Tanja Legenbauer Silja Vocks Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie
Tanja Legenbauer Silja Vocks
Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexie und Bulimie Mit 123 Arbeitsblättern, 5 Abbildungen und 2 Tabellen Inklusive einer CD-ROM mit allen Arbeitsmaterialien
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Dr. rer. nat. Tanja Legenbauer, Dipl.-Psych. Psychologische Psychotherapeutin Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Psychologisches Institut Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie Staudinger Weg 9 D-55099 Mainz Dr. rer. nat. Silja Vocks, Dipl.-Psych. Psychologische Psychotherapeutin Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Psychologie Klinische Psychologie und Psychotherapie D-44780 Bochum
ISBN-10 3-540-25400-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-25400-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über (http://dnb.ddb.de) abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Annette Allée, Dinslaken Design: deblik Berlin SPIN 10984086 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
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Dass etwas neu ist und daher gesagt werden sollte, merkt man erst, wenn man auf scharfen Widerspruch stößt. Konrad Lorenz (1903–1989) (http://www.1000-zitate.de. Gesehen 11. Juli 2005)
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Danksagung Wir möchten uns herzlichst bei allen bedanken, die uns bei der Entwicklung und Erprobung des vorliegenden Behandlungskonzepts unterstützt haben. Insbesondere gilt unser Dank unseren Projekttherapeuten Dipl.-Psych. Kathrin Zoubek, Dipl.-Psych. Myriam Freidel, Dipl.-Psych. Andrea Fritsch, Dipl.-Psych. Martina Oehlichmann und Dipl.-Psych. Ilka Rühl für die engagierte Durchführung der Gruppen- und Einzeltherapien sowie die Diskussionsbeiträge und Rückmeldungen zur praktischen Umsetzbarkeit unserer Ideen und der Adaptionen der verschiedenen Interventionstechniken. Für das unermüdliche Korrekturlesen des Manuskripts und die konstruktive und wohlwollende Unterstützung bei dessen Gestaltung danken wir unseren Kollegen Dr. Andrea Benecke und Dr. Gaby Bleichhardt von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Dr. Joachim Kosfelder, cand. psych. Alexandra Wächter und Dipl-.Psych. Christoph Koban von der Ruhr-Universität Bochum sowie Dipl.-Psych. Petra Stadtfeld von der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift, Bad Kreuznach. Zusätzlich möchten wir unseren wissenschaftlichen Mitarbeitern Dipl.-Psych. Sabine Schütt und cand. Psych. Jennifer Rüter für die Unterstützung bei der Formatierung des Manuskripts und der Gestaltung der Arbeitsblätter danken. Besonderer Dank gilt zudem Lars Strömel für das kreative Input in der Gestaltung der Arbeitsblätter sowie Andreas Paulus für die professionelle Hilfe und Unterstützung in der Gestaltung des Designs der »Ernährungsfibel«. Herzlichen Dank auch an Simin Seilheimer, die mit viel Engagement sowohl Korrekturarbeiten am Manuskript ausgeführt als auch an der kreativen und fotografischen Gestaltung der »Ernährungsfibel« mitgewirkt hat. Zudem möchten wir uns bei unseren Freunden, Partnern und Angehörigen für die Unterstützung bei dieser Arbeit bedanken, wobei wir insbesondere Dipl.-Psych. Heike Wild, Dipl.-Oec. Juliane Dasbach und Andre Eifler hervorheben möchten. Zuletzt möchten wir uns für die wohlwollende Unterstützung bei der Planung und Umsetzung der Therapiestudie bei Prof. Wolfgang Hiller, Inhaber des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Leiter der Institutsambulanz sowie bei Prof. Dr. Dietmar Schulte, Inhaber des Lehrstuhls Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum und Leiter der Institutsambulanz, bedanken. Mainz, Bochum, im Herbst 2005 Tanja Legenbauer und Silja Vocks
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Vorwort Gedacht heißt nicht immer gesagt, gesagt heißt nicht immer richtig gehört, gehört heißt nicht immer richtig verstanden, verstanden heißt nicht immer einverstanden, einverstanden heißt nicht immer angewendet, angewendet heißt noch lange nicht beibehalten. Konrad Lorenz (1903–89). Aus http://www.zitate.de, 19.07.2005 In den letzten drei Jahrzehnten wurden seitens der klinischen Psychologie und der Verhaltenstherapie viele fruchtbare Neuerungen für das Verständnis und die Behandlung von Essstörungen wie der Anorexia und Bulimia nervosa erreicht. Diese Fortschritte durchziehen die verschiedensten Gebiete klinischer Anwendungen wie Diagnostik, Ätiologie und Behandlung. Der größte Erfolg ist dabei auf dem Gebiet der Bulimia nervosa zu verzeichnen, wobei sich insbesondere kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren als wirksam erwiesen. Das primäre Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie bei der Bulimia nervosa ist die Reduktion der ausgeprägten Angst vor einer Gewichtszunahme und die Veränderung der damit assoziierten Einstellungen und Verhaltensweisen. Dazu werden verschiedene kognitiv-behaviorale Techniken wie Ernährungsmanagement und die Modifikation dysfunktionaler Kognitionen eingesetzt. Ein ähnliches Vorgehen wird bei der Anorexia nervosa verwandt, wobei hier vor allem bedingt durch das medizinisch bedenkliche niedrige Körpergewicht eine Gewichtssteigerung im Vordergrund steht. Im Gegensatz zur Bulimia nervosa sind die beschriebenen Erfolge hier eher mäßig und es gibt nur wenige klinisch kontrollierte Studien, die den Langzeiterfolg der Anorexiebehandlung überprüften. Schlussfolgernd ist daher zu sagen, dass die bisherige Forschung die Grundlagen zum Verständnis der Entstehung und Aufrechterhaltung der beiden genannten Essstörungsformen und möglicher Anwendungen in der Behandlung gelegt hat, es aber weiterer Optimierung bedarf. Dies gilt insbesondere für das Drittel der jeweils chronisch erkrankten Patienten, die mit einer Standardtherapie möglicherweise nicht ausreichend behandelt werden können. Aus der Forschung sind hier verschiedene Anstrengungen bekannt, die Anlass zur Hoffnung geben können. So erscheint die Anwendung von Motivierungstechniken eine sinnvolle Ergänzung der Standardtherapie zu sein (Treasure et al. 1999), da durch diese Vorgehensweise die Therapieplanung an die Bedürfnisse des Patienten angepasst und das Auftreten von Reaktanz und Therapieverweigerung reduziert werden können. Eine weitere, aus der Erforschung der Rolle kognitiver Prozesse an der Auslösung und Aufrechterhaltung von Essstörungen entsprungene therapeutische Umorientierung ist die Fokussierung auf Grundannahmen, die nicht direkt mit der Essstörung assoziiert sind wie niedriges Selbstwertgefühl und extremer Perfektionismus (Waller u. Kennerley, 2003). Des Weiteren erwies sich beispielsweise die Adaption von Techniken aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie von Linehan (1996) als hilfreich für Patienten mit einer Bulimia nervosa, die im Rahmen von Skillstrainings erlernen, den Impulsen zu essen nicht nachzugeben bzw. alternative Methoden zur Bewältigung negativer Affekte anzuwenden (vgl. Telch et al. 2000). Zudem ergeben sich Hinweise darauf, dass Patienten mit Essstörungen größere Defizite in der Bewältigung interpersonaler Konflikt- und Belastungssituationen erleben, die in der Therapie aufgegriffen und im Rahmen eines Trainings sozialer Kompetenz bearbeitet
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Vorwort
werden sollten (vgl. auch Treasure et al. 1999). Ein weiterer wichtiger Behandlungsbaustein stellt zudem die Behandlung der Körperbildstörung dar (vgl. Böse 2002; Vocks u. Legenbauer 2005), da gezeigt werden konnte, dass durch die Verbesserung des negativen Körperbildes auch die generelle Essstörungssymptomatik verbessert wird (Vocks u. Legenbauer, 2005). Das Ziel dieses Therapiemanuals liegt nun darin, diese neueren Forschungsbefunde aufzugreifen und den praktisch tätigen Psychotherapeuten ein umfassendes Behandlungsprogramm zur Verfügung zu stellen, das neben den Standardtechniken zum Ernährungsmanagement und der Gewichtssteigerung sowie kognitiven Interventionen auch Übungen zur Verbesserung der Affektregulation, zur Steigerung der sozialen Kompetenz und der Überwindung des negativen Körperbildes enthält. Aus unserer Erfahrung heraus erschien es uns zudem wichtig, mit den Patienten positive Aktivitäten aufzubauen und den Alltag stärker ressourcen- als leistungsorientiert zu gestalten, wobei wir an dieser Stelle als Ressourcen vorwiegend genussvolle und kraftspendende Aktivitäten definiert haben. Das vorliegende Behandlungsprogramm ist in einen einführenden Theorieteil und einen Praxisteil gegliedert. Der Theorieteil enthält zum einen ausführliche Informationen zur Symptomatik und Diagnostik der Anorexia und Bulimia nervosa, zum anderen werden neue Befunde zur Ätiologie und Behandlung der beiden Störungsbilder beschrieben. Wir haben uns für die sehr ausführliche Darstellung der theoretischen Grundlagen entschieden, um allen Interessierten ein fundiertes, aktualisiertes Hintergrundwissen zu beiden Störungsbildern zu vermitteln. Auf der Grundlage dieser empirischen Befunde wurden die verschiedenen Behandlungsansätze abgeleitet. Der sich anschließende Praxisteil ist in verschiedene Behandlungsmodule gegliedert, wobei Ernährungsmanagement, kognitive Techniken und Rückfallprophylaxe als Standardmodule, Affektregulation, soziale Kompetenzen, Techniken zur Verbesserung des Körperbildes und Übungen zum Ressourcenaufbau als Ergänzungsmodule verstanden werden können. Sämtliche Kapitel enthalten die wichtigsten Arbeitsblätter jeweils im Anhang sowie zusätzliche Anwendungsbeispiele direkt im Text. Alle Arbeitsblätter sind zusätzlich als Beispiel und als Blankoversion auf der beiliegenden CD-ROM enthalten. Im Text sind außerdem Beispieldialoge zur Durchführung der verschiedenen Übungen beschrieben. Wir haben uns entschieden, sowohl für Patienten als auch Therapeuten aus Gründen der besseren Lesbarkeit jeweils die männliche Form zu verwenden. Selbstverständlich sind hierin auch weibliche Patienten und Therapeuten eingeschlossen. Das vorliegende Behandlungsprogramm wird seit Sommer 2002 im Behandlungsschwerpunkt Essstörungen der Poliklinischen Institutsambulanz, Abteilung Hochschulambulanz für Forschung und Lehre im Einzel- als auch Gruppensetting eingesetzt. Erste Ergebnisse dieser Evualationsstudien weisen auf eine gute Wirksamkeit der einzelnen Therapieelemente auf die Essstörungssymptomatik und die dysfunktionalen kognitiven Einstellungen hin. Wir hoffen, mit diesem umfassenden Gesamtbehandlungsprogramm einen Beitrag zur Optimierung der Essstörungstherapie geleistet zu haben. Mainz, Bochum, im Herbst 2005 Tanja Legenbauer und Silja Vocks
XI
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 1.4
Beschreibung der Störungsbilder . . . Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren, Verlauf und Prognose . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren, Verlauf und Prognose . . . Essstörungen bei Männern . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 2 4 6 10 11 12 12 13 15 18 19 19 20
2
Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa
2.1
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5
Prädisponierende Faktoren für Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziokulturelle Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . Familiäre Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auslösende Faktoren von Essstörungen Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gezügeltes Essverhalten . . . . . . . . . . . . . . . Stress und Coping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen . . . Definition von Essanfällen . . . . . . . . . . . . . Auslösende Faktoren für Essanfälle . . . . . Funktion des Essanfalls . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 31 31 32 33 34
3
Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
35
3.1
Kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . .
36
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3
21 22 22 24 25 25 27 28 28 29
3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.4
Kurzfristige Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . Langfristige Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Therapieansätzen bei Essstörungen . . . . Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirksamkeit von Gruppentherapien bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere psychotherapeutische Ansätze im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interpersonelle Psychotherapie bei Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialektisch-behaviorale Ansätze . . . . . . . Systemische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychodynamisch orientierte Verfahren Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsthilfeprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 4.2 4.2.1
Medizinische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . Strukturierte Interviews . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosestellung der allgemeinen Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungsspezifische Diagnosestellung Fragebögen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamneseerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungssymptomatik . . . . . . . . . . . . . . Weitere Symptombereiche . . . . . . . . . . . . Retrospektive Erfolgsmessung . . . . . . . . . Selbstbeobachtungsmethoden . . . . . . . . Dokumentation der Nahrungsaufnahme zu Behandlungsbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Anwendungsbereiche von Ernährungsprotokollen . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1
4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5
5
Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 5.2 5.3
Aufbau des Therapieprogramms . . . . . . . Einsatz des Mannuals . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz einzelner Module . . . . . . . . . . . . . .
36 37 38 38 39 39 40 40 40 41 41 42 42 43 43 45 46 47 47 47 48 48 49 50 51 52 52 52 53
55 56 61 61
XII
Inhaltsverzeichnis
5.4 5.5 5.5.1 5.5.2
Auswahl des Settings . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gruppentherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundkonzept der Gruppentherapie . . . Besonderheiten in der gruppentherapeutischen Behandlung von Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei der Behandlung bei Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter und ergänzende Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.6 5.7
6
Motivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 6.2 6.2.1 6.2.2
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phasenmodell der Veränderung . . . . . . . Beschreibung der einzelnen Phasen . . . . Empirische Befunde und Implikationen des Phasenmodells im Bereich der Essstörungsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . Stärkung der Gruppenkohäsion . . . . . . . . Beschreibung von Gruppenwirkfaktoren und Therapeutenvariablen . . . . . . . . . . . . Interventionen zur Stärkung der Gruppenkohäsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionen zur Motivationssteigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwägen der Vor- und Nachteile einer Essstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volition: Die Aufrechterhaltung von Absichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Informationen zur Ernährung
6.3 6.3.1 6.3.2 6.4 6.4.1 6.4.2 6.5 6.6 6.7 6.8
7
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.4 7.5
Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens und Abbau von Heißhungerattacken und Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
62
8.1 8.2
63
8.2.1
63
8.2.2
65 66 67 67
8.2.3 8.2.4
8.3.3 8.4 8.5
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivierung zur Veränderung des Essverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung und Auswertung der Mahlzeitenprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . Etablierung strukturierter Esstage . . . . . . Maßnahmen zur Gewichtssteigerung und -stabilisierung . . . . . . . . . Exkurs: Wahrnehmung von Hunger und Sättigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeinsames Kochen . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionen zum Abbau von Heißhungerattacken und Erbrechen . . . Analyse von Auslösesituationen . . . . . . . Interventionen zur kurzfristigen Affektregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nahrungsmittelexposition . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Kognitive Interventionen . . . . . . . . . . . . 157
9.1 9.2 9.2.1
158 159
9.4 9.5
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zugrunde liegende Wertesystem . . . Identifikation des zugrunde liegenden Wertesystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modifikation des zugrunde liegenden Wertesystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Automatische Kognitionen . . . . . . . . . . . . Identifikation automatischer Kognitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modifikation der automatischen Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Interventionen zur Affektregulation
10.1 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung von Gefühlen . . . . . . . . . . Welche Gefühle gibt es? . . . . . . . . . . . . . . . Wie entstehen Gefühle? . . . . . . . . . . . . . . . Funktion von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . Identifikation eines Gefühls . . . . . . . . . . . .
187 188 189 190 195 197 198
61 62 62
68 69 69 70 72 72 74 78 79 79 83
8.2.5 8.2.6 8.3 8.3.1 8.3.2
9.2.2 9.3 9.3.1
87 88
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erarbeiten des individuellen Störungsmodells. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Prädisponierende Faktoren . . . . . . . . . . . . 89 Makroanalyse der auslösenden Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Aufrechterhaltende Bedingungen . . . . . . 99 Ableitung der Therapieziele und therapeutischen Interventionen . . . . . . . 101 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
9.3.2
112 113 114 118 122 126 132 134 135 136 143 146 149 149
160 164 166 168 169 177 177
XIII Inhaltsverzeichnis
10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.4 10.5
Bewältigung von negativen Gefühlen . . Einführung eines Stressmodells . . . . . . . . Palliativ-regenerative Techniken . . . . . . . Kognitive Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsatz der vermittelten Techniken . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
11.1 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.3 11.3.1
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationstraining . . . . . . . . . . . . . . Nonverbale Aspekte der Kommunikation Verbale Kommunikationsaufgaben . . . . Einführen eines Kommunikationsmodells Aufbau selbstsicheren Verhaltens . . . . . . Interventionen zur Steigerung von selbstsicherem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . 11.3.2 Vermittlung eines Problemlöseschemas 11.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199 200 200 205 209 209 211
218 219 219 222 225 229 230 234 237 237
13.2.1 Vermittlung von Informationen zum Aufbau des Selbstwertgefühls . . . . . . . . . 13.2.2 Übungen zur Steigerung des Selbstwertgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 Überprüfung der Energiebilanz . . . . . . . . 13.3.2 Abbau von Energiefressern . . . . . . . . . . . . 13.4 Interventionen zur Steigerung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit . . . 13.4.1 Genusstraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.2 Übungen zur Steigerung der Entspannungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12.1 12.2
Interventionen zur Veränderung des Körperbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
12.7 12.8
Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorstellung des Modells der Körperbildstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaginationsübungen . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung der Imaginationsübung »Körperreise« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung der Imaginationsübung »Gedanken sammeln« . . . . . . . . . . . . . . . . . Abtast-/Zeichnungsübungen . . . . . . . . . . Abtasten und Zeichnen des eigenen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übung zur Fremd- und Selbstwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abtast- und Modellierübungen . . . . . . . . Durchführung der Modellierübung . . . . Spiegel- und Videokonfrontationsübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Förderung von Ressourcen . . . . . . . . . . 277
13.1 13.2
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
12.3 12.3.1 2.3.2 12.4 12.4.1 12.4.2 12.5 12.5.1 12.6
244 246 248
281 285 285 291 294 296 299 302 303
14
Rückfallprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
14.1 14.2 14.3
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identifikation zukünftiger Risikosituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erarbeitung von Strategien zur Überwindung von Risikosituationen . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.4
12
279
14.5 14.6
316 317 319 322 328 329
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Anhang A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
248 250 252
Beschreibung des Fragebogens zur Erfassung essstörungsspezifischer dysfunktionaler Kognitionen (FEDK) . . . 348
Anhang B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 253 257 259 260 265 271 271
Beratungsstellen für Essstörungen . . . . . 352 Internetlinks für weitere Informationen zur Beratung und Behandlung . . . . . . . . . 357
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
1 1 Beschreibung der Störungsbilder
1.1
Anorexia nervosa
–2
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5
Epidemiologie – 2 Diagnosekriterien – 4 Symptomatik – 6 Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen Risikofaktoren, Verlauf und Prognose – 11
1.2
Bulimia nervosa
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5
Epidemiologie – 12 Diagnosekriterien – 13 Symptomatik – 15 Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen Risikofaktoren, Verlauf und Prognose – 19
1.3
Essstörungen bei Männern – 19
1.4
Zusammenfassung
– 10
– 12
– 20
– 18
2
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
Allgemein werden als Essstörungen alle die »im weiteren Sinn von der Norm abweichenden Auffälligkeiten des Essverhaltens, die zu psychischen Störungen und Veränderungen des Körpergewichts führen« verstanden (vgl. Fröhlich 2000). In den internationalen Klassifikationssystemen – der 10. Revision der »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (ICD-10), die von der Weltgesundheitsorganisation entwickelt wurde (Dilling et al. 2000), und der 4. Version des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-IV; American Psychiatric Association 1994) – werden unter dem Oberbegriff »Essstörungen« zwei Varianten definiert: die Anorexia nervosa (AN) und die Bulimia nervosa (BN). Zusätzlich wird im DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) noch die Nicht Näher Bezeichnete Essstörung beschrieben, unter welcher auch die Binge-Eating-Disorder subsumiert wird. Auf diese Störungskategorie wird jedoch nicht näher eingegangen. In der ICD-10 finden sich neben den Hauptkategorien der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa jeweils Subtypen, welche die vollständigen Kriterien der einzelnen Störungsbilder nicht erfüllen und deshalb als atypische Anorexia nervosa bzw. Bulimia nervosa beschrieben werden. Entgegen der allgemeinen Definition von Essstörungen von Fröhlich, welche sich auf die psychischen Störungen und Veränderungen des Körpergewichts bezieht, steht bei der Diagnosestellung vor allem das gestörte Essverhalten im Vordergrund. Das zentrale Symptom dieser Störungsgruppe wird deshalb insbesondere in den krankhaften Veränderungen des Essverhaltens gesehen, welche sich einerseits in pathologischem Umgang mit Nahrung wie beispielsweise in Form von Verweigerung ausreichender Nahrungsaufnahme bei der Anorexia nervosa oder in Form von Heißhungerattacken bei bulimischen Patienten, andererseits in einer übermäßigen Beschäftigung mit den Themen Figur, Nahrung und Gewicht wiederfinden lässt. Ebenso charakteristisch für psychogene Essstörungen sind zudem Störungen des Körperbildes sowie Selbstwertprobleme in Form von Insuffizienz- oder Schamgefühlen. Weitere Merkmale, die häufig mit Essstörungen einhergehen, sind psychosoziale und sexuelle Probleme, Depressionen sowie eine extrem ausgeprägte Leistungsorientierung (Fairburn et al. 2003). Im Folgenden soll auf die beiden Störungsbilder der Ano-
rexia und Bulimia nervosa genauer eingegangen werden.
Anorexia nervosa
1.1
Fallbeispiel Eine Patientin kam mit einem Gewicht von 24 kg bei einer Größe von 158 cm in das Akutkrankhaus, weil ihr Kreislauf kollabiert war. Sie wurde medizinisch versorgt und über eine Sonde zunächst zwangsernährt. Die Patientin war im Krankenhaus bekannt, seit 8 Jahren anorektisch und mit einem ähnlichen Zustandsbild mehrfach in Behandlung gewesen. Nach Auffütterungen bis zuletzt auf 42 kg hatte sie sich immer wieder heruntergehungert. Auch diesmal wehrte sie sich gegen die Infusionen und Sondennahrung, riss häufig die Schläuche heraus. Nach einigen Wochen wurde sie mit 36 kg entlassen, schaffte es aber schon nach einigen Monaten wieder auf 25 kg heruntergehungert zu sein. Sie wurde wieder zwangseingewiesen, widersetzte sich aber jeglicher künstlicher Ernährung und auch sonstiger Behandlung. Das Behandlungsteam entschied daher, ihre Lebensweigerung anzuerkennen und die Behandlung einzustellen. Die Patientin starb wenige Tage später (aus Hebert u. Weingarten 1991).
»Anorexia nervosa ist die psychische Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate« (David Herzog, Professor of Psychiatry, University of Harvard, USA; Boston Today 2001).
1.1.1
Epidemiologie
Prävalenz Epidemiologische Studien werden meist als ZweiPhasen-Studie durchgeführt. Zunächst wird eine größere Population nach Symptomen anhand von Fragebögen gescreent. Die auf diese Weise identifizierten Risikofälle werden in der zweiten Phase anhand von klinisch-strukturierten Interviews überprüft und diagnostiziert (Williams et al. 1980). Für den angloamerikanischen Raum liegen aus ZweiPhasen-Studien Daten zur Punktprävalenz vor allem
3 1.1 · Anorexia nervosa
für Mädchen und junge Frauen zwischen 15 und 18 Jahren vor. Diese liegen für die Anorexia nervosa bei 0,3–1% (van Hoeken et al. 2003). Zahlen für den deutschsprachigen Raum finden sich bei Jacobi et al. (2004c), die eine Lebenszeitprävalenz von 1,3% angeben. Der Großteil der Betroffenen ist weiblichen Geschlechts, wobei Mädchen der Altersgruppe zwischen 14 und 19 Jahren ca. 40% aller Erkrankten bzw. 60% der weiblichen Betroffenen darstellen. Das Erstmanifestationsalter verteilt sich bimodal mit zwei Häufigkeitsgipfeln, welche bei 14 und 18 Jahren liegen. Zahlen für ältere weibliche Populationen liegen kaum vor. Das Verhältnis zwischen erkrankten Männern und Frauen wird meist mit 1:11 angegeben (Hoek et al. 1995). Vor allem in Risikopopulationen, bei denen aus beruflichen Gründen ein bestimmtes Aussehen oder Körpergewicht erwartet wird, liegen erhöhte Prävalenzraten für das Auftreten von anorektischen Erkrankungen vor. Zu nennen sind hier für Frauen insbesondere der Beruf des Models als auch der der professionellen Balletttänzerin und Leistungssportlerin (Sundgot-Borgen et al. 2003). Bei Männern gelten insbesondere gewichtsbezogene Wettkampfsportarten wie Skispringen, Rudern, Ringen und Hochsprung als risikobehaftet für die Entwicklung einer Essstörung (Sundgot-Borgen et al. 2003). Die Prävalenzraten für Leistungssportler liegen in einer norwegischen Studie bei ca. 2,2% bzw. auch 0,4% für Männer mit Anorexia nervosa (Torstveit et al. 1998). Bei Balletttänzern wird eine Lebenszeitprävalenz für Anorexia nervosa von 1,7% berichtet (Le Grange et al. 1994). Abraham (1996) gibt zudem in einer Stichprobe von 60 professionellen Balletttänzern an, dass 34% der Befragten einen BMI unter 17 kg/m2 aufwiesen.
Inzidenz Neben der Prävalenz werden zudem Inzidenzraten berechnet, welche sich meist auf die jährlichen Neuerkrankungen beziehen. Eine Studie in der Allgemeinbevölkerung in den Niederlanden zeigt für Anorexia nervosa Neuerkrankungsraten von 8,1 Fällen pro 100.000 Personen in den Jahren 1985– 1989 (Hoek et al. 1995). In Deutschland zeigen sich vergleichbare Raten. Hier wird die Inzidenzrate mit 8 Fällen pro 100.000 Einwohner angegeben (Jacobi et al. 2004).
1
In den letzten Jahren wurde diskutiert, ob die Inzidenzraten für die Anorexia nervosa angestiegen sind (van Hoeken et al. 2003). Allerdings bleibt trotz einer steigenden Anzahl epidemiologischer Studien die Befundlage in den letzten Jahren inkonsistent. Zahlen aus dem angloamerikanischen Raum für die Zeiträume 1994–2000 und 1988–1993 weisen auf Stabilität der Inzidenzraten zumindest in der britischen Bevölkerung hin. Für den Zeitraum 1994– 2000 liegen die Neuerkrankungsraten bei 4,7 Fällen pro 100.000 Einwohner für Frauen zwischen 10 und 39 Jahren (Currin et al. 2005) und zwischen 1988 und 1993 bei 4,2 Fällen pro 100.000 Einwohner nach Alter und Geschlecht korrigiert (Turnbull et al. 1996). Eagles und Kollegen (1995) dagegen wiesen in einer schottischen Stichprobe einen Anstieg der Inzidenzrate für Anorexia nervosa nach. Lucas und Kollegen (1999) beschreiben Fluktuationen in der Häufigkeit der Neuerkrankungen. Eine neuere Studie aus der Schweiz über den Zeitraum von 1956– 1995 konnte Anstiege der Anorexia nervosa in den Jahren 1960–1980 verzeichnen, seit den 80er Jahren allerdings zeigen die Daten eine Plateauphase in der Neuerkrankungshäufigkeit (Milos et al. 2004). Insgesamt lässt sich aus den genannten Studien schließen, dass, sofern eine Alterskorrektur durchgeführt wird, ein Anstieg der Neuerkrankungen in der Gruppe der 15- bis 19-Jährigen (135,7 Fälle pro 100.000 Einwohner in den Jahren 1980–1989) angenommen werden muss, während für Frauen und Männer über 25 die Inzidenzraten stabil bleiben (Lucas et al. 1999).
Mortalitätsrate Personen, die an einer Anorexia nervosa erkranken, haben im Vergleich zu gesunden Personen des gleichen Alters und Geschlechts ein viermal höheres Risiko zu sterben (van Hoeken et al. 2003). In Zahlen ausgedrückt sind dies 0,56% der Erkrankten, die durchschnittlich pro Jahr aufgrund ihrer Essstörung oder damit assoziierten Folgen sterben. Die Zahlen sind damit deutlich höher als bei anderen psychischen Störungen. Nur Alkoholabhängigkeit geht mit einem etwa ähnlich hohen Sterblichkeitsrisiko einher (3- bis 4-mal höher als in der Normalbevölkerung; Bühringer 1996). Standardisierte Mortalitätsraten, welche die stichprobenspezifische Mortalitätsrate (CMR) mit der in der allgemeinen
4
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
Bevölkerung vergleichen, ergeben einen Quotienten von 9,6 bei einem 6–12-Jahres-Follow-up, bei Nachuntersuchungen nach 20–40 Jahren von 3,7% (Nielsen 2001). Die Zahlen sind erschreckend hoch, wobei neuere Studien davon ausgehen, dass die tatsächliche Mortralitätsrate hier immer noch unterschätzt wird (Muir u. Palmer 2004). Die häufigste Todesursache bei Anorexiebetroffenen liegt in medizinischen Komplikationen begründet, die infolge der Essstörung auftreten (54%; Sullivan 1995). Weitere 27% der von Sullivan untersuchten Stichprobe suizidierten sich. Eine Risikogruppe für Suizidversuche bei anorektischen Patienten stellen Betroffene des Purging-Subtyps dar (7 Abschn. 1.1.2). Ebenfalls mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate assoziiert sind ein niedriger BMI bei Aufnahme und im Behandlungsverlauf, Zwangsssymptome, Drogenmissbrauch und komorbide depressive Erkrankungen (Pompili et al. 2004).
1.1.2
Diagnosekriterien
Die Anorexia nervosa wird im angloamerikanischen Raum sowie im Forschungskontext vorzugsweise nach DSM-IV-TR diagnostiziert. Im deutschsprachigen Raum sowie in der medizinischen Versorgung wird gängigerweise nach den internationalen Diagnosekriterien des ICD-10 diagnostiziert. Es werden daher im Folgenden die Diagnosekriterien beider Klassifikationssysteme für Anorexia nervosa vorgestellt. Im DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) wird die Diagnose anhand von vier Hauptkriterien gestellt. Dabei bezieht sich Kriterium A auf ein für das entsprechende Alter und die Körpergröße niedriges Körpergewicht der betreffenden Person. Als konkrete Richtlinien dienen hierbei neben individuellem Körperbau und Gewichtsentwicklung die Unterschreitung von 85% des zu erwartenden Gewichts oder alternativ ein Bodymass-Index ≤17,5 kg/m2. Diese Reduktion des Körpergewichts wird aktiv, das heißt durch verminderte Nahrungsaufnahme oder unter Einsatz von Erbrechen und Laxanzien, herbeigeführt. Die übergroße Angst vor einer Gewichtszunahme stellt das B-Kriterium für Anorexia nervosa dar. Charakteristisch für diese Sorge ist, dass sie in der Regel mit fortschreitender Gewichtsabnahme
wächst. Insgesamt messen Patienten mit Anorexia nervosa dem Körpergewicht eine übermäßig hohe Bedeutung bei und weisen gleichzeitig eine diesbezüglich gestörte Wahrnehmung auf (Kriterium C). So besteht unabhängig vom tatsächlichen Körpergewicht die Überzeugung, entweder übergewichtig oder an vereinzelten Körperstellen zu dick zu sein. Die betroffenen Personen beschäftigen sich ständig mit dem Kontrollieren des Körpergewichtes und -umfanges. Körperliche Maße nehmen einen großen Einfluss auf den Selbstwert. Entsprechend werden Gewichtsverluste als persönliche Erfolge bezüglich Selbstdisziplin, eine Zunahme von Gewicht dagegen als inakzeptables Versagen empfunden. Bei geschlechtsreifen Frauen stellt das Ausbleiben der Periode, die sog. Amenorrhoe, ein weiteres Diagnosekriterium (Kriterium D) dar. Sie resultiert aus mit dem Untergewicht anorektischer Personen assoziierten Hormonveränderungen. Auf der Basis der von den Patienten eingesetzten Strategien zur Gewichtsreduktion können gemäß dem DSM-IV-TR zwei Typen der Anorexia nervosa unterschieden werden (Saß et al. 2003). Der restriktive Typus zeichnet sich durch eine durchgängig verminderte Nahrungsaufnahme aus. Neben Diäten oder Fasten kommt es auch häufig zu übermäßiger sportlicher Betätigung. Im Gegensatz dazu treten bei dem sog. Binge-Eating/Purging-Typus zusätzlich zu geringer Nahrungsaufnahme regelmäßige Essanfälle auf. Die dadurch aufgenommenen Nahrungsmittel werden erbrochen oder durch den Gebrauch von Laxanzien (Abführmittel), Diuretika (Entwässerungsmittel) oder Klistiere (Einläufe) abgeführt. In wenigen Fällen zeigen die betroffenen Personen das PurgingVerhalten auch ohne vorherige Essattacken und erbrechen auch kleinere Nahrungsmengen.
DSM-IV-TR-Kriterien 307.1 Anorexia nervosa A. Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten (z. B. der Gewichtsverlust führt dauerhaft zu einem Körpergewicht von weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts; oder das Ausbleiben einer während der Wachs6
5 1.1 · Anorexia nervosa
tumsperiode zu erwartenden Gewichtszunahme führt zu einem Körpergewicht von weniger als 85% des zu erwartenden Gewichts) B. Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts. C. Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen geringen Körpergewichts. D. Bei postmenarchalen Frauen das Vorliegen einer Amenorrhoe, d. h. das Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen (Amenorrhoe wird auch dann angenommen, wenn bei einer Frau die Periode nur nach Verabreichung von Hormonen, z. B. Östrogen, eintritt). Man unterscheidet dabei zwei Subtypen: Restriktiver Typus: Während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa hat die Person keine regelmäßigen »Fressanfälle« gehabt oder hat kein »Purging-Verhalten« (d. h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt. »Binge-Eating/Purging-Typus«: Während der aktuellen Episode der Anorexia nervosa hat die Person regelmäßig Fressanfälle gehabt und hat Purging-Verhalten (d. h. selbstinduziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) gezeigt.
Die ICD-10-Kriterien (Dilling et al. 2000) unterscheiden sich in einigen Punkten vom DSM-IV-TR (Saß et al. 2003). Wie auch das DSM-IV-TR beinhaltet die ICD-10 zunächst das zu niedrige Körpergewicht wie auch die ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme trotz eines bestehenden Untergewichtes. Das DSM-IV-TR geht dabei eher auf die psychische Komponente, nämlich auf die Weigerung, ein adäquates Gewicht zu halten, ein, während die ICD-10 eher das bestehende Untergewicht, also den körperlichen Aspekt, hervorhebt. Zudem
1
betont die ICD-10 die Verhaltensweisen wie Vermeidung von hochkalorischen Speisen, z. B. Schokolade, Sahnesoßen und Ähnliches, und nennt zusätzlich Gegenmaßnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen oder exzessiven Sport. Das DSM-IV-TR enthält des Weiteren eine ausführliche Beschreibung der Körperschemastörung, nämlich die »Störung der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts« sowie damit assoziiert die übermäßige Abhängigkeit der Selbstbewertung von Figur oder Gewicht. Im DSM-IV-TR ist die Leugnung der Schwere der Krankheit enthalten, welche in der ICD-10 nicht explizit erwähnt wird. Beide Klassifikationssysteme benennen die endokrine Störung, welche sich bei Frauen als Amenorrhoe manifestiert. Insgesamt ist das DSM-IV-TR im Vergleich zur ICD-10 differenzierter in der Beschreibung der Diagnosekriterien und geht neben der Darstellung konkreter Verhaltensweisen auf die psychischen Komponenten ein. Auch enthält die ICD-10 keine explizite Unterteilung in die beiden Subtypen der Anorexia nervosa »Restriktiver Typus« und »Binge-Eating/Purging-Typus« wie das DSM-IV-TR. Diese Differenzierung ist in der ICD-10 nur über die 4. Stelle der Ziffer möglich, nämlich die Kodierung der Anorexia in »ohne Gegenmaßnahmen« (F50.00) und »mit Gegenmaßnahmen« (F50.01). Im Folgenden sind die Kriterien der ICD-10 aufgelistet.
ICD-10-Kriterien F50.0 Anorexia nervosa A. Gewichtsverlust oder bei Kindern fehlende Gewichtszunahme. Dies führt zu einem Körpergewicht von mindestens 15% unter dem normalen oder dem für das Alter und die Körpergröße erwarteten Gewicht. B. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von »fett machenden« Speisen. C. Selbstwahrnehmung als »zu fett« verbunden mit einer sich aufdrängenden Furcht, zu dick zu werden. Die Betroffenen legen für sich selbst eine sehr niedrige Gewichtsschwelle fest. 6
6
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
D. Umfassende endokrine Störung der Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden-Achse; sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe, bei Männern als Interesseverlust an Sexualität und Potenzverlust. Eine Ausnahme stellt das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen dar, die eine Hormonsubstitution erhalten (meist als kontrazeptive Medikation). E. Die Kriterien A und B für eine Bulimia nervosa (F50.2) werden nicht erfüllt. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der Pubertätsentwicklung verzögert oder gehemmt (Wachtstumsstopp, fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhoe bei Mädchen; bei Jungen bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung, bei verspäteter Menarche, häufig normal abgeschlossen. Bei Erkrankung vor der Pubertät sind die Entwicklungsschritte verzögert. F50.00 Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.) F50.01 Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc. u. U. in Verbindung mit Heißhungerattacken)
Das Leitsymptom der Anorexia nervosa, nämlich der Gewichtsverlust, sowie damit assoziierte Nahrungsrestriktion und Erbrechen erfordern den Ausschluss gastrointestinaler und endokrinologischer Erkrankungen. Mögliche organische Ursachen können Verdauungsschwierigkeiten sowie Gastritis, Magengeschwüre oder Erkrankungen des ganzen Gastrointestinaltraktes wie Morbus Crohn sein. Diese können auch zusätzlich vorliegen. Zur genauen Diagnostik ist eine ausführliche psychologische Exploration und internistische Abklärung erforderlich (7 Kap. 4).
1.1.3
Symptomatik
Das in 7 Kap. 1.1 dargestellte Fallbeispiel verdeutlicht die Tragik der Anorexia nervosa, die damit einhergehenden weitgreifenden psychischen, sozialen
und körperlichen Veränderungen, die Verzweiflung und den eisernen Willen, mit welchem dem Körper der Kampf angesagt wird. Im Folgenden soll das Störungsbild noch einmal näher beschrieben und auf mögliche medizinische Folgeerscheinungen und Komplikationen eingegangen werden.
Beschreibung des Störungsbildes Wie bereits im Zusammenhang mit der Darstellung der Diagnosekriterien erwähnt, ist die Anorexia nervosa vor allem durch die Weigerung der Betroffenen gekennzeichnet, ein Minimum des normalen, medizinisch unbedenklichen Körpergewichts zu halten. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff Anorexia »Appetitmangel«. Die Begrifflichkeit ist irreführend, da die Motivation für die pathologische Nahrungseinschränkung nicht fehlendes Hungergefühl, sondern eine starke Angst vor Gewichtszunahme ist (Foreyt et al. 1996). Auf der affektiven Ebene ist daher die Angst vor einer Gewichtszunahme das vorherrschende Symptom. Diese Angst geht einher mit einer erheblichen Wahrnehmungsstörung bezüglich der eigenen Figur und des eigenen Körperumfanges (Cash u. Deagle 1997), was dazu führt, dass sich die meisten Betroffenen trotz Untergewichtes als normal bzw. zu dick empfinden (Heilbrun u. Witt 1990). Die intensive Angst vor einer Gewichtszunahme wird jedoch gewöhnlich auch durch einen eintretenden Gewichtsverlust nicht gemindert. Erreicht wird der Gewichtsverlust vor allem durch eine Reduktion der Gesamtnahrungsaufnahme (beim Restriktiven Typus) bzw. gesteigerte oder übermäßige körperliche Betätigung oder ähnlich wie bei der Bulimia nervosa (7 Abschn. 1.2) durch Gegenmaßnahmen wie Erbrechen und Laxanzieneinnahme (beim Binge-Eating/Purging-Typus). Die Betroffenen erleben den Gewichtsverlust sehr positiv als ein Zeichen von außergewöhnlicher Selbstdisziplin. Die kognitive Ebene ist gekennzeichnet durch die hartnäckige Verleugnung der Schwere der Krankheit, insbesondere des kachektischen Zustandes, und dem Streben nach extremer Schlankheit bei gleichzeitiger Angst vor Gewichtszunahme. Dabei geht die Nahrungsverweigerung mit ständigen Gedanken an das Essen, welche fast zwanghaft zu sein scheinen, einher. Des Weiteren zeichnen sich diese
7 1.1 · Anorexia nervosa
Patienten durch eine ausgeprägte Leistungsorientiertheit und einen starken Perfektionismus aus. Häufig entwickeln anorektische Patienten fehlangepasste Einstellungen wie z. B. »Ich muss in jeglicher Hinsicht perfekt sein« (Fairburn et al. 2003). Damit verbunden ist oft ein niedriges Selbstwertgefühl, das zusätzlich die psychosozialen und psychosexuellen Möglichkeiten und Kompetenzen einschränkt (Jacobi et al. 2000). Diese Unsicherheit bezieht sich sowohl auf die eigene Rolle im gesellschaftlichen und familiären Umfeld als auch insgesamt auf den Wert oder die Bedeutung der eigenen Person (Jacobi et al. 2000). Neben dem Hauptmerkmal des Gewichtsverlustes (bis zu 50% des vorherigen Körpergewichts) sind bizarre Verhaltensweisen im Umgang mit Essen für Patienten mit Anorexia nervosa typisch. So schneiden beispielsweise einige Betroffene ihre Nahrungsmittel (z. B. Äpfel) in kleine Stücke, die sie langsam verzehren, oder aber sie kauen die Lebensmittel sehr lange und spucken sie anschließend wieder aus. Die bereits oben erwähnte permanente gedankliche Beschäftigung mit dem Thema Essen geht mit Verhaltensweisen wie dem Lesen von Kochbüchern, dem Auswendiglernen von Rezepten sowie dem Zubereiten von – zumeist hochkalorischen – Mahlzeiten für andere Personen einher. Hierbei sind die Patienten oft stolz darauf, wenn die anderen Menschen große Kalorienmengen zu sich nehmen, sie selbst jedoch verzichten, was sie als Zeichen von »Stärke« ansehen. Manche Patienten wiegen sich zudem nach jedem Essen, um eine mögliche Gewichtszunahme zu kontrollieren. Auch Hyperaktivität in Form von Dauerläufen, stundenlangen Spaziergängen oder Gymnastik ist für diese Gruppe bezeichnend. Die Hyperaktivität liegt anscheinend sowohl in Ängstlichkeit als auch in gezügeltem Essverhalten begründet (Holtkamp et al. 2004). Auf der physiologischen Ebene ist die Veränderung der Interozeptionsfähigkeit zu nennen. Reize wie Hunger werden verändert wahrgenommen bzw. in der Regel geleugnet. Auch andere Körpersignale werden ignoriert bzw. fehlinterpretiert. Beispielsweise führt die Aufnahme kleinster Nahrungsmengen zu lang anhaltenden Klagen über Völlegefühl, Blähbauch und Übelkeit. In diesem Zusammenhang ist auch eine verminderte Schmerzempfindlichkeit zu nennen (Papezova u. Yamamotova 2005). Auf-
1
grund der Mangelernährung und dem damit einhergehenden kachektischen Ernährungszustand kommt es zu somatischen Folgeerscheinungen, welche im folgenden Abschnitt ausführlich dargestellt werden.
Medizinische Folgeerscheinungen Das extreme Hungern der Patienten mit Anorexia nervosa und das damit einhergehende Untergewicht ziehen oft gravierende physiologische Veränderungen und körperliche Symptome nach sich, die in schweren Fällen irreversibel sind (Meermann u. Vandereyken 1996). Die verschiedenen somatischen Beeinträchtigungen können äußerlich sichtbar sein und Veränderungen der Haut, des Skeletts und des Mundbereichs betreffen, aber auch auf nicht sichtbare physiologische Prozesse bezogen sein wie Störungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Gastrointestinaltrakts sowie metabolischer und endokrinologischer Prozesse. Zudem werden langfristige körperliche Folgeerscheinungen wie Osteoporose, aber auch mögliche komorbide chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus im Rahmen von Essstörungen beschrieben. Die dargestellten Befunde verlangen Beachtung bei Diagnostik und Therapieplanung und bedürfen möglicherweise ergänzender Behandlung. In 7 Kap. 4 werden notwendige medizinische Maßnahmen erläutert, um mögliche somatische Folgeerkrankungen zu diagnostizieren und deren Verlauf im Therapieprozess zu beobachten und gegebenenfalls zu behandeln. Im Folgenden werden zunächst kurzfristige und akute medizinischen Komplikationen bei der Anorexia nervosa vorgestellt. Danach wird auf langfristige Folgen bzw. chronische Erkrankungen eingegangen. Schwerwiegende körperliche Beeinträchtigungen werden zuerst beschrieben,weniger bedrohliche Symptome am Ende des jeweiligen Abschnittes dargestellt.
Kurzfristige körperliche Symptome und medizinische Komplikationen Kardiovaskuläre Probleme. Bei ca. 80% der Essstö-
rungspatienten treten kardiovaskuläre Probleme und EKG-Veränderungen auf, welche häufiger kardiologischer Kontrolle bedürfen (Alvin et al. 1993). EKG-Veränderungen können neben der häufig zu beobachtenden Bradykardie (d. h. Verlangsamung des Herzschlages) zusätzlich ST-Depressionen oder
8
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
abnorme U-Wellen enthalten1. Ein kleiner Teil der Patienten weist zudem Verlängerungen des QT-Intervalls auf, welche im Zusammenhang mit kardialen Komplikationen und Todesfällen stehen (Zipfel et al. 2003). Durch die Unterernährung kann es zudem zu einem Abbau der Herzmuskelmasse kommen und daraus resultierend zu Arrythmien (de Simone et al. 1994). Gastrointestinales System. Viele somatische Veränderungen betreffen das gastrointestinale System und können mit einer Chronifizierung der Anorexia nervosa einhergehen (Robinson 2000). Schwerwiegendere gastrointestinale Komplikationen stellen Magenbrüche dar, die bei Patienten mit Anorexia nervosa jedoch eher selten festgestellt werden (Schou et al. 1994). Häufiger, d. h. bei ungefähr einem Sechstel der Patienten, treten Magengeschwüre auf (Hall u. Beresford 1989). Von leichteren Veränderungen ist der gesamte Verdauungsapparat betroffen, angefangen bei den Speicheldrüsen bis hin zur Funktionalität des Darms. Ein typisches Kennzeichen für Mangelernährung ist eine Verlangsamung der Speiseröhren- und Magenentleerung, welche meist mit einem übermäßigen Völlegefühl bei nur kleinen Nahrungsmengen einhergeht. In diesem Zusammenhang kann es auch zu Obstipationen kommen. Diese Veränderungen legen sich nach Gewichtsnormalisierung meist wieder (Szmukler et al. 1990).
1
Man spricht von Herzrhytymusstörungen, wenn die geschilderte Abfolge der elektrischen Erregungsbildung und ihrer Ausbreitung gestört ist. Eine normgerechte Erregungsweiterleitung wird in den Sinusknoten initiiert und überträgt sich auf die Vorhöfe (P-Welle im EKG), welche durch den Impuls zur Kontraktion angeregt werden. Von dort zieht die Erregung zum Atrioventrikularknoten (AV-Knoten), der zwischen Vorhöfen (Atrien) und Kammern (Ventrikeln) gelegen ist und auf die rechte und linke Herzkammer ausweitet. In dieser Phase sind die Vorhöfe gleichmäßig erregt, die Kammer jedoch noch nicht (PQ-Strecke). Die Erregung der Kammermuskulatur (QRS-Komplex) führt zur Kontraktion und zum Auswurf des Blutes. Eine gleichmäßige Erregung ist als STStrecke abgebildet, die Rückbildung der Kammermuskulaturerregung als T-Welle sichtbar. Eine ST-Depression ist als Senkung zwischen QRS-Komplex und T-Welle erkennbar und weist auf eine ungleichmäßige Kammererregung hin. U-Wellen sind im Anschluss an die T-Welle zu finden. Verlängerungen des QT-Intervalls beziehen sich auf den gesamten Komplex der Erregungsfortbildung (Köhler 2003).
Eine Schwellung der Speicheldrüsen ist charakteristisch für Patienten, die häufig erbrechen und kommt daher eher beim Binge-Eating/Purging-Typus der Anorexia nervosa und bei bulimischen Patienten (7 Abschn. 1.2.2) vor. Ödeme. Ca. 20% der Patienten entwickeln periphere
Ödeme während der Gewichtsnormalisierung (Yücel et al. 2005) oder bei Beendigung eines möglichen Laxanzien- oder Diuretikamissbrauchs (Winston u. Stafford 2000). Diese Ödeme sind meist auf eine erhöhte Flüssigkeitseinlagerung bei steigender Flüssigkeitszunahme durch die Nahrungsrestoration zurückzuführen, sie sollten nicht übersehen werden und differenzialdiagnostisch auf eine mögliche Fehlfunktion von Herz, Leber und Nieren (bei chronischer AN auch Niereninsuffizienz) überprüft werden (Zipfel et al. 2003). Elektrolyte und Mineralstoffe. Auch Elektrolytveränderungen müssen beobachtet werden, da z. B. ein auftretender Kaliummangel im Zusammenhang mit den bereits genannten Arrhythmien des Herzschlages stehen kann. Neben dem Kaliummangel zählen Absenkungen im Natrium-, Magnesium- und Kalziumspiegel zu den auftretenden Elektrolytveränderungen. Selten tritt Zinkmangel auf. Blutbild. Hinsichtlich des Blutbildes kann zudem durch die beständige Mangelernährung bedingt eine Glukoseintoleranz entstehen. Allgemein ist der Blutzuckerspiegel meist zu niedrig. Neben diesen Befunden zeigen sich laborchemisch zudem häufig erhöhte Leberfunktionswerte (Transaminase und Bilirubin) wie auch ein erhöhter Cholesterinspiegel (Zipfel et al. 2003). Das Immunsystem ist meist trotz einer Erniedrigung von Immunoglobulin und Leukozytenzahl intakt. Bei starkem Untergewicht sollten jedoch regelmäßige Kontrollen stattfinden, um schwerwiegende Infektionen zu vermeiden (Zipfel et al. 2003). In 25% der Fälle ist eine Anämie nachweisbar, die meist auch mit einem Eisenmangel einhergeht. Seltener geht das Auftreten einer Anämie auch mit Vitamin-B12- oder Folsäuremangel einher. Endokrinologische Veränderungen. Endokrinologische Veränderungen betreffen vor allem einen Anstieg des Wachstumshormonspiegels (Beumont
9 1.1 · Anorexia nervosa
1998), welcher durch eine Adaption an den niedrigen Energiehaushalt erklärt wird. Oft findet man erniedrigte Schilddrüsenwerte (T3), von denen man annimmt, dass sie die Energiespeicherung bei Mangelernährung unterstützen. Gut untersucht ist die Funktionsweise der HypothalamusHyphophysen-Nebennierenrinden-Achse, welche für die Produktion von Cortisol verantwortlich ist: Studien belegen hier bei Anorexiepatientinnen abnormal erhöhte 24-h-Cortisolsekretionsraten (Fichter u. Pirke 1990). Zu den endokrinologischen Störungen gehören zudem Beeinträchtigungen des Menstruationszyklusses, die vor allem bei Anorexiepatientinnen zu einem Ausbleiben der Regelblutung (Amenorrhoe) führen. Dermatologische Veränderungen. Zuletzt sind die eher weniger schwerwiegenden peripheren und von außen gut sichtbaren dermatologischen Veränderungen zu nennen. Sie zeigen sich in Form von Trockenheit der Haut und Schuppen. Zusätzlich kann eine ernster zu nehmende Blauverfärbung der Lippen (Akrozyanose) oder eine Marmorierung der Haut durch blau verfärbte Adern (Cutis marmorata) auftreten. Die Nägel können sich verfärben, brüchig sein oder sich verformen (sog. Uhrglasnägel). Häufig ist eine Flaumbehaarung des ganzen Körpers zu finden (Lanugobehaarung). Zudem kann es durch die Mangelernährung bedingt zu Haarausfall kommen (Jacobi et al. 2004a).
Langfristige körperliche Symptome und chronische Erkrankungen Veränderungen des Skeletts. In den letzten Jahren
hat es mehrere Arbeiten zur Erforschung möglicher langfristiger Komplikationen im skelettalen Bereich gegeben. Insbesondere das Problem der Osteoporose wurde hierbei untersucht (Crow 2005). Gerade bei anorektischen Patienten, die bereits in der frühen Adoleszenz erkranken, wird bei längerer Krankheitsdauer von Osteoporose berichtet, welche mit einer erhöhten Auftretenshäufigkeit von Knochenbrüchen einhergeht (Zipfel et al. 2000). Untersuchungen zeigten, dass eine höhere Knochendichte meist positiv mit Gewicht, Größe und Sportausübung (Gordon et al. 2002) assoziiert ist, während Lebensalter sowie Alter bei Beginn der Menarche, Krankheitsdauer und Auftreten der Amenorrhoe
1
(Jagielska et al. 2002) negativ mit der Knochendichte korrelieren. Auch konnte eine verminderte Wachstumsrate nachgewiesen werden, welche sich zwar im Rahmen der Gewichtsnormalisierung verbesserte, jedoch insgesamt unter der erwarteten Wachstumsrate der Betroffenen blieb (Modan-Moses et al. 2003). Neurologische Veränderungen. Abschließend sind
noch Befunde zu Veränderungen des Hirnvolumens zu nennen. Eine neuere Studie von Swayze et al. (2003) weist darauf hin, dass sich bei akut Anorexieerkrankten vor einer Gewichtsnormalisierung Reduktionen im Gesamthirnvolumen, der weißen Hirnsubstanz sowie ein Anstieg in der Cerebrospinalflüssigkeit, aber keine Veränderungen in der grauen Hirnmasse zeigen (Swayze et al. 2003). Inwieweit diese Befunde einen Zusammenhang zur Symptomatik haben, bleibt zu klären. Nach der Gewichtsrestoration normalisierten sich diese Veränderungen. Diabetes mellitus Typ 1. Diabetes Mellitus vom Typ 1 wird häufig im Zusammenhang mit Essstörungen berichtet, wobei der Diabetes der Essstörung meist vorausgeht und keine Folge des gestörten Essverhaltens darstellt (Nielsen u. Molbak 1998). Hier kann es zu schwerwiegenden medizinischen Komplikationen kommen, wenn an der Insulindosierung zwecks einer Gewichtsabnahme manipuliert wird (Rydall et al. 1997) Reproduktionsfähigkeit. Die Reproduktionsfähigkeit scheint bei vorhandener Menarche und nach Gewichtsrestoration nicht beeinträchtigt zu sein. Die folgende Übersicht nennt noch einmal die medizinischen Komplikationen und langfristigen Beeinträchtigungen bei Anorexia nervosa.
Medizinische Komplikationen und Langzeitfolgen bei Anorexia nervosa 4 Haut: trocken und schuppig, brüchige Nägel, Lanugobehaarung, Haarausfall, Akrozyanose, Cutis marmorata, Ödeme 4 Mund: Speicheldrüsenschwellung 6
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1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
4 Gastrointestinale Störungen: verlangsamte Magenentleerung, verminderte Darmbewegung und Obstipation 4 Herz-Kreislauf-System: Hypothermie, erniedrigter Blutdruck, Bradykardie; Herzrhythmusstörungen 4 Blutbildveränderungen: erniedrigte Eisenwerte, erhöhte Leberfunktionswerte, erhöhter Cholesterinspiegel, Anstieg von Harnstoff und Kreatinin 4 Störungen des Elektrolyt- und Mineralstoffhaushaltes: Hypokaliämie, erniedrigte Natrium- und Kalziumwerte, selten Zinkmangel 4 Endokrinologische Veränderungen: Hyperaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse, Verringerung der weiblichen Sexualhormone FSH und LH, Verringerung der Schilddrüsenhormone T3, T4 und TSH, erhöhte Wachstumshormonkonzentration 4 Neurologische Auffälligkeiten: Erweiterungen der Liquorräume, abnormer Glukosestoffwechsel 4 Skelett: Kleinwuchs, verringerte Knochendichte bzw. Osteoporose, erhöhte Anzahl von Knochenbrüchen
1.1.4
Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen
Bei der Stellung der Diagnose einer Anorexia nervosa sollten differenzialdiagnostisch mögliche alternative Ursachen für den erheblichen Gewichtsverlust in Betracht gezogen werden, vor allem dann, wenn die beobachteten Symptome nicht typisch für eine Anorexia nervosa sind. So kann sowohl bei medizinischen Krankheitsfaktoren (z. B. gastrointestinalen Erkrankungen) als auch bei der Major Depression oder der Schizophrenie ein erheblicher Gewichtsverlust auftreten, ohne dass die Betroffenen Angst vor einer Gewichtszunahme haben oder eine Körperwahrnehmungsstörung zeigen. Weiterhin lassen sich einige der Merkmale in den Kriterien für die soziale Phobie, die Zwangsstörung und die körper-
dysmorphe Störung finden (Saß et al. 2003). Diese Diagnosen sollten nur dann zusätzlich vergeben werden, wenn sich die auftretenden Sorgen nicht ausschließlich auf Essen, Figur und den Körperumfang beziehen. Abzugrenzen ist die Anorexie auch von der Bulimie, bei der die Personen ihr Körpergewicht um oder über einem Minimum des normalen Körpergewichtes halten. Psychische Störungen, die bei anorektischen Patienten häufig vorkommen, sind depressive Verstimmungen, meist in Form einer Major Depression (Hudson et al. 2005), Angststörungen und Zwangsstörungen sowie zwanghafte Verhaltensmuster, die sich z. B. durch ein bestimmtes Zurechtschneiden von Essen zeigen können. Etwa 37% anorektischer Patienten leiden zusätzlich an einer Zwangsstörung (Thornton u. Russell 1997). Jordan und Mitarbeiter (2002) zeigten beispielsweise, dass die Zwangsstörung insbesondere bei anorektischen Patienten als komorbide Störung auftritt im Vergleich zu depressiven Patienten. Weitere Autoren belegen die hohe Assoziation von Anorexia nervosa und besonders schweren Zwangserkrankungen (Nestadt et al. 2003). Etwa 33% der anorektischen Patienten weisen eine Angststörungg auf. Das Risiko zur Entwicklung einer generalisierten Angststörung ist sogar bis zu 6fach erhöht. Eine neuere Studie konnte zudem nachweisen, dass körperdysmorphe Störungen bei Anorexia-nervosa-Patienten gehäuft zu finden sind (Grant et al. 2002). Des Weiteren scheinen insbesondere Persönlichkeitsstörungen häufig mit Essstörungen assoziiert zu sein. Es wird vermutet, dass Anorexia nervosa eher mit zwanghaft-perfektionistischen Formen von Persönlichkeitsstörungen assoziiert ist (Serpell et al. 2002). Die Befundlage ist jedoch nicht eindeutig. In einer späteren Untersuchung von Grilo und Kollegen (2003) zeigte sich beispielsweise, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit für Persönlichkeitsstörungen bei Essstörungen generell erhöht ist. Neuere Studien warnen allerdings davor, dass die Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen überschätzt wird (Perkins et al. 2005). Weitere Merkmale, die mit der Anorexie einhergehen können, sind Vorbehalte, in der Öffentlichkeit zu essen, das Bedürfnis, die eigene Umwelt zu kontrollieren, Reizbarkeit, rigides Denken, begrenzte Spontaneität und geringe Initiative sowie ein reduzierter emotionaler Ausdruck (Saß et al. 2003).
11 1.1 · Anorexia nervosa
Wie bereits erwähnt, ist ein ebenfalls häufig beschriebenes Persönlichkeitsmerkmal bei Patienten mit Essstörungen der Perfektionismus, welcher einen wichtigen Risikofaktor für die Entstehung der Anorexia nervosa darstellt (Fairburn et al. 1999a). In einigen Untersuchungen zeigte sich, dass der Perfektionismus mit gestörtem Essverhalten sowie mit übermäßigen Sorgen bezüglich Figur und Gewicht assoziiert ist und selbst nach Rückgang der Krankheit bestehen bleibt (Bastiani et al. 1995; Davis 1997). In einer weiteren Studie an 42 magersüchtigen Schülerinnen wurde deutlich, dass die Beziehung zwischen Perfektionismus und dem Streben nach einem dünnen Körper durch Stresssituationen entstehen kann (Ruggiero et al. 2003). Das Ziel des leistungsorientierten und perfektionistischen Denkens ist oftmals, sich und anderen zu beweisen, »etwas Besonderes« zu sein und sich so vom Durchschnitt abzuheben und von anderen Menschen gemocht bzw. nicht abgelehnt zu werden. Im Mittelpunkt des perfektionistischen Strebens bei Frauen mit Essstörungen stehen häufig hohe Anforderungen an sich selbst hinsichtlich des Essens, des Gewichts und der Figur. Es besteht eine enge Verbindung zwischen Selbstwert und Leistungsdenken: Das Streben nach Perfektion besitzt die Funktion, das geringe und meist instabile Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Die aus dem niedrigen Selbstwertgefühl resultierenden Versagensängste werden von dem ständigen Gefühl, die eigenen hohen Ansprüche nicht erfüllen zu können, begleitet und führen zu permanenter Selbstkritik und zu chronischer Selbstabwertung. Durch eine starke Selbstkontrolle (Bruch 1991) soll das befürchtete Versagen bezüglich der eigenen hohen Ansprüche vermieden werden. Um das subjektive Gefühl von Kontrolle zu erhalten, werden die selbst auferlegten Prinzipien hartnäckig verfolgt und bestimmte »Leistungsbereiche« wie Essgewohnheiten, Gewicht oder Figur kontinuierlich überwacht – trotz negativer physischer und psychischer Konsequenzen.
1.1.5
Risikofaktoren, Verlauf und Prognose
Die Anorexia nervosa beginnt oft mit einer rigiden Diät, in der Regel in der mittleren Adoleszenz. In
1
Reaktion auf ein psychisch belastendes Lebensereignis kann sich dann aus dem bereits bestehenden Diätverhalten eine manifeste Essstörung entwickeln. Diätverhalten gilt daher als Risikofaktor. Im Folgenden werden weitere Risikofaktoren erläutert, dabei gilt es neben spezifischen und unspezifischen Risikofaktoren auch stabile und variable Risikofaktoren zu unterscheiden (Kramer et al. 1997). Als spezifische und stabile (»fixed«) Risikofaktoren haben sich in neueren Studien Frühgeburt und Geburtstraumata wie Sauerstoffmangel u. Ä., Geschlecht (weiblich) und Rasse (nichtasiatisch) erwiesen. Als spezifische, aber variable Risikofaktoren gelten Alter (Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter) und ein negatives Körperbild sowie Gewichtssorgen. Ein Großteil der angenommenen Risikofaktoren wie sexueller Missbrauch, familiäre Interaktion, Familiengeschichte, erniedrigtes Selbstwertgefühl, Perfektionismus und Leistungssport gelten teilweise als prädisponierend, konnten jedoch bei der Analyse von Risikofaktoren entweder nicht bestätigt werden bzw. müssen durch weitere Studien repliziert werden. Einen diesbezüglichen Überblick bietet Jacobi (2005). Der Verlauf und die Folgen der Störung sind bei behandelten Patienten sehr unterschiedlich. Während 44% nach 4 Jahren genesen sind, wobei nur 15% einen medizinisch unbedenklichen BMI erreichen, bleiben 25% chronisch krank (LeGrange u. Lock 2005). Diese weisen ein Muster von Gewichtszunahme und Rückfällen auf und leiden weiterhin unter emotionalen Problemen. Der Verlauf bleibt über viele Jahre chronisch, meist sich weiter verschlechternd. Strober (2004) überprüfte den Langzeitverlauf und konnte zeigen, dass bei einem FünfJahres-Follow-up 64% der Patienten gebessert waren. Nach 10 Jahren waren nur noch 15% erkrankt. Im Anschluss daran traten kaum noch Veränderungen auf. In einer neueren Studie von Clausen (2004) konnte gezeigt werden, dass sich die somatischen Krankheitssymptome, wie niedriges Gewicht, Amenorrhoe und essstörungsspezifische Verhaltensweisen der Anorexia nervosa in der Therapie als erstes bessern, während die gedankliche Überbeschäftigung mit Essen, Figur und Gewicht erst im späteren Verlauf abnehmen. Insgesamt hat sich in Follow-upUntersuchungen gezeigt, dass nach Genesung von der Essstörung häufig andere Achse-I-Störungen wie affektive Beeinträchtigungen und Angststörun-
12
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
gen auftreten können (für eine Übersicht s. Steinhausen 2002). Generell gibt es bis heute nur wenig gesichertes Wissen über die Faktoren, die sich in der Behandlung von Essstörungen als prognostisch günstig bzw. ungünstig erweisen. Aus zusammenfassenden Darstellungen zur Verlaufsforschung lässt sich jedoch ableiten, dass vor allem Patienten mit einem frühen Beginn der Störung und kurzfristiger Dauer der Symptome vor erstmaliger Therapie eine günstige Prognose haben (vgl. Reich u. Cierpka 1997). Weitere günstige Verlaufsprädiktoren stellen die Qualität der direkten sozialen Kontakte, eine größtmögliche Transparenz während der Therapie sowie eine offene und vertrauensvolle therapeutische Beziehung dar (Gerlinghoff et al. 1999). Als prognostisch ungünstig im stationären Kontext gelten hingegen eine längere Krankheitsdauer vor Behandlungsbeginn, ein geringes Aufnahmegewicht und ein niedriges Entlassungsgewicht (Reich 1997). Ebenso ergaben sich Komorbidität, Alkoholabhängigkeit, mehrere Suizidversuche in der Vorgeschichte sowie extreme Störungen des Körperbildes als Prädiktoren für einen ungünstigen Krankheitsverlauf (Herzog et al. 1988). In einer neueren Studie (Castro et al. 2004) konnte ein Teil der bereits genannten Prädiktoren repliziert werden. Die Autoren zeigten, dass eine Rehospitalisierung trotz erfolgreicher Gewichtszunahme bei Entlassung dann auftrat, wenn die Patienten bei Aufnahme jünger als 15 Jahre alt waren, weniger als 150 g pro Tag im Durchschnitt über die gesamte Zeit zugenommen und ein stärker ausgeprägtes gestörtes Essverhalten hatten. Zusätzlich scheinen Persönlichkeitsstörungen sowie insbesondere bei Anorexia nervosa gehäuft auftretende Zwangsstörungen eher mit einem früheren Krankheitsbeginn und einer längeren Krankheitsdauer sowie einem schlechteren Verlauf assoziiert zu sein (Milos et al. 2003). Ein weiterer Faktor, der den Verlauf der Essstörung nachteilig beeinflussen kann, ist der bereits beschriebene Perfektionismus. Durch die oft rigiden Verhaltensweisen und perfektionistischen Grundüberzeugungen der Patienten kann beispielweise der Fortschritt der Therapie erschwert oder ein Krankheitsrückfall begünstigt werden. So konnte in einer Untersuchung an 73 stationär behandelten Anorexiepatienten (Sutandar-Pinnock et al. 2003) gezeigt werden, dass hohe Perfektionismuswerte zu Beginn der
Therapie mit einem geringen Behandlungserfolg einhergehen. Unabhängig vom Behandlungsergebnis zeigten sich bei der 15-Monats-Katamnese jedoch bei allen Patienten weiterhin signifikant höhere Perfektionismuswerte als bei gesunden Kontrollpersonen.
Bulimia nervosa
1.2
Auch bulimische Patienten haben wie auch Betroffene von AN meist rigide Regeln bezüglich des Essverhaltens und verfolgen ein extremes Schlankheitsideal. Dies wird anhand der folgenden 10 Regeln einer bulimischen Patientin deutlich (aus taz Nr. 6915 vom 27.11.2002): Fallbeispiel 10 Regeln 1. Wenn ich nicht dünn bin, kann ich nicht attraktiv sein. 2. Dünn sein ist wichtiger als gesund sein! 3. Ich muss alles dafür tun, um dünner auszusehen/dünner zu sein. 4. Du sollst nicht essen, ohne dich schuldig zu fühlen. 5. Du sollst keine »Dickmacher« essen, ohne hinterher Gegenmaßnahmen zu ergreifen. 6. Du sollst Kalorien zählen und deine Nahrungsaufnahme dementsprechend regulieren. 7. Die Anzeige der Waage ist wichtiger als alles andere. 8. Gewichtsverlust ist GUT, eine Zunahme ist SCHLECHT. 9. Du bist NIE zu dünn. 10. Nahrungsverweigerung und dünn sein sind die Zeichen wahren Erfolges und wahrer Stärke.
1.2.1
Epidemiologie
Prävalenz Die Auftretenswahrscheinlichkeit der Bulimia nervosa ist ca. 3-mal höher als die der Anorexia nervosa. Im angloamerikanischen Raum scheinen stabile Prävalenzraten um 1% für Bulimia nervosa seit den 90er Jahren vorzuliegen (van Hoeken et al. 2003). Unter-
13 1.2 · Bulimia nervosa
suchungen aus dem deutschsprachigen Raum verweisen auf Prävalenzraten im jungen Erwachsenenalter zwischen 1 und 3% (de Zwaan u. Schüssler 2000). In einer Untersuchung von Westenhöfer (2001) sank die Prävalenzrate für Frauen hinsichtlich der Bulimia nervosa von 2,4% im Jahre 1990 auf 1,1% im Jahre 1997. Auch für Männer wurde 1990 eine erstaunlich hohe Prävalenzrate von 2,1% berichtet, welche sich 7 Jahre später auf 1,1% reduzierte.
Inzidenz Während es einige gute epidemiologische Studien zu Inzidenzraten bei der Anorexia nervosa gibt, existieren nur wenige analoge Untersuchungen zur Bulimia nervosa. Dies wird auf den späten Einschluss der Bulimia nervosa in das DSM zurückgeführt (7 Abschn. 1.2.2, van Hoeken et al. 2003). Die wenigen Studien nutzten die ICD-10 zur Diagnosestellung. Als Datengrundlage wurden zumeist medizinische Datenbanken (Turnbull et al. 1996) oder Aufzeichnungen von Krankenakten aus Allgemeinarztpraxen oder Krankenhäusern (Soundy et al. 1995) verwertet. Aus diesen ergaben sich Inzidenzraten von 11,5 bis 13,5 Fällen pro 100.000 Einwohner. Ähnlich wie bei der Anorexia nervosa verzeichnet man die höchste Anzahl von Neuerkrankungen bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 20 und 24 Jahren, welche bei 82 Fällen pro 100.000 Einwohner liegen (Hoek et al. 1995). Hinsichtlich der Inzidenzraten werden Zuwächse von ca. 15% Neuerkrankungen pro Jahr für die Zeit zwischen 1988 und 1993 berichtet (Turnbull et al. 1996), was im Zusammenhang mit der Neueinführung der Diagnose gesehen werden könnte. Getrennt nach Geschlechtern liegen die Inzidenzraten bei 26,5 Fällen für Frauen und bei 0,8 Fällen für Männer pro 100.000 Einwohner (Soundy et al. 1995). Dies entspricht einem Verhältnis von 33:1 Frauen zu Männern in der Neuerkrankungsrate. Anzumerken ist jedoch, dass die Bulimia nervosa im Unterschied zur Anorexia nervosa durch das meist normale Gewicht den Betroffenen nicht anzusehen ist. Zudem ist die Erkrankung durch die mit Kontrollverlust und Erbrechen einhergehenden Essanfälle bei den Betroffenen meist stark schambesetzt und wird eher verheimlicht als die Anorexia nervosa. Daher ist davon auszugehen, dass es eine größere Dunkelziffer gibt und die tatsächlichen Inzidenzraten wahrscheinlich höher liegen.
1
Mortalitätsrate Auch bei der Festlegung der Mortalitätsrate kann auf deutlich weniger wissenschaftliche Untersuchungen zurückgegriffen werden als bei der Anorexia nervosa. Die Mortalitätshäufigkeit bei Bulimia nervosa, gemittelt aus zwei Metaanalysen (in van Hoeken et al. 2003) beträgt 11 Tote bei 2692 untersuchten Patienten. In Prozent umgerechnet beträgt die Mortalitätsrate damit 0,4%. Standardisierte Mortalitätsraten liegen nur aus einer Studie vor (Nielsen 2001) und betragen 7,4% bei einem Nachuntersuchungszeitraum von 5–11 Jahren. Das Mortalitätsrisiko wäre damit bei einer Bulimia nervosa noch mal deutlich höher als bei Anorexia nervosa. Diese hohe Zahl ist sehr kritisch zu sehen und wird auf Kohorteneffekte in der Stichprobe von Nielsen zurückgeführt (van Hoeken et al. 2003). Angaben zu den Todesursachen werden nicht gemacht. Die Datenlage zur Mortalität bei Bulimia nervosa ist tatsächlich als eher schlecht zu bezeichnen, so dass es zur Klärung weiterer Analysen bedarf. Die hier berichteten Ergebnisse sind kritisch zu hinterfragen.
1.2.2
Diagnosekriterien
Im Folgenden werden zunächst die Diagnosekriterien der Bulimia nervosa nach DSM-IVTR (Saß et al. 2003) vorgestellt, gefolgt von einer Darstellung der ICD-Kriterien sowie einer Gegenüberstellung der Kriterien beider Klassifikationssysteme. Das Stellen der Diagnose einer Bulimia nervosa erfordert als Kardinalsymptom das regelmäßige Auftreten von sog. »Fressattacken« (Kriterium A). Bei diesen Anfällen wird eine extrem hohe Nahrungsmenge innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes aufgenommen (Kriterium A1). Die Betroffenen nehmen dabei deutlich mehr Nahrungsmittel zu sich als es normalerweise, auch im Rahmen von ausgiebigen Mahlzeiten, der Fall ist. Die Zeitspanne beschränkt sich meist auf unter 2 Stunden, ist aber in jedem Fall eng umgrenzt. Übermäßiges Essen auf einen ganzen Tag verteilt kann demnach nicht als Essanfall bezeichnet werden. Auch finden Essanfälle typischerweise heimlich statt. Begleitet von Schuldund Schamgefühlen werden sie vor der Außenwelt versteckt. Ein weiteres entscheidendes Kriterium
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1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
stellt der Kontrollverlust im Zusammenhang mit den Fressattacken dar (Kriterium A2). Insbesondere zu Beginn der Krankheit können hierbei ekstaseähnliche oder sogar dissoziative Empfindungen vorherrschen. Später steht vor allem das Gefühl der Unfähigkeit, die Nahrungsaufnahme während des Anfalls zu stoppen, im Vordergrund. Zwingend zur Stellung der Diagnose einer Bulimia nervosa sind des Weiteren gegensteuernde Maßnahmen, welche infolge eines Essanfalls gezeigt werden (Kriterium B). Um eine Gewichtszunahme durch die zuvor aufgenommen Nahrungsmittel zu verhindern, werden diese durch meist unangemessene Methoden wieder aus dem Körper entfernt. Am häufigsten wird hierbei das selbstinduzierte Erbrechen eingesetzt. Von Gefühlen der Erleichterung begleitet, kann das Erbrechen im Laufe der Erkrankung auch zum eigentlichen Zweck der Essanfälle werden. Weitere gegensteuernde Maßnahmen sind Laxanziengebrauch, der Einsatz von Diuretika und in seltenen Fällen auch von Klistieren. Neben diesen kompensatorischen Strategien versuchen betroffene Personen durch restriktives Essverhalten bis hin zu Hungerkuren und übermäßige sportliche Betätigung den Folgen der Essanfälle entgegenzusteuern. Bei Vorliegen einer Bulimia nervosa müssen die durch gegensteuernde Maßnahmen gefolgten Essanfälle mindestens zweimal wöchentlich über einen Zeitraum von etwa 3 Monaten auftreten (Kriterium C). Ähnlich wie bei der Anorexia nervosa haben Körpergewicht und Figur eine extrem hohe Bedeutung für Personen mit Bulimia nervosa (Kriterium D). An ihnen wird in unangemessener Weise der gesamte Selbstwert festgemacht. Differenzialdiagnostisch zu beachten ist, dass die Diagnose der Bulimia nervosa nicht vergeben werden darf, wenn die oben genannten Symptome im Rahmen einer Anorexia-nervosa-Episode auftreten, wie es vor allem beim Binge-Eating/Purging-Typus der Fall sein kann (Kriterium E). Wie auch bei der Anorexia nervosa können bei der Bulimia nervosa zwei Subtypen unterschieden werden, und zwar der Purging-Typus und der Non-Purging-Typus. Bei der Purging-Form versuchen die Betroffenen, die Essanfälle mit Erbrechen oder dem Gebrauch von Laxanzien, Diuretika oder Einläufen zu kompensieren. Bei der Non-Purging-Form finden als gegensteuernde Maßnahmen striktes Fasten oder exzessive körperliche Bewegung
statt (APA1994). Die kurzfristigen Maßnahmen wie Erbrechen treten allerdings bei dieser Form gar nicht oder zumindest nicht regelmäßig auf (Saß et al. 2003).
DSM-IV-TR-Kriterien 307.51 Bulimia nervosa A. Wiederholte Episoden von »Fressattacken« (»Binge-Eating«). Eine Fressattacken-Episode ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale: 1. Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraumes von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist, als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum und unter vergleichbaren Bedingungen essen würden. 2. Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, weder mit dem Essen aufhören zu können, noch Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben). B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen, wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika, Klistieren oder anderen Arzneimitteln, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung. C. Die Fressattacken und das unangemessene Kompensationsverhalten kommen 3 Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche vor. D. Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung. E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia nervosa auf. Hinsichtlich der kompensatorischen Verhaltensweisen unterscheidet man zwei Subtypen: »Purging-Typus«: Die Person induziert während der aktuellen Episode der Bulimia nervosa 6
15 1.2 · Bulimia nervosa
regelmäßig Erbrechen oder missbraucht Laxanzien, Diuretika oder Klistiere. »Nicht-Purging-Typus«: Die Person hat während der aktuellen Episode der Bulimia nervosa andere unangemessene, einer Gewichtszunahme gegensteuernde Maßnahmen gezeigt wie beispielsweise Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung, hat aber nicht regelmäßig Erbrechen induziert oder Laxanzien, Diuretika oder Klistiere missbraucht.
Im Wesentlichen sind die Diagnosekriterien der ICD-10 mit denen des DSM-IV-TR vergleichbar. Hauptunterschiede zwischen beiden Klassifikationssystemen beziehen sich auf die Definition von Essanfällen und die Körperbildstörung. In der ICD-10 ist die Definition für Essanfälle weitaus schwammiger, da diese nicht wie im DSM-IV-TR dadurch gekennzeichnet sind, dass die verzehrte Menge größer ist als die von den meisten Menschen unter vergleichbaren Umständen konsumierte. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass in der ICD-10 die ständige Beschäftigung mit Essen genannt wird. Zudem werden unterschiedliche Arten von kompensatorischen Verhaltensweisen beschrieben, (7 Übersichten). Die Angst vor einer Gewichtszunahme ist in der ICD als eigenständiges Diagnosekriterium in Form krankhafter Furcht davor, dick zu werden, sowie als selbst gesetzte Gewichtsgrenze weit unterhalb des prämorbiden vom Arzt als optimal oder gesund betrachteten Gewichtes beschrieben. Im DSM-IVTR (Saß et al. 2003) werden dagegen nur die übermäßige Bewertung von Figur und Gewicht für das Selbstwertgefühl als ein Kriterium genannt. Dieses wird in der ICD-10 nicht gefordert. Nachfolgend werden die ICD-10-Kriterien als Übersicht dargestellt.
ICD-10-Kriterien F50.2 Bulimia nervosa A. Häufige Episoden von Fressattacken (in einem Zeitraum von 3 Monaten mindestens zweimal pro Woche), bei denen große Men6
B.
C.
1. 2. 3. 4.
D.
1.2.3
1
gen an Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden. Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, eine unwiderstehliche Gier oder Zwang zu essen. Die Patienten versuchen, der Gewichtszunahme durch die Nahrung mit einer oder mehreren der folgenden Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikerinnen auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen. Selbstwahrnehmung als »zu fett«, mit einer sich aufdrängenden Furcht, zu dick zu werden (was meist zu Untergewicht führt).
Symptomatik
Beschreibung des Störungsbildes Während das Krankheitsbild der Anorexia nervosa bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts z. B. von Lasegue (1873) erläutert wurde, wurde die Bulimia nervosa erst Anfang der 80er Jahre als eigenständige Essstörung beschrieben (Russel 1979). Zuvor wurde die Bulimia nervosa als Subkategorie der Anorexia nervosa eingeordnet, da auch bei einer Vielzahl anorektischer Patienten regelmäßige Essanfälle mit nachfolgendem Kompensationsverhalten beobachtet wurden (Garfinkel et al. 1980). Aufgrund des im Vergleich zur Anorexie höheren Durchschnittsgewichts bei der Bulimie, welches meist im Normalbereich liegt, wurde die Bulimia nervosa als eigenständige Essstörung ins DSM-III (APA 1980) aufgenommen. Das Hauptmerkmal der Bulimie ist das wiederholte Auftreten von Essanfällen, bei denen in sehr kurzer Zeit große Nahrungsmengen oft unkontrolliert verschlungen werden (APA 1994). Solche »Fressattacken« dauern zwischen 15 und 60 Minuten und treten durchschnittlich etwa 10 Mal pro Woche auf.
16
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
Meist finden sie im Geheimen statt, und die Patienten treffen Vorsichtsmaßnahmen, um nicht dabei entdeckt zu werden. Der durchschnittliche während einer solchen Episode konsumierte Energiegehalt liegt bei ca. 3000–4000 kcal. Im Rahmen einer Essattacke werden süße und hochkalorische Lebensmittel präferiert, auf welche die Patienten normalerweise verzichten. Charakteristisch scheint jedoch eher der Konsum einer abnormen Menge an Nahrungsmitteln zu sein als ein Verlangen nach bestimmten Nährstoffen. Neben diesen episodischen Essanfällen zeigen die Patienten meist ein stark gezügeltes Essverhalten bzw. intermittierendes Fasten, was mit der Zeit zu einem biologischen Zustand der Mangelernährung führt. Ein weiteres wichtiges Merkmal sind die der Fressattacke oft folgenden kompensatorischen und »selbstreinigenden« Verhaltensweisen, wie z. B. selbstinduziertes Erbrechen, übermäßige körperliche Bewegung, Fastenkuren, Missbrauch von Laxanzien (Abführmittel), Diuretika (Entwässerungsmittel) oder anderen Substanzen. Neuere Studien berichten von ca. 18% bzw. 21% der Betroffenen, die einen Tablettenmissbrauch (Diätpillen bzw. Diuretika) im letzten Monat angeben (Roerig et al. 2003). Diese können das von den Patienten empfundene unangenehme körperliche Völlegefühl rasch lindern und die Angst vor einer Gewichtszunahme – zumindest kurzfristig – reduzieren. Des Weiteren haben die Heißhungeranfälle und das nachfolgende Erbrechen die Funktion, Spannung abzubauen, wodurch die Symptomatik aufrechterhalten wird. Den Patienten fällt es oft schwer, Gefühle wie Ärger, Wut, Traurigkeit oder Einsamkeit zu tolerieren, so dass die Ess-Brech-Anfälle eine dysfunktionale Emotionsregulationsstrategie darstellen. So werden durch das gestörte Essverhalten negative Gefühlszustände frühzeitig beendet, gefolgt von Gefühlen der »Betäubung« und Erschöpfung. Gleichzeitig tritt meist im Anschluss an die Heißhungerattacke mit Erbrechen eine extreme Selbstkritik, Schuldgefühle und eine depressive Stimmungslage auf. Längerfristig führt der beschriebene Teufelskreis durch die Ablenkung bzw. Verschiebung des negativen Affektes zu einer Aufrechterhaltung des gestörten Verhaltens. Psychologisch auffällig ist bei bulimischen Patienten des Weiteren die übertriebene Beschäftigung
mit Figur und Gewicht bzw. die panische Angst vor einer Gewichtszunahme sowie die überragende Bedeutung dieser körperlichen Merkmale für das Selbstwertgefühl. Das reale Gewicht bulimischer Frauen schwankt beträchtlich. Sie können normalgewichtig, untergewichtig, aber auch übergewichtig sein. Ähnlich wie bei der Anorexie zeigt sich bei vielen Betroffenen eine Störung des Körperbildes, d. h. die Wahrnehmung des eigenen Körpers wird verzerrt, und die emotionale Qualität, in welcher der eigene Körper erlebt wird, verändert sich ins Negative.
Medizinische Folgeerscheinungen Ähnlich wie bei der Anorexia nervosa sind auch bei der Bulimia nervosa kurzfristige bzw. akute körperliche Beschwerden und Probleme von langfristigen und chronischen Beeinträchtigungen zu unterscheiden. In vielen Bereichen sind diese Komplikationen bei der Anorexie deutlich besser untersucht als bei der Bulimie. Aufgrund der vielen Parallelen beider Essstörungsformen wie beispielsweise der eingesetzten Strategien zur Gewichtsreduktion und der Mangelernährung ähneln sich die körperlichen Beeinträchtigungen stark. Daher soll im Folgenden nur vertiefend auf bulimiespezifische Problembereiche und Komplikationen eingegangen werden. Die Folgeerscheinungen der Bulimia nervosa machen eine gründliche medizinische Überprüfung bei Behandlungsbeginn (wie auch bei der Anorexia nervosa) zwingend erforderlich.
Kurzfristige körperliche Symptome und medizinische Komplikationen Gastrointestinales System. Aufgrund des häufigen
Erbrechens geht das Störungsbild der Bulimie oft mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Gastrointestinaltraktes einher. So kann es durch die beim Erbrechen in die Speiseröhre gelangende Magensäure sowohl zu Entzündungen und Verletzungen der Speiseröhrenschleimhaut als auch in seltenen Fällen zu Rissen kommen (Zipfel et al. 2003). Im Magenbereich sind Magenschleimhautentzündungen zu nennen, seltener kommt es zu einer Magenwandperforation. Auch Pankreatitis wird beschrieben (Birmingham u. Boone 2004). Durch das häufige Erbrechen kommt es darüber hinaus häufig zu Zahnbeschwerden wie der Zersetzung des Zahn-
17 1.2 · Bulimia nervosa
schmelzes, zu Schwellungen der Speicheldrüsen sowie zu Entzündungen der Rachenschleimhaut. Elektroloythaushalt. Weitere Folgen des Erbrechens stellen Flüssigkeits- und Elektrolytabnormitäten dar, welche mit den bereits im 7 Abschn. 1.1.2 bei der Anorexia nervosa beschriebenen Veränderungen vergleichbar sind. Durch die Elektrolytanormalitäten, insbesondere Kalium- und Natriumsenkungen, kann es zu Nierenschäden kommen. Vor allem bei Bulimia nervosa gibt es ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer metabolischen Alkalose. Diese geht mit einer Verschiebung des ph-Wertes in basische Richtung einher und wird vom Körper durch die Einführung von Kalium in die Zellen beantwortet. Durch diesen Verschiebungsprozess entsteht Kaliummangel außerhalb der Zellen, und es treten Symptome wie Muskelverkrampfungen, Atemverflachung oder Extrasystolen am Herzen auf (Zipfel et al. 2003).
1
chronische Erkrankungen mit Bulimia nervosa assoziiert. Zu nennen sind hierbei Osteoporose, reproduktive Komplikationen und ebenfalls eine gehäufte Komorbidität mit Diabetes Mellitus. Veränderungen des Skeletts. Osteoporose wird im
Zusammenhang mit Bulimia nervosa weitaus weniger häufiger berichtet als bei der Anorexia nervosa (Crow 2005). In den letzten 10 Jahren wurden mehrere Untersuchungen zur Auftretenshäufigkeit von Osteoporose oder verminderter Knochendichte bei bulimischen Patienten durchgeführt. Die Befundlage ist jedoch als inkonsistent zu bezeichnen. Zipfel und Kollegen (2003) nehmen an, dass durch eine starke Gewichtsabnahme und Untergewicht die Knochendichte abnimmt, während es bei normalgewichtigen Frauen mit einer Bulimia nervosa ohne rapide Gewichtsabnahmen nicht zu einer verminderten Knochendichte kommt. Reproduktionsfähigkeit. Beeinträchtigungen des
Blutbild und kardiovaskuläre Probleme. Verände-
rungen der Blutwerte wie Anämie oder eine Absenkung der Leukozytenzahlen sind bei Bulimia nervosa weitaus seltener als bei Anorexia nervosa. Hinsichtlich kardiovaskulärer Veränderungen scheint die Befundlage bei Anorexia nervosa hingegen deutlich besser zu sein, allerdings gibt es nur wenige Studien, die kardiale Veränderungen bei der Bulimia nervosa näher untersucht haben (Sharp u. Freeman 1993). Aufgrund der bereits erwähnten Herzarrhythmien sollte eine Medikation mit trizyklischen Antidepressiva oder Neuroleptika vermieden werden, da diese eine Verlängerung des QT-Intervalls hervorrufen könnten (Zipfel et al. 2003). Endokrinologische Veränderungen. Hinsichtlich
endokrinologischer Veränderungen ist bei der Bulimia nervosa trotz selten bestehenden Untergewichts in 20–50% der Fälle eine Amenorrhoe zu berichten. 40% geben überhaupt Unregelmäßigkeiten im Zyklus an (Zipfel et al. 2003).
Langfristige körperliche Symptome und chronische Erkrankungen bei der Bulimia nervosa Neben den akuten medizinischen und körperlichen Veränderungen und Beeinträchtigungen sind einige
reproduktiven Systems bei Bulimia nervosa sind einerseits bei akuter Erkrankung mit Unregelmäßigkeiten bei der Menarche verbunden, langfristig scheint die Fruchtbarkeit allerdings nur in den ersten Jahren beeinträchtigt zu sein, während im Langzeitverlauf 75% der bulimieerkrankten Frauen Kinder empfangen konnten (Crow et al. 2002). In letzter Zeit rückte zudem eine mögliche Verbindung zwischen Essstörungen und dem polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS) in den Fokus. Bislang sind nur wenige Studienergebnisse bekannt. Es existieren erste Hinweise auf ein gehäuftes Vorkommen zystischer Veränderungen der Eierstöcke bei bulimischen Patientinnen (Morgan et al. 2002). Es scheint allerdings, dass sich bei Remission der Essstörung auch die Ovarien normalisieren. Diabetes mellitus. Des Weiteren konnte in klini-
schen Untersuchungen ein Zusammenhang zwischen Essstörungen und Diabetes mellitus, sowohl von Typ 1 als auch Typ 2, nachgewiesen werden (Crow et al. 1998), wobei der Diabetes meist vor der Essstörung bestand und daher eher als Risikofaktor zu sehen ist (Goodwin et al. 2003). Als gesichert gilt jedoch, dass bei einer komorbiden diabetischen Erkrankung vom Typ 1 Manipulationen mit Insulin, das sog. »Insulin-Purging«, beschrieben werden.
18
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
Durch die unzureichende Insulinsubstitution werden so die möglichen Folgen eines Diabetes (z. B. Nervenschädigungen) verstärkt (Crow et al. 1998).
Medizinische Komplikationen und Langzeitfolgen bei Bulimia nervosa 4 Haut: trocken und schuppig, brüchige Nägel, Haarausfall, Akrozyanose, Cutis marmorata, Ödeme 4 Mund: Speicheldrüsenschwellung, Siliadose 4 Gastrointestinale Störungen: Risse und Verletzungen der Speiseröhre, Ösophagitis, verlangsamte Magenentleerung, verminderte Darmbewegung und Obstipation 4 Herz-Kreislauf-System: Hypothermie, erniedrigter Blutdruck, Bradykardie, Sinusbradykardie, Herzrhythmusstörungen 4 Blutbildveränderungen: Eisenmangel, Hypercholesterinämie, Anstieg von Harnstoff und Kreatinin 4 Störungen des Elektrolyt- und Mineralstoffhaushaltes: erniedrigtes Kalium, Natrium und Kalzium, selten Zinkmangel 4 Endokrinologische Veränderungen: Hyperaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, Verringerung von Sexualhormonen (FSH und LH), Erniedrigung der Schilddrüsenhormone (T3, T4 und TSH), erhöhtes Wachstumshormon 4 Skelett: erhöhtes Osteoporoserisiko
1.2.4
Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen
Häufig treten im Zusammenhang mit der Bulimia nervosa weitere psychiatrische Störungen auf. Die höchste Komorbiditätsrate weisen dabei affektive Störungen (vor allem dysthyme Störung und Major Depression) auf, was sowohl auf familiäre als auch genetische Bedingungen zurückgeführt wird (Mangweth et al. 2003). Die Lebenszeitprävalenz für klinisch relevante Depressionen bei Frauen mit einer diagnostizierten Bulimia nervosa ist mit 46% wesentlich höher als für die Allgemeinbevölkerung.
Die depressiven Symptome können sowohl vor, während als auch nach der bulimischen Erkrankung auftreten. Neuere Studien weisen darauf hin, dass eine Dysthymie anscheinend deutlich häufiger auftritt als angenommen (Perez et al. 2004). Des Weiteren beschreiben Frauen mit einer Bulimia nervosa häufig Angstsymptome, welche sich meist auf soziale Situationen beziehen, in denen es zur Bewertung von Aussehen oder Leistung kommen kann. Gedanken wie »Die lachen bestimmt über mich« oder »Das schaffe ich nicht« führen zu erhöhter Anspannung und können Angstsymptome hervorrufen, welche dann zur Vermeidung der Situation führen. Dies hat auch Auswirkungen auf den Therapieprozess. So konnten Goodwin und Fitzgibbon (2002) zeigen, dass sich bulimische Patienten mit einer komorbiden sozialen Phobie weniger engagiert bei der Behandlung zeigten. Zwanghafte Symptome beziehen sich häufig auf das ritualisierte Vorgehen bei Essanfällen, Putzen der Wohnung und Ähnlichem. Häufig kommt es auch zu vermehrtem Alkoholkonsum, um soziale Ängste zu unterdrücken oder Einsamkeitssituationen zu bewältigen bzw. negative Gefühle zu kompensieren. Des Weiteren werden häufig Amphetamine oder andere Stimulanzien eingenommen, um das Hungergefühl zu unterdrücken. Eine erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit von komorbidem Substanzmissbrauch oder einer Substanzabhängigkeit wurde v.a. bei Frauen mit BN und BED mit sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte gefunden (Dohm et al. 2002). Die prämorbide Persönlichkeitsstruktur erscheint vor allem depressiv, es zeigen sich aber auch autoaggressive Tendenzen, mangelnde Kontrollfähigkeit, Impulsivität und ein labiles Affektverhalten. So zeigen sich beispielsweise Impulskontrollstörungen und damit assoziierte Persönlichkeitsstörungen gehäuft bei Patienten mit Bulimia nervosa (Grilo et al. 2003). Insgesamt scheinen Persönlichkeitsstörungen durchaus häufiger bei Patienten mit Essstörungen aufzutreten. Etwa ein Drittel der Bulimiepatienten zeigt Merkmale einer Persönlichkeitsstörung, am häufigsten ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung vertreten (Grilo et al. 2003). Eine neuere Studie ergab Hinweise auf die Existenz zweier Subtypen von Komorbiditätsmustern. Der erste Subtypus ist demnach mit Depressionen
19 1.3 · Essstörungen bei Männern
verbunden, während der zweite durch komorbide Angst- und Persönlichkeitsstörungen gekennzeichnet ist. Letzterer ist zudem mit verschiedenen Risikoverhaltensweisen wie vermehrtem Alkohol- und Tabakkonsum, höheren Suizidalitätsraten, defizitärer Impulskontrolle und einem geringen generellen Funktionsniveau assoziiert (Duncan et al. 2005). Als weitere wichtige Merkmale sind bei der Bulimia nervosa das perfektionistische Denken und der Wunsch nach Kontrolle zu nennen – allerdings sind sie hier zumeist geringer ausgeprägt als bei Patienten mit einer Anorexie.
1.2.5
Risikofaktoren, Verlauf und Prognose
Die Störung beginnt meist zwischen dem 15. und 21. Lebensjahr und tritt gehäuft bei Frauen mit leichtem bis mäßigem Übergewicht auf. Als störungsspezifische Risikofaktoren gelten insbesondere bei der Bulimia nervosa auf der individuellen Ebene Übergewicht der Eltern, eigenes Übergewicht in der Kindheit und negative bzw. kritische Bemerkungen der Familie über Figur, Gewicht und Aussehen (eine Übersicht s. Fairburn et al. 1997). Zudem erwiesen sich früher Beginn der Pubertät und das weibliche Geschlecht als unspezifische, aber stabile Faktoren für die Entwicklung einer Bulimia nervosa. Jacobi (2005) beschreibt in ihrer Übersicht zu psychosozialen Risikofaktoren bei Essstörungen insbesondere für Bulimia nervosa einen Einfluss von Gesundheitsproblemen in der frühen Kindheit. In Übereinstimmung mit früheren Arbeiten (Fairburn et al. 1997) scheint sich der Einfluss von Gewichtssorgen, Diätverhalten und einem negativen Körperbild als spezifischer, aber variabler Einflussfaktor zu bestätigen. Einschränkend merkt Jacobi (2005) allerdings an, dass die Spezifität von Gewichtssorgen noch repliziert werden muss. Als unspezifischer Risikofaktor wird zumindest frühere psychiatrische Komorbidität eingestuft. Ähnliches gilt für das Auftreten von sexuellem Missbrauch und einem niedrigen Selbstwertgefühl. Jedoch muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund uneinheitlicher Datenlage bzw. fehlender Längsschnittstudien ähnlich wie bei der Anorexia nervosa keine Aussagen zu möglichen Einflüssen
1
von familialer Dysfunktion, Bindungsstilen und familiärer Psychopathologie auf die Entwicklung einer Bulimia nervosa gemacht werden (Jacobi 2005). Es scheint jedoch so zu sein, dass psychische Störungen im frühen Erwachsenenalter wie Depressionen und Angststörungen mit einer erhöhten Auftretenshäufigkeit von Essstörungen vom bulimischen Typus assoziiert sind (Johnson et al. 2002). Der häufig in ätiologischen Modellen beschriebene Perfektionismus (vgl. Fairburn et al. 2003) scheint in verschiedenen Studien weniger als Prädiktor denn als Korrelat zur Bulimia nervosa aufzutreten. Ähnliches gilt für die Fähigkeit zur interozeptiven Wahrnehmung (Leon et al. 1999). Jacobi (2005) führt zudem Fluchtund vermeidendes Bewältigungsverhalten als auch wahrgenommene geringe soziale Unterstützung sowie erhöhte Neurotizismuswerte als variable Risikofaktoren für Bulimia nervosa auf. Der Beginn der Störung lässt sich meist in der späten Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter ausmachen (7 Abschn. 1.2.1). Dabei setzen bulimische Muster oftmals nach Phasen strenger Diät ein. In der Krankengeschichte finden sich nicht selten Episoden einer Anorexie, die vor der Bulimie aufgetreten sind (Fichter 1997). Weitere frühe psychopathologische Anzeichen einer Bulimie sind Rückzug und soziale Isolation sowie negative Veränderungen im Körper- und Selbstbild. Das gestörte Essverhalten besteht bei den meisten seit einigen Jahren, bevor sie sich in Behandlung begeben. Der Verlauf von etwa 40% der an Bulimie Erkrankten ist entweder chronisch oder intermittierend (Jacobi et al. 2000), d. h. Remissionsphasen wechseln sich mit dem Wiederauftreten von »Fressattacken« ab. Bei weiteren 40% zeigt sich nach Therapieende eine vollständige Besserung der Krankheit.
1.3
Essstörungen bei Männern
Die Prävalenz für Essstörungen ist bei Frauen gegenüber Männern deutlich erhöht. Dabei scheint sich allerdings die Essstörungssymptomatik an sich bei Männern und Frauen nicht deutlich zu unterscheiden (Woodside et al. 2001). Unterschiede bestehen vor allem hinsichtlich des Alters bei Beginn der Essstörung (bei Männern im Alter von 18 bis 26 Jahren
20
1
Kapitel 1 · Beschreibung der Störungsbilder
gegenüber 12 bis 18 Jahren bei Frauen), dem prämorbiden Gewicht (64% der männlichen Patienten berichten Übergewicht vor Beginn der Störung gegenüber 37% der Frauen; Herzog et al. 1984), dem Körperbild (muskulöser anstatt schlanker) sowie hinsichtlich ernährungsbezogener und sportlicher Aspekte. Zum Beispiel erscheinen Männer mit einer Anorexia nervosa hyperaktiver und machen deutlich mehr Sport als weibliche Anorexiepatienten (Fichter u. Krenn 2003). Zudem scheint ein Substanzmissbrauch bzw. eine Substanzabhängigkeit deutlich häufiger aufzutreten. Insgesamt scheinen Männer weniger stark ausgeprägte psychopathologische Merkmale zu zeigen: So nehmen sie weniger häufig Laxanzien, Diuretika oder Diätpillen ein, sind weniger um ihr Gewicht besorgt und leiden weniger unter Essanfällen und Gewichtsschwankungen (Fichter u. Krenn 2003). Die wenigen Therapiestudien, welche Männer untersuchten, zeigen gegenüber Frauen ein etwas schlechteres Ergebnis; nur ein Drittel der Männer war deutlich gebessert, ein Drittel wies Restsymptome auf, und ein Drittel konnte nicht von der Behandlung profitieren (Andersen 1992). Eine Follow-up-Studie zum Therapieverlauf nach stationärer Behandlung zeigte bessere Ergebnisse: Im Durchschnitt erreichten die männlichen Patienten ein normales Körpergewicht und eine Verbesserung des generellen Funktionsniveaus (Fichter u. Krenn 2003). Aufgrund der eher schlechten Datenlage zu Essstörungen bei Männern sind diese Resultate jedoch zunächst nur mit Vorsicht zu generalisieren, so dass weitere Untersuchungen wünschenswert sind.
1.4 4
Zusammenfassung Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Essstörungen liegt bei ca. 1% in der Allgemeinbevölkerung. Sowohl Anorexia als auch Bulimia nervosa treten insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen auf. Prävalenzraten für höhere Altersgruppen liegen kaum vor. Mortalitätsraten für Anorexia nervosa sind ungefähr 4-mal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Studien zu Mortalitätsraten bei Bulimia nervosa sind bislang wenig aussagekräftig.
4
4
4
4
Beiden Störungen gemein ist ein unermüdliches Streben nach Schlankheit, ein ausgeprägtes Bedürfnis perfekt zu sein, eine zwanghafte Beschäftigung mit Nahrung und eine verzerrte Wahrnehmung der eigenen Körperdimensionen. Unterschiede zwischen beiden Essstörungsdiagnosen bestehen im tatsächlichen Körpergewicht, da die Anorexie mit drastischem Untergewicht assoziiert ist, während Bulimiepatienten eine große Spannweite aufweisen (unteres Normalbis leichtes Übergewicht). Bulimiepatienten erleben ihren abnormen Umgang mit Nahrung als belastender und neigen dadurch weniger zur Krankheitsleugnung, als dies bei Personen mit Anorexie der Fall ist. Bei Letzteren ist das restriktive Essverhalten eher mit einem subjektiven Gefühl von Stolz und Kontrolle verbunden. Auch in anderen Bereichen zeichnen sich anorektische Personen durch erhöhtes Bemühen um Selbstkontrolle und das Beherrschen von Emotionen aus. Oftmals weisen sie eine Tendenz zur Zwanghaftigkeit auf. Personen mit Bulimia nervosa dagegen neigen eher zu mangelnder Selbstkontrolle, was eine erhöhte Impulsivität und emotionale Instabilität zur Folge hat. Schwerwiegende körperliche Folgeschäden sind ein weiteres Merkmal, das beiden Essstörungsformen gemein ist. Zu nennen sind hier Hypotonie, Durchblutungsstörungen, Absinken der Körpertemperatur, Störungen der hormonellen Balance, Obstipation, verzögerte Magenentleerung, Schädigungen der Zähne und Speiseröhre sowie langfristig Herzrhythmusstörungen, Hypokaliämie, Niereninsuffizienz und Geschwüre im Magen-Darm-Trakt. Oft ist der direkte Auslöser der Essstörung ein rigides Diätverhalten. Der Verlauf ist zumeist intermittierend bis chronisch. 30% der Essstörungspatienten bleiben trotz Behandlung krank. Als spezifische Risikofaktoren für die Entwicklung einer Anorexia nervosa gelten genetische Veranlagung und Geburtskomplikationen. Risikofaktoren für die Bulimie sind familiäre Veranlagung zu Übergewicht, kritische Bemerkungen zu Figur und Gewicht durch die Familie sowie eine geringe wahrgenommene soziale Unterstützung.
2 2 Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexia und Bulimia nervosa 2.1
Prädisponierende Faktoren für Essstörungen – 22
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Biologische Faktoren – 22 Soziokulturelle Faktoren – 24 Familiäre Faktoren – 25 Individuelle Faktoren – 25
2.2
Auslösende Faktoren von Essstörungen – 27
2.3
Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen – 28
2.3.1 Gezügeltes Essverhalten – 28 2.3.2 Stress und Coping – 29 2.3.3 Dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse – 29
2.4
Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen – 31
2.4.1 Definition von Essanfällen – 31 2.4.2 Auslösende Faktoren für Essanfälle 2.4.3 Funktion des Essanfalls – 33
2.5
Zusammenfassung
– 34
– 32
22
2
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
Essstörungen gelten als komplexe Störungsbilder, deren einzelne Mechanismen nach wie vor Rätsel aufgeben trotz einer regen Forschungstätigkeit und einer Vielzahl an theoretischen Modellen, welche die Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen im Allgemeinen oder der Anorexia bzw. Bulimia nervosa im Besonderen erklären. Diese verschiedenen Modelle gehen aus unterschiedlichen Forschungsbereichen hervor. Zu nennen sind hier beispielsweise kognitive Modelle (Vitousek u. Hollon 1990), lerntheoretische Modelle (Jansen 1998), Affekt- bzw. Spannungsregulationsmodelle (Orleans u. Barnett 1984) oder kognitiv-behaviorale Ansätze wie das transdiagnostische Modell von Fairburn und Kollegen (2003). All diesen Modellen ist gemein, dass sie die Entstehung von Essstörungen nur durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren und somit aus einer multidimensionalen Sichtweise der Symptomatik erklären. In den theoretischen Modellen sind drei Bereiche von Relevanz: 1. so genannte prädisponierende oder Vulnerabilitätsfaktoren, welche den »Boden« für die Entwicklung einer Essstörung bereiten; diese sind im Ansatz bereits in 7 Abschn. 1.1.5 und 1.2.5 im Überblick der Risikofaktoren dargestellt; 2. Auslösefaktoren, die zur Manifestation der Essstörung geführt haben; 3. aufrechterhaltende Faktoren, die erklären, warum die Störung dauerhaft bestehen bleibt, obwohl die Faktoren, die zur Entwicklung der Erkrankung geführt haben, gegebenenfalls nicht mehr wirksam sind. Im Folgenden wird auf diese drei Faktoren differenzierter eingegangen. Hierbei werden verschiedene Störungsmodelle in einem Modell integriert und daraus die therapeutischen Interventionen abgeleitet. Aufgrund der großen Ähnlichkeiten in der Symptomatik der Anorexia und der Bulimia nervosa (vgl. auch Fairburn et al. 2003) wird hierbei ein Modell entwickelt, welches beide Störungsbilder umfasst. Bei der Darstellung der einzelnen Unterpunkte wird jedoch auf mögliche Unterschiede zwischen Anorexia und Bulimia nervosa eingegangen. Das von uns vorgeschlagene Modell wird in . Abb. 2.1 abschließend grafisch dargestellt und stellt eine Integration der Befunde dar.
Darüber hinaus wird im Rahmen eines Exkurses eine genaue Analyse der Auslösebedingungen für einen Essanfall durchgeführt. Dies liegt darin begründet, dass Essanfällen zwar eine große Bedeutung in der Symptomatik vor allem der Bulimia nervosa zukommt, aber bislang kaum Modelle zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essanfälle im Speziellen vorliegen.
2.1
Prädisponierende Faktoren für Essstörungen
Prädisponierende Faktoren sind zeitlich überdauernde Merkmale auf Seiten der Person oder der Umwelt, welche die Grundlage für die Entstehung einer möglichen Essstörung darstellen. Hierbei wurden verschiedenste Faktoren identifiziert, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit für eine Essstörung erhöhen bzw. einer späteren Essstörung vorausgehen können. Diese prädisponierenden Faktoren können folgenden Unterkategorien zugeordnet werden: biologische Faktoren, soziokulturelle Faktoren, familiäre Faktoren und Persönlichkeitsfaktoren. Diese werden im Folgenden beschrieben.
2.1.1
Biologische Faktoren
Es wird davon ausgegangen, dass biologische Faktoren eine Vulnerabilität darstellen, die unter Einwirkung zusätzlicher Faktoren die Entwicklung einer Essstörung unterstützen (Kaye et al. 2004). Zu den biologischen Faktoren zählen genetische Faktoren und biologische Veränderungen wie hypothalamische Dysfunktionen, Dysfunktionen des endokrin-metabolischen Systems und Neurotransmitterstörungen. Daneben können zudem körperliche Faktoren wie prämorbides Gewicht, ernährungsphysiologische Grundlagen wie restriktives Essverhalten und Störungen des Hunger- und Sättigungshaushaltes genannt werden.
Genetische Faktoren Die Relevanz genetischer Faktoren in der Entstehung der Essstörungen wird durch Ergebnisse aus der Zwillingsforschungg gestützt: So können 50–83% der Varianz hinsichtlich des Auftretens der Bulimia
23 2.1 · Prädisponierende Faktoren für Essstörungen
2
nervosa durch genetische Faktoren erklärt werden (Bulik et al. 1998b). Bei der Anorexia nervosa sind es ca. 29–50% Konkordanz bei Monozygoten (Klump et al. 2001). Auch Essstörungssymptome selbst scheinen zum Teil genetisch bedingt zu sein. So kann das Auftreten von Essanfällen, Erbrechen und restriktivem Essverhalten zu 46–72% durch genetische Faktoren erklärt werden (Klump et al. 2000). Ähnliches gilt für dysfunktionale Einstellungen zu Figur und Gewicht: Hierbei liegt die Erblichkeitswahrscheinlichkeit zwischen 32% und 72% (Klump et al. 2000). Zudem sprechen familiäre Häufungen von Essstörungen auch bei Verwandten ersten und zweiten Grades ebenfalls für eine genetische Beeinflussung (Strober et al. 2000), allerdings kann hierbei nicht unterschieden werden, inwieweit die familiäre Häufung durch Umgebungsvariablen oder Lernerfahrungen (z. B. Modelllernen) zustande kommt.
dass Serotonin damit vor allem in Bezug auf die Auslösung von Essanfällen eine Rolle spielt, da die Kohlenhydrataufnahme durch die Störung dieser Feedbackschleife weitgehend ungesteuert durch den Bedarf erfolgt. Das Einsetzen von Essanfällen kann dementsprechend durch den endogen bedingt niedrigen Wert des Serotonins erklärt werden (Goldbloom et al. 1991; Kaye u. Weltzin 1991). Diese sog. »Carbohydrate-craving-Theorie« postuliert damit die hohe Aufnahme von Kohlenhydraten als »Selbstmedikation«, um den niedrigen Serotoninspiegel zu erhöhen (Jansen, van den Hout u. Griez, 1989). Des Weiteren nimmt man an, dass durch die Unregelmäßigkeiten in der Ernährung bulimischer Patientinnen schon vor dem eigentlichen Störungsbeginn eine Dysfunktion des Sättigungsmechanismus ausgelöst wird und die neurobiologischen Veränderungen deshalb als Prädiktor der Essstörung zu betrachten sind.
Neurobiologische Veränderungen
Körperliche Faktoren
Hinsichtlich der neurobiologischen Veränderungen sind Schädigungen des Hypothalamus sowie Störungen der mit der Sättigungsregulation verbundenen Hormone allgemein und Neurotransmittern wie dem Serotonin zu nennen. Der Hypothalamus ist für die Hunger- und Sättigungsregulation über verschiedene Feedbackschleifen im Körper verantwortlich. Entsprechend können Dysfunktionen in diesem Bereich, beispielsweise ausgelöst durch frühkindliche Hirnschädigungen bzw. Geburtstraumata, die Hunger- und die Sättigungsregulation dadurch stören, dass verschiedene Hormone nicht mehr an Nahrungsaufnahme gekoppelt ausgeschüttet werden. Davon betroffen sind das an der Hunger- und Sättigungsregulation beteiligte Kortikotropin-Releasing-Hormon oder Peptide wie das Leptin, welches für die Reduktion der Nahrungszufuhr verantwortlich ist. Diese Störungen der Hormonherstellung oder -sekretion führen nachfolgend zu Appetitlosigkeit oder gegenteilig zu Überessen und Heißhunger (Übersicht vgl. Fichter 2000). Hinsichtlich der Neurotransmitterdysfunktionen scheint Serotonin eine zentrale Rolle zu spielen, da es ebenfalls an der Sättigungsreaktion beteiligt ist und als Indikator für die Menge aufgenommener Kohlenhydrate dient. Dies liegt darin begründet, dass Serotonin aus Tryptophan gewonnen wird und dafür Kohlenhydrate benötigt werden. Es wird vermutet,
Als weiterer Risikofaktor gilt ein biologisch höheres Gewicht bei normaler Nahrungsaufnahme, da ein höherer BMI häufiger mit einem negativeren Körperbild einhergeht (Stice u. Shaw 2002). Für die Betroffenen bedeutet dies, dass das angestrebte Schlankheitsideal nur durch eine deutliche Einschränkung der Nahrungszufuhr erreicht werden kann und damit die Wahrscheinlichkeit zur Entstehung einer Essstörung erhöht wird (Fairburn et al. 1997). Auch eine frühe Menarche kann möglicherweise die Entstehung von Essstörungen begünstigen. Unklar bleibt jedoch, ob dies durch den häufig mit der frühen Menarche assoziierten höheren Körperfettanteil bedingt ist oder aber über eine stärkere körperliche Unzufriedenheit erklärt werden kann (Thompson 1992; Wertheim et al. 2004).
Ernährungsphysiologische Faktoren Es gibt Hinweise darauf, dass Mütter mit Essstörungen ihre Kinder eher nach externen Zeitgebern gefüttert haben, anstatt auf die Hungersignale der Kinder zu achten (Evans u. LeGrange 1995). Dadurch kann es zu einer Entkopplung von Nahrungsaufnahme und physiologischem Bedürfnis bzw. Hunger gekommen sein. Die Hunger- und Sättigungswahrnehmung wird so möglicherweise gestört, so dass das Essverhalten weitgehend external durch Auslösereize in der Umgebung (z. B. Verfügbarkeit von
24
2
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
Nahrung) oder internal durch Kognitionen (z. B. »Jetzt ist 13.00 Uhr – Essenszeit« bzw. »Ein Teller Suppe ist genug«) gesteuert wird. Durch die weggefallene Sättigungswahrnehmung ist das Risiko, sich zu überessen und langfristig bei Vorhandensein weiterer Risikofaktoren eine Essanfallsstörung zu entwickeln, hoch (de Zwaan 2003). Es ist jedoch anzunehmen, dass ernährungsphysiologische Aspekte neben der Entstehung einer Essstörung vor allem in der Aufrechterhaltung eine Rolle spielen, da durch das chaotische Essverhalten vor allem bei der Bulimia nervosa und wiederholte Fastenphasen eine internale physiologische Sättigungsregulation nicht mehr verlässlich stattfinden kann (Connan u. Stanley 2003). Eine differenziertere Darstellung ernährungsphysiologischer Faktoren wie die Regulation von Hunger und Sättigung findet sich bei Pudel und Westenhöfer (1998).
2.1.2
Soziokulturelle Faktoren
Neben genetischen Faktoren werden soziokulturelle Einflüsse auf die Entwicklung von Essstörungen diskutiert. Diese beziehen sich vor allem auf ein überhöhtes Schlankheitsideal, das sich in den westlichen Gesellschaften verbreitet hat und über Massenmedien sowie auch die Familie und Peers vermittelt zu werden scheint.
Gesellschaftliches Schlankheitsideal Für den Einfluss soziokultureller Einflüsse spricht die hohe Prävalenz von Essstörungen in der westlichen Welt gegenüber anderen Kulturkreisen. Durch die Globalisierung scheint aber auch hier ein Wandel im Schönheitsideal stattzufinden – im Sinne einer Ausbreitung des westlichen Schlankheitsideals. So wird mittlerweile auch in östlichen Populationen ein Anstieg für Essstörungen verzeichnet (Nasser u. Katzman 2003). Andere Autoren belegen zudem, dass nach Einführung westlicher Kultureinflüsse die Auftretenshäufigkeit von Essstörungen ansteigt (Bosch 2000). Das gesellschaftliche Ideal hinsichtlich der Figur hat sich immer mehr in Richtung einer extremen Schlankheit gewandelt und ist für die meisten Frauen unerreichbar geworden (Garner 1997). Die Einflüsse des omnipräsenten gesellschaftlichen Schlankheitsideals (Wertheim et al.
2004) zeigen sich bereits bei Grundschülern, welche ihren Körper als zu dick wahrnehmen und bereits Diäten durchführen (Schur et al. 2000). Der Grund für den großen Einfluss dieses Schlankheitsideals wird darin gesehen, dass das von den Medien dargestellte Ideal vor allem bei Frauen gleichzeitig an positive Attribute wie Attraktivität, Glück und Erfolg gekoppelt ist. In welchem Ausmaß sich eine Person jedoch dem Schlankheitsideal beugt, hängt vom Grad des wahrgenommenen Drucks in Richtung Schlankheit und dem Ausmaß der Internalisierung dieses Schlankheitsideals ab (Stice 1994). Als positiv assoziiert mit einer stärkeren Verinnerlichung des Schlankheitsideals gelten dabei bestimmte Charakteristika wie bereits vorhandene Körperunzufriedenheit, depressive Stimmung sowie Tendenzen, seinen Körper mit dem anderer Menschen zu vergleichen (Durkin u. Paxton 2002). Neben diesen Mediatoren werden zudem noch ein geringes Selbstwertgefühl, ein höheres Körpergewicht sowie Schwierigkeiten mit der eigenen Identität (z. B. in der Adoleszenz im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung) im Zusammenhang mit der Internalisierung des Schlankheitsideals genannt (Stice 1994). Experimentelle Untersuchungen zum Einfluss der Medien auf Stimmung und Körperwahrnehmung belegen einen Teil dieser Annahmen. So sind Frauen nach Darbietung von schlanken Models in Zeitungen, Werbespots und Bildern schlechter gestimmt und unzufriedener mit ihrem Körper. Dies trifft vor allem für junge Frauen (<19 Jahre) und stärker Körperunzufriedene vor der Untersuchung zu (Groesz et al. 2002).
Einfluss der Familie und Peers Neben den Massenmedien scheinen Familie und Peers einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Körperunzufriedenheit und Internalisierung eines überhöhten Schlankheitsideals zu haben. Die Familie vermittelt diese Botschaften auf zwei Wegen – zum einen durch die direkte Kommunikation, zum anderen als soziales Modell (Wertheim et al. 2004). Einige Befunde sprechen für einen engen Zusammenhang zwischen kritischen Bemerkungen der Eltern über Figur und Gewicht bzw. der Aufforderung zur Gewichtsabnahme und tatsächlichen Gewichtssorgen oder Diätversuchen des Kindes (Benedikt et al. 1998). Zudem konnte gezeigt werden, dass
25 2.1 · Prädisponierende Faktoren für Essstörungen
Mütter mit Essstörungen ihre Töchter zu stärkerem Diätverhalten – unabhängig von deren Realgewicht – anhielten. Die Einschätzung des Gewichts der Tochter durch die Mutter erwies sich dabei als prägend für späteres Diätverhalten (Byely et al. 2000). Einige Studien konnten zudem zeigen, dass ein Imitieren von Diätverhalten der Mutter durch das Kind bzw. das Internalisieren von Gewichts- und Figursorgen der Mutter im Zusammenhang mit dem Auftreten von Essstörungen steht (Smolak 2002; Steiger et al. 1996). Bei Peers wirken ähnliche Mechanismen wie in der Familie. Über Schulhofgespräche bezüglich Figur, Gewicht, Essverhalten u. Ä. (dem sog. »Fat talk«) werden Normen und Ideale über Aussehen vermittelt (Wertheim et al. 2004). Zusätzlich wird über direktes körperbezogenes Feedback vor allem in Form von negativen Kommentaren (TantleffDunn u. Gokee 2002) oder gar Hänseleien (Cattarin u. Thompson 1994) in der sensiblen Phase der Adoleszenz ein negatives Körperbild vermittelt.
2.1.3
Familiäre Faktoren
Es gibt einen reichhaltigen Fundus an Studien zu familiären Interaktionsmustern im Zusammenhang mit der Ätiologie von Essstörungen, welche vor allem aus einer systemischen Sichtweise von Bedeutung sind. Familien anorektischer Patienten scheinen dabei gekennzeichnet durch einen starken Zusammenhalt, hohe Norm- und Leistungsorientierung, stärkere Überbehütung des Kindes sowie Konfliktvermeidung bei absolutem Harmoniegebot und einem Mangel an Konfliktbewältigungsfähigkeiten. Des Weiteren werden Verstrickungen, Grenzstörungen und Bündnisprobleme berichtet (Minuchin et al. 1978). Familien mit bulimisch Erkrankten hingegen seien gekennzeichnet durch heftige und offen ausgetragene Konflikte ohne Lösung, einer Missachtung von Intimschranken, Störungen der affektiven Resonanz, einer Neigung zu impulsiven Handlungen, Triangulierung1, widersprüchlicher Normorientierung und einem Ide1
Triangulierung = Delegierung eines Konfliktes zwischen zwei Personen an eine dritte, unbeteiligte Person, z. B. ein Ehepaar verschiebt den Konflikt mit der Schwiegermutter auf die Tochter.
2
al der Stärke. Weitere Unterschiede zwischen Familien mit anorektisch und bulimisch erkrankten Kindern liegen möglicherweise darin, dass die direkte Beeinflussung durch Einstellungen zu Essen, Gewicht und Aussehen in Familien von anorektischen Patienten deutlicher ausgeprägt ist als in den Familien bulimischer Patienten. Des Weiteren gibt es anscheinend eine stärkere emotionale Verbundenheit in den Familien der von Anorexia nervosa Betroffenen, während diese in Familien mit bulimisch Erkrankten deutlich niedriger als im Durchschnitt ist (Reich u. Buss 2002). Zusammenfassend scheinen vor allem die familiäre Grenzregulation als auch soziale Defizite in der Familie und die Abhängigkeit von der Primärfamilie bedeutsame Faktoren in der Entstehung von Essstörungen zu sein. Das familiäre Beziehungsfeld, in dem anorektische und bulimische Patienten aufwachsen, erschwert damit die Entwicklung einer stabilen Identität, Autonomie sowie die Ausbildung eines positiven Selbstwertgefühls. Insgesamt sind diese Annahmen zu familiären Mustern bei Essstörungen jedoch mit Vorsicht zu interpretieren, da sie nicht oder nur partiell empirisch untermauert werden konnten (vgl. z. B. Webster u. Palmer 2000). Auch wurden viele der Charakteristika der sog. »Essstörungsfamilien« nur aus korrelativen Untersuchungen gewonnen (Lässle 1998). Dabei wurden die Daten hinsichtlich der familiären Muster zu einem Zeitpunkt erhoben, als bereits ein Kind an Essstörungen erkrankt war, so dass die beobachteten Auffälligkeiten auch als Folge aus der Erkrankung eines Familienmitgliedes resultieren können und nicht zwingend ätiologisch relevant gewesen sein mussten. Die Kausalität bleibt daher unklar, so dass prospektive Studien in diesem Zusammenhang aufschlussreicher wären.
2.1.4
Individuelle Faktoren
Ob die verschiedenen familiären und sozialen Erfahrungen zur Ausbildung einer Essstörung führen, hängt unter anderem von der Ausprägung bestimmter Merkmale auf Seiten des Individuums ab (Strober u. Humphrey 1987). Hierzu zählen beispielsweise ein niedriges Selbstwertgefühl, Perfektionismus und Impulsivität.
26
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
Niedriger Selbstwert
2
Selbstwertbeeinträchtigungen scheinen ein ätiologisch bedeutsames Persönlichkeitsmerkmal in der Entwicklung von Essstörungen zu sein (Jacobi 2000). Die negative Selbstbewertung wird dabei als unmittelbar wirkender Faktor, welcher dem gestörten Essverhalten vorausgeht, beschrieben (Fairburn et al. 1986). Dies zeigte sich auch in laborexperimentellen Studien, welche die Höhe des Selbstwertgefühls als Prädiktor für die Menge der verzehrten Nahrung bestätigen konnten, wobei ein niedriger Selbstwert mit geringerer Nahrungsaufnahme assoziiert war. (Jansen et al. 1998). Weitere Untersuchungen weisen auf die eng mit dem Selbstwert verknüpfte Selbstwirksamkeit hin, welche ebenfalls einen Einfluss auf das Essverhalten hat (Bardone et al. 2003). Einschränkend ist hier jedoch anzumerken, dass ein niedriges Selbstwertgefühl auch bei anderen psychischen Störungen eine Rolle spielt und so möglicherweise nicht spezifisch für die Essstörungsentwicklung ist (Jacobi et al. 2003).
Perfektionismus Erst Ende der 90er Jahre hat die Erforschung der Rolle des Faktors »Perfektionismus« für die Entstehung von psychischen Störungen begonnen. So zeigte die Analyse von Shafran, Cooper und Fairburn (2002) einen deutlichen Zusammenhang zwischen einem hohen Ausmaß an Perfektionismus und der Entstehung von Essstörungen, vor allem bei anorektischen Patienten. Bezüglich des Perfektionismus kann zudem zwischen selbst- und sozial orientiertem Perfektionismus unterschieden werden (Sherry et al. 2004). Während sich der selbstorientierte Perfektionismus auf hohe Ansprüche an sich selbst bezieht (»Ich hasse es, nicht die Beste zu sein«), umfasst der sozial orientierte Perfektionismus subjektive Vergleiche und angenommene Erwartungen anderer Menschen an die Person selbst (»Nur eine hervorragende Leistung ist gut genug in meiner Familie«; »Als Kind habe ich mich sehr angestrengt, meine Eltern und die Lehrer nicht zu enttäuschen«). Es wird vermutet, dass selbstorientierter Perfektionismus vor allem bei Frauen mit einer Anorexia nervosa vorhanden ist. Sherry und Mitarbeiter (2004) konnten zudem nachweisen, dass der Einfluss von selbstorientiertem Perfektionismus von der Stärke des sozial orientierten Perfektionismus abhängt. Das
heißt, dass sich selbstorientierter Perfektionismus vor allem dann entwickelt, wenn in der Familie hohe Leistungsansprüche vermittelt werden. Neben der prädiktiven Bedeutung des Perfektionismus ist ihm des Weiteren eine aufrechterhaltende Funktion zuzuordnen. So konnte beispielsweise in Therapiestudien gezeigt werden, dass ein hoch ausgeprägter Perfektionismus negativ mit dem Behandlungsergebnis korrelierte. Des Weiteren konnte in dieser Untersuchung im Verlaufe eines Follow-upZeitraumes beobachtet werden, dass das Ausmaß an Perfektionismus nicht auf das Niveau von gesunden Kontrollpersonen absank, obwohl die Essstörungssymptome deutlich reduziert waren (Sutandar-Pinnock et al. 2003). Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Perfektionismus ein relativ stabiles Merkmal auf Seiten einer Person und kein Epiphänomen der Essstörung ist. Auch die inhaltliche Betrachtung der bei Patienten mit Essstörungen charakteristischerweise auftretenden kognitiven Grundannahmen (z. B. »Wenn ich nicht alles perfekt mache, bin ich ein Versager!«) erbringen Hinweise auf perfektionistische Ansprüche an sich selbst (7 Abschn. 2.1.4, »Kognitive Defizite«).
Impulsivität Verschiedene Autoren nehmen Defizite in der Impulskontrolle an und postulieren, dass es einen Zusammenhang zwischen Impulsivität als Persönlichkeitsfaktor und der Entstehung von Essstörungen, insbesondere der Bulimia nervosa, gibt. (Hawkins u. Clement 1984; Welch u. Fairburn 1996). Hierbei werden Essanfälle und selbstinduziertes Erbrechen als impulsives Verhalten betrachtet. Zudem gilt Impulsivität als Prädiktor für einen negativen Verlauf der Essstörungssymptomatik (Keel u. Mitchell 1997). Auch weisen neuere Studien auf Interaktionseffekte zwischen negativem Affekt und Impulsivität hin: Personen mit hoher Impulsivität lassen sich stärker durch die Induktion eines negativen Affektes beeinflussen und nehmen dadurch bedingt mehr Nahrung zu sich (Bekker et al. 2004). Wonderlich und Kollegen (2004) konnten zudem zeigen, dass Impulsivität – als Trait gemessen – keinen Zusammenhang mit der Entstehung von Essstörung aufweist; erst der Einbezug impulsiver Verhaltensweisen als StateMerkmal erwies sich als aussagekräftiger Prädiktor für die Essstörungsentwicklung.
27 2.2 · Auslösende Faktoren von Essstörungen
Kognitive Defizite Die Überbewertung von Figur und Gewicht gilt als ein Risikofaktor für die Entstehung von Essstörungen (Killen et al. 1996). Es wird daher vermutet, dass dysfunktionale kognitive Prozesse in Form von spezifischen Grundannahmen (sog. »core beliefs«) bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen eine Rolle spielen (Waller et al. 2000). Dabei geht man davon aus, dass essens- und gewichtsbezogene Inhalte durch Lernerfahrungen (7 Abschn. 2.1.2 und 2.1.3) an die Selbstbewertung gekoppelt werden (Morris et al. 2001). Diese werden in kognitiven Strukturen, sog. kognitiven Schemataa verankert und enthalten dysfunktionale Grundannahmen, welche zumeist als absolute, bedingungslose und dichotome Überzeugungen in Bezug auf sich selbst und die Welt verstanden werden. Diese dysfunktionalen Grundannahmen entwickeln sich meist früh im Leben als adaptive Reaktion auf die Umwelt und bleiben auch dann noch bestehen, wenn die damals relevanten Bedingungen nicht mehr wirksam sind, so dass die möglicherweise zunächst funktionalen Überzeugungen unangemessen werden (Young 1994). Bei Frauen mit Essstörungen konnten beispielsweise negative Schemata zu den Bereichen »wahrgenommene Unzulänglichkeit/Scham«, »unzureichende Selbstkontrolle« und »Leistungsversagen« identifiziert werden, welche sich in typischen Gedanken wie »Ich muss alle meine Handlungen kontrollieren, um mich sicher zu fühlen«, »Ich muss alles perfekt machen, sonst ist es wertlos« und »Jeder muss mich lieben und mein Verhalten gutheißen« äußern (Bauer u. Anderson 1989). Diese in den kognitiven Schemata verankerten dysfunktionalen Grundannahmen besitzen Handlungsrelevanz (Vitousek u. Hollon 1990) und führen durch Fehler in der Informationsverarbeitung ankommender Reize von außen zu Fehlinterpretationen (Cooper 1997) und damit auch zur Auswahl dysfunktionaler Verhaltensweisen. Die fehlerhaften Informationsverarbeitungsprozesse sind gekennzeichnet durch selektive Aufmerksamkeit und Erinnerungsprozesse, wie sie bei verschiedenen anderen psychischen Störungen auch nachgewiesen wurden (zu einer Übersicht vgl. Garner u. Bemis 1982). Es wird angenommen, dass diese kognitiven Defizite zu einer Verstärkung der negativen Sichtweise über sich selbst und den eigenen Körper führen und im
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Weiteren dadurch zur Aufrechterhaltung beitragen (7 Abschn. 2.3.3). Prädisponierende Faktoren sind zeitlich relativ stabile Merkmale auf Seiten einer Person oder ihrer Umwelt, welche die Grundlage für die Entwicklung einer Essstörung darstellen. Diese prädisponierenden Faktoren umfassen biologische, soziokulturelle, familiäre und individuelle Aspekte.
2.2
Auslösende Faktoren von Essstörungen
Das Vorhandensein eines oder einiger der oben genannten prädisponierenden Faktoren bei einer Person kann das Risiko für die Entstehung einer Essstörung im Laufe ihres Lebens erhöhen. Jedoch kann hierdurch der Manifestationszeitpunkt nicht vorhergesagt werden. In diesem Zusammenhang werden auslösende Ereignisse relevant: Hierzu zählen – wie auch bei anderen psychischen Störungen – kritische Lebensereignisse wie der Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, die Trennung von einem Partner, der Umzug in eine andere Stadt und weitere Belastungen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass an die Person Bewältigungsanforderungen gestellt werden, denen sie sich nicht gewachsen fühlt. Stress scheint zumindest bei gesunden Frauen, die einige der Vulnerabilitätsfaktoren aufweisen, eine bis dahin nicht vorhandene Verbindung zwischen psychologisch prädisponierenden Faktoren und dem Wunsch nach Gewichtsverlust oder zumindest der Planung einer Diät auszulösen (Sassaroli u. Ruggiero 2005). Wenn bei den für Essstörungen gefährdeten Personen durch einen Gewichtsverlust infolge einer Nahrungsmittelrestriktion positive Rückmeldungen von Angehörigen und Peers folgen, kann dies verstärkend wirken und die Verbindung zwischen Selbstwertgefühlerhöhung und einer Gewichtsreduktion stabilisieren. Die Angst vor einer erneuten Gewichtszunahme wird etabliert und hält das restriktive Essverhalten aufrecht. Vor allem bei der Anorexia nervosa ziehen die Frauen aus dem Empfinden, eine außergewöhnliche Selbstdisziplin zu besitzen, eine so positive Verstärkung, dass es zu einer Sucht nach weiterer Gewichtsabnahme und über-
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2
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
mäßigem Kontrollverhalten kommt. Allerdings kann es durch die Nahrungsmittelrestriktion auch zu einer höheren Auftretenswahrscheinlichkeit von Heißhungerattacken kommen, auf welche die Betroffenen häufig mit kompensatorischen Maßnahmen wie selbstinduziertem Erbrechen reagieren. Diese Gegenmaßnahmen gehen meist mit Schuldgefühlen einher, so dass eine Abwärtsspirale aus Diäthalten, Gewichtsverlust, Heißhungerattacken und Erbrechen auftritt und die Vollsymptomatik der Bulimia nervosa entsteht. Im Folgenden werden die Mechanismen beschrieben, die bedingen, dass eine Essstörung über längere Zeit bestehen bleibt.
2.3
Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen
Zu den aufrechterhaltenden Faktoren sind ein gezügeltes Essverhalten, ein hohes Ausmaß an Stress sowie fehlende Bewältigungsfertigkeiten und Fehler in der Informationsverarbeitung zu zählen. Diese Faktoren wirken dabei verstärkend auf die vorhandenen prädisponierenden Faktoren und sorgen dafür, dass es zu einem sich selbst perpetuierenden Teufelskreis kommt. Die aufrechterhaltenden Faktoren für die Bulimia und Anorexia nervosa entsprechen sich größtenteils, für die Anorexia nervosa ist ergänzend ein ausgeprägtes Kontrollgefühl zu nennen, welches aufgrund nur weniger wissenschaftlicher Studien nicht näher erläutert wird. Im Folgenden sind die einzelnen Faktoren anhand von Forschungsbefunden erläutert.
2.3.1
Gezügeltes Essverhalten
Das Modell des gezügelten Essverhaltens oder »Restraint Eating« (Herman u. Polivy 1980) wird im Rahmen der Essstörungsforschung seit vielen Jahren umfassend untersucht. Es ist definiert als selbstauferlegte Nahrungsdeprivation und wird eingesetzt, um ein Gewicht unterhalb des eigenen »Set Point« zu erreichen bzw. zu halten (Nisbett 1972). Hierzu versuchen die Personen, sich an bestimmte Regeln bezüglich einer Begrenzung der aufgenommenen Nahrungsmittel bzw. die Auswahl bestimmter nie-
derkalorischer Nahrungsmittel zu halten. Das Konzept des Restraint Eating wird sowohl in der Entstehung als auch in der Aufrechterhaltung diskutiert. Allerdings tritt nicht bei allen Patienten mit Essstörungen, insbesondere der Bulimia nervosa, auch gezügeltes Essverhalten vor dem Beginn der Störung auf. Daher wird dieses Konzept hier vornehmlich im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung beschrieben: kommt es zu einem Verstoß gegen die selbstauferlegten Regeln und damit einhergehend zu einem Versagensgefühl, kann ein Kontrollverlust über das Essen resultieren (Herman u. Polivy 1984). Vor allem das »Alles-oder-Nichts-Denken« spielt hier eine Rolle. Neben der kognitiven Komponente, d. h. dem Bewusstsein darüber, die Diätregeln gebrochen zu haben, können auch starke negative emotionale Zustände wie Angst, Depression oder Stress zur Enthemmung führen und Essanfälle nach sich ziehen (Herman u. Polivy 1984). In Feldstudien konnte nachgewiesen werden, dass Frauen vor einem Essanfall im Vergleich zu Kontrollpersonen häufig kalorisch depriviert waren (Davis et al. 1988). In den 80iger zeigten Studien, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des gezügelten Essverhaltens auf der einen und dem Schweregrad der Essanfallssymptomatik auf der anderen Seite besteht (Byrne u. McLean 2002). Diese Verbindung scheint insbesondere für subjektive Esssanfälle, d. h. Kontrollverlust beim Essen, ohne dass eine objektiv zu große Menge verzehrt wird, zu gelten (Kerzhnerman u. Lowe 2002). Die Autoren gehen deshalb davon aus, dass die Beziehung in kognitiven und nicht in physiologischen deprivationsbasierten Aspekten des gezügelten Essens begründet ist. Die Existenz eines Zusammenhangs zwischen gezügeltem Essverhalten und Essanfällen ist jedoch nicht unumstritten. Ein Grund dafür könnte die schwammige Begrifflichkeit von »dietary restraint« (gezügeltes Essen) und »dieting« (Diät halten) darstellen (Lowe et al. 1991). Westenhöfer, Stunkard und Pudel (1999) schlagen vor, die Art der ausgeübten Kontrolle beim gezügelten Essen stärker zu beachten. Ihrer Auffassung nach muss zwischen rigider und flexibler Kontrolle unterschieden werden. Rigide Kontrolle beinhaltet hierbei, dass Diätregeln ganz genau und ausnahmslos befolgt werden müssen, während bei der flexiblen Kontrolle Abweichungen von den Diätregeln (z. B.
29 2.3 · Aufrechterhaltende Faktoren von Essstörungen
Verzehr eines »verbotenen« Nahrungsmittels) von den Betroffenen eher toleriert werden und später (z. B. durch eine verstärkte Nahrungsrestriktion) wieder kompensiert werden können. Es zeigte sich, dass die rigide Kontrolle in stärkerer Verbindung zu bulimischer Symptomatik steht (Westenhöfer et al. 1999), was dadurch zu erklären ist, dass die rigide Kontrolle von den Betroffenen dauerhaft schwer aufrechtzuerhalten ist und daher oft in Essanfälle mündet. Es kann trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze festgehalten werden, dass Diäthalten bzw. gezügeltes Essverhalten eine zentrale Stellung bei der Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung von Essanfällen einnimmt, wobei ein gezügeltes Essverhalten nur bei einem Teil der Betroffenen den Essanfällen vorangeht.
2.3.2
Stress und Coping
Zahlreiche Studien konnten nachweisen, dass Stress und Stressbewältigungsverhalten in Verbindung mit der Aufrechterhaltung von bulimischer Symptomatik stehen (Crowther et al. 2001). Zunächst wird kurz auf die Art der in diesem Zusammenhang relevanten Belastung eingegangen; gefolgt von der Erläuterung der Rolle von Defiziten im Stressbewältigungsverhalten als die Essstörung aufrechterhaltende Mechanismen. In der Forschung hat sich bei der Überprüfung der Art der im Zusammenhang mit Essstörungen zentralen Belastungssituationen insbesondere das Feld der interpersonalen Konflikte als ausschlaggebend erwiesen (Tuschen-Caffier u. Vögele 1999). Dass tägliche Belastungen als stressreicher empfunden werden und auch zu einer höheren Kalorienaufnahme führen, konnte in einer Feldstudie gezeigt werden: Frauen, die unter Essanfällen leiden, empfanden tägliche Belastungen als stressreicher als gesunde Kontrollpersonen und nahmen an Tagen mit höherem Ausmaß von Stress mehr Kalorien zu sich als an weniger stressigen Tagen (Crowther et al. 2001). Des Weiteren wird vermutet, dass nicht nur das Stressempfinden, sondern vor allem auch Defizite in der Bewältigung von Belastungssituationen ein aufrechterhaltender Faktor bei Essstörungen ist. Frauen mit einer Bulimia nervosa scheinen beispielsweise
2
geringe Fähigkeiten zu besitzen, negative Gefühlszustände auszuhalten sowie sich zu entspannen und zu beruhigen (Esplen et al. 2000). Defizite in der Bewältigung von Anspannungs- und Belastungssituationen scheinen daher an der Aufrechterhaltung der Essstörung insofern beteiligt zu sein, als durch die Essstörung die Auseinandersetzung mit den Problemen vermieden bzw. die daraus resultierende Anspannung vermindert werden kann, da Essattacken und Erbrechen kurzfristig oft eine entspannende und emotionsregulierende Funktion besitzen. Diese Annahmen konnten anhand verschiedener Studien belegt werden: So wurden Zusammenhänge zwischen gestörtem Essverhalten auf der einen und defizitärem problem- bzw. aufgabenorientiertem Coping auf der anderen Seite nachgewiesen (Ghaderi u. Scott 2000). Zudem zeigte sich in weiteren Untersuchungen, dass Frauen mit einer Essstörung mehr vermeidendes Bewältigungsverhalten zeigen als gesunde Kontrollpersonen (Koo-Loeb et al. 2000), sich häufiger ablenken und stärker emotionsorientiertes Coping einsetzen als Gesunde (Koff u. Sangani 1997). Troop und Kollegen (1998) beschreiben außerdem, dass Frauen mit einer Essstörung in einem stärkeren Maße kognitive Vermeidung und Verdrängung in Konfliktsituationen zeigen, ihre Probleme weniger stark bagatellisieren, aber eher dazu neigen, sich selbst zu beschuldigen und weniger Unterstützung bei anderen zu suchen. Der Zusammenhang zwischen Copingverhalten und dem Auftreten von Essanfällen konnte von Freeman und Gil (2004) nachgewiesen werden: Die Autoren zeigten, dass Frauen mit einer Essstörung, die vermehrt Ablenkungsstrategien einsetzten, ein höheres Risiko hatten, nachfolgend einen Essanfall zu erleiden. Ein defizitäres Bewältigungsverhalten scheint damit sowohl zur Entstehung als auch zur Aufrechterhaltung einer Essstörung beizutragen, wobei unterschiedliche Facetten des Bewältigungsverhaltens mit unterschiedlichen Essstörungssymptomen im Zusammenhang stehen (Freeman u. Gil 2004).
2.3.3
Dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse
Dysfunktionale Denkmusterr haben nicht nur Einfluss auf die Entstehung einer Essstörung (7 Ausfüh-
30
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
rungen zu prädisponierenden Faktoren, 7 Abschn. 2.1), sondern tragen auch zu deren Aufrechter-
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haltung bei (Fairburn et al. 1986), da sie die Handlungskompetenz der betroffenen Person negativ beeinflussen (Vitousek u. Hollon 1990; 7 Abschn. 2.1.4, »Kognitive Defizite«). Beispielsweise scheinen insbesondere das gezügelte Essen, Erbrechen, andere Kompensationsmaßnahmen und extremes Gewichtskontrollverhalten infolge der spezifischen dysfunktionalen Kognitionen aufzutreten (Fairburn et al. 1999b). Erklärt werden kann dies durch die schemakonforme Informationsverarbeitung, welche beispielsweise zu Irrationalität und dichotomer Kategorisierung von Nahrungsmitteln als gut/schlecht, massiver Selbstabwertung nach dem Essen verbotener Speisen, überhöhten Ansprüchen beim Durchhalten einer Diät und der Antizipation von Kontrollverlust beim Essen (Legenbauer 2003) und anderen verwandten depressionstypischen Kognitionen (Göbel et al. 1989) führt. Mit einer Pfadanalyse wurde diese Annahme überprüft und dabei gezeigt, dass eine Verbindung zwischen extremer
Besorgnis über Figur und Gewicht auf der einen und kompensatorischem Verhalten auf der anderen Seite besteht. Dritschel et al. (1991) untersuchten Situationsbewertungen von essgestörten Patienten hinsichtlich der auftretenden kognitiven Verzerrung. Sie fanden heraus, dass die Art der Verzerrung von Kognitionen zu Essen, Figur und Gewicht sich vor allem in den folgenden Kategorien äußerte: 4 Personalisierung (Beziehung externer Ereignisse auf sich selbst), 4 Übergeneralisierung (allgemeingültige Schlussfolgerungen auf der Basis nur eines Ereignisses), 4 Katastrophisierung (Bezeichnung eines Ereignisses ohne Grund als Katastrophe) und 4 selektive Abstraktion (Wahrnehmung nur einzelner, passender Details eines Ereignisses). Des Weiteren wurden die verschiedenen Informationsverarbeitungsprozesse experimentell überprüft. Es konnte beispielsweise mit dem Paradigma des Stroop-Tests nachgewiesen werden, dass Frauen mit
. Abb. 2.1. Multifaktorielles Modell der Essstörungen Anorexia und Bulimia nervosa
31 2.4 · Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen
einer Essstörung eine selektive Aufmerksamkeitszuwendung hinsichtlich nahrungs-, figur- und gewichtsbezogener Wörter aufweisen (Lovell et al. 1997). Diese Ergebnisse werden dahingehend interpretiert, dass die mit den bedrohlichen Reizen verbundenen kognitiven Strukturen (Schemata) bei den Patienten mit Essstörungen stärker ausgebildet sind und so mehr Verarbeitungskapazität beanspruchen, wodurch sich die Reaktionszeit bei der Farbnennung verlangsamt (vgl. Foa et al. 1991). Die Ergebnisse von Cooper (1997) weisen in eine vergleichbare Richtung: Hier wurde ein Bias in Richtung negativer Körper- und Selbstbewertung bei Frauen mit Essstörungen nachgewiesen, wenn diese mehrdeutige soziale Interaktionen bewerten sollten. Kognitionen scheinen demnach insbesondere als Auslöser von Essanfällen zu fungieren (7 Abschn. 2.4) und so als aufrechterhaltende Faktoren einer Essstörung zu wirken. Hierbei kommt sowohl der Art der kognitiven Verarbeitung als auch dem Inhalt der Kognitionen eine wichtige Bedeutung zu (Waller et al. 2000). Aufrechterhaltende Faktoren sind meist eng mit prädisponierenden Faktoren assoziiert oder sind Folge der zugrunde liegenden Defizite, die auch zur Entstehung der Essstörung geführt haben. Sie werden nach dem Beginn der Essstörungssymptomatik relevant und interagieren in Form eines Teufelskreises. Meist wirken sie kurzfristig positiv verstärkend. Zu den aufrechterhaltenden Faktoren zählen: gezügeltes Essverhalten, defizitäres Copingverhalten, dysfunktionale kognitive Prozesse.
2.4
Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen
Ein detailliertes Wissen über die Abläufe im EssBrech-Zyklus hinsichtlich auslösender Bedingungen, vermittelnder Faktoren und aufrechterhaltender Aspekte der Bulimia nervosa und dem BingeEating/Purging-Typus der Anorexia nervosa sind für ein effektives therapeutisches Arbeiten von Wichtigkeit, da die Mikroanalyse Aufschluss über die Funktion des Essens und Erbrechens erlaubt und
2
bedeutsame Hinweise auf mögliche Defizite gibt. Daraus können die notwendigen Interventionsansätze abgeleitet werden. Daher soll im Folgenden noch einmal spezifisch auf konkrete Auslösesituationen und die Funktion von Essanfällen eingegangen werden.
2.4.1
Definition von Essanfällen
Essanfälle sind per Definition gekennzeichnet als »übermäßige Nahrungsaufnahme innerhalb eines bestimmten Zeitraumes«, wobei die Menge diejenige überschreiten sollte, die andere Menschen in demselben Zeitraum essen würden. Essanfälle sollten gemäß den DSM-IV-Kriterien (7 Kap. 1) auch einen Kontrollverlust beinhalten, das heißt, die Person kann entgegen ihrem eigenen Willen nicht aufhören zu essen, oder sie isst hochkalorische, fetthaltige Nahrungsmittel, die sie sich ansonsten verbietet. Rossiter et al. (1992) zufolge hat ein Essanfall im Durchschnitt eine Kalorienmenge von 602 kcal bei einer Dauer von 38 min., wobei eine große Variabilität besteht. So werden Mengen zwischen 1000 und 2000 kcal (Rosen et al. 1986) bis teilweise 20.000 kcal (Mitchell et al. 1985) angegeben. In einer Übersichtsstudie von Mitchell und Kollegen (1998) werden im Rahmen von Laborstudien (also nachgestellten Essanfällen) zwischen 3.000 und 4.500 kcal bei Frauen mit Bulimia nervosa und 1500–3000 kcal bei Frauen mit Binge Eating Disorder pro Essanfall angegeben. Es wird vermutet, dass Essanfälle auf Grund unbekannter Größen variieren. Manche Studien beschreiben zudem, dass Patienten mit einer Bulimia nervosa häufiger subjektive Essattacken mit weniger als 100 kcal beschreiben. Der empfundene Kontrollverlust gilt dabei als stabilstes Maß in der Bewertung von Essanfällen, was auch durch verschiedene Studien bestätigt werden konnte (Johnson et al. 2000). Als zweitwichtigstes Kriterium wird dann erst die Menge angesehen, die Zeitdauer stellt sich von geringerem Wert dar, wobei eine Mahlzeit bei größerer Menge in kürzerer Zeit eher als Essanfall gewertet wurde als bei größerer Menge in längerer Zeit. Damit wären die Beurteilungen konsistent mit den im DSM-IV angelegten Kriterien. Zu bedenken ist jedoch, dass Essanfälle auch geplant stattfinden können und damit das Kri-
32
2
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
terium des Kontrollverlustes nicht erfüllen. Gerade diese Essanfälle jedoch dienen wahrscheinlicher zur Regulation der Stimmung, während »spontane« Essanfälle eher auf das Brechen von Diätregeln zurückgeführt werden können und dadurch einen Kontrollverlust beinhalten.
2.4.2
Auslösende Faktoren für Essanfälle
Es gibt verschiedene Faktoren, die bei der Auslösung von Essanfällen eine Rolle spielen. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht sind dies situative Faktoren, subjektive Befindlichkeit und dysfunktionale Bewertungsprozesse. Im Folgenden werden die einzelnen Faktoren im Überblick dargestellt.
Situative Faktoren Verschiedene Untersuchungen konnten die Kontextabhängigkeit des Auftretens von Essanfällen belegen. Es scheint, dass Essanfallsepisoden typischerweise stattfinden, wenn die Person zu Hause und allein ist (Waters et al. 2001a), d. h. vor allem nachmittags und abends auftreten (Hetherington et al. 1994). Ein weiterer Kontextfaktor, der Essanfälle zu begünstigen scheint, ist eine unstrukturierte Zeiteinteilung (Schlundt et al. 1986). Eine mögliche Erklärung dafür, warum gerade die eben genannten Situationen Essanfälle auslösen können, bieten Konditionierungsmodelle. So gestalten Patienten mit Essstörungen ihre Nahrungsaufnahme oft sehr rigide, mit vielen Regeln und stark eingeschränkter Nahrungsaufnahme. Hierdurch kann es zu einer Konditionierung von Nahrungsaufnahme mit Zeit, Ort, Stimmungen oder bestimmten Lebensmitteln kommen. Als Beispiel sei hier auf das Prinzip der klassischen Konditionierung nach Pawlow verwiesen. Basierend auf diese Annahmen entwickelte Jansen (1998) ein Modell, welches besagt, dass die Einnahme von Nahrung spezifische körperliche Reaktionen auslöst. Diese körperlichen Reaktionen werden längerfristig im Sinne einer klassischen Konditionierung an die mit der Nahrungsaufnahme verbundenen Reize (z. B. Fernsehschauen, Geruch, Küche) gekoppelt, so dass Letztere die körperlichen Reaktionen auslösen können, auch wenn keine Nahrungsaufnahme stattfindet. Es wird folglich ange-
nommen, dass gelernte Reiz-Reaktions-Verbindungen automatische oder biochemische Reaktionen auslösen, welche die Wahrscheinlichkeit einer Nahrungsaufnahme oder auch einer exzessiven Nahrungsaufnahme steigern können (Wardle 1990). Diese Annahme wird indirekt durch bisherige Untersuchungsergebnisse zu Essanfällen unterstützt. So wurde beispielsweise herausgefunden, dass gezügelte Esser dann ein stärkeres Verlangen zu essen verspüren, wenn sie einem Reiz ausgesetzt waren, der typischerweise Nahrungsaufnahme vorhersagt, z. B. der Geruch von »Binge Food« oder auch nur der Gedanke daran (Fedoroff et al. 1997). Dieses Modell erweitert den Einfluss bereits identifizierter Enthemmer (z. B. den Bruch der Diätregeln) bei restriktiv essenden Personen (7 Abschn. 2.4.1) und unterstützt die Annahme, dass Lernerfahrungen aufrechterhaltend für eine Essstörung, insbesondere die Essanfallssymptomatik, sein können. Es ist jedoch auch denkbar, dass durch Bedingungen wie Alleinsein und Langeweile dysfunktionale Kognitionen sowie ein negativer Affekt gefördert werden.
Negativer Affekt Wie bereits in den Ausführungen zum gezügelten Essverhalten erwähnt wurde, wird angenommen, dass negativer Affekt bei der Auslösung und Aufrechterhaltung von Essanfällen eine wichtige Rolle spielt. Viele Studien konnten ermitteln, dass negative Stimmungen Essanfällen vorausgingen (Greeno et al. 2000; Waters et al. 2001b; Wegner et al. 2002). In Feldstudien konnte dies bestätigt werden, da bis zu einer Stunde vor einem Essanfall eine negativere Stimmung nachgewiesen wurde (Davis et al. 1988; Alpers u. Tuschen-Caffier 2001). Detailliertere Analysen weisen insbesondere auf Anspannung, schlechte Stimmung und ein größeres Verlangen nach Nahrung hin (Greeno et al. 2000). Nach Stice und Agras (1999) scheint negativer Affekt zudem zu einer Verschlimmerung bulimischer Symptomatik beizutragen, da im Sinne einer dysfunktionalen Emotionsbewältigungsstrategie (7 Kap. 10) durch den Essanfall die negative Stimmung reduziert wird.
Stress Die Beziehung zwischen Stress und Essanfällen wurde bereits im Zusammenhang mit dem gezügelten
33 2.4 · Exkurs: Mikroanalyse von Essanfällen
Essverhalten erwähnt. Es konnte beispielsweise in einer Untersuchung demonstriert werden, dass gezügelte Esser im Vergleich zu ungezügelten insbesondere unter interpersonellem Stress dazu neigen, bei Stress zu überessen (Tanofsky-Kraff et al. 2000). Beispielsweise zeigten Heatherton et al. (1991), dass Stress, der das Selbstbild einer Person bedroht, wie Misserfolg bei einer leichten Aufgabe oder auch das Halten einer Rede vor einem wertenden Publikum bei gezügelten Essern zu Enthemmung beim Essen führt. Auch für klinisch relevante Essstörungen konnte eine Verbindung zwischen Stress und Essverhalten nachgewiesen werden. So scheinen restriktiv essende und bulimische Frauen verglichen mit gesunden Kontrollpersonen alltägliche Belastungsereignisse als stressreicher zu empfinden und unter Stress größere Nahrungsmengen zu sich zu nehmen. Insbesondere interpersonale Stresssituationen werden in Verbindung mit Essanfällen genannt (TanosfkyKraff et al. 2000).
Dysfunktionale Kognitionen Erst seit kurzem werden Forschungsarbeiten über die Relevanz kognitiver Prozesse bei der Auslösung von Essanfällen durchgeführt (vgl. Waller et al. 2002). Kognitive Prozesse spielen je nach situativer Begebenheit eine unterschiedliche Rolle. So kann zum Beispiel die Bewertung einer bereits konsumierten Mahlzeit zu einem Essanfall führen, wenn die Betroffene das Gefühl hat, zuviel gegessen zu haben – also die selbst auferlegten Diätregeln gebrochen hat (Huon 1997; Herman u. Polivy 1984). Das heißt, die Bewertung, gegen eine Diätvorschrift wie »ich darf keine Schokolade essen« verstoßen zu haben, konnte einen Essanfall voraussagen. Neben dem negativen Affekt ist dieser zweite Faktor ausschlaggebend in der Aufklärung der Varianz bei der Auslösung eines Essanfalles. Auch wurde anhand von retrospektiv erfassten Essanfallsberichten bei Patienten mit Binge-EatingStörung gezeigt, dass vor einem Essanfall meistens Kognitionen, welche die Intention, eine Essattacke zu haben (»Ich brauch jetzt was Süßes«) bzw. die antizipierte Veränderung des Affektes (»Wenn ich das esse, geht es mir besser«) beinhalteten, auftraten. Während des Essanfalls drehten sich die Kognitionen meist um den Kontrollverlust, nach dem
2
Essanfall traten dann vorwiegend (in 84% der Fälle) selbstabwertende Kognitionen auf (Arnow et al. 1992). Neuere Theorien beschäftigen sich mit einem möglichen Rebound-Effekt: je stärker die Betroffenen sich verbieten, bestimmte Speisen zu essen oder überhaupt an Essen zu denken, desto höhere Valenz erhalten die Speisen. Dies bedeutet, dass die Gedanken einem paradoxen Effekt nach sich ziehen. Diese Annahme konnte bereits in Laborversuchen an gezügelt essenden Frauen verifiziert werden (Stirling u. Yeomans 2004).
2.4.3
Funktion des Essanfalls
Viele Autoren halten es im Zusammenhang mit dem Auftreten negativer Affekte vor Essanfällen für wahrscheinlich, dass ein Essanfall der Reduzierung dieses unangenehmen Gefühlszustands dienen soll. Das Modell der Flucht vor aversiver Selbstaufmerksamkeit von Heatherton und Baumeister (1991) beispielsweise erklärt die Funktion eines Essanfalls damit, dass durch eine kognitive Einengung der Wahrnehmungsfokus ausschließlich auf die gegenwärtige Stimulusumgebung gerichtet wird und dadurch Selbstaufmerksamkeit reduziert und negative Emotionen, bedrohliche Gedanken und innerer Druck ausgeblendet werden. Es werden in diesem Zustand nur noch aktuelle Reize wie beispielsweise Geruch und Geschmack von Nahrungsmitteln wahrgenommen, so das anstatt über komplexe Themen dann beispielsweise über den Kaloriengehalt der Nahrungsmittel nachgedacht wird. Auch Beruhigung und Entspannung werden als mögliche Funktion von Essanfällen genannt (vgl. Pudel u. Westenhöfer 1998). Daraus ist zu schließen, dass Essanfälle dazu dienen, als aversiv erlebte Emotionen – verschiedenste Facetten von Ärger (vor allem Ärgerunterdrückung), Einsamkeit, Scham, Ängstlichkeit und Depression – zeitweise aus dem Bewusstsein auszuschließen. Essanfälle sind gekennzeichnet durch eine große, in kurzer Zeit aufgenommene Nahrungsmenge und Kontrollverlust. Sie treten in spezifischen Situationen auf und folgen 6
34
Kapitel 2 · Theoretische Grundlagen zur Entstehung und Aufrechterhaltung
meist negativer Stimmung. Zudem sind kognitive Prozesse an der Auslösung beteiligt. Positiv verstärkend wirken die kurzfristige Erleichterung und die mögliche Ablenkung von negativen Ereignissen.
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4
4
Zusammenfassung Bei der Erklärung von Essstörungen wie auch anderen Erkrankungen ist eine Unterteilung in prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren sinnvoll. Prädisponierende Faktoren sind zeitlich relativ stabil und begünstigen die Entstehung einer Essstörung. Diese umfassen biologische, soziokulturelle, familiäre und individuelle Faktoren. Zu den biologischen Faktoren zählen neben genetischen auch neurobiologische, körperliche und ernährungsphysiologische Faktoren. Soziokulturelle Aspekte beinhalten das gesellschaftliche Schlankheitsideal und den Einfluss von Familie und Peers. Familiäre Faktoren beziehen sich meist auf die Interaktionsmuster der Familie, während individuelle Faktoren bestimmte Charakteristika der jeweiligen Person wie niedriger Selbstwert, Perfektionismus und Impulsivität sowie kognitive Defizite umfassen. Auslösende Faktoren bestimmen über den Zeitpunkt der Manifestation einer Essstörung und beinhalten zumeist kritische Lebensereignisse (z. B. Trennungen). Aufrechterhaltende Faktoren erklären, warum eine Essstörung dauerhaft aufrechterhalten bleibt, auch wenn die Bedingungen, die ursprünglich zur Entstehung der Essstörung geführt haben, nicht mehr wirksam sind. Hierzu zählen gezügeltes Essverhalten, erhöhtes Belastungsempfinden bei geringen Copingfertigkeiten und kognitive Aspekte wie dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse. Daneben wird eine Konditionierung von Essanfällen vermutet.
3 3 Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
3.1
Kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze bei Essstörungen – 36
3.1.1 Kurzfristige Strategien – 36 3.1.2 Langfristige Strategien – 37
3.2
Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Therapieansätzen bei Essstörungen – 38
3.2.1 Anorexia nervosa – 38 3.2.2 Bulimia nervosa – 39 3.2.3 Wirksamkeit von Gruppentherapien bei Essstörungen
– 39
3.3
Weitere psychotherapeutische Ansätze im Überblick – 40
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7
Interpersonelle Psychotherapie – 40 Dialektisch-behaviorale Ansätze – 40 Systemische Ansätze – 41 Psychodynamisch orientierte Verfahren Familientherapie – 42 Selbsthilfeprogramme – 42 Pharmakotherapie – 43
3.4
Zusammenfassung
– 43
– 41
36
3
Kapitel 3 · Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
Zur Behandlung der Anorexia und Bulimia nervosa werden verschiedene Therapieverfahren eingesetzt. In diesem Kapitel soll zunächst auf die Grundsätze der existierenden verhaltenstherapeutischen Programme bei Essstörungen und deren Wirksamkeit eingegangen werden, um dann im Weiteren einen Überblick über die weiteren therapeutischen Ansätze zu geben.
3.1
Kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze bei Essstörungen
Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist in der Behandlung von Essstörungen die Methode der Wahl (Wilson 1999). Zum besseren Verständnis von Aufbau und Inhalt des vorliegenden Therapieprogramms sollen nun im nächsten Abschnitt die allgemeinen Grundsätze der KVT bei Essstörungen dargestellt und deren Wirksamkeit beschrieben werden. Als wichtigstes allgemeines Prinzip bei der Behandlung von Anorexia und Bulimia nervosa gilt, dass Interventionen sich an zwei Zielen orientieren sollten: Hierzu zählt die kurzfristige Veränderung des Ernährungsverhaltens und die langfristige Behandlung der zugrunde liegenden Problembereiche (7 Kap. 2 und 7 Kap. 6). Diese zweigleisige Vorgehensweise wird »Two-Track-Approach« genannt und berücksichtigt damit gleichermaßen die Behandlung der psychischen als auch physiologischen Probleme, welche mit der Essstörung assoziiert sind (Garner u. Isaacs 1986). Im Folgenden werden die schnell wirksamen, kurzfristigen Maßnahmen und im Weiteren die langfristigen Strategien in der Essstörungsbehandlung vorgestellt.
3.1.1
Kurzfristige Strategien
Aufgrund des häufig medizinisch bedenklichen Untergewichts stellt eine Gewichtsrestoration das wichtigste kurzfristige Ziel in der Behandlung der Anorexia nervosa dar. Diese wird über verschiedene psychotherapeutische Maßnahmen, zumeist im stationären Kontext, angestrebt. In Extremfällen werden hier invasive Methoden wie künstliche Ernährung bei besonderer Gefährdung eingesetzt (7 Ab-
schn. »Gewichtssteigerung«). Bei der Behandlung
der Bulimia nervosa spielt die Gewichtsrestoration keine oder eine eher geringere Rolle; auch eine stationäre Behandlung ist im Vergleich zur Anorexia nervosa eher selten notwendig und wird dann meist aufgrund selbstverletzenden oder suizidalen Verhaltens durchgeführt (Treasure u. Schmidt 2003). Ein zweites kurzfristiges und von der Wichtigkeit her nicht zu unterschätzendes Ziel ist die Normalisierung des Essverhaltens sowohl bei der Anorexia als auch der Bulimia nervosa. Beide kurzfristigen Ziele dienen der Rückbildung biologisch-physiologischer, meist medizinisch relevanter Dysfunktionen und bilden den Ausgangspunkt der Behandlung.
Gewichtssteigerung Die Gewichtsrestoration steht, wie eingangs erwähnt, bei der Anorexiebehandlung im Vordergrund. Bei einem starken Untergewicht und schwerwiegenderen medizinischen Komplikationen sollte zunächst die Indikation einer stationären Behandlung geprüft werden, um eine optimale Betreuung während der Gewichtssteigerungszeit zu gewährleisten und mögliche hemmende oder belastende Umweltfaktoren auszuschließen. Kontrovers diskutiert wird, ob im Rahmen von Gewichtssteigerungsprogrammen eine stationäre Behandlung unbedingt notwendig ist. Treasure und Schmidt (2003) weisen darauf hin, dass ein niedriges Gewicht nicht allein ausschlaggebend bei der Auswahl des Settings sein sollte: Sie argumentieren, dass bei nicht zu schwer gestörten Anorexiepatienten eine ambulante oder auch tagesklinische Betreuung gegenüber der stationären Behandlung keinen zusätzlichen Erfolg verspricht. Neben schwerwiegenden medizinischen Komplikationen liegt daher die Indikation zur stationären Behandlung vor allem im Fehlen eines sozialen Netzwerks, dem Vorhandensein komorbider Erkrankungen und einem insgesamt niedrigen Funktionsniveau (Garner u. Needleman 1997; Winston u. Webster 2003). Stationäre verhaltenstherapeutische Programme zur Gewichtssteigerung bedienen sich meist operanter Prinzipien. Für die erreichte Gewichtszunahme werden dabei systematisch verschiedene, meist individuell vereinbarte Verstärker eingesetzt. Eine Kombination aus unterstützender, meist pflegerischer Betreuung und normal- bis hochkalorischer
37 3.1 · Kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze bei Essstörungen
Kost ist im stationären Setting die Regel und recht erfolgreich. Wird nach einer kurzen Phase der Eigenverantwortung das Gewicht nicht deutlich verändert, kann das Abschließen eines Gewichtsvertrages sehr hilfreich sein (7 Kap. 8). In diesem wird ein vom Patienten innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu erreichendes Mindestgewicht festgelegt. Darüber hinaus werden in diesem Gewichtsvertrag die grundlegenden Prinzipien und Maßnahmen des jeweiligen Therapieprogramms für die Patienten transparent gemacht und festgeschrieben (vgl. auch Jacobi et al. 2000; Garner et al. 1997). Im Gegensatz zu früheren Ansätzen wird bei neueren Programmen versucht, das Ausmaß an Fremdkontrolle so gering wie möglich zu halten, um dem Autonomiebedürfnis der Patienten nachzukommen und die Rückfallgefahr nach Beendigung des Programms möglichst niedrig zu halten. Im ambulanten Setting ist eine ähnliche Vorgehensweise sinnvoll, jedoch bestehen hier größere Schwierigkeiten in der Gewichtskontrolle und direkten Einflussmöglichkeit seitens des Therapeuten. Ein absinkendes Gewicht oder eine ausbleibende Gewichtszunahme sind oft ein Hinweis auf fehlende Motivation oder Ambivalenz hinsichtlich einer Aufgabe der anorektischen Symptomatik und sollten mit dem Patienten wiederholt therapeutisch angegangen werden (Treasure u. Schmidt 2003), z. B. durch Methoden zur Motivationssteigerung. Auch im ambulanten Setting besteht die Möglichkeit, einen Gewichtsvertrag abzuschließen bzw. Vereinbarungen über den Einbau von bislang vermiedenen Nahrungsmitteln oder die Aufnahme hochkalorischer Zusatznahrung zu treffen. Ein wichtiger Punkt hierbei ist die Transparenz über den Sinn der Vereinbarung und die Konsequenz bei Nichterreichen des vereinbarten Zieles.
Ernährungsmanagement Eine Normalisierung des Essverhaltens ist sowohl bei der Anorexia als auch der Bulimia nervosa wichtig. Als eine Folge des stark gezügelten Essverhaltens und der intermittierend zwischen den Essattacken auftretenden Mangelernährung bei Bulimiepatienten werden die biologisch-physiologischen Funktionen negativ beeinflusst. Durch den Einsatz von therapeutischen Strategien zum Ernährungsmanagement soll daher eine Normalisierung des alltäglichen
3
Essverhaltens angestrebt werden. Dabei kommt es nicht nur auf eine ausreichende Kalorienzufuhr an, sondern vor allem auch auf eine adäquate Nahrungszusammensetzung und zeitliche Verteilung der Nahrungsaufnahme (Beumont et al. 1997). Die Programme zum Ernährungsmanagement beinhalten wichtige Elemente wie die Selbstbeobachtung mittels Essprotokollen (7 Kap. 4 und 7 Kap. 8), die Informationsvermittlung zur Erläuterung der physiologischen und psychologischen Konsequenzen von Mangelernährung (7 Abschn. 2.1.2 und Infobroschüre auf der beiliegenden CD-ROM) sowie das stufenweise praktische Einüben eines normalen und spontanen Essverhaltens. Ziel ist die Etablierung eines natürlichen Hunger- und Sättigungsgefühls (7 Kap. 8) und der Abbau von kognitiver Kontrolle über die Nahrungaufnahme. Ergänzend zu den bereits genannten Techniken können dazu auch verschiedene verhaltenstherapeutische Verfahren wie z. B. Nahrungsmittel- oder Belastungsexpositionsübungen mit Reaktionsverhinderung (sog. »Cue-ExposureTechniken«) eingesetzt werden (vgl. Tuschen-Caffier u. Florin 2002; Bulik et al. 1998a).
3.1.2
Langfristige Strategien
Neben den an der Etablierung eines adäquaten Ernährungsverhaltens und am Gewicht ansetzenden Methoden ist eine Veränderung der psychologischen und psychosozialen Bedingungen, welche in funktionalem Zusammenhang mit dem gestörten Essverhalten stehen, notwendig, um eine langfristige Besserung der Essstörung zu erzielen (Waller u. Kennerley 2003). Aufgrund der Komplexität der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Anorexia und Bulimia nervosa ist eine multimodale Vorgehensweise in der Therapie notwendig. Das multimodale Konzept beinhaltet dabei kognitive Techniken wie die Identifikation und Modifikation dysfunktionaler Gedanken. Diese Interventionen beziehen sich inhaltlich zum einen auf die Themenbereiche Gewicht, Figur und Essverhalten, zum anderen aber auch auf Kognitionen, welche den Leistungsbereich und interpersonelle Aspekte betreffen (Bruna u. Fogteloo 2003). Des Weiteren werden Konflikt- und Problemlösekompetenzen vermittelt und alternative
38
3
Kapitel 3 · Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
Bewältigungsstrategien für belastende Situationen eingeübt. Dies soll dazu führen, dass auf das pathologische Essverhalten als Bewältigungsmechanismus zunehmend verzichtet wird. Weitere wichtige Bestandteile im verhaltenstherapeutischen Vorgehen können die Erhöhung der sozialen Fertigkeiten, die Steigerung einer angemessenen emotionalen Ausdrucksfähigkeit sowie die Förderung der Kontaktund Kommunikationsfähigkeit sein (Waadt et al. 1992). Ein ebenfalls relevantes Ziel ist die Verbesserung des negativen Körperbildes. Dies soll über verschiedene Übungen wie beispielsweise Körperkonfrontationen per Spiegel und Video erreicht werden (vgl. Vocks u. Legenbauer 2005). Insbesondere bei jüngeren Patienten, die noch sehr stark in Interaktion mit ihrer Familie eingebunden sind, ist der Einbezug der Angehörigen wichtig, um dysfunktionale und damit die Essstörung aufrechterhaltende familiäre Interaktionsmuster direkt fokussieren zu können (vgl. auch Eisler et al. 1997). Am Ende der Behandlung geht es in erster Linie um die Stabilisierung des neu erlernten Verhaltens und die Vorbeugungg von Rückfällen z. B. über die Identifikation kritischer Situationen, die zu einem Rückfall führen könnten (vgl. auch Jacobi et al. 2000). Die Grundlage des vor allem kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehens bilden individuelle Verhaltens- und Bedingungsanalysen, u. a. erstellt anhand der erwähnten Selbstbeobachtungsprotokolle. Durch diese Methoden lassen sich die jeweiligen Problembereiche herausarbeiten und konkrete Behandlungsziele ableiten. Die individuellen Problemlösungen werden in kleinen Schritten erarbeitet und durch Verhaltenserprobungen in die Realität umgesetzt. Dabei lernen die Patienten, ihre eigenen Behandlungsfortschritte, z. B. durch eine Zielerreichungsskalierung (»Goal Attainment Scaling«), zu bewerten (7 Kap. 4). Die Bearbeitung der jeweiligen mit der Essstörung in Verbindung stehenden Problembereiche kann im Einzel- oder Gruppensetting stattfinden. Die KVT setzt auf eine zweigleisige Herangehensweise und behandelt in einem ersten Schritt das Untergewicht bei der Anorexia nervosa und strebt eine Normalisierung des 6
Essverhaltens inklusive dem Abbau von Essattacken und Erbrechen sowohl bei der Anorexia als auch der Bulimia nervosa an. Im zweiten Schritt werden mit dem gestörten Essverhalten assoziierte Problembereiche im Rahmen kognitiver Techniken und über Fertigkeitentrainings zur Erhöhung der sozialen Kompetenz sowie der Konflikt- und Problemlösefertigkeiten bearbeitet.
3.2
Wirksamkeit von kognitivbehavioralen Therapieansätzen bei Essstörungen
3.2.1
Anorexia nervosa
Hinsichtlich der Anorexia nervosa sind nur wenige aussagekräftige Studien zur Wirksamkeit kognitivbehavioraler Therapieansätze vorhanden (vgl. auch Fairburn 2005). Ein Review über die vorliegenden Studien wurde von Agras und Kollegen (2004) im Rahmen des National Institutes of Health Reports durchgeführt. In diesem Review kritisieren die Autoren an den bisher existierenden Studien, dass oft kein randomisiertes Vorgehen gewählt wurde und nur kleine Stichproben untersucht wurden, was die Aussagekraft dieser Studien stark beeinträchtigt. Ebenso war das Vorgehen in einigen Studien nicht manualisiert (vgl. auch Treasure u. Schmidt 2003). Zu einem ähnlichen Schluss kommen Jacobi, Dahme und Rustenbach (1997) in ihrer Meta-Analyse. Die wenigen existierenden Studien konnten eine Überlegenheit spezifischer (KVT) gegenüber unspezifischer (Diätberatung) Behandlungsansätze nachweisen (Fairburn 2005). Es scheint keinen zusätzlichen Nutzen einer pharmakologischen Behandlung bei der Gewichtssteigerung zu geben (Attia et al. 1998), allerdings scheint die Gabe von Fluoxetin das Rückfallrisiko zu reduzieren (Kaye et al. 2001; 7 Abschn. 3.3.7). Insgesamt zeigte sich bei niedrigerem Gewicht, längerer Krankheitsdauer und dementsprechend höherem Alter ein schlechteres Outcome. Während noch zwei Drittel derjenigen jugendlichen Anorexiepatienten, die weniger als 3 Jahre erkrankt waren, genesen, gilt das nur für ein Drittel der erwachsenen Anorexia-nervosa-Patienten (Treasure u. Schmidt 2003).
39 3.2 · Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Therapieansätzen bei Essstörungen
3.2.2
Bulimia nervosa
Die kognitiv-behaviorale Therapie der Bulimia nervosa stellt einen der am besten untersuchten Ansätze in der Essstörungsbehandlung dar (Lundgren et al. 2004) und gilt, wie bereits beschrieben, als Methode der Wahl (Wilson 1999), da sie alle Kernsymptome der Bulimie reduzieren kann und gute Langzeiterfolge aufweist (Wilson u. Fairburn 1993). Verschiedene Studien zur Wirksamkeit (Richards et al. 2000) zeigen beispielsweise sehr gute Reduktionsraten für Verhaltensweisen wie Essanfälle (70– 94%) und Erbrechen (75–94%). Eine neuere Studie überprüfte das Ausmaß und die klinische Signifikanz der beschriebenen Veränderungen und konnte allerdings zeigen, dass die kognitive Verhaltenstherapie der Bulimia nervosa im Prä-Post-Vergleich eher kleine bis mittlere Effekte erbrachte und keineswegs eine vollständige Genesung bedeutete. Lediglich im Hinblick auf die Essanfallshäufigkeit und das restriktive Essverhalten erzielten die Patienten mit Bulimia nervosa nach der Behandlung Werte, die der gesunden Vergleichspopulation entsprachen. Insgesamt zeigten sich bessere Ergebnisse für verhaltensassoziierte Merkmale und weniger für kognitive Aspekte wie das Selbstwertgefühl oder dysfunktionale Grundannahmen (Lundgren et al. 2004). Als problematisch gilt zudem die hohe Rate bulimischer Patienten, die eine kognitiv-behaviorale Einzeltherapie vorzeitig abbrechen (Steel et al. 2000). In einer Studie von Steel und Kollegen (2000) wird von einer Abbrecherquote von 43% berichtet. Die Autoren konnten als Prädiktoren für einen Therapieabbruch hohe Werte von Depressivität und Hoffnungslosigkeit identifizieren. Abschließend ist festzustellen, dass die KVT trotz ihrer Überlegenheit anderen Behandlungsansätzen gegenüber bei immerhin etwas mehr als einem Drittel der Patienten nicht erfolgreich ist, was eine Optimierung der Behandlungsstrategien notwendig macht. Hierzu müssten Untersuchungen zu relevanten Wirkmechanismen der einzelnen Techniken durchgeführt werden.
3.2.3
3
Wirksamkeit von Gruppentherapien bei Essstörungen
Die Wirksamkeit der Gruppentherapie bei Essstörungen wurde vielfach belegt. So hat die Arbeitsgruppe um Chen (2003) die klinische Effektivität der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gruppenbehandlung mit der Einzelbehandlung bei Bulimia nervosa verglichen. Es zeigten sich für beide Behandlungsformen hinsichtlich essstörungsspezifischer und allgemeinpsychopathologischer Symptome vergleichbar gute Effekte, außer im Hinblick auf das bulimische Verhalten. Hier war die Einzeltherapie der Gruppenbehandlung überlegen. Die positiven Verbesserungen beider Behandlungsansätze blieben bis zum 6-Monats-Follow-up erhalten; auch hatte sich die Ausprägung der bulimischen Symptomatik der Gruppenpatienten zu diesem Zeitpunkt dem der Einzelpatienten angeglichen. Weitere Studien zeigten, dass sich auch durch den interpersonellen Kontakt zwischen den Gruppenmitgliedern weitere Variablen wie Selbstsicherheit bei einigen Patienten tendenziell positiv im Rahmen einer Gruppentherapie verändern (Openshaw et al. 2004). Obschon Replikationen der oben genannten Ergebnisse wünschenswert sind, lassen sich durch die beschriebenen Studien bereits deutliche Hinweise darauf gewinnen, dass das Gruppensetting der Einzelbehandlung zumindest bei der Behandlung der Bulimia nervosa nicht unterlegen zu sein scheint. Vergleichbare Studien zur Anorexia nervosa stehen noch aus. Aufgrund der genannten Chancen einer Gruppenbehandlung sowie der niedrigeren Kosten (ca. 1/3–1/5 der Einzelbehandlung) ist es sinnvoll, Gruppenbehandlungen nicht nur – wie es derzeit gängige Praxis ist – in der stationären Versorgung einzusetzen, sondern diese auch im ambulanten Setting vermehrt zu etablieren. Zur Wirksamkeit der Gruppentherapie bei Anorexia nervosa liegen kaum kontrollierte und aussagekräftige Studien vor. Bei der Behandlung der Bulimia nervosa erwies sich die KVT als erfolgreich. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Einzeltherapie schneller auf die bulimische Symptomatik wirkt als die Gruppentherapie.
3
40
Kapitel 3 · Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
3.3
Weitere p psychotherapeutische y p Ansätze im Überblick
Als weitere Ansätze neben der KVT sind die non-direktive Interpersonelle Therapie (IPT) für Essstörungen, adaptiert nach Wilfley und Kollegen (1993), im Besonderen bei der Behandlung der Bulimia nervosa, als auch im Weiteren die systemische Psychotherapie und familienorientierte Ansätze zu nennen. Zudem gibt es psychodynamisch orientierte Verfahren, deren Wirksamkeit jedoch nur vereinzelt entsprechend wissenschaftlicher Standards überprüft ist. Nicht alle Ansätze sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bei beiden Störungsbildern untersucht, daher wird die Befundlage für beide Störungsgruppen zusammenfassend dargestellt und, falls Unterschiede zwischen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa vorhanden, werden diese im jeweiligen Abschnitt erläutert.
3.3.1
schen Erkrankung und einer Binge-Eating-Disorder überprüft (Wilfley et al. 2003). Die Ergebnisse der Therapievergleichsstudien zeigen, dass im Vergleich mit der KVT eine kurzfristige Unterlegenheit der IPT gegenüber der KVT vorliegt, welche sich allerdings im 2-Jahres-Follow-Up relativiert. Langfristig scheint die IPT der KVT daher nicht unterlegen zu sein (Agras et al. 2000). Agras und Kollegen konnten zudem zeigen, dass Patienten in der IPT-Bedingung die Behandlung als angenehmer und erfolgversprechender bewerteten als Patienten in der KVT-Bedingung (Agras et al. 2000). Es wird angenommen, dass aus der Patientenperspektive die Bearbeitung der interpersonellen Problembereiche von größerer Bedeutung zur Bewältigung der Essstörung ist als die Behandlung des Essverhaltens (Wilfley et al. 2003). Eine Übertragung der IPT auf die Behandlung der Anorexia nervosa ist in Arbeit (vgl. auch McIntosh et al. 2000).
Interpersonelle Psychotherapie 3.3.2
Die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) in ihrer für Essstörungen modifizierten Form (für eine Übersicht s. Weissman et al. 2000) fokussiert auf die interpersonalen Beziehungsmuster der essgestörten Patienten. Da die Essstörung als Beziehungsstörung angesehen wird, soll über eine Bearbeitung der Beziehungsmuster die Essstörungssymptomatik beeinflusst werden (Wilfey et al. 2003). Vier Hauptinterventionsbereiche mit folgenden Themen werden in der IPT fokussiert: 4 Trauerr bzw. Verlust einer Person, 4 Defizite in der interpersonalen Beziehungsgestaltungg wie Einsamkeit oder Unfähigkeit, befriedigende Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten, 4 Schwierigkeiten in der interpersonellen Kommunikation, welche vornehmlich Rollenkonflikte betreffen, sowie 4 Schwierigkeiten bei der Erfüllung neuer Lebensaufgaben, wie sie beim Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt auftreten können. Das gestörte Essverhalten an sich sowie das negative Körperbild sind hierbei kein direkter Interventionsgegenstand. Die Wirksamkeit der IPT im Bereich der Essstörung wurde bislang nur bei Frauen mit einer bulimi-
Dialektisch-behaviorale Ansätze
Die Adaption der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) nach Linehan (1993), welche ursprünglich zur Behandlung der Borderline-Störung entwickelt wurde, auf Essstörungen gilt insbesondere bei der Behandlung der Bulimia nervosa (Safer et al. 2001a,b) und Binge-Eating-Disorder als erfolgsversprechend (vgl. Telch et al. 2001). Hierbei stehen vor allem die Skilltrainings zur Spannungs- und Emotionsregulation im Vordergrund. Die Betroffenen sollen hierbei durch Achtsamkeitsübungen und Aufbau von Stresstoleranz eine funktionalere Affektregulation erlernen. Da Heißhungerattacken oft emotionale Spannungszustände vorausgehen, soll hierüber die Essanfallssymptomatik reduziert werden. Erste Ergebnisse zeigen gute Behandlungserfolge bei Frauen mit Essanfällen (inklusive bulimischen Patienten; Telch et al. 2001). Der DBT-Ansatz wird derzeit zumeist nicht als Standardbehandlung für Essstörungen angesehen, sondern dient eher als Ergänzung zur Behandlung therapieresistenter Patienten oder aber von Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen wie der Borderline-Störung (Palmer u. Birchhall 2003). Eine Übertragung des Ansatzes auf Patienten mit einer Anorexia nervosa ist bislang nicht beschrieben.
41 3.3 · Weitere psychotherapeutische Ansätze im Überblick
3.3.3
Systemische Ansätze
Systemische Psychotherapieansätze bei der Behandlung von Essstörungen orientieren sich an gesprächstherapeutischen Grundsätzen wie Empathie und Verständnis und sind auf die Erarbeitung von Lösungswegen zur Veränderung des die Krankheit aufrechterhaltenden Systems hin orientiert. Der Patient wird dabei als in ein System eingebunden gesehen, welches aus einer interdependenten, sich wechselseitig beeinflussenden Gruppe wie der Familie oder einer Paarbeziehung besteht. Wahrnehmung und Erleben geschehen dabei in Abhängigkeit vom jeweiligen System, dieses muss daher in der Therapie berücksichtigt werden. Im therapeutischen Prozess stehen hierbei vor allem positive Aspekte, Ressourcen und Fähigkeiten des Betroffenen im Vordergrund. Durch die Bildung von Hypothesen und Durchspielen der daraus resultierenden möglichen Verhaltensabläufe und Konsequenzen (sog. Planspielen) werden im Prozess neue Perspektiven entwickelt und eine bulimiefreie Lebensgestaltung angestrebt (Gröne 2001). Eine umfassende Evaluation dieser Konzepte steht noch aus.
3.3.4
Psychodynamisch orientierte Verfahren
Hinsichtlich psychodynamisch orientierter Verfahren gibt es nur wenige Studien, die nach wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt wurden. Hauptsächlich beziehen sich psychodynamisch angewandte Methoden auf die Behandlung der Anorexia nervosa und sind dabei deutlich pragmatischer und störungsorientierter als oft angenommen (Herzog u. Hartmann 1997). Psychodynamische Verfahren, welche mit einer Symptomzentrierung arbeiten, haben sich gegenüber traditionellen psychodynamischen Ansätzen in der Anorexiebehandlung als überlegen erwiesen (Herzog u. Hartmann 1997). Diese Ansätze beziehen sich in der Anfangsphase einer Therapie auf die Spaltung zwischen innerer und äußerer Welt und dem damit einhergehenden Autonomiekampf der Patienten. Hiermit wird die therapeutische Arbeit an der Symptomatik mit der Auseinandersetzung mit den interpersonellen und intrapsychischen Konflikten verbunden (Reich
3
2004). Weitere Behandlungspunkte sind die Bearbeitung von Konflikt- und Affektabwehr, welche sich in Isolierung, Rationalisierung und Verleugnung sowie rigiden Über-Ich-Anforderungen zeigt. Hinsichtlich der Behandlung der Bulimia nervosaa mit psychodynamischen Ansätzen gibt es trotz einer langjährigen Tradition insbesondere in der stationären Behandlung nur wenige kontrollierte klinische Studien, welche deren Behandlungserfolg überprüfen (Jager u. von Wietersheim 1997). Eine Outcome-Analyse von Kächele et al. (2001) beispielsweise zeigte für stationäre psychodynamische Behandlung bei einem 2,5-Jahres-Follow-up 33% symptomfreie Anorexiepatienten und 25% symptomfreie Bulimiepatienten. Allerdings liegen die hier berichteten Erfolgsraten damit unter denen für die stationäre Behandlung mit KVT (Fichter u. Quadflieg 1999). Neuere Entwicklungen der psychodynamischen Ansätze greifen die Symptomzentrierung auf und verbinden KVT-Ansätze mit analytischem Gedankengut. Aus dem englischsprachigen Raum ist dazu die »Cognitive Analytic Therapy« (CAT; Ryle 1990) zu nennen, welche vor allem im Bereich der Anorexiebehandlung eingesetzt und evaluiert wurde (Treasure u. Ward 1997). Diese basiert auf einer Modifikation des kognitiven Modells der Anorexia nervosa nach Fairburn, Shafran und Cooper (1999b) und beinhaltet darüber hinaus den Bereich interpersoneller Probleme. Ziel ist es, die Selbstwirksamkeit der Patienten zu erhöhen und durch gewonnene Selbstreflexionsfähigkeiten Veränderungen vorzunehmen (Tanner u. Connan 2003). Die CAT wird in 16–24 Sitzungen durchgeführt und beinhaltet dabei drei Stufen: die »reformulation« der problematischen interpersonellen Beziehungs- und Verhaltensmuster, die »recognition« dieser Muster und die »revision« der Muster im Hier und Jetzt und dem alltäglichen Leben. Das Rational der CAT ist gut strukturiert und beinhaltet auch Hausaufgaben wie das Führen von Essprotokollen oder Tagebüchern. Dare und Kollegen verglichen die CAT mit einem herkömmlichen psychodynamischen Verfahren und Familientherapie, dabei schnitt die CAT gleich gut ab (Dare et al. 2001).
3
42
Kapitel 3 · Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
3.3.5
Familientherapie
Familientherapie wird vornehmlich bei jugendlichen Patienten mit einer Anorexia nervosa durchgeführt und gilt in 60–90% der Fälle als erfolgreich für diese spezifische Klientel (Eisler et al. 2003). Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Herangehensweisen in der Einbindung der Eltern zeigte sich, dass die Ermutigung der Eltern, sich aktiv mit der Krankheit ihrer Tochter bzw. ihres Sohnes auseinanderzusetzen, größere Effekte erzielt als eine zwar unterstützende, jedoch nicht auf die Essstörung bezogene Haltung der Eltern. Das schlechteste Therapieergebnis zeigte sich hier, wenn die Eltern gar nicht einbezogen wurden (Eisler et al. 1997). Insgesamt gilt für die Behandlung jugendlicher Anorexiepatienten die Familientherapie als effektiv, wobei einschränkend gesagt werden muss, dass es wenig Vergleichsstudien auf diesem Gebiet gibt (Eisler et al. 2003). Allgemein gilt jedoch, dass Familien mit eher schwierigen Kommunikationsformen wie Feindseligkeit und Kritik besser erst in einem späteren Stadium der Behandlung in die Therapie mit einbezogen werden sollten. Dies hat den Vorteil, dass in diesem Stadium die Essstörungssymptomatik nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und so die dysfunktionalen Kommunikationsmuster stärker fokussiert werden können (Eisler et al. 2003). Für erwachsene Anorexiepatienten gibt es noch weniger Studien, die Familientherapie mit anderen Behandlungsformen vergleichen. Die wenigen existierenden Studien wurden mit chronisch erkrankten Patienten durchgeführt, so bleibt unklar, ob die Ergebnisse generalisierbar sind (Eisler et al. 2003). Die bereits unter 7 Abschn. 3.3.4 genannte Studie von Dare und Kollegen (2001) zeigte beispielsweise vergleichbare Ergebnisse zwischen psychodynamischen und familienorientierten Ansätzen. Obwohl auch für Patienten mit Bulimia nervosa ein familientherapeutischer Ansatz möglich und in der Praxis auch gängig zu sein scheint, gibt es hierzu kaum Wirksamkeitsstudien (Eisler et al. 2003). Daher kann derzeit über die Anwendung familienorientierter Ansatze in der Behandlung bulimischer Patienten keine eindeutige Aussage getroffen werden.
3.3.6
Selbsthilfeprogramme
Selbsthilfeprogramme zur Behandlung von Essstörungen erhielten in den letzten Jahren regen Zulauf. Die Begründung für die anwachsende Nachfrage ist zum einen in der meist langen Wartezeit auf einen Therapieplatz zu sehen, zum anderen können je nach kulturellen Bedingungen und sozialen Begebenheiten auch finanzielle oder organisatorische Gründe eine Rolle spielen (Perkins u. Schmidt 2005). Auch ist die Hemmschwelle für die Durchführung eines Selbsthilfeprogrammes oft niedriger als für eine reguläre »Face-to-Face-Psychotherapie«. Aus dieser Entwicklung heraus sind eine Vielzahl von Selbsthilfebüchern erschienen, welche meist kognitiv-behavioral orientiert sind und verschiedene Themenbereiche wie Ernährungsmanagement, kognitive Umstrukturierung, Körperbildstörungen und Problemlösefertigkeiten einschließen. Selbsthilfeprogramme mit kognitiv-behavioraler Orientierung erwiesen sich als recht effektiv insbesondere bei Frauen mit Bulimia nervosa. So konnte durch ein solches Gruppenselbsthilfeprogramm die Essanfallssymptomatik stabil, d. h. bis zu einem Jahr nach Beendigung des Selbsthilfeprogramms, reduziert werden (Peterson et al. 2001). In weiteren Studien konnte gezeigt werden, dass therapeutisch geleitete Selbsthilfegruppen sowohl ungeleiteten als auch Wartelistenkontrollgruppen überlegen waren (Perkins u. Schmidt 2005). Der Vergleich von geleiteten Selbsthilfegruppen mit einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapiegruppe bei bulimischen Patienten zeigte keine Unterschiede im Outcome bei Therapieende. Beide Gruppen führten zu einer Besserung der Symptomatik (Bailer et al. 2004). Für anorektische Patienten gibt es trotz ebenfalls reichlicher Auswahl an Selbsthilfebüchern kaum Wirksamkeitsstudien (Perkins u. Schmidt 2005), eine Ausnahme ist eine von Fichter und Kollegen angeleitete telefonisch unterstützte und manualisierte Selbsthilfe vor Aufnahme einer stationären Behandlung. Erste Ergebnisse zeigten eine kürzere Aufenthaltsdauer und stärkere Reduktion der Essstörungssymptomatik im Vergleich zu einer Wartekontrollgruppe (Fichter et al. 2003). Eine Übersicht zur Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen in der Behandlung von Essstörungen bieten Perkins und Schmidt (2005).
43 3.4 · Zusammenfassung
In den letzten Jahren wurden darüber hinaus verschiedene Studien, die sich neuere Technologien zunutze machen, beschrieben. So wurde beispielsweise insbesondere im Kontext der Rückfallprophylaxe internet- und SMS-basierte Programme erfolgreich durchgeführt (Kordy 2004)
3.3.7
Pharmakotherapie
Obwohl Serotonin in der Regelung des Hunger-Sättigungs-Haushalts eine bedeutsame Rolle spielt und es Hinweise darauf gibt, dass bei Essstörungen der Serotoninhaushalt verändert ist (7 Kap. 1), ist die Pharmakotherapie nicht die Therapie der Wahl bei der Behandlung von Essstörungen. Insbesondere bei der Anorexia nervosa besteht ein Mangel an Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung (Bruna u. Fogteloo 2003). Die einzige systematische Überprüfung (Treasure u. Schmidt 2003) zeigte meist keine positiven Befunde, teilweise zeigten sich sogar medizinische Komplikationen aufgrund der Interferenz der Medikation mit bestehenden kardiovaskulären Problemen (7 Abschn.1.1.3). Trotzdem wird bei möglichen komorbiden Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen die Empfehlung gegeben, zusätzlich mit Antidepressiva, vorzugsweise SerotoninWiederaufnahmehemmern, zu behandeln (Bruna u. Fogteloo 2003). Zwar gibt es eine Vielzahl von Befunden zur medikamentösen Therapie der Bulimia nervosa mit durchaus guten Ergebnissen hinsichtlich einer Reduktion von Essanfällen und Erbrechen, doch traten die auf die Medikation zurückzuführenden Verbesserungen nur kurzfristig während der Medikamenteneinnahme auf und blieben nach Absetzen der Medikation nicht bestehen (Hay u. Bacaltchuk 2001). Eine Studie von Walsh und Kollegen konnte nachweisen, dass Fluoxetin bei Patienten, die zuvor weder auf KVT noch auf IPT angesprochen hatten, in einem 8-Wochen-Treatment, verglichen mit einer Placebogruppe, wirksam war und die Frequenz an Essanfällen und Erbrechen signifikant reduziert werden konnte (Walsh et al. 2000). Das Fluoxetin wurde dabei mit 60 mg pro Tag dosiert, was ca. 3-mal so hoch ist wie die für die Depressionsbehandlung empfohlene Dosis (Bruna u. Fog-
3
teloo 2003). In einer weiteren Studie von Jacobi, Dahme und Dittmann (2002) konnte kein Vorteil einer kombinierten Behandlung mit dem Antidepressivum Fluoxetin gegenüber einer rein kognitivbehavioralen Gruppentherapie festgestellt werden. In einer Studie von Walsh und Kollegen (1997) hat sich Desipramin als erfolgreiche Alternative für Fluoxetin erwiesen, so dass der Einsatz dieser Substanz erwogen werden kann, wenn Fluoxetin nicht wirksam ist. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der additive Nutzen einer medikamentösen Behandlung zusätzlich zur Psychotherapie eher gering ist. Daher wird empfohlen, Psychopharmaka eher bei therapieresistenten Patienten oder Patienten mit komorbiden psychiatrischen Erkrankungen einzusetzen. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze in der Behandlung von Essstörungen, wobei sich die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) in verschiedenen Studien als Methode der Wahl mit den schnellsten und stabilsten Ergebnissen erwiesen hat. Daneben gelten die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) und die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) für Patienten mit Bulimia nervosa und eine familientherapeutische Herangehensweise für Jugendliche mit einer Anorexieerkrankung als viel versprechend. Selbsthilfeprogramme sind vorwiegend für erwachsene Bulimiepatienten evaluiert und stellen eine sinnvolle niederschwellige Alternative dar. Der additive Einsatz von Psychopharmaka scheint den Therapieerfolg nicht relevant zu verbessern. Der Einsatz von Antidepressiva sollte daher eher bei der Behandlung von Essstörungen mit komorbiden Störungen erwogen werden.
3.4
Zusammenfassung
4 Die kognitiv-behaviorale Therapie (KVT) geht
in einem Zwei-Phasen-Ansatz vor, wobei zunächst Gewichtssteigerung bzw.-stabilisierung und die Normalisierung des Essverhaltens inklusive des Abbaus von Essattacken und Gegenmaßnahmen im Vordergrund stehen. In einem
44
3
Kapitel 3 · Therapieansätze und ihre Wirksamkeit
zweiten Schritt werden die mit der Essstörung assoziierten Problembereiche wie defizitäre soziale Kompetenzen sowie geringe Konflikt- und Problemlösefertigkeiten Interventionsgegenstand. 4 Die Wirksamkeit der KVT ist für die Anorexia nervosa nicht ausreichend untersucht. Sie gilt dennoch als Methode der Wahl, da sie sich in bisherigen Studien als mindestens genauso erfolgreich wie andere Verfahren erwiesen hat. Bei der Bulimia nervosa gilt die KVT als überlegen. Es gibt eine Vielzahl von Therapiestudien, die die Effektivität der Behandlung gegenüber anderen Verfahren nachweisen. Hinsichtlich des Settings gilt eine kurzfristige Überlegenheit der Einzeltherapie gegenüber der Gruppenbehandlung, die sich langfristig wieder relativiert. 4 Neben der KVT kommen die interpersonelle Psychotherapie, familien- und systemisch orientierte Ansätze, psychodynamische Therapieverfahren und Selbsthilfeprogramme bei der Behandlung von Essstörungen zur Anwendung. Insbesondere bei der Bulimia nervosa mit selbstverletzenden Verhaltensweisen oder komorbider Persönlichkeitsstörung scheint eine modifizierte Form der DBT vielversprechend. Im Bereich der Anorexia nervosa gibt es kaum kontrollierte Therapiestudien. Neben kognitiv-behavioralen Ansätzen scheinen hier auch neuere analytische Verfahren wie die CAT erfolgversprechend.
4 4 Diagnostik
4.1
Medizinische Diagnostik – 46
4.2
Strukturierte Interviews – 47
4.2.1 Diagnosestellung der allgemeinen Psychopathologie – 47 4.2.2 Essstörungsspezifische Diagnosestellung – 47
4.3
Fragebögen
– 48
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Anamneseerhebung – 48 Essstörungssymptomatik – 49 Weitere Symptombereiche – 50 Retrospektive Erfolgsmessung – 51
4.4
Selbstbeobachtungsmethoden
– 52
4.4.1 Dokumentation der Nahrungsaufnahme zum Behandlungsbeginn – 52 4.4.2 Weitere Anwendungsbereiche von Ernährungsprotokollen – 52
4.5
Zusammenfassung
– 53
46
4
Kapitel 4 · Diagnostik
Zur Diagnostik von Essstörungen sind neben der psychologischen Diagnostik vor allem auch zu Beginn der Behandlung organmedizinische Abklärungen notwendig. Da der Schwerpunkt dieses Kapitels auf der psychologischen Diagnostik von Essstörungen liegen soll, gehen wir nur kurz auf notwendige medizinisch-diagnostische Maßnahmen ein. Zunächst wird daher ein kurzer Abriss über sinnvolle Maßnahmen zur diagnostischen Abklärung möglicher körperlicher Folgeerscheinungen gegeben, bevor die psychologische Diagnostik beleuchtet wird. Im Rahmen der Darstellung der psychologischen Diagnostik der Anorexia und Bulimia nervosa wird sowohl auf im deutschsprachigen Raum verfügbare strukturierte Interviewverfahren als auch Fragebögen eingegangen. Während strukturierte Interviews primär der Diagnosestellung zu Beginn der Behandlung dienen, werden die Fragebögen vor allem verwendet, um die Essstörungssymptome und assoziierte Merkmale quantifizieren zu können und Veränderungen im Verlauf zu beobachten. Abschließend wird auf Selbstbeobachtungsverfahren eingegangen, welche in der Essstörungsbehandlung durchaus auch als diagnostische Instrumente herangezogen werden können, um dysfunktionale Verhaltensmuster zu identifizieren. Eine ausführlichere Beschreibung verschiedener Diagnoseverfahren im Bereich der Essstörungen geben Tuschen-Caffier, Pook und Hilbert (2005). In diesem Buch können auch die Testgütekriterien der einzelnen Verfahren und Hinweise auf Normstichproben nachgelesen werden. Eine Kurzbeschreibung gängiger Verfahren in der Psychotherapie allgemein ist bei Brähler, Schumacher und Strauß (2002) sowie Vocks et al. (2005) zu finden. Die unterschiedlichen psychodiagnostischen Verfahren werden hier hinsichtlich ihres theoretischen Hintergrundes, ihres Bezuges zur Psychotherapie, des Aufbaus und der Auswertung sowie der Gütekriterien skizziert.
4.1
Medizinische Diagnostik
Wie bereits in 7 Kap. 1 dargestellt, kann sowohl die Anorexia als auch die Bulimia nervosa mit schwerwiegenden organischen Folgeerscheinungen einhergehen, welche zum Teil lebensbedrohlich sind (vgl. auch Herpertz 1997). Aus diesem Grunde sollte in
der Anfangsphase einer Psychotherapie der Essstörungen auch eine organmedizinische Untersuchung erfolgen. Diese soll neben einer Abklärung des Allgemein- und Ernährungszustandes der Patienten (hinsichtlich Gesamteindruck, Körpertemperatur, Blutdruck, Bodymass-Index) eine Blut- und ggf. Urinuntersuchung zur Diagnostik des Elektrolyt- und Mineralhaushaltes, der Blutfettwerte, des Blutzuckerspiegels sowie der Leber- und Nierenparameter beinhalten. Auch ist eine umfassende internistisch-kardiologische Untersuchung sinnvoll, welche neben einer genauen Inspektion des Gastrointestinaltraktes sowie der Leber- und Nierenfunktionen auch das Schreiben eines Elektrokardiogramms einschließen sollte, um möglicherweise vorliegende Herzrhythmusstörungen feststellen zu können (7 Kap. 1). Darüber hinaus soll der Mund- und Halsbereich (inklusive der Speicheldrüsen) untersucht werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Veranlassung eines Zahnarztbesuches sinnvoll. Ebenso kann die Konsultation eines Gynäkologen zur Untersuchung der reproduktiven Funktionen, inklusive der Erfassung der Sexualhormone notwendig sein. Bei chronifizierter Erkrankung bzw. häufig auftretenden Knochenbrüchen sollte unbedingt eine Knochendichtemessung durch einen Orthopäden erfolgen. Des Weiteren sollte sorgfältig erhoben werden, welche Medikamente der Patient einnimmt. Tuschen-Caffier und Florin (2002) haben einen Screeningfragebogen entwickelt, welchen Ärzte bei der medizinischen Diagnostik als Leitfaden verwenden können. Dazu gehört die Abklärung der sonstigen Medikamente wie Tranquilizer, Barbiturate und Anxiolytika neben den für Bulimia nervosa typischen Laxanzien, Diuretika und Appetitzüglern. Außerdem sollte auch nach Drogeneinnahme gefragt werden, da Kokain, aber auch Haschisch teilweise zur Hungerreduktion eingenommen werden. Mit Einverständnis der Patienten sollten hier regelmäßige Urinkontrollen mit Screenings nach Laxanzien, Diuretika- und Drogen durchgeführt werden. Bei Patienten, die schwerwiegendere körperliche Folgeerscheinungen aufweisen, sollte eine Wiederholung der körperlichen Untersuchung im Therapieverlauf vorgenommen und eine enge Kooperation mit dem Arzt angestrebt werden. In der folgenden Übersicht sind die notwendigen medizinisch-diagnostischen Maßnahmen bei Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung zusammengefasst.
47 4.2 · Strukturierte Interviews
Medizinisch-diagnostische Maßnahmen in der Behandlung der Anorexia und Bulimia nervosa 4 Untersuchung des Allgemeinzustandes: Ernährungszustand/Body-Mass-Index (BMI), Körpertemperatur, Blutdruck 4 Internistische Untersuchung: EKG, Inspektion des Gastrointestinaltraktes und Mundbereiches sowie der Leber- und Nierenfunktionen 4 Zahnärztliche Untersuchung 4 Gynäkologische Untersuchung: reproduktive Funktionen 4 Orthopädische Untersuchung: Knochendichtemessung 4 Erfassung von Laborparametern: Elektrolyt-/ Mineralhaushalt, Blutfette, Blutucker, Leberund Nierenwerte, Sexual-, Schilddrüsenund Wachstumshormone
4.2
Strukturierte Interviews
Um die Diagnose einer Essstörung, aber auch komorbid vorhandener weiterer psychischer Störungen (z. B. eine Major Depression; 7 Kap. 1), stellen zu können, empfiehlt sich der Einsatz strukturierter Interviews. Da die Anwendung dieser Verfahren nicht einfach ist, erfordert diese ein intensives Training des Diagnostikers (Wittchen et al. 2001). Unterschieden werden dabei Verfahren, die zur Erfassung psychischer Störungen allgemein herangezogen werden, von speziell für den Bereich der Essstörungen entwickelten Instrumenten, die hinsichtlich der Essstörungsdiagnostik wesentlich präziser sind (vgl. Jacobi et al. 2004a).
4.2.1
Diagnosestellung der allgemeinen Psychopathologie
Den Verfahren, welche der allgemeinen Diagnosestellung dienen, ist das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV, Achse 1: Psychische Störungen (SKID-I; Wittchen et al. 1997) zuzurechnen. Neben der Essstörungssymptomatik (Sektion H)
4
werden hier auch affektive Syndrome, psychotische Störungen, Substanzabusus und -abhängigkeit sowie Angst- und somatoforme Störungen erfasst. Sofern der Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung vorliegt (z. B. bei der Bulimia nervosa einer BorderlineStörung, 7 Kap. 1), empfiehlt es sich, darüber hinaus das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV, Achse 2: Persönlichkeitsstörungen (SKID-II; Fydrich et al. 1997) mit den Patienten durchzuführen. Vor dem Einsatz des relativ zeitaufwendigen SKIDII kann ein Screeningfragebogen verwendet werden, in dem die Patienten zu jeder der 12 Persönlichkeitsstörungen entsprechende Fragen beantworten. Ergeben sich in dem Screeningfragebogen Hinweise auf das Vorliegen bestimmter Persönlichkeitsstörungen oder besteht beim Diagnostiker der Verdacht hierauf, ist die Durchführung der entsprechenden Sektionen des SKID-II indiziert. Alternativ zum SKID können als weitere klinische Interviews zur Diagnostik das Diagnostische Interview für Psychische Störungen nach DSM-IV (DIPS für DSMIV: Margraf et al. 2005) sowie das Diagnostische Expertensystem nach DSM-IV und ICD-10 (DIAX; Wittchen u. Pfister 1997) herangezogen werden. Weiterführende Hinweise zu klinischen Interviews finden sich bei Wittchen et al. (2001).
4.2.2
Essstörungsspezifische Diagnosestellung
Zur ausführlicheren Diagnostik der Essstörungen ist es sinnvoll, spezifische klinische Interviews für diesen Bereich zu verwenden. Hierzu eignet sich die Eating Disorder Examination (EDE; Fairburn u. Cooper 1993; deutsche Version: Hilbert et al. 2004) sowie das Strukturierte Inventar für Anorektische und Bulimische Essstörungen (SIAB; Fichter u. Quadflieg 1999). Beide Experten-Interviews wurden in Anlehnung an die Diagnosekriterien für Essstörungen gemäß DSM-IV (der SIAB zusätzlich nach ICD-10) konzipiert. Sowohl die EDE als auch der SIAB liegen neben der Interviewform auch in Fragebogenform als Selbsteinschätzungsinstrument vor (EDE-Q; Fairburn u. Beglin 1994; deutsche Fassung: Hilbert et al., unveröffentlichtes Manuskript; SIABSE; Fichter u. Quadflieg 1999). Diese im Vergleich zu den Experteninterviews in der Handhabung weniger
48
4
Kapitel 4 · Diagnostik
aufwändigen Selbsteinschätzungsinstrumente eignen sich sehr gut für Screeningzwecke. Zur Stellung einer Diagnose sollte jedoch das Experteninterview verwendet werden, da beide Versionen nicht immer zu übereinstimmenden Resultaten kommen (vgl. Wolk et al. 2005). Aber auch die Screeninginstrumente bieten Vorteile: Neben der Zeit- und Kostenersparnis ist hier die möglicherweise höhere Bereitschaft zur Selbstenthüllung seitens der Patienten zu nennen. Auch kann durch die Fragebogenversion eine gegebenenfalls auftretende Verzerrung der Patientenantworten durch die Formulierung der Fragen durch den Interviewer vermieden werden. Hinzu kommt die leichtere Handhabung der Fragebogenversionen, da diese – im Gegensatz zu den Experteninterviews – kein spezifisches Training des Diagnostikers voraussetzen (Peterson u. Miller 2003). Die EDE umfasst insgesamt 36 Items. Diese beinhalten 14 diagnostische Fragen, welche neben der Häufigkeit von Essanfällen in den letzten 3 Monaten, der Einnahme von Laxanzien und dem Ausüben von exzessivem Sport auch die Form der Essanfälle (subjektive vs. objektive Essanfälle sowie Überessen ohne Kontrollverlust) erfragen. Die weiteren 22 Items werden in den Subskalen »Restraint Scale« (kognitive Kontrolle des Essverhaltens), »Eating Concern Scale« (essensbezogene Sorgen), »Shape Concern Scale« (Figursorgen) und »Weight Concern Scale« (Gewichtssorgen) zusammengefasst. Das SIAB beinhaltet insgesamt 87 Fragen, welche sich neben der Essstörungssymptomatik auch auf weitere Symptombereiche wie Depression und Angst, soziale Integration sowie Sexualität beziehen. Die Items werden den Subskalen »Körperschema und Schlankheitsideal«, »Allgemeine Psychopathologie«, »Sexualität und soziale Integration«, »Bulimische Symptome«, »Gegensteuernde Maßnahmen«, »Fasten und Substanzmissbrauch« und »Atypische Essanfälle« zugeordnet. Zur Diagnosestellung sollten strukturierte Interviewverfahren eingesetzt werden. Dazu eignen sich zur Erfassung der allgemeinen Psychopathologie das SKID-I, das DIPS oder das DIA-X. Zur Diagnosestellung einer Essstörung sollten spezifischere Interviews eingesetzt werden wie die EDE oder das SIAB.
4.3
Fragebögen
Während sich die strukturierten Interviews insbesondere zur Diagnosestellung eignen, können anhand verschiedener Fragebogenverfahren, die von den Patienten selbst in schriftlicher Form beantwortet werden, Ausprägungsmuster und Schwere der Essstörungssymptome und damit zusammenhängende psychische Merkmale erfasst werden. Auch wenn Fragebögen ein klinisches Experteninterview nicht ersetzen sollten, können sie gute ergänzende Hinweise zur Psychopathologie liefern und zur Messung des Therapieerfolges verwendet werden, beispielsweise in Form eines Vergleiches der vor und nach der Therapie erhobenen Symptomausprägungen (vgl. Vocks et al. 2005). Auch Zwischenmessungen im Verlaufe der Behandlung können wertvolle Hinweise darauf liefern, in welchen Bereichen die Patienten bereits Fortschritte gemacht haben und welche Aspekte in den folgenden Therapiesitzungen intensiver fokussiert werden sollten.
4.3.1
Anamneseerhebung
Um die Anamneseerhebung ökonomisch zu gestalten, können die Patienten gebeten werden, zu Beginn der Therapie den Fragebogen zur Lebensgeschichte (Lazarus 1978; in modifizierter Form publiziert bei Görlitz 1998) zu beantworten. Hier werden die Patienten zunächst gebeten, ihre Symptomatik in eigenen Worten zu beschreiben und den Grund des Aufsuchens der Therapie zu benennen. Auch werden möglicherweise zuvor durchgeführte Behandlungen (z. B. ambulante oder stationäre Psychotherapie, medikamentöse Behandlung) erfragt. Des Weiteren wird auf die lebensgeschichtliche Entwicklung eingegangen: Die Patienten werden hierbei gebeten, besondere Ereignisse aus den verschiedenen Phasen ihres Lebens (Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter) zu beschreiben. Auch werden Angaben zu den Eltern und Geschwistern (Alter, Beruf etc.) sowie zum Verhältnis, das die Patientin zu ihnen hat, erbeten. Ebenso ist es sinnvoll, die schulische und berufliche Entwicklung der Patienten sowie deren aktuelle Lebenssituation (Wohnung, Freizeitgestaltung, soziale Kontakte und weitere Ressourcen) zu erfragen. Zur Erstellung einer Verhaltensanalyse
49 4.3 · Fragebögen
können des Weiteren erste Informationen anhand des Anamnesefragebogens erhoben werden wie die Bedingungen, unter denen das Problemverhalten (z. B. Essanfälle) vermehrt oder seltener eintritt sowie kognitive, emotionale, physiologische und behaviorale Aspekte des Problemverhaltens. Essstörungsspezifische Fragen zur Vorgeschichte sind bei Jacobi, Thiel und Paul (2000) in Form eines Arbeitsblattes abgedruckt. Diese beziehen sich u. a. auf die Dauer der Essstörungssymptomatik, von der Patientin vermutete Ursachen bzw. Auslöser der Erkrankung und die Definition von Zielen für die Therapie. Die anhand solcher Fragebögen zur Anamneseerhebung erhobenen Daten können dem Therapeuten auf relativ ökonomische Art zum einen wertvolle Hintergrundinformationen über die Entwicklung und Lebenssituation der Patienten liefern, die für die Therapieplanung und -durchführung von Relevanz sind. Zum anderen können diese Informationen für die Erstellung eines Antrages an den jeweiligen Kostenträger (z. B. Krankenkasse) bzw. für das Verfassen eines Therapieabschlussberichtes oder eine Falldokumentation verwendet werden. Die auf diese Weise erhobenen Informationen sollten im persönlichen Gespräch zwischen Patient und Therapeut vertiefend exploriert werden. Weiterführende Hinweise zur Dokumentation in der Psychotherapie finden sich bei Laireiter, Stieglitz und Baumann (2001).
4.3.2
Essstörungssymptomatik
Nachdem ausführlicher auf Fragebögen zur Anamneseerhebung eingegangen wurde, sollen im Folgenden Instrumente zur Quantifizierung der Essstörungssymptomatik dargestellt werden. Dazu gehören zum einen Instrumente zur Erfassung der Kernsymptome wie Essverhalten, allgemeine Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale, zum anderen Fragebögen spezifisch für bestimmte Symptomgruppen. Zusätzlich können noch spezifische Facetten der Essstörung wie beispielsweise Störungen des Körperbildes erfasst werden.
Erfassung des Essverhaltens und assoziierter Persönlichkeitsmerkmale Als erstes sind hier die Fragebögen zur EDE, der EDE-Q (Fairburn u. Beglin 1994; deutsche Fassung:
4
Hilbert u. Tuschen-Caffier, unveröffentlichtes Manuskript) und der Fragebogen zum SIAB, der SIABSE; Fichter u. Quadflieg 1999) zu nennen. Da diese inhaltlich jedoch im Wesentlichen den Experteninterviews entsprechen und diese bereits in 7 Abschn. 4.2.2 ausführlich beschrieben wurden, wird hier nicht näher auf diese beiden Instrumente eingegangen. Neben diesen Instrumenten existieren im deutschsprachigen Raum verschiedene weitere Fragebögen, von denen das Eating Disorder Inventory-2 (EDI-2; Garner 1991; deutsche Version von Paul u. Thiel 2005) und der Fragebogen zum Essverhalten (FEV; Pudel u. Westenhöfer 2005; englischsprachige Originalversion: Stunkard u. Messick 1985) am häufigsten Verwendung finden. Das EDI2 ist ein Selbsteinschätzungsinventar zur Beschreibung des pathologischen Essverhaltens im engeren Sinne sowie zur mehrdimensionalen Erfassung von weiteren relevanten psychologischen Variablen. Es beinhaltet die Skalen »Schlankheitsstreben«, »Bulimie«, »Unzufriedenheit mit dem Körper«, »Ineffektivität«, »Perfektionismus«, »Misstrauen«, »Interozeptive Wahrnehmung«, »Angst vor dem Erwachsenwerden«, »Askese«, »Impulsregulation« und »Soziale Unsicherheit«. Das EDI-2 unterscheidet sich nur hinsichtlich der letztgenannten drei Skalen von der Ursprungsversion dieses Instrumentes (EDI). Es bietet damit eine umfangreiche Beschreibung der Essstörungspathologie und damit assoziierter Persönlichkeitsmerkmale. Der FEV hingegen bezieht sich primär auf das Essverhalten und misst anhand von 60 Items die »Kognitive Kontrolle des Essverhaltens«, die »Störbarkeit des Essverhaltens« und »Erlebte Hungergefühle«. Er eignet sich damit insbesondere zur Überprüfung möglichen restriktiven Essstils bei der Bulimia und Anorexia nervosa. Auch der Eating Attitudes Test (EAT; Garner et al. 1982, 1983; deutsche Fassung: Meermann u. Vandereycken 1987) eignet sich zur Messung der Essstörungspathologie. Er beinhaltet die Faktoren »Diätverhalten«, »Bulimie«, »Übermäßige Beschäftigung mit Essen« und »Orale Kontrolle«, welche anhand von 40 Items (bzw. in der Kurzform von 26 Items) gemessen werden und kann beispielsweise alternativ zum FEV eingesetzt werden, da er verwandte Konstrukte misst und weniger Items enthält.
50
Kapitel 4 · Diagnostik
Fragebögen für spezifische Symptomgruppen
4
Ein weiteres diagnostisches Instrument im Bereich der Essstörungen stellt das Anorexia nervosa Inventarr (ANIS; Fichter u. Keeser 1980) dar. Dieser Fragebogen, welcher 32 Items umfasst, deckt die Bereiche »Figurbewusstsein«, »Überforderung«, »Anankasmus«, »Negative Auswirkungen des Essens«, »Sexuelle Ängste« und »Bulimie« ab. Es zielt auf primär mit der Anorexia nervosa verbundene psychopathologische Merkmale und ist damit weniger breit gestreut als das EDI-2 oder der FEV. Es sollte deshalb dann eingesetzt werden, wenn aufgrund der Anamnese die hier genannten Skalen von Bedeutung sind, um die Hypothesenbildung zu unterstützen und Veränderungen im Verlauf zu erfassen. Für die Bulimia nervosa speziell entwickelte Inventare wie der Bulimia-Test-Revised (BULIT-R) (Welch et al. 1993) liegen im deutschsprachigen Raum nicht vor.
Fragebögen zur Erfassung einer Körperbildstörung Neben diesen Instrumenten, welche sich primär auf das Essverhalten beziehen, sollte in der Diagnostik der Essstörungen auch das Körperbild berücksichtigt werden, da dieses ein zentrales Merkmal von Essstörungen darstellt (Cash u. Deagle 1997). Das Körperbild wird allgemein anhand des EDI-2 (Skala: »Unzufriedenheit mit dem Körper«, s. o.) erfasst. Falls keine spezifischere Diagnostik der Körperbildstörung gewünscht ist, ist der Einsatz dieses Instrumentes ausreichend, da es auch weitere zentrale Symptombereiche einer Essstörung erfasst und sowohl im Praxis- als auch im Forschungskontext international etabliert ist. Soll eine vorhandene oder vermutete Körperbildstörung jedoch genauer spezifiziert werden, können die im Folgenden beschriebenen Instrumente eingesetzt werden. Zur Quantifizierung der Überschätzung der eigenen Körperdimensionen kann in diesem Zusammenhang beispielsweise die Contour Drawing Rating Scale verwendet werden (Thompson u. Gray 1995; abgedruckt bei Vocks u. Legenbauer 2005). Zur Messung der Einstellung zum eigenen Körper empfiehlt sich der Einsatz des Fragebogens zur Beurteilung des eigenen Körpers (FbeK; Strauß u. Richter-Appelt 1996). Zeitlich ökonomischer ist der
Fragebogen zum Körperbild (FKB-20; Clement u. Löwe 1996), welcher alternativ zum FbeK eingesetzt werden kann. Behaviorale Aspekte eines gestörten Körperbildes, welche das körperbezogene Vermeidungs- und Kontrollverhalten umfassen, können mit dem Body Image Avoidance Questionnaire (Rosen et al. 1991; deutsche Version: Legenbauer et al., unveröffentlichtes Manuskript) sowie dem Body Checking Questionnaire (Reas et al. 2002; deutsche Fassung: Vocks u. Legenbauer, 2005) erfasst werden. Sowohl evaluative als auch verhaltensbezogene Aspekte eines gestörten Körperbildes werden anhand des Fragebogens zum Figurbewusstsein (FFB; Waadt et al. 1992; englischsprachige Originalversion: Body Shape Questionnaire; Cooper et al. 1987) und des Multidimensional Body-Self Relations Questionnaire (MBSRQ; Cash 2000; deutschsprachige Version: Vocks et al., unveröffentlichtes Manuskript) erhoben. Eine ausführlichere Beschreibung dieser und weiterer Verfahren zur Messung eines gestörten Körperbildes findet sich bei Vocks und Legenbauer (2005).
4.3.3
Weitere Symptombereiche
Neben einer Erfassung der Essstörungsymptomatik ist es sinnvoll, ergänzend Fragebögen einzusetzen, welche weitere Problembereiche der Patienten erfassen. Hierzu zählen zum einen möglicherweise komorbid auftretende Störungen (7 Kap. 1 zu Komorbidität) oder auch bestimmte psychologische Charakteristika, die mit der Essstörung im Zusammenhang stehen wie der Umgang mit Belastungen und Emotionen (7 Kap. 2 zu den Störungsmodellen).
Komorbide Störungen Aufgrund der hohen Komorbidität von Essstörungen und affektiven Symptomen, sozialer Angst und Substanzmissbrauch empfiehlt sich des Weiteren der Einsatz von spezifischen Instrumenten zur Erfassung dieser Störungsbereiche. Im deutschsprachigen Raum werden zur Messung affektiver Symptome oft die Allgemeine Depressions-Skalaa (ADS; Hautzinger u. Bailer 1993) und das Beck Depressions Inventar (BDI; Beck u. Steer 1987; deutsche Version: Hautzinger et al. 1994) herangezogen. Die Depressivität sowie die allgemeine Symptombelastung las-
51 4.3 · Fragebögen
sen sich anhand der Symptom-Checkliste (SCL-90; Derogatis 1986) quantifizieren. Zur Erfassung möglicherweise komorbid vorliegender sozialer Angst können der Unsicherheitsfragebogen (U-FB; Ulrich de Muynck u. Ullrich 1977) sowie das Soziale Phobie-Inventarr (SPAI; Turner et al. 1989; deutsche Version: Fydrich 2005) verwendet werden. Zur Messung des Selbstwertgefühls kann die RosenbergSkalaa eingesetzt werden (Rosenberg 1965; deutsche Fassung: Ferring u. Filipp 1996). Wenn Hinweise auf einen Alkoholmissbrauch bzw. eine Abhängigkeit vorliegen, kann beispielsweise das Inventory of Drug Taking Situations (IDTSA; Lindenmeyer u. Florin 1998) zur weiteren Überprüfung der Symptomatik verwendet werden.
Umgang mit Belastungen und Emotionen Aufgrund der bei Patienten mit Essstörungen häufig auftretenden Defizite im Bereich des Umgangs mit Belastungen und Emotionen (vgl. z. B. Heatherton u. Baumeister 1991) empfiehlt es sich, auch diesen Bereich in die Diagnostik einzubeziehen. Hierdurch können Hinweise darauf gewonnen werden, inwieweit Interventionen zur Stressbewältigung und Emotionsregulation besondere Berücksichtigung in der Essstörungstherapie finden sollen. Hierzu können folgende Fragebögen verwendet werden: Der Fragebogen zum Umgang mit Belastungen im Verlauff (UBV; Reicherts u. Perrez 1993) stellt einen handlungsorientierten und mehrdimensionalen Situations-Reaktions-Prozess-Fragebogen dar. Er bildet auf 24 Skalen folgende Komponenten der Belastungsverarbeitung ab: Emotionale Stressreaktion, Situationseinschätzungen, Bewältigungsintentionen, selbstbezogene Bewältigungshandlungen, umgebungsbezogene Bewältigungshandlungen und Arten der Palliation. In der Handhabung etwas ökonomischer als der UBV ist der Stressverarbeitungsfragebogen (SVF 120 und 78, Janke et al. 2002) welcher ebenfalls Copingstrategien erfragt und erfasst, zu welcher Reaktionsform eine Person in Stresssituationen neigt. Der Umgang mit Emotionen wird im Fragebogen zur Emotionsregulation (EMOREG; Znoj 2000) gemessen. Hierbei finden sowohl adaptive als auch maladaptive Strategien Berücksichtigung. Darüber hinaus kann die Messung der Selbstkontrollfähigkeiten bzw. der Selbstwirksamkeitserwartung sinnvoll sein, um Vorraussetzungen auf
4
Seiten der Patienten für die Entwicklung alternativer Verhaltensweisen besser einschätzen zu können, z. B. anhand des Self-Control-Schedule (Rosenbaum 1980; deutsche Standardisierung: Jacobi et al. 1986). Dieses Instrument erfragt beispielsweise die Anwendung von Problemlösestrategien und Selbstverbalisationen sowie die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub.
4.3.4
Retrospektive Erfolgsmessung
Die Messung des Therapieerfolges kann nicht nur anhand des Vergleiches der Symptomausprägung vor und nach der Therapie erfolgen, sondern auch durch retrospektive Einschätzungen des Therapieerfolges am Ende der Therapie (Michalak et al. 2003). Hierzu eignet sich beispielsweise das Goal Attainment Scalingg (GAS, in Anlehnung an Kiresuk u. Sherman 1968), bei dem zu Beginn der Behandlung seitens der Patienten konkrete Ziele definiert werden. Um diese Ziele möglichst detailliert zu erfassen, werden von den Patienten ergänzende Kriterien für die Zielerreichung beschrieben. Am Ende der Therapie sowie idealerweise auch im Verlaufe der Behandlung (beispielsweise im Anschluss an jede 4. bis 8. Sitzung) sollen die Patienten angeben, wie viel Prozent des zuvor festgelegten Zieles sie bereits erreicht haben (Schulte 1996). Ein weiteres Instrument zur retrospektiven Erfolgsmessung stellt der Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens (VEV; Zielke u. Kopf-Mehnert 1978; überarbeitete Fassung: Veith u. Willutzki 2001) dar. In diesem Fragebogen sollen die Patienten einschätzen, inwieweit sich bei ihnen im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Therapie positive Veränderungen in verschiedenen Bereichen ergeben haben. Zudem gelten die meisten der vorgestellten essstörungsspezifischen Fragebögen als änderungssensitiv und können zur Verlaufsmessung herangezogen werden (Pook u. Tuschen-Caffier 2004). Neben der ausführlichen Anamnese sollten Fragebögen zur Essstörungsdiagnostik eingesetzt werden. Diese betreffen zum einen den Bereich des Essverhaltens und zentraler Einstellungen (z. B. EDI-2), können aber auch 6
52
Kapitel 4 · Diagnostik
störungsspezifisch sein (ANIS) oder spezifische Komponenten erfassen (z. B. Körperbildstörung mit dem MBSRQ). Zum anderen sollte auch die allgemeine Psychopathologie (z. B. mit der SCL-90-R) und der Umgang mit Belastungen erfasst werden, um ein detailliertes Bild von Einschränkungen und Beschwerden zu erhalten. Die Messungen sollten sowohl zu Beginn als auch im Verlauf und zum Ende der Behandlung durchgeführt werden.
4
4.4
Selbstbeobachtungsmethoden
Neben den standardisierten Fragebögen empfiehlt sich in der Diagnostik der Essstörungen des Weiteren der Einsatz von Selbstbeobachtungsmethoden. Im Rahmen der Diagnostik sowohl der Anorexia als auch der Bulimia nervosa sind in diesem Zusammenhang Ernährungstagebücher indiziert (Jacobi et al. 2000; Tuschen-Caffier u. Florin 2002; Garner & Garfinkel 1997). Diese geben Aufschluss über das Essverhalten und Auslösesituationen und erhalten im weiteren Therapieverlauf auch therapeutische Funktionen wie das Durchbrechen von Automatisierungen oder der Identifikation von Auslösesituationen für das Problemverhalten.
4.4.1
Dokumentation der Nahrungsaufnahme zum Behandlungsbeginn
Zur Führung der Essprotokolle werden die Patienten gebeten, jeden Tag alle von ihnen verzehrten Nahrungsmittel anzugeben. Hierbei soll auch die jeweilige Uhrzeit und Menge notiert werden. Diese Protokollierung sollte möglichst direkt nach der Mahlzeit durchgeführt werden, um erinnerungsbedingte Verzerrungen zu vermeiden. Sie ermöglicht es dem Therapeuten, Informationen über das Essverhalten des jeweiligen Patienten zu erhalten. So kann durch die Ernährungstagebücher in Erfahrung gebracht werden, welche Nahrungsmittel vermieden und welche wann und in wie großen Mengen verzehrt werden. Aus diesen Angaben kann der Therapeut oder ein kooperierender Ökotrophologe später die Kalo-
rien und die proportionale Ausgewogenheit der Nahrungszusammensetzung errechnen, um zu überprüfen, ob die gegessene Nahrungsmenge ausreicht, um eine bei der Anorexia nervosa indizierte Gewichtszunahme herbeizuführen. Des Weiteren liefert dieses Vorgehen Hinweise darauf, inwiefern im Therapieprozess auf das Einbauen verbotener Nahrungsmittel bzw. einer Erhöhung der Nahrungsaufnahme eingegangen werden muss. Indem ergänzend auch Heißhungerattacken und kompensatorische Verhaltensweisen wie Erbrechen in den Tagebüchern notiert werden, kann der Therapeut erschließen, welche Bedingungen (z. B. Fasten) einem Essanfall vorausgehen. Dies kann wichtige Implikationen für die Therapieplanung haben (7 Kap. 8). Ebenfalls wichtig für die Planung der Interventionen kann die Registrierung von Gedanken und Gefühlen sein, die vor, während und nach einem Essanfall sowie dem kompensatorischen Verhalten, aber auch dem Fasten auftreten. Problematisch ist, dass es bei der Führung von Esstagebüchern zu Verfälschungstendenzen kommen kann (Angenendt et al. 2001): So ist es häufig der Fall, dass ein Patient mit einer Anorexia nervosa eine größere Nahrungsmenge angibt, als er tatsächlich verzehrt hat, während ein Patient mit einer Bulimia nervosa möglicherweise einen Teil der im Rahmen eines Essanfalls verschlungenen Nahrungsmittel aus einem Schamgefühl heraus verschweigt.
4.4.2
Weitere Anwendungsbereiche von Ernährungsprotokollen
Neben dieser diagnostischen Funktion der Esstagebücher zur Dokumentation der Nahrungsaufnahme und zur Identifikation von auslösenden Bedingungen und Verhaltenskonsequenzen bei Essstörungen können Esstagebücher auch eine therapeutische Zielsetzung haben: Hoch automatisierte Abläufe im Erleben und Verhalten der Patienten beispielsweise bezüglich eines Essanfalles können durch eine möglichst zeitnahe Protokollierung unterbrochen werden (siehe hierzu Benninghoven 1997). Eine weitere therapeutische Funktion der Ernährungsprotokolle liegt im Aufbau von Kontrolle über das vermeintlich unkontrollierbare Verhalten: Indem dem Patienten die Zusammenhänge zwischen den auslösenden Be-
53 4.5 · Zusammenfassung
dingungen eines Essanfalls (z. B. Einsamkeit) sowie deren Verhaltenskonsequenzen (z. B. Erbrechen) transparent werden, wird es ihm leichter fallen, sein Verhalten zu steuern (Bennighoven 1997). Um eine bei den Patienten bereits bestehende gedankliche Fixierung und Kontrolle bezüglich des Essverhaltens und der Kalorienmenge von Nahrungsmitteln nicht weiter zu verfestigen (vgl. auch Angenendt et al. 2001), sollten die Patienten nicht die Kalorienzahlen notieren. Des Weiteren ist es sinnvoll, die Tagebücher jeweils nur für eine bestimmte Zeit führen zu lassen, beispielsweise zu Beginn der Therapie zu diagnostischen Zwecken und für die therapeutischen Zielsetzungen im Rahmen der Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen (7 Kap. 8) nochmals stichprobenhaft über 1–2 Wochen in der Mitte der Therapie. Ernährungstagebücher sind zusätzlich zu den Fragebögen hilfreich, um sich ein genaues Bild über das Ernährungsverhalten des Patienten zu machen. So können sie den diagnostischen Prozess durch die genaue Analyse der Mahlzeitenstruktur sowie der Kontextbedingungen, unter denen ein Essanfall bzw. Fastenperioden auftreten, unterstützen. Daneben übernehmen sie im weiteren Therapieverlauf auch therapeutische Funktion, da durch die Protokollierung automatisch ablaufende Prozesse unterbrochen werden.
4.5
Zusammenfassung
4 Eine medizinische Untersuchung ist zur Diffe-
renzialdiagnostik und Abklärung möglicher organischer Folgeprobleme bei Essstörungen unerlässlich. 4 Zur Stellung der Diagnose einer Anorexia oder Bulimia nervosa sowie möglicherweise komorbid vorliegender weiterer psychischer Erkrankungen sollte ein strukturiertes klinisches Interview verwendet werden (essstörungsübergreifend: z. B. SKID-I und SKID-II; essstörungsspezifisch: z. B. EDE). 4 Zur Erhebung von Schwere und Muster der Symptomatik und zur Erfassung essstörungsassoziierter Problembereiche sowie zur Verlaufs-
4
kontrolle und Erfolgsoperationalisierung der Psychotherapie empfiehlt sich der Einsatz von verschiedenen Fragebögen (z. B. EDI-2). Diese sollten vor und nach der Therapie sowie idealerweise zusätzlich im Verlaufe der Therapie von den Patienten beantwortet werden. 4 Selbstbeobachtungsprotokolle besitzen sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Sie dienen der Dokumentation der Nahrungsaufnahme sowie der Identifikation von auslösenden Bedingungen für Essanfälle und Fastenperioden.
5 5 Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms 5.1
Aufbau des Therapieprogramms
5.2
Einsatz des Manuals – 61
5.3
Einsatz einzelner Module – 61
5.4
Auswahl des Settings
5.5
Gruppentherapie
– 56
– 61
– 62
5.5.1 Grundkonzept der Gruppentherapie – 62 5.5.2 Besonderheiten in der gruppentherapeutischen Behandlung von Essstörungen
5.6
Besonderheiten bei der Behandlung von Männern – 63
5.7
Arbeitsblätter und ergänzende Materialien – 64
– 62
5
56
Kapitel 5 · Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms
5.1
Aufbau des Therapieprogramms
Nachdem im ersten Teil dieses Buches ein Überblick über die Störungsbilder der Anorexia und Bulimia nervosa in ihren epidemiologischen und ätiologischen Aspekten sowie Hinweise zur Diagnostik gegeben wurden, erfolgt nun im zweiten Teil die konkrete Darstellung der therapeutischen Interventionen im Rahmen der kognitiv-behavioralen Therapie. Dieses Therapieprogramm basiert auf dem in 7 Kap. 2 dargestellten integrativen Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Essstörung. Das Behandlungsmanual möchte, anknüpfend an die im ersten Teil dargestellten Forderungen nach einer Modernisierung und Erweiterung bisheriger kognitiv-behavioraler Programme im Bereich der Essstörungsbehandlung (vgl. Waller u. Kennerley 2003), ein umfassendes Behandlungsprogramm zur Verfügung stellen. Dabei werden neben den »traditionellen« Interventionsbausteinen zum Ernährungsmanagement und der kognitiven Umstrukturierung auch Interventionen aus den Bereichen Emotionsregulation, soziale Fertigkeiten und dem Aufbau von Ressourcen an den Bereich der Essstörungen adaptiert. Wir haben daher die vorgeschlagenen Therapiebausteine modularisiert, so dass neben den Hauptinterventionselementen je nach Indikationsstellung der Einsatz der verschiedenen Therapiebausteine ausgewählt werden kann. Jedes Modul enthält dabei verschiedene Übungen, die im Detail beschrieben sind und sowohl im Einzel- als auch im Gruppenkontext umgesetzt werden können. Dabei können sowohl nur einzelne Einstiegsübungen als auch das gesamte Modul durchgeführt werden, wenn dies bei einem Patienten indiziert ist. Einsatzgebiete und Ziele der Übungen werden jeweils im entsprechenden Kapitel beschrieben. Die Übungen werden exemplarisch für die Durchführung im Gruppensetting dargestellt und durch Hinweise auf eventuell notwendige Adaptationen an das Einzelsetting ergänzt. In der folgenden Übersicht sind die relevanten Therapieelemente dieses Behandlungsmanuals zusammenfassend aufgeführt und werden anschließend kurz beschrieben.
Therapiebausteine in der Behandlung der Anorexia und Bulimia nervosa 4 Motivierung zur Behandlung 4 Vermittlung eines Störungsmodells 4 Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens und des Körpergewichtes sowie zum Abbau der Heißhungerattacken und des Erbrechens 4 Kognitive Techniken 4 Interventionen zur Verbesserung der Affektregulation 4 Interventionen zur Steigerung der sozialen Fertigkeiten 4 Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes 4 Interventionen zum Aufbau von Selbstwertgefühl und Ressourcen 4 Rückfallprophylaxe
Störungsmodell und Motivation. Die Therapie der
Anorexia und Bulimia nervosa sollte mit vorbereitenden Schritten wie einer ausführlichen Diagnostik beginnen (7 Kap. 4). Des Weiteren werden gemeinsam nach der Erarbeitung des Störungsmodells mit den Patienten die Therapieziele vereinbart, und wenn notwendig, werden die Patienten zur Therapie motiviert (7 Kap. 6 und 7). Normalisierung von Essverhalten und Körpergewicht. Trotz der guten manualisierten Therapiera-
tionale ist ein individuelles Vorgehen in der Therapie unumgänglich (Waller u. Kennerley 2003). Dazu gehört eine ausführliche Verhaltensanalyse, um Hypothesen über die individuelle Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung zu entwickeln. Ist das Störungsmodell erarbeitet, besteht zwischen Patient und Therapeut Einigkeit über das Vorgehen in der Behandlung und ist der Patient ausreichend motiviert, sollten im Sinne des Two-Track-Approach zunächst die kurzfristigen Maßnahmen zur Gewichtsstabilisierung und Normalisierung des Essverhaltens angegangen werden (7 Kap. 8). Dazu sollten zum einen Informationen über eine ausgewogene Ernährung, Tagesstrukturierung (Waadt et al. 1992; Beumont et al. 1997) und die körperlichen Folgerscheinungen der Anorexia und Bulimia nervosa (vgl. Er-
57 5.1 · Aufbau des Therapieprogramms
nährungsbroschüre auf der beiliegenden CD-ROM, 7 Kap. 6 oder Jacobi et al. 2000; Tuschen-Caffier u. Florin 2002) vermittelt werden. Dabei empfiehlt es sich, mit Selbstbeobachtungsprotokollen zu arbeiten, in denen das Essverhalten der Patienten und kompensatorische Maßnahmen (z. B. Erbrechen, Laxanzien) erfasst werden (7 Kap. 4). Ergänzend können die den Mahlzeiten vorausgehenden Bedingungen wie Gedanken und Gefühle und auch die nachfolgenden Emotionen und Kognitionen dokumentiert werden (Benninghoven 1997). Insbesondere bei der Anorexia nervosa steht – wie bereits in 7 Kap. 1 ausführlich beschrieben – aufgrund des niedrigen und medizinisch bedenklichen Untergewichts eine Gewichtszunahme sowie -stabilisierung zu Beginn der Therapie im Vordergrund. Im Vorfeld der Behandlung sollte daher zunächst geprüft werden, ob das Gewichtssteigerungsprogramm im ambulanten Setting durchgeführt werden kann oder ob eine stationäre Therapie notwendig ist. Kriterien für die stationäre Behandlung stellen nach Winston und Webster (2003) sowohl medizinische als auch psychosoziale Aspekte dar. Zu den medizinischen Kriterien zählt ein Gewichtsverlust unter den BMI von 13,5 kg/m2 oder eine rapide Gewichtsabnahme von 20% des ursprünglichen Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten, ein schlechter oder akut bedrohlicher körperlicher Zustand, eine bestehende Schwangerschaft, komorbide Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder ein Medikamentenmissbrauch. Den psychosozialen bzw. psychotherapeutischen Aspekten sind insbesondere berufliche und private Belastungen, die zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen, zuzurechenen. Aus psychiatrischer Sicht sind vor allem Suizidalität und komorbide psychische Erkrankungen wie Depressivität und Persönlichkeitsstörungen als Kriterium für eine stationäre Behandlung zu nennen. Jacobi und Kollegen (2000) führen zusätzlich starke Hyperaktivität, das Scheitern bisheriger Behandlungsversuche und den Wunsch des Patienten nach einer stationären Maßnahme an. Trotz der genannten Kriterien für eine stationäre Behandlung ist die Entscheidung für ein adäquates Behandlungssetting für einen Patienten nicht immer leicht zu fällen. Allerdings muss eine ambulante Behandlung einer stationären nicht unterlegen sein, wenn ein Patient kein deutliches Untergewicht hat (Treasure u. Schmidt 2003) (7 Kap. 3).
5
Ambulante Behandler sollten sich daher nicht von dem meist als bedrohlich empfundenen Untergewicht verunsichern und sich zu vorschnellen Entscheidungen hinreißen lassen. Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen. Im Rahmen der psychotherapeutischen
Behandlung der Bulimia nervosa und der Anorexia nervosa vom Binge-Eating/Purging-Typ stellen Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen einen bedeutsamen Behandlungsbaustein dar. Hierbei geht es zum einen um die Etablierung regelmäßiger Mahlzeiten (vgl. auch Waadt et al. 1992; Beumont et al. 1997); zum anderen sollen auch von den Patienten vermiedene Speisen, sog. »verbotene Nahrungsmittel« schrittweise wieder in den Speiseplan integriert werden (vgl. auch Jacobi et al. 2000). Sinn dieses Vorgehens ist es, das häufig die Essstörung aufrechterhaltende restriktive Essverhalten zu reduzieren und zu einer natürlichen Hunger-Sättigungs-Regulation zurückzufinden (vgl. auch Pudel u. Westenhöfer 1998). Durch den Wegfall der Verbote verlieren die bisher gemiedenen Speisen an Attraktivität, und Heißhungergefühle und -attacken können zumindest zum Teil unterbunden werden. Eine weitere Technik, um den Patienten eine Kontrollmöglichkeit über die Nahrungsaufnahme zu vermitteln, ist die Nahrungskonfrontation. Hierbei werden die Patienten mit den bevorzugten Essanfallslebensmitteln unter gleichzeitiger Reaktionsverhinderung konfrontiert und ähnlich wie bei der Angstbehandlung an die Auslösereize habituiert (vgl. Legenbauer u. Vögele 2004; Tuschen-Caffier u. Florin 2002). Der Drang zu essen beim Anblick, dem Geruch oder Geschmack von Lebensmitteln soll damit gehemmt werden. Die Konfrontationsbehandlung geht auf ein Konditionierungsmodell von Essanfällen von Jansen (1998) zurück. Neben der Habituation an die Nahrungsreize kann auch durch Imaginationsübungen eine Habituation an mögliche Auslösesituationen trainiert werden (vgl. Legenbauer u. Vögele 2004; Tuschen-Caffier u. Florin 2002). Dies erscheint dann sinnvoll, wenn eine Identifikation von Auslösereizen nicht oder nur begrenzt möglich ist und Essanfälle vor allem stark automatisiert ablaufen. Um die Imagination durchzuführen, müssen die Auslösesituationen der Essattacken wie
58
5
Kapitel 5 · Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms
zum Beispiel interpersonelle Konfliktsituationen, spezifische Gefühle wie Langeweile, Traurigkeit oder Ärger, Anspannung und Stress oder spezifische Kognitionen möglichst ausführlich beschrieben werden. Zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen ist es darüber hinaus sinnvoll, die Auslöser für einen Essanfall zu identifizieren (z. B. anhand der Essprotokolle) und hierauf basierend adäquate Bewältigungsstrategien für diese kritischen Situationen, negativen Emotionen und Kognitionen zu etablieren (vgl. auch Fairburn et al. 1993; Garner et al. 1997). Während die Nahrungsmittelkonfrontation darauf abzielt, die Patientinnen darin zu unterstützen, dem Drang nach übermäßigem Essen – auch in kritischen Situationen – zu widerstehen, soll durch diese Techniken erreicht werden, dass die Patienten die kritischen Situationen auch ohne eine Essattacke bewältigen können (7 Kap. 10). Da negative Emotionen an der Auslösung von Essanfällen einen substanziellen Anteil haben (Waters et al. 2001a; Legenbauer 2003) und ein Essanfall daher oft eine spannungsreduzierende Funktion besitzt, ist die Vermittlung von spannungsregulierenden Techniken von hoher Relevanz. Diese werden in 7 Kap. 10 vorgestellt und sollten dem Einsatz der kognitiven Techniken folgen, um bereits einen Grundstein zum Verständnis affektiv-kognitiver Zusammenhänge zu legen. Kognitive Techniken. Im Anschluss an die Erarbei-
tung der Auslösesituationen eignet sich daher zunächst der Einsatz kognitiver Techniken (7 Kap. 9). Im Rahmen des kognitiven Behandlungselements sollen dysfunktionale Kognitionen, z. B. hinsichtlich Selbstwert, Essverhalten und Gewicht, kritisch hinterfragt und modifiziert werden. Des Weiteren sollen die zugrunde liegenden Annahmen, welche der Patient über sich als Person besitzt, sowie verhaltenssteuernde Grundregeln bezüglich Leistung und Perfektion identifiziert und verändert werden (Fairburn et al. 2003). Affektregulation. Anschließend sollte die Bearbeitung der Affektregulationstechniken erfolgen. Im Vordergrund steht dabei zunächst, die Fertigkeit zur Wahrnehmung und Identifikation von Gefühlen zu steigern (vgl. Linehan 1996) und im nächsten Schritt
Strategien zum kurzfristigen Erregungsabbau und der Aufmerksamkeitslenkung vertiefend einzuführen (7 Kap. 10). Veränderung des Körperbildes. Im Anschluss daran ist es sinnvoll, den Therapieblock zur Verbesserung des Körperbildes (7 Kap. 12) einzusetzen, sofern eine Körperbildstörung vorliegt. Sinnvollerweise sollten therapeutische Interventionen zum Körperbild erst dann zum Einsatz kommen, wenn die Patienten den Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten verstanden haben und Techniken zur kognitiven Umstrukturierung und der Affektregulation erlernt haben. Da die Interventionen zum Körperbild von einigen Patienten als sehr herausfordernd erlebt werden, sollten diese sorgfältig vorbereitet werden. Sofern die Behandlung im Gruppensetting durchgeführt wird, sollte ein hohes Maß an Gruppenkohäsion bestehen. Der Therapieblock zur Verbesserung des Körperbildes enthält Übungen zur Körperwahrnehmung wie Imaginationsübungen, Abtast- und Zeichenübungen, aber auch kognitiv-behaviorale Elemente wie die Spiegel- und Videokonfrontation (vgl. Vocks u. Legenbauer 2005). Instrumentelle Fertigkeiten. Im Anschluss an die Affektregulationstechniken sollten die interpersonellen Bereiche wie das Training sozialer Kompetenzen, die Vermittlung von Kommunikationsstrategien und die Erarbeitung von Problemlösefertigkeiten sowie das Konfliktmanagement fokussiert werden. Hierbei werden zunächst im Rahmen des Therapieblockes zur Erhöhung der sozialen Fertigkeiten (7 Kap. 11) über Rollenspiele Kompetenzen trainiert, die darauf abzielen, sich in zwischenmenschlichen Situationen adäquat zu verhalten, z. B. Gefühle direkt zu benennen und selbstbewusst eigene Interessen durchzusetzen. Dazu wird neben den standardisierten Interventionen des Trainings sozialer Kompetenzen (vgl. Pfingsten u. Hinsch 1991) auch Wissen über kommunikative Techniken (vgl. Schulz von Thun 1981) vermittelt. Die Erhöhung des Selbstwerts stellt einen wichtigen Bereich in der Behandlung der Essstörungen dar, da sowohl bei der Anorexia als auch der Bulimia nervosa ein niedriges Selbstwertgefühl als einer der Essstörung zugrunde liegenden und die Erkrankung auslösenden Problembereiche angenommen wird (vgl. auch Jacobi
5
59 5.1 · Aufbau des Therapieprogramms
. Tabelle 5.1. Darstellung einer möglichen Verteilung der Therapieinhalte für eine Gruppentherapie mit 20 Sitzungen
Sitzung
Modul
Thema
Inhalt
Hausaufgaben
1
M
Einführung in die Gruppe; Gruppenregeln; Kennenlernen; Informationsvermittlung
Überblick über Gruppengesamtablauf, offene Fragen; Ausgabe des Informationsteils zu Essstörungen und deren körperlichen Folgeerscheinungen; Herausarbeitung der individuellen Essstörungssymptome
Texte lesen
2
M/E
Folgen von Diäten; Erbrechen; Aufrechterhaltung der Essstörung
Selbstbeobachtungsprotokolle einführen; Diskussion der Informationsbroschüre »Was kennen Sie von sich«, Gewichtsverlaufskurve – Folgen am eigenen Leib
Essprotokolle schreiben
3
M/E
Interventionen zur Verhinderung von Essattacken und Erbrechen
Schwierige Situationen aus den Essprotokollen herausarbeiten; alternative Verhaltensweisen erarbeiten; Notfallplan zur Verhinderung von Heißhungerattacken verfassen
Arbeitsblatt »Die Waage«
4
M/S
Funktion der Essstörung
Brief besprechen, Funktion der Essstörung herausarbeiten; Störungsmodelle erarbeiten
Arbeitsblatt Störungsmodell ausfüllen
5
S
Lerngeschichte; Modell
Genogramm erstellen und sich hieraus ergebende »Regeln« herausarbeiten
Individuelle Familienregeln erstellen
6
K
Grundannahmen herausarbeiten
Schlankheitsideal und Grundannahmen herausarbeiten
Gedankenprotokoll
7
K
Automatische Gedanken ableiten
Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Situationen herausarbeiten, Fehlerkategorien vorstellen und erkennen kognitiver Fehler einüben
Kognitionen in die jeweilige Fehlerkategorie einordnen
8
A
Gefühlswahrnehmung und -identifikation
Zusammenhang Gedanken – Gefühle – Verhalten; »Welche Gefühle gibt es?« (Grundemotionen) erkennen; angemessen ausdrücken
Gefühlsprotokoll
9
A
Gefühlsregulation
Einführen von Spontanentspannung und Sammeln von Techniken zur emotionalen Abreaktion
Kommunikationsmodell, Informationsblatt
10
A/SF
Gefühlsregulation
Umsetzung von Strategien zur Gefühlsregulation anhand der Analyse von Verhaltensketten, Besprechung Kommunikationsmodell und Einübung des direkten Äußerns von Gefühlen
Info zu sozialen Kompetenzen
11
SF
Grundlagen SK, individuelle Rollenspiele
Problemlöse- und Konfliktbewältigung
Arbeitsblatt »Missverständnisse klären«
60
Kapitel 5 · Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms
. Tabelle 5.1 (Fortsetzung)
Sitzung
Modul
Thema
Inhalt
Hausaufgaben
12
SF
Erhöhung des Selbstwertgefühls
Erarbeitung der Determinanten des Selbstwertgefühls, gegenseitige Rückmeldung der Patienten (Feedbackübung)
Arbeitsblatt »Was ich an mir mag«
13
KB
Körperwahrnehmung: Selbstwahrnehmung
Erleben des Körpers unabhängig vom Aussehen; Diskrepanz zwischen Fühlen und Sehen herausarbeiten
Abtastübung und Arbeitsblätter »Selbstbild«, »Gefühltes Selbstbild«
14
KB
Diskrepanz Fremd- und Selbstwahrnehmung
Besprechung der Hausaufgabe; gegenseitiges Abtasten und Modellieren
Arbeitsblatt »So sehe ich mich«
15
KB
Abbau von Vermeidungsverhalten im Rahmen von Körperkonfrontationsübungen
Spiegelexposition und Videoexpositionsübung
Arbeitsblatt »So wurde ich gesehen – so sehe ich mich jetzt«
16
G
Genusstraining
Förderung von Genuss (z. B. bezüglich Essen)
Arbeitsblatt »Sinnspaziergang«
17
G/RA
Positive Aktivitäten aufbauen
Hinführen zu Entspannung und Stressreduktion im Alltag; Vermitteln von neuen Perspektiven
Wochenplan mit Arbeitsblatt »Meine Wohlfühlwoche« planen und durchführen
18
R
Rückfallprophylaxe
Bilanzieren, Rückblick auf Therapieverlauf; Besprechen von Schwierigkeiten bei der Umsetzung und möglichen Risikobereichen
Rückfallprotokoll und Arbeitsblatt »Notfallkiste«
19
R
Booster-Session
Erarbeitung von Bewältigungsstrategien zu inzwischen aufgetretenen Problemen, Auffrischen der Therapieinhalte
20
R
Booster-Session
Erarbeitung von Bewältigungsstrategien zu inzwischen aufgetretenen Problemen, Auffrischen der Therapieinhalte
5
Das Gebiet kennzeichnet den Therapiebaustein, aus welchem die Übungen entstammen (M= Motivierung, S= Störungsmodell, E= Ernährung, K K= Kognition, A= Affektregulation; R= Rückfallprophylaxe; SF= soziale Fertigkeiten, KB= Körperbild; G= Genusstraining; RA= Ressourcenaufbau). Zudem sind ausgewählte Inhalte aus dem Modul beschrieben und Beispiele für Stundeninhalt und Hausaufgaben dargestellt
61 5.4 · Auswahl des Settings
2000). Auch dies sollte daher in diesem Therapieabschnitt behandelt werden. Darauf aufbauend wird in einem weiteren Schritt die Verbesserung des sozialen Netzwerks angestrebt, um den Patienten soziale Unterstützung und weitere Verstärkungsquellen zu verschaffen. Letzteres wird auch durch die Therapieelemente zur Integration positiver Aktivitäten in den Alltag angestrebt (7 Kap. 13). Hierbei wird auch die Fertigkeit, Tätigkeiten wieder zu genießen und sich zu entspannen, trainiert (vgl. z. B. Lutz 1999). Rückfallprophylaxe. Abschließend ist die Bilanzierung der erreichten Therapieziele und der persönlichen Entwicklung im Rahmen der Rückfallprophylaxe durchzuführen (7 Kap. 14). Die Rückfallprophylaxe ist insbesondere hinsichtlich des oft intermittierenden Verlaufs der Erkrankungen und der zumeist suboptimalen Prognose (vgl. auch 7 Kap. 3) nicht zu vernachlässigen.
5.2
Einsatz des Manuals
Das Manual ist nach Behandlungsbausteinen und nicht nach einzelnen Sitzungen gegliedert, um es möglichst flexibel für den Einsatz in unterschiedlichen therapeutischen Settings verwenden zu können. Durch die Auswahl verschiedener Übungen ist es vielseitig im Einzelsetting einsetzbar. Für die Anwendung in einer Therapiegruppe kann, je nach Notwendigkeit, das im Folgenden vorgestellte Grundgerüst durch weitere Übungen ergänzt oder die vorgeschlagenen Übungen ausgetauscht werden. Bei der Anwendung des Programms in einer Gruppe empfiehlt es sich jedoch, je nach Wahl der Bausteine, 15–20 Sitzungen à 100 Minuten einzuplanen. In . Tab. 5.1 ist ein exemplarischer Ablaufplan eines solchen kognitiv-behavioralen Behandlungsprogramms dargestellt.
5.3
Einsatz einzelner Module
Die Therapiebausteine können auch einzeln eingesetzt werden, z. B. können bei einem Patienten einige Bausteine im Einzel- und andere im Gruppensetting durchgeführt werden. So eignet sich insbesondere das Segment »Techniken zur Verbesserung
5
sozialer Kompetenzen« (7 Kap. 11) als Interventionselement, das ergänzend in einer Therapiegruppe neben einer laufenden Einzel- oder Standardgruppentherapie (z. B. im stationären Bereich) angeboten werden kann. Die beschriebenen Übungen aus 7 Kap. 11 können intensiviert werden, indem beispielsweise Elemente des Gruppentrainings sozialer Kompetenzen nach Pfingsten u. Hinsch (1991) ergänzt werden. Ebenfalls zum Einsatz als »ausgelagertes« Gruppenelement geeignet ist der Baustein zur Affektregulation (7 Kap. 10), welcher ähnlich einem SkillsTraining bei Borderline-Patienten als Ergänzung zur kognitiv-behavioralen Standardtherapie eingesetzt werden kann. Hier können alle Übungen zur Gefühlswahrnehmung durchgeführt werden, um anschließend mit dem Ausdruck und Benennen von Gefühlen fortzufahren. Eine Möglichkeit ist die Integration des Kommunikationselementes aus 7 Kap. 11 (7 Abschn. 11.2) in eine Affektregulationsgruppe. Dies ist vor allem für eine Durchführung in der Gruppe geeignet, da hier in der Interaktion mögliche Defizite in der Wahrnehmung sozialer Situationen sehr gut erarbeitet werden können und die Anwendung von Spontanentspannung und emotionaler/ körperlicher Abreaktion eingeübt werden kann. Auch eine eigenständige Genussgruppe scheint für Frauen mit Essstörungen geeignet und kann kombiniert mit dem Aufbau positiver Aktivitäten angeboten werden. Ergänzend könnten hier noch Entspannungsverfahren integriert werden (eine Übersicht dazu bieten Vaitl u. Petermann 2004). Zuletzt ist noch die Abkopplung des Körperbildsegments zu nennen (7 Kap. 12). Hier existiert ein eigenständiges ausführliches Therapierational, welches ein umfassendes Behandlungsprogramm für eine kognitiv-behaviorale Körperbildgruppe bietet (Vocks u. Legenbauer 2005). Die hier beschriebenen körperbezogenen Verfahren sind dort nicht enthalten, können aber je nach Indikation und verfügbarem Zeitrahmen ergänzt werden.
5.4
Auswahl des Settings
Das vorliegende Behandlungsprogramm ist sowohl im ambulanten als auch im stationären Settingg einsetzbar, wobei der Aufbau des umfassenden Gesamt-
62
5
Kapitel 5 · Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms
programms sich primär an den Bedingungen im ambulanten Setting orientiert und daher bei Bedarf an das stationäre Setting adaptiert werden muss (z. B. im Rahmen einer psychosomatischen Rehabilitation). Wie bereits erwähnt, ist das dargestellte therapeutische Programm sowohl im einzel- wie auch im gruppentherapeutischen Settingg anwendbar, wobei sich die Darstellung im vorliegenden Manual primär auf die Umsetzung in der Gruppe bezieht. Eine Gruppengröße von 6–8 Teilnehmern ist hierbei sinnvoll. Vor allem vor dem Hintergrund der Finanzierung ist im ambulanten Setting die Gruppengröße gut zu kalkulieren und die Einbeziehung eines Kotherapeuten zu überlegen. Aus therapeutischer Sicht sollte ab der Anzahl von 6 Patienten ein Kotherapeut mit einbezogen werden, um die teilweise in der Durchführung und Besprechung aufwendigen Interventionen in Kleingruppen effektiv und zeitsparend durchführen zu können. Die meisten Übungen können auf das einzeltherapeutische Setting übertragen werden; wo notwendig, werden an den entsprechenden Stellen im Manual die Adaptationen an das jeweilige Setting beschrieben.
5.5
Gruppentherapie
5.5.1
Grundkonzept der Gruppentherapie
Im Rahmen der Gruppentherapie sind symptomzentrierte und unspezifische Interventionsmethoden zu unterscheiden (vgl. Fiedler 1996). Hier soll vor allem auf die symptomzentrierten Ansätze zur Behandlung von Essstörungen eingegangen werden, welche im Rahmen der KVT durchgeführt werden können und insbesondere im stationären Setting etabliert sind. Die Vorteile einer Gruppentherapie sind der regelmäßige Kontakt der Mitglieder untereinander, der hohe Grad der Interaktion und das Verfolgen gemeinsamer Ziele. Notwendige Rahmenbedingungen stellen dabei die klare Funktionsverteilung und eine vereinbarte Zeitstruktur dar, um Transparenz herzustellen und Chancen für den Erkenntnis- und Änderungsprozess zu schaffen (Fiedler 1996; Powers u. Fernandez 1994).
In der Gruppentherapie steht neben der PatientTherapeut-Dyade vor allem die Interaktion der Patienten untereinander im Vordergrund. Um eine möglichst positive und fruchtbare Arbeitsatmosphäre zu schaffen, müssen spezifische Vorraussetzungen wie Vertrauen, Kooperation und Offenheit erfüllt sein. Diese Variablen, welche die Gruppenkohäsion fördern, stellen einen wichtigen Wirkfaktor, unabhängig vom therapeutischen Ansatz, dar (Angermaier 1994). Die Gruppenkohäsion beinhaltet das Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsgefühl in der Gruppe und scheint von Relevanz bei der Erreichung eines guten Therapieergebnisses zu sein.
5.5.2
Besonderheiten in der gruppentherapeutischen Behandlung von Essstörungen
Vorteile der Gruppentherapie. Wegen großer Ähn-
lichkeiten in der Epidemiologie, der Ätiologie und dem psychopathologischen Muster von Essstörungen (Fairburn et al. 2003) sowie aus organisatorischen und Kostengründen werden die Anorexia und Bulimia nervosa häufig zu gemischten Therapiegruppen, insbesondere im stationären Klinikalltag, zusammengefasst. Unterstützt wird dieses Vorgehen durch Beobachtungen, dass ausschließlich aus Anorexiepatienten bestehende Gruppen sich in der Durchführung als schwierig erweisen können (vgl. auch Fiedler 1996). Der Vorteil der gemeinsamen Behandlung von Anorexie- und Bulimiepatienten wird vor allem darin gesehen, dass die Patienten sich in ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig stimulieren oder ergänzen und es so zu einem lebendigeren Austausch kommt. Diskussionen über typische Überzeugungen und Einstellungen wie beispielsweise über das hohe Leistungs- und Perfektionsideal können zur Entwicklung eines neuen Wertesystems genutzt werden. Des Weiteren bietet die Gruppenbehandlung gerade für sozial isolierte Patienten durch den regelmäßigen Kontakt und das Feedback der Gruppenmitglieder ein gutes Übungsfeld, um soziale Fertigkeiten zu trainieren, katastrophisierende Befürchtungen zu relativieren und positive zwischenmenschliche Erfahrungen zu machen. Der Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit anderen Grup-
63 5.6 · Besonderheiten bei der Behandlung von Männern
penmitgliedern, die an derselben Erkrankung leiden, kann entlastend sein und Schuld- und Schamgefühle abbauen und somit zur Entpathologisierung beitragen. Insbesondere für Therapiebausteine wie das Training sozialer Kompetenzen oder Einübung von Kommunikationsfertigkeiten eignet sich daher das Gruppensetting (vgl. auch Pfingsten u. Hinsch 1991). Schwierigkeiten der Gruppentherapie. Neben den
aufgezählten Vorteilen kann es aber durch verschiedene negative Einflüsse wie z. B. Konkurrenzverhalten zu einer Hemmung des Gruppentherapieprozesses kommen. Eine Untersuchung unserer Arbeitsgruppe konnte beispielsweise zeigen, dass Konkurrenzerleben in der Gruppentherapie bei Patientinnen mit Essstörungen stärker ausgeprägt war als bei anderen Patientengruppen (z. B. Tinnitus). Dieses Ergebnis ist insofern relevant, als ein hohes Konkurrenzerleben bei Patientinnen mit einer Anorexia nervosa mit einem niedrigeren Therapieergebnis assoziiert ist (Legenbauer et al. 2004). Diese Ergebnisse können dadurch erklärt werden, dass durch Konkurrenz die das Therapieergebnis fördernden Variablen wie Kooperation, Vertrauen und Offenheit gestört werden, so dass die Patienten möglicherweise eher gegen- als miteinander arbeiten. Als problematisch können sich in diesem Zusammenhang auch ein überhöhtes interpersonales Misstrauen sowie perfektionistische und leistungsorientierte Tendenzen seitens der Patientinnen erweisen. In 7 Kap. 6 werden diese Schwierigkeiten behandelt und Vorschläge zur Verbesserung der Gruppenkohäsion gemacht. Indikation zur Gruppentherapie. Die Teilnahme an einer Gruppentherapie ist dann empfehlenswert, wenn die Patienten dies wünschen, um soziale Unterstützung zu erfahren. Möglicherweise bei dem Patienten auftretende Befürchtungen hinsichtlich einer Gruppenbehandlung sollten angesprochen werden, um zu überprüfen, ob diese Vorbehalte auf unrealistischen Vorstellungen in Bezug auf eine Gruppentherapie basieren und die Bedenken vielleicht ausgeräumt werden können. Des Weiteren bietet die Gruppenbehandlung ein gutes Trainingsfeld zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten, was sich bereits in Bereichen anderer Störungsbilder wie
5
beispielsweise der Sozialen Phobie (vgl. Heimberg u. Becker 2002) als sinnvoll und hilfreich erwiesen hat (vgl. auch 7 Kap. 3). Einsatz bei komorbiden Störungen. Bei bestehenden medizinischen Komplikationen oder komorbiden körperlichen (z. B. Diabetes mellitus) bzw. psychischen (z. B. Depressionen, Persönlichkeitsstörungen) Erkrankungen ist die Indikation für eine Gruppenbehandlung sorgfältig zu prüfen, da die Gruppe, durch die komorbide Störung bedingt, möglicherweise keine ausreichende Betreuung bietet. Beispielsweise kann eine vorhandene akute Suizidalität im Gruppensetting leichter übersehen werden als in einer einzeltherapeutischen Behandlung. Dem sollte entweder durch eine parallele Einzeltherapie, in welcher die spezifischen Problembereiche thematisiert werden oder durch eine alleinige Einzeltherapie, um mögliche Belastungen durch die Gruppe zu vermeiden, begegnet werden. Wie bereits in 7 Kap. 3 angedeutet, kann vor allem bei Patienten mit Anorexia nervosa (Legenbauer et al. 2004), durch das hohe Perfektionsstreben bedingt, konkurrierendes Verhalten ausgelöst werden, das den Gruppenprozess stört. Daher sollte bei der Therapieplanung ausreichend Zeit eingeplant werden, um Übungen zur Stärkung der Gruppenkohäsion durchzuführen.
5.6
Besonderheiten bei der Behandlung von Männern
Nur wenige Studien untersuchten bisher den Therapieverlauf bei Männern 7 Abschn. 1.3. Man kann aber davon ausgehen, dass die kognitive Verhaltenstherapie, wie sie für Frauen angewendet wird, auch auf Männer übertragbar ist, da die akuten Essstörungssymptome anscheinend nicht geschlechtsspezifisch sind (Fichter u. Krenn 2003). Das vorliegende Behandlungsmanual kann daher, wenn auch vorrangig für die Behandlung weiblicher Patienten geschrieben, für den Einsatz in der Therapie mit an einer Essstörung erkrankten Männern zur Anwendung kommen.
5
64
Kapitel 5 · Hinweise zur Nutzung des Therapieprogramms
5.7
Arbeitsblätter und ergänzende Materialien
Das vorliegende Manual ist für den Praktiker konzipiert und enthält auf der beiliegenden CD-ROM eine Vielzahl von Arbeitsblättern, die die Benutzung des Programms erleichtern sollen. Der Einsatz der Arbeitsblätter wird in den verschiedenen Kapiteln erklärt. Teilweise sind die Arbeitsblätter zur Veranschaulichung exemplarisch ausgefüllt dargestellt. Die Arbeitsblätter sollen zur Strukturierung der Sitzungen und zur Bearbeitung der Hausaufgaben dienen und den Patienten in den jeweiligen Sitzungen ausgehändigt werden. Am Ende jedes Kapitels sind die wichtigsten Arbeitsblätter zusammengefasst. Die Kapitel beginnen mit einer Übersicht über Ziele und Vorgehen, die erforderlichen Arbeitsmaterialien sind in den jeweiligen Abschnitten aufgeführt. Zusätzlich befindet sich auch die Informationsbroschüre zur Ernährung als PDF-Datei auf der CDROM, welche den Patienten zu psychoedukativen Zwecken zu Beginn der Therapie ausgehändigt werden sollte.
6 Motivierung
6.1
Einleitung
– 66
6.2
Phasenmodell der Veränderung – 67
6.2.1 Beschreibung der einzelnen Phasen – 67 6.2.2 Empirische Befunde und Implikationen des Phasenmodells im Bereich der Essstörungsbehandlung – 68
6.3
Stärkung der Gruppenkohäsion
– 69
6.3.1 Beschreibung von Gruppenwirkfaktoren und Therapeutenvariablen – 69 6.3.2 Interventionen zur Stärkung der Gruppenkohäsion – 70
6.4
Interventionen zur Motivationssteigerung – 72
6.4.1 Psychoedukation – 72 6.4.2 Abwägen der Vor- und Nachteile der Essstörung
– 74
6.5
Volition: Die Aufrechterhaltung von Absichten – 78
6.6
Zusammenfassung
6.7
Arbeitsblätter
6.8
Infomationen zur Ernährung – 83
– 79
– 79
66
Kapitel 6 · Motivierung
> Ziel
6
4 Förderung der Therapiemotivation hinsichtlich der Aufgabe des gestörten Essverhaltens und gegenregulierender Maßnahmen 4 Ggf. Motivierung zur Gewichtszunahme 4 Förderung der Gruppenkohäsion : Vorgehen 4 Stärkung der Gruppenkohäsion durch Definieren von Gruppenregeln und Durchführung von Kennenlernübungen 4 Vermittlung von Informationen über ein gesundes Essverhaltens sowie über die psychischen und physischen Folgeerscheinungen von Essstörungen 4 Abwägen der kurz- und langfristigen Vorund Nachteile der Essstörungssymptomatik
6.1
Einleitung
Eine der zentralen Herausforderungen in der Essstörungsbehandlung stellt der Umgang mit der zumeist sehr ambivalenten Therapiemotivation der Patienten dar, insbesondere bei der Anorexia nervosa. Diese Patienten kommen zumeist nicht auf eigenen Wunsch in die Behandlung, sondern werden von Verwandten oder Freunden »geschickt«. Ergebnisse einer Studie zur Therapiemotivation zeigten beispielsweise, dass 92% der Patienten mit Bulimia nervosa freiwillig eine Therapie aufsuchten, während dies auf nur 19% der Patienten mit Anorexia nervosa zutraf (Bemis 1986). Hinzu kommt, dass auch diejenigen Patienten mit Anorexia nervosa, die ohne äußeren Druck eine Psychotherapie aufsuchen, zumeist nicht das niedrige Gewicht beklagen, sondern eher die mit der Essstörung assoziierten körperlichen und psychischen Folgeerscheinungen wie die permanente Beschäftigung mit Essen, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit oder depressive Symptome wie Antriebslosigkeit, Interessenverlust und sozialen Rückzug (siehe auch Vitousek et al. 1998). Demgegenüber sind Patienten mit einer Bulimia nervosa stärker motiviert, zumindest was die Aufgabe der Essattacken betrifft, da der Leidensdruck in diesem Bereich am größten ist. Hinsichtlich eines Verzichts auf die kompensatorischen Strategien wie selbstinduziertes Erbrechen, Einnahme
von Laxanzien oder exzessiven Sport ist die Motivationslage jedoch ambivalent, da die Angst vor einer Gewichtszunahme stark ausgeprägt ist und eine Gewichtszunahme durch den Wegfall dieser Maßnahmen bei gleichzeitiger Normalisierung der Nahrungsaufnahme meist nicht ausbleibt (Dunn et al. 2003). Es wird angenommen, dass Patienten mit Heißhungerattacken, die auch bei der Anorexia nervosa vom Binge-Eating/Purging-Typus auftreten, eine größere Motivation für eine Psychotherapie mitbringen, als Patienten mit einer vornehmlich restriktiven Symptomatik (z. B. Anorexia nervosa vom Restraint-Typus), da erstere den Kontrollverlust in Form von Heißhungerattacken als aversiv erleben (für eine differenziertere Darstellung siehe Vitousek et al. 1998). Die »Aufgabe« der Symptomatik scheint schwierig insbesondere aufgrund der hohen Funktionalität, welche die Essstörung für viele Betroffene hat (7 Kap. 2). So ist die Normalisierung des Essverhaltens und eine damit einhergehende Gewichtszunahme für einen Patienten, dessen Selbstwert in starkem Maße von dem Bereich »Figur und Gewicht« abhängig ist (7 Kap. 1), sehr bedrohlich, da zu Beginn der Behandlung meist keine Ressourcen vorhanden sind, um den Selbstwert anderweitig zu stabilisieren. Dies erschwert den Einsatz beispielsweise von Gewichtssteigerungsprogrammen bei der Anorexia nervosa deutlich, nicht zuletzt verschärft durch die oft zu beobachtende Leugnung des Schweregrades der Erkrankung (7 Abschn. 1.1.2). Weitere funktionale Aspekte der Essstörung sind vor allem in der Affektregulation durch vermehrtes Essen mit dem nachfolgenden Erbrechen bei der Bulimia nervosa und dem Binge-Eating/Purging-Typus der Anorexia nervosa sowie im Erleben von Kontrolle über das Essverhalten und das Körpergewicht und damit einhergehend einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls bei Patienten mit einer Anorexia nervosa vom restriktiven Typus (7 Kap. 2) zu sehen. Aufgrund dieser ambivalenten Motivationslage bei Patienten mit Essstörungen ist es von zentraler Bedeutung, vor Beginn der Interventionen zur Verhaltensänderung im engeren Sinne die Motivation der Patienten zu fördern. Aus diesem Grunde werden in diesem Kapitel Interventionsbausteine zur Motivationssteigerung dargestellt, welche sich zum einen auf die Psychoedukation der Patienten hinsichtlich eines
67 6.2 · Phasenmodell der Veränderung
gesunden Essverhaltens und der Folgeerscheinungen von Essstörungen, zum anderen auf das Abwägen von kurz- und langfristigen Konsequenzen der Essstörung beziehen (7 Abschn. 6.4). Den theoretischen Rahmen hierfür stellt das Phasenmodell der Veränderung von Prochaska und DiClemente (1984) dar, welches zunächst kurz beschrieben und hinsichtlich seiner Relevanz für den Bereich der Essstörungen dargestellt wird (7 Abschn. 6.2). Da das Programm vor allem auf das Gruppensetting ausgelegt ist, werden zunächst Übungen zur Förderung der Arbeitsatmosphäre vorgestellt (7 Abschn. 6.3). Abschließend wird auf volitionale Aspekte in der Behandlung der Essstörungen eingegangen (7 Abschn. 6.5).
6.2
Phasenmodell der Veränderung
Um die Schwierigkeiten in der Behandlung von vor allem Suchterkrankungen zu erklären, wurde der Einfluss von Therapiemotivation und Veränderungsbereitschaft überprüft. Aus den Ergebnissen wurde ein Modell entwickelt, welches die Phasen der Veränderung und mögliche Schwierigkeiten beschreibt (»Stages of Change Model«, Prochaska u. DiClemente 1984; Prochaska et al. 1992). Das Modell findet mittlerweile in verschiedensten Bereichen von Therapie und Beratung Anwendung. In der Psychotherapie wird es vor allem zur Beschreibung des Krankheits- und Therapieverlaufes genutzt (für eine ausführlichere Beschreibung s. Heidenreich u. Hoyer 1998; Michalak et al. 2005) und bietet Ansätze zur Optimierung von Therapieverläufen. Die Autoren des Modells, Prochaska und Di Clemente (1984), definieren fünf Stufen des Veränderungsprozesses. Die erste Stufe beinhaltet die Beschreibung eines nur eingeschränkten Problembewusstseins, die sog. »precontemplation«. Als Nächstes folgt die Phase der Nachdenklichkeit (»contemplation«), in welcher der Patient über die jeweilige Problematik nachdenkt. Danach tritt die Phase der Handlungsvorbereitung, die sog. »preparation« ein. Auf dieses Stadium folgt die Phase der Handlung (»action«). Die letzte Stufe beinhaltet die Aufrechterhaltung der erzielten Veränderung und wird als »maintenance« bezeichnet. Patienten können sich zu Therapiebeginn in jeder dieser Phasen befinden (Michalak
6
et al. 2005). Der Übergang zwischen den einzelnen Phasen ist sequenziell, jedoch nicht immer linear. So kommt es oft vor, dass Patienten, die sich bereits in einer späteren Phase (z. B. der Handlung) befinden, wieder in eine frühere Phase (z. B. der Nachdenklichkeit) zurückfallen (Treasure et al. 1999). Es ist auch möglich, dass sich ein Patient gleichzeitig in verschiedenen Phasen befindet, je nachdem, welcher Problembereich beleuchtet wird: Ein Patient ist beispielsweise in Bezug auf einen Abbau der Heißhungerattacken hoch motiviert, während er nicht bereit ist, auf die Gewichtskontrollstrategien zu verzichten (Treasure et al. 1999). Die einzelnen Phasen werden nachfolgend, auf Patienten mit Essstörungen bezogen, detailliert beschrieben und mögliche Behandlungsimplikationen abgeleitet. Zunächst ist hier noch einmal das Phasenmodell im Überblick dargestellt:
Phasen der Veränderung nach Prochaska u. DiClemente 1984 1. Eingeschränktes Problembewusstsein (»Precontemplation«) 2. Nachdenklichkeit (»Contemplation«) 3. Handlungsvorbereitung (»Preparation«) 4. Handlung (»Action«) 5. Aufrechterhaltung (»Maintenance«)
6.2.1
Beschreibung der einzelnen Phasen
Phase des eingeschränkten Problembewusstseins. In dieser Phase besteht beim Patienten keine
Veränderungsabsicht. So könnte ein Patient das massive Untergewicht als nicht gravierend wahrnehmen, während hinsichtlich der auftretenden körperlichen und psychischen Veränderungen (z. B. Haarausfall und Konzentrationsschwierigkeiten) ein Problembewusstsein vorliegt, diese Symptome jedoch nicht mit der Essstörung in Verbindung gebracht werden. Therapeuten begegnen Patienten in diesem Stadium vor allem dann, wenn die Betroffenen nicht aus Eigeninitiative in die Behandlung kommen, sondern aufgrund des Drucks anderer Personen wie der Eltern oder des Hausarztes die Therapie aufsuchen (vgl. Michalak et al. 2005).
68
6
Kapitel 6 · Motivierung
Phase der Nachdenklichkeit. In dieser Phase wird seitens der Patienten bereits über eine mögliche zukünftige Veränderung reflektiert, jedoch besteht noch ein hohes Maß an Ambivalenz hinsichtlich einer solchen Änderung (Dunn et al. 2003; Michalak et al. 2005). Bezogen auf den Bereich der Essstörungen könnte sich die Ambivalenz darin manifestieren, dass ein Patient zwar weiß, dass er ein Problem hat (z. B. selbstinduziertes Erbrechen mit all seinen Konsequenzen), jedoch sieht er auch die Nachteile einer Veränderung wie z. B. eine antizipierte Gewichtszunahme oder auch den Verlust einer vertrauten Strategie zur Bewältigung negativer Gefühle. Phase der Vorbereitung. In diesem Stadium haben
die Patienten die Entscheidung für eine Veränderung bereits getroffen, allerdings ist die Ambivalenz noch nicht hundertprozentig aufgelöst. In dieser Phase wird zumeist nicht sofort der Psychotherapeut direkt konsultiert, sondern das Problem wird mit Freunden, Selbsthilfegruppen oder dem Hausarzt besprochen (Michalak et al. 2005). Diese Phase wird allerdings nicht in jeder Version des Modells berücksichtigt und wird daher auch nicht in jeder der unten genannten Studien einbezogen. Phase der Handlung. In dieser Phase ändern die Patienten das Problemverhalten. Im Bereich der Essstörungsbehandlung könnte es sich hierbei z. B. um eine Normalisierung des Essverhaltens im Rahmen von Gewichtssteigerungsprogrammen handeln. Als problematisch könnte es sich erweisen, dass die meisten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen an einer Veränderung der Handlung ansetzen und damit zumeist implizit davon ausgehen, dass sich die Patienten bereits in dieser Phase befinden (Michalak et al. 2005). Phase der Aufrechterhaltung. Auf die Handlungsphase folgt das Stadium der Aufrechterhaltung der erzielten Veränderungen, welche sich oftmals schwieriger gestaltet als die Verhaltensänderung an sich (vgl. Dunn et al. 2003). Hierbei geht es einerseits um die Stabilisierung von im Rahmen der Therapie erzielten Veränderungen (z. B. Aufgabe des selbstinduzierten Erbrechens), andererseits sollen Techniken zur Rückfallprophylaxe erlernt werden (Michalak et al. 2005). Interventionen, die der Aufrechterhaltung erzielter
Therapieerfolge dienen, sind im Bereich der Essstörungen von besonderer Bedeutung, da es trotz erfolgreichem Therapieabschluss bei vielen Patienten im Laufe der Zeit zu Rückfällen kommt.
6.2.2
Empirische Befunde und Implikationen des Phasenmodells im Bereich der Essstörungsbehandlung
Es wurden verschiedene Studien durchgeführt, um die Anwendbarkeit des Phasenmodells auf die Therapie von Essstörungen zu überprüfen (Ward et al. 1996; Blake et al. 1997). Vor allem der Zusammenhang zwischen der Therapiephase und dem Behandlungserfolg wurde beleuchtet. Dazu wurden Patienten zu Behandlungsbeginn hinsichtlich ihrer Veränderungsbereitschaft untersucht. Dabei zeigte sich, dass sich zwar 83% der Patienten mit Bulimia nervosa, jedoch nur 43% der Patienten mit Anorexia nervosa zu Therapiebeginn in der Handlungsphase befanden. Die höhere Rate an Patienten mit Bulimia nervosa in der Handlungsphase wurde darauf zurückgeführt, dass sich die Änderungsmotivation je nach Symptom unterscheiden kann und sich bei dieser Patientengruppe eine hohe Änderungsmotivation vor allem auf die Reduktion der Heißhungerattacken bezieht, nicht aber auf die Aufgabe der kompensatorischen Methoden bzw. der Gewichtsreduktionsstrategien wie Erbrechen oder exzessivem Sport (Dunn et al. 2003). Vor allem aber konnte bei Patienten mit Bulimia nervosa nachgewiesen werden (Treasure et al. 1999), dass das Stadium, in dem sich der Patient zu Therapiebeginn befand, einen Einfluss auf das Therapieergebnis hatte: So zeigte sich bei Patienten in der Handlungsphase eine deutlichere Symptomreduktion hinsichtlich der Heißhungerattacken als bei Patienten, die sich in der Phase der Nachdenklichkeit befanden. Auch Franko (1997) konnte die Änderungsbereitschaft als Prädiktor für den Therapieerfolg belegen, allerdings gibt es auch Studien, deren Ergebnisse diesen Befunden entgegenstehen und keinen Zusammenhang zwischen der Veränderungsbereitschaft gemäß des Phasenmodells in der Therapieanfangsphase und dem Therapieergebnis nachweisen konnten (Levy et al. 1998). Diese inkonstistenten Be-
69 6.3 · Stärkung der Gruppenkohäsion
funde werden vor allem auf methodische Aspekte zurückgeführt (Geller et al. 2001). Beispielsweise wurde in der Studie von Treasure et al. (1999) die Motivation zur Aufgabe der »gesamten« Essstörung erfasst und nicht zwischen ihren unterschiedlichen Komponenten wie beispielsweise Heißhungerattacken auf der einen und kompensatorischen Strategien auf der anderen Seite differenziert. Übereinstimmend wird dagegen angenommen, dass es zu einer negativen Beeinflussung des Therapieerfolges kommen kann, wenn die Phase, in der sich ein Patient befindet, und die eingesetzten therapeutischen Interventionen nicht kompatibel sind (Miller u. Rollnick 1991; Prochaska et al. 1992). So wird ein Patient, der sich in der Phase des eingeschränkten Problembewusstseins befindet, kaum von Interventionen zur Verhaltensänderung profitieren (Dunn et al. 2003). Hieraus wurde geschlossen, dass es zu verbesserten Therapieergebnissen kommt, wenn der Therapeut bei der Auswahl der Interventionsmethoden die Phase berücksichtigt, in der sich ein Patient während des Therapieprozesses befindet und die Methoden der Veränderung dieser Phase anpasst (Geller u. Drab 1999). Mögliche Interventionsmethoden zur Steigerung der Therapiemotivation werden in 7 Abschn. 6.4 dargestellt. Im Einzelsetting kann mit den Übungen zur Motivierung nach Klärung der Formalien begonnen werden. Im Gruppensetting sollten Übungen zur Motivationssteigerung erst im Anschluss an Interventionen zum Aufbau von Vertrauen unter den Gruppenmitgliedern, welche im Folgenden beschrieben werden, erfolgen.
6.3
Stärkung der Gruppenkohäsion
Da dieses Behandlungsprogramm auch bzw. vor allem als Gruppentherapieprogramm geeignet ist, soll zunächst auf mögliche Schwierigkeiten in der Durchführung von Gruppen und Interventionen zur Stärkung der Gruppenkohäsion eingegangen werden. Wie bereits angemerkt, kann es gerade bei Essstörungspatienten zu einem erhöhten Konkurrenzverhalten innerhalb der Therapiegruppe kommen, welches einen negativen Einfluss auf den Therapieerfolg hat (Legenbauer et al. 2004). Um eine
6
konstruktive Atmosphäre aufzubauen und Veränderungen bei den Gruppenteilnehmern zu erreichen, sollten daher Vertrauen, Offenheit, Kohäsion und eine kooperative Arbeitshaltung vom Therapeuten gefördert werden (vgl. Fiedler 1996; Grawe 1981).
Übungen: 4 Kennenlernspiel 4 Symbole der Essstörung
Arbeitsmaterial: 4 A5-Karteikarten, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Gruppenregeln (. Arbeitsblatt 6.1) 4 Symbole meiner Essstörung (. Arbeitsblatt 6.2/6.2B)
6.3.1
Beschreibung von Gruppenwirkfaktoren und Therapeutenvariablen
Krumbholtz und Potter (1980) beschreiben, dass Gruppen mit einer guten Arbeitsatmoshpäre, d. h. hoher Kohäsion, Vertrauen und Offenheit, insbesondere durch Wir-Äußerungen bezüglich der Gruppe, Sympathiebekundungen wie »Ich komme gerne hierher« oder einem Wunsch nach gemeinsamen Freizeitaktivitäten sowie durch die inhaltliche Bezugnahme eigener Wortmeldungen auf Äußerungen anderer Gruppenteilnehmer gekennzeichnet sind. Niedrige Kohäsion und geringes Vertrauen zeigt sich dagegen vor allem in Unterbrechungen, Zurückweisungen, irrelevanten Gesprächsthemen, dem Herunterspielen von Problemen, dem Abweisen von Feedback oder auch Schweigen. Krumbholtz und Potter (1980) unterscheiden nun förderliches Therapeutenverhalten von möglichen Interventionen zur Förderung der Arbeitsatmosphäre. Als förderliches Therapeutenverhalten benennen sie dabei lobende Äußerungen durch den Therapeuten ebenso wie das Geben von Vorschlägen, das Zeigen von Verständnis usw. Zusätzlich fungiert der Therapeut als Modelll für ein offenes und mitfühlendes Verhalten. So kann der Therapeut die Gruppenmitglieder durch Äußerungen wie »Ich finde es sehr mutig, dass Sie das hier erzählen, das ist bestimmt
70
6
Kapitel 6 · Motivierung
nicht leicht für Sie« für ihre Offenheit verstärken und gleichzeitig ein unterstützendes Verhalten demonstrieren. Zudem sollte zu Beginn durch die Formulierung von Gruppenregeln eine Definition von erwünschtem Verhalten gegeben werden wie beispielsweise »Wir wollen hier als Gruppe zusammenarbeiten, um jedem Einzelnen zu helfen, sich besser zu fühlen« oder »Die Gruppe soll jedem Hilfestellung dafür geben, seine Schwierigkeiten zu bewältigen«. Weitere Techniken sind das Konfrontieren mit unangemessenem Verhalten wie »Frau S., bitte wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit Frau M. zu. Oder wie würden Sie es empfinden, wenn Sie sich öffnen und die anderen darüber lachen?« sowie das Reflektieren von Verhaltensweisen in der Gruppe wie »Es ist sicher schwierig, hier in der Gruppe offen über seine Probleme zu reden«. Wichtig ist auch, die Gesprächsrichtung in der Gruppe zu lenken, indem vom Therapeuten die Aufmerksamkeit auf mögliche vermiedene oder unbemerkte wichtige Inhalte zurückgelenkt wird: »Ich möchte noch einmal aufgreifen, was Frau S. über die körperlichen Folgeerscheinungen der Essstörung gesagt hat«. Weitere Gesprächsführungstechniken sind das Aufgreifen negativer Äußerungen wie »Manchmal ist es schwierig, Kritik anderer anzunehmen, weil es sehr verletzend sein kann« und das Zurückgeben von Äußerungen an die Gruppe wie »Was meinen denn die anderen Gruppenmitglieder zu den Schwierigkeiten, die Herr S. beschrieben hat?«.
6.3.2
Interventionen zur Stärkung der Gruppenkohäsion
Neben den möglichen inhaltlichen und formalen Gestaltungsmöglichkeiten durch den Therapeuten
sollten zu Beginn der Gruppe zunächst das Arbeitsblatt mit den Gruppenregeln (. Arbeitsblatt 6.1) ausgeteilt und besprochen werden. Darin sollten organisatorische Regeln wie Pünktlichkeit und kontinuierliche Teilnahme sowie Regeln zum Umgang miteinander wie Schweigepflicht, aktives Zuhören und Feedbackgeben enthalten sein. Die Punkte sollten einzeln durchgegangen und mögliche Fragen zu Regeln und deren Einhaltung geklärt werden. Abschließend sollten sich alle Teilnehmer der Gruppe mit den Regeln einverstanden erklären. Zum ersten Kennenlernen der Gruppenmitglieder sollte im Anschluss daran ein Kennenlernspiel durchgeführt werden. Kennenlernspiele, welche vor allem das Ziel der Kohäsionsbildung haben, sind in drei Bereiche zu unterteilen – dem Besprechen individueller Phantasien oder Vorstellungen (z. B. Wenn man eine Million gewinnen würde, dann …) in der gesamten Gruppe, dem Erarbeiten von Gemeinsamkeiten der Teilnehmer im Zweiergespräch oder Bewegungsübungen wie dem Vertrauenskreis (zu einer ausführlichen Übersicht s. Krumbholtz u. Potter 1980). Eine mögliche Kombination dieser verschiedenen Varianten liegt in der Durchführung von Ratespielen, welche sowohl Informationen über die einzelnen Gruppenmitglieder beinhalten als auch Auskunft über Phantasien oder zukünftige Wünsche geben. Im Folgenden wird ein solches Ratespiel vorgestellt. Dazu sollen die Teilnehmer auf Karteikarten eintragen, welches Land sie am liebsten mögen, was sie gerne tun und welches Tier sie gerne sein möchten. Diese werden dann anonym aufgehängt, und die Gruppenteilnehmer werden gebeten, Vermutungen darüber zu äußern, welcher Teilnehmer welche Karte geschrieben hat. So könnte das Spiel erläutert werden:
Damit Sie sich untereinander zunächst etwas näher kennen lernen, möchten wir mit Ihnen folgendes Ratespiel durchführen. Sie erhalten jeder einen Stift und eine Karteikarte. Bitte notieren Sie auf dieser Karte in Druckbuchstaben jeweils Ihr Lieblingsreiseland, ein Tier, das Sie gerne sein möchten und Ihre Lieblingsbeschäftigung. Wenn Sie damit fertig sind, geben Sie die Karte an mich zurück. Nachdem ich nun alle Karten aufgehängt habe, möchte ich Sie bitten, zu überlegen, wem aus der Gruppe Sie welche Karte zuordnen würden. Sie können dabei einfach Ihrem Gefühl folgen oder Ihre Überlegung an anderen Dingen wie Gesagtem aus der Vorstellungsrunde, Kleidungsstil oder Ähnlichem festmachen.
71 6.3 · Stärkung der Gruppenkohäsion
Der Therapeut kann nun, wenn die einzelnen Patienten Ideen zu den Karteikarten äußern, jeweils nachfragen, warum diese Vermutung geäußert wurde, um in der Gruppe eine Diskussion anzuregen
Patient A.: Therapeut: Patient A.:
Therapeut: Patient B.:
Patient C.:
6
und vertiefende Informationen zu erhalten. Im nachfolgenden Dialog wird dieses Vorgehen exemplarisch dargestellt.
Ich glaube, dass Frau B. gerne ein Delfin wäre. Warum nehmen Sie das an? Weil Sie einen blauen Pullover trägt und irgendwie einen so freundlichen Eindruck auf mich macht. Delfine empfinde ich als freundliche und offene, leicht verspielte Tiere und irgendwie wirkt Frau A. so auf mich. Vielen Dank, Frau A., stimmt diese Vermutung? Nein, so ganz trifft das nicht zu, aber die Erklärung fand ich sehr schön. Ich habe aber die Idee, dass Frau C. gerne ein Delfin wäre, weil diese so frei sind und sie mir mit ihren bunten Kleidern so frei von Konventionen vorkommt. Ja, ich würde tatsächlich gerne ein Delfin sein, aber warum, das weiß ich gar nicht so genau.
Eine zweite Möglichkeit zur Steigerung der Gruppenkohäsion in der ersten Gruppensitzung ist die Besprechung der individuellen Symbole der Essstörung für die verschiedenen Patienten. Dazu werden die Patienten vorab gebeten, ein Symbol für die Essstörung mit zur ersten Gruppensitzung zu bringen. Dies kann zum Beispiel ein Kleidungsstück sein, das nicht mehr passt und ein niedrigeres Gewicht symbolisiert oder ein Zeichen dafür ist, wie die Frauen gerne wieder sein möchten. Es können Ausschnitte aus Zeitschriften sein wie Models, Gegenstände wie eine Waage oder aber auch Kalorientabellen, Diätoder Kochbücher, Nahrungsmittel, die oft zu Essanfällen gegessen werden, oder im Gegenteil Nahrungsmittel, die einzig und allein erlaubt sind und mit denen die Frauen den Tag bestreiten. Im Folgenden sind zwei Fallbeispiele zur Auswahl der Symbole dargestellt, welche Inhalt und auch Funktion der Essstörung gut beschreiben (7 Abschn. 6.3). Fallbeispiel Frau A.: Ich habe diese Brezel mitgebracht, weil ich das letzte halbe Jahr vor dem Klinikaufenthalt nichts anderes mehr gegessen habe als eine einzige Laugenbrezel am Tag. Diese Brezel repräsentiert für mich all die Qualen und irrationalen Wünsche bezüglich meiner Figur und meines Gewichts, die ich in den vergangenen Monaten hatte und immer noch habe.
Eine andere Patientin bringt eine Frauenzeitschrift mit, auf dem Cover ist ein sehr schlankes Model im Minirock abgebildet. Frau B. beschreibt dieses Symbol für sich so: Fallbeispiel Überall sehe ich Frauen in kurzen Röcken oder engen Hosen. Ich hasse meine Beine und finde sie furchtbar dick und hässlich. Das Bild ist für mich ein Symbol dafür, was ich gerne hätte und durch meine Essstörung versuche zu erreichen. Ich mache täglich Sport, halte dauernd Diät und verbiete mir alle Süßigkeiten und Dinge, die ich gerne esse, nur um einmal einen Minirock tragen zu können. Aber ich bin mir nie gut genug, und das ist so frustrierend und quälend.
Die beiden Fallbeispiele zeigen deutlich, dass die Symbole einmal etwas Negatives – die erlittenen Qualen – und einmal etwas Positives – die begehrten dünnen Beine – beinhalten. Die Motivation, die negativen Aspekte zu verändern, ist groß. Bei Frau A. steht also deutlich der Leidensdruck im Vordergrund, während bei Frau B. aus dem zweiten Fallbeispiel eher noch das, was sie sich durch die Essstörung verspricht, im Vordergrund steht. Diese Einstiegsübung dient zunächst dazu, Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppenmitgliedern herauszustreichen und gegenseitiges Nachfragen zu motivieren. Auf . Arbeitsblatt 6.2 kön-
72
Kapitel 6 · Motivierung
nen die Patienten ihre persönlichen Symbole beschreiben. Ein entsprechendes Beispiel ist auf . Arbeitsblatt 6.2B auf der 7 CD-ROM enthalten. Im Anschluss daran kann mit den Übungen zur Motivierung wie der Herausarbeitung der Funktion der Essstörung oder der Identifikation von Folgeerscheinungen der Essstörung begonnen werden und bereits angesprochene funktionale Aspekte aus der Symbolübung wieder aufgegriffen werden.
6.4
6
Interventionen zur Motivationssteigerung
Interventionen zur Motivationssteigerung sind insbesondere dann einzusetzen, wenn sich ein Patient in den Phasen des eingeschränkten Problembewusstseins, der Nachdenklichkeit und Handlungsvorbereitung befindet. Zur Klärung von Handlungszielen und vorhandenen Ambivalenzen werden im Folgenden die Therapiebausteine »Psychoedukation« im Hinblick auf eine gesunde Ernährung und auf Folgeerscheinungen einer Essstörung zum einen sowie der Identifikation und der Abwägung von Vor- und Nachteilen der Essstörung zum anderen beschrieben. Durch diese Interventionen sollen die Patienten darin unterstützt werden, in die Phase der Handlung zu gelangen. Hierdurch soll der Einsatz der weiteren Therapiebausteine (dargestellt in 7 Kap. 7–14) erleichtert und eine höhere Effektivität erzielt werden. In der folgenden Übersicht sind entsprechende Übungen sowie notwendige Arbeitsmaterialien dargestellt.
Übungen: 4 Körperliche Folgen der Essstörung 4 Freund und Feind 4 Waage
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte 4 Infobroschüre Ernährung (7 Kapitelende und CD-ROM)
Arbeitsblätter: 4 Zwei Briefe an die Essstörung (. Arbeitsblatt 6.3/6.3B) 4 Die Waage (. Arbeitsblatt 6.4/6.4B)
6.4.1
Psychoedukation
Ernährung Patienten mit Essstörungen haben ein ausgeprägtes Interesse an dem Thema Ernährung; insbesondere sind sie zumeist gut über den Kaloriengehalt bestimmter Speisen informiert. Neben dem Wissen über objektive Fakten liegen bei den Betroffenen jedoch oft auch Mythen zu diesem Thema vor. Meist haben die Patienten es verlernt, einzuschätzen, wie eine »normale« Mahlzeit qualitativ und quantitativ aussieht. Aus diesem Grunde ist es wichtig, den Patienten diesbezügliche Informationen zu liefern (vgl. auch Vitousek et al. 1998). Zu diesen Zweck findet sich eine Informationsbroschüre auf der diesem Buch beiliegenden CD-ROM sowie in einer Kurzfassung auch am Ende dieses Kapitels. Sie sollte den Patienten ausgehändigt werden, so dass sie diese zu Hause durcharbeiten können. Die einzuleitenden Schritte zur Veränderung des Essverhaltens werden im Rahmen des Therapiebausteins »Ernährungsmanagement« (7 Kap. 8) ausführlich beschrieben.
Folgeerscheinungen einer Essstörung Ebenfalls von hoher Relevanz ist die Aufklärung der Patienten über die Folgeerscheinungen einer Essstörung – bedingt durch Mangelernährung, Heißhungerattacken und die kompensatorischen Strategien. Vitousek et al. (1998) weisen darauf hin, dass dies jedoch nicht auf eine extrem »belehrende und angstinduzierende« Art und Weise geschehen sollte, da hierdurch oft das Gegenteil erreicht wird und es zu Verleugnung der Folgen und Vermeidung der Auseinandersetzung mit möglichen medizinischen Konsequenzen kommen kann. Es erscheint also sinnvoll, die Patienten die somatischen und psychischen Folgeerscheinungen selbst herausarbeiten zu lassen. Dazu sollten die Patienten befragt werden, ob sie körperliche Beschwerden haben, welche möglicherweise mit der Essstörung in Zusammenhang stehen könnten. Diese sollten am besten auf einem Flipchart gesammelt werden. Nach Auflistung der körperlichen Beschwerden sollte zudem nach psychischen Folgen der Essstörung gefragt werden und die Liste auf dem Flipchart mit psychischen Folgebzw. Begleiterscheinungen ergänzt werden. Damit sich die Patienten im Anschluss an diese Übung noch intensiver mit den Folgeerscheinungen der
73 6.4 · Interventionen zur Motivationssteigerung
Essstörung auseinandersetzen, werden sie gebeten, in einer Gruppenübung einen menschlichen Körper zu skizzieren und durch Pfeile an den entsprechenden Stellen einzuzeichnen, welche Körperbereiche bzw. Organsysteme durch die Essstörung betroffen sind. Falls nicht genügend Zeit vorhanden ist, kann diese Übung auch von jedem Patienten individuell als Hausaufgabe bearbeitet werden. Das so entstandene Bild sollen die Patienten gut aufbewahren, um
Therapeut:
Frau S.:
Therapeut: Frau X.:
6
es in Zeiten mangelnder Änderungsmotivation nochmals zu betrachten und sich die mit der Essstörung assoziierten Einschränkungen und Probleme nochmals bewusst zu machen. Nachdem die Patienten die somatischen und psychischen Folgeerscheinungen herausgearbeitet haben, sollte der Therapeut den Patienten bitten, hieraus Konsequenzen für sich abzuleiten. Im Folgenden ist ein Dialogbeispiel zu dieser Intervention abgedruckt:
Sie haben nun in dieser Collage einen Körper dargestellt und sehr anschaulich durch Pfeile verdeutlicht, welche Organsysteme durch die Essstörung betroffen sein könnten. Allerdings treten bei einem Patienten nicht immer alle dieser Folgeerscheinungen zwangsläufig auf, sondern es gibt starke interindividuelle Unterschiede. Auch zeigen sich einige dieser Symptome erst nach einer längeren Erkrankungsdauer. Ein Teil dieser Folgeerkrankungen ist an sich aus medizinischer Sicht nicht bedenklich (z. B. die brüchigen Nägel), andere hingegen können lebensbedrohlich sein und zum Tode führen wie beispielsweise die Elektrolytstörungen. Glücklicherweise ist ein Großteil dieser Folgen (z. B. die trockene Haut) auf Dauer wieder rückgängig zu machen, vorausgesetzt, es gelingt der betreffenden Person, das Essverhalten wieder zu normalisieren. Andere Bereiche jedoch können dauerhafte Schädigungen davontragen, so kann Kalziummangel langfristig das Skelett schädigen und zu Osteoporose führen. Wenn Sie sich nun einmal diese Collage mit den verschiedenen Folgeerscheinungen einer Essstörung anschauen: Wie fühlen Sie sich dabei? Was geht Ihnen durch den Kopf? Irgendwie ist das schon erschreckend, wozu die Essstörung führen kann. Ich wusste gar nicht, dass sich meine Magersucht auch auf das Gehirn auswirken kann, das finde ich schon etwas bedrohlich. Auch war ich mir gar nicht so darüber im Klaren, dass die Tatsache, dass ich immer so friere, mit meiner Ernährung zusammenhängt. Aber andererseits denke ich auch, dass das bei mir sicherlich anders ist, irgendwie fällt es mir total schwer, das alles auf mich persönlich zu beziehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich eines Tages Herzrhythmusstörungen haben könnte; ich glaube, dass ich das einigermaßen gut verdrängen kann. Wenn sie diese Collage nun noch einmal auf sich wirken lassen: Welche Schlüsse ziehen sie hieraus für sich? Ich weiß nicht, ich muss noch einmal ganz in Ruhe darüber nachdenken. Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht gedacht, dass die Bulimia nervosa so schlimme Folgen haben kann. So ganz kann ich das immer noch nicht glauben. Aber trotzdem sehe ich das Ganze jetzt in einem etwas anderen Licht.
Eine Auflistung der körperlichen Folgeerscheinungen findet sich in der bereits in 7 Abschn. 3.1.1 erwähnten Patientenbroschüre (7 CD-ROM). Für Therapeuten sind ausführliche Informationen über medizinische Komplikationen und Beschwerden in 7 Kap. 1 dieses Buches enthalten. Detaillierte und auch für den Laien verständliche Beschreibun-
gen von körperlichen bzw. medizinischen Folgeerscheinungen einer Essstörung finden sich darüber hinaus in den Therapiemanualen von Jacobi et al. (2000), Jacobi et al. (2004a), Tuschen-Caffier und Florin (2002) sowie dem Patientenratgeber von Gerlinghoff et al. (1999). Es empfiehlt sich, bei der Erläuterung der medizinischen Folgeerschei-
74
Kapitel 6 · Motivierung
nungen keine Informationen vorzuenthalten. So sollten Details wie die Reversibilität der meisten der somatischen Folgerscheinungen nach Normalisierung des Essverhaltens nicht zur Abschreckung verschwiegen werden, sondern genutzt werden, um den Patienten weiter zu motivieren (Vitousek et al. 1998)
6.4.2
6
Abwägen der Vor- und Nachteile der Essstörung
Unter Berücksichtigung der in 7 Abschn. 3.1.2 dargestellten Herausarbeitung der negativen Folgeerscheinungen einer Essstörung sollen die Patienten nun dazu angeleitet werden, die Vor- und Nachteile der Essstörung zu identifizieren, und diese in einem späteren Schritt gegeneinander abwägen. Hierbei können die Patienten zunächst gebeten werden, zwei Briefe an die Essstörung zu verfassen. Im ersten Brief sollen sie die Essstörung als »Freund« bzw. als »Krücke« anreden, um auf diese Weise den positiven Aspekten der Essstörung auf die Spur zu kommen. Den Patienten kann für diese Übung . Arbeitsblatt 6.3 »Zwei Briefe an die Essstörung« ausgeteilt werden. In . Arbeitsblatt 6.3B sind zwei solcher Beispielbriefe dargestellt. Dieses Herausarbeiten der guten Seiten der Essstörung fällt den Patienten zumeist schwer, da diese als wenig sozial erwünscht angesehen werden. Deshalb sollte der Therapeut den Patienten ermutigen und ihn bei der Entdeckung möglicher für ihn aus der Essstörung resultierender Vorteile unterstützen. Im ersten Brief werden die Funktionen der Essstörung sehr deutlich. Zum einen wird der Patient durch die Essstörung von den Problemen abgelenkt; zum anderen macht die Essstörung ihn zu etwas Besonderem und erlaubt es ihm zudem, ein niedriges Körpergewicht zu halten. Die Würdigung der – zumeist nur kurzfristigen – Vorteile der Essstörung ist insofern wichtig, als die Patienten hierdurch erfahren, dass ihr Verhalten nicht »verrückt«, sondern durchaus nachvollziehbar ist, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass es vor allem die kurzfristigen positiven Konsequenzen einer Handlung sind, die das Verhalten steuern. Der zweite Brief spiegelt den enormen Leidensdruck des Patienten deutlich wider. Es werden ver-
schiedene negative Folgeerscheinungen der Essstörung wie Konzentrationsschwierigkeiten, Unruhe und Anspannung, Reizbarkeit, eine zunehmende soziale Isolation und die Ablehnung des eigenen Körpers genannt. In einem nächsten Schritt soll der Patient nun die positiven und negativen Konsequenzen der Essstörung gegeneinander abwägen (s. auch Wilson u. Pike 1993). Hierzu wird das . Arbeitsblatt 6.4 »Die Waage« (7 CD-ROM) herangezogen. Auf diesem Arbeitsblatt ist eine Waage dargestellt, deren zwei Waagschalen die beiden Seiten der Essstörung symbolisieren: Die eine Waagschale steht für die positiven Seiten der Essstörung (»Krücke«), während die andere Seite die negativen Konsequenzen (»Hindernis«) abbildet (. Arbeitsblatt 6.4B). Um der Ambivalenz der Patienten in Bezug auf die Essstörung Rechnung zu tragen, sollen die Patienten auf dem Arbeitsblatt notieren, welche Vorund welche Nachteile die Essstörung hat. Bei der Erarbeitung der Pro-Kontra-Liste kann auf verschiedene Aspekte der Essstörung wie beispielsweise das Auslassen von Mahlzeiten, Heißhungerattacken, Erbrechen, exzessiver Sport oder tägliches Wiegen eingegangen werden. Die Nachteile der Essstörung können gut aus der vorherigen Übung zur Visualisierung der Folgeerscheinungen (Körperzeichnung in 7 Abschn. 6.4.1) einer Essstörung sowie des Briefes an den »Feind« erschlossen werden, ergänzt durch weitere persönliche Beobachtungen der Patienten. Als schwieriger entpuppt sich oft die Herausarbeitung der Vorteile einer Essstörung, da diese den Patienten zumeist nicht bewusst sind oder aber von den Patienten nicht ausgesprochen werden, da sie befürchten, dass diese für den Therapeuten nicht akzeptabel sind. Aber gerade das Bewusstmachen der Vorteile der Essstörung bzw. die Ziele und Sehnsüchte, die durch die Essstörung erreicht bzw. erfüllt werden sollten, und deren Hinterfragung erscheint wichtig, um die Basis der Ambivalenz der Patienten im Hinblick auf eine »Aufgabe« der Essstörungssymptomatik für den Patienten, aber auch für den Therapeuten offen zu legen. Dies ist notwendig, um eine Änderungsentscheidung überhaupt treffen zu können. Im Rahmen der Herausarbeitung der Vor- und Nachteile einer Essstörung soll zwischen kurz- und langfristigen Folgen differenziert werden. Hierbei
75 6.4 · Interventionen zur Motivationssteigerung
. Arbeitsblatt 6.3B. Zwei Briefe an die Essstörung – die Essstörung als Krücke oder Hindernis?
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Kapitel 6 · Motivierung
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. Arbeitsblatt 6.4B. Die Waage
77 6.4 · Interventionen zur Motivationssteigerung
wird den Patienten oft klar, dass die Essstörung insbesondere kurzfristig verstärkend wirkt. So führt beispielsweise selbstinduziertes Erbrechen bei einem Patienten kurzfristig zur Verminderung der Angst vor einer Gewichtszunahme, langfristig jedoch kann es Speiseröhrenschädigungen oder aber einen zunehmenden Selbsthass der Patienten nach sich ziehen. Ebenso kann das Fasten kurzfristig das Gefühl der Stärke bei den Patienten auslösen, langfristig fördert es möglicherweise eine permanente gedankliche Fixierung auf das Thema Essen, eine soziale Isolation und depressive Stimmungslage. Im Rahmen dieser Übung sollte beachtet werden, dass die Vor- und Nachteile einer Essstörung nicht unbedingt widerspruchsfrei sind: So kann ein Patient auf der einen Seite schreiben, dass er so dünn sein möchte, um von anderen Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erhalten, oder glaubt, endlich glücklich zu sein, wenn er nur abgenommen hat. Auf der anderen Seite kann er es leid sein, dass alle ihn anstarren (Vitousek et al. 1998). Der Therapeut kann die widersprüchlichen Aspekte gegenüberstellen und den Patienten bitten, diese zu erläutern. Das dient dazu, dass dem Patienten seine ambivalenten Ziele deutlich werden können. Auch sollte im Kopf behalten werden, dass nicht alle seitens der Patienten gelieferten Argumente zutreffend sein müssen – allerdings geht es bei dieser Intervention zunächst einmal um die subjektive Einschätzung der Patienten, da diese über die Motivation zur weiteren Teilnahme an der Therapie entscheidend ist und nicht deren »Wahrheit« (Vitousek et al. 1998). Auch kann kritisch hinterfragt werden, ob die Argumente, welche der Patient geliefert hat, auch der Realität entsprechen. Wenn ein Patient beispielsweise benennt, dass er durch die Anorexia nervosa ein Gefühl der Kontrolle behalte, kann der Therapeut die Frage aufwerfen, wer wen kontrolliere. »Glauben Sie, dass Sie die Essstörung kontrollieren, oder könnte es auch sein, dass die Essstörung Sie unter Kontrolle hat?« Wenn nun alle Pro- und Kontraargumente bezüglich der Essstörung herausgearbeitet wurden, sollten die Patienten gebeten werden, einzuschätzen, als wie gewichtig sie die verschiedenen Argumente bewerten. Dies können sie anhand einer Skala verdeutlichen, z. B. indem sie eine Zahl zwischen 0 und 100 angeben. Eine mathematische Addition dieser Zahlen ist si-
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cherlich nicht sinnvoll, da die unterschiedlichen Argumente oft nicht unabhängig voneinander sind (vgl. auch Vitousek et al. 1998). Daher sollten beide Seiten als »Gesamtpaket« bewertet werden. Bei der Besprechung dieser Liste sollte der Therapeut den Patienten zu der Erkenntnis verhelfen, dass es nicht möglich ist, selektiv einige Nachteile auf der einen Seite zu eliminieren: Ein Patient hat möglicherweise die Vorstellung, dass es doch noch einen »perfekten Weg« gibt, nämlich beispielsweise eine Aufgabe des Fastens und somit der Abbau der permanenten gedanklichen Beschäftigung mit dem Thema Essen, ohne jedoch die Möglichkeit einer Gewichtszunahme in Kauf nehmen zu müssen. Oder aber ein Patient mit einer Anorexia nervosa gibt an, in Zukunft seine depressive Stimmungslage und seine Konzentrationsstörungen loswerden zu wollen, dies aber nur unter der Voraussetzung, dass das Untergewicht beibehalten wird. Der Therapeut soll hierbei darstellen, dass es weder in seiner noch in der Macht des Patienten liegt, dieses Gesamtpaket zu »entschnüren«. Bei einer solchen Kosten-Nutzen-Abwägung besteht selbstverständlich auch immer die Möglichkeit, dass der Patient sich für die Essstörung entscheidet. In diesem Fall schlagen Vitousek et al. (1998) vor, die folgende Frage an den Patienten zu richten: »Wenn es mit der Essstörung so gut funktioniert, wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Tochter sich ebenso für eine Essstörung entscheiden würde?«. Darüber hinaus kann der Therapeut den Patienten bitten, einmal in die Zukunft zu schauen und sich zu fragen: »Auch wenn es im Moment in Ordnung ist, mit der Essstörung zu leben, wie sähe es für Sie in fünf oder zehn Jahren aus?« (vgl. z. B. auch Garner u. Bemis 1982). In vielen Fällen kann dieser Perspektivwechsel bzw. diese Zeitprojektion zu einer kritischeren Haltung gegenüber der Essstörung und ihrer Konsequenzen führen. Die Herausarbeitung der positiven Aspekte bzw. der Funktionalitäten einer Essstörung dient nicht nur der Motivierung, sondern liefert auch Hinweise für die Schwerpunktsetzung beim Einsatz weiterer Therapiebausteine. Wenn im Rahmen der Therapie die Essstörungssymptomatik abgebaut werden kann, wird diese zwangsläufig zunächst einmal eine »Lücke« hinterlassen. Daher sollte in der Behandlung versucht werden, diese Lücke durch andere, funktionalere Bewältigungsstrategien zu füllen. Wenn
78
6
Kapitel 6 · Motivierung
beispielsweise die Essattacken eine emotionsregulierende Funktion besitzen, sollte dies durch die Erarbeitung von »nebenwirkungsärmeren« Techniken zum Umgang mit Gefühlen geschehen (7 Kap. 10). Den Patienten soll in diesem Zusammenhang klargemacht werden, dass ggf. im Laufe der Therapie eine Durststrecke auftreten wird: So wird mit den Patienten an einer Aufgabe der Essstörungssymptomatik gearbeitet, während noch keine neuen Kompetenzen zum »Stopfen« dieser Lücke erworben wurden. Es wird kontrovers diskutiert, inwieweit es erforderlich und möglich ist, den Patienten diese neuen, funktionaleren Strategien (z. B. zur Emotionsregulation und Selbstwertsteigerung) an die Hand zu geben, bevor an einer Aufgabe der Essstörungssymptomatik gearbeitet wird (Thompson u. Sherman 1989; Herzog et al. 1987). Auch wenn diese Reihenfolge sicherlich wünschenswert wäre, stellt sich die Frage, ob es tatsächlich realistisch ist, mit einem Patienten, während sich dieser inmitten des Teufelskreis einer Essstörung befindet, erfolgreich an einer Steigerung des Selbstwertes oder der sozialen Kompetenzen zu arbeiten (vgl. Darstellung bei Vitousek et al. 1998). Insgesamt bleibt anzumerken, dass es auch dann, wenn zu Beginn der Therapie Interventionen zur Motivierung eingesetzt wurden, im weiteren Verlauf erneut zu Motivationsproblemen kommen kann. Daher ist es wichtig, auch in späteren Therapiephasen die Bereitschaft der Patienten zur Aufgabe der Essstörungssymptomatik im Auge zu behalten und ggf. einige der beschriebenen Interventionen zu wiederholen.
6.5
Volition: Die Aufrechterhaltung von Absichten
Eine weitere Schwierigkeit für Patienten mit Essstörung kann in der Aufrechterhaltung von Absichten bestehen: Durch vielfache Fehlversuche (z. B. abgebrochene Diäten oder vergebliche Versuche, aus dem bulimischen Ess-Brech-Teufelskreis auszusteigen) erleben sie ihre Selbstregulationsfähigkeiten oft als defizitär. Nicht selten übersteht ein zuvor gefasster Entschluss wie beispielsweise eine Gewichtszunahme bei einem Patienten mit Anorexia nervosa die folgenden 24 Stunden nicht.
Zur Erklärung dieser Schwierigkeiten in der Aufrechterhaltung von Absichten und möglicher therapeutischer Interventionsansätze kann man sich die Theorie der Handlungskontrolle zunutze machen (Kuhl 2001). Im Rahmen dieser Erklärungsversuche werden zwei unterschiedliche Modi beschrieben: die Lageorientierung, welche vor allem eine Einschränkung der Selbstregulation darstellt, und die Handlungsorientierung, welche die Umsetzung von einmal gefassten Absichten erleichtert (Kuhl 2001). So beschreibt Kuhl (1994, 2001) die mit einer eingeschränkten oder lageorientierten Handlungsregulation verbundenen kognitiv-affektiven Prozesse als intrusive Gedanken und Vorstellungen, (z.B. von bestimmten Lebensmitteln), und gedankliche Fixierungen (etwa auf als unschön empfundene Körperstellen) welche Ressourcen blockieren und so handlungshemmend wirken. Dabei werden Entscheidungen beispielsweise für eine »verbotene« ausreichende Mahlzeit statt der »erlaubten« niederkalorischen Nahrungsmittel durch Unentschlossenheit und langwieriges Abwägen erschwert. Zudem kann Lageorientierung mit schneller Ablenkbarkeit und Unbeständigkeit bei der Ausführung von Tätigkeiten einhergehen und zum vorzeitigen Abbruch etwa von Übungen zur Erkundung positiv bewerteter Aspekte des eigenen Körpers führen (ausführlicher bei Kosfelder 2000). Demgegenüber wäre nach Kuhl (1994, 2001) ein handlungsorientierter Selbstregulationsmodus wünschenswert für therapeutische Fortschritte. Darin gelingt die Überwindung lageorientierten Grübelns, vor allem auch nach Rückschlägen und Misserfolgen, durch ein zügiges Entscheiden und Initiative auch für unangenehme Aufgaben, wie sie gerade auch therapeutische Übungen anfangs bedeuten können sowie durch eine konzentrierte Durchführung angenehmer oder (therapie-)bedeutsamer Tätigkeiten ohne Ablenkung. Während die Bedeutung der beschriebenen volitionalen Prozesse der Handlungsregulation für ein Spektrum verschiedener Störungsbilder nachgewiesen werden konnte (Hautzinger 1994; Übersicht bei Kosfelder u. Hartung 2005), liegen derzeit nur explorative Arbeiten im Bereich der Störungen des Essverhaltens vor (bei Adipositas: de Jong-Meyer et al. 1999). Eine positive Assoziation eines Anstiegs von
79 6.7 · Arbeitsblätter
Handlungsorientierung mit dem Behandlungserfolg, wie sie im Kontext depressiver Störungen und Angststörungen regelhaft nachgewiesen wird, kann aber auch hier angenommen werden. Wie aber kann eine lageorientierte Hemmung überwunden werden, und wie lassen sich handlungsorientierte Selbstregulationsprozesse auch therapeutisch anregen? Mittlerweile existieren erste, recht heterogene Versuche hierzu in verschiedenen Kontexten (psychosomatische Rehabilitation: Forstmeier u. Rüddel, o. J.; Management und Führung: Kehr 2004; Psychotherapie von Angststörungen: Kosfelder 2000). Dabei greifen sie zum einen auf Operationalisierungen sog. Handlungskontrollstrategien Kuhls (1987a, 1987b; vgl. Hartung 1990; Kosfelder 2000) zurück, wie beispielsweise aktive Lenkung der Aufmerksamkeit, Emotions- oder Erregungskontrolle oder sparsame, handlungsdienliche Informationsverarbeitung. Andererseits wird vor allem in neueren Arbeiten (Kuhl 2001) die Bedeutung positiver Affekte hervorgehoben (s. Kosfelder 2000), was im therapeutischen Rahmen durch eine vermehrt ziel- und ressourcenorientierte Gestaltung der Behandlung erreicht werden kann (vgl. Willutzki u. Kosfelder 2005, unveröffentl. Manuskript, 7 Kap. 13). Beide Perspektiven könnten sich auch im Bereich der Essstörungen als nützlich erweisen; eine empirische Bewährung steht aber noch aus.
6.6
Zusammenfassung
4 In der Therapie der Essstörungen stellen Motiva-
tionsprobleme seitens der Patienten eine sehr große Herausforderung für den Therapeuten dar. 4 Die verschiedenen Phasen der Motivation zur Veränderung können eingeteilt werden in 1. eingeschränktes Problembewusstsein, 2. Nachdenklichkeit, 3. Handlungsvorbereitung, 4. Handlung und 5. Aufrechterhaltung. Die Auswahl der therapeutischen Interventionen sollte an die Phase, in der sich der jeweilige Patient befindet, angepasst werden. 4 Die Stärkung der Gruppenkohäsion durch gezielte Maßnahmen des Therapeuten sowie durch
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Übungen zum Kennenlernen der Gruppenteilnehmer untereinander und zum Aufbau von Vertrauen ist von großer Bedeutung, wenn ein kooperatives Arbeitsklima erreicht werden soll. Dieses ist Voraussetzung, um allen Teilnehmern die Möglichkeit zur Veränderung zu bieten. 4 Bevor ein Patient zu Verhaltensänderungen (Phase 4) angeleitet wird, sollte die Therapiemotivation gefördert werden, z. B. durch Psychoedukation hinsichtlich der Folgeerscheinungen eines gestörten Essverhaltens sowie durch das Abwägen der kurz- und langfristigen negativen, aber auch positiven Folgen einer Essstörung. 4 Auch für »motivierte« Patienten kann es schwierig sein, ihre Therapieziele zu verfolgen und Verhaltensänderungen aufrecht zu erhalten. Volitionale Prozesse, die dabei hilfreich sind, lassen sich therapeutisch durch ein ressourcenorientiertes Vorgehen unterstützen, sind im Bereich der Essstörungen aber noch kaum untersucht.
6.7
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 6.1. Gruppenregeln . Arbeitsblatt 6.2. Symbole meiner Essstörung . Arbeitsblatt 6.3. Zwei Briefe an die Essstörung
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Kapitel 6 · Motivierung
. Arbeitsblatt 6.1
6
81 6.7 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 6.2
6
82
Kapitel 6 · Motivierung
6
. Arbeitsblatt 6.3
83 6.8 · Informationen zur Ernährung
6.8
Exkurs: Infomationen zur Ernährung
Appetit, Hunger und Sättigung
Die Regulation der Nahrungsaufnahme ist ein komplexer psychophysiologischer, d. h. sowohl körperlicher als auch mentaler Prozess. Begriffe wie Appetit, Hunger und Sättigung sind für die Steuerung der Nahrungsaufnahme von zentraler Bedeutung. Jeder dieser Begriffe bezeichnet jeweils eine Wahrnehmung von Körpergefühlen, die das Essverhalten steuern. Beim Menschen steuern solche Wahrnehmungen und Signale das Essverhalten jedoch nicht allein. Menschen sind in der Lage, zu essen, ohne Hunger oder Appetit zu haben, sowie die Nahrungsaufnahme zu beenden, ohne satt zu sein. Lernprozesse spielen hier eine große Rolle. Appetit und Sättigung können als erlernte Reaktionen nach dem Schema der klassischen Konditionierung verstanden werden, z. B. als Reaktion auf körpereigene Signale, Reize aus der Umwelt, sowie soziale, kognitive oder emotionale Umstände. Die besonderen Eigenschaften der Nahrungsmittel wie Geschmack, Geruch und Aussehen spielen ebenfalls eine Rolle. Appetit ist die lustvolle Motivation zu essen und häufig auf bestimmte Nahrungsmittel ausgerichtet. Hunger ist ein eher unbehagliches, oft schmerzhaftes Verlangen, etwas zu essen, wobei dieses Verlangen zumeist nicht auf ein spezifisches Lebensmittel abzielt. Appetit und Hunger sind jeweils Signale, die als ein Startsignal zum Beginn der Nahrungsaufnahme führen. Mit Sättigung wird das Stoppsignal umschrieben, das zur Beendigung der Nahrungsaufnahme beiträgt. Sättigung wird definiert als der Prozess der Beendigung einer Mahlzeit, der direkt durch die Aufnahme von Nahrung ausgelöst wird. Der Prozess der Sättigung führt jedoch nicht nur dazu, dass wir eine Mahlzeit beenden, sondern das Resultat dieser Sättigung, das Sattsein, bewirkt, dass bis zur nächsten Nahrungsaufnahme eine gewisse Zeit vergeht, in der nichts gegessen wird, der Beginn einer neuen Mahlzeit wird also verhindert. Wie entsteht das Gefühl der Sättigung? Sättigung tritt nicht plötzlich ein, sondern ist ein Prozess, der durch verschiedene Komponenten beeinflusst wird. Wissenschaftler sprechen von einer Sättigungskaskade, da Sättigung bzw. Sattsein während und nach der Nahrungsaufnahme von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird. Sensorische Vorgänge, kognitive Prozesse, postingestionale Effekte und postresorptive Vorgänge wirken an der Sättigung und am Sattsein mit: Durch sensorische (= die Sinneswahrnehmung betreffende) Prozesse nach dem Essen von Nahrung mit einer bestimmten sensorischen Qualität (z. B. salzig) setzt Sättigung ein, d. h. das Essen dieser Nahrung wird been-
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det. Werden Nahrungsmittel mit einer anderen sensorischen Qualität (z. B. süß) angeboten, wird weitergegessen. Diesem Phänomen kann die alltägliche Erfahrung zugeordnet werden, dass man nach einer umfangreichen Hauptmahlzeit zwar satt ist, aber ein Nachtisch trotzdem noch gegessen werden kann. Das Gleiche gilt für opulente mehrgängige Menüs oder Essanfälle: Erst die Abwechslung der Geschmacksrichtungen durch die verschiedenen Gänge schafft die Möglichkeit und Voraussetzung dafür, dass die angebotene Nahrungsmenge und -vielfalt gegessen werden kann. Die Sättigung stellt sich nicht ein, wird also ausgetrickst. Kognitive Prozesse (= Einstellungen, Werturteile) beruhen auf der Meinung und Einstellung gegenüber bestimmten Lebensmitteln. Am Beispiel des gezügelten Essverhaltens wird deutlich, das der vermutete (nicht der tatsächliche) Kaloriengehalt der gegessenen Nahrung einen deutlichen Einfluss auf die gegessene Menge hat, z. B. wenn man eine Mahlzeit beendet, bevor man satt ist, weil man denkt, die Mahlzeit hatte zu viele Kalorien. Sogenannte postingestionale Effekte, d. h. Effekte, die nach der Nahrungsaufnahme einsetzen, sind z. B. Magendehnung und die Entleerungsrate des Magens sowie die Ausschüttung von Hormonen und Stimulation von Chemorezeptoren im Magen und oberen Dünndarmabschnitt. Von postresorptiven Prozessen spricht man, wenn die Mechanismen der Sättigung gemeint sind, die durch die Aufnahme der Nährstoffe bzw. durch ihre verschiedenen Stoffwechselprodukte ausgelöst werden z. B. durch Erhöhung der Konzentration des Blutzuckers. Bei der Sättigung wirken alle diese Prozesse und Mechanismen mit. Sie überschneiden sich in ihrer zeitlichen Wirkung und führen insgesamt zu einem kombinierten Sättigungsprozess, bei dem auch Lernprozesse mitwirken. Was passiert mit dem Körper bei Diäten und gezügeltem Essverhalten ?
Gezügeltes Essverhalten bezeichnet die Tendenz, die Nahrungsaufnahme einzuschränken, um an Gewicht abzunehmen oder zumindest nicht zuzunehmen. Man bemüht sich also, weniger zu essen, als man eigentlich möchte oder bräuchte, aus Angst, zuzunehmen. Das wiederholte Durchführen von »Schlankheitsdiäten« oder ein in den normalen Alltag integriertes alltägliches Diäthalten ist ein Zeichen gezügelten Essens. Aber – und das ist wissenschaftlich belegt: Diäten, die auf Kalorienzählen aufbauen, also die Gesamtenergie reduzieren, bringen langfristig wenig. Reduzierte Nahrungsaufnahme führt zwar kurzfristig zu Gewichtsverlust, doch wenn wieder normal gegessen wird, steigt die Energieaufnahme, und das Körpergewicht kehrt zu seinem früheren Stand zurück. In den ersten Tagen einer Diät nimmt man deshalb schnell ab, weil der Körper vor allem Wasser verliert, ein Scheinerfolg also. Appetit
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Kapitel 6 · Motivierung
und Energieverbrauch sind eng miteinander verbunden. Sport, Klima und hormonelle Veränderungen beeinflussen den Energieverbrauch. Je häufiger man versucht, eine Diät zu machen, desto schneller kommt der Körper mit weniger Nahrung aus, denn um sich an Veränderungen in der Nahrungsaufnahme anzupassen, wird der Energieverbrauch ebenso reduziert oder gesteigert, bis das Körpergewicht wiederhergestellt ist. Vor allem einseitige Blitz- und CrashDiäten schaden mehr als sie nutzen. Wenn Sie eine einseitige Diät länger machen, fehlen Ihnen wichtige Nährstoffe und Vitamine. Der Körper greift seine Eiweißreserven an, das schwächt die Muskeln, schlimmstenfalls auch den Herzmuskel. Und: Sobald Sie wieder normal essen, kommen die Pfunde zurück, oft sogar mit »Zinsen« (Jojo-Effekt). Ein weiteres Ergebnis aus der Wissenschaft bestätigt die These, dass das Körpergewicht in den meisten Fällen eng reguliert zu sein scheint: Bei den meisten Erwachsenen bleiben Körpergewicht und Körperfett auffallend konstant, ungeachtet großer Variationen in der Menge der konsumierten Kalorien von einer Mahlzeit zur nächsten und der verbrauchten Energie. Gerade Frauen jagen häufig einer unrealistischen Idealfigur hinterher, wollen schlank werden um jeden Preis. Aber entgegen den in den Medien propagierten Vorstellungen ist der Körper nicht unbegrenzt formbar! Wundermittel, ständiges Hungern oder Diäthalten sind der falsche Weg, um ein wünschenswertes Gewicht zu erreichen. Wer nur noch die Traumfigur im Blick hat, ständig Kalorien zählt, sich alles Genussvolle verbietet und trotzdem nur ans Essen denkt, versucht vergeblich, sein Ziel zu erreichen. Wer sich regelmäßig, aber nicht übermäßig bewegt und ein vernünftiges, ausgewogenes Essverhalten erlernt, das individuelle Vorlieben bzw. Geschmack berücksichtigt, trägt zu seinem Wohlbefinden bei. Strikte Vorsätze oder rigide Diätvorschriften, die beinhalten, bestimmte Lebensmittel »nie mehr« oder »ab jetzt immer« zu essen, bringen keinen Erfolg. Sie werden auf Dauer nicht in den Alltag übernommen. Es können dadurch schwere Essstörungen entstehen, wenn der Diätwillige schon bei der kleinsten Abweichung von der rigiden Vorschrift glaubt, versagt zu haben und sich mit regelrechten »Fressattacken« tröstet. Diäten sind wirkungslos und gefährlich!
Erbrechen: Regelmäßiges, selbst herbeigeführtes Erbre-
chen über längere Zeit bedeutet einen massiven Eingriff in die natürlichen Körperfunktionen, die dadurch oft erheblich gestört werden. Eine über Jahre andauernde Bulimie kann schwere, sogar lebensbedrohliche Gesundheitsschäden zur Folge haben: Sodbrennen und Entzündungen der Speiseröhre und des Rachenraumes sind die Folge von Verätzungen durch Magensäure, die durch das Erbrechen in Speiseröhre, Rachen und Mundraum gelangt, wo sie nicht hingehört. Durch die Magensäureverätzungen können sich die Speicheldrüsen in den Wangen und auf dem Mundboden entzünden und anschwellen. Diese Schwellungen können so stark sein, dass sie nach außen sichtbar sind (als »Hamsterbacken«) und verunstaltend wirken. Typisch für viele Betroffene sind auch schlechte Zähne: Durch die in den Mundraum gelangende Magensäure wird der Zahnschmelz angegriffen und Karies und Verfall der Zähne sind die Folge. Der Säure-Basen-Haushalt des Körpers kann empfindlich gestört werden, da der Körper durch ständiges Erbrechen Säure verliert. In leichter Form führt dies zu Schwäche und Müdigkeit, bei stärkerer Ausprägung können Kopfschmerzen, Temperaturregulationsstörungen, Unruhe und Angstgefühle entstehen. Der Körper verliert beim Erbrechen außerdem lebenswichtige, im Magensaft konzentriert vorhandene Elektrolyte (Blutsalze wie Kalium, Chlorid, Kalzium, Natrium und andere), was zu Müdigkeit, Muskelkrämpfen, Muskelschwächen (z. B. Erschlaffung der Darmmuskulatur), leichten Lähmungserscheinungen, in schweren Fällen auch zu bleibenden Nierenschäden und Störungen der Herztätigkeit führen kann. Im Extremfall kann es zu einem Herzstillstand kommen. Obwohl 30–50% der aufgenommenen Kalorien durch Erbrechen wieder abgeführt werden, führt dies jedoch nie zu einer dauerhaften Gewichtsabnahme. Außerdem bewirkt das häufige Erbrechen, dass die natürliche Sättigungsgrenze nach oben verschoben wird und der Körper deshalb immer mehr Nahrung braucht, um sich überhaupt noch satt fühlen zu können. Das Resultat werden weitere Essanfälle sein, die wiederum zu Erbrechen führen, und in einen Teufelskreis, den zu durchbrechen immer schwieriger wird. Abführmittel (Laxanzien): Abführmittel beschleunigen
Gegenmaßnahmen und deren Auswirkungen auf den Körper
Außer gezügeltem Essverhalten setzen viele Frauen auch andere Methoden ein, um ihr Gewicht zu kontrollieren und schlank zu bleiben. Diese Methoden können den Körper enorm schädigen und führen, wenn überhaupt, nur kurzfristig zum gewünschten Erfolg. Um dauerhaft schlank zu bleiben ist keine dieser Methoden geeignet.
die Darmentleerung, da sie den Stuhl erweichen und die Stuhlmenge vergrößern, was zu einer Dehnung der Darmwand führt, die reflexhaft den Stuhlgang einleitet. Bei chronischem Gebrauch von Abführmitteln verliert die Darmmuskulatur mit der Zeit ihre Fähigkeit, ohne äußere Stimulation reibungslos zu arbeiten. Sie kann sich nicht mehr ausreichend kontrahieren (zusammenziehen). Das nennt man Darmträgheit. Um diese zu bekämpfen, sind immer größere Mengen Abführmittel notwendig, da sich
85 6.8 · Informationen zur Ernährung
das Volumen von Magen und Darm durch die fehlende natürliche Regulation erweitern kann. Als Folge von Abführmittelmissbrauch kann es zu Durchfall, Unterbauchschmerzen, Blutungen im Magen-Darm-Trakt und Nierenschäden kommen. Hautschäden, Haarausfall und Nachtblindheit wurden ebenfalls beobachtet. Chronischer Abführmittelmissbrauch kann die feinen Nerven in der Darmwand zerstören und zu Darmlähmung führen, die sogar operativ behandelt werden muss. Tatsächlich hat ein regelmäßiger Stuhlgang keinerlei Auswirkungen auf das Körpergewicht. Wenn ein kurzfristiger Gewichtsverlust festzustellen ist, liegt das vor allem daran, das der Körper Flüssigkeit verloren hat. Also: Abführmittel sind schädlich und gefährlich und wenn genommen werden, dann nur unter ärtzlicher Aufsicht und Kontrolle. Entwässerungsmittel (Diuretika): Entwässerungsmittel
können – wie ihr Name schon sagt – nur eines: den Körper entwässern, d. h. dem Körper Wasser entziehen, indem sie die Niere veranlassen, vermehrt Wasser über den Urin auszuscheiden. Auch wenn es durch den Wasserverlust zu einer vorübergehenden Gewichtsabnahme kommt, resultiert diese doch nur aus verlorener Flüssigkeit, die der Körper rasch wieder ersetzt. Diuretikamissbrauch wirkt gesundheitsschädigend, weil der Körper mit der Flüssigkeit viel Kalium und Säure verliert und der Stoffwechsel durcheinandergebracht wird. Kaliummangel führt zu Muskelschwäche und kann Herzschwäche verursachen (auch das Herz ist ein Muskel!). Steigende Blutfett- und Harnsäurewerte, hoher Blutzucker, Austrocknung und Nierenschäden sind weitere Folgen des Wasserverlustes. Als Schlankheitsmittel sind Diuretika sinnlos, denn der Körper verliert zwar viel Wasser, dazu wichtige Mineralstoffe und Spurenelemente, aber kein Gramm Fett. Also auch hier: Entwässerungsmittel sind sinnlos und schädigend. Appetitzügler: Appetitzügler enthalten Substanzen, die direkt auf das Appetit- und Sättigungszentrum im Gehirn wirken. Ihre Einnahme allein führt aber zu keiner dauerhaften Gewichtsabnahme. Die alleinige Anwendung reduziert höchstens kurzfristig das Gewicht. Sobald der Appetitzügler abgesetzt wird, nimmt man sofort wieder zu. Das Körpergewicht steigt wieder an, da die Ursachen des Übergewichtes nicht verändert wurden. Zudem haben Appetitzügler z. T. starke Nebenwirkungen: Sie können den Blutdruck allgemein sowie im Lungenkreislauf drastisch steigern und zu Herzrhythmusstörungen führen. Weitere Folgen können Nervosität, Unruhe, Angst, Reizbarkeit und Schlafstörungen sowie Konzentrations- und Bewusstseinsstörungen sein. Durch bestimmte Appetitzügler können auch Depressionen ausgelöst werden. Bei wiederholter und lang anhaltender Einnahme von Appetitzüglern tritt
6
ein Wirkungsverlust ein, d. h. es müssen immer höhere Dosen geschluckt werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Es besteht daher eine hohe Suchtgefahr. Aufgrund der Nebenwirkungen ist es ratsam, die Medikamente zur Gewichtsabnahme – wenn überhaupt – nur kurzfristig und unter ärztlicher Aufsicht zu nehmen. Wer sein Gewicht langfristig reduzieren will, kann dies nur durch eine Veränderung seines Ernährungsverhaltens erreichen. Vorsicht: Alle geschilderten Nachteile können in ähnlicher Weise auf sog. natürliche oder rein pflanzliche Präparate zutreffen. Auswirkungen von Hungern und Mangelernährung
Gezügeltes Essverhalten hat tief greifende Auswirkungen auf Ihre körperliche und seelische Gesundheit. Wenn Sie mehr als vier Stunden nichts gegessen haben, schaltet ihr Körper auf Hungerbetrieb um und stellt alle Stoffwechselvorgänge so ein, dass Energie gespart wird. Diese Umstellung als Anpassung an die verminderte Nahrungsmenge zieht diverse körperliche, aber auch seelische Auswirkungen nach sich, von denen Sie bestimmt schon einige an sich beobachtet haben: Da sich der Stoffwechsel an die eingeschränkte Nahrungszufuhr anpasst, kommt es zu erhöhter Kälteempfindlichkeit und kalten Händen und Füßen. Häufig treten Schlafstörungen, wie z. B. frühes Aufwachen oder mehrfaches Aufwachen während der Nacht auf. Viele Menschen leiden unter Blasenschwäche, die sich in häufigem Wasserlassen, tagsüber und nachts, bemerkbar macht. Durch die Mangelernährung kann es zu vermehrtem Körperhaarwuchs kommen. Häufig berichtet werden Kreislaufprobleme, niedriger Puls und Ohnmachtsanfälle (»schwarz vor Augen werden«). Da der Körper auf seine internen Kalziumspeicher zurückgreifen muss, kommt es häufig zu porösen Knochen (Osteoporose). Die Menstruation bleibt aus oder wird unregelmäßig, denn normalerweise bekommt eine Frau ihre Periode nur, wenn mindestens 15% ihres Körpers aus Fett besteht. Der Magen schrumpft und fühlt sich selbst nach einer kleinen Mahlzeit unangenehm gedehnt an. Die Darmfunktion ist eingeschränkt, wodurch es häufig zu Verstopfung kommt. Das Knochenmark, in dem rote und weiße Blutkörperchen gebildet werden, arbeitet langsamer, was zu Anämie führen kann. Die Leber erhält weniger Nährstoffe und wird dadurch so geschädigt, dass sie nur wenig Körpereiweiß herstellen kann, was zur Folge haben kann, dass Fußgelenke und Beine anschwellen. Durch einen Mangel an Östrogen und aufgrund der anomalen Leberfunktion ist der Cholesterinspiegel im Blut erhöht. Viele Betroffene berichten eine allgemeine Müdigkeit. Bei jungen Mädchen kann es durch permanente Mangelernährung zu einer Hemmung des Wachstums kommen und die Pubertät verzögert werden.
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Kapitel 6 · Motivierung
So sollte ich mich ernähren
6
Nachdem nun dargestellt wurde, wie das Hunger- und Sättigungssystem funktioniert und welche Folgen Diäten und die Einnahme von Medikamenten zur Gewichtsreduktion haben, wollen wir nun vorstellen, was unter einem gesunden Essverhalten verstanden wird. Der Verband für Ernährung und Diätetik (VFED) ordnet Lebensmittel nach Gruppen in ein Ernährungsdreieck ein. Jede Gruppe liefert Nährstoffe in unterschiedlicher Menge, die wiederum wichtige Aufgaben im Körper erfüllen (Abbildung 7 Broschüre auf der CD-ROM). Laut der deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sollten Sie aus allen Lebensmitteln auswählen: Getränke, stärkehaltige Lebensmittel, Gemüse, Obst und Milchprodukte (Gruppen 1–5) täglich und reichlich, von Fleisch, Fisch und Streich- und Kochfetten (Gruppen 6–7) weniger und nicht jeden Tag. Im Folgenden werden zunächst die einzelnen Gruppen im Detail vorgestellt. 4 Gruppe 1 (Getränke): Sie versorgen den Körper mit Wasser, welches er z. B. für den Transport der Nährstoffe und zum Quellen der verdauungsfördernden Ballaststoffe im Darm braucht. Wer gut aussehen und eine schöne Haut haben will, sollte auch täglich viel trinken, mindestens 1,5 Liter – am besten Mineralwasser, Obstsäfte mit Wasser gemischt, Kräuter- und Früchtetees. 4 Gruppe 2 (Lebensmittel, die viel Stärke enthalten, wie Getreideprodukte z. B. Brot, Nudeln und Müsli, Kartoffeln, Speisestärke): Diese Lebensmittel enthalten viel Eisen, Magnesium, B-Vitamine und Ballaststoffe. Kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Kartoffeln, Nudeln, Reis und Vollkornprodukte sättigen durch den hohen Stärkeanteil gut. 4 Gruppe 3 (Gemüse und Hülsenfrüchte): Sie liefern die Vitamine A, B und C, sowie Magnesium, Kalium, Eisen, Kalzium und Ballaststoffe. Empfehlenswert ist generell frisches Gemüse, roh, gegart oder als Saft. Gute Eiweißlieferanten sind Hülsenfrüchte, wie z. B. Erbsen oder Bohnen. 4 Gruppe 4 (Obst): Obst ist der beste Vitamin-C-Spender und enthält jede Menge verdauungsfördernde Ballaststoffe. Am besten ist frisches Obst als Snack zwischendurch, Nachtisch oder in Saftform. 4 Gruppe 5 (Milch und Milchprodukte): Sie sind verhältnismäßig reich an Kalzium, Vitamin A und Vitamin B12. Dazu zählen Milch, Joghurt und Käse. 4 Gruppe 6 (Fleisch, Wurst und Fisch): Fleisch und Fisch liefern Eisen, Jod, Vitamin A und D sowie BVitamine. Unsere Lebensmittel sind von Natur aus jodarm. Der Körper braucht aber Jod für die Schilddrüse, den »Motor« unseres Körpers. Deshalb ist es wichtig, 1- bis 2-mal pro Woche Fisch, zum Beispiel
Seelachs, Zander oder Ähnliches zu essen und jodiertes Speisesalz zu verwenden bzw. Brot und Wurst zu essen, die mit jodiertem Speisesalz hergestellt sind. 4 Gruppe 7 (Streich- und Kochfette): Sie enthalten die Vitamine A und E und wichtige Fettsäuren. Streichund Kochfette sind Butter, Öl sowie in anderen Nahrungsmitteln enthaltenes Fett. In den Tabellen 1 und 2 (7 CD-ROM) finden Sie alle genannten Vitamine und Mineralstoffe und deren Funktion im Körper. Was bedeutet »normales« Essen?
Nachdem nun dargestellt wurde, was auf Dauer schädlich und schlecht ist, möchten wir nun einige Regeln zur Etablierung eines geregelten und gesunden Essverhaltens aufzeigen. Die Devise lautet »Genießen Sie Lebensmittelvielfalt«, denn es gibt keine »gesunden«, »ungesunden« oder gar »verbotenen« Lebensmittel. Es kommt auf die Menge, Auswahl und Kombination an. Beispielsweise wird bis zu 3-mal Fleisch in der Woche empfohlen. Süßigkeiten sollten auch kein Tabu sein. Besser ist es, sich lieber regelmäßig etwas zu gönnen, das man mag, um Heißhunger vorzubeugen. »Alles-oder-nichts-Vorsätze« sind nicht sinnvoll. Der Vorsatz »nie wieder Süßes« fördert nur Gedanken an das »Verbotene« (Pralinen, Sahnetorte usw.). Es sollten daher ruhig etwas Schokolade oder ein paar Kekse in den Tagesablauf eingeplant werden. Totaler Verzicht führt nur zum Misserfolg. Zählen Sie keine Kalorien, sondern orientieren Sie sich an Portionen, die andere zu sich nehmen oder an den im Handel erhältlichen, wenn Sie unsicher sind bezüglich der Mengen. Lernen Sie wieder, auf sich hören, ob Sie Hunger haben oder nicht. Versuchen Sie tagsüber in regelmäßigen Abständen zu essen. Nehmen Sie drei vom Umfang ungefähr gleich große Hauptmahlzeiten und zwei Snacks täglich zu sich. Erst regelmäßiges Essen kann Ihnen dabei helfen, Ihr Gewicht zu halten oder – wenn medizinisch notwendig – zu verringern. Lange Abstände zwischen den Mahlzeiten veranlassen den Körper, wie bereits beschrieben, auf Speichern umzuschalten. Planen Sie vor dem Essen, was Sie essen möchten, und bereiten Sie die entsprechende Menge zu. Tun Sie dies so appetitlich und attraktiv wie möglich. Versuchen Sie nach Möglichkeit in einem anderen Raum zu essen als in dem, wo Sie Ihre Nahrungsmittel aufbewahren und zubereiten. Decken Sie für sich den Tisch ansprechend. Versuchen Sie, alle Verpackungen, Frischhalteboxen u. Ä. in einem anderen Zimmer zu lassen und bringen Sie nur Ihren Teller herein. Nehmen Sie sich Zeit und genießen Sie ihr Essen. Lenken Sie sich nicht durch Fernsehen, Lesen usw. ab. Bewusstes Genießen hilft, richtig zu essen und fördert das Sättigungsempfinden.
7 7 Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele 7.1
Einleitung
– 88
7.2
Erarbeiten des individuellen Störungsmodells – 88
7.2.1 Prädisponierende Faktoren – 89 7.2.2 Makroanalyse der auslösenden Bedingungen 7.2.3 Aufrechterhaltende Bedingungen – 99
– 99
7.3
Ableitung der Therapieziele und therapeutischen Interventionen – 101
7.4
Zusammenfassung
7.5
Arbeitsblätter
– 104
– 104
88
Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
> Ziel
7
4 Aufbau von Verständnis der individuellen prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen der Essstörung : Vorgehen 4 Erarbeiten eines Genogramms für die einzelnen Teilnehmer, Besprechen des Genogramms durch Sammeln allgemeiner impliziter Regeln und Ableiten des Zusammenhangs zu heutigen Einstellungen und Verhaltensweisen 4 Besprechen der soziokulturellen Einflüsse auf die Entstehung der Essstörung ableitend aus den Lernerfahrungen durch geleitetes Entdecken 4 Erläutern möglicher individueller und biologischer Einflüsse anhand des Störungsmodells 4 Herausarbeiten der Auslösefaktoren für Essanfälle 4 Identifikation der die Essstörung aufrechterhaltenden Bedingungen
7.1
rungsmodell basiert auf dem bereits in 7 Kap. 2 vorgestellten integrativen Modell und beinhaltet prädisponierende Faktoren sowie auslösende und aufrechterhaltende Faktoren. Wir schlagen vor, in der Vermittlung des Störungsmodells zunächst auf die Identifikation der Entstehungsbedingungen einzugehen. Als eine mögliche Technik eignet sich dazu der Einsatz eines Genogramms, um die in der Familie gemachten Lernerfahrungen zu erfassen und implizite Regeln und Einstellungen transparent zu machen. Dieses Vorgehen bietet eine gute Basis, um weitere relevante Faktoren in der Entstehung der Essstörung wie den Einfluss von Peers sowie biologische und individuelle Faktoren zu identifizieren. Sind die Ursachen der Essstörung transparent und für den Patienten verständlich, werden die auslösenden Bedingungen fokussiert. Abschließend werden anhand des Arbeitsblattes zum integrativen Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung die aufrechterhaltenden Aspekte besprochen. Hier ist es wichtig, dass der Therapeut Hypothesen über die möglichen funktionellen Aspekte der Essstörung bildet und diese mit dem Patienten bespricht.
Einleitung 7.2
Ein zentraler Baustein einer jeden kognitiv-behavioralen Therapie ist die Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells (vgl. auch Waller u. Kennerley 2003), aus welchem das Behandlungsrational abgeleitet wird. Dazu sind zwei Dinge notwendig: Zum einen sollte eine breit angelegte Informationssammlung erfolgen, um die individuellen prädisponierenden Faktoren heraus zuarbeiten. Zum anderen sollte eine Makroanalyse hinsichtlich der zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung beitragenden kognitiven, emotionalen und behavioralen Aspekte durchgeführt werden. Die Entwicklung des individuellen Störungsmodells muss daher sowohl allgemeine essstörungspezifische Aspekte als auch die individuellen Lebensumstände des Patienten berücksichtigen. In diesem Kapitel wird nun dargestellt, wie gemeinsam mit dem Patienten das individuelle Muster der verschiedenen prädisponierenden Faktoren identifiziert und daraus ableitend das individuelle Störungsmodell vermittelt werden kann. Das Stö-
Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
Die meisten Patienten haben nur wenig konkrete Vorstellungen darüber, warum sie eine Essstörung entwickelt haben. Dies ist ein wichtiger Ansatzpunkt in der Therapie, da erst durch das Verstehen der verschiedenen Faktoren, die zur Entwicklung der Essstörung beigetragen haben, auch Bewältigungsmöglichkeiten leichter eruierbar sind. Daher ist die Vermittlung eines schlüssigen Störungsmodells maßgeblich, um Patienten zu motivieren, Veränderungen herbeizuführen (7 Kap. 6). Um die Erkenntnisentwicklung zu initialisieren, werden Informationen über mögliche Faktoren, die bei der Entstehung der Essstörung von Bedeutung sein könnten, vermittelt und hinsichtlich der individuellen Relevanz überprüft. Dazu werden zunächst familiäre Einflüsse identifiziert, indem die individuellen Lernerfahrungen anhand eines Genogramms analysiert und im nächsten Schritt weitere soziokulturelle Einflüsse identifiziert werden. Im Anschluss
89 7.2 · Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
stellt der Therapeut das integrative Modell hinsichtlich der weiteren prädisponierenden Faktoren vor. Aus diesen Informationen werden abschließend mit den Patienten gemeinsam ergänzende Aspekte zur Auslösung und Aufrechterhaltung der Störung abgeleitet. Dieser Schritt ist neben der Verdeutlichung von Entstehung und Aufrechterhaltung für die Patienten wichtig, um die Ableitung der verschiedenen therapeutischen Interventionen zu verstehen.
Übung: 4 Genogramm
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Familiäre Beziehungen (. Arbeitsblatt 7.1/7.1B) 4 Familienregeln und ihre Konsequenzen (. Arbeitsblatt 7.2) 4 Was habe ich gelernt? (. Arbeitsblatt 7.3/7.3B) 4 Erfahrungen mit dem Körper (. Arbeitsblatt 7.4/7.4B) 4 Entstehungsbedingungen (. Arbeitsblatt 7.5)
7.2.1
Prädisponierende Faktoren
Nachdem zur Motivierung bereits die Collagenübung zu körperlichen Folgeerscheinungen (7 Kap. 6) durchgeführt wurde, kann zur Erweiterung des Erkenntnishorizonts nun mit der Bearbeitung familiärer Faktoren fortgefahren werden. Dies ist oft im Interesse der Patienten, da der Einfluss soziokultureller Aspekte aus der Sicht der Patienten meist nicht ausreichend erscheint, um die Ausbildung einer Essstörung zu erklären. Oft messen Patienten subjektiv familiären Bedingungen mehr Bedeutung bei als beispielsweise dem Einfluss von Medien oder Peers (7 Kap. 2). Ein möglicher Beginn der expliziten Arbeit an der Identifikation prädisponierenden Faktoren ist daher die Betrachtung möglicher familiärer Einflüsse. Um dies zu erreichen, können über die Identifikation von Lernerfahrungen beispielsweise in der Familie liegende dysfunktionale Modelle, sowie ungünstige Einflüsse auf die Entwicklung aufgedeckt
7
und daraus entwickelte dysfunktionale Strategien erklärt werden. Die Identifikation der Familienregeln ist im Weiteren Basis für die Ableitung der impliziten Grundannahmen, welche mit der Essstörung assoziiert sind (7 Kap. 9). Im Anschluss daran sollten weitere soziokulturelle Aspekte sowie individuelle und biologische Faktoren ermittelt werden.
Familiäre Faktoren Verschiedene Autoren haben im Laufe der Jahre unterschiedliche dysfunktionale Familienmuster bei anorektischen und bulimischen Familien beschrieben (7 Kap. 2), wobei die Befundlage insgesamt inkonistent ist. Zusammenfassend kann jedoch angenommen werden, dass das familiäre Beziehungsfeld, in dem anorektische und bulimische Patienten aufwachsen, die Entwicklung einer stabilen Identität, einer autonomen Persönlichkeit und die Ausbildung eines positiven Selbstwertgefühls durch eine Reihe dysfunktionaler Beziehungsmuster ungünstig beeinflussen kann. Die störungsrelevanten Rahmenbedingungen für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörungen scheinen unter anderem eine ausgeprägte Konfliktvermeidung sowie deutliches Abhängigkeitsverhalten zu sein. Die in 7 Kap. 2 aufgeführten Muster sind daher vor allem als Möglichkeit zur Hypothesengenerierung zu verstehen, die Aufschluss darüber geben können, inwiefern sich familiäre Interaktionsstile und Gepflogenheiten auf die individuelle Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder, das Selbstbild des Patienten und seine Einstellung zu den Ansprüchen der Umwelt und wie er diese bewältigt, auswirken können. Die beschriebenen möglichen familiären Strukturen können nicht nur direkt beeinflussend, sondern auch indirekt durch Modelllernen Bedeutung erlangen. So weisen etwa Kinder von Müttern mit auffälligem Essverhalten meist auch ein stärkeres restriktives Essverhalten auf, welches durch das Modell der Mutter vermittelt zu werden scheint (vgl. Franzen u. Florin 1995). Auch auf diese Aspekte ist bei der Besprechung des Genogramms zu achten. Sie sollten im Einzelnen erfragt und vertiefend beschrieben werden, um ein genaues Bild über möglicherweise vorhandene dysfunktionale Einstellungen zu erlangen. Ziel dieser Intervention ist es, Verständnis für die Zusammenhänge zwischen den elterlichen
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Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
7
. Arbeitsblatt 7.1B. Familiäre Beziehungen
91 7.2 · Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
oder geschwisterlichen Verhaltensweisen und den eigenen Einstellungen herauszuarbeiten, welche beispielsweise in Form von Modelllernen übernommen wurden. Dabei sollte betont werden, dass es nicht um die Suche nach Schuldigen oder Schuldzuweisungen an die Eltern geht, sondern um das Hinterfragen festgefahrener und unreflektierter Muster. So kann auch darauf hingewiesen werden, dass die meisten Erlebnisse oder Eigenschaften oft positive und negative Aspekte vereinen. Eine hohe Selbstdisziplin kann etwa dazu führen, dass man trotz Schwierigkeiten das Gymnasium schafft, aber gleichzeitig auch bedeuten, dass man eigene Grenzen übersieht und sich häufig überfordert. Bei der Besprechung des Genogramms sollten diese positiven Gesichtspunkte mit aufgegriffen werden, damit Patienten nicht in eine Verteidigungsrolle gegenüber engen Bezugspersonen kommen.
Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.:
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In der Behandlung werden die Patienten nun gebeten, auf das . Arbeitsblatt 7.1 »Familiäre Beziehungen« zunächst alle Familienmitglieder in das auf der rechten Seite abgebildete große Kästchen zu zeichnen. Zusätzlich sollten sie anhand von Pfeilen vermerken, wie sie die Beziehungen innerhalb ihrer Familie in der Pubertät (12.–15. Lebensjahr bzw. in dem Zeitraum, den sie als relevant für die Entwicklung der Essstörung halten), erlebt haben. Darüber hinaus ist in die Kästen links des Genogramms einzutragen, welche prägnanten Eigenschaften die einzelnen Familienmitglieder haben. In . Arbeitsblatt 7.1B ist exemplarisch ein Genogramm dargestellt. Im Folgenden ist beschrieben, wie der Therapeut anhand des Genogramms die Erfahrungen des Patienten in seiner Familie identifiziert.
Was fällt Ihnen auf, wenn Sie Ihre Zeichnung betrachten? Eigentlich nichts besonderes, außer vielleicht, dass eigentlich zwischen allen eine Beziehung bestand, außer zwischen meinem Bruder und meinem Vater, die habe ich irgendwie vergessen. Aber na ja, ich hatte immer das Gefühl, dass die sich näher standen, weil mein Bruder und mein Vater beide Basketball spielen und so eine Gemeinsamkeit haben. Aber eigentlich haben sie nicht wirklich eine enge Beziehung zueinander gehabt. Und Ihr Bruder und Sie, wie war Ihre Beziehung? Ja, die habe ich auch vergessen, einzutragen. Wenn ich das jetzt so anschaue, dann sieht das so aus, als ob mein Bruder gar nicht zur Familie gehört hat und irgendwie außen vor war und dass ich genau zwischen meinen Eltern bin. Ich hatte auch damals das Gefühl, dass mein Vater nie da ist und meine Mutter mich sehr eng an sich gebunden hat. Deshalb habe ich von ihr aus auch so viele positive Linien gezeichnet. Sie hat mit mir alles Mögliche unternommen und ich fand das eine Zeit lang ganz toll, aber so mit der Pubertät wollte ich mich etwas abnabeln, und da kam es dann auch zu Schwierigkeiten, das war ungefähr da, als ich die Essstörung entwickelt habe. Okay, das heißt, Sie hatten damals das Gefühl, dass Ihre Mutter Sie als Verbündete in Ihrer Familie ansah, habe ich das richtig verstanden? Ja, genau, das trifft es gut. Sie war wie eine Freundin und hat mir auch von den Problemen erzählt, dass mein Vater nie da ist und Zeit hat, aber dass ich dafür auch Verständnis haben müsste. Mein Vater hat mich immer aufgezogen, und eigentlich hat er nur mit mir über die Schule geredet, über meine Noten und so. Das heißt, es gab keine enge Beziehung zu ihm? Nein, nicht wirklich. Ich wollte immer Aufmerksamkeit von ihm und Anerkennung und habe mich deshalb sehr in der Schule bemüht, um ihm zu gefallen, aber ich hatte nie das Gefühl, wirklich an ihn ran zu kommen.
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Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
7
Sie haben zu allen Personen verschiedene Eigenschaften geschrieben. Inwiefern haben denn diese Eigenschaften Sie beeinflusst? Na ja, von meiner Mutter habe ich ganz bestimmt übernommen, dass es wichtig ist, was andere Leute denken. Ich habe es ganz oft erlebt, dass sie wirklich gesagt hat: »So kannst du nicht rumlaufen, was sollen denn die Leute denken.« Das fand ich ganz furchtbar, aber irgendwie habe ich das schon verinnerlicht. Ja, und dann der Leistungsanspruch, dass ich mich immer um alles bemühen muss. Irgendwie lief die ganze Kommunikation immer darüber, wer wie viel geleistet hat. Ich hatte immer das Gefühl, dass meine Mutter nicht wirklich an meine Fähigkeiten glaubt. Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, dann beschreiben Sie die Atmosphäre zum Zeitpunkt des Beginns der Essstörung als geprägt von unausgesprochenen Vorwürfen, verdeckten Konflikten und wenig Zuwendung und Nähe. Das klingt erstmal sehr negativ, auch wenn es sicherlich noch andere, positive Aspekte gegeben hat. So beschreiben Sie ja auch, dass Sie Ihrer Mutter sehr nahe gestanden hätten, was Sie als sehr positiv erlebt haben. Sie sehen aber auch die Schwierigkeit, sich selbst zu entfalten in diesem Zusammenhang und berichten, dass sie häufig erlebt haben, dass Ihre Mutter Ihnen Dinge nicht zutraut. Zudem beschreiben sie, dass Ihr Bruder sich aus der Familie größtenteils rausgezogen hat und Sie deshalb das Gefühl hatten, eine Art Stabilisator in der Familie oder auch Puffer zwischen ihren Eltern sein zu müssen.
Wie aus dem Fallbeispiel ersichtlich, können anhand des Genogramms sowohl die Beziehungsmuster und Verhaltensweisen im familiären Kontext als auch die Einstellungen und impliziten Verhaltensregeln, die aus den Beziehungserfahrungen erwachsen sind, abgeleitet werden. Das Genogramm kann je nach Zeitkontingent sowohl in Kleingruppen als auch in der gesamten Gruppe besprochen werden. Die Kleingruppenübung sollte von einem Therapeuten moderiert werden, um die Patienten darin zu unterstützen, Hypothesen über verdeckte und implizite Lernerfahrungen zu bilden. Dies soll helfen, die individuelle Lerngeschichte aufzudecken und anhand familiärer Einflüsse zu verstehen. Der Einsatz dieser Technik ist ohne größere Modifikationen auf die Einzeltherapie zu übertragen.
Im Anschluss an die Besprechung der familiären Beziehungsmuster in der Kleingruppe sollen die in der Familie gemachten Erfahrungen, die im Zusammenhang mit der Essstörung gesehen werden, am Flipchart in der Gruppe gesammelt werden. Es soll gemeinsam herausgearbeitet werden, welche Einstellungen aus den verschiedenen Lernerfahrungen erfolgt sind. Ein exemplarischer Überblick über mögliche familiäre Regeln oder Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit der Essstörung zu stehen scheinen, zeigt . Arbeitsblatt 7.2 »Familienregeln und ihre Konsequenzen«. Zur Herausarbeitung der Konsequenzen der früheren Lernerfahrungen können folgende Fragen gestellt werden, die sich auf Beispiele von Patienten beziehen und ggf. an die jeweiligen Themen und Bedürfnisse in der Gruppe angepasst werden müssen:
4 Was glauben Sie, welche Folgen es möglicherweise für Sie gehabt hat, dass Ihr Vater sich vorrangig mit Ihnen über Schule und Noten unterhalten hat? 4 Wie könnte es sich ausgewirkt haben, wenn in der Familie selten offen über Konflikte gesprochen wurde? 6
93 7.2 · Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
. Arbeitsblatt 7.2. Familienregeln und ihre Konsequenzen. (Mod. nach Wardetzki 2003)
7
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Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
4 Welche Bedeutung hat es heute für Sie, dass Ihre Mutter Ihnen sehr viel abgenommen hat mit den Worten »Komm, das mach ich, das geht schneller«? 4 Welches Gefühl löst es aus, wenn Sie an den Satz denken »Sei ein braves Mädchen«? 4 Was hat es für Sie bedeutet, wenn Ihre Grenzen nicht geachtet wurden – z. B. die Erfahrung, dass Sie das Badezimmer nicht abschließen durften? 4 Wie ist das zu verstehen, dass ihre Mutter Ihnen gesagt hat, »Ich opfere mich für dich auf«? 4 Ist es immer noch so, dass Sie zwischen Ihren Eltern stehen? Belastet Sie diese Moderatorfunktion? Inwiefern? 4 Wie sehen Sie die Ehe ihrer Eltern? 4 Welche Rolle spielten Ernährung und gemeinsame Mahlzeiten in Ihrer Familie?
7
Anhand der Fragen sollen die Patienten angeleitet werden, implizite Regeln explizit zu machen und die eigenen Grundprinzipien daraus abzuleiten. Abschließend können die Patienten als Resümee das Arbeitsblatt 7.3 »Was habe ich gelernt« für sich ausfüllen. Dieses wird im Weiteren zur Ableitung der Grundannahmen genutzt und daher als Eingangsübung im Rahmen der kognitiven Umstrukturierung besprochen (zu einem Beispiel 7 CD-ROM). Daher kann das Arbeitsblatt auch erst dann gemeinsam mit den Patienten bearbeitet werden. Die Besprechung des Arbeitsblattes wird aus diesem Grunde in 7 Kap. 9 dargestellt. Im Einzelsetting können alle Übungen analog der dargestellten Vorgehensweise übernommen werden.
Soziokulturelle Faktoren Im Weiteren sollen nun soziokulturelle Faktoren herausgearbeitet werden. Hierunter fallen Aspekte wie die Rolle von Schlankheit und Attraktivität in der Familie (z. B. Einstellungen zu Figur, Gewicht und Diäten der Mutter), mögliche kritische Bemerkungen über Figur und Gewicht in der Jugendzeit, aber
auch Medienkonsum, mögliche Idole aus Film und Fernsehen und Ähnliches. In diesem Teil kann auf bereits erarbeitete Ansichten bezüglich Schlankheit und Attraktivität im Rahmen der Funktion der Essstörung (7 Kap. 6) verwiesen bzw. können diese wieder aufgegriffen werden. Zudem sollte der Einfluss von Peers nicht unterschätzt werden. Deshalb sollten Fragen zum Verhalten von Freunden, deren Gewicht und Ernährungsverhalten gestellt werden. Auch die Rolle von Sport bedarf der Beachtung. Daher sollte überprüft werden, ob der Patient eine Sportart ausgeübt hat, in der das Aussehen bzw. das Gewicht von Bedeutung ist wie das bei Ballett, Kunstturnen, Ringen und Ähnlichem der Fall ist (7 Kap. 2). Falls genug Zeit ist, kann mit den Patienten eine Übung durchgeführt werden, in der sie über die Erfahrungen mit ihrem Körper in der Kindheit und Jugend berichten (für eine ausführliche Darstellung der Übung vgl. Körperbildgeschichte in Vocks u. Legenbauer 2005). Diese hier dargestellte modifizierte Form der Übung hat den Sinn, mögliche Faktoren wie Hänseleien, kritische Bemerkungen und Ähnliches aufzudecken. Zur Erläuterung der Übung kann folgender Text verwendet werden:
Ich möchte Sie nun bitten, sich zu überlegen, welche Erfahrungen Sie mit Ihrem Körper im bisherigen Lebensverlauf gemacht haben. Dazu gehören Erfahrungen in der Kindheit – waren Sie gelenkig, sportlich, haben sich viel bewegt? Sind Sie eher dünner oder kräftiger als andere Kinder gewesen? Sind Sie wegen Ihres Körpers oder Ihres Aussehens wegen von anderen Kindern gehänselt worden? Haben Ihre Eltern manchmal kritische Bemerkungen über Ihr Essverhalten oder Ihre Figur, Ihr Gewicht gemacht? Wann haben Sie sich nicht mehr wohl in Ihrem Körper gefühlt? Wie hat sich Ihr Gewicht verändert? Bitte lassen Sie sich Zeit beim Nachdenken und notieren Sie die Dinge, die Ihnen einfallen, in das Arbeitsblatt »Umgang mit meinem Körper« (. Arbeitsblatt 7.4) in die jeweiligen Bereiche.
95 7.2 · Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
. Arbeitsblatt 7.4B. Erfahrungen mit dem Körper
7
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Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
Ein Beispiel für die Ergebnisse dieser Übung zeigt . Arbeitsblatt 7.4B. Im Anschluss daran sollten die verschiedenen Erlebnisse auf der Metaebene durch den Therapeuten zusammengefasst werden, Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und ein Hinweis auf die Einord-
nung in das Störungsmodell gegeben werden. In der folgenden Übersicht sind zusätzlich noch einige Beispiele für Fragen zu ergänzenden Gesichtspunkten notiert. Diese können auch ohne die oben beschriebene Übung eingesetzt werden, falls sie aus zeitlichen Gründen nicht durchgeführt werden kann.
Schlankheitsideal:
7
4 4 4 4 4 4
Was bedeutet für Sie Attraktivität? Wie sieht Ihr Schlankheitsideal aus? Welche Ansichten wurden in Ihrer Familie über Schlankheit und Attraktivität vermittelt? Wie sind Ihre Freunde mit dem Thema Schlankheit und Attraktivität umgegangen? Welchen Stellenwert hat Ihre Figur bzw. Ihr Gewicht für Ihr Selbstwertgefühl? Seit wann ist das so? Wie hängt das Schlankheitsideal mit Ihrer Essstörung zusammen?
Diätverhalten: 4 4 4 4
Wann haben Sie begonnen, Diäten zu machen? Wie sind Sie darauf gekommen, Diäten durchzuführen bzw. an Gewicht abnehmen zu wollen? Wie ist in Ihrer Familie mit Essen umgegangen worden? Hat eine für Sie wichtige Bezugspersonen Diäten gemacht und Sie dazu animiert?
Zusätzliche Bereiche: 4 Welche Sportarten haben Sie als Kind und in Ihrer Jugendzeit ausgeübt? 4 Welches Körperideal wurde bei diesen Sportarten vermittelt?
Im Anschluss an die Besprechung der soziokulturellen Bedingungen sollte das Arbeitsblatt zum individuellen Störungsmodell (. Arbeitsblatt 7.5) ausgeteilt und die noch nicht besprochenen Punkte wie biologische und individuelle Faktoren erläutert werden. Detaillierte Informationen und empirische Befunde zu den einzelnen Punkten finden sich in
7 Kap. 2. Die Erläuterung der noch nicht erarbeite-
ten individuellen Bedingungen sollte sich zunächst auf eine Zusammenfassung der bisher identifizierten Einflüsse beziehen und im Weiteren individuelle und biologische Bedingungen beinhalten. Mit dem folgenden Text können die prädisponierenden Faktoren erläutert werden:
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle gerne ein Modell vorstellen, welches verschiedene Faktoren beinhaltet, die das Risiko für die Entstehung einer Essstörung erhöhen können. Unterschieden werden hierbei zunächst Faktoren, die einen Menschen anfällig dafür machen, eine Essstörung zu entwickeln. Das sind die sog. prädisponierenden Faktoren. Dazu gehören Lernerfahrungen, wie wir sie in unserer Kindheit und Jugend vor allem in der Familie, aber auch in der Schule, mit Freunden machen. Auch haben die Medien einen Einfluss darauf, welche Einstellungen wir entwickeln, z. B. welche Figur wir schön finden, welche Kleidung wir tragen etc. Daraus, wie andere Menschen, etwa Eltern und Freunde, mit uns umgehen, bilden sich Annahmen darüber, wer wir sind, was uns ausmacht und wofür wir gemocht werden. Sind Schlankheit, Attraktivität und Leistung in der Familie von hoher Bedeutung, kann es sein, dass ein Mensch lernt, sich vor allem über diese Bereiche zu definieren. Wir haben im Rahmen der Analysen der Genogramme erarbeitet, welchen Einfluss die Einstellungen der Eltern und anderer wichtiger Bezugspersonen für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit möglicherweise haben und welche Folgen für die Einstellung zu sich 6
97 7.2 · Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
7
selbst daraus entstehen. Wir haben außerdem darüber gesprochen, welche Erfahrungen Sie mit Ihrem Körper bisher gemacht haben und wie Sie diese Dinge verarbeitet haben. Damit haben wir bereits einen Großteil der prädisponierenden Faktoren erarbeitet. Weitere Faktoren, die zu diesem Bereich gehören, sind individuelle Faktoren wie ein niedriges Selbstwertgefühl, hohe und perfektionistische Leistungsansprüche, eine negative Sicht der Umwelt und vor allem bei Patienten mit einer Bulimia nervosa Schwierigkeiten, starke negative Gefühle zu kontrollieren, und eine geringe Frustrationstoleranz. Diese prädisponierenden Faktoren sind nicht bei allen Menschen gleich stark vorhanden, sondern bilden ein individuelles Muster. Daher geben wir Ihnen jetzt das Arbeitsblatt »Entstehungsbedingungen« (. Arbeitsblatt 7.5), in das Sie bitte jeder für sich eintragen, welcher der besprochenen Faktoren vielleicht bei Ihnen zutreffen könnte. Dazu können Sie die Vermutungen, die wir hinsichtlich des Genogramms geäußert haben, nutzen. Jeder hat nun Zeit, diese Arbeit für sich zu beginnen, danach möchte ich gerne mit Ihnen noch einmal die einzelnen Punkte durchgehen.
Individuelle Faktoren Individuelle Faktoren beinhalten die bereits beschriebenen Faktoren wie ein niedriges Selbstwertgefühl, überhöhte Leistungsansprüche, kognitive Verzerrungen (7 Kap. 2). Hinzukommen können bei Patienten mit Bulimia nervosa eine erhöhte Impulsivität sowie bei Patienten mit Anorexia nervosa ein gesteigertes Kontrollbedürfnis. Daneben können verschiedene weitere individuelle Faktoren vorhanden sein. Diese Faktoren sind nur schwer für die Patienten selbst zu identifizieren. Aufgrund der empirischen Untersuchungen zu Risikofaktoren und individuellen Faktoren (7 Kap. 2) kann der Therapeut Beispiele geben
4 4 4 4 4
oder gezielt Fragen im Sinne des geleiteten Entdeckens stellen, um weitere relevante Aspekte zu identifizieren und den Patienten bei der Hypothesenbildung zu helfen. Hierbei kann auf aus den Genogrammen gewonnene Kenntnisse verwiesen werden. So kann sich beispielsweise die Entwicklung eines geringen Selbstwertgefühls darin begründen, dass ein Patient wenig Verantwortung für sein Handeln übernommen hat, da ihm häufig Dinge abgenommen wurden oder er für sein Tun oft negative Rückmeldungen bekam. Die Patienten können auch nach Ihrer eigenen Einschätzung des Selbstwertgefühls gefragt werden, beispielsweise mit den Fragen:
Würden Sie sich als selbstbewusst einschätzen? Worauf basiert Ihr Selbstbewusstsein? Glauben Sie, dass Sie ein liebenswerter Mensch sind? Wovon hängt es ab, dass andere Sie mögen? Mögen Sie sich selbst?
Perfektionistische Einstellungen werden möglicherweise ebenfalls während der Besprechung der Genogramme sichtbar. Sie können aber auch recht einfach
erfragt werden, da die meisten Patienten sich ihrer perfektionistischen Tendenzen oft bewusst sind:
4 Sind Sie ein Mensch, der die Dinge, die er tut, meistens möglichst gut machen möchte? 4 Kennen Sie von sich, dass Sie nur zufrieden sind, wenn eine Arbeit 100%ig gelungen ist?
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Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
Ähnlich kann man bei der Erfragung von Impulsivität und einem möglichen Kontrollbedürfnis vorgehen. Zudem sollte man die Patienten über ihre Hypothesen befragen, die sie möglicherweise zu einem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Essstörung und individuellen Faktoren haben. In die-
Therapeut:
7
Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
sem Bereich können zudem Befunde aus den eingesetzten Fragebögen (7 Kap. 4) genutzt und mit den Patienten besprochen werden. Der folgende Dialog zeigt die Erarbeitung des individuellen Faktors »Perfektionismus«:
Wir kommen nun zum Bereich der sog. individuellen Faktoren. In der Erforschung der Essstörungen hat sich herausgestellt, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften dazu beitragen können, dass man anfällig für die Entwicklung einer Essstörung wird. Gute Belege gibt es beispielsweise dafür, dass ein niedriges Selbstwertgefühl meistens eng mit einer körperlichen Unzufriedenheit zusammenhängt und damit das Risiko für eine Essstörung steigt. Die Person, die unzufrieden mit ihrem Körper ist, neigt viel mehr dazu, über Diäten nachzudenken und diese auch durchzuführen, als andere Personen, die mit Ihrem Körper und Ihrer Person an sich zufriedener sind. Auch sehr hohe Ansprüche an sich selbst, perfektionistisches Arbeiten, aber auch Schwierigkeiten, negative Gefühle auszuhalten und die Neigung, impulsiv zu reagieren, können mit der Entstehung von Essstörungen zusammenhängen. Ich möchte Sie nun einmal fragen, ob Sie eines dieser Beispiele auch von sich kennen. Also perfektionistisch bin ich bestimmt. Hm, worin äußert sich denn dieser Perfektionismus? Zum Beispiel darin, dass ich meine, immer mein Bestes geben zu müssen, dass eine Zwei in der Klausur der Weltuntergang ist, dass ich, wenn ich jogge, immer mindestens eine ganze Stunde durchhalten muss, weil sonst alles umsonst gewesen ist. Das sind gute Beispiele. Jetzt haben wir ja gehört, dass Perfektionismus mit einem erhöhten Risiko für eine Essstörung in Kombination mit anderen Faktoren einhergeht. Was glauben Sie, ist bei Ihnen die Verbindung zwischen Perfektionismus und Essstörung? Vielleicht, dass ich auch einen perfekten Körper haben will? Ja, das ist jetzt so, aber wenn Sie überlegen, wie das damals war, bevor die Essstörung entstanden ist? Das ist schwer. Ich hatte einfach immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein, wenn ich es nicht perfekt mache. Das hatten wir ja auch in der Analyse des Genogramms – mein Vater ist ja so erfolgreich gewesen und hat eigentlich immer nur gearbeitet und meine Mutter war ja auch perfektionistisch und hat hohe Anforderungen an mich vor allem hinsichtlich der Schule gestellt. Ich habe das also verinnerlicht und gelernt, mein Selbstbewusstsein von Leistung abhängig zu machen. Ja, das ist genau der Punkt. Perfektionismus kann dazu führen, dass Sie hohe Leistungen bringen, aber er kann sich auch negativ auswirken, wenn das Selbstwertgefühl sehr stark davon abhängt, keine Fehler zu machen und keine Schwächen zu zeigen. Das ist sehr anstrengend und kann im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie beispielsweise einem etwas höheren Körpergewicht oder Hänseleien dazu führen, dass Figur und Gewicht in den Fokus rücken und zu einem weiteren Leistungsbereich werden, in dem Perfektion wichtig ist.
Biologische Faktoren Wie bereits in 7 Kap. 2 beschrieben, gehören zu den biologischen Faktoren bei der Entstehung und Auf-
rechterhaltung einer Essstörung neben den genetischen Aspekten auch körperliche Eigenschaften und eine Störung des Hunger- und Sattheitsgefühls. Da
99 7.2 · Erarbeiten des individuellen Störungsmodells
die übrigen biologischen Faktoren wie neurobiologische Veränderungen nicht von den Patienten selbst erschlossen werden können, sondern nur über eine medizinische Diagnostik festgestellt werden, sind diese in der Therapiesitzung vom Therapeuten zu erläutern. Die ergänzenden patientenspezifischen Informationen wie Hormonstatus, Stoffwechselveränderungen und Ähnliches können selten dem Konsiliarbericht entnommen werden und sind, wenn notwendig, in einer spezifischen Diagnostik, wie beispielsweise der Bestimmung eines Hormonstatus durch einen Arzt, zu klären. Die weiteren Faktoren wie familiäre Vorbelastungen, Gewichtsverläufe in der Familie etc. können im Kontext der Therapie mit den Patienten besprochen werden. Hierbei ist es sinnvoll, Angaben des Patienten zur Auftretenshäufigkeit psychischer Erkrankungen in der Familie sowie von Übergewicht oder anderen Essstörungen, insofern dies bekannt ist, zu verwenden. Des Weiteren sollte die grobe Gewichtsentwicklung des Patienten erfragt werden (vgl. auch Mikroanalyse des Gewichtsverlaufs in 7 Kap. 8) und Veränderungen des Hunger-Sattheits-Gefühls zum Beispiel in Form von Überessen in der Kindheit und Jugend überprüft werden.
werden, zu überlegen, unter welchen Bedingungen es bei Ihnen persönlich zum Ausbruch der Essstörung kam (Beispiele auf Flipchart sammeln). In der folgenden Übersicht wird eine kurze Zusammenfassung der in 7 Kap. 2 dargestellten Auslöseereignisse gegeben.
Auslöser einer Esstörung 4 Kritische Lebensereignisse wie 5 Scheidung der Eltern 5 Berufseintritt 5 Auszug von zu Hause 5 Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt 5 Beginn einer Partnerschaft oder Trennung von einem Partner 5 Umzug 4 Weitere belastende Faktoren wie 5 Starke Belastung im Beruf 5 Stress 5 Gewichtszunahme
7.2.3 7.2.2
Makroanalyse der auslösenden Bedingungen
Zu den anamnestisch auslösenden Bedingungen einer Essstörung zählen Faktoren, die darüber entscheiden, warum eine Person gerade zu einem bestimmten Zeitpunkt Symptome einer Essstörung entwickelt. Man geht davon aus, dass durch belastende Ereignisse eine bislang nicht vorhandene Verbindung zwischen den prädisponierenden Faktoren und dem Wunsch nach Gewichtsverlust hergestellt wird und damit eine manifeste Essstörung entsteht. Ziel dieses Abschnitts ist es, die individuellen Auslöser der einzelnen Patienten zu identifizieren. Dazu sollten die Ergebnisse aus den bereits analysierten Entstehungsbedingungen kurz zusammengefasst werden. Im zweiten Schritt sollte den Patienten dann im Rahmen eines geleiteten Entdeckens Beispiele (vgl. auch 7 Kap. 2). gegeben werden, welche auslösenden Faktoren aus der Forschung bekannt sind und zur Entstehung der Symptomatik führen können. Dadurch sollen die Patienten dazu angeregt
7
Aufrechterhaltende Bedingungen
Unter aufrechterhaltenden Bedingungen versteht man Faktoren, die dazu beitragen, dass die Essstörung dauerhaft bestehen bleibt, auch wenn die Faktoren, die ursprünglich zu ihrer Entstehung geführt haben, nicht mehr wirksam sind. Eine ausführliche Darstellung von Forschungsbefunden zu aufrechterhaltenden Bedingungen ist 7 Kap. 2 zu entnehmen. Zudem wurden zum Teil bereits in 7 Kap. 6 im Rahmen der Identifikation der positiven und negativen Konsequenzen der Essstörung die Bedingungen, welche die Essstörung aufrechterhalten, mit den Patienten erarbeitet. Da prädisponierende Faktoren zum Teil auch weiter zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen, werden inhaltlich ähnliche Bereiche nicht noch einmal ausführlich dargestellt. Aus der Forschung sind verschiedene Aspekte bekannt, welche vor allem aufrechterhaltende Wirkung haben. Diese sind ein gezügeltes Essverhalten, Defizite in der Stressbewältigung und dysfunktionale Informationsverarbeitungsprozesse (7 Kap. 2). Inwiefern diese Faktoren bereits vor der Essstörung
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Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
vorhanden waren, ist umstritten. Zur Erklärung des Modells sollten den Patienten dennoch Informationen darüber vermittelt werden, welche Folgen gezügeltes Essverhalten auf den Hunger-Sättigungs-Mechanismus sowie auf psychische und körperliche Aspekte haben kann. Als Hausaufgabe kann vertiefend noch einmal auf die Informationsbroschüre zur
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Ernährung verwiesen werden (7 CD-ROM) und zum Therapiebaustein Ernährungsmanagement übergegangen werden. Wichtig ist, dass den Patienten deutlich wird, dass die Essstörung ein sich selbst perpetuierender Teufelskreis ist. Die Erklärung dieses Teufelskreises und Verdeutlichung der dabei wirkenden Faktoren könnte so aussehen:
Wir wissen nun also, warum eine Essstörung entstehen kann und was dazu führt, dass sie ausbricht. Als Letztes möchte ich Ihnen noch erklären, warum sie bestehen bleibt und nicht einfach wieder vergeht, wenn das auslösende Ereignis, wie z. B. Stress, wieder verschwunden ist. Zum einen hat das wohl damit zu tun, dass durch das geänderte Essverhalten körperliche Veränderungen ausgelöst werden. So kann der Körper beispielsweise Hunger und Sattheit nicht mehr richtig wahrnehmen und interpretieren. Wenn jemand sich beim Essen nicht an Hunger und Sättigung orientiert, sondern danach, was »verboten« und »erlaubt« ist, entsteht ein starkes körperliches und seelisches Verlangen nach Nahrung, so dass die Gedanken ständig ums Essen kreisen. Dies kann dann Heißhungerattacken zur Folge haben, da sich der Körper und die Seele »das holen, was sie brauchen«. Zum anderen wird man durch die körperlichen Veränderungen, die durch das Diäthalten hervorgerufen werden und nicht nur Gewicht, Hunger und Sättigung betreffen, sondern auch hormonelle Veränderungen beinhalten, weniger stressresistent, kann sich nicht mehr gut konzentrieren und ist insgesamt einfach weniger belastbar. Im Zusammenspiel damit, dass eine Person auch noch sehr perfektionistisch ist, entsteht eine Negativspirale, die dazu führt, dass sie immer unsicherer wird und sich beispielsweise auch von anderen Menschen zurückzieht. Das Essen rückt immer mehr in den Mittelpunkt. Je wichtiger etwas ist, desto stärker nimmt man Geschehnisse in diesem Zusammenhang wahr. Stellen Sie sich vor, die Essstörung ist wie die Krücke bei einer aufgetretenen Verletzung – Sie haben sich den Knöchel verstaucht und können schlecht auftreten. Je stärker Sie den Fuß belasten, desto stärker spüren Sie den Schmerz. Damit Sie aber trotzdem laufen können, benutzen Sie eine Krücke – das könnte die Essstörung sein, die Ihnen hilft, weniger Schmerzen zu haben. Sie sind aber ständig darauf bedacht, ob Ihr Fuß schmerzt und sind dadurch für andere Reize aus der Umgebung nicht mehr offen. Durch die Schonung haben Sie möglicherweise weniger Schmerzen, Sie verlernen aber auch, ohne Krücke zu laufen. Die Essstörung hilft Ihnen also kurzfristig, weniger Schmerzen zu haben und besser zurechtzukommen, langfristig aber führt sie dazu, dass sie auch nicht mehr ohne sie zurechtkommen können. Das heißt, der verletzte Fuß wird immer schwächer, und bald wird das Laufen ohne die Krücke immer schwerer. Wenn wir das jetzt auf die Essstörung übertragen, dann könnte es so sein, dass Sie bestimmte Dinge nicht ausreichend gelernt haben oder nicht mehr beherrschen, um ihre jetzige Lebenssituation zu bewältigen. In der Therapie müssen wir daher überprüfen, welche Probleme dazu beitragen, dass die Essstörung aufrechterhalten wird. Wenn wir das verstehen, können wir notwendige Fähigkeiten trainieren, die Sie brauchen, um die Essstörung zu überwinden. In unserem Modell sind einige solcher aufrechterhaltenden Bedingungen aufgeführt, die aus der Forschung bekannt sind. Einige der Punkte habe ich eben schon beschrieben. Dies sind neben dem Diätverhalten der Umgang mit Stress und Konflikten, die Wahrnehmung und Bewältigung von Gefühlen, eine negative Sicht von sich selbst sowie ein »Scheuklappenblick« auf vermeintliche Fehler, die man hat oder macht, die sog. dysfunktionalen kognitiven Prozesse. Des Weiteren können Lernerfahrungen wie »Essen tröstet und tut gut« eine Rolle spielen. Wie bereits beschrieben, führt das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren dazu, dass ein Teufelskreis entsteht und man sich immer stärker in die Essstörung verstrickt.
101 7.3 · Ableitung der Therapieziele und therapeutischen Interventionen
Abschließend sollte mit den Patienten besprochen werden, welche der aufrechterhaltenden Faktoren sie bei sich entdecken können. Dazu kann noch mal auf die bereits im Rahmen der Übung zum Abwägen der Vor- und Nachteile einer Essstörung (7 Kap. 6) identifizierte Funktion der Essstörung verwiesen werden. Ist das Modell nun vollständig, können daraus die Therapieziele abgeleitet werden. Dies geschieht zu diesem Zeitpunkt als Ausblick und wird in den jeweiligen Therapieabschnitten nochmals aufgegriffen und spezifischer erläutert.
7
deren Realisierungsmöglichkeiten allgemein zu diskutieren und überhöhte Ansprüche zu reduzieren. Zunächst sollte daher mit den Patienten erarbeitet werden, welche Ziele sich aus dem jeweiligen Störungsmodell ergeben, um dann anschließend die entsprechenden Therapiebausteine vorzustellen.
Übung: 4 Formulierung der Therapieziele
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte
Ableitung der Therapieziele und therapeutischen Interventionen
7.3
Es gibt verschiedene Studien, die den Genesungsbegriff bei Frauen mit Essstörungen untersucht haben. Dabei zeigte sich, dass unter Genesung nicht unbedingt eine Symptomfreiheit verstanden wurde, sondern vielmehr eine Entlastung von der Essstörungssymptomatik im Sinne einer geringeren Dominanz im Alltag, eine größere Akzeptanz des eigenen Körpers und eine stärkere Wertschätzung der eigenen Person (Petterson u. Rosenvinge 2002). Je unkonkreter und umfassender der Genesungswunsch ist, desto wichtiger ist es, mit den Patienten Teilschritte auf dem Weg dorthin herauszuarbeiten und dysfunktionale Annahmen in Bezug auf die zeitliche Umsetzung und
Arbeitsblatt: 4 Acht Stufen zur Genesung (. Arbeitsblatt 7.6/7.6B)
Die Bearbeitung des Zielerreichungsarbeitsblattes 7.6 »Acht Stufen zur Genesung« ist insofern zu empfehlen, da die Patienten selbst teilweise sehr präzise formulieren können, was ihnen fehlt, aber nicht unbedingt, wohin sie wollen. Zur Vorbereitung der Ableitung der Therapiebausteine mit den Patienten sollten daher die individuellen Ziele formuliert werden, um realistische und konkrete Ziele zu erarbeiten. Hierzu werden die Patienten zunächst gebeten, sich anhand des individuellen Störungsmodells zu überlegen, welche Schwierigkeiten bestehen und welche Schritte aus ihrer Sicht notwendig sind, um diese zu überwinden.
Bitte füllen Sie das . Arbeitsblatt 7.6 »Acht Stufen zur Genesung« aus. Überlegen Sie basierend auf dem, was wir eben besprochen haben, was genau für Sie eine Genesung bedeuten würde und welche verschiedenen Schritte notwendig sind, um diese zu erreichen.Tragen Sie diese bitte in die Stufen auf dem Arbeitsblatt ein und stellen Sie es danach in der Runde vor.
Dies könnte am Beispiel von Frau S., welche für sich als Genesungsziel den Wunsch, endlich wieder frei und glücklich zu sein versteht, so aussehen, dass zu-
Therapeut:
6
nächst geklärt wird, was unter dem Begriff »Glücklichsein« verstanden wird (. Arbeitsblatt 7.6B).
Sie beschreiben als Ziel, glücklich sein zu wollen. Das klingt sehr gut, ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es ganz schön schwierig ist, den Begriff Glück zu konkretisieren und dementsprechend dann auch Schritte in diese Richtung zu unternehmen.
102
Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
Frau S.:
Therapeut:
Frau S.:
Therapeut:
7
Frau S.:
Therapeut:
Naja, ich habe mir schon überlegt, dass ich sicher glücklicher wäre, wenn ich wieder mehr mit meinen Freunden unternehmen könnte und mir weniger Sorgen um meine Figur machen müsste und darüber, wann ich etwas essen kann. Das klingt wiederum schon sehr viel konkreter. Haben Sie denn eine Idee, was der erste Schritt sein könnte, um dahin zu kommen, sich weniger Gedanken um Essen und Figur zu machen? Nein, das weiß ich noch nicht, aber als Erstes denke ich, würde ich mich um das Essen kümmern wollen, denn das hängt eng mit der Figur zusammen. Außerdem glaube ich, dass, wenn ich weniger über Essen nachdenke, dann auch wieder mehr Zeit für Freunde habe und mich damit dann sicher wohler fühle. Okay, dann wäre also mehr mit Freunden unternehmen ebenfalls ein Schritt auf dem Weg zu Ihrem Genesungsziel. Würden Sie das vor oder nach der Veränderung der Gedanken an Essen stellen? Naja, ich glaube, dass ich erst mal die Einstellung und wahrscheinlich auch mein Essverhalten ändern muss, bevor ich mich um Freunde und Ausgehen usw. kümmern kann. Mein erstes Ziel wäre es daher wohl eher, mich mit meinem Essverhalten zu beschäftigen und wieder regelmäßiger und ausgewogener zu essen. Das beeinflusst vielleicht dann auch die Gedanken über das Essen. Als Nächstes würde ich sagen, dass dann die Freunde kommen und danach die Verminderung der Sorgen um Figur und Gewicht. Aber so sicher bin ich mir damit nicht. Okay, das sind ja jetzt schon recht konkrete Vorstellungen. Sie können die Hierarchie im Nachhinein noch abändern, wenn Sie merken, dass Ihre Prioritäten sich verändern. Als Erstes vereinbaren wir nun also, dass Sie sich auf Ihr Essverhalten konzentrieren und wieder mehr und ausgewogener Essen.
Wie anhand des Fallbeispiels zu sehen ist, findet hier eine erste kognitive Intervention statt. Die überhöhten Ansprüche werden aufgezeigt und durch Konkretisieren und Begriffsklärungstechniken problematisiert. Zum Abschluss der Besprechung steht das erste konkrete Ziel, dem sich weitere Teilziele anschließen. Der Übergang zur Wahl der Therapiebausteine kann an dieser Stelle gemacht werden. Dabei sollten die individuellen Vorstellungen der Patienten aufgegriffen und in das hier vorliegende Konzept integriert werden. Den Patienten sollte an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass ein zweiphasiges Vorgehen sinnvoll ist, um zunächst an den aufrechterhaltenden Faktoren, nämlich dem gestörten Essverhalten, anzusetzen und damit die körperlichen und psychischen Folgeerscheinungen zu reduzieren und erst im zweiten Schritt die mit der Entstehung der Essstörung assoziierten Probleme aufzugreifen, weil diese in einem längeren Prozess bearbeitet werden müssen. Aus diesem Modell lassen sich demnach die in
der folgenden Übersicht dargestellten Interventionsbereiche ableiten:
Therapieplan 4 Ernährungsmanagement 5 Strukturierung des Essverhaltens 5 Gewichtszunahme bei untergewichtigen Patienten 5 Abbau der Heißhungerattacken und des Erbrechens 4 Abbau dysfunktionaler Kognitionen 5 Identifizieren der negativen Grundannahmen und automatischen Gedanken 5 Verändern der negativen automatischen Gedanken und zugrunde liegenden Annahmen 4 Umgang mit Gefühlen 5 Training zur Gefühlswahrnehmung 6
103 7.3 · Ableitung der Therapieziele und therapeutischen Interventionen
. Arbeitsblatt 7.6B. Acht Stufen zur Genesung
7
104
Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
5 Verbesserung des Gefühlsausdrucks 5 Entwicklung von Stresstoleranz 5 Erlernen von Entspannungsverfahren 4 Entwicklung instrumenteller und sozialer Fertigkeiten 5 Training sozialer Kompetenzen 5 Problemlösetraining 5 Verbesserung von Kommunikationsfertigkeiten 4 Verbesserung des Körperbildes 5 Hinterfragen des Schlankheitsideals 5 Korrektur einer perzeptiven Körperbildstörung 5 Akzeptanz des eigenen Körpers 4 Weitere Interventionsansätze 5 Aufbau eines stabilen Selbstwertgefühls 5 Aufbau positiver Aktivitäten 5 Genusstraining 5 Rückfallprophylaxe
7
und anhand dieser Beispiele mögliche individuelle Auslösefaktoren überprüft. 4 Als drittes werden aufrechterhaltende Bedingungen vorgestellt, welche sich in folgende Kategorien zusammenfassen lassen: mangelnde Stressbewältigungskompetenzen und Bewältigungsdefizite, Diätverhalten, dysfunktionale kognitive Prozesse und Lernerfahrungen. Diese werden mit den Patienten diskutiert und der Teufelskreis der Aufrechterhaltung individuell abgeleitet. 4 Auf der Grundlage des Störungsmodells wird der Behandlungsplan erstellt. Dazu werden zunächst die individuellen Ziele durch die Patienten selbst formuliert und diese in die Auswahl der Behandlungsbausteine mit einbezogen.
7.5
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 7.1. Familiäre Beziehungen . Arbeitsblatt 7.3. Was habe ich gelernt?
Dieser Therapieplan soll mit den Patienten ausführlich besprochen werden. Es soll erfragt werden, ob die Patienten hiermit einverstanden sind oder aufgrund bisher noch nicht berücksichtigter individueller Ziele Ergänzungen des Therapieplanes wünschen. Diese sollen seitens des Therapeuten und des Patienten auf Kompatibilität mit dem bestehenden Therapieplan geprüft werden.
7.4
Zusammenfassung
4 Die Erarbeitung des individuellen Störungsmo-
dells orientiert sich an den drei Stufen: prädisponierende Faktoren, Auslöser und aufrechterhaltende Faktoren. 4 Zur Identifikation der prädisponierenden Faktoren eignet sich der Einsatz eines Genogramms, um prägende Lernerfahrungen zu erfassen und mögliche Einflüsse auf die Entstehung der mit der Essstörung assoziierten Grundannahmen zu überprüfen. Desweiteren sollten soziokulturelle, individuelle und biologische Einflussfaktoren thematisiert werden. 4 In einem zweiten Schritt werden den Patienten mögliche auslösende Bedingungen vorgestellt
. Arbeitsblatt 7.4. Erfahrungen mit dem Körper . Arbeitsblatt 7.5. Entstehungsbedingungen . Arbeitsblatt 7.6. Acht Stufen zur Genesung
105 7.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 7.1
7
106
Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
7
. Arbeitsblatt 7.3
107 7.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 7.4
7
108
Kapitel 7 · Vermittlung eines individuellen Störungsmodells und Ableitung der Therapieziele
. Arbeitsblatt 7.5
7
109 7.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 7.6
7
8 8 Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens und Abbau von Heißhungerattacken und Erbrechen 8.1
Einleitung – 112
8.2
Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens – 113
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6
Motivierung zur Veränderung des Essverhaltens – 114 Einführung und Auswertung der Mahlzeitenprotokolle – 118 Etablierung strukturierter Esstage – 122 Maßnahmen zur Gewichtssteigerung und -stabilisierung – 126 Exkurs: Wahrnehmung von Hunger und Sättigung – 132 Gemeinsames Kochen – 134
8.3
Interventionen zum Abbau von Heißhungerattacken und Erbrechen – 135
8.3.1 Analyse von Auslösesituationen – 136 8.3.2 Interventionen zur kurzfristigen Affektregulation 8.3.3 Nahrungsmittelexposition – 146
8.4
Zusammenfassung
8.5
Arbeitsblätter
– 149
– 149
– 143
112
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
> Ziel
4 Etablierung eines ausgewogenen und ausreichenden Ernährungsverhaltens 4 Identifikation von Auslösern für Essattacken und Erbrechen : Vorgehen 4 Zusammentragen eigener Erfahrungen mit Diätverhalten und dessen Folgen 4 Besprechen der Mahlzeitenprotokolle und 4 Einführung strukturierter Esstage 4 Analyse von Auslösesituationen für Essattacken 4 Abbau von Essattacken durch Entwicklung von kurzfristigen Notfallstrategien
8.1
Einleitung
8 Viele Patienten, die an einer Essstörung leiden, zeigen ein Essverhalten, das einer extremen kognitiven Kontrolle unterliegt. Diese manifestiert sich nicht nur in selbstauferlegten strikten Diätregeln, wie dem Festlegen von Kaloriengrenzen (z. B. max. 1000 kcal/Tag), sondern auch in Regeln darüber, nur eine vorab festgelegte Nahrungsmenge zu essen oder ab einer bestimmten Uhrzeit (z. B. 18 Uhr) nichts mehr zu sich zu nehmen. Neben diesen genauen Regeln kann es auch allgemeine Grundsätze geben, welche äußerlich weniger auffällig sind, z. B. keinen Käse oder Kuchen zu essen oder nur »gesunde« (d. h. fettarme) Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Patienten mit einer Anorexia nervosa haben meist Schwierigkeiten, mit anderen gemeinsam zu essen und vermeiden dies deshalb, soweit es geht. Häufig wird das Essen in kleinste Teile zerschnitten, extrem langsam und bedächtig gekaut, viel Wasser getrunken, und die Wahl der Nahrungsmittel und Speisen ist extrem eingeschränkt. Kommt es zu gemeinsamen Mahlzeiten, erhalten anorektische Patienten aufgrund des niedrigen Körpergewichts und der bizarren Verhaltensweisen im Umgang mit Essen sehr viel Aufmerksamkeit. Sie stehen im Mittelpunkt, fühlen sich beobachtet und unwohl. Im Gegensatz zu bulimischen Patienten, die oft eher unregelmäßige Essenszeiten aufzeigen und unterschiedliche Mengen je nach Art der Mahlzeit (kontrolliert vs. Essanfall) an Nahrung zu sich nehmen
(Guertin 1999), versuchen anorektische Patienten meist so gut wie gar nichts oder ausschließlich kalorienarme Nahrungsmittel (z. B. Obst) zu essen und ziehen aus der Fähigkeit, sich besser als alle anderen zu kontrollieren, ein Gefühl der Macht und Stärke (Bruch 1991). Bei Patienten mit einer Bulimia nervosa erscheint das Essverhalten auf den ersten Blick meist unauffällig. Gemeinsam mit anderen essen die Betroffenen häufig sehr diszipliniert und kontrolliert. Außerhalb der Essanfälle sind sie daher in der Auswahl der Nahrungsmittel eher wählerisch: Speisen werden in »verbotene« und »erlaubte« Nahrungsmittel unterteilt. Typischerweise erlaubt sind Nahrungsmittel wie Quark, Joghurt, Salat und Obst, also »gesunde, vollwertige« Speisen. »Verboten« sind meist fette Speisen oder Süßes wie Kuchen und Süßigkeiten. Bulimische Patienten planen im Tagesablauf oft nur wenig oder ungenügend Zeit für die Nahrungsaufnahme ein und unter- oder überschätzen die benötigte Essensmenge, so dass es durch das Verletzen der Diätregeln zu einem Essanfall kommt. Häufig lassen sie das Frühstück ganz ausfallen und nehmen die Hauptkalorienmenge erst im zweiten Tagesdrittel auf (Legenbauer 2003). Auch Essanfälle fallen häufig in diesen Zeitraum, was auf die Nahrungsdeprivation über den Tag hinweg zurückgeführt wird (Legenbauer 2003; Alpers u. TuschenCaffier 2001; 7 Kap. 2 und 6). Es gibt einige empirische Befunde, welche Zusammenhänge zwischen dem Beginn von Diäten und der Störung des Hunger- und Sättigungsgefühls sowie dem Auftreten von Heißhungerattacken aufzeigen. Die wohl bekannteste Studie zu diesem Aspekt ist die Minnesota-Starvation-Studie von Keys et al. (1950), in deren Rahmen 36 gesunde Männer über 6 Monate nur die Hälfte ihres normalen Bedarfs an Kalorien erhielten und Veränderungen im Erleben und Verhalten überprüft wurden. Dabei traten die folgenden Veränderungen und Symptome auf: 4 emotionale (depressive Stimmungslage) und Persönlichkeitsveränderungen, 4 Konzentrationsstörungen, 4 gedankliche Fixierung auf Nahrungsmittel und übermäßige Beschäftigung mit Essen, 4 Heißhungerattacken und Störungen des Hunger-Sättigungs-Haushaltes sowie
113 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
4 ein exzentrischer Umgang mit Nahrungsmitteln
wie Zerkleinern von Speisen und Ähnlichem. Aus dieser Untersuchung wurde die Hypothese entwickelt, dass durch bewusste Kontrolle eines bisher spontanen Essverhaltens Hunger- und Sättigungsmechanismen außer Kraft gesetzt werden. So verliert der Körper durch eine negative Energiebilanz an Gewicht und, aufgrund des fortgeführten restriktiven Essverhaltens, kommt es zu einer Entkopplung von natürlichen Hunger- und Sättigungssignalen, welche eine dauerhafte Stabilisierung des Gewichts unterhalb des gesunden, normalen Körpergewichts ermöglicht. In der Minnesota-Studie (1950) wurde beobachtet, dass der Körper nach Beendigung von Diäten wieder sein normales Gewicht anstrebt bzw. schon während der Diät über erhöhte Beschäftigung mit Nahrungsmitteln und Heißhungerattacken den ursprünglichen Zustand herzustellen sucht. Bei Frauen mit einer Essstörung treten ähnliche Symptome auf, wie das Fehlen von Hunger und Sättigung, sowie die übermäßige Beschäftigung mit Nahrungsmitteln. Die vermehrte Beschäftigung mit Essen wiederum kann zu Heißhungerattacken führen, da durch das Fehlen von Hunger und Sättigung kein physiologischer Richtwert mehr zu existieren scheint. Die Durchführung von Diäten und das damit einhergehende Übergehen von Hunger- und Sättigungssignalen begünstigt damit im Zusammenspiel mit den somatischen und psychischen Folgeerscheinungen (7 Kap. 1 und 6) die Aufrechterhaltung der Essstörung. Durch die Normalisierung des Essverhaltens soll den Patienten zu einer adäquaten Wahrnehmung von Hunger und Sättigung verholfen werden, wobei gleichzeitig Heißhungerattacken und die ständige Beschäftigung mit Essen reduziert werden. In diesem Kapitel werden daher zunächst die Etablierung eines regelgerechten Essverhaltens und in dessen Rahmen Behandlungselemente zur Gewichtssteigerung (7 Abschn 8.2) sowie nachfolgend die Reduktion und Verhinderung von Heißhungerattacken (7 Abschn. 8.3) vorgestellt.
8.2
8
Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
Um ein regelmäßiges Essverhalten zu etablieren, wird dem Patienten empfohlen, möglichst drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten mit einem ausgewogenen Verhältnis von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen zu sich zu nehmen. Gemäß den Empfehlungen der deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE 2003) sollte sich die tägliche Nahrung aus 50% Kohlenhydraten, 35% Fett und 15% Eiweiß zusammensetzen. Zu den Haupt- und Zwischenmahlzeiten sollte Obst und Gemüse verzehrt werden. Zusätzlich wird empfohlen, täglich Milch und Milchprodukte zu konsumieren. Fisch, Fleisch oder Wurstwaren sollten ca. einmal pro Woche gegessen werden und 300 bis 600 g pro Woche nicht übersteigen. Eier werden in Maßen empfohlen. Der Fettanteil sollte zwischen 70–90 g pro Tag liegen und möglichst aus pflanzlicher Herkunft sein (vgl. auch Ernährungsbroschüre auf der 7 CD-ROM bzw. der Kurzfassung in 7 Kap. 6). Der Schwerpunkt der Intervention zur Normalisierung des Essverhaltens wird zunächst auf die Regelmäßigkeit gelegt. Das Zählen von Kalorien sollte vermieden werden, da damit die übermäßige Beschäftigung mit dem Kaloriengehalt der aufgenommenen Nahrung und damit eine Aktivierung dysfunktionaler Kognitionen in den Vordergrund rücken würde. Wichtig ist, dass auch bei persistierenden Essattacken und Erbrechen keine Mahlzeiten ausgelassen werden und eine regelmäßige Struktur aufgebaut wird, um ein natürliches Hunger- und Sättigungsgefühl zu etablieren und keine nahrungsbezogenen Deprivationszustände aufkommen zu lassen (Craighead u. Allen 1995). Ist eine regelmäßige Struktur aufgebaut, sollte vermehrt auf die Art und Menge der Nahrungsmittel eingegangen werden. Wie oben beschrieben, vermeiden Frauen mit Essstörungen häufig fetthaltige oder hochkalorische Speisen und schränken ihre Nahrungsaufnahme deutlich ein. Um dieses Vermeidungsverhalten aufzugeben, ist es hilfreich, zunächst eine Liste mit bislang vermiedenen Nahrungsmitteln zu erstellen (7 Abschn. 8.2.4). Dabei sollte nicht vernachlässigt werden, Ängste im Zusammenhang mit diesen Speisen zu erfragen und mögliche dysfunktionale Annahmen zu überprüfen.
114
8
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Als Hilfe zur Identifikation von dysfunktionalen Annahmen und Verbotslisten können Mahlzeitenprotokolle eingesetzt werden (7 Abschn. 8.2.3 sowie 7 Kap. 4). Die Analyse der zugrunde liegenden dysfunktionalen Annahmen hilft, den Patienten ihr Verhalten im Hinblick auf die Wahl der Nahrungsmittel und dem Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme wieder bewusst zu machen, da das gestörte Essverhalten meist schon über lange Zeit etabliert ist und damit häufig automatisierten Prozessen unterliegt. Durch die Selbstbeobachtung und die Bearbeitung der Mahlzeitenprotokolle in der Therapie kann so die Automatisierung unterbrochen werden (vgl. Bennighoven 1997). Ziel des Durchbrechens dieses automatisierten Ablaufs ist die bewusste Veränderung des Essverhaltens unter Aufbau von Selbstkontrollfertigkeiten. Darauf soll nun im Folgenden eingegangen werden.
8.2.1
Motivierung zur Veränderung des Essverhaltens
Frauen mit Essstörungen haben häufig ein Laienwissen über Ernährung. Dieses basiert meist auf pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen aus den Medien. Kritisch ist zudem, dass die in der Laienpresse publizierten Ernährungsrichtlinien und Ratschläge vor allem an übergewichtige Frauen gerichtet sind und somit für die Zielgruppe dieses Behandlungsprogramms wenig geeignet ist. Insbesondere die Empfehlung von stark fettreduzierter Nahrung ist sehr kritisch, da sie zu unzureichender Nährstoffzufuhr und Schwierigkeiten bei der Verwertung von Nährstoffen führen kann. Im folgenden Fallbeispiel ist beschrieben, welche Konsequenzen dieses Laienwissen auf das Essverhalten haben kann. Fallbeispiel
Übungen: 4 Referate durch Gruppenteilnehmer zum Thema Diäten und gesundes Essverhalten 4 Erstellen einer Gewichtskurve 4 Planung strukturierter Esstage 4 Sammlung von Hinweisreizen für Hungerund Sättigung 4 Optional: Gemeinsames Kochen
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Stifte 4 Optional: Therapievertrag zur Gewichtssteigerung bzw. zum Gewichthalten
Arbeitsblätter: 4 Folgen von Diäten (. Arbeitsblatt 8.1/8.1B) 4 Gewichtsverlaufskurve (. Arbeitsblatt 8.2/ 8.2B) 4 Mahlzeitenprotokoll (. Arbeitsblatt 8.3/8.3B) 4 Wege zur Veränderung (. Arbeitsblatt 8.4) 4 Wie ich mein Ernährungsverhalten verändern möchte (. Arbeitsblatt 8.5/8.5B) 4 Was ich mir verbiete und warum (. Arbeitsblatt 8.6/8.6B)
Frau S.: Ich versuche, mich so gesund wie möglich zu ernähren. Ich esse möglichst wenig Fett und Kohlenhydrate. Außerdem versuche ich, nach 18 Uhr überhaupt nichts mehr zu essen, da der Körper ja abends nur schlecht verdaut und vor allem dann auch am meisten Fett angesetzt wird. Außerdem mache ich einmal die Woche einen Obsttag zum Entschlacken. Ich trinke täglich mindestens 2–3 Liter Flüssigkeit, meistens Cola light, da diese ja kaum Kalorien hat und nicht so viel Zucker wie die richtige Cola.
Um den Frauen deutlich zu machen, dass dieses Wissen zum einen einseitig ist und zum anderen auf meist pseudowissenschaftlichen Diätregeln basiert, ist es notwendig, das Wissen zu überprüfen und von den Patienten als objektive »Tatsachen« hingenommene Fakten kritisch zu hinterfragen. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass den Frauen die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Verhalten und dem eigentlichen Wunsch, sich gesund zu ernähren, bewusst wird. Dies kann ein guter Motivator sein, um Bereitschaft zu wecken, das eigene Essverhalten kritisch zu reflektieren und im nächsten Schritt auch zu verändern. Daneben ist es nicht nur wichtig, eine gesunde Mahlzeitenstruktur und -gestaltung zu thematisieren, sondern auch über die Folgen von falschem Ernährungsverhalten, insbesondere Diäten, aufzuklären.
115 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
In einem ersten Schritt wird daher die Motivation, überhaupt Diäten durchzuführen, und deren Folgen auf körperliche Funktionen, aber auch seelische Zustände thematisiert. In der Gruppe kann dies auf mehrere Arten geschehen: beispielsweise durch die Bearbeitung eines vorbereiteten Textes (7 Informationsbroschüre auf der beiliegenden CD-ROM) in Form eines Referates durch die Gruppenteilneh-
4 4 4 4 4 4 4 4
8
mer selbst, aber auch durch Sammeln der Symptome am Flipchart oder per Arbeitsblatt (z. B. . Arbeitsblatt 8.1 »Folgen von Diäten«, s. Beispiel . Arbeitsblatt 8.1B). Sowohl zur Nachbereitung der Referate als auch zur Erarbeitung von Diätfolgen am Flipchart können ergänzend folgende Fragen gestellt werden:
Wie viele von Ihnen haben bereits eine oder mehrere Diäten durchgeführt? Welche Diäten waren das? Was war der Grund für die Diät? Wie haben Sie sich mit der Diät gefühlt? Fiel es Ihnen leicht, sich an die Diätvorschriften zu halten? Wie sah Ihr Essverhalten nach der Diät aus? Hat es sich verändert? Wenn ja, inwiefern? Haben Sie das durch die Diät abgenommene Gewicht halten können? Welche Folgen gab es auf der körperlichen und seelischen Ebene?
Im Anschluss an die Erarbeitung der Folgen von Diäten kann eine Gewichtsverlaufskurve für die einzelnen Patienten angelegt werden (. Arbeitsblatt 8.2, 7 CD-ROM). Diese dient dazu, die Entwicklung des Gewichts in Zusammenhang mit durchgeführten Diäten, Erbrechen oder exzessivem Sport und weiteren Faktoren wie wechselnde Lebensumstände, Eintritt in die Pubertät oder Abschluss der Pubertät zu bringen. In . Arbeitsblatt 8.2B ist der beispielhafte Verlauf einer solchen Gewichtskurve einer Patientin dargestellt. Auf der Vertikalen ist dazu das Gewicht in kg abgetragen, auf der horizontalen Achse das Al-
ter in Lebensjahren mit Beginn der Essstörung. Je nach Krankheitsdauer sollte diese Achse mit größeren oder kleineren Abständen gewählt werden. Der Patient wird nun gebeten, in das so entstandene Koordinatensystem das ungefähre Gewicht für jedes Lebensjahr einzutragen und zu überlegen, wie das Essverhalten zu diesem Zeitpunkt aussah und welche weiteren Lebensbedingungen wie Belastungsgrad (Stress, Konflikte) oder Ausmaß körperlicher Aktivität vorhanden waren. Ein Beispiel zur Besprechung einer Gewichtskurve und Herausarbeitung des Zusammenhangs zur Essstörung ist das Folgende:
Wir haben eben herausgearbeitet, dass Diäten oft dazu führen, dass der Körper ein gestörtes Hunger- und Sättigungsgefühl entwickelt. Am Beispiel der Gewichtsverlaufskurve möchte ich nun mit Ihnen überprüfen, welchen Einfluss Diäten auf Ihren Gewichtsverlauf hatten bzw. wie sich Ihr Gewicht über die Jahre entwickelt hat. Dabei möchte ich neben dem Einflussfaktor Diät auch weitere mögliche Einflussfaktoren herausarbeiten, die bei Ihnen auf das Körpergewicht gewirkt haben könnten. Dies können beispielsweise wechselnde Lebensumstände sein wie der Beginn der Berufstätigkeit nach Abschluss der Schule oder des Studiums, Veränderungen im Freizeitverhalten wie Aufgabe von Sportarten aufgrund von Zeitmangel oder Verletzungen. Auch seelische Belastungen, z. B. Trennung von einem Partner, oder auch körperliche Erkrankungen können hier eine Rolle spielen. Bitte tragen Sie in das entsprechende Arbeitsblatt ein, wie Ihre persönliche Gewichtsverlaufskurve aussieht. Markieren Sie, wann Sie mit Diäten begonnen haben, wann mit Essattacken und Erbrechen bzw. exzessivem Sport oder anderem Verhalten, das zu ihrer Essstörung gehört.
116
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
8
. Arbeitsblatt 8.1B. Folgen von Diäten
117 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
8
. Arbeitsblatt 8.2B. Gewichtsverlaufskurve
Anhand des Beispiels in . Arbeitsblatt 8.2B könnte dann die Besprechung der Gewichtsverlaufskurve so aussehen:
Therapeut: Frau S.: Therapeut: 6
Frau S., Sie haben eingetragen, dass Sie bei Beginn der Bulimie ungefähr 58 kg gewogen haben. Wie sah ihr Essverhalten damals aus? Hatten Sie damals schon Diäten gemacht? Ja, ich habe meine erste Diät im Alter von 13 Jahren gemacht. Meine Mutter hat häufig gefastet und ich wollte unbedingt auch mitmachen. Heute bereue ich das. Hm, das heißt, sie haben im Alter von 18 Jahren bereits mehrere Diäten hinter sich gehabt. Haben Sie durch die Diäten an Gewicht abgenommen?
118
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
8 Therapeut: Frau S.:
Nein, gewichtsmäßig haben die Diäten eigentlich gar nichts gebracht – im Gegenteil! Haben Sie sich denn mit ihrem Gewicht wohl gefühlt? Nein, ganz sicher nicht, denn sonst hätte ich ja nie damit angefangen, das Essen zu erbrechen. Ich hatte ja bis dahin eigentlich keine Essanfälle. Es war eher so, dass ich viel Süßes gegessen habe und oft auch zwischendurch und ich konnte schon viel essen. So mit 18 Jahren hatte ich immer noch keinen Freund und ich habe mich für meine Figur geschämt. Meine Mutter und auch Mitschüler haben häufig kritische Bemerkungen über meine Figur gemacht, und ich wollte unbedingt abnehmen. Da habe ich dann angefangen, mich nach den Mahlzeiten zu übergeben. Das hat ja auch sehr gut funktioniert, denn ich habe dann ja auch abgenommen. Wie viel haben Sie denn abgenommen? Na ja, das waren schon fast 10 kg. Und haben Sie die Gewichtsabnahme durch die Bulimie halten können? Ja, anfangs schon, aber als ich dann von zu Hause ausgezogen bin, kamen immer häufiger diese Heißhungerattacken. Ich bin dann ziemlich abgerutscht und habe immer häufiger erbrochen, doch komischerweise ist das Gewicht in der Zeit dann doch wieder gestiegen. Als ich meinen Freund kennen gelernt habe, habe ich eine Zeit lang weniger Essanfälle gehabt und weniger Sport gemacht. Das habe ich nicht lange ausgehalten, da das Gewicht immer stärker hoch ging und ich fast wieder die 58 kg hatte. Haben Sie zu diesem Zeitpunkt etwas verändert? Ja, ich habe wieder viel mehr Sport gemacht und mir eine Diät auferlegt. Das habe ich bis zum Vordiplomstress durchgehalten, aber dann konnte ich nicht mehr soviel Sport machen und hab wieder häufiger Essanfälle bekommen, und das Gewicht ging wieder hoch.
Anhand dieses Fallbeispiels kann deutlich aufgezeigt werden, dass durch die Essstörung das Gewicht nicht stabil niedrig bleibt, ohne dass immer extremere Maßnahmen eingesetzt werden. Die Patientin erkennt, dass die Stabilisierung des niedrigen Gewichts nur über eine starke kognitive Kontrolle erreicht wird, welche aber auch Essanfälle nach sich zieht.
8.2.2
Einführung und Auswertung der Mahlzeitenprotokolle
Nachdem die Patienten durch die Wissensvermittlung hinsichtlich einer ausgewogenen und ausreichenden Ernährung und die Betrachtung der anamnestischen Gewichtsverlaufskurve genügend Hintergrundwissen erhalten haben, kann mit dem nächsten Schritt – der Normalisierung des Essverhaltens – begonnen werden. Dazu werden, wie bereits in 7 Kap. 4 beschrieben, Mahlzeitenprotokolle
eingesetzt. In der Anfangsphase dient das Mahlzeitenprotokoll vornehmlich der Erfassung der Schwere und Ausprägung des gestörten Essverhaltens und zur Überprüfung der zugrunde liegenden Mechanismen. Durch das Mahlzeitenprotokoll besteht damit die Möglichkeit, das zu verändernde Verhalten zunächst zu beobachten. Neben diesen diagnostischen Funktionen kann das Mahlzeitenprotokoll zudem Aufschluss über die Introspektionsfähigkeit sowie die Motivation des Patienten geben. Des Weiteren dient es zu einem aktiven Einbezug des Patienten in den therapeutischen Prozess (Benninghoven 1997; 7 Kap. 4). Die so gewonnenen Informationen sind außerdem von großer Wichtigkeit für die weitere Therapieplanung, um sowohl eine Veränderung des Essverhaltens zu begründen als auch adäquate Strategien zum Abbau von Essanfällen zu erarbeiten (7 Abschn. 8.2). Die Einführung der Protokolle sollte gut begründet und genaue Anweisungen zum Ausfüllen gege-
119 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
ben werden, da es sonst zu Schwierigkeiten bei der Bearbeitung und Interpretation kommen kann. Zunächst wird daher im Folgenden auf die den Patienten zu vermittelnde Informationen zum Ausfüllen und anschließend auf die Interpretation der Protokolle näher eingegangen. In der folgenden Übersicht sind noch einmal die Ziele von Mahlzeitenprotokollen aufgeführt (Benninghoven 1997; 7 Kap. 4).
8
4 Aufbau von Selbstkontrolle: Unterbrechung automatisierter Handlungsabläufe durch sofortige Protokollierung 4 Therapieerfolgskontrolle: Überprüfung von Veränderungen des Essverhaltens
Einführung der Mahlzeitenprotokolle Ziele von Essprotokollen 4 Diagnostische Funktion: Erfassung der Art und Menge der verzehrten Nahrung 4 Ableitung der weiteren Interventionstechniken: Identifikation von internen (z. B. emotionalen) und externen (z. B. Buffett) Auslösebedingungen für Fasten, Heißhungerattacken und kompensatorische Strategien (z. B. Erbrechen) 6
. Arbeitsblatt 8.3B. Beispiel eines Mahlzeitenprotokolls
Das von uns verwendete Mahlzeitenprotokoll (. Arbeitsblatt 8.3, Beispiel in . Arbeitsblatt 8.3B) ist gegenüber den gängigen Protokollen (z. B. Jacobi et al. 2000) modifiziert und um verschiedene Aspekte erweitert: Es ist bereits für die vorgeschriebenen Mahlzeiten (drei Hauptmahlzeiten, zwei Zwischenmahlzeiten) unterteilt, um eine gesonderte Übersicht über die Mahlzeitenstruktur zu erhalten und den Patienten frühzeitig Einsicht in den Aufbau eines regelmäßigen Essverhaltens zu geben. Zusätzlich sollen im Rahmen der Mahlzeitenprotokolle auch Gegenmaß-
120
8
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
nahmen wie Erbrechen und Abführmittel, aber auch sportliche Aktivitäten und Flüssigkeitsaufnahme erfasst werden. Dies gibt einen breitgefächerten Überblick über alle möglichen, das Essverhalten beeinflussenden Variablen und mögliche medizinische Risikofaktoren (wie Dehydration etc.). Bei der Einführung der Mahlzeitenprotokolle muss klar definiert werden, welche Aspekte des Essverhaltens überhaupt dokumentiert werden sollen. Als Richtlinie gilt, dass Art und Menge der Nahrung, Ort, Uhrzeit und Dauer der Nahrungsaufnahme und anwesende Personen erfasst werden sollten. Dabei ist zu beachten, dass die Patienten nicht zum Kalorienzählen oder Abwiegen der Nahrung angewiesen werden, da dies die gedankliche Fixierung auf eine antizipierte Gewichtszunahme weiter fördern würde. Angaben wie »ein großer Teller Salat« oder »zwei Schöpflöffel Gemüseauflauf« sollten ausreichen, damit der Therapeut in etwa die Kalorien der aufgenommenen Nahrung und die Menge bemessen kann. Es ist wichtig, die Patienten darüber aufzuklären, dass die Eintragungen zeitnah nach dem Essen gemacht werden sollten, um retrospektive Verzerrungen zu vermeiden und ein möglichst realistisches Abbild des tatsächlichen Essverhaltens zu bekommen. In diesem Zusammenhang sollte auch festgelegt werden, dass das Führen des Ernährungstagebuchs als verbindliche Vereinbarung getroffen wird und mit zur Therapie gehört. Patienten haben oft Schwierigkeiten beim Ausfüllen der Mahlzeitenprotokolle, da dies mit einem relativ hohen Aufwand verbunden ist oder aber unangenehm oder peinlich sein kann, wenn es im Beisein anderer geschieht. Darüber hinaus kann es für die Patienten auch bedrohlich sein, mit der konsumierten Nahrungsmenge konfrontiert zu werden, da sie bereits bei kleinsten Nahrungsmengen eine Gewichtszunahme befürchten. Da bei Patienten mit einer Anorexia nervosa aber genau eine Gewichtszunahme das Ziel der Interventionen ist, sollten die Patienten darüber aufgeklärt werden, dass der Effekt des Tagebuchschreibens vor allem darin begründet liegt, automatisierte Handlungsabläufe durch die Protokollierung zu unterbrechen. Dadurch kann dem oftmals stark habitualisierten Ablauf von Essanfällen bzw. Auslassen von Mahlzeiten entgegengewirkt und den Patienten so ein Stück Kontrollmöglichkeit gegeben werden. Die automati-
schen Abläufe bei der Nahrungsaufnahme werden so für den Patienten transparent und helfen, Veränderungsansätze aufzuzeigen. Aus therapeutischen Gründen sollten zusätzlich auch Gedanken und Gefühle vor und/oder nach dem Essen erfasst werden. Dies bietet die Möglichkeit, situationsspezifische Auslöser wie »alleine sein« und negative Gedanken oder Gefühle, welche zur Auslösung eines Essanfalles führen können, zu identifizieren. Im Vordergrund steht hierbei die Klärung von Zusammenhängen zwischen den auslösenden Bedingungen und den Verhaltenskonsequenzen. Durch die Herausarbeitung der Zusammenhänge kann das Symptom entmystifiziert werden. Damit verliert es seinen undurchschaubaren und unkontrollierbaren Charakter.
Auswertung von Mahlzeitenprotokollen Der Therapeut sollte die Mahlzeitenprotokolle nie unkommentiert lassen. Die Mühen des Patienten, die mit dem regelmäßigen Ausfüllen der Tagebücher verbunden sind, sowie die oft belastende Auseinandersetzung mit der verzehrten Nahrungsmenge sollte gewürdigt werden. Ziel der Intervention selbst ist es, den Patienten darin anzuleiten, über das Führen der Mahlzeitenprotokolle eine bessere Kontrolle über sein Essverhalten zu erlangen und Zusammenhänge eigenständig zu erfassen. Dazu ist es wichtig, die Protokolle mit dem Patienten entweder gemeinsam im Einzelgespräch oder in der Gruppe (bzw. alternativ auch mit einem Ökotrophologen) zu analysieren. Dabei sollten die verschiedenen Aspekte des Mahlzeitenprotokolls (Zeit, Ort, Menge, Auswahl der Nahrungsmittel, Gedanken, Gefühle etc.) und Hypothesen über Gründe für die Auslösung von Essanfällen bzw. dem Auslassen von Mahlzeiten besprochen werden (7 Kap. 2). Als Erstes kann auf die Uhrzeit der Mahlzeiten geachtet werden, um zu ersehen, wann und in welchen Abständen Nahrung verzehrt wurde. Diesem Vorgehen liegen die Forschungsbefunde zum restriktiven Essverhalten zugrunde (7 Kap. 2). Abstände von mehr als 3–4 Stunden können zu physiologischer Mangelerscheinung führen und damit Heißhungerattacken auslösen (vgl. 7 Abschn. 8.2.4). Ein weiterer wichtiger Punkt ist zudem die Länge der Mahlzeiten. Wie bereits beschrieben, neigen Patienten mit einer Anorexia nervosa dazu, die Mahlzeiten
121 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
stark zu zerkleinern und ausgiebig zu kauen, während Patienten mit einer Bulimia nervosa eher zu schnell essen (7 Abschn. 8.1). Beides führt durch die jeweils übermäßig kurze bzw. lange Dauer der Nahrungsaufnahme zu einem Unvermögen, den Sättigungsgrad adäquat zu erfassen. Die Nachbesprechung der Mahlzeitenprotokolle sollte darauf fokussieren, an welchem Ort und in Anwesenheit welcher Personen besonders viel oder besonders wenig gegessen wurde. Hierdurch können mögliche externale Auslösebedingungen von Essattacken (7 Kap. 2) wie »alleine zu Hause sein« oder Reize wie Essensgeruch oder Anblick von Nahrungsmitteln identifiziert und Hinweise auf Belastungssituationen (z. B. interpersonelle Konflikte) erhalten werden. Möglicherweise ergibt sich ein wiederkehrendes Muster, und oft sind die gleichen Personen involviert wie Eltern, Partner, Geschwister oder Arbeitskollegen. Daneben sollte überprüft werden, ob beispielsweise vor dem Fernseher gegessen und durch diese Ablenkung die Hunger-Sättigungs-Wahrnehmung
Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
Frau S.:
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zusätzlich beeinträchtigt wird. Des Weiteren können anhand der Mahlzeitenprotokolle Zusammenhänge zwischen bestimmten internalen Auslösebedingungen wie beispielsweise vorausgegangenen Emotionen und der Mahlzeitenaufnahme bzw. Essanfällen oder Nahrungsverweigerung aufgedeckt werden. Dieser Aspekt gestaltet sich mitunter zunächst schwierig, da viele Patienten Schwierigkeiten haben, Emotionen zu diskriminieren bzw. zu benennen. Aus der Literatur (zu einer Übersicht s. Legenbauer 2003) sind hinsichtlich möglicher beteiligter Emotionen Ärger, Enttäuschung und Frustration, Langeweile, Einsamkeit, Angst und Scham zu nennen. Auf der kognitiven Ebene werden häufig Gedanken wie »Ich muss mir jetzt etwas Gutes tun!« oder »Das war bestimmt zuviel eben« beschrieben (7 Kap. 2). Der folgende Dialog zeigt exemplarisch, wie die Besprechung eines solchen Mahlzeitenprotokolls aussehen könnte. Dem Patienten wird dabei klar, warum ein regelmäßiges Ernährungsverhalten sinnvoll ist.
Wenn Sie Ihr Mahlzeitenprotokoll betrachten, was fällt Ihnen dabei auf? Das Schreiben war schrecklich, ich hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wie viel ich gegessen habe. Wenn ich es aufschreibe, dann sieht es so viel aus. Hm, sieht das nur so aus, oder ist das tatsächlich so? Was glauben Sie? Na ja, für andere ist das sicher wenig und ich habe ja auch nicht zugenommen, von daher kann es nicht wirklich viel gewesen sein. Woran machen Sie denn fest, was viel ist und was nicht? Also, ich habe z. B. mittags fast eine halbe Seite voll geschrieben. Lesen Sie das mal vor. 0,5 l Wasser, 1/2 Apfel, 1 Joghurt (0,3% Fett) 1/2 Banane, je ein Löffel Haferflocken, Schrot und helle und dunkle Weizenkleie. 1 Backpflaume. Na ja, wenn ich das so lese, dann klingt das wahrscheinlich eher viel, weil viele verschiedene Sachen drin sind, aber dafür von allem wenig. Außerdem alles kalorienarm und fettreduziert, und das Wasser habe ich natürlich vor dem Essen getrunken. Ja. Das ist alles richtig: An diesem Tag haben Sie sehr kalorien- und fettreduziert gegessen, und abends steht hier ein Essanfall. Könnte es da einen Zusammenhang geben? Wie war das denn mit dem Hunger vor dem Essanfall? Na ja, Hunger hatte ich eigentlich keinen, aber eben so einen ganz starken Drang zu essen, dem ich irgendwann abends nicht mehr standhalten konnte. Ich habe ja versucht, erst ein bisschen Obst und Möhren zu essen, aber das ist mir dann entglitten. Könnte das starke Verlangen zu essen denn vielleicht doch Hunger gewesen sein? Sie haben seit dem Mittagessen bis 20 Uhr nichts gegessen und vor dem Mittagessen waren Sie
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Frau S.: Therapeut:
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1 Stunde schwimmen. Sie hatten nur Joghurt und Weizenkleie zum Frühstück und das Mittagessen bestand aus Salat. Dafür, dass Sie beim Schwimmen eine Menge Energie verbraucht haben, haben Sie sehr wenig gegessen. Wäre es da nicht erstmal normal, Hunger zu bekommen? Ja, wohl schon. Also könnte der Essanfall, den ich abends hatte, als es mir langweilig war und ich so unruhig war, wirklich auch daher kommen, dass ich zu lange nichts gegessen habe? Ja, das wäre eine Möglichkeit. Sie könnten z. B. ausprobieren, wie das ist, wenn Sie mehrmals täglich mehrere kleine Mahlzeiten zu sich nehmen. Diese würden verhindern, dass ein Essanfall aufgrund von Nahrungsmangel und Unterzuckerung entsteht.
Bei Patienten mit einer Anorexia nervosa können die Mahlzeitenprotokolle ähnlich analysiert und besprochen werden. Im Vordergrund steht hier allerdings die Nahrungsverweigerung, die häufig mit sehr positiven Gefühlen wie Stolz auf die eigene Disziplin, Gefühl von Kontrolle und Sicherheit, aber auch Überlegenheit gegenüber anderen einhergeht. Die Veränderung des Essverhaltens ist hier bedeutend schwieriger, da das Nicht-Essen vornehmlich mit positiven Konsequenzen verbunden ist, die negativen Konsequenzen, welche meist sozialer oder körperlicher Art sind, aber nur langfristig spürbar sind. An dieser Stelle kann beispielsweise noch einmal auf die bereits erarbeiteten kurzfristigen und langfristigen Folgen der Essstörung verwiesen werden (7 Kap. 6), um die Patienten zu motivieren, sich mit dem gestörten Essverhalten auseinanderzusetzen und Bereitschaft zur Veränderung zu entwickeln.
8.2.3
Etablierung strukturierter Esstage
Die Einführung sog. strukturierter Esstage (vgl. auch Waadt et al. 1992; Fairburn et al. 1993) geschieht mit dem primären Ziel, das meist chaotische Ernährungsverhalten von Patienten mit Bulimia nervosa bzw. das strenge Diätverhalten der Anorexiepatienten zu normalisieren. Hierbei werden die Patienten darin unterstützt, über den Tag hinweg regelmäßige und ausreichende Mahlzeiten zu etablieren. Hierdurch soll die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Heißhungerattacken, die auf physiologische und psychologische Deprivationszustände zurückgeführt werden können, gesenkt werden. Die bulimi-
schen Patienten sollen so selbst die Erfahrung machen, dass regelmäßige Mahlzeiten zur Verminderung von Heißhunger führen und außerdem, dass durch ein normales Essverhalten nicht zwangsläufig zugenommen wird. Zur Einführung der strukturierten Esstage wird zunächst mit dem Patienten vereinbart, an einem Tag der Woche solch einen strukturierten Esstag durchzuführen. Bei erfolgreicher Realisierung soll sich der Patient mit einer bereits vorher festgelegten Belohnung verstärken (vgl. Waadt et al. 1992). In der Therapiesituation wird nun zunächst anhand des oben beschriebenen Mahlzeitenprotokolls mit dem Patienten besprochen, welche Mahlzeiten er in den Tagesablauf einbauen möchte. Durch die vorangegangen Übungsschritte sollte der Patient in der Lage sein, möglichst eigenständig Vorschläge zur Umsetzung eines solchen strukturierten Esstags zu machen. Als Hilfestellung kann er zudem die Informationsbroschüre zur Ernährung (7 CD-ROM) nutzen, um zusätzliche Anhaltspunkte bei der Planung der Mahlzeiten zu erhalten. Die Broschüre beinhaltet Informationen darüber, wie ein ausgewogener Ernährungstag aussehen könnte. In der folgenden Übersicht ist ein Beispiel aus der Ernährungsbroschüre abgedruckt.
Ernährungsplan für einen Tag 4 7.15: Frühstück 4 1 Glas Orangensaft, 1 Portion Müsli (ca. 30 g), 200 ml Milch, 4 1 Brötchen, 1 Portion Butter oder Margarine, 1 EL Marmelade, 6
123 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
4 1 große Tasse Tee oder Kaffee
4 10.30: Zwischenmahlzeit 4 Tee oder Kaffee mit Milch, 1 Joghurt mit Obst 4 12.30: Mittagessen 4 1 Stück gegrilltes Fleisch, 80 g Reis, Brokkoli 4 Obstsalat, 4 1 Glas Mineralwasser 4 1 Tasse Kaffee oder Tee 4 15.30: Zwischenmahlzeit 4 Tee mit Milch, 4 1 Stück Obst oder Joghurt oder 2–3 Plätzchen oder 1 Riegel Schokolade 4 18.30: Abendessen 4 2 Scheiben Brot mit Käse und Tomatenscheiben, angemachter Salat, 4 2 Kugeln Vanilleeis mit 100 g heißen Himbeeren, 4 1 Glas Mineralwasser, 1 Tasse Tee mit Milch 4 Betthupferl 4 heißes Getränk mit Milch
Als Richtwerte für einen ausgewogenen Ernährungstag werden von Bents (1995) beispielsweise insgesamt 2000 kcal vorgeschlagen, wobei sich die Verteilung auf die Mahlzeiten wie folgt gestalten sollte: Frühstück 500 kcal; Zwischenmahlzeit 200 kcal; Mittagessen 600 kcal; Zwischenmahlzeit 200 kcal; Abendessen 500 kcal. Andere Autoren berichten vor allem bei anorektischen Patienten von einem Minimum von 2500 kcal pro Tag (Winston u. Webster 2003). Die vom Organismus verwertete Energie lässt sich in drei Komponenten aufteilen und zwar in 4 den Grundumsatz (bzw. Ruheumsatz), d. h. die Energie, die für alle lebensnotwendigen Funktionen des Körpers in Ruhe zur Verfügung stehen muss, 4 die Energie, die für eine Verstoffwechselung der Nahrung erforderlich ist, und 4 den Leistungsumsatz, d. h. die für Aktivität und Bewegung gebrauchte Energie.
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Der Grundumsatz kann bei essgestörten Patienten reduziert sein, was zu einer anfänglich überschießenden Gewichtszunahme im Rahmen der Normalisierung des Essverhaltens führen kann. Es scheint jedoch, dass sich eine übermäßige Fettanlagerung innerhalb eines Jahres wieder reguliert (Garner 1997). Wenn die Durchführung der strukturierten Esstage einmal pro Woche gut klappt, wird die Strukturierung Schritt für Schritt auf mehrere Tage ausgedehnt, bis jeden Tag geregelte Mahlzeiten eingenommen werden (Wandt et al. 1992). Zusätzlich kann den Patienten das . Arbeitsblatt 8.4 »Wege zur Veränderung« vorgelegt werden, auf welchem verschiedene Maßnahmen zur Strukturierung des Ernährungsverhaltens beschrieben sind. Bei der Erstellung eines strukturierten Esstages sind neben Anzahl und Zusammensetzung der Mahlzeiten situative Faktoren wie Ort, Umgebungsbedingungen (Musik, Fernsehen) und Genussaspekte zu beachten. Mit dem Patienten kann anhand des . Arbeitsblattes 8.4 überlegt werden, welche Maßnahmen er sich bis zur nächsten Therapiesitzung auch außerhalb des strukturierten Esstages vornimmt. Diese Wochenziele sollten in das . Arbeitsblatt 8.5 »Wie ich mein Ernährungsverhalten verändern möchte« eingetragen werden. Auf dem Arbeitsblatt sind zwei Spalten, in welche zum einen bisherige Diätregeln und zum anderen die angestrebten Veränderungen hinsichtlich des Ernährungsverhaltens eingetragen werden sollen (Beispiele im . Arbeitsblatt 8.5B). Bei Patienten, die große Schwierigkeiten haben, eine Tagesstrukturierung des Essens durchzuführen, was oft bei Anorexiepatienten aufgrund der besonders ausgeprägten Angst vor einer Gewichtszunahme der Fall sein kann, ist ein gestaffeltes Vorgehen wie die Planung nur einer normalen Mahlzeit als Alternative zu Beginn in Betracht zu ziehen. Dabei sollten anhand des . Arbeitsblattes 8.4 »Wege zur Veränderung« einzelne Schritte für jeden Tag der nächsten Woche geplant werden, um schrittweise die Anzahl der Mahlzeiten zu erhöhen. Dazu kann das Ernährungsprotokoll herangezogen werden, um gemeinsam mit dem Patienten zu überlegen, welche der bisher ausgesparten und vermiedenen Mahlzeiten in den Essensplan eingebaut werden können, z. B. zum Frühstück statt ausschließlich Kaffee zu trinken einen Apfel und ein Brötchen zu essen.
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
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. Arbeitsblatt 8.4. Wege zur Veränderung
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. Arbeitsblatt 8.5B. Wie ich mein Ernährungsverhalten verändern möchte
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Falls sehr viele einzelne Nahrungsmittel vermieden werden, kann zudem eine Liste der sog. »verbotenen« und »erlaubten« Nahrungsmittel erstellt werden (vgl. Fairburn et al. 1993; Legenbauer u. Vögele 2004) und mit dem Patienten vereinbart werden, diese nach und nach in den Mahlzeitenplan aufzunehmen . Arbeitsblatt 8.6). Dazu ist ein erstes kognitives Intervenieren notwendig, um die mit den jeweiligen Nahrungsmitteln assoziierten Ängste und Fehlannahmen zu erfragen und den Patienten anzuregen, diese zu hinterfragen und zu verändern. Die Speisen sollten zudem immer wieder verzehrt werden, um zu gewährleisten, dass die Nahrungsmittel ohne Schwierigkeiten dauerhaft in den Speiseplan integriert sind. Der Abbau des Verzichts auf »verbotene« Lebensmittel dient dabei der Verhinderung von Heißhungerattacken, insofern Verbote die Attraktivität des betroffenen Lebensmittels erhöhen und die Gefahr des Kontrollverlusts mit der Stärke eines wachsenden Verlangens immer größer wird. Sobald der Patient einem Lebensmittel angstfrei gegenüber steht und dieses regelmäßig verzehrt werden kann, wird es von der Verbotsseite der Liste gestrichen und auf der Erlaubtseite ergänzt. Auf . Arbeitsblatt 8.6 sind zwei Felder, in welche jeweils die Nahrungsmittel (verboten bzw. erlaubt) eingetragen werden können und die Begründung für das Verbot bzw. die Erlaubnis angegeben werden kann (Beispiel . Arbeitsblatt 8.6B). Die strukturierten Esstage dienen anfangs als Hilfestellung zur Etablierung eines geregelten Essverhaltens und als Modell dafür, wie eine regelgerechte Mahlzeitenstruktur aussehen kann. Nach und nach sollte jedoch nicht nur die Häufigkeit, sondern auch deren Struktur flexibler gestaltet werden: So kann im Laufe der Zeit nur noch die Anzahl der Mahlzeiten (3 Haupt- + 2 Zwischenmahlzeiten), welche eingenommen werden sollten, vereinbart werden. Der Patient kann dann aber in der Situation »spontan« auswählen, was er genau essen will. Die Nachbesprechung der Mahlzeiten an solch »freien« Esstagen anhand der Mahlzeitenprotokolle ist wichtig, um mögliche Schwierigkeiten oder Fehler in der Nahrungszusammenstellung, wie zu geringe Mengen, zu identifizieren.
8.2.4
Maßnahmen zur Gewichtssteigerung und -stabilisierung
Trotz des meist hohen Leidensdrucks bezüglich der Folgen der Unterernährung (z. B. Haarausfall, Konzentrationsmangel) besteht zumeist eine ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme, welche sowohl bei Patienten mit Anorexia nervosa trotz der Auszehrung und des objektiv viel zu niedrigen Gewichtes als auch bei der Bulimia nervosa vorhanden ist, so dass die Motivationslage hinsichtlich des Einsatzes von Gewichtssteigerungsprogrammen zumeist ambivalent ist (7 Kap. 6). Die Therapievereinbarungen hinsichtlich des Gewichts sind meist ein brisanter Punkt in der Behandlung und sollten deshalb keinesfalls im Gruppensetting erfolgen, sondern bereits zu Behandlungsbeginn im Einzelgespräch festgelegt werden. Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über die existierenden Programme zur Gewichtssteigerung und -stabilisierung. Sie basieren auf operanten Verstärkerprogrammen und sind im deutschsprachigen Raum beispielsweise bei Jacobi und Kollegen (2000), Borgart u. Meermann (2004) sowie im internationalen Raum bei Garner et al. (1997) und Treasure et al. (2003) nachzulesen. Vorgeschlagen werden vor allem für das stationäre Setting gestufte Vorgehensweisen, welche in Selbst- und Fremdbestimmungsphasen aufgeteilt sind. Selbstbestimmung bezieht sich dabei auf eine eigenständige Regulation von Aktivitäten und Nahrungsaufnahme, Fremdbestimmung beinhaltet die Regulierung dieser Bereiche durch den Therapeuten. Dabei kann die Fremdbestimmungsphase noch einmal in drei unterschiedliche Stufen aufgeteilt werden (z. B. Jacobi et al. 2000). Ist das Gewichtsziel erreicht, kommt es zu einer Stabilisierungsphase, bei Nichterreichen des Gewichtsziels trotz des Fremdkontrollprogramms wird ein sehr striktes Einschränkungsprogramm eingesetzt. Die einzelnen Stufen und Behandlungsschritte werden im Folgenden beschrieben.
Gewichtssteigerungsvertrag Im ambulanten Setting sollte gleich zu Beginn der Behandlung eine klare Absprache zum Umgang mit Gewichtsabnahme oder Ausbleiben einer vereinbarten Gewichtszunahme vor allem bei Anorexiepatienten erfolgen, um Verhandlungen und »Feilschen« in den zeitlich begrenzten Therapiegesprächen zu vermeiden. Die frühzeitige Vereinbarung des thera-
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. Arbeitsblatt 8.6B. Was ich mir verbiete und warum
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
peutischen Vorgehens bei Gewichtsabnahme bestenfalls vor Therapiebeginn soll zudem für den Patienten motivierend sein und eigenverantwortliches Handeln stärken. Es ist wichtig, dass der Patient eine mögliche Einweisung in ein Allgemeinkrankenhaus zur Zwangsernährung aufgrund einer Gewichtabnahme nicht als Bestrafung oder Ablehnung versteht, sondern als eigenverantwortliche Konsequenz aus seinem Verhalten heraus begreift. Gemäß den Richtlinien des National Institute for Clinical Excellence (NICE) zur Behandlung von Essstörungen aus dem Jahre 20041 wird eine Gewichtszunahme von 500–1000 g pro Woche bei stationären Aufenthalten und von 500 g im ambulanten Setting empfohlen. Die Gewichtszunahme von 500–1000 g pro Woche erfordert dabei zwischen 3500–7000 Kalorien zusätzlich zum normalen Wochenbedarf (NICE 2004). Eine Studie von Herzog et al. (2004) konnte in diesem Zusammenhang zeigen, dass Gewichtssteigerungsprogramme mit eher niedrigem Gewichtsziel (500 g Gewichtszunahme pro Woche) deutlich bessere Ergebnisse erzielten, als Gewichtssteigerungsprogramme mit höheren Gewichtszielen (750 g pro Woche). Herzog (2000) wies zudem nach, dass eine langsamere Gewichtszunahme bei ambulanten Patienten (500 g pro Woche) auch nach Ende der Behandlung stabil blieb gegenüber den häufig raschen Gewichtsabnahmen nach stationären Programmen. Es zeigte sich allerdings, dass bei hohen Gewichtszunahmezielen im stationären Setting auch höhere Gewichtszunahmen (360 vs. 550 g, pro Woche) verzeichnet wurden, ohne dass größere Probleme bei der Zunahme auftraten (Solanto et al. 1994). Einschränkend ist zu bemerken, dass ein restriktives Regime, welches im stationären Setting häufig mit Bettruhezeiten bzw. Zimmerarrest einhergeht, für die Patienten meist eine größere psychologische Belastung darstellt (Griffiths et al. 1998). Des Weiteren sollte beachtet werden, dass eine maximale Gewichtszunahme von 3 kg pro Woche nicht überschritten wird, da die Patienten damit meist überfordert sind und zudem medizinische Komplikationen wie die Bildung von Ödemen auftreten können (vgl.
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Die Verfassung von Richtlinien zur Behandlung von Essstörungen für den deutschsprachigen Raum ist derzeit in Arbeit.
auch Borgart u. Meermann 2004). Eine größtmögliche Transparenz in der Besprechung der Therapieziele und des Vorgehens im Rahmen des Gewichtssteigerungs- bzw. -stabilisierungsprogramms ist daher notwendig. Das Zielgewicht wird unterschiedlich definiert (vgl. Winston u. Webster 2003), es sollte allerdings nicht unter einem BMI von 18 kg/m2 liegen, da die Rückbildung der Stoffwechselveränderungen sonst nicht gewährleistet ist und damit eine erhöhte Rückfallgefahr besteht (Pirke 1989). Gewichtsverträge sind nicht im Gruppensetting durchzuführen, sondern sollten frühestmöglich mit dem Patienten vereinbart werden. Dazu gehört eine Vermittlung über das stationäre/ambulante Behandlungskonzept und die Klärung, wer die Gewichtsüberwachung übernimmt. Im ambulanten Setting ist das geeigneterweise der Hausarzt, der ein regelmäßiges Gewichtsmonitoring durchführt, da dieser meist über regelmäßig geeichte Waagen verfügt und den Patienten auch ohne weitere Schwierigkeiten in Unterwäsche wiegen kann. Dies ist sinnvoll, um mögliches Schummeln der Patienten durch in der Kleidung versteckte Gewichte zu verhindern. Im stationären Setting sollte das Wiegen von der Stationsschwester vorgenommen werden. Im . Arbeitsblatt 8.7 ist ein Beispiel für einen Gewichtssteigerungsvertrag dargestellt. Dieser beinhaltet eine Einverständniserklärung zur Gewichtszunahme und eine Einwilligung in damit verbundene Maßnahmen wie regelmäßige Mahlzeiten (3+2), die Vermeidung von Lightprodukten und das Unterlassen von Gegenmaßnahmen wie Sport oder Erbrechen. Zudem sollten die zu erwartenden Konsequenzen einer Gewichtsabnahme oder einer fehlenden Gewichtszunahme individuell abgesprochen und ergänzend in den Vertrag eingefügt werden.
Selbstbestimmungsphase Zunächst soll eine Phase der Selbstbestimmung stattfinden, in der ein Patient ohne äußere Restriktion versucht, die zuvor vereinbarte Gewichtszunahme zu erreichen. Das Gewicht sollte in dieser Phase ca. zwei Mal die Woche kontrolliert werden, um dem Patienten den Stand zurückzumelden und ihm beispielsweise weitere Maßnahmen zur Zielerreichung wie Einschränken der Bewegung oder Erhöhung der Kalorienzahl zu ermöglichen. Jacobi und Kollegen (2000) schlagen den Zeitraum von zwei Wochen im
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. Arbeitsblatt 8.7. Gewichtszunahmevertrag
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Selbstmanagement vor, Borgart und Meermann (2004) nennen einen Zeitraum von einer Woche als »Probezeit«. Der Erfolg der Patienten im Rahmen des Selbstmanagements liegt bei ca. 20–30% (Jacobi et al. 2000). Erfolgreiche Patienten verbleiben dann in der Selbstmanagementphase. Gelingt die vereinbarte Gewichtszunahme in diesem Zeitraum nicht, wird mit der Fremdkontrollphase begonnen.
Fremdkontrollphase
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Fremdkontrollprogramme basieren auf operanten Verstärkersystemen. Sie beinhalten in diesem Zusammenhang die Regulierung von Aktivitäten und Nahrungsaufnahme durch den Therapeuten. Dazu werden bestimmte Regeln aufgestellt und diese in Therapieverträgen mit den Patienten festgelegt. Neuere Programme der Fremdkontrolle sind meist in drei Phasen unterteilt, in denen unterschiedliche Restriktionen bzw. Belohnungen greifen und Freiheitsgrade gelten, die sich an der Gesamtgewichtszunahme orientieren (vgl. Borgart u. Meermann 2004; Jacobi et al. 2000). Im Rahmen dieser drei Phasen sollte der Patient in jeder Phase ein Drittel der Differenz zum Zielgewicht zunehmen und verbleibt dementsprechend lange in der jeweiligen Phase. Erste Phase. In der ersten Phase der Fremdkontrolle erfolgt das Essen auf dem Zimmer, wobei normale Portionen ausgewogener Mahlzeiten serviert werden und zusätzlich zwei Snacks eingenommen werden müssen. Telefonate oder Besuche sind nicht erlaubt, und die Station darf meist nur für medizinische Untersuchungen, psychologische Tests oder therapeutische Aktivitäten verlassen werden. Dies geschieht nicht aus Gründen der Bestrafung. Der Entzug dieser Freiheiten stellt die Basis des Verstärkerprogramms und dient dazu, die Patienten dazu anzuhalten, sich mit ihrer Erkrankung auseinanderzusetzen und nicht durch Außenkontakte Ablenkung und Tröstung zu erfahren. Zweite Phase. Die zweite Phase gilt bis zum Errei-
chen von zwei Dritteln der Differenz zum Zielgewicht. Dabei werden die Mahlzeiten im Speiseraum eingenommen. Der Aufenthalt ist nicht mehr nur auf die Station beschränkt, und die Klinik darf nach Absprache verlassen werden. Besuche von außerhalb sind am Wochenende erlaubt.
Dritte Phase. In der dritten Phase, welche bis zur
Erreichung des Zielgewichtes gilt, bestehen keine weiteren Einschränkungen. Das Vorgehen entspricht dem der Selbstmanagementphase.
Stabilisierungsphase und Gewichthalteverträge Wenn das Zielgewicht erreicht ist, schließt sich eine Stabilisierungsphase an. Diese dient dazu zu prüfen, ob es den Patienten gelingt, das erzielte Gewicht zu halten. Kann das Zielgewicht nicht gehalten werden, wird eine kurzfristige Rückstufung in die erste Phase vorgeschlagen, um die Gewichtsabnahme wieder aufzuholen. Gelingt dies trotz der Rückstufung nicht, wird die erneute Aufnahme des Fremdkontrollprogramms in individualisierter Form geraten. Bei der Gewichtsstabilisierung wird ein ähnliches Vorgehen gewählt. Hierbei wird ein Gewichthaltevertrag (. Arbeitsblatt 8.8) abgeschlossen, welcher ähnlich wie der Gewichtssteigerungsvertrag eine Einverständniserklärung mit dem Zielgewicht und damit verbundenen Maßnahmen beinhaltet (. Arbeitsblatt 8.7). Kann der Patient das Eingangsgewicht nicht halten, wird ähnlich wie bei den Gewichtssteigerungsprogrammen die Ausübung der Fremdkontrolle eingesetzt, bis das ursprüngliche Gewicht wieder erreicht ist. Auch hier gilt, dass die Reglungen für den Patienten transparent gemacht und vor allem konsequent eingehalten werden sollen.
Ausnahmeregelung: Einschränkungsprogramme bei Versagen der Fremdkontrollphase Wird trotz des Fremdkontrollprogramms keine Gewichtszunahme erreicht, so greifen Ausnahmereglungen (Jacobi et al. 2000) oder Einschränkungsprogramme (Borgart u. Meermann 2004), welche neben Zimmerarrest und Besuchsverbot auch ein eingeschränktes Therapieprogramm beinhalten. Die Einschränkung des Therapieprogramms geht darauf zurück, dass die Patienten meist ein Interesse daran haben, an den Therapien teilzunehmen, durch den Ausschluss davon kann die Motivation zur Gewichtszunahme vergrößert werden. Das Einschränkungsprogramm gilt zunächst für drei Tage und geht danach in die ursprüngliche Behandlungsphase zurück mit der Vorgabe, das für die Woche angestrebte Gewicht weiter zu erreichen. Borgart und Meer-
131 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
. Arbeitsblatt 8.8. Gewichtshaltevereinbarung
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132
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
mann (2004) beschreiben beispielsweise eine Gewichtszunahme von 100 g pro Tag nach Ende der Einschränkungsphase bis zum Wiegestichtag.
Ausnahmeregelung: Zusatznahrung und Zwangsernährung
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Gelingt die Gewichtszunahme nicht allein durch die Einnahme der vorgegebenen Mahlzeiten, kann eine hochkalorische Zusatznahrung in Form von Proteinaufbaugetränken durch den Stationsarzt bzw. dem Hausarzt verschrieben werden. Führt auch das nicht zur Gewichtszunahme, können notfalls weitere invasive Maßnahmen wie die Ernährung durch die Sonde durchgeführt werden. Dies ist jedoch nur im äußersten Notfall zu tun. Bestenfalls erklärt sich der Patient mit dem Vorgehen einverstanden. Das Ziel des Erlernens eines geregelten Essverhaltens rückt bei diesem Vorgehen in den Hintergrund, da es hierbei primär um die Gewichtszunahme des Patienten geht. Eine psychotherapeutische Unterstützung einer solch invasiven Maßnahme ist dabei unabdinglich, um eine Verfestigung der Essstörung und mögliche Reaktanz durch die Autonomieverletzung des Patienten zu vermeiden und die weitere Behandlungsmotivation zu erhöhen. Wie bei allen operanten Therapieprogrammen ist sowohl im Selbstmanagement als auch in der Fremdkontrollphase die Belohnung der Zielerreichung von Bedeutung. Es sollten hier mit dem Patienten individuelle Verstärker erarbeitet werden. Im ambulanten Setting können dies verwöhnende Tätigkeiten, das Gönnen eines Buches, von Kleidung oder Parfüm sein, im stationären Setting sollten dies Lockerungen der Restriktionsregeln sein wie Besuchserlaubnis, Ausgang am Wochenende etc. Ist ein Patient trotz dieser Maßnahmen auch im Rahmen einer stationären Behandlung nicht bereit, zu kooperieren und an Gewicht zuzunehmen, kann eine Zwangsernährung durch einen Richter erwirkt werden. Dieses Vorgehen ist kritisch zu reflektieren und hat bereits zu größeren Diskussionen um die ethischen Gesichtspunkte dieser Frage in der Literatur zur Folge gehabt (vgl. MacDonald 2002; Goldner et al. 1997). Letztendlich sollte das Mittel der Zwangsernährung nur als letzte Behandlungsmöglichkeit gewählt werden, wenn das Gewicht des Patienten einen lebensbedrohlichen Zustand erreicht hat.
8.2.5
Exkurs: Wahrnehmung von Hunger und Sättigung
Die Vorraussetzung für die Etablierung, eines natürlichen Hunger- und Sättigungsgefühls, ist die regelmäßige Einnahme von Mahlzeiten und die Aufhebung des Mangelzustandes. Vorbereitend zur Sensibilisierung für Hunger und Sättigung sollte daher die Strukturierung und Normalisierung des Essverhaltens erarbeitet werden. Die Sensibilisierung für Hunger und Sättigung kann dann im nächsten Schritt über die Vermittlung von Informationen über Hunger- und Sättigungsmechanismen und den Einsatz von Selbstbeobachtungsprotokollen erreicht werden. Daher werden im Folgenden zunächst die Grundlagen des Hunger-Sättigungs-Mechanismus dargestellt, um abschließend anhand eines Beispiels Möglichkeiten der Sensibilisierung aufzuzeigen. Die Regulation der Nahrungsaufnahme ist, wie bereits zu Beginn des Kapitels beschrieben, ein komplexer psychophysiologischer Prozess. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Appetit, Hunger und Sättigung. Diese beinhalten die Wahrnehmung und Bewertung verschiedener Körpersignale, welche für die Steuerung der Nahrungsaufnahme von zentraler Bedeutung sind. Appetit wird dabei als Motivation zu essen verstanden und ist häufig auf bestimmte Nahrungsmittel ausgerichtet. Hunger ist ein eher unangenehmes bis teilweise schmerzhaftes Verlangen, etwas zu essen. Er bezieht sich nicht immer auf spezifische Lebensmittel. Mit Sättigung wird das Stoppsignal umschrieben, das zur Beendigung der Nahrungsaufnahme beiträgt und durch die Aufnahme von Nahrung ausgelöst wird. Zu einer ausführlichen Übersicht s. Birbaumer und Schmidt (1991). Appetit und Sättigung sind meist erlernte Reaktionen nach dem Schema der klassischen Konditionierung z. B. als Reaktion auf körpereigene Signale, Reize aus der Umwelt sowie soziale, kognitive oder emotionale Umstände (z. B. wenn ohne Hunger gegessen wird oder eine Mahlzeit beendet wird, ohne dass eine Sattheit eingetreten ist [Pudel u. Westenhöfer 1998]). Die besonderen Eigenschaften der Nahrungsmittel wie Geschmack, Geruch und Aussehen spielen ebenfalls eine Rolle. Appetit und Hunger führen als Startsignale zum Beginn der Nahrungsaufnahme, während Sättigung das Ende der Mahlzeit bewirkt und darüber hinaus über eine gewisse Zeit eine erneute Mahlzeit verhin-
133 8.2 · Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens
dert (Sattsein). Sättigung oder Sattsein tritt nicht plötzlich ein, sondern ist ein Prozess, der durch verschiedene Komponenten beeinflusst wird. Dieser wird als Sättigungskaskade bezeichnet, da Sättigung bzw. Sattsein während und nach der Nahrungsaufnahme von sensorischen und kognitiven Prozessen sowie postingestionalen und postresorptiven Effekten beeinflusst wird. Sensorische Effekte bezeichnen Sättigungssignale, die durch die Wahrnehmung spezifischer Sinnesqualitäten wie salzig oder bitter ausgelöst wird. Werden Nahrungsmittel mit einer anderen sensorischen Qualität (z. B. süß) angeboten, kann es trotz einer ersten Sättigung zu weiterer Nahrungsaufnahme kommen. Diesem Phänomen kann die alltägliche Erfahrung zugeordnet werden, dass man nach einer umfangreichen Hauptmahlzeit zwar satt ist, aber ein Nachtisch trotzdem noch gegessen werden kann. Das Gleiche gilt für opulente mehrgängige Menüs oder Essanfälle: Erst die Abwechslung der Geschmacksrichtungen durch die verschiedenen Gänge schafft die Möglichkeit und Voraussetzung dafür, dass die angebotene Nahrungsmenge und -vielfalt gegessen werden kann. Die Sättigung stellt sich in solch einem Fall erst später ein. Kognitive Prozesse (d. h. Einstellungen, Werturteile) beruhen auf Meinungen und Einstellungen gegenüber bestimmten Lebensmitteln. Am Beispiel des gezügelten Essverhaltens wird deutlich, das der vermutete (nicht der tatsächliche) Kaloriengehalt der verzehrten Nahrung einen deutlichen Einfluss
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darauf hatte, wie viel dann tatsächlich gegessen wird. Verschiedene Studien bestätigen dies (Pudel u. Westenhöfer 1998). Postingestionale Effekte setzen nach der Nahrungsaufnahme ein. Sie basieren auf der Magendehnung, der Entleerungsrate des Magens sowie der Ausschüttung von Hormonen und Stimulation von Chemorezeptoren im Magen und oberen Dünndarmabschnitt. Mit postresorptiven Prozessen sind die Mechanismen gemeint, die durch die Aufnahme der Nährstoffe bzw. durch ihre verschiedenen Stoffwechselprodukte eine Sättigung bewirken und beispielsweise anhand der Konzentration des Blutzuckers gemessen werden. Bei der Entstehung des Sättigungsgefühls wirken alle diese Prozesse und Mechanismen zusammen. Sie überschneiden sich in ihrer zeitlichen Wirkung und führen insgesamt zu einem kombinierten Sättigungsprozess, bei dem auch Lernprozesse wie die bisherige Größe der Mahlzeiten und Ähnliches mitwirken. Um die Patienten nun für Hunger und Sättigungsprozesse zu sensibilisieren, sollten die oben beschriebenen Informationen in der Gruppe oder im Einzelgespräch besprochen werden. Dabei sollte mit den Patienten gemeinsam überlegt werden, woran sie erkennen können, welche körperlichen Signale es für Hunger und welche für Sattheit gibt (vgl. Craighead u. Allen 1995). Die Informationen über Hunger- und Sättigung finden sich in der Informationsbroschüre für Ernährung (7 CD-ROM) für Patienten aufbereitet. Der folgende Dialog ist ein Beispiel für diese Übung:
Wer von Ihnen kennt denn noch Hunger und Sattheit? Ich kann mich da kaum dran erinnern. Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt vor meiner Bulimie ein natürliches Hunger- und Sättigungsgefühl gehabt habe. Hm, lassen Sie uns mal überlegen, woran man Hunger bzw. Sattheit überhaupt erkennen kann. Haben Sie eine Idee? Naja, satt bin ich, wenn nichts mehr reingeht, und wann ich Hunger habe, weiß ich gar nicht. In der Informationsbroschüre stand ja beschrieben, wie Hunger- und Sattheit entstehen. Lassen Sie uns anhand dieser Informationen mal gemeinsam überlegen, wann Hunger auftreten könnte und woran Sie das merken könnten. In der Broschüre stand, dass Hunger dann entsteht, wenn der Körper zu wenig Energie zur Verfügung hat und dass es teilweise ein schmerzhaftes Verlangen sein kann. Bei meinem Freund ist es so, dass der Magenknurren hat, wenn er Hunger hat, und manchmal wird er auch ganz schön grantig, wenn er dann nichts zu essen bekommt.
134
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Therapeut:
Frau S.: Therapeut:
Frau S.: Therapeut: Frau S.:
8 Therapeut:
Frau S.: Therapeut:
Frau S.: Therapeut:
Ja, das kann daran liegen, dass er unterzuckert ist und dadurch gereizt wird. Das heißt, dass Magenknurren oder ein Ziehen im Magen ein deutliches Zeichen von Hunger sind. Auch Müdigkeit zum Beispiel oder so etwas, wie sich erschöpft fühlen, kann ein Zeichen dafür sein, dass der Körper neue Energie benötigt. Das ist dann aber schon ziemlich spät oder? Dann muss ich ja schon richtig hungrig sein. Ja genau, meist hat man vorher Appetit auf bestimmte Speisen. Zum Beispiel auf Süßes, wenn der Körper viele Kohlenhydrate benötigt oder auf Salziges, wenn Sie zum Beispiel Alkohol getrunken haben. Das heißt, unser Körper signalisiert uns mit Appetit, was er jetzt braucht. Es gibt ja auch das Sprichwort »Mir läuft das Wasser im Munde zusammen«. Das wäre dann beispielsweise die Vorbereitung des Körpers auf eine Nahrungsaufnahme bzw. das Signal, dass Nahrung aufgenommen werden sollte. Wir merken also an diesen Signalen, dass Hunger da ist. Woran können Sie denn nun Sattheit erkennen? Das ist ja so schwierig. Lassen Sie uns noch mal überlegen. Wenn Sie beginnen zu essen und Hunger haben, schmecken Ihnen dann die Speisen? Ich weiß ja nicht so recht, wann ich Hunger habe, aber ich merke, dass ich manchmal mit Appetit esse und es mir schmeckt, und manchmal stochere ich nur so im Essen rum und habe nicht viel Lust. Ja, gut, wenn Sie also mit Appetit essen und es Ihnen schmeckt, können wir davon ausgehen, dass Sie tatsächlich Hunger hatten. Bleibt der Appetit die ganze Zeit gleich oder verändert er sich? Der geht irgendwann weg und das Essen schmeckt nicht mehr so gut. Genau, wenn Sättigung eintritt, dann signalisiert der Körper, dass das Essen nicht mehr so gut schmeckt, weil er davon genug hat. Eine weitere Möglichkeit ist durch die Magenausdehnung ein Sättigungssignal zu bekommen. Das funktioniert meist bei Patienten mit Essanfällen nicht mehr so gut, weil durch die großen Mengen der Magen stärker gedehnt ist und daher diese Sättigungssignale sehr spät eintreten. Bei Patienten mit Magersucht dagegen treten diese Signale sehr früh auf, da hier die Nahrungsaufnahme sehr eingeschränkt ist und daher der Magen sozusagen Essen nicht gewöhnt ist. Heißt das jetzt, dass ich keine Sättigung empfinden kann? Nein, das heißt nur, dass Sie besser darauf achten müssten. Also beispielsweise beim Essen langsamer kauen, das Besteck beiseite legen, sich auf den Geschmack konzentrieren und immer wieder überlegen, wie viel Lust Sie haben, weiter zu essen. Können Sie sich vorstellen, das mal auszuprobieren?
Um die Aufmerksamkeit auf Hunger- und Sättigungssignale zu lenken, eignet sich auch der Einsatz von Essprotokollen. Dazu kann beim Ausfüllen der Mahlzeitenprotokolle das Hungergefühl vor und nach der Mahlzeit erfasst werden. Dies kann durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die im Zusammenhang mit Hunger und Sattheit beschriebenen Körpersignale geschehen. Der Patient sollte dazu angehalten werden, während einer Mahlzeit immer wieder in sich hineinzuhorchen, und das bestehende Hungergefühl bzw. den Sättigungsgrad zu spüren. Zu Beginn und am
Ende der Nahrungsaufnahme sollte daher das Hunger- bzw. das Sattheitsgefühl in das Protokoll eingetragen werden (vgl. auch Craighead u. Allen 1995).
8.2.6
Gemeinsames Kochen
Als letzten Interventionsbaustein zur Normalisierung des Essverhaltens möchten wir noch das gemeinsame Kochen vorstellen. Dies ist insbesondere im stationären Setting gut umsetzbar, im ambulan-
135 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
ten Therapiesetting kann ein gemeinsames Kochen als Expositionsübung geplant und durchgeführt werden. Studien zur Evaluation sind uns nicht bekannt, es gibt allerdings verschiedene Behandlungskonzepte sowohl tagesklinischer als auch stationärer Art, die diesen Interventionsbaustein beschreiben (Gerlinghoff et al. 1997; Borgart u. Meermann 2004). Ziel einer solchen Intervention ist, die Patienten zu einem entspannteren Umgang mit Nahrungsmitteln anzuleiten sowie die Fähigkeit zur Selbstversorgung zu schulen und die Abneigung gegen die Zubereitung warmer Speisen zu mindern. Zusätzlich kann es dazu beitragen, die Selbstkontrollfähigkeiten bulimischer Patienten in Versuchungssituationen wie Einkaufen und Kochen zu steigern. Es wird allerdings empfohlen, erst im späteren Verlauf der Behandlung mit diesem Verfahren zu beginnen. Zur Umsetzung sollten die Patienten möglichst eigenständig die Mahlzeiten planen und die notwendigen Lebensmittel einkaufen. Idealerweise steht ein Ökotrophologe zur Planung der geplanten Mahlzeiten zur Verfügung. Es sollte zudem darauf
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geachtet werden, dass keine Zutaten mit Zucker oder hohem Fettgehalt vermieden werden. Des Weiteren sollten die Patienten dazu angehalten werden, nicht nur ein Hauptgericht zuzubereiten, sondern auch Nachtisch oder Vorspeise einzuplanen. Im Anschluss an das gemeinsame Kochen sollten die zubereiteten Speisen zusammen gegessen werden. Dabei sollten Genussregeln (7 Kap. 13) beachtet werden wie beispielsweise den Tisch ansprechend zu decken, um eine angenehme Atmosphäre herzustellen. Auch die Durchführung von »Schweigeessen« zum Training der Achtsamkeit gegenüber Geschmacksempfinden und Sattheitsgefühlen sind zu empfehlen. Das Kochen und Essen sollte zudem therapeutisch begleitet werden und hinsichtlich des Erlebens der Patienten nachbesprochen werden. Es kann Aufschluss über verstecktes (unbewusstes) Vermeidungsverhalten und dysfunktionale Annahmen über die Zubereitung von Speisen oder Wahrnehmungsfehler hinsichtlich der Nahrungsmenge geben. Dazu können folgende Fragen gestellt werden:
4 Wie ist es Ihnen heute beim Kochen ergangen? 4 Gab es Schwierigkeiten bei der Zubereitung der Speisen? Bei welchen Speisen war dies der Fall? Was genau war schwierig? 4 Gab es etwas, was Ihnen beim Kochen Spaß gemacht hat? 4 Wie schätzen Sie die Nahrungsmenge ein, die Sie verzehrt haben? 4 Wie hat das Einkaufen geklappt? Gab es Schwierigkeiten aufgrund der Vielzahl der Lebensmittel? Wenn ja, wie sind Sie damit umgegangen?
8.3
Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
Nachdem im obigen Abschnitt der Aufbau eines strukturierten und geregelten Essverhaltens thematisiert wurde, geht es im Folgenden nun um die Reduktion von Heißhungerattacken und Erbrechen. Diese treten vor allem bei Patienten mit einer Bulimia nervosa auf, sind aber auch bei der Anorexia nervosa vom Binge Eating-/Purging-Typus zu finden. Der folgende Teil des Ernährungsmanagements ist unterteilt in die Analyse von Auslösesituationen für Essattacken und Erbrechen und daraus abzuleitende Maßnahmen zu
deren Verhinderung. Mögliche Auslösesituationen können dabei in Anlehnung an die Funktionalität von Essanfällen drei Kategorien zugeordnet werden: 1. Diätverhalten und Fasten, 2. dysfunktionale Affektregulation und 3. automatisierte Abläufe und Gewohnheiten (vgl. auch Legenbauer u. Vögele 2004). Abschließend wird als weitere Maßnahme zur Reduktion von Heißhunger das Verfahren der Nahrungsexposition vorgestellt. In der folgenden Übersicht sind die für diesen Abschnitt notwendigen Arbeitsmaterialien, Übungen und Arbeitsblätter aufgelistet.
136
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Übungen: 4 Exemplarische SORK-Analyse einer Auslösesituation (Flipchart) 4 Analyse von Mahlzeitenprotokollen (Kleingruppe) 4 Optional: Nahrungsexposition
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte 4 Optional: Süßigkeiten
Arbeitsblätter:
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4 Analyse eines Essprotokolls (. Arbeitsblatt 8.9) 4 Auslöser für Essanfälle (. Arbeitsblatt 8.10/ 8.10B) 4 Gegenmaßnahmen bei Essattacken (. Arbeitsblatt 8.11) 4 Was im Notfall hilft (. Arbeitsblatt 8.12)
tacken vorrangig durch Fastenperioden getriggert werden, sollte zunächst eher die Etablierung eines regelmäßigen Essverhaltens (7 Abschn. 8.2.4) im Vordergrund stehen als beispielsweise der Aufbau von Emotionsregulationskompetenzen (z. B. Joggen). Letztere sind dann indiziert, wenn die Essattacken bei einem Patienten die Funktion besitzen, unangenehme Gefühle zu kontrollieren. Oft kommt diese auch erst zutage, wenn der ernährungsbedingte Mangelzustand aufgehoben ist. In . Abb. 8.1 ist eine Übersicht der verschiedenen Auslösefaktoren für Essanfälle und daraus ableitbarer therapeutischer Ansätze dargestellt. Zur Identifikation der Auslösebedingungen können, wie bereits in 7 Kap. 4 dargestellt, die Esstagebücher herangezogen werden. Im Folgenden ist ein Fallbeispiel für den Ablauf eines Essanfalls dargestellt: Fallbeispiel
8.3.1
Analyse von Auslösesituationen
Wie bereits in 7 Kap. 2 zur Mikroanalyse von Essanfällen beschrieben, gehören emotionale, situative und kognitive Faktoren zu den Auslösern von Essanfällen. Diese bilden ein individuelles Muster, welchem unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen, aus denen dann jeweils der entsprechende Behandlungsansatz abgeleitet wird. Die erste Kategorie beinhaltet Essanfälle, welche durch zu starke Restriktion oder lange Phasen der Essensvermeidung entstehen. Die zweite Kategorie enthält kognitiv-affektive Auslöser wie selektive Wahrnehmung körper- und nahrungsbezogener Reize und dysfunktionale Bewertungsprozesse, hohe Stressbelastung, Ärger oder Langeweile. Die dritte Variante bezieht sich auf situative Faktoren wie die Gelegenheit zu essen oder automatisierte Abläufe, die ebenfalls eine affektive Komponente beinhalten können (vgl. Legenbauer u. Vögele 2004). Es ist wichtig, die jeweiligen unterschiedlichen Auslösebedingungen für jeden Patienten herauszuarbeiten und dementsprechend adäquate Alternativen zum Essanfall zu entwickeln. Bei der Auswahl der Strategien sollte an den entsprechenden dem Essanfall vorausgegangenen Bedingungen angesetzt werden. Bei einem Patienten, dessen Heißhungerat-
Ich sitze zu Hause auf dem Sofa. Ich fühle mich einsam und alleine. »Keiner ruft mich an«, denke ich. »Um alles muss ich mich selbst kümmern.« Ich bin irgendwie unausgeglichen, ein diffuses Gefühl. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich zappe durch die Programme im Fernsehen. Stehe auf, gehe in die Küche, mache mir ein Müsli als Frühstück. Schaue weiter fern. Merke gar nicht, wie ich esse. Ich weiß nicht, ob ich Hunger habe oder nicht. Jetzt bin ich noch unruhiger als vorher. Nichts läuft im Fernsehen. »Ob ich mal bei Jessi anrufe? Aber da wird sowieso keiner da sein«, denke ich. Es ist noch nicht mal zwölf. Ich will noch ein Müsli essen. Auf einmal ist da wieder dieses unwiderstehliche Verlangen, zu essen. »Ich will nicht«, denke ich. »Ich darf nicht. – Ein kleines Müsli muss reichen.« Aber eigentlich ist es schon zu spät. Ich stehe schon in der Küche und mache mir das nächste Müsli. »Du Versager«, denke ich. »Nie kannst du die Kontrolle behalten. – Aber jetzt ist es eh egal.«
Die im Fallbeispiel dargestellte Auslösesituation zeigt deutlich, dass hier ein sehr komplexes Gefüge aus kognitiven, affektiven und situativen Bedingungen besteht, welches in seiner Konsequenz zur Auslösung eines Essanfalls führt. Zur Analyse der Auslösesituation kann das SORK-Schema angewendet
137 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
8
. Abb. 8.1. Auslöser von Essanfällen und entsprechende Behandlungsmaßnahmen
werden. Dabei steht S für Stimulus/Situation, O/E für Organismus/Einstellung, R für Reaktion auf den Ebenen physiologisch, motorisch, kognitiv und emotional und K für die Konsequenz, welche sich auf operante Prozesse wie positive oder negative Verstärkung des Essanfalls bezieht und meist die Funktionalität des gestörten Essverhaltens widerspiegelt. Zu einer ausführlichen Darstellung zu Grundlagen und Anwendung des SORK-Schemas in der Verhaltensanalyse ist auf Bartling und Kollegen (1992) zu verweisen. Die Verhaltensanalyse der oben im Fallbeispiel beschriebenen Situation könnte dann folgen dermaßen aussehen: Auslösesituation ist das Alleinsein und damit die Möglichkeit, einen Essanfall zu haben (S). Zugrunde liegend sind Defizite in der Affektregulation und dysfunktionale Copingstrategien (O). Die Verhaltensreaktion in der Situation stellt auf der kognitiven Ebene eine dysfunktionale Interpretation des Ereignisses dar (»Keiner mag mich«) und bewirkt auf der emotionalen Ebene Gefühle wie Anspannung, Traurigkeit und Unsicherheit. Physiologisch kommt es zu Verlangen nach Nahrung. Als Konsequenz erfolgt kurzfristig der Abbau von Anspannung und die Ablenkung von Einsamkeitsgefühlen. Ein schema-
tischer Ablauf des SORK-Modells findet sich in . Abb. 8.2. Im Rahmen des Einzelsettings kann dieses SORK-Schema mit dem Patienten erarbeitet und anschließend anhand der Mahlzeitenprotokolle verschiedene Auslösesituationen (S= Stimulus) für Essanfälle identifiziert werden (s. folgender Abschnitt). Im Gruppensetting kann diese Analyse exemplarisch für eine Person am Flipchart vorgestellt werden. Im Anschluss daran sollte gemeinsam in der Gruppe am Flipchart gesammelt werden, welche weiteren Auslösefaktoren es für Essanfälle gibt. Hierzu können die Patienten gebeten werden, sich an den letzten Essanfall zu erinnern und zu überlegen, was diesen ausgelöst haben könnte. Eine weitere Möglichkeit, wenn genügend Zeit vorhanden ist, ist die von uns bevorzugte Kleingruppenarbeit zur selbstständigen Analyse derjenigen Mahlzeitenprotokolle, in denen auch Esstattacken protokolliert sind. Ziel dieser Übung ist die Sensibilisierung der Patienten für mögliche externale oder internale Auslösefaktoren, die zu Essanfällen führen. Als Grundlage zur eigenständigen Analyse der Essprotokolle sollten die Informationen über Gestaltung von strukturierten Esstagen und Auswahl ausgewogener Mahlzeiten dienen. Zusätzlich sollten die
138
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
8
. Abb. 8.2. Allgemeingültig formuliertes SORK-Modell eines Essanfalls. (Aus Legenbauer 2003)
Patienten noch einmal darauf hingewiesen werden, was bei der Analyse von Mahlzeitenprotokollen wichtig ist. So sollten sie auf die Auswahl der Lebensmittel an einem Essanfallstag achten (Werden verbotene Lebensmittel eingebaut?), die Menge der Lebensmittel sollte grob überprüft (Wurde ausreichend gegessen?) und auf die zeitlichen Abstände zwischen den Mahlzeiten geachtet werden (Hauptmahlzeiten nicht länger auseinander als max. 4–5 Stunden). Dies dient zur Feststellung eines möglichen Mangelzustandes bei
der Auslösung des Essanfalls. Um affektregulierende Essanfälle aufzuspüren, sollten die Patienten die beschriebenen Gedanken und Gefühle untersuchen und mögliche Emotionen vor und nach dem Essanfall sowie Gedanken vor und nach einem Essanfall überprüfen. Zuletzt sollten situationale Besonderheiten bei einem Essanfall (Gibt es ein Muster an situationalen Besonderheiten in Essanfallssituationen wie beispielsweise Alleinsein?) überprüft werden, um mögliche habitualisierte Vorgänge zu eruieren. Die
139 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
. Arbeitsblatt 8.10B. Auslöser für Essanfälle
8
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Patienten können zur Durchführung der Kleingruppenarbeit das . Arbeitsblatt 8.9 »Analyse eines Essprotokolls« nutzen, auf welchem Beispielfragen im oberen Abschnitt vermerkt sind. In der zweiten Hälfte des Arbeitsblattes können die Patienten Auffälligkeiten bei der Analyse des Essprotokolls eintragen. Anschließend sollten die identifizierten Auslöser ergänzend zu den bereits am Flipchart angeschriebenen gesammelt werden. Der nächste Schritt ist die Überlegung von Möglichkeiten zur alternativen Bewältigung der jeweiligen Situationen (zu einer Übersicht möglicher Auslösefaktoren 7 Abschn. 2.2). Sinnvoll ist es, für die Erarbeitung von Alternativen eine weitere Sitzung einzuplanen und an dieser Stelle zur vertiefenden Nachbereitung der Sitzung den Patienten das . Arbeitsblatt 8.10 als Hausaufgabe aufzugeben. Auf diesem Arbeitsblatt sind drei Spalten zur Beschreibung emotionaler Auslösebedingungen wie Stress oder negative Stimmung und körperlicher Auslösebedingungen wie ein ernährungsphysiologischer Mangelzustand sowie situationaler Faktoren. In diese Spalten sollten Patienten ihre individuell erarbeiteten Auslöser eintragen (Beispiel . Arbeitsblatt 8.10B). Das Arbeitsblatt dient dann als Grundlage zur Erarbeitung von Alternativen in der nächsten Sitzung.
Diätverhalten und Fasten als Auslöser von Essanfällen Zunächst sollten noch einmal Mahlzeitenprotokolle eingesetzt werden, um zu überprüfen, ob die Interventionen zum Ernährungsmanagement wie der strukturierte Esstag und Einbau von verbotenen Lebensmitteln in den Speiseplan erfolgreich waren und das restriktive Essverhalten abgebaut werden konnte. Unter 7 Abschn. 8.2.2 ist ein Dialogbeispiel zur Erarbeitung von Diätverhalten als Essanfallsauslöser abgedruckt. Auf dieser Grundlage ist ersichtlich, wie im Gespräch mit einem Patienten anhand von Mahlzeitenprotokollen herausgearbeitet werden kann, dass restriktives Essverhalten zur Auslösung von Heißhungerattacken mit beiträgt. Interventionen zum Abbau von ernährungsbedingten Auslösesituationen entsprechen den bereits vorgestellten Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens und werden daher nicht noch einmal ausführlich vorgestellt. Zur Wiederholung für die Patienten können diese Veränderungen beispielsweise am Flip-
chart in die Rubrik Abbau von Essattacken aufgrund von Mangelernährung eingetragen werden, um den Patienten weiter zu motivieren, das restriktive Essverhalten aufzugeben. In der folgenden Übersicht findet sich eine Zusammenfassung der möglichen Strategien.
Strategien zum Abbau von ernährungsbedingten Auslösern 4 Abbau des Diätverhaltens und ausgewogene und regelmäßige Ernährung 4 Keine Mahlzeiten auslassen 4 Orientierung am eigenen Appetit/Hunger 4 Kein Kalorienzählen fördert übermäßige Beschäftigung mit dem Essen 4 Lernen, genussvoll zu essen ungeachtet von Kalorien-/Fettgehalt 4 Einbau bisher vermiedener Lebensmittel in den Speiseplan
Dysfunktionale Affektregulation Diesem Bereich sind die im theoretischen Teil beschriebenen Modelle zur Affektregulation zuzuordnen. Neben den vornehmlich essanfallsauslösenden Anspannungsgefühlen können auch Gefühle von Langeweile, Traurigkeit und Enttäuschung oder in eher seltenen Fällen positive Gefühle wie Euphorie, Freude oder Glücklichsein mit einem Essanfall einhergehen. Im Mahlzeitenprotokoll zeigen sich die auslösenden Gefühle oder mit diesen im Zusammenhang stehende Gedanken meist nicht auf den ersten Blick. Oft berichten die Patienten eher ein diffuses Gefühl von Unruhe oder Anspannung, oder sie schreiben gar keine Gefühle in das Protokoll. Die Gedanken an sich sind häufig eher auf das Essen fixiert als auf die Dinge, die sie tatsächlich beschäftigen (vgl. auch Modell von Heatherton u. Baumeister 1991). Ist im Mahlzeitenprotokoll ein Essanfall beschrieben, der keine offensichtlichen Auslöser hat, sollte der Therapeut versuchen, durch Erfragen der Situationsumstände die Entstehungsbedingungen des Essanfalls herauszuarbeiten und den automatisierten Prozess für den Patienten transparent zu machen:
141 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.: Therapeut:
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Hier ist nun ein Essanfall beschrieben, allerdings haben Sie keinerlei Gefühle dazu eingetragen. Können Sie sich noch erinnern, was da passiert ist? Ja, ich war alleine zu Hause und mir war langweilig. Aber an dem Tag hatte ich schon ziemlich viel gegessen, das kann also nicht daran gelegen haben, dass ich hungrig war. Nein, das muss auch nicht der Grund sein. Versuchen wir, herauszufinden, was vorher passiert ist. Also, sie waren zu Hause und Ihnen war langweilig. Was haben Sie gemacht? Ich habe Fernsehen geschaut, aber es lief nicht wirklich was. Wo war denn ihr Partner? Der war mit einem Kommilitonen ausgegangen. Sie sagen das etwas genervt, hat sie das gestört? Na ja, er hat es mir vorher nicht gesagt, und ich habe deshalb keine Verabredung für den Abend getroffen und so kurzfristig hatte keiner Zeit. Das heißt, sie waren ärgerlich auf Ihren Freund, wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe? Nein, ja, ich weiß nicht. Ich war einfach unruhig und mir war langweilig. Keiner hat mich zurückgerufen, das heißt ich konnte noch nicht mal telefonieren. Das heißt, Sie waren ärgerlich auf die anderen? Oder waren Sie enttäuscht? Ich habe beim Fernsehschauen schon mal daran gedacht, dass mich ja mal jemand anrufen könnte. Immer muss ich alles organisieren. Und es war einfach gemein, dass mein Freund Spaß hatte und ich nicht. Okay, das heißt, Sie hatten doch eine Menge Gefühle: Wut, Enttäuschung, Langeweile, ein bisschen Traurigkeit. Na ja, wenn ich das im Nachhinein betrachte, dann schon. Ich hab irgendwie gedacht, dass ich unbedingt was essen müsste, um mich zu beruhigen. Ja, das kann schon sein. Essen kann ja erst mal etwas Tröstliches haben. Häufig hat man in der Kindheit ja gelernt, dass die Oma einem was Süßes gegeben hat, wenn man traurig war oder zum Trost, wenn man hingefallen ist. Außerdem kann es, wenn Sie etwas Warmes essen oder trinken wie z. B. Kakao, auch durch die Hitze alleine einen wärmenden und wohligen Effekt haben, der einen beruhigt.
An diesem Beispiel wird also deutlich, welche Emotionen den Essanfall in dieser Situation ausgelöst haben. Anhand des Mahlzeitenprotokolls sollte deshalb vom Therapeuten eine Bedingungsanalyse (bspw. SORK) erstellt und herausgearbeitet werden, welche Funktion der Essanfall hatte. Im obigen Beispiel diente er zur Regulation der negativen Stimmung, die durch die Enttäuschung über das Ausgehen des Partners und die ausbleibenden Anrufe der eigenen Freunde entstand. Aus dieser Situation ist gut abzuleiten, welche Alternativen es zum Essanfall gegeben hätte (7 Abschn. 8.3.2 sowie 7 Kap. 10). Zunächst soll allerdings an dieser Stelle des Manuals
noch auf die dritte mögliche Ursache eines Essanfalls eingegangen werden, nämlich das Auftreten automatisierter Handlungsabläufe einhergehend mit einem starken Drang zu essen, ohne dass ein direkt erkennbarer Auslöser vorhanden ist, bevor mögliche Interventionen beschrieben werden.
Automatisierte Abläufe und Gewohnheiten Essanfälle können auch im Rahmen automatisierter Handlungsmuster wie z. B. bei folgender aus einem Mahlzeitenprotokoll entnommener Situation erfolgen:
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Therapeut:
Frau S.:
Therapeut: Frau S.: Therapeut:
Frau S.:
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Therapeut:
Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut:
Hier hatten Sie auch einen Essanfall. Da steht, Sie sind um 16 Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen und haben ferngesehen und um 16.15 Uhr hat der Essanfall begonnen. Gab es da etwas Besonderes? Nein, nicht dass ich wüsste. Das passiert häufig, dass ich von der Arbeit heimkomme und einen Essanfall habe. Ich fühle mich dann so müde und erschöpft und lege mich als erstes vors Fernsehen. Hunger hatte ich an dem Tag auf keinen Fall, da ich ja mittags in der Kantine den Salat, Nudeln und die Suppe gegessen hatte. Wenn ich dann da vor dem Fernseher liege, dann werde ich einfach unruhig und habe das Gefühl, dass ich unbedingt etwas essen muss, und das war da auch so. Hm, das heißt, dass das eigentlich schon automatisiert passiert, dass Sie nach der Arbeit heimkommen und dann den Drang zu essen bekommen, wenn Sie auf der Couch liegen. Ja, das ist fast täglich so. Auch solchen Gewohnheiten liegen meistens bestimmte Annahmen zu Grunde. Zum Beispiel sagen manche, dass Sie das Essen nach einem langen Arbeitstag sehr entspannt. Kennen Sie das von sich? Ja, das kann schon sein, dass ich Essen zur Entspannung nutze und immer dann, wenn ich so erschöpft von der Arbeit heimkomme, das Gefühl habe, dass ich mir jetzt was gönnen muss. Wie kann ich das denn ändern, weil es einfach ganz oft passiert, dass ich in einem solchen Moment die Kontrolle über das Essen verliere und dann einen Essanfall habe? Dazu müssten wir herausfinden, warum Sie in diesem Moment essen, welche Funktion das Essen in dem Moment erfüllt, denn nur dann können wir überlegen, welche andere Alternative es gibt. Wenn wir das nicht herausfinden, gibt es noch die Möglichkeit, erst mal zu lernen, wie Sie das Verlangen zu essen unter Kontrolle halten können. Mal sehen, Sie sagen also, dass es Ihnen dabei hilft, sich zu entspannen, habe ich das richtig verstanden? Ja, genau. Was wäre denn, wenn Sie in diesem Moment nicht essen könnten? Ich würde sehr unruhig werden, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Was würde noch passieren? Das weiß ich nicht, wahrscheinlich würde ich über die Arbeit nachdenken oder einfach nur auf der Couch liegen und mich überflüssig fühlen. Das heißt, das Essen lenkt sie einerseits von Ihren negativen Gedanken ab und andererseits entspannt es Sie? Na ja, wahrscheinlich entspannt es mich, dass ich mal nicht nachdenken muss und mich nur mit dem Essen beschäftigen kann. Okay, das wäre wichtig. Das heißt, entspannend ist, nicht nachdenken zu müssen und abgelenkt zu sein. Dafür scheint dann das Fernsehen alleine nicht auszureichen. Fällt Ihnen noch etwas anderes ein, was Sie von den Gedanken an die Arbeit ablenken könnte?
Das Beispiel bezieht sich auf einen automatisierten Ablauf und soll zudem aufzeigen, wie verborgene Gedanken und Gefühle einen Einfluss auf den Essanfall haben und dass bei einem Essanfall verschiedene funktionale Aspekte gemeinsam auftreten können und nicht immer einfach voneinander trennbar
sind. Falls es an einer solchen Stelle schwierig sein sollte, die zugrunde liegende Funktion herauszuarbeiten, kann man mit Nahrungsexposition zunächst versuchen, dem Patienten Kontrolle über das Verlangen zu essen zu vermitteln. Darauf wird in 7 Abschn. 8.3.3 eingegangen.
143 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
8.3.2
Interventionen zur kurzfristigen Affektregulation
Wichtig bei der Besprechung der alternativen Verhaltensweisen können folgende Fragen sein, die zum einen zur besseren Selbstkontrolle der Patienten führen sollen, aber auch deutlich machen, dass die Patienten eine bewusste Entscheidung treffen und damit auch Entscheidungsmöglichkeiten haben. Be-
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währt bei der Erarbeitung von Alternativen hat sich vor allem das Suchen nach Sonderfällen, in welchen der Essanfall unterbrochen oder unterlassen wurde. Dies bietet die Möglichkeit, Ressourcen des Patienten herauszuarbeiten bzw. die Unvermeidbarkeit des Essanfalls in Frage zu stellen. Im Folgenden sind mögliche Fragen hinsichtlich dieser unterschiedlichen Aspekte dargestellt (modifiziert nach Jacobi et al. 2000):
Kontrollstrategien und Entscheidungsmöglichkeiten 4 Gibt es situative Bedingungen, die das Auftreten begünstigen bzw. gibt es situative Faktoren, die das Auftreten von Essanfällen verhindern? 4 Haben Sie einen Anteil an der Begünstigung bzw. an der Verhinderung des Essanfalls? 4 Haben Sie bereits Kontrollmöglichkeiten in Auslösesituationen kennengelernt bzw. ausprobiert? 4 Welche Konsequenz hätte es, wenn das Durchführen von Gegenmaßnahmen wie Erbrechen oder Sport nicht möglich wären, z. B. weil Sie gestört/unterbrochen werden? 4 Haben Sie die Möglichkeit, sich auch gegen einen Essanfall zu entscheiden? 4 Wann wäre diese Entscheidung möglich? 4 Wo genau liegt der Beginn des Essanfalls? 4 Gibt es Essanfälle, die Sie im Voraus planen, weil Sie wissen, dass Sie alleine sind? 4 Inwiefern beeinflusst die Essstörung Ihr Einkaufsverhalten? Fällt die Entscheidung für einen Essanfall bereits beim Einkaufen der entsprechenden Lebensmittel?
Sonderfälle: 4 Kommt es vor, dass Sie einen geplanten Essanfall nicht durchführen? Wenn ja, wann und warum? Findet der Essanfall dann später statt? 4 Was hilft Ihnen in Momenten, in denen Sie ein starkes Verlangen zu essen haben, dies aber nicht tun können, weil kein Essen verfügbar ist oder Sie nicht ungestört sind? 4 Was passiert, wenn Sie während des Essanfalls unterbrochen werden? Wie stark ist der Drang zu erbrechen zu diesem Zeitpunkt? Versuchen Sie, das Essen dann zu einem späteren Zeitpunkt zu erbrechen? Wie bewältigen Sie die Zeit bis zur Möglichkeit, zu erbrechen?
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Erarbeitung von Bewältigungsstrategien ist die Unterscheidung zwischen kurzfristig und mittelfristig affektregulierenden Strategien und den längerfristigen Techniken zum Abbau von Anspannung und Aufbau von Stresstoleranz sowie sozialen Fertigkeiten zur Bewältigung von interpersonellen Problemsituationen (7 Kap. 10 und 11). Zu den langfristig affektregulierenden Techniken sind zudem der Aufbau positiver Aktivitäten und eines sozialen Netzwerks zur Reduktion der mit der Essstörungssymptomatik assoziierten Problembereiche zu zählen (7 Kap. 13). In diesem Abschnitt soll nun auf die kurzfristigen Stra-
tegien eingegangen werden, welche in affektregulierende und ablenkende Strategien aufgeteilt werden können. Die affektregulierenden Maßnahmen sind kurzfristig und schnell anwendbare Techniken, die von dem Gefühl des Verlangens ablenken sollen oder zum Abbau von Anspannung und Unruhe genutzt werden können. Ähnlich wie in der Behandlung von Borderline-Patienten (vgl. Linehan 1996) geht es hierbei darum, die teilweise automatisierten Handlungen durch Ablenkungsreize zu unterbrechen. Diese können zum einen starke Reize wie kaltes Wasser oder das Drücken eines Massageballs bein-
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Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
halten, zum anderen aber auch eher beruhigende Strategien wie eine warme Dusche oder ein warmes Bad umfassen. Die Ablenkungsmaßnahmen bestehen meist aus einer Änderung der situativen Faktoren oder einer Unterbrechung der gerade ausgeführten Tätigkeiten. Je nach Auslösebedingung können dies körperliche Tätigkeiten wie Spazierengehen, Seilspringen, auf einen Boxsack schlagen oder geistige Tätigkeiten wie Kreuzworträtsel lösen, Puzzeln, Malen, Handarbeiten sowie die Aufnahme sozialer Kontakte zum Erhalt von Trost oder einfach das Führen eines ablenkenden Gespräches sein. Wie bereits beschrieben, geht es vor allem darum, dem jeweilig auslösenden Ereignis mit einer adäquaten Alternative zu begegnen. Für die Patienten ist die Unterscheidung in kurzfristige ablenkende und affektregulierende Maßnahmen insofern hilfreich, als es ihnen die Möglichkeit gibt, adäquate Strategien gezielter auswählen zu können, wenn sie die Wirkmechanismen der alternativen Strategien verstanden haben. Zunächst sollte daher mit ihnen am Flipchart gesammelt werden, welche möglichen alternativen Bewältigungsstrategien zur Verhinderung der Essattacke eingesetzt werden könnten. Dazu sollen die zuvor herausgearbeiteten individuellen Auslösesituationen wieder aufgegriffen und gezielt nach kurzfristigen Maßnahmen gesucht werden, welche die Patienten ohne größere Probleme umsetzen können. Vertiefend wird auf die Regulation von Affekten in 7 Kap. 10 eingegangen und Techniken zur Verbesserung der kurzfristigen und langfristigen Affektregulation vorgestellt. Die von den Patienten genannten Strategien sollten im Anschluss in ablenkende und affektregulierende unterteilt werden. Oft nennen Patienten auch Strategien wie Entspannungsverfahren. Wichtig ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Entspannungsverfahren erst nach einer Übungsphase wirksam werden und daher eher den mittelfristigen Strategien zugeordnet werden sollten. Zur Ergänzung dieser Intervention kann den Patienten das . Arbeitsblatt 8.11 »Gegenmaßnahmen bei Essattacken« ausgeteilt werden. Es bietet einen Überblick über mögliche Ablenkungsstrategien und ist bereits in zwei kurzfristig ablenkende und affektregulierende Maßnahmen aufgeteilt. Im Folgenden wird anhand eines Fallbeispiels kurz beschrieben, welche Verhinderungsstrategien
mit der Patientin Frau A. erarbeitet wurden, um kurzfristig Essanfälle zu verhindern und die automatisierten Verhaltensketten zu durchbrechen. Fallbeispiel Frau A. arbeitet als Trainerin in einem Fitness-Studio. Ihr Tag wird hauptsächlich von den Sportkursen (morgens, abends) dominiert. Sie erbricht mehrmals täglich, fast ritualisiert zwischen den Morgen- und Abendkursen. Meist fährt sie ohne Frühstück los, gibt zwei Aerobic-Kurse hintereinander und fährt auf dem Nachhauseweg einkaufen. Noch im Auto beginnt sie wahllos zu essen, was sich nach dem Eintreffen zu Hause mit mehrmaligem Erbrechen über 2–3 Stunden hinzieht. Danach bereitet sie den Abendkurs im Fitnessstudio vor. Außerhalb der Essattacken isst sie erst nach dem Abendkurs mit ihrem Mann zusammen zu Abend. In Ausnahmefällen kommt es auch dann zu entgleistem Essverhalten, da sie nach dem Beginn der Mahlzeit nicht mehr aufhören kann zu essen.
Mit Frau A. wurden neben dem stark restriktiven Essverhalten emotionale Auslösesituationen wie Langeweile, Ärger und Anspannung als Auslösebedingungen für Essanfälle erarbeitet. Daraus ableitend wurden mit ihr folgende Möglichkeiten zur Verhinderung von Heißhungerattacken vereinbart: 4 Frühstück vor dem Sport, 4 kleine Mahlzeit, noch bevor sie vom Studio wegfährt, 4 nicht direkt nach Hause, sondern in der Stadt noch etwas unternehmen, 4 Freundin treffen, 4 die Zeit zu Hause vorplanen mit bestimmten Tätigkeiten (z. B. Bad putzen, Post erledigen etc.), 4 Freizeitbeschäftigung suchen (malen, lesen, Hörspiele, Musik hören, selbst Instrument spielen etc.). Um mögliche Schwierigkeiten in der Umsetzung zu überprüfen, ist es wichtig, nochmals Mahlzeitenprotokolle schreiben zu lassen. Anfangs wird die Umsetzung sehr schwer sein, da die vorhandenen Defizite im Bereich der Gefühlswahrnehmung und -regulation als auch gegebenenfalls der sozialen Fertigkeiten, die dazu geführt haben, dass sich eine Essstö-
145 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
. Arbeitsblatt 8.11. Gegenmaßnahmen bei Essattacken
8
146
8
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
rung als dysfunktionale Bewältigungsmöglichkeit entwickelt hat, weiterhin wirksam sein können. Überhöhte Ansprüche der Patienten sollten daher thematisiert und modifiziert werden. Abschließend kann den Patienten ergänzend das . Arbeitsblatt 8.12 »Was im Notfall hilft« ausgeteilt werden. Auf dem Arbeitsblatt für Notfallstrategien sind zusätzlich zu den Beispielen für kurzfristig ablenkende und affektregulierende Tätigkeiten auch Techniken zur Stimuluskontrolle wie Veränderung des Einkaufsverhaltens oder Einschränkung der Bevorratung zu Hause beschrieben und Maßnahmen zur Verhinderung von Heißhungerattacken aufgrund ernährungsphysiologisch bedingter Mangelzustände enthalten. Sowohl für Patienten, die größere Schwierigkeiten bei der Identifikation von Auslösern für Essattacken haben, sowie für Patienten, welche nur sehr geringe Selbstkontrollfertigkeiten besitzen und ein extrem stark ausgeprägtes Heißhungergefühl beschreiben, als auch für Patienten, welche mehrmals über den Tag Essanfälle und Erbrechen beschreiben, kann es zudem hilfreich sein, Nahrungsmittelexpositionen durchzuführen. Dies wird im folgenden Abschnitt beschrieben.
8.3.3
Nahrungsmittelexposition
Die Technik der Nahrungsmittelexposition basiert auf dem Modell von Jansen (1998) zur Konditionierung von Essanfällen (7 Kap. 2). Das Modell nimmt an, dass situationale Reize, wie Geruch von Essen, Gedanken und Gefühle (unkonditionierter Stimulus), und tatsächliche Nahrungsaufnahme, wie ein Essanfall (unkonditionierte Reaktion) aneinander gekoppelt sind, so dass die mit der Nahrungsaufnahme assoziierten physiologischen Reaktionen wie Speichelfluss, Insulinausschüttung und Erregung an die situativen Stimuli gekoppelt werden. Die situativen Begebenheiten werden damit zu konditionierten Stimuli, welche die physiologischen Prozesse im Sinne einer konditionierten Reaktion auch ohne Nahrungsaufnahme auslösen können. Durch diese konditionierte Reaktion wird Verlangen zu essen ausgelöst. Aus diesen Überlegungen ist das Konzept der
sog. »cue exposure« entstanden (Jansen et al. 1989), welche zur Entkopplung von konditionierten Stimuli und konditionierter Reaktion führen sollen. Das grundlegende Prinzip dieses Vorgehens ist damit das Durchbrechen der Reiz-Reaktions-Kette durch Gegenkonditionierung oder Desensibilisierung. Bei dieser Art von Konfrontationstherapie werden mit dem Patienten daher Nahrungsmittelexpositionen mit dem Ziel der Verhinderung eines Essanfalls und/oder des Erbrechens nach dem Essen von verbotenen Lebensmitteln durchgeführt (Bulik et al. 1998a). Die Expositionsübung sollte gut in den Therapieablauf eingebettet sein und detailliert vorbereitet werden. Wie bei anderen Expositionsinterventionen auch ist es wichtig, dass der Patient den Sinn der Übungen versteht und dadurch bereit ist, sich auf die Exposition einzulassen (vgl. hierzu auch Legenbauer u. Vögele 2004). Mit dem jeweiligen Patienten sollte daher besprochen werden, dass es möglicherweise automatisiert ablaufende f Essanfälle gibt, in denen der Auslösereiz nicht mehr genau spezifiziert werden kann. Um ihm auch in solch einer Situation eine mögliche Bewältigungsstrategie an die Hand zu geben, kann durch die Nahrungskonfrontation gelernt werden, das Gefühl des Verlangens auszuhalten und so den automatisierten Ablauf zu unterbrechen. Dazu sollte eine Liste mit bevorzugten Essanfallslebensmitteln erstellt werden (vgl. auch Liste verbotener Nahrungsmittel, 7 Abschn. 8.2.4). Diese wird dazu genutzt, einzustufen, welches Lebensmittel den stärksten Drang zu essen auslöst. Zu Beginn sollte zur Konfrontation ein Nahrungsmittel eingesetzt werden, welches ein mittleres bis starkes Bedürfnis auslöst, um zu garantieren, dass auch Verlangen auftritt. Der Patient wird dann in der Sitzung angeleitet, an dem Lebensmittel zu riechen, daran zu lecken, es zu befühlen und zu beschreiben. Dazwischen werden immer wieder Ratings zum Verlangen erfragt. Die Übung wird solange durchgeführt, bis das Verlangen deutlich gesunken ist. Das folgende Beispiel zeigt die Durchführung einer Nahrungsexposition mit Schokolade. Der Patient erhält zunächst die Erklärung zur Übung, bevor die Schokolade ausgeteilt und mit der Übung begonnen wird.
147 8.3 · Interventionen zur Verhinderung von Heißhungerattacken und Erbrechen
. Arbeitsblatt 8.12. Was im Notfall hilft
8
148
8
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
Notieren Sie zunächst bitte in folgendem Diagramm das Verlangen, das Sie momentan verspüren, die Schokolade zu essen. Bitte tragen Sie das Ausmaß des Verlangens im weiteren Verlauf an die markierten Stellen auf dem Arbeitsblatt ein. Als Beispiel ist die Verlaufskurve von Frau S. für Sie abgedruckt. Der Wert 0 entspricht gar keinem Verlangen, der Wert 100 einem sehr großen Verlangen, die Schokolade zu essen. 4 Wenn Sie die Schokolade vor sich betrachten, wie stark ist Ihr Verlangen, die Schokolade jetzt zu essen? 4 Bitte tragen Sie den Wert auf der Skala ein, 0 ist gar kein Verlangen, 100 sehr starkes Verlangen. 4 Betrachten Sie die Schokolade nun ganz genau. Beschreiben Sie, was Sie sehen. Beispielsweise die Struktur der Schokoladenoberfläche, ob diese glänzt oder matt ist. Welche Form hat das Stück der Schokolade? Welche Farbe? 4 Wie stark ist jetzt Ihr Verlangen, die Schokolade zu essen? 4 Bitte schnüffeln Sie nun an der Schokolade. Versuchen Sie, tief einzuatmen und den Geruch intensiv wahrzunehmen. Lassen Sie den Geruch nun auf sich wirken. Bitte beschreiben Sie jetzt, was Sie riechen. Welche Assoziationen löst die Schokolade bei Ihnen aus? 4 Wie groß ist das Verlangen nun, die Schokolade zu essen? Tragen Sie den Wert auf dem Verlaufsbogen ein. 4 Beißen Sie nun eine ganz kleine Ecke von der Schokolade ab. Lassen Sie die Schokolade auf der Zunge zergehen und konzentrieren Sie sich dabei auf den Geschmack. Beschreiben Sie jetzt den Geschmack, den Sie im Mund haben. Woran erinnert Sie dieser Geschmack? 4 Wie groß ist das Verlangen, die Schokolade zu essen, jetzt? 4 Beschreiben Sie die Schokolade noch einmal. 4 Wie groß ist das Verlangen jetzt, die Schokolade zu essen? 4 Riechen Sie noch einmal daran. 4 Wie groß ist das Verlangen jetzt, die Schokolade zu essen? 4 Jetzt probieren Sie noch eine Ecke und beschreiben wieder den Geschmack! 4 Wie groß ist das Verlangen jetzt, die Schokolade zu essen? …
. Abb. 8.3. Verlauf von Verlangen bei der Schokoladenübung
Die drei Übungsschritte Ansehen, Riechen, Lecken bzw. Abbeißen werden so lange wiederholt, bis das Verlangen tatsächlich gesunken ist. In . Abb. 8.3 ist ein Beispiel für den Verlauf des Verlangens bei einer Nahrungskonfrontation mit Schokolade dargestellt. Die Konfrontationstechnik kann sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting angewendet wer-
den. Im Gruppensetting sollten die Teilnehmer gebeten werden, individuell bevorzugte Essanfallslebensmittel mitzubringen. Es werden dann je nach verbleibender Zeit und Indikation 2–3 Teilnehmer ausgewählt, die einzeln hintereinander die Übung laut durchführen. Abschließend werden mit den Teilnehmern die verschiedenen Erfahrungen be-
149 8.5 · Arbeitsblätter
sprochen. Für eine ausführlichere Darstellung der Nahrungsmittelkonfrontation empfehlen wir einen Übersichtsartikel von Bents (1995), für den deutschsprachigen Raum das Therapiemanual von TuschenCaffier und Florin (2002) sowie das Kapitel von Jansen »Reizexposition mit Reaktionsverhinderung bei der Binge Eating Disorder« aus dem Buch von Neudeck und Wittchen (2005) zu Konfrontationsverfahren verschiedener psychischer Störungen.
8.4
4
Zusammenfassung 4
4
4
4
4
Die Vermittlung von Informationen zum Einfluss von Diäten auf die Entwicklung des Gewichts und die Folgen von restriktivem Essverhalten stehen am Beginn der Interventionen zur Normalisierung des Essverhaltens. Sie dienen sowohl der Motivierung als auch zur Planung von Interventionsstrategien. Mahlzeitenprotokolle werden aus diagnostischen und therapeutischen Gründen eingesetzt und enthalten neben situativen Angaben wie Ort, Zeit und nahrungsbezogenen Angaben wie Menge und Art der Lebensmittel auch Gefühle und Kognitionen, Hungergefühl und Gegenmaßnahmen. Ernährungsfehler wie auch Auslöser für gestörtes Essverhalten werden mit den Patienten anhand der Protokolle erarbeitet. Strukturierte Esstage dienen sowohl bei der Anorexie als auch der Bulimie der Etablierung regelmäßiger und ausreichender Mahlzeiten. An strukturierten Esstagen werden drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten eingenommen, und es dürfen keine Gegenmaßnahmen eingesetzt werden. Gewichtssteigerungsprogramme stellen vor allem bei der Anorexia nervosa erste Interventionsschritte dar. Sie werden zumeist im stationären Setting durchgeführt, können aber auch an das ambulante Setting adaptiert werden. Die Gewichtssteigerungsprogramme sind meist operanter Natur und gehen bei nicht erfolgreichem Selbstmanagement in ein dreiphasiges Fremdkontrollprogramm über. Gelingt auch mit diesem keine Gewichtszunahme, kommt es zu stärkeren Restriktionen des Aktivitätsradius (Zimmerruhe) und notfalls auch zur Zwangsernährung.
4
4
4
8.5
8
Hunger, Appetit und Sättigung sind zentrale Elemente in der Steuerung der Nahrungsaufnahme und bei Patienten mit Anorexia und Bulimia nervosa meist gestört. Sie funktionieren über physiologische Feedbackprozesse und werden zusätzlich durch Lernerfahrungen wie auch Einstellungen beeinflusst. Um das Hunger-Sättigungs-Gefühl wieder herzustellen, muss das Essverhalten strukturiert und Übungen zur besseren Wahrnehmung von Hunger und Sattheit z. B. in Form von Selbstbeobachtungsprotokollen eingeführt werden. Gemeinsames Kochen soll Patienten einen normalen Umgang mit Mahlzeiten ermöglichen und sie dazu anleiten, Fertigkeiten in der Planung und Zubereitung von adäquaten Mahlzeiten wie auch dem Einkauf zu entwickeln und Essen losgelöst von Kalorien auch unter einem genussvollen Aspekt betrachten zu lernen. Maßnahmen zur Verhinderung der Heißhungerattacken sollten zunächst die genaue Analyse der Auslösesituationen beinhalten, um hieraus adäquate Behandlungsstrategien ableiten zu können. Die Auslöser können unter drei Aspekten betrachtet werden: restriktives Essverhalten, affektiv-kognitive Stimuli und automatisierte Prozesse. Als Gegenmaßnahmen zu Heißhungerattacken werden zunächst kurzfristig ablenkende und affektregulierende Maßnahmen erarbeitet und etabliert. Vor allem bei automatisiert ablaufenden Prozessen (klassische Konditionierung) kann die Nahrungsexposition als Behandlungselement eingesetzt werden, um die automatisierten Abläufe zu durchbrechen und dem Patienten ein Gefühl der Kontrolle über den Drang zu essen zurückzugeben.
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 8.1. Folgen von Diäten . Arbeitsblatt 8.3. Mahlzeitenprotokoll . Arbeitsblatt 8.5. Wie ich mein Ernährungsverhalten verändern möchte . Arbeitsblatt 8.6. Was ich mir verbiete und warum . Arbeitsblatt 8.9. Analyse eines Essprotokolls . Arbeitsblatt 8.10. Auslöser für Essanfälle
150
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
8
. Arbeitsblatt 8.1
151 8.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 8.3
8
152
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
8
. Arbeitsblatt 8.5
153 8.5 · Arbeitsblätter
.
be tsb att 8.6
8
154
Kapitel 8 · Interventionen zur Normalisierung des gestörten Essverhaltens …
8
. Arbeitsblatt 8.9
155 8.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 8.10
8
9 9 Kognitive Interventionen
9.1
Einleitung
– 158
9.2
Das zugrunde liegende Wertesystem – 159
9.2.1 Identifikation des zugrunde liegenden Wertesystem – 160 9.2.2 Modifikation des zugrunde liegenden Wertesystems – 164
9.3
Automatische Kognitionen – 166
9.3.1 Identifikation automatischer Kognitionen – 168 9.3.2 Modifikation der automatischen Gedanken – 169
9.4
Zusammenfassung
– 177
9.5
Arbeitsblätter – 177
158
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
> Ziel
9
4 Identifikation der mit der Essstörung assoziierten dysfunktionalen Grundüberzeugungen bezogen auf Schlankheitsideal, Leistung, Selbstwert u. Ä. 4 Erfassung der automatischen irrationalen Gedanken in Bezug auf Körper, Selbstwert und Leistungsstreben 4 Verständnis des Zusammenhangs Gedanken – Gefühle – Verhalten 4 Erarbeiten alternativer rationaler Gedanken : Vorgehen 4 Ableitung der Grundüberzeugungen aus den bereits erarbeiteten Familienregeln. Diskussion der Beispiele und Benennen individueller »Gesetze«. Diskussion der Gesetze im Rahmen der Übung »Talkshow«. Überleitung zu automatischen Gedanken. 4 Einführen von Selbstbeobachtungsprotokollen für automatische Gedanken. 4 Identifikation der automatischen dysfunktionalen Gedanken anhand der Gedankenprotokolle, Herstellen des Zusammenhangs zu dysfunktionalen Grundüberzeugungen 4 Ableiten der Notwendigkeit alternativer angemessener Gedanken und exemplarisch die Entwicklung von rationalen Gedanken. Entwicklung alternativer Gedanken anhand des Arbeitsblattes negative Monologe und der Übung »Engelchen-Teufelchen«
9.1
Einleitung
Die Identifikation und Modifikation von Kognitionen stand schon immer im Fokus der kognitiv-behavioralen Therapie der Essstörungen. Dabei wurden bislang vor allem automatische negative Gedanken bezüglich Essen, Gewicht und Körper fokussiert (vgl. Waller u. Kennerley 2003). Im Rahmen der Erforschung kognitiver Prozesse wird jedoch immer deutlicher, dass neben den automatischen Gedanken vor allem überdauernde und handlungsleitende »core beliefs« bzw. Kernüberzeugungen (Waller et al. 2000) nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Diese Kernüberzeugungen scheinen nicht zwangsläufig mit essstörungsspezifischen Bereichen verbunden zu sein, sondern beinhalten allgemeine Prinzipien
und Regeln wie z. B. »Ich muss immer perfekt sein, sonst werde ich nicht geliebt!«. Sie entwickeln sich aus Lernerfahrungen im Laufe des Lebens, welche oft familiären und soziokulturellen Einflüssen unterliegen. Diese kognitiven Schemata enthalten zudem neben den Kern-/Grundüberzeugungen auch Informationen über situationale Reize olfaktorischer, visueller, taktiler, kinästhetischer, körperlicher, emotionaler oder verbaler Qualitäten, welche durch Lernprozesse an die spezifischen Einstellungen gekoppelt wurden (Waller u. Kennerley 2003). Damit erhalten diese Grundüberzeugungen zudem eine handlungsleitende Funktion und zwar in dem Sinne, dass sie über die automatischen Gedanken zu einer verzerrten Interpretation der Situation führen. Das heißt aufgrund der Lernerfahrungen, welche Patienten gemacht haben, und den daraus entstandenen Regeln und Gesetzen wirken diese sich auf die Interpretation der jeweiligen aktuellen Situation aus. Das funktioniert insofern, dass externe situationale Reize zu einer Aktivierung der kognitiven Schemata führen und damit eine schnellere Verarbeitung des schemakonformen Informationsmaterials erfolgt. Die Bewertung der Situation in Form der automatischen Gedanken und daraus folgend auch die Handlung werden durch diese Schemata bestimmt. Diesen Zusammenhang verdeutlicht . Abb. 9.1. In der Behandlung der kognitiven Anteile der Essstörung muss also zwischen den automatischen Gedanken und den auf der Metaebene repräsentierten Kernüberzeugungen und Regeln unterschieden werden. Als weiterer Teil der kognitiven Interventionen ist zudem die Aufdeckung fehlerhafter Informationsverarbeitung zu nennen. Diese bezieht sich darauf, dass gerade bedrohliche bzw. schemakonsistente Informationen schneller verarbeitet werden und es dadurch in der Situation zu einer dysfunktionalen Bewertung der verfügbaren Informationen (7 Kap. 2; Heatherton u. Baumeister 1991) und damit auch einer Aufrechterhaltung der negativen Überzeugungen kommen kann (vgl. Legenbauer 2003). Insgesamt scheinen die Identifikation und Modifikation dieser kognitiven Schemata von größerer Relevanz in der Behandlung von Essstörungen zu sein als bisher angenommen (Leung et al. 2000). In diesem Kapitel werden deshalb Interventionen zur Identifikation des zugrunde liegenden Wertesystems
159 9.2 · Das zugrunde liegende Wertesystem
9
. Abb. 9.1. Beispiele zum Zusammenspiel von Grundannahmen und automatisch-negativen Gedanken
(7 Abschn. 9.2) und der automatischen Kognitionen sowie der damit verbundenen dysfunktionalen Bewertung, sog. Denkfehler (7 Abschn. 9.3), vorgestellt und Techniken zur Modifikation des jeweiligen kognitiven Prozesses erklärt.
9.2
Das zugrunde liegende Wertesystem
Die Bedeutung des zugrunde liegenden Wertesystems, der »core-beliefs«, veranschaulicht das folgende Fallbeispiel einer bulimischen Patientin (modifiziert aus Waller u. Kennerley 2003): Fallbeispiel Frau K. ist eine Patientin mit einer Bulimie, die große Schwierigkeiten hat, interpersonelle Beziehungen aufrechtzuerhalten. Auch hat sie ein niedriges Selbstwertgefühl. In Situationen, in denen sie sich ungeliebt fühlt, kommt es häufig zu Essattacken, wobei ihr Essen oft Trost gibt. Eine der Kernüberzeugungen lässt sich dementsprechend am besten als »Ich bin nicht liebenswert« interpretieren. In einer Situation, die für sie bedrohlich ist, wird das Schema aktiviert und beeinflusst die Interpretation der Situation. So wird das 6
Kompliment eines Kollegen: »Die Hose steht dir gut« von ihr als Kritik empfunden und uminterpretiert in »Er denkt bestimmt, ich sollte keine Röcke tragen, weil ich so dicke Beine habe«. Durch die Aktivierung des Schemas kommt es zu Erregung, emotional fühlt sie sich traurig und empfindet Ekel gegenüber sich selbst. Auf der kognitiven Ebene treten Gedanken auf wie »Der findet mich hässlich!«, welche das Schema »Ich bin nicht liebenswert!« bestätigen. Als Reaktion auf dieses Kompliment zieht sie sich aufgrund der subjektiven Interpretation zurück, hat einen starken Drang zu essen und das Büro zu verlassen.
Anhand des Fallbeispiels wird deutlich, dass neben situationsbezogenen automatischen Gedanken vor allem die überdauernde Grundüberzeugung »Ich bin nicht liebenswert« die Interpretation der Situation steuert. Wir empfehlen daher zunächst an der Identifikation der Kernüberzeugungen zu arbeiten, um dem Patienten die Möglichkeit zu geben, sein Handeln und seine Reaktionen zu verstehen und erst im zweiten Schritt Techniken zur Umstrukturierung der automatischen Gedanken zu trainieren.
160
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9.2.1 Übungen:
Identifikation des zugrunde liegenden Wertesystems
4 Talkshow-Übung
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Beispiele für Grundprinzipien (. Arbeits-
blatt 9.1/9.1B) 4 Talkshow (. Arbeitsblatt 9.2/9.2B) 4 Pros & Cons (. Arbeitsblatt 9.3/9.3B) 4 Gedankenprotokoll (. Arbeitsblatt 9.4) 4 Automatische Gedanken (. Arbeits-
blatt 9.5/9.5B)
9
Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut:
Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.:
Eine Möglichkeit zur Erarbeitung des zugrunde liegenden Wertesystems kann darin liegen, die im Rahmen der Entwicklung des individuellen Störungsmodells besprochenen Familienregeln heranzuziehen. Im Gruppensetting werden dazu beispielsweise die von den Patienten identifizierten individuellen Familienregeln in einer Übersichtsrunde vorgestellt, und es wird besprochen, welche Familienregeln die einzelnen Patienten für sich ableiten konnten (7 Kap. 7). Falls sich Schwierigkeiten ergeben haben, unterstützt der Therapeut den Patienten bei der Identifikation der Familienregel, indem auf die bereits erarbeiteten Genogramme (7 Kap. 7) zurückgegriffen wird. Dieses Vorgehen verdeutlicht der folgende Therapeut-Patient-Dialog.
Ich habe irgendwie nicht gewusst, wie ich meine Regeln formulieren sollte. Ja, das ist manchmal recht schwierig. Wir können das jetzt hier in der Gruppe exemplarisch versuchen. Sind Sie damit einverstanden? Ja, gut. Okay, können Sie sich noch daran erinnern, was wir bezüglich des Genogramms besprochen haben, insbesondere über die Einstellungen Ihrer Familie, die Sie möglicherweise geprägt haben? Naja, wir hatten zum Beispiel gesagt, dass mein Vater häufig sehr dominant wirkte und meine Mutter teilweise schlecht gemacht hat und dass ich das ganz schrecklich fand. Hmm. Wahrscheinlich hatte Ihr Vater einen sehr hohen Leistungsanspruch, den die ganze Familie und Ihre Mutter anscheinend nicht erfüllen konnten. Ja, zumindest hatte ich das Gefühl, dass es nie gut genug war, was sie gemacht hat. Und welche Konsequenz hatte dieses Gefühl für Sie? Naja, ich denke, dass sich mein Perfektionismus bzw. das Gefühl, etwas nie gut genug zu tun, etwas mit diesen Erfahrungen zu tun haben, da ich bei meinem Vater ja sehr oft das Gefühl erlebt hatte, dass ich es nicht richtig gemacht habe. Das heißt, eine implizite Regel in Ihrer Familie könnte sein, dass man immer sein Bestes geben muss. Könnte das sein? Ja, das könnte schon sein.
Diese Familienregel hat sich bei der Patientin als Grundüberzeugung etabliert und im weiteren Lebensverlauf ihr Verhalten in der Richtung beeinflusst, dass sie ihre eigenen Grenzen nicht wahrgenommen hat und ständig das Gefühl hatte, immer 100% geben zu müssen, aber trotzdem nie gut genug zu sein. Die Kernüberzeugung dieser Patientin könnte also lauten
»Was ich leiste, ist nie gut genug«. Um den Patienten in der Gruppensitzung die Identifikation der Grundüberzeugungen zu erleichtern, können ihnen Beispiele anhand des . Arbeitsblattes 9.1B »Beispiele für Grundprinzipien« gegeben werden. Günstig ist es, diese in der Gruppe zu verlesen und nach jeder Überzeugung zu erfragen, ob sich
161 9.2 · Das zugrunde liegende Wertesystem
. Arbeitsblatt 9.1. Beispiele für Grundprinzipien
9
162
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
einer der Patienten darin wiedererkennt oder eine ähnliche Überzeugung vertritt. Im Einzelsetting kann analog vorgegangen werden. Grundüberzeugungen können sich in den verschiedensten Bereichen manifestieren. Eine Auswahl beispielhafter Themenbereiche von Grundüberzeugungen zeigt die folgende Übersicht:
Themen von Grundüberzeugungen 4 Allgemeine Bereiche
9
– Sinn des Lebens – Glücklichsein – Leistungsdenken (Beruf ) – Freundschaften – Partnerschaft – Familie 4 Essstörungsspezifische Bereiche – Sport – Essen – Figur – Aussehen
Um den Patienten zu erleichtern, eigene Grundüberzeugungen zu erarbeiten, sollten diese unterschiedlichen Bereiche näher spezifiziert werden. Dazu kann darauf verwiesen werden, dass Grundüberzeugungen sowohl allgemeiner (»Ich muss immer mein bestes geben«) als auch essstörungsspezifischer Art (»Wenn ich jetzt zwei Kilo zunehme, mag mich keiner mehr«) sein können. Die Patienten sollten ange-
regt werden, zu überlegen, in welchen Bereichen die bis dahin gesammelten und auf . Arbeitsblatt 9.1B beispielhaft genannten Grundüberzeugungen einzuordnen sind. Dazu können die Patienten motiviert werden, sich zu überlegen, ob es weitere Lebensbereiche gibt, in denen sie bestimmte Regeln oder Gesetze haben, die für ihre Lebensgestaltung eine besondere Relevanz haben. Die verschiedenen Bereiche sollten am Flipchart gesammelt werden, um die Präsenz im alltäglichen Leben und die Vielfältigkeit der Einflussnahme für die Patienten zu verdeutlichen. Abschließend sollten die Patienten auf dem . Arbeitsblatt 9.1 »Meine Grundprinzipien« die für sie individuell zutreffenden Grundüberzeugungen aufschreiben. Zur Erleichterung der Identifikation von Kernannahmen kann auch ein Fragebogen eingesetzt werden, welcher spezifisch kognitive Prozesse in Form automatischer Gedanken und überdauernder Annahmen über sich selbst erfragt. Der Fragebogen wurde in unserer Arbeitsgruppe entwickelt und liegt in validierter Form vor (Legenbauer, Vocks u. Schütt, unveröffentlichtes Manuskript 7 Anhang A). Er ist im Anhang dieses Buches enthalten. Sinnvoll ist auch, noch einmal den Zusammenhang zwischen den Überzeugungen und den Lernerfahrungen in der Familie oder anderen prägenden Einflüssen und deren Konsequenzen herzustellen, bevor auf deren Modifikation eingegangen wird. Dies soll noch einmal verdeutlichen, warum eine Veränderung dieser Annahmen überhaupt notwendig ist. Dazu kann folgende Erklärung abgegeben werden:
Grundlegende Annahmen über sich selbst, wie wir sie gerade besprochen haben, entstehen dadurch, dass man in seinem Leben bestimmte Erfahrungen gemacht hat. Das können sehr einschneidende Erfahrungen sein oder aber auch sich immer wiederholende kleinere Erlebnisse. Es ist wichtig, diese Einstellungen zu identifizieren, da sie sich auf das Verhalten im Hier und Jetzt auswirken und damit eventuell im Zusammenhang mit der Essstörung stehen. In der letzten Stunde haben wir beispielsweise herausgearbeitet, dass durch fehlende Anerkennung der eigenen Gefühle die Überzeugung entsteht, dass man sich auf seine eigenen Gefühle nicht verlassen kann. Zum Beispiel die Mutter, die sagt: »Du musst doch noch was essen, damit du groß und stark wirst. Von dem Bisschen kannst du doch nicht satt sein.« Damit wird dem Kind signalisiert, dass auf das eigene (Hunger-)Gefühl kein Verlass ist. So kann es langfristig zu einer Entkoppelung von Hunger und Sattheit vom tatsächlichen Essverhalten kommen, da es vor allem durch externe Umstände gesteuert wird. Wenn Sie nun Ihre individuellen Grundüberzeugungen betrachten, könnte es bei diesen auch einen Zusammenhang mit der Essstörung geben?
163 9.2 · Das zugrunde liegende Wertesystem
. Arbeitsblatt 9.2B. Talkshow
9
9
164
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9.2.2
Modifikation des zugrunde liegenden Wertesystems
Sind die individuellen Grundüberzeugungen identifiziert, kann im Anschluss daran im Gruppensetting eine Grundüberzeugung ausgewählt (z. B. »Um gemocht zu werden, darf man keine Schwächen zeigen«) und exemplarisch im Rahmen der Übung »Talkshow« diskutiert werden. Dazu werden zwei Kleingruppen gebildet, welche im Rahmen eines Rollenspieles Pros und Kontras für diese Grundüberzeugung erarbeiten (. Arbeitsblatt 9.2). Ähnlich wie in einer Talkshow tragen die zwei Parteien jeweils ihre Argumente vor und sollen die jeweilige Gegenpartei und das Publikum von ihrer Ansicht überzeugen. Die Argumente zur Widerlegung der Hypothese der »Pro-Partei« können sich auf den Realitätsgehalt der Annahme oder die Durchführbarkeit des damit verknüpften Lebensstils beziehen. Auch kann die hohe Anforderung, welche die Grundüberzeugung an die jeweilige Person stellt, kritisch hinterfragt und auf langfristige Folgen der Überzeugung hingewiesen werden. Diese Übung wird exemplarisch für zwei oder drei Grundüberzeugungen durchgeführt (. Arbeitsblatt 9.2B). Nach der Übung sollten die Patienten über ihre Erfahrungen während dieser Talkshow befragt werden. Hierbei soll herausgearbeitet werden, welche Argumente den Patienten als treffend erschienen und eventuell für sie selbst nutzbar gemacht werden könnten, um die eigenen Grundüberzeugungen kritisch zu hinterfragen. Nach dieser Gruppenübung sollen die Patienten nun allein die für sich identifizierten Grundüberzeugungen reflektieren. Am günstigsten ist es, dies als Hausaufgabe aufzugeben und zu Beginn der nächsten Stunde die Ergebnisse zu besprechen. Dazu kann den Patienten das . Arbeitsblatt 9.3 »Pros & Cons« mitgegeben werden. Darauf werden von jedem Patienten die jeweils zu diskutierenden Grundüberzeugungen notiert und anschließend Pro- und Kontra-Argumente hinsichtlich des Zutreffens dieser Grundüberzeugung beschrieben. Im Einzelsetting sollte diese Erarbeitung
der Pro- und Kontra-Argumente sehr ausführlich besprochen werden, da die Talkshow-Übung nur im Gruppensetting durchführbar ist. Sinnvoll ist hier, eine Grundüberzeugung mit dem Patienten in der Therapiesitzung exemplarisch zu besprechen, um das Grundprinzip zu erläutern und den Patienten dann als Hausaufgabe aufzugeben, weitere Grundüberzeugungen mit Hilfe des Arbeitsblattes zu hinterfragen (. Arbeitsblatt 9.3B). Im nächsten Schritt geht es um die Überleitung zu automatischen Kognitionen. Dazu soll dem Patienten der Zusammenhang zwischen den identifizierten Grundüberzeugungen und negativen automatischen Kognitionen verdeutlicht werden. Hierzu sollte der Therapeut noch einmal die wichtigsten Punkte zur Identifikation von Grundüberzeugungen zusammenfassen und erläutern, wie diese Grundüberzeugungen mit den im Alltag auftretenden automatischen Gedanken zusammenhängen und das Handeln einer Person beeinflussen können. Zu diesem Zweck kann als Hausaufgabe ein Gedankenprotokoll aufgegeben werden (. Arbeitsblatt 9.4). Das Gedankenprotokoll hat eine ähnliche Funktion wie das Essprotokoll (7 Kap. 4 und 7 Abschn. 8.2). Es besteht aus mehreren Spalten, welche zur Notierung von Tag, Uhrzeit und Situation dienen, wie auch einer Spalte zum Beschreiben der mit der Situation assoziierten Gedanken. Um ein Muster der negativen Gedanken herauszuarbeiten, sollten die Patienten dazu instruiert werden, für einen Tag einmal pro Stunde eine Situationsbeschreibung abzugeben und die dazugehörigen Gedanken zu notieren. Ziel ist es, durch eine Protokollierung automatische Prozesse zu unterbrechen und Patienten für die mögliche Einflussnahme von dysfunktionalen Grundüberzeugungen zu sensibilisieren. Im Folgenden ist dargestellt, wie zum einen der Bereich der Identifikation und Modifikation der Grundannahmen seitens des Therapeuten zusammengefasst und zum anderen hierauf aufbauend die automatischen Gedanken eingeführt werden können. Abschließend wird darauf eingegangen, wie das Gedankenprotokoll eingesetzt werden kann.
165 9.2 · Das zugrunde liegende Wertesystem
. Arbeitsblatt 9.3B. Pros & Cons
9
166
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
Wir haben uns heute damit beschäftigt, wie sich die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben, auf unser heutiges Denken auswirken. Dazu haben wir, die für Sie relevanten Kernüberzeugungen bzw. Grundprinzipien herausgearbeitet. Diese Einstellungen liefern uns Ankerpunkte für unser Verhalten. Sie geben uns Sicherheit, wie wir in bestimmten Situationen reagieren sollen bzw. wie wir mit bestimmten Dingen umgehen müssen. Diese Grundannahmen haben in einigen Phasen Ihres Lebens sicherlich einmal Sinn gemacht, so dass sie nicht als »falsch« bewertet werden sollten. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese Überzeugungen oder Grundprinzipien, wie wir sie im Laufe der Stunde genannt haben, noch zeitgemäß sind oder aber dazu führen, dass wir uns überfordern oder unsere Gefühle und Bedürfnisse nicht ernst nehmen, uns selbst häufig kritisieren oder viel zu hohe Ansprüche an uns stellen. Solche »harten« oder »unrealistischen« Grundüberzeugungen können im Zusammenhang mit der Essstörung stehen. Wir haben daher angefangen, diese schädigenden Gesetze zu sammeln, und in der Übung »Talkshow« daraufhin überprüft, ob sie sinnvoll sind. Hilfreich war vor allem zu sehen, wie realistisch diese Annahmen sind bzw. welche negativen Konsequenzen positivem Nutzen gegenüberstehen. Im Rahmen der »Talkshow« haben wir festgestellt, dass diese Grundüberzeugungen auch mit ganz bestimmten typischen Gedanken im Zusammenhang stehen können. Zum Beispiel trat die Grundüberzeugung »Ich muss alles perfekt machen« häufig mit der Befürchtung »Sonst bin ich ein Versager« auf. Das heißt, dass diese Grundüberzeugungen wie die Wurzeln eines Baumes sind. Sie liegen unter der Erde und sind deshalb schwer zu finden. Die Gedanken, die uns täglich mehr oder weniger bewusst durch den Kopf gehen, dagegen sind die Blätter. In der nächsten Stunde soll es daher darum gehen, herauszufinden, welche automatischen Gedanken Sie haben und welche davon mit den verschiedenen Grundüberzeugungen zusammenhängen. Ich möchte Sie daher bitten, das Arbeitsblatt »Gedankenprotokoll« an zwei Tagen der Woche auszufüllen. Schreiben Sie dort bitte einmal pro Stunde Gedanken auf, die Ihnen durch den Kopf gegangen sind. Diese können Gedanken bezüglich des Essens, der Figur und des Gewichts sowie auf das Selbstwertgefühl oder Leistung, aber auch alle möglichen anderen Lebensbereiche bezogen sein. Ziel ist es, mögliche Zusammenhänge zwischen automatischen Gedanken und Grundannahmen herauszufinden.
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Zur Information kann den Patienten zudem das . Arbeitsblatt 9.5/9.5B »Automatische Gedanken« gegeben werden. Hier können die Patienten einen Eindruck darüber gewinnen, wie solche negativen automatischen Kognitionen aussehen könnten. Dies soll es ihnen erleichtern, im Alltag eigene automatische Kognitionen zu erfassen.
9.3
Automatische Kognitionen
Dysfunktionale Kognitionen können in allen Lebenssituationen auftreten. Sie sind inhaltlich sehr unterschiedlich, enthalten aber vor allem unrealistische und selbstabwertende Annahmen, z. B. Annahmen, die sich auf den Umgang mit anderen Menschen und das soziale Netzwerk beziehen wie der Gedanke »Keiner ruft mich an, es scheint mich ja wirklich niemand zu mögen«. Selbstabwertend ist
auch die Aussage »Mein Chef hält mich bestimmt für einen Versager, weil ich so lange mit der Abrechnung brauche« oder eine Aussage, welche Bewertungsängste zum Inhalt hat, wie »Die lachenden Frauen hinter mir machen sich bestimmt über mich lustig«. Daneben können zudem Gedanken über Essen wie »Nach diesem stressigen Tag heute muss ich gleich etwas naschen, damit es mir wieder besser geht« oder Gedanken, die mit der Nahrungsaufnahme verbundene Angst vor einer Gewichtszunahme zum Inhalt haben, wie »Wenn ich eine Pizza esse, wiege ich morgen gleich ein Kilo mehr«, auftreten. Es ist anzuraten, sich für die Arbeit an automatischen Kognitionen Zeit zu nehmen, damit die Patienten verstehen, warum solche Gedanken auftreten und vor allem, wie sie diese verändern können. Im nun folgenden Teil geht es um die Modifikation der automatischen Kognitionen. Die automatischen Gedanken treten meist reflexartig auf, dennoch sind sie
167 9.3 · Automatische Kognitionen
. Arbeitsblatt 9.5B. Automatische Gedanken
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Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
leichter zu identifizieren und zu verändern ist als die Grundannahmen. Mit dem Verständnis, das die Patienten durch die Disputation der Grundüberzeugungen entwickelt haben, sollte es ihnen besser gelingen, die damit verbundenen automatischen negativen Gedanken zu hinterfragen und zu relativieren. Dazu werden im Folgenden verschiedene Techniken vorgestellt, welche angelehnt sind an das traditionelle kognitive Vorgehen und außerdem Einflüsse von Stavemann (2003b) und Scholz (2001) enthalten.
Übungen: 4 Engelchen-Teufelchen
Materialien: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Gedankenprotokoll (. Arbeitsblatt 9.4) 4 Denkfehler (. Arbeitsblatt 9.6/9.6B)
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4 Automatische Gedanken (. Arbeits-
blatt 9.5/9.5B) 4 Engelchen & Teufelchen (. Arbeitsblatt 9.7) 4 Denkste (. Arbeitsblatt 9.8) 4 Hilfen zur Veränderung automatischer Ge-
danken (. Arbeitsblatt 9.9)
9.3.1
Identifikation automatischer Kognitionen
Auf der Grundlage der zuvor herausgearbeiteten Grundüberzeugungen geht es im Weiteren darum, den Patienten zu vermitteln, wie diese ihr Handeln beeinflussen. Dazu werden zunächst anhand der Gedankenprotokolle typische negative automatische Gedanken besprochen und herausgearbeitet, mit welchen Grundüberzeugungen diese im Zusammenhang stehen. Dazu werden im ersten Schritt exemplarisch die protokollierten automatischen Gedanken von einzelnen Gruppenteilnehmern vorgestellt und die genannten automatischen Gedanken am Flipchart gesammelt. Ziel ist es, individuelle Muster oder typische Gedanken herauszufiltern, welche dann mit Grundannahmen in Verbindung gebracht werden können. Häufig haben Patienten ähnliche Gedanken (7 Abschn. 9.3) und erleben es als entlastend, dass andere Gruppenteilnehmer oft das Gleiche denken. Zur Moderation der Sammlung typischer automatischer Gedanken, welche mit der Essstörung assoziiert sind, können folgende Fragen gestellt werden:
4 Wenn Sie Ihr Gedankenprotokoll überprüfen, gibt es typische Bereiche, denen Sie die Gedanken zu-
ordnen können? 4 Gibt es Gedanken, die immer wieder auftreten? 4 Gibt es Situationen, die immer wieder mit denselben Gedanken einhergehen?
Sind nun einige automatische Gedanken gesammelt worden, kann im nächsten Schritt ein möglicher Zusammenhang zu den bereits identifizierten Grundannahmen hergestellt werden. Die Patienten können zur Ableitung der dazugehörigen Grundüberzeugungen die Informations- und Arbeitsblätter der vorangegangenen Sitzungen nutzen. Finden sich Grundüberzeugungen, die mit den beschriebenen Gedanken in Verbindung stehen, werden diese auf dem Flipchart dem zugehörigen automatischen Gedanken zugeordnet. Am Ende dieser Übung sollte ein Flussdiagramm entstanden sein, welches verschiede-
ne automatische Gedanken mit einzelnen Grundüberzeugungen verbindet. Der nächste Schritt führt dazu, dass die Handlungsrelevanz der Regeln und situationsbezogenen Bewertungen herausgestrichen wird, um auf die Wichtigkeit der Modifikation der dysfunktionalen automatischen Gedanken hinzuweisen. Dazu wird abschließend anhand des Modells zum Zusammenhang von automatischen Gedanken und Grundannahmen (. Abb. 9.1) für die Patienten die Erkenntnis der Übung zusammengefasst. Ein Formulierungshilfe für diese Herleitung und Erklärung findet sich im folgenden Textbeispiel:
169 9.3 · Automatische Kognitionen
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Wir hatten in der letzten Stunde besprochen, dass durch die verschiedenen Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, bestimmte Einstellungen, Grundüberzeugungen oder Regeln entstehen. Diese Regeln sind uns häufig nicht bewusst, sie leiten uns aber bei der Bewertung und Einschätzung einer Situation. Diese Bewertung äußert sich in den automatischen Gedanken, die wir in der Situation haben. Diese Gedanken haben Sie für diese Stunde im Gedankenprotokoll festgehalten. Wir haben nun festgestellt, dass beispielsweise die Annahme »Ich muss alles perfekt machen« in einer Prüfungssituation, in der nicht alles gut läuft, zu dem automatischen Gedanken führt »Ich werde hier total versagen«.
9.3.2
Modifikation der automatischen Gedanken
Der nächste Schritt, nachdem die Wichtigkeit der Veränderung verdeutlicht wurde, ist die Erläuterung kognitiver Fehler in der Informationsverarbeitung und das Training von Techniken zur Veränderung dieser Denkfehler wie auch die Erarbeitung alternativer Bewertungen. Der Ablauf der hier dargestellten Übungen kann im Einzelsetting analog erfolgen. Bei der Modifikation der identifizierten automatischen Gedanken schlagen wir ein gestuftes Vorgehen vor: Zunächst sollte den Patienten vermittelt werden, wie es zu der Verzerrung in der Bewertung der Situation kommt. Im Fokus stehen dabei die sog. kognitiven Fehler in der Informationsverarbeitung, welche dazu führen, dass schemakonforme Informationen schneller verarbeitet werden. Dazu werden den Patienten Informationen über Denkfehler (modifiziert nach Stavemann 2003b) vermittelt. Im zweiten Schritt geht es dann um die Entwicklung von alternativen funktionaleren Gedanken.
Identifikation von Fehlbewertungen in Form kognitiver Verzerrungen Zunächst wird den Patienten erklärt, welche Fehler in der Bewertung einer Situation auftreten können und damit die negativen Gedanken entstehen lassen. Es gibt verschiedene Ansätze, um diese sog. kognitiven Fehler zu erklären. Die bekanntesten Kategorien gehen dabei auf Beck (1967, 1976; Beck et al. 1996) zurück. Es wird angenommen, dass Denkfehler im Zusammenhang mit einem niedrigen Selbstwertgefühl stehen. Dieses findet sich bei verschiedenen anderen psychischen Störungen (wie z. B. Depressionen; vgl. Hautzinger 1997) und ist nicht spezifisch für Essstörungen (7 Kap. 2). Stavemann (2003b) beschreibt gegenüber Beck eine erweiterte Form kog-
nitiver Fehlerkategorien und nennt als häufigen Grund für Fehlerinterpretationen die Herstellung von Sicherheit in selbstwertbedrohenden Situationen. Die von ihm entwickelten Denkfehler und vermuteten Funktionen werden im Folgenden für den Essstörungsbereich eingegrenzt und leicht modifiziert dargestellt. Selbstschutzdenken. Dieses beinhaltet beispiels-
weise, Stärke zu suggerieren, um nicht emotional verletzt zu werden und kann im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, Gefühle zu äußern, stehen. Zum Selbstschutzdenken zählt beispielsweise der Gedanke »Ich darf nicht enttäuscht sein, sonst merkt er, wie mich das verletzt« in einer Situation, in der der Partner allein etwas unternehmen möchte und die Betroffene ihre Enttäuschung darüber nicht zeigen möchte. Beliebtheitsdenken. Einen ähnlichen Hintergrund
hat das sog. Beliebtheitsdenken. Dieses beinhaltet, aus Furcht vor Ablehnung stets die vermeintlichen Erwartungen anderer erfüllen zu wollen und dabei eigene Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen, z. B. die Arbeit einer Kollegin zu übernehmen und dafür eigene private Termine abzusagen (»Sicher bearbeite ich die Akte noch heute und sage meine Verabredung ab, das ist kein Problem«). Versicherungsdenken. Ein weiterer Denkfehler vor allem bezüglich sozialer Interaktionen ist das Versicherungsdenken, welches darin besteht, von vornherein etwas Negatives zu erwarten, um hinterher nicht enttäuscht zu sein. Beispielsweise der Gedanke »Die Klausur habe ich bestimmt nicht geschafft« wäre dieser Kategorie zuzuordnen. Überhaupt ist Anerkennung und soziale Zuwendung zentral für Personen mit Essstörungen, da diese oft im Verlaufe
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Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
ihres Lebens eine Kopplung von Leistung und Selbstwert erfahren haben (Bruch 1991). Punktesammeln. Die Aktivierung dieses Schemas
führt zu dem als Punktesammeln bezeichneten Denkfehler. Dabei macht die Person ihren Selbstwert von Leistung und Erfolg abhängig – »Nur wenn ich die Deadline einhalte und alles perfekt ist, findet mich mein Chef gut«. Die bisherigen Denkfehler beschreiben vor allem tiefgreifende persönliche Überzeugungen und daraus resultierendes sicherheitssuchendes Verhalten. Im Weiteren sind die, stärker an die klassischen Denkfehler von Beck orientierten, vor allem auf den Verzerrungsvorgang fokussierenden Aspekte beschrieben.
Alles-oder-nichts-Denken. Das Alles-oder-nichtsDenken beschreibt das Denken in Extremen und geht häufig mit der Tendenz zur Generalisierung einher, z. B. »Entweder er kommt mit mir ins Kino oder ich kann die Sache mit ihm eh vergessen« oder »Ich darf keine Süßigkeiten essen, sonst werde ich total fett«. Klischeekiste. Die Tendenz zu generalisieren ist auch in der Kategorie Klischeekiste enthalten. Hier ist die Vorgehensweise gemeint, Urteile über andere Menschen aufgrund bestimmter Kategorien zu fällen. Hierzu zählt beispielsweise, dass das Aussehen Rückschlüsse über den Charakter erlaubt – »Dicke Menschen sind faul und gefräßig.«. Muss-Denken. Die nun zuletzt zu nennende Ka-
Verrenkungsdenken. Das Verrenkungsdenken
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führt dazu , dass eine Situation willkürlich und ohne Logik bewertet wird. Dies beinhaltet zumeist eine Deutung der Situation, die nicht der Realität entspricht bzw. sehr unwahrscheinlich ist. Dieser Denkfehler ist häufig bei Patienten mit Essstörungen anzutreffen. Ein Beispiel hierfür wäre: Eine schlanke Frau steht in der Disco und fühlt sich beobachtet, sie denkt: »Die starren alle so, weil ich unmöglich und fett aussehe.« Katastrophendenken. Ein weiterer häufig vor-
kommender Denkfehler ist das Katastrophendenken. Dabei bewertet der Betroffene eine Situation im negativen Sinne maßlos über und erwartet eine Katastrophe, z. B. »Wenn ich nicht immer mein Gewicht kontrolliere, dann nehme ich immer weiter zu«.
tegorie – das sog. Muss-Denken ist eher bei anorektischen Patienten zu vermuten, da es einem rigiden Denkmuster entspringt. Es bezieht sich dabei auf die Forderung, dass die Situation bzw. das Ergebnis einer Sache genau so zu sein hat, wie es von der Person erwartet wird, z. B.: »Ich muss mich um alles selbst kümmern, sonst ist die Ablage wieder falsch sortiert«. Diese Aufzählung stellt nur einen kurzen Abriss möglicher Fehlerkategorien und deren Hintergründe dar. Für eine ausführliche Darstellung sei deshalb auf Staveman (2003b) verwiesen. Um den Patienten die Inhalte der Denkfehler nahezubringen, sollte im Therapiekontext folgender Beispieltext verwendet werden:
Wir haben jetzt herausgearbeitet, dass die automatischen Gedanken mit bestimmten Grundüberzeugungen im Zusammenhang stehen. Ich hatte Ihnen vorhin schon erläutert, dass diese negativen Gedanken durch die Bewertung der Situation entstehen, die anhand der Grundüberzeugungen getroffen wird. Durch die Grundüberzeugung kann es dazu kommen, dass Informationen nur selektiv wahrgenommen werden. Die Bewertung, die durch solche selektiven Wahrnehmungsprozesse entsteht, basiert auf sog. Denkfehlern. Diese Denkfehler können in Kategorien unterteilt werden. Eine sehr häufige Fehlinterpretation basiert auf dem »Alles-oder-Nichts-Denken«. Wir haben für Sie eine Übersicht der möglichen Denkfehler auf dem . Arbeitsblatt 9.6B dargestellt. Diese Fehler führen dazu, dass die Situation negativer bewertet wird, als sie es realistischerweise sein müsste. Durch diese Bewertung kommt es dann zu dem negativen Gedanken. Ich möchte mir mit Ihnen zusammen nun zunächst die verschiedenen Fehler ansehen und die von uns gesammelten Beispiele den Fehlern zuordnen.
171 9.3 · Automatische Kognitionen
. Arbeitsblatt 9.6B. Denkfehler
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Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
Eine Möglichkeit zur Besprechung von Denkfehlern ist, die automatischen Gedanken auf einem Flipchart zu notieren und mit unterschiedlichen Farben exemplarisch den automatischen Gedanken die entsprechende Fehlerkategorie zuzuordnen. Alternativ dazu kann das . Arbeitsblatt 9.6 »Denkfehler« an die Patienten verteilt werden. In dieses Arbeitsblatt sollen sie selbst die vorher identifizierten automatischen Gedanken eintragen und ihnen die entsprechende Fehlerkategorie zuordnen. Es ist wichtig, das Ergebnis in der Gruppe zu besprechen, um zu verdeutlichen, dass die Kategorien oft nicht ganz trennscharf sind und manchmal auch mehrere Aspekte auf eine Situation bzw. einen Gedanken zutreffen können. Die Einordnung in die Fehlerkategorie sollte daher als Hilfe verstanden werden, einen möglichst funktionalen und neutralen Gedanken entwickeln zu können, indem die zugrunde liegende Befürchtung überprüft wird. Der Einsatz des . Arbeitsblattes 9.6/9.6B kann im Einzelsetting analog durchgeführt werden. Es enthält eine Auflistung der Kategorien, welchen der Patient individuelle Beispiele für Denkfehler zuordnen soll.
Veränderung der automatischen Kognitionen Im nächsten Schritt geht es nun darum, den Patienten zu vermitteln, wie sie diese Gedanken verändern können. Dazu soll darauf hingewiesen werden, dass durch die besprochenen Denkfehler spezifische Situationsbewertungen entstehen, welche verändert werden können, wenn diese erkannt und überprüft werden. Den Patienten sollte verdeutlicht werden, dass durch die Überprüfung der automatischen Gedanken eine Neubewertung der Situation ermöglicht werden kann. Die Neubewertung der Situation bietet
Therapeut:
Frau S.:
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den Patienten nun die Möglichkeit, alternative Perspektiven zu entwickeln, welche möglicherweise korrektive Erfahrungen bieten und nicht mehr mit den ursprünglichen negativen Annahmen in Einklang stehen. Die Neubewertung kann dabei dazu dienen, den Teufelskreis aus negativen Gedanken, Bestätigung der Grundannahmen und daraus resultierende dysfunktionalem Verhalten zu durchbrechen. Im Sinne der handlungsleitenden Funktion von Gedanken soll dies die Patienten dazu befähigen, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und so über neue Erfahrungen die kognitiven Schemata zu verändern. In der Therapiesituation empfiehlt es sich, den bereits besprochenen Zusammenhang zwischen automatischen Gedanken und Gefühlen bzw. Verhalten in einer Situation anhand einer Situationsanalyse zu besprechen und die Verhaltensänderung durch eine Uminterpretation der Situation abzuleiten. Dazu sollte eine der vorher identifizierten automatischen Kognitionen zur Situationsanalyse herangezogen werden. Diese wird dann auf eine mögliche Fehlinterpretation hin überprüft und eine alternative Interpretation gesucht. Abschließend sollte dann die Auswirkung auf das Verhalten und das Gefühl in der Situation besprochen werden, um die handlungsleitende Funktion noch einmal für den Patienten zu verdeutlichen. Sowohl die Überprüfung der Interpretation als auch die Erarbeitung des alternativen Gedankens geschieht unter Anwendung von Disputationstechniken, welche ausführlich bei Stavemann (2003b), Vocks u. Legenbauer (2005) und Wilken (1998) dargestellt sind. Die Identifikation eines möglichen alternativen Gedankens kann dabei aus dem Denkfehler abgeleitet werden. Im Folgenden ist ein Therapeut-PatientenDialog als Beispiel für solch eine kognitive Intervention dargestellt.
Frau S., Sie haben vorhin beschrieben, dass Sie vor Ihrer Klausur zu Hause auf dem Sofa lagen und abends ferngesehen hatten. Sie sagten, dass der negative Gedanke in der Situation war, dass Sie ein Faulpelz sind und aus Ihnen nichts werden wird. Wie viel hatten Sie denn an dem Tag bereits gelernt? Ich bin um 6 Uhr aufgestanden, habe bis mittags dann gelernt, bis der Hunger so groß war, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Dann habe ich etwas Obst gegessen und na ja, dann die Kontrolle verloren und einen Essanfall gehabt. Danach habe ich mich ganz schlecht gefühlt und es aber geschafft, mich noch mal an den Schreibtisch zu setzen. Nach
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Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.. Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
Frau S.: Therapeut: 6
einer Stunde bin ich dann ganz unruhig geworden und hatte schon wieder furchtbaren Hunger. Ich habe versucht, den zu unterdrücken, was aber nicht gut geklappt hat. Dann habe ich mir um 15 Uhr doch noch mal ein Brot gemacht und eine halbe Packung Kekse gegessen. Ich brauchte das einfach. Dann hatte ich so ein schlechtes Gewissen, dass ich das noch mal erbrochen habe und danach war’s halt ganz aus. Ich kam mir vor wie ein Versager und war so kaputt. Ich habe dann noch mal eine Stunde meine Karteikarten durchgesehen und mich dann um 17 Uhr vor den Fernseher gelegt. Da lief nur Mist und ich habe mich über mich selbst geärgert und dabei ging mir eben der Gedanke durch den Kopf, dass ich ein Faulpelz bin und aus mir nichts wird. Wenn Sie die Situation jetzt beschreiben, was würden Sie sagen deutet daraufhin, dass Sie ein Faulpelz sind? Naja, dass ich mittags schon vor dem Fernseher saß. Was heißt denn mittags? So ab 17 Uhr, also abends. Und wie viel Stunden haben Sie insgesamt dann an dem Tag für die Klausur gelernt? Von 6 Uhr bis 13 Uhr und dann nachmittags noch mal je eine Stunde zwischen den Essanfällen und dann abends noch mal von 21 Uhr bis 24 Uhr. Das klingt irgendwie nicht nach Faulpelz. Was ist denn Ihrer Definition nach ein Faulpelz? Ja, hm, halt jemand, der sich hängen lässt. Und das haben Sie? Wenn ich die Stunden zusammenrechne, dann habe ich ja schon insgesamt 9 Stunden vor diesem Gedanken was gelernt und hinterher ja auch noch mal 3 Stunden, obwohl das nichts gebracht hat und ich nur mein Gewissen beruhigt habe. Das heißt, dieser Gedanke hat dazu geführt, dass Sie sich trotz Ihrer bisherigen Anstrengungen nicht erholen durften. Was hätte denn anders sein müssen, um sich die Erholung gönnen zu können? Ich hatte mir halt vorgenommen, alle Karteikarten zu wiederholen, was ich natürlich nicht geschafft habe. Aber das war einfach mein Ziel. Okay, das heißt, wenn wir jetzt noch mal überlegen, welche Grundüberzeugung dahinter steckt, was würden Sie sagen? Naja, das ist ja schon ziemlich deutlich. Ich darf mir erst was gönnen, wenn die ganze Arbeit erledigt ist. Ich verstehe ja auch, dass ich mich durch die hohen Erwartungen, die ich mir gesetzt habe, enorm unter Druck gebracht habe und dadurch auch die Essanfälle hatte. Aber ich weiß auch nicht so recht, was ich da hätte anders machen können, außer mir weniger vorzunehmen, aber dafür war es abends zu spät. Das wäre eine gute Möglichkeit für das nächste Mal, wenn Sie Ihr Lernprogramm planen, das mit jemandem abzustimmen und sich Rückmeldung darüber geben zu lassen, ob sie sich zuviel vorgenommen haben. Ich würde aber gerne noch mal bei dem Gedanken am Abend bleiben. Dieser negative Gedanke, in welche Fehlerkategorie würden Sie den denn einordnen? Vielleicht in das »Katastrophendenken«, da ich nicht alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe, und deshalb alles schief gehen wird und ich durchfalle. Ja, das könnte man so einordnen. Wenn Sie jetzt wissen, wo der Fehler lag, könnten Sie einen alternativen Gedanken zu der Situation formulieren?
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Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
Frau S.:
Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
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Naja, ich könnte mir halt sagen: Das ist jetzt wieder alles Katastrophendenken und hilft mir nicht weiter. Du hast dir zuviel vorgenommen. Deshalb ist das ist in Ordnung, wenn du nicht alles schaffst und du wirst nicht durchfallen, nur weil du dich abends vor der Prüfung etwas entspannst, du hast heute schon 8 Stunden gelernt. Ja, super. Wären Sie denn von dem Gedanken überzeugt? Es klingt schon ganz gut. Auf einer Skala von 0 bis 100, heißt 0 gar nicht und 100 sehr überzeugt. Wie sehr würde Sie dieser Gedanke nun überzeugen? So 70 würde ich sagen.
Anhand des Fallbeispiels wird deutlich, dass durch das Herausarbeiten der Situationsmerkmale und der Überprüfung des ursprünglich negativen Gedankens ein alternativer Gedanke abgeleitet werden kann. Dieser Gedanke sollte zudem eng mit dem eigentlichen Zielverhalten wie dem genügenden Pausenmachen im obigen Fallbeispiel in Einklang stehen. Auch sollte die Konsequenz des alternativen Gedankens herausgestrichen werden und
Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
auf die mögliche Verhaltensänderung aufgrund der Neuinterpretation der Situation hingewiesen werden. Dies gibt dem Patienten die Möglichkeit, wieder ein Gefühl der Kontrolle über das Situationsgeschehen zu ermöglichen, da er erlebt, dass sein Verhalten in Abhängigkeit von seiner Situationsbewertung geschieht. Das Erarbeiten der Verhaltenskonsequenz ist im anschließenden Textbeispiel beschrieben.
Wenn Sie nun sagen, Sie wären von dem alternativen Gedanken überzeugt gewesen, hätte sich Ihr Gefühl in der Situation dann auch verändert? Ja, ich glaube schon, dass ich ruhiger gewesen wäre und nicht ein ganz so schlechtes Gewissen gehabt hätte. Vor allem hätte ich mich, glaube ich, nicht so schuldig gefühlt. Hätten Sie sich denn auch anders verhalten? Ja, ich glaube schon. Ich hätte wohl nicht noch einen Essanfall gehabt und mich vor dem Fernseher vielleicht wirklich etwas entspannt, oder vielleicht hätte ich sogar noch mit einer Freundin telefoniert.
Wenn es für die Patienten zu schwierig ist, eigene negative Gedanken umzuformulieren, kann dies alternativ auch anhand des . Arbeitsblattes 9.5/9.5B (7 Abschn. 9.2.2) erfolgen. Dabei wird mit den Patienten anhand der Beispiele eingeübt, die negativen Aussagen in die alternative Gedanken zu entwickeln und verschiedenen Fehlerkategorien einzuordnen (7 Abschn. 9.3.2). Im ersten Schritt wird damit die generelle Vorgehensweise bei der Erarbeitung alternativer Gedanken verdeutlicht und hierbei trainiert, Gegenargumente zu finden. Im zweiten Schritt wird, wie oben beschrieben, anhand der Gedankenprotokolle für die eigenen automatischen Gedanken nach Alternativen gesucht.
Dieser Vorgang kann in Form der Rollenspielübung »Engelchen und Teufelchen« spielerisch umgesetzt werden. Im Rahmen dieser Übung soll erprobt werden, in einer bestimmten Situation alternative Gedanken zu entwickeln. Dazu wird jeweils ein Patient gebeten, sich in die Mitte zu setzen und sich ein »Engelchen« und ein »Teufelchen« auszuwählen. Dann schildert er die Situation, in der er sich gerade befand, als der automatische Gedanke aufgetreten ist. Das Teufelchen spricht dann den automatischen Gedanken aus, und das Engelchen widerspricht ihm. Der Dialog wird so lange fortgeführt, bis der Patient die Hand hebt und vom »Engelchen« überzeugt ist. Dauert das Rollenspiel jedoch trotz objektiv sehr guter Argumente zu lange, weil der Patient beispiels-
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weise nicht überzeugt werden kann, so sollte der Therapeut eingreifen und das Spiel stoppen. Zunächst sollte der Kandidat auf dem »heißen Stuhl« hinsichtlich seiner Erfahrungen bei der Übung befragt werden. Dann können die übrigen Gruppenteilnehmer ihre Beobachtungen mitteilen. Es sollte mit dem Patienten darauf fokussiert werden, warum er trotz guter Argumente nicht überzeugt werden konnte. Sollte es sich hierbei um Motivationsprob-
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leme handeln, kann nochmals auf die Interventionen in 7 Kap. 6 zur Motivierung zurückgegriffen werden. Zudem kann darauf verwiesen werden, dass das Finden von Alternativen sicher nicht einfach ist und es daher vieler Übung bedarf. Die Anleitung wird vom Therapeuten erklärt, die Patienten können Sie auf dem . Arbeitsblatt 9.7 mitverfolgen. Sie lautet:
Instruktion zur Übung »Engelchen – Teufelchen« Bitte suchen Sie aus den Gedankenprotokollen einen automatischen Gedanken heraus. Überlegen Sie, in welcher Situation dieser Gedanke auftrat und beschreiben Sie kurz die Situation. Suchen Sie sich dann aus den anderen Gruppenteilnehmern ein »stellvertretendes Engelchen« und ein »stellvertretendes Teufelchen« heraus. Setzen Sie sich dann in die Mitte des Raumes und beschreiben Sie die Situation so, als ob Sie sich gerade in ihr befinden. Das Teufelchen »flüstert« Ihnen den automatischen Gedanken ein. Daraufhin versucht das Engelchen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Hierdurch entsteht ein Zwiegespräch zwischen Engelchen und Teufelchen. Bitte zeigen Sie durch das Heben Ihrer Hand an, wenn die Argumente des Engelchens Sie überzeugt haben. Notieren Sie sich im Nachhinein die Argumente des Engelchens und die des Teufelchens.
Diese Übung soll exemplarisch für jeweils einen automatischen Gedanken möglichst vieler der Gruppenteilnehmer durchgespielt werden. Ist wenig Zeit zur Verfügung, können Kleingruppen gebildet werden. Diese Übung ist in modifizierter Form auch im Einzelsetting durchführbar. Dazu kann der Therapeut die Rolle des Patienten übernehmen, und der Patient selbst spielt im wechselnden Dialog zunächst das Teufelchen und dann das Engelchen. Bestenfalls wird das Rollenspiel in der Einzelsitzung auf Video aufgezeichnet, um den Dialog zwischen Engelchen und Teufelchen hinterher noch einmal mit dem Patienten anzuschauen und erneut nachzubesprechen. Auch kann dem Patienten das Videoband ausgehändigt werden, so dass er sich dies zu Hause erneut ansehen kann. Als Abschluss der therapeutischen Interventionen zur Veränderung dysfunktionaler Kognitionen sollten die Patienten als Hausaufgabe das . Arbeitsblatt 9.8 »Denkste« ausfüllen. Es enthält mehrere Spalten, in welche zunächst der automatische Gedanke und die dazugehörige Fehlerkategorie eingetragen werden. Als Nächstes wird die Folge des Gedankens erfasst. Die nächsten beiden Spalten dienen dazu, einen alternativen Gedanken zu entwickeln.
Der Patient soll dazu zunächst in das Arbeitsblatt eintragen, welches Ziel er in der Situation gehabt hätte und im nächsten Schritt dann einen für das Ziel passenden alternativen Gedanken entwickeln. Das Arbeitsblatt dient damit dazu, noch mal das Wissen um die Denkfehler aufzufrischen, um für die individuellen dysfunktionalen Gedanken, die im Alltag auftreten, Alternativen formulieren zu können. Dazu sollten die Patienten ableiten können, welches Verhalten in der Situation wünschenswert wäre, um dementsprechend eine adäquate Alternative zu finden. Hilfreich ist dabei z. B. die Frage nach dem Ziel, das der Patient in der Situation verfolgt. Beispielsweise hat die oben beschriebene Patientin das Ziel, nicht weiter zu grübeln und sich schuldig zu fühlen, wenn sie sich eine Pause gönnt. Dementsprechend wäre das Ziel, sich »ruhigen Gewissens« eine erholsame Pause zu gönnen. Ein alternativer, angemessener Gedanke wäre daher »Ich habe bereits mehr als 9 Stunden gearbeitet, da darf ich mir eine Pause gönnen«. Es gibt zudem weitere Techniken, um automatische Gedanken zu verändern und einen alternativen realitätsangemesseneren bzw. hilfreicheren Gedanken zu entwickeln. Dazu kann den Patienten das
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Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
. Arbeitsblatt 9.9 »Hilfen zur Veränderung von automatischen Gedanken« ausgeteilt werden. Die beschriebenen Strategien sollten mit den Patienten kurz besprochen werden, bevor der Bereich der kognitiven Interventionen abgeschlossen wird. Neben der oben dargestellten Methode des Identifizierens von Denkfehlern (»Sherlock-Holmes-Methode a«), gehört im Weiteren dazu, die Beweislage zu überprüfen (»Sherlock-HolmesMethode b«), das heißt, dass für einen ausgewählten Gedanken Beweise für und gegen das Zutreffen gesucht werden. Des Weiteren kann die Perspektive gewechselt werden, um das »Messen mit zweierlei Maß« aufzudecken. Dazu kann versucht werden, über einen Rollenwechsel die Situation aus dem Blickwinkel einer guten Freundin zu betrachten und zu überlegen, was der Patient sich selbst an Stelle der Freundin raten würde (Wilken 1998). Ähnlich funktioniert auch die Umfragemethode, bei welcher der Patient dazu angehalten wird, andere Menschen nach ihrer Meinung zum eigenen Problem zu befragen. Dies soll dazu dienen, sich nicht allein zu fühlen und festzustellen, dass andere Menschen durchaus ähnliche Probleme haben (z. B. Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen). Eine weitere Möglichkeit ist das Durchführen von Verhaltensexperimenten (»Ich-trau-mich-Methode«). Dabei muss sich der Patient mit dem befürchteten Gedanken konfrontieren. Der Gedanke: »Wenn ich jetzt noch was esse, wiege ich morgen ein Kilo mehr« sollte überprüft werden, indem die Mahlzeit gegessen wird und auch bei sich behalten wird, um zu testen, ob in den nächsten Tagen tatsächlich wie erwartet eine Gewichtszunahme stattfindet. Vor allem hinsichtlich der »Katastrophisierungen« und des »Alles-oder-Nichts-Denkens« ist das Betrachten von Grautönen (die »Mittelmaßmethode«) wichtig. Dazu sollte überlegt werden, wie das Mittelmaß für eine bestimmte Annahme aussehen könnte. Dies kann beispielsweise über die Einstufung von Wahrscheinlichkeiten auf einer Skala von 0 bis 100 durchgeführt werden. »Wie wahrscheinlich ist es, dass ich mein Studium nicht schaffe, wenn ich jetzt nicht weiter arbeite?« Zudem kann einfach durch die Wahl des Ausdruckes (die »Nett-gesagt-ist-halb-gewonnen-Methode«) Schärfe aus der eigenen Bewertung genom-
men werden. Dazu soll nicht in Absolutismen gesprochen werden, um die eigenen Aussagen abzuschwächen und zu einer gemäßigteren und neutraleren Sichtweise des eigenen Verhaltens zu kommen. Beispielsweise statt »Wie konnte ich nur so blöd sein, diesen Fehler zu machen?« sich zu sagen: »Jedem unterlaufen mal Fehler, das ist völlig menschlich!«. Ähnlich funktioniert auch die Methode der Reattribuierung (die »Gewusst-wie-Methode«), denn statt sich selbst zu beschuldigen, sollte die Beschäftigung mit dem Problem zu einer aktiven Lösung führen. Beispielsweise statt sich zu beschuldigen, die Klausur verpatzt zu haben, sollte überlegt werden, was dazu geführt hat, dass man durchgefallen ist, um das nächste Mal besser vorbereitet zu sein. »Es bringt nichts, mich zu beschuldigen, statt dessen überlege ich besser, warum ich die Vokabeln nicht gut konnte«. Des Weiteren ist es immer sinnvoll, die von dem Patienten benutzten Verallgemeinerungen zu hinterfragen und die benutzten Begriffe genau zu überprüfen (die »Alles-ist-eine-Sache-der-DefinitionMethode«). Also »Was genau macht einen V › ersager‹aus?«. Das soll dazu führen, dass die Patienten erkennen, dass sie gar nicht unter die von ihnen angegebene Definition fallen. Letztendlich ist die Kosten-Nutzen-Analyse (die »BWLer-Methode«) eine gute Methode, um die Kosten und Nutzen eines solchen Gedankens abzuwägen. Dazu sollte in der jeweiligen Situation überlegt werden, welche positiven Konsequenzen sich aus dem jeweiligen Gedanken ergeben (z. B. »So gebe ich wenigestens in allen Situationen immer mein Äußerstes!«) und welche negativen Aspekte dem entgegenstehen (»Wenn ich mir immer sage, dass ich alles perfekt machen muss, stehe ich ständig unter Strom und bin dennoch immer unzufrieden mit dem, was ich mache«). Die hier dargestellten Interventionen sind ausführlich in verschiedenen Therapiemanualen zur Anwendung kognitiver Techniken beschrieben (vgl. Scholz 2001; Stavemann 2003b). Ergänzend können auch Vocks und Legenbauer (2005; 7 Kap. 8 zur Modifikation dysfunktionaler körperbezogener Kognitionen) und Wilken (1998) hinzugezogen werden. Am Ende der Stunde fasst der Therapeut noch einmal die Zusammenhänge zwischen den auftre-
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tenden Gedanken auf der einen und Gefühlen und Verhalten auf der anderen Seite zusammen, um die Bedeutung der Inhalte des Interventionsbausteines zu kognitiven Techniken nochmals herauszustreichen. Hierbei sollte herausgearbeitet werden, dass die Veränderung negativer Gedanken noch nicht abgeschlossen ist, sondern die Patienten sich immer wieder dahingehend beobachten sollen, ob in Zukunft wieder negative Gedanken auftreten, die sie gerne verändern möchten.
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Abschließend soll die Wechselwirkung von Gedanken-Gefühlen-Verhalten in einer Zusammenfassung des Vorgehens beim kognitiven Umstrukturieren betont werden. Dazu wird die Notwendigkeit der Veränderung von automatischen Gedanken sowie von Grundüberzeugungen noch einmal betont, um zu verdeutlichen, dass die Veränderung der kognitiven Prozesse letztendlich eine Verhaltensveränderung bewirkt. das folgende Beispiel aus einer Therapiesitzung beschreibt diese Zusammenhänge:
Im Rahmen der Therapiesitzungen zur Identifikation von Grundüberzeugungen und automatischen Gedanken und deren Veränderung haben wir gelernt, dass wir aufgrund von Erfahrungen im Laufe unseres Lebens Regeln entwickelt haben. Diese Regeln haben wir Grundüberzeugungen genannt, die sich auf alle möglichen Bereiche wie Attraktivität, Nahrungsmittel usw. beziehen können. Wir haben festgestellt, dass diese Grundüberzeugungen unser Handeln beeinflussen, indem sie die Bewertung von Situationen steuern. Diese Bewertungen sind in Form negativer, teilweise automatischer Gedanken zu finden und unterliegen Fehlern bei der Interpretation der Situation. Wir haben verschiedene Fehlerkategorien wie Alles-odernichts-Denken oder das Verrenkungsdenken kennengelernt und trainiert, automatische Gedanken zu identifizieren und diese auf Fehler zu überprüfen. Durch das Erkennen der Fehler war es einfacher, zu überprüfen, ob der Gedanke in der Situation zutreffend bzw. realistisch ist. Anhand der Fehlerkategorie konnten wir alternative Bewertungen ableiten. Auch konnten wir über das mögliche Ziel in der Situation herausarbeiten, welche möglichen alternativen Gedanken hilfreich sein könnten, um das Ziel zu erreichen. Zum Abschluss haben wir festgestellt, dass die alternativen Gedanken auch mit einem besseren Gefühl einhergehen und es uns erleichtern, in dieser Situation eventuell auch anders zu handeln.
9.4
Zusammenfassung
4 Anschließend werden die herausgearbeiteten
automatischen Gedanken hinsichtlich möglicher Denkfehler überprüft und Techniken zur Identifikation von alternativen realitätsangemesseneren und funktionaleren Kognitionen vermittelt.
4 Neuere Forschungsergebnisse verweisen auf ei-
nen wichtigen Anteil sog. Kernüberzeugungen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen. Diese Kernaussagen müssen daher in der Therapie mehr Berücksichtigung finden. 4 Zunächst sollten Grundüberzeugungen abgeleitet und im nächsten Schritt durch verschiedene Übungen (z. B. im Rollenspiel) verändert werden. 4 Überleitend zur Identifikation von automatischen Gedanken wird ein Modell zum Zusammenhang von Grundüberzeugungen und automatischen Gedanken eingeführt. Im Anschluss werden individuelle automatische Gedanken mit Hilfe von Beispielen und dem Führen von Selbstbeobachtungsprotokollen identifiziert.
9.5
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 9.1. Meine Grundprinzipien . Arbeitsblatt 9.3. Pros & Cons . Arbeitsblatt 9.4. Gedankenprotokoll . Arbeitsblatt 9.5. Automatische Gedanken . Arbeitsblatt 9.6. Denkfehler . Arbeitsblatt 9.7. Engelchen & Teufelchen . Arbeitsblatt 9.8. Denkste . Arbeitsblatt 9.9. Hilfen zur Veränderung automatischer Gedanken
178
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9
. Arbeitsblatt 9.1
179 9.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 9.3
9
180
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9
. Arbeitsblatt 9.4
181 9.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 9.5
9
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Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9
. Arbeitsblatt 9.6
183 9.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 9.7
9
184
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9
. Arbeitsblatt 9.8
185 9.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 9.9
9
186
Kapitel 9 · Kognitive Interventionen
9
. Arbeitsblatt 9.9 (Fortsetzung)
10 10 Interventionen zur Affektregulation
10.1
Einleitung – 188
10.2
Wahrnehmung von Gefühlen – 189
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4
Welche Gefühle gibt es? – 190 Wie entstehen Gefühle? – 195 Funktion von Gefühlen – 197 Identifikation eines Gefühls – 198
10.3
Bewältigung von negativen Gefühlen – 199
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4
Einführung eines Stressmodells – 200 Palliativ-regenerative Techniken – 200 Kognitive Techniken – 205 Einsatz der vermittelten Techniken – 209
10.4
Zusammenfassung
10.5
Arbeitsblätter – 211
– 209
188
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
> Ziel
4 Verbesserung der Gefühlswahrnehmung und des Gefühlsausdrucks (nonverbal) 4 Implementierung von kurz, mittel- und langfristigen Affektregulationstechniken auf den verschiedenen Ebenen (physiologisch, affektiv-kognitiv und behavioral) : Vorgehen 4 Erarbeitung dessen, was Gefühle sind und woran man sie spürt. Zusammenhang zwischen Gedanken und Gefühlen herstellen. Individuelle Problembereiche bearbeiten 4 Aufbau von palliativ-regenerativen Stressbewältigungsfertigkeiten 4 Vermittlung instrumenteller Fertigkeiten zur Bewältigung negativer Gefühle durch die Einführung von Problemlösefertigkeiten 4 Ergänzende kognitive Techniken zur Stärkung der Selbstkontrollkompetenzen
10
10.1
Einleitung
Emotionen sind Bestandteil unseres Lebens. Alle Lebensbereiche wie Beziehung, Arbeit und Freizeit sind mit Emotionen verknüpft. Sie beeinflussen unser Handeln und unsere Lebensqualität. Dabei sind Emotionen subjektiv und Ich-bezogen, das heißt, dass Gefühle durch eigene Bedürfnisse, Ziele und Interessen beeinflusst werden (Ulich 1995). Gefühle sind damit ein Spiegel der eigenen Identität und erklären sich durch sich selbst. Sie erscheinen meist unwillkürlich und spontan und sind häufig von nur intrapersonell wahrnehmbarer Erregung begleitet. Das Erleben der Emotion ist passiv, dabei aber durch Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit gekennzeichnet. Emotionen spielen innerhalb unserer sozialen Netzwerke eine bedeutende Rolle und werden überwiegend durch nonverbale Kanäle kommuniziert (Ulich 1995). Aufgrund der Kurzlebigkeit von Emotionen treten diese selten einzeln auf, sondern lösen sich gegenseitig ab bzw. gehen ineinander über (Ekman 2003). Es gibt in der Literatur zwar keine einheitliche Definition von Gefühlen (Kleiniginna u. Kleiniginna 1981), generell werden aber fünf Komponenten von Gefühlen unterschieden: die subjektive, die behaviorale, die expressive, die physiologische und die kognitive Komponente (Scherer
1990). Die subjektive Komponente bezieht sich dabei auf die erlebten (subjektiven) Anteile einer emotionalen Reaktion, die behaviorale auf die Verfügbarkeit von tendenziellen Verhaltensweisen hinsichtlich emotionaler Erregung. Die expressive Komponente beinhaltet den verbalen Teil wie Tonhöhe, Lautstärke, Stimmführung und den nonverbalen Ausdruck von Emotionen wie Gestik, Mimik und Körperhaltung. Unter der physiologischen Komponente der Emotion werden autonome, neurohumorale, zentralnervöse und neuromuskuläre Veränderungen im Zusammenhang mit Emotionen zusammengefasst. Die kognitive Komponente beschreibt sowohl Veränderungen der Wahrnehmung, der Bewertung und des Erinnerns von inneren und äußeren Ereignissen als auch die Durchführung der dazu benötigten Prozesse wie Aufmerksamkeitsfokussierung, Informationsverarbeitung und Denkstile (Müsseler u. Prinz 2002). Die Hauptfunktion von Emotionen stellt nach Ekman und Friesen (1975) die Aktivierung des Körpers basierend auf früheren Erfahrungen dar. Durch die Emotion soll der Mensch befähigt werden, adäquat auf eine sich stetig verändernde Umwelt zu reagieren. Bereits Darwin hat sog. Grundemotionen definiert, welche zur Sicherstellung des Überlebens dienen sollten, bislang herrscht allerdings keinerlei Klarheit über die Definition von Grundemotionen: Verschiedenste Theorien und Konzepte beschreiben zwischen 2 und 18 Grundemotionen (Ortony u. Turner 1990). Man vermutet zudem, dass zusätzlich zu den Basisemotionen weitere Gefühle bestehen, welche auf Lernerfahrungen zurückgehen (Ekman u. Friesen 1975). Frauen mit einer Essstörung haben häufig Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu benennen. So beschreiben sie oft diffuse Gefühlszustände oder wissen nicht, aus welchem Grund ein bestimmtes Gefühl entstanden ist. Dieser Aspekt kann beispielsweise mit der Skala »Interozeptionsfähigkeit« des EDI-2 gemessen werden (7 Kap. 4). Des Weiteren haben sie große Schwierigkeiten, negative Gefühlszustände auszuhalten, sich selbst zu beruhigen oder überhaupt zu entspannen (Esplen et al. 2000). Einige Autoren gehen deshalb davon aus, dass Essanfälle oder Nahrungsverweigerung ein dysfunktionaler Lösungsversuch negativer Gefühle und Erlebnisse sind (z. B. Waters et al. 2001b; Heatherton u. Baumeister 1991; 7 Kap. 2). Es ist daher anzunehmen, dass die
189 10.2 · Wahrnehmung von Gefühlen
Wahrnehmung von negativen Gefühlen ein belastendes Ereignis für Menschen mit Essstörungen sein kann. Diese aversiven Gefühle wiederum lösen eine Stressreaktion aus, welche spezifisch bei Patienten mit einer Bulimia nervosa zur Anwendung einer dyfunktionalen Strategie, nämlich Essen bzw. bei Patienten mit einer Anorexia nervosa zu Nicht-Essen führt. Studien im natürlichen Umfeld zum Einfluss von Stress auf das Essverhalten bestätigten diese Vermutungen. Sie zeigten beispielsweise, dass an Tagen mit stärker wahrgenommener Belastung Frauen mit einer Bulimia nervosa mehr Kalorien aufnahmen als gesunde Kontrollpersonen (Crowther et al. 2001). Neben dem Einfluss der kognitiven Schemata, die zu einer negativen Einschätzung von Situationen führen können (7 Kap. 2), sind daher die Defizite in der Bewältigung belastender Ereignisse für die Aufrechterhaltung der Essstörung und damit auch die Behandlung von Bedeutung. In der Forschungsliteratur zum Bewältigungsverhalten werden verschiedene Klassifikationen von Bewältigungsverhalten bei Stress beschrieben. Dazu gehören beispielsweise emotionsorientiertes, aufgabenorientiertes und vermeidendes Coping (Zeidner u. Endler 1996). Emotionsorientiertes Coping gilt eher als kurzfristige Strategie und kann, wenn ungünstig eingesetzt, auch zu einer Stresserhöhung führen (Lazarus u. Folkman 1984). Ähnliches gilt für vermeidendes Coping, während aufgabenorientiertes Coping eher als günstiges Verhalten angesehen wird. Es wäre zu vermuten, dass Frauen mit Essstörungen möglicherweise dysfunktionale und situationsinadäquate Copingstrategien einsetzen. Tatsächlich konnte in verschiedenen Studien zum Bewältigungsverhalten gezeigt werden, dass Frauen mit einer Essstörung vor allem in belastenden Situationen eher vermeidendes Bewältigungsverhalten zeigen (Koo-Loeb et al. 2000) und stärker emotionsorientiertes Coping einsetzen (Koff u. Sangari 1997). Die Ursache des Einsatzes dysfunktionaler Copingstrategien von Patienten mit Essstörungen könnte möglicherweise darauf beruhen, dass die belastende Situation nicht adäquat eingeschätzt wird, weil die damit verbundenen Gefühle nicht richtig eingeordnet werden können oder Defizite in sozialen Kompetenzen bestehen (7 Kap. 11). Kaluza (2005) schlägt drei Wege zur individuellen Belastungsbewältigung vor: ein instrumentelles
10
Stressmanagement, welches dazu dient, äußere Belastungsfaktoren zu verringern, ein kognitives Bewältigungsverhalten, in welchem stressverschärfende Einstellungen und Bewertungen verändert werden (7 Kap. 9) sowie den Aufbau palliativ-regenerativer Bewältigungsfertigkeiten, welche zur körperlichen und seelischen Stressreduktion dienen sollen (vgl. auch Kaluza 2005). Aus dem Dargestellten lässt sich nun ableiten, dass in der Behandlung von Essstörungen die Notwendigkeit besteht, die Betroffenen sowohl in der Wahrnehmung der eigenen Gefühle zu schulen als auch verschiedene Copingstrategien zu vermitteln. In diesem Kapitel werden daher palliativ-regenerierende Techniken und kognitive Techniken vorgestellt. Auf instrumentelle Fertigkeiten wird aufgrund der eher langfristig angelegten Strategien in 7 Kap. 11 und 7 Kap. 14 eingegangen. Die hier beschriebenen Techniken sind, wie bereits in 7 Kap. 8 bei der Ableitung von Strategien zur Verhinderung von Heißhungerattacken beschrieben, den kurz- bis mittelfristigen Strategien zuzuordnen und stellen eine Ergänzung bzw. Spezifizierung der bereits in 7 Kap. 8 eingeführten Techniken dar. Im Folgenden werden Interventionen zur Spontanentspannung, zur Wahrnehmungslenkung und zur kontrollierten Abreaktion dargestellt (vgl. auch Wagner-Link 1995), welche dem palliativ-regenerativen Bereich zuzuordnen sind. Zusätzlich sollen kognitive Fertigkeiten im Sinne einer positiven Selbstinstruktion und Selbstermunterung aufgebaut werden. Diese unterscheiden sich von den in 7 Kap. 9 dargestellten kognitiven Techniken darin, dass sie vornehmlich auf die Gefühlsveränderung in Notfallsituationen fokussieren. Ziel ist es, damit den Patienten weitere Selbstkontrollmöglichkeiten an die Hand zu geben.
10.2
Wahrnehmung von Gefühlen
Die Interventionen zur Verbesserung der Gefühlswahrnehmung sind in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil (7 Abschn. 10.2.1) werden den Patienten zunächst Informationen über die Kategorisierung von Gefühlen vermittelt. Dazu werden Gefühle am Flipchart gesammelt und anschließend in ein Circumplex-Modell der Gefühle eingeordnet, im zwei-
190
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
ten Teil (7 Abschn. 10.2.2) wird eine Erweiterung des kognitiven Modells vorgenommen, um über Entstehungsprozesse von Gefühlen und deren Handlungsrelevanz zu informieren. Diese Handlungsrelevanz wird im dritten Interventionsteil (7 Abschn. 10.2.3) um die Funktion von Gefühlen ergänzt.
Übungen: 4 Gefühlsrad 4 Erweiterung des kognitiven Modells hinsichtlich des Einflusses von Emotionen 4 Sammeln von möglichen Funktionen eines Gefühls 4 Übung »Gefühlsbild« 4 Einüben der Gefühlsidentifikation anhand konkreter Situationsbeispiele
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter:
10
4 Gefühlsrad (. Arbeitsblatt 10.1) 4 Welche Gefühle habe ich? (. Arbeitsblatt 10.2/10.2B) 4 Wahre Gefühle (. Arbeitsblatt 10.3) 4 Modell zum Zusammenhang von Gedanken, Gefühlen und Verhalten (. Arbeitsblatt 10.4) 4 Gefühlsprotokoll (. Arbeitsblatt 10.5)
10.2.1
Welche Gefühle gibt es?
In dieser Übung wird angestrebt, die Gefühlswahrnehmung zu verbessern und die Spannbreite der den Patienten bekannten Gefühlszustände zu erfassen. Hierbei wird zunächst erfragt, welche Arten von Gefühlen die Patienten kennen. Bei der Sammlung der Gefühle sollten diese zur besseren Visualisierung am Flipchart notiert werden, um in einem nächsten Schritt die Kategorisierung der Emotionen einleiten zu können. Meist können die Hauptemotionen von den Patienten relativ einfach benannt werden, wohingegen die Patienten mit differenzierteren Gefühlszuständen wie Mischformen, Körpergefühlen, physiologischen Begleiterscheinungen und Ähnlichem zumeist Schwierigkeiten haben. Im Folgenden
geben wir einen kurzen Abriss darüber, welche Informationen den Patienten im Rahmen der Psychoedukation vermittelt werden sollten. Aus der Vielzahl der theoretischen Modelle haben wir zur Bearbeitung der Gefühlswahrnehmung in Anlehnung an die Clusteranalysen von SchmidtAtzert und Ströhm (1983 in Mayring u. Ulich 2003) ein Gefühlsrad entwickelt, welchem als neutraler Pol das Gefühl der Neutralität (gilt als eigenständiges Gefühl, vgl. Shah u. Lewis 2003) zugefügt wurde. Das Gefühlsrad enthält neben den beispielsweise von Ekman (2003) definierten, aus dem emotionalen Gesichtsausdruck abgeleiteten Basisemotionen wie Freude, Interesse, Ärger, Angst, Traurigkeit, Ekel und Verachtung noch weitere Emotionsbegriffe aus den Clusteranalysen wie Trauer, Scham, Zuneigung und Neid, welche sich in der Forschung als sinnvoll in der Differenzierung von Gefühlen erwiesen haben (Mayring u. Ulich 2003). Das so entstandene Modell bietet einen für Patienten einfachen Zugang zum Verständnis der Vielfalt von Emotionen (. Arbeitsblatt 10.1). Zudem können die häufig im Alltag beschriebenen Gefühlswörter wie Eifersucht, Zufriedenheit oder Stolz für den therapeutischen Kontext in Form von sog. Mischemotionen eingeordnet werden (vgl. Stavemann 2003b). Die hier vorgeschlagene Kategorisierung von Gefühlen ist dabei nur als eine Möglichkeit zu verstehen, da die Bezeichnung eines Gefühls immer subjektiv geprägt ist (Ulich 1995). Die auf dem so entstandenen Circumplex-Modell im äußeren Ring liegenden Pole beinhalten demnach als positive Empfindungen Freude, Interesse und Zuneigung sowie Angst, Ärger, Scham, Trauer, Traurigkeit, Ekel, Verachtung und Neid als negative und Neutralität als eigenständige, indifferente Emotion. Jeder dieser Emotionen können weitere emotionale Zustände zugeordnet werden. So können beispielsweise diese Hauptemotionen von niederer oder stärkerer Intensität sein. Hierbei ist Wut als extremer Ärger zu verstehen, während Unzufriedenheit die geringste Intensität eines Ärgergefühls darstellt. Im Folgenden werden nun den Hauptemotionen zuzuordnende Gefühle geringerer bzw. stärkerer Intensität beschrieben (vgl. auch Stavemann 2003a). 4 Zur Ärgerdimension ist neben den bereits genannten Zuständen das Gefühl der »Genervtheit« zuzuordnen.
191 10.2 · Wahrnehmung von Gefühlen
4 Zur Dimension der Angst zählen in aufsteigen-
4
4
4
4
4
4
4
4
4
der Reihenfolge Besorgnis, Schiss, Furcht, Angst und Panik. Zu Trauer ist Bedauern als niedrigst ausgeprägte Dimension zu nennen, gefolgt von Enttäuschung, Mitleid, Kummer bis hin zur Trauer. Zur Dimension von Scham gehört das weniger intensive Gefühl von Geniertheit und Peinlichkeit. Auf die Dimension Freude lassen sich beispielsweise Wohlbefinden, Zufriedenheit, Freude, Überraschung und Glück einordnen. Die Dimension Zuneigungg enthält als Gefühl mit der geringsten Intensität Vorliebe, dazwischen könnten Dankbarkeit, Mitgefühl, Vertrauen, Wohlwollen und Verliebtheit liegen und als stärkste Ausprägung ist die Liebe zu nennen. Auf der Dimension Traurigkeit sind Bedrücktheit, Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und Verzweiflung in aufsteigender Intensität einzuordnen. Das Gefühl von Interesse stellt die geringste Intensität des Zustandes dar, während Neugier, Begeisterung und Lust stärkere Ausprägungen des Gefühls darstellen. Bei dem Gefühl von Neid sind Misstrauen und Schadenfreude mögliche emotionale Zustände geringerer Intensität des Pols. Zur Verachtungg gehört die Abneigung als geringst ausgeprägtes Gefühl, gefolgt von Antipathie, Verachtung und Hass. Die Dimension Ekel enthält dagegen Gefühle wie Widerwillen als geringere Ausprägung und Ekel als stärkste Ausprägung.
Zusätzlich zu den aufgezählten Gefühlen geringerer oder stärkerer Intensität, welche den Hauptemotionen zuzuordnen sind, sind Mischgefühle zu identi-
10
fizieren und kognitive Aspekte von Gefühlen wie Situationsbewertungen zu differenzieren. Gefühle können zudem einen Situationsaspekt beinhalten und sich beispielsweise vorrangig auf Beziehungen beziehen. Diesen Beziehungsgefühlen sind Emotionen wie Verehrung, Wohlwollen, Vertrauen im positiven Sinne oder aber Verachtung, Trotz, Groll, Widerwillen und Misstrauen zuzuordnen. Sie stellen damit eine Mischung aus Freude und Zuneigung bzw. aus Verachtung und Ärger dar (Mayring u. Ulich 2003). Weitere mögliche Hilfestellungen in der Erarbeitung von Mischemotionen sind der Verweis auf motivationale Zustände wie Erwartungen (Hoffnung, Erleichterung, Befriedigung, Genugtuung, Leidenschaft, Spannung, Ungeduld, Vorfreude) sowie Empathieemotionen wie Stolz, Schadenfreude und Häme ebenso wie Eifersucht, Neid, Sorge, Kummer, Bedauern, Mitleid, Mitgefühl, Rührung und Schuld. Diese werden entsprechend der Anteile der Hauptemotionen auf dem Gefühlsrad eingeordnet. In der Behandlung kann von den Patienten selbst eine Einordnung verschiedener Gefühle auf das Gefühlsrad vorgenommen werden. Dazu werden bei der Vorstellung des Dimensionenkonzeptes nur der Pol der Neutralität und die jeweiligen Hauptdimensionen benannt. Die Patienten ordnen dann die von ihnen bereits identifizierten Gefühle bzw. die auf dem . Arbeitsblatt 10.1 exemplarisch beschrieben Emotionen individuell den verschiedenen Dimensionen zu. Als Hilfestellung kann auch das . Arbeitsblatt 10.2 »Welche Gefühle habe ich?« ausgeteilt werden und mit den Patienten eine Einordnung der abgedruckten Gefühlswörter vorgenommen werden (Beispiel in . Arbeitsblatt 10.2B). Die Einordnung der verschiedenen Gefühle in das »Gefühlsrad« kann vom Therapeuten folgendermaßen eingeführt werden:
Wir haben nun bereits einige Gefühle gesammelt. Diese sind sich teilweise sehr ähnlich und manchmal deshalb auch schwierig zu unterscheiden, wie beispielsweise Wut und Ärger. Dies kann daran liegen, dass die beiden Gefühle dem selben Grundgefühl, und zwar Ärger, entspringen und nur eine unterschiedliche Intensität haben. Andere von Ihnen benannte Emotionen dagegen sind nicht leicht erkennbar, weil sie eher diffus sind. Als Beispiel könnte man hier Eifersucht nennen. Das liegt daran, dass es ein sog. Mischgefühl ist, das sich aus mehreren Grundemotionen zusammensetzen lässt und deshalb schwieriger in der Zu6
192
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.2B. Welche Gefühle habe ich?
193 10.2 · Wahrnehmung von Gefühlen
10
ordnung ist. Wenn wir nun dieses Konzept der Gefühlsdimensionen zugrunde legen, könnte man in einem sog. »Gefühlsrad« die Grundemotionen als Speichen verstehen, das Gefühl der Neutralität ist die Narbe und die verwandten Gefühle sind als Marker auf den jeweiligen Speichen zu verstehen. Die intensivsten Gefühle liegen am Ende der Speiche, die Pole auf der Felge enthalten die Bezeichnung der jeweiligen Gefühlsdimension. Die Mischgefühle liegen dann in den Zwischenräumen. Ich möchte nun gerne die von Ihnen genannten Emotionen auf diesem Gefühlsrad eintragen. Wer möchte das tun?
Bei der Durchführung dieser Übung kommt es häufig vor, dass in der Alltagssprache als »Gefühl« bezeichnete Zustände häufig nicht in das Gefühlsrad einzuordnen sind (z. B. »sich hässlich fühlen«). Die Schwierigkeit liegt bei diesen Zuständen darin, dass es sich dabei nicht um ein eigenständiges Gefühl an sich handelt, sondern vielmehr um mit dem Gefühl einhergehende, körperliche oder kognitive Assoziationen (vgl. Balconi u. Pozzoli 2003). Zu nennen sind hier beispielsweise physiologische Begleiterscheinungen von Gefühlen wie innere Unruhe, Beklemmungen in der Brust oder Ähnliches. Daneben sind auch Körpergefühle wie Hunger, Schmerz, Durst, Wärme und Kälte keine Gefühle im eigentlichen Sinne. Auch Gedanken werden häufig als Gefühl bei der Sammlung genannt. So wird der beispielsweise der Gedanke »Ich habe das Gefühl, viel zu dick zu sein« oft fälschlicherweise als Gefühl bezeichnet. Dies sollte dann gemeinsam mit dem Patienten herausgearbeitet werden. So kann mit dem Patienten besprochen werden, dass aus dem Gedan-
ken »Ich bin zu fett« das Gefühl der Trauer oder der Scham resultieren kann. Falls von Patienten körperliche oder physiologische Aspekte bei der Sammlung der Gefühle genannt werden, soll dies vom Therapeuten aufgegriffen werden, indem der Therapeut zunächst fragt, warum der Patient annimmt, dass die jeweilige Empfindung den Gefühlen zuzurechnen ist. Im Weiteren sollte der Therapeut erläutern, dass körperliche Empfindungen nicht gleich einem Gefühl sind, sondern dass die körperlichen Empfindungen aus den Gefühlen resultieren. Im Anschluss an die Übung kann daher das . Arbeitsblatt 10.3 »Wahre Gefühle« ausgeteilt werden. Darin sind die mit Emotionen einhergehenden physiologischen Begleitsymptome und Körpergefühle sowie Kognitionen abgedruckt. Der Therapeut fasst am Ende der Sammlung noch einmal die wichtigsten Punkte zusammen. Hierzu kann der folgenden Text verwendet werden:
Die Gefühle einer Person lassen sich auf eine handvoll thematisch unterschiedlicher Bereiche eingrenzen. Diese können als Freude und Zuneigung beschrieben werden, wenn es um positive Gefühle geht, als Neutralität, wenn ein neutraler Gemütszustand gemeint ist und als Angst, Ärger, Scham, Trauer und Niedergeschlagenheit, wenn unangenehme Gefühle gemeint sind. In der Alltagssprache verwenden wir die Bezeichnung »Gefühl«, um verschiedene Dinge auszudrücken. Das können physiologische Begleiterscheinungen von Gefühlen sein (wie das »Gefühl«, Beklemmungen zu haben, rot zu werden) oder Gedanken (»Ich hatte das ‹Gefühl›, der mag mich nicht, ich bin zu fett, ich bin ein Versager« usw.) oder Körpergefühle (wie Schmerz, Hunger, Durst, Wärme und Kälte). Auf . Arbeitsblatt 10.3 »Wahre Gefühle« sind diese mit den Gefühlen verbundenen Aspekte für verschiedene Beispiele zusammengestellt.
Nachdem nun den Patienten ein Überblick über die verschiedenen Arten von Gefühlen vermittelt wurde und sie darin unterstützt wurden, diese zu kategorisieren und zu erarbeiten, welche Gefühle sie persön-
lich erleben, kann zum nächsten Schritt, der Herausarbeitung von Wegen der Entstehung von Gefühlen, übergeleitet werden.
194
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt. 10.3. Wahre Gefühle
195 10.2 · Wahrnehmung von Gefühlen
10.2.2
Wie entstehen Gefühle?
Zunächst können die Patienten über ihre Hypothese befragt werden, wie ein Gefühl entstehen kann. Neben biochemischen und hormonellen Prozessen, die an der Gefühlsentstehung beteiligt sind, soll hier vor allem der Einfluss kognitiver Prozesse bei der Be-
10
wertung von Situationen, die die Entstehung eines Gefühls beeinflussen, fokussiert werden. Der Therapeut sollte dies anhand einer Beispielssituation verdeutlichen. Dazu erfragt er Bewertungen dieser Situation und erarbeitet auf dieser Basis die daraus resultierenden Gefühle:
Stellen Sie sich einmal vor, Sie stehen vor dem Hauptbahnhof in Frankfurt, und jemand hält Ihnen einen 100-Euro-Schein hin. Was geht Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?
Im Rahmen einer Gruppendiskussion sollten der Reihe nach die verschiedenen Interpretationen dieses Szenarios aufgeschrieben werden. Üblicherweise werden dabei Gedanken wie »Was soll das denn?«, »Der soll bloß abhauen!«, »Ob das wohl Falschgeld ist?«, »Der will irgendwas von mir!« und »Der ist ja nett, schenkt mir einfach 100 Euro« oder Ähnliches genannt. Wenn alle Patienten ihre spon-
tanen Gedanken geäußert haben, wird im Anschluss daran gemeinsam überlegt, welches Gefühl mit jedem der einzelnen Gedanken zusammenhängen könnte. Um den Einfluss der Gedanken auf die Gefühle noch weiter zu verdeutlichen, können im zweiten Schritt die Situationsmerkmale verändert werden:
Was würden Sie denn denken, wenn das nicht am Hauptbahnhof passieren würde, sondern am Bankschalter in einem Spielcasino? Oder: wenn es kein Mann wäre, sondern eine Frau?
Ziel ist es, herauszuarbeiten, dass anhand von Situationsmerkmalen eine Bewertung der Situation erfolgt und daraus ein Gefühl entsteht. Das heißt, Gefühle entstehen aufgrund von Bewertungsprozessen. Diese können bewusst ablaufen, es kommt aber auch häufig vor, dass diese Bewertungen automatisiert oder implizit erfolgen. Dazu kann den Patienten ein Modell vorgestellt werden, dass die bereits erarbeiteten Zusammenhänge zwischen Grundannahmen und automati-
schen Gedanken (7 Kap. 9) um den Einfluss der Auslösesituation mit dem nachfolgenden Gefühl erweitert. Die Erweiterung des Modells soll den Patienten noch einmal verdeutlichen, welchen Einfluss Gedanken auf Gefühle und Gefühle auf das Verhalten haben und eine Vorbereitung auf die kognitiven Techniken in der Affektregulation darstellen (. Arbeitsblatt 10.4). Der Therapeut kann folgenden Text zur Erklärung des Modells verwenden:
Wir haben bereits im Rahmen der Übungen zur Veränderung von automatischen Gedanken besprochen, dass die Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, unsere Bewertung von Situationen beeinflussen. Wenn wir uns in spezifischen Situationen befinden, beeinflussen diese Grundprinzipien die automatischen Gedanken, die uns dann in den Kopf schießen. Aus diesen automatischen Gedanken resultieren nun die Gefühle. Das heißt: Das Gefühl, das wir in einer bestimmten Situation entwickeln, hängt davon ab, wie wir die Situation bewerten. 6
196
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.4. Modell zum Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten
197 10.2 · Wahrnehmung von Gefühlen
10
Dies wurde auch anhand des Gedankenspiels mit dem 100-Euro-Schein deutlich: Diejenigen, die gedacht haben »Der will was von mir!« mögen Angst entwickelt haben, während diejenigen, denen der Gedanke kam »Der ist ja nett, schenkt mir einfach so 100 Euro!«, Freude verspüren. Ein anderes Beispiel wäre, dass ihre beste Freundin Sie nach 6 Wochen anruft. Wenn Sie denken »Die hätte sich ruhig früher melden können«, geht das meist mit einem Ärgergefühl einher. Ein anderer Gedanke könnte sein: »Wie schön, dass sie sich mal wieder meldet«, was mit einem Gefühl von Freude verbunden ist. Auch hier sehen wir deutlich, dass der Auslösereiz »Anruf« einen automatischen Gedanken auslöst, der dann zu einer bestimmten Emotion führt. Diese Gedanken und Gefühle beeinflussen nun auch unser Verhalten. Wenn wir noch einmal zurück zu unserem 100-Euro-Beispiel gehen: Die Person, die denkt »Der will was von mir!« und Angst bekommt, wird schnell aus der Situation flüchten, während die andere Person, die denkt »Der ist ja nett, schenkt mir einfach so 100 Euro!« und daraufhin Freude verspürt, das Geld annehmen und sich bedanken wird. Diese Zusammenhänge sind in dem Modell zum Zusammenhang von Gedanken, Gefühlen und Verhalten dargestellt. Haben Sie Fragen dazu?
Im Anschluss daran kann zur Funktion von Gefühlen übergeleitet werden.
10.2.3
Funktion von Gefühlen
In der Literatur werden vor allem funktionalistische Ansätze zur Erklärung von Emotionen beschrieben (vgl. Ulich u. Mayring 2003). So werden Emotionen im Sinne der Erreichung von Handlungszielen, zum Zwecke der Anpassung an situationale Begebenheiten bzw. der Motivation zur Veränderung intra- und interpersoneller Zustände verstanden (vgl. Ulich u. Mayring 2003). In der Therapie kann die Erarbeitung der Funktion von Emotionen vor allem dazu dienen, um zu verdeutlichen, dass auch negative Gefühle einen Sinn haben können. Dazu können die beschriebenen handlungsrelevanten funktionalen Aspekte mit den Patienten erarbeitet werden. Empfehlenswert ist es, diese Funktionen etwas zu vereinfachen und deren Handlungsrelevanz zu betonen. So könnte man beispielsweise beschreiben, dass einige Gefühle dazu dienen, zu warnen oder Energie und Kraft zu liefern, um Veränderungen herbeizuführen (d. h. sie sind energetisierend) oder die Kommunikation anregen. Zusätzlich kann auf eine selbstverteidigende und selbstaufwertende Funktion von Gefühlen eingegangen werden (vgl. z. B. Schwenkmetzger et al. 1999). Die einzelnen hier vorgeschlagenen funktionalen Aspekte sind im Folgenden näher beschrieben:
Alarmierende Funktion. Ein Beispiel für eine war-
nende oder alamierende Funktion ist das Gefühl von Ärger oder Wut, welches anzeigt, dass etwas Unangenehmes passiert ist und wir dem Beachtung schenken sollten: Wenn sich jemand mir gegenüber ungerecht verhält, entwickelt sich ein Gefühl von Wut. Hierdurch merkt die betroffene Person, das irgendwas nicht stimmt und wird sich zur Wehr setzen, indem sie beispielsweise sagt, was sie stört. Energetisierende Funktion. Energetisierend sind Gefühle wie Wut, Ärger, Zorn, aber auch Glück und Freude, weil sie durch die physiologische Erregung dazu führen, dass dem Körper Energie für bestimmte Handlungen zur Verfügung steht. So kann die Wut auf die Person, die einen versetzt hat, einem die Kraft geben, allein ins Kino zu gehen, anstatt allein zu Hause zu bleiben und sich einsam zu fühlen. Auch kann Freude oder Glück einem Kraft und Mut geben, Dinge zu tun (z. B. auf eine Party zu gehen), die man sich im niedergeschlagenen Zustand nicht zutrauen würde. Kommunikationsfunktion. Darüber hinaus kön-
nen Gefühle Kommunikation anregen: Beispielsweise regt die Wut über eine Ungerechtigkeit dazu an, das Ärgernis aus der Welt zu räumen und die betroffene Person anzusprechen, um die Lösung der Situation voranzutreiben. Ebenso kann ein Gefühl von Freude es einem leichter machen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, z. B. indem man jemand Fremdes anspricht.
198
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
Selbstverteidigungsfunktion. Des Weiteren ist die Selbstverteidigungsfunktion zu nennen. Vor allem die Wahrnehmung einer Bedrohung trägt dazu bei, dass durch das ausgelöste Gefühl wie Angst, Wut, Zorn, Ärger etc. eine dem Selbstschutz dienende Gegenreaktion ausgelöst wird. Der Selbsterhaltungstrieb führt damit zu einer Verteidigungsreaktion wie Grenzen zu setzen. Wenn beispielsweise der Chef zu seiner Sekretärin sagt »Sie sind so furchtbar langsam, kein Wunder, dass Sie Überstunden machen müssen« und die Sekretärin nun wütend über den Vorwurf ihres Chefs ist, bestünde die Verteidigungsreaktion in der Antwort: »Das liegt sicher mitunter daran, dass Sie mir Arbeit übergeben, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Wenn Sie nicht wollen, dass ich Überstunden mache, dann kann ich diese Zusatzarbeiten nicht mehr übernehmen!«
10
Selbstaufwertungsfunktion. Als weitere wichtige
Funktion, welche selten benannt wird, ist die Selbstaufwertungsfunktion zu nennen. Dazu zählt, sich durch Schimpfen Luft zu machen und sich damit anderen gegenüber aufzuwerten. Zum Beispiel kann der Ärger über unerledigte Arbeiten der Kollegen sich in leisem Vor-sich-hin-Schimpfen ausdrücken: »Nie ist auf die anderen Verlass, wenn ich es selbst tue, dann weiß ich, dass es gut ist.« Wichtig bei der Erklärung der Funktionalität von Gefühlen ist es, herauszuarbeiten, dass auch negative Gefühle einen Sinn haben können, indem sie bei der Bewältigung einer schwierigen Situation hilfreich sein können, was im Rahmen einer Gruppendiskussion erfolgen kann. Die Gruppendiskussion über die Funktionalität von Gefühlen kann beispielsweise durch folgende Frage angeregt werden:
Was glauben Sie: Warum sind Gefühle überhaupt wichtig? Viele von Ihnen haben in der Eingangsrunde berichtet, dass es Ihnen nicht gut geht, da sie viele negative Gefühle wie Traurigkeit oder auch Wut erleben. Das könnte man ja ganz leicht beheben, indem man Gefühle abschafft. Oder wie würden Sie das sehen?
Durch diese zunächst sehr provokant gestellte Frage können die Patienten dazu angeregt werden, zunächst einmal über die Funktion von Gefühlen nachzudenken. Während der Diskussion sollte der Therapeut den Gefühlen die jeweilige Funktion, die sie erfüllen können, zuordnen. Danach wird zum nächsten Schritt – der Identifikation von Gefühlen – übergeleitet.
10.2.4
Identifikation eines Gefühls
Um Emotionen verändern zu können, müssen diese zunächst einmal erkannt werden. Eine Übung, welche in der Gruppe gut durchgeführt werden kann, ist das »Gefühlsbild« (modifiziert nach Görlitz 2001). Die Patienten werden hierbei gebeten, sich langsam durch den Raum zu bewegen und dabei in sich hineinzuhorchen. Nach ein bis zwei Minuten sollen sie stehen bleiben, die Augen schließen und das erspürte Gefühl auf sich wirken lassen. Im Anschluss daran wird mit ihnen besprochen, welches Gefühl sie wahrgenommen haben, woran sie das Gefühl erkannt haben und ob sich allein durch das »Nachspü-
ren« etwas geändert hat. Falls es Schwierigkeiten gab, das erlebte Gefühl einzuordnen, wird der Patient gebeten, zu beschreiben, was er körperlich wahrgenommen hat und welche Gedanken ihm durch den Kopf gegangen sind. Im Anschluss an die Übung wird abgeleitet, anhand welcher Merkmale die Einordnung eines Gefühls möglich ist. Dies sind zum einen körperliche Reaktionen, zum anderen aber auch Gestik und Mimik anderer beteiligter Personen, die Hinweise auf Art und Ursprung des Gefühls geben können (Balconi u. Pozzoni 2003) (7 Abschn. 11.2.1). Da Patienten mit Essstörungen meist eher diffuse Gefühlszustände beschreiben, sollte mit ihnen die Analyse von Situationen und damit einhergehenden Emotionen eingeübt werden. Dazu werden die Teilnehmer gebeten, sich beispielsweise eine Essanfallssituation vorzustellen, um herauszufinden, welches Gefühl vor dem Essanfall vorherrschend war. Durch die Vorstellung und Beschreibung der Situation können mögliche automatische dysfunktionale Gedanken, Körpergefühle oder Stimmungen besser erfragt werden. Der Therapeut moderiert die Gefühlsidentifikation durch Nachfragen:
199 10.3 · Bewältigung von negativen Gefühlen
10
4 Was ist Ihnen in dieser Situation durch den Kopf gegangen? 4 Was ist vorher passiert? 4 Wie haben Sie sich in der Situation verhalten? 4 Was haben Sie körperlich gespürt? 4 Gab es andere Menschen, die Ihnen hätten Hinweise auf Ihr Befinden in der Situation geben können?
Beispielsweise durch Nachfragen oder ähnliche Stimmungen?
Es ist sinnvoll, dass dieses Vorgehen mit allen Patienten durchgeführt wird. Als Hausaufgabe eignet sich in diesem Zusammenhang das Führen eines Gefühlsprotokolls (. Arbeitsblatt 10.5). Das Ziel des Gefühlsprotokolls liegt darin, die Gefühlswahrnehmung der Patienten zu schulen. Dafür werden die Patienten gebeten, im Verlauf der Woche morgens, mittags und abends für einen Moment innezuhalten, um in sich »hineinzuhorchen« und sich zu überlegen, welche Gefühle sie im Augenblick wahrnehmen. Bei Schwierigkeiten bei der Identifikation sollten sie dabei selbstständig üben, mit der Situation verbundene Bewertungen und auftretende Gedanken sowie mögliche Körpergefühle und nonverbale oder verbale Zeichen anderer Menschen zu überprüfen, um den momentanen Gefühlszustand daraus abzuleiten.
um kurzfristige Strategien, welche in spezifischen Belastungssituationen (z. B. interpersonelle Stressoren), die z. B. zur Auslösung von Essanfällen beitragen, angewendet werden können. Im Folgenden werden zunächst die einzelnen kurzfristigen Strategien dargestellt, welche Interventionen zum Aufbau palliativ-regenerierender Fertigkeiten und kognitive Techniken beinhalten. Im Anschluss daran werden Strategien beschrieben, anhand derer die Patienten erkennen können, in welcher Situation sinnvollerweise welche Affektregulationstechnik (emotionales Abreagieren, kognitive Umstrukturierung etc.) zum Einsatz kommen sollte.
Übungen: 4 Muskuläre Kurzentspannung mit Koppe-
lung an ein Ruhebild
10.3
Bewältigung von negativen Gefühlen
4 Vegetative Entspannung am Beispiel der
Schwereübung des autogenen Trainings 4 Übung »Rumpelstilzchen« 4 Übung »Abklopfen«
Wie bereits erläutert (7 Kap. 8) können bei der Regulation von Gefühlen kurz- und langfristige Strategien unterschieden werden (vgl. Wagner-Link 1995). Bei den kurzfristigen Strategien geht es vor allem darum, die mit einer Belastungssituation einhergehenden emotionalen Reaktionen zu bewältigen. Im Gegensatz dazu soll durch die langfristigen Strategien zum einen die Stresstoleranz erhöht werden und das generelle Anspannungsniveau gesenkt werden. Zum anderen geht es bei den langfristigen Strategien darum, die Bedingungen, die zu der emotionalen Belastung führen, zu verändern. Dementsprechend beinhalten diese neben einer Vermittlung von Entspannungsfertigkeiten auch die Einführung von Problemlösetechniken, den Aufbau sozialer Fertigkeiten (7 Kap. 11) und Zufriedenheitserlebnissen (7 Kap. 13). In diesem Kapitel geht es ausschließlich
4 Imaginationsübung zu einem individuellen
persönlichen Erlebnis 4 Positive Selbstinstruktionen 4 Handlungsketten
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Stressmodell (. Arbeitsblatt 10.6) 4 Ruhebild (. Arbeitsblatt 10.7/10.7B) 4 Verhaltenskette mit Alternativen (. Arbeits-
blatt 10.8/10.8B)
200
10.3.1
10
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
Einführung eines Stressmodells
Zunächst ist es sinnvoll, mit den Patienten den Unterschied zwischen Grundanspannung und akuter Belastung beispielsweise anhand des DiatheseStress-Modells zu besprechen (vgl. auch Darstellung bei Margraf u. Schneider 1990). Dazu sollte am Flipchart ein solches Modell angezeichnet werden und dabei die Entstehung einer überhöhten Grundanspannung erläutert werden. Diese hohe Grundanspannung kann durch viele verschiedene alltägliche Belastungsfaktoren (z. B. Überbelastung im Beruf) sowie durch überhöhte Leistungsansprüche und dysfunktionale Grundannahmen (»Ich muss immer perfekt sein!«) entstehen. Treten zusätzlich zu einer chronisch überhöhten Grundanspannung akute Belastungen im Alltag auf (z. B. Verlieren des Portemonnaies), ist die individuelle Belastungsgrenze überschritten, und diese Stressoren – auch wenn sie nur relativ klein und unbedeutend sein mögen – können nicht mehr bewältigt werden. Dies kann zu einer überschießenden Gefühlsreaktion wie Wut anstatt nur Ärger führen. Hierdurch kann die individuelle Schwelle für das Auftreten eines Essanfalls, aber auch für verstärktes Diätverhalten übertreten werden (. Arbeitsblatt 10.6). Dieses Modell hat zweierlei Implikationen für die Essstörungsbehandlung: Zum einen soll angestrebt werden, das Grundanspannungsniveau zu senken, so dass beim Auftreten kleinerer alltäglicher Stressoren (»daily hassles«) genügend »Puffer« vorhanden ist, um nicht die Schwelle z. B. für Essanfälle zu überschreiten. Hierzu eignen sich kognitive Techniken zur Modifikation dysfunktionaler f und stressinduzierender Einstellungen (7 Kap. 9) sowie das Erlernen von Entspannungsverfahren und einer ausgeglichenen Lebensgestaltung. Diese Techniken werden in 7 Kap. 11 zum Aufbau sozialer Fertigkeiten und 7 Kap. 13 zum Aufbau des Selbstwertgefühls und positiver Aktivitäten vorgestellt. Zum anderen empfiehlt es sich, mit den Patienten Techniken zu etablieren, um die durch akute Belastungen auftretenden Gefühlsreaktionen abzufangen und so auch auf diese Weise einem Überteten der Schwelle für Essanfälle entgegenwirken zu können. Dies wird im Folgenden beschrieben.
10.3.2
Palliativ-regenerative Techniken
Zu den palliativ-regenerativen Techniken, welche der Bewältigung akuter Stressoren dienen, zählen Spontanentspannungen auf muskulärer, vegetativer, emotionaler und kognitiver Ebene sowie die kontrollierte Abreaktion anhand körperlicher oder emotionaler Techniken (vgl. auch Wagner-Link 1995). Diese fokussieren auf die kurzfristige Erleichterung durch Ablenkung oder Erregungsabbau in Auslösesituationen ohne momentan definierbaren Auslöser. Im Folgenden werden Beispiele für die verschiedenen Ansatzpunkte detailliert dargestellt.
Spontanentspannung Geeignet sind Kurzformen der systematischen Muskelentspannung, autogenes Training, Atemübungen oder konzentrative Methoden. Sinnvoll ist die Spontanentspannung vor allem dann, wenn der Patient bereits über Fähigkeiten zur Entspannungsinduktion verfügt, da diese nicht sofort wirksam ist, sondern einiger Übungsintervalle bedarf. Wagner-Link (1995) gibt die muskuläre Entspannung als die am besten geeignete Methode zur kurzfristigen Entspannungsinduktion an, daneben nennt sie vegetative Entspannung, wie sie beispielsweise über autogenes Training und Atemtechniken erreicht wird, sowie kognitive und emotionale Entspannungsverfahren, welche durch die in 7 Abschn. 10.3.3 beschriebene Wahrnehmungslenkung und Imagination erreicht werden kann. Die muskuläre Entspannung wie auch einfache Atemübungen bieten gegenüber anderen Methoden den Vorteil, dass sie relativ schnell und einfach zu erlernen sind und situationsunabhängig ausgeführt werden können (Wagner-Link 1995; Vaitl u. Petermann 2004). Daher sind sie zum kurzfristigen Erregungsabbau als Ergänzung zu den übrigen in diesem Kapitel beschriebenen Techniken geeignet. Die für die Spontanentspannung einzusetzenden Verfahren sind ausführlich in Vaitl und Petermann (2004) dargestellt. Um eine muskuläre Entspannungg herbeizuführen, können ähnlich wie bei der Progressiven Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson (vgl. Vaitl u. Petermann 2004) beispielsweise die Finger zu Fäusten geballt werden und diese Spannung 20 Sekunden lang gehalten werden. Im Unterschied zur ursprüng-
201 10.3 · Bewältigung von negativen Gefühlen
. Arbeitsblatt 10.6. Stressmodell. (Mod. nach Margraf u. Schneider 1990)
10
202
10
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
lichen Form der PMR nach Jacobson (1990) sind die Anspannungszeiten deutlich verkürzt. Nach der Entspannung der Fäuste sollte dem entstandenen Entspannungsgefühl der Hand nachgespürt werden. Ähnlich kann mit anderen Körperteilen wie dem Oberschenkel oder den Füßen vorgegangen werden. Auch das Vorsagen eines Ruhewortes gekoppelt an eine muskuläre Entspannung kann für den gezielten Einsatz von Spontanentspannungen trainiert werden (vgl. auch Kaluza 2005). Zur Identifikation des individuellen »Ruhewortes« werden die Patienten gebeten, sich zu überlegen, welches Wort für Sie am besten Entspannung beschreibt. Dies kann ein Adjektiv sein wie »schwerelos«, »leicht«, »frei« oder aber ein bildhafter Ausdruck wie »Sonne«, »Meer«, »Strand«, »Berge«, »Schnee« oder Ähnliches. Manchmal haben die Teilnehmer Schwierigkeiten, für sich ein Ruhewort zu identifizieren. Ist dies der Fall, sollte der Therapeut den Patienten Momente beschreiben lassen, in denen er entspannt war, und aus dieser Darstellung ein mögliches Ruhewort herleiten. Das Ruhewort sollte zur Intensivierung an eine Entspannungsübung gekoppelt sein, da teilweise die Imaginationskraft von Patienten nicht ausreichend ist, um tatsächlich in einen Entspannungszustand zu gelangen. Geeignet für eine solche Koppelung ist beispielsweise eine Ganzkörperentspannung, während welcher der Patient den ganzen Körper kurzzeitig anspannt und wieder locker lässt. Hierbei werden die Arme angewinkelt, Fäuste geballt, Schultern nach hinten gezogen, der Kopf eingezogen, Bauch, Beine und Po angespannt und die Fersen fest auf den Boden gestemmt. Zur Koppelung mit dem
Therapeut: Patient:
Therapeut:
Ruhewort sollte beim Einatmen der Körper angespannt und beim Ausatmen entspannt werden und gleichzeitig das Ruhewort innerlich ausgesprochen werden. Vegetative Entspannungg zielt vor allem auf die Reduktion eines sympathisch induzierten Erregungszustandes und nicht primär auf die Entspannung der Muskulatur ab. Um dies zu erreichen, eignen sich Übungen wie z. B. das Beobachten des eigenen Atemmusters oder auch das Mitzählen beim Ein- und Ausatmen (vgl. Kaluza 2005) oder ein autogenes Training (vgl. z. B. Vaitl u. Petermann 2004). Wagner-Link (1995) beschreibt zur Spontanentspannung zudem das sog. »Händereiben«. Dabei werden die Patienten dazu aufgefordert, die Handflächen in schnellen, kleinen Bewegungen aneinander zu reiben, bis sie warm sind. Dann werden die Handflächen ineinander verschränkt und dabei eine Kuhle gebildet. Die verschränkten Hände werden so über die geschlossenen Augen gelegt, dass diese unter den Handflächen liegen und kein Druck auf die Augen entsteht. Die Augen bleiben geschlossen, während ruhig weitergeatmet wird. Dieser Zustand wird mehrere Minuten gehalten, bis der Patient eine Entspannung verspürt. Im nachfolgenden Dialog schildert eine Patientin, wie sie sich einen solchen Mechanismus zunutze macht, indem sie sich ein Glas mit kühlem Wasser nimmt, langsam und bewusst einen Schluck davon trinkt und danach das Glas an die Stirn hält. Sie atmet dabei ruhig weiter und konzentriert sich auf den Reiz des kühlen Glases an der Stirn.
Wir haben nun einige Beispiele gesammelt, die zu einer schnellen Beruhigung führen können. Haben Sie noch andere Ideen? Was ich manchmal mache und wirklich gut hilft, wenn ich z. B. beim Lernen ganz panisch werde, weil ich mich nicht konzentrieren kann, ist, dass ich dann ein kaltes Glas Wasser nehme und ganz bewusst einen Schluck trinke. Wenn ich dann das Glas an die Stirn halte und mich bemühe, ruhig zu atmen und auf das Glas an der Stirn zu konzentrieren, fühle ich mich auf einmal ganz ruhig. Ah. Es scheint, dass Sie durch die Konzentration auf den kühlen Reiz zu einer Beruhigung kommen und zusätzlich unbewusst eine Atemtechnik einsetzen. Wenn Ihnen das hilft, ist das sehr schön. Eine ähnliche Technik ist das sog. Händereiben. Ich werde Ihnen diese Übung als weitere Alternative demonstrieren. Wichtig ist, dass jeder für sich eine Möglichkeit zur Beruhigung findet.
203 10.3 · Bewältigung von negativen Gefühlen
In der folgenden Übersicht sind alle beschriebenen Übungen als Schlagworte aufgelistet:
Übungen zur Spontanentspannung 4 Muskuläre An- und Entspannungsübung
mit verschiedenen Körperteilen 4 Atemübungen 4 Ruheformel 4 Händereiben 4 (Konzentriertes Trinken)
Kontrollierte Abreaktion Neben den oben beschriebenen Entspannungsverfahren können Techniken zur kontrollierten Abreaktion zur kurzfristigen Senkung des Anspannungsniveaus eingesetzt werden. Dies kann auf zwei verschiedene Arten geschehen: durch eine körperliche Abreaktion, bei der starke Erregungszustände durch körperliche Aktivität abgebaut werden, oder durch eine emotionale Abreaktion, bei der die vorhandene Emotion ausgelebt (z. B. Traurigkeit zulassen, weinen) oder thematisiert wird (besprechen mit einem Freund). In 7 Kap. 8 wurden bereits einige körperliche und emotionale Abreaktionsstrategien zur Verhinderung von Heißhungerattacken, wie Hände unter kaltes Wasser halten, warmes Fußbad nehmen u. Ä., vorgestellt, die auf kurzfristige Ablenkung durch Kältereize oder Beruhigung durch die Wärme des Wassers abzielen. In der folgenden Übersicht sind Beispiele für Strategien der körperlichen und emotionalen Abreaktion dargestellt, deren Einsatz im Weiteren detailliert vorgestellt wird.
Strategien zur kontrollierten Abreaktion 4 Körperliche Abreaktionen:
– – – – – – – 6
Treppen rauf und runter laufen Mit der Faust auf den Tisch hauen Gegen einen Boxsack schlagen Ein Bad nehmen Laut schreien Mit Kopfkissen auf das Bett hauen Betten machen
10
– – – – – – –
Fenster putzen Staubsaugen Seilspringen Liegestützen machen Altglas wegbringen Altpapier (Kartons) zerreißen Sportarten (wie Squash, Tennis, Tischtennis, Joggen, etc.) – Abklopfübung – »Rumpelstilzchen« 4 Emotionale Abreaktionen: – Stark emotionalen Film ansehen – Freundin/Freund anrufen und sich den Druck »von der Seele reden« – Vor sich hin schimpfen – Brief schreiben
Diese Techniken sollten dann Verwendung finden, wenn eine besonders starke Aktivierung wie bei Ärger oder Wutgefühlen vorhanden ist. Strategien zur Beruhigung, Entspannung oder Ablenkung sind eher bei Gefühlen wie Langeweile, Traurigkeit u. Ä. einzusetzen. Bei der Vermittlung der Techniken zur kontrollierten Abreaktion sollte darauf verwiesen werden, dass sie nur zum kurzfristigen Einsatz dienen sollten,wenn keine andere Bewältigungsmöglichkeit wie Klärung des Konfliktes möglich ist, da einige dieser Techniken auf andere Menschen manchmal bedrohlich wirken können, etwa wenn man voll Wut auf einen Boxsack schlägt oder auf das Bett trommelt. Zudem sollte die Aggression nie gegen einen anderen Menschen oder direkt gegen sich selbst gewendet werden, wie das bei selbstverletzendem Verhalten wie Sich-Schneiden, Kneifen oder Schlagen der Fall ist. Der Einsatz dieser Strategien sollte daher gezielt für die jeweilige Situation erfolgen und dabei so kontrolliert ausgeführt werden, dass kein Schaden für sich selbst oder andere daraus erfolgt. Um den Patienten zu verdeutlichen, wann welche Strategie zur Abreaktion kontrolliert eingesetzt werden kann, sollte anhand des Gefühlsrads zu den verschiedenen Gefühlen jeweils eine körperliche Abreaktion als auch möglicherweise emotionale Abreaktion erarbeitet werden. Dazu wird gemeinsam mit den Patienten für jedes Gefühl eine Beispielsituation überlegt und die
204
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
jeweilige Strategie, die idealerweise verwendet werden sollte, herausgearbeitet. Im folgenden Textbei-
Therapeut:
Frau S.:
Therapeut:
10
Frau S.: Therapeut:
Frau S.: Therapeut:
spiel ist die Durchführung dieser Intervention dargestellt:
Ich möchte mit Ihnen nun sog. »kurzfristige Abreaktionsstrategien« suchen, welche in starken Erregungs- und Anspannungszuständen eingesetzt werden können. Wir haben schon bei der Besprechung der Hilfen bei einem starken Drang zu essen einige Strategien, wie den Kopf unter kaltes Wasser halten oder ein warmes Fußbad nehmen, erarbeitet. Ich möchte nun mit Ihnen noch einmal für weitere Gefühle wie Kummer, Wut, Zorn, Ärger und Ähnliches kurzfristige Strategien herausarbeiten, die Ihnen helfen können, sich entweder körperlich oder gefühlsmäßig abzureagieren. Können Sie vielleicht eine Situation aus der nahen Vergangenheit beschreiben, in der Sie ein starkes Ärgergefühl hatten? Ja, vorgestern ist mein Freund statt mit mir ins Kino zu gehen einfach mit seinem Freund etwas trinken gegangen. Ich hab nichts gesagt, als er kurz angerufen hat, um mir mitzuteilen, dass er nach dem Fußballtraining mit Klaus ein Bier trinken gehen will, aber ich saß zu Hause und habe innerlich gekocht vor Wut. Ich war so sauer! Das hat dann damit geendet, dass ich einen riesigen Essanfall hatte. Okay, das Gefühl war also Ärger und Wut. Diese Gefühle bringen ja eine Menge Energie hervor, wie wir bereits besprochen haben. Ihr Freund war aber nicht da, um sich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Was wäre also eine gute und gesunde Möglichkeit gewesen, die in diesem Moment überschüssige Energie abzubauen? Vielleicht könnte man in solchen Momenten ja putzen, aufräumen oder Sachen ausmisten. Das ist sehr gut. Ausmisten könnte ja zum Beispiel auch sein, das Altpapier zu zerreißen, um diese Energie abzubauen. Eine andere wäre, einen Spaziergang um den Block zu machen oder in ein Kissen zu schreien. Fallen Ihnen noch mehr dieser Möglichkeiten ein? Naja, ich hätte ja auch eine Freundin anrufen können, um meinem Ärger Luft zu machen. Ja, das wäre sicher auch eine Möglichkeit. Das wäre dann eher eine emotionale Abreaktion gewesen, bei der Ihnen ihre Freundin geholfen hätte. Eine andere Möglichkeit wäre, sich einen Film anzusehen, der starke Gefühle hervorruft, um die anderen Gefühle abbauen zu können.
Analog dazu sollte für jeden Patienten eine Beispielsituation mit einem anderen Gefühl besprochen werden. Wichtig ist auch, dass diese Strategien zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden, bevor ein Kontrollverlust stattfindet. Ähnlich dem von Linehan (1996) defininierten »point of no return« geht es auch bei der Affektregulation von Essstörungspatienten darum, in der Handlungskette den Zeitpunkt des richtigen Einsatzes der Technik abzupassen. Auf die Wahl dieses Zeitpunktes wird in 7 Abschn. 10.3.3. noch einmal detailliert eingegangen. Neben alltäglichen Tätigkeiten wie Treppenlaufen, gegen einen Boxsack oder Kissen schlagen, putzen, sportliche Tätigkeiten ausführen oder Altpa-
pier/Altglas entsorgen, können zwei weitere gezielte Übungen zur körperlichen Abreaktion vorgeschlagen werden. Dies ist zum einen das sog. »Abklopfen«, zum anderen das »Rumpelstilzchen« (vgl. Kaluza 2005; Linehan 1996). Die Übung Abklopfen beinhaltet ein leichtes Schlagen des Körpers mit flachen Händen. Dazu setzen sich die Teilnehmer auf den Boden mit ausgestreckten Beinen. Zuerst wird ein Bein angewinkelt und die Fußsohle abgeklopft, dann über den ganzen Fuß, Knöchel, Unterschenkel, Knie und Oberschenkel das ganze Bein bzw. beide Beine abgeklopft, weiter wird dann über den Po, Bauch, Brustbereich, über die Schultern zu den Oberarmen, Ellenbogen und Unterarmen, Händen und abschließend vom
205 10.3 · Bewältigung von negativen Gefühlen
Halsbereich über den Hinterkopf zum Gesicht jeder Körperteil abgeklopft. Das Klopfen sollte je nach Körperpartie mehr mit der ganzen Handfläche bzw. den Fingerspitzen und schneller bzw. langsamer und leichter erfolgen. Nachdem der ganze Körper abgeklopft wurde, sollen Ausstreichungen erfolgen. Dazu werden zunächst die Beine in Richtung Po und Bauch hochgestrichen, die Bewegung fließend über den Rumpf hin zu den Armen fortgesetzt und über die Hände »ausgestrichen«. Abschließend steht der Patient auf, und die Arme werden ausgeschüttelt. Die Übung dient dazu, die Wahrnehmung auf den Vorgang des Klopfens zu lenken, zudem findet eine Aktivierung des Körpers durch das Abklopfen statt. Es ist eine recht einfache Übung, welche schnell und effektiv eingesetzt werden kann. Die Übung »Rumpelstilzchen« kann orts- und situationsunabhängig eingesetzt und notfalls unterwegs beispielsweise am Arbeitsplatz durchgeführt werden. Dabei werden abwechselnd der linke und rechte Fuß bewusst fest und kräftig auf den Boden aufgestampft, wobei die Intensität des Stampfens langsam gesteigert wird. Beim Hochnehmen des Beins sollte eingeatmet und beim Aufstampfen ausgeatmet werden. Nach ca. 10-mal Stampfen werden die Beine ausgeschüttelt. Die Teilnehmer werden gebeten, einen Moment bewusst zu verweilen und sich auf die Empfindungen in den Beinen und Füßen zu konzentrieren. Abschließend werden die Erlebnisse besprochen und erörtert, wie diese Mechanismen im Alltag Anwendung erfahren könnten. Danach wird als weitere Möglichkeit der Affektregulation die Wahrnehmungslenkung auf innere Reize vorgestellt.
10.3.3
Kognitive Techniken
In 7 Kap. 9 wurden ausführlich kognitive Techniken zur Modifikation von Grundannahmen und automatischen Gedanken vorgestellt. Im Rahmen der Affektregulation soll nun noch einmal vertiefend auf schnell anwendbare Techniken zur Verminderung der aus den negativen Gedanken resultierenden Gefühle eingegangen werden. Ziel ist es bei diesen Interventionen, über den Einsatz kognitiver Techniken eine Beruhigung herzustellen, so dass der Fokus damit auf der affektregulierenden Wirkung der kog-
10
nitiven Technik liegt. Zu diesen Interventionen zählen vor allem die Wahrnehmungslenkung auf innere Reize und das Führen positiver Selbstgespräche (vgl. Wagner-Link 1995; Scholz 2001).
Wahrnehmungslenkung auf innere Reize Wie bereits beschrieben, gehen Essanfällen meist Belastungssituationen voraus (7 Kap. 8). Diese sind häufig mit negativen und selbstabwertenden Gedanken verbunden, welche zum Aufbau eines negativen Gefühlszustandes führen. Um diesen negativen Gefühlen nicht nur auf der Handlungsebene zu begegnen, kann die Wahrnehmung auf innere Reize wie etwa Vorstellungsbilder, die Imagination eines positiven Ereignisses in Form einer Geschichte oder aber auf externe Reize, welche intensiv betrachtet werden, gelenkt werden. Vorstellungsbilder können aus individuellen Erinnerungen bestehen, welche mit einem besonders angenehmen Gefühl verbunden sind. Dabei geht es darum, sich dieses Bild vor das »innere Auge« zu holen und sich auf die damit verbundenen Empfindungen, Gerüche und Geräusche zu konzentrieren (7 Kap. 13, Imaginationsverfahren). Zur Erarbeitung eines solchen Vorstellungsbildes können die Teilnehmer der Reihe nach bezüglich einer besonders schönen und intensiven Erfahrung befragt werden. Es können dazu Beispiele wie Erinnerungen an einen Urlaub am Strand, das Liegen auf einer Wiese oder das Wandern durch eine Berglandschaft, das Knistern eines Kaminfeuers oder die angenehme Wärme von Badewasser in der Wanne bzw. im Whirlpool gegeben werden. Die einzelnen Patienten werden dann gebeten, zu überlegen, ob sie eine solche Situation für sich erinnern können. Jeder Patient soll nun zunächst diese Situation in der Gruppe beschreiben. Wenn genug Zeit ist, kann . Arbeitsblatt 10.7 »Mein Ruhebild« dazu verwendet werden. Die Patienten beschreiben dabei zunächst die von ihnen vorgestellte Situation auf dem Arbeitsblatt und stellen sie erst dann in der Runde vor (Beispiel in . Arbeitsblatt 10.7B). Im Anschluss an die Vorstellung wird eine »Probe-Imagination« durchgeführt. Hierbei werden die Patienten gebeten, sich ihr Ruhebild vor dem inneren Auge zu vergegenwärtigen. Dazu wird folgende Übungsanleitung gegeben:
206
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.7B. Ruhebild
207 10.3 · Bewältigung von negativen Gefühlen
10
Bitte schließen Sie die Augen. Konzentrieren Sie sich zunächst auf Ihren Atem. Atmen Sie langsam tief ein und aus und zählen Sie dabei langsam bis zehn. Wenn Sie bei zehn angekommen sind, stellen Sie sich bitte ihr Ruhebild vor. Versuchen Sie, alle Details der Umgebung genau wahrzunehmen. Erinnern Sie sich daran, wie Sie sich in diesem Moment gefühlt haben … frei, leicht, unbeschwert … genießen Sie die Umgebung und versuchen Sie sich den Geruch vorzustellen, die Geräusche nachzuhören. Verweilen Sie nun einen Moment in diesem Bild und kommen Sie zurück, wenn Sie das Gefühl haben, entspannt zu sein.
Nachdem diese Übung exemplarisch durchgeführt wurde, werden die Patienten gebeten, die Ruhebildübung am besten morgens vor dem Aufstehen einmal durchzuführen, um in schwierigen Situationen möglichst rasch in das Bild eintauchen zu können. Alternativ kann auch das Imaginieren eines positiven Ereignisses durchgeführt werden. Bei der Imagination sollte auf nicht belastende, neutrale oder positive Aktivitäten oder Ereignisse wie Freizeitaktivitäten, Urlaub, Hobbys, nette Menschen, lustige Ereignisse, schöne Tagträume etc. fokussiert werden. Zudem kann diese Übung auch die Vorstellung eines erfolgreichen Abschlusses einer Aufgabe oder die Vorstellung, in den lang ersehnten Urlaub zu gehen, beinhalten. Als Beispiel kann den Patienten folgendes Fallbeispiel vorgelesen werden:
Fallbeispiel Frau M.: Wenn ich mich besonders mies fühle, dann stelle ich mir immer vor, wie ich mich nach meiner letzten Abi-Klausur gefühlt habe. Das war so befreiend, und ich war so stolz auf mich und glücklich, dass alles hinter mir liegt. Ich fühle noch die Erregung, das Gefühl, dass jetzt die Karten neu gemischt sind und mir die Welt zu Füßen liegt.
Wichtig ist, dass bei dieser Vorstellungsübung vor allem das Gefühl des Erfolgs, der eigenen Fähigkeiten im Vordergrund steht und das Gefühl des Versagens ersetzt wird. Auch dies kann analog zu dem oben dargestellten Vorgehen in der Gruppe eingeübt werden. Das heißt, dass zunächst mögliche Erfolgs- bzw. Positiverlebnisse gesammelt werden und die einzelnen Patienten diese in der Gruppe vorstellen. Danach wird die Übung in der Gruppe einmal durchgeführt.
Bitte schließen Sie nun noch einmal die Augen und konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem. Zählen Sie dabei langsam bis zehn. Wenn Sie bei zehn angekommen sind, lassen Sie die Erinnerung an ein Erfolgserlebnis auftauchen. Versuchen Sie sich in diese Situation hineinzuversetzen. Welche Menschen waren anwesend, wie haben diese sich Ihnen gegenüber verhalten. Wie haben Sie sich gefühlt, was haben Sie gesagt oder getan. Vergegenwärtigen Sie sich das Gefühl in dieser Situation und lassen Sie sich ganz darauf ein. Bleiben Sie einen Moment in diesem Gefühl. Wenn Sie den Zeitpunkt für gekommen halten, kommen Sie in den Raum zurück und nehmen Sie das vorherrschende Gefühl mit in die Gegenwart.
Anschließend wird die Übung besprochen, und die Erfahrungen der Teilnehmer werden gesammelt. Den Patienten kann empfohlen werden, diese Imaginationsübung häufiger durchzuführen, um sich aus dem Alltag herauszuziehen und ein positives Gefühl aufzubauen. Sinnvoll ist es, sich bestimmte »Marker« dafür zu setzen, um sich an diese Vorstellungsübung zu erinnern, etwa das Abiturzeugnis im Beispiel von Frau M. einrahmen und in die Wohnung hängen oder das Foto der Abiturzeugnisüber-
gabe in die Handtasche stecken. Ziel dieser beiden Übungen ist es, die Fähigkeit, positive Gefühle aufzurufen, zu stärken und diese in besonders schwierigen Gefühlssituationen einsetzen zu lernen. Ähnlich kann auch der Einsatz äußerer Ablenkungsreize gehandhabt werden. Da hierzu keine Imaginationsfähigkeiten notwendig sind, kann diese Übung auch bei Patienten hilfreich sein, die sich nicht gut auf die Vorstellungsübungen einlassen können. Beim Einsatz von Ablenkungsreizen geht es
208
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
darum, einen Gegenstand wie ein Bild, Blumen oder Parfum, also etwas, woran man riechen kann, auszuwählen und sich auf diesen Gegenstand zu konzentrieren. Wenn beispielsweise ein Bild ausgewählt wird, sollte dieses in einem Moment starker Anspannung fokussiert und möglichst jedes Detail wahlweise im Geiste oder laut beschrieben werden. Falls es ein Parfüm oder ein Riechfläschen ist, sollte daran gerochen werden und versucht werden, die einzelnen Geruchselemente herauszufinden (7 Kap. 13). Im Vordergrund bei dieser Vorgehensweise steht vor allem die »Aufmerksamkeitsumlenkung«, wie dies bereits in 7 Kap. 8 im Zusammenhang mit der Verhinderung von Heißhungerattacken ausführlich beschrieben wurde.
Führen positiver Selbstgespräche
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Neben der Vorstellung von Ruhebildern und Erfolgserlebnissen ist das Führen von Selbstgesprächen im Kopf eine weitere Möglichkeit zum Umgang mit kurzfristigen Belastungssituationen. Diese Technik basiert darauf, dass Gefühle und Verhalten meist von Gedanken im Form eines »inneren Dialoges« begleitet werden. Ähnlich wie bereits bei der Übung »Engelchen und Teufelchen«, dargestellt in 7 Kap. 9, wird hier also ein Selbstgespräch geführt, welches das Verhalten positiv beeinflussen soll. Anders als bei der Abwägung von Pro-und-Contra-Argumenten, geht es bei der positiven Selbstinstruktion nicht um die Hinterfragung eines negativen Gedankens, sondern um die Formulierung eines positiven oder neutralen Gedankens, der dem negativen entgegensteht (vgl. auch Meichenbaum 1991). Diese kann sowohl posi-
Therapeut:
Frau M.: Therapeut:
6
tive Handlungsanweisungen (»Ich werde jetzt mit fester Stimme sagen, dass ich die Arbeit nicht mehr erledigen kann«) als auch Ermutigungen (»Ich werde das schon schaffen«) beinhalten. Um den Patienten zu verdeutlichen, wie so etwas funktionieren kann, sollte zunächst exemplarisch eine belastende Situation eines Teilnehmers vorgestellt werden. Diese wird auf dem Flipchart in Stichworten festgehalten und analog früherer Situations- und Verhaltensanalysen in emotionale und kognitive Aspekte aufgeteilt. Durch Nachfragen werden mögliche Gedanken in der Situation, die dem Patienten durch den Kopf gingen, eruiert und notiert. Dann erfolgt eine Einschätzung durch alle Teilnehmer, wie positiv bzw. negativ diese Gedanken auf einer Skala von 0 (sehr negativ) bis 100 (sehr positiv) einzustufen sind. An dieser Stelle sollte vom Therapeuten noch mal auf den Einfluss von Gedanken auf Gefühle verwiesen werden (. Arbeitsblatt 10.4), um die Wichtigkeit der positiven Reformulierung nochmals herauszustreichen. Um eine positive Selbstinstruktion zu erarbeiten, muss zuvor analog der bereits eingeübten kognitiven Umstrukturierung (7 Kap. 9) eine mögliche Alternative bzw. das Verhaltensziel in der Situation identifiziert werden. Im Anschluss daran können mögliche positive Selbstinstruktionen gesammelt werden. Abschließend wählt derjenige Patient, dessen Beispielsituation gerade besprochen wurde, eine mögliche Ermutigung für sich aus und probiert diese im Verlauf der Woche aus. Im Folgenden ist exemplarisch ein TherapeutPatient-Dialog zur Erarbeitung positiver Selbstinstruktionen dargestellt.
Frau M., Sie haben beschrieben, dass Sie es als sehr belastend empfinden, wenn Sie alleine zu Hause sind und Sie niemand anruft. Dies sind Situationen, in denen Sie häufig einen Essanfall haben, weil Sie denken, dass Sie keiner mag. Wir haben nun den Zusammenhang besprochen, der zwischen dem Gefühl des Alleineseins und der Situationsbewertung, dass sie keiner mag, besteht. Haben Sie eine Idee, was Ihnen in dieser Situation helfen könnte, ein positives Gefühl zu entwickeln? Ja, ich müsste mir sagen, dass ich Freunde habe und nicht alleine bin. Ja, das wäre eine gute Alternative für den negativen Gedanken. Gibt es denn auch eine Selbstinstruktion, wie wir das eben besprochen haben, die Ihnen helfen könnte, in der Situation etwas Positives zu tun, um wieder ein gutes Gefühl zu bekommen?
209 10.4 · Zusammenfassung
Frau M.: Therapeut:
Frau M.:
Ja, ich könnte mir zum Beispiel sagen – lass dich nicht so hängen, ruf einfach mal Isa oder Petra an, irgendjemand wird schon da sein. Ich hab es ja selbst in der Hand. Ja, sehr gut. Das wäre sowohl eine positive Selbstinstruktion, etwas zu tun und das zweite »Ich hab es ja selbst in der Hand« wäre so etwas wie eine Ermutigung. Was glauben Sie, würde daraus für eine Gefühl entstehen? Naja, Hoffnung halt und Energie, aktiv zu werden.
Anhand des Dialogs wird deutlich, dass es bei der Affektregulation vor allem um die Anleitung zur Handlung und damit das Erleben von Selbstkontrolle geht. Dies ist damit ein wichtiger Schritt, um Erregung kurzfristig abbauen zu können.
10.3.4
10
Einsatz der vermittelten Techniken
Es ist wichtig, dass die Patienten ein Gefühl bzw. Wissen über den richtigen Zeitpunkt des Einsatzes der verschiedenen oben dargestellten Techniken entwickeln, um eine Eskalation im Sinne des Übertretens der Gefühlsschwelle (7 Abschn. 10.3.1) zu vermeiden. Es sollte daher eine Analyse zur Identifikation verschiedener Interventionszeitpunkte durchgeführt werden, um den »point of no return«, den Zeitpunkt, an dem eine bewusste Veränderung der Gefühlsreaktion nicht mehr möglich ist, zu erkennen, also z. B. wann das Verlangen zu essen oder zu erbrechen nicht mehr bewältigt werden kann. Dabei sollte insbesondere betont werden, dass eine frühe Intervention immer einfacher ist und meist auch bessere Erfolgschancen hat als eine spätere. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten exemplarisch eine Handlungskette erstellt und mögliche Interventionszeitpunkte und geeignete Techniken ausgewählt werden (. Arbeitsblatt 10.8). Eine Handlungskette schließt dabei die einzelnen Handlungsschritte in einer Belastungssituation ein, welche möglicherweise zu einem Essanfall oder generell zu einer übermäßigen Gefühlsreaktion führen kann. In . Arbeitsblatt 10.8B ist exemplarisch eine solche Handlungskette mit alternativen Verhaltensweisen dargestellt. Diese kann den Patienten als Beispiel vorgegeben werden. Das Beispiel beschreibt, dass der Freund einer Patientin nicht zum geplanten Kinobesuch erscheint. Der ursprüngliche Gedanke
der Patientin ist: »Der hat das bestimmt wieder vergessen. Wenn ich ihn bloß erinnert hätte heute morgen. Wo ist er bloß?« Dieser Gedanke geht mit einem Gefühl von innerer Unruhe, Ärger und Hilflosigkeit einher und führt dazu, dass die Patientin hin und herläuft und mehrfach versucht, ihn auf dem Handy anzurufen, ohne Antwort zu erhalten. Als der Freund dann nach Hause kommt, schreit sie ihn an, wo er gewesen sei, und es entbrennt ein Streit. Mit den Patienten soll nun gemeinsam überlegt werden, an welcher Stelle die eben besprochenen Techniken eingesetzt werden könnten. Geeignet erscheint der Zeitpunkt, an welchem die Gedanken auftreten, dass er den Termin vergessen hat. Hier könnte im Sinne einer positiven Selbstinstruktion eine alternative Handlung angestrebt werden, z. B. »Dann nutze ich die Zeit jetzt für mich«. Emotionale oder körperliche Abreaktionen, nachdem der Gedanke aufgetreten ist, wären z. B. Schimpfen oder eine Freundin anrufen, mit der Faust auf den Tisch hauen, eine Atemübung machen oder die Hände reiben. Diese Affektregulationsstrategien sollten letztendlich zu einer alternativen Verhaltensweise führen, z. B. sich zu entscheiden, stattdessen fernzusehen, bis der Freund kommt, und wenn dieser erscheint, nachzufragen und seine Erklärung anzuhören. Idealerweise wird eine individuelle Belastungssituation als Beispiel am Flipchart erarbeitet und die Handlungskette daraus abgeleitet. Für jeden einzelnen Handlungsschritt wird dann überlegt, ob und wie die Verhaltenskette durch welche Strategie unterbrochen werden kann.
10.4
Zusammenfassung
4 Zunächst wird die Entstehung von Gefühlen be-
sprochen. Dazu werden die Basisemotionen eingeführt und mögliche Mischemotionen abgelei-
210
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.8B. Verhaltenskette mit Alternativen
211 10.5 · Arbeitsblätter
tet. Im Anschluss daran werden die Patienten für die Wahrnehmung von Gefühlen über verschiedene Übungen wie beispielsweise dem »Gefühlsbild« sensibilisiert und die Funktion von Gefühlen thematisiert. Abschließend wird darauf fokussiert, woran unterschiedliche Gefühle erkannt werden können. 4 Auf dieser Basis werden Interventionen zur Bewältigung von Gefühlen etabliert, welche den palliativ-regenerativen Verfahren und den kognitiven Techniken zugerechnet werden. Zu den palliativ-regenerativen Techniken zählen dabei Methoden der Spontanentspannung: muskuläre Kurzentspannung, vegetative Formen der Entspannung wie Atemübungen und autogenes Training und kontrollierte körperliche und emotionale Abreaktionen. Kognitive Techniken beinhalten die Aufmerksamkeitsumlenkung, die Einführung von Ruhebildern und das Einüben von positiven Selbstinstruktionen. 4 Abschließend sollten die eingeübten Techniken anhand von Verhaltensketten auf mögliche Einsatzpunkte überprüft werden.
10.5
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 10.1. Gefühlsrad . Arbeitsblatt 10.2. Welche Gefühle habe ich? . Arbeitsblatt 10.5. Gefühlsprotokoll . Arbeitsblatt 10.7. Ruhebild . Arbeitsblatt 10.8. Verhaltenskette mit Alternativen
10
212
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.1
213 10.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 10.2
10
214
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.5
215 10.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 10.7
10
216
Kapitel 10 · Interventionen zur Affektregulation
10
. Arbeitsblatt 10.8
11 11
Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
11.1
Einleitung
11.2
Kommunikationstraining
11.2.1 11.2.2 11.2.3
Nonverbale Aspekte der Kommunikation – 219 Verbale Kommunikationsfertigkeiten – 222 Einführen eines Kommunikationsmodells – 225
11.3
Aufbau selbstsicheren Verhaltens
11.3.1 11.3.2
Interventionen zur Steigerung von selbstsicherem Verhalten – 230 Vermittlung eines Problemlöseschemas – 234
11.4
Zusammenfassung
11.5
Arbeitsblätter
– 218
– 237
– 237
– 219
– 229
218
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
> Ziel
11
4 Sensibilisieren für mögliche Schwierigkeiten in der Kommunikation und Vermittlung von Kommunikationsstrategien 4 Vermittlung von Grundlagen zu selbstsicherem Verhalten in interpersonalen Situationen 4 Erlernen von Konfliktlösungs- und Problemlösetechniken : Vorgehen 4 Übung nonverbaler Fertigkeiten in der Kommunikation 4 Übungen zum direkten Ansprechen von Gefühlen 4 Einführung und Diskussion eines Kommunikationsmodells, Ableitung von Kommunikationsregeln 4 Definition von Merkmalen selbstsicheren Verhaltens, Durchführung von Rollenspielen zur Steigerung der Selbstsicherheit an standardisierten und individuellen Problemsituationen 4 Identifizieren von Konfliktsituationen und deren Auslösern, Anwendung bzw. Aufbau instrumenteller Fertigkeiten zur Problemlösung anhand eines strukturierten Problemlöseschemas
11.1
Einleitung
In den vorangehenden Kapiteln standen vornehmlich intraindividuelle Veränderungsmöglichkeiten im Vordergrund. In diesem Kapitel soll es nun um die Vermittlung von Techniken gehen, welche vor allem in interpersonellen Konflikt- und Belastungssituationen eingesetzt werden und so langfristig zu einer Steigerung sozialer Kompetenzen führen sollen, da Patienten mit Essstörungen meist Defizite in diesen Bereichen aufweisen (7 Kap. 2). Der Behandlungsbaustein schließt damit an den Bereich der Affektregulation an, da es sich hier um langfristig affektregulierende Maßnahmen im Sinne des instrumentellen Bewältigungsverhaltens (7 Kap. 10, Kaluza 2005) handelt. Das Behandlungsmodul basiert auf folgender Definition sozialer Kompetenz: Soziale Kompetenz ist die Fähigkeit des Individuums, seine sozialen Bedürfnisse, Interessen und Rechte selbständig zu erkennen und zu artikulieren (Problembewusstsein), sich zielgerichtet auf deren
Verwirklichung hin zu orientieren (Handlungsplanung) und dieses Wissen in der Weise in sein soziales Handeln zu übertragen (Handlungsausführung), dass es in seinen sozialen Interaktionen subjektiv befriedigende Verstärkung erlangen kann (Handlungsbewertung) (zit. nach Feldhege u. Krauthan, 1979). In dieser Definition werden Komplexität und Prozesscharakter der sozialen Kompetenz deutlich. Das Hauptziel eines sozial kompetenten Verhaltens liegt darin, sich in verschiedenen Situationen flexibel und angemessen zu verhalten, um sein Ziel zu erreichen. Dazu ist es wichtig, Merkmale einer interpersonellen Situation zu erkennen und diese richtig einzuordnen. Im Rahmen des Trainings sozialer Kompetenzen werden daher drei Situationstypen unterschieden: Situationen zur Durchsetzung von Rechten, Kommunikation in der Beziehung und Sympathiewerbung (Pfingsten u. Hinsch 1998). Neben der richtigen Einordnung der Situation erfordert ein sozial kompetentes Verhalten zudem weitere Fertigkeiten in der Umsetzung wie nonverbale Kommunikation, d. h. Mimik, Gestik, Blickkontakt, Körperhaltung und Stimme sollten der jeweiligen sozialen Situation angemessen ausgedrückt werden (7 Abschn. 11.2), und verbale Äußerungen, welche sich auf die direkte, eindeutige und konkrete Formulierung eigener Bedürfnisse und Gefühle beziehen (7 Abschn. 11.3). Daneben sind interpersonell-situative Aspekte wie soziale Regeln oder personen- bzw. netzwerkspezifische Bedingungen und inhaltliche Aspekte wie individuelle Wertmaßstäbe zu beachten. Zur Verbesserung instrumenteller Bewältigungsfähigkeiten sollten folglich grundlegende soziale Kompetenzen in den Bereichen Kommunikation und Selbstsicherheit vermittelt werden. In diesem Kapitel werden daher Interventionsansätze zur Steigerung kommunikativer Fertigkeiten und selbstsicheren Verhaltens dargestellt. Zusätzlich werden Techniken zum Lösen von Problemen in diesem Modul anhand von Konfliktlösesituationen eingeführt, um die möglicherweise vorhandenen Defizite im aufgabenorientierten Coping zu behandeln. Eine Darstellung der Forschungsbefunde zu Defiziten im Bewältigungsverhalten von Frauen mit Essstörungen findet sich in 7 Kap. 10 sowie im Theorieteil dieses Buches (7 Kap. 2). Die hier beschriebenen sozia-
219 11.2 · Kommunikationstraining
len Fertigkeiten hängen zudem eng mit dem Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls zusammen, worauf im Rahmen der Interventionen zum Aufbau von Ressourcen eingegangen wird (7 Kap. 13).
11.2
Kommunikationstraining
Den ersten Interventionsschritt zur Steigerung sozialer Kompetenzen stellt ein Kommunikationstrainig dar. Ein Ziel des Trainings kommunikativer Kompetenzen ist das Benennen und der adäquate Ausdruck von Gefühlen, welches auf den Interventionen zur Verbesserung der Wahrnehmung von Gefühlen basiert (7 Kap. 10). Um diese beiden Fertigkeiten zu trainieren, wird im Folgenden zunächst auf den nonverbalen, dann auf den verbalen Ausdruck von Gefühlen eingegangen. Abschließend wird den Patienten ein Kommunikationsmodell vermittelt, welches ergänzend der Verbesserung kommunikativer Fähigkeiten dienen soll und Hinweise auf die »Fallstricke« der Kommunikation im Alltag geben kann. Hierauf aufbauend werden den Patienten Strategien zum Klären von Kommunikations-Missverständnissen vermittelt.
Übungen: 4 4 4 4
Pantomimeübung »Gefühlsbild« (Variation) »Direkter Gefühlsausdruck« »Missverständnisse klären«
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Übungsanleitung »Gefühlsbild« (. Arbeitsblatt 11.1) 6
11
4 Rückmeldebogen »Gefühlsbild« (. Arbeitsblatt 11.2) 4 Regeln zum Äußern von Gefühlen (. Arbeitsblatt 11.3) 4 »Wie sage ich...?« (. Arbeitsblatt 11.4) 4 Auf welcher Ebene empfange ich Nachrichten? (. Arbeitsblatt 11.5/115B) 4 Missverständnisse klären /. Arbeitsblatt 11.6/11.6B)
11.2.1
Nonverbale Aspekte der Kommunikation
Wie bereits beschrieben, haben Patienten, die an Essstörungen leiden, häufig Schwierigkeiten, ihre Gefühle wahrzunehmen und diese direkt auszudrücken. Aus diesem Grunde soll nun – aufbauend auf den Übungen zur Gefühlswahrnehmung – der Ausdruck von Gefühlen in interpersonellen Situationen eingeübt werden. Dazu kann eine Pantomimeübung durchgeführt werden. Eine weitere Möglichkeit, um einen ersten Kontakt zum adäquaten Ausdruck von Gefühlen in der Kommunikation zu demonstrieren, ist die Wiederholung der bereits in 7 Kap. 10 vorgestellten Übung zum »Gefühlsbild« in leicht abgewandelter Form. In der modifizierten Form steht dabei der Ausdruck des eigenen Gefühls und dessen Wahrnehmung durch die andere Person im Vordergrund. Grundlage beider Übungen ist die Beobachtung, dass bei Patienten mit Essstörungen häufig Mimik und erlebtes Gefühl nicht übereinstimmen, etwa dass sie lächeln, obwohl sie sich ärgern. Um dies zu verdeutlichen, kann folgende Erklärung gegeben werden:
In der Kommunikation spielen neben dem gesprochenen Wort auch Mimik und Gestik eine Rolle. So geben uns Mimik und Gestik darüber Aufschluss, wie eine Botschaft bei unserem Kommunikationspartner ankommt, ohne dass dieser überhaupt etwas sagt. Zudem kann die Interpretation des Gesichtsausdrucks in Situationen, in denen das Gesagte nicht klar einzuordnen ist oder das Gegenüber keine Aussage macht oder machen kann, helfen, dessen Gefühle oder Bewertungen zu erschließen. Wenn Sie beispielsweise ein 6
220
11
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
Referat halten, kann Ihnen das Nicken der Zuhörer oder eine gerunzelte Stirn bzw. ein fragender Blick Aufschluss über die Verständlichkeit Ihres Vortrags geben. Auch kann eine sprachliche Botschaft mehrere Bedeutungen haben, welche durch den Gesichtsausdruck erst zuordenbar wird. So kann beispielsweise die Frage »Wieso hast du das Zimmer rot gestrichen?« bedeuten, dass der andere die Farbe sehr originell, schön oder geschmacklos findet. Durch die dazugehörige Mimik wie einem nach unten verzerrten Mund bei möglicher Ablehnung oder entsprechend einem Lächeln bei Gefallen können wir aber Aufschluss über die Intention der Frage erhalten. Das heißt, dass durch die den Gefühlen zugehörige Mimik die Bedeutung von uneindeutigen Aussagen klarer wird. Schwierigkeiten bestehen dann, wenn das, was man anhand der Mimik und Gestik erkennt, nicht mit dem übereinstimmt, was das Gegenüber sagt. Zum Beispiel wenn Ihnen jemand auf den Fuß tritt und Sie sagen »Aua«, lächeln aber dabei. Dann weiß der andere nicht, ob er Ihnen wirklich wehgetan hat oder das »Aua« nur ein Erschrecken dargestellt hat. Durch diese Unklarheit wird sein Verhalten beeinflusst. Statt sich also zu entschuldigen, lächelt er möglicherweise zurück und sagt spaßeshalber »Gern geschehen«. Diese Unklarheit kann also dazu führen, dass der Mensch sich bei Ihnen nicht entschuldigt und Sie denken »Was für eine ungehobelte Person« und gehen Ihres Weges. Das ist nur ein kleines Beispiel für Schwierigkeiten in der Interaktion mit einer fremden Person. Gravierender wird es, wenn so etwas in einer Auseinandersetzung mit einer anderen Person auftritt. Wenn Sie beispielsweise vor Wut heulen könnten, weil Ihre beste Freunding eine zuvor getroffene Verabredung absagt oder vergessen hat, Sie aber lächelnd sagen: »Ist nicht so schlimm!« Ihre Freundin sieht zwar Ihre hängenden Schultern und Ihr gequältes Lächeln, hört aber, dass alles in Ordnung ist. Sie verlässt sich auf Ihre Aussage und denkt deshalb, dass tatsächlich auch alles in Ordnung ist. Sie sehen also, dass durch Nicht-Äußern von Gefühlen bzw. einem nicht dem Gefühl entsprechenden nonverbalen Ausdruck Missverständnisse in der Kommunikation entstehen, die weit reichende Folgen für die Beziehungsgestaltung haben können. Ich möchte mit Ihnen zunächst einmal untersuchen, wie man die verschiedenen Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen dem entsprechenden Gefühlsausdruck zuordnen kann.
Im Anschluss an diese Einführung sollte mit den Teilnehmern gesammelt werden, woran man anhand der Mimik die unterschiedlichen Gefühle erkennen kann. Dazu kann noch einmal das Gefühlsrad (7 Kap. 10) eingesetzt und die einzelnen Hauptemotionen durchgegangen werden. Diese Übung kann auch spielerischer gestaltet werden, indem die Patienten zunächst aufgefordert werden, ein Gefühl pantomimisch darzustellen. Dazu können kleine
Zettel vorbereitet werden, auf denen jeweils ein Gefühl steht. Die Patienten sollen diese dann pantomimisch nachspielen. Die Übung ist vor allem für das Gruppensetting geeignet und kann als Einstieg in das Thema in ca. 20 Minuten durchgeführt werden. Ziel ist es, mögliche Schwierigkeiten in der Erkennung und dem Ausdruck von Gefühlen herauszuarbeiten. Als Einleitung zum Pantomimespiel kann folgende Zusammenfassung gegeben werden:
Wir haben in einer der vorangegangenen Sitzungen gesammelt, welche Gefühle es gibt, und herausgefunden, dass diese Gefühle mit körperlichen Reaktionen einhergehen und bestimmte Verhaltensweisen nach sich ziehen. Als nächsten wichtigen Punkt haben wir herausgefunden, dass die Situation, in der ein Gefühl entsteht, uns einen wichtigen Hinweis darauf gibt, welches Gefühl wir gerade erleben. Gefühle sind aber nicht nur für uns selbst wichtig, sondern auch in der Kommunikation mit anderen Menschen. Anhand von Mimik und Gestik drücken wir unseren momentanen Gefühlszustand aus und teilen anderen so non6
221 11.2 · Kommunikationstraining
11
verbal mit, wie es uns gerade geht. Umgekehrt erfahren wir auch über die Mimik anderer Personen, welche Gefühle diese im jeweiligen Moment empfinden. Gerade in engen sozialen Beziehungen ist es daher wichtig, sich seines Gefühlsausdrucks bewusst zu sein, um nonverbale und verbale Signale stimmig wiederzugeben. Deshalb möchte ich gerne mit Ihnen folgende Übung machen: Bitte überlegen Sie, wie Sie das Gefühl auf der Karte nonverbal darstellen können. Setzen Sie dabei Mimik, Gestik und den gesamten Körper ein. Die übrigen Gruppenmitglieder versuchen bitte zu entschlüsseln, um welches Gefühl es sich handelt. Bei der Einschätzung erklären Sie bitte jeweils, warum Sie auf das jeweilige Gefühl getippt haben.
In der Nachbesprechung der Übung wird vom Therapeuten nochmals auf die Schwierigkeiten bei der Interpretation von Gefühlen auf der nonverbalen Ebene hingewiesen. Im Anschluss oder auch alternativ als Einstiegsübung kann die Übung »Gefühlsbild« (modifiziert nach Görlitz 1998) durchgeführt werden. Dabei wird zusätzlich zur nonverbalen die verbale Ebene einbezogen. Die Übung beginnt mit einer kurzen Phase des Achtsamseins, in der sich durch die bewusste Konzentration auf den momentanen Gefühlszustand die Teilnehmer zunächst gewahr werden sollen, welche Emotion im Moment vorherrschend ist. Die Patienten sollen sich dabei genau überlegen, wie sie das vorherrschende Gefühl am besten ausdrücken können. Zur Anleitung der Übung werden die Patienten gebeten, sich einen Platz im Raum zu suchen (oder durch den Raum zu gehen) und in sich hineinzuhorchen, welches Gefühl sie gerade erleben. Wenn die Patienten sich des bei ihnen momentan
vorherrschenden Gefühls bewusst sind, sollen Sie einen vorher durch den Therapeuten oder Los bestimmten Partner aufsuchen und versuchen, ihm durch nonverbale Signale zu verstehen zu geben, wie sie sich im Moment fühlen. Der Partner notiert das von ihm entschlüsselte Gefühl auf einem Blatt. Im zweiten Teil der Übung geht es darum, dass der Gefühlsdemonstrant durch indirekte Aussagen seinen Gefühlszustand umschreibt. Der Partner notiert sich wieder, um welche Gefühle es sich seiner Meinung nach handelt. Dann löst der Gefühlsdemonstant auf, welches Gefühl er dargestellt hat und Schwierigkeiten bei der Identifikation des Gefühl sowie in der Darstellung werden besprochen. Danach findet ein Rollentausch statt und der Ratende wird nun Gefühlsdemonstrant. Anschließend sprechen Therapeut und Patienten zusammen über die Übung und die unterschiedlichen Erfahrungen damit. Der folgende Text kann als Anleitung dienen:
Bitte wählen Sie sich zunächst einen Partner aus. Einigen Sie sich darauf, wer in der ersten Runde Beobachter und wer Gefühlsdemonstrant ist. In der zweiten Runde werden die Rollen getauscht. Als ersten Übungsabschnitt möchte ich Sie bitten, sich Ihrer Gefühle gewahr zu werden. Bitte gehen Sie dazu im Raum umher und besinnen Sie sich dabei auf Ihre momentane Stimmung. Versuchen Sie dann, Ihre Körperhaltung, Ihren Gesichtsausdruck und Ihren Gang mit Ihren momentanen Gedanken und Gefühlen in Einklang zu bringen. Als nächstes sollte Ihr Partner versuchen zu erraten, in welcher Stimmung Sie gerade sind. (Verhaltensbeobachtung nonverbal). Dazu gehen Sie nun bitte auf Ihren Partner zu und bleiben stehen. Richten Sie nun Ihre ganze Aufmerksamkeit nach innen auf Ihre momentane Stimmung, die dazugehörigen Gedanken, die Körperhaltung. Ihr Partner beobachtet Sie dabei und versucht, Ihre Stimmung zu erraten. Er sollte dazu das Gesicht, den mimischen Ausdruck, die Haltung der Schultern, die Atmung, die Art und Weise, wie Sie auf dem Boden stehen, betrachten. Ihr Partner sollte dann seine Beobachtungen und Vermutungen hinsichtlich des von Ihnen derzeit empfundenen Gefühls auf den Rückmeldebogen schreiben. 6
222
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
Danach möchte ich Sie bitten, einige Sätze, die zu Ihrer momentanen Stimmung passen, ohne die tatsächliche Stimmung direkt auszudrücken, zu äußern (Verhaltensbeobachtung verbal). Wenn Sie beispielsweise müde sind, können Sie das ausdrücken, indem Sie beschreiben, dass Sie früh aufstehen mussten und einen langen Tag hatten. Ihr Partner versucht, anhand dieser unkonkreten Aussagen die vermutete Stimmung weiter zu spezifizieren und ergänzt seine Beobachtung auf dem Rückmeldebogen. Abschließend vergleichen Sie Ihre mimisch und gestisch bzw. durch indirekte Äußerungen ausgedrückten Gefühle mit den Einschätzungen Ihres Gegenübers. Bitte achten sie darauf, welche Gefühle und deren Nuancen korrekt wahrgenommen wurden und wo es Unterschiede gab. Wichtig ist darauf zu achten, wo mögliche Schwierigkeiten im Ausdruck der Gefühle und deren Entschlüsselung lagen. Überlegen sie sich gemeinsam mit Ihrem Übungspartner, wie es dazu gekommen sein könnte, dass Ihre Gefühle nicht korrekt eingeschätzt und benannt werden konnten. Anschließend wechseln Sie bitte die Rollen.
11
Die Patienten bekommen die Übungsanleitung (. Arbeitsblatt 11.1, 7 CD-ROM) zum Mitlesen zusammen mit dem Rückmeldebogen (. Arbeitsblatt 11.2) zur Übungsdurchführung ausgeteilt. Bei der Nachbesprechung der Übung sollte vor allem darauf geachtet werden, woran die Patienten ihr eigenes Gefühl erkannt haben, wie sie versucht haben, es auszudrücken und woran der Partner erkannt hat, welches Gefühl es war. Zudem sollte überprüft werden, ob die verbale Gefühlsbeschreibung und die indirekten Äußerungen mit dem dargestellten Gefühl übereinstimmten. Ziel ist es, die eingangs erläuterten Schwierigkeiten in der Kommunikation transparent und nachvollziehbar darzustellen und Quellen möglicher Missverständnisse aufzudecken.
11.2.2
Verbale Kommunikationsfertigkeiten
Als nächsten Schritt können auch Fertigkeiten der verbalen Gefühlskommunikation eingeübt werden. Dazu wird zunächst gemeinsam in der Gruppe (oder im Einzelsetting) überlegt, wann das direkte Ansprechen von Gefühlen sinnvoll ist und wann nicht sowie was es schwierig macht.
Am sinnvollsten ist es, an dieser Stelle ein Beispiel zu geben, um zu verdeutlichen, was unter einem direkten Ansprechen von Gefühlen gemeint ist. Oft kann es sein, dass Patienten eine falsche Vorstellung davon haben, was es heißt, seine Gefühle und Wünsche direkt anzusprechen und zu äußern. Wenn eine Patientin z. B. einer Kollegin sagt, dass sie nicht weiss, wie sie die Akte bearbeiten soll, obwohl sie die Zusatzarbeit gar nicht übernehmen will, kann die Kollegin den Hinweis nicht unbedingt verstehen und dringt weiter in sie. Es ist daher wichtig, den Patienten zu vermitteln, dass es durch nur indirektes Äußern von Gefühlen häufig zu Ungenauigkeiten in der Kommunikation und auch zu Missverständnissen kommen kann. Eine Konsequenz hieraus könnte die Nichterfüllung ihrer Wünsche sein. Dies kann zu chronischer Unzufriedenheit oder Überforderung führen und damit im Zusammenhang mit der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung stehen (7 Kap. 2). Dies impliziert, dass es nicht nur wichtig ist, Gefühle wahrnehmen und identifizieren zu können (7 Kap. 10), sondern auch Gefühlszustände benennen und anderen Menschen direkt mitteilen zu können. Das folgende Textbeispiel ist ein Einleitungstext zur Übung »Benennen von Gefühlen«.
Wir haben herausgefunden, dass Gefühle nonverbal und verbal ausgedrückt werden können und gelernt, dass, um Missverständnisse zu vermeiden, der nonverbale und verbale Ausdruck übereinstimmen sollten. Wir haben nun zunächst überprüft, wie gut es uns gelingt, unsere Gefühle nonverbal bzw. durch indirekte Äußerungen auszudrücken. Dabei haben wir festgestellt, dass indirekte Aussagen viel Spielraum zur Inter6
223 11.2 · Kommunikationstraining
11
pretation lassen und deshalb zu Missverständnissen führen können. Als nächstes soll es daher darum gehen, unseren verbalen Gefühlsausdruck in der Kommunikation mit anderen zu verbessern. Das ist wichtig, da es ein wesentliches Mittel ist, um unsere Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen. Gelingt uns das nicht gut, kann es zu Missverständnissen kommen, die uns unzufrieden machen oder dazu führen, dass wir uns abgelehnt und unverstanden fühlen. Dies kann zur Folge haben, dass wir uns mit Essen trösten oder uns der »Appetit vergeht«. Das heißt, dass als Konsequenz von Schwierigkeiten in der Kommunikation durchaus ein problematisches Essverhalten verstärkt werden kann. Ein Beispiel dafür wäre die folgende Situation: Stellen Sie sich vor, Sie freuen sich auf das Telefonat mit einer Freundin. Als Sie dort anrufen, ist ihre Freundin kurz angebunden und sagt, dass sie noch arbeiten müsse. Wenn es nichts Wichtiges gäbe, würde sie gerne weiterarbeiten. Sie sagen daraufhin, dass es nichts Wichtiges gibt und legen auf. Sie hätten trotzdem gerne mit ihr gesprochen, aber sagen dies nicht. Sie sind enttäuscht und traurig und fangen an, Schokolade zu essen, um sich zu trösten. Dies wäre ein klassisches Beispiel für das Nichtäußern von Gefühlen und dessen Auswirkung auf das Essverhalten. Fallen Ihnen weitere solcher Beispiele ein?
Wichtig ist an dieser Stelle herauszustreichen, dass es nicht immer sinnvoll ist, Gefühle offen zu kommunizieren. Hier sollte deshalb im Sinne eines Diskriminationstrainings gesammelt werden, in welchen Situationen es gut ist, Gefühle zu zeigen und in welchen nicht. Zum Beispiel kann es im beruflichen Kontext wie etwa bei einem Vorstellungsgespräch nicht unbedingt sinnvoll sein, offen sein Gefühl der Unsicherheit zu zeigen. Auch kann man durch das Zeigen von Verachtung jemanden verletzen. In diesen Situationen ist das Ausdrücken eines Gefühls nicht unbedingt sinnvoll. Es ist daher wichtig, mit den Patienten abzuwägen, welches Ziel sie in einer Situation verfolgen und dementsprechend zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, Gefühle offen zu zeigen. Nachdem für die Patienten transparent gemacht wurde, wann und warum es sinnvoll sein kann, Gefühle zu benennen, wird Ihnen als Nächstes ein Informationsblatt zum direkten Gefühlsausdruck ausgehändigt, welches Regeln zur Formulierung von Gefühlen beinhaltet. Diese Regeln beinhalten das Äußern von Gedanken und Gefühlen in der IchForm, das konkrete Benennen der jeweiligen Situation, das Vermeiden von Verallgemeinerungen sowie das Ansprechen eines spezifischen Verhaltens in einer bestimmten Situation. Darüber hinaus enthalten die Regeln den Verweis auf die Definition des Ziels, das der Patient in der Situation verfolgt (7 Kap. 9 und 10). Diese Zieldefinition kann etwa eine Forderung an den Gesprächspartner oder eine Grenzsetzung beinhalten. Die Regeln zur Gefühls-
äußerung sind auf dem . Arbeitsblatt 11.3 »Regeln zum Äußern von Gefühlen« dargestellt und sollten mit den Patienten im Einzelnen durchgegangen werden. Abschließend wird das . Arbeitsblatt 11.4 »Wie sage ich…« ausgeteilt und in der Gruppe ausgefüllt. Es beinhaltet Beispielaussagen, welche unkonkrete und indirekte Gefühlsäußerungen in sozialen Interaktionen beschreiben. Die Teilnehmer werden gebeten, sich die Aussagen durchzulesen und einzuordnen, welches Gefühl in der Aussage enthalten ist. Nachdem sie das Gefühl identifiziert haben, sollen sie überlegen, wie es unter Anwendung der oben genannten Regeln zur Äußerung von Gefühlen direkter ausgedrückt werden kann. Die einzelnen auf diese Weise formulierten Sätze werden dann vorgelesen. Falls widersprüchliche Aussagen auftreten, sollten diese dazu genutzt werden, die Folgen unscharfer oder indirekter Formulierungen aufzuzeigen. Dazu können die anderen Gruppenteilnehmer befragt werden. An diese Stelle eignet sich auch der Einsatz von Rollenspielen, in denen die Patienten gebeten werden, Situationen aus ihrem Alltag zu beschreiben, in denen es Ihnen nicht gelungen ist, ihr Gefühl direkt anzusprechen. Es wird dann gemeinsam in der Gruppe überlegt, wie das Gefühl in der beschriebenen Situation idealerweise hätte ausgedrückt werden können. Ist eine mögliche Formulierung gefunden, wird ein Rollenspiel durchgeführt, um mit dem Patienten das Aussprechen und Formulieren der direk-
224
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
11
. Arbeitsblatt 11.3. (in Anlehnung an Schindler et al. 1999)
225 11.2 · Kommunikationstraining
ten Gefühlsäußerung einzuüben. Bei der Einführung der Rollenspiele sollten die Patienten darauf hingewiesen werden, dass es gerade im Alltag schwierig ist, neue Verhaltensweisen zu implemen-
11
tieren und daher das konkrete Einüben dieses Verhaltens von großer Wichtigkeit ist (7 Abschn. 11.3). Zur Einführung von Rollenspielen eignet sich folgender Text:
Wir haben nun schon einiges über Kommunikation gelernt. Zunächst haben wir über nonverbale und verbale Kommunikation gesprochen. Wir haben überlegt, wie man Gefühle erkennt und ausdrückt, haben festgestellt, dass es manchmal schwierig ist, einzuschätzen, wie es uns gerade geht und dass genau dies es nicht leicht macht, in sozialen Interaktionen angemessen zu reagieren. Wir haben gemeinsam überlegt, dass es wichtig sein kann, Gefühle direkt anzusprechen und haben besprochen, dass das direkte Ansprechen von Gefühlen uns helfen kann, Missverständnisse zu vermeiden. Dazu ist es wichtig, sich seiner Gefühle bewusst zu sein bzw. auch Schwierigkeiten in der Wahrnehmung der eigenen Gefühle direkt auszudrücken. Zum Beispiel »Ich kann im Moment nicht sagen, wie es mir geht, ich muss darüber noch mal nachdenken« ist auch ein direkter Ausdruck dessen, wie es Ihnen in diesem Moment zumute ist. Wie das konkret aussieht und funktioniert, würde ich gerne mit Ihnen in einem Rollenspiel ausprobieren. Dazu würde ich eine von Ihnen bitten, eine Situation, in der Sie Schwierigkeiten mit dem direkten Ausdruck von Gefühlen hatten, zu schildern und dann mit einem anderen Gruppenteilnehmer diese Situation nachzuspielen und dabei möglichst direkt und konkret zu sagen, wie es Ihnen in der Situation ergeht und was Ihr Bedürfnis ist. Eine Anleitung, wie Sie im Gespräch Ihre Gefühle möglichst konkret ausdrücken können, haben Sie auf dem Arbeitsblatt »Regeln zum Äußern von Gefühlen«.
Aus Zeitgründen werden wahrscheinlich nicht alle Teilnehmer ihre individuellen Problemsituationen vorstellen können. Diesen sollte dann die Möglichkeit gegeben werden, bevorzugt individuelle Rollenspiele zum Thema »soziale Kompetenz« durchführen zu können (7 Abschn. 11.3.1). Es ist sinnvoll, diejenigen Patienten auszuwählen, welche die größten Schwierigkeiten im Ausdrücken ihrer Gefühle haben, damit diese die Möglichkeit haben, dies ausreichend zu trainieren. Die Sitzung sollte mit einer Zusammenfassung des Erarbeiteten zum nonverbalen und verbalen Gefühlsausdruck durch den Therapeuten abgeschlossen werden. Zudem möchten wir empfehlen, in einer Abschlussrunde das Benennen des aktuellen Gefühlszustandes nochmal zu üben, um das Gelernte gleich anzuwenden. Hierbei werden die Patienten aufgefordert, zu beschreiben, wie sie sich jetzt nach der Therapiesitzung fühlen. Da es sich um eine Abschlussrunde handelt, sollte der Therapeut nicht weiter intervenieren, sondern soweit möglich die Aussagen nur zur Kenntnis nehmen.
11.2.3
Einführen eines Kommunikationsmodells
Des Weiteren ist die Vermittlung eines Kommunikationsmodells zu empfehlen, welches ergänzend auf die Schwierigkeiten in der Interaktion durch Fehlinterpretationen der Äußerungen anderer Personen eingeht. Das Modell sollte für den Patienten praxisnah und inhaltlich leicht verständlich und eingängig Informationen darüber enthalten, warum es in der Interaktion zu Missverständnissen kommen kann. Wir empfehlen hier den Einsatz des »Vier-OhrenModells« von Schulz von Thun (1981), da es leicht verständlich ist. Das Modell soll hier nur übersichtsartig erklärt und dargestellt werden. Zu einer umfassenden Darstellung möchten wir auf die ausführlichen Erläuterungen des Autors (Schulz von Thun 1981) verweisen. Im Folgenden wird daher nur dargestellt, wie dieses Modell in der Behandlung von Essstörungen ergänzend eingesetzt werden kann. Als Arbeitsmaterial dazu dient . Arbeitsblatt 11.5/ 11.5B mit Informationen zum Vier-Ohren-Modell und einem Beispiel (7 CD-ROM). Das Modell basiert auf der Annahme, dass Nachrichten immer einen Sender und einen Empfänger
226
11
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
haben. Dabei ist derjenige der spricht, der Sender, der Angesprochene ist der Empfänger. Der kommunizierte Inhalt ist die Nachricht. Außerdem gibt der Empfänger seinerseits Rückmeldung über das gerade Empfangene (Feedback). Schultz von Thun postuliert, dass jede Botschaft verschiedene Aspekte beinhaltet: Sachinhalt, Beziehungsinhalt, Selbstoffenbarung und Appell. Etwa die Aussage »Wir sollten einen Kaffee trinken« beinhaltet als Sachinhalt der Nachricht die Sachinformation, die ich meinem Gegenüber mitteilen möchte, nämlich: »Ich hätte jetzt gerne einen Kaffee«. Der Aspekt der Selbstoffenbarungg dagegen bezieht sich auf die Informationen, die der Sender mit dem Senden der Nachricht über sich selbst kundgibt. Bei dem Kaffeebeispiel könnte dies sein »Ich bin sehr müde«. Als dritten Aspekt nennt der Autor den Beziehungsaspekt der Nachricht, welcher Informationen darüber beinhaltet, was der Sender von seinem Gegenüber hält (»Du siehst auch müde aus«). Abschließend ist noch der Appellaspekt hervorzuheben. Dabei handelt es sich um den Teil der Nachricht, mit dem der Sender Einfluss auf den Empfänger nehmen möchte (»Koch uns doch einen Kaffee«). Im Alltag sind diese verschiedenen Ebenen der Nachrichten meist nicht offensichtlich, d. h. sie laufen inplizit ab. Kommunikation ist daher wesentlich komplexer und schwieriger, als es den meisten Personen bewusst ist. Dies kann dazu führen, dass es zu Fehlern in der Kommunikation kommt, und zwar dann, wenn der Empfänger die Nachricht anders interpretiert, als der Sender dies intendiert hat. Um die Nachrichten besser entschlüsseln zu können, muss der Kommunikationsprozess daher transparent gemacht werden. Dazu gehört es, dass sich der Sender der Vielseitigkeit der Nachricht bewusst ist und seine Absicht möglichst konkret macht. Der Empfänger hingegen sollte daher nachfragen, wenn er sich der Bedeutung der Nachricht nicht sicher ist. Schulz von Thun verweist hier auf mögliches »Falsch-Hören« in Abhängigkeit des individuellen »Hörfehlers«. Er hat dafür vier Hörfehler beschrieben: 1. Wenn zuviel Wert auf den Sachaspekt einer Nachricht gelegt wird, kann es zu Missverständnissen kommen, z. B. wenn der Sender Informationen auf der Beziehungsebene sendet, diese aber auf der Sachebene verstanden werden. Wenn der Empfänger der Information »Ich habe
heute keine Zeit« nur den Sachaspekt hört, wird er auf eine mögliche Beziehungsbotschaft wie »Ich mag mich mit dir heute nicht treffen« nicht eingehen und möglicherweise sagen: »Schade, macht aber nichts«, anstatt auf eine möglicherweise vorhandene Konfliktsituation einzugehen. 2. Eine erhöhte Aufmerksamkeit auf den Beziehungsaspekt einer Nachricht geht dagegen mit einer Überinterpretation desselben einher. Bei der Aussage »Ich habe heute leider keine Zeit« würde das bedeuten, dass der Empfänger hört »Ich mag mich nicht mit dir treffen« und würde dementsprechend reagieren, und zwar mit »Na schön, wenn du keine Lust hast«. 3. Ähnlich ist eine Überbewertung des Selbstoffenbarungsanteils zu sehen – hier kann es zu einem Psychologisieren der Botschaft durch den Empfänger kommen. Beispielsweise bei der Aussage »Ich habe heute keine Zeit« könnte der Empfänger auf dem Selbstoffenbarungsohr hören: »Mir geht es nicht gut«. 4. Die Überbewertung des Appellaspektes ist vor allem auf der Verhaltensebene hinsichtlich eines »vorauseilenden Gehorsams« zu sehen. Beispielsweise auf das »Ich-habe-keine-Zeit-Beispiel« könnte ein Appellohr-Hörfehler zu einem Angebot des Empfängers führen, Arbeiten abzunehmen (»Soll ich dir etwas abnehmen?«). Inwieweit es zu Missverständnissen beim Empfangen von Nachrichten kommen kann, liegt sowohl im Selbstkonzept des Empfängers als auch dem Bild und den Erwartungen, die der Empfänger vom bzw. an den Sender hat, begründet. Zusätzlich scheinen unterschiedliche Sprachmilieus und -kulturen hier eine Rolle zu spielen. Zur Durchführung von Übungen wird den Teilnehmern als Hausaufgabe zur Vorbereitung der Stunde das Informationsblatt zum »Vier-OhrenModell« (. Arbeitsblatt 11.5 CD-ROM) mitgegeben. Zunächst werden die Implikationen dieses Modells hinsichtlich der Interpretation von Situationen/ Gesagtem im alltäglichen Leben gemeinsam in der Gruppe überprüft. Dazu werden Beispielsituationen am Flipchart gesammelt. Zur Durchführung dieser Intervention können folgende Fragen gestellt werden:
227 11.2 · Kommunikationstraining
. Arbeitsblatt 11.6B. Missverständnisse klären
11
228
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
4 Welche Folgen kann es haben, wenn Sie auf einem Ohr mehr hören als auf einem anderen? Nennen Sie für jedes Ohr Beispiele! Kennen Sie Beispiele, die für Sie ganz typisch sind? 4 Gibt es ein Ohr, auf dem Sie mehr »hören« als auf den anderen? 4 Welche Konsequenzen hat das für Sie, dass Sie bevorzugt auf einem bestimmten Ohr hören? 4 Haben Sie eine Idee, was zu tun wäre, um diese einseitigen »Hörgewohnheiten« und die damit einhergehenden Missverständnisse zu vermeiden? 4 Welche Konsequenzen hat die Berücksichtigung dieses Modells für den Alltag? 4 Ist es möglich, mit dem Wissen aus diesem Modell die Alltagskommunikation zu verbessern?
Anhand dieser individuellen Beispiele wird nun im Anschluss an die Diskussion das . Arbeitsblatt 11.6 »Missverständnisse klären« ausgefüllt, ein Beispiel ist in . Arbeitsblatt 11.6B dargestellt. Am günstigsten ist es, die Stunde hiermit zu beenden und das Arbeitsblatt als Hausaufgabe aufzugeben, damit die Patienten mögliche schwierige Kommunikationssituationen notieren und auf die besprochenen Aspekte hin überprüfen können. Bei der Besprechung des Arbeitsblattes sollte diskutiert werden, wie die jeweiligen Botschaften auf den verschiedenen Ebenen gedeutet werden können und welche Konse-
quenzen ein »Falschhören« in dem jeweiligen individuellen Falle hat. Im Anschluss daran soll darauf hingearbeitet werden, dass durch direkte Gefühlsäußerungen, wie in den letzten Stunden bereits erarbeitet, Missverständnisse und »Falschhören« reduziert werden können. Anhand von . Arbeitsblatt 11.6 werden nun die gesammelten Situationen auf Kommunikationsfehler überprüft und im Anschluss gemeinsam in der Gruppe überlegt, wie in dieser Situation besser hätte reagiert werden können. Dies kann beispielsweise so aussehen:
11 Beispiel 1: Rock Therapeut: Sie haben beschrieben, dass es folgendes Missverständnis gab: Ihr Freund sagt zu Ihnen, dass der Rock ihm gefällt. Sie fühlen sich mit dem Rock allerdings nicht so wohl, da es nicht Ihrem herkömmlichen Stil entspricht. Sie glauben, dass er Ihnen damit sagen wollte, dass Sie häufiger Röcke tragen sollen. Auf welchem Ohr haben Sie damit nun gehört? Frau S.: Naja, das wird wohl das Appellohr gewesen sein. Das haben wir ja schon festgestellt, dass ich oft meine, etwas tun zu müssen, wenn mir jemand etwas sagt. Therapeut: Ja, das ist dem Appellohr zuzuordnen. Wie haben Sie sich denn verhalten? Frau S.: Ich habe ihm gesagt, dass ich mich mit dem Rock nicht wohl fühle und ihn auch nicht weiter tragen will. Ja, das habe ich schon ziemlich heftig gesagt. Außerdem habe ich dann auch gleich gedacht, dass er meinen normalen Kleidungsstil nicht mag und habe ihm das vorgeworfen. Daraufhin haben wir uns dann gestritten. Therapeut: Hm. Das heißt, aufgrund ihres Falschhörens hat sich ein Streit entwickelt, weil Sie sich angegriffen gefühlt haben und Ihr Freund sich dann verteidigen wollte? Frau S.: Ja. So war es. Ich habe mir dann hinterher überlegt, als ich das Arbeitsblatt ausgefüllt habe, warum ich nicht einfach nachgefragt habe, wie er das meint. Beispiel 2: Bankkonto Frau S.: Ich habe mich sehr über meine Mutter geärgert, da sie immer wieder in Frage stellt, was ich tue und mir immer sagt, was ich hätte besser machen sollen! Ich finde das ganz furchtbar, und letzte Woche hatten wir deshalb auch einen Streit. 6
229 11.3 · Aufbau selbstsicheren Verhaltens
Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.:
Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut:
Können Sie genau beschreiben, was da passiert ist? Naja, ich habe erzählt, dass ich ein Bankkonto eröffnet habe und meine Mutter hat sich gleich aufgeregt, dass die Bank Geld für Überweisungen nimmt und ich doch besser sie hätte vorher fragen sollen, dann wäre das nicht passiert, sie hätte nämlich eine Bank für mich gewusst, die ein kostenloses Konto mit Kontoführung anbietet. Ich kam mir wirklich sehr blöde vor. Wie haben Sie denn in der Situation reagiert? Ich habe versucht, mich zu rechtfertigen und am Ende gesagt, dass ich mache, was ich will und mein eigenes Leben führe. Daraufhin war meine Mutter beleidigt und ist aus dem Zimmer gegangen. Wenn Sie sich nun das Vier-Ohren-Modell ins Gedächtnis rufen – was glauben Sie genau, ist hier passiert? Ich habe mich angegriffen und kritisiert gefühlt durch die Aussage meiner Mutter. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mich als ein lebensunfähiges Dummerchen darstellt. Hm. Und was für ein Ohr ist damit angesprochen worden? Das Beziehungsohr. Wie könnte die Aussage Ihrer Mutter denn auf den anderen Ohren lauten? Auf dem Sachohr halt, dass es eine günstigere Bank gibt, auf dem Appellohr – frag mich doch, bevor du etwas tust, und das Selbstoffenbarungsohr – das weiß ich nicht. Okay, das Selbstoffenbarungsohr könnte heißen »Ich will doch nur dein Bestes, ich sorge mich um dich«. Hm. Ja, das könnte schon gut sein. Trotzdem fühle ich mich angegriffen. Das ist ja auch verständlich. Wichtig ist, dass Sie das auch direkt ansprechen, weil sonst Missverständnisse passieren. Sie haben die Aussage Ihrer Mutter auf dem Beziehungsohr gehört und dementsprechend reagiert. Das hat dazu geführt, dass Sie sich gerechtfertigt haben und sie beide letztendlich aneinander vorbeigeredet haben und es zum Streit kam. Was Sie sehr gut gemacht haben, ist Ihre Meinung zu sagen und Argumente zu bringen, warum Sie das getan haben. Um das Missverständnis zu klären, wäre es zudem noch wichtig gewesen, dass Sie zusätzlich sagen, dass Sie sich durch die Aussage angegriffen fühlen bzw. dass es bei Ihnen ankommt, dass Ihre Mutter Ihnen mitteilt, dass Sie nichts richtig machen können. Dann würden Sie beide auf der Beziehungsebene reden und nicht auf unterschiedlichen Ebenen – Sie auf der Beziehungsebene und Ihre Mutter auf der Sachebene.
Mit der Übung zum direkten Gefühlsausdruck und dem Klären von Missverständnissen im Alltag kann nun zum Aufbau instrumenteller Fertigkeiten im Sinne selbstsicheren Verhaltens übergeleitet werden.
11.3
11
Aufbau selbstsicheren Verhaltens
In diesem Abschnitt soll der Bogen vom direkten Äußern von Gefühlen zu sozial kompetentem Ver-
halten gespannt werden. Dysfunktionale Annahmen hinsichtlich selbstsicheren Verhaltens werden hierbei modifiziert und sozial kompetentes Verhalten anhand von standardisierten Beispielsituationen und individuellen Problemsituationen eingeübt. Nach Ullrich und Ullrich (1978) können verschiedene Bereiche sozialer Kompetenz unterschieden werden. Der erste Bereich umfasst den des Selbstbildes und beinhaltet die Einstellung zu sich selbst, d. h. sich eigene Bedürfnisse und Ansprüche zuzubilligen. Des Weiteren sind darunter soziale Fertigkeiten und Strategien zu subsumieren sowie
230
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
die Fertigkeit, soziales Verhalten erfolgreich auszuführen, ohne dabei unangemessene Ängste oder Hemmungen zu erleben. Die verschiedenen Aspekte sozialer Kompetenz stellen sich damit auf der Verhaltensebene folgendermaßen dar: 4 man weiß, was man möchte oder braucht und drückt aus, was man benötigt oder sich wünscht (Problembewusstsein), 4 man orientiert sich an der Verwirklichung der eigenen Ziele (Handlungsplanung), 4 man handelt entsprechend der eigenen Bedürfnisse (Handlungsausführung), 4 und zwar derart, dass sowohl man selbst als auch die anderen zufrieden sein können (Handlungsbewertung).
11
Nachdem in den ersten Abschnitten die Grundlagen zur Äußerung von direkten Gefühlen vermittelt wurden, soll in diesem Abschnitt das Äußern von Gefühlen und das Vertreten eigener Meinungen unter dem Aspekt der Selbstsicherheit eingeübt werden. Da Patienten meist nicht nur Schwierigkeiten in der Äußerung von Gefühlen haben, sondern vor allem dysfunktionale Annahmen über sich selbst und die Umwelt (7 Kap. 9) das Ausdrücken von Wünschen und Rechten verhindert, ist es wichtig, im Anschluss an die Bearbeitung der kommunikativen Kompetenzen das Recht auf eigene Gefühle, Ansichten und Meinungen zu thematisieren. Erst im zweiten Schritt wird dann das selbstsichere Verhalten anhand interaktioneller Konflikt- oder Belastungssituationen eingeübt. Dazu werden nach Pfingsten und Hinsch (1998) die bereits in 7 Abschn. 11.1 genannten Situationstypen wie Durchsetzung von Rechten, Kommunikation in Beziehungen und Sympathiewerbung zur Ableitung des eigentlichen Zielverhaltens herausgearbeitet. Daneben ist es wichtig, Merkmale selbstsicheren Verhaltens gemeinsam mit den Patienten herauszuarbeiten, um eine Diskriminierung von aggressivem und selbstunsicherem Verhalten zu gewährleisten. Häufig haben Patienten die Vorstellung, dass sie mit ausreichend Schlagfertigkeit auch selbstsicherer wären. Dysfunktionale Annahmen hinsichtlich sozial kompetenten Verhaltens sollten dementsprechend hinterfragt und modifiziert werden. Für eine ausführliche Darstellung des Diskriminanztrainings vgl. auch Pfingsten und Hinsch
(1998). Ein weiterer wichtiger Aspekt zur selbstsicheren Bewältigung verschiedenster Situationen ist das Erkennen und Ersetzen von negativen Selbstverbalisationen und der Aufbau positiver Selbstverstärkungen. Durch dieses Vorgehen sollen die Patienten Einsicht in ihre Problematik erhalten und darüber hinaus durch konkrete neue Erfahrungen mit dem eigenem Verhalten in schwierigen Situationen zur Verhaltensänderung geführt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, steht der Aufbau sozialer Kompetenzen im Mittelpunkt dieses Moduls. Neben der Informationsvermittlung über sozial kompetentes Verhalten werden weitere therapeutische Strategien wie direkte Hilfen während (Prompting) sowie im Anschluss an die Rollenspiele (Coaching) eingesetzt.
Übungen: 4 Diskriminieren von selbstsicherem, unsicherem und aggressiven Verhaltensweisen 4 Rollenspiele zur Einübung selbstsicheren Verhaltens
Arbeitsmaterialien: 4 Karteikarten 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Soziale Kompetenz (. Arbeitsblatt 11.7) Feedbackregeln (. Arbeitsblatt 11.8) 4 Probleme anpacken – gewusst wie! (. Arbeitsblatt 11.9) 4 Probleme angepackt (. Arbeitsblatt 11.10/ 11.10B) 4 Protokollbogen für Konflikt- und Problemsituationen (. Arbeitsblatt 11.11/11.11B)
11.3.1
Interventionen zur Steigerung von selbstsicherem Verhalten
Zunächst sollte mit den Patienten gesammelt werden, was diese sich unter sozialer Kompetenz vorstellen. Häufig kommt es vor, dass die Teilnehmer unsicheres und sicheres Verhalten unterscheiden können, aber Aggressivität mit Sicherheit verwechseln. Ziel dieser ersten Übung ist es herauszufinden, ob dysfunktionale Überzeugungen vorhanden sind wie beispielsweise
231 11.3 · Aufbau selbstsicheren Verhaltens
. Arbeitsblatt 11.7. Soziale Kompetenz
11
232
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
»Ich muss immer schlagfertig antworten können, so dass dem anderen das Wort im Halse stecken bleibt, anstatt einfach immer nur sprachlos zu sein«, welche zu einem aggressi-vem Verhalten führen können oder
4 4 4 4
aufgrund zu hoher Ansprüche an die eigene Reaktion zur Hemmung führen. Zur Klärung des Begriffs »soziale Kompetenz« können daher folgende Fragen gestellt werden:
Was verstehen Sie unter dem Begriff »soziale Kompetenz«? Wie sieht sozial kompetentes Verhalten genau aus? Wie zeigt sich sozialkompetentes Verhalten nonverbal bzw. verbal? Was ist kein sozial kompetentes Verhalten?
An dieser Stelle kann bereits auf mögliche Unterschiede zwischen aggressivem, selbstunsicherem und selbstsicherem Verhalten verwiesen werden. Die Sammlung der Beispiele bezüglich dessen, was unter sozialer Kompetenz zu verstehen ist, sollte daher vom Therapeuten moderiert werden. Durch Nachfragen wie etwa »Würden Sie diese Verhaltensweise als selbstsicheres Verhalten einstufen?« und Gegenbeispiele wie »Ist dann die Aussage ›Ruf mich einfach nicht mehr an, du Blödmann!‹ selbstsicher?« sollte der Therapeut die Patienten darin unterstützen, die Diskriminationsfähigkeiten der Teilnehmer
zu verbessern. Die Sammlung der Begrifflichkeiten kann mit Karteikarten, auf welchen die Patienten notieren, welche Verhaltensweisen sozial kompetentes Verhalten darstellen, oder am Flipchart erfolgen. An dieser Stelle kann den Patienten das . Arbeitsblatt 11.7 mit der Definition des Begriffs »soziale Kompetenz« ausgeteilt und das Beispiel diskutiert werden. Im Anschluss daran sollte der Therapeut noch einmal zusammenfassen, was unter sozialer Kompetenz zu verstehen ist und daraus den Sinn von Rollenspielen ableiten:
11 Wir haben eben die Definition sozialer Kompetenz besprochen. Diese besagt, dass eine Person dann sozial kompetent ist, wenn sie weiß, was sie möchte oder braucht, ausdrückt, was sie benötigt oder sich wünscht, sich an der Verwirklichung der eigenen Bedürfnisse orientiert und entsprechend ihrer Bedürfnisse handelt und zwar derart, dass sowohl sie selbst als auch die anderen zufrieden sein können. Davor haben wir bereits verschiedene Aspekte sozial kompetenten Verhaltens besprochen. So haben wir festgestellt, dass es wichtig ist, wie die Wünsche und Bedürfnisse ausgedrückt werden, nämlich analog zu den Sprecherregeln, die wir aus der letzten Stunde schon kennen. Des Weiteren haben wir überlegt, dass der Gefühlsausdruck unsicher oder aggressiv wirken kann, wenn Verallgemeinerungen oder viele Füllwörter mit hinzukommen, also die Sprecherregeln nicht beachtet werden. Dies sind viele Aspekte, die es nach und nach in den Alltag zu übertragen gilt, um eine sichere und möglichst klare und erfolgreiche Kommunikation zu erreichen. Daher ist es wichtig, die verschiedenen Facetten selbstsicheren Verhaltens zu üben. Dazu möchte ich mit Ihnen gerne Rollenspiele durchführen, da es oft leichter ist, sich in Gedanken ein »ideales« und sozial kompetentes Verhalten in bestimmten Situationen auszumalen, als dieses vorgestellte Verhalten dann auch tatsächlich zu zeigen. Wir können dazu eine Standardsituation spielen oder aber auch konkrete Situationen aus Ihrem Leben, in denen sie sich wünschen würden, sich sozial kompetenter zu verhalten. Ziel dieser Rollenspiele ist es, konkrete Fähigkeiten zu trainieren, damit es Ihnen dann im Alltag leichter fällt, sich so zu verhalten, wie sie es sich wünschen. Hierbei können Sie sich die Möglichkeit zunutze machen, von den anderen Teilnehmern Feedback bezüglich Ihres Verhaltens zu bekommen. So können die anderen Gruppenteilnehmern Ihnen mitteilen, wie Ihr Verhalten auf Sie gewirkt hat, was gut war und was Ihrer Meinung nach noch verbessert werden könnte. Um 6
233 11.3 · Aufbau selbstsicheren Verhaltens
11
den Erfolg dieser Übung zu erhöhen, sollte die ausgewählte Situation möglichst genau nachgestellt werden, um realitätsnah einzuüben, wie Sie bestimmte Dinge ausdrücken und formulieren möchten.
Danach werden mit den Teilnehmern Rollenspiele zu verschiedenen Problemsituationen durchgeführt. Bei der Durchführung von Rollenspielen sollte im Allgemeinen darauf geachtet werden, dass die Situationen möglichst konkret sind und das Problem, die beteiligten Personen, der jeweilige Ort und nähere Umstände eindeutig benannt werden können. Ein diagnostisches Rollenspiel, in welchem sich die Patienten so verhalten wie immer, stellt einen Probelauf zur Identifikation möglicher Schwierigkeiten dar. Gemeinsam mit dem Patienten sollte dann auf der Basis dieses Probelaufes das Zielverhalten und ein grober Handlungsplan erarbeitet werden. Die Mitspieler für das Rollenspiel werden gemeinsam von Therapeut und dem Patienten, dessen Situation gespielt werden soll, ausgesucht. Die Mitspieler im Rollenspiel erhalten von dem Patienten, der die jeweilige Situation ausgewählt hat, eine genaue Beschreibung des Verhaltens in der Situation, aber auch besonders typischer Verhaltensweisen der im Rollenspiel darzustellenden Personen als Charakterisierung (z. B. bei einem Rollenspiel zu einer Konfliktsituation: »Meine Freundin ist immer schnell eingeschnappt, wenn ich mal keine Zeit für Sie habe«) für die zu spielende Situation. Es können zusätzlich Beobachter eingeteilt werden. Diese bekommen spezifische Instruktionen: Während beispielsweise ein Beobachter dazu instruiert wird, insbesondere die Mimik und Gestik der betreffenden Person im Rollenspiel im Auge zu behalten, soll eine andere Person
4 4 4 4 4 4 4
ausgewählt werden, die bevorzugt auf den Inhalt der verbalen Äußerungen fokussiert. Eventuell kann der Therapeut oder ein Beobachter Modell/Vorbild für das erwünschte Verhalten geben und in einem Modelldurchlauf das »ideale« Verhalten demonstrieren (Fliegel 1996). Das Rollenspiel an sich sollte möglichst kurz gehalten werden und maximal 5 Minuten umfassen. Der Übungseffekt ist größer, wenn kurze Sequenzen wiederholt geübt werden als wenn nur ein ausgedehntes Rollenspiel durchgeführt wird, denn bei einer sehr langen Sequenz ermüden Beteiligte und Beobachter oft. Auch kommen zu viele Informationen für die anschließende Rückmeldung durch die Mitpatienten und den Therapeuten zusammen. Das Rollenspiel wird beendet, wenn das Zielverhalten realisiert, die vorgesehene Spielhandlung zu Ende ist oder wenn das Rollenspiel nicht seine geplante Funktion erfüllt (z. B. einzelne Mitspieler fallen aus der Rolle). Die Auswertung des Rollenspiels erfolgt anhand der Rückmeldung durch den Patienten bzw. Rollenspieler selbst sowie durch die Beobachter bzw. den Therapeuten. Um die Nachbesprechung von Rollenspielen zu strukturieren und sinnvoll zu gestalten, sollten mit den Patienten Feedbackregeln besprochen werden. Das entsprechende . Arbeitsblatt 10.8 findet sich auf der 7 CD-ROM. Die Rückmeldung durch den »Hauptdarsteller« selbst kann anhand folgender Fragen moderiert werden:
Wie haben Sie sich während des Rollenspiels gefühlt? Wie haben Sie Ihr Verhalten erlebt? Was war positiv an Ihrem Verhalten? Was möchten Sie verändern? Was glauben Sie: Wie haben Ihre Mitspieler Sie erlebt? Können Sie das gezeigte Verhalten in einer Alltagssituation realisieren? Was wird gut funktionieren und was könnte schwierig werden?
Die Rückmeldung durch einen Beobachter und den Therapeuten sollte konkret sein und sich auf die Din-
ge beziehen, die willentlich veränderbar sind und dem Einfluss des Rollenspielers unterliegen. So sollte
234
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
z. B. Stottern nicht angemerkt werden. Zudem können Rückmeldungen bereits konkrete Veränderungsvorschläge beinhalten. Folgende Leitfragen können zur Einforderung von Feedback gestellt werden:
4 Welchen Eindruck hatten Sie vom Verhalten des Rollenspielers? 4 Was war gut, was würden Sie möglicherweise anders machen?
11
Das Rollenspiel kann im Anschluss an die Rückmeldung ein zweites Mal durchgeführt werden. Dabei können dem Hauptdarsteller nonverbale oder verbale Hilfen gegeben werden. Diese sollten möglichst einfach formuliert sein und maximal drei Aspekte beinhalten. Möglich ist auch, bei dem zweiten Rollenspiel andere Elemente beobachten zu lassen als beim ersten Durchlauf. So könnte beispielsweise im ersten Durchgang bevorzugt auf den Inhalt der Äußerungen eingegangen werden, während beim zweiten Mal primär auf Mimik und Gestik fokussiert wird. Wichtig bei der Umsetzung des Rollenspiels ist die Entwicklung des alternativen Verhaltens. Dazu ist es sinnvoll, den Patienten abschließend zum Aufbau sozialer Kompetenzen Fertigkeiten im Problemlösen zu vermitteln.
11.3.2
Vermittlung eines Problemlöseschemas
Das Problemlösetraining wurde ursprünglich von D’Zurilla und Goldfried (1971) entwickelt, wurde aber mittlerweile für verschiedene Therapiekontexte wie etwa dem Einsatz in der Paartherapie modifiziert und liegt in verschiedenen Versionen vor (vgl. z. B. Hahlweg et al. 1982; Liebeck 1993). Das Problemlösetraining hat zum Ziel, durch die Vermittlung eines systematischen Schemas Selbstbewusstsein und Kontrollüberzeugungen angesichts von zunächst unlösbaren Problemen zu stärken und zukünftige Probleme auch allein bewältigen zu können (vgl. Kaiser u. Hahlweg 1996). Grundlage des Vorgehens ist die Konkretisierung des Problems und die Formulierung eines realistischen Ziels. Darauf basierend werden in einem
Brainstorming verschiedene Lösungsmöglichkeiten entwickelt, ohne diese zunächst zu bewerten. Dies erfolgt erst im nächsten Schritt. Aus den bewerteten Alternativen werden danach die besten Lösungsmöglichkeiten ausgewählt und die Umsetzung der ausgewählten Lösung geplant. Abschließend wird der Verlauf der Durchführung bewertet sowie bei Misserfolg mögliche Gründe, wie unkonkrete Problemdefinition oder unvorhergesehene Schwierigkeiten, überprüft. Gegebenenfalls werden alternative Lösungsmöglichkeiten definiert und ausprobiert. Zu einer ausführlichen Darstellung der Anwendung eines Problemlösetrainings siehe auch Kaiser und Hahlweg (1996). Im Rahmen der Essstörungsbehandlung sollte das Problemlösetraining in die Bearbeitung von konflikthaften Situationen, welche Gegenstand der Rollenspiele sind, integriert werden. Nachdem zunächst innerhalb der Rollenspiele Fertigkeiten zum Aufbau sozialer Kompetenz im Fokus standen, verschiebt dieser sich jetzt auf die Lösung der Konfliktsituation. Dazu wird den Patienten anhand von . Arbeitsblatt 11.8 »Probleme anpacken – gewusst wie!«, welches die sechs Schritte der Problemlösung enthält, durch den Therapeuten das Vorgehen beim systematischen Problemlösen erläutert. Um möglichst konkret und anschaulich vorzugehen, wird ein Teilnehmer gebeten, eine für ihn konflikthafte Situation zu beschreiben. Anhand der Situation werden am Flipchart die einzelnen Schritte der Lösung für diese Problemsituation durchgespielt. Falls ein Patient keine eigene Problemsituation in der Sitzung nennen kann, sollte anhand bereits besprochener Themenbereiche eine individuelle Konfliktsituation abgeleitet werden wie etwa »Meine Freundin hat mich versetzt« oder »Mein Freund schaut beim Abendessen immer fern statt sich mit mir zu unterhalten« durchgeführt werden. Wichtig ist, dass nach der Ableitung einer guten Problemlösung auch die Durchführung dieser Lösung im Rollenspiel eingeübt wird. Idealerweise können alle Teilnehmer eine eigene schwierige Situation im Rollenspiel bearbeiten. Eine weitere Übungsmöglichkeit ist die Bearbeitung des . Arbeitsblattes 11.10, auf dem die 6 Schritte mit einem eigenen Problem nachvollzogen werden können. Ein Beispiel dazu findet sich auf . Arbeitsblatt 11.10B auf der 7 CDROM.
235 11.3 · Aufbau selbstsicheren Verhaltens
. Arbeitsblatt 11.9. Probleme anpacken – gewusst wie!
11
236
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
11
. Arbeitsblatt 11.11B. Beispiele für Konfliktsituationen und Lösungen
237 11.5 · Arbeitsblätter
Abschließend zu diesem Baustein kann die Protokollierung von Konflikt- und Problemsituationen über die Woche als Hausaufgabe aufgegeben werden (. Arbeitsblatt 11.11). Die Hausaufgabe kann sowohl zur Wiederholung von Problemlösetechniken als auch des Themas »sozialer Kompetenz« in der nächsten Sitzung aufgegriffen werden. Die Bearbeitung der protokollierten Konfliktsituationen sollte darauf fokussieren, worin der Konflikt bestand, wie der Patient bei der Lösung vorgegangen ist und wie das Resultat war. Falls es zu keiner befriedigenden Lösung gekommen ist, sollte überlegt werden, woran dies lag und was das nächste Mal verbessert werden könnte. Wichtig ist, trotz der Fehlersuche ausreichend zu verstärken und den Patienten auf Ressourcen und Stärken in der Umsetzung hinzuweisen. Ein Beispiel eines ausgefüllten Protokollbogens zeigt . Arbeitsblatt 11.11B.
11.4
Zusammenfassung
4 Zu sozialen Kompetenzen gehören im weiteren
Sinne nonverbale und verbale Kommunikationsfertigkeiten sowie kognitive Aspekte in der Interpretation von Aussagen anderer Personen. Im engeren Sinne zählen zudem Äußerungen klarer Forderungen, das Erkennen des zugrunde liegenden Problems oder Konfliktes und zielorientiertes Lösen durch aktives Handeln zu sozial kompetenem Handeln. 4 Elemente zur Verbesserung der nonverbalen Kommunikation beinhalten das Trainieren eines stimmigen Gefühlsausdrucks hinsichtlich Mimik, Gestik, Haltung und Stimmlage. Beim Training verbaler Kommunikation wird der Patient darin unterstützt, vorhandene Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse anzusprechen, indem Regeln zum verbalen Gefühlsausdruck vermittelt und über Rollenspiele eingeübt werden. Ergänzend wird ein Kommunikationsmodell eingeführt, welches der Aufdeckung von Missverständnissen und der Vermeidung von Fehlkommunikation im Alltag entgegenwirken soll. 4 Die Vermittlung sozialer Fertigkeiten wird anhand von konkreten individuellen Konfliktsituationen vorgenommen. Zunächst werden dazu Regeln sozial kompetenten Verhaltens ver-
11
mittelt und im Rollenspiel die Umsetzung und Einübung der erarbeiteten Strategien angestrebt. 4 Als Letztes wird mit den Patienten das systematische Problemlösen eingeübt. Dazu werden den Patienten die sechs Schritte der Problemlösung vermittelt.
11.5
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 11.2. Rückmeldebogen Gefühlsbild . Arbeitsblatt 11.4. »Wie sage ich…?« . Arbeitsblatt 11.6. Missverständisse klären . Arbeitsblatt 11.10. Probleme angepackt . Arbeitsblatt 11.11. Protokollbogen für Konflikt- und Problemsituationen
238
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
11
. Arbeitsblatt 11.2
239 11.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 11.4
11
240
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
11
. Arbeitsblatt 11.6
241 11.5 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 11.10
11
242
Kapitel 11 · Techniken zur Verbesserung sozialer Kompetenzen
11
. Arbeitsblatt 11.11
12 12
Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12.1
Einführung
12.2
Vorstellung des Modells der Körperbildstörung – 246
12.3
Imaginationsübungen
12.3.1 12.3.2
Durchführung der Imaginationsübung »Körperreise« – 248 Durchführung der Imaginationsübung »Gedanken sammeln« – 250
12.4
Abtast-/Zeichnungsübungen
12.4.1 12.4.2
Abtasten und Zeichnen des eigenen Körpers – 253 Übungen zur Fremd- und Selbstwahrnehmung – 257
12.5
Modellierübungen
12.5.1
Durchführung der Modellierübung – 260
12.6
Spiegel- und Videokonfrontationsübungen – 265
12.7
Zusammenfassung
12.8
Arbeitsblätter – 271
– 244
– 248
– 252
– 259
– 271
244
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
> Ziel
4 Informationsvermittlung zum Vier-Komponentenmodell des Körperbildes 4 Veränderung der perzeptiven und affektivkognitiven Komponente des Körperbildes : Vorgehen 4 Erklärung der vier Komponenten des Körperbildes 4 Analyse der Einstellungen zum Körper Identifikation von Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung über Körperwahrnehmungsübungen 4 Korrektur des negativen Körperbildes im Rahmen von Spiegelexpositionen durch Forcierung einer neutralen Beschreibung 4 Fokussierung auf positive Aspekte während wiederholter Spiegelexpositionen
12.1
12
Einführung
Die negative Einstellung zum eigenen Körper sowie die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Figur und Gewicht haben einen hohen Stellenwert in der Entstehung und Aufrechterhaltung der Essstörung. Daher ist es wichtig, diesem Aspekt Beachtung zu schenken und direkte Interventionen des Körperbildes nicht zu scheuen (vgl. Vocks u. Legenbauer 2005). Die Entstehung eines negativen Körperbildes hängt mit multiplen Ursachen zusammen, die in soziokulturelle (Familie, Peers, Medien) als auch individuelle Faktoren (kritische Lebensereignisse, prämorbides höheres Gewicht u. Ä.) eingeteilt werden können (vgl. Vocks u. Legenbauer 2005). Diese soziokulturellen und individuellen Bedingungen führen bei einer Internalisierung des überhöhten Schlankheitsideals zu körperlicher Unzufriedenheit, wenn die Wunschfigur nicht erreicht werden kann (vgl. Stice 1994). Tritt diese Unzufriedenheit zusammen mit anderen Vulnerabilitätsfaktoren wie einem geringen Selbstwertgefühl, dysfunktionalen Modellen (z. B. innerhalb der Familie) auf, kann es zur Ausbildung einer Körperbildstörung kommen. Diese Körperbildstörung beinhaltet oft neben einer affektiv-kognitiven Komponente auch die Wahrnehmung des Körpers und das Verhalten in körperbezogenen Situationen (Komponentenmodell, 7 Abschn. 12.2).
Die so entstandene Störung wird durch dysfunktionale Bewältigungsstrategien, wie körperbezogenes Vermeidungsverhalten (z. B. der Betrachtung des eigenen Körpers im Spiegel aus dem Wege gehen), aufrechterhalten. Zu einer ausführlichen Darstellung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Körperbildstörungen siehe Vocks und Legenbauer (2005). Die Veränderung des gestörten Körperbildes ist bislang in der Essstörungstherapie eher »stiefmütterlich« behandelt worden. Insbesondere bei bulimischen Patienten, die nicht wie Frauen mit Anorexia nervosa durch die Leugnung eines starken Untergewichtes gekennzeichnet sind, wurde in der Vergangenheit oft von Interventionen zur Verbesserung des Körperbildes abgesehen (zu einer Übersicht s. Böse 2002). Traditionelle Ansätze in der Behandlung von Körperbildstörungen sind beispielsweise Spiegelund Videokonfrontationen (Tuschen-Caffier u. Florin 2002; Vocks u. Legenbauer 2005), die u. a. dazu führen sollen, Angst- und Ekelgefühle hinsichtlich des Körpers (z. B. über Habituation) abzubauen und positive Aspekte am eigenen Körper zu entdecken. Neben der Konfrontationstherapie existieren zudem affektiv-erlebnisorientierte Ansätze, um die Sensitivität gegenüber inneren und äußeren Reizen im Umgang mit dem Körper zu erhöhen. Dazu zählen insbesondere Übungen, die verschiedene Aspekte der Körperwahrnehmung wie Gefühl und Bewegung kombinieren und die Internalisierung neuer Erfahrungen erleichtern (Görlitz 2001). Dabei werden verschiedene Wahrnehmungsaspekte (taktil, visuell, physiologisch, kinästhetisch) genutzt, um eine emotionale Reaktion hervorzurufen und einen neuen Bezug von Wahrnehmungs- und Erlebensebene herzustellen. Geeignet sind hierbei vor allem körperbezogene interaktionelle Übungen, die durch den Einbezug der Verhaltenskomponente und durch Rückmeldungen von anderen Patienten leichter zu einer Veränderung der Einstellung zum eigenen Körper führen, da hier gezielt neue korrigierende Erfahrungen gemacht und körperbezogenes Vermeidungsverhaltung abgebaut werden sollen. Neben der aus lernpsychologischer Sicht besseren Verankerung neuer Verhaltensweisen durch die Nutzung verschiedener Erlebnisebenen tragen diese Körperwahrnehmungsübungen dazu bei, die kognitive Verarbeitung zu unterbrechen und damit alte Denkmuster durch die Reduzierung des sprachli-
245 12.1 · Einführung
chen Übergewichts in der Therapiesituation zu verhindern und das Verhaltensrepertoire auf der nonverbalen Ebene zu erweitern. Ziel dieser Therapiesequenz ist daher zum einen eine erste Überwindung des körperbezogenen Vermeidungsverhaltens durch die Aufmerksamkeitslenkung auf den Körper, zum anderen eine Hinterfragung des bisherigen Körperbildes sowie drittens der Aufbau eines positiveren Körperbildes. Die beschriebenen Körperwahrnehmungsübungen haben nur geringe Ansprüche an die Verbalisierungsfähigkeiten von Patienten und bieten daher eine gute Möglichkeit, auch bei weniger intellektueller Differenziertheit Zusammenhänge zu verdeutlichen und eine aktive Teilnahme durch Rückmeldung in der Gruppe zu ermöglichen (vgl. Görlitz 2001). Aus der großen Auswahl an Übungen, die auf diesem Ansatz aufbauen, wie Entspannungs- und Besinnungsübungen, Imaginationsverfahren und verschiedenen Körperwahrnehmungsübungen, möchten wir je zwei Übungen aus dem Spektrum der Imaginationsverfahren sowie der AbtastÜbungen, und zwar Zeichen- und Modellierübungen, vorstellen, welche sich unserer Meinung nach besonders zur Bearbeitung der Körperbildstörungen bei Essstörungspatienten eignen. Die hier dargestellten Imaginationsübungen sind eher als Einstiegsübungen zu verstehen, bei denen die Patienten einen Zusammenhang zwischen Körper und Gefühl erleben und anfangen sollen, sich mit ihrem Körper auseinanderzusetzen. Bei den Abtastübungen geht es darum, sich selbst und einen anderen Patienten zu berühren und Unterschiede in der Selbst- und Fremdwahrnehmung über Vergleiche und Körpererleben herauszuarbeiten. Bei den Zeichnungsübungen werden die Erfahrungen bildlich umgesetzt, bei den Modellierübungen nutzen die Patienten verschiedene Materialien wie Ton, Knete oder Pappmaché, um eine dreidimensionale Darstellung von ihrem subjektiven Körberbild anzufertigen. Es ist anzuraten, nicht nur eine Übungsart mit den Patienten durchzuführen, sondern durchaus mehrere Sitzungen zur Veränderung des Körperbildes zu planen und verschiedene Herangehensweisen zu wählen. Dabei ist es sinnvoll, zunächst das Komponentenmodell des Körperbildes einzuführen und den Einfluss des negativen Körperbildes zu verdeutlichen. Erst im zweiten Schritt werden die Patienten
12
dazu angeleitet, sich mit dem Körper anhand unterschiedlicher Sinne wie Tasten und Spüren auseinanderzusetzen. Die folgende Übersicht fasst die Ziele dieser Übungen zur Verbesserung des Körperbildes noch einmal zusammen.
Ziele von Körperwahrnehmungsübungen 4 Herausarbeiten von Zusammenhängen zu Gedanken und Gefühlen in Bezug auf den eigenen Körper 4 Vorbereitung der kognitiven Umstrukturierung 4 Vorbereitung von Aufmerksamkeitsumlenkung auf positive Aspekte des eigenen Körpers und dadurch Verbesserung des Körpergefühls 4 Verbesserung der Wahrnehmung von Emotionen 4 Aufbau positiver Selbstwahrnehmung 4 Habituation an negative Gefühlszustände
Die hier benannten Verfahren zur Verbesserung des Körperbildes können demnach je nach zur Verfügung stehender Zeit unterschiedlich kombiniert werden. Als Einstiegsübung eignet sich zur Herausarbeitung des Zusammenhangs von Gedanken und Gefühl zunächst eine Körperwahrnehmungsübung, welche in 7 Abschn. 12.3 dargestellt wird. Sie kann im Anschluss an den kognitiven Therapiebaustein oder an Übungen zur Affektregulation durchgeführt werden. Des Weiteren ist es sinnvoll, die Körperwahrnehmungsübungen vor den Konfrontationsübungen durchzuführen, um die Patienten im Sinne eines graduierten Vorgehens auf die Konfrontationsübungen vorzubereiten und eine mögliche Überforderung durch die Körperkonfrontation zu vermeiden. Im Anschluss an die Körperwahrnehmungsübungen sollten dann die Spiegel- und Videoexpositionen durchgeführt werden. Die Expositionsübungen benötigen ein höheres Verbalisationsvermögen und helfen, automatische Kognitionen zu durchbrechen und direktiv positive Selbstbeschreibungen des Körpers einzuüben. Abschließend können zudem Expositionsübungen im natürlichen Umfeld, die im Zusammenhang mit körperbezogenem Vermeidungs- und Kontrollverhalten stehen,
246
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
durchgeführt werden (siehe hierzu Vocks u. Legenbauer 2005). Ein Beispiel wie eine Therapiesequenz zur Verbesserung des Körberbildes aufgebaut werden kann ist in 7 Kap. 5 dargestellt. Dabei wird als Eingangsübung nach Vorstellung der theoretischen Grundlagen des Komponentenmodells des Körperbildes das Selbstabtasten mit Zeichnen durchgeführt. Im zweiten Schritt werden das Partnerabtasten mit Modellieren und zum Abschluss des Moduls Spiegelkonfrontationsübungen angeleitet.
12.2
12
Vorstellung des Modells der Körperbildstörung
Bevor mit den konkreten Übungen begonnen wird, soll mit den Patienten der Zusammenhang der unterschiedlichen Ebenen einer Körperbildstörung erarbeitet werden. Da in diesem Manual keine umfassende Körperbildbehandlung dargestellt wird, soll unser hier vorgestelltes Komponentenmodell vornehmlich auf die Störungskomponenten und weniger auf Entstehung und Aufrechterhaltung der Körperbildstörung im Konkreten eingehen. Eine ausführliche Darstellung zur Entstehung und Therapie von Körperbildstörungen findet sich in Vocks und Legenbauer (2005). Das Komponentenmodell stellt das Körperbild als Produkt affektiver, kognitiver und sinnesphysiologischer Aspekte dar und beinhaltet zudem als weitere Komponente das Verhalten, das durch negative Einstellungen zum Körper beeinflusst wird. Die einzelnen Komponenten eines gestörten Körperbildes umfassen damit »Wahrnehmung«, »Gedanken«, »Gefühle« und »Verhalten«. Kognitive Komponente. Beeinträchtigungen auf der kognitiven Ebene zeigen sich dabei insbesondere im Rahmen dysfunktionaler körperbezogener Grundannahmen wie: 4 »Nur wenn ich schlank bin, werde ich von anderen gemocht.« 4 »Nur wenn ich attraktiv bin, habe ich beruflichen Erfolg.« Diese Grundannahmen hängen, wie in den vorangegangenen Kapiteln (7 Kap. 9) beschrieben, mit automatischen Gedanken zusammen, welche in Situa-
tionen mit körperbezogenen Reizen wie Essen, Exponiertheit des Körpers wie beim Schwimmen oder Sammelumkleidekabinen, in sozialen Kontexten wie Partys oder am Arbeitsplatz auftreten können. Diese könnten folgendermaßen lauten: 4 »Wenn ich im Spiegel meinen dicken Bauch sehe, könnte ich losheulen.« 4 »Mein Chef hat mir bestimmt den Auftrag nicht gegeben, weil ich so zugenommen habe.« Affektive Komponente. Diese beinhaltet Gefüh-
le, die sich vorrangig auf den eigenen Körper beziehen wie Scham, Ekel, Angst, u. ä. Sie gehen eng mit den oben beschriebenen kognitiven Prozessen einher. Perzeptive Komponente. Beeinträchtigungen der perzeptiven Ebene beinhalten vorrangig die Unter- bzw. Überschätzung der eigenen Körperdimensionen. Aus der Forschung ist bekannt, dass sowohl Frauen mit Anorexia als auch Bulimia nervosa dazu neigen, ihre Körperdimensionen als dicker einzuschätzen, als sie tatsächlich sind (Cash u. Deagle 1997). Bei anorektischen Patienten führt das dazu, dass sie den Grad ihres tatsächlich oft extremen Untergewichts verkennen und wenig Einsicht in die Notwendigkeit der Gewichtszunahme zeigen, während bei bulimischen Patienten durch die Überschätzung des meist normalen Körpergewichts eher eine Rechtfertigung für die Fortsetzung der Diätversuche erfolgt (vgl. Vocks u. Legenbauer 2005). Behaviorale Komponente. Die Beeinträchtigung
auf der behavioralen Ebene bezieht sich schließlich auf die aus den anderen Komponenten resultierenden Beeinträchtigungen im Verhalten. Dieses körperbezogene Verhalten kann sich sowohl auf Vermeidungsverhalten beziehen wie das Tragen weiter Kleidung zur Verhüllung der Körperformen, ständiges Baucheinziehen oder Muskelanspannen als auch Kontrollstrategien wie tägliches Wiegen, Abmessen des Körperumfanges oder wiederholtes Betrachten im Spiegel beinhalten. Wie bereits aus der Beschreibung der einzelnen Komponenten ersichtlich, besteht eine wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Komponenten
247 12.2 · Vorstellung des Modells der Körperbildstörung
. Arbeitsblatt 12.1. Die vier Komponenten des Körperbildes
12
248
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
untereinander: So beeinflusst die negative Einstellung zum Körper ebenfalls die affektive Komponente des Körperbildes sowie das Verhalten. Zum Beispiel hat eine Person das Gefühl, zu dick zu sein und trägt deshalb immer sackartige Kleidung, um ihre Körperformen zu verstecken. Durch das Tragen der Kleidung wirkt ihr Körper plumper, und sie bekommt weniger Komplimente von anderen Menschen, was ihre Annahme, zu dick zu sein, bestätigt. Das negative Körperbild kann so nicht korrigiert werden, und eine Art Teufelskreis entsteht (vgl. Vocks u. Legenbauer 2005). Daher ist es wichtig, den Patienten zu verdeutlichen 4 dass sich eine negative Einstellung zum Körper auf verschiedenen Ebenen zeigt und 4 dass diese Ebenen miteinander interagieren und 4 durch diese Interaktion es zur Ausbildung eines Teufelskreises kommt.
12.3
Imaginationsübungen
Imaginationsübungen können zwei Zielen dienen: der Förderung der Entspannungsfähigkeit (vgl. auch Vaitl u. Petermann 2004) und der Verdeutlichung des Zusammenhangs zwischen Gefühlen, Gedanken und Körperwahrnehmung (vgl. Görlitz 2001). Im Folgenden werden nun zwei Imaginationsübungen »Körperreise« und »Gedanken sammeln« vorgestellt, die jeweils einem dieser Ziele, d. h. hier der Veränderung der Körperwahrnehmung und -bewertung, zuzuordnen sind. Die folgenden Materialien und Arbeitsblätter sind dazu notwendig:
Übungen: 4 Körperreise 4 Übung »Gedanken sammeln«
Materialien:
12
In . Arbeitsblatt 12.1 ist der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Aspekten des negativen Körperbildes als Komponentenmodell dargestellt. Dieser sich ergebende Teufelskreis kann verändert werden, indem zum einen die dysfunktionalen Einstellungen hinsichtlich des Körpers bewusst gemacht und im Sinne einer kognitiven Umstrukturierung alternative und angemessenere Gedanken erarbeitet werden. Zum anderen sind neben den kognitiven Interventionen auch die Etablierung neuer Erfahrungen mit dem Körper wichtig, um zu einer Veränderung des negativen Körpergefühls zu kommen. Dies ist möglich über Expositionsübungen, während derer sowohl kognitive als auch affektive Aspekte des Körperbildes korrektiv beeinflusst werden können. Imaginationsübungen oder Wahrnehmungsübungen bieten hier eine gute Möglichkeit, die Patienten langsam in die Übungen zur Verbesserung des Körperbildes einzuführen, da dabei nicht nur mit dem Einsatz des Sehsinns gearbeitet, sondern auch die perzeptive Ebene über den Tastsinn mit einbezogen wird.
4 Stifte; event. Kissen oder Matten für die Körperreise
Arbeitsblätter: 4 Gedanken sammeln (. Arbeitsblatt 12.2/ 12.2B)
12.3.1
Durchführung der Imaginationsübung »Körperreise«
Ziel der Übung ist es, die Aufmerksamkeit auf den Körper zu lenken und den Körper einmal frei von jeder Bewertung wahrzunehmen. Dazu werden die Patienten dazu instruiert, sich entspannt hinzusetzen, wenn möglich die Augen zu schließen und eine geführte Reise durch ihren Körper zu machen. Aufgabe dabei ist, alle auf diese Weise »bereisten« Körperteile wahrzunehmen und zu beobachten, welche Gefühle dabei auftreten. Dabei sollte keine Bewertung erfolgen. Die auftretenden Gefühle können als diagnostische Hinweise beispielsweise für Vermeidungsverhalten genutzt werden. Im Folgenden ist die Anleitung zur Übung (modifiziert nach Legenbauer u. Vocks 2005) dargestellt.
249 12.3 · Imaginationsübungen
12
Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie die Augen und konzentrieren Sie sich zunächst auf ihren Atem. Atmen Sie langsam ein und aus, ganz langsam, tief ein und aus … stellen Sie sich vor, alle Ihre Gedanken sind wie Wolken am Himmel – alle störenden Einflüsse ziehen einfach in diesen Wolken dahin. … Atmen Sie einfach tief ein und aus ... ein und aus. ... Versuchen Sie nun sich vorzustellen, Sie schwimmen in einem See, um Sie herum ist Stille, der Wind rauscht in den Bäumen. … Sie sind ganz alleine, das Wasser ist angenehm warm … Sie schwimmen langsam und entspannt … Sie hören die Vögel zwitschern … und sind ganz ruhig und tief entspannt. … Lassen Sie das Alltagsgeschehen los … spüren Sie wie der Wind durch Ihr Haar weht … wie die Wellen bei jeder Bewegung sanft gegen Ihr Kinn schlagen. … Sie spüren die Sonne auf der Haut im Gesicht und auf dem Kopf … hören das leichte Platschen des Wassers. … Spüren Sie, wie das Wasser Sie warm und weich umgibt. … Versuchen Sie nun zu erspüren, wie sich der Kopf über Wasser anfühlt … den Wind in den Haaren, die Sonne auf der Nase. … Gehen Sie weiter zu Ihren Schultern und den Armen … stellen Sie sich vor, alle Last des Alltags ist von ihnen genommen. … Spüren Sie, wie die Arme bei jedem Schwimmschlag durch das Wasser gleiten … wie das Wasser an Ihren Armen entlangströmt … versuchen Sie sich vorzustellen, wie sich das Wasser durch Ihre Finger drückt. … Wie fühlt sich das an? … Versuchen Sie nun, in die verschiedenen Körperteile hineinzufühlen … verfolgen Sie die Bewegung Ihrer Arme. … Können Sie Ihre Muskeln spüren? … Sind die Züge kraftvoll oder eher langsam und entspannt? … Gehen Sie weiter zu Ihrem Bauch. … Versuchen Sie Ihren Bauch zu spüren … Wie fühlt er sich an? … Gespannt durch die Bewegung, kühl vom Wasser? … Verweilen Sie eine Weile dort. … Stellen Sie sich vor, wie Ihr Körper durch das Wasser gleitet und das Wasser an Ihrem Bauch entlangströmt. … Versuchen Sie in sich hineinzuhorchen … Was fühlen Sie? … Wandern Sie weiter zu Ihren Beinen. … Spüren Sie, wie Ihre Beine durch das Wasser gleiten? … Wie fühlt sich das an? … Sind Ihre Beine schwer oder leicht? … Versuchen Sie sich jeden Beinschlag vorzustellen … wie Sie die Beine anwinkeln … und wieder ausstrecken … wie das Wasser an den Beinen entlangströmt. … Können Sie die Strömung spüren? … Gehen Sie weiter zu Ihren Füßen. … Können Sie die einzelnen Zehen spüren? … Sind die Füße warm oder kalt? … Fühlen sie sich unterschiedlich an? … Versuchen Sie sich vorzustellen, wie das Wasser durch Ihre Zehen durchfließt. … Genießen Sie noch einmal den Moment … spüren Sie, wie das Wasser Ihren Körper umgibt. … Versuchen Sie Ihren Körper im Ganzen wahrzunehmen. …Wie fühlt er sich an? … Achten Sie nun noch einmal auf Ihren Atem, atmen sie ruhig ein und aus … tief ein und aus … ein und aus. … Kommen Sie jetzt langsam wieder zurück … recken und strecken sich … öffnen die Augen …
Zur Besprechung der Körperreise können folgende Fragen gestellt werden:
4 4 4 4 4 4
Wie ist es Ihnen bei dieser Körperreise ergangen? Welche Entdeckungen haben Sie gemacht? Welche Gefühle sind bei Ihnen aufgetreten? Welche Veränderungen konnten Sie auf körperlicher Ebene spüren? Gab es Körperstellen, die Sie nicht wahrnehmen oder nachfühlen konnten? War es angenehm, sich zu spüren?
Die Übung kann zu Beginn der Stunde durchgeführt werden und als Einstieg in die Körperbildtherapie genutzt werden. Bei 6–8 Gruppenteilnehmern sind ca. 30 Minuten für die Übung zu veranschlagen, so
dass im Anschluss die zweite Imaginationsübung oder alternativ auch die Einzel- oder Partnerabtastübung durchgeführt werden kann.
250
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12.3.2
Durchführung der Imaginationsübung »Gedanken sammeln«
Die Übung »Gedanken sammeln« eignet sich zur Herausarbeitung des Zusammenhangs zwischen körperbezogenen Gedanken und Gefühlen und kann insbesondere als Einschub bei kognitiven Interventionen mit der Funktion eines Verhaltensexperiments oder zur Vorbereitung von Expositionensübungen eingesetzt werden, um noch einmal die körperbezogenen dysfunktionalen Gedanken herauszuarbeiten.
Die Übung wird mit allen Gruppenteilnehmern zusammen durchgeführt. Zunächst wird die Anweisung gegeben, dass sie sich auf Ihren Körper konzentrieren und für 2–3 Minuten die Gedanken sammeln, die ihnen bei der Konzentration auf den Körper durch den Kopf gegangen sind. Diese werden im Anschluss auf dem . Arbeitsblatt 12.2 notiert und in der Gruppe vorgestellt. Ein Beispiel dazu findet sich auf . Arbeitsblatt 12.2B. Die Instruktion zum ersten Teil der Übung kann wie folgt gegeben werden:
Setzen Sie sich bitte bequem hin, schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich. Konzentrieren Sie sich ganz auf Ihren Körper. Wie fühlen Sie sich in diesem Augenblick in ihm? Was denken Sie über ihn? Bleiben Sie einen Moment in diesem Zustand und sammeln Sie die verschiedenen Gedanken. Ihnen können dabei Aussagen wie »Ich bin schwer und träge«, »Ich bin zufrieden« oder Ähnliches durch den Kopf gehen. Schreiben Sie nun diese Aussagen nieder. Waren es nur positive oder auch negative? Ordnen Sie die Aussagen in positive und negative in das Arbeitsblatt »Gedanken sammeln« ein.
12
Bei der Besprechung sollte darauf geachtet werden, ob Gedanken und Gefühle korrekt auseinander gehalten werden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn die Übung zu einem frühen Therapiezeitpunkt wie beispielsweise vor dem Affektregulierungsmodul oder dem kognitiven Modul durchgeführt wird
und die Patienten noch nicht in der Lage sind, die Diskriminierung selbstständig durchzuführen. Die Patienten sollten dann darauf aufmerksam gemacht werden, ob die von ihnen gemachte Aussage ein Gedanke oder ein Gefühl beinhaltet.
Überlegen Sie, ob die Aussage eher einem Gefühl oder eher einer Bewertung Ihres Körpers entsprach. Bitte machen Sie hinter die Aussagen auf dem Arbeitsblatt »Gedanken sammeln«, die einem Gedanken entsprechen, ein G und hinter ein Gefühl ein E (wie Emotion).
Im nächsten Schritt soll nun herausgearbeitet werden, dass positive und negative Aussagen unterschiedliche Empfindungen im Körper auslösen. Diese Aussagen können sowohl Gedanken als auch Gefühle beinhalten. Es geht zunächst nur darum, den unterschiedlichen Effekt zwischen negativen und positiven Inhalten zu erleben. Dazu sollen die Teilnehmer jeweils eine der niedergeschriebenen Aussagen aufgreifen und sich auf diese konzentrieren. Die Augen sollten geschlossen gehalten werden. Die Patienten sollen dabei beobachten, wie sie sich bei der Konzentration auf
die Aussage fühlen. Um den Einfluss der jeweiligen Valenz (positiv oder negativ) der Aussagen auf das Körpergefühl zu verdeutlichen, sollte der Patient zwei Durchgänge machen und sich jeweils auf eine negative und eine positive körperbezogene Aussage konzentrieren. Ist die positive Aussage zu schwierig vorzustellen oder unglaubwürdig, kann alternativ eine frühere positive körperbezogene Erfahrung gedanklich ausgemalt werden. Nach Durchführung der Übung sollte mit den Gruppenteilnehmern besprochen werden, welche Erfahrungen sie gemacht haben.
251 12.3 · Imaginationsübungen
. Arbeitsblatt 12.2B. Gedanken sammel
12
252
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
Teil II Bitte suchen Sie sich im zweiten Teil der Übung nun einen negativen Gedanken heraus und überprüfen Sie, mit welchem Gefühl der Gedanke einhergeht. Machen Sie dann diese Übung noch einmal mit einem positiven Gedanken. Falls Sie keinen positiven Gedanken aufgeschrieben haben, können Sie sich eine positive körperbezogene Situation vorstellen.
Abschließend werden die Patienten gebeten, zu schildern, inwiefern sie Unterschiede zwischen den beiden Bedingungen gespürt haben. Ziel ist es, die Patienten dafür zu sensibilisieren, dass eine negative Aussage auch ein negatives Körpergefühl bedingen
Therapeut:
Frau S.:
Therapeut: Frau S.:
12
Therapeut: Frau S: Therapeut: Frau S:
Therapeut:
kann, eine positive Aussage hingegen eher mit einem neutralen oder positiven Gefühl einhergeht. Die Nachbesprechung sollte in der Gesamtgruppe durchgeführt werden und könnte folgendermaßen moderiert werden:
Welche Erfahrungen haben Sie während der unterschiedlichen Abschnitte der Übungen gemacht? Wer möchte denn anfangen und beschreiben, auf welche Aussagen er sich konzentriert hat und was passiert ist? Also dann fange ich an. Ich habe mir die Aussage: »Ich fühle mich fett« als Erstes vorgenommen. Wir hatten ja schon gesagt, dass das eher ein Gedanke ist als ein Gefühl, aber es war einfach etwas, was ich ganz häufig im Kopf habe. Ich habe mich daher für diese Aussage entschieden und mich intensiv auf diesen Satz konzentriert. Was haben Sie denn gespürt, als Sie sich auf den Satz konzentriert haben? Ich habe dabei gemerkt, dass ich angespannt bin und auch irgendwie traurig und wütend geworden bin. Haben Sie eine Idee, warum Sie der Satz traurig und wütend gemacht hat? Traurig, weil ich es gerne ändern würde, aber nicht kann, wütend, weil mich dieser Satz so beherrscht und mich in meinem Leben einschränkt. Wie war das denn mit dem positiven Satz? Gab es einen? Nein, nicht so direkt. Ich hatte mir irgendwie gewünscht, dass ich mich leicht und beschwingt fühlen würde. Das habe ich mir dann beim zweiten Teil ganz intensiv vorgestellt. Dass ich irgendwie leicht und beschwingt wäre. Das ist auch wieder eher ein Gefühl als ein Gedanke, aber was erstaunlich war, ist, dass ich mich wirklich nicht mehr so traurig gefühlt habe wie vorher mit der Aussage: Ich bin so fett. Sehr gut. Wie ist es denn den anderen ergangen?
Falls diese Übung nicht nur dazu genutzt wird, kognitive Interventionen vorzubereiten, kann an dieser Stelle insbesondere das veränderte positive Körpererleben durch die positiven Aussagen sowie der Abbau eines möglicherweise vorhandenen Vermeidungsverhaltens durch die Beschäftigung mit dem Körper betont werden. Im Anschluss daran eignen sich sowohl Zeichnungs- als auch Modellierübungen.
12.4
Abtast- und Zeichnungsübungen
Bei Abtast- und Zeichnungsübungen stehen der Zugang zum und die Erlebensfähigkeit des eigenen Körpers im Vordergrund. Des Weiteren kann durch das Abtasten des eigenen Körpers die Diskrepanz zwischen subjektiv empfundenem Körperbild und den Erfahrungen beim Abtasten des eigenen Körpers deutlich gemacht werden. Dafür ist z. B. eine Übung geeignet, in welcher die Patienten sich zu-
253 12.4 · Abtast- und Zeichnungsübungen
nächst selbst skizzieren. Diese Skizze stellt die eigene mentale Repräsentation des eigenen Körpers dar. Nach diesem ersten Schritt bekommt der Patient dann die Aufgabe, sich selbst von oben bis unten mit geschlossenen Augen abzutasten, um danach den erfühlten Körper zu skizzieren. Die Unterschiede der beiden Bilder werden anschließend betrachtet und die Diskrepanz zwischen dem vor und nach dem Abtasten gezeichneten Bild herausgearbeitet. Eine Erweiterung dieser Übung besteht darin, die Patienten zunächst sich selbst befühlen zu lassen und das Erspürte jeweils auf einem Blatt zu notieren, dann einen Partner abzutasten und umgekehrt. Hier ist Ziel und Zweck, das Selbstbild mit dem Fremdbild zu vergleichen. Der Schwerpunkt liegt nun darin, die Diskrepanz zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Rückmeldung des Partners herauszuarbeiten. Die häufige Erfahrung, dass die andere Person sich selbst als deutlich dicker wahrnimmt als sie sich anfühlt, hat dabei modellhaften Charakter und dient dazu, korrektive Erfahrungen durch Vergleichsprozesse zuzulassen. Generell ist es wichtig, den Teilnehmern die Übungen genau zu erklären und den Sinn deutlich zu machen. Insbesondere bei den Abtastübungen kann es dazu kommen, dass einzelne Teilnehmer sich nur ungern von einem anderen Patienten berühren lassen möchten. Die Übung sollte daher nur von Patienten durchgeführt werden, die sich damit einverstanden erklären. Es gibt auch die Möglichkeit, bestimmte Bereiche auszulassen, aber dies sollte nur für den Fall zugelassen werden, dass aus therapeutischen Gründen (z. B. bei Frauen mit Missbrauchserfahrungen) eine Aussparung als notwendig und sinnvoll erachtet wird (vgl. Dialog in 7 Abschn. 12.5.1). Sind alle Teilnehmer einverstanden, werden die Arbeitsblätter ausgeteilt und die einzelnen Übungsschritte durchgeführt.
12
Im Folgenden werden alle verschiedenen Übungsarten der Abtastvariationen dargestellt, wobei die Übungsteile ähnliche Zielsetzungen haben und daher je nach Gegebenheit untereinander ausgetauscht werden können. Falls nicht genügend Zeit ist, kann auf eine Auswahl der verschiedenen Ansätze zurückgegriffen werden. Folgende Übungen und Materialien werden dafür benötigt:
Übungen: 4 Kombinierte Zeichen-Abtast-Übung des eigenen Körpers 4 Partnerabtastübung
Materialien: 4 Stifte
Arbeitsblätter: 4 Selbstbildnis (. Arbeitsblatt 12.3/12.3B) 4 Anleitung »Sich selbst erfühlen« (. Arbeitsblatt 12.4) 4 »Mein ertasteter Körper« (. Arbeitsblatt 12.5/12.5B) 4 Partnerübung zum Abtasten (. Arbeitsblatt 12.6/12.6B)
12.4.1
Abtasten und Zeichnen des eigenen Körpers
Zur Einleitung der Einzelabtastübung werden die Patienten zunächst aufgefordert, ein Bild von sich selbst zu zeichnen, und zwar so, wie sie sich im Moment spüren (. Arbeitsblatt 12.3, 7 CD-ROM). Dazu kann folgender Text verwendet werden:
Ich möchte mit Ihnen heute eine Übung machen, bei der es darum geht, den Körper nicht wie generell üblich über die Augen wahrzunehmen, sondern sich ihm mit dem Tastsinn zu nähern. Dabei geht es darum, den Körper zu ertasten und so einen neuen Zugang zum Körper und den damit verbundenen Gefühlen zu erfahren und möglicherweise bestehendes Vermeidungsverhalten zu überwinden. Zur Vorbereitung möchte ich Sie bitten, zunächst ein Bild von sich zu malen. Das Bild soll nicht schön sein oder Sie wahrheitsgetreu wiedergeben, vielmehr geht es um Ihr gefühltes Körperbild.
254
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
Ein mögliches Ergebnis dieser Übung zeigt . Arbeitsblatt 12.3B. Haben die Patienten sich selbst gezeichnet, werden Sie gebeten, sich nun in eine Ecke des Raums zu stellen und sich mit geschlossenen Augen abzutasten
und gleich danach das, was sie erspürt haben, ebenfalls zu zeichnen (. Arbeitsblatt 12.4 und 12.5, 7 CDROM). Dazu kann folgende Instruktion gegeben werden:
Im Anschluss daran möchten wir Sie bitten, sich selbst zu befühlen. Bitte stehen Sie dafür auf und tasten Sie sich vom Haar bis zu den Zehen ab. Die intimen Körperbereiche können Sie auslassen. Wichtig ist, dass Sie das sehr langsam und sorgfältig tun und möglichst versuchen, viele Einzelheiten wahrzunehmen. Wo spüren Sie Knochen, wo fühlt es sich weich an? Was stimmt mit den Erwartungen, die Sie haben, überein? Wenn Sie sich von oben bis unten abgetastet haben, lassen Sie das Gefühlte noch einmal auf sich wirken. Versuchen Sie dann noch einmal ein Bild von sich zu zeichnen, und zwar, wie Sie sich gespürt haben. Beginnen Sie nun mit der Abtastübung. Sie können dafür in eine ruhige Ecke gehen. Schließen Sie beim Abtasten die Augen und konzentrieren Sie sich auf das, was Sie fühlen und erspüren.
12
Haben die Teilnehmer die Übung beendet, werden sie wieder in den Kreis gebeten. Der Therapeut wartet, bis alle versammelt sind. Dann sollen alle Patienten die Zeichnungen vor sich legen. Eine Freiwillige fängt mit der Erklärung des gezeichneten Bildes an und erläutert im Anschluss den Unterschied zum »Abtastbild«. Im Vordergrund der Interpretation steht dabei zunächst das eigene Erleben des Patienten. Ist dieser mit seinen Erläuterungen fertig, werden die anderen Teilnehmer aufgefordert, ihm Rückmeldungen zu ge-
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
ben. Dies kann sich auf die Unterschiede oder weiter bestehende Wahrnehmungsverzerrungen, aber auch auf Art der Darstellung, zeichnerische Elemente und Vorstellung bezüglich der Figuren beziehen. Alle Teilnehmer sollen nacheinander die Möglichkeit erhalten, ihre Zeichnungen vorzustellen und Rückmeldungen aus der Gruppe zu bekommen (Beispiel in . Arbeitsblatt 12.5B). Der Therapeut kann die Besprechung durch folgende Fragen moderieren:
Was fällt Ihnen auf, wenn Sie Ihre eigene Zeichnung betrachten? Bitte erklären Sie uns, warum Sie sich so gezeichnet haben! Worauf haben Sie beim Zeichnen wertgelegt, was wollten Sie damit ausdrücken? Was haben Sie vor dem Abtasten empfunden? Haben Sie das gefühlt, was Sie erwartet haben? Wo gab es Unterschiede zwischen dem, was Sie erwartet haben, und dem, was Sie tatsächlich gefühlt haben? Wenn Sie das erste Bild anschauen und mit dem Abtastbild vergleichen, wo sehen Sie Unterschiede? Fällt den anderen Gruppenteilnehmern etwas auf? Sehen Sie zusätzliche Unterschiede? Was meinen die anderen zu dem Abtastbild, inwiefern entspricht diese Zeichnung dem, was Sie an Frau X wahrnehmen? Gibt es etwas, was Sie Frau X gerne zu ihren Bildern sagen möchten? Wie wirkt das Bild auf die anderen?
Zusätzlich zu diesen Fragen könnte zum Beispiel besprochen werden, warum eine Patientin sich ohne weibliche Körperkennzeichen wie Brüste gezeichnet hat, warum die Füße weggelassen wurden.
Häufig haben die Teilnehmer anfangs Bedenken, sich auf die Abtastübungen einzulassen. Es ist daher sinnvoll, am Ende der Stunden noch einmal zu besprechen, wie es den Patienten mit den Übungen
255 12.4 · Abtast- und Zeichnungsübungen
. Arbeitsblatt 12.3B. Selbstbildnis
12
256
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.5B. Mein ertasteter Körper
257 12.4 · Abtast- und Zeichnungsübungen
insgesamt ergangen ist und wie Sie sich jetzt fühlen. Das Herausstreichen der nicht eingetretenen Erwartungen einerseits und positiven Effekte andererseits kann die Durchführung weiterer Übungen erleichtern. Für diese Übung in einer Gruppe mit 6–8 Teilnehmern sollte möglichst eine komplette Sitzung eingeplant werden. Abschließend kann dann die Wiederholung der Abtastübung unter Zuhilfenahme des . Arbeitsblattes 12.8 als Hausaufgabe gegeben werden. Es sollte noch einmal betont werden, dass vor allem auf Unterschiede zum ersten Abtasten geachtet werden sollte. Beispielsweise, dass es den Patienten beim zweiten Mal leichter fällt oder bestimmte Körperteile überhaupt wieder berührt werden können. Im nächsten Schritt oder auch als Alternative zur Einzelübung kann eine Partnerübung zur Überprüfung der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung durchgeführt werden (7 Abschn. 12.4.2).
12.4.2
12
Übung zur Fremd- und Selbstwahrnehmung
Für die nachfolgenden Übungen sollten Zweiergruppen gebildet werden. Einführend soll den Patienten Ablauf und Ziel der Übung genau erklärt werden. Dabei kann auf bereits gemachte Erfahrungen hinsichtlich diskrepanter Selbst- und Fremdwahrnehmung aus vorangegangen Sitzungen wie beispielsweise den Pantomineübungen aus 7 Kap. 10 oder individuellen Beispielen aus dem Interventionsbaustein zur Modifikation dysfunktionaler Kognitionen aus 7 Kap. 9 verwiesen werden. Aufgabe der Patienten ist es, sich zunächst noch einmal selbst zu ertasten und diese Beobachtungen anhand des . Arbeitsblattes 12.6 »Partnerübung zum Abtasten« zu beschreiben. Im Anschluss daran erfolgt das wechselseitige Abtasten in den vorher gebildeten Zweiergruppen. Ist dieses beendet, werden die Beobachtungen in . Arbeitsblatt 12.6 eingetragen und zunächst in der Kleingruppe besprochen (Beispiel . Arbeitsblatt 12.6B). Dies ist eine mögliche Einführung und Beschreibung der Übung in der Gruppe:
Sicher kennen Sie das alle, dass manchmal die eigene Einschätzung so gar nicht der Realität bzw. der Wahrnehmung anderer Personen entspricht. Dies gilt insbesondere in Bezug auf unser Körperbild. Um nun das eigene Körperbild nicht nur in Bezug auf den Sehsinn kennen zu lernen und die eigene Wahrnehmung zu überprüfen, möchte ich mit Ihnen heute eine weitere Übung machen: Ich möchte Sie bitten, sich »fühlend« mit Ihrem Körper auseinanderzusetzen. Das heißt, dass Sie sich von den Haaren an bis hin zu den Zehen abtasten und dabei auf Ihre Haut, Knochen, Muskeln, Sehnen achten. Auch sollen Sie hierbei fühlen, welche Körperteile sich eher warm und welche sich eher kalt anfühlen. Bitte tragen Sie dann Ihre Beobachtungen beim Abtasten in das vor Ihnen liegende Arbeitsblatt »Partnerübung zum Abtasten« ein. Wenn Sie damit fertig sind, möchte ich Sie bitten, dass Sie sich von einem anderen Gruppenteilnehmer Ihrer Wahl abtasten lassen. Die andere Person soll ebenfalls von oben langsam Ihren Körper erfühlen. Bitte sprechen Sie vorher ab, welche Stellen unangenehm sind und ausgelassen werden sollen. Lassen Sie sich Zeit für diese Übung. Im Anschluss schreibt Ihr Partner ebenfalls auf, was er beim Abtasten Ihres Körpers gespürt hat. Danach besprechen Sie bitte zunächst in der Zweiergruppe, wie Sie die Übung erlebt haben und überprüfen Ihre Beobachtungen auf Unterschiedlichkeiten und Übereinstimmungen. Wenn Sie dies beendet haben, stellen Sie bitte den anderen Teilnehmern in der Gesamtgruppe vor, was Sie herausgefunden haben. Haben Sie noch Fragen dazu? Bitte suchen Sie sich dann jetzt einen Partner und gehen Sie in eine Ecke des Raums. Lassen Sie sich selbst Zeit bei der Durchführung.
258
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.6B. Partnerübung zum Abtasten
259 12.5 · Modellierübungen
Der Therapeut beobachtet die Teilnehmer bei der Übung, hält sich aber ansonsten zurück. Wenn alle Kleingruppen mit der Nachbesprechung fertig sind, werden sie in die Gesamtgruppe zurückgebeten und die Ergebnisse der Übung werden vorgestellt. Die Grundlage dazu stellen die Eintragungen in das . Arbeitsblatt 12.6 dar. Die Besprechung der Übung wird vom Therapeuten moderiert. Da-
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
bei sollten verschiedene Aspekte erarbeitet werden: Erleben des eigenen Abtastens, Erwartung für das Abgetastetwerden, tatsächlich Erlebtes beim Abtasten, Erfahrung beim Abtasten der anderen Person, gegenseitige Rückmeldung. Diese Aspekte können in Form dieser Fragen an die Gruppe gestellt werden:
Ich möchte Sie bitten, uns einmal zu beschreiben, wie Sie das Sich-Abtasten erlebt haben. Was haben Sie gespürt? Gab es Körperteile, die Sie ausgespart haben? Gab es Körperteile, die Sie nicht mochten oder nur schlecht gespürt haben? Welche Körperteile haben Sie gerne angefasst und warum? Haben Sie andere Dinge gespürt, als Sie erwartet haben? Was ist Ihnen an sich selbst aufgefallen? Was hat Ihnen Frau Y zurückgemeldet? Wie war es, als Sie abgetastet wurden? Wie haben Sie, Frau X, das Abtasten bei Frau Y erlebt? Haben Sie gefühlt, was Sie gesehen haben? Haben Sie andere Dinge erwartet? Was war Ihnen wichtig, Frau Y zu sagen?
Im Anschluss an die Besprechung sollte der Therapeut nochmals die wichtigsten Aspekte zusammenfassen und die Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung herausstreichen.
12.5
12
Modellierübungen
Die Modellierübung (modifiziert nach Görlitz 2001) ist kombiniert aus Abtastübung und dem Modellieren des eigenen bzw. fremden Körpers in Ton oder einem anderen gut formbaren Material. Sie dient ähnlich der Zeichnungsübung dazu, den Zugang zum Körper auf einer anderen Wahrnehmungsebene zu ermöglichen. Mehr als bei der Zeichnungsübung wird hier weniger mit dem Sehsinn gearbeitet und der Schwerpunkt auf die Umsetzung des Erspürten in Ton gelegt. Die Modellierübung eignet sich gut, um Diskrepanzen zwischen dem Fremdund Selbstbild herauszuarbeiten, da zwei Modelle (Abtastmodell durch den Taster (Fremdbild) und Erspürt-Modelle vom Betasteten selbst (Selbstbild)), gefertigt und beide Arbeiten verglichen werden kön-
nen. Durch die Plastizität des modellierten Körperabbildes wird daher die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körperbild erleichtert. Gerade die Herausarbeitung der Diskrepanz zwischen dem gefühlten Körper beim Abtasten (Selbstbild) und der vom Partner des Patienten geformten Skulptur seines Körpers (Fremdbild) sind hier von Bedeutung.
Übungen: 4 Abtasten des Partners und Modellieren des Erfühlten 4 Modellieren des Gespürten durch den Betasteten
Materialien: 4 Ton (oder ähnliches Material)
Arbeitsblätter: 4 Partnerübung Modellieren (. Arbeitsblatt 12.7/12.7B) 4 Wie hat sich mein Körper angefühlt? (. Arbeitsblatt 12.8/12.8B)
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Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12.5.1
Durchführung der Modellierübung
Die Patienten bilden für die Modellierübung wieder Zweiergruppen. Die Aufgabe ist zunächst, die erste Person mit geschlossenen Augen abzutasten. Dazu haben die Paare jeweils 5 Minuten Zeit. Beim Abtasten sollten zumindest die äußeren Körperumrisse erfasst, Intimbereiche und Brust dagegen ausgespart werden. Bauch und Po dürfen nach Absprache abgetastet werden. Nach dem Abtasten einer Person setzen sich beide Partner mit dem Rücken zueinander und modellieren ebenfalls bei geschlossenen Augen das, was die erste Person beim anderen ertastet hat und der Partner, der betastet wurde, das, was er selbst beim Abgetastetwerden erspürt hat. Sind beide Partner mit dem Modellieren der eigenen bzw. der Figur des anderen fertig, werden die Figu-
12
ren verdeckt und die Übung nun andersherum, d. h. mit der zweiten Person wiederholt: Die Person, die im ersten Durchgang den Partner ertastet hat, wird nun selbst abgetastet, der vorher Befühlte ertastet den Partner. Danach drehen sich beide Parteien wieder mit dem Rücken zueinander und modellieren den befühlten Partner bzw. sich selbst. Sind beide Durchgänge beendet, behält jeweils einer sein eigenes Modell und bekommt das vom Partner modellierte. Zunächst besprechen die Patienten in der Zweiergruppe, was sie erlebt haben und wie sie die Gestalten geformt haben, danach werden die Ergebnisse der Kleingruppenarbeit in der Gesamtgruppe vorgestellt. Dazu kann das . Arbeitsblatt 12.6 »Partnerübung Modellieren« (7 CD-ROM) eingesetzt werden. Einleitend kann folgende Beschreibung beim Vorgehen der Übung gegeben werden:
Anhand einiger anderer Übungen haben wir bereits den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung herausgearbeitet, indem Sie sich betastet haben und Zeichnungen davon angefertigt haben. Außerdem haben Sie von einem Mitpatienten Rückmeldungen darüber bekommen, wie Sie sich anfühlen, wenn Sie betastet werden. Ich möchte heute mit Ihnen zu dieser Partnerübung eine Anschlussübung machen und Sie daher bitten, sich noch einmal mit einem anderen Partner als das letzte Mal zusammenzutun und sich gegenseitig abzutasten. Zunächst ist es Ihre Aufgabe, das, was Sie ertastet haben, in Ton zu modellieren. Es geht dabei nicht darum, besonders schöne Figuren zu modellieren, sondern das, was Sie erfühlt haben, in eine Form zu bringen. Dazu sollten die Körperumrisse der Partner ertastet werden und wenn es für Sie jeweils in Ordnung ist, auch Bauch und Po. Wenn Sie sich fertig ertastet haben, dann drehen Sie sich mit dem Rücken zueinander und versuchen, die Besonderheiten von Form, Beschaffenheit wie Weichheit oder spitze Knochen in den Ton zu modellieren. Für diejenigen, die abgetastet wurden, gilt es, sich darauf zu konzentrieren, wie es sich angefühlt hat, betastet zu werden, und zu versuchen, auch das in den Ton zu übertragen. Wenn Sie damit fertig sind, decken Sie die Figur ab und führen Sie die Übung nun bei Ihrem Partner durch. Behalten Sie bei allen Übungsteilen, wenn möglich, die Augen geschlossen. Ziel der Übung ist es, den Körper und seine Besonderheiten, auf eine neue Art und Weise kennen zu lernen und auch positive Aspekte unabhängig vom Sehen zu erleben. Haben Sie noch Fragen dazu?
Bei der Durchführung der Modellierübung ist es wichtig, ähnlich der vorangegangen Übungen, auf mögliche Berührungsängste der Patienten einzugehen und Befürchtungen zu besprechen. Hilfreich ist an dieser Stelle auch, auf frühere Schwierigkeiten bei Abtast-Übungen hinzuweisen und positive Erfah-
rung mit dem Überwinden der Ängste bzw. dem Abbau von Vermeidungsverhalten zu betonen. Hintergrund und vor allem Ziel der Übung sollten deutlich benannt und an individuellen Beispielen erläutert werden. Dazu könnte folgender Dialog stattfinden:
261 12.5 · Modellierübungen
Frau X.: Therapeut: Frau X.:
Therapeut: Frau X.: Therapeut:
Frau X.: Therapeut: Frau X.:
12
Ich fühle mich bei der Vorstellung, von jemandem angefasst zu werden, keineswegs gut. Ja, das kann ich nachvollziehen. Gab es denn schon mal Übungen, bei denen Sie vorher ein schlechtes Gefühl hatten? Ja, bei den Übungen, bei denen wir uns Essanfälle vorstellen sollten und dann das Gefühl aushalten mussten, bis das Verlangen, zu essen wieder zurückgegangen ist. Da hatte ich ziemlich viel Angst vor. Und wie war es dann für Sie? Anfangs sehr anstrengend. Aber was mich überrascht hat, ist, dass es funktioniert hat und ich danach viel entspannter war. Das heißt, dass es letztendlich gut war, sich darauf einzulassen. Ich würde Sie daher bitten, sich auf die Übung einzulassen. Sie können selbst bestimmen, wie und wo Ihr Partner Sie abtasten darf. Ziel der Übung ist es ja, seinen Körper auf andere Art zu erleben als nur durch den Sehsinn und mögliches Vermeidungsverhalten abzubauen. Es kann ja auch sehr schön sein, zu spüren, dass ein anderer Mensch sehr vorsichtig mit einem umgeht. Glauben Sie, Sie können sich einmal darauf einlassen, in bestimmten Bereichen auszuprobieren, wie es ist, abgetastet zu werden und sich Ihren Gefühlen dabei zu stellen? Na ja, ich denke, dass es okay wäre, an den Schultern und wahrscheinlich auch am Kopf und der Außenseite der Beine. Trotzdem macht es mir Angst. Was würde Ihnen denn Sicherheit geben? Soll Ihre Partnerin fragen, bevor Sie zum nächsten Körperteil übergeht, oder möchten Sie z. B. die Augen offen halten? Ja, ich glaube, darauf könnte ich mich einlassen. Wenn Frau Y mich abtastet und ich die Augen dabei aufhalten kann.
Falls ein Patient sich nicht abtasten lassen möchte, besteht die Möglichkeit um das Vermeidungsverhalten nicht weiter zu verstärken, dass er sich selbst abtastet und eine eigene Figur formt. Dazu würde er angeleitet werden, sich selbst mit geschlossenen Augen von Kopf bis Fuß abzutasten. Im Anschluss daran sollte er das, was ihm beim Befühlen des Körpers aufgefallen ist, in Ton modellieren. Es ist wichtig, dass der Patient dabei ebenfalls die Augen geschlossen hält, um mögliche Einflüsse durch das Sehen
beim Modellieren auszuschalten und den Fokus auf dem Gefühlten zu belassen. Sind alle Teilnehmer einverstanden, werden sie wie oben beschrieben in Zweiergruppen eingeteilt und können mit der Übung beginnen. Die Arbeitsblätter sind als Hilfestellung bei der anschließenden Besprechung der individuellen Erfahrungen einzusetzen. Dazu kann als Ergänzung zu obiger Instruktion noch folgende Anweisung gegeben werden:
Wenn Sie das wechselseitige Abtasten beendet haben, setzen Sie sich bitte zunächst zu zweit zusammen und bearbeiten gemeinsam das Arbeitsblatt »Partnerübung Modellieren«, in das Sie eintragen können, was Ihr Partner Ihnen zurückgemeldet hat und was er an Besonderheiten gespürt hat sowie versucht hat, in Ton umzusetzen. Im Anschluss werden wir mit allen Gruppenteilnehmern besprechen, wie Sie die Übungen erlebt haben. Jede Kleingruppe sollte dann vorstellen, was sie herausgefunden hat. Haben Sie noch Fragen dazu? Bitte suchen Sie sich jetzt einen Partner und gehen Sie in eine Ecke des Raums. Lassen Sie sich bei der Durchführung Zeit.
262
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.7B. Partnerübung Modellieren
263 12.5 · Modellierübungen
Die Rückmeldung erfolgt zunächst in den Zweiergruppen. Die Patienten können sich dabei auf . Arbeitsblatt 12.7 stützen. Ein Beispiel ist in . Arbeitsblatt 12.7B dargestellt. Ist die Besprechung zu zweit beendet, werden alle Teilnehmer wieder in den Kreis gebeten. Der Therapeut wartet, bis alle versammelt sind. Dann beginnt eine Zweiergruppe mit der Erläuterung, wie sie die Übung erlebt haben, worauf sie beim Modellieren geachtet haben, welche Unterschiede beim Betasteten und Ertastenden aufgetreten sind. Die anderen Teilnehmer können dazu Fragen stellen oder auch Eindrücke ihrerseits ergänzen. Wichtig bei der Besprechung der Modellierübung ist zum einen, auf die Umsetzung des Ertasteten beim Modellieren einzugehen, d. h. darauf zu achten, dass z. B. der Bauch einer Patientin besonders eingefallen dargestellt wurde im Gegensatz zum
12
bislang von ihr beschriebenen und gefühlten »Blähbauch«. Zum anderen sollten Ähnlichkeiten in der Abtasterfahrung hervorgehoben werden, und zwar dass beim Abtasten des anderen die tatsächliche Wahrnehmung des Fremdbildes bestätigt wurde wie beispielsweise herausstechende Knochen, beim eigenen Körper aber große Unterschiede zwischen subjektivem Körperbild und Abtasterfahrung bestanden. Zudem sollte Wert darauf gelegt werden, positive Gefühle während der Übung, sowie positive Aspekte des eigenen Körpers zu erfragen und abgebaute Ängste herauszustreichen. Im Mittelpunkt sollte das Erleben der Patienten stehen und ein vertrautes Miteinander gefördert werden. Dazu ist es notwendig, eine offene und vertrauensfördernde Atmosphäre zu schaffen. Um dies zu erreichen, können folgende Fragen bei der Moderation der Besprechung gestellt werden:
4 Bitte erklären Sie uns, worauf Sie beim Abtasten Ihres Partners besonders geachtet haben. Wie haben Sie das, was Sie ertastet haben, in der Darstellung umgesetzt? 4 Was haben Sie vor dem Abtasten empfunden? Wie haben Sie das Abtasten dann erlebt? 4 Gab es Unterschiede im Abtasten zwischen der Übung heute und der vom letzten Mal? 4 Welche Ähnlichkeiten gibt es zwischen den beiden geformten Tonmodellen? 4 Können Sie das Modell so von Ihrem Partner annehmen? Wo finden Sie sich in dem Modell wieder? 4 Wenn Sie Ihr eigenes Ton-Modell (Selbstbild) anschauen und mit dem Abtastmodell (Fremdbild) vergleichen, wo sehen Sie Unterschiede? 4 Fällt den anderen Gruppenteilnehmern etwas auf? Wie kommt die Beschreibung bei Ihnen an. Möchten Sie noch etwas ergänzen?
Zusätzlich dazu kann auf die Abstraktheit der Figur, mögliche Schwierigkeiten beim Betasten, Ängste, den anderen zu verletzen oder falsch darzustellen
4 4 4 4 4 4 4 4
u. Ä. eingegangen werden. Auch die Erfahrungen des Abtastenden können wie bei der letzten Übung nochmals erfragt werden:
Gab es Körperteile, die Sie ausgespart haben? Welche Körperteile haben Sie gerne angefasst und warum? Haben Sie andere Dinge gespürt, als Sie erwartet haben? Was ist Ihnen an sich selbst aufgefallen? Was hat Ihnen Frau Y zurückgemeldet? Wie war es, als Sie abgetastet wurden? Wie haben Sie, Frau X, das Abtasten von Frau Y erlebt? Was ist schwieriger gewesen: das Abtasten oder das Abgetastetwerden – warum?
264
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.8B. Wie hat sich mein Körper angefühlt?
265 12.6 · Spiegel- und Videokonfrontationsübungen
Für diese Übung sollte eine ganze Gruppenstunde eingeplant werden. Im Anschluss an die Stunde kann als Hausaufgabe das . Arbeitsblatt 12.8 »Wie hat sich mein Körper angefühlt?« (7 CD-ROM) mitgegeben werden. Darauf werden noch einmal wichtige Erfahrungen der Stunde abgefragt. Die Notizen dienen als Erinnerungsgrundlage für das Erlebte. Sie unterstützen die weitere Erarbeitung positiver Aspekte des eigenen Körpers und körperbezogener Aktivitäten. Ein Beispiel zeigt . Arbeitsblatt 12.8B.
12.6
Spiegel- und Videokonfrontationsübungen
Im Anschluss an die einführenden Körpererfahrungsübungen sollten Expositionsübungen mit Spiegel und Video durchgeführt werden. Diese dienen dazu, negative Bewertungen des Körpers zu korrigieren, negative Gefühle wie Unsicherheit, Angst oder Ekel abzubauen und den Blick für positive Aspekte des eigenen Körpers zu sensibilisieren. Der Hauptschwerpunkt sollte dabei vor allem auf die Korrektur der negativen Bewertung des eigenen Körpers und die Neuformulierung der Beschreibungen gelegt werden, so dass es zu einer Verbesserung des negativen Affektes kommt und positive Aspekte des eigenen Körpers erkannt werden. Verschiedene Studien (z. B. Jansen et al. 2004) konnten zeigen, dass Patienten mit Essstörungen eine sehr defizitorientierte Betrachtungsweise zeigen und vor allem auf die Aspekte des eigenen Körpers fokussieren, die sie als negativ bewerten. Aus diesem Grunde soll im Folgenden dargestellt werden, wie die Patienten durch Expositionsübungen für die positiven Aspekte ihres Körpers sensibilisiert werden können. Zu weiteren Zielsetzungen und alternativen Vorgehens-
12
weisen vgl. Tuschen-Caffier und Florin (2002) sowie Vocks und Legenbauer (2005). Die Körperexpositionsübungen können auch ohne die zuvor dargestellten Körpererfahrungsübungen durchgeführt werden. Aus unserer Sicht ist es jedoch empfehlenswert, bei eher ängstlichen oder stark vermeidenden Patienten auf diese Übungen nicht zu verzichten, da sie durch den Fokus auf die Integration von Wahrnehmung, Gefühl und Bewertung eine graduierte Herangehensweise ermöglichen. Die hier vorgeschlagene Vorgehensweise für Expositionsübungen gliedert sich in drei Expositionsdurchgänge:
Übungen: 4 Neutrale Beschreibung durch den Patienten selbst von Kopf bis Fuß mit Unterbrechung bei negativen oder selbstabwertenden Aussagen 4 Positive Beschreibung des Patienten durch einen anderen Gruppenteilnehmer 4 Positive Beschreibung durch den Patienten selbst
Materialien: 4 Ganzkörperspiegel oder Videokamera mit Bändern
Arbeitsblätter: 4 So sehe ich mich (. Arbeitsblatt 12.9/12.9B) 4 So wurde ich gesehen (. Arbeitsblatt 12.10/ 12.10B) 4 So sehe ich mich jetzt ... (. Arbeitsblatt 12.11)
Zur Vorbereitung der Patienten auf die Durchführung der Expositionsübung kann folgender Text verwandt werden:
Bei der Besprechung der bisherigen Übungen haben Sie bereits erwähnt, dass es Ihnen schwer fällt, positiven Rückmeldungen über Ihren Körper anzunehmen. Das kann daran liegen, dass die negativen automatischen Gedanken, wie wir sie schon besprochen haben, immer schneller in Ihrem Kopf sind, als Sie das merken. Wir haben schon geübt, diese Gedanken wahrzunehmen und zu verändern. Das ist bisher schon gut geglückt, aber im Alltag vielleicht manchmal noch schwer umzusetzen. Genau deshalb macht man in der Verhaltenstherapie auch Übungen, in denen diese Dinge an einem Beispiel trainiert werden können. Auch 6
266
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
bei der Veränderung der Körperwahrnehmung gibt es solche Übungen, wie wir sie bereits in den letzten beiden Stunden kennen gelernt haben. Eine sehr wirksame Methode, die ich gerne jetzt mit Ihnen durchführen möchte, ist die Spiegelübung. Dabei betrachtet man sich im Spiegel und übt, die negativen Gedanken über den eigenen Körper zu unterbrechen und sie durch neutrale zu ersetzen. Das ist erstmal einfacher, als positive Aussagen zu treffen, und hilft, die automatischen negativen Gedanken zu ersetzen. Genau dies möchte ich mit Ihnen im ersten Durchgang versuchen. In einem zweiten Durchgang soll es dann darum gehen, neben der Unterbrechung der negativen Gedanken positive Aspekte des Körpers zu finden. Bei diesem zweiten Durchgang wird es zunächst so sein, dass eine zweite Person das Spiegelbild positiv beschreibt und danach noch einmal Sie selbst. Ziel ist es, dass Sie für Dinge sensibilisiert werden, die Sie bei ihrem automatisierten Blick in den Spiegel meist gar nicht wahrnehmen und übersehen.
Es wird dann ein Patient gebeten, sich vor den Spiegel zu stellen und sich von Kopf bis Fuß zu beschreiben. Der Teilnehmer sollte wahlweise enge, körperbetonende Kleidung oder Badekleidung tragen. Die Beschreibung wird vom Therapeuten geführt, wobei möglichst alle Körperteile genau besprochen werden. Ziel ist es, den Patienten dazu anzuleiten, alle Körperbereiche ausführlich zu beschreiben. Eine Auflistung aller zu beachtender Körperbereiche ist in . Tab. 12.1 mit exemplarischen Fragen dargestellt, für den Fall, dass der Patient allein nicht weiterkommt. Eine ausführliche Version zur geleiteten
12
Therapeut:
Frau S.: Therapeut: Frau S.: Therapeut: Frau S.:
Therapeut:
Spiegel- und Videoexposition findet sich in Vocks und Legenbauer (2005). Wichtig bei der Durchführung der Expositionsübung ist, den Patienten jedes Mal zu unterbrechen, wenn er negative Aussagen macht. Ziel ist es, durch die Unterbrechung negative automatische Gedanken über den Körper bewusst zu machen und durch neutrale oder positive Beschreibungen zu ersetzen. Durch das Ersetzen der negativen Aussagen mittels neutraler Aussagen tritt zudem eine Erregungsreduktion ein, da die Übung als weniger belastend erlebt wird. Bei dieser Übung kann folgender Dialog entstehen:
Ich möchte Sie bitten, sich von oben bis unten zu beschreiben. Dabei sollten Sie möglichst neutrale Aussagen benutzen. Jedes Mal, wenn Sie eine negative Aussage machen, werde ich Sie mit einem Räuspern unterbrechen, so dass Sie diese Aussage korrigieren können. Bitte beschreiben Sie zunächst Ihren Kopf. Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel blicken? Also, als Erstes fällt mir meine furchtbar große Nase auf. Hmhhmmm!! Das ist eine sehr negative Beschreibung. Versuchen Sie es noch mal. Ja … also … ich sehe eine gerade Nase, die nicht stupsnasig ist, wie ich das gerne hätte. Hmmhmmmhmm!! Das ist sehr schwierig. Mal sehen. Ich habe ein ovales Gesicht mit einer geraden, ja römischen Nase … die sehr schmal ist und am Ende spitz zuläuft, und der Knorpel steht etwas nach vorne über. Ja, sehr gut. Bitte machen Sie weiter …
Abschließend sollte unbedingt erfragt werden, wie der Patient die Spiegelübung empfunden hat, wie stark angespannt er zu Beginn war und wie die Anspannung am Ende ist. Wichtig ist, zu erfassen, ob es noch andere Gefühle beim Betrachten gab. Zur Vorbereitung der Spiegelübung kann auch . Arbeitsblatt 12.9 eingesetzt werden (Beispiel . Arbeits-
blatt 12.9B), welches das Körperbild des Patienten
erfragt. In einem zweiten Durchgang wird nun ein anderer Gruppenteilnehmer gebeten, das Spiegelbild des Patienten zu beschreiben. Interpretationen sind dabei erlaubt, und es ist gewünscht, möglichst positive Beschreibungen abzugeben. So kann beispielsweise
267 12.6 · Spiegel- und Videokonfrontationsübungen
12
. Tabelle 12.1. Fragen bei der Spiegelexposition
Körperbereich
Zu beschreibende Körperteile
Beispielfragen
Kopf
Kopfform
Wie würden Sie Ihre Kopfform beschreiben?
Ohren
Bitte beschreiben Sie Ihre Ohren.
Haare
Bitte beschreiben Sie Ihre Haare hinsichtlich Schnitt, Struktur, Fülle und Farbe!
Gesicht mit Stirn, Augen, Wangen, Nase, Mund, Kinn
Beschreiben Sie bitte als nächstes Ihr Gesicht Wie ist seine Form? Wie sehen die einzelnen Elemente Ihres Gesichtes wie Wange oder Nase aus?
Hals
Wie sieht Ihr Hals aus? Ist dieser eher lang oder kurz?
Schlüsselbein
Wie ist Ihr Schlüsselbein geformt?
Schulter
Sind die Schultern eher rund oder kantig?
Schultern
Arme
Rumpf
Wie lang ist Ihr Arm, wenn er am Körper ausgestreckt ist? Oberarme
Wie würden Sie die Form des Oberarmes beschreiben?
Unterarme
Sind die Adern an den Unterarmen sichtbar? Wie verlaufen sie?
Hände
Sind Ihre Finger eher lang oder eher kurz? Würden Sie sagen, Sie haben große Hände?
Brust
Bitte beschreiben Sie als Erstes Ihr Dekolleté und danach den Brustansatz.
Bauch
Beschreiben Sie Ihren Bauch!
Po
Schauen Sie sich von der Seite und von hinten an und beschreiben Sie Ihren Po. Wie ist seine Form?
Beine
Wie sind Ihre Beine insgesamt geformt? Oberschenkel
Wie würden Sie Ihre Oberschenkel beschreiben?
Knie
Bitte beschreiben Sie Ihre Knie
Unterschenkel
Wie würden Sie Ihre Wade beschreiben?
Füße
Bitte betrachten Sie Ihre Füße. Sind Ihre Füße eher oval oder länglich?
die Nase aus obigem Fallbeispiel als aristokratisch beschrieben werden. Diese Fremdbeschreibung soll dazu genutzt werden, die Aufmerksamkeit des Patienten auf positive Aspekte zu lenken, die er normalerweise nicht wahrnimmt. Ein weiterer Gruppenteilnehmer sollte gleichzeitig auf dem . Arbeits-
blatt 12.10 mitnotieren, was über den Beschriebenen
ausgesagt wurde, um eine möglichst detaillierte Beschreibung positiver Aspekte an die beschriebene Person weitergeben zu können. Ein Beispiel zeigt . Arbeitsblatt 12.10B.
268
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.9B. So sehe ich mich …
269 12.6 · Spiegel- und Videokonfrontationsübungen
. Arbeitsblatt 12.10B. So wurde ich gesehen
12
270
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
Eine mögliche Beschreibung eines Teilnehmers durch einen Mitpatienten kann so aussehen:
Therapeut: Frau X.:
Frau X., bitte beschreiben Sie einmal das Spiegelbild, das Sie sehen. Ich sehe eine große, sehr schlanke Frau mit dicken, lockigen blonden Haaren. Das Gesicht ist sehr ebenmäßig mit einer schönen, leichten Bräune. Es ist oval geformt mit einer geraden, schlanken langen Nase, die am Ende leicht gebogen ist und ganz schmal wird, was ihr ein aristokratisches Aussehen verleiht. Die Augen strahlen und funkeln. Sie hat lange, dichte Wimpern und einen vollen Mund. Die Schultern sind sehr gerade und wirken recht muskulös, als ob sie viel schwimmen würde. Der Brustansatz ist leicht gewölbt und die Brüste sind so mittelgroß. Der Bauch ist sehr flach, die Taille ist gut zu sehen. Die Hüfte ist ungefähr so breit wie die Schulter, halt so wie es eigentlich sein sollte. Die Beine sehen muskulös aus, sind schön geformt und lang.
Im Anschluss daran wird der Patient befragt, wie er die Expositionsübung für sich empfunden hat. Dabei können folgende Fragen gestellt werden:
4 4 4 4 4 4 4
Wie haben Sie diese Beschreibung empfunden? Konnten Sie die positiven Aspekte, die Frau X. beschrieben hat, nachvollziehen? Wenn ja, welche? Gab es etwas, was Ihnen an sich vorher noch nicht aufgefallen ist? Wie erging es Ihnen bei der Beschreibung Ihrer individuellen »Problemzonen«? Wie unangenehm war es Ihnen jetzt, vor dem Spiegel zu stehen? Wie angespannt waren Sie insgesamt? Was haben Sie gedacht?
12 Falls noch genug Zeit vorhanden ist, wird der Patient nun gebeten, die Expositionsübung zu wiederholen und dabei nur positive Aspekte seines Körpers zu beschreiben. Dies soll noch einmal vertiefend dazu
beitragen, dass die Betroffenen sich selbst lobend über sich zu äußern lernen und positive Aspekte ihres Körpers benennen können. Dieser Teil der Übung wird zudem als Hausaufgabe aufgegeben.
Wir haben heute noch einmal ein großes Stück Arbeit geleistet und uns mit positiven Seiten Ihres Körpers beschäftigt. Da nicht alle an die Reihe kommen konnten, möchte ich Sie bitten, diese Übungen zu Hause durchzuführen. Sie können sich dabei von einer Freundin beschreiben lassen oder von Ihrem Partner. Bitte versuchen Sie alle den letzten Übungsteil, nämlich die positive Selbstbeschreibung vor dem Spiegel, durchzuführen. Wie Sie alle wissen, ist es nicht so einfach, die Einstellung zum Körper zu verändern und daher ist es wichtig, die positiven Erfahrungen, die Sie jetzt gemacht haben, zu stabilisieren. Das geht am besten, wenn Sie die Übung häufig zu Hause durchführen.
Abschließend sollten die Teilnehmer auf dem . Arbeitsblatt 12.11 (»So sehe ich mich jetzt«) ihre eigenen Erfahrungen und möglicherweise neuen Perspektiven beschreiben, um das Erfahrene weiter zu verfestigen.
Im Rahmen der Behandlung des negativen Körperbildes empfiehlt sich des Weiteren der Einsatz von Interventionen zum Abbau des körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhaltens sowie zum Aufbau positiver körperbezogener Aktivitäten. Die-
271 12.8 · Arbeitsblätter
se und weitere Interventionsbausteine zur Körperbildtherapie sind bei Vocks & Legenbauer (2005) ausführlich dargestellt.
12.7
Zusammenfassung
4 Das Körperbild wird von verschiedenen Fakto-
ren beeinflusst wie der Perzeption des Körpers, den Gedanken und Einstellungen, die eine Person über ihren Körper hat, dem subjektiven Körpergefühl sowie dem Umgang mit dem eigenen Körper. Diese Faktoren sind miteinander verbunden und beeinflussen sich wechselseitig. Diese Faktoren und die Wechselwirkung werden in einem Vier-Komponenten-Modell der Körperbildstörung zusammengefasst. Die Körperbildstörung kann damit auf der perzeptiven, kognitiven, affektiven oder behavioralen Ebene auftreten. 4 Neben Spiegel- und Videokonfrontationsübungen gibt es affektiv-erlebnisorientierte Ansätze zur Behandlung der Körperbildstörung, welche den Bereichen Entspannungsübungen sowie Imaginationsverfahren und Körperwahrnehmungsübungen zuzuordnen sind. Diese dienen dazu, auf eine kognitive Umstrukturierung vorzubereiten, auf positive Aspekte des Körpers aufmerksam zu machen und eine Verbesserung des Körpergefühls zu erreichen. 4 Zur Identifikation von Einstellungen gegenüber dem Körper (kognitive Ebene) sowie dem subjektiven Körpergefühl als auch zum Aufzeigen des Zusammenhangs zwischen kognitiver und affektiver Ebene können als Einstieg in die Körperbildtherapie Imaginationsübungen wie eine Körperreise oder das »Gedankensammeln« durchgeführt werden. 4 Abtast- und Zeichnungsübungen, welche dem Bereich der Körperwahrnehmungsübungen zuzuordnen sind, bieten hinsichtlich der Wahrnehmung des eigenen Körpers einen guten Ansatz, korrektive Erfahrungen zu machen und körperbezogenes Vermeidungsverhalten abzubauen, indem die eigenen Körperdimensionen abgetastet werden. Zur Vertiefung bietet sich hier auch die Durchführung einer Partnerabtastübung an, um mögliche Vergleiche zwischen eigener Wahr-
12
nehmung und Fremdwahrnehmung herauszuarbeiten. 4 Abtast-/Modellierübungen stellen eine Erweiterung der Zeichnungsübung dar, da die Patienten gebeten werden, das, was sie beim Abtasten erspürt haben, in ein anderes Medium wie Ton oder Pappmaché zu übertragen. Durch die plastische Darstellung des Erfühlten liegt der Schwerpunkt hier vor allem auf der Wahrnehmung. Die Auseinandersetzung mit dem geformten TonModell (Fremdbild) soll zur Hinterfragung der Selbstwahrnehmung anregen und zu einer korrektiven Erfahrung führen. 4 Spiegel- und Videokonfrontationen sind weitere Techniken zur Korrektur des Körperbildes. Hierbei werden negative Aussagen während der Exposition korrigiert, um die automatisch-negativen Gedanken sowie die negativen Gefühle bei der Betrachtung des eigenen Körpers zu unterbrechen und zu verändern. In einem zweiten Schritt können zudem explizite positive Aussagen über den Körper bei der Konfrontation angestoßen werden und die Aufmerksamkeit auf positive Aspekte gelenkt werden. Bei dieser Art von Expositionsübungen stehen damit vor allem die kognitiven und affektiven Aspekte der Körperbildstörung im Vordergrund.
12.8
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 12.2. Gedanken sammeln . Arbeitsblatt 12.6. Partnerübung Abtatsen . Arbeitsblatt 12.9. So sehe ich mich . Arbeitsblatt 12.10. So wurde ich gesehen . Arbeitsblatt 12.11. So sehe ich mich jetzt
272
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.2
273 12.8 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 12.6
12
274
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.9
275 12.8 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 12.10
12
276
Kapitel 12 · Interventionen zur Veränderung des Körperbildes
12
. Arbeitsblatt 12.11
13 13
Förderung von Ressourcen
13.1
Einleitung – 278
13.2
Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls – 278
13.2.1 13.2.2
Vermittlung von Informationen zum Aufbau des Selbstwertgefühls Übungen zur Steigerung des Selbstwertgefühls – 281
13.3
Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
13.3.1 13.3.2
Überprüfung der Energiebilanz – 285 Abbau von Energiefressern – 291
13.4
Interventionen zur Steigerung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit – 294
13.4.1 13.4.2
Genusstraining – 296 Übungen zur Steigerung der Entspannungsfähigkeit
13.5
Zusammenfassung
13.6
Arbeitsblätter – 303
– 302
– 279
– 285
– 299
278
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
> Ziel
4 Steigerung des Selbstwertgefühls 4 Erhöhung der Genussfähigkeit und Schulung der Sinne 4 Training der Entspannungsfähigkeit 4 Aufbau positiver Aktivitäten, Erweiterung des möglichen Aktivitätenspielraums und Etablierung neuer Hobbys und Interessen : Vorgehen 4 Erläuterung von Basiswissen zum Selbstwertgefühl, Identifizieren möglicher selbstwertsteigernder Ressourcen, Entwicklung eines individuellen »Selbstwerthauses« 4 Aktivierung von Ressourcen durch Einführung eines Energiehaushaltskreises, Vergleich von Einnahmen und Ausgaben 4 Übung »Idealtag« zur Identifikation von Schwierigkeiten in der ressourcenfördernden Alltagsgestaltung 4 Erarbeitung individueller positiver Aktivitäten 4 Übung zur Steigerung der Genussfähigkeit (z. B. anhand des »Sinnesspaziergangs«) 4 Integration von Entspannungsphasen in den Alltag
13.1
13
Einleitung
Forschungsarbeiten belegen, dass Patienten mit Essstörungen ein geringeres Selbstwertgefühl haben (Jacobi 2000, Jacobi et al. 2003) als gesunde Kontrollpersonen. Häufig wird von den Patienten versucht, dieses über ein perfektes Aussehen dem Schönheitsideal entsprechend zu kompensieren. Im Rahmen der Erarbeitung eines Störungsmodells wurden diese Aspekte bereits mit den Patienten herausgearbeitet (7 Abschn. 7.2). In einem nächsten Therapieschritt sollen nun alternative Bereiche zur Steigerung des Selbstwertgefühls identifiziert und etabliert werden. In diesem Zusammenhang ist es v. a. erstrebenswert, die Selbstakzeptanz von den Bereichen Erfolg und soziale Anerkennung zu entkoppeln. In den vorangegangenen Kapiteln wurde der Fokus meist auf die Defizite der Patienten gelegt, d. h. es wurde z. B. analysiert, warum in spezifischen Situationen negative Gefühle entstehen und welche Kompetenzen den Patienten fehlen, um diese zu be-
wältigen. Dieser defizitorientierte Arbeitsansatz sollte Ergänzung durch die Identifikation von Ressourcen erfahren (vgl. z. B. Willutzki et al. 2005). Unter dem Begriff »Ressourcen« kann zum einen alles, was von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation wertgeschätzt oder als hilfreich erlebt wird (Nestmann 1996), verstanden werden. Zum anderen können diese auch die von Grawe (1995) definierten Ressourcen zwischenmenschlicher Beziehungen und Stärkung des Selbstwertgefühls umfassen. Zudem kann zwischen subjektiven und objektiven Ressourcen differenziert werden, wobei die subjektiv wahrgenommenen Ressourcen für die Bewältigung von Aufgaben und Wohlbefinden ausschlaggebend zu sein scheinen (Willutzki et al. 2005). Neben den bereits genannten interpersonellen und intrapersonellen Ressourcen werden zudem externe Ressourcen wie soziale Netzwerke, Einkommen u. Ä. beschrieben (Willutzki et al. 2005). Aus diesen unterschiedlichen Definitionen ergeben sich als therapeutische Interventionen sowohl der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls als auch die Identifikation positiver Aktivitäten, die Förderung eines genussvollen Erlebens dieser Tätigkeiten und das Erlernen von Entspannungsverfahren zur Förderung des Wohlbefindens (vgl. auch Lutz 1999). Ziel dieses Therapiebausteins ist es daher, ressourcendienliche Strategien für den Patienten zu identifizieren und zu etablieren. In diesem Kapitel werden zunächst Informationen über die verschiedenen Komponenten des Selbstwertgefühls vermittelt (7 Abschn. 13.2) und darauf aufbauend mögliche Ressourcen identifiziert (7 Abschn. 13.3). Im Anschluss daran wird auf die Umsetzung der besprochenen Strategien im Alltag fokussiert und der Einbau der Aktivitäten in den Wochenplan überprüft (7 Abschn. 13.4).
13.2
Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls
Das Selbstwertgefühl ist ein komplexes Konstrukt, welches sich aus verschiedenen Quellen speist (Potreck-Rose u. Jacob 2004). Nach Schütz (2000) ist als die wichtigste Quelle die Bedeutung eigener Erfolge und individueller Fähigkeiten zu nennen. In diesen Bereich fallen beispielsweise beruflicher Erfolg oder
279 13.2 · Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls
Musikalität, eine schnelle Auffassungsgabe und Ähnliches. An zweiter Stelle steht die Erfahrung von Zufriedenheit und Geborgenheit in sozialen Beziehungen wie das Führen einer guten Partnerschaft oder das Vorhandensein verlässlicher Freundschaften. Eine weitere Quelle sind Fähigkeiten in sozialen Kontakten, wie Offenheit für unterschiedliche Menschen und Ansichten oder die Erfahrung, bei anderen Menschen auf positive Resonanz zu stoßen. Neben diesen eher fertigkeitsbezogenen und interpersonellen Bereichen ist eine weitere Quelle des Selbstwertgefühls das Ausmaß an Selbstakzeptanz unabhängig von Leistung, Fähigkeiten oder sozialen Erfolgen. Dies beinhaltet beispielsweise die Achtung vor der eigenen Person. Als letzte Quelle für das Selbstwertgefühl sind Machtgefühle gegenüber anderen Menschen zu nennen. Diese Quelle steht in engem Zusammenhang mit Arroganz und Überheblichkeit und kann bei zu hoher Relevanz für die jeweilige Person zu interpersonellen Problemen führen (Potreck-Rose u. Jacob 2004). Die vier Säulen des Selbstwertgefühls nach Potreck-Rose und Jacob (2004) beinhalten: 4 4 4 4
Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen, soziale Kompetenz und ein soziales Netz und beziehen sich auf interpersonelle und intrapersonale Dimensionen. Anhand dieser Aufzählung sowie den im Theorieteil beschriebenen Charakteristiken von Patienten mit Essstörungen wird deutlich, dass einige der selbstwertnährenden Quellen wie Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen bei diesen Patienten gar nicht oder nur zum Teil vorhanden sind. In dieser Therapieeinheit sollte daher einleitend mit den Patienten besprochen werden, welche verschiedenen »Säulen« das Selbstwertgefühl hat, um ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, neue selbstwertsteigernde Ressourcen zu identifizieren.
13
Nach der Vermittlung von Basiswissen bezüglich des Konstruktes »Selbstwertgefühl« sollen die Patienten ein individuelles Konzept des eigenen Selbstwertgefühls erarbeiten, um im Anschluss daran geeignete Strategien zur Erhöhung ihres Selbstwertgefühls zu finden.
Übungen: 4 Selbstwerthaus 4 Feedbackübung
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Karteikarten, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Selbstwerthaus (. Arbeitsblatt 13.1/13.1B) 4 Meine Stärken (. Arbeitsblatt 13.2/13.2B) 4 Protokollbogen für positive Ereignisse (. Arbeitsblatt 13.3/13.3B)
13.2.1
Vermittlung von Informationen zum Aufbau des Selbstwertgefühls
Zunächst wird ein individuelles Modell des Selbstwertgefühls mit den Patienten erarbeitet, das darstellt, woraus sich das Selbstwertgefühl der jeweiligen Person zusammensetzt bzw. worauf es basiert. Dafür sollte zunächst am Flipchart gesammelt werden, welche Strategien (z. B. »mit netten Leuten etwas unternehmen« oder »sich Mut zusprechen«, »sich selbst loben«) oder Einstellungen (z. B. »Jeder darf Fehler machen«, »Ich bin ein liebenswerter Mensch«) dazu führen können, ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Nach dieser Sammlung sollte mit Hilfe des Therapeuten eine Unterteilung der genannten Aspekte in die verschiedenen Bereiche in Anlehnung an das oben beschriebene »Vier-Säulen-Modell« nach Potreck-Rose und Jacob (2004) erfolgen. Dazu kann folgende Erklärung gegeben werden:
Wir haben hier nun einige Begrifflichkeiten für Aktivitäten und Einstellungen gesammelt, welche mit einem positiven Selbstwertgefühl zusammenhängen. Wenn wir die verschiedenen Aspekte, aus denen sich das Selbstwertgefühl zusammensetzt, nun in verschiedene Kategorien einordnen, so ergeben sich die Be6
280
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
reiche »in einem selbst liegende Bewertungen und Einstellungen« und »zwischenmenschliche Erlebnisse«. Diese zwei Bereiche lassen sich noch einmal untergliedern, so dass wir davon ausgehen können, dass das Selbstwertgefühl auf vier Säulen steht. Dabei sind dem Bereich der in einem selbst liegenden Bewertungen vor allem eine positive Einstellung zu uns selbst – also so etwas wie »Selbstakzeptanz« – als erste Säule und »Selbstvertrauen« als zweite Säule zuzuordnen. Zur sog. Selbstakzeptanz zählt dabei, sich zu mögen, wie man ist, mit sich eins zu sein oder auch seine Schwächen zu akzeptieren. Das Selbstvertrauen hingegen ist eher der Glaube an die eigenen Fähigkeiten, also das Gefühl, Erfolge haben zu können. Der zweite Bereich, welcher die Säulen drei und vier beinhaltet, bezieht sich auf den Umgang mit anderen Menschen. Die dritte Säule beinhaltet dabei Aspekte wie positive Rückmeldungen und das Gefühl der Beliebtheit und die Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen herstellen zu können sowie die Bewältigung sozialer Anforderungssituationen entsprechend eigener Ziele. Diese Säule wird daher »soziale Kompetenz« genannt. Neben der sozialen Kompetenz ist aber auch die bestehende Einbindung in ein sog. »soziales Netz« von Bedeutung. Der Fokus dieser vierten Säule liegt vor allem auf der Qualität der Beziehungen wie dem Erleben einer zufriedenstellenden Partnerschaft oder dem Vorhandensein von verlässlichen Freunden.
13
Im Einzelsetting ist die Übung analog durchzuführen. Der Therapeut hat hierbei aber eine stärker direktive Funktion, um die verschiedenen Aspekte mit dem Patienten zusammenzutragen. Die Patienten erhalten ergänzend das . Arbeitsblatt 13.1B »Das Selbstwerthaus«, in welchem die Definition der vier Säulen beschrieben ist und darüber hinaus zwei Abbildungen mit zwei »Beispielhäusen« abgedruckt sind. Dieses »Selbstwerthaus« basiert auf dem vorangegangen Vier-SäulenModell des Selbstwertgefühls und soll den Patienten dabei helfen, bei sich existierende Bereiche, aus denen sie ihr Selbstvertrauen schöpfen (sog. »Selbstwertsäulen«) zu identifizieren und darauf aufbauend Ideen für mögliche weitere Quellen zur Selbst-
wertsteigerung zu entwickeln. Zudem dient das »Selbstwerthaus« dazu, zu demonstrieren, welche Folgen aus einer einseitigen Fixierung auf einen bestimmten Bereich des Selbstwerts (eine »Säule«) wie z. B. die Bestätigung von anderen oder Erfolge im Berufsleben entstehen: Wenn diese eine Säule »wegbricht«, hat das gravierende Konsequenzen für die Stabilität des »Selbstwerthauses«. Im nächsten Schritt wird mit jedem Patienten das individuelle »Selbstwerthaus« erarbeitet. Dazu werden die Patienten gebeten, in das vorgegebene . Arbeitsblatt 13.1 (7 CD-ROM) die bei ihnen relevanten Säulen des Selbstwertgefühls zu benennen. Dazu kann folgende Anweisung gegeben werden:
Wir haben nun in den letzten Stunden intensiv daran gearbeitet, Missverständnisse besser zu klären und in Konfliktsituationen sozial kompetent die eigene Meinung klarer zu vertreten. Wir sind dabei immer wieder auf den Punkt gekommen, dass das eigene Auftreten in solchen Situationen oft daran gekoppelt ist, wie selbstbewusst wir sind. Die meisten von Ihnen haben dabei über sich gesagt, dass sie ein niedriges Selbstwertgefühl haben und dies gerne stärken würden. Daher möchte ich heute mit Ihnen herausfinden, woraus sich Ihr Selbstwertgefühl zusammensetzt. Hierzu haben wir eben ein allgemeines Modell zum Selbstwertgefühl kennen gelernt, das »Selbstwerthaus« mit den vier tragenden Säulen. Nun möchte ich Sie bitten, für sich ein individuelles Selbstwerthaus zu zeichnen. Dazu bekommen Sie nun ein Arbeitsblatt, auf dem ein Haus abgedruckt ist. Dieses sog. Selbstwerthaus steht für Ihr Selbstwertgefühl. Ich möchte Sie jetzt bitten, zu überlegen, auf welchen Säulen dieses Haus steht. Auf dem Informationsblatt haben Sie bereits ein Beispiel für ein »stabiles« und ein »wackliges« Haus gesehen. Bitte überlegen Sie nun jeder einzeln für sich, worauf sich Ihr Selbstwerthaus gründet.
281 13.2 · Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls
Haben die Patienten das Haus gezeichnet, sollte anhand der Darstellung überlegt werden, welche Bereiche des Selbstwerts durch die eingezeichneten Säulen repräsentiert werden und inwiefern das dargestellte Haus stabil ist. Der Therapeut kann dabei von einem stabilen »Fundament« sprechen oder beispielsweise erfragen, inwiefern die verschiedenen Bereiche abhängig von einander sind. Dadurch sollte bei den Patienten Verständnis dafür geweckt werden, welche Schwierigkeiten entstehen können, wenn die Grundlage für ihr Selbstwertgefühl nur auf
13
einer Säule (z. B. berufliche Leistung) basiert. Auch sollen die Patienten dazu angeregt werden zu reflektieren, welche Folgen es hat, wenn die tragende Säule des Selbstwertgefühls aus der Anerkennung durch andere Personen besteht. Anhand der einzelnen Häuser eines jeden Patienten sollte im Anschluss an die Analyse der verschiedenen Säulen abgeleitet werden, welche weiteren Bereiche hinzukommen können, um das Selbstwertgefühl zu verbessern. Dazu sind folgende Fragen möglich:
4 4 4 4
Auf wie vielen Säulen basiert Ihr Selbstwerthaus? Welchen Bereichen des Selbstwertgefühls können Sie die verschiedenen Säulen zuordnen? Wie stabil steht Ihr Haus, wenn Sie es so betrachten? Sind es Säulen, die leicht wegbrechen können, z. B. weil sie instabil sind oder von den Bewertungen anderer Menschen abhängen? 4 Was müssten Sie verändern, damit Ihr Haus stabiler steht? 4 Gibt es noch weitere Bereiche, die Ihnen einfallen, die möglicherweise weitere tragende Säulen für Ihr Selbstwertgefühl sein können? Wenn ja, welche stehen Ihnen davon zur Verfügung? Könnten diese in Ihr Selbstwerthaus integriert werden?
Im Anschluss an die Identifikation der individuellen Selbstwertsäulen können in einem weiteren Behandlungsschritt Übungen entsprechend der jeweils identifizierten Bereiche wie etwa dem Aufbau von Selbstakzeptanz oder der Erweiterung des sozialen Netzes ausgewählt werden. Eine ausführliche Beschreibung für Interventionen zum Aufbau des Selbstwertgefühls für jede der Säulen findet sich bei Potreck-Rose und Jacob (2004). In diesem Therapiemanual sollen an dieser Stelle schwerpunktmäßig die Säulen Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen fokussiert werden. Auf Interventionen zur Stabilisierung der dritten Säule, wurde bereits im Rahmen der Interventionen zur Steigerung sozialer Fertigkeiten in 7 Kap. 11 eingegangen. Auch die Stärkung der vierten Säule wie der Aufbau bzw. die Erweiterung des sozialen Netzwerks wurde teilweise durch Interventionen zur Verbesserung sozialer Kompetenzen 7 Kap. 11 angesprochen, soll aber im Weiteren hier durch den Aufbau positiver Aktivitäten und Interessen erweitert werden.
13.2.2
Übungen zur Steigerung des Selbstwertgefühls
Um die Selbstakzeptanz zu stärken, sollen für jeden Patienten mögliche Ressourcen im Sinne von Stärken, Fähigkeiten, Talenten u. Ä. identifiziert und die Fähigkeit zum »Eigenlob« und der Selbstverstärkung trainiert werden. Im Gruppensetting können dazu durch eine Feedbackrunde positive Eigenschaften der Patienten herausgearbeitet werden. Diese sollten unabhängig von Figur und Gewicht sein, um nicht die Kopplung von Selbstwert und Figur/Gewicht weiter zu verstärken, sondern gewichtsunabhängige Stärken und positive Eigenschaften aufzuzeigen. Ein weiteres Ziel dieser Feedbackübung ist es, die Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung herauszuarbeiten. Die Patienten sollen hierdurch angeleitet werden, sich selbst mit all ihren Stärken einmal aus einer Außenperspektive zu betrachten und hierdurch auf ihre Talente und Fähigkeiten aufmerksam gemacht werden. Dies geschieht durch eine gegenseitige Rückmeldung der Teilnehmer über die wahrgenommenen positiven Eigenschaften jeder einzelner Person.
282
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
Ein drittes Ziel dieser Übung liegt in der Stärkung der sozialen Kompetenz durch die Steigerung der Kontaktfähigkeit im Sinne des offenen und ehrlichen Umgangs in zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Aushalten von Lob. Bei ausreichender Zeit sollte die Feedbackübung in der Gruppe auf zwei Arten durchgeführt werden. Bei der Durchführung von Variante A sollen die Patienten sich ein Symbol überlegen, das eine Charakteristik oder Eigenschaft von einem bestimmten Patienten darstellt und dieses Symbol zeichnen. Bei Variante B werden schriftliche Rückmeldungen gegeben (7 un-
ten). Das Zeichnen eines Symbols fällt den meisten
Patienten leichter als eine verbale Rückmeldung zu geben. Zudem steigert es die Intensität der Interaktion in der Gruppe, da das Symbol erklärt werden muss. Im Nachhinein wird dann in der Gruppe besprochen, warum gerade dieses Symbol gewählt wurde und welche Eigenschaft es darstellt.Variante A ist daher durch die Möglichkeit der Beschreibung deutlich vielfältiger und stellt weniger Ansprüche an die sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Patienten als Variante B. Folgender Text ist die Instruktion zur Übung:
Wir möchten mit Ihnen nun eine Feedbackübung machen. Dabei geht es darum, dass Sie den anderen Teilnehmern eine Rückmeldung darüber geben, was Sie an ihnen als besonders positiv wahrnehmen. Das kann eine bestimmte Eigenschaft, eine Verhaltensweise oder eine Fähigkeit sein. Sie sollten versuchen, das, was Sie rückmelden wollen, symbolisch und in Form eines gemalten Bildes darzustellen. Ziel ist, dass jeder von Ihnen etwas darüber erfährt, wie andere Sie wahrnehmen, unabhängig von Figur und Gewicht. Bitte überlegen Sie sich dann, ob das, was die anderen über Sie gesagt bzw. symbolisch dargestellt haben, auch mit dem Bild übereinstimmt, das Sie von sich selbst haben. Wo gibt es Übereinstimmungen, wo Unterschiede? Bitte nehmen Sie sich nun jeder einen Stift und Papier und überlegen Sie jeweils für Ihren rechten Nachbarn (je nach Zeit und Gruppengröße auch für weitere Personen), was Sie ihm gerne in Form eines Symbols zurückmelden möchten. Danach besprechen wir die Zeichnungen für jeden Teilnehmer.
13
Im Anschluss an die Übung sollte mit den Patienten besprochen werden, wie sie sich mit der positiven Rückmeldung seitens der anderen Gruppenmitglieder fühlen und welche dieser positiven Eigenschaften sie für sich ohne Schwierigkeiten annehmen können. In einer weitere Übung (Variante B) werden dann die individuellen schriftlichen Rückmeldungen gemacht und das »Selbstloben« geübt. Dazu notieren die Patienten auf einem nur mit dem Namen eines Teilnehmers versehenen Blatt, was Ihnen
an dieser Person besonders gefällt. Das Blatt wird jeweils nach dem Notieren einer Eigenschaft durch einen Gruppenteilnehmer so umgeknickt, dass das von ihm Geschriebene nicht gelesen werden kann und nur der Name der zu beschreibenden Person am unteren Rand des Blattes sichtbar ist. Das Blatt wird so verdeckt weitergegeben, dass am Ende für jeden Teilnehmer eine Liste mit mehreren positiven Aussagen zu ihm entstanden ist. Im Folgenden ist die Instruktion für Variante B aufgeführt:
Wir möchten mit Ihnen heute eine Übung machen, in der jeder von Ihnen positive Eigenschaften von den anderen Gruppenteilnehmern zurückgemeldet bekommt. Wir haben für jeden von Ihnen Blätter mit Ihrem Namen vorbereitet, die wir nun in der Runde herumgeben und auf die Sie eine positive Eigenschaft für den jeweiligen Gruppenteilnehmer aufschreiben. Dann knicken Sie das Geschriebene um, so dass nur der Name unten und nicht das von Ihnen Geschriebene sichtbar bleibt, und reichen den Zettel weiter an Ihren Nachbarn zur Linken, der wiederum eine positive Eigenschaft der betreffenden Person notiert. Auf diese Weise erhält jeder von Ihnen eine Liste mit positiver Eigenschaften. Das Ziel dieser Übung liegt darin, dass jeder von Ihnen einige positive Dinge über sich erfährt und diese »mitnehmen« kann. Diese Übung ist eine 6
283 13.2 · Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls
. Arbeitsblatt 13.2B. Meine Stärken
13
284
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
Vorbereitung und mögliche Hilfe, an sich selbst eigene Stärken zu entdecken, da Ihnen durch diese Übung Anregungen bezüglich möglicher Stärken vermittelt werden können. Auf dieser Basis können Sie überprüfen, ob die Fremdwahrnehmung, d. h. die Beschreibung Ihrer positiven Eigenschaften durch die anderen Gruppenteilnehmer, mit Ihrer Selbstwahrnehmung, d. h. dem Bild, was Sie von sich selbst haben, übereinstimmt.
Die einzelnen Punkte zu seiner Person werden von jedem Patienten im Anschluss an die Runde laut vorgelesen. Dabei sollte er selbst jede Eigenschaft bzw. Aussage mit dem Satz »Ich bin liebenswert, weil …« beginnen. In folgendem Beispiel ist dargestellt, wie ein Patient die Aussagen von seinem Feedbackbogen vorliest: Fallbeispiel Ich bin liebenswert, weil 4 ich so ein ansteckendes Lachen habe 4 ich gut zuhören kann 4 ich weiß, was ich will 4 ich allem Traurigen auch etwas Positives abgewinnen kann 4 ich eine so beruhigende Stimme und Ausstrahlung habe 4 ich vertrauenserweckend bin 4 ich offen und ehrlich bin 4 man mit mir Pferde stehlen kann
13
Diese beiden Übungen sind nur im Gruppensetting durchführbar. Im Einzelsetting kann jedoch eine modifizierte Form der Feedbackübung eingesetzt werden: so kann sich der Patient von anderen, ihm nahe stehenden Menschen Feedback einholen, indem er diese befragt, was sie an ihm mögen. Auf dieser Basis sollte im Einzelsetting mit dem Patienten der Schwerpunkt dieses Interventionsbausteins auf . Arbeitsblatt 13.2 »Meine Stärken« gelegt werden (siehe auch weiter unten). Im Gruppensetting sollten im Anschluss an die beiden Feedbackübungen zur Förderung der Integration der unterschiedlichen genannten positiven Aspekte in das Selbstbild des Patienten . Arbeitsblatt 13.2 »Meine Stärken« eingesetzt werden. Dies eignet sich sowohl für das Einzel- als auch das Grup-
pensetting. Es kann zudem gut als Hausaufgabe zum Abschluss der Feedbackübung verwendet werden (Beispiel . Arbeitsblatt 13.2B). Im Gruppensetting kann das Ausfüllen von . Arbeitsblatt 13.2 basierend auf den bereits erfolgten Rückmeldungen von den Patienten eigenständig vorgenommen werden, während es im Einzelsetting oft einer stärkeren Strukturierung durch den Therapeuten bedarf. Daher sollte der Patient im Einzelsetting nach Verhaltensweisen, Eigenschaften und Talenten befragt werden, die er an sich mögen könnte. Falls ihm hierbei nur wenige positive Aspekte einfallen, sollte zusätzlich danach gefragt werden, welche Eigenschaft wohl andere Menschen an ihm mögen könnten, bzw. falls die Feedbackübung gemacht wurde, kann auf tatsächliche Rückmeldungen anderer Menschen eingegangen werden. Falls auch bei dieser Intervention keine Stärken identifiziert werden können, sollte als Letztes nach positiven Eigenschaften von Freunden und Bekannten gesucht werden, die daraufhin überprüft werden, ob der Patient möglicherweise einige dieser Eigenschaften selbst besitzt. Die auf diese Weise identifizierten Eigenschaften werden dann in . Arbeitsblatt 13.2 eingetragen. Als zusätzliche Übung kann den Patienten sowohl in der Gruppe als auch im Einzelgespräch als weitere Hausaufgabe aufgegeben werden, über die Woche zu protokollieren, was sie an einem Tag Positives erlebt haben bzw. was ihnen gut gelungen ist (. Arbeitsblatt 13.3, Beispiel . Arbeitsblatt 13.3B). Damit wird der Blick für Positives weiter gestärkt und die Basis für den Aufbau von Vertrauen in eigene Fähigkeiten geschaffen. Um den Patienten den Sinn dieser Übung zu verdeutlichen, kann folgende Erklärung gegeben werden:
285 13.3 · Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
13
Ich möchte Sie nun bitten, über die Woche bis zur nächsten Sitzung jeden Abend aufzuschreiben, was Ihnen an diesem Tag Positives widerfahren ist bzw. was Sie alles erfolgreich und gut bewältigt haben. Oft ist es ja so, dass man nur das Negative sieht – wie wir das bereits bei den Denkfehlern besprochen haben. Der Blick für die negativen Dinge, die einem im Alltag passieren, ist oft deutlich schärfer als für die positiven Erlebnisse. Diese verzerrte Wahrnehmung führt dazu, dass eine Person ständig das Gefühl hat, nichts zu können oder von anderen Menschen nicht gemocht zu werden. Deshalb ist es wichtig, den Blick immer wieder auf die positiven Erlebnisse zu lenken und diese im Zuge der überhöhten Selbstkritik nicht weiter auszusparen. Wenn es Ihnen gelingt, positive Erlebnisse wie Erfolge, erledigte Arbeiten, Komplimente und vieles mehr stärker wahrzunehmen, anzunehmen und sich selbst zuzuschreiben, kann das langfristig dazu beitragen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken. Hierbei geht es nicht darum, sich etwas »in die Tasche« zu lügen und sich selbst durch die »rosarote Brille« zu betrachten. Vielmehr möchten wir hiermit erreichen, dass Sie ein realistisches und ausgewogenes Bild von sich und Ihren Stärken und Fähigkeiten bekommen, anstatt nur einseitig auf das vermeintlich Negative zu schauen.
Nach diesem Baustein ist es sinnvoll, mit dem Aufbau von weiteren Ressourcen fortzufahren wie etwa dem Einbau entspannender Tätigkeiten.
13.3
Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
Um die Säulen des Selbstwertgefühls zu stabilisieren bzw. neue aufzubauen, müssen zunächst mögliche Störquellen in der Gewinnung der Ressourcen identifiziert werden, bevor auf die Überprüfung der vorhandenen und den Aufbau neuer Ressourcen eingegangen werden kann. Im Folgenden werden zwei Interventionsmethoden zur Identifikation von Ressourcen vorgestellt.
Übungen: 4 Idealtag 4 Energiehaushalt
Arbeitsmaterial: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Idealtag (. Arbeitsblatt 13.4/13.4B) 4 Energiehaushalt (. Arbeitsblatt 13.5/13.5B) 4 Meine persönlichen Energiefresser (. Arbeitsblatt 13.6) 4 Was brauche ich, um zufrieden zu sein? (. Arbeitsblatt 13.7) 6
4 Was ich mir alles Gutes tun kann (. Arbeitsblatt 13.8/13.8B) 4 Meine Wohlfühlwoche (. Arbeitsblatt 13.9/ 13.9B)
13.3.1
Überprüfung der Energiebilanz
Als Ursachen einer Imbalance des Energiehaushaltes gelten beispielsweise eine zu starke Arbeitsbelastung oder zu straffe Zeitplanung im Alltag, die häufig aus überhöhten Ansprüchen und perfektionistischem Leistungsdenken resultiert. Zusätzlich kann es durch ineffiziente Organisation des Arbeitsalltags wie auch möglicherweise Vermeidungsverhalten in Form von Aufschieben wichtiger Aufgaben oder auch ständigen Störungen im Büro zu einer erhöhten Belastung und damit Verschwendung von Energiereserven kommen. Um die Schwierigkeiten bei der Ausbalancierung von Energie und mögliche Energiefresser herauszuarbeiten, wird zunächst die Übung »Idealtag« durchgeführt. Diese hat zum Ziel, die oben beschriebenen »Energiefresser« wie möglicherweise versteckte perfektionistische Leistungsansprüche und Überforderungstendenzen zu identifizieren. Im Anschluss daran untersuchen die Patienten im Rahmen der Übung »Energiehaushalt« ihre »Energieeinnahmen und -ausgaben« im Alltag. Abschließend werden sie auf mögliche bisher nicht identifizierte
286
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
13
. Arbeitsblatt 13.3B. Protokollbogen für positive Ereignisse
287 13.3 · Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
»Energiefresser« aufmerksam gemacht und neue Energiespender etabliert. Bei der Übung »Beschreibung eines Idealtages« werden die Patienten gebeten, einen imaginären Tag zu beschreiben, den sie sich als ideal vorstellen würden (. Arbeitsblatt 13.4 und 13.4B). Was unter »Ideal« zu verstehen ist, ist in diesem Zusammenhang von den Patienten individuell zu definieren. Im folgenden Fallbeispiel ist ein solcher Idealtag beschrieben, an welchem die bei vielen Leuten bestehenden Energieimbalancen mit zu hohen Ausgaben und zu wenig Einnahmen verdeutlicht werden. Fallbeispiel Herr Z. beschreibt seinen Idealtag wie folgt: »Ich stehe morgens um 7 Uhr auf und bin frisch und ausgeruht. Ich esse ein gesundes Frühstück mit Müsli und Bananen und lese dabei gemütlich die Zeitung. Danach gehe ich zur Arbeit, und mir gelingt es, die für diesen Tag anstehenden Arbeiten effektiv und schnell zu erledigen. Die Besprechungen verlaufen alle sehr konstruktiv, und es gibt kein unsinniges Gerede über nicht zu verändernde Tatsachen und kein Profilierungsgehabe der verschiedenen Leute. Es ist sonnig draußen und ich gehe daher in der Mittagspause in den Park und esse einen Salat aus dem Café gegenüber. Ich genieße die Sonne auf der Nase und im Gesicht und fühle mich wohl. Entspannt gehe ich zurück ins Büro und arbeite den Rest des Nachmittags ungestört an den bisher liegen gebliebe6 Therapeut: Herr Z.:
Therapeut: Herr Z.:
Therapeut:
6
13
nen Sachen. Pünktlich um 17 Uhr gehe ich nach Hause. Dort angekommen, sortiere ich die Post, esse eine Kleinigkeit und gehe dann eineinhalb Stunden joggen. Das Training ist ganz leicht und spendet mir Energie. Danach komme ich zurück, lege mich in die Wanne und lese entspannt eine Computerfachzeitschrift. Danach koche ich mir etwas und arbeite dann noch eine Weile am Schreibtisch an meiner Steuer. Gegen 22 Uhr gehe ich entspannt und zufrieden schlafen, ob des effektiv genutzten Tages.«
Wie in diesem Fallbeispiel beschrieben, kommen bei dieser Übung häufig weiter bestehende überhöhte Leistungsansprüche und ein schlechtes Zeitmanagement sowie Mangel an positiven, entspannenden Aktivitäten zum Vorschein. Die Aufgabe des Therapeuten ist es daher, die Gruppe anzuleiten und die Diskussion so zu moderieren, dass die einzelnen Teilnehmer ihre jeweiligen Muster erkennen. Für Herrn Z. wäre es also wichtig, zu verstehen, dass sein erhöhtes Anspannungsniveau zum einen mit seiner Einstellung, alles effektiv und perfekt machen zu müssen, nichts liegen lassen zu dürfen und sich ständig weiterzuentwickeln und fortzubilden zusammenhängt, zum anderen dass der Tag von diesem Leistungsanspruch so dominiert wird, dass genussvolle Aktivitäten wie auch soziale Kontakte in diesem leistungsfixierten Idealtag keinen Platz haben. Die Besprechung des Idealtags von Herrn Z. könnte daher wie folgt aussehen:
Herr Z. wenn Sie die Beschreibung Ihres Idealtags so vorlesen, fällt Ihnen etwas daran auf? Nun ja, alle Probleme, die ich habe, tauschen darin nicht auf. Das heißt, es gibt keine Schwierigkeiten mit dem Essen, ich esse dreimal am Tag, arbeite nicht zu lange und kann abends gut schlafen. Der Sport tut gut statt auszulaugen. Ja, das ist richtig . Tun Sie in diesem Idealtag denn selbst etwas dazu, dass alles so effektiv und strukturiert abläuft? Na ja, nein. Die anderen lassen mich vor allem in Ruhe, weshalb ich gut arbeiten kann und nicht ständig aufgehalten werde und mich ärgere, weil ich gestört werde. Und die Vorstellung, dass die Besprechungen in der Firma konstruktiv und nicht nervig sind, ist ja schon auch ideal. Ja, das sind also ein paar Dinge, die dazu beitragen, dass Sie oft angespannt sind und es mit dem Essen und Schlafen nicht so gut klappt und die Sie selbst nicht direkt verändern können, sondern die von anderen Menschen abhängen.
288
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
Herr Z.:
Therapeut:
Herr Z.: Therapeut: Herr Z.: Therapeut: Herr Z.: Therapeut: Herr Z.:
13
Ja, das haben wir ja schon besprochen, dass ich öfter Nein sagen soll und mich nicht darüber ärgern sollte, dass andere mich stören, sondern statt dessen die Tür zumache und das Bitte-nicht-stören-Schild hinhänge. Ja, ganz richtig. Wir haben auch besprochen, dass es, um die Anspannung insgesamt zu senken und das Selbstwertgefühl zu stabilisieren bzw. aufzubauen, ganz sinnvoll ist, sich auch mit anderen Menschen zu treffen und schöne Dinge zu tun. Gibt es etwas in dieser Richtung in ihrem Idealtag? Nein, ich lese Fachzeitschriften in der Badewanne, kann also gar nicht richtig abschalten und arbeite abends anstatt etwas mit Freunden zu unternehmen. Was glauben Sie, warum Sie ihren Idealtag so gestaltet haben? Weil Arbeit einfach für mich das Wichtigste ist. Das war ja auch beim Selbstwerthaus sehr deutlich. Genau. Da war das sehr deutlich. War Ihr Selbstwerthaus denn stabil? Nein, genau ja aus diesem Grunde nicht. Was würde das denn bedeuten, wenn Sie den Idealtag jetzt verändern müssten? Ich müsste zum Beispiel abends in den Chor gehen und mit den Leuten noch etwas trinken, oder ich sollte statt dem »es kommen keine Störungen vor« reinschreiben, dass ich mit den Kollegen konstruktive Lösungen gefunden habe oder Geduld entwickelt habe, mich nicht über die Besprechung zu ärgern, sondern die Zeit zum Zurücklehnen zu nutzen.
Das Beispiel macht deutlich, welche Schwierigkeiten bei diesem Patienten in der Gestaltung des Alltags bestehen. Er hat wenige Ideen, den Alltag positiv und genussvoll zu gestalten und selbstwertstabilisierende Maßnahmen in den Alltag einzubauen. Um die Konsequenz dieser Problematik weiter zu verdeutlichen und im Anschluss verändernde Maßnahmen ableiten zu können, wird in der folgenden Übung der individuelle »Energiehaushalt« der Patienten überprüft. Der Energiehaushalt besteht aus zwei Bereichen – nämlich »Energiespendern« und »Energiefressern«. Die Energiespender stellen Energie zur Bewältigung des Alltags zur Verfügung und umfassen beispielsweise angenehme Tätigkeiten,
emotionale Unterstützung oder Wertschätzung von Freunden und Familienmitgliedern, aber auch die Befriedigung persönlicher und physiologischer Bedürfnisse wie ausreichend Schlaf und Nahrungsaufnahme. Ihnen stehen die Energiefresser gegenüber, welche Energie verbrauchen. Energiefresser sind energieraubend, weil sie entweder emotional oder körperlich anstrengend sind wie beispielsweise eine Auseinandersetzung mit dem Partner, Überforderung im Beruf, finanzielle Sorgen, körperliche Erkrankungen oder einfach zu wenig Schlaf oder Nahrung. Den Patienten kann das Prinzip des Energiehaushaltes am Beispiel des »Autoprinzips« erläutert werden:
Ich möchte mit Ihnen gerne einmal Ihren persönlichen Energiehaushalt beleuchten. Jeder Mensch muss mit seinen Energien haushalten, um nicht »auf der Strecke« zu bleiben. Das möchte ich Ihnen gerne am Beispiel eines Autos erklären, da ein Mensch wie ein Fahrzeug immer genügend Energie braucht, um zu funktionieren. Diese Energie bekommt es aus verschiedenen Quellen, nämlich der Batterie zum Starten und dem Kraftstoff zum Fahren. Zusätzlich braucht es Schmiermittel, damit die Bremsen, das Getriebe und der Motor funktionieren, es braucht Wasser, damit der Motor nicht überhitzt wird und es braucht Pflege, damit die Karosserie nicht durchrostet. Ein Auto fährt nur dann, wenn all diese Dinge beachtet werden. Beispielsweise kann vor einer Fahrt nach Hamburg von München aus das Auto kaputt gehen, wenn das Öl 6
289 13.3 · Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
13
nicht vorher nachgefüllt wird oder das Kühlerwasser leer ist. Es bleibt auf der Strecke liegen, wenn der Tank nicht genügend gefüllt ist oder nicht rechtzeitig Kraftstoff hinzugefügt wird. Übertragen auf den Menschen heißt das, dass auch wir Energie aus verschiedenen Quellen benötigen, um zu »funktionieren«. Der Energieverbrauch soll dabei in langfristig sinnvollem Verhältnis zu der »nachgefüllten Energie« stehen und es müssen immer Reserven vorhanden sein. Auch müssen wir Menschen dafür sorgen , dass wir in einem »guten Zustand« bleiben und uns pflegen. Das ist das Prinzip des Energiehaushalts.
Nachdem diese Erklärung gegeben wurde, erhalten die Patienten das . Arbeitsblatt 13.5 »Energiehaushalt« (vgl. Potreck-Rose u. Jacob, 2004). In dieses Arbeitsblatt sollen die Patienten zunächst diejenigen Aktivitäten und Bereiche eintragen, welche ihnen Energie entziehen. Hierzu teilen Sie den Energiekreis in »Tortenstücke« ein, deren Größe dem Ausmaß an Energie, die durch verschiedene Bereiche und Aktivitäten »geschluckt« wird, entspricht. In diese »Tortenstücke« wird dann der jeweilige Bereich, auf den es sich bezieht (z. B. »wöchentlicher Stammtisch«) notiert. Im nächsten Schritt werden
diejenigen Bereiche und Aktivitäten, aus welchen die Patienten ihr Energiereservoir füllen, in einen zweiten Kreis eingetragen. Auch dieser zweite Teil wird in Tortenstücke eingeteilt, so dass erkenntlich wird, welcher Lebensbereich wie viel Energie liefert. Als Bezugspunkt wird der Zeitraum eines Monats angegeben. Im Anschluss daran wird der Energiehaushalt aller Patienten daraufhin untersucht, inwieweit ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben existiert. Ein Beispiel zeigt . Arbeitsblatt 13.5B. Die Instruktion zur Bearbeitung des Arbeitsblattes kann folgendermaßen lauten:
Bitte sehen Sie sich das Blatt an. Hierauf sind zwei Kreise eingezeichnet, welche die Energieabgaben und Energieeinnahmen symbolisieren. Ich möchte Sie bitten, für sich zu überlegen, in welche Dinge Sie in der letzten Woche Energie investiert haben und welche für Sie eine Energiequelle waren. Das können ganz verschiedene Dinge, beispielsweise Tätigkeiten wie Spazierengehen, Menschen oder Gegenstände wie ein Parfüm, weil es Sie an positive Erlebnisse erinnert, usw. sein. Bitte tragen Sie in den ersten Kreis diejenigen Lebensbereiche ein, die Sie Energie kosten. Achten Sie hierbei darauf, dass die Größe das jeweiligen »Tortenstückes« auch der Energiemenge, die Sie in den bestimmten Bereich investieren, entspricht. Dann zeichnen Sie bitte einen zweiten Kreis. Dieser soll im Verhältnis zum ersten Kreis so groß sein, dass sich hierin die Relation zwischen der von Ihnen abgegebenen (erster Kreis) und der erhaltenen Energie (zweiter Kreis) erkennen lässt. Wenn Sie also mehr Energie abgeben, als Sie wiederbekommen, sollte der zweite Kreis kleiner sein als der erste. Vermerken Sie in dem zweiten Kreis die Bereiche, aus denen Sie Energie ziehen. Vergleichen Sie nun die beiden Kreise: Was fällt Ihnen auf? Wie sieht Ihre Energiebilanz aus? Was könnten Sie verändern, um die Energiebilanz ausgewogener zu machen?
Die Nachbesprechung sollte darauf fokussieren, inwieweit die Energieeinnahme und -ausgabe des letzten Monats ausgeglichen war. Im nächsten Schritt wird der Energiehaushalt daraufhin überprüft, ob er ein typisches Beispiel für den letzten Monat darstellt. Die Überprüfung, inwieweit die Energieeinnahmen und -ausgaben ausgeglichen sind, kann relativ einfach über die Größendifferenz aus beiden Kreisen erschlossen werden. Ist die Energiebilanz negativ,
sollte im nächsten Schritt überprüft werden, welche »energieraubenden« Tätigkeiten entweder wegfallen müssten oder aber welche »energiespendenden« Aktivitäten hinzukommen sollten, um den Energiehaushalt wieder auszubalancieren. Am Beispiel des Autos kann dabei auf reines Energietanken wie z. B. erholsamer Schlaf, ausreichende Nahrungsaufnahme oder auch bereichernde Kontakte zu anderen Menschen und Lebensumständen fokussiert wer-
290
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
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. Arbeitsblatt 13.5B. Energiehaushalt
291 13.3 · Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
den. Umgekehrt können auch »Energiefresser« durch eine Reduzierung der Arbeitsbelastung durch Delegieren verschiedener Aufgaben an andere, Abgrenzung von ungerechtfertigten Forderungen anderer oder das Vermeiden zeitraubender Tätigkeiten abgebaut werden. Zusätzlich sollte auf mögliche
4 4 4 4 4 4
»pflegende Aktivitäten« wie beispielsweise das Zusammensein mit Menschen, die einen emotional unterstützen oder einem Freude bereiten, eingegangen werden. Die Nachbereitung des Arbeitsblattes kann durch folgende Fragen gestaltet werden:
Wenn Sie sich die Energieverteilung ansehen, ist diese ausgewogen? In welche Bereiche stecken Sie die meiste Energie? Bekommen Sie aus den Bereichen, in die Sie Energie stecken, auch wieder Energie zurück? Woher bekommen Sie Ihre Energie? Wie ist die Verteilung der Energieeinnahmen? Gibt es mehrere Bereiche? Bekommen Sie auch aus sich selbst, also unabhängig von anderen, Energie?
Beide Übungen, sowohl der »Idealtag« als auch der »Energiehaushalt« können analog zu der beschriebenen Vorgehensweise im Gruppensetting auf das Einzelsetting übertragen werden.
13.3.2
13
Abbau von Energiefressern
Nachdem im Rahmen des Energiekreises bereits einige Energiefresser identifiziert werden konnten, soll es in diesem Abschnitt um eine Spezifizierung der einzelnen Energiefresser gehen, bevor Maßnahmen zu deren Abbau vorgestellt werden. Im Gruppensetting können dazu im Anschluss an die Besprechung des Energiehaushaltes gemeinsam mögliche weitere Energiefresser am Flipchart gesammelt werden. Die Patienten können ihre Energiekreise um diese erweitern, sofern diese auf Sie zutreffen. Ergänzend dazu sollte den Patienten eine Liste mit möglichen Energiefressern vorgegeben werden. Auf dieser Liste sind Beispiele für Aktivitäten und Einstellungen, die zu einer vermehrten Belastung im Alltag führen, aufgeführt (modifiziert und ergänzt nach Kaluza 2005). Diese Liste ist geeignet, um detailliert alltägliche Energiefresser zu identifizieren. Als Energiefresser können neben den bereits genannten Oberbegriffen wie Stress und Arbeitsbelastung auch eine ungünstige Zeitplanung und widrige äußere Umstände zählen. Beispiele für eine dysfunktionale Zeitplanung sind die Beschäftigung mit eher nebensächlichen Dingen, wenn noch wichtige Arbeit ansteht, das Hinauszögern des Arbeitsbeginns,
eine inadäquate Prioritätensetzung, überlange Arbeitszeiten, aber auch das Anfangen neuer Aufgaben, ohne zuvor begonnene Aufträge abgeschlossen zu haben. Als weitere Energiefresser sind ein zu hastiges Arbeiten, ein häufiger Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben, eine zu enge Zeitplanung ohne Raum für Unvorhergesehenes und daraus folgender Zeitdruck sowie eine übertriebene Ordnung oder eine unflexible Vorgehensweise bei der Bearbeitung von Aufgaben einzuordnen. Zu den äußeren Faktoren, welche als Energiefresser fungieren können, zählen ständige Unterbrechungen beispielsweise durch Kunden, Kollegen oder das Telefon, zu viele, zu lange und schlecht vorbereitete Kundengespräche, fehlerhafte Informationen, unklare Aufgabengebiete oder Arbeitsaufträge, überflüssige Bürokratie, Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit von Kollegen und Kunden. Des Weiteren sind spezifische Einstellungen als Energiefresser einzuordnen. Zu den Einstellungen, die zu einer erhöhten Belastung führen, zählen beispielsweise Gedanken wie »Ich muss alles alleine schaffen!«, »Ich muss immer für andere da sein!« oder »Um von anderen akzeptiert zu werden, muss ich alles hundertprozentig machen!«. Diese Gedanken kennzeichnen das Unvermögen, Aufgaben zu delegieren, eine übersteigerte Suche nach Anerkennung sowie Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. . Arbeitsblatt 13.6 zeigt eine Liste mit möglichen alltäglichen »Energiefressern«. Sind individuelle Verhaltensweisen und Einstellungen identifiziert, die zum Energiedefizit beitra-
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Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
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. Arbeitsblatt 13.6. Meine persönlichen Energiefresser
293 13.3 · Etablierung einer ausgewogenen Energiebilanz
gen, sollten Lösungsvorschläge zur Bewältigung der verschiedenen dysfunktionalen Verhaltensweisen gesammelt werden. Dazu kann auf das Problemlöseschema (7 Kap. 11) verwiesen werden und die hierin beschriebene Technik des Brainstormings zur Anwendung kommen. Am sinnvollsten ist es, eine Hitliste der häufigsten energiefressenden Verhaltensweisen am Flipchart zu erstellen und für die einzelnen Punkte gemeinsam in der Gruppe bzw. mit dem Patienten im Einzelgespräch nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. In diesem Zusammenhang kann die Vermittlung der in der folgenden Übersicht genannten Strategien sinnvoll sein (vgl. auch Kaluza 2005):
Strategien zum Abbau von »Energiefressern« 4 4 4 4 4
Setzen von Prioritäten im Alltag Aufgaben delegieren Emotionale Unterstützung suchen Bessere Zeitstrukturierung Planung des Alltags mit Freiräumen zur Regeneration 4 Kontrolle externer Störfaktoren
Um den Patienten diese fünf Hauptstrategien zum Abbau von Energiefressern abschließend vorzustellen, sollten die am Flipchart erarbeiteten Punkte zusammengefasst werden. Zudem können zusammengetragene Lösungsansätze aufgegriffen und in die Vorstellung dieser fünf Strategien integriert werden. Da die meisten der beschriebenen Energiefresser eine mangelnde Prioritätensetzung und Schwierigkeiten in der Abgrenzung sind, ist hier die Vermittlung von Strategien zur Bewältigung genau dieser Defizite notwendig, um Energiefresser im Alltag zu reduzieren (vgl. auch Kaluza 2005). Die wichtigste Strategie ist daher die Unterscheidung von für einen persönlich wichtigen und unwichtigen Aufgaben, welche zusätzlich nach Dringlichkeit unterteilt werden können. Die Wichtigkeit einer Aufgabe ergibt sich aus der eigenen Bewertung, welche sich mit der Frage: »Wie wichtig ist diese Aufgabe bzw. diese Aktivität bzw. dieses Ziel für mich persönlich, um im Leben zufrieden zu sein?« beantworten lässt. Die Dringlichkeit dagegen ist meist eher durch externe Umstände wie Fristen usw. defi-
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niert. Beispielsweise kann der Besuch einer Geburtstagsparty und der damit verbundene Geschenkeinkauf je nach Freundschaftsgrad unwichtig und wenig dringlich bis sehr wichtig und dringlich sein. Um eine Priorität setzen zu können, sollten die Patienten daher für sich Bereiche definieren, die zur Erreichung eines zufriedenen und ausgeglichenen Lebens langfristig notwendig sind, beispielsweise: »Was würden Sie in 10 Jahren zu dieser Tätigkeit sagen? Wie wichtig ist diese mit Abstand betrachtet?«. Diese Bereiche hängen meist eng mit den Säulen des Selbstwertgefühls zusammen, können aber auch finanzielle Sicherheiten oder Gesundheit und berufliche Erfüllung beinhalten. Am günstigsten ist es, zur Vermittlung der Strategien zur Prioritätensetzung dieses Thema in der Gruppe aufzugreifen und mit Hilfe des . Arbeitsblattes 13.7 »Was brauche ich, um zufrieden zu sein?« zunächst einmal Zielbereiche für ein zufrieden stellendes Leben zu definieren, um in einem späteren Schritt entsprechende Strategien zur Zielerreichung zu erarbeiten. Anhand dieser Liste können im Anschluss die auf dem Flipchart aufgelisteten energieraubenden Tätigkeiten gemeinsam in der Gruppe nach Prioritäten sortiert werden. Trotz einer sinnvollen Prioritätensetzung kann es oft zu einer Überforderung aufgrund von Mangel an Zeit oder Fähigkeiten kommen. Als zweiter Punkt zur Beseitigung von Energiefressern sollte daher mit den Patienten erarbeitet werden, dass Aufgaben manchmal delegiert werden können. Um zu entscheiden, welche Aufgaben das sind, kann wiederum gemeinsam in der Gruppe überlegt werden, welche Aufgaben der Energiefresserliste am günstigsten an andere Personen abgegeben werden können. Auch hier hilft die Frage: »Wie wichtig ist diese Aufgabe für mich?« und die Abschätzung der Konsequenz »Was passiert, wenn ich die Aufgabe nicht selbst erledige?« zur Entscheidung weiter. Zur Festlegung der zu delegierenden Aufgaben sollten die einzelnen Punkte daher mit den Patienten diskutiert werden. Falls ein Delegieren nicht möglich ist, sollte über ein besseres Zeitmanagement oder auch die mögliche Reduktion der Aufgaben nachgedacht werden. Anschließend geht es vor allem um die Überprüfung der übrig gebliebenen Aufgaben und Verpflichtungen. Nach der Einstufung der Aufgaben entsprechend ihrer Wichtigkeit sollte
294
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
daher zunächst mit den Patienten überlegt werden, was mit den übrigen Aufgaben und Verpflichtungen, Aktivitäten und Ähnlichem geschehen sollte. Der Therapeut kann dazu provozierend fragen:
Was würde denn passieren, wenn Sie diese Aufgaben einfach streichen würden?
13
Die dadurch angeregte Diskussion sollte zum Ergebnis haben, dass es durch den Wegfall unwichtiger und wenig dringlicher Aufgaben meist zu keinem relevanten persönlichen Verlust kommt, sondern dass häufig eher die Angst maßgeblich ist, andere durch Abgrenzung und ein geringeres Maß an Hilfsbereitschaft abzuschrecken. Diese dysfunktionale und energiefressende Einstellung sollte moderiert durch den Therapeuten unter zielführenden Aspekten disputiert werden (7 Kap. 9). Ziel ist es, Strategien der Grenzsetzung für die unwichtigen Aufgaben zu erarbeiten und diese exemplarisch für die am Flipchart verbleibenden individuellen Energiefresser theoretisch durchzusprechen. So kann z. B. das Telefon einmal ausgesteckt werden, um zu Hause in Ruhe lesen zu können. Als letzter Schritt zum Abbau von Energiefressern und gleichzeitig auch als Überleitung zum nächsten Interventionsschritt »Aufbau positiver Aktivitäten«, sollte die Zeitplanung besprochen werden. Die Patienten sollen angeleitet werden, die neu gewonnene Struktur in einen Zeitplan umzusetzen, der neben den beruflichen und privaten Verpflichtungen auch ausreichend Pausen und Regenerationsphasen enthält. Dazu wird zunächst mit den Patienten anhand des individuellen Energiehaushaltes exemplarisch ein Wochenplan (. Arbeitsblatt 13.9) erstellt, in dem alle notwendigen Verpflichtungen enthalten sind, aber in den gleichzeitig auch Pausen und Regenerationsphasen eingebaut werden. Anhand des . Arbeitsblattes 13.8 »Was ich mir alles Gutes tun kann« kann gemeinsam mit den Patienten überlegt werden, welche Tätigkeiten sich für kurze bzw. längere Regenerationsphasen eignen (Beispiel . Arbeitsblatt 13.8B auf der 7 CD-ROM). Jeder Patient sollte dazu für sich eine Reihe von positiven Aktivitäten identifizieren und festlegen, welche er in einem ersten Schritt in seinen Wochen-
plan integrieren könnte. Als nächstes erfolgt die Planung einer strukturierten Woche anhand von . Arbeitsblatt 13.9 »Meine Wohlfühlwoche«, welche sowohl alle Verpflichtungen als auch die möglichen Termine und positiven Aktivitäten im Alltag enthält. Der Patient wird gebeten, dieses Arbeitsblatt im Voraus für die folgende Woche auszufüllen und für jeden Tag hinsichtlich der Bereiche Arbeit, soziale Kontakte, Hobbys und Essen mögliche positive Aktivitäten einzutragen und an diesem Tag auch auszuführen. Die Umsetzung sollte jeden Abend reflektiert und bewertet werden (Beispiel . Arbeitsblatt 13.9B). Durch diese Maßnahme soll die Integration der positiven Aktivitäten in den Alltag gefördert und auch auf mögliche Zusammenhänge zwischen besserer Stimmung und vermehrt positiven Aktivitäten hingewiesen werden. Als weitere spezifische Interventionen zum Aufbau positiver Aktivitäten im Sinne von Energiespendern können zudem die in 7 Abschn. 13.4 dargestellten Methoden zur Steigerung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit angewandt werden.
13.4
Interventionen zur Steigerung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit
Im Anschluss an die Identifikation von Störfaktoren bei der Gewinnung von Ressourcen, insbesondere von positiven Aktivitäten sollte zusätzlich der Therapiebaustein zur Steigerung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit durchgeführt werden, da Genussfähigkeit bei Patienten mit psychischen Störungen meist reduziert ist (vgl. Lutz 1999), was auch für Patienten mit Essstörungen gilt. Genussfähigkeit bezieht sich entgegen der Annahme der meisten Patienten allerdings nicht nur auf das Essen, sondern beinhaltet die Fähigkeit, auch essensunabhängige Situationen, Ereignisse oder Tätigkeiten genussvoll erleben zu können (vgl. Lutz 1999). Dies ist ein wichtiger Ansatz der Euthymen Therapie, welche die Steigerung von Genussund Entspannungsfähigkeit als wichtige Grundlage zur Erhöhung der Selbstfürsorge und damit der Reduktion von dysfunktionalen Leistungsansprüchen und Überforderung beschreibt. Das Genusstraining nach Lutz (1999) verfolgt dabei neben der Vermittlung von Regeln zum Genießen vor allem die Veränderung
295 13.4 · Interventionen zur Steigerung von Genuss- und Entspannungsfähigkeit
. Arbeitsblatt 13.9B. Meine Wohlfühlwoche
13
296
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
der überhöhten Leistungsansprüche und Überforderungstendenzen hin zu einer hedonistischen Lebensgestaltung. Dazu werden dem Patienten in kleinen Schritten Techniken vermittelt, welche als Voraussetzung für das Zielverhalten des Genießens als grundlegend erachtet werden. Zu diesen Techniken zählen die Differenzierung der sinnlichen Wahrnehmung, die Entwicklung der Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsfokussierung und basale Fertigkeiten wie die Strukturierung des Alltags, um für Genuss und Entspannung überhaupt Zeit zu schaffen (vgl. Lutz 1999). In diesem Teil des Kapitels werden daher Interventionen zur Schulung der Genussfähigkeit (7 Abschn. 13.4.1) und der Entspannungsfähigkeit (7 Abschn. 13.4.2) dargestellt, um auch langfristig das im Zusammenhang mit den überhöhten Leistungsansprüchen stehende Grundanspannungsgefühl (7 Kap. 10) zu senken. Ein ausführliches Programm zur Genussschulung findet sich bei Koppenhöfer (2004).
Übung: 4 Was man alles genießen kann 4 Genussspaziergang 4 Unterstufenübungen des autogenen Trainings (Schwereformel) 4 Imaginationsübung
Arbeitsmaterialien:
13
4 Flipchart, Stifte 4 Für Genussübung: Gewürze, Musik-CDs, Instrumente, Gemüse, Obst, Pflanzen, Tee, Kaffee 6
4 4 4 4 4
Arbeitsblätter: 4 Auf welche Art und Weise kann ich genießen? (. Arbeitsblatt 13.10) 4 Genussregeln (. Arbeitsblatt 13.11) 4 Sinnesspaziergang (. Arbeitsblatt 13.12)
13.4.1
Genusstraining
Um die Differenzierung der Sinneswahrnehmung zu schärfen, sollte mit den Patienten zunächst erarbeitet werden, über welche Sinne Genuss erlebt werden kann. Dazu sollte . Arbeitsblatt 13.10 »Auf welche Art und Weise kann ich genießen?« mit den Patienten bearbeitet werden. Das Arbeitsblatt stellt die fünf Sinne vor und gibt die Möglichkeit, zu jedem Sinn genussvolle Tätigkeiten zu beschreiben. Am besten ist es, die Patienten zu bitten, das Arbeitsblatt zu Hause auszufüllen und bezüglich jedes Sinnesorganes Möglichkeiten des Genusses zu benennen. Die Patienten können ermutigt werden, die verschiedenen aufgeführten Punkte auszuprobieren und im Zusammenhang mit der Besprechung des Arbeitsblattes über ihre Erfahrungen zu berichten. Bei der Besprechung des Arbeitsblattes sollte darauf geachtet werden, die individuellen Stimulanzien für Genuss zu identifizieren und die mit dem Genuss assoziierten Gefühle und Gedanken herauszuarbeiten. Mögliche Fragen dazu sind:
Warum empfinden Sie das Betasten von Stoffen als Genuss? Welche Assoziationen weckt das Hören von Musik bei Ihnen? Welche Gefühle gehen mit dem Riechen Ihres Parfüms einher? Welche Empfindungen haben Sie, wenn Sie ein Glas guten Rotwein trinken? etc.
Um diese ersten Eindrücke zu vertiefen, wird anschließend mit den Patienten eine Genussübung durchgeführt, welche alle Sinne einbezieht. Dazu werden die Teilnehmer je nach Möglichkeit aufgefordert, nach draußen zu gehen und sich etwas zu suchen, was Sie entweder gerne riechen, schmecken,
fühlen oder ansehen, und dies wieder mit hereinzubringen. Im Anschluss an diesen »Sinnesspaziergang« sollen sie erläutern, was genau sie gesehen, gefühlt, gerochen oder geschmeckt haben und warum es besonders genussvoll war. Um dies herauszuarbeiten, werden die Teilnehmer nochmals aufgefor-
297 13.4 · Interventionen zur Steigerung von Genuss- und Entspannungsfähigkeit
dert, sich jeweils auf einen Sinn stark zu konzentrieren und beispielsweise mit geschlossenen Augen an dem mitgebrachten Gegenstand zu tasten und das Gefühl hierbei zu beschreiben. Zusätzlich können die Teilnehmer auch gebeten werden, daran
13
zu riechen und ggf. daran zu schmecken. Jeder Teilnehmer führt dies anhand des mitgebrachten Gegenstandes durch. Der Therapeut moderiert die anschließende Besprechung mit folgenden Fragen:
4 4 4 4
Versuchen Sie bitte, die verschiedenen Duftnuancen des Gegenstandes zu beschreiben! Wenn Sie die Augen geschlossen halten, woran erinnert Sie der wahrgenommene Geruch? Bitte beschreiben Sie genau, wie Ihr Gegenstand sich anfühlt. Wie fühlt sich der Gegenstand an, wenn Sie sanft darüber streichen, und wie, wenn Sie fest dagegen drücken? 4 Gibt es noch etwas, was Ihnen an diesem Gegenstand auffällt? 4 Warum genau haben Sie diesen Gegenstand ausgewählt? 4 Was mögen Sie an dem Gegenstand und was nicht?
Falls keine Möglichkeit besteht, dass die Teilnehmer selbst draußen Gegenstände suchen, kann der Therapeut verschiedene Dinge zur Therapiesitzung mitbringen, die den einzelnen Sinnen zuzuordnen sind. Dafür eignen sich folgende Dinge: 4 Riechen: 5 Gewürze wie Zimt, Pfeffer, Kardamon, Nelken, 5 Parfüms und Körperöle wie japanisches Heilöl, Kölnisch Wasser, Orangenöl, 5 Getränke wie Kaffee, Waldmeistersirup, verschiedene Teesorten etc. 4 Schmecken: 5 Gewürze wie Salz, Pfeffer, Ingwer, Knoblauch, Zucker, etc., 5 Speisen wie Götterspeise, Mohrenköpfe, Schokolade, Brot, Fenchelgemüse. 4 Hören: 5 Meeresrauschen, 5 Vogelzwitschern, 5 verschiedene Musikrichtungen wie Panflötenmusik, Harfe, etc.
4 Tasten: 5 Pflanzen wie Eicheln, Tannenzapfen, einzel-
ne Blätter von Bäumen, etc., 5 Obst wie Orangen, Paprika, Kartoffeln, etc.
Wird die Übung mit vom Therapeuten mitgebrachten Gegenständen durchgeführt, sollten alle Teilnehmer in der Gruppe zunächst die Gegenstände mit dem jeweiligen Sinn erfassen. Zum Beispiel können Obst und Gemüse zum Tasten in einer verdeckten Schüssel oder Kräuter in beklebten Einmachgläsern zum Riechen herumgereicht werden. Zum Horchen dagegen können Patienten ermutigt werden, mit verschiedenen Alltagsgegenständen Geräusche zu machen. Geeignete Alltagsgegenstände sind Papier- oder Plastitüten, Zellophanfolie, Smartiespackungen u. Ä. Nachdem der Gegenstand von allen Teilnehmern befühlt bzw. berochen oder »erhört« wurde, befragt der Therapeut die Teilnehmer nach ihren Erfahrungen. Die unterschiedlichen Eindrücke werden besprochen, bevor mit dem nächsten Gegenstand fortgefahren wird. Dazu können folgende Fragen gestellt werden:
4 Was haben Sie beim Befühlen bzw. Beriechen (Kosten oder Hören) des Gegenstandes wahrgenommen? 4 Bitte beschreiben Sie genau, wie Ihr Gegenstand sich anfühlt bzw. wonach er riecht, schmeckt oder sich anhört! 4 Hat sich der Gegenstand an allen Stellen gleich angefühlt bzw. gerochen (geschmeckt oder sich angehört)? 4 Gibt es noch etwas, was Ihnen an diesem Gegenstand aufgefallen ist? 4 Was mögen Sie an dem Gegenstand und was nicht?
298
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
Nachfolgend werden mit den Teilnehmern die Genussregeln (vgl. Lutz 1999) durchgegangen, besprochen und Möglichkeiten überlegt, wie diese in den Alltag übertragen werden können. Die Genussregeln
sind in der folgenden Übersicht dargestellt, für Patienten sind sie als . Arbeitsblatt 13.11 auf der 7 CDROM zu finden:
Genussregeln 4 Gönne dir Genuss Viele Menschen haben Hemmungen, ein schlechtes Gewissen oder schämen sich, wenn sie sich selbst etwas Gutes tun. Vielleicht weil sie in ihrem bisherigen Leben entsprechende Verbote bekommen haben, können sie sich selbst heute keinen Genuss erlauben. Hier kommt es darauf an, sich über unnötig gewordene Genussverbote klar zu werden und diese fallen zu lassen.
13
4 Nimm dir Zeit zum Genießen Das klingt banal, ist aber eine ganz wichtige Voraussetzung für das Genießen. Genuss geht nicht unter Zeitdruck – aber manchmal genügt schon ein Augenblick. 4 Genieße bewusst Wer viele Dinge gleichzeitig tut, wird dabei kaum Genießen können. Wollen Sie Genuss erleben, dann müssen Sie andere Tätigkeiten unterbrechen und sich ganz auf diesen Genuss besinnen. Genuss geht nicht nebenbei. 4 Schule deine Sinne für Genuss Genießen setzt eine fein differenzierte Sinneswahrnehmung voraus, die sich durch Erfahrung gebildet hat. Beim Genießen kommt es auf das Wahrnehmen von Nuancen an. Es gilt hier, die eigenen Sinne zu schärfen. 4 Genieße auf deine eigene Art Das weiß auch der Volksmund: »Was dem einen sin Uhl ist, ist dem anderen sin Nachtigall«. Genuss bedeutet für jeden etwas anderes. Hier kommt es darauf an, herauszufinden, was einem gut tut und – genauso wichtig – was einem nicht gut tut und was einem wann gut tut. 4 Genieße lieber wenig, aber richtig Ein populäres Missverständnis über Genießen ist, dass derjenige mehr genießt, der mehr konsumiert. Für den Genuss ist jedoch nicht die Menge, sondern die Qualität entscheidend. Ein Zuviel wirkt auf die Dauer sättigend und langweilend. Daher ist es sinnvoll, sich zu beschränken, nicht aus Geiz oder aus falscher Bescheidenheit, sondern um sich das jeweils Beste zu gönnen. 4 Überlasse deinen Genuss nicht dem Zufall Eine Redensart besagt, dass man die Feste feiern soll, wie sie fallen. Das Zufällige, Spontane, Unerwartete bringt häufig einen ganz besonderen Genuss. Es erscheint jedoch nicht günstig, den Genuss allein dem Zufall zu überlassen. Im Alltag wird es oft nötig sein, Genuss zu planen, das heißt die Zeit dafür einzuteilen, die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen, Verabredungen zu treffen usw. 4 Genieße die kleinen Dinge des Alltages Genuss ist nicht immer zwangsläufig etwas ganz Außerordentliches. Vielmehr gilt es, Genuss im ganz normalen Alltag zu finden – in kleinen Begebenheiten und alltäglichen Verrichtungen. Wer sich selbst im Alltag innerlich dafür offen hält, kann eine Vielzahl von Quellen für angenehme Erlebnisse gerade auch im alltäglichen Leben entdecken.
Bei der Besprechung der Genussregeln sollten die einzelnen Teilnehmer immer wieder danach gefragt werden, wie sie die Genussregeln im Alltag umsetzen können. Dabei sollte darauf geachtet wer-
den, möglichst konkrete Verhaltensweisen herauszuarbeiten, damit die Patienten für Genuss im Alltag sensibilisiert werden. Zusätzlich sollte auf mögliche Schwierigkeiten im Alltag bei der Umset-
299 13.4 · Interventionen zur Steigerung von Genuss- und Entspannungsfähigkeit
zung und im Allgemeinen eingegangen und auf die erarbeiteten Strategien aus 7 Abschn. 13.3 verwiesen werden. Sinnvoll ist es, diese Interventionen mit einer Genuss-Hausaufgabe zu verbinden. Dazu ist z. B. die
13
Wiederholung des Sinnesspaziergangs geeignet. Den Patienten kann dazu das . Arbeitsblatt 13.12 »Sinnspaziergang« (7 CD-ROM) ausgehändigt werden. Die Erklärung einer solchen Hausaufgabe kann wie folgt aussehen:
Wir haben nun einiges darüber erfahren, was Genuss ist und wie er auch in den Alltag integriert werden kann. Als Hausaufgabe möchte ich Sie daher bitten, an einem bestimmten Tag einen Sinnesspaziergang zu machen und die Welt um Sie herum ganz bewusst mit allen Sinnen zu genießen. Am günstigsten ist, wenn Sie dies ohne Zeitdruck und in der Natur tun können, da es viele verschiedene Dinge gibt, die Sie beispielsweise im Wald oder auf einer Wiese wahrnehmen können, wenn Sie sich einmal auf die Wahrnehmung Ihrer Ohren, Augen und Nase konzentrieren.
Ergänzend können im Anschluss an das Genusstraining einige Übungen zur Steigerung der Entspannungsfähigkeit durchgeführt werden.
13.4.2
Übungen zur Steigerung der Entspannungsfähigkeit
Übungen zur Steigerung der Entspannungsfähigkeit sind als langfristige Strategie zum Abbau des erhöhten Anspannungsniveaus zu sehen und beinhalten eine Fortsetzung bzw. Vertiefung der bereits in 7 Abschn. 10.3.1 eingeführten Techniken. Sie basieren vor allem auf herkömmlichen Entspannungsverfahren, welche die Patienten möglichst häufig üben sollten, um einen dauerhaften Effekt zu erleben. Falls keine Zeit verbleibt oder die Patienten dem Einüben von Entspannungsverfahren gegenüber allzu kritisch eingestellt sind, ist es möglich, nur einen Ausblick auf mögliche Entspannungstechniken zu gewähren und mit ihnen beispielsweise den Besuch eines Volkshochschulkurses zu vereinbaren. Als langfristige Methoden zur Entspannung scheinen insbesondere die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und das autogene Training sinnvoll, aber auch meditative Verfahren wie Yoga, Imaginationsübungen oder buddhistische Meditation sind möglich. In diesem Bereich gilt vor allem, was individuell gefällt, da bei einer erzwungenen Entspannung oder Unwohlsein mit der Methode meist kein Entspannungseffekt erreicht wird. Wir empfehlen daher, mit den Patienten die Grundlagen und Mög-
lichkeiten der einzelnen Techniken zu besprechen (vgl. hierzu Vaitl u. Petermann 2004) und als Übung eine Phantasiereise oder eine Atemmeditation durchzuführen, welche im Folgenden beschrieben werden. Die Auswahl dieser beiden Techniken liegt darin begründet, dass sie relativ leicht und ohne Hilfsmittel im Alltag umzusetzen sind und von den Patienten in Eigenregie eingeübt werden können. Meist sind sie zudem durch die Konzentration auf die Handlungsanweisungen leichter durchzuführen und beinhalten den Aufbau von Selbstkontrolle durch die Aufmerksamkeitsfokussierung (vgl. Vaitl u. Petermann 2004). Ähnliches gilt auch für die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson (1990), welche von uns in modifizierter Form als Kombination mit einer Imaginationsübung eingesetzt wird (vgl. auch Vaitl u. Petermann 2004).
Übung zum autogenen Training Zur Durchführung einer Übung aus dem Autogenen Training sollte zunächst die Grundlage und das Ziel dieser Art der Entspannung für die Patienten erläutert werden. Therapeuten, die mit dem Verfahren nicht vertraut sind, sollten sich an entsprechender Stelle zur Durchführung der Langform schulen lassen, die hier vorgestellte Schwereformel kann jedoch auch ohne spezifische Schulung durchgeführt werden (vgl. Vaitl u. Petermann 2004). Dabei sollte den Teilnehmern genügend Spielraum zur Entfaltung eigener Erfahrungen gelassen werden (vgl. Vaitl u. Petermann 2004). Wichtig ist zudem der Hinweis darauf, dass diese Art der Entspannungsübung nur nach längerer Übung ihre volle Wirkung entfalten
300
13
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
kann. Da viele Teilnehmer Entspannungsübungen im Liegen bevorzugen und damit tatsächlich auch bessere neuromuskuläre Entspannungseffekte als im Sitzen erzielt werden konnten, sollten die Übungen im Liegen durchgeführt werden. Das autogene Training ist nach einem einfachen Schema aufgebaut, welches sich in sechs Unterstufenübungen (Schwere, Wärme, Herz, Atem, Sonnengeflecht, Stirnkühle) gliedert (vgl. Vaitl u. Petermann 2004). Der Übende wird dabei aufgefordert, bestimmte Instruktionen im Geiste aufzusagen. Die Instruktionen beziehen sich dabei auf physiologische Effekte wie eine neuromuskuläre Entspannung des Arms (»Mein Arm ist schwer«) und enthalten keine Negationen oder zielgerichtete Anstrengungen. Im Vordergrund steht die Aufmerksamkeitslenkung auf einen bestimmten Körperteil und eine damit verknüpfte körperliche Reaktion. Einführend kann den Patienten eine Ruheinstruktion vorgegeben werden, welche z. B. aus der Aussage »Ich bin ruhig, ganz ruhig« besteht. Für Patienten mit Essstörungen empfehlen sich vor allem die ersten beiden Stufenübungen zur Induktion von muskulärer Entspannung. Dazu werden Instruktionen zur Vorstellung der Schwere eines spezifischen Körperbereichs wie Arme und Beine gegeben. Bei der Wärmeübung bezieht sich die Instruktion auf das Vorhersagen des Satzes »Mein rechter Arm ist warm«. Das Formelaufsagen sollte zu Beginn im Abstand von ca. 90 Sekunden erfolgen, um die passive Konzentration zu erhalten, ohne mit den Gedanken
abzuschweifen. Für den Anfang gilt: Je häufiger die Formel aufgesagt wird und je kürzer der Abstand dabei ist, desto besser. Um die Übung zu beenden, sollte der Muskeltonus in den bearbeiteten Körperregionen normalisiert werden, was durch Anspannung und Bewegung der Arme und Beine erreicht wird. Zudem sollten die Patienten gebeten werden, kräftig durchzuatmen und sich zu recken und zu strecken. In der Nachbesprechung sollte auf mögliche Begleiterscheinungen wie Zucken von Muskelpartien, Zittern der Extremitäten oder Phänomene wie Husten und Schlucken sowie möglicherweise auch Kribbeln in den Händen eingegangen werden und diese körperlichen Symptome entpathologisiert werden. Teilweise kann es zudem zum Hören von Tönen oder anderen Geräuschen kommen, und Gefühle der Benommenheit und Schwindel können ausgelöst werden. Oft berichten Patienten von einströmenden, nicht zu unterbrechenden Gedanken, welche den Übungsablauf stören. Die Patienten sollten über Zusammenhänge zwischen diesen Phänomen und den beschriebenen psychophysiologischen Effekten der Entspannung aufgeklärt werden, um mögliche Ängste abzubauen (zu einer ausführlichen Übersicht s. Vaitl u. Petermann 2004). Wichtig ist, individuelle positive Erfahrungen herauszuarbeiten und die Patienten zum stetigen Training zu motivieren. Die Übung zum Autogenen Training könnte so ablaufen:
Bitte legen Sie sich auf den Boden und schließen Sie die Augen. Konzentrieren Sie sich zunächst auf den Satz »Ich bin ruhig, ganz ruhig« und sagen Sie diesen mehrfach hintereinander für sich auf … Bitte konzentrieren Sie sich jetzt auf Ihren rechten Arm. Sprechen Sie in Gedanken die Schwereformel »Der rechte Arm ist schwer, ganz schwer« vor sich her … Gehen Sie nun zu ihrem linken Arm über … Sprechen Sie die Ruheformel »Der linke Arm ist schwer, ganz schwer« vor sich her … Lassen Sie sich Zeit dabei und spüren Sie einfach passiv, was passiert … Nun sind beide Arme schwer … Sagen Sie sich weiter »Beide Arme sind schwer« … Nun erweitern Sie die Formel auf die Beine … Sprechen Sie die Formel weiter vor sich her … »Das rechte Bein ist schwer« … Erweitern Sie nun die Formel auf das linke Bein … »Das linke Bein ist schwer« … Sagen Sie die Formel weiter vor sich her … Nun sind beide Beine schwer … Sagen Sie die Formel vor sich her … »Beide Beine sind schwer« … Kommen Sie nun langsam zurück, spannen Sie Arme und Beine einmal fest an und lassen wieder locker. Atmen Sie tief ein und aus, recken und strecken Sie sich und öffnen Sie die Augen.
Die Wärmeformel kann analog zum beschriebenen Vorgehen eingesetzt werden. Diese Übungen zum
autogenen Training können sowohl in der Einzeltherapie als auch im Gruppensetting angewandt werden.
301 13.2 · Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls
Falls keine Liegemöglichkeiten vorhanden sind, kann die Übung auch im Sitzen durchgeführt werden.
Imaginationsübung Eine weitere Möglichkeit zur Steigerung der Entspannungsfähigkeit ist die Durchführung einer Imagination gekoppelt an eine Übung zur progressiven Muskelentspannung. Diese Übungsform eignet sich vor allem bei Patienten, die sich auf eine Atementspannungsübung nicht einlassen können oder die passive Konzentration nicht halten können. Durch die An- und Entspannungsbewegung bei der progressiven Muskelentspannung wird die Aufmerksamkeit auf die Bewegung fokussiert und darüber ein Entspannungszustand erreicht. In Anlehnung an Vaitl und Petermann (2004) empfehlen wir, mit der Gesichtsmuskulatur zu beginnen und Arme sowie Beine in die Übung mit einzubeziehen. Danach wird
13
eine Imagination eingeführt, welche sich die Patienten individuell auswählen können. In der Vorbesprechung sollte jeder Patient nach einer möglichen entspannenden Situation gefragt werden, welche als Ruhebild dienen kann, um ein zu langes Suchen nach einer entspannten Situation während der Entspannungsübung zu vermeiden. Als Beispiel kann auch auf die bereits in 7 Kap. 10 vorgestellten Ruhebilder zurückgegriffen werden. In der Nachbesprechung wird dann zum einen auf das Erleben während der Entspannung, zum anderen auf die Wahl des Ruhebildes eingegangen. Zudem sollten mögliche Störungen und körperliche Empfindungen erfragt werden (7 Abschn. »Übung zum autogenen Training«). Zum Ablauf der Übung kann folgende Instruktion gegeben werden (modifiziert nach Vaitl u. Petermann 2004):
Bitte setzen Sie sich bequem hin. Konzentrieren Sie sich zunächst auf Ihren Atem und atmen Sie ruhig, ein und aus … ein und aus. … Sagen Sie sich die Ruheformel vor … »Ich bin ruhig, ganz ruhig« … und atmen Sie dabei weiter ruhig ein und aus … ein und aus …. Bitte runzeln Sie nun die Stirn, halten Sie einen Moment die Anspannung und entspannen Sie die Stirn ganz bewusst wieder …. Verweilen Sie einen Moment in der Entspannung und spannen nun die Stirn noch einmal an …. Halten Sie die Spannung und entspannen Sie nun wieder …. Fühlen Sie der Entspannung nach …, runzeln Sie nun noch einmal die Stirn …, halten Sie die Anspannung und entspannen Sie nun wieder …. Als Nächstes ziehen Sie mit Mund und Nase eine Grimasse, runzeln Sie dazu die Nase und verziehen den Mund …. Halten Sie die Grimasse einen Moment und entspannen Sie nun ganz bewusst das Gesicht …. Wiederholen Sie nun noch einmal die Gesichtsanspannung …, halten die Spannung einen Moment und entspannen Sie nun wieder …. Fühlen Sie der Entspannung nach … und spannen jetzt noch einmal Nase und Mund an, runzeln Sie Nase und Mund und halten die Anspannung einen Moment …. Entspannen Sie jetzt wieder das ganze Gesicht …, spüren Sie die Entspannung …. Nun ziehen Sie bitte Ihre Schultern nach oben …. Spannen Sie die Schultern dabei ganz fest an und lassen jetzt wieder locker …. Lassen Sie die Schultern einfach nach unten hängen, … ganz entspannt …. Fühlen Sie der Entspannung in den Schultern nach …. Nun ziehen Sie bitte Ihre Schultern noch einmal nach oben …, halten die Anspannung … und lassen jetzt die Schultern fallen …, einfach nach unten hängen lassen …, ganz entspannt …. Und nun noch ein letztes Mal die Schultern hochziehen …, halten Sie die Anspannung … und lassen jetzt wieder locker …. Fühlen Sie der Entspannung in den Schultern nach …. Nun winkeln Sie bitte Ihre Arme an und spannen diese an …, halten die Spannung in den ganzen Armen …, halten … halten …. Jetzt lassen Sie bitte locker …, lassen Sie die Arme entspannt an den Seiten hängen, spüren Sie die Entspannung …. Als Nächstes spannen Sie die Arme bitte noch einmal an …, halten die Anspannung … und lassen wieder locker …. Spüren Sie der Entspannung nach …, und ein letztes Mal die Arme anspannen … und entspannen …. Bitte ballen Sie nun nur die Hände zu Fäusten …, fest drücken und wieder loslassen …. Spüren Sie die Entspannung in den Fingern …, und noch einmal die Hände zu Fäusten ballen … und loslassen, … und noch einmal eine Faust machen …. Halten Sie die Anspannung … und nun entspannen …. Konzentrieren Sie sich auf den Atem, atmen Sie ein …, 6
302
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
halten den Atem kurz an und atmen wieder aus …, einatmen, kurz anhalten und wieder ausatmen …, einatmen, halten Sie den Atem an … und wieder ausatmen …. Nun ist der gesamte Oberkörper entspannt …. Spüren Sie die Entspannung …. Jetzt lassen wir die Entspannung in die Beine fließen …, spannen Sie nun beide Oberschenkel an …, halten die Anspannung und entspannen wieder …. Nun spannen Sie die Oberschenkel wieder an … und entspannen Sie wieder …, und ein letztes Mal … anspannen … und entspannen …. Wir wandern nun wieder zu den Unterschenkeln …. Ziehen Sie den rechten und linken Fuß nach oben und spannen Sie damit die Waden an …, halten … und die Füße wieder auf den Boden stellen …, und noch einmal … die Zehen in Richtung Kopf ziehen …, halten … und wieder aufsetzen …, und ein letztes Mal … die Füße nach oben ziehen und die Waden anspannen …, halten … und entspannen …. Und als Letztes krümmen wir die Füße, rollen die Zehen ein und halten diese Stellung einen Moment …, und den Fuß wieder ganz aufsetzen …, und noch einmal … die Zehen einrollen …, halten … und entspannen …. Spüren Sie der Entspannung in den Füßen nach … und noch einmal … die Füße einrollen …, halten Sie die Spannung … und entspannen …. Nun ist der ganze Körper entspannt …, gehen Sie der Entspannung nach …. Spüren Sie die Entspannung des Kopfes, des Oberkörpers und der Beine …. Nun möchte ich Sie bitten, sich eine Situation vorzustellen, in der Sie sich wohl fühlen …. Dies kann beispielsweise das Liegen in der Badewanne oder das Hören einer bestimmten Musik auf dem Bett liegend sein, aber auch der Blick auf das Meer, während Sie am Strand sitzen oder das Plätschern eines Baches auf einer Waldlichtung …. Versuchen Sie sich in die ausgewählte Situation hineinzuversetzen …, stellen Sie sich dabei alles so detailliert wie möglich vor …. Spüren Sie beispielsweise die Wärme auf der Haut oder den Wind …. hören Sie die Geräusche der Umgebung …, nehmen Sie die Farben und Formen der Umgebung wahr …, begeben Sie sich ganz in die Situation hinein …. Nun werde ich gleich rückwärts zählen von fünf bis eins …. Fünf … vier … drei … zwei … eins …. Bitte recken und strecken Sie sich jetzt …. Atmen Sie noch einmal tief ein und aus … und öffnen Sie die Augen ….
13.5
13
Zusammenfassung
4 Das Selbstwertgefühl ist ein komplexes Kon-
strukt, welches sich in vier Bereiche unterteilen lässt – Selbstvertrauen in eigene Fähigkeiten, Selbstakzeptanz, soziale Kompetenz und soziales Netzwerk. Zum Aufbau von Ressourcen wurde in diesem Kapitel vor allem auf die Steigerung von Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen fokussiert. Dazu wurden die vier Säulen des Selbstwertgefühls mit den Patienten überprüft. Im Anschluss daran wurde der Aufbau von Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen thematisiert. Übungen zum Aufbau des Selbstwertgefühls sind beispielsweise Feedbackübungen. Zudem kann auf die Erarbeitung eigener Stärken fokussiert und die Sensibilisierung für Erfolge und positive Erlebnisse im Alltag trainiert werden. 4 Im Anschluss an die Erarbeitung von positiven Aspekten der Person selbst sollten zum Aufbau der verschiedenen Selbstwertkomponenten zum einen Störfaktoren, zum anderen Ressourcen im
Alltag identifiziert und reduziert bzw. weiter aufgebaut werden. 4 Zur Identifikation von Energiefressern und Energiespendern eignen sich Übungen wie Planung eines Idealtages bzw. die Überprüfung des Energiehaushaltes unter Einbezug von Energiequellen und Energiefressern. Zum Abbau der Störquellen werden die individuellen Energiefresser detailliert besprochen und Lösungsmöglichkeiten für die einzelnen Bereiche ermittelt. Zum Ausgleich der Energiebilanz werden im Anschluss daran Wochenpläne ausgearbeitet, die zur Reduktion der Störquellen dienen und die Integration positiver, energiespendender Aktivitäten beinhalten. Vertiefend können zur Ressourcensteigerung zudem Übungen zur Erhöhung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit vermittelt werden. 4 Genussfähigkeit bezieht sich auf die Wahrnehmung alltäglicher Begebenheiten mit allen Sinnen und kann über verschiedene Übungen trainiert werden. Zudem sollten den Patienten Ge-
303 13.6 · Arbeitsblätter
nussregeln vermittelt werden, welche die Umsetzung von Genuss im Alltag erst ermöglichen. 4 Übungen zur Induktion langfristiger Entspannung sollten bei Patienten mit Essstörungen vor allem im Bereich der muskulären Entspannung angesiedelt sein und können aus dem Bereich des autogenen Trainings, der progressiven Muskelentspannung oder auch der Imaginationsverfahren kommen.
13.6
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 13.1B. Selbstwerthaus . Arbeitsblatt 13.2. Meine Stärken . Arbeitsblatt 13.3. Protokollbogen für positive Ereignisse . Arbeitsblatt 13.4. Idealtag . Arbeitsblatt 13.5. Energiehaushalt . Arbeitsblatt 13.7. Was brauche ich, um zufrieden zu sein? . Arbeitsblatt 13.8. Was ich mir alles Gutes tun kann . Arbeitsblatt 13.9. Meine Wohlfühlwoche . Arbeitsblatt 13.10. Auf welche Art und Weise kann ich genießen? . Arbeitsblatt 13.12. Sinnesspaziergang
13
304
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
13
. Arbeitsblatt 13.1B
305 13.6 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 13.2
13
306
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
13
. Arbeitsblatt 13.3
307 13.6 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 13.4
13
308
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
13
. Arbeitsblatt 13.5
309 13.6 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 13.7
13
310
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
13
. Arbeitsblatt 13.8
311 13.6 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 13.9
13
312
Kapitel 13 · Förderung von Ressourcen
13
. Arbeitsblatt 13.10
313 13.6 · Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 13.12
13
14 Rückfallprophylaxe
14.1 Einleitung
– 316
14.2 Bilanzierung – 317 14.3 Identifikation zukünftiger Risikosituationen – 319 14.4 Erarbeitung von Strategien zur Überwindung von Risikosituationen – 322 14.5 Zusammenfassung 14.6 Arbeitsblätter
– 328
– 329
316
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
> Ziel
4 Festigung des Therapieerfolges 4 Vermittlung von Strategien zur Prävention und Bewältigung von Rückfällen : Vorgehen 4 Bilanzierung des Therapieprozesses 4 Identifizieren von hilfreichen Strategien zur Bewältigung von rückfallrelevanten Auslösesituationen 4 Zusammenstellen einer »Notfallkiste« mit Maßnahmen zur Rückfallverhinderung 4 Analyse von schwierigen potenziell einen Rückfall auslösenden Situationen und möglicherweise veränderten Auslösern
14.1
14
Einleitung
Bei der Rückfallprohylaxe stehen verschiedene Schlüsselaspekte im Vordergrund, deren Beachtung dazu dienen soll, den Patienten auf mögliche Rückfälle vorzubereiten und Bewältigungsstrategien schnell verfügbar zu machen. Die Therapieschritte im Rahmen der Rückfallprophylaxe sind der Rückblick über den Therapieerfolg, die Fokussierung positiver Entwicklungsaspekte des Patienten sowie die Thematisierung von möglicherweise weiter bestehenden Vulnerabilitätsfaktoren, die Sensibilisierung von Frühwarnzeichen und als Letztes die Ermutigung zur Wiederaufnahme einer Psychotherapie bei deutlicher Verschlechterung (Garner et al. 1997). Die Rückfallprophylaxe umfasst damit zwei Ziele, nämlich zum einen die Herausarbeitung von Hinweisen auf mögliche Gefahren und zum anderen die Betonung der erreichten Erfolge, um die Selbstwirksamkeit des Patienten zu stärken. Um diese beiden Ziele zu erreichen, sollte zunächst zusammen mit dem Patienten der Therapieverlauf reflektiertt und eine Bilanzierung der erreichten Ziele vorgenommen werden. Zur Motivierung der Patienten, sich auch nach Ende der Therapie mit möglichen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, kann auch noch einmal auf die langfristig negativen Konsequenzen der Essstörung und ehemals aufrechterhaltenden Bedingungen eingegangen und die ursprüngliche Funktion der Essstörung besprochen werden (7 Kap. 6 Motivierung). Daraus ableitend sollten die neu gewonnenen Fertigkeiten überprüft und dabei auf die positive
Entwicklung des Patienten eingegangen werden z. B. hinsichtlich der Veränderung des Essverhaltens, der Etablierung eines sozialen Netzwerkes oder der Anwendung sozialer Fertigkeiten. Im nächsten Schritt sollten individuelle Vulnerabilitätsfaktoren betrachtet werden, um den Patienten für Situationen mit einem erhöhten Rückfallrisiko zu sensibilisieren. Dazu gehört z. B. eine weiter bestehende Tendenz zur Überforderung oder eine ungünstige Zeiteinteilung. Auch mögliche wiederoder neu auftretende körperliche Faktoren wie eine Gewichtszunahme oder psychische Veränderungen wie Stimmungsschwankungen sollten hierbei berücksichtigt und thematisiert werden. In diesem Zusammenhang geht es vor allem darum, Frühwarnzeichen herauszuarbeiten, um ein zeitnahes und effektives Management der möglicherweise auftretenden Probleme zu erreichen. Abschließend sollte zudem besprochen werden, unter welchen Bedingungen eine Wiederaufnahme der Therapie sinnvoll und notwendig wäre und auf welche alternativen Hilfsangebote darüber hinaus zurückgegriffen werden kann. In diesem Kapitel wird die Vorgehensweise anhand dieser fünf Schritte beispielhaft dargestellt, in der folgenden Übersicht sind sie noch einmal zusammengefasst:
Schritte der Rückfallprophylaxe 4 Rückblick auf Therapieverlauf: Vor- und Nachteile der Essstörung nochmals reflektieren, Funktion der Essstörung betonen und langfristig negative Konsequenzen des gestörten Essverhaltens herausarbeiten 4 Entwicklung des Patienten in der Therapie hervorheben: aufzeigen positiver Veränderungen, welche sich im Verlaufe der Therapie beim Patienten gezeigt haben und Betonung deren Wichtigkeit 4 Thematisierung von Vulnerabilitätsfaktoren: Überprüfung von Risikosituationen wie Konflikten am Arbeitsplatz, Gewichtszunahme, ablehnende oder wenig unterstützende Reaktion der Umwelt auf Veränderungen sowie von möglichen weiter bestehenden 6
317 14.2 · Bilanzierung
dysfunktionalen Verhaltensweisen wie eine dysfunktionale Stressbewältigung und von sonstigen Risikofaktoren wie emotionale Instabilität, depressive Symptome etc. Des weiteren Thematisierung eines erneuten Diätierens oder möglichen Gewichtsverlusts als Beginn einer Abwärtsspirale 4 Frühanzeichen herausarbeiten: Als Frühwarnzeichen gelten z. B. Stimmungsveränderungen, Reizbarkeit, Gefühle von Überlastung etc., diese sollten mit den Patienten besprochen werden 4 Wiederaufnahme der Therapie: Herausarbeitung von Kriterien für eine Wiederaufnahme der Therapie. Mit Patienten mögliche dysfunktionale Bewertungen einer erneuten Therapie wie Versagensgefühle oder Scham thematisieren.
14.2
Bilanzierung
Die Bilanzierung dient vor allem der Betonung neu gewonnener Fähigkeiten und zielt auf die Stärkung der Selbstwirksamkeit der Patienten ab.
Therapeut: Patient: Therapeut: Patient: Therapeut: Patient:
6
14
Übungen: 4 Zielerreichung
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Bilanzierung (. Arbeitsblatt 14.1)
Um die Patienten bei einer Bilanzierung zu unterstützen, sollte im ersten Schritt . Arbeitsblatt 7.6 »Acht Stufen zur Genesung« (7 Kap. 7) auf die Erreichung der zu Therapiebeginn festgelegten Ziele hin überprüft werden. Ergänzend dazu sollte den Patienten . Arbeitsblatt 14.1 »Bilanzierung« ausgegeben werden, in welches sie die erreichten Ziele eintragen können. Sinnvoll ist es, diese Übung in Kleingruppen durchzuführen, um die Patienten dazu anzuleiten, eigene Erfolge für sich selbst zu identifizieren und hierbei die Gruppenteilnehmer als Unterstützung nutzen zu können. . Arbeitsblatt 14.1 enthält bereits eine Unterteilung in mögliche Problembereiche wie Essverhalten, Selbstwertgefühl, Beziehung/Freunde und Arbeitsplatz. Durch die Vorstrukturierung des Bilanzierungsbogens werden die Patienten dazu angehalten, für den jeweiligen Bereich eingetretene Veränderungen zu überlegen. Dies ist wichtig, da Patienten manchmal Schwierigkeiten haben, Veränderungen in Bereichen außerhalb des gestörten Essverhaltens zu beschreiben. Der folgende Dialog könnte im Kontext der Bilanzierung des bisherigen Therapieerfolges geführt werden:
Wenn Sie sich anschauen, was sich im Verlauf der Therapie alles verändert hat, was fällt Ihnen da ein? Nun ja, ich habe mein Essverhalten grundlegend geändert, erbreche nicht mehr und komme auch mit der Gewichtszunahme von 6 kg einigermaßen klar. Was glauben Sie, was Ihnen dabei am meisten geholfen hat? Mein Wille, etwas zu verändern, die Gespräche. Ich weiß nicht so recht. Erinnern Sie sich an den Anfang der Sitzungen, als wir die Funktion der Essstörung besprochen haben? Wobei hat Ihnen denn die Essstörung »geholfen«? Ja, ich erinnere mich. Wir haben besprochen, dass ich durch meine eigenen hohen Ansprüche oft sehr angespannt war und nicht richtig abschalten konnte und dass das Essen mir die notwendige Entspannung verschafft hat.
318
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
Therapeut: Patient:
Therapeut:
Ja, genau. Wie bekommen Sie denn jetzt Ihre Entspannung? Schließlich haben Sie keine Essanfälle mehr und erbrechen auch nicht mehr. Ich habe ja die Stundenzahl der Kurse, die ich an der Volkshochschule gebe, reduziert, so dass ich insgesamt nicht mehr so belastet bin. Außerdem plane ich meinen Tag nun immer so, dass schöne Sachen (z. B. in Ruhe einen Kaffee mit Freunden trinken) Platz haben. Auf die Kurse, die ich schon oft an der Volkshochschule gehalten habe, bereite ich mich jetzt weniger intensiv vor. Vor allem helfen mir die Spaziergänge mit meinem Hund. Die Bewegung ohne den Druck des Kalorienverbrennens tut gut, und ich kann mich beim Laufen auf die schöne Umgebung konzentrieren. Das hilft sehr gut. Sie haben also die Symptome der Essstörung gut bewältigt und außerdem positive und entspannende Tätigkeiten in den Alltag eingebaut.
Finden die Patienten selbst nur wenig Positives, das sich durch die Therapie verändert hat, so kann der Therapeut moderierend bei der Besprechung eingreifen und zurückmelden, was ihm aufgefallen ist. Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass der Patient nicht ausreichend Fortschritte in der Therapie gemacht hat. Wie in 7 Abschn. 14.4 beschrieben, sollte dann eine mögliche Fortsetzung oder Wieder-
Therapeut: Patient:
Therapeut:
14
Patient:
Therapeut:
Patient:
aufnahme der Therapie geprüft werden. Findet die Besprechung in der Gruppe statt, so können die anderen Gruppenteilnehmer um ein Feedback hinsichtlich positiver Veränderungen des jeweiligen Patienten gebeten werden. Es kann folgender Dialog entstehen, um die positive Entwicklung in der Therapie nochmals hervorzuheben:
Sie haben eben gesagt, dass Sie die Anzahl Ihrer Volkshochschulkurse reduziert haben und auch manchmal zweimal die gleichen Kurse anbieten. Wie kam das denn? Ich habe mir klargemacht, dass mein Perfektionismus niemandem nutzt und mir nur schadet. Der Druck, den ich mir selbst gemacht habe, hat dazu beigetragen, dass ich immer mit mir unzufrieden war und auch jede Kritik immer auf mich bezogen habe. Ich stelle es mir ganz schön schwierig vor, eigene Ansprüche zu reduzieren. Sie hatten ja auch einen Grund, warum Ihre Ansprüche so hoch geworden sind, oder? Ja, ich habe mich nur über Leistung definiert, und wenn ich die Leistung nicht erbracht habe, dachte ich, dass ich kein liebenswerter Mensch bin. Aber ich habe Freunde gefunden und gemerkt, dass die mich mögen, auch wenn ich nicht alles supertoll mache. Im Gegenteil, sie haben gesagt, dass es ihnen eher unheimlich ist, wenn man alles so perfekt macht und nie Schwächen zeigt. Sie haben also festgestellt, dass Sie trotz Ihrer Schwächen gemocht werden bzw. gemocht werden wie Sie sind. Das ist ein sehr wichtiger Schritt, der Ihnen sicherlich helfen wird, ihre positiven Veränderungen zu stabilisieren. Ja, das glaube ich auch, denn wenn es mir jetzt schlecht geht, kann ich ja zu meinen Freunden gehen und weiß, dass ich da gut aufgehoben bin. Früher habe ich mich dann eingeschlossen und stundenlang gegessen und gekotzt. Das brauche ich jetzt nicht mehr.
319 14.3 · Identifikation zukünftiger Risikosituationen
14.3
Identifikation zukünftiger Risikosituationen
Im Anschluss an die Herausarbeitung der im Rahmen der Therapie erzielten positiven Veränderungen wird mit den Patienten reflektiert, welche Situationen bzw. Problembereiche oder Restsymptome für sie weiterhin schwierig sind bzw. welche mit einem erhöhten Rückfallrisiko einhergehen.
Übungen: 4 Sammeln von unvorhersehbaren und vorhersehbaren allgemeinen und individuellen Risikosituationen
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Schwierige Situationen (. Arbeitsblatt 14.2/ 14.2B)
Zur Sensibilisierung für mögliche Risikosituationen kann den Patienten zunächst . Arbeitsblatt 14.2 »Schwierige Situationen« (7 CD-ROM) beispielsweise als Vorbereitung der nächsten Sitzung als Hausaufgabe mitgegeben werden. Die Patienten sollen auf
Therapeut: Patientin:
Therapeut: Patientin: Therapeut: Patientin:
Therapeut: Patientin:
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diesem Blatt notieren, welche allgemeinen Situationen, wie Einkaufen, allein zu Hause sein etc., oder individuelle Problemsituationen wie etwa kritische Bemerkungen ihres Partners zu Essverhalten oder Figur ihnen weiter schwierig erscheinen könnten. Falls der Einsatz als Hausaufgabe aus organisatorischen Gründen nicht möglich ist, sollte das Blatt in der Sitzung auch ohne Vorbereitung besprochen werden. Die Patienten sollen durch das Arbeitsblatt angeleitet verschiedene Typen von Risikosituationen zusammenfassen. Diese sollten gesammelt und am Flipchart angeschrieben werden, um daraufhin für die verschiedenen potenziellen Rückfallsituationen mögliche Lösungen überlegen zu können. Sinnvoll ist hier eine Unterscheidung in vorhersehbare schwierige Situationen, wie z. B. eine Prüfungsphase oder Familientreffen, unvorhersehbare Ereignisse, wie Konflikte mit dem Partner, beruflicher Stress durch Erhöhung des Arbeitsvolumens etc., und mögliche bekannte essstörungsspezifische Risikosituationen, wie eine Gewichtszu- oder -abnahme, vorzunehmen (vgl. auch Vocks u. Legenbauer 2005). Ziel ist es, die Patienten für schwierige Situationen zu sensibilisieren und sie dadurch zu befähigen, im Vorhinein schon Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Folgender Dialog zeigt, wie dabei vorgegangen werden kann:
Wenn Sie jetzt die letzten Wochen und Monate »Revue passieren« lassen, was gab es denn für Momente, die es Ihnen schwer gemacht haben, nicht wieder einen Essanfall zu haben? Als im Fitnesstudio eine andere Trainerin ausfiel und alle davon ausgingen, dass ich automatisch ihre Kurse vertrete. Das hat mich schon sehr geärgert, und es war sehr schwierig, da gegen all diese Erwartungen anzugehen und »nein« zu sagen. Aber Sie haben es geschafft, nein zu sagen und auch keinen Rückfall gehabt. Wie haben Sie das denn gemacht? Ich habe viel mit meinem Mann und Freunden darüber gesprochen, was ich machen soll. Das war gut, da ich dadurch das Gefühl hatte, nicht alleine zu sein. Trotzdem fiel es Ihnen schwer. Warum? Ich kann immer noch nicht so gut damit umgehen, andere auch mal zu enttäuschen, auch wenn ich weiß, dass ich das Recht dazu habe und mich die anderen deshalb auch nicht weniger mögen. Aber das Gefühl ist eben doch erstmal da. Das ist eine wichtige Beobachtung. Es fällt Ihnen immer noch schwer, nein zu sagen aus Angst vor Ablehnung, und das könnte dann zu einem Rückfall führen. Ich weiß nicht, im Grunde ist mir ja klar, was ich tun müsste, aber das ist sicher etwas, worauf ich aufpassen muss und es mit anderen besprechen sollte.
320
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
14
. Arbeitsblatt 14.2B. Schwierige Situationen
321 14.3 · Identifikation zukünftiger Risikosituationen
Bei der Besprechung in der Gruppe sollten im Anschluss an die Sammlung der verschiedenen Risikosituationen erste Überlegungen zur Identifikation konkreter Lösungsansätze für diese potenziellen Schwierigkeiten vorgenommen werden. Die Teilnehmer werden dabei dazu angeleitet, individuelle Lösungen, die für sie persönlich sinnvoll erscheinen, auf dem Arbeitsblatt »Schwierige Situationen« zu ergänzen (Beispiel . Arbeitsblatt 14.2B). Das Ziel dieser Übung liegt vor allem in der Identifikation möglicher Risikosituationen, bietet aber gleichzeitig eine Überleitung zum nächsten Schritt, der Erarbeitung von möglichen Hilfsmaßnahmen (7 Abschn. 14.4.).
Therapeut:
Patientin:
Therapeut:
Patientin: Therapeut: Patientin:
Patientin: Therapeut: Patientin: 6
Ein weiterer wichtiger Punkt im Rahmen der Interventionen zur Rückfallprophylaxe ist die Besprechung des bisherigen und möglicherweise weiteren Gewichtsverlaufes. Gerade dieses sensible Thema sollte gesondert besprochen werden, um eine mögliche Gewichtsabnahme als Reaktion auf negative Kommentare oder stärkere Belastungen zu verhindern bzw. die Angst, die mit einer weiteren Gewichtszunahme einhergeht, kanalisieren zu können. Vor allem sollten die aus einer möglichen Gewichtszunahme folgenden Konsequenzen kritisch hinterfragt werden. In nachfolgendem Dialog wird auf eine mögliche Gewichtsabnahme eingegangen:
Sie haben gesagt, dass Sie sich mit ihrem jetzigen Gewicht wohl fühlen, obwohl Sie ca. 6 kg zugenommen haben. Was wäre denn, wenn Sie wieder abnehmen würden? Würde dann bei Ihnen wieder der Wunsch auftreten, dieses niedrige Gewicht halten zu wollen ? Ich glaube eigentlich nicht. Die Vorstellung ist zwar verlockend, aber ich weiß, wenn ich wieder mit dem gezügelten Essen anfange, dass ich dann in eine Abwärtsspirale rutschen könnte. Wahrscheinlich nehme ich auch nicht ohne Grund ab, ich müsste mir dann wohl überlegen, was gerade los ist. Ja. Das Gewicht bzw. das Essverhalten sind so was wie Ihre »Achilles-Ferse«. Wenn Sie an Gewicht abnehmen, könnte das ein Zeichen sein, dass Sie sich wieder mit Arbeit überlasten oder aber sich aufgestauter Ärger so bemerkbar macht. Wie könnten Sie denn herausfinden, was los ist? Ich könnte ja wieder Essprotokolle schreiben, damit ich sehe, von welchen Situationen oder Gefühlen mein Essverhalten beeinflusst wird. Ja, in einer solchen Situation Essprotokolle zu führen, finde ich sehr gut. Ich glaube, das würde mir helfen, einen Überblick über mein Essverhalten zu bekommen und daran könnte ich dann auch sehen, welche Ursachen das veränderte Essverhalten hat.
Die Veränderung des Gewichts kann als Hinweis auf Veränderungen bzw. Schwierigkeiten im Alltag, die den Teilnehmern möglicherweise nicht präsent sind,
Therapeut:
14
dienen. Dies kann mit den Teilnehmern wie folgt besprochen werden:
Wir haben ja eben über die Gewichtsabnahme als Warnzeichen dafür, dass etwas wieder »im Argen« sein könnte, gesprochen. Gäbe es denn noch andere Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt ? Ja, zum Beispiel, dass ich wieder sehr viel mehr über Essen nachdenke. Haben Sie denn auch eine Idee, was die Ursache dafür sein könnte, dass etwas im Argen liegt? Ich könnte mir vorstellen, dass es ein Zeichen für Stress und Überlastung sein könnte.
322
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
Therapeut:
Patientin: Therapeut: Patientin:
Okay, nehmen wir an, das stimmt. Das würde bedeuten, dass Sie zuviel arbeiten und vielleicht zu wenig Pausen machen. Woran würden Sie beispielsweise merken, dass das Problem in zu wenigen Ruhepausen liegt? Naja, das ist schwierig zu sagen, z. B. wenn ich abends immer kaputt bin oder mein Buch seit Wochen ungelesen daliegt, dann könnte das ja ein Anzeichen für zuviel Stress sein. Ja, das könnte ein Hinweis sein. Könnten Ihnen das auch andere Leute zurückmelden? Ich könnte z. B. meinen Mann bitten, mir zu sagen, wenn ihm was auffällt, wenn ich z. B. häufiger gereizt bin.
Sind nun die verschiedenen Risikosituationen allgemeinen und individuellen Typs zusammengetragen und auf die Kategorien »vorhersehbar« und »unvorhersehbar« verteilt, wird mit der Erarbeitung von Bewältigungsstrategien begonnnen.
14.4
14
Erarbeitung g von Strategien zur Überwindung von Risikosituationen
Um Strategien zur Bewältigung neu auftretender oder bereits bekannter Problemsituationen zu erarbeiten, kann auf die im Verlauf der Therapie identifizierten und aufgebauten Strategien und Fertigkeiten (7 Kap. 8 zur Verhinderung von Heißhungerattacken, 7 Kap. 10 zur Affektregulation und 7 Kap. 11 zum Aufbau sozialer Kompetenzen) zurückgegriffen werden. Dazu werden in diesem Abschnitt Übungen zur Durchführung von Analysen der Rückfallsituationen als auch zur Sammlung von Strategien durchgeführt.
Übungen: 4 Notfallkiste packen 4 Allgemeine Strategien zur Rückfallverhinderung besprechen 4 Rückfallprotokollierung 4 Zwischenbilanzierung festlegen
Arbeitsmaterialien: 4 Flipchart, Stifte
Arbeitsblätter: 4 Rückfallprotokoll (. Arbeitsblatt 14.3/14.3B) 4 Notfallkiste (. Arbeitsblatt 14.4/14.4B) 4 Zukunftsplanung . (Arbeitsblatt 14.4/14.5B)
Als Erstes sollten mit den Patienten anhand der gesammelten Rückfallsituationen mögliche Alternativen zum Problemverhalten (z. B. Essattacken) identifiziert werden. Dazu kann auf bislang erfolgreiche Strategien verwiesen werden. Die möglichen Bewältigungsstrategien sollten zunächst am Flipchart der jeweiligen Risikosituation zugeordnet werden. Dabei können als Hilfen zur Beibehaltung eines ausgewogenen Essverhaltens und der Verhinderung von Essanfällen in allgemein stressigen Zeiten oder bei einer auftretenden Gewichtszunahme Hinweise darauf gegeben werden, dass es sinnvoll ist, Mahlzeiten wieder genauer zu planen. In diesen Bereich gehört auch die Empfehlung der Durchführung strukturierter Esstage, um Heißhunger bzw. lange Hungerphasen und damit auch Essattacken zu vermeiden (3 Mahlzeiten + 2 Snacks zu geplanten Zeitpunkten, . Kap. 8). Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn es sich um eine stationäre Therapie handelt, bei der der Transfer des Essverhaltens in das heimatliche Umfeld erst ansteht. Dem Patienten kann zudem empfohlen werden, das Essen zu protokollieren, wenn er merkt, dass sich das Essverhalten verschlechtert oder er an Gewicht abnimmt. Eine weitere Hilfe für den Umgang mit Nahrungsmitteln, wenn das Essverhalten bereits wieder deutlich gestört ist, kann die Beschränkung der Essensvorräte sein. Zudem sollte im Fall einer bestehenden Verschlechterung wieder vermehrt zu Stimuluskontrolltechniken gegriffen werden. So kann dem Patienten in solchen Fällen empfohlen werden, Orte mit Nahrungsvorräten stärker zu vermeiden, etwa nicht in der Küche zu lernen. Auch ein zu häufiges Wiegen (nicht öfter als einmal pro Woche) soll vermieden werden, um eine gedankliche Fixierung auf das Gewicht zu verhindern. Gedanken, die zu Heißhunger führen können wie »Das ist
323 14.4 · Erarbeitung von Strategien zur Überwindung von Risikosituationen
so lecker, das kann ich nicht liegen lassen« sollen anhand der kognitiven Techniken auf ihren Realitätsgehalt geprüft und umformuliert werden. Zudem sollten die erlernten Regeln zum Genuss bei der Nahrungsaufnahme eingehalten werden und mit Ruhe und Genuss gegessen werden. Sollten dennoch erneute bzw. weitere Essattacken auftreten, ist es sinnvoll die Empfehlung zu geben, nach den Auslösern für die Rückfälle zu suchen. Dazu kann den Patienten . Arbeitsblatt 14.3 (7 CD-ROM) »Rückfallprotokoll« mitgegeben werden. Bestenfalls wird dieses in den vier letzten Therapiestunden bereits eingeführt, so dass der Therapeut die Handhabung erklären kann und in diesem Zeitraum auftretende Rückfälle in den letzten Therapiesitzungen besprochen werden können. Das Blatt enthält eine Spalte, in welche die situativen Gegebenheiten eingetragen werden können. Hierbei kann der Patient seine Hypothesen über mögliche Auslöser oder auch Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit der Essattacke aufschreiben. Zuletzt sollte er bereits eigenständig im Arbeitsblatt eintragen, wie er stattdessen mit der Situation hätte umgehen können (Beispiel . Arbeitsblatt 14.3B). Um dies herauszufinden, können die Patienten auf ihre bisherigen Fortschritte verwiesen werden. Beispielsweise könnten sie ihre Fortschritte in den von ihnen definierten Zielbereichen überprüfen und versuchen, herauszufinden, welche Strategie genau hilfreich für sie war. Rückfälle sollten entpathologisiert, gleichzeitig sollte aber auch vor einer möglichen Bagatellisierung gewarnt werden. Patienten sollten eine wiederauftretende Essstörungssymptomatik als Zeichen dafür betrachten, dass etwas nicht in Ordnung ist und sich mit möglichen Gründen und Auslösern auseinandersetzen. Zur allgemeinen Vorbeugung von Rückfällen können konkrete Vorschläge gegeben werden. Diese zielen vor allem auf den langfristigen Abbau des Grundanspannungsniveaus ab (7 Kap. 13) und beinhalten Techniken aus diesen Bereichen. So sollten Patienten versuchen, auch im Alltag Ruhephasen einzuplanen, mögliche Risikosituationen im Voraus zu erkennen und Bewältigungsstrategien bereits im Vorhinein zu planen. Bevor das . Arbeitsblatt 14.4 »Notfallkiste« ausgefüllt wird, sollten zudem weitere Bewältigungsmaßnahmen für allgemeine bzw. individuelle Kon-
14
flikt- und Problemsituationen besprochen werden. Zu diesen Situationen zählen u. a. Wünsche und Bedürfnisse in der Partnerschaft zu äußern oder, wenn es der Situation angemessen ist, diese auch im Berufsleben direkt anzusprechen, z. B. der Kollegin zu sagen, dass Sie es nicht mögen, wenn den ganzen Tag das Fenster offen steht. Als sinnvoll hat sich zudem erwiesen, nach Abschluss der Therapie eine Zeit lang abends den Tag Revue passieren zu lassen und zu notieren, ob es schwierige Situationen gab und wie diese gelöst wurden bzw. wie diese gelöst werden könnten. Dabei sollte vor allem auf die vermittelten Problemlösetechniken hingewiesen werden, um die Patienten anzuhalten, bei Ihren Überlegungen zur Problemlösung immer konkrete Handlungen bzw. Vorgehensweisen zu planen, um Schwierigkeiten auszuräumen (7 Kap. 11). Dieses Vorgehen erleichtert die Durchführung der geplanten Lösungsversuche und hilft zudem, bereits kleine Erfolge anzuerkennen. Im Anschluss an die Besprechung hilfreicher Bewältigungsmaßnahmen sollten die Patienten jeder für sich . Arbeitsblatt 14.4 »Notfallkiste« als »Hitliste« für mögliche kurzfristige Alternativen für Essanfälle in schwierigen Situationen ausfüllen. Mit den Patienten wird nun abschließend ihre individuelle »Notfallkiste« besprochen (Beispiel . Arbeitsblatt 14.4B). Wichtig ist hier, noch einmal auf die tatsächliche Verfügbarkeit der einzelnen Hilfsmaßnahmen bzw. deren Durchführbarkeit einzugehen. Zur Etablierung bzw. Stabilisierung der langfristigen Maßnahmen werden zudem mit den Patienten drei weitere Bilanzierungszeiträume (4 Wochen, bzw. 3 und 6 Monate) vereinbart, zu welchen die Teilnehmer weitere, konkrete Ziele festlegen sollten. Die Patienten sollten zudem darüber aufgeklärt werden, dass dies zu einer besseren Überprüfung der Fortschritte dient. Des Weiteren sollen sie in diesem Rahmen ermutigt werden, sich bezüglich ihrer vorhersehbaren individuellen Risikosituationen (wie z. B. der Neigung zu Perfektionismus, die zu einer Überlastung im Berufsleben führen kann), gezielt langfristige Zielverhaltensweisen (wie beispielsweise genügend Ruhepausen einzulegen), vorzunehmen. Zur genauen Festlegung von Zielen kann den Patienten . Arbeitsblatt 14.5 »Zukunftsplanung« ausgeteilt werden. Dieses beinhaltet drei Felder, in welche Patienten Ziele für ihre weitere Stabilisierung in den oben benannten Zeiträumen eintragen sollen
324
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
14
. Arbeitsblatt 14.3B. Rückfallprotokoll
325 14.4 · Erarbeitung von Strategien zur Überwindung von Risikosituationen
. Arbeitsblatt 14.4B. Notfallkiste
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326
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
und konkrete Vorgehensweisen in der Erreichung dieser Ziele beschreiben können. Diese Ziele werden mit den Patienten dann in der Gruppe besprochen, um auf Umsetzbarkeit zu überprüfen und mögliche überhöhte Ansprüche zu relativieren, damit keine Frustrationen auftreten (Beispiel . Arbeitsblatt 14.5B), falls die Ziele nicht erreicht werden.
In der folgenden Übersicht sind verschiedene Maßnahmen zur Überwindung von Risiko-Situationen getrennt nach allgemeinen essensbezogenen Situationen und möglichen individuellen Konflikt- oder Belastungssituationen aufgelistet (vgl. . Arbeitsblatt 14.6 CD-ROM):
Strategien zur Überwindung von Risikosituationen
14
4 Hilfen zur Beibehaltung eines sinnvollen Essverhaltens – Frühzeitig überlegen, was Sie wann essen. – Strukturierten Esstag im Voraus planen, um lange Hungerphasen bzw. Heißhunger zu vermeiden (3 Mahlzeiten + 2 Snacks zu geplanten Zeitpunkten). – Protokollieren Sie Ihr Essen, wenn Sie merken, dass sich das Essverhalten wieder verschlechtert, oder Sie an Gewicht abgenommen haben. – Wenn Sie merken, dass Sie mit Essensvorräten nicht gut umgehen können, beschränken Sie diese zunächst, um das Auftreten von Heißhungeranfällen zu erschweren. – Versuchen Sie, mit Ruhe und Genuss zu essen. – Gedanken, die zu Heißhunger führen können wie »Das ist so lecker, das kann ich nicht liegen lassen« auf Realitätsgehalt prüfen und umformulieren. – Vermeiden Sie Orte mit Nahrungsvorräten (z. B. nicht in der Küche lernen). – Vermeiden Sie ein zu häufiges Wiegen (nicht öfter als einmal pro Woche), um eine gedankliche Fixierung auf das Gewicht zu verhindern. – Sollten Sie eine erneute Essattacke haben, suchen Sie nach dem Auslöser für diese und protokollieren Sie Gedanken und Gefühle, die der Essattacke vorausgingen. Überlegen Sie sich, wie Sie stattdessen mit der kritischen Situation hätten umgehen können. – Bewerten Sie Rückfälle nicht über. Ein einmaliger Rückfall heißt nicht, dass Sie nun wieder vollends in die Essstörungssymptomatik hineingerutscht sind. Auf der anderen Seite sollten Rückfälle von Ihnen allerdings auch nicht heruntergespielt werden. Sehen Sie diesen Rückfall als ein Zeichen dafür an, dass etwas nicht stimmt. 4 Hilfen zur allgemeinen Vorbeugung von Rückfällen: – Versuchen Sie, im Alltag genügend Ruhephasen einzuplanen. – Versuchen Sie, mögliche Risikosituationen im Voraus zu erkennen und Bewältigungsstrategien zu planen. – Sehen Sie Ihre Essstörung als persönliche Achilles-Ferse, die Ihnen anzeigt, wenn etwas nicht stimmt: Häufige Gedanken über Figur und Gewicht können ein Hinweis auf mögliche bislang unbemerkte Schwierigkeiten in Ihrem Leben (z. B. in der Partnerschaft, am Arbeitsplatz oder steigende Alltagsbelastung) sein. – Nehmen Sie sich nicht zuviel auf einmal vor. – Notieren Sie sich Ihre Fortschritte in den von Ihnen definierten Zielbereichen und versuchen Sie herauszufinden, was genau hilfreich für Sie war, um erfolgreiche Strategie schneller zur Verfügung zu haben. 4 Hilfen zur Bewältigung von individuellen Konflikt- und Belastungssituationen: – Versuchen Sie, wenn es in der jeweiligen Situation angemessen ist, direkt zu sagen, was Sie fühlen und wollen. 6
327 14.4 · Erarbeitung von Strategien zur Überwindung von Risikosituationen
. Arbeitsblatt 14.5B. Zukunftsplanung
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Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
–
–
Nehmen Sie sich jeden Abend Zeit und denken Sie über Ihren Tag nach. Notieren Sie sich, wenn es schwierige Situationen gab und überlegen Sie eine Lösung. Beachten Sie auch die Dinge, die Ihnen gut gelungen sind. Versuchen Sie, bei Ihren Überlegungen zur Lösung von Problemsituationen immer konkrete Handlungen bzw. Vorgehensweisen zu planen. Das erleichtert das Vorgehen und hilft zudem, bereits kleine Erfolge zu erkennen.
Abschließend sollte mit den Patienten konkret darauf hingearbeitet werden, wann eine Wiederauf-
Therapeut: Patientin:
Therapeut: Patientin: Therapeut: Patientin: Therapeut: Patientin: Therapeut: Patientin: Therapeut: Patientin:
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Was wäre denn, wenn Sie nun tatsächlich doch einen Rückfall hätten? Das wäre zwar nicht schön, aber ich würde versuchen, mir zu sagen, dass es wohl einen Grund hatte und ich mir gut überlegen muss, was die Ursache dafür war, damit ich es das nächste Mal früh genug merke und rechtzeitig gegensteuern kann. Es ist sehr wichtig, dass Sie, wenn Sie merken, dass es alleine doch nicht mehr geht, sich auch wieder Hilfe zu suchen. Würden Sie das tun? Ich würde schon sehr an mir zweifeln, wenn ich es nicht hinbekommen würde, nachdem die Zeit davor alles gut geklappt hat. Was meinen Sie damit? Ich hätte schon Schwierigkeiten, mich wieder zu melden. Warum? Ich hätte schon das Gefühl, versagt zu haben und Sie zu enttäuschen. Hilft Ihnen dieser Gedanke, sich besser zu fühlen und die Probleme in den Griff zu bekommen? Nein, sicher nicht. Und ich weiß auch, dass ich mich für meine Fehler und Schwächen nicht schämen brauche. Also, ich würde Sie wohl schon anrufen. Wann würden Sie das denn tun wollen? Wenn ich merke, dass Symptome der Essstörung wieder auftreten, sich beispielsweise wieder Essattacken einstellen und ich nicht mehr herausfinden kann, warum.
An dieser Stelle kann noch auf weitere Hilfsangebote wie Beratungsstellen, Seelsorgetelefone oder auch Selbsthilfegruppen verwiesen werden, die neben dem Hausarzt und dem Psychotherapeuten erste Anlaufstellen sein können. Im Anhang des Buches findet sich hierfür eine Liste mit Beratungsstellen für Patienten mit Essstörungen.
14.5
nahme der Therapie sinnvoll sein könnte. Dazu ist im Folgenden ein Beispieldialog ausgestellt:
Zusammenfassung
4 Interventionen zur Rückfallprophylaxe beinhal-
ten neben der Sensibilisierung für Risikosituationen und der Erarbeitung von Strategien für
deren Bewältigung auch die Bilanzierung des Therapieverlaufs und die Herausarbeitung der individuellen Erfolge zur Stärkung der Selbstwirksamkeit des Patienten. 4 Risikosituationen können dabei in vorhersehbare und unvorhersehbare Ereignisse sowie in essensbezogene und allgemeine Belastungssituationen unterteilt werden. Zur Identifikation von Bewältigungsstrategien sollte diese Unterteilung mit den Patienten besprochen und Beispiele für die verschiedenen Situationstypen erarbeitet werden. 4 Abschließend sollten mit den Patienten mögliche Schwierigkeiten in der Umsetzung und wei-
329 14.6 · Arbeitsblätter
tere Ziele für die Stabilisierung besprochen werden. Auch können Bilanzierungszeiträume für den Zeitraum nach 4 Wochen, 3 bzw. 6 Monaten geplant werden. 4 Zuletzt sollte besprochen werden, an wen sich Patienten bei einer andauernden Verschlechterung wenden können und wann eine Wiederaufnahme der Therapie sinnvoll und möglich ist.
14.6
Arbeitsblätter
. Arbeitsblatt 14.1. Bilanzierung . Arbeitsblatt 14.4. Notfallkiste
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330
Kapitel 14 · Rückfallprophylaxe
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. Arbeitsblatt 14.1
331 14.2 · Bilanzierung
. Arbeitsblatt 14.4
14
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Anhang A
Beschreibung des Fragebogens zur Erfassung essstörungspezifischer dysfunktionaler Kognitionen (FEDK) – 348 Kopiervorlage für den FEDK – 350
348
Anhang A
349 Anhang A
Testbeschreibung: g – 28 Items zur Erfassung dysfunktionaler Kognitionen bei Esstörungen in den Bereichen: Körper und Selbstwert, Restriktion und Diätregeln, Essen und Kontrollverlust Anwendung: g Version 1: – Erfassung von Gedanken bei Essstörungen sowie Feststellung des Therapieerfolges bei Esstörungen über Prä-Post-Vergleiche durch Bezug auf den Zeitraum des letzen Monats Version 2: – Situationsbezogene Erfassung von Gedanken durch Bezug auf den Zeitraum der letzten Minuten (für Forschungszwecke geeignet) Testdurchführung g und Testdauer: – Papier und Bleistift – 4-stufiges Antwortformat der Items in Form einer Ratingskala: 0 = gar nicht 1 = manchmal 2 = oft 3 = ständig – ca. 10 Minuten Testinstruktion: Version 1: – „Dieser Fragebogen erfasst verschiedene Gedanken. Bitte lesen Sie sich die folgenden Gedanken durch und kreuzen Sie an, wie häufig (0 = gar nicht, 1 = manchmal, 2 = oft, 3 = ständig) diese Gedanken im letzten Monat bei Ihnen aufgetreten sind.“ Version 2: – „Dieser Fragebogen erfasst verschiedene Gedanken. Bitte lesen Sie sich die folgenden Gedanken durch und kreuzen Sie an, wie häufig (0 = gar nicht, 1 = manchmal, 2 = oft, 3 = ständig) diese Gedanken in den letzten Minuten bei Ihnen aufgetreten sind.“ Testauswertung: g – Für die drei Hauptfaktoren werden durch Addition der Itemwerte pro Skala Summenwerte gebildet. Darüber hinaus ist die Bildung eines Skalen-Mittelwertes sinnvoll, indem man den Summenwert durch die Anzahl der Items der entsprechenden Skala dividiert. – Hohe Werte stehen für häufiges Auftreten dysfunktionaler essstörungsbezogener Kognitionen im durch die Instruktion vorgegebenen Zeitraum.
FEDK; Legenbauer, Vocks u. Schütt, unveröffentlichtes Manuskript
350
Anhang A
Anhang B
Beratungsstellen für Essstörungen – 352 Internetlinks für weitere Informationen zur Beratung und Behandlung – 357
352
Anhang B
Beratungsstellen für Essstörungen Dick & Dünn e.V. Beratungszentrum bei Ess-Störungen Innsbrucker Str. 25 10825 Berlin Tel.: 030/8 54 49 94 Fax: 030/8 54 84 42
[email protected] www.dick-und-duenn-berlin.de Hamburger Zentrum für Essstörungstherapie e.V. Bundesstr. 14 20146 Hamburg Tel.: 040/4 50 51 21 Fax: 040/4 50 51 22 oder auch Beate Kube Xaver-Prestel-Str. 12 87474 Buchenberg Tel.: 08 37 8/77 86
[email protected] Die Brücke Essstörungstherapie Neue Grosse Bergstr. 20 22767 Hamburg Tel.: 040/4 50 44 83 Fax: 040/38 61 30 36 Offene Sprechstunde: Di 13:00–14:30 Telefon: Do 12:00–13:00
[email protected] www.essstoerungs-therapie.de Die Boje e.V. Fuhlsbüttler Str. 135 22305 Hamburg Tel.: 040/7 31 49 49 Fax: 040/7 31 49 48
[email protected] www.dieboje.de
Waage e.V. Kontakt, Information und Beratung für Mädchen und Frauen mit Essstörungen Eimsbüttler Str. 53 22769 Hamburg Tel.: 040/4 91 49 41 Telefonzeiten: Mo 10:00–13:00 und Do 15:00–17:00
[email protected] www.waage-hh.de amidon Hilfe für Mädchen und junge Frauen mit Ess-Störungen gGmbH Lindenstrasse 20 29525 Uelzen Tel.: 0581/97124-0 Fax: 0581/97124-10
[email protected] www.amidon-uelzen.de Frauenberatungsstelle Frauentreff Ess-o-Ess Kurt-Schumacher Platz 5 24109 Kiel Tel.: 04 31/52 42 41 Fax: 04 31/52 69 07
[email protected] www.frauentreff-essoess.de Kabera e.V. Beratung und Behandlung bei Essstörungen Goethestraße 31 34119 Kassel Tel.: 05 61/7 01 33 10 Fax: 05 61/7 01 33 22
[email protected] www.kabera.de Balance Beratung und Therapie bei EssStörungen e.V. Waldschmidtstr. 11 60316 Frankfurt/Main Tel.: 069/49 08 63 30 Tel.: 069/49 08 63 31
[email protected] www.balance-bei-essstoerungen-frankfurt.de
353 Anhang B
Lobby für Mädchen – Mädchenhaus Köln e.V. Kaesenstrasse 18 50677 Köln Tel.: 0221/329227 Fax: 0221/328550
[email protected] www.maedchenhauskoeln.de Frankfurter Zentrum für Essstörungen gGmbH Hansaallee 18 60322 Frankfurt/Main Tel.: 069/55 01 76 Fax: 069/5 96 17 23
[email protected] www.essstoerungen-frankfurt.de www.essfrust.de Cinderella e.V Beratungsstelle für Essstörungen Aktionskreis Ess- und Magersucht Westendstr. 35 80339 München Tel.: 089/5 02 12 12 Fax: 089/5 02 25 75 Telefonische Sprechzeiten: Mo–Do 11:00–13:00 und 14:00–18:00
[email protected] www.cinderella-rat-bei-essstoerungen.de ANAD pathways Pilotystraße 6 80538 München Tel.: 089 / 21 99 73 0 Fax: 089/21 99 73 23
[email protected] www.anad-pathways.de Hungrig-Online e.V. Postfach 1905 91009 Erlangen Tel.: 09131/205379
[email protected] www.hungrig-online.de
FrauenGesundheitsZentrum e.V. Alte Eppelheimer Straße 38 69115 Heidelberg
[email protected] Sprechzeiten: Di u. Mi 10:00–12:00 Mädchenhaus Heidelberg e. V. Büro Jugendagentur Römerstraße 23 69115 Heidelberg 06221/654914
[email protected] www.ess-stoerungen.net Bürozeiten: Mo–Mi 09:00–12:00; Do 15:00–17:00 Arbeitskreis Essstörungen Stuttgart c/o ABAS – Anlaufstelle bei Essstörungen Lerchenstraße 79 70176 Stuttgart 0711/120069-90
[email protected] www.essstoerungen-stuttgart.de Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen KISS Marienstraße 9 70178 Stuttgart 0711/6406117 0711/6074561 www.kiss-stuttgart.de Telefonsiche Sprechzeiten: Mo 14:00–16:00 und 18:00–20:00 Di 10:00–12:00 Mi FA – Anonyme Esssüchtige in Genesung Selbsthilfegruppe für Esssüchtige Informationsund Kontaktstelle für Deutschland Belthlestr. 40 72070 Tübingen 07071/967804
[email protected] www.foodaddicts.org/de
354
Anhang B
Psychologische Anlauf- u. Beratungsstelle für Essstörungen Berliner Straße 17 73728 Esslingen 0711/359551 Telefonzeiten Mo–Fr 09:00–12:00 und 14:00–17:00
[email protected] Badischer Landesverband gegen Suchtgefahren Karlstraße 61 76133 Karlsruhe 0721/29849 u. Fax 0721 / 920311422949 Öffnungszeiten: Mo–Do 08:00–12:00 u. 13.00–16.30
[email protected] www.blv-suchthilfe.de Frauen- und Mädchen Gesundheitszentrum e.V. Erbprinzenstraße 14 79098 Freiburg 0761/2021590 0761/2021591
[email protected] www.fmgz-freiburg.de Max Planck Institut für Psychiatrie Kraepelinstraße 10 80804 München 089/30622469 Landshuter Netzwerk e. V. Bahnhofplatz 1 a 84032 Landshut 0871/96367-0 0871/96367-118 Telefonzeiten: Mo–Do 09:00–12:00 u. 14:00–16:00 Fr 09:00–12:00
[email protected] http://www.landshuter-netzwerk.de Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtprobleme an der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt Jesuitenstraße 48 5049 Ingolstadt 0841/309138 Öffnungszeiten: Mo–Do 08:00–17:00 Fr 08:00–12:00
Caritas Suchtberatungsstelle Augsburg Sebastian-Kneipp-Gasse 12 86152 Augsburg Mo–Fr 09:00–12:00 und 14:00–17:00 0821/345540 Suchtberatungs- u. Behandlungsstelle des Caritasverbandes Außensprechstelle Sonthofen Hochstraße 5 87527 Sonthofen 08321/7889437 08321/7889438 dick und dünn Nürnberg e. V. Beratung für Frauen mit Essstörungen Hallerhüttenstraße 6 90461 Nürnberg 0911/471711 0911/4610305 (Fax) www.fen-net.de/dickundduenn Psychosoziale Beratung und Behandlung Obere Donaulände 8 94032 Passau 0851/501842 Telefonzeiten: Mo–Do 08:00–12:00 und 13:00–17:00 Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtfragen Diakonisches Werk Kolpingstraße 1 95444 Bayreuth 0921/78517730 Psychosoziale Beratung u. Behandlung für Suchtkranke Caritasverband Bamberg Hainstraße 15 96047 Bamberg 0951/21000 o. 21009 Beratungszeiten: Mo–Fr 09:00–12:00 und Mo–Do 13:00–16:00
355 Anhang B
Psychosoziale Beratung für Suchtprobleme Röntgenring 3 97070 Würzburg 0931/352830
[email protected] Beratungszentrum bei Ess-Störungen Dick & Dünn e. V. Innsbrucker Straße 25 10825 Berlin 030/8544994 030/8548442 Telefonzeiten: Di 12:00–14:00
[email protected] www.dick-und-duenn-berlin.de Selbsthilfegruppe im Frauenzentrum Horizont Lauchhammer Max-Baer-Straße 1 01979 Lauchhammer-Mitte 03574/464164 SEKIZ e. V. Hermann-Elflein-Str. 11 14467 Potsdam 0331/6200280 0331/6200283
[email protected] www.sekiz.de Tel.: 0331/6200280 SEKIZ, Selbsthilfe-, Kontakt und Informationszentrum Tel.: 0331/6200280 PIKS, Potsdamer Informationsund Kontaktstelle für Selbsthilfe Tel.: 0331/6200281 FWA, Freiwilligenagentur Tel.: 0331/6200282 BEGS, Begegnungsstätte FTZ Frauentherapiezentrum - Therapie und Krisenberatung für Frauen und Kinder e.V. Beginenhof 9 28201 Bremen 0421/76405
Mädchenhaus Bremen e. V. Anlauf- und Beratungsstelle Rembertistraße 32 28203 Bremen 0421/3365444
[email protected] www.maedchenhaus-bremen.de Universität Bremen Zentrum für Diagnostik und psychosoziale Beratung Grazer Straße 2 a 28359 Bremen 0421/2187060 Hamburger Zentrum für Essstörungen Bundesstraße 14 20146 Hamburg 040/4505121 040/4505122 Fax Telefonzeiten: Mi 10:30–11:30 Psychosoziales Beratungs- u. Behandlungszentrum Landreiter 9 Spieltordamm 9 19055 Schwerin 0385/744030 www.ahg.de Ma Donna – für Mädchen und Frauen Vor dem Neuen Tore 5 21339 Lüneburg 04131/35535 04131/269723 (Fax)
[email protected] www.madonna-lueneburg.de Therapie- und Beratungszentrum für Frauen Oldenburg e.V. Georgstraße 26 26121 Oldenburg 0441/25928 0441/9266718 (Fax)
356
Anhang B
AMANDA e. V. Anlaufstelle f. Frauen u. Mädchen mit Ess-Störungen Volgersweg 4a 30175 Hannover 0511/885970 0511/3887494 (Fax)
[email protected] www.amanda-ev.de Sprechzeit Ess-Störungen: Dienstags 12:00–14:00
KESS-NRW Kontakt- und Behandlungszentrum bei Essstörungen Gladbacherstraße 62 40219 Düsseldorf 0211/335044 0211/397200 (Fax)
[email protected] www.kess-nrw.de www.ess-probleme.de
SANNELE Beratung und Selbsthilfe bei Essstörungen Zingel 20 31134 Hildesheim 05062/897755
Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen KISS Leuthardstraße 6 44135 Dortmund 0231/529097 Telefonzeiten: Mo
Kaskade – Beratung bei Eßstörungen e. V. Hanssenstraße 6 37073 Göttingen 0551/486905 Frauenzentrum Goslar e. V. Selbshilfegruppe Essprobleme Breite Straße 15 a 38640 Goslar 05321/42255 Beratungsstelle für Frauen und Mädchen Fürstenbergstraße 41 33098 Paderborn 05251/21311 Sprechzeiten: Mo 16:00–18.00 ProMädchen Mädchenhaus Düsseldorf e. V. Corneliusstraße 68–70 40215 Düsseldorf 0211/487675 Ansprechpartnerin für Essstörungen ist immer mittwochs, am Vormittag zu erreichen
[email protected] http://www.promaedchen.de
Frauen-Treff & Beratung Frauen helfen Frauen Essen e.V. Zweigertstraße 29 45130 Essen 0201/786-568 0210/786-358 (Fax) Impuls e.V. Markt 15 47574 Goch 02823/419171 Zentrum für Essstörungen Köln e. V. Göbenstraße 3 50672 Köln 0221/764506 Bonner Zentrum für Essstörungen e.V. Kaiserstraße 9 53113 Bonn 0228/210126 0228/92894625 (Fax) Telefonzeiten: Di 12:00–13:00
[email protected] bonnerzentrumfueressstoerungen.ch.to
357 Anhang B
SEKIS Franz-Georg-Straße 36 54292 Trier 0651/141180
[email protected] SpeckDrum e.V. Mainstraße 42 55118 Mainz 06131/618749 Caritasverband Mosel-Eifel-Hunsrück e. V. Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtkranke Herrenstraße 9 56812 Cochem 02671/97520 02671/91299 Selbsthilfegruppe für Menschen mit Bulimie und Magersucht BBZ Homburg Richard-Wagner-Straße 26 66424 Homburg Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen KISS Ehrlichstraße 3 01067 Dresden 0351/3138492 0351/4826350 (Fax) Telefonzeiten: Di und Do 08:00–12:00 und 14:00–18:00 La Villa – Selbsthilfegruppen bei Essstörungen Kaßbergstraße 22 09112 Chemnitz 0371/302678 CJD Chemnitz – Wohngemeinschaft HELLA Beratungsstelle und Wohngemeinschaft für essgestörte Mädchen u. junge Frauen Thielestraße 2 b 09599 Freiberg 03731/200571 03731/200572
[email protected]
Suchtberatungsstelle Evangelische Stadtmission Weidenplan 3-5 06108 Halle 0345/21780 www.stadtmission-halle.de Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen KISS Essstörungen (junge Behandelte) Turniergasse 17 99084 Erfurt 0361/6551715 0361/6551721 (Fax) Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen KISS ABA: Anorexie-Bulimie-Adipositas Turniergasse 17 99084 Erfurt 0361/6551715 0361/6551721 (Fax)
Internetlinks für weitere Informationen zur Beratung und Behandlung: http://www.ab-server.de http://www.bzga-essstoerungen.de/index.htm http://www.bundesfachverbandessstoerungen.de
360
Sachverzeichnis
A Abbrecherquote 39 Abführmittel 84 Abklärungen, organmedizinische 46 Ablenkungsreize 143, 207, 208 Abreaktionsstrategien 203 Affekt, negativer 26, 32 Affektregulation 61, 140, 204 Affektregulierungstechniken 58 Aktivitäten – körperbezogene 265 – positive 294 Alles-oder-nichts-Denken 170 Alles-oder-nichts-Vorsätze 86 Allgemeine Depressions-Skala (ADS) 50 Ambivalenz 68, 74 Amenorrhoe 9 Anamneseerhebung 48 Änderungsmotivation 73 Angehörige, Einbindung 38 Angststörung 10 Anorexia nervosa Inventar (ANIS) 50 Anspannungsniveau 199, 287 Antidepressiva, Desipramin 43 Appetit 83, 132 Appetitzügler 85 Arbeitsatmosphäre 69 Arbeitsblätter 64 Ärgerdimension 190 Arrythmien 8 Aufmerksamkeit, selektive 31 Aufmerksamkeitsfokussierung 299 Aufmerksamkeitsumlenkung 208 Aufrechterhaltung 16 Auslösebedingungen/-situation 31, 136, 144 – externale 121 – internale 121 Autonomiebedürfnis 37 Autonomieverletzung 132
B Basisemotionen 190 Beck-Depressions-Inventar (BDI) 50 Bedingungen, auslösende 99 Belastungsfaktoren 200 Beratungsstellen 328 Bewältigungsfertigkeiten, palliativregenerative 189 Bewältigungsmaßnahmen 323 Bewältigungsstrategien 143 Bewältigungsverhalten 189 – instrumentelles 218 – vermeidendes 29 Beziehungsaspekt 225 Bindungsanalysen 38 Binge-Eating/Purging-Typus 4, 6 Blutbild 8,17 Body Checking Questionnaire (BCQ) 50 Body Image Avoidance Questionnaire (BIAQ) 50
C Carbohydrate-craving-Theorie 23 Circumplex-Modell der Gefühle 189 Cognitive Analytic Therapy 41 Contour Drawing Rating Scale 50 Coping – aufgabenorientiertes 218 – emotionsorientiertes 29 Copingstrategien 189 Core beliefs 158, 159 Cue exposure 146
D Denkfehler 169, 171, 172, 175, 182 Depressionen 18
Diabetes mellitus 9, 17 Diagnostik, medizinische 99 Diagnosekriterien 4, 15 – zur Bulimia nervosa 13 – zur Anorexia nervosa 4 Diagnostisches Expertensystem (DIA-X) 47 Diagnostisches Interview für Psychische Störungen (DIPS) 47 Diäten 115 Diätregeln 112 Diätverhalten 96, 122, 140 differenzialdiagnostisch 10 Diskriminanztraining 229 Diskriminationsfähigkeiten 231 Disputationstechniken 172 DSM-IV-TR, 4 – Kriterien 14 Dysthymie 18
E Eating Attitudes Test (EAT) 49 Eating Disorder Examination (EDE) 47 Eating Disorder Inventory-2 (EDI-2) 49 Eating Disorder ExaminationQuestionnaire (EDE_Q)49 Effekte – postingestionale 133 – sensorische 133 Effektivität, klinische 39 Einschränkungsprogramm 126, 130 EKG-Veränderungen 7 Elektrolythaushalt 17 Elektrolytveränderungen 8 Emotionen 188 Emotionsregulation 40, 51 Empfänger 225 endokrinologisch 8 Energiekreis 289 Entspannung – muskuläre 200 – vegetative 202
361 Sachverzeichnis
Entspannungsfähigkeit, fertigkeiten 199, 294 Entspannungsübung 202 Entspannungsverfahren 144, 200, 278 Entwässerungsmittel 85 Erbrechen 84 Erfolgsraten 41 Erkrankungen, chronische 7, 17 Ernährung 72 – künstliche 36 Ernährungsdreieck 86 Ernährungsplan 123 Ernährungsregeln 125 Ernährungsrichtlinien 114 Ernährungstagebuch 120 Erregungsabbau/-reduktion 200, 266 Erstmanifestationsalter 3 Essanfälle 13, 15, 31 Essprotokoll 58, 134 – Ziele 119 Essstörung – Folgeerscheinungen 72 – Funktionen 74, 101 Esstage, strukturierte 122, 123 Esstagebücher 52 – diagnostische Funktion 52 Essverhalten – gezügeltes 28, 83, 85 – Normalisierung 36, 37 Expositionsübungen 135, 146, 248, 265
F Faktoren – biologische 98 – familiäre 89 – genetische 23 – individuelle 97 – situative 32 – soziokulturelle 94 Fallbeispiel 287 Familie 162 Familienmuster, dsyfunktionales 89
Familientherapie 42 Feedback 225, 318 Feedbackregeln 232 Feedbackübungen 281, 284 Fertigkeiten, kommunikative 218 Fertigkeiten, palliativ-regenerierende 199 Fluoxetin 43 Folgeerscheinungen, medizinische 16 Fragebogen 46, 48 – zum Essverhalten (FEV) 49 – zum Figurbewusstsein (FFB) 50 – zum Körperbild (FKB-20) 50 – zum Umgang mit Belastungen im Verlauf (UBV) 51 – zur Beurteilung des eigenen Körpers (FbeK) 50 – zur Emotionsregulation (EMOREG) 51 – zur Lebensgeschichte 48 Fremdbeschreibung 266 Fremdbestimmungsphase 126 Fremdkontrolle 37 Fremdkontrollphase 130 Frühwarnzeichen 316 Funktion 142 – von Essanfällen 31 Funktionalität 66, 135, 198
G Gedanken 193 – automatische 175, 185, 195 Gedankenprotokoll 164, 174 Gefühle – Definition 188 – Identifikation 198, 221 Gefühlsprotokolle 199 Gefühlsreaktion 209 Gefühlswahrnehmung 224 Gefühlswörter 190 Genogramm 88, 89, 91, 92 Genuss – fähigkeit 296
A–H
– gruppe 61 – regeln 135 Gesprächsführungstechniken 70 Gewichthaltevereinbarung 131 Gewichthaltevertrag 130 Gewichtsabnahme 321 Gewichtsentwicklung 99 Gewichtsrestoration 36 Gewichtssteigerungsprogramme 36, 57, 66, 68, 126 Gewichtsteigerungsvertrag 130 Gewichtsverlauf 321 Gewichtsverlaufkurve 115, 117 Gewichtsvertrag 37, 128 Gewichtsziel 128 Gewichtszunahme 123, 128, 246, 321, 322 – ausbleibende 37 Gewichtszunahmevertrag 129 Goal Attainment Scaling (GAS) 51 Grundannahmen 94, 168, 195 – dysfunktionale 27 Grundanspannung/-niveau 200, 323 Grundemotionen 188 Grundsätze der KVT, allgemeine 36 Grundüberzeugungen 158, 160, 162 – allgemein 162 – essstörungsspezifische 162 Grundumsatz 123 Gruppenbehandlung 39 Gruppenkohäsion 69 Gruppenregeln 70 Gruppensetting 284, 291 Gruppentherapie 62 – Schwierigkeiten 63 – Vorteile 62
H Handlungsabläufe 141 Handlungsausführung 229 Handlungsbewertung 218, 229 Handlungskette 209
362
Sachverzeichnis
Handlungsorientierung 78 Handlungsplan/-planung 218, 229, 232 Handlungsrelevanz 197 Handlungsziele 197 Hunger 83 Hungergefühl 132 Hungermechanismen 113 Hyperaktivität 7 Hypothalamus 23
I ICD-10 4, 15 Imagination 200, 205, 207 Imaginationsverfahren 245 Imaginationsübungen 57, 299 Immunsystem 8 Impulsivität 26, 98 Informationsverarbeitung(sprozesse) 27, 30, 158, 169, 188 Interaktionsmuster, familiäre 25 Interventionszeitpunkte 209 Interview für DSM-IV (SKID-I), Strukturiertes Klinisches 47 Interview für DSM-IV (SKID-II), Strukturiertes Klinisches 47 Interviewverfahren, strukturiertes 46 Inventory of Drug Taking Situations (IDTSA) 51 Inzidenzraten 3, 13
Kommunikationsmodell 219 Komorbidität 50 Komorbiditätsmuster 18 Komorbiditätsrate 18 Kompetenzen, soziale 58 Komplikationen, akute medizinische 7, 43 Komponentenmodell 246 Konditionierung 146 – klassische 132 Konditionierungsmodelle 32 Konfliktlösekompetenzen 37 Konfliktsituation 229, 233 Konfrontationstherapie 244 Kontaktfähigkeit 281 Kontext 32 Kontrolle – flexible 28 – kognitive 112 – rigide 28 Kontrollstrategien 143 Kontrollverlust 31, 204 Körperbild 50, 58, 61, 94 – negatives 38 Körperdimension 246 Körpergefühl 193, 252 Körperkonfrontation 245 Körperschemastörung 5 Kortikotropin-Releasing-Hormon 23 Kosten-Nutzen-Abwägung, -Analyse 77, 176
L K Kalorien 113 Kernüberzeugungen 159 Kleingruppenarbeit 260 Knochendichtemessung 46 Kognitionen 33 – dysfunktionale 257 Kohäsionsbildung 70 Kommunikation, nonverbale 218 Kommunikationsfehler 227
Lageorientierung 78 Langzeitverlauf 11 Lebensereignisse, kritische 27 Lebenszeitprävalenz 3 Leistungsanspruch 200, 287, 294 Leistungssportler 3 Leptin 23 Lernerfahrung 158
M Mahlzeitenprotokoll 14, 114, 118, 120–122, 126, 137, 140, 151 Mahlzeitenstruktur 120 Major Depression 10 Maßnahmen – stationäre 57 – affektregulierende 144 – gegensteuernde 14 Medien 24 Medienkonsum 94 Medikamente 46 Medikation 17 Minnesota-Starvation-Studie 112 Mischgefühle 191 Modell 232 – kognitives 41 Modelllernen 89 Mortalitätsrate 13 – standartisierte 13 Motivationslage 126 Motivationsprobleme 175 Multidimensional Body-Self Relations Questionnaire (MBSRQ) 50 Muskelentspannung, progressive 200, 301
N Nachricht 225 Nahrungskonfrontation 57, 148 Nahrungsmenge 120 Nahrungsmittel – »erlaubte« 112 – »verbotene« 112, 126 Netzwerk, soziales 281 Neubewertung 172 Non-Purging-Typus 14 Normalisierung des Essverhaltens 56
363 Sachverzeichnis
O Ödeme 8 Osteoporose 9, 17 Ovarialsyndrom, polyzistisches (PCOS) 17
P Patienten – jugendliche 42 – therapieresistente 43 Patientenperspektive 40 Peers 25, 94 Perfektionismus 7, 11, 12, 19, 26, 97 Persönlichkeitsstörungen 10, 18 – Borderline- 18 Phasenmodell der Veränderung 67 Phobie, soziale 18 Prä-Post-Vergleich 39 Prävalenzraten 12 Prinzipien, operante 36 Prioritätensetzung 291 Problembewusstsein 229 Probleme, kardiovaskuläre 17 Problemlösefertigkeiten/ -kompetenzen 37, 58 Problemlösen 233 Problemlöseschema 291 Problemlösetechniken 323 Prognose 12 Programme – internetbasierte 43 – SMS-basierte 43 – stationäre verhaltenstherapeutische 36 – verhaltenstherapeutische 36 Pro-Kontra-Liste 74 Prozesse – kognitive 33, 195 – postresorptive 133 Psychotherapie, interpersonelle (IPT) 40
Psychotherapieansätze 41 Punktprävalenz 2 Purging-Typus 14
R Rebound-Effekt 33 Regenerationsphasen 294 Reiz-Reaktions-Kette 146 Reproduktionsfähigkeit 17 Ressourcen 41, 281, 278, 279, 285, 293 – prüfung 285 Restraint Eating 28 restriktiver Typus 4, 6 Restsymptome 319 Richtlinien 128 Richtwerte 123 Risikofaktoren 11, 19 – unspezifische 11, 19 – variable 11 Risikopopulationen 3 Risikosituationen 321, 322 Rollenspiele 174, 223, 224, 229, 231, 232, 233 Rosenberg-Skala 51 Rückfall – prophylaxe 61, 68 – protokoll 323 – risiko 38, 319 Ruhewort 202
S Sachinhalt 225 Sättigung 83 Sättigungsgefühl 132, 133 Sättigungskaskade 133 Sättigungsmechanismen/ -regulation 23, 113 Schemata – kognitive 27, 158 Schilddrüsenwerte 9 Schlankheitsideal 12, 24, 96, 244
H–S
– Internalisierung 24 Schönheitsideal 278 Screeninginstrumente 48 Selbstakzeptanz 278, 279, 281 Selbstaufmerksamkeit 33 – aversive 33 Selbstbeobachtungsmethoden 52 Selbstbeobachtungsprotokolle 57 Selbstbeschreibungen 245 Selbstbild 253 Selbsteinschätzungsinstrument 47 Selbstermunterung 189 Selbsthilfebücher 42 Selbsthilfegruppen 42 Selbsthilfeprogramme 42 Selbstinstruktion 209 – positive 208 Selbstkontrolle 299 Selbstkontrollfähigkeit/ -möglichkeiten 135, 189 Selbstmanagementphase 130 Selbstoffenbarung 225 Selbstregulationsfähigkeiten 78 Selbstregulationsprozesse 79 Selbstsicherheit 39 Selbstverbalisation 229 Selbstwahrnehmung 257 Selbstwertbeeinträchtigungen 26 Selbstwertgefühl 11, 97, 169, 244, 278 Selbstwerthaus 280 Selbstwirksamkeit 26 Self-Control-Schedule 51 Sender 224 Serotonin 23, 43 Set Point 28 Setting – ambulantes 37, 61, 128 – einzeltherapeutisches 62 – gruppentherapeutisches 62 – stationäres 61, 126 Sinnesspaziergang 296 Situationstypen 218 Skilltraining 40 Somatische Folgeerscheinungen 7
364
Sachverzeichnis
SORK 138 SORK-Schema 137 Soziale Phobie-Inventar (SPAI) 51 Spiegelexposition 245 Spiegelkonfrontation 244 Spiegelübungen 266 Spontanentspannung 189 Standardisierte Mortalitätsraten 3 stationäre Behandlung, Indikation 36 Sterblichkeitsrisiko 3 Stimuluskontrolltechniken 322 Störungen – komorbide 63 – körperdysmorphe 10 Störungsmodell 88, 96 Strategien, kurzfristige 199 Stress 27, 29, 32 Stressbelastung 189 Stressbewältigung 51 Stressbewältigungsverhalten 29 Stressmanagement, instrumentelles 189 Stressmodell 201 Stresstoleranz 199 Stressverarbeitungsfragebogen (SVF 120 und 78) 51 Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen (SIAB) 47 Substanzmissbrauch 18 Symptomatik 6 Symptom-Checkliste (SCL-90) 50 Symptomzentrierung 41 System, gastrointestinales 8, 16
T Tagebücher 52 Techniken – kognitive 37, 58 – kommunikative 58 Therapeutenverhalten, förderliches 69 Therapie – dialektisch-behaviorale 40
– medikamentöse 43 Therapiebausteine 56, 61 Therapieerfolg 51, 68, 69 Therapiemotivation 66 Therapieplan 102, 104 Therapieverlauf 316 Todesursache 4 Training, autogenes 299 Two-Track-Approach 36, 56
U Überzeugungen, dysfunktionale 231, 285 Umstrukturierung, kognitive 208 Unsicherheitsfragebogen (U-FB) 51 Unterstufenübungen 300 Untersuchung, organmedizinische 46
V Verallgemeinerungen 176, 223 Veränderungen – dermatologische 9 – endokrinologische 17 – neurologische 9 Veränderungsabsicht 67 Veränderungsbereitschaft 68 Veränderungsfragebogen des Erlebens und Verhaltens (VEV) 51 Verfahren, psychodynamisch orientierte 41 Verfälschungstendenzen 52 Vergleichsprozesse 253 Verhalten, selbstverletztendes 203 Verhaltensanalysen 38, 137 Verhaltensexperimente 176 Verhaltenskette 210 Verhaltensregeln 92 Verhaltensweisen – alternative 143
– kompensatorische 16 Verlauf 11, 19 Verlaufsmessung 49 Verlaufsprädiktoren 12 Vermeidungsverhalten 113, 246 Verzerrung 169 – kognitive 30 Videoexposition 245 Videokonfrontation 244 Vier-Ohren-Modell 225 Vier-Säulen-Modell des Selbstwertgefühls 279 Vorstellungsbilder 205 Vulnerabilitätsfaktoren 244, 316
W Wachstumshormonspiegel 8 Wachstumsrate 9 Wahrnehmungslenkung 189, 200, 205 Wahrnehmungsverzerrungen 254 Wirkmechanismen 39 Wirksamkeit 38 Wirksamkeitsstudien 42
Z Zeitplanung 291, 294 Ziele 209, 223, 233, 323 Zielerreichung 101, 293 Zielerreichungskalierung 38 Zielgewicht 130 Zielsetzung, therapeutische 52 Zielverhalten 174 Zielverhaltensweisen 323 Zwangsernährung 128, 132 Zwangsstörung 10 Zwillingsforschung 22