinnen/Schülernüber den Unterricht vermitteln könne. Der Umstand (dessen Aufweis weite Teile unseres vierten Kapitels dienen sollten), daß die Schule für die Schülerinnen/Schüler eine konkrete Lebenssituation ist, die sie bewältigen müssen, um zu »überleben«, und daß dabei - aufgrund der Bedeutungsstruktur dieser Lebenssituation - defensives Lernen mit bloß demonstrativer Wissensvorspiegelung Ansätze zu produktiv-expansivem Lernen immer wieder zurückzudrängen und zu dominieren droht, bleibt hier unberücksichtigt. Die Potenz der Schule als Ort der Reflexion, Wahrheitssuche und Zusammenhangserkenntnis ist also keineswegs eine Realität, mit der man jetzt schon (etwa gegen eine unkritische ,.Öffnung der Schule«) argumentieren kann, sondern wäre durch die Schulreform ja gerade erst zu schaffen. Wir sehen also: Die Überwindung defensiv normalisierten Lernens ist nicht dadurch zu erreichen, daß die Schule durch das ..Leben« ersetzt wird, das »Leben« zu sich hereinholt, oder selbst in das ,.Leben« hinausgeht . ..Leben« ist keineswegs eine Konstellation, die als solche Engagement zu lernen hervorruft, sondern viel eher ein verwaschenes Konzept, mit welchem verschieden geartete außerschulische Situationen in einen fiktiven Gegensatz zur Schule als •Nichtleben« gebracht sind. Die Herstellung von ,.Lebensnähe« ist also keine sinnvolle schulische Reformperspektive zur Entwicklung expansiver Lernmöglichkeiten. Vielmehr muß die Schule das Problem der durch sie hervorgerufenen Lernbehinderungen - wie immer ihr Anregungen dazu aus der außerschulischen Realität zuwachsen mögen - letztlich aufihrem eigenen Terrain bewältigen. Erst in dem Maße, wie dies gelungen ist, könnten mit der ,.Öffnung« der Schule den Schülerinnen/Schülern wie den Lehrern neue mögliche Lernproblematiken zugänglich werden, deren »expansive« Bewältigung für die Schule und das Gemeinwesen von Nutzen
wäre.
Zersetzung expansiver Lernmöglichkeiten durch schuldisziplinäre Bewertungsuniversalität: Grenzen der Schulreform? Unter den vielfältigen Aufgabenstellungen der Schulreform sind also für uns diejenigen relevant, die sich als Versuche interpretieren lassen, (zunächst} in der Schule den Schülerinnen/Schülern als Lernsubjekten die Artikulation ihrer eigenen Lernproblematiken und dadurch initiierte expansive Lernaktivitäten zu ermöglichen. Dabei bot sich als Ansatzpunkt für die weitere Diskussion die in bestimmten Reformansätzen projektierte und partiell realisierte
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Eröffnung von Wahlmöglichkeiten hinsichtlich Unterrichtsfächern und Lerngegenständen für die Schülerionen/Schüler an. Damit ist nicht zuvörderst die Einrichtung von freiwilligen Arbeitsgemeinschaften o.ä. gemeint dies geschieht ja mehr oder weniger ausgeprägt auch im konventionellen dreigliedeigen Schulsystem-, vielmehr meine ich spezielle Wahlmöglichkeiten innerhalb des regulären Unterrichts, wie sie in Rahmen des Reformprojekts der integrierten Gesamtschule entwickelt worden sind. In der Gesamtschule werden bekanntlich die im traditionellen dreigliedeigen Schulsystem getrennten Zweige der Sekundarstufe I (Klassen 7-10}: Hauptschule, Realschule und Gymnasium, in eine einzige Schulorganisation mit differenzierten und partiell durchlässigen Zügen integriert, wobei die Entscheidung, ob ein dem Haupt-, Real- oder Gymnasialabschluß äquivalenter Abschluß erreicht ist, erst am Ende der 10. Klassenstufe fällt. Dadurch sollen schichtspezifische Ungleichheiten nicht durch frühzeitige Zuweisung zu einem Schulzweig festgeschrieben werden, sondern soll für alle Schüler die Chance offenbleiben, zu dem höchsten Abschluß zu kommen.
Für das reichhaltige und differenzierte Lern- und Förderprogramm, das in diesem Zusammenhang von der Gesamtschule angeboten wird, ist die Aufgliederung von »Kern-« und »Kursunterricht« charakteristisch. Zum Kursunterrichtgehören dabei nicht nur »Fachleistungsdifferenzierungen« bzw. {in der Terminologie des Berliner Schulreglements) »leistungsdifferenzierte Kursec sondern eben auch »Wahlpflichtveranstaltungen« und darüber hinaus reine »Wahlveranstaltungen«, auch »Neigungskurse« genannt*. Nach Klafki {1968) soll die Gesamtschule dadurch ..der Individualisierung des Bildungsprozesses mehr Raum als das überkommene System bieten« {S.139f), und er sieht in bestimmten dabei eingeräumten Wahlchancen »die Möglichkeit einer begrenzten Schwerpunktbildung nach Neigung« für die Schülerionen/Schüler (S.139f). Eine solche verstärkte Einbeziehung von Wahlmöglichkeiten in die Unterrichtsgestaltung muß - worauf bereits Klafki hinwies - auch curriculare Konsequenzen haben. Dabei stellt sich hier die Frage, wer darüber bestimmt, welche Alternativen den Schülerinnen/ Schülern bei ihren Wahlen zur Verfügung gestellt werden. Während dies in der ersten Phase der Schulreform (bis in die frühen siebziger Jahre) noch wie selbstverständlich als eine Angelegenheit grundlegender schulpolitischer Diskussionen und (in der Ausführung) letztlich der zentralen Schulbehörden angesehen wurde, gibt es (seit Mitte der achtziger Jahre) zunehmend Tendenzen- unter Stichworten wie »Qualität von Schulec, ,.Gesamtschule: Schule mit Profile etc.- (auch im Zusammenhang mit dem schon diskutierten Konzept der »Öffnung der Schule«), eine relative Eigenständigkeil der einzelnen Schule anzustreben (vgl. etwa Steffens 1991}. Die so geschaffenen dezentralen Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Schulen sollten durch entsprechende Selbstverwaltungsgremien mit erweiterten Kompetenzen abgesichert werden (zur historischen Entstehung und zum
* Die Terminologie ist hier in den verschiedenen Bundesländern teilweise unterschiedlich.
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gegenwärtigen Stand derartiger Ansätze und den dadurch provozierten Auseinandersetzungen mit der staatlichen Schulaufsicht vgl. Schmidt 1991}. Im Rahmen solcher Bestrebungen wurde dann auch versucht, die Art der Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts einschließlich der dabei bereitgestellten Wahlmöglichkeiten dem speziellen Profil und den regionalen Besonderheiten der einzelnen Schule anzumessen. Damit ist es also u.U. (mindestens dem Konzept nach) durchaus vorgesehen, daß sogar die Schülerinnen/Schüler - wenn auch nicht vor Ort, so doch als Mitglieder der einzelschulischen Selbstverwaltungsgremien - über die ihnen eingeräumten Gestaltungsspielräume ihrer Lernprozesse mitbestimmen können.
Die hier den Schülerionen/Schülern eingeräumten Chancen zur Mitgestaltung ihrer Lernprozesse könnten ein erster Schritt dazu sein, die •objektiven Lernanforderungen« in »Veränderbare Voraussetzungen und Möglichkeiten« zu transformieren, •Zu denen sich die tatsächlichen Lernsubjekte, hier die Schülerlnnen, aktiv, bewußt, auswählend und umgestaltend verhalten können« (K.-H. Braun 1989, S.59), womit sie auch ihre eigenen subjektiven Lernproblematiken identifizieren und in expansivem Lernen zu bewältigen trachten könnten. Dazu müßten allerdings die Schuldisziplinären Strukturen, die bisher solchen Entwicklungen entgegenstanden, im Zuge der Schulreform mitverändert werden. Andernfalls besteht die Gefahr, daß durch die Art und Weise, wie sie in die überkommene Unterrichtsorganisation einbezogen und dort praktisch umgesetzt werden, die neuen Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten mindestens partiell zersetzt und wieder zurückgenommen werden. Tatsächlich sind hier im schulorganisatorischen Kontext mannigfache Vorkehrungen getroffen worden, um die den Schülerinnen/ Schülern eingeräumten Gestaltungsfreiheiten wiederum in vorgeplante Anforderungen umzumünzen und damit »in Ordnung zu bringen«. So wird jede Schülerin und jeder Schüler, wenn sie/ er einen bestimmten Neigungskurs gewählt hat, dazu verpflichtet, diesen Kurs eine gewisse Zeit {etwa ein Schuljahr) lang nun auch regelmäßig zu besuchen. Die Schülerionen/Schüler haben im Unterrichtsprozeß selbst keine Möglichkeit, Einfluß auf den Inhalt des Kurses zu nehmen und ihre eigenen Problematisierungen dort einzubringen: Ihre Wahlfreiheit besteht nur darin, (bei Wahlpflicht-Veranstaltungen) diesen oder jenen Kurs wählen bzw. (bei Wahlveranstaltungen) einen bestimmten Kurs wählen oder nicht wählen zu düden (auch durch die mögliche Beteiligung der Schülervertretung an der Festlegung der Wahlmöglichkeiten im Selbstverwaltungsorgan der einzelnen Schule sind die Mitgestaltungschancen der Schülerionen/Schüler im Unterricht selbst nicht erweitert). Darüber hinaus ist die Teilnahme an Neigungskursen mit der Verpflichtung zur Beteiligung an den Kerngruppen und an Leistungskursen bzw. Grundkursen und Wahlpflichtveranstaltungen verschiedener Art verbunden. Schon Klafki (1968, S.140) redet hier in bestimmten Zusammenhängen von einer ·Differenzierung
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im Sinne von obligatorischen Fundamentalkursen und wahlfreien bzw. alternativ wählbaren Zusatzkursen«, weist dabei aber auf die Gefahren hin, die bei einem zu schematischen Verständnis des Kursunterrichts als didaktischem Ort der »Differenzierung« für eine sinnvolle Integration der Unterrichtsangebote aus der Sicht der Schülerionen/Schüler entstehen könnten (1968, S.l49). Solche Warnungen haben indessen auf die weitere Entwicklung der Gesamtschulen nur sehr begrenzten Einfluß gehabt. Vielmehr hat sich die Umdeutung der Individualisierung des Unterrichts in vorgegebene Kursdifferenzierungen durch Vorgaben der Schulverwaltung (gegen den Widerstand von Teilen der Gesamtschulbewegung, s.u.) soweit zugespitzt, daß die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Schülerionen/Schüler heute durch ihre schulorganisatorische Umsetzung weitgehend »eingefroren« sind in ein fixiertes System von »Fachleistungskursen, Wahlpflichtfächern, Intensivkursen, Arbeitsgemeinschaften und Neigungs-Profilkursen« (vgl. Ratzki 1987, S.138), in dem sie sich auf vorgeschriebenen Bahnen bewegen, wobei sie zu den von ihnen wählbaren Kursen nur über fest eingebaute Weichenstellungen gelangen können. Es ist m.E. offensichtlich, daß in der hier angestrebten (oder zugestandenen) Vollständigkeit und Systematik des Lehrangebots der früher aufgewiesene Lehrlernkurzschluß und die damit verbundene Planungsillusion durchschlägt, auf diesem Wege sei eine entsprechende Vollständigkeit und Systematik des Wissens/Könnens der Schülerionen/Schüler zu erzeugen. Früher von uns dargelegte mögliche Einsichten über expansives Lernen vom Subjektstandpunkt, etwa, daß das Aufscheinen von Lernproblematiken in Handlungsproblematiken leicht etwas von einem glücklichen Umstand hat, daß dadurch initiierte Lernprozesse am treffendsten als nur begrenzt vorherbestimmbare Lernepisoden zu charakterisieren sind und daß für produktives Lernen »affinitive« Phasen nachdenklichen Sich-Gehen-Lassens ermöglicht werden müssen, sind im Umkreis derartiger präformierter Anordnungen mit gelenkter Wahlfreiheit kaum »denkbar«. Die umfassendere schuldisziplinäre Funktion einer solchen administrativen Vereinnahmung von pädagogischen Möglichkeiten der Gesamtschule liegt m.E. darin, daß die im Gesamtschulkonzept den Schülerionen/Schülern eröffneten freien Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten nur, wenn man sie rückwirkend in ein organisatorisch fixiertes Anforderungssystem einbindet, der schulischen Bewertungsuniversalität unterworfen werden können: Nur so sind die Bedingungen der Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Leistungen erfüllt, durch welche die schulischen Benotungen aufeinander beziehbar sein sollen (vgl. S.369ff und S.373ff). Auf dieser Grundlage konnte dann in den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats
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,.zur Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen« ( 1969) zur •Reform der Leistungsbewertung« folgende allgemeine Marschrichtung angegeben werden: »In einer nach Leistung differenzierten Gesamtschule mit Eignungs- und Wahlkursen ist es unerläßlich, gruppenübergreifende und verläßliche Maßstäbe der Leistungsbeurteilung zu finden ... Eine stärker differenzierte und flexible Schulorganisation muß auch neue Formen des Leistungsnachweises entwickeln. Da die Schüler Kurse mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten und unterschiedlicher Intensität wählen können und viele Fächer leistungsdifferenziert unterrichtet werden, sollte eine Gesamtbeurteilung durch ein Punktsystem erfolgen« (S.179). Die Ablösung oder Ergänzung von Noten durch ein Punktsystem ist tatsächlich für die Art der Leistungsbewertung in der Gesamtschule charakteristisch geworden. Widerstand dagegen hat sich (besonders, da die Gesamtschule, die als eine Schule für alle gedacht war, nur in den SPO-regierten Ländern als •vierte Schulform« etabliert werden konnte und so durch eine ihr fremde Konkurrenz mit den Schulformen des dreigliedrigen Systems sich dessen Erfolgskriterien ausgesetzt sieht) nicht durchsetzen können. So ist gerade in der Gesamtschule - quasi durch eine aufgezwungene schuldisziplinäre Pervertierung der projektierten Individualisierung und Differenzierung von Unterrichtsangeboten - die normalisierend-quantifizierende Leistungsbewertung womöglich noch stärker perfektioniert worden als in den traditionellen Schulformen. Da hier nämlich die besonders weitgehend aufgegliederten Unterrichts- und Angebotsformen dann doch wieder zu abstrakten numerischen Gesamtwerten als Grundlage der Ermöglichung schulischer Selektionsprozesse und Laufbahnbestimmungen verrechnet werden müssen, resultieren (in der Umrechnung von Noten in Punkte, Gewichtung der Punkte verschiedener Unterrichtszüge und ggf. Rückrechnung der so gewonnenen Gesamtpunktzahlen in Noten) u.U. besonders undurchschaubare und abgehobene Prozeduren - wie sie im Berliner Reglement etwa in einer inhaltlich wie arithmetisch gleichermaßen grotesken Tabelle (4300-7) kodifiziert sind (vgl. dazu S.378 der vorliegenden Arbeit). Der Umstand, daß die Gewährung von Wahl- und Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Schülerinnen I Schüler in der Gesamtschule dem Schuldisziplinären Leistungsbewertungssystem nicht entzogen werden konnte, muß (wie aus früheren begründungslogischen Analysen hervorgeht) auf die Wahlbegründungen selbst zersetzend zurückwirken: Wenn mir (als Schülerin/ Schüler) angeboten wurde, eine •Neigungsgruppe« nach meinen eigenen Interessen auszuwählen, was hat es dann zu bedeuten, daß meine Lernresultate in dieser Gruppe dennoch benotet werden? Sind es - da Bestechungen oder Bestrafungen darauf bezogen sind - wirklich meine Lerninteressen, um die es
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hier geht, oder nicht doch wieder die Interessen derer, die mich durch die Bestechungen oder Bestrafungen in ihrem Sinne zu beeinflussen trachten (»overjustification hypothesis«)? Ist es weiterhin für mich nicht riskant, mich hier bei der Wahl tatsächlich von meinen Interessen leiten zu lassen, da ich mir auf diese Weise vielleicht gerade Lernanforderungen einhandle, die ich nicht ,.zufriedenstellend« bewältigen kann, womit ich mir aufgrund der eigenen Wahl eine schlechte Benotung zuziehen würde? Ist es nicht eigentlich gleichgültig, ob ich an den Lerngegenständen der »Neigungsgruppe« o.ä. interessiert bin oder nicht, da ich angesichts der terminalen Benotung ohnehin nur darauf aus sein muß, Lernerfolge auf die erwartete Weise in der erwarteten Zeit zu demonstrieren (wobei zu großes Lernengagement u.U. eher hinderlich sein könnte)? - Die Wahlmöglichkeiten, die in der Reformperspektive als Chance für inhaltlich motiviertes, selbstbestimmtes Lernen gemeint sind, würden - da in das Bewertungssystem einbezogen - also in denjenigen Bereich defensiven Lernens und demonstrierter bis vorgetäuschter Lernresultate gelangen, wie wir ihn früher unter verschiedenen Aspekten auseinandergelegt haben, und die Schülerionen/Schüler hätten vor sich selbst ihre wirklichen Lerninteressen immer wieder erst gegen das dadurch nahegelegte strategische Kalkül durchzusetzen. So könnte es im ungünstigen Fall dazu kommen, daß die »Neigungen« der Schülerionen/Schüler- indem das »Punktsystem« der Gesamtschule von ihnen als Grundlage ihrer Wahlentscheidungen internalisiert wird - weitgehend in den Hintergrund treten. Man hätte sich die Schülerinnen/Schülerdann als schon erhaltene Punkte pausenlos addierend, subtrahierend und mittelnd vorzustellen, um so herauszufinden, welche Punktzahlen sie da oder dort noch erreichen müssen, um nicht »auf den Bauch zu fallen« etc. Die jeweiligen »Wahlveranstaltungenc und »Wahlpflichtveranstaltungen« würden den Schülerionen/Schülern dabei die Chance bieten, die ihnen hier eingeräumten »Gestaltungsmöglichkeiten« selbstbestimmt zur Aufbesserung ihres Punktekontos auszunutzen. - Man wird es sich also (um diese Überlegungen zusammenzufassen), wenn man in der Reformperspektive den Schülerinnen/ Schülern tatsächlich Lernmöglichkeiten gemäß ihren eigenen Neigungen und Interessen einräumen will, kaum leisten können, dabei das schuldisziplinäre Bewertungssystem unangetastet zu lassen. Nun ist die schulische Notengebung schon in früheren Reformbewegungen und bis heute immer wieder kritisiert worden. Besonders in den Reformbemühungen nach der Jahrhundertwende sind mehrfach Reform- oder Versuchsschulen entwickelt worden, in denen mit großem Erfolg auf Zensuren verzichtet wurde. Auch in der gegenwärtigen Schulreform-Diskussion hebt man die offensichtliche pädagogische Fragwürdigkeit des Notensystems
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immer wieder hervor. Dabei wird, soweit ich sehe, nicht die Abschaffung
jeder Leistungsbewertung erwogen, sondern (wie es Kubina, 1991, S.172, unter Verweis auf •Lebensgemeinschaftsschulen« in den zwanziger Jahren formuliert} lediglich der Verzicht der Schule .. auf eine Ziffernbewertung zugunsten von mündlichen und schriftlichen Lernentwicklungsberichten«. Braun (1989} fordert für die integrierte Gesamtschule eine •demokratische Neukonzeption der Leistungsbeurteilung« bei der u.a. eine ..differenzierte schriftliche Bewertung unter weitgehendem Verzicht aufNoten« anzustreben sei (S.66). Mit einer solchen Ersetzung der numerischen Notengebung durch verbalisierte Beurteilungen wäre sicherlich ein wichtiger Schritt zur Beseitigung der extremsten Widersprüche und Unsinnigkeiten der Leistungsbewertung vollzogen. Weiterhin ist zu bedenken, daß - da schon Kampagnen für die Möglichkeit, in der Grundschule über die erste oder zweite Klasse hinaus Ziffernnoten durch schriftliche Berichte zu ersetzen, auf großen Widerstand nicht nur der Schuladministration, sondern auch von Teilen der Elternschaft zu stoßen pflegen - mehr gegenwärtig schulpolitisch kaum durchsetzbar erscheint. Selbst gemäß dem von der rotgrünen Koalition erarbeiteten neuen hessischen Schulgesetz (vom 17.6.1992} kann (in §73, Abs. 7} nur durch Rechtsverordnung vorgesehen werden, ,.daß für einzelne Jahrgangsstufen oder Schulformen an die Stelle einer Leistungsbewertung durch Noten eine schriftliche Aussage über Leistungswillen, Lernentwicklung und Lernerfolg tritt«. Dennoch bin ich - aufgrund früherer Analysen schuldisziplinärer Lernbehinderungen - gezwungen, im Kontext meiner mehr grundsätzlichen Überlegungen die Problematik zuzuspitzen und zur Diskussion zu stellen, wieweit in der Perspektive von Schulreform im Interesse der Überwindung gravierender Einschränkungen expansiven Lernens nicht nur die Abschaffung der Ziffernbewertung, sondern die Abschaffung der Leistungsbewertung überhaupt gefordert werden müßte. Zur Verdeutlichung des damit angesprochenen Problems verweise ich darauf, daß (wie früher gezeigt} die schulische Bewertungsuniversalität nicht nur in expliziten Bewertungsakten des Lehrers ihren Ausdruck findet, sondern daß diese lediglich die nach außen gekehrte Seite von interpersonalen Beziehungsformen sind, die den Umgang zwischen Lehrer und Schülerinnen/ Schülern quasi bis in den letzten Winkel prägen: den Frage-Antwort-Bewertungssequenzen, die jeweils durch vorauswissende Fragen des Lehrers initiiert sind. Mit diesen verschafft sich der Lehrer einerseits die Information, die dann die Grundlage für die expliziten Bewertungen - und zwar gleichviel, ob es sich dabei um Ziffernbewertungen oder verbalisierte Bewertungen handelt - darstellt; andererseits aber begünstigen die vorauswissenden Fragen (wie ausführlich gezeigt, vgl. etwa S.462ff) aufgrund der hier bestehenden Begründungs-
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konstellation demonstrative Antworten der Schül~rinnen/Schüler, womit defensives Lernen als zur Situationsbewältigung funktional nahegelegt und expansives Lernen als in diesem Kontext eher unfunktional zurückgedrängt würde. Wenn man also in der Reformperspektive quasi als Kompromiß die Ersetzung von Ziffernbewertungen durch schriftliche Bewertungen vorschlägt, so plädiert man damit (unbeabsichtigt bzw. wider besseres Wissen) indirekt gleichwohl für schulische U mgangsweisen, durch welche expansive Lernprozesse der Schülerionen/Schüler behindert werden. Ich male mir eine (als Konsequenz der Schulreform entwickelte) didaktische Konzeption aus, in welcher dem Lehrer das Stellen von vorauswissenden Fragen im Kontext der Lernförderung als grober Kunstfehler (etwa von der Schwere der Benutzung unsteriler Spritzen bei der Krankenbehandlung) verboten ist. Darüber hinaus hoffe ich auf die Herausbildung einer Konvention, aufgrund derer auch in der Schule vorauswissendes Fragen als ungehörig und unhöflich eingestuft werden kann. (Wenn mich jemand nach dem Weg fragt, mir aber - nachdem ich ihm den Weg erklärt habe - eröffnet, er wüßte ja den Weg und habe nur sehen wollen, ob ich ihn auch kenne, so ist dies im nichtschulischen Lebenaußerhalb von umschriebenen Situationen wie etwa staatlichen Prüfungen zur Erlangung eines Taxischeins- eine Ungehörigkeit: Warum sollte man dem Lehrerein entsprechendes Verhalten in der Schule nicht eines Tages auch als ungehörig ankreiden dürfen?). Als pädagogisch sinnvoll und im zwischenmenschlichen Umgang akzeptabel zugelassen wären in einer solchen Didaktik nur wissensuchende Fragen von Schülern und von Lehrern, womit demonstrative Antworten mangels begründungslogischem Anlaß normalerweise ohnehin entfallen und nur inhaltliche Antworten übrigbleiben würden.
Man mag meiner Auffassung von den lernbehindernden Konsequenzen schriftlicher Bewertungen entgegenhalten, derartige ,.J...ernentwicklungsberichte« o.ä. könnten den Schülerionen/Schülern doch auch als Rückmeldun· gen zur Verbesserung ihrer Lernleistungen dienen. Ich gebe demgegenüber zu bedenken, daß solche Berichte (soweit ich sehe) normalerweise anstelle der Noten als Grundlage für Entscheidungen über die weitere Schullaufbahn der Kinder dienen: Dazu sind sie geeignet, weil sie eben (wenn auch nicht in Ziffern gefaßte) Bewertungen der Kinder (meist im Zusammenhang mit Zeugnissen) darstellen. Gerade dies aber schränkt ihre Geeignetheit als Rückmeldungen an die Lernenden ein. Die Berichte beziehen sich nämlich auf die ,.J...ernentwicklung« der Kinder, nicht aber auf einzelne ihrer Lernhandlungen, und so erfahre ich (als Schülerin/Schüler) daraus, daß meine Lern· entwicklung bzw. meine Lernleistungen aus den und den Gründen als mehr oder weniger zufriedenstellend bzw. ungünstig bewertet wurden, kaum etwas darüber, warum ich in einem je konkreten Fall bestimmte Anforderungen nicht bewältigen konnte und was ich tun muß, um dies zu ändern. Der Infor· mationsgehalt der Berichte träte also in jedem Falle als marginal gegenüber den aus ihrem bewertenden Charakter entstehenden Lernbehinderungen zurück.
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Die Rückmeldefunktion wäre hier nur in dem Maße zu verbessern, wie dem Lehrer - im Zuge schulischer Reformaktivitäten - die Möglichkeit gegeben würde, sich auf die Lernschwierigkeiten der Schülerinnen/Schüler im einzelnen einzulassen. Dabei ginge die Bewertung aber notwendigerweise in etwas über, das man als »Unterstützung« bezeichnen kann, wobei man das entsprechende entwicklungspsychologische Konzept (aus dem Umkreis der Tätigkeitstheorie, vgl. S.179f} unter allgemeinen reformpädagogischen Aspekten weiterzuentwickeln hätte. Einesogefaßte Unterstützung wäre (vor allen genaueren Bestimmungen) als dadurch ausgezeichnet zu verstehen, daß sie einem nicht -wie die Bewertung- ungefragt auferlegt ist, sondern nur in dem Grade und der Art gewährt wird, wie die Lernenden sie im Zuge ihrer Bemühungen um Bewältigung einer Lernproblematik anfordern. Dies schließt ein, daß der Lehrer, damit seine Hilfe sinnvoll sein kann, auf Informationen angewiesen ist, über die er nicht von sich aus verfügt, sondern die er nur vom Lernenden erhalten kann, nämlich, wo im konkreten Falle dessen Schwierigkeiten liegen, an welchen Schaltstellen er in die Irre geht, wo er sich selbst blockiert, in Sackgassen hineinmanövriert hat, etc. Das bedeutet aber, daß in dieser Lernkonstellation der Lehrer wissensuchende Fragen an die Schülerin oder den Schüler stellen muß: Daran, wieweit er diese mit solchen Fragen nicht verwirrt und unter Druck setzt, sondern tatsächlich mit ihnen gemeinsam zu dem »wunden Punkt« vordringen kann, durch dessen Identifizierung die Lernschwierigkeiten überwindbar sind, würde sich dann zukünftig in einem wesentlichen Aspekt seine Qualifikation als Lehrer manifestieren. Derartige Unterstützungsaktivitäten enthalten an keiner Stelle die Möglichkeit oder Notwendigkeit, den Lernenden, ob nun mit oder ohne Ziffern, ob mündlich oder schriftlich, zu »bewerten«. Vielmehr werden der Dialog und die Kooperation - dies ist ihre Funktion - solange und intensiv fortgesetzt, bis die Schwierigkeiten des Lernenden verschwunden sind, so daß selbst jemand, der darauf aus wäre, hier keine Möglichkeit zu vergleichenden »Bewertungen« mehr finden würde. Mit der Kommunikationsweise der »Unterstützung« hätte man die interpersonale Beziehungsform der Frage-Antwort-Bewertungssequenz mit vorauswissenden Fragen und demonstrativen Antworten hinter sich gelassen und müßte demnach nicht mehr aufgrund der Art des Umgangs selbst immer wieder strukturelle Lernbehinderungen aktualisieren. Allerdings hätte man damit auch keine Ansatzpunkte mehr, um die Schülerinnen/Schüler selektiv in das schuldisziplinäre Laufbahnsystem mit der Eröffnung unterschiedlicher Lebenschancen als Output einzuspeisen. Durch die schuldisziplinäre Formierung des interpersonalen Umgangs unter dem Vorzeichen der Frage-Antwort-Bewertungssequenz sind (wie ausgeführt)
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nicht nur die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülerinnen/Schülern, sondern auch deren Beziehungen untereinander restringiert. Unterdiesern Aspekt wird im Zusammenhang mit unserer Fragestellung eine weitere Dimension der Schulreform relevant, nämlich die Förderung •sozialen Lernensc der Schülerinnen/Schüler im Sinne des Lernens miteinander und voneinander, der wechselseitigen Hilfe und des Eingehens auf die Probleme des jeweils anderen etc. Wieweit sind solche Konzepte als Perspektiven der Förderung expansiven Lernens in seinen kooperativen Formen (wie wir sie früher, S.510ff, auseinandergelegt haben) zu interpretieren? Die pädagogische Entwicklung gemeinsamen Lernens gehört nicht zu den Zielsetzungen der Gesamtschulbewegung im ganzen, sondern wird - gemäß dem geschilderten neueren Projekt der Heraushebung der Besonderheit der jeweiligen Einzelschule als •Schule mit Profile o.ä. - nur von bestimmten Gesamtschulen angestrebt: ·Manche Schulen bemühen sich um unterrichtspraktische Erneuerungen, bei denen sie das selbsttätige und selbständige Lernen in ,Freier Arbeit' oder nach einem :Wochenplan' betonen und Wert auf gemeinsames Lernen in Tisch- und Arbeitsgruppen sowie auf gegenseitiges Zusammenarbeiten, Unterstützen und Helfen unter den Schülerinnen legen« (Steffens 1991, 5.151). Dabei verstehen bzw. verstanden sich solche Schulen (wie Ratzki, 1987, detailliert und eindrucksvoll dargestellt hat) explizit als Gegenbewegung gegen die administrativ verordnete extreme Aufsplitterung des Lehrangebots durch das Kurssystem und die dadurch bedingte (wie angeführt, schon von Klafki 1968 als Gefahr erkannte) Desintegration: ·Die Fachleistungskurse, aber auch Förder-, Wahlpflicht- und Neigungsgruppen ließen die Zeit im gemeinsamen Klassenverband auf wenige Stunden schrumpfen; in den Kursen trafen die Schüler auf immer wieder andere Mitschüler, mußten sich auf ständig wechselnde soziale Gruppen einstellen. Das Fachlehrerprinzip, aus den traditionellen Schulformen übernommen, verstärkte das Problem: Immer wieder andere Lehrer, die die Schüler kaum kannten, erteilten den Fachunterricht. Frontalunterricht dominierte« (Ratzki 1987, S.148f). Die Fachleistungsdifferenzierung etc. führe notwendigerweise zur • Notenakrobatik bei der Abschlußvergabe (die ist so komplizien, daß Nordrhein-Westfalen ein eigenes Computerprogramm dafür anbietet!).. {S.l55).
Auf dem Hintergrund dieser Kritik am Kurssystem begann, so Ratzki, die Diskussion über •soziales Lernen«, d.h. »positives, solidarisches Verhalten zu lernen, Ich-Stärke zu entwickeln und gleichzeitig Rücksichtnahme auf die anderen« (S.148). Dies führte nach Ratzki dazu, daß Planungsgruppen bestimmter Gesamtschulen Konzepte zur organisatorischen Umsetzung der Prinzipien des sozialen Lernens erarbeiteten, die als »Team-Kleingruppen· Modell (TKM)c bekannt geworden seien: »Ein Lehrerteam von 6-8 Lehrern und Lehrerinnen unterrichtet eine überschaubare Anzahl von Schülern, in
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der Regel 3 Klassen. Diese Lehrer und Lehrerinnen erteilen praktisch allen Unterricht in ihren Klassen und sind für die pädagogische Arbeit zuständig ... Innerhalb der Klassen bilden 5-6 Schüler und Schülerinnen eine Tischgruppe, die in allen Fächern gleich zusammengesetzt ist. Die Schüler und Schülerinnen lernen, miteinander zu leben und zu lernen, Konflikte zu bearbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen und beim Lernen zu helfen« (S.149f) . ..Das Lernen in Gruppen, in denen stärkere Schüler und Schülerinnen den schwächeren helfen, baut Angst ab und ist Ausdruck solidarischen sozialen Lernens. Zugleich vermeidet es die Ausgliederung der Schwächeren durch gezielte binnendifferenzierte Förderung. Dabei wäre die Entwicklung einer ,Didaktik des Helfens' sinnvoll« (S.156}. Das Team-Kleingruppen-Modell stieß, wie Ratzki darlegt, auf großes Interesse bei der Lehrer- und Elternschaft und konnte im mehreren Fällen erfolgreich erprobt werden. Gleichzeitig aber kam es zu immer ausgeprägteren Behinderungen von seiten der Schulbehörden, angefangen mit Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz ,.für die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen an integrierten Gesamtschulen« (1982), durch die das Team-Kleingruppen-Modell praktisch illegalisiert wurde (so daß man von da aus etwa Anträge der TKM-Schulen auf Befreiung von der Fachleistungsdifferenzierung ablehnen konnte} bis hin zu den manifesten Staatseingriffen des CDU-Senats in die 2. Oberschule Berlin-Kreuzberg im Jahre 1986: »Die Berliner Schulsenatorin hat nach jahrelangem Tauziehen die Weiterführung« der Arbeit dieser Gesamtschule nach dem Team-Klein-GruppenModell mit der Ersetzung von Notenzeugnissen durch lernentwicklungsberichte im 7. und 8. Schuljahre-trotz großer Erfolge- abgelehnt. Die 2. Oberschule Kreuzberg soll sich den bundesweiten Fachleistungs- und Bewertungsvorgaben nach KMK-Beschluß anpassen.« »Demonstrationen der Schulgemeinde vor der Senatsschulverwaltung, Schülerstreiks und Petitionen führten inzwischen zur Suspendierung des Schulleiters. Staatskommissare wurden eingesetzt, die Fachleistungsdifferenzierung und Notenzeugnisse der Schule von Amts wegen aufzwingen sollen« (Ratzki 1987, S.151 fn).
Mit Konzepten wie dem Team-Kleingruppen-Modell ist der Intention nach eine Grundbestimmung schuldisziplinärer Anordnungen, die Isolierung der Schülerinnen/Schüler untereinander, angetastet und damit die organisatorische und ideologische Basis der individualisierenden Leistungsbewertung (mit der Funktion selektiver Laufhahnzuweisung etc.} in Frage gestellt. Dies ist im Kontext der erwähnten Diskussion um das »soziale Lernen« von einer Arbeitsgruppe der GGG* als Kritik am in der Fachleistungsdifferenzierung zugespitzten Leistungsprinzip mit aller Klarheit herausgehoben worden: »Da der Bewertung der schulischen Leistung die Normalverteilung als Konstrukt zugrunde liegt, ist sie nur möglich im Vergleich zur Leistung anderer. Daraus folgt, daß das Versagen anderer die eigene Leistung hebt. Da nicht alle Schüler in die höchsten Kurse aufsteigen dürfen, sind sie somit alle " GGG: »Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule eY.«
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Konkurrenten um die wenigen Aufstiegsplätze. Die dem Leistungsprinzip unterworfenen Schüler der Gesamtschule müßten deshalb- bewußt oder unbewußt - das Versagen der Mitschüler wünschen« (zit. nach Ratzki 1987, S.148). So ist die (etwa in der 2. Oberschule Kreuzberg zeit-und teilweise realisierte) Forderung, zur Aufhebung dieser Konkurrenz die Ziffernbewertung abzuschaffen, ein notwendiges Implikat des im Team-Kleingruppen-Modell konzipierten gemeinsamen Lernens mit wechselseitiger Hilfe der Schülerinnen/Schüler. Von da aus sind die heftigen Reaktionen der Schuladministration darauf sowohl verständlich als auch ein Indiz dafür, daß mit dem »sozialen Lernen« wesentliche reformerische Perspektiven über die Schuldisziplin hinaus angesprochen sind. Dennoch muß ich auch hier auf der Basis früherer Analysen die grundsätzliche Frage stellen, ob die vorgelegten Konzeptionen zur Realisierung der selbstgesteckten Ziele hinreichend sind. In unserer Terminologie: Wieweit ist (selbst, wenn man Ziffernbewertungen oder sogar schriftliche Lernentwicklungsberichte wegdenkt) mit einer Konzeption »sozialen Lernens« im Kontext der (hier nicht in Frage gestellten) Bewertungssequenzen als interpersonaler Umgangsweisen zwischen Lehrern und Schülerinnen I Schülern die Entwicklung expansiven Lernens in kooperativen Formen als möglich verständlich zu machen? Durch die Bewertungssequenzen - die wir hier, da soziales Lernen nicht verbalisierbare Momente enthalten könnte, in ihrer allgemeineren Fassung als ,.Initiation-Reply-Evaluation« verstehen wollen- sind (wie dargelegt, vgl. S.457ff) nicht nur die Beziehungen zwischen Lehrer und Schülerinnen/ Schülern, sondern - aufgrund ihrer Beziehungen zum Lehrer - auch die Beziehungen der Schülerinnen/Schüleruntereinander formiert: Sie stehen in (latenter) Konkurrenz um die Zustimmung des Lehrers, wobei der Lehrer durch die »turn allocation« - indem er bestimmte Schülerinnen oder Schüler »herannimmt« und andere »schont« bzw. »übersieht« u.ä. - diese gegeneinander auszuspielen und so strategische Vorteile zu gewinnen versuchen kann. Die eigenen Gegenstrategien der Schülerinnen/Schüler, in denen sie einerseits den schuldisziplinären Einkreisungsbewegungen zu entkommen und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber dem Lehrer durchzusetzen trachten, sind andererseits stets durch die Vereinzelungsstrategien der Schulseite zersetzt: Deswegen sprachen wir in diesem Zusammenhang von subversiven Solidargemeinschaften zwischen den Schülerionen/Schülern einer Klasse und deren gebrochenen Strategien zu kollektiver Bedrohungsabwehr. Denken wir uns nun zu diesem Arrangement das ,.soziale Lernen« hinzu: Welche Funktion und welcher Stellenwert ist ihm darin zuzuschreiben? Offenbar handelt es sich um ein gemäß der dargestellten Reformkonzeption
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aufgestelltes Lernziel (d.h. Lehrlernziel): Die Schülerinnen und Schüler sollen aufgrund der Lehraktivitäten (i.w.S.) des Lehrerteams dazu gebracht werden, »positives solidarisches Verhalten zu lernen«, sie sollen »lernen, ... sich gegenseitig zur unterstützen und beim Lernen zu helfen«; ein solches »Lernen in Gruppen, in denen stärkere Schüler und Schülerinnen den schwächeren helfen, baut Angst ab und ist Ausdruck solidarischen sozialen Lernensc. Im Kontext der Bewertungssequenzen gibt es hier also von der Lehrerseite Anstöße, Anregungen, Aufforderungen in Richtung auf gegenseitige Hilfe etc. der Schülerinnen/Schüler, diese »antworten« darauf, indem sie mehr oder weniger ausgeprägt einander helfen, und der Lehrer bewertet dieses Verhalten der Schülerionen/Schüler durch (verbal oder averbal geäußerte) Unzufriedenheit bzw. Zufriedenheit und Zustimmung. Darüber hinaus kann der Lehrer (in den Worten von Slavin 1980, S.317, s.u., S.454) versuchen, in der Lerngruppe selbst eine »highly contingent reward structure« in Richtung auf Kooperativität zu installieren: Wenn die einzelnen Gruppenmitglieder zum Wohle der Gruppe kooperieren, »they receive praise; if not, they receive blamec. Die auf solche Weise geförderte »Solidarität« liegt also auf einer anderen Ebene als die geschilderte gebrochene Solidarität der Klassenmitglieder zur kollektiven Bedrohungsabwehr: Sie ist nicht Resultat des Zusammenschlusses der Schülerionen/Schüler aufgrundihrer gemeinsamen Lage, sondern, wenn auch vermitteltes, Resultat schulischer Einkreisungsbewegungen: Kooperativität, Hilfsbereitschaft wird dabei der jeweils einzelnen Schülerin oder dem jeweils einzelnen Schüler als deren oder dessen Leistung (i.w.S.) zugeschrieben, und sie/ er sieht sich darin im Vergleich zu anderen Schülerinnen I Schülern bewertet und ggf. abgewertet. Zugespitzt: Die Schülerinnen/ Schüler konkurrieren hier vor dem bewertenden Lehrer mit den anderen darum, als vergleichsweise besonders »solidarische und hilfsbereit anerkannt zu werden. Indem also im Kontext der schulischen Bewertungssequenz sich die Hilfsbereitschaft und Solidarität der Schülerinnen/Schüler als von der Schul-/ Lehrerseite verordnet und gewertet in ihr Gegenteil, die Konkurrenz mit anderen, zu verkehren droht, könnte sie selbst zum Gegenstand kollektiver und/ oder individueller Abwehrstrategien vom Standpunkt der Schülerinnen/ Schüler werden. So mag nicht nur die auf Lehrerwunsch gezeigte Hilfsbereitschaft einer Schülerin oder eines Schülers als Buhlen um die Anerkennung des Lehrers verdächtigt und diffamiert werden: Man könnte darüber hinaus auf die zu Bewertungszwecken gestellten Anforderungen des Lehrers, auch wenn dabei Hilfsbereitschaft gefordert ist, auf die übliche Weise mit demonstrativen Antworten, also bloßer Vortäuschung von Hilfsaktivitäten gegenüber bestimmten Mitschülerinnen oder Mitschülern reagieren. So besteht
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hier unter den Vorzeichen der Bewertungssequenz als interpersonaler Beziehungsform in der Klasse die Gefahr, daß das augezielte Lernen von positivem solidarischen Verhalten etc. in Richtung auf defensives Lernen »normalisienc wird. Diese Konsequenz verdeutlicht sich noch, wenn man sich klar macht, daß mit der Vorstellung, Solidarität, Hilfsbereitschaft, »Kooperationsfähigkeitc (vgl. Braun 1989, S.66) könne in der Schule »gelernt«, oder gar »eingeübte werden*, die Perspektive expansiven Lernens in kooperativen Formen schon von vornherein aus dem Blick gerät: »Kooperatives Lernen« kann nämlich (wie früher, S.515ff, ausgeführt) nur dann als Form expansiven Lernens angesehen werden, wenn man dabei das kooperative Verhältnis als eine offene Beziehung versteht, innerhalb derer die Beteiligten jederzeit die Möglichkeit haben, den Sinn des kooperativen Lernverbundes ohne Sanktionen und Ausgrenzungen in Frage zu stellen. Zu kooperativ-expansivem Lernen gehön also als innere Bestimmung die kritisch-reflexive Erwägung, wieweit angesichts zu großer Divergenzen Deiner und meiner Sichtweise auf den Lerngegenstand der Übergang zu autonom-personalem Lernen vernünftig wäre: Nur, wenn diese Alternative mit Gründen zurückgewiesen werden kann, haben wir es tatsächlich mit kooperativem Lernen und nicht mit einer verdeckten Spielart des Lehrlernens etc. zu tun. Wenn nun aber gegenseitige Hilfsbereitschaft, solidarisches Lernen, o.ä. gemäß einem vorausgesetzten Lernziel und zugeordneten Bewenungen »gelernt« werden soll, so ist das kritisch-reflexive Moment kooperativen Lernens (in unserem Sinne) suspendien. Die Schülerin oder der Schüler muß hier- wenn sie/ er den Lehrer »ZU· friedenstellen« will- ohne Wenn und Aber mit anderen zusammen lernen, diesen helfen, etc. Andernfalls wird ihrI ihm per Lehrerbewenung fehlende Hilfsbereitschaft, mangelnde »Kooperationsfähigkeit«, o.ä. als kognitiver oder gar moralischer Mangel attribuiert. Die Isolation der Kinder/Jugendlichen untereinander, die über das Lernen, sich gegenseitig zu helfen, aufgehoben werden sollte, würde also unter dem Vorzeichen der Bewertungssequenz auf einer neuen Ebene zwangsläufig reproduziert: Genauso zwangsläufig ergäbe sich daraus die genannte Tendenz, Abwertungen und Bedrohungen durch Demonstration - hier von Hilfsbereitschaft - und widerständiges Lernen in defensiven Formen zu entgehen.
* Gemäß den Vorstellungen des Bildungsrats über •soziales Lernen« und ..Mündigkeit« müssen sogar die •Grundmuster des mündigen Verhaltens in der Schule eingeübt und er· probt werden« (vgl. Klemm, Rolff & Tillmann 1986, 5.49}.
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Das Planungsparadox und die Zukunft des Lernens Mit unserer Diskussion des Konzeptes »soziales lernen« sollte auf einer letzten Dimension verdeutlicht werden, daß Aktivitäten zur Reform schulischer Lernmöglichkeiten in der Gefahr sind, auf halbem Wege steckenzubleiben, ja sich sogar ins Gegenteil dessen, was intendiert war, zu verkehren, wenn dabei die um den Lehrlernkurzschluß und die Bewertungsuniversalität angeordneten Schuldisziplinären Grundstrukturen unangetastet bleiben. Wir sehen uns also vor der radikalen Konsequenz, daß - soweit unsere früheren Analysen schuldisziplinärer Lernbehinderungen triftig sind - die Schule nur dann zu einer Stätte dominant expansiven lernens werden kann, wenn sie dabei gleichzeitig ihren Charakter als »Unterrichtsschule«, wie wir sie alle kennen, hinter sich läßt. Haben wir uns damit aber nicht mit unseren Bemühungen, die erarbeiteten lerntheoretischen Konzepte für die Schulreformdiskussion fruchtbar zu machen, selbst in eine Sackgasse hineinmanövriert? Man mag eine solche Sackgasse bereits unter dem pragmatischen Aspekt (schul)politischer Realisierbarkeil ausmachen wollen. Es habe sich doch gezeigt - so könnte man uns entgegenhalten - daß bereits viel bescheidenere Reformvorhaben, etwa der Vorschlag, die Ziffernbewertung abzuschaffen, am Widerstand der Schuladministration scheitern: Wie solle also das Projekt einer Schule ohne Schuldisziplin politisch durchsetzbar sein - und dies noch dazuangesichtsdes Umstandes, daß (wie wir selbst aufgewiesen hätten) ein Zusammenhang zwischen schuldisziplinärer Grundstruktur und der gesellschaftlichen Schulfunktion einer »gerechten« Zuweisung ungleicher Lebenschancen bestehe, so daß mit der Problematisierung der »Schuldisziplin« auch die gegenwärtige Organisation des Beschäftigungssystems, ja generell unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, problematisiert wäre? Nun scheinen mir solche Einwendungen aber schon deswegen nicht restlos überzeugend, weil dabei nur die Macht der Gegenseite pointiert ist, mögliche Mängel der eigenen Reformanstrengungen aber außer acht gelassen sind. Vielleicht hat aber z.B. Frank Deppe (1987) recht, wenn er zu bedenken gibt, das ..Scheitern zahlreicher Anstrengungen und Initiativen« der Schulreform sei möglicherweise keineswegs »auf deren utopische Naivität zurückzuführen, wie Konservative behaupten. Sie mußten vielmehr schnell an Grenzen stoßen, weil sie nicht gründlich genug waren, weil die politischen Träger (hier besonders: sozialliberale Landesregierungen) bei den ersten Attacken der ,Gegenreformation' zurückschreckten und weil die Machtverhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat niemals ernsthaft in Frage gestellt wurden« (S.230}. Ratzki {1989) argumentiert in gleicher Richtung: »Anders als in fast allen europäischen Ländern hält die demokratische Konservative am ständischen,
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vordemokratischen Schulsystem fest und bekämpft die Gesamtschule als ge. sellschaftsverändernd. Die Sozialdemokratie ist an Schulfragen wenig interessiert, bildungspolitische Auseinandersetzungen sind ihr lästig, sie möchte ,Ruhe an der Schulfront'. Deswegen neigt sie dazu, um eines erhofften politischen Stillhaltens willen den Forderungen der Konservativen nachzugeben
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eingebundene Institution seiner früher dargestellten »disziplinären« Formierung tatsächlich entkommen kann. Die Argumentation für Unterricht als unverzichtbarem Grundbestand von Schule wird unterstützt durch die verbreitete Auffassung, daß es eine wirkliche schulische Alternative zur herkömmlichenUnterrichtsschule nicht geben kann. Vor diesem Hintergrund dürfte dann auch unsere Kritik an der Schuldisziplin in die Nähe .. liberaler« bis »antiautoritärer«, wenn nicht »antipädagogischer« bzw. »alternativer« Positionen gebracht werden ... Abschaffung« der Schuldisziplin wäre so in der Konsequenz gleichbedeutend mit der Auflösung des staatlichen Schulwesens überhaupt, etwa zugunsten »selbstorganisierten« Lernens in Betroffenengruppen etc.: Wir haben diese Art von Lernen zwar früher ausführlich kritisch analysiert. Vielleicht wird man uns aber trotzdem - mangels einer Vorstellung darüber, was wir sonst meinen könnten - wiederum entgegenhalten, daß »mit der Abschaffung der Staatsschule ... unabdingbare Voraussetzungen für die Bildung breiter Bevölkerungskreise vernichtet würden« und dem vielleicht (in den Worten von Bourdieu und Passeron) hinzufügen, für die Masse der Bevölkerung bleibe »schulmäßiges Lernen auf allen Stufen des Bildungsgangs der einzig mögliche Zugang zur Kultur« (Klemm, Rolff & Tillmann 1986, S.144). Zur Eröffnung der Diskussion des ersten Teilarguments: die herkömmliche (schuldisziplinär strukturierte) Unterrichtsschule als Garant geplanter, geordneter, verantwortbarer Bildung und Qualifizierung der jungen Generation verweise ich auf meine früheren Aussagen über den Lehrlernkurzschluß und die daraus sich ergebende Fiktion schuladministrativer Planbarkeit von Lernprozessen mit dem Lehrer als deren Subjekt (etwa S.387ff). Aufgrund darauf folgender vielfältiger Analysen zur Entöffentlichung der Lernsubjekte, Bewertungsuniversalität, Schuldisziplinären Frage-Antwort-Struktur, Behinderung subjektiver Voraussetzungen expansiven Lernens etc. kam ich dabei schließlich zur zusammenfassenden Charakterisierung jener halb verdeckten Unordnung, Mischung aus Streß, Überdruß, Mißtrauen, Druck, Bestechung, Feindseligkeit, Opportunismus, die den normalen Schulalltag grundieren, und die die Schule zu einem Ort mitmenschlicher Verwahrlosung und Verwahrlosung der Lernkultur machen (S.485). Diese Darlegungen (die man, wenn sie einem in der Kurzfassung grob vorkommen, wiederum in der Begründung nachvollziehen möge) sind sicher nicht die ganze Wahrheit über die Schule: Dennoch spricht nach unseren Analysen vieles dafür, daß es gerade mit Bezug auf den Unterricht als Kernbereich schuldisziplinärer Formierung zu jenen widersprüchlichen und selbstschädigenden Bewältigungsformen kommt, deren emotionale Qualität wir umschrieben haben. -Wenn
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man die damit umrissenen Zusammenhänge aus der Distanz betrachtet, so fällt auf, daß durch die Art von Planung, mit der hier der Unterricht und die Schule kontrolliert und in Ordnung gebracht werden sollen, gerade das Gegenteil, Widerstand und Desorientierung der davon Betroffenen und daraus resultierend Unordnung und Chaos zustandekommen. Dabei lassen sich auch bezüglich der (schon benannten} Planungsanstrengungen der Schuladministration als Antwort auf die Reformvorhaben der Gesamtschulbewegung ähnliche Konsequenzen ausmachen: Mit der Fixierung unterrichtlicher Individualisierung als »Fachleistungsdifferenzierung«, der Etablierung der Gesamtschule als vierter Schulform, aber auch dem von der Kultusministerkonferenz erlassenen »Grundmodell Gesamtschule« mit bundesweiten Fachleistungs- und Bewertungsvorgaben etc. sollen doch offensichtlich Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit gesichert, soll dem Wildwuchs »Gesamtschule« mit sinnvollen administrativen Vorgaben begegnet werden, u.ä. Das Resultat solcher Planungsaktivitäten ist aber stets auf irgendeine Weise die Widerständigkeit und Frustration derjenigen, die sich von solchen Maßnahmen betroffen sehen, die Behinderung vernünftiger Reformarbeit, der Versuch, die ,.Maßnahmen« zu obstruieren oder zu umgehen, der Verschleiß von gutem Willen und Engagement etc., also Unordnung und Chaos. Zum besseren Verständnis solcher paradoxer Planungseffekte muß mangenauer betrachten, was hier mit ,.Planunge gemeint ist: In so gefaßter »Planung« werden jeweils mein Standpunkt und meine Perspektive in unmittelbarer Weise mit dem allgemeinen Standpunkt gleichgesetzt, d.h. der Standpunkt/ die Perspektive anderer nicht als selbständige Größe in Rechnung gestellt. Dabei entspricht der kognitiven Kurzschlüssigkeit dieser Art von Planung eine vorreflexiv unterstellte Absolutheit der eigenen Machtinteressen, so daß hier der Standpunkt und die damit verbundenen Interessen der anderen nicht nur geleugnet, sondern darin gleichzeitig implizit mißachtet werden. Indem hier mithin fremde Subjekte so »verplante werden sollen, als ob es sich dabei lediglich um »Sachen« handelt, ist die Widerständigkeit der Betroffenen, die ja gleichwohl »Subjekte« bleiben, als genauso unmittelbar und vorreflexiv »eingeplante: Dem planenden Zugriff auf die fremden Subjekte entspricht deren Sich-Entziehen, die daraufhin versuchte Erhöhung der Perfektion des Planens führt auf der anderen Seite zu entsprechend verfeinerten Abwehrstrategien und Ausweichbewegungen. Indem man also die (gleichzeitig in ihrer eigenständigen Existenz »übersehenen«} Subjekte »in den Griff kriegen« und »im Griff behalten« will, geraten sie einem in immer anderen Formen »aus dem Griffe, stellen einem ein Bein, lassen einen leerlaufen. Dabei bleibt aber die Partei, die sich der Planung zu entziehen trachtet - eben weil sie in vorreflexiver Weise die überlegene Macht der Planungsinstanz, indem sie
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diese zu obstruieren sucht, gleichzeitig anerkennt -in ihrer Widerständigkeil letztlichgenauso vergeblich, womit Chaos und Unordnung hier von beiden Seiten produziert und reproduziert werden, etc. Aufgrund dieser pointierenden Darlegungen lassen sich in unserem gegenwärtigen Diskussionszusammenhang die Fronten vielleicht präziser benennen: Wir sind keineswegs gegen ein geplantes und geordnetes Schulleben mit dem Unterricht als spezifischem Ort systematischen l..ernens im Mittelpunkt. Wir behaupten nur, daß so etwas auf dem Hintergrund schuldisziplinärer Strukturen nicht möglich ist, daß vielmehr ..Planung«, wie sie in diesem Kontext allein verstanden werden kann - weil die verplanten Subjekte dabei nicht .mitspielen« (können)- notwendig das Gegenteil, Chaos und Unordnung, nach sich zieht. Ich würde sogar noch weitergehen und behaupten, daß dies von den Lehrern/Schulreformern im Grunde jeder weiß (dieses verschwiegene Wissen scheint mir mit der schuldisziplinär produzierten Kontamination zwischen Schein und Wirklichkeit permanent mitproduziert zu werden). Vielleicht tragen meine Überlegungen dazu bei, ein solches Wissen in höherem Grade diskursfähig und folgenreich zu machen. - Entsprechend sind unsere Intentionen total mißverstanden, wenn man meint, wir fassen als Alternative zur herkömmlichen Schule deswegen eine Schule ohne »Schuldisziplin« ins Auge, weil wir aufgrund linker oder alternativer politischer Überzeugungen •antiautoritär« oder »antipädagogisch« eingestellt sind und in diesem Kontext von einer Schule ohne Hierarchien, ohne Herrschaftsverhältnisse o.ä. - u.U. sogar ohne •Schule« - träumen. Wir sind vielmehr für eine Schule, in der man in geplanter und geordneter Weise lernen kann - nur sind wir eben der Auffassung, daß man dazu nicht nur die chaotisierende schuldisziplinäre Formierung der Schule überwinden muß, sondern darüber hinaus auch ein entwickelteres Konzept von (schulischer) Planung braucht, einer Planung nämlich, die nicht •ungeplant« selbst jene Verhältnisse kumuliert, die sie schließlich zum Scheitern bringen müssen. Wie eine solche entwickeltere Planung zu bestimmen wäre, ergibt sich aus der Negation unserer Darlegungen über die Verkürzungen »unmittelbarer« Planung: Man muß sich den Umstand bewußt machen, daß- wenn in meine Planungen fremde Subjekte einbezogen sind - die Planungsresultate nicht nur von meinen Intentionen und Aktivitäten abhängen, sondern über die Intentionen und Aktivitäten dieser anderen Subjekte vermittelt sind. Wenn ich dennoch ohne die anderen plane, meine Vorstellungen unmittelbar durchsetzen will, davon ausgehe, daß diese meinem Willen als »vorgesetzter Stelle« (•Avantgarde«, »Elite«, •gewähltem Vertreter«) sich unterwerfen werden und entsprechend, wenn die anderen sich meinen Vorstellungen nicht fügen, ihnen
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dies als ihre Schuld anlaste und sanktionieren möchte etc., so bin ich dabei auf jenem niedrigeren Niveau kognitiv-emotionaler Wirklichkeitsverarbeitung festgehalten, das wir an anderer Stelle als »deutendes Denken« im Banne der »Unmittelbarkeitsverhaftetheit« charakterisiert haben (vgl. etwa GdP, S.388ff). Dabei wäre es im gegenwärtigen Diskussionskontext unangemessen, dies den einzelnen als intellektuellen Mangel o.ä. anzulasten: Tatsächlich haben wir es hier mit einer •herrschenden« Denkfigur zu tun, in welcher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die der demokratischen Verfaßtheit unserer (einer) Gesellschaft widerstreiten, als gängige Sichtweisen institutionell gefroren sind und so in ihrer subjektverleugnenden Verkürztheil verborgen bleiben (vgl. dazu die Ausführungen von K.-H. Braun über den Selbstwiderspruch eines •demokratische(n) Normativismus«, 1989, S.64). Wenn demgegenüber auf der Vermitteltheit von Planungsergebnissen durch die Perspektive und den Interessenstandpunkt der betroffenen Subjekte beharrt wird, so ist darin, indem hier ein verdrängtes Stück Wirklichkeit erkennbar werden soll, gleichzeitig eine politische Stellungnahme gegen administrative Einschränkungen demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten verbunden. Eine derartige subjektvermittelte Planung bedeutet - auf die Schule bezogennicht (lediglich) die Beteiligung der Schülerinnen/Schüler am Planungsprozeß, sondern zuvörderst ein höheres Diskursniveau der Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen meinen Prämissen/Gründen und den Prämissen/ Gründen vom Standpunkt/aus der Perspektive der anderen (wobei sich erst aus der weiteren Analyse ergeben kann, angesichts welcher Probleme etwa die Schülerinnen/Schülerselbst in die Planung eintreten müssen). Auf der Grundlage dieser neuen Diskursebene könnte dann auch die Schulreform· diskussion mit einer neuen Perspektive, nämlich der Perspektive auf eine Schule als Stätte expansiven Lernens jenseits der Schuldisziplin, fortgesetzt werden: Eine Schule ohne die Spaltung zwischen offiziellem Lehrlernkurz· schluß und entöffentlichten Lernsubjekten, ohne Einkreisungsbewegungen und Bewertungsuniversalität, mit der Strukturierung der interpersonalen Be· ziehungen von den wissensuchenden Fragen und den Unterstützungsan· forderungender Schülerionen/Schüler her. Aus unseren früheren Darlegun· gen über die auch bei außerschulischen Lernanlässen sich aufdrängende Denk- und Praxisfigur instrumenteller Lernformierung (vgl. S.552ff) ergibt sich dabei, daß die neue Schule darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt diskutiert und geplant werden müßte, wie sie ihre eigenen expansiven Lern· möglichkeiten gegen die spontane Reproduktion instrumentalisierender Lernbehinderungen durch Etablierung •herrschender Meinungen«, wechsel· seitiger Entmutigungen u.ä. und dadurch begünstigter demonstrativ-defensiver Lernweisen schützen, also ein Ort intersubjektiver, potentiell kooperativer
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Lernverhältnisse bleiben kann: Dies als Aspekt einer Schule »permanenter Reform«, wie Klafki (1989) sie als »selbstreflexive Schule« gekennzeichnet hat (S.31) etc. - Eine solche Schulreformdiskussion auf erweiterter Stufenleiter müßte keineswegs von vorn anfangen: Man könnte dabei mannigfache einschlägige Argumente aus der Geschichte der Erziehungswissenschaft, die heute in den Hintergrund getreten sind, reaktualisieren und im neuem Kontext aufgreifen. Auch wären die vielfältigen Erfahrungen aus den Versuchsund Reformschulen, in denen schuldisziplinäre Anordnungen mindestens relativiert wurden- und die (deswegen?) niemals zu »Regelschulen« werden konnten - für die subjektvermittelte Planung einer neuen Schule fruchtbar zu machen. So könnten die weiterführenden Reformanstrengungen auf der Basis entwickelterer psychologisch-subjektwissenschaftlicher Einsichten über menschliches (schulisches) Lernen sich wiederum auf den umfassenderen Zusammenhang aufklärerischer pädagogischer Traditionen rückbesinnen und von da aus an Profil und Stoßkraft gewinnen. Klingt aus diesen Einlassungen von mir aber nicht ein beträchtliches Maß an Blauäugigkeit, wenn nicht Selbstüberhebung? Warum sollen die Reformbemühungen um eine Schule jenseits der Schuldisziplin -die früher so wenig realistisch waren, daß man ihre Ziele nicht einmal scharf auf den Begriff bringen konnte - ausgerechnet jetzt Aussicht auf Erfolg haben? Für solche Erfolgsaussichten spricht, daß gegenwärtig die Bildungssysteme maßgeblicher Länder- wie den USA, Frankreich und letztlich auch der Bundesrepubliksich offensichtlich in einer Krise befinden, die alles schon Dagewesene übersteigt, so daß die Bereitschaft, umzudenken und neue Lösungen zu erwägen, dadurch gefördert werden könnte. Dagegen spricht, daß eine solche Bereitschaft - jedenfalls seitens der offiziellen Schulpolitik - bisher nirgends zu sehen ist. Im Gegenteil: Man versucht (soweit ich sehe) nach wie vor auf die bekannte unmittelbarkeitsverhaftete Weise, dem drohenden Kontrollverlust durch noch festeren Zugriff zu begegnen, perfektioniert und zentralisiert das Bewertungs- bzw. Punktsystem etc. Man scheint also (noch) meilenweit von der Einsicht entfernt, daß man mit einer derartigen Kontrollverschärfung durch Bewertung zur Entwertung des Interesses und des Engagements der Betroffenen beiträgt und das, was man überwinden will, deren Tendenz zum Sich-Entziehen, zum Aussteigen, zur Widerständigkeit, laufend selbsttätig verstärkt. Eine andere Sicht auf die Konsequenzen der Schulkrise für die Erfolgsaussichten der benannten erweiterten Reformperspektive ergibt sich jedoch, wenn man die Situation der Schülerinnen/Schüler in die Betrachtung zieht: Es scheint nämlich - und dies macht die eigentliche Essenz der Krise aus -
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daß die Schülerinnen/Schüler auf die schuladministrativen Maßnahmen nicht nur (in der üblichen Weise) verdeckt widerständig reagieren, sondern sich teilweise ganz offen verweigern, Widerstand leisten, nicht mehr mitspielen. Aus den USA sind Nachrichten über die Ratlosigkeit der Schulverwaltung und der Lehrer, die sich den Schülerinnen/Schülern gegenüber nicht mehr zu helfen wissen, an der Tagesordnung. Dabei scheinen für viele Schülerinnen/Schüler offenbar auch die Reformversprechen und Reformvorhaben im Rahmen der schuldisziplinärern Grundstruktur immer weniger glaubhaft. So wird in einem Zeitungsartikel über die Krise des französischen Bildungssystems {von J. Fritz-Vannahme) dargestellt, daß dort heutzutage auch von den linken politischen Kräften inaugurierte Reformen regelmäßig mit Revolten der Schülerschaft beantwortet werden {DIE ZEIT Nr. 34, 14. August 1992, S.39). Karl-Heinz Braun (vom Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung) und Konstanze Wetzel (vom Hessischen Institut für Lehrerfortbildung) schrieben mir - aufgrund der Erfahrungen aus ihrem gemeinsamen Projekt »Schule und Sozialarbeit/Sozialpädagogik in Hessen« - in einer persönlichen Mitteilung, die gegenwärtige Schulsituation sei in zentralen Aspekten davon bestimmt, daß wesentliche Momente der »schuldisziplinären Anordnung« (wie ich sie verstünde) »leerlaufenc. Dies bedeute einerseits, daß auch reformbestimmte lernfördernde Angebote (wie Neigungsgruppen, Arbeitsgemeinschaften o.ä./K.H.) mangels subjektiver Voraussetzungen der Schülerinnen/Schüler, sie aufzunehmen, •beängstigend geringe Resonanz• fänden. Andererseits sei mit der Feststellung, daß »die Schuldisziplin leerläuft« gemeint, daß »auch traditionell orientierte Lehrerinnen, gerade in den Gymnasien, mit ihrem U nte"trichtsalltag nicht mehr klarkommen, weil sie meinen, daß sie doch nun mehr Sozialarbeit zu machen hätten als Unterricht {so ein Originalzitat von Marburger Lehrerstudentinnen - Sek. II - nach ihrem Praktikum)«. Angesichts solcher Beobachtungen und Einschätzungen scheint mir die Annahme mindestens erwägenswert, daß es sich bei der heutigen Schulkrise nicht mehr nur um eine Krise innerhalb der Schuldisziplin, sondern um eine Krise der Schuldisziplin handeln könnte. Es mag ja sein, daß Foucault von seiner theoretischen Grundauffassung her innerhalb der »Schuldisziplinc die widerständigen Subjekte nicht entdecken konnte. Vielleicht aber ist deren offener Widerstand, deren Weigerung, sich weiterhin bevormunden zu lassen, auch Aspekt einer (wie immer widersprüchlich und gebrochen sich durch· setzenden) neuen gesellschaftlich-historischen Entwicklung, mit welcher die »Disziplinen« zu veralten beginnen und ein anspruchsvolleres Verständnis der Bevölkerung von demokratischer Mitwirkung sich anbahnt (•wir sind das Volk«). Wenn diese Annahme nicht völlig fehlgeht, wären die gegenwärtigen
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schwächlichen Versuche, die Schule als Ort der Weitergabe herrschender Denk- und Lebensweisen (des Gedankenguts, das »allen demokratischen Parteien gemeinsam ist«) zu retten, verbunden mit der Suche nach Schuldigen dafür, daß dies nicht mehr klappt - das Fernsehen ist schuld, die Eltern sind schuld, die Computer(spiele) sind schuld - möglicherweise schon anachronistisch. Demnach wäre man gut beraten, sich durch intensivste Reformarbeit auf ein neues, zeitgemäßes Konzept von Schule jenseits der Schuldisziplin als Grundlage für ein neuesAngebot an die Schülerionen/Schüler vorzubereiten. Wenn so deutlich würde, daß in der neuen Schule nicht mehr die Schülerionen/Schüler für die Lehrer (die Schulverwaltung), sondern die Lehrer für die Schülerionen/Schüler da sein werden, und daß man die Lehrer dafür in einer Weise ausbilden wird, daß sie dazu auch in der Lage sind, so werden die Schülerionen/Schüler vielleicht immer weniger Grund haben, daran zu zweifeln, daß die neuen Qualifikationen eines solchen Lehrers für sie nützlich wären: Er könnte meine Fragen so beantworten, daß ich (als Schülerin/Schüler) besser durchblicke; er könnte mir durch seine Fragen herausfinden helfen, wo ich was nicht kapiere und wie ich darüber hinwegkommen kann; er könnte mich durch die Art seiner Problematisierungen daran hindern, mir was vorzumachen, mir selbst unwissentlich zu schaden, mich und andere zu täuschen (meine »Erfahrungen in die Krise führen«, vgl. Frigga Haug 1981); und er würde sich eher die Zunge abbeißen, als mich durch Besserwisserei anzuöden und durch Zensierung meiner Lebensäußerungen zu beleidigen. So mag man die Schülerionen/Schüler allmählich davon überzeugen, daß man sie nun nicht mehr als reflexive Subjekte mißachtet, sondern als Bündnispartner für die Planung der neuen Schule gewinnen will. Dabei hoffe ich auf eine allmähliche Verbreitung der Einsicht, daß wir uns eine disziplinäre Schule systematischer Behinderungen expansiven Lernens heute und in der Zukunft immer weniger leisten können: Wenn die ökologischen, ökonomischen, technologischen, biologischen Bedrohungen der Menschheit bewältigt werden sollen, ist in immer höherem Maße die Urteilsfähigkeit der Bevölkerung (der von John Dewey berufene ,.flow of intelligence« innerhalb der Massen) als Korrektiv für die offizielle Politik gefordert. Könnte von da aus nicht (auch aus konservativem Blickwinkel) nach und nach die Einsicht an Boden gewinnen, daß der Nutzen einer Vorherbestimmbarkeit von Lernergebnissen durch schulische Kontrolle den damit angerichteten Schaden, der »Wegnormalisierung« und Gleichschaltung produktiver und eigenständiger Lernanstrengungen, immer weniger ausgleichen kann? Wird man nicht über den eigenen Schatten springen und anerkennen müssen, daß es gesellschaftlich unverantwortbar ist, die schulischem Lernprozesse
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planend und bewertend •im Griff« behalten zu wollen, wenn auf diese Weise gleichzeitig die Grundlagen für sinnvolles, engagiertes Lernen zerstört werden und nur Vortäuschung, Überdruß und Disengagement übrigbleiben könnten? Und wird man nicht zukünftig den politischen Instanzen, die weiterhin die Schule als Mittel politischer Machtkämpfe instrumentalisieren wollen (vgl. S.12), durch Widerstand und Legitimationsentzug auf allen Ebenen zu bescheinigen haben, daß sie damit entgegen ihrem demokratischen Auftrag die Bildung der Bevölkerung, damit die Überlebensinteressen der Menschheit, sabotieren? - Man kann dieser Argumentation noch eine weitere Facette abgewinnen, wenn man bedenkt, daß Schulen ja auch auf wissenschaftliche Laufbahnen vorbereiten sollen, wobei vieles dafür spricht, daß in dazu entwickelten Bildungseinrichtungen, wie den Universitäten, schuldisziplinäre Strukturen (wenn auch in teilweise anderen Erscheinungsformen) perpetuiert werden und weitere wissenschaftliche Arbeitszusammenhänge mindestens durch die allgemeineren Denk- und Praxisformen instrumenteller Lernformierung geprägt sein könnten. Wenn man sich die Frage stellt, ob wir uns auch die dadurch in diesem Bereich zu erwartenden Lernbehinderungen noch leisten können, so fällt von da aus vielleicht ein neues Licht auf den gegenwärtigen •Stand der Wissenschaft«: Kann man wirklich so sicher sein, daß die Wissenschaft bisher kein Heilmittel gegen Krebs und AIDS gefunden hat, ökonomischen Entwicklungen (wie dem wirtschaftlichen Kollaps in der ehemaligen DDR) überrascht und hilflos gegenübersteht, über die Ursachen und die Abwendung von Klimakatastrophen, die Risiken der Atomkraft, die notwendigen Mittel zur Bewältigung des Hungers in der Welt meist zu unbestimmten, den Herrschenden zum Munde redenden Aussagen gelangt, weil sie auf eherne Grenzen der menschlichen Erkenntnis gestoßen ist? Sollte man nicht statt dessen für möglich halten, daß defensive Normalisierungen von Lernprozessen, Wechselbehinderungen, das Zurückpfeifen Vorpreschender, das Entmutigen und Kleinhalten von Konkurrenten, Profilierungen auf Kosten anderer, lehrlernförmige Zersetzungen kooperativer Arbeitszusammenhänge, die Verwahrlosung wissenschaftlicher Lernkultur, für die gegenwärtigen .Grenzen der Wissenschaft« in einem sicherlich schwer genau abzuschätzenden, aber vielleicht beträchtlichem Maße mitverantwortlich sind? Und wenn auch nur einiges dafür spricht: Kann man dann nicht hoffen, daß auch unter diesem Aspekt die pädagogische Erforschung und subjektvermittelte Planung einer Schule jenseits der Schuldisziplin als Stätte expansiven Lernens und von da aus Reform der ideologischen und strukturellen Grundlagen institutioneller Lernverhältnisse im allgemeinen auch als eine der großen wissenschaftlichen Aufgaben im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft erkannt werden wird?
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Ich muß zugeben: Dies sind große Worte. Auch bin ich nicht sicher, wieweit ich dabei meinem eigenen Optimismus trauen kann. Vielleicht aber gibt es andere, die angesichts der gleichen Situation zu ähnlichen Konsequenzen kommen wie ich, so daß unsere Anstrengungen konvergieren mögen. Vielleicht auch ist die von mir benannte neue Stufe demokratischer Mitwirkung als lmplikat und Voraussetzung eines neuen Lernens weniger meine bloße Wunschvorstellung als ich selbst befürchte. In jedem Falle müssen wir uns- da wir demokratische Entwicklungen nicht mehr einer fernen Zukunft der sozialistischen Länder überantworten können - hier und jetzt selbst darum kümmern. Es mag doch sein, daß wir dabei weiter kommen als wir in der gegenwärtigen unübersichtlichen Lage für möglich halten.
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Sachverzeichnis
Damit beim Nachschlagen möglichst wenig Leerlauf entsteht, ist im folgenden vor allem auftragende Konzepte und aufdie Stellen verwiesen, wo die jeweiligen Begriffe eingeführt oder expliziert sind. ACT"-Modell (Anderson) 131, 137, 140, 148 Affinitives Lernen 184, 326ff, 328ff, 480ff Affinitivitätshypothese (Galliker) 326 Aktueller Lerngegenstand vgl. Lerngegenstand, aktueller Alltagssituation 487ff Anglerbeispiel 56, 84, 168, 225 Antipädagogik 533 Apprenticeship 502ff, 506, 514ff Artspezifische Ausprägung des Lernens 41ff Assoziationsprinzip 149f, 225f Aufgabenanalyse 208f Außerschulisches Lernen 517ff in Institutionen 517f in freien Lerngruppen 519ff, 534{, 537f Automatisierung 158, 288, 290ff, 315f Autonomes Lernen 513ff, 516, 524ff, 552 Autonomie, relative, des Erziehungsbereichs 347 Awareness 44ff Bedeutungsadäquatheil von Bewegungen 284ff, 293f Bedeutungskonzept, kritisch-psychologisches 22, 188, 34lff Bewegungsbedeutungen 282ff, 320, 507f Bedeutungsstrukturen, schulische 34lff, 438ff, 441ff Bedingtheitsdiskurs, nomologischer 30ff Begabung als schulisches Konstrukt 402f, 460f im Selbsterleben der Schülerinnen/ Schüler 459ff Begründetheit/Verständlichkeit 21, 25, 264
Begründungsanalyse schulischer Lernverhältnisse 436ff Begründungsdiskurs, subjektwissenschaftlicher 27, 30ff Begründungsfiguren, typische 439f, 441ff Begründungsmuster (BGMs) 35ff Behalten/Erinnern (vgl. auch Modalitäten des Behaltens/Erinnerns) 139ff, 269f, 295ff, 319ff Beispiele(n), Funktion von 194ff Beobachtungsklassen für verhaltensgestörte Schüler 404f Beobachtungslernen (Bandura) 88ff, 92ff Bewegungslernen 256f, 269f, 271ff, 280ff, 295, 318ff, 334f, 507f Bewertungssequenz 457ff, 462ff, 550ff Bewertungsuniversalität, schulische 379, 380ff, 457ff, 468, 542ff, 553 Bezugshandlungen 183ff, 230 Biographie, phänomenale 263ff, 492 Bremslicht-Beispiel 60f, 111, 289 Causes vs. reasons 30 Common sense psychology 32 Computer-Metaphorik, kognitivistische 118ff, 122, 135ff Curricula vgl. Lehrpläne Defensives Lernen 190ff, 215, 245ff, 317f, 336f, 447ff, 451ff, 465ff, 514f, 525ff, 534, 539. 558f, 562 Dimensionen an potentiellen Lerngegenständen 218ff Diskrepanzerfahrung 212ff, 218, 224f, 292, 321, 331
höherer Ordnung 243ff, 246f Diskursanalyse der Schulklasse 432ff Distribution des Wissens 511 Dreispeicher-Modell 124f, 139
Einkreisungsstrategien der Schuldisziplin 442ff, 454 Emotionai-motivationale Qualität vgl. motivational-emotionale Qualität Entdeckendes Lernen (Bruner) 419ff, 454, 473f Entöffentlichung des Lernsubjekts 385ff, 395ff, 411, 424f, 435, 436ff Entschulung 533 Entwicklungspsychologie 358, 406 Entwicklungsstufen, ontogenetische 179ff, 232ff, 237f Episoden expansiven Lernens 499f Episodisches Gedächtnis vgl. Semantisches/ episodisches Gedächtnis Erwartung 78ff, 84ff, 111f, 151, 210f, 213 Erwartungs-mai-Wert:fheorien 81f, 85ff Ethnographie der Schulklasse 433ff Ethologie 41ff Expansives Lernen 190ff, 215ff, 245ff, 294, 447f, 449f, 476ff, 491ff, 510, 516ff, 524ff, 534, 539ff Experiment, psychologisches 28, 408f, 444, 480 Experimentell-statistisches Vorgehen 28, 408f Externer Speicher/Externe Behaltens-I Erinnernshilfen 3o0ff, 308, 319, 322, 479 Extinktion 66f, 410
Fähigkeiten zum Lernen 264ff beim Bewegungslernen 288ff Flachheit/Tiefe (vgl. auch Tiefe des Gegenstandsaufschlusses) 221ff, 239ff, 291ff, 310 Förderunterriebt 404 Formaldisziplinen, schulische 487 Fragen, Funktion von, in der Schulklasse 461ff Frage-Antwort-Bewertungs-Sequenz 462ff, 465ff, 474f, 545f Fragendes Lernen 473ff Lehrerfrage 462ff, 470ff Obszönität des Fragens 472 Schülerfrage 467ff, 472ff Vorauswissende Frage - wissendemonstrierende Antwort 463ff, 471f, 475f, 545ff Wissensuchende Frage - inhaltliche Antwort 463ff, 545f, 547
Gedächtnisforschung, klassische 121 kognitivistische 120ff, 134ff, 296, 319, 323 Gelernte Hilflosigkeit 97ff, 102, 103f, 107f Genetische Theorie der kognitiven Entwicklung (Piaget) 234ff Gesamtschule 343, 345, 378, 534, 540ff, 554 Handlungsbegründungen, subjektive 23ff Handlungsproblematiken, subjektive 182ff, 192f, 215, 230, 385, 451ff Handlungsregulationstheorie 152ff, 163ff, 167ff Lernkonzept 157ff, 168ff, 213, 274ff, 295, 336, 408, 423f, 480 Hierarchisch-sequentielle Handlungsregulation 156, 166, 278f Regulation des Lernhandeins 160ff, 167, 249ff Selbstgesteuertes Lernen 162f Hierarchische Überwachung 353f, 363f Hilfsbewegungen und Bewegungshandlungen 280ff, 320 Homogenisierung der Schulklasse 356, 361ff, 397ff, 400f, 453f Individualisierung des Unterrichts 540ff Induktives Lernen 58f, 115, 224f Initiation -+ reply -+ evaluation (vgl. auch Bewertungssequenz) 434, 457, 461, 495, 550, 552 Inneres Sprechen 258ff, 305ff, 308, 333f Instruktion 62, 409 Instrumentelle/intersubjektive Lernverhältnisse 526ff, 531 Instrumentelles (operantes) Konditionieren 54ff, 408, 410f Interferenz 124, 306 lnteriorisierung 156, 159, 275ff Interne/ externe Kontrollerwartungen 95ff, 101, 102, 103f, 106f Interpersonale Verhältnisse/Interpersonales Lernen 407ff, 431ff, 453ff Intersubjektiver Beziehungsmodus 21, 24, 264 Intrinsische/ extrinsische Motivation 71ff, 75ff, 191ff,420,448 Inzidentelles Lernen (vgl. auch Mitlernen) 70 Kam-Beispiel 498f, 500, 501, 525 Kategorialanalyse, kritisch-psychologische 19, 20 Klassisches Konditionieren 46ff, 57ff, 60f, 79ff, 88, 408
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Known-information-questions (vgl. auch Fragen, vorauswissende) 434, 462 Kodierung 123f, 140f Kognitive Psychologie (Kognitivismus) 43f, 116, 117, 118ff, 121ff, 134ff, 139ff, 146ff, 152ff, 163f, 167f, 258ff, 270f, 296ff, 306, 309, 315, 323 Konnektionismus 119, 131ff, 138, 326 Kontextabhängigkeit der Schulsituation 489ff Kontingenz (Kontiguität) 13, 54, 59ff, 62, 63ff, 79ff, 94, 107f, lltf, 113ff, 150, 412, 413 Kooperatives Lernen 454, StOff, 548ff, 552 Künstliche Intelligenz 119 Kurzzeit-Speicher (STM) 122ff, 299 Langzeit-Speicher (LTM) 122ff, 313 Latente Sinnstrukturen 327 LatenteS Lernen (vgl. auch Mitlernen) 70 Lehr-Lernforschung, empirische 426ff, 430ff, 473ff Lehrlernen (Lehrlernkurzschluß) 39lff, 398, 408ff, 417ff, 420ff, 430, 469f, 476, 481, 514f, 518, 552, 553 Lehrpläne, schulische (vgl. auch Planung) 390ff, 446 Leistungsbewenung, schulische (vgl. auch Noten) 368ff Leistungsmotivation 82, 447ff Lernbiographien, subjektive 491ff, 517 Lerndiskrepanz vgl. Diskrepanzerfahrung Lernen-am-Erfolg 54ff Lernformierung 522ff, 525ff, 530f, 535, 558 Lerngegenstand, aktueller 211ff, 218ff, 266ff potentieller 207ff, 218ff Dimensionen 218ff, 266f Lernhaltung 184ff Lernprinzipien 187, 212, 240f Lernproblematiken, subjektive 182ff, 192f, 215, 230, 313ff, 320ff, 385,424, StOff, 516 Lernsprünge, qualitative vgl. Qualitative Lernsprünge Lernziele, schulische 387ff, 393ff, 395, 446, 48lf Levels of processing (Craik & Lockan) vgl. Verarbeitungsebenen Lichtanschalt-Beispiel 111f, 210 Locus of control (Rotter) vgl. Interne/ externe Kontrollerwanungen Machtökonomie 349ff, 379, 441ff, 522ff Makrooperatoren 305ff Master vgl. Meisterverhältnis
Mathematik-Beispiel 496, 500, 501, 503 Meisterverhältnis bei partizipativem Lernen 502ff, 406f, 521 Mental-verbales Lernen vgl. Behalten/ Erinnern Metagedächtnis 304 Metalernen 261 Mitlernen 183, 229, 231, 324ff, 329ff, 493f Modalitäten des Behaltens/Erinnerns Mentale Modalität 300ff, 323, 478 Kommunikative Modalität 30tff, 332f, 478 Objektivierende Modalität 301ff, 332f, 478f Modalitätsübergreifende Verweisungsstrukturen 311ff, 316, 324ff Modell-Lernen 88ff, 112ff, 301, 408, 411ff Motivation/Innerer Zwang 447f Motivational-emotionale Qualität von Lernbegründungen 189ff, 214ff, 243ff, 267f, 480ff Motor learning 271ff, 292, 295, 323 Motorisches Lernen vgl. Bewegungslernen Musikstunden-Beispiel 495, 499, 500, 501, 503 Neuer Hörzustand 203ff, 243, 247, 323 Neugier- und Explorationsverhalten 71ff, 75ff Neural networks 13tff Neurophysiologie 255ff, 272ff, 309f Normierende Sanktion 354ff, 364ff, 377, 380 Noten, schulische 367ff, 544f Einheitlichkeit 373ff, 400f, 542f Gerechtigkeit 380ff Normalverteilung 371ff, 399, 402f Numerische Daten, Mystifikation als 377ff, 543ff Vergleichbarkeit 369f, 400f, 542f Verteilungsorientienheit 369ff, 372, 375ff Öffnung der Schule 536ff Operativer /thematischer Lernaspekt vgl. Thematischer I operativer Lernaspekt Orchestervariationen op. 31 (Schönberg) l97ff, 207f, 210f, 213, 215f, 219f, 241f, 243, 247, 248ff, 261, 267, 284, 291,323,498, 524f Ordnungsmaßnahmen gegenüber Schülern 365f, 404 Organisation von Entwicklungen 352, 362f, 380, 397f, 518 Overjustification hypothesis 73f, 77, 451, 544 Pädagogische Psychologie 344f, 458, 406, 415ff, 458f, 473ff Paneilichkeit des Lernens 520, 524, 525, 530 Panizipatives Lernen 501ff, 514ff
Sac:hverzeic:hnis Perspektivendivergenzen bei kooperativem Lernen 512ff, 520f Planung (Pianbarkeit) schulischen Lernens 387ff, 390ff, 406f, 412ff, 424, 430, 443ff Planungsparadox 556f Subjektvermittelte 558ff Potentieller Lerngegenstand vgl. Lerngegenstand, potentieller Prämissen-Gründe-Zusammenhang 24 Problemlösen 222, 227ff, 422f Programmierte Unterweisung 63 Propositionales Gedächtnis 126 Prozedurales Gedächtnis 126 Prüfung 356ff, 374ff, 379f, 382f Psycho-Logie (Smedslund) 32 Psychologie vom Gegenstand her 206 Psychologie vom Subjektstandpunkt 14, 19, 21,27 Pygmalion-Effekt 458f Qualitative Lernsprünge 227, 231, 239ff, 244f, 291ff, 323, 439, 481,506, 529f Rahmenplanwerk, Berliner 390ff, 396 Reaktanz 74, 77f, 104ff Regelkreis 153ff Regulationsebenen 156, 164f, 277f Reinforcement vgl. Verstärkung Reinterpretation, begründungsanalytische 30ff Reiz 59,260 Risikowahl-Modell (Atkinson) 81f, 86f Schlüsselfragen beim Behalten/Erinnern 305ff, 334 Schönberg-Beispiel vgl. Orchestervariationen op. 31 Schopenhauer-Beispiel 495f, 498, 499, 500, 501, 503 Schriftliche Beurteilungen vgl. verbalisierte Beurteilungen Schriftmacht, schulische 356, 382f Schuldisziplin (Foucault) 346ff, 349ff, 406, 532f, 553, 560ff Schülerbogen 380 Schulfunktionen 383f Schulklima vgl. Unterrichtsklima Schulpflicht 364f Schulreform 342ff, 423, 532ff Schulreglement, Berliner 359ff Schulstruktur 345ff Schulwirklichkeit aus der Sicht der Betroffenen 425, 428, 484f Selbst 94ff, 412f Selbstgesteuertes Lernen 162f, 413, 416
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Selbstkommentare I-instruktionen beim Lernen 202, 258ff, 289ff, 305, 333f Selbstorganisation 326ff, 329, 331, 333 Selbstreflexive Schule 559 Selbstmißverständnis, nomologisches 31 Selbstwirksamkeits-Erwartungen 99ff, 102f, 108ff Semantisches/ episodisches Gedächtnis 124ff, 146, 313ff Senso(u)motorisches Lernen 275, 286f, 288 Sensorisches Register (SR) 122ff Signallernen 46ff, 57ff, 60f Situationsspezifik, schulische 489ff Situiertheit, körperliche 253ff, 287ff, 297f mental-sprachliche 256f, 258ff, 304 personale 263ff Skill vs. chance 95f Skinnerbox 62, 63, 64, 411 Sokratischer Dialog 470, 47lf Solidargemeinschaft, defensive, zwischen Schülerinnen/Schülern 455ff, 469 Sondermaßnahmen, schulische 403ff Sonderschule 405 Sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura) 71, 89ff Soziale Lerntheorie (Rotter) 82f Soziales Lernen als SchulreformKonzept 548ff Sozialpsychologie der Schulklasse 431ff Sozialpsychologische Theorien als Begründungstheorien 34 Sportpsychologie 274, 285ff SR-(Stimulus-Response-)Psychologie 13, 4tff, 46, 271, 410ff unter lerntechnologischem Aspekt 63ff, 225f Stellvertretende Verstärkung 88, 92 Sternstunden, schulische 495ff Stufeneinteilungen des Lernens 237f Superzeichen 289ff, 292, 305 Tacit knowledge 435f Tätigkeitstheorie 179ff, 233, 416ff, 480 Täuschung (vgl. auch Wissensvortäuschung) 452f, 461, 465ff, 484f Team-Kleingruppen-Modell 549ff Thematischer I operativer Lernaspekt 189ff, 249ff, 261, 288ff, 335f, 480f, 510 Theorie der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen (Galperin) 179, 233, 276,417 Theoriesprache der subjektiven Handlungsgründe 28ff
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Tiefe des Gegenstandsaufschlusses (vgl. auch Flachheit:fiefe) 128ff, 146, 221ff, 239ff, 291f, 310ff, 512 Tierexperimente, SR-psychologische 4lff TOTE-Einheiten 154, 213, 274 Transfer of learning 487ff Turn allocation 343, 463f, 477 Tutorialer Dialog 470ff Üben (vgl. auch Wiederholung) 186ff, 249, 353f, 483, 552 Überrechtfertigungs-Hypothese vgl. Overjustification hypothesis U mgebungen, verhaltensmodifikatorisch günstige 64f Unbewußtes 29f Unproblematisches Lernen (vgl. auch Mitlernen) 183, 493f Unterricht 343ff, 426ff, 433ff, 442ff, 446ff, 483, 555ff Unterrichtsklima 426ff Variablen-Modell 27ff, 408ff, 426ff, 429f Verallgemeinerbarkeit, strukturelle 489ff Verarbeitungsebenen, Theorie der 127ff, 296ff, 310 Verbalisierte Beurteilungen anstatt Noten 545ff Verdecktes Verhältnis 445ff, 456ff Vergessen 121, 129, 312f Verhaltensmodifikation 64ff, 411
Verinnerlichung vgl. lnteriorisierung Verständlichkeit vgl. Begründetheit/Verständlichkeit Verstärkung (vgl. auch Klassisches Konditionieren und Instrumentelles Konditionieren) 58ff, 65ff, 410f Verstärkungspläne 58 Intermittierende Verstärkung 56 Verteilung der Körper 350, 360f Verwahrlosung der Lernkultur 485, 555f, 562 Vorlernen 208ff Wahlmöglichkeiten von Unterrichtsfächern 541ff Wahrnehmungspräsenz 260ff Weltbild, schulisches, bekannter Tatsachen und gelöster Probleme 466 Wenn-Dann-Hypothesen, nomologische 28f, 408 Widerständiges Lernen 193, 452, 484{, 552 Wiederholung (vgl. auch Üben) 142, 145, 249 Wissensvortäuschung (vgl. auch Täuschung) 465ff Wissendichkeit 44ff Zeitdisziplin vgl. Zeitökonomie Zeitökonomie 352, 36lf, 396ff, 477, 482ff Zensuren vgl. Noten Zielwissen und Quellenwissen 303ff, 479 Zone der nächsten Entwicklung 179, 418{