Herbert Loock / Hubert Steppeler (Hrsg.) Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing
GABLER RESEARCH
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Herbert Loock / Hubert Steppeler (Hrsg.) Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing
GABLER RESEARCH
Herbert Loock Hubert Steppeler (Hrsg.)
Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing Festschrift für Prof. Dr. Michael P. Zerres
RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Ute Wrasmann | Sabine Schöller Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2480-3
Prof. Dr. Michael P. Zerres
Zur Vita von Prof. Dr. Michael P. Zerres Am 06.09.2010 begeht Prof. Dr. Michael P. Zerres seinen 65. Geburtstag. Ein Festtag, der auch für ihn mit einer Zäsur und einer gleichermaßen neuen Herausforderung verbunden ist; dem Wechsel an die Privathochschule Bad Homburg. Die zu diesem Jubiläum erschienene Festschrift ist daher keine abschließende Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistung, sondern als Anerkennung seiner bisherigen Lebensleistung zu verstehen. In Berlin geboren, studierte Michael P. Zerres von 1965 an Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und Archäologie in Berlin, Washington D. C. und Frankfurt, um dort 1972 sein Studium mit dem Abschluss als Diplomkaufmann zu beenden. Es folgte im Anschluss daran die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung, Umwelt und quantitative Wirtschaftsforschung, die 1977 mit der Promotion zum Dr. rer. pol. endete. Die berufliche Laufbahn führte zunächst in die freie Wirtschaft und endete als Marketingvorstand eines internationalen Konzerns in London. Dort erhielt er 1981 das Angebot der Telekom, eine Professur für Marketing an deren Hochschule zu übernehmen. Diesem Ruf folgte er bis 1992 und wechselte 1993 als Universitätsprofessor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere für Marketing, an die Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik. Im Jahre 2005 erfolgte von dort ein Wechsel an die Universität Hamburg, wo er in gleicher Funktion bis heute tätig ist. Darüber hinaus ist er seit Anfang 2010 auch als Dozent für Unternehmenskommunikation und Marketing an der accadis Privathochschule in Bad Homburg tätig und führt recht eindrucksvoll auch dadurch den Nachweis, dass mit 65 Jahren ein „Change“ nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt werden kann. Michael P. Zerres erfreut sich einer überaus großen Beliebtheit. Er versammelt Eigenschaften, die im Auftritt und in der Kombination doch eher selten sind. Personen, die Michael P. Zerres als Studenten oder auch als Kollegen begegnet sind, schätzen seine natürliche Autorität, äußern sich anerkennend über die Vielfältigkeit seiner Interessen und bewundern nicht zuletzt Engagement, Einsatz- und Gesprächsbereitschaft. Eigenschaften, die weder auf den Campus beschränkt bleiben noch irgendeinem ökonomischen Kalkül von Aufwand und Erfolg unterzogen werden. Die ihm entgegengebrachte Wertschätzung zeigt sich auch in der großen Spontanität seiner
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Zur Vita von Prof. Dr. Michael P. Zerres
ehemaligen wie auch aktuellen Doktoranden, die mit einem auf das Thema abgestimmten Beitrag die vorliegende Festschrift qualifiziert haben. Zu wünschen bleibt, dass Michael P. Zerres in seinem Engagement, seiner Tatkraft und seiner Kreativität sowohl seiner Familie, wie auch der Wissenschaft bei voller Gesundheit noch recht lange erhalten bleibt
Mönchengladbach und Hannover im September 2010
Dr. Herbert Loock Dr. Hubert Steppeler
Vorwort Die marktorientierte Unternehmensführung wird in nationalen als auch in globalen Märkten und damit in der Betriebswirtschaftslehre zukünftig einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Dieses gilt auch für die Suche nach neuen Produkten und Prozessen. Selbst dort, wo der Konsument mit großer Faszination die Kreativität eines Einzelnen oder einer Gruppe bewundert, stehen die Unternehmensführungen und Marketingverantwortlichen vor der Aufgabe, diese Ideen so umzusetzen, dass die Konsumenten bereit sind, eine monetäre Gegenleistung zu erbringen. Aus diesem Grunde haben wir uns entschieden, das „Innovationsmarketing“ zum Gegenstand dieser Festschrift zu machen und auf der theoretischen, wie auch auf der praktischen Ebene mit 25 Beiträgen zu thematisieren. Bei den Autoren handelt es sich ebenso um Führungskräfte der Wirtschaft, die eine hohe Affinität zur wissenschaftlichen Erarbeitung offener Fragestellungen besitzen, wie auch um Wissenschaftler und Hochschullehrer, die sich aus ihrer ureigenen Tätigkeit heraus mit der Formulierung und Lösung von praxisrelevanten Fragestellungen befassen. Die Herausgeber bedanken sich bei allen Personen, die an der Erstellung dieser Festschrift mitgewirkt haben, für die ausgesprochen gute Zusammenarbeit. Trotz der hohen individuellen beruflichen Belastung sind die Beiträge rechtzeitig eingegangen, so dass die Festschrift dem Jubilar am Tage des Festkolloquiums überreicht werden kann. Diese Festschrift folgt dabei dem Anspruch, sowohl wissenschaftlich fundiert, als auch praktisch zweckmäßig an die verschiedenen Fragestellungen heranzugehen. Alle Autoren sind ehemalige oder jetzige Doktoranden von Prof. Dr. Michael P. Zerres, der als Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing an der Universität Hamburg die Verbindung zwischen praktischen Fragestellungen und wissenschaftlicher Methodik in den Mittelpunkt seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit stellt. Gerade daraus ergibt sich das breite Spektrum von Problemlösungen im Marketing, an dem er durch seine Tätigkeit mitwirkt. Deshalb ist auch der Aufbau dieses Buches einem Bereich gewidmet, welcher derzeit und zukünftig auf diese Disziplin einen großen Einfluss haben wird. Es ergibt sich ein breites Spektrum von Branchenthemen, die von den Autorinnen und Autoren behandelt werden.
Mönchengladbach und Hannover im September 2010
Dr. Herbert Loock Dr. Hubert Steppeler
Inhaltsverzeichnis Zur Vita von Prof. Dr. Michael P. Zerres .................................................................. VII Vorwort ..................................................................................................................... IX Inhaltsverzeichnis ..................................................................................................... XI
Teil 1: Einführung Grundlagen des Innovationsmarketing Herbert Loock .............................................................................................................3 Management von Widerstand in Innovationsprozessen Hubert Steppeler ......................................................................................................29 Open Innovation zur nachhaltigen Steigerung der Innovationsfähigkeit von Unternehmen Sascha Götte ..........................................................................................................57 Chancen und Risiken zwischenbetrieblicher Innovationskooperationen Florian Thiebes und Nicole Plankert ........................................................................71 Risikomanagement in Innovationsprozessen Olaf Passenheim ......................................................................................................95 Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation Nicole Plankert .......................................................................................................107
Teil 2: Innovationen in der Industrie Herausforderungen und Faktoren für erfolgreiche Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie Nadine Walter.........................................................................................................127 Web 2.0 - Marketing als Instrument zur Einführung von Produktinnovationen: Chancen und Herausforderungen für die Unternehmenspraxis Nina Saldsieder und Kai Alexander Saldsieder ......................................................147
XII
Inhaltsverzeichnis
Innovationsmarketing im Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität – dargestellt am Beispiel der Modebranche Herbert Loock .........................................................................................................179 Direktverträge als Instrument des Business-to-BusinessMarketings von forschenden Arzneimittelherstellern Martin Renze-Westendorf.......................................................................................199 Innovationspotenzial in der Solarindustrie Enno E. Wolf...........................................................................................................221 Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing Oliver Kutz ..............................................................................................................239
Teil 3: Innovationen im Handel Ausgewählte Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien im Handel Peter M. Rose.........................................................................................................263 Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance innovativer und umweltfreundlicher Handelsimmobilien Hubert Steppeler ....................................................................................................277
Teil 4: Innovationen in Dienstleistungsunternehmen Innovative Wege der Zielgruppenansprache am Beispiel des Dienstleistungssektors Stefanie Shanahan .................................................................................................305 Produktinnovationen in der Versicherungsbranche – Innovationsgrad und Subjektivität von Produktneuerungen Michael Dorka.........................................................................................................321 Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche Anja Potratz ............................................................................................................337 Six Sigma in Versicherungsunternehmen Michael Reich .........................................................................................................363
Inhaltsverzeichnis
XIII
Produktinnovationen bei Banken Christina Schrader..................................................................................................389 Prozessinnovationen bei Banken Patrick Zenz-Spitzweg ............................................................................................401 Prozessmanagement: Nicht Kosten senken, sondern Komplexität managen – ein Praxisbericht der Berliner Flughäfen Henrik Haenecke und Marcus Dietzsch..................................................................411 Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing, dargestellt am Beispiel Russlands aus Anbietersicht Jörg Gutknecht .......................................................................................................421
Teil 5: Normativ- und Komplexitätsaspekte im Innovationsmarketing Innovation und Menschenbild Annette Hempel .....................................................................................................441 Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz Nicole Fabisch ........................................................................................................461 Komplexität – Eine Einführung in die Komplexitätsforschung und Auswirkungen auf das Management komplexer Prozesse Klaus-Peter Schoeneberg.......................................................................................479
Autorenverzeichnis .................................................................................................501
Teil 1:
Einführung
Grundlagen des Innovationsmarketing Herbert Loock*
1
Produkt- und Prozessanforderungen in Käufermärkten ................................. 4
2
Marketing als marktorientierte Unternehmensführung .....................................4
3
Neuentwicklungen für Käufermärkte ...............................................................6 3.1 Innovation im engeren Sinne.................................................................7 3.2 Imitation.................................................................................................8 3.3 Invention................................................................................................8 3.4 Entwicklung ...........................................................................................8 3.5 Neue Technologien ...............................................................................9 3.6 Innovationsmanagement ......................................................................9 3.7 Innovationsmarketing ............................................................................9
4
Gestaltung des Innovationsmarketing............................................................10 4.1 Ziele des Innovationsmarketing...........................................................10 4.2 Innovationsarten..................................................................................11 4.3 Innovationstiming ................................................................................12 4.4 Innovationsstrukturen..........................................................................14 4.5 Innovationsbeteiligte ...........................................................................14 4.6 Innovationsprozesse ...........................................................................16 4.7 Innovationstreiber und Innovationshemmnisse ...................................19 4.8 Innovationserfolg.................................................................................22
5
Theorien des Innovationsmarketing ............................................................24
Literaturverzeichnis ..................................................................................................26
* Dr. Herbert Loock ist Geschäftsführer der Herbert Loock Beratungs- und Servicegesellschaft mbH in Mönchengladbach und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen.
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1
Herbert Loock
Produkt- und Prozessanforderungen in Käufermärkten
Der Titel des vorliegenden Buches verbindet zwei betriebswirtschaftliche Begriffe miteinander und beschreibt damit nicht nur einen neuen Terminus sondern auch eine betriebswirtschaftliche Herausforderung für Unternehmen. Dieses ist begründet in den zunehmenden Anforderungen der Konsumenten in nationalen und globalen Märkten an neue Produkte und neue Prozesse (Kaufentscheidungen und Kaufprozesse werden unter anderem von Winkelmann, P. (2008), S. 12ff. beschrieben). Aufgrund der Sättigung von Märkten können Anbieterunternehmen ihre Produkte nur dann vermarkten, wenn sie diese in immer kürzeren Abständen zumindest verändern und damit für den Konsumenten ein neues Angebot schaffen. Oftmals reicht dabei nicht nur die optische Neugestaltung bereits vorhandener Produkte aus. Es ist aufgrund veränderter Anforderungen sogar eine völlige Neuentwicklung notwendig, damit ein Produkt den Anforderungen der Kunden entspricht. Der Vergleich heute existierender Produkte im Konsum- oder auch im Investitionsgütermarkt mit solchen, die vor zwanzig Jahren für den gleichen Zweck eingesetzt wurden, zeigt sehr deutlich deren gestalterische und funktionelle Veränderung. Deutlich wird dieses beispielsweise an Mobilfunkgeräten, aber auch an Kraftfahrzeugen und an Küchengeräten. Auch Prozesse unterliegen einem ständigen Wandel, was unter anderem bei Betrachtung der Abläufe in Kraftfahrzeugwerkstätten oder bei den Banken deutlich wird. Im Rückblick betrachtet brachte dieses in zahlreichen Fällen einen Fortschritt für die Abnehmer. Produkte und Prozesse sind damit den Kundenbedürfnissen gerecht geworden. Deren Anforderungen und ihre Erfüllung sind der Maßstab für unternehmerisches marktorientiertes Handeln.
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Marketing als marktorientierte Unternehmensführung
Anbietende Unternehmen haben deshalb dem Anforderungsprofil des Marktes mit ihrem Leistungsprofil zu entsprechen, damit sich für sie ein Unternehmenserfolg einstellen kann. (vgl. hierzu auch Bruhn, M. (2009), S. 37). Dabei ist als Markt nicht ein eindeutig bestimmtes regionales Gebilde zu verstehen, sondern jedes Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage. Unterscheiden sich diese nach Regionen, so existieren verschiedene Märkte. Die Übereinstimmung von Anforderungsprofil der Märkte und Leistungsprofil des Unternehmens ist Ziel marktorientierter Unternehmensführung, bei der die aktuelle oder antizipierte Nachfrage das Angebot dieses Unternehmens beeinflusst.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_1, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Zwecks Bestimmung des Anforderungsprofiles der Märkte ist zunächst zu definieren, ob mit den das Profil bestimmenden Kunden die Absatzmittler oder die Konsumenten gemeint sind. Während dieses bei anbietenden Handelsunternehmen oder auch vielen Dienstleistungsunternehmen unzweifelhaft die Konsumenten sind, haben zumindest anbietende Industrieunternehmen auch die einkaufenden Einzelhändler von der Marktbezogenheit ihrer Produkte zu überzeugen. Dieses ist aber immer ein Überzeugungsprozess, der dann nicht mehr gelingen dürfte, wenn die Endverbraucher das Produkt beim Einzelhändler nicht erwerben (Flop) oder der obsolet wird, wenn das Produkt am Markt eine derart starke Durchsetzung gefunden hat, dass die Einzelhändler auf einen Vertrieb desselben nicht verzichten können (Star.) Deshalb besteht marktorientierte Führung sowohl aus Business-to-Business als auch aus Business-to-Consumer Interaktionen. Sowohl Absatzmittler als auch Konsumenten treten als Kunden auf. Marktorientierung besteht also in der Orientierung der anbietenden Unternehmen an den Kundenwünschen. Eine besondere Fähigkeit anbietender Unternehmen, diese Kundenwünsche erfüllen zu können, stellt deren Wettbewerbsvorteil dar. Er wird durch Kernkompetenzen entlang der Wertschöpfungskette generiert (vgl. Böhler, H. / Rasche, C. (2004), S. 281). Alle unternehmerischen Funktionen sind deshalb am Markt auszurichten, was zur „Marketing-driven Company“ führt (vgl. Winkelmann, P. (2008), S. 34). WINKELMANN (2008) sieht hierin sogar eine eigene Entwicklungsphase des Marketing, welche mit unternehmerischen Grundhaltungen gegenüber Kunden korrespondiert (vgl. Winkelmann, P. (2008), S. 28). Diese marktorientierte Haltung von Unternehmen stellt aber keine Einbahnstraße dar. Vielmehr ist eine erbrachte marktorientierte Unternehmensleistung durch die Kunden adäquat zu vergüten. WINKELMANN (2006) sieht deshalb den in einem Unternehmen existierenden Leitfaden für die Marktorientierung darin, dass dieses x
für den Kunden Werte schafft (Value Production),
x
Werte beim Kunden vermarktet (Customer Value) und
x
Werte vom Kunden zurückbekommt (Customer Equity) (vgl. Winkelmann, P. (2006), S. 540ff).
Die Werte für Kunden werden durch die Erfüllung deren Anforderungen und damit die Erbringung eines Nutzens für sie geschaffen. Sie werden durch das Maß der Kundenzufriedenheit, für welches der Kunde auch eine äquivalente Gegenleistung zu erbringen bereit ist, gemessen. Wenn sich Kundenzufriedenheit damit in der Gegen-
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leistung ausdrückt, die der Kunde zu erbringen breit ist, dann kann das Maß der Kundenzufriedenheit durch diese Leistungsbereitschaft gemessen werden. Damit führt die Erfüllung der Kundenanforderungen auch zu einem Mehrwert für das anbietende Unternehmen, die sich in den Unternehmensgewinnen widerspiegeln. Der Zusammenhang von Kundenzufriedenheit und Unternehmensgewinnen wird im Marktpartner – Zufriedenheitsprofil dargestellt (vergleiche Abbildung 1).
Abbildung 1: Marktpartner – Zufriedenheitsprofil Quelle: Winkelmann, P. (2008), S. 524.
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Neuentwicklungen für Käufermärkte
Für die Erreichung der Kundenzufriedenheit und der Unternehmensgewinne sind neue Produkte und Prozesse anzubieten. Eine solche Neuartigkeit, die wesentlich ist, bezeichnet HAUSCHILDT (2005) als Innovation. Dieser Begriff ist im weiteren und im engeren Sinne zu verstehen. Zu seiner Beschreibung im weiteren Sinne gehören x
Innovationen im engeren Sinne,
x
Imitationen,
x
Inventionen,
x
Entwicklungen und
x
neue Technologien.
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Sie unterscheiden sich durch das Ausmaß der Neuartigkeit oder den Zeitpunkt des Markteintrittes.
3.1
Innovation im engeren Sinne
HAUSCHILDT (2005) versteht unter Innovationen „unstrittig qualitativ neuartige Produkte und Prozesse, die sich gegenüber dem vorangehenden Zustand „merklich“ unterscheiden.“ (Hauschildt, J. (2005), S. 25). Er interpretiert den Begriff damit aus der Sicht der Produkte oder Prozesse, welche von einem Unternehmen oder von einem Einzelnen „erarbeitet“ wurden. Diese können objektive oder subjektive Neuigkeit besitzen, welches dadurch deutlich wird, dass sie sich „merklich“ von bereits bestehenden Produkten oder Prozessen unterscheiden. Der Begriff „merklich“ wird von Hauschildt nicht näher bestimmt. Bereits Schumpeter, der sich als erster mit Innovationen in Unternehmen auseinandergesetzt hat, geht über diese Definition hinaus, auch wenn er diesen Begriff selber nicht verwendet hat. Vielmehr legt er den Schwerpunkt auf die „Planung und Durchsetzung neuer Produkte und Prozesse durch risikobereite, kreative, entschlossene und charismatische Unternehmer“ (Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 26). Diese Definition nimmt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auch die Durchsetzung dieser entwickelten Innovationen auf, legt dabei aber den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Funktion der Unternehmer. Eine Durchsetzung im Sinne der Vermarktung von Innovationen berücksichtigt dann auch der umfassende Definitionsansatz von TROMMSDORFF / STEINHOFF (2007). Sie bezeichnen Innovation als unternehmenssubjektiv neuartigen Gegenstand (Produkt oder Prozess), den es nicht nur zu erfinden gilt, sondern der vor allem auch im Unternehmen und nach außen durchgesetzt werden muss.“ (Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 4). Aus dieser Definition wird deutlich, dass eine Innovation aus einem Produkt oder einem Prozess bestehen kann und dass sie x
neuartig sein,
x
erfunden werden und
x
durchgesetzt werden
muss. Diese hohen Anforderungen an Innovationen führen zum Scheitern, wenn nur eines der Kriterien nicht erfüllt werden kann. Alleine schon die Forderung nach Neuartigkeit ist bei der Existenz von Märkten mit dem scheinbaren Vorhandensein aller nur denk-
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baren Produkte und Prozesse nur schwer zu gewährleisten. Selbst wenn eine solche Neuartigkeit doch vorstellbar ist, können personelle und sachliche Ressourcen ihre Erfindung verhindern. Letztlich kann sogar ein erfundenes neuartiges Produkt oder ein solcher Prozess an der Forderung nach interner oder externer Durchsetzung scheitern.
3.2
Imitation
Als Alternative zu einer Innovation im engeren Sinne bietet sich die Imitation an. Hierunter ist die Übernahme einer bereits am Markt existierenden Innovation zu einem Zeitpunkt zu verstehen, zu dem diese bereits entwickelt wurde und sich am Markt durchgesetzt hat. Der Imitator muss dabei die imitierte Innovation zur Marktreife entwickeln und ihre Komplexität beherrschen. Bei dieser Entwicklung zur Marktreife und Beherrschung der Komplexität handelt es sich wiederum um eine Innovationsaufgabe (vgl. hierzu auch Schewe, G. (2005), S. 195).
3.3
Invention
Während die Begriffe Innovation und Imitation sich damit im Wesentlichen durch die Anforderung an die Neuartigkeit und den Zeitpunkt des Markteintrittes unterscheiden, stellt die Invention einen Teilbereich der Innovation dar. Bei ihr handelt es sich ausschließlich um ein neuartiges Produkt oder einen neuartigen Prozess, der erfunden worden ist. Sowohl die interne als auch die externe Durchsetzung sind in diesen Begriff nicht eingebunden.
3.4
Entwicklung
Die Invention stellt den Aspekt der Ideenfindung in den Vordergrund. Dagegen wird mit dem Begriff der Entwicklung die systematische Arbeit beschrieben, „die auf bestehenden Erkenntnissen aus Forschung und praktischer Erfahrung aufbaut. Sie zielt darauf ab, neue bzw. bestehende Materialien, Produkte, Systeme oder Dienstleistungen herzustellen bzw. wesentlich zu verbessern“ (Leker, J. (2005), S. 570). Hierbei handelt es sich also um die Umsetzung und Weiterentwicklung bereits bekannter Produkte und Prozesse.
Grundlagen des Innovationsmarketing
3.5
9
Neue Technologien
Sowohl diese Umsetzung und Weiterentwicklung bereits bekannter Produkte und Prozesse als auch erst recht die Neuentwicklung von Produkten und Prozessen erfolgt im Zusammenhang mit neuen und der Weiterentwicklung vorhandener Technologien (vgl. auch Bullinger, H.-J. / Renz, K.-C. (2005), S. 87). Unter Technologie ist dabei der Einsatz technischer Kenntnisse und Materialien zu verstehen.
3.6
Innovationsmanagement
Die neuartigen entwickelten Produkte und Prozesse als auch ihre Bestandteile werden mit Hilfe personeller und sachlicher Ressourcen im Unternehmen und am Markt durchgesetzt. Hierfür findet ein geführter unternehmerischer Prozess statt, das Innovationsmanagement. Es „wird bisher zumeist auf die Fragen reduziert, wie Innovationen im Unternehmen und am Markt durchgesetzt werden und welche Personen dafür welche Rollen spielen müssen“ (Salomo, S. / Mensel, N. (2005), S. 477). Im Vordergrund steht eine Innovation, die durch Push-Aktivitäten verkauft werden soll. Diese in der Definition deutlich werdende Abgrenzung zwischen Erstellung eines innovativen Produktes oder Prozesses und seiner Durchsetzung am Markt wird von HERRMANN / SCHAFFNER (2005) erweitert um „Herstellung von Kongruenz zwischen Nutzenerwartungen der Konsumenten und Produkteigenschaften“ (vgl. Herrmann, A. / Schaffner, D. (2005), S. 383). Diese beiden Definitionen in ihrer Zusammensetzung ergeben damit bereits eine Annäherung an den Begriff, der Titel dieser Festschrift ist, den Begriff „Innovationsmarketing“.
3.7
Innovationsmarketing
Grundaussage dieses Begriffes ist damit die Herstellung eines neuartigen Produktes oder Prozesses und seine Durchsetzung am Markt. Hierzu gehört die Feststellung der Anforderungen von Marktteilnehmern im Sinne von Marktforschung und Marktbeobachtung, die Suche nach einem neuen Produkt oder Prozess und die Durchsetzung seiner Herstellung im Unternehmen und der Vermarktung an die Kunden. TROMMSDORFF / STEINHOFF (2007) haben dieses zutreffend definiert: Innovationsmarketing ist die „Schaffung und Durchsetzung von potenziell und effektiv neuen Leistungsangeboten gegenüber bestehenden und potenziellen Absatzmärkten“ (Trommsdorf, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 43). Unter Schaffung von Leistungsangebo-
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ten ist dabei die Findung und interne Umsetzung von neuartigen Ideen zu verstehen, während es sich bei der Durchsetzung um die Prozesse handelt, welche zur Herstellung und Vermarktung notwendig sind. Betroffen sind davon potenziell und effektiv neue Leistungsangebote, also sowohl die Produkte und Prozesse, welche durch die Innovation im engeren Sinne, die Imitation und die Entwicklung beschrieben wurden. Diese Aktivitäten können für bereits bisher bearbeitete oder auch für neue Märkte notwendig werden. Letztlich handelt es sich beim Innovationsmarketing damit um eine Querschnittfunktion für das anbietende Unternehmen, die von der marktorientierten Unternehmensführung ausgeht, alle Funktionsbereiche betrifft und in ihrer Gestaltung mit Hilfe neuartiger Produkte und Prozesse auf die Erreichung unternehmerischer Ziele auszurichten ist.
4
Gestaltung des Innovationsmarketing
Für die Gestaltung des Innovationsmarketing werden Kriterien gewählt, die in ihrer Gesamtheit eine Spezifizierung des Schaffungs- und Durchsetzungsprozesses ermöglichen. Ausgangspunkt ist dabei die Definition der Ziele des Innovationsmarketing, welche zur Erreichung der unternehmerischen Zielsetzung beitragen sollen.
4.1
Ziele des Innovationsmarketing
Die Inhalte einer solchen Zielsetzung dürften sich im Detail zwischen den meisten einzelnen Unternehmen unterscheiden. Grundsätzlich ist aber GROSSKLAUS (2008) zuzustimmen, der eine übergreifende unternehmerische Zielsetzung in der Zukunftssicherung des Unternehmens sieht (vgl. Großklaus, R. H. H. (2008), S. 20ff). Um diese Zukunftssicherung zu erreichen, muss sich das Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil schaffen, den es entweder durch die Einzigartigkeit seines Produktes oder seiner Prozesse erwirbt. „Innovationsbedarf besteht, wenn das vorhandene Leistungsprogramm mittel- und langfristig nicht ausreicht, um die Unternehmensziele zu erreichen und die Wettbewerbsvorteile zu erhalten“ (Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 107). Mit der Schaffung und Durchsetzung von potenziell und effektiv neuen Leistungsangeboten gegenüber bestehenden und potenziellen Absatzmärkten besteht die Chance, „für einen begrenzten Zeitraum eine monopolartige Marktstellung inne zu haben“ (Schewe, G. (2005), S. 195). Hierfür ist eine grundlegende Definition der einzelnen unterscheidbaren Gestaltungsparameter für das Innovations-
Grundlagen des Innovationsmarketing
11
marketing vorzunehmen, wozu zunächst die Festlegung der verfolgten Innovationsarten gehört.
4.2
Innovationsarten
Die Innovationsarten werden nach verschiedenen Kriterien in x
Produkt- Prozess-, Verfahrens-, Struktur- und Standortinnovationen (Objektperspektive),
x
technisch getriebene, mittelgetriebene und zweckgetriebene Innovationen (Quellenperspektive),
x
Inkrementelle und radikale Innovationen (Entwicklungsperspektive),
x
Industrie-, Handels, Dienstleistungs- und öffentliche Verwaltungsinnovationen (Institutionenperspektive) und
x
total neues und verbessertes Produkt (Innovationsgrad)
unterschieden. Aus der Objektperspektive betrachtet handelt es sich bei Produktinnovationen um Markt- und Unternehmensneuheiten hinsichtlich der angebotenen materiellen und immateriellen Leistungen eines Unternehmens. Prozess- und Verfahrensinnovationen dienen der Verbesserung oder Neugestaltung der Abläufe. Strukturinnovationen führen zur Verbesserung der Aufbauorganisation und bei Standortinnovationen handelt es sich um Verbesserungen des Ortes, an dem Unternehmen ihre Tätigkeit realisieren. Bei der Beschreibung aus der Quellenperspektive kann eine technisch getriebene Innovation entstehen. Hierbei befindet sich der Ausgangspunkt der Innovationsbemühungen in einer neuen technischen Lösung, die gegebenenfalls wegen ihrer Eigenschaften durch Patentanmeldung geschützt werden kann. Existiert eine solche zufriedenstellende Lösung, so kann weiter nach neuen Verwendungsmöglichkeiten gesucht werden, auch wenn dafür die bestehende Technologie verändert werden muss. Es handelt sich dann um eine mittelgetriebene Innovation. Soll dagegen die Innovation einen bestimmten Zweck erfüllen, so verläuft der Innovationsprozess zweckgetrieben.
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Alle Innovationen können entweder durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten und Prozessen entstehen oder durch die von einer Weiterentwicklung unabhängige Suche nach einem völlig neuen Produkt. MEFFERT / FINKEN (2003), aber auch HAUSCHILDT (2005), SALOMO/MENSEL (2005) und GASSMANN / KEUPP (2005) unterscheiden daher inkrementelle und radikale Innovationen und differenzieren damit nach der Art ihres Zustandekommens (vgl. Meffert, J. / Finken, T. (2005), S. 423ff., Hauschildt, J. (2005), S. 28f., Salomo, S. / Mensel, N. (2005), S. 481ff. und Gassmann, O. / Keupp, M. M. (2005), S. 217ff). Sowohl inkrementelle als auch radikale Innovationen können in den verschiedenen Segmenten des Marktes vorkommen, weshalb eine weitere Unterteilung nach Institutionen möglich ist. So entstehen Innovationen nicht nur im Industriebereich, sondern auch im Handel, im Dienstleistungsbereich und im öffentlichen Sektor. Dabei findet bei inkrementellen Innovationen im Wesentlichen eine Verbesserung des Produktes oder Prozesses statt und bei den radikalen Innovationen wird in den meisten Fällen ein total neues Produkt oder Prozess entwickelt. Dieser Grad der Neuartigkeit kann dabei subjektiv empfunden oder objektiv festgestellt werden. Bei ersterem handelt es sich um eine emotionale Einschätzung einer einzelnen Person oder Gruppe, während die objektive Feststellung an gemessenen Daten festgemacht werden kann.
4.3
Innovationstiming
Die subjektive Einschätzung eines Produktes hinsichtlich seiner Neuartigkeit kann bei den verschiedenen Zielgruppen unterschiedlich sein. Deshalb richtet sich auch der Zeitpunkt des Markteintrittes innerhalb des Lebenszyklus einer Innovation nach der nachfragenden Zielgruppe, die angesprochen werden soll. Diese unterscheiden sich in Innovatoren, Frühe Mehrheit, Späte Mehrheit und Nachzügler (vgl. Trommsdorff, V. / Seinhoff, F. (2007), S. 25). Während der Innovator auf neue Markttrends reagiert und diese aktiv sucht, ja sogar selber mit gestaltet, wartet die Frühe Mehrheit zunächst einmal ab, welche Entwicklungen sich am Markt zeigen und schließt sich diesen dann frühzeitig an. Dagegen benötigt die Späte Mehrheit mehr Sicherheit hinsichtlich der Marktdurchsetzung von Innovationen und einer Etablierung der Produkte und Prozesse. Ist diese Entwicklung dann schon bald abgeschlossen, orientieren sich auch noch die Nachzügler an ihnen, wobei zumindest die Innovatoren und die Frühe Mehrheit diese Produkte oder Prozesse zum Zeitpunkt des Eintritts der Nachzügler bereits durch andere Innovationen ersetzt haben.
Grundlagen des Innovationsmarketing
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Dieser unterschiedlichen Kundennachfrage werden bei marktorientierter Unternehmensführung auch die Timing Strategien der Anbieter und damit der die Innovation betreibenden Subjekte auf die verschiedenen Nachfragergruppen angepasst. So werden die Innovatoren durch Pioniere bedient, welche als erste neue Marktchancen erkennen und somit einen neuen Trend entwickeln. Sie besitzen die Position der Vorreiter, die ihre Wettbewerbsvorteile aus einem alleinigen oder zumindest geringen Marktangebot ableiten können. In Abhängigkeit vom Ausmaß des Wettbewerbsvorteiles werden die mit der Durchführung einer Präferenzstrategie verbundenen Premiumrenditen abgeschöpft (vgl. Stern, T. / Jaberg, H. (2005), S. 4). Allerdings sind damit auch die Gefahren der fehlerhaften Markteinschätzung und der mangelnden Produktreife verbunden. Außerdem haben die Pioniere hohe Kosten für die Produkt- und Verfahrensentwicklung sowie die Markterschließung aufzubringen. Der Frühe Folger erkennt frühzeitig die Innovationen des Pioniers und deren Marktakzeptanz und bedient mit dem gleichen oder einem ähnlichen Angebot die Frühe Mehrheit. Gegenüber dem Pionier besitzt er den Nachteil des späteren Markteintritts und trifft unter Umständen auf Markteintrittsbarrieren, die dieser errichtet hat. Er profitiert aber von den geschaffenen Positionen des Pioniers, insbesondere auch von der Sensibilisierung des Marktes für die Innovationen (vgl. auch Schewe, G. (2005), S. 185). Diese Vor- und Nachteile sind noch stärker bei dem Späten Folger ausgeprägt, welcher die Späte Mehrheit bedient und mit einer größeren zeitlichen Verzögerung in den Markt eintritt als der Frühe Folger. Er profitiert von einer längeren Marktbeobachtung und damit der Perfektionierung von Produkt und Verfahren. Daher fallen Entwicklungs- und Markterschließungskosten nur für seinen Markteintritt an, aber nicht für die grundsätzliche Innovation und die Marktsensibilisierung. Die Überwindung wirksam aufgebauter Markteintrittsbarrieren kann jedoch schwierig oder sogar unmöglich sein; ebenso können Pionier und Früher Folger sich bereits Kostenvorteile aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen erarbeitet haben. Auch der Nachzügler wird von einigen der Späten Folger bedient, wobei es sich hierbei einerseits um Unternehmen mit großem Sicherheitsdenken und solchen mit der verminderten Bereitschaft der Veränderung von Produkten und Prozessen handelt. Sie können innerhalb ihres Geschäftsmodelles nur noch die Chancen wahrnehmen, welche sich aus traditionsbewussten Nachfragern ergeben und riskieren damit, dass sie sich mit dieser immer kleiner werdenden Zielgruppe innerhalb eines verbleiben-
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den kurzen Produktlebenszyklus aus dem Markt verabschieden müssen. Risiken hinsichtlich der Produktreife haben sie kaum. Für die Umsetzung der verschiedenen Timingstrategien sind die internen Innovationsstrukturen zu schaffen.
4.4.
Innovationsstrukturen
Unter Innovationsstrukturen ist der organisatorische Aufbau eines Unternehmens zu verstehen, das den Innovationsprozess durchführt. Dabei handelt es sich insbesondere um die Entscheidung, ob die Innovationen intern oder extern entwickelt werden sollen und das Zusammenwirken der verschiedenen Abteilungen und deren Kommunikation untereinander. Bei einer Inhouse Innovationstätigkeit stehen der Schutz der Innovation während des Entwicklungsprozesses und die gewünschte eigene Realisierungshoheit im Mittelpunkt der Betrachtung. Nachteile können in der mangelnden Fähigkeit liegen, Kenntnis- und Ideendefizite auszugleichen. Bei externen Innovationen werden die Aufträge an externe Innovationsteams vergeben, es werden neue Produkte und Verfahren von Dritten gekauft, Lizenzen vergeben oder auch ganze innovative Unternehmen gekauft (vgl. Vahs, D. / Burmester, R. (2005), S. 306ff). Die Entscheidung für ihren Einsatz richtet sich nach der prozessorientierten Gestaltung des Innovationsprozesses, welcher an der Zielsetzung der Innovation ausgerichtet ist. Dabei gilt sowohl für Inhouse als auch externe Innovationen, dass diese in verschiedenen strukturellen Einheiten vorgenommen werden können so dass mit der Innovationstätigkeit Linienfunktionen, Stabsstellen oder Teams betraut werden. Dieses gilt sowohl für die unternehmensweite Tätigkeit als auch bei einer Dezentralisierung in Divisions. Eine weitere Untergliederung erfolgt nach Teilfunktionen oder nach einzelnen Produkten oder Verfahren
4.5
Innovationsbeteiligte
Nachdem mit den Innovationsstrukturen die organisatorische Komponente im Rahmen des Innovationsmarketings beantwortet worden ist, wird noch dargestellt, wer an der Schaffung und Durchsetzung von Innovationen beteiligt ist. Die Initiatoren, bei denen die Idee für ein neues Produkt oder einen neuen Prozess entsteht, erbringen dieses als kreative Leistung eines Einzelnen oder einer Gruppe. In vielen Fällen kön-
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nen diese Personen identisch mit Fachpromotoren sein, das sind die Beteiligten, für die eine Umsetzung der Idee und ein Lernen aus diesem Prozess wichtig ist. Mit ihren Ideen und ihrer Überzeugungskraft gewinnen sie die Machtpromotoren, das sind in der Regel die Personen, die solche Ideen in einer Organisation umsetzen und auch die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellen können (vgl. Salomo, S. / Mensel, N. (2005), S. 483ff. und Gemünden, H. G. / Hölzle, K. (2005), S. 467). Realisiert wird dieser Umsetzungsprozess von den Prozesspromotoren, welche die Motive von Macht- und Fachpromotoren bündeln und ständig darauf achten, dass auch der Prozess konsequent durchgeführt und die angestrebten Ziele erreicht werden. Hierfür sind nicht selten auch Beziehungen und Koalitionen mit internen und externen Partnern notwendig, welche die Beziehungspromotoren aufbauen und pflegen und die sie sowohl für die Realisierung des Projektes als auch für die eigene Karriere vorantreiben (vgl. Gemünden, H. G. / Hölzle, K. (2005), S. 467). Während die Promotoren an einer Förderung der Innovation interessiert sind, stehen die Opponenten diesen eher kritisch gegenüber. Sie errichten damit eine Barriere des Nichtwissens und Nichtwollens gegen die Schaffung und Vermarktung von Innovationen. Während die destruktiven Opponenten dabei eine grundsätzlich kritische Haltung einnehmen, argumentieren die konstruktiven Opponenten mit Details und stellen die vorgestellten Ideen und Verfahren in Frage, um diese zu verbessern. Sie sollten, wenngleich die Auseinandersetzung mit ihnen auch viel Kraft erfordern kann, in den Innovationsprozess eingebunden werden, damit ihre kritischen Stimmen zu einer Optimierung der Innovation führen. Bei Initiatoren, Promotoren und Opponenten kann es sich sowohl um unternehmensinterne als auch unternehmensexterne Personen handeln. Unternehmensintern gehören hierzu alle Mitarbeiter, welche direkt oder indirekt an der Innovation mitwirken und im Unternehmen beschäftigt sind. Im Rahmen marktorientierter Unternehmensführung ist darüber hinaus auch die Einbindung von Kunden als unternehmensexternen Personen möglich. GROSSKLAUS (2005) unterscheidet sie als passive Abnehmer und als Mitschöpfer. Während erstere nur in der Vermarktungsphase auftreten und dann auf das Angebot eines Produktes oder Prozesses reagieren, wirken die Kunden als Mitschöpfer aktiv an der Schaffung des Produktes mit. „Die Konzepte zur direkten Integration des Kunden in den Entwicklungsprozess bilden einen Aspekt des ... „Open Innovation“ Ansatzes“ (Stahl, M. / Seidel, M. (2005), S. 787). Darüber hinaus ist die Einbeziehung von Kooperationspartnern bei der Schaffung und Vermarktung von Innovationen möglich. Hierbei kann es sich um horizontale
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oder vertikale Kooperationen handeln. Während horizontale Kooperationen mit gleich- oder ähnlich positionierten Unternehmen der gleichen Branche und Wertschöpfungsstufe durchgeführt werden, erfolgen vertikale Kooperationen mit Partnern aus vor- oder nachgelagerten Wertschöpfungsstufen. Es kann sich dabei um Kunden, Lieferanten oder Agenturen handeln, die einerseits aus ihrer Nähe zum Endverbraucher, andererseits aber auch aus der Kenntnis von Entscheidungen der Mitbewerber wesentlich zur Marktfähigkeit der Innovation beitragen können.
4.6
Innovationsprozesse
Zwecks Einbeziehung von internen und externen Partnern und Sicherstellung der zielgerichteten Durchführung von Prozessen des Innovationsmarketing ist der Ablauf von Innovationsprozessen eindeutig festzulegen. Während ERNST (2005) einen solchen Prozess lediglich in die Schritte Konzeptionsphase Entwicklungsphase, Test und Einführungsphase (vgl. Ernst, H. (2005), S. 251ff) unterteilt, differenziert Hauschildt dieses weiter in Initiative, Forschung, Entwicklung, Verwertungsanlauf und laufende Verwertung (vgl. Hauschildt, J. (2005), S. 35f). Eine umfassendere Beschreibung liefert dagegen GROSSKLAUS (2008) und unterteilt den Innovationsprozess in x
Problemerkenntnis und Suchfeldfestlegung,
x
Ideenfindung,
x
Bewertung und Auswahl,
x
Strategische Entwicklung,
x
Operative Entwicklung und
x
Markteinführung (vgl. Großklaus, R. H.H. (2008), S. 46).
Da Großklaus in seiner Veröffentlichung aber nur den Prozess der Einführung neuer Produkte beschreibt, sind für das Innovationsmarketing auch noch die x
Marktdurchsetzung und
x
Rücknahme des Produktes aus dem Markt
zu ergänzen. Ähnlich definieren TROMMSDORFF / STEINHOFF (2007) die einzelnen Phasen, wobei sie die Marktinformationen, die Innovationsphasen und die Technikinformationen gegenüberstellen und damit die Vernetzung von Markt, Innovation
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und Nutzung technischer Daten darstellen (vgl. Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 38ff). Diese wird im Folgenden übernommen, wobei die Phase der Marktbearbeitung und des Feedback in die Phasen Markteinführung, Marktdurchsetzung und Rücknahme aus dem Markt weiter unterteilt werden. Der so definierte Innovationsprozess ist in der Abbildung 2 dargestellt worden (vergleiche Abbildung 2).
Abbildung 2: Phasen des Innovationsmarketing Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 39.
Die aus diesem Ablauf ersichtliche erste Phase der Problemerkenntnis und Suchfeldfestlegung bedarf einer Initiative, mit welcher der Anstoß zur Innovation gegeben wird. In vielen Fällen ist diese auf die kreative Leistung eines Einzelnen zurückzuführen. Bei dieser Person liegt das bewusste Erkennen einer Divergenz zwischen Erwartung und Realität vor. Sie kann durch singuläre Anlässe erfolgen oder auch als kontinuierlicher Ideenfindungsprozess im Unternehmen institutionalisiert werden (vgl. hierzu auch Herstatt, C. / Lüthje, C. (2005), S. 268). Um die Divergenz abzustellen, will sie etwas tun und macht die Initiative öffentlich. Die Geschäftsleitung und damit die Machtpromotoren innerhalb eines Unternehmens entscheiden dann über die Ablehnung oder Weiterverfolgung der Initiative (vgl. Salomo, S. / Menzel, N. (2005), S. 478ff). Nach einer Entscheidung über die Weiterverfolgung wird der Ideenfindungsprozess durchgeführt. „Die Gewinnung von Neuproduktideen wird ... als systematischer Prozess verstanden, in dessen Rahmen Informationen beschafft, ausgewertet und zu Ideen für Innovationen verdichtet werden“ (vgl. Herstatt, C. / Lüthje, C. (2005), S. 267). Als Methode im Rahmen marktorientierter Unternehmensführung bietet sich hierfür die Means End Kette als Verbindung zwischen Werthaltungen der Kunden
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und Gestaltungsdimensionen der Produkte an (vgl. Herrmann, A. / Schaffner, D. (2005), S. 392). Dabei wird der Zusammenhang zwischen Produkten und der Bedürfnisbefriedigung von Kunden untersucht. Die gefundenen Ergebnisse werden dann bewertet. Dazu sind sie in einer SWOT Analyse abzubilden, welche die Stärken und Schwächen eines Unternehmens den Chancen und Risiken des Marktes gegenüberstellt. Für jede einzelne Innovation wird festgestellt, ob das Unternehmen für ihre Realisierung Stärken oder Schwächen besitzt und ob am Markt Chancen oder Risiken bestehen. Verschiedene Innovationsideen, welche Chancen am Markt bieten und auch mit den Stärken des Unternehmens zu realisieren sind, werden in einem weiteren Bewertungsschritt auf ihre Vorteilhaftigkeit für die unternehmerische Zielsetzung untersucht und beispielsweise mit Hilfe der Nutzwertanalyse weiter bewertet (zum Bewertungsverfahren mit Hilfe der Nutzwertanalyse vergleiche auch Zangemeister, C. (1973)). Die Bewertungsschritte sollten von einer Personengruppe vorgenommen werden, sinnvoll ist hierfür die Einrichtung eines Projektlenkungsausschusses (vgl. Stern T. / Jaberg, H. (2007), S. 178). Die Bewertungsergebnisse führen dann im Rahmen der strategischen Entwicklung auf der Grundlage der Unternehmensstrategie zur Festlegung der Grundorientierungen (das richtige Geschäft). Hierzu gehören die Innovationsarten, das Innovationstiming und die Innovationsstrukturen (vgl. auch Gliederungspunkt 4.4), aber auch die Marketingziele (vgl. Becker, J. (2006), S. 60ff). Diese festgesetzten strategischen Rahmenbedingungen werden durch operative Entscheidungen umgesetzt. Hierzu gehört, soweit für das Innovationsobjekt notwendig, die technische Konstruktion und die Gestaltung eines Produktes sowie die Realisierung von Markttests. Dafür wird zunächst ein Prototyp erstellt, mit dem Funktionsund Markttests als auch Budgetierung und Kalkulation vorgenommen werden. Für die letztlich folgende Markteinführung ist der Marketing-Mix festzulegen und zu organisieren. Dieses letzte Glied in der marketingkonzeptionellen Kette stellt den koordinierten Einsatz der Marketinginstrumente Produkt- und Programmpolitik, Preisund Kontrahierungspolitik, Distributionspolitik und Kommunikationspolitik dar (vgl. Becker, J. (2006), S. 485ff). In Abhängigkeit von der Anzahl der unterschiedlichen Konsumentenzielgruppen (Vgl. Gliederungspunkt 4.3) können unterschiedliche Kombinationen des Marketing – Mix erforderlich werden.
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Im Rahmen der Marktdurchsetzung sind schließlich die unterschiedlichen Konsumentenzielgruppen zu bedienen und dabei bereits neue Innovationsprozesse anzustoßen, die dann die Möglichkeit bieten, dieses Produkt rechtzeitig in seiner Sättigungs- oder spätestens in der Rückgangphase aus dem Markt zu nehmen (vgl. hierzu auch Becker, J. (2006), S. 731ff). Es findet also eine gleichzeitige Abfolge von verschiedenen Prozessen im Innovationsmarketing für unterschiedliche Produkte statt (parallele Innovationsmarketingprozesse). Die Aufgabe des Produktes und Rücknahme aus dem Markt erfolgt dann parallel zur Vermarktung oder sogar zur Einführungsphase anderer Produkte. Der Prozess des Innovationsmarketing befindet sich hinsichtlich der verschiedenen Produkte also ständig in einem Revival, was auch die Bereitschaft zur Kannibalisierung von einzelnen Produkten voraussetzt.
4.7
Innovationstreiber und Innovationshemmnisse
Im Rahmen dieser permanenten Infragestellung von Produkten und Prozessen gibt es Treiber und Hemmnisse, die Innovationen fördern, erschweren oder sogar unmöglich machen können. Diese werden unterteilt in Einstellungen zu Innovationen sowie organisatorische, kulturelle und personelle Bedingungen des Unternehmens. Außerdem gehört hierzu auch die Ausstattung von Unternehmen mit den für die Innovation nötigen Ressourcen (vgl. auch Großklaus, R. H.H. (2008), S. 35). Werden die einzelnen Einflüsse in einer konstruktiven Art und Weise gestaltet, so treiben sie die Innovationen. Im umgekehrten Fall werden Innovationen eher behindert. Grundvoraussetzung für eine innovative Tätigkeit ist der unbedingte Wille, neue Herausforderungen anzunehmen und neue Produkte beziehungsweise Prozesse zu schaffen (vgl. Stern, T. / Jaberg, H. (2007), S. 20ff). Ist diese Bereitschaft vorhanden, dann besteht auch die Bereitschaft, einzelne Bedingungen so zu gestalten, dass sie zu Treibern und nicht zu Hemmnissen werden. Zu den Hemmnissen aus der Gruppe der Einstellungen zu Innovationen gehören x
Vernachlässigung von langfristig erfolgreichen Innovationen,
x
Gleichsetzung von Innovationen mit Produktinnovationen und
x
Entwicklung von Innovationen im Geheimen.
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20
Werden langfristig erfolgreiche Innovationen vernachlässigt, weil für diese ein Misserfolg nicht vorstellbar ist, so können sie gerade deshalb zum Misserfolg werden. Die Entwicklung von Innovationen und Beobachtung ihrer Wirksamkeit am Markt als auch die Bereitschaft, sie zu verändern oder zu ersetzen, ist auch für scheinbar anhaltend erfolgreiche Innovationen nötig, um den Eintritt in die Reifephase oder gar in die Rückgangphase zu erkennen. Bei der Gleichsetzung von Innovationen mit Produktinnovationen wird auf eine Überarbeitung der Prozesse und Verfahren verzichtet, welche dann einfach nicht mehr zu den Produkten oder zu den Verhaltensanforderungen der Kunden passen. Werden Innovationen im Geheimen entwickelt, so fehlt die prüfende Resonanz aus dem Markt und es besteht die Gefahr, dass die Entwickler ihre eigenen Maßstäbe auch für die Maßstäbe des Marktes halten. An diese Maßstäbe sind auch die organisatorischen Bedingungen anzupassen, zu denen alle ablauf- und aufbaubezogenen Kriterien, wie x
Entscheidungswege,
x
Kontrollen,
x
Sicherheitsstufen,
x
Eindeutigkeit des Zielsystem und
x
klare Regelung der Verantwortungen für Innovationen
gehören. Strenge Entscheidungswege beeinträchtigen das kreative Ausbrechen aus dem Alltag und damit die Freiheit, alle kreativen Entwicklungen zuzulassen. Auch Terminschwierigkeiten und stimmungsabhängige Entscheidungen beinhalten die Gefahr, dass das Entscheidungsergebnis eine Demotivation der beteiligten Mitarbeiter zur Folge hat. Strenge Kontrollen und Sicherheitsstufen verhindern bei der ersten Hürde die Weiterentwicklung und verzichten auf die Chance, im Rahmen des weiteren Prozesses eine Lösung zu finden. Liegt ein nicht eindeutig definiertes Zielsystem vor, so fehlt der Orientierungsmaßstab für die Beurteilung der Ergebnisse. Gleiches gilt für Entscheidungssituationen innerhalb des Innovationsmarketingprozesses, für die klare Verantwortungsregeln bestehen müssen. Hinsichtlich der kulturellen Bedingungen hemmen
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x
hohe kurzfristige Erwartungen,
x
Angst vor Fehlern,
x
mangelnde Kommunikation,
x
mangelnde Kenntnis über die Strategie von Innovationen und
x
Fehlen eines innovationsfördernden Klimas
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den Innovationsprozess. Während hohe kurzfristige Erwartungen immer die Gefahr der Enttäuschung in sich bergen, obwohl bereits Teilziele erreicht wurden, kann die Angst vor Fehlern sogar zu einem Verzicht auf innovative Ideen führen, weil damit unter Umständen die eigene berufliche Existenz der Beteiligten gefährdet werden kann. Mangelnde Kommunikation lässt schließlich den notwendigen Austausch von Meinungen und das damit verbundene Entwicklungspotenzial aus verschiedenen Ideen unberücksichtigt. Die mangelnde Kenntnis über die Strategie von Innovationen führt Entwicklungs- und Durchsetzungsprozesse in die falsche Richtung, während ein innovationsförderndes Klima das Erbringen von herausragenden Leistungen anspornt. Die personellen Bedingungen, welche sich auf Hemmnisse des Innovationsprozesses auswirken, setzen sich zusammen aus x
Defizit an Kreativität,
x
Mitarbeiter mit Hang zu lateralem und visionärem Denken fehlen und
x
mangelndes Bewusstsein, ständig innovieren zu müssen.
Umgesetzt wird nämlich Kreativität durch Personen, welche alleine schon definitionsgemäß bei Innovationen bereit und in der Lage sein müssen, das Unmögliche zu denken und auszuprobieren. Sind Wollen und Fähigkeit hierzu nicht gegeben, so kann der Innovationsprozess nicht stattfinden. Dafür dürfen sie nicht nur das Bestehende weiterdenken sondern sollten auch völlig neue Lösungen in Betracht ziehen. Außerdem kann es fehlende Ressourcen geben, welche die Innovationen im Unternehmen be- oder verhindern. Hierzu gehören x
externe Informationsdefizite,
x
fehlende finanzielle Mittel.
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Vorhandene Informationen sind Grundvoraussetzungen für das Erkennen von Umwelt- und Marktentwicklungen, weil sich alle Entwicklungen gerade hieran orientieren. Fehlende finanzielle Mittel erlauben weder die Beschaffung von personellen und sachlichen Ressourcen noch das Überleben des Unternehmens während des Zeitraumes, der für den Innovationsprozess notwendig ist.
4.8
Innovationserfolg
Der anforderungsgerechte Einsatz der Innovationstreiber orientiert sich am angestrebten Innovationserfolg. Dabei wird unter Erfolg die Erreichung eines definierten oder allgemein als erstrebenswert anerkannten Zieles verstanden (vgl. auch Loock, H. (2008), S. 24). Die Gestaltung des Innovationsmarketing findet zwecks Erreichung des festgelegten Unternehmenszieles statt. Ein solcher Innovationserfolg kann immer ex post oder ex ante gemessen werden. Während die Messung des eingetretenen tatsächlichen Erfolges als Vergangenheitsbetrachtung eine Kontrolle der ursprünglich geplanten Daten darstellt, handelt es sich bei der zukunftsgerichteten Betrachtung um einen Forecast, der aufgrund einer Planung, der bisher gewonnenen Erfahrungen und einer Projektion in die Zukunft ermittelt wird. Dabei ist die Feststellung, ob eine Innovation in der Vergangenheit erfolgreich war, „in der Situation der Entscheidung und Durchsetzung zukünftiger Innovationen irrelevant“ (Hauschildt, J. (2005), S. 36). Wichtig ist vielmehr, dass die Zukunftserwartungen an eine Innovation erfüllt werden. LITTKEMANN (2005) definiert den Erfolg als Realisierung technischer Zielsetzungen, strategisch orientierter Zielsetzungen und die zielgerichtete Koordinierung der unterschiedlichen Aktivitäten (vgl. Littkemann, J. (2005), S. 587). Wenngleich diese Kriterien unter anderen als Erfolgsmaßstäbe herangezogen werden können, ist ALBERS (2005) zuzustimmen: „Nicht die Neuigkeit ist entscheidend, sondern ob die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager relativ zu den Kosten hoch genug ist“ (Albers, S. (2005), S. 424, ähnlich auch Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 53). Für unternehmerische Innovationsentscheidungen findet damit Erfolgskontrolle im Wesentlichen zukunftsorientiert statt. Erfolgsbetrachtungen von Innovationen werden deshalb mit Hilfe des Innovationscontrollings vorgenommen. „Aufgabe des Innovationscontrollings ist nicht zuletzt, relevante Verfahren und Methoden zur Steuerung des Innovationsprozesses auszuwählen, damit die von der Unternehmensleitung verfolgten Innovationsziele erreicht werden können“ (Littkemann, J. (2005), S. 588f). Dieses erfolgt durch sich ständig
Grundlagen des Innovationsmarketing
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wiederholenden Vergleich der tatsächlich eingetretenen mit den geplanten Ergebnissen und Forecast auf das voraussichtliche Gesamtergebnis eines definierten Zeitraumes. Dabei steigt die Schwierigkeit des Einsatzes von ProduktinnovationsErfolgsprognosen „mit zunehmendem Zeithorizont, Neuigkeitsgrad und Anwendungs/Kundenspektrum“ (Gerpott, T. J. (2005), S. 439). Diese Aussage impliziert, dass mit abnehmendem restlichen Zeithorizont die Genauigkeit der Prognose zunimmt und damit die Möglichkeiten der Gegensteuerung treffsicherer werden. Als Verfahren zur Erfolgsprognose von Produktinnovationen schlägt GERPOTT (2005) reaktive und nichtreaktive Verfahren vor (vgl. Gerpott, T. J. (2005), S. 443ff). Während reaktive Verfahren auf der Basis von Kunden- oder Expertendaten stattfinden können, werden für nichtreaktive Verfahren das Kundenverhalten und technologische Merkmale der im Markt einzuführenden Produktinnovationen herangezogen. Auch eine Kombination beider Verfahren ist dabei möglich. Hierbei sind dann nicht nur die Bestandteile der Innovationen zu berücksichtigen sondern auch die Einflüsse von Wettbewerberangeboten, Ausgabebereitschaft der Kunden und deren Akzeptanz der getroffenen Marketingmaßnahmen. GERPOTT (2005) definiert als Erfolgsindikatoren für Produktinnovationen die Absatzmengen, Umsätze, Deckungsbeiträge, Umsatzmargen, Gewinne, Imageveränderungen und Produktinnovationskapitalwert (vgl. Gerpott, T. J. (2005), S. 438). Eine andere Unterscheidung nimmt LEKER (2005) vor. Er differenziert einerseits das strategische und operative Controlling des Forschungs- und Entwicklungsbereiches und andererseits das operative Controlling der Forschungs- und Entwicklungsprojekte (Leker, J. (2005), S. 573). Das strategische Controlling des Forschungs- und Entwicklungsbereiches soll sicherstellen, dass deren Leistung durch die wirtschaftlichen Zielsetzungen des Unternehmens bestimmt wird. In diesem Rahmen dient das operative Controlling der Planung und Steuerung der am Innovationsprozess beteiligten Bereiche und Abteilungen. Die Sicherstellung der zielorientierten Projektabwicklung ist dagegen Aufgabe des operativen Controlling der Forschungs- und Entwicklungsprojekte. VAHS / BURMESTER (2005) beschreiben ausführlich das Innovationscontrolling, welches über ein funktionsbezogenes Forschungs- und Entwicklungscontrolling hinaus geht (vgl. Vahs, D. / Burmester, R. (2005), S. 283ff). Sie unterteilen es in das strategische Innovationscontrolling im Sinne einer Steuerung der Erfolgspotenziale des Unternehmens und in das operative Innovationscontrolling im Sinne der Steuerung von Ergebnissen und Finanzen des Unternehmens. Für den gesamten Prozess
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des Innovationsmarketing finden mit Hilfe von Controllinginstrumenten die Information und Koordination, die Planung und Kontrolle als auch die Beratung für das die Innovation betreibende Unternehmen statt. TROMMSDORFF / STEINHOFF legen als Methodologie der strategischen Produktinnovationserfolgsfaktorenforschung (PIEFF) umfangreiche Ausführungen vor (vgl. Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 58ff ). Sie beschreiben die Vorgehensweise für die Feststellung von Produktinnovationserfolgen, die gleichermaßen auch für Prozessinnovationserfolge gilt. Dabei nennen sie eine große Anzahl unterschiedlicher Forscher, die mit verschiedenen Forschungsmethoden feststellen, welche internen und externen Faktoren zum Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen führen. Auf der Basis dieser einzelnen Studien beschreiben sie weiter, wie mit Hilfe von Metastudien dann unternehmensübergreifende Erfolgsfaktoren ermittelt werden (vgl. Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 66ff.). Letztlich kann aus diesen Ausführungen geschlossen werden, dass diese Ergebnisse für die Durchführung situativer Erfolgsfaktorenforschungen herangezogen werden können, für die unkritische Anwendung aber zu allgemein formuliert sein dürften.
5
Theorien des Innovationsmarketing
Die Ausführungen zum Innovationsmarketing haben bisher ihre Fundierung in mehreren Innovationstheorien gefunden. Grundlegend werden die von Schumpeter bereits 1931 vorgelegten Ausführungen zur schöpferischen Zerstörung als Grundlagen angesehen, auch wenn hierbei der Begriff Innovation oder gar Innovationsmarketing noch nicht vorkam (vgl. Hauschildt, J. (2005), S. 25 und Vahs, D. / Burmester, R. (2005), S. 45). Eine ausführliche Gegenüberstellung der Theorien zum Innovationsmarketing liefern SCHEWE / BECKER (2009) (vgl. Schewe, G. / Becker, S. (2009), S. 39ff). Sie unterteilen die wissenschaftlichen Untersuchungen in drei Phasen, wobei die erste, welche die Autoren „generation zero“ nennen, mit den Modellen zu den Fragen des Technology-push oder market-pull beschrieben werden. Der zweiten Phase, die auch als 1st generation beschrieben wird, liegt insbesondere das Ideenakzeptierungs- und Ideenrealisierungsmodell von Thom und deren weitere Unterteilung zugrunde. In der dritten Phase, die auch 2nd generation genannt wird, ist die Parallelität von technischer Entwicklung und Marketing-Konzept zu erkennen. Innerhalb dieser Parallelität
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entstehen auch Rückkopplungen. Auch die Aufnahme von Meilensteinen zwecks Entscheidung, ob der Innovationsprozess weitergeführt wird oder nicht, fällt in diese Phase. Insgesamt lassen sich Theorien für alle Phasen des Innovationsmarketings entwickeln. Wegen der relativen Neuheit dieser betriebswirtschaftlichen Disziplin existiert dafür noch ein umfangreiches Aufgabengebiet und damit eine umfassende akademische Freiheit, dieses zu nutzen. Gleiches gilt auch für die praktische Anwendung eines Innovationsmarketing. Aus dem Auftreten von praktischen Problemen und ihrem Lösungsversuch dürften sich dabei auch zahlreiche Ansätze für die Formulierung von weiteren Theorien des Innovationsmarketing ergeben.
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Management von Widerstand in Innovationsprozessen Hubert Steppeler*
1
Abstract...........................................................................................................30
2
Dimensionen der theoretischen Bezugnahme ................................................30 2.1 Führungstheoretische Perspektive .......................................................31 2.2 Ressourcentheoretische Perspektive ...................................................33 2.3 Diffusionstheoretische Perspektive.......................................................34
3
Widerstand in Innovationsprozessen ..............................................................35 3.1 Ursachen und Arten von Widerstand ...................................................36 3.2 Barrieren des Nicht-Wissens, Nicht-Könnens, Nicht-Wollens ..............38 3.2.1 Fähigkeitsbarrieren ................................................................39 3.2.2 Willensbarrieren.....................................................................40 3.3 Wirkungen des Widerstands ................................................................41
4
Managementkompetenz der Promotoren........................................................42 4.1 Intra-organisationale Kompetenz .........................................................44 4.1.1 Machtpromotor ......................................................................45 4.1.2 Fachpromotor ........................................................................45 4.1.3 Prozesspromotor ...................................................................46 4.2 Inter-organisationale Kompetenz .........................................................47 4.3 Promotorenkonfigurationen .................................................................48 4.4 Promotoren-Troika ...............................................................................48
5
Empirische Befunde zum Promotoren-Modell ................................................49
6
Promotoren-Konzept und Aktualität der Modellannahmen .............................51
7
Ausblick...........................................................................................................53
Literaturverzeichnis ...................................................................................................54
* Dr. Hubert Steppeler ist als Projektentwickler und Investor sowie als geschäftsführender Gesellschafter in der Bau- und Einrichtungsbranche tätig.
Hubert Steppeler
30
1
Abstract
Innovationen bestimmen in einem ganz entscheidendem Ausmaße die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens. Sie sind es, die der unternehmerischen Zukunft eine Zukunft geben (vgl. Brockhoff, K. (2006), S. 4). Aus diesem Verständnis heraus entwickeln sich erfolgreiche Unternehmen permanent weiter, um auf sich ändernde Markt- und Wettbewerbsbedingungen situationsgerecht und zeitlich angemessen reagieren zu können. Innovationen sind allerdings mit Wandel verbunden und aus diesem Grunde ist in der bestehenden Organisation einer Unternehmung auch mit ungewohnten Reaktionen, Engpässen oder auch mit Widerstand gegen die Innovation zu rechnen. Es erweist sich als Irrtum, dass Innovationen grundsätzlich und jederzeit willkommen sind. Insbesondere im Verlaufe des Innovationsprozesses, aber durchaus auch im Vorstadium, treten unterschiedliche Probleme auf, die eine durch Innovation ausgelöste Entwicklung blockieren und behindern. Die Ursachen sind höchst vielfältig, ohne im Auftritt dabei ein Maß an Regelmäßigkeit vermuten zu lassen. Widerstände und Barrieren sollten nicht allein aus der Ergebnisperspektive, sondern auch aus den Entstehungsursachen heraus begriffen werden. Von daher bezieht dieser Beitrag die theoretische Ebene in die Frage mit ein, wo und in welcher Form Leistungs- und Störpotentiale zu identifizieren und in Aktivitäten zu bündeln sind, und zwar in einer Antwort darauf, wer als Förderer, Treiber, oder auch Konfliktregulierer (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 199) in einen Innovationsprozess einzubinden ist und welchen Problemlösungsbeitrag in dieser Frage das Promotorenmodell in einem für notwendig erklärten Innovationsmanagement zu übernehmen vermag.
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Dimensionen der theoretischen Bezugnahme
Im Gegensatz zu den betrieblichen Abläufen kennt der Innovationsprozess keine Arbeitsroutinen. Dies schon deshalb nicht, weil jeder Innovationsablauf durch ein unvergleichbares Beziehungsgeflecht geprägt wird und die Rahmenbedingungen der jeweiligen Ausgang- und Ablaufsituation individuell sehr unterschiedlich sind. Situationsidentisch ist allerdings grundsätzlich die Startphase und der hier anzutreffende Zustand. Die Innovationsidee ist zunächst grundsätzlich immer erst von einem Ausmaß an Komplexität umgeben (vgl. Schreyögg, G. (2003), S. 309 ff). Die Genauigkeit
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_2, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Management von Widerstand in Innovationsprozessen
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zielführender Entscheidungen im Innovationsprozess ist nur dann erfolgreich zu erhöhen, wenn systematisch jene Kriterien identifiziert werden, die in der Wirkung helfen, ein vorhandenes und unerwünschtes Maß an Komplexität zu reduzieren. Im Rahmen dieses Beitrages wird sehr eng der Auffassung von Hauschildt gefolgt, der in der theoretischen Einbindung (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 36 ff), den Entscheidungs- und Durchsetzungsprozess von Innovationen aus dem Blickwinkel der x führungstheoretischen Perspektive x ressourcentheoretischen Perspektive x diffusionstheoretischen Perspektive analysiert und das Ausmaß an Ressourcen und Potentialen zu identifizieren versucht, die den Führungs-, Entscheidungs- und Diffusionsprozess in der Ergebniswirkung – positiv oder negativ – beeinflussen.
2.1
Führungstheoretische Perspektive
Aus diesem Blickwinkel ist der Innovationsprozess sowohl ein Entscheidungs- als auch ein Durchsetzungsprozess, aus alternativer Sicht auch ein Entwicklungs- und ein Umsetzungsprozess. Weder die Innovationsaufgabe noch der Innovationsprozess haben zunächst eine klare Struktur und Kontur (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 37 f). Bekannt sind weder die Bedingungen für einen Innovationserfolg, noch die Konsequenzen, die mit einer getroffenen Entscheidung in den Auswirkungen auf den Innovationsprozess zu verbinden sind. Aber nicht nur die im Dunkeln liegende Entscheidungslage ist zu problematisieren; auch ein unbekanntes Ausmaß an Innovationswiderständen behindert das angestrebte Innovationsergebnis. Aus diesem Grunde wird auch verständlich, wenn Innovationen zur Führungsaufgabe erklärt werden. Von grundsätzlicher Bedeutung dabei ist die Erkenntnis, dass Entscheidung und Durchsetzung der Entscheidung untrennbar miteinander verbunden sind und mit jeder Entscheidung somit auch Durchsetzungsaspekte zu bedenken sind. Gerade die Entscheidungsumsetzung, verstanden „als die organisationale Fähigkeit, neue Ideen sowohl intern als auch am Markt durchzusetzen“ (Kriegesmann, B./Kerka, F./Kley, T. (2006), S. 4), liefert eine Vielfalt neuer Informationen, die eine neue Entscheidung notwendig und sicherer machen.
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Eine so verfeinerte und durch Einbeziehung neuer Erkenntnisse abgesicherte Entscheidung ist hilfreich dabei, das Ausmaß an Komplexität zu reduzieren (vgl. Schreyögg, G. (2003), S. 374). Komplexität kann sich auch in einem vorhandenen Ausmaß an Barrieren kennzeichnen, dass sich in Form von Widerstand zu erkennen gibt.
Abbildung 1: Innovation als Entscheidungs- und Durchsetzungsprozess Quelle: (Hauschildt, J. (2004), S. 39).
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2.2
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Ressourcentheoretische Perspektive
Dieser Betrachtungsansatz rückt die Ressourcen und Potentiale einer Innovation in den Mittelpunkt der Betrachtung. Unter Potentiale subsumiert Hauschildt bei den Innovatoren ein notwendiges Maß an Fähigkeiten, um vorhandene Ressourcen zu entdecken, fehlende Ressourcen zu beschaffen oder die Produktionsfaktoren in bisher nicht gekannter Form kombinieren und mit Wissen anreichern zu können (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 41). Menschen sind Träger des Wissens; beispielsweise in Form von technologischem, fachbezogenem Wissen der Innovation, wie auch in Gestalt von marktbezogenem Wissen über vorhandene Kundenpräferenzen, Wettbewerbsdichte etc. Die zu nutzenden Humanressourcen sind eine wesentliche und wertvolle Bestimmungsgröße in der Faktorallokation. Dies wird besonders deutlich, wenn von dem reinen Fachwissen abstrahiert und das Führungswissen in die Betrachtung mit einbezogen wird und man sich dabei auf differenzierte Wissensausprägungen konzentriert, beispielsweise in Form von: x strategischem Wissen
(Ziele, Restriktionen oder z. B. auch Reichweite der Innovation).
x Personalkenntnis
(Kenntnis über Personen, die geeignet und in der Mithilfe verfügbar sind).
x Netzwerkkenntnissen
(z. B. die Kenntnis über Förderer oder Verhinderer einer Innovation (vgl. Bleicher, K. (2001), S. 328 und 342).
In einer noch stärkeren Differenzierung der Wissensebenen kennzeichnen sich so: x Potentiale zur Wissensgenerierung x Organisationspotentiale x Planungspotentiale x Kooperationspotentiale x Finanzierungspotentiale x Konfliktregulierungspotentiale x etc.
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Nicht zu unterschätzen ist dabei die verhaltenswissenschaftliche Erkenntnis, dass die Leistungsbeiträge der betroffenen Personen sehr unterschiedlich sind und in der Leistungsabgabe sehr fein danach zu differenzieren sind, in welcher Form sich möglicherweise ein Einfluss von Hierarchie, Macht oder beispielsweise auch von Geltungssucht zu erkennen gibt. In den Auswirkungen zu bedenken bleibt ebenso, dass die skizzierten Wissenspotentiale an Personen gebunden sind, die aufgrund eines individuellen Charakters auch individuell unterschiedlich auf ein Wissensmanagement reagieren (vgl. Schreyögg, G. (2003), S. 374, vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 42, vgl. Bleicher, K. (2003), S. 136).
2.3
Diffusionstheoretische Perspektive
Während die Führungs- und Ressourcenperspektive die innerbetrieblichen Problemfelder und Konfliktpotentiale reflektieren, bildet die diffusionstheoretische Betrachtung die marktbezogene Datenlage ab (vgl. Klotz, U. (2003), S. 2, vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 43 ff) und beleuchtet dabei die im Systemumfeld (vgl. Kriegesmann, B./Kerka, F./Kley, T. (2006), S. 6) tätigen Akteure der Wertschöpfungskette, wie sie in ihrer Rolle zu sehen und im Wertschöpfungsprozess zu definieren sind. Das Identifizierungsinteresse befasst sich beispielsweise mit der x benötigten Qualität an Rohstoffen, die im Hinblick einer finalen Produktqualität benötigt werden, um auch weiterhin als Qualitätsführer auftreten zu können. x Identifizierung und Vermittlung des Kundennutzens. x Gestaltung möglicherweise neuer Vertriebswege. x Konzipierung des Marktauftritts. „Wenn das Innovationsmanagement erfolgreich sein will, muss es die drei Perspektiven – die Führungs-, die Ressourcen- und die Diffusionsperspektive – integrieren. Das bedeutet auch, dass nach den Wechselbeziehungen, nach verstärkenden und abschwächenden Effekten zu fragen ist. Eines ist indessen unstrittig: Keine der drei Perspektiven kann vernachlässigt werden. Jede ist notwendig, keine allein eine hinreichende Bedingung für den Innovationserfolg“ (Hauschildt, J. (2004), S. 45). Das jedoch erfordert konsequenterweise auch, dass die Analyse der erfolgsbestimmen-
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den Wirkungen um eine strategisch notwendige Identifikation der erfolgshemmenden Aspekte und Widerstände zu ergänzen ist, soll der Innovationserfolg nicht gefährdet oder unnötigerweise verzögert werden.
3
Widerstand in Innovationsprozessen
Jeder Innovationsprozess löst auf allen Stufen der Wertschöpfung einen Wandel aus. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass den Befürwortern einer Investition aus den unterschiedlichsten Gründen auch Personen gegenübertreten, die Innovationen indifferent zur Kenntnis nehmen oder Innovationen mit Widerstand begegnen. Innovationswiderstände sind oftmals nur schwer zu lokalisieren und zu definieren (vgl. Brockhoff, K. (2006), S. 1), nehmen aber in den Auswirkungen einen entscheidenden Einfluss auf den Innovationserfolg. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die Auswirkungen und Folgen eines Wandels sich weder produkt- noch unternehmensübergreifend prognostizieren lassen; sie bleiben grundsätzlich einer Einzelfallbetrachtung vorbehalten. Mangelnde Akzeptanz zeigt sich dabei keineswegs immer auffällig, sondern vollzieht sich ebenso auch geräuschlos. Innovativer Widerstand kennt sehr vielfältige und phantasiereiche Formen der Ablehnung in dem Bemühen, bestehende Macht- und Ressourcenverteilungen zu erhalten (vgl. Staehle, W. H. (1999), S. 977, vgl. Hauschildt, J./Salomo, D. (2007), S. 178). Von Widerstand kann in diesem Zusammenhang immer dann gesprochen werden, „wenn vorgesehene Entscheidungen oder getroffene Maßnahmen, die auch bei sorgfältiger Prüfung als sinnvoll, „logisch“ oder sogar dringend notwendig erscheinen, aus zunächst nicht ersichtlichen Gründen bei Individuen, bei einzelnen Gruppen oder bei der ganzen Belegschaft auf diffuse Ablehnung stoßen, nicht unmittelbar nachvollziehbare Bedenken erzeugen oder durch passives Verhalten unterlaufen werden“ (Doppler, K./Lauterburg, Ch. (2000), S. 293). Widerstand kann von daher als eine Störung im Veränderungsprozess angesehen werden, „die das Ausmaß der wahrgenommenen Veränderung als Ergebnisdifferenz zwischen dem alten und dem zukünftigen Zustand bezeichnet. Dabei kann der durch die innovierende Person wahrgenommene Widerstand sowohl gegen das Ergebnis der Veränderung, als auch gegen den von den Betroffenen wahrgenommenen Prozess der Veränderung gerichtet sein“ (Rüggeberg, H. (2009), S. 10).
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Andererseits hat in der Diskussion von Widerständen und Widerstandswirkungen auch eine Bezugnahme auf ein Innovationsparadox zu erfolgen, wonach Widerstand für legitim und zulässig erklärt wird, da gerade in innovativen Firmen durchaus noch gut funktionierende Anlagen frühzeitig stillgelegt, und damit einhergehend, hochentwickelte Qualifikationen vorschnell entwertet werden. „Innovationsprozesse bergen also in divergierenden Interessenkollisionen ambivalenter Risiken und Konsequenzen. Einerseits zerstören „ruinöse“ Innovationen Erwerbs- und Einkommenschancen und zerschlagen soziale Sicherheit. Anderseits können mit „konstruktiven“ Innovationen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten gestaltet werden“ (Faulstich, P. (2005), S. 4). Es dürfte als unstrittig gelten, dass der Prozess der betrieblichen Willensbildung in der Erfolgswirkung durchaus auch einer kritischen Distanz bedarf. So trägt beispielsweise gerade eine vorhandene Opposition dazu bei, Prestigeinnovationen ggfls. zu verhindern, da sie in einer unangemessenen Form das bereitstehende Innovationskapital verzehren. Opposition ist also nicht grundsätzlich als negativ zu betrachten, sie vermag durchaus auch als Triebfeder den technischen Fortschritt zu lenken.
3.1
Ursachen und Arten von Widerstand
Innovationen werden heute grundsätzlich stärker von Widerstand begleitet als dies aus früheren Jahren bekannt ist. Schumpeter, der Nestor der Innovationsforschung, sah Widerstand als natürlich und durchaus verständlich an. In seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ merkt er 1912 an: „So hat man, wenn man einmal etwas Neues, Ungewohntes tun will, nicht nur größere äußere Widerstände, sondern auch solche in seinem eigenen Inneren zu überwinden. Auf dem Gebiet der Wirtschaften sind alle diese Bindungen von besonderer Bedeutung“ (Schumpeter, J. A. (1912), S. 134). Heute zeigt sich ein sehr breites Widerstandsverhalten, das sich ebenso in Auffälligkeiten wie in Unauffälligkeiten äußert und die Frage begründet, welche Arten von Widerstand einen Innovationsprozess begleiten und welche Ursachen letztendlich den Widerstand begründen. Abstrakt formuliert kann als Auslöser von Widerstand ein bewusst wahrgenommener Unterschied zweier Situationen bezeichnet werden, der sich beispielsweise in der
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Form von „alt und neu“ für den Betrachter als nicht nachvollziehbar darstellt und als inkonsistent und somit unvereinbar abgelehnt wird (vgl. Hauschildt, J./Salomo, D. (2007), S. 178). Widerstand lässt sich beispielsweise nach den Formen (vgl. Olfert, K./Steinbuch, P. A. (2003), S. 289 und S. 440), wie auch nach den Orten des Widerstands differenzieren. Eine sehr umfassende Systematisierung liefert Abb. 2, die in einer ersten Unterscheidung die innerbetrieblichen von den außerbetrieblichen Widerständen trennt.
Abbildung 2: Systematisierung von Innovationswiderständen Quelle: (Rüggeberg, H. (2009), S. 11).
Der innerbetriebliche Widerstand richtet sich gegen Vorgesetzte, Kollegen oder auch Mitarbeiter. Ihm kann man mit hierarchischer Macht, mit innerbetrieblicher Kommunikation oder auch mit einer Veränderung der Unternehmenskultur begegnen. Zwischenbetriebliche Widerstände dagegen bedürfen einer anderen Behandlung. Diese benötigen zur Überwindung Anreize, Prämien oder auch Aufklärung und die Pflege vorhandener Beziehungen. Erklärungsbedürftig werden Widerstände jedoch nicht nur nach dem Ort ihres Auftritts, sondern auch nach der Form, wie Widerstand sich zu erkennen gibt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei nachfolgend auf eine typische Klassifizierung von Widerstand verwiesen (vgl. Rüggeberg, H. (2009), S. 11 ff). x aktiv oder passiv x verbal oder nonverbal x vordergründig oder hintergründig
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x konstruktiv oder destruktiv x individuell oder gruppenbezogen x offen oder verdeckt x loyal oder opportunistisch Es ist offenbar eine strukturelle Trägheit (vgl. Kieser, A./Woywode, M. (2002), S. 269), dass der mit Innovationen verbundene Wandel in den Auswirkungen nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die ihm schon aus der Interessenlage des Innovators heraus gebührt. Große Fehler werden oftmals bereits auf der kommunikativen Ebene begangen und zwar sowohl gegenüber den direkt Beteiligten wie auch gegenüber den Betroffenen. Das bezieht sich insbesondere auf „das Know how über die Innovation, deren Funktionen, Einsatzmöglichkeiten und Einpassungserfordernissen“ (Rüggeberg, H. (2009), S. 12). In der Wirkung von den Innovatoren sicherlich nicht gewollt, greift nun stellvertretend die Spekulation über Art, Ausmaß sowie den damit verbundenen Konsequenzen eines bevorstehenden Veränderungsprozesses.
3.2
Barrieren des Nicht-Wissens, Nicht-Könnens, Nicht-Wollens
Eine weitere, durchaus bedeutsame Form von Widerstand zeigt sich in Form von unterschiedlich intendierten Barrieren. „Darunter wird eine im Wesentlichen emotionale Sperre verstanden, die Organisationsmitglieder- und systeme gegen Änderungen aufbauen. Sie aufzulösen setzt voraus, dass man sie verstehen kann“ (Schreyögg, G. (2003), S. 499). Bereits auf der folgenden Seite allerdings relativiert Schreyögg vorgenannte Aussage und erklärt die Notwendigkeit, Widerstand auf drei Ebenen zu diskutieren; „auf der kognitiven, der emotionalen und der Verstandesebene“ (Schreyögg, G. (2003), S. 500). Widerstand kann sich aber auch aus dem Verständnis der verhaltenswissenschaftichen Entscheidungstheorie erklären. Diese hat – mit dem Konzept der begrenzten Rationalität – die Organisationsforschung nachhaltig beeinflusst und so auch anerkannte Erklärungsmuster für Innovationsbarrieren geliefert (vgl. Kieser, A./Walgenbach, P. (2003), S. 42). In jüngerer Zeit wird zunehmend auch der Einfluss kognitiver Strukturen auf die Erklärung von Veränderungswiderständen hin untersucht. Ein zentrales Interesse gilt dabei der selektiven Wahrnehmung. „Die Frage, in welchem Maße neue Informationen, Empfehlungen für veränderte Abläufe … aufgenommen oder abgewehrt werden, ist also wesentlich eine Frage der Vororientierung…“ (Schreyögg, G. (2003), S.
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500). Demnach gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass emotional unangenehme Stimuli eine höhere Wahrnehmungsschwelle haben, als neutrale oder angenehme Stimuli. Das ist eine hilfreiche Erkenntnis gerade auch für eine Antwort auf die Frage, welchen Stellenwert dem Thema Angst als eine mögliche Form von erlebbarem Widerstand einzuräumen ist.
3.2.1 Fähigkeitsbarrieren Innovationsideen sollten konzeptionell so abgefasst und kommuniziert werden, dass diese zu verstehen und in Wirkung und Tragweite von den Betroffenen auch zu beurteilen sind. Dieser Forderung jedoch wird keineswegs immer entsprochen. Insofern sind grundsätzlich auch Situationen zu reflektieren, in denen Innovationsbeteiligte nicht über das notwendige Ausmaß an Fähigkeiten verfügen, die in der Voraussetzung auf den Innovationserfolg grundsätzlich notwendig sind (vgl. Schreyögg, G. (2003), S. 550). Ein dabei festgestelltes Defizit ist auf die dafür verantwortlichen Ursachen hin zu untersuchen, um notwendige und situationsangemessene Schritte zur Aufarbeitung dieser Defizite unternehmen zu können. Das Hauptaugenmerk hat der Kernfrage zu gelten, ob eine nicht ausreichende Schulung im Vorstadium des Innovationsprozesses verantwortlich für nicht ausreichendes Wissen ist oder die Ursache in einer mangelnden kognitiven Leistung des Betroffenen zu suchen ist. Insbesondere bei beabsichtigten Prozessinnovationen erscheint verständlich, dass niemand das dafür notwendige Wissen in den Erbanlagen erhält (vgl. Haner, U. E. (2006), S. 3). Hier ist mit einer umfassenden Schulung dafür Sorge zu tragen, dass ein Prozessablauf verstanden und dabei vor allen Dingen auch interdependente Bezüge in der Ergebnis- und Erfolgswirkung gesehen werden. Reicht dafür die kognitive Leistung nicht aus, so sind personelle Konsequenzen unabdingbar.
Im Gegensatz zu den Willensbarrieren sind Fähigkeitsbarrieren deutlich leichter zu überwinden. Ein erforderliches Ausmaß an Schulung sollte konzeptioneller Bestandteil eines jeden Innovationsmanagements sein (vgl. Faulstich, P. (2005), S. 10) und dem Verständnis folgen, dass Innovationen in arbeitsteiligen Prozessen entstehen und das betriebliche Wissen sich auf betriebliche Einheiten oder Abteilungen verteilt.
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Die Herausforderung besteht darin, dieses Wissen zu generieren und die Kompetenz des Personals sowohl in der Initiativwirkung, wie auch als Träger von Innovationen zu nutzen.
3.2.2 Willensbarrieren In einer Unterscheidung zu den Fähigkeitsbarrieren kennzeichnen sich Willensbarrieren dadurch, dass es allein dem Willen der Innovationsbeteiligten- und betroffenen obliegt, ob eine neue, objektiv bessere Lösung auch von ihnen als bessere Lösung anerkannt wird. Das Phänomen des Nicht-Wollens tritt sowohl in Erscheinungsform wie in Zielrichtung völlig unbestimmt auf. Es kann sich gegen die Innovation als Ganzes oder gegen Innovationsausprägungen richten. Das Nicht-Wollen kann nachvollziehbar und verständlich vorgetragen werden, sich aber ebenso auch sequentiell zu erkennen geben und zwar gemäß den Ausführungen von Hauschildt: „wer nicht will, findet immer auch einen Grund für seinen Widerstand“ (Hauschildt, J. (2004), S. 173). Dieser kann gegen Organisationen, Objekte oder auch Personen gerichtet sein und sich in vielschichtigen, aber auch absolut trivialen Begründungen äußern. So fokussieren Menschen beispielsweise den Status quo, weil dieser sowohl unter Sicherheits- wie auch unter Risikogesichtspunkten kalkulierbar ist. Aber auch die Angst vor Misserfolg, vor unbezahlten Überstunden und nicht zuletzt die Abneigung gegen den Innovator definieren sich als Ursache für praktiziertes Nicht-Wollen (vgl. Haner, U. E. (2006), S. 3). Nachvollziehbar erklären sich Willensbarrieren möglicherweise im Hinblick darauf, dass Wandlungsprozesse auch Hierarchien verrücken und Manager, die einen Machtverlust fürchten, „die wahren Feinde des Wandels“ sind (Peters, T. (1995), S. 322). Einer Überbewertung dieser Auffassung beugt Hausschildt mit seiner Aussage vor, „dass Machtpositionen aufgrund von Innovationen auch ausgebaut und gefertigt werden können“ (Hauschildt, J. (2004), S. 275). Willensbarrieren lassen sich zwar oft, jedoch keineswegs immer mit hierarchischer Macht lösen. Oftmals begründen auch gebotene Anreize die Aufgabe von Widerstand, indem beispielsweise eine Beförderung in Aussicht gestellt, die Aufrechterhaltung von Widerstand aber mit negativen Sanktionen verbunden wird (vgl. Rüggeberg, H. (2009), S. 10).
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Wirkungen des Widerstands
Fokussiert auf einen konfliktlösenden Umgang wurden bisher in Art und Umfang unterschiedliche Ausprägungen an Widerständen und Barrieren identifiziert und auf ihre Wirkung hin analysiert. Unbeantwortet allerdings blieb bisher die Frage, wie und in welcher Form praktizierter Widerstand in den Auswirkungen zu erleben ist. Verhindernder Widerstand Verhindernder Widerstand ist die radikalste Form von Widerstand in der geäußerten Absicht, die geplante Innovation möglichst im Ideenstadium schon zu verhindern. Die Motive dieser Haltung sind sehr unterschiedlich und in der Begründung kaum zu systematisieren. So kann Ablehnung und Widerstand gegen eine Innovation beispielsweise einem gepflegten Kulturdenken entsprechen, sich aber ebenso aus Hierarchieverletzungen oder schwindenden Aufstiegsmöglichkeiten erklären. Der Widerstand kann aber ebenso auch pauschal gegen die Person des Innovators gerichtet sein, den man – aus welchen Gründen auch immer – absolut nicht leiden kann (vgl. Staehle, W. H. (1999), S. 391 und 398, vgl. Schreyögg, G. (2003), S. 478). Sofern eine Person allein sich zu einem wirksamen Widerstand nicht in der Lage sieht, dürfte sie sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Unternehmung nach Partnern suchen, um dadurch die Breite des Widerstands zu erhöhen. Verhindernder Widerstand ist in der Zielsetzung eindeutig zu erkennen, unbestimmt allerdings bleibt nicht selten der Wahrheitsgehalt der vorgetragenen Argumente. Verzögernder Widerstand Praktizierter Widerstand ist keineswegs immer mit einer bestimmten und sofort erkennbaren Haltung zu verbinden, sondern vielmehr damit, dass Ziele strategievariabel verfolgt werden. Greift bei den Opponenten insofern die Erkenntnis, dass selbst massiver Widerstand die Innovation nicht verhindern kann, so kann ein Strategiewechsel zumindest noch einen Teilerfolg versprechen, indem alles unternommen wird, um die Innovation hinauszuziehen. Verhindernder und verzögernder Widerstand unterscheiden sich schon auf der Ebene der individuellen Wahrnehmung. Während Verhinderungswiderstand sich offen
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und massiv zu erkennen gibt, bleiben Absicht und Mittel eines auf Verzögerung ausgerichteten Widerstands möglichst lange im Unklaren und im Dunkeln. Keineswegs immer und sofort ist ein mit dieser Absicht vorgetragener Widerstand zu durchschauen. So kann beispielsweise die Zustimmung zum Innovationsvorhaben in Aussicht gestellt werden unter der Bedingung, dass die Innovationswirkungen über ein von neutraler Seite noch vorzulegendes Gutachten zu objektivieren sind. Innovationsbeteiligte können weiterhin auch durch eine verschleppende Sitzungsteilnahme den Innovationsprozess verlangsamen. Opponenten sind andererseits auch dahingehend sehr kreativ und erfinderisch, indem die Innovationsaufgabe zu stark problematisiert und dabei die Ausgangslage, die Innovationsabsicht und das Innovationsergebnis mit sehr viel Phantasie und hypothetischer Spekulation verformt wird. Verformter Widerstand Immer dann, wenn sich Innovationen weder verhindern noch verzögern lassen, verbleibt als letzte Lösung noch der Ausweg, die Innovationswirkung zu verformen und dadurch zu schwächen. Dies kann dadurch geschehen, dass beispielsweise Produktoder Verfahrensalternativen ins Spiel gebracht und zur Diskussion gestellt werden. Ist jedoch die grundsätzliche Entscheidung zur Innovation nicht mehr zu verhindern, so bleibt nur noch die Möglichkeit, „auf den Implementierungsprozess Einfluss zu nehmen, um bei aller Akzeptanz der Entscheidung wenigstens die Durchsetzung der Entscheidung (zum Widerstand) zu nutzen“ (Staehle, W. H. (1999), S. 165).
4
Managementkompetenz der Promotoren
Die bisherigen Ausführungen haben deutlich werden lassen, dass ein durch Innovationen ausgelöster Wandel mit Widerstand einhergeht und zur Überwindung dieses Widerstands nachhaltiger, persönlicher und engagierter Einsatz bestimmter Personen notwendig ist. Dieses Erfordernis hat schon Schumpeter zur Voraussetzung erhoben (vgl. Schumpeter, J. (1912), S. 71). Witte erkannte ebenfalls die Notwendigkeit (vgl. Witte, E. (1973) und entwickelte darauf bezogen ein arbeitsteiliges Modell, welches später von Hauschildt/ Chakrabarti modifiziert und ausgebaut wurde (vgl. Hauschildt, J./Chakrabarti, A.K. (1988), S. 380ff).
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Im Mittelpunkt des Interesses von Witte stand die Suche nach einer Antwort, ob es einer bestimmten Organisationsform und weiterführend einer bestimmten Organisationsstruktur bedarf, um den Innovationsprozess zu optimieren und den Widerstand gegen Innovationen zu begrenzen. Dafür untersuchte er bereits vorhandene Organisationsmodelle, ohne beispielsweise in den monopersonalen Champion-Modellen jene Voraussetzungen vorzufinden, die seiner Auffassung nach für eine Prozessoptimierung notwendig sind (vgl. Witte, E. (1973), S. 15). Mitarbeiterfunktionen wurden von ihm durch Rollen ersetzt, ohne diese jedoch nur an eine Person zu binden. „Vielmehr kann auch eine Rolle von mehreren Personen gemeinsam übernommen werden oder – insbesondere bei kleinen Innovationsprojekten – können mehrere Rollen durch eine Person wahrgenommen werden“ (Brockhoff, K. (2006), S. 8, vgl. Witte, E. (1973), S. 17). Rollen helfen bei der Suche, der Definition oder auch der Erklärung von Situationen und Gegebenheiten. Sie benennen in ihrer personifizierten Funktionsbezeichnung die Leistungsbeiträge und Machtquellen (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 197). Abb. 3 zeigt einerseits die einzelnen Leistungen und Verrichtungen und definiert andererseits dabei begrifflich die zugewiesenen Rollen im Innovationsmanagement.
Abbildung 3: Leistungsbeiträge und Rollen im Innovationsmanagement Quelle: (Hauschildt, J./ Chakrabarti, A. K. (1988), S. 383).
Als eine wesentliche Voraussetzung für den Einsatz von Promotoren bezeichnet Witte den Spielraum in der jeweiligen Stellenbeschreibung, der notwendig ist, um eine
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Promotorenrolle spontan und wirksam übernehmen zu können. Die für die Übernahme der Promotorentätigkeiten aufzuwendende Zeit wird dabei aufgabenersetzend oder auch zusätzlich geleistet (vgl. Witte, E. (1973), S. 16).
Promotoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Motivierung sehr energiegeladen und sich auch in der Außenwirkung durch ein überdurchschnittliches Engagement in den Aktivitäten hervorheben. Aktivitäten verstehen sich dabei in einer allgemeinen Formulierung als Tätigkeiten, die in der Ausrichtung objektbezogen die Innovation vorantreiben (vgl. Witte, E. (1973), S. 33). Der Begriff Promotor trennt dabei die Begriffe Rolle und Eigenschaft. Jemand kann in der Rolle wünschenswerterweise überdurchschnittlich engagiert sein, aber nicht grundsätzlich auch in den Eigenschaften – beispielsweise in der Rolle des Fachpromotors – die Erwartungen zu erfüllen vermögen. Rollen kennzeichnen insofern situationsbezogen informelle, temporäre und auch projektbezogene Erwartungshaltungen. Mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Promotoren-Modells verbleibt die Frage, ob die Rollen in ihren Rollenerwartungen nur intra-organisatorisch oder ebenso auch inter-organisatorisch zu interpretieren sind (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 198), wie es eine arbeitsteilige Wirtschaft in der Konsequenz erwarten lässt.
Der vorliegende Beitrag ist im Seitenumfang begrenzt und erfordert diesbezüglich das Verständnis, dass mit der Beschreibung, Benennung und Ordnung von Funktionen im Innovationsprozess nur ein erster, wenn auch wesentlicher Schritt getan ist, „um die Vorstellung vom einsamen Champion aufzuheben“ (Staehle, W. H. (2004), S. 198). Für ein weiterführendes Interesse hinsichtlich der theoretischen Ableitung von Arbeitsteilung und der Bestimmung von Rollen verbleibt der Hinweis auf die hierzu vorliegende Fachliteratur.
4.1
Intra-organisationale Kompetenz
Jedes Innovationsprojekt erfordert vielfältige Unterstützung, sachkundige Betreuung und zielführende Kommunikation, um mit Sach- und Fachverstand die Basis für den Innovationserfolg zu legen und einen dabei auftretenden Widerstand zu überwinden.
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4.1.1 Machtpromotor Ein Machtpromotor definiert sich aus seiner hierarchischen Stellung und einer ihm dadurch verliehenen Macht, opponenten Widerstand zu brechen und den Innovationswillen zu schützen. Seine Arbeit subsummiert sich in einer Kombination der Begriffsinhalte aus Leistungsbeitrag, Machtfülle und für notwendig erklärte Initiativen und Aktivitäten (vgl. Witte, E. (1973), S. 17). Er überzeugt und begeistert die Beteiligten durch die Einbeziehung von Stimuli und Anreizen.
Ein Machtpromotor sieht sich Kraft seiner Funktion jederzeit in der Lage, technische Kapazitäten, finanzielle Mittel oder auch Humanressourcen für die Umsetzung der Innovationsaufgabe freizugeben, ebenso aber auch wieder entziehen zu können, wenn der in Aussicht stehende Innovationserfolg hinter den Erwartungen verbleibt. Er kann Prioritäten setzen, diese aber auch jederzeit neu ordnen, indem beispielsweise parallel laufende Innovationsprojekte eine neue Hierarchieordnung erhalten (vgl. Vahs, D./Burmester, R. (2005), S. 343).
Ein Machtpromotor kann zudem auch Oppositionsaufgaben wahrnehmen und über ein Maß an konstruktiver Kritik die Zielsetzung der Innovationsaufgabe modifizieren. In seiner Tätigkeit muss er kein Mitglied der Geschäftsleitung sein; es ist die Kenntnis darüber ausreichend, dass von ihm getroffene Entscheidungen von der Geschäftsleitung mitgetragen werden (vgl. Brockhoff, K. (2006), S. 8).
4.1.2 Fachpromotor Der Fachpromotor kann als eine Person definiert werden, die den Veränderungsprozess einer Innovation mit objektspezifischem Fachwissen aktiv und intensiv fördert (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 200). Durch die Identifikation von Wissensdefiziten und der damit einhergehenden Schulung erkennbarer Wissenslücken ist er der qualitative Förderer der Innovation. Seine außerhalb des Innovationsvorhabens eingenommene Position ist unerheblich; er muss nicht einmal dem Unternehmen angehören, sondern kann auch als freier Berater die für einen Innovationserfolg notwendige Energie lie-
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fern (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 200, vgl. Witte, E. (1998), S. 18). Diese wird in der Hilfe benötigt, um: x Visionen zu formulieren und diese zu stimulieren, x Lösungsansätze zu initiieren, Lösungsvorschläge zu beurteilen und den finalen Lösungsweg zu bestimmen, x durch Kompetenz und Ausstrahlung die Voraussetzungen dafür zu liefern, den Prozess hemmende Fähigkeitsbarrieren zu überwinden, x durch ein Initiieren, Motivieren und Korrigieren die vorhandenen Leistungsreserven ergebniswirksam zu mobilisieren.
Es bleibt allerdings diesbezüglich daran zu denken, dass immer dann, wenn nur der Fachpromotor über ein notwendiges Expertenwissen verfügt, die Gefahr besteht, dass nach immer weiteren Verbesserungen in der Lösung gesucht wird und damit ein idealer, weil zeitgemäßer Markteintritt verpasst wird (vgl. Brockhoff, K. (2006), S. 8).
4.1.3 Prozesspromotor Ein Prozesspromotor kennzeichnet sich in seiner Aufgabe dadurch, dass er als Mittler zwischen Macht- und Fachpromotor den Innovationsprozess steuert. Er zieht „die Fäden“ im Hintergrund, da er nicht nur die Ziele des Unternehmens und die zur Verfügung stehende Organisationsstruktur kennt, sondern auch um bestehende Umweltund Außenbeziehungen weiß (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 202). Die Organisationskenntnis zeigt sich dabei in dem Wissen, „welche Organisationsmitglieder der verschiedenen hierarchischen Ebenen und Funktionsbereiche einen entscheidenden Beitrag zum Fortschritt des Innovationsprozesses leisten können“ (Folkerts, L. (2001), S. 37). Er überwindet auch die Barriere des Nicht-Dürfens (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 201) in der Beseitigung organisatorischer oder administrativer Widerstände.
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Ein sich vollziehender Wandel benötigt im Wandlungsprozess allerdings auch soziale Kompetenz, die nicht zwangsläufig beim Macht- und Fachpromotor vorhanden sein muss und sich unter anderem in einem Netzwerkwissen zeigt, das z. B. die Funktionsbereiche Technik, Prozesssteuerung, Vertrieb etc. in Hierarchie und Ablauf näher definiert. Der Prozesspromotor hat, zusammengefasst, den gesamten Innovationsprozess im Blick und steuert diesen mit Energie und diplomatischem Geschick (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 203).
4.2
Inter-organisationale Kompetenz
Die bisherigen Ausführungen haben sich mit den Fähigkeiten, Beziehungen oder auch Hierarchieebenen in der intra-organisationalen Beziehungslage befasst. Die Effizienz der Innovationsabläufe bestimmt sich in einer globalen und arbeitsteiligen Wirtschaft, aber auch durch die inter-organisationale Kompetenz. Gemünden/Walter haben 1995 mit der externen Bezugnahme den Beziehungspromotor eingeführt (vgl. Gemünden, H. G./Walter, A. (1995), S. 119 ff). Beziehungspromotor
Der Beziehungspromotor verknüpft den Innovationsprozess mit der externen Ebene erfolgswirksamer Beziehungen. Er ist sowohl mit der Herstellung wie mit der Pflege dieser Beziehungen befasst und nutzt dazu seine öffentliche Stellung, seine Autorität, und sein Ansehen oder auch die ihm von außen zugewiesene fachliche Kompetenz mit dem Wissen über Netzwerkpartner und Netzwerkstrukturen (vgl. Gemünden, H. G./Walter, A. (1995), S. 122).
Der Beziehungspromotor regelt formale Notwendigkeiten, die eine Zusammenarbeit zwischen einzelnen Unternehmen erst ermöglichen. Er schafft die Voraussetzungen für eine „gemeinsame Sprache“, definiert die Regel für eine möglicherweise angestrebte Zusammenarbeit und koordiniert in diesem Zusammenhang beispielsweise die Finanzierung eines gemeinsamen Projektes. Gemünden und Walter erachten es
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für zwingend notwendig, dass alle für notwendig erklärten Kontakte und Beziehungen nur von einer Person hergestellt und verantwortet werden sollten. Eine denkbare Trennung nach sozialer und geschäftlicher Beziehungsebene sollte insbesondere deshalb vermieden werden, weil der Koordinierungsbedarf nur unnötig erhöht und die angestrebte Effizienz nur verringert werden könnte (vgl. Gemünden, H. G./Walter, A. (1995), S. 129).
4.3
Promotorenkonfigurationen
Arbeitsteilung kann man sowohl als eine Funktion der Unternehmensgröße wie auch als Funktion der Zeit definieren. Die Arbeitsteilung hat im Verlaufe der Nachkriegszeit erheblich zugenommen. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass Witte 1973 noch keinen Prozessmotor für notwendig erklärte (vgl. Witte, E. (1973). Grundsätzlich aber gilt auch heute noch, dass in kleinen und mittleren Unternehmensgrößen eine geringere Arbeitsteilung vorhanden ist und von daher verschiedene Promotorenrollen von einer Person wahrgenommen werden. So besitzt der Einzelunternehmer sowohl die notwendige Macht wie auch ein notwendiges Fachwissen, um in Personalunion die Rolle des Macht- wie auch des Fachpromotors übernehmen zu können. Er kann in seiner Interessenlage ebenso auch die Rolle des Prozesspromotors ausfüllen und selbst den Innovationsprozess steuern, sowie in der Funktion des Beziehungspromotors die Zusammenarbeit mit den externen Innovationspartnern führen und koordinieren.
4.4 Promotoren-Troika Die ursprüngliche Gespann-Struktur von Witte, bestehend aus Fach- und Machtpromotor, wurde recht früh um den Prozesspromotor als den eigentlichen Steuermann eines Innovationsvorhabens erweitert. Diese drei Promotoren arbeiten nicht isoliert voneinander, sondern der Erfolg dieser Form von Arbeitsteilung begründet sich aus der koordinierten Zusammenarbeit. Das ist auch nach Auffassung von Hauschildt die
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bis heute wirksamste Form der Zusammenarbeit, wie die nachfolgenden empirischen Ergebnisse zeigen (vgl. Hauschildt, J. 2004), S. 211 f):
Abbildung 4: Informationsbeziehungen des Innovationsmanagements Quelle: (Hauschildt, J. (2004), S. 215).
5
Empirische Befunde zum Promotoren-Modell
Das Promotoren-Modell hat in Wissenschaft und Praxis eine hohe Anerkennung erfahren, auch wenn nicht verschwiegen werden darf, dass die empirischen Befunde zu einem Einsatz von Promotoren in Innovationsprozessen nicht einhellig sind (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 205). Aus Platzgründen können diese nicht näher diskutiert werden, urteilsbildend notwendig bleibt gleichwohl die Frage, inwieweit ein Innovationsmanagement den Einsatz von Promotoren für notwendig erklärte und inwieweit über einen Beobachtungszeitraum von dreißig Jahren eine Aussage dahingehend möglich ist, ob es seit Einführung der Promotoren-Modelle in der PromotorenTeilnahme zu signifikanten Veränderungen gekommen ist. Über die Wertschätzung und Akzeptanz der Promotoren hinaus ist von ganz besonderem Interesse, ob es auch zu arbeitsteiligen Prozessen gekommen ist, indem mehr als ein Promotor je Einzelfall zum Einsatz gelangte.
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Untersuchungsergebnisse Bereits bei der Prüfung seiner Hypothesen musste Witte in seiner ersten Untersuchung 1973 die Erfahrung machen, dass in 21 % der von ihm untersuchten 233 Innovationsprozessen überhaupt keine Promotoren beteiligt waren und auch in 38 % der Fälle keine Arbeitsteilung stattgefunden hatte (vgl. Witte, E. (1973), S. 30 und 35). Hauschildt verweist nach einer Analyse diverser empirischer Untersuchungen darauf, dass sowohl Markham, S. K. et al. (1991), wie auch Scholl et al. (1993) in ihrem empirischen Arbeiten die Feststellung machen mussten, dass sich jeweils eine nicht unerhebliche Anzahl an Fällen fanden, in denen entweder kein Promotor identifiziert werden konnte oder fallbezogen nur ein Promoter involviert war. Diese Erfahrung machte auch Kirchmann bei seiner Überprüfung des Promotoren-Modells. Er suchte in 28 % der Fälle vergeblich nach einer Promotoren-Beteiligung (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 205 in der Zitierung von Kirchmann). Die empirische Untersuchung von Folkerts ermöglicht in Tendenz und Bandbreite nahezu ähnliche Aussagen (vgl. Folkerts, L. (2001), S. 49 f).
Witte fand seine als These formulierte Auffassung bereits in seiner ersten Untersuchung bestätigt, wonach Arbeitsteilung in Innovationsprozessen notwendig ist, weil ein Team erfolgreicher ist als der Einzelne. Er konnte den Nachweis führen, dass die sogenannte Gespann-Struktur aus Machtpromotor und Fachpromotor die erfolgreichsten Ergebnisse lieferte. Nach der Auswertung auch zusätzlich jüngerer Untersuchungen glaubt Hauschildt mit großer Sicherheit sagen zu können, dass die Arbeitsteilung unter drei Promotoren noch bessere wirtschaftliche Ergebnisse bei der Durchsetzung von Innovationen liefert (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 211 f). Ein aus drei Promotoren bestehendes Promotoren-Konzept bezeichnet er als „Troika“. Inwieweit sich diese durch die Einbeziehung des Beziehungspromotors zur Quadriga entwickelt, bleibt der Zukunft vorbehalten.
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Promotoren-Konzept und Aktualität der Modellannahmen
Wie bereits an anderer Stelle gesagt, hat das Promotoren-Modell in Wissenschaft und Praxis ein hohes Maß an Anerkennung erhalten. Unbeantwortet allerdings ist die Frage, ob die Modellannahmen von Witte auch einen im Zeitablauf eingetretenen Wandel der Unternehmens- und Organisationskultur heute noch korrekt abzubilden vermögen. Nachdem hier auf empirische Untersuchungen nicht zurückgegriffen werden kann, sollen die nachfolgenden Ausführungen als Denkanstöße verstanden werden, um die Forschung in der Beantwortung wissenschaftlich offener Fragestellungen anzuregen. Die erste dieser Fragen ist beispielsweise mit dem Begriff der Kernkompetenz verbunden, der in der Leitmaxime insbesondere des letzten Jahrzehnts die unternehmerischen Zielsetzungen und Aktivitäten dahingehend lenkte, durch ein Outsourcing betrieblicher Leistungen und der Bildung von Wertschöpfungspartnerschaften das eigene Unternehmen zu verschlanken. Die Aufgliederung der unternehmerischen Wertschöpfung folgte dem Ziel, die Kosten zu senken, die unternehmerischen Risiken neu zu verteilen und nicht zuletzt auch, um die rechtlich selbständigen Partner zu einer eigenverantwortlichen Bereitstellung innovativer Leistungen zu verpflichten. Ein Beziehungspromotor hat in der Koordination und Integration externer Innovationsleistungen dabei jedoch vermutlich eine wesentlich größere Aufgabenvielfalt und ein höheres Maß an Verantwortung zu übernehmen. Das lässt in der Erkenntnis die Vermutung zu, dass sich auch die Promotorenrollen im Zeitablauf verändert haben (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 236) und eingetretene Veränderungen im Rollenverständnis einer näheren wissenschaftlichen Betrachtung bedürfen. Aber auch der Widerstand der Innovations-Betroffenen erhält dabei einen tendenziell anderen Stellenwert; er dürfte in der Bedeutung abnehmen, oder zumindest erst relativ spät einsetzen, da sich externe Innovationen für die Betroffenen anonymer gestalten lassen. Auch der durch Konflikte ausgelöste Widerstand hat sich in den Auswirkungen verändert, nachdem die Zahl der betrieblichen Prozesse, die in einer starren Aufbauorganisation verkettet und gefangen sind, weiter abnimmt. Ein sich ausweitendes Projektdenken hat die Bildung von Projektteams angeschoben und dabei ein konfliktbegründetes Schnittstellendenken geschult. „Die eigentliche Innovation liegt in Verknüpfungsleistungen begründet…“ (Hauschildt, J. (2004), S. 234). Mitarbeiter haben über
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die Jahre gelernt, abteilungsübergreifend zu denken und dabei auch eine der projektbegleitenden Konsequenzen akzeptiert, in mehreren zeitlich begrenzten Hierarchieebenen eingebunden zu sein. Ein den Arbeitsrollen intendiertes Maß an Ungewissheit oder auch Angst hat sich durch Lernerfahrung relativiert. Loyalität, Respekt oder auch die geteilte Unterordnung werden inzwischen besser verstanden und haben dadurch vermutlich auch das Konfliktpotential verändert. Bei den vorgetragenen Ausführungen zum Widerstand wurde mit der Angst eine der möglichen Konfliktursachen genannt. Angst und Furcht werden heute nicht selten in einer unzulässigen Weise als Sprachsynonyme verwandt. Eine diesbezüglich notwendige Unterscheidung ist in der vorliegenden Literatur zum Promotoren-Konzept jedoch nicht anzutreffen (vgl. Siems, H. (2002), S. 18) und von daher in den Wirkungen zu diskutieren. Furcht ist gemäß Wenninger zielorientiert auf einen konkreten Sachverhalt gerichtet und durch Training in aller Regel wirksam zu bekämpfen (vgl. Wenninger, G. (2000), S. 112 und 91); im Unterschied dazu definiert er Angst als ein unbestimmtes Gefühl ohne konkreten Situationsbezug. Eine derartige, im Bereich der Persönlichkeit anzusiedelnde Störung vermag auch ein Machtpromotor nicht zu überwinden. In der Bewertung von Angst als Erfolgsbarriere sollte konsequenterweise daran gedacht werden, die Person aus dem Innovationsprozess zu entfernen. Zu hinterfragen ist darüber hinaus, ob sich die kognitiven Aufgaben der Innovationspromotoren in der Ausgestaltung verändert haben (vgl. Hauschildt, J. (2004), S. 232). So benötigt eine heute veränderte Form der Aufgabenerfüllung möglicherweise auch eine veränderte Haltung im Rollenverständnis. Eine Projektorganisation in der Innovationstätigkeit kann durchaus zur Folge haben, dass ein Fachpromotor in einem anderen Projekt noch die Rolle des Beziehungspromotors übernimmt, weil er über die betrieblich notwendigen Kontakte der externen Beziehungsebene verfügt. Das allerdings berührt irgendwann auch die Frage, inwieweit sich eine mögliche Überbelastung auch in den Auswirkungen auf den Innovationserfolg zu erkennen gibt. Die Organisations- und Unternehmenskultur dürfte sich zukünftig weiter dynamisch verändern und notwendige Änderungen im Innovationsmanagement begründen. In der Erwartungshaltung darf spekulativ davon ausgegangen werden, dass der Widerstand gegen innovative Produkte und Prozesse sich verändern und Innovationen als wesentliche Voraussetzung erkannt werden, um im Wettbewerb zu überleben. In den Nebenwirkungen hat das begleitend zur Konsequenz, dass sich die Rolle des Machtpromotors in Art und Aufgabe neu definiert.
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Ausblick
Innovationen sind mit Wandel verbunden, führen zu einer neuen Form von Spezialisierung und stellen dabei etablierte Machtstrukturen in Frage. Diese für die Vergangenheit aufgezeigten Konsequenzen dürften auch kritiklos auf die Zukunft zu übertragen sein. Ein mit Innovationen einhergehender Widerstand wird auch in Zukunft zu erleben sein, selbst wenn dieser sich in der konfliktauslösenden Wirkung möglicherweise verändern kann. Auch werden zukünftig die Barrieren des Nicht-Wissens und Nicht-Wollens in der Wirkung ebenso anzutreffen sein, wie ein individuell unterschiedliches Maß an Trägheit, Desinteresse oder Attentismus.
Solange also Innovationsprozesse auf Widerstand treffen, solange werden Menschen benötigt, die Widerstand steuern und überwinden helfen. Mit welcher Effektivität und Effizienz dabei in der Konfliktregulierung gearbeitet wird, dürfte auch erkennbar werden aus der Art, wie „Widerstand gegen Widerstand“ organisiert wird.
Es lässt sich empirisch nachweisen, dass das Promotoren-Konzept im Management von innovativem Widerstand eine höhere Erfolgswirkung hat, als alternativ herangezogene Konzepte. Von daher gibt es aktuell keinen Anlass, die Wertschätzung und Zukunftsfähigkeit dieses Modells infrage zu stellen, sofern die modellbezogenen Rahmendaten gegenüber der Ausgangslage aufrechterhalten und die kognitiven Leistungsbeiträge der Promotoren in ihrer konfliktregulierenden Wirkung nicht neu definiert werden.
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Open Innovation zur nachhaltigen Steigerung der Innovationsfähigkeit von Unternehmen Sascha Götte*
1
Innovation und Innovationsprozess ...............................................................58
2
Open Innovation ............................................................................................59
3
Wettbewerbsvorteile durch Open Innovation .................................................60
4
Open Innovation in der Unternehmenspraxis.................................................62 4.1 Lead User ...........................................................................................62 4.2 Toolkits................................................................................................63 4.3 Innovationswettbewerbe .....................................................................64 4.4 Virtual Communities ............................................................................66
5
Zusammenfassung ........................................................................................67
Literaturverzeichnis ..................................................................................................68
* Prof. Dr. Sascha Götte ist Abteilungs- und Studiengangsleiter Wirtschaftsingenieur | Innovation und Dozent an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur sowie Gastprofessor an der Universität Fribourg.
Sascha Götte
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1
Innovation und Innovationsprozess
Die erfolgreiche Entwicklung und Vermarktung von innovativen Produkten ist für die Unternehmen von existenzieller Bedeutung. Vor dem Hintergrund des raschen technologischen Fortschritts, der sich dynamisch verändernden Abnehmerbedürfnisse und der sich aufgrund der zunehmenden Komplexität der Produkte verlängernden Produktentwicklungszeiten gehört eine kontinuierliche Produktentwicklung zu den wesentlichen Marketingaufgaben (vgl. Kuß, A./Kleinaltenkamp, M. (2009), S. 185 ff.). Die hierzu erforderlichen Aktivitäten lassen sich mittels eines Innovationsprozesses darstellen, der aus vier Phasen besteht (vgl. Abbildung 1).
Ideengewinnung
Ideenprüfung
Produktentwicklung
Produkttest
Abbildung 1: Produktinnovationsprozess Quelle: Götte, S. (2007), S. 104
Die erste Phase dient der Ideengewinnung, zu der unternehmensinterne und externe Quellen herangezogen werden. Wichtige unternehmensinterne Quellen sind beispielsweise das betriebliche Vorschlagswesen und die Mitarbeiter aus den Bereichen Forschung und Entwicklung, Produktion, Marketing und Vertrieb. Außerhalb des eigenen Unternehmens können Ideen durch die Befragung von bestehenden Kunden und Absatzmittlern, durch die Analyse von Konkurrenten und die Informationsbeschaffung bei Forschungsinstituten, Beratungsunternehmen, Patentämtern und im Internet gewonnen werden (vgl. Götte, S. (2007), S. 104). Die im Rahmen der Ideengewinnung erzeugten Ideen werden in der zweiten Phase des Innovationsprozesses einer systematischen Ideenprüfung unterzogen. Zuerst erfolgt die Ideen-Grobauswahl, auch Screening genannt. Sie dient der Überprüfung der erarbeiteten Ideen auf Kompatibilität mit der eigenen Positionierung, auf Realisierbarkeit hinsichtlich der verfügbaren Ressourcen und Fähigkeiten und auf rechtliche Aspekte (vgl. Kuß, A./Kleinaltenkamp, M. (2009), S. 195). Im Rahmen der Feinauswahl, auch Scoring genannt, werden die Produktideen auf ihre wirtschaftliche Attraktivität untersucht. Hierzu kommen neben der Break-Even-Analyse auch die statischen Verfahren (z.B. Kosten-, Gewinn- und Rentabilitätsvergleichsrechnung sowie statische Amortisationsrechnung) und die dynamischen Verfahren der Investitionsrechnung (z.B. Kapitalwert- und Annuitätenmethode sowie dynamische AmorH. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_3, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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tisationsrechnung und Methode des internen Zinssatzes) zur Anwendung. Zur Berücksichtigung der zukünftigen Unsicherheiten können außerdem Sensitivitäts- und Risikoanalysen durchgeführt werden (vgl. Götte, S. (2005), S. 198 ff.). Am Ende der Ideenprüfung steht die Entscheidung zur konkreten Produktentwicklung. In der dritten Phase des Innovationsprozesses wird das Produkt technisch realisiert. Neben der Erstellung eines Lastenheftes werden das Projektbudget, der Zeitplan und die verfügbaren Ressourcen festgelegt. Der in Einzelfertigung hergestellte Prototyp dient der Überprüfung der im Lastenheft beschriebenen zukünftigen Produktanforderungen. Hierzu werden umfangreiche technische Funktionstests durchgeführt und auch externe Meinungen von wichtigen Kunden und Absatzmittlern eingeholt. Nachdem letzte Verbesserungen vorgenommen worden sind, erfolgt die Herstellung einer Vorserie (vgl. Thommen, J.P./Achleitner, A.-K. (2009), S. 201). Die Vorserienprodukte werden in der vierten Phase des Innovationsprozesses mittels ausgiebiger Produkt-, Markt- und Storetests überprüft (vgl. Bruhn, M. (2009), S. 140). Erst nach diesen Tests entscheidet das Unternehmen, ob und in welcher Form das neue Produkt auf dem Markt eingeführt wird.
2
Open Innovation
Aus empirischen Studien ist bekannt, dass die meisten auf dem Markt neu eingeführten Produkte scheitern. Kerka et al. stellten im Rahmen einer deutschlandweit durchgeführten, branchenübergreifenden Studie fest, dass nur 46% der auf dem Markt neu eingeführten Produkte als erfolgreich anzusehen sind (Kerka et al., 2006, S. 2). Je nach Branche können sogar Flopraten von bis zu 90% beobachtet werden. Neben unternehmensinternen Faktoren, wie z.B. die Unternehmenskultur und die formale Ausgestaltung des Innovationsprozesses, beeinflussen auch externe Faktoren, wie beispielsweise der Standort und politische und gesellschaftliche Faktoren, den Innovationserfolg. Auch hochattraktive neue Produkte können insbesondere dann auf dem Markt scheitern, wenn sie den Bedürfnissen der Kunden nicht entsprechen (vgl. Piller, F. (2008), S. 19). Statt die Kundenbedürfnisse traditionell auf der Basis von Marktforschung zu erheben und in die Produktentwicklung einfließen zu lassen, kann der Hersteller seine Kunden und potenziellen Nutzer aktiv in den Produktentwicklungsprozess einbeziehen, in dem er sie direkt nach geeigneten Lösungen suchen lässt. In Abkehr von der klassischen Vorstellung des weitgehend unternehmensintern
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ablaufenden Innovationsprozesses und der Nutzung von klassischen Forschungsund Entwicklungskooperationen, geht es beim Open Innovation Ansatz darum, durch einen offenen Aufruf ein grosses, undefiniertes Netzwerk von Akteuren an der Entwicklungsaufgabe mitwirken zu lassen (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 153 f.). Diese Vorgehensweise wird auch Crowdsourcing genannt (vgl. Howe, J. (2006)). Durch Open Innovation können und sollen die Aktivitäten der unternehmensinternen Forschungs- und Entwicklungsbereiche jedoch keinesfalls ersetzt, sondern vielmehr sinnvoll ergänzt werden. Interne Forscher und Entwickler müssen zukünftig die richtigen Fragen stellen und Probleme formulieren sowie die Beiträge der externen Akteure aufnehmen, bewerten und integrieren können (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 157). Für die Beteiligung an Open Innovation eignen sich besonders die sogenannten Lead User, die mit dem verfügbaren Marktangebot unzufrieden sind und sich aufgrund von verschiedenen extrinsischen, intrinsischen und sozialen Motiven aktiv in den Innovationsprozess einbringen. Die Bereitschaft zur Mitwirkung ist dann besonders hoch, wenn der wahrgenommene Aufwand aufgrund geeignet gestalteter Interaktionsprozesse als angemessen erscheint (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 170 ff.).
3
Wettbewerbsvorteile durch Open Innovation
Aus Sicht eines Unternehmens kann die Berücksichtigung von Open Innovation zu Wettbewerbsvorteilen hinsichtlich der Aspekte Fit-to-Market, New-to-Market, Time-toMarket und Cost-to-Market führen. Da die bestehenden Kundenbedürfnisse durch die involvierten Nutzer direkt in konkrete Lösungen umgesetzt werden, kann eine hohe Akzeptanz des Neuproduktes beim Kunden erreicht werden (Fit-to-Market) und damit die Anzahl von Innovationsflops deutlich reduziert werden (vgl. Hirsig, C./Lüthje, C./Locher, C. (2009), S. 80). Völlig neue Produktideen und Lösungswege für bestehende Probleme kommen nur selten von Insidern, da diese oft nur die Lösungsansätze verfolgen, die sie bereits kennen. Durch den Einbezug von Externen kann dagegen viel eher etwas wirklich Neues (New-to-Market) entstehen (vgl. Müller, B. (2008), S. 112).
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Entsprechend dem traditionellen Innovationsprozess erfolgt der Test der Prototypen und der Vorserienprodukte üblicherweise erst in einer späten Phase und bewirkt meist einen hohen Abstimmungs- und Nacharbeitsaufwand, wodurch sich der Zeitraum vom Entwicklungsbeginn bis zur Markteinführung eines neuen Produktes (Time-to-Market) stark vergrößert. Da beim Open Innovation Ansatz nicht nur die Ideenfindung, sondern auch die Realisierung von Prototypen und die Durchführung umfangreicher Funktionstests an die Nutzer ausgelagert wird, ist eine deutliche Zeitersparnis realisierbar (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 173 f.). Die für die Produktinnovation anfallenden Kosten (Cost-to-Market) können durch Open Innovation gesenkt werden, da vielfach die Lösung für ein bestimmtes Problem bereits in anderen Branchen bekannt ist und daher nicht aufwändig neu erarbeitet werden muss (vgl. Müller, B. (2008), S. 109). Um die genannten Wettbewerbsvorteile zu erreichen, entsteht allerdings im Unternehmen bei der Einführung und Anwendung von Open Innovation ein nicht unwesentlicher Aufwand. Eine deutliche Hürde bei der Nutzung von Open Innovation betrifft das „not-invented-here“-Problem im Unternehmen. Zeigen die Entwicklungsabteilungen vielfach eine geringe Bereitschaft zum Aufgreifen von Inputs aus anderen Abteilungen, ist diese Bereitschaft gegenüber der aktiven Einbeziehung von unternehmensexternen Beiträgen meist noch deutlich geringer (vgl. Piller, F./Reichwald, R. (2009), S. 199). Zudem müssen die komplexen Themen in handhabbare und unabhängig voneinander lösbare Teilaufgaben heruntergebrochen werden (Granularität), um eine möglichst große Anzahl von Mitwirkenden zu gewinnen (vgl. Piller, F. (2008), S. 22). Auch wenn die wichtigste Motivation für die Kunden bzw. Nutzer die Freude am kreativen Arbeiten ist (vgl. Hirsig, C../Lüthje, C./Locher, C. (2009), S. 79), ist eine Implementierung angemessener Anreizstrukturen erforderlich. Ohne diese kann davon ausgegangen werden, dass nach einer anfänglichen Euphorie bald eine gewisse Ernüchterung eintritt und die Anzahl der Beiträge zurückgeht (vgl. Piller, F./Reichwald, R. (2009), S. 198). Piller und Reichwald fordern zudem den unternehmensinternen Aufbau von Interaktionskompetenzen durch die Anpassung der bestehenden Organisationsstrukturen und die Einführung von effizienten Methoden zur Bewertung und Kontrolle der von außen eingebrachten Vorschläge, die über die bisher bereits im Unternehmen genutzten Instrumente hinausgehen (vgl. Piller, F./Reichwald, R. (2009), S. 199).
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4
Open Innovation in der Unternehmenspraxis
Die konkrete Umsetzung von Open Innovation kann in Unternehmen unterschiedlich erfolgen. Die wesentlichen Instrumente Lead User, Toolkits, Innovationswettbewerbe und Virtual Communities sollen im Folgenden anhand von aktuellen Beispielen aus der Unternehmenspraxis erläutert werden.
4.1
Lead User
Fortschrittliche Kunden stellen bei der Nutzung bestehender Produkte häufig fest, dass das Produkt nicht über alle gewünschten Funktionalitäten verfügt. Diese fehlenden Funktionalitäten werden dann von diesen Kunden aus eigenem Antrieb entweder ohne Kenntnis oder mit Unterstützung des Herstellers geplant, konzipiert und entwickelt. Da diese zusätzlichen Eigenschaften oftmals auch für andere Kunden von Bedeutung sind, werden diese sogenannten Lead User vom Hersteller identifiziert und aktiv in den Innovationsprozess eingebunden. Das im österreichischen Wolfurt bei Bregenz ansässige Unternehmen Doppelmayr gilt als Weltmarktführer für den Bau von Seilbahnen, hat Produktionsstandorte sowie Vertriebs- und Serviceniederlassungen in über 33 Ländern und konnte bisher ca. 14.000 Seilbahnsysteme für Kunden in über 80 Staaten realisieren (vgl. www.doppelmayr.com). Seit Ende 2007 nutzt Doppelmayr das Know-how der bestehenden Kunden beim Betrieb ihrer Seilbahnanlagen mittels eines online verfügbaren Service-Portals. Auf diesem Portal können sich die Kunden beispielsweise über Wartungstipps für Seilbahnen und Ideen zur Weiterentwicklung der Produkte austauschen. Neben Text- und Bildbeiträgen können neu auch Videos eingestellt werden. Von Kunden erhaltene Hinweise zu Platzproblemen bei Wartungsarbeiten führten beispielsweise dazu, dass Berg- und Talstationen völlig neu gestaltet wurden (vgl. Müller, B. (2008), S. 112).
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Abbildung 2: Von Doppelmayr realisierte Galzigbahn in St. Anton am Arlberg Quelle: www.galzigbahn.at
4.2
Toolkits
Toolkits sind internetgestützte Interaktionsplattformen, die ein Hersteller seinen Kunden zur eigenständigen Nutzung zur Verfügung stellt. Varianten sind Toolkits für User Innovation und Toolkits für User Co-Design. Toolkits für User Innovation richten sich an Experten, die in einem aufwändigen Trial-and-Error-Prozess an bislang unbekannten Lösungen für ihre Bedürfnisse arbeiten und dadurch aktiv am Innovationsprozess beteiligt sind. Toolkits für User Co-Design unterstützen die Kunden weniger bei der Neuentwicklung von Produkten, sondern ermöglichen ihnen eine Individualisierung und Anpassung der Produkte an ihre individuellen Bedürfnisse (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 193 ff.). Ein Beispiel für ein Toolkit für User CoDesign ist der von Adidas angebotene, internetbasierte miAdidas-Konfigurator, mit dem die Kunden ihre Sportschuhe individuell gestalten können (vgl. Abbildung 3).
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Abbildung 3: miAdidas-Konfigurator
2001 startete Adidas als erster Sportartikelhersteller das Projekt „Customization Experience“ und bot dem Kunden dadurch die Gelegenheit, in speziellen Einzelhandelsgeschäften und bei besonderen Veranstaltungen bezüglich Funktion, Passform und Aussehen individualisierte Sportschuhe zu erwerben. Bis dahin war die Individualisierung von Sportschuhen nur professionellen Athleten vorbehalten. Durch die ab 2004 verfügbare Online-Plattform wurde diese Interaktion auf den Innovationsprozess ausgedehnt, indem die Kunden seither auch neue Produkt- und Dienstleistungsideen entwickeln und gegenseitig bewerten können (vgl. www.adidas.com).
4.3
Innovationswettbewerbe
Im Rahmen von Innovationswettbewerben ruft ein Unternehmen die Allgemeinheit oder eine spezielle Zielgruppe dazu auf, themenbezogene Beiträge innerhalb eines vorher definierten Zeitraums einzureichen, die von einem Beurteilungsgremium bewertet und leistungsorientiert prämiert werden. Hierbei kann es dem Unternehmen allgemein um innovative Ideen und Verbesserungsvorschläge oder um sehr konkrete Lösungen für eine bestimmte Innovationsaufgabe gehen. Der Wettbewerbscharakter
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dient der Erhöhung der Qualität der eingereichten Beiträge und schafft einen zusätzlichen Anreiz für die Teilnahme (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 198 f.). Im Folgenden wird der 2008 vom Outdoor-Ausrüster Mammut zusammen mit der in Bern ansässigen Innovationsplattform Atizo (www.atizo.com) durchgeführte Innovationswettbewerb zur Entwicklung einer Substitutionslösung für den Reißverschluss vorgestellt. In einem ersten Schritt formulierten Mitarbeiter von Mammut die Fragestellung für das Innovationsprojekt: „Mit welcher Lösung kann der Reißverschluss substituiert werden?“ und legten als Prämie für die besten Lösungsvorschläge 4.000 Schweizer Franken fest. In den folgenden vier Wochen konnten auf der Innovationsplattform Ideen eingestellt werden, die von allen beteiligten Innovatoren eingesehen, bewertet und kommentiert werden konnten. Unter den von Mammut ausgewählten drei besten Lösungen war auch der Vorschlag des Teams um die beiden Studenten Christian Schwanert und Gabriel Leonhard, die von Gleitverschlüssen, wie sie bei wieder verschließbaren Tiefkühlbeuteln verwendet werden, inspiriert wurden. In der folgenden Zeit erstellte das Team ein detailliertes 60-seitiges Konzept, baute einen funktionstüchtigen Prototyp und führte umfangreiche Funktionstests durch. Christian Locher, Innovations- und Technologiemanager von Mammut, begleitete das Team um Christian Schwanert und Gabriel Leonhard während des gesamten Projektes. Mammut war von dem in Abbildung 4 gezeigten Innovationsergebnis so begeistert, dass sie eigene Prototypen des Gleitverschlusses herstellten und seither weitere umfangreiche Funktions- und Akzeptanztests durchgeführt haben (vgl. Hirsig, C./Lüthje, C./Locher, C. (2009), S. 77 f. und Kyora, S. (2008), S. 6).
Abbildung 4: Reißverschluss-Substitution Quelle: www.atizo.com)
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4.4
Virtual Communities
Die Zusammenarbeit von vielen Beteiligten wirkt sich förderlich auf die Innovationsergebnisse aus. Virtuelle Gemeinschaften (Virtual Communities) berücksichtigen diesen Aspekt und ermöglichen es den beteiligten Personen, über elektronische Medien miteinander zu einem bestimmten Thema zu kommunizieren und zu interagieren. Allgemein wird zwischen verbraucherorientierten und unternehmensbezogenen Gemeinschaften unterschieden. Bei ersteren stehen hauptsächlich private Interessen und Motive im Vordergrund, bei letzteren liegt der Fokus auf einem Unternehmen, welches die Virtual Community oft selbst etabliert hat (vgl. Reichwald, R./Piller, F. (2009), S. 206 ff.). In diesem Zusammenhang sind die originär auf die Generierung von Innovationen ausgerichteten virtuellen Innovationsgemeinschaften von besonderem Interesse. Im Folgenden wird die Virtuelle Innovations-Agentur (VIA) der BMW Group vorgestellt. Seit 2001 nutzt die BMW Group diese Plattform als Schnittstelle zwischen externen Innovationsquellen und den Entwicklern der BMW Group und spricht dazu sowohl Privat-personen als auch Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen an. Seit dem Start der ersten Version der VIA hat die BMW Group durchschnittlich 800 innovative Ideen pro Jahr erhalten. Zwar erscheint die Umsetzungsquote mit durchschnittlich einer Idee pro Jahr auf den ersten Blick als gering, allerdings ist jede dieser umgesetzten Ideen von hoher Bedeutung für das Unternehmen. Beispielsweise hat ein BMW-Fahrer ein Verfahren zum Weben von Carbonfasern entwickelt, das in der Serienproduktion des BMW M3 CSL angewendet wird, um das Fahrzeuggewicht zu senken. 2008 wurde die Virtuelle Innovations-Agentur überarbeitet und mit neuen Funktionen versehen (www.pioneering-innovation.com, vgl. Abbildung 5). Die interessierten Nutzer registrieren sich zunächst auf der Webseite und bilden im sogenannten Ideenforum eine geschlossene Innovationsplattform. Über das Ideenforum können Anregungen und Bewertungen eingegeben werden, wobei systemgenerierte Steckbriefe eine klare Darstellung von komplexen Ideen erleichtern. Dazu kommen erweiterte Suchund Filterlösungen. Die Entwickler von BMW können außerdem aktuelle Fragestellungen online zur Diskussion stellen (vgl. BMW Group, 2008).
Open Innovation zur Steigerung der Innovationsfähigkeit
67
Abbildung 5: Virtuelle Innovations-Agentur der BMW Group Quelle: (www.pioneering-innovation.com)
5
Zusammenfassung
Ein effektives und effizientes Innovationsmanagement ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Unternehmen. Die traditionell eher unternehmensintern ablaufenden Innovations-aktivitäten werden zunehmend dadurch ergänzt, dass die Hersteller ihre Kunden und potenziellen Nutzer aktiv in den Produktentwicklungsprozess einbeziehen. Aus Sicht eines Unternehmens kann die Berücksichtigung von Open Innovation einerseits zu Wettbewerbsvorteilen hinsichtlich der Aspekte Fit-to-Market, New-toMarket, Time-to-Market und Cost-to-Market führen. Andererseits entsteht bei der Anwendung von Open Innovation jedoch auch ein nicht zu unterschätzender Aufwand. Für die konkrete Umsetzung von Open Innovation bieten sich verschiedene Instrumente an. Im Rahmen dieser Ausführungen sind die wesentlichen Instrumente Lead User, Toolkits, Innovationswettbewerbe und Virtual Communities anhand von aktuellen Beispielen aus der Unternehmenspraxis vorgestellt worden.
68
Sascha Götte
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Open Innovation zur Steigerung der Innovationsfähigkeit
69
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Chancen und Risiken zwischenbetrieblicher Innovationskooperationen Florian Thiebes* und Nicole Plankert**
1
Einführung...................................................................................................... 72
2
Kooperationen im Innovationsmanagement................................................... 72 2.1 Innovationen und Innovationsmanagement ........................................ 72 2.2 Begriff und Besonderheiten von Kooperationen.................................. 75 2.3 Arten der Kooperationen ..................................................................... 77 2.4 Chancen und Ziele .............................................................................. 83 2.5 Herausforderungen und Risiken.......................................................... 84 2.6 Theoretische Grundlagen.................................................................... 86
3
Fazit .............................................................................................................. 89
Literaturverzeichnis .................................................................................................. 91
*
Dipl.-Ing. Florian Thiebes ist Konstruktionsleiter bei einem führenden Unternehmen des Kunststoffmaschinenbaus und Doktorand an der Universität Hamburg. ** Dr. Nicole Plankert ist Senior Referentin bei der Deutschen Telekom AG, Bonn.
Florian Thiebes und Nicole Plankert
72
1 Einführung Innovation ist als Schlagwort in aller Munde: Unbestritten ist die hohe Bedeutung von Innovationen für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen (vgl. u. a. Sammerl et al. (2008), S. 131). Aber wie entstehen Innovationen? Selten finden Erfindungen heute noch im stillen Kämmerlein durch eine Einzelperson wie beispielsweise Thomas Edison statt. Die meisten bedeutsamen Erfindungen sind heute vielmehr auf das Zusammenwirken vieler Akteure zurückzuführen – zunehmend auch unternehmensübergreifend. Genau darin liegen Chancen und Risiken. Durch Kooperationen kann der Innovationserfolg in qualitativer, zeitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht erhöht werden. Den Risiken kann mit entsprechenden Instrumenten und Strategien begegnet werden. Innovationskooperationen gewinnen immer mehr an Bedeutung. Die Strategie der Kooperation wird von zahlreichen, aber keineswegs von allen Unternehmen verfolgt: Im FuE-Bereich kooperieren 36 % der kleinen und mittleren Unternehmen sowie 53 % der Großunternehmen (vgl. Maaß et al. (2006), S. 9 f.).
2
Kooperationen im Innovationsmanagement
2.1
Innovationen und Innovationsmanagement
Innovationen sind definiert als qualitativ neuartige Produkte oder Verfahren (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 7), wobei die Innovation die Umsetzung einer Idee von ihrer Entstehung bis zur erfolgreichen praktischen Anwendung auf dem Markt umfasst (vgl. Zerres, M./Zerres, C. (2006), S. 70). Der Anteil der Innovationsideen, die nicht erfolgreich am Markt eingeführt werden ("Floprate"), ist beträchtlich und reicht von 20 bis über 99 Prozent (vgl. Steinhoff, V./Trommsdorff, F. (2007), S. 11). Unterschiedliche Betrachtungsperspektiven tragen zu dieser großen Schwankungsbreite bei: Es werden beispielsweise verschiedene Branchen oder unterschiedliche Phasen des Innovationsprozesses untersucht. Die Flopraten verdeutlichen das hohe Risiko, mit dem Innovationen für das innovierende Unternehmen verbunden sind. Dieses Risiko ist auf eine Vielzahl unterschiedlicher Unsicherheiten zurückzuführen: Marktunsicherheiten resultieren aus unzureichenden Kenntnissen der Bedürfnisse der Kunden: Die kommerziellen Umsetzungsmöglichkeiten, die aus dem technologischen Fortschritt entstehen, sind daher ex ante nicht klar ersichtlich. Technologische Unsicherheiten resultieren aus mangelndem Wissen in naturwissenschaftlich-technologischer Hinsicht. Insbesondere bei radikalen Innovationen ist am Anfang des Innovationsprozesses die technische Machbarkeit nicht sicher. RessourH. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Chancen und Risiken zwischenbetrieblicher Innovationskooperationen
73
cenunsicherheiten betreffen notwendige finanzielle und personelle Ressourcen, die insbesondere zu Projektbeginn kaum genau ermittelt werden können (vgl. Herstatt et al. (2007), S. 11). Schließlich sind organisatorische Unsicherheiten zu nennen, die unter anderem die organisatorische Verankerung des Innovationsprojektes betreffen (vgl. Steinhoff, F. (2006), S. 38 f.) So werden beispielsweise gerade in kleineren Unternehmen Innovationen nicht durch eine eigene Entwicklungsabteilung realisiert, in der Innovationen als Daueraufgabe verstanden werden (vgl. König, M./Völker, R. (2003), S. 3). Die Innovationen werden vielmehr als Einzelprojekte abgewickelt. Die Vielzahl der die Innovation beeinflussenden Elemente und der Beziehungen dieser Elemente zueinander sind ursächlich für die hohe Komplexität von Innovationen (vgl. Perl, E. (2007), S. 35). Zudem wirken dem Innovationsfortschritt zahlreiche Widerstände entgegen, die zu Verzögerungen, Veränderungen oder sogar frühzeitigem Abbruch der Innovation führen können (vgl. Mirow et al. (2007), S. 105). Diesen Unsicherheiten und Widerständen kann durch das Eingehen von zwischenbetrieblichen Kooperationen begegnet werden. Kooperationen gehören zu den strategischen Entscheidungen im Innovationsmanagement. Im Rahmen des Innovationsmanagements muss zunächst festgelegt werden, ob überhaupt eigene Innovationen angestrebt werden. Alternativ kann eine fremde Innovation durch Innovationseinkauf, Lizenznahme oder Imitation übernommen werden. Auch das Festhalten an bewährten Produkten und Verfahren ist möglich. Ist die Entscheidung für eigene Innovationen gefallen, wird im Rahmen des zwischenbetrieblichen Innovationsmanagements festgelegt, ob die Innovation mit Kooperation oder ohne Kooperation realisiert werden soll. Zwischenbetrieblich sind beispielsweise Akquisitionen möglich: So können durch die Übernahme der Kapitalmehrheit eines innovativen Unternehmens kurzfristig Ressourcen zur Durchführung von Innovationen gewonnen werden. Im Rahmen einer Kooperation arbeiten dagegen Partner gemeinsam an einer Entwicklung. Der Alleingang ist zeit- und ressourcenintensiv und daher insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen nur schwer durchführbar. Im Rahmen von Auftragsforschung beauftragt das innovierende Unternehmen ein anderes Unternehmen oder öffentliche Institutionen, ein Produkt in seinem Namen und auf seine Kosten zu entwickeln. Dagegen bietet Gemeinschaftsforschung auch Unternehmen mit geringer Finanzkraft die Möglichkeit der Neuproduktentwicklung: Gemeinsam mit Unternehmen der gleichen Branche findet die Entwicklung in externen Institutionen statt, die von den beteiligten Unternehmen eingerichtet und finanziert werden. Im Folgenden steht die Innovationskooperation im engeren Sinne im Vordergrund. Die Entwicklungsarbeit wird von
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Florian Thiebes und Nicole Plankert
den Kooperationspartnern, anders als bei der Auftragsforschung, gemeinsam erbracht. Die Initiative zur Kooperation geht weniger stark von einer Seite aus. Mit zunehmender Innovationskomplexität kommt es über bilaterale Kooperationsbeziehungen hinaus zur Ausbildung multilateraler Innovationsnetzwerke. Solche Netzwerke werden besonders dann gegründet, wenn die Kooperationsteilnehmer durch Wissenszuwachs vom Netzwerk profitieren können (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 63 ff.). Wissen und Wissensmanagement sind von entscheidender Bedeutung für den Innovationsprozess (vgl. Hauschildt, J./Gemünden, H. (1999), S. 99; Matzler et al. (2005), S. 36). Wissen wird als wertvolle Unternehmensressource und häufig als eigenständiger Produktionsfaktor angesehen; es bildet daher eine wesentliche Grundlage für Wettbewerbsvorteile (vgl. Schreyögg, G./Geiger, D. (2003), S. 8; Brockhoff, K. (2005), S. 66). Seine Verfügbarkeit gilt als wesentliche Voraussetzung für Innovationen (vgl. Albers, S./Gassmann, O. (2005), S. 10; Nyffenegger, F. (2007), S. 8). Unterscheiden lassen sich explizites und implizites Wissen (vgl. Rüdiger, M./Vanini, S. (1998), S. 471). Während man unter explizitem Wissen das verbal, schriftlich oder elektronisch artikulierte Wissen versteht, handelt es sich bei implizitem Wissen um von Personen getragenes, nicht artikuliertes Wissen. Seiner Kenntnisse und Fähigkeiten ist sich der Träger impliziten Wissen oft selbst nicht bewusst (vgl. Minder, S. (2001), S. 56). Die Weitergabe impliziten Wissens ist wegen seines nicht kodifizierten Zustandes nur schwer möglich (vgl. Schreyögg, G./Geiger, D. (2003), S. 9). Sie erfordert daher in hohem Maße die persönliche Interaktion zwischen Wissenssender und Wissensempfänger. Wissen kann im eigenen Unternehmen beispielsweise in der Entwicklungsabteilung generiert werden, aber auch im Rahmen einer Kooperation in das eigene Unternehmen transferiert werden (vgl. Völker et al. (2007), S. 67). Dieser Zugriff auf externe Ressourcen kann die Zeiträume für den Wissenserwerb verkürzen (vgl. Wecht, C. (2005), S. 2; Enkel, E. (2007), S. 189); daraus resultieren insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität technologischer Produkte häufig entscheidende Wettbewerbsvorteile. Innovationsmanagement bedeutet daher auch Wissensmanagement: Implizites und explizites Wissen im eigenen Unternehmen und im Partnerunternehmen müssen aufgedeckt und nutzbar gemacht werden.
Chancen und Risiken zwischenbetrieblicher Innovationskooperationen
2.2
75
Begriff und Besonderheiten von Kooperationen
Kooperationen werden je nach Untersuchungsschwerpunkt unterschiedlich definiert (vgl. u. a . Rotering, C. (1990), S. 38 ff.; Schuh et al. (2005), S. 31), weisen aber in der Regel folgende Merkmale auf:
Zusammenarbeit zwischen rechtlich und wirtschaftlich selbstständigen Organisationen Die rechtliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit der beiden Partner impliziert die Freiwilligkeit ihres Handelns. Beide Partner begeben sich jedoch in gegenseitige Abhängigkeit (vgl. Hagenhoff, S. (2008), S. 67), und die individuelle Handlungsfreiheit kann durch die Kooperation eingeschränkt werden (vgl. Scherer, N. (1995), S. 16). Damit herrscht eine "Koexistenz von Autonomie und Abhängigkeit" (Hagenhoff, S. (2008), S. 64).
Stillschweigende oder vertragliche Vereinbarung der Zusammenarbeit Auch bei stillschweigendem Übereinkommen handeln beide Partner bewusst und nicht zufällig. Die Festlegung der Kooperationsziele findet dagegen eher formal statt.
Funktionsabstimmung zwischen den Partnern oder Funktionsausgliederung und -übertragung auf einen Kooperationspartner Da die Selbstständigkeit beider Unternehmen erhalten bleibt, findet keine "Verschmelzung" der Kooperationspartner statt. Kooperationserträge müssen daher identifiziert und aufgeteilt werden.
Die Kooperation erfolgt zum Zwecke eines verbesserten Zielerreichungsgrades gegenüber dem individuellen Vorgehen. Die Kooperationsteilnehmer streben ein Sachziel (die technologische Umsetzung eines Bedarfes) oder ein Formalziel (Effizienz, Wirtschaftlichkeit, Schnelligkeit) an. Die Sachziele könnten im Alleingang durch jeden der Partner entweder gar nicht, weniger wirtschaftlich oder nur mit höherem zeitlichen Aufwand umgesetzt werden (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. ( 2007), S. 256).
Unterscheiden lassen sich überbetriebliche, innerbetriebliche und zwischenbetriebliche Kooperationen (vgl. Scherer, N. (1995), S. 15). Eine überbetriebliche Kooperation geht auf die Initiative eines Außenstehenden zurück. Mehrere Unternehmen
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Florian Thiebes und Nicole Plankert
finden so beispielsweise durch den gemeinsamen Branchenverband zusammen, um neu festzulegende Industrienormen im gemeinsamen Sinne beeinflussen zu können. Die Zusammenarbeit innerhalb eines Unternehmens wird als innerbetriebliche Kooperation bezeichnet. In einer zwischenbetrieblichen Kooperation oder Unternehmenskooperation schließlich arbeiten zwei oder mehr Unternehmen zusammen. Im Folgenden werden lediglich bilaterale zwischenbetriebliche Kooperationen untersucht, da die Erstellung einer Marktleistung, hier die Innovation, im Vordergrund steht. Im Rahmen einer überbetrieblichen Kooperation wird keine am Markt verwertbare Leistung erstellt; vielmehr werden beispielsweise die Interessen der Partner gebündelt (vgl. Hagenhoff, S. (2008), S. 33). Kooperationen werden in der Literatur als Koordinationsmischform zwischen Markt und Hierarchie (vgl. Halin, A. (1995), S. 105 ff.; Gerybadze, A. (2004), S. 191) oder als eigene Koordinationsform neben Markt und Hierarchie (Bouncken, R./Golze, A. (2007)) verstanden. Unbestritten ist die hohe Bedeutung von Vertrauen. Nach Auffassung der Vertreter von Kooperation als eigener Koordinationsform stellt Vertrauen das vorrangige Koordinationsmittel in Kooperationen dar, während im Markt hauptsächlich über den Preis und in der Hierarchie über Weisung koordiniert wird (vgl. Bouncken, R./Golze, A. (2007), S. 11). Vertrauen reduziert die Komplexität einer Situation, da weniger opportunistische Handlungsmöglichkeiten des Kooperationspartners berücksichtigt werden müssen (vgl. Peters, M. (2008), S. 77; Harland, P. (2002), S. 82; Pelzmann, L. (2005), S. 207). Aus Sicht des Vertrauensgebers können der notwendige Kontrollaufwand und die damit verbundenen Kosten reduziert werden. Aus Sicht des Vertrauensnehmers sinken Aufwand und Kosten für "Sicherungsmaßnahmen zur Unterstreichung der Glaubwürdigkeit von Verpflichtungen" (Held et al. (2005), S. 31). Vertrauen wirkt zudem dem Know-how-Abfluss nach außen entgegen (vgl. Strumann, A. (1997), S. 202). Auf Kontrolle darf allerdings nicht völlig verzichtet werden: Da Vertrauen opportunistisches Verhalten nicht verhindern kann, ist ein Mindestmaß an Kontrolle (vgl. Maaß et al. (2006), S. 69 f.) weiterhin notwendig. Insbesondere der Zugang zu offen gelegtem oder gemeinsam gewonnenem Wissen ist für den Hersteller wie auch den Anwender vor dem Zugriff Dritter zu schützen. Vertrauen unterstützt außerdem die Überwindung von Innovationsbarrieren, die in Unternehmenskooperationen aufgrund kultureller Differenzen auftreten. Nach anfänglicher Euphorie wird die Zusammenarbeit häufig durch Unterschiede der Unternehmenskulturen und gegebenenfalls der Landeskulturen gefährdet (siehe Abbildung 1). Durch den Aufbau und die Pflege von Vertrauen und Toleranz kann kulturelle
Chancen und Risiken zwischenbetrieblicher Innovationskooperationen
77
Assimilation erreicht werden, die die Kooperation stabilisiert. Beides kann beispielsweise durch räumliche Nähe und informelle Treffen gefördert werden (vgl. Gassmann, O. (2003), S. 643).
Abbildung 1: Veränderung des Teamgeists während der Kooperation Quelle: Gassmann, O. (2003), S. 643
2.3
Arten der Kooperation
Die Wertschöpfungsstufe, auf der die Kooperation erfolgt, bestimmt die Ausrichtung: horizontal, vertikal oder lateral (vgl. Strumann, A. (1997), S. 10). In horizontalen Kooperationen sind Unternehmen organisiert, die sich auf einer Wertschöpfungsstufe befinden und als Komplementäranbieter oder Wettbewerber agieren. In Kooperationen entlang der Wertschöpfungskette, so genannten vertikalen Kooperationen, arbeiten Unternehmen mit Kunden oder Lieferanten zusammen. In lateralen Kooperationen arbeiten Unternehmen mit Partnern zusammen, die nicht direkt der Wertschöpfungskette zuzuordnen sind. Hierzu gehören beispielsweise öffentliche Stellen, Forschungseinrichtungen, Berater oder Händler. Auf laterale Kooperationen wird im Folgenden nicht mehr eingegangen, da Unternehmenskooperationen im Fokus stehen.
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Horizontale Kooperationen FuE-Kooperationen sind zwischen Wettbewerbern aufgrund der strategischen Bedeutung von Innovationen eher selten. Für die Kooperation von Wettbewerbern, die neben kooperativen auch konkurrierende Verhaltensweisen erkennen lässt, hat sich der Begriff Coopetition (Cooperation und Competition) durchgesetzt. Kooperationen dieser Art gelten aufgrund der Rivalität unter Wettbewerbern als problematisch und stellen nur selten einen Gewinn für beide Partner dar. Die Akteure gehen diese Kooperationen daher mit besonderer strategischer Zielsetzung ein (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 168). Ein solches Ziel ist häufig die gemeinsame Durchsetzung eines Produktstandards (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 167) oder auch Risikoreduktion (vgl. Scherer, N. (1995), S. 27). Als Gegenstand der Innovation werden dabei Komponenten bevorzugt, die keine oder nur geringe wettbewerbsrelevante Bedeutung besitzen. Beispielhaft ist die gemeinsame Entwicklung eines Airbagsystems durch Automobilhersteller zu nennen (vgl. Scherer, N. (1995), ebenda). Die Zusammenarbeit von Komplementäranbietern ist häufiger als die Kooperation zwischen Wettbewerbern. Seit Ende 2008 arbeiten beispielsweise der Mischkonzern Evonik und der Fahrzeughersteller Daimler gemeinsam auf dem Gebiet der Entwicklung und Serienherstellung von Hochleistungsbatterien für Elektroautos zusammen (vgl. o.V. 2008). Leistungsfähige Batterien gelten als Schlüssel zum Durchbruch für Elektroautos. Für Daimler ist die Verfügbarkeit der neuen Technologie von höchster Wichtigkeit, da mit dem Absatz von Elektroautos neben dem Verkauf herkömmlicher Fahrzeuge Strafzahlungen für die Überschreitung von CO2-Emissionen deutlich reduziert werden können. Evonik investiert in die Technologie, um seinen Anteil am Zukunftsmarkt zu sichern und will als erster Anbieter LithiumionenBatteriezellen in Serie fertigen (vgl. o.V. 2009). Für beide Partner stehen hier also Zeitvorteile im Vordergrund. Mit der horizontalen Kooperation werden aber auch andere Ziele verfolgt: Während westliche Unternehmen insbesondere die Reduzierung von Entwicklungskosten verfolgen, wollen beispielsweise japanische Unternehmen von ihren Wettbewerbern lernen (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 168). Durch die Zusammenarbeit mit Komplementäranbietern können neue Kunden gewonnen oder sogar neue Märkte erschlossen werden. Darüber hinaus lassen sich durch horizontale Kooperationen Informationen über Wettbewerber gewinnen: Bei einer hohen Vernetzung der Marktteilnehmer einer Branche können beispielsweise Rückschlüsse auf strategische Vorhaben der Wettbewerber, Schwie-
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rigkeiten der Wettbewerber in laufenden Projekten oder Planungen von Kunden der Wettbewerber gezogen werden.
Vertikale Kooperationen Mit vertikalen Innovationskooperationen, also der Zusammenarbeit mit Lieferanten oder Kunden zum Zwecke der Produktentwicklung, soll insbesondere Wissen gewonnen werden. Die Wissensbeiträge von Kunden und Lieferanten unterscheiden sich allerdings: Aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen in der Wertschöpfungskette bringen Kunden und Lieferanten auch unterschiedliche Erfahrungen in die Kooperation ein. Besondere Bedeutung für den Innovationsprozess hat die Kooperation mit Kunden. Das implizite Wissen, das durch Kooperationen gewonnen werden soll, umfasst Bedürfnis- und Lösungsinformationen (vgl. Piller, F./Reichwald, R. (2007), S. 178). Bedürfnisinformationen geben Auskunft über Kundenwünsche und tragen so zur Optimierung des Produktportfolios bei. Lösungsinformationen beinhalten Know-how und unterstützen so direkt die technische Umsetzung neuer Konzepte. Bedürfnisund Lösungsinformationen reduzieren Entwicklungszeiten. Durch die Kooperation mit Kunden werden insbesondere Bedürfnisinformationen gewonnen. Bei Kunden, die über spezifische Anwendererfahrung verfügen (vgl. Matz, S. (2007), S. 111), können darüber hinaus Lösungsinformationen gewonnen werden. Der Betreiber einer komplexen Produktionsanlage verfügt beispielsweise über Wissen, das der Hersteller dieser Anlagen oft nicht ohne Kooperationen gewinnen kann, da sich seine Erfahrungen häufig lediglich auf Versuche im Labormaßstab stützen. In der Innovationsforschung nimmt die Auswahl des geeigneten Kunden im Falle vertikaler Kooperationen besonders breiten Raum ein. Sie richtet sich insbesondere nach dem angestrebten Kooperationsziel. Die Motive der Kooperationspartner können sich unterscheiden; ideal ist eine Komplementarität der Kooperationsmotive (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 262). Die Ziele dürfen jedoch nicht divergieren. Der Hersteller kann zum Beispiel das Hauptziel verfolgen, die Produkteigenschaften zu verbessern, während der Anwender vor allem das durch eine Kooperationsvereinbarung zugesicherte temporäre Alleinnutzungsrecht der Innovation und damit einen zeitlichen Vorsprung vor seinen Wettbewerbern anstrebt. Die Ziele sind zwar verschieden, aber sie schließen sich nicht gegenseitig aus. Hauschildt/Salomo diffe-
80
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renzieren hinsichtlich des Beitrages des Kooperationspartners zwischen InputPartnern und Output-Partnern (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 256). Als Input-Partner liefern Akteure beispielsweise notwendiges Wissen oder Ressourcen für den Innovationsprozess. Output-Partner sind beispielsweise Kunden in ihrer Funktion als Abnehmer einer Innovation. Bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde davon ausgegangen, dass die Integration durchschnittlicher Kunden Erfolg versprechend sei (vgl. Krieger, K. (2005), S. 103). Von Hippel konnte jedoch zeigen, dass der Anwendertypus des fortschrittlichen Kunden die Erfolgsaussichten einer Innovation steigert. Dieser so genannte Lead User ist in der Lage, einen Bedarf an neuen Lösungen Monate oder sogar Jahre vor anderen Kunden zu formulieren und wirkt damit trendbestimmend für seine Branche (vgl. Springer et al. (2006), S. 4). Er verfügt über ein hohes Verständnis hinsichtlich der Leistungsmerkmale sowie der Vor- und Nachteile des von ihm verwendeten Produktes (vgl. Pohl, T. (2003), S. 89). Lead User treten im Extremfall nicht nur als aktive Mitgestalter im Innovationsprozess auf, sondern als Innovatoren, die fertige Problemlösungen entwickelt haben. Je nach Zielsetzung der Kooperation ist auch die finanzielle Stärke des Partners sowie eine enge Geschäftsbeziehung in Verbindung mit einem Vertrauensverhältnis ein wichtiges Kriterium bei der Wahl des Kooperationspartners (vgl. Gruner, K./Homburg, C. (2000), S. 11). Die Anfangsphasen des Innovationsprozesses, häufig als "fuzzy front end" bezeichnet, umfassen insbesondere die Ideengenerierung und die Konzeptfindung. In diesen frühen Phasen profitiert das innovierende Unternehmen vom Know-how und der Erfahrung des Kooperationspartners und damit von einer intensiven Integration des Kunden. Maß für die Intensität sind insbesondere die Häufigkeit der Kontakte, die Dauer der Zusammenarbeit und die Anzahl der Kooperationspartner. In der darauf folgenden Umsetzungsphase, der eigentlichen Entwicklungsphase, kann der Kunde häufig weniger Beiträge leisten, da der Hersteller "in seinem Element" ist. In den abschließenden Phasen des Prototypentests, der Pilotanwendung und der Markteinführung kann der Kunde wieder Erfolg versprechend eingebunden werden (vgl. Gruner, K. (1997), S. 218). Beim Prototypentest kann der Anwender sein Wissen erneut einbringen: Die technische Lösung kann so an den Bedürfnissen gespiegelt werden, notwendige Modifikationen werden berücksichtigt (vgl. MeyerEschenbach, A. (2003), S. 94), und der Diffusionsprozess wird argumentativ vorbereitet (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 268). Die Kooperation mit renommierten Kunden entfaltet zudem eine Referenzwirkung, die die Ex-ante-Unsicherheit
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81
(vgl. Backhaus, K./Voeth, M. (2010), S. 199) weiterer Nachfrager reduziert und so die Markteinführung des Neuproduktes erleichtert. Die Innovationsforschung (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 7) unterscheidet zwischen zweckinduzierter, nachfragestimulierter ("demand-pull") und mittelinduzierter, angebotsstimulierter Innovation ("technology-push"). Während Kunden häufig Innovationen durch ihre Bedürfnisse über "demand-pull" anstoßen, können Lieferanten im Rahmen vertikaler Unternehmenskooperationen Innovationen durch "technology-push" initiieren (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 177). Im Anschluss an die grundsätzliche Make-or-Buy-Entscheidung wird der Grad der Rückwärtsintegration beziehungsweise der Umfang der Kooperation mit dem Lieferanten festgelegt (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), ebenda). Durch die zunehmende technologische Komplexität ist es für ein Unternehmen kaum möglich, alle relevanten Technologiefelder selbst zu beherrschen. Die Kooperation mit Lieferanten bietet hier die Möglichkeit, externe Ressourcen zu nutzen. Im Gegensatz zu einem reinen Leistungseinkauf bieten Geheimhaltungs- und Ausschließlichkeitsvereinbarungen hier einen Schutz der Innovation vor dem schnellen Zugriff durch den Wettbewerb. Von Lieferanten wird erwartet, dass sie in der Lage sind, die Probleme der Endkunden zu lösen und dass sie über Systemkompetenz verfügen (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 178). Auch Innovationspartnerschaften mit Lieferanten können zu bedeutenden Wettbewerbsvorteilen führen. Zum einen sind Lieferanten aufgrund ihrer Spezialisierung häufig mit komplementären Kompetenzen ausgestattet, die im Rahmen einer Kooperation nutzbar gemacht werden können. Zum anderen erhöht die Einbeziehung von Lieferanten die Flexibilität des innovierenden Unternehmens. Insbesondere im Hinblick auf hohe technologische Unsicherheiten kann auf diese Weise eine zu intensive Bindung an sich möglicherweise verändernde Technologien vermieden werden. Technologieaustrittsbarrieren werden gesenkt, und die Gefahr der Behinderung einer dynamischen Unternehmensentwicklung wird reduziert. Durch die Auslagerung von Innovationsaktivitäten an Lieferanten können sich Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren (vgl. Gassmann, O. (2003), S. 632 f.). Insbesondere in der Automobilindustrie hat die Innovationskooperation mit Lieferanten eine hohe Bedeutung und ist wissenschaftlich untersucht (vgl. u.a. Strumann, A. (1997), S. 51). Mit der zunehmenden Konzentration auf wenige Lieferanten vollzieht sich ein Wechsel vom Komponenten- zum Modullieferanten: Lieferanten übernehmen die Entwicklung funktionsfähiger Einheiten. Der Zuliefereranteil gewinnt durch seinen
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größeren Umfang an Wertschöpfung (vgl. Gassmann, O. (2003), S. 632). Für den Lieferanten nimmt die Bedeutung der auf den Kunden ausgerichteten Entwicklungsaktivitäten zu, so dass seine Bereitschaft zu Investitionen in die Innovationstätigkeit des Kunden steigt. Ebenso wenig wie Kunden sind auch nicht alle Lieferanten gleichermaßen für eine Zusammenarbeit geeignet: Zum einen hängt die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens in starkem Maße von der Wettbewerbsfähigkeit seiner Lieferanten ab. Daher sind Partner zu bevorzugen, die innovativ sind und langfristig qualitativ hochwertige Produkte liefern können (vgl. Rink, C. (2008), S. 20 ff.). Zum anderen sind hier Lieferanten wichtig, die an ein Unternehmen viele kundenspezifische Komponenten liefern beziehungsweise deren Lieferumfang einen hohen wertmäßigen Anteil am Endprodukt erreicht. Für diese Lieferanten wirkt sich eine Kooperation auch besonders vorteilhaft aus (vgl. Gassmann, O. (2003), S. 637), da sie mit einem höheren Volumen in der Serienphase rechnen können (vgl. Rink, C. (2008), S. 27 f.). Durch die Bedeutung der in Kooperation mit dem Lieferanten entwickelten Neuprodukte wird die Bindung zwischen Hersteller und Lieferant intensiviert. Hinsichtlich des Zeitpunktes der Integration von Lieferanten ist festzustellen, dass Lieferanten komplexer Produkte besonders vorteilhaft in den frühen Innovationsphasen eingebunden werden, die Lieferanten einfacher Produkte dagegen gegen Ende des Innovationsprozesses (vgl. Rink, C. (2008), S. 34). Die verschiedenen außerbetrieblichen - das heißt zwischenbetrieblichen und überbetrieblichen - Kooperationsmöglichkeiten sowie die potenziellen Partner und deren mögliche Beiträge sind in Abbildung 2 dargestellt.
Chancen und Risiken zwischenbetrieblicher Innovationskooperationen
83
Abbildung 2: Innovationspartner und ihre Leistungsbeiträge Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Gemünden/Hölzle (2006), S.173
2.4
Chancen und Ziele
Die Motive, eine Kooperation einzugehen, lassen sich mit Hauschildt/Salomo untergliedern: Förderung der Diffusion beziehungsweise Ausgleich von Ressourcendefiziten. Unter Diffusionsförderung sind solche Ziele subsumiert, die die Verbreitung der Innovation am Markt anstreben. Kooperationen erhöhen die Marktkenntnisse und ermöglichen so zum einen eine genauere Erfassung der Kundenbedürfnisse. Zum anderen unterstützen sie die Prognose der Marktentwicklung, an der die Innovationstätigkeit und die Gestaltung des Innovationsportfolios des Unternehmens langfristig ausgerichtet werden können. Zudem wird der Vergleich mit Wettbewerbsprodukten und -technologien erleichtert. Die Markteinführung wird durch die Referenzwirkung, die durch erfolgreiche Prototypentests oder Erstverwendung durch einen anerkannten Kunden entsteht, unterstützt. Durch die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern können Standards oder dominante Designs durchgesetzt werden. Kooperationen erhöhen insgesamt die Vernetzung in der Branche, verhelfen so zu Informationen über Wettbewerber und unterstützen die Neukundengewinnung.
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Die Steigerung der Qualität des Neuproduktes sowie der Effizienz des Innovationsprozesses wird durch den Ausgleich von Ressourcendefiziten erreicht. Neben personellen und finanziellen Ressourcen erhält ein innovierendes Unternehmen durch die Kooperation Zugang zu technologischen Ressourcen, zum Beispiel Produktionsanlagen, auf denen Versuche gefahren werden können, sowie zur entscheidenden Ressource Wissen. Das im Rahmen von Kooperationen gewonnene Wissen stellt nicht nur die Grundlage für die Ermittlung von Kundenbedürfnissen und -lösungen dar, sondern auch für die am Anfang des Innovationsprozesses stehende Ideengenerierung. Durch die personelle Ressourcenergänzung kann der Entwicklungsprozess beschleunigt werden. Hierdurch ist nicht nur eine schnellere Vermarktung möglich; es wird insbesondere vermieden, dass der optimale Markteintrittszeitpunkt durch eine zu lange Entwicklungszeit verpasst wird. Viele kleine und mittlere Unternehmen erreichen nicht die kritische Größe für den Aufbau einer eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung (vgl. Minder, S. (2001), S. 82) oder die Durchführung von Grundlagenforschung (vgl. Walther, S. (2004), S. 37). Durch die Kooperation können Skalenvorteile erzielt und die Entwicklungskosten deutlich gesenkt werden. Aber auch für größere Unternehmen lohnen sich Kooperationen in finanzieller Hinsicht: Insbesondere im Bereich der Spitzentechnologie können hohe und gleichzeitig spezifische Investitionen mit dem Partner gemeinsam leichter realisiert werden. Die zunehmende Markt- und Technologiekonvergenz erfordert interdisziplinäres Denken und Handeln. Die notwendige Systemkompetenz kann mit einem Partnerunternehmen schneller und gezielter erreicht werden. Dies gilt insbesondere für die Kooperation mit Komplementäranbietern. In Tabelle 1 sind innovationsrelevante Herausforderungen und der aus Kooperationen resultierende Nutzen zusammengestellt.
2.5
Herausforderungen und Risiken
Kooperationen sind nicht pauschal positiv zu bewerten. Bei Innovationskooperationen treten spezifische Risiken auf. Als "Not-Invented-Here-Syndrom" wird zum Beispiel die Ablehnung nicht aus dem eigenen Umfeld stammender Ideen bezeichnet (vgl. Mehrwald, H. (1999), S. 1). Zudem besteht die Gefahr der Abhängigkeit vom Kooperationspartner. Diese ist besonders groß, wenn er umfangreiches Erfahrungswissen einbringt (vgl. Gassmann, O. (2003), S. 633). Ein hohes Risiko besteht außer-
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dem in der Diffusion von Wissen an den Wettbewerber (vgl. Gassmann, O. (2003), S. 634). Bei Kooperationen mit Anwendern besteht die Gefahr einer zu starken Orientierung am Kunden: Die Ausrichtung auf die speziellen Bedürfnisse des kooperierenden Kunden kann zu niedrigen Innovationsschritten (Inkrementalismus) oder einer Nischenentwicklung führen (vgl. Brockhoff, K. (2007), S. 183). Durch eine zu späte Berücksichtigung kann der freezing point verpasst werden: Der Innovationsfortschritt wird deutlich verzögert, so dass die Wirtschaftlichkeit des Innovationsprozesses sinkt (vgl. Brockhoff, K. (1998), S. 22 f.). Zudem kann der rechtzeitige Eintritt in den Markt verpasst werden. Kooperationen verlaufen nicht immer konfliktfrei (vgl. Apelt, M. (1999), S. 7). Es besteht beispielsweise grundsätzlich die Gefahr opportunistischen Verhaltens der Akteure. Häufig sind unklare Vereinbarungen über die Aufteilung der Aufgaben, aber auch des Innovationserfolges, ursächlich für Probleme zwischen den Partnern. Die Auswahl eines Partners, dessen Unternehmenskultur und -größe nicht zum eigenen Unternehmen passt und dessen Ziele und Erwartungen sich unzureichend mit den eigenen decken, birgt ebenfalls Schwierigkeiten. Insbesondere die für die Kooperation wichtige Wissensweitergabe hängt maßgeblich von Vertrauen ab, das auf ge-
ndefiziten
Ressource
g
von
Diffusionsförderung
Herausforderungen von Innovationskooperationen
Zielsetzungen von Innovationskooperationen
schnelle Änderungen der Marktanforderungen
Verbesserung der Marktkenntnis und Bedarfserfassung, Prognoseunterstützung, Möglichkeit des einfacheren Benchmarkings, Erweiterung des Angebotsspektrums
Markteinführung des Neuproduktes
Erreichen einer höheren Marktakzeptanz durch Referenzwirkung Durchsetzung von Standards und dominanten Designs
Marktausweitung
Gewinnung neuer Kunden bzw. Zutritt zu neuen Märkten Information über (neue) Wettbewerber
kürzere Produktlebenszyklen, Zeitwettbewerb
kürzere Entwicklungszeiten, Treffen des richtigen Zeitfensters für die Markteinführung, schnelle Vermarktung Risikostreuung, auch bei der Finanzierung
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86 rasche Veränderung von Produkt- und Produktionstechnologien, Technologiewettbewerb
Zugang zu neuen Produkt- und Produktionstechnologien Günstiger Know-how-Zugang Schaffung einer breiteren Ideengrundlage
veränderte Kostenstrukturen, Notwendigkeit hoher Investitionen
Kostenteilung, Kostendegressionspotenzial durch Skalenvorteile, Risikoteilung bessere Auslastung in den Bereichen Fertigung, Vertrieb sowie Forschung und Entwicklung Senkung der Entwicklungs- und Produktionskosten (z.B. durch Orientierung an Prozessen) gemeinsame Standards Synergievorteile durch Patentpooling
Markt- und Technologiekonvergenz
Systemkompetenz
mangelnde Ressourcen (Mitarbeiter, Know-how, Kapital…)
Ressourcenzugang, Ressourcenteilung, Produktionsoutsourcing, bessere Ausnutzung vorhandener Ressourcen
innerbetriebliche Widerstände gegenüber neuartigen, zugekauften Modulen oder Konzepten
Übernahme der Beweislast für das Funktionieren der Module und Konzepte (durch Lieferanten)
Tabelle 1: Herausforderungen und Ziele von Innovationskooperationen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Harland, P. (2002), S. 1 f.; Herstatt et al. (2007), S. 30; Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 257 und 281; Gassmann, O. (2003), S. 633
meinsamen Werten basiert (vgl. Weissenberger-Eibl, M./Kelm, A. (2005), S. 91). Tabelle 2 zeigt die Risiken von Kooperationen im Überblick.
2.6
Theoretische Grundlagen
Transaktionskostentheorie Die Transaktionskostentheorie als Teil der Neuen Institutionenökonomie befasst sich in erster Linie mit Institutionen (vgl. Gruner, K./Homburg, H. (1999), S. 125). Neben der Koordinationsform der Hierarchie, im allgemeinen einem Unternehmen, existieren mit dem Markt und der Kooperation weitere Koordinationsformen, die anhand der Transaktionskostentheorie erklärt werden können. Die Untersuchung der Koordinationsformen erfolgt anhand von Transaktionen. Hierzu gehört auch der Austausch immateriellen Wissens (vgl. Wiegandt, P. (2009), S. 118). Bei der
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87
Anbahnung, Vereinbarung, Kontrolle und Anpassung von Transaktionen fallen so genannte Transaktionskosten an. Idealerweise wird der Koordinierungsmodus gewählt, bei dem die Summe der Transaktionskosten am geringsten ausfällt. Transaktionskosten sind in der Regel schwierig zu quantifizieren (vgl. Homburg, C./Krohmer, H. (2009), S. 204). Es wird daher ein qualitativer Vergleich der Transaktionskosten verschiedener Organisationsformen anhand der Situationsvariablen Spezifität, Unsicherheit und Transaktionshäufigkeit vorgenommen (vgl. Heydebreck, P. (1996), S. 49 f.). Eine Transaktion hoher Spezifität erfordert Investitionen, die in einem anderen Kontext nicht oder nur mit hohem Wertverlust verwendet werden können (vgl. Matz, S. (2007), S. 112). Bei niedrigen Graden an Spezifität, Unsicherheit und Häufigkeit ist die Marktlösung der hierarchischen Lösung vorzuziehen. Im Falle hoher Spezifität, hoher Unsicherheit und häufiger Transaktionen führt die hierarchische Koordinationsform zu den niedrigsten Transaktionskosten (vgl. Homburg, C./Krohmer, H. (2009), S. 204). Da bei hoher Spezifität und Unsicherheit die Auswirkungen opportunistischen Verhaltens des Transaktionspartners deutlicher zum Tragen kommen, wären im Fall der Marktlösung hohe Kontrollkosten erforderlich. Ein Innovationsprozess ist prinzipiell durch Unsicherheit (vgl. Abschnitt 2.2) und hohe Spezifität gekennzeichnet. Die Transaktionshäufigkeit ist niedrig, da im gleichen Kontext in der Regel keine Transaktion mehr stattfinden wird: Ein Produkt wird in einer bestimmten Form nur einmal entwickelt. Innovationsprojekte werden daher idealerweise im Rahmen einer Kooperation durchgeführt, während sie "tendenziell gerade nicht in marktnäheren Organisationsformen realisiert werden dürften" (Hagenhoff, S. (2008), S. 40). Risiken der Kooperation
Potenzielle Folgen
unterschiedliche Kooperationsziele und Erwartungen
Partner wird zum Konkurrenten Partner verhält sich opportunistisch Partner bremst den Innovationsprozess mangelndes Vertrauen
unklare Vereinbarungen über die Aufteilung der Ergebnisse, Termine und Kosten
destruktive Konflikte Rechtsstreitigkeiten
hoher interner Koordinationsaufwand, ineffiziente zwischenbetriebliche Zusammenarbeit
hohe Transaktionskosten
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88 mangelhafte Kommunikation und Leistungen der Partner Mangel an Kooperationserfahrung der Partner Mitarbeiterwechsel Widerstand der Mitarbeiter/Mentalität (Not-Invented-Here-Syndrom) unzureichende Flexibilität
unterschiedliche Managementstile verursachen höhere Transaktionskosten teure Vertragsverhandlungen schlechter Informationsfluss Entwicklung dauert länger als geplant
Abhängigkeit/Dominanz, z. B. aufgrund großer Unterschiede in der Unternehmensgröße Nutzen-Aufwand-Verhältnis verschiebt sich im Projektverlauf zuungunsten eines Partners Schwierigkeiten bei der Aufteilung und Allokation von Beiträgen und Ergebnissen
für einen Partner unerwartet ungünstige Renditeverteilung
unzureichender Schutz der Kernkompetenzen, Geheimhaltungsprobleme
unerwünschter Wissenstransfer
zu starke Ausrichtung auf den Partner (insbesondere Kunden)
Verpassen des Freezing Points Inkrementalismus Nischenentwicklung
entwickelndes Unternehmen wird nicht mehr als innovativ wahrgenommen
Imageverlust
Tabelle 2: Risiken von Innovationskooperationen und mögliche Folgen ihres Eintretens Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Harland, P. (2002), S. 3; Herstatt et al. (2007), S. 43; Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 165
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89
Spieltheorie Gegenstand der Spieltheorie sind Entscheidungen, bei denen die Akteure eine strategische Festlegung treffen, die Handlungsweisen für weitere Entscheidungssituationen beinhaltet. Dabei wählt jeder Akteur seine Strategie so, dass er seinen Nutzen maximiert. Der tatsächliche Nutzen ist neben der eigenen Strategiewahl auch von der des anderen Akteurs abhängig (vgl. Homburg, C./Krohmer, H. (2006), S. 233). Dieses Spiel ist durch Konflikte und Unsicherheit gekennzeichnet (vgl. Hagenhoff, S. (2008), S. 40). Spieltheoretische Überlegungen zeigen, dass die individuelle Rationalität der kollektiven Rationalität widerspricht (vgl. Pieper, J. (2000), S. 99). Das heißt, es existieren Entscheidungsmuster, die den individuellen Nutzen höher ausfallen lassen als bei rational nachvollziehbarem opportunistischen Verhalten auf beiden Seiten. Nichtkooperatives Verhalten kann nur vermieden werden, wenn beide Akteure dauerhaft zur Kooperation bereit sind. Die modellmäßigen Annahmen der Spieltheorie sind so angelegt, dass sie nicht nur die Bedeutung kooperativen Verhaltens zur Maximierung des kollektiven Nutzen demonstrieren, sondern auch zeigen, welche Bedeutung vertragliche Festlegungen und insbesondere Vertrauen für eine Kooperation haben. Da Vertrauen wesentlich durch die Dauerhaftigkeit der Interaktion determiniert wird (vgl. Pieper, J. (2000), S. 104; Kenan, M. (2008), S. 12), sind für das Eingehen von Innovationskooperationen langjährige Geschäftsbeziehungen von besonderer Bedeutung.
3 Fazit Innovationen sind aufgrund der mit ihnen verbundenen Neuartigkeit nicht planbar und daher mit Unsicherheiten verbunden. Durch Kooperationen mit anderen Marktteilnehmern können diese Unsicherheiten reduziert werden. Der Innovationserfolg kann so in qualitativer, zeitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht verbessert werden. Die Zusammenarbeit mit Lieferanten hat vor allem die Gewinnung von Lösungsinformationen zum Ziel. Hierdurch kann der Einsatz eigener Ressourcen verringert werden. Durch die Integration von Kunden werden hingegen insbesondere Bedürfnisinformationen gewonnen, die eine gezielte Ausrichtung der Innovation auf die Kundenwünsche ermöglichen. Gemeinsame Aktivitäten mit Wettbewerbern sind eher selten und aufgrund der strategischen Bedeutung von Innovationen kaum längerfristig angelegt. Kooperationen mit Komplementäranbietern eignen sich vor allem bei
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Innovationen, die aufgrund ihrer Komplexität ein breites Vorgehen im Markt erfordern: Die Zusammenarbeit mit Komplementäranbietern bietet die Möglichkeit, technisch umfassende Lösungen zu erzielen. Die Integration externer Partner ist aber auch mit Widerständen und Hemmnissen verbunden. Der Auswahl des "richtigen" Kooperationspartners kommt daher besondere Bedeutung zu. Konflikte zwischen den Akteuren können so reduziert werden. Zu Partnern aus langjährigen Geschäftsbeziehungen besteht häufig ein Vertrauensverhältnis. Dieses reduziert den notwendigen Kontrollaufwand auf beiden Seiten und stellt damit eine wesentliche Basis für eine gute Zusammenarbeit dar. Wichtig ist aber auch der unternehmerische Fit aus Unternehmenskultur und -größe, der gegenseitige Abhängigkeiten und die Gefahr opportunistischen Verhaltens reduziert.
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Risikomanagement in Innovationsprozessen Olaf Passenheim*
1
Der Innovationsprozess im Mittelstand ......................................................... 96
2
Treiber von Risikomanagement und Innovationsmanagement ......................96
3
Hürden, Risiken und Quellen des Scheiterns von Innovationsprojekten......100
4
Risikomanagement in Innovationsprozessen...............................................101
5
Handlungsempfehlungen und Fazit .............................................................104
Literaturverzeichnis ................................................................................................106
* Prof. Dr. Olaf Passenheim ist Hochschullehrer an der Hochschule Emden / Leer.
Olaf Passenheim
96
1
Der Innovationsprozess im Mittelstand
Innovationen stehen für Visionen, für Produkte oder Geschäftsbereiche, die aus einer Idee geboren wurden und die oft nach vielen Rückkopplungen und Neuanfängen schließlich realisiert wurden. Risikomanagement scheint im Gegensatz dazu für eine vorsichtige, bedächtige Herangehensweise zu stehen, die das Innovationsmanagement in seiner Kreativität behindert, im schlimmsten Fall sogar vollständig verhindert. Erst auf den zweiten Blick werden die Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Ansätzen deutlich: Beide betreffen sowohl die Aufbau- wie auch die Ablauforganisation in einem Unternehmen und beide müssen nicht nur vom Top-Management getragen werden, sondern von allen Mitarbeitern gelebt werden, um nachhaltig erfolgreich zu sein und sollten daher in der Unternehmensstrategie verankert sein. Im Kontext eines aktiven Risikomanagements wird daher heute immer mehr von einem Chancenmanagement gesprochen, und zwischen einem Innovationsmanagement und einem Chancen-management ist die Konnektivität offensichtlich. Nicht nur die Verbindung, sondern auch die Integration dieser beiden Ansätze versucht dieser Beitrag offen zu legen. Dazu werden zuerst die wesentlichen Treiber des Risikomanagements und des Innovationsmanagements vorgestellt, danach wird kurz beleuchtet, warum Innovationsprozesse in Unternehmen scheitern können. Nach der Darstellung der Ansätze des Risikomanagements wird aufgezeigt, wie ein aktives Risikomanagement das Innovationsmanagement und die Innovationsprozesse unterstützen kann. Betrachtet werden vor allem die Innovationsprozesse in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), da diese einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil aus der kontinuierlichen Innovationsfähigkeit beziehen.
2
Treiber von Risikomanagement und Innovationsmanagement
Unter einem Risiko versteht man die Möglichkeit des Misslingens von Plänen, die Gefahren einer falschen Entscheidung, die Schadens- und Verlustgefahr sowie die Möglichkeit einer Planabweichung. Man versucht, solche Risiken zu minimieren, indem man den Risiken eine ursachenbezogene Komponente zuweist, d.h. man versucht das Risiko in einer Entscheidungssituation mit einer quantifizierbaren Unsicherheit abzubilden. Des Weiteren wird zwischen reinen und spekulativen Risiken unterschieden. Reine Risiken enthalten nur Verlustmöglichkeiten, sie werden auch mit den versicherbaren Risiken gleichgesetzt, da diese von Versicherungen zum großen Teil abgedeckt werden können. Spekulative Risiken werden auf sämtliche
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_5, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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97
Geschäftstätigkeiten bezogen und enthalten sowohl Verlustmöglichkeiten als auch Gewinnmöglichkeiten. Somit ist zum Beispiel ein Risiko bei der Markteinführung eines neuen Produktes ein spekulatives Risiko. Das Risikomanagement ist heute ein wesentlicher Bestandteil der modernen Unternehmensführung und integriert organisatorische Maßnahmen, risikopolitische Grundsätze sowie alle für Entscheider relevanten Planungs-, Koordinations-, Informations- und Kontrollprozesse. Damit soll versucht werden, Risiken systematisch und kontinuierlich zu identifizieren, zu beurteilen, zu steuern und zu überwachen, um in Form z.B. eines Risikoradars die unternehmerischen Risikopotenziale frühzeitig erkennen, einschätzen und gegensteuern zu können. Das Risikomanagement ist z.B. für Aktiengesellschaften bereits gesetzlich verankert. Als die beiden wichtigsten gesetzlichen Vorschriften seien hier das Aktiengesetz und das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich genannt. Durch den neuen Absatz 2 des § 91 AktG fordert der Gesetzgeber Vorstände von Aktiengesellschaften dazu auf, „geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit die den Fortbestand der Gesellschaft gefährdenden Entwicklungen früh erkannt werden“. Des Weiteren sind diese verpflichtet, ein angemessenes Risikomanagement und eine angemessene interne Revision zu installieren und zu betreiben. Auch das am 1.5.1998 in Kraft getretene Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) fordert Unternehmen zu einem Risikomanagement auf. Es enthält umfangreiche Änderungen des Aktien- und Handelsgesetzes. Mit dem KonTraG werden besonders zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollen Schwächen und Verhaltensfehlsteuerungen im deutschen Unternehmenskontrollsystem und des Mitbestimmungsrechts korrigiert werden und zum andern soll der zunehmenden Ausrichtung deutscher Publikumsgesellschaften an den Informationsbedürfnissen internationaler Investoren Rechnung getragen werden. Innovationsmanagement ist eine betriebliche Kerntätigkeit, die im Wesentlichen an den Eigenschaften einer Innovation ausgerichtet ist und damit Managementaspekte verbindet. Ausgehend von dem lateinischen Wort „innovatio“ bedeutet Innovation soviel wie Neuerung, Erneuerung oder auch Neuheit; deutlich wird dieser Aspekt ebenfalls durch den Bezug zum Adjektiv „novus“ (neu). Im betriebswirtschaftlichen Sinn ist dieses Neue enger zu fassen. Es bedarf der unternehmerischen Relevanz,
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um eine Neuerung im betriebswirtschaftlichen Sinn als Innovation bezeichnen zu dürfen (Gabler Wirtschaftslexikon online). Unternehmen sind aufgrund kürzerer Technologie- und Produktlebenszyklen in zunehmendem Maße gezwungen, neue Produkte und Dienstleistungen schnell in den Markt einzuführen. Getrieben wird diese Entwicklung vor allem durch eine zunehmende Globalisierung der Wirtschaft, den Technologiesprüngen in der Informatik und der Telekommunikation, der Verknappung der Ressource Geld (vor allem in Zeiten einer ökonomischen Krise) und der Ressource Human Capital. Vor dem Hintergrund dieser Dynamisierung des Wirtschaftsgeschehens sucht die unternehmerische Praxis kontinuierlich nach innovativen Ideen und deren strukturierter Entwicklung und Umsetzung, um einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Die Abbildung von Innovationen in Prozessmodelle ist daher ein fester Bestandteil der Unternehmensführung und des Innovationsmanagements geworden. Fast jedes Lehrbuch des Innovationsmanagements enthält Prozessmodelle, um die Abläufe im Innovationsprozess zu verdeutlichen. Empirische Studien bezüglich des Innovationsmanagements setzten Prozessmodelle ein, um die beobachteten Aktivitäten abzubilden oder zu veranschaulichen. Viele Großunternehmen entwickeln Prozessmodelle, um die Innovationsaktivitäten zu standardisieren (vgl. Herstatt (2000)), Für die weitere Diskussion orientiert sich der Autor an dem Prozessmodell von Pleschak und Sabisch, das in Abbildung 1 dargestellt ist (vgl. Abbildung 1).
Risikomanagement in Innovationsprozessen
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Markt- und Technologieentwicklung Kundenbedürfnisse und -probleme 0/1 Problemerkenntnis Problemanalyse Zu lösende Probleme
0/2 Strategiebildung (Gesamtunternehmen, Innovation, Technologie, Markt) Strategische Orientierung
1 Ideengewinnung für neue Problemlösungen Ideenbewertung und - auswahl Innovationsprojekt
ausgeschiedene Ideen
2 Projekt- und Programmplanung Wirtschaftlichkeitsberechnung Ziel und Aufgabenstellung/ Pläne
ausgeschiedene Projekte
3 Forschung und Entwicklung Technologietransfer Invention
Misserfolg Lizensnahme
4 Produktionseinführung Fertigungsaufbau Marktfähiges Produkt
Forschungsergebnisse Forschungsinstitute Andere Unternehmen Transfereinrichtungen Kooperation
Mißerfolg
Lizensverkauf
5 Markteinführung
Marktflop Adaption beim Kunden Diffusion (Marktausbreitung)
Abbildung 1: Innovationsprozess nach Pleschak/Sabisch Quelle: Pleschak, F. / Sabisch, H. (1996).
Dieses Prozessmodell unterscheidet sich von anderen Modellen vor allem dadurch, dass vor dem eigentlichen Innovationsprozess die Strategiebildung sowie die Problemerkenntnis und die Problemanalyse betrachtet werden. Hier wird also bereits deutlich, dass der Innovationsprozess ähnlich wie das Risikomanagement nicht auf einzelne Unternehmensbereiche beschränkt sein kann, sondern in der unternehmerischen Gesamtverantwortung integriert ist. Die restlichen Prozessschritte ähneln weitestgehend den wissenschaftlichen oder unternehmerischen Prozessmodellen und werden an dieser Stelle nicht weiter behandelt.
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3
Hürden, Risiken und Quellen des Scheiterns von Innovationsprojekten
Die meisten Unternehmen sind auf einen kontinuierlichen Innovationsprozess angewiesen, um in ihrem Umfeld einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Das wird vor allem in Regionen deutlich, in denen eine Konzentration von klein- und mittelständischen Betrieben, aber auch Großbetrieben auftritt, wie im süddeutschen BadenWürttemberg. Hier sind es nicht nur die großen Unternehmen der Automobilindustrie wie Porsche oder Daimler, sondern auch die vielen Zulieferer, die ständig mit Innovationen auf sich aufmerksam machen müssen, um im Wettbewerb um begehrte Aufträge einen Vorteil zu haben. Damit stellt sich die Frage, warum es oft kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht gelingt, Triebfeder der Innovation zu sein, es sogar Widerstand gegen neue Entwicklungen gibt. Die Rahmenbedingungen scheinen in den meisten Fällen zu stimmen: Eine oft eigentümerverbundene, international qualifizierte Führungsebene sowie ein hervorragend ausgebildetes Management und motivierte Mitarbeiter. Neben dieser flachen Aufbauorganisation existieren in der Ablauforganisation erprobte Prozesse und Schnittstellen, die nicht von einem teilweise bürokratisch entwickelten Verwaltungsapparat eines Grußunternehmens behindert werden. Genau diese Prozessflexibilität kann jedoch auch ein Hindernis für ein kontinuierliches Innovationsmanagement sein. Wird die Flexibilität bei KMU gerne als Wettbewerbsvorteil aufgezählt, so ist jedoch jeder Prozess, unabhängig von der Größe eines Unternehmens, von Regeln und Vorschrift gekennzeichnet. Innovationsprozesse besonders zeichnen sich durch eine hohe Komplexität aus, die gerade in einem Unternehmen, das seinen Wettbewerbsvorteil aus der Prozessschnelligkeit bezieht, zu einem Hemmnis werden kann. Das liegt zum einen daran, dass die Mitarbeiter unsicher sein können, ob ein solcher Innovationsprozess auch replizierbar ist, dass die Integration in eine bestehende Ablauforganisation aufgrund der vielen neuen Schnittstellen mit Problemen in der täglichen Routine verbunden ist und somit in den wenigsten Fällen konfliktfrei ablaufen wird. Damit steht das Management von KMU vor dem hauptsächlichen Problem der Integration von Routineprozessen und Innovationsprozessen. Wie bereits oben erwähnt ist der wesentliche Wettbewerbsvorteil von KMU die Prozesschnelligkeit und damit die Reaktionsfähigkeit, zum anderen muss aber auch die Prozessqualität sichergestellt werden, um die Qualitätsanforderungen, z.B. als Zulieferer, erfüllen zu können.
Risikomanagement in Innovationsprozessen
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In diesem immerwährenden Balanceakt zwischen Reaktion und Aktion muss ein Weg gefunden werden, um Innovationsprozesse sinnvoll und nachhaltig zu integrieren. Die Risiken eines Innovationsprojektes sind vielfältig, und sollen hier nur exemplarisch genannt werden (Vgl. Schmelzer, H.J. (2006)): x
Unternehmensexterne Einflüsse wie Veränderungen der Wettbewerber, des Absatzmarktes, des Beschaffungsmarktes, des Arbeitsmarktes, der Umwelt, ein technologischer Wandel oder mangelhafte Leistungen externer Zulieferer.
x
Unternehmensinterne Einflüsse wie mangelhafte Geschäfts-, Marketing-, Entwicklungs- und Produktstrategie oder unzureichende finanzielle, personelle oder technische Entwicklungsressourcen.
x
Projektinterne Einflüsse wie mangelhafte Ziel- und Durchführungsplanung, Zielabweichungen bei der Projektdurchführung (Qualität, Termine, Kosten) oder aber ein unternehmensinterner Innovationswiderstand („Nicht Wissen“, „Nicht wollen“, „Nicht Können“, „Nicht dürfen“).
4
Risikomanagement in Innovationsprozessen
Modernes Risikomanagement bedeutet heute weit mehr als nur das Abarbeiten und Kontrollieren eines Regelkreises, sondern umfasst die ganzheitliche unternehmerische Aktivität, wie in Abb. 2 dargestellt. Besonders sollen im folgenden Abschnitt die Möglichkeiten eines unternehmensweiten Risikomanagements in Innovationsprozessen betrachtet werden, da die operative Umsetzung durch den Regelkreis des Risikomanagements in der Literatur bereits umfassend behandelt wird (vgl. z.B. Runzheimer, B./ Wolf, K. (2009)).
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102 Unternehmensweites Risikomanagement Risikostrategie Risikoberichte (Key-Risk-Indicators)
Strategie
Aufbauorganisation Ablauforganisation
Organisation
Interne Kontroll- und Steuerungsprozesse Interne Revision
Prozesse
Regelkreis des operativen Risikomanagements • Risikoidentifikation • Risikoanalyse • Risikobehandlung • Risikocontrolling
Unternehmensindividuelle Rahmenbedingungen • Rechtliche Einbindung • Unternehmensgröße • Mitarbeiteranzahl • Organisatorische Rahmenbedingungen
Notfallkonzept
Abbildung 2: Komponenten eines unternehmensweiten Risikomanagements Quelle: Eigene Darstellung
Im strategischen Rahmen muss für den Innovationsprozess und das Risikomanagement die Konsistenz mit der Geschäftsstrategie sichergestellt werden. Das bedeutet, es muss als Ableitung der wie in Abb.1 ersichtlichen Notwendigkeit von Innovationen als Ergebnis von Markt- und Technologieentwicklungen oder Kundenbedürfnissen und problemen sicher gestellt werden, dass eine schriftlich formulierte Unternehmensstrategie existiert, die mit der Risikostrategie und der Innovationstrategie harmoniert. So darf beispielsweise in der Unternehmensstrategie nicht formuliert werden, dass die Erschließung von Auslandsmärkten aufgrund eines erwarteten Wachstums im Inland nur eine untergeordnete Priorität hat, gleichzeitig aber das Innovationsmanagement sich auf global vermarktbare Produkte konzentriert, ohne dass eine Risikobewertung der Geschäftsstrategie auf nationaler wie internationaler Ebene durchgeführt wurde. Die Strategietriade muss regelmäßig (mind. 1 x jährlich) überprüft und ggf. in Abhängigkeit von Veränderungen der Unternehmensstrategie angepasst werden. Ebenso muss sichergestellt sein, dass die Aufsichtsorgane (z.B. Aufsichtsrat) regelmäßig schriftlich über die Risikostrategie und Innovationsstrategie informiert werden. Nach der strategischen Orientierung muss ein Risikotragfähigkeitskonzept für den Innovationsprozess im Unternehmen implementiert werden. Zu solch einem Konzept gehören zum Beispiel die Implementierung von prozessbegleitenden (Risiko)Kennzahlen (Key-Risk-Indicator), die speziell für den Innovationsprozess gebildet werden. Um die Erfahrungen in Innovationsprozessen, vor allem für KMU sicher zu stellen, empfiehlt es sich, in einem standardisierten Vorgehen zum einen im Unternehmen immer wieder kehrende Kennzahlen abzubilden, zum anderen die innovati-
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103
onsindividuellen Faktoren zu berücksichtigen. Wichtig bei all diesen Kennzahlen ist natürlich vor allem, dass diese aktiv verwendet werden und versuchen, auch einen „Blick nach vorne“ abzubilden. Für die Aufbauorganisation können Erfahrungen des in der Finanzwelt bereits etablierten Risikomanagements übernommen werden. Dort wird zum Beispiel eine Funktionentrennung mit klaren Definitionen von Aufgaben und Verantwortungen gefordert. Übertragen auf das Risikomanagement von Innovationsprozessen führt dies zum Beispiel dazu, dass Aufgaben und Verantwortung der Geschäftsleitung, des Risikomanagements und des Innovationsmanagements voneinander abgegrenzt sind, um Interessenkonflikte zu vermeiden und dies z.B. in einem Organisationshandbuch niedergeschrieben ist, in dem die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der beteiligten Funktionen klar definiert sind. Die in der Aufbauorganisation definierte Verteilung von Verantwortlichkeiten muss sich in der Ablauforganisation widerspiegeln. Besonders hervorzuheben ist im Rahmen des Innovationsmanagements das betriebliche Anreizsystem. Dieses sollte gemäß den Grundsätzen des Risikomanagements sicher stellen, dass z.B. keine unverhältnismäßig hohen Risikopositionen eingegangen werden können. So muss letztlich die Unternehmensführung sicher stellen, dass durch die „Belohnung“ von innovativen Produkten, Prozessen oder Dienstleistung eine kontinuierliche Wettbewerbsfähigkeit garantiert wird, im Sinne des Risikomanagements aber auch die Existenz des Unternehmens sicher gestellt ist. Auf der prozessualen Ebene muss (neben dem eigentlichen Regelkreis des Risikomanagements) sichergestellt werden, dass interne Kontroll- und Steuerungsprozesse im Sinne des Risikomanagements in ausreichendem Maße existieren und den Mitarbeitern bekannt sind. Unterstützen kann dabei, ähnlich dem bereits oben genannten Organisationshandbuch, ein „Risikohandbuch“, mit dem den Mitarbeitern eine umfassende Dokumentation zur Verfügung gestellt wird, wie sie sich bei auftretenden Risiken zu verhalten haben. Eine herausfordernde Schwierigkeit besteht natürlich in der Schaffung einer „Risikokultur“, d.h. die Mitarbeiter aber auch die Unternehmensleitung müssen verstehen lernen, dass Innovation und Risiko zwar zwei Seiten einer Medaille sind, diese aber nur gemeinsam zum Erfolg führen. Diese organisatorische Umsetzung und Operationalisierung der Anforderungen an das Risikomanagement scheitern auch in Branchen, die bereits sehr reglementiert im Sinne des Risikomanagements arbeiten, wie z.B. Banken oder Versicherungen. Als besonders erfolgreich haben sich hierbei regelmäßige Schulungen zum Thema Risi-
Olaf Passenheim
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komanagement im Unternehmen erwiesen. Dabei sollten solche Schulungen neben den eigentlichen Kerninhalten des Risikomanagements in Innovationsprozessen vor allem vermitteln, wie risikorelevante Geschäftsprozesse von allen Mitarbeitern identifiziert, angemessen überwacht und gesteuert werden können. Zudem können gemeinsam Notfallpläne für die verschiedenen Abteilungen oder Schritte im Innovationsprozess erarbeitet und erprobt werden.
5
Handlungsempfehlungen und Fazit
Verschiedene Modelle des Risikomanagements sind in vielen Unternehmen bereits umgesetzt, leider werden in den meisten Fällen nur die Minimalanforderungen implementiert, und dies zudem noch unstandardisiert. Als Folge davon ist das Risikomanagement für Innovationen nicht analog aktiv und zukunftsorientiert ausgerichtet. Dafür gibt es zwei hauptsächliche Gründe: Erstens wird in den meisten Unternehmen Risikomanagement als formaler Zwang betrachtet und weniger als ökonomischer Mehrwert gesehen; die rechtlichen Vorschriften werden erfüllt, ohne einen Bezug zu den damit verbundenen unternehmerischen Chancen zu schaffen. Potenzielle Wettbewerbsvorteile aus der Berücksichtigung von strategischen Risiken bleiben ungenutzt. Zweitens beschäftigt sich in den meisten Fällen vor allem das TopManagement oder die interne Revision mit dem Risikomanagement und „vergisst“, nachgelagerte Unternehmensbereiche mit einzubeziehen. Die Erfahrungen in anderen Branchen haben es bereits bestätigt: Erfolgreiches und nachhaltiges Risikomanagement kann nicht einfach „eingeschaltet“ werden. Die Schaffung einer risiko- und damit chancenorientierten Unternehmenskultur, die wertorientierte Steuerung sowie die Möglichkeit des sukzessiven Erfahrungsaufbaus sind wesentliche Erfolgsfaktoren, aus einer aufsichtsrechtlich geforderten Mindestanforderung einen echten Wettbewerbsvorteil zu generieren. Große Veränderungsprozesse und Großprojekte sind wesentliche Träger von Chancen und Risiken in Unternehmen. Viele Führungskräfte in Unternehmen sind unsicher im Hinblick auf Chancen und Risiken. Ein sinnvoller Umgang mit Risiken bedeutet nicht, unreflektiert Maßnahmen zu starten oder exakt nach Vorschrift zu arbeiten, um Risiken a priori zu reduzieren, sondern jede Aktivität im rechtlichen Rahmen auf das verbleibende Risiko bzw. die Chance hin zu untersuchen, die sich bietet. Damit verlässt man nicht nur den Weg
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einer rein finanziellen Betrachtung, sondern kann sich auf eine gesamtheitliche Erreichung der Unternehmensziele konzentrieren und aktives Innovationsmanagement betreiben.
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Literaturverzeichnis Gassmann/ Kobe (Hrsg. 2006): Management von Innovation und Risiko, Heidelberg. Herstatt (2000): Cornelius Herstatt und Birgit Verworn, „Modelle des Innovationsprozesses“, Hamburg, Arbeitspapier Nr. 6. Passenheim, O. / Reich, M. (2010): Bei MaRisk hapert es an der Umsetzung; 65. Jahrgang, Heft 08, Seite 550-552. Pleschak, F./Sabisch, H. (1996): Innovationsmanagement, Stuttgart. Runzheimer, B./ Wolf, K. (2009): Risikomanagement und KonTraG, Wiesbaden. Schmelzer, H.J. (2006): Methoden der Risikoanalyse und -überwachung in Innovationsprojekten, In: Gassmann/ Kobe (Hrsg. 2006), S. 245-266.
Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation Nicole Plankert*
1
Einführung ...................................................................................................108
2
Innovations- und Kommunikationsmanagement ..........................................108
3
Innovationskommunikation ..........................................................................112 3.1 Begriffsabgrenzung ...........................................................................112 3.2 Akteure ..............................................................................................113 3.3 Chancen und Risiken ........................................................................115 3.4 Ziele sowie Strategien und Instrumente ............................................116
4
Fazit
.........................................................................................................121
Literaturverzeichnis ................................................................................................122
* Dr. Nicole Plankert ist Senior Referentin bei der Deutschen Telekom AG, Bonn.
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1
Einführung
Innovationen gelten als Schlüssel für den Unternehmenserfolg. Sie sind der "Inbegriff des Fortschritts, brechen alte Strukturen auf und schaffen Zukunftsfähigkeit" (Zerfaß, A./Sandhu, S./Huck, S. (2002), S. 2). "Innovation" wird allerdings regelmäßig überstrapaziert und oft bereits für geringe Produktmodifikationen marktschreierisch eingesetzt. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird in den Medien über Innovationen häufig eher zurückhaltend berichtet. Allerdings verfolgen auch keineswegs alle Unternehmen eine offensive Strategie im Bereich der Innovationskommunikation: Innovationen sollen Mitbewerbern nicht zu früh bekannt gemacht werden, und auch im Hinblick auf Kunden und eigene Mitarbeiter gelten Zeitpunkt und Gestaltung der Kommunikation von Neuerungen als kritisch. Innovationen sind mit hohen Hürden für die Unternehmenskommunikation verbunden: Sie sind komplex und abstrakt sowie in ihren Wechselwirkungen kaum überschaubar; der Nutzen ist für die Stakeholder häufig nicht unmittelbar ersichtlich. Innovative Produkte und Dienste müssen somit frühzeitig erklärt, die Nutzenversprechen fokussiert kommuniziert und möglicherweise divergierende Interessen der Stakeholder erkannt und mit Hilfe gezielter Kommunikationsmaßnahmen adressiert werden. Innovations- wie Kommunikationsmanagement sind allerdings weit reichenden Veränderungen unterworfen. Gleichzeitig wird Kommunikation zunehmend zum Erfolgsfaktor von Neuerungen. Daher ist kritisch zu prüfen, ob die Unternehmenskommunikation in Zukunft auf die reine Vermittlung von Innovationen ausgerichtet sein darf oder neue Fähigkeiten und Funktionen entwickeln muss, um einer veränderten Rolle gerecht zu werden.
2
Innovations- und Kommunikationsmanagement
Innovationsmanagement verknüpft "den schillernden Begriff der Innovation mit dem nicht weniger schillernden des Managements" (Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 32). Management heißt, Strategien und Ziele zu definieren und zu verfolgen, Entscheidungen zu treffen, Informationsflüsse zu bestimmen und zu beeinflussen sowie soziale Beziehungen herzustellen und zu gestalten (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 32). Während die Invention die Erfindung bezeichnet und damit auf den kreativen ersten Schritt im Innovationsprozess beschränkt ist, ist der Begriff der Innovation breiter gefasst: Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Technologien und Konzepte, die erfolgreich eingeführt und wirtschaftlich genutzt oder sozial akzeptiert werden. Diese Akzeptanz ist nach Ansicht des amerikanischen Erfinders und
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_6, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation
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Unternehmers Dean Kamen für den Erfolg von Innovationen entscheidend: "Innovation is much more about changing people and their perceptions and their attitudes and their willingness to accept change than it is about physics and engineering" (Vortrag vor Studenten der Harvard Business School). Erfolg und Akzeptanz einer Innovation im Markt setzen aber voraus, dass sie wahrgenommen und verstanden wird. Kommunikation ist daher für den Erfolg von Innovationsprozessen von besonderer Bedeutung. Die Ausgestaltung dieser Kommunikation hängt allerdings nicht zuletzt vom Verständnis von Innovationen und Innovationsmanagement ab. Innovationsmanagement beschäftigt sich mit der Gestaltung von Innovationsprozessen. Diese Prozesse wurden früher als lineare Abfolge einzelner Schritte, von der Ideengenerierung bis zur Markteinführung, betrachtet. Inzwischen wird der Prozess als "ganzheitliche, kooperative und iterative Vorgehensweise verstanden, der strategisch geplant und gesteuert werden muss" (Zerfaß, A. (2005), S. 20). Das Konzept der Closed Innovation setzt auf die Bündelung von unternehmensinternem Know-How: "Companies must generate their own ideas and then develop them, service them, finance them, and support them on their own" (Chesbrough, H. (2003), S. 21). Kooperationen sind damit zwar nicht ausgeschlossen, aber "die wesentliche Wegstrecke von der Idee zum Produkt wird intern zurückgelegt" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 37). Das Kommunikationsmanagement wird erst am Ende des Innovationsprozesses aktiv: "Wenn die Patente angemeldet und die Märkte definiert sind, soll mit allen Mitteln der Kunst für Bekanntheit, ein erfolgsträchtiges Image und nicht zuletzt für gesellschaftliche Akzeptanz gesorgt werden" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 38). Diese Vorgehensweise ist mit deutlichen Nachteilen verbunden, wozu insbesondere zu lange Entwicklungszeiten und fehlende Netzwerke zählen. Open Innovation hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass relevante Bezugsgruppen des Unternehmens, wie beispielsweise Zulieferer und Kunden, Forschungseinrichtungen und Wettbewerber, systematisch in den Innovationsprozess eingebunden werden. Das Konzept weist zahlreiche Vorteile auf: Entwicklungsrisiken können beispielsweise frühzeitig erkannt und adressiert, Kundenwünsche berücksichtigt werden. Es ist allerdings auch mit zahlreichen Herausforderungen verbunden: hoher Koordinierungs- und Kommunikationsbedarf, Gefahr des Know-How-Abflusses sowie notwendige Überwindung des Misstrauens gegenüber fremden Ideen (Not-InventedHere-Syndrom). Die Möglichkeiten des Innovierens sind weit gespannt, so dass sich Innovationsmanagement nicht nur im Spannungsfeld zwischen offenen und geschlossenen, sondern auch zwischen radikalen und inkrementellen, globalen und lokalen, individuellen und kollaborativen Innovationen befindet. Sobald der Bereich der Closed Innovation verlassen wird, beschränkt sich das Kommunikationsmanagement, also Planung, Organisation und Kontrolle der Unternehmens-
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kommunikation, nicht mehr auf die reine Ankündigungsfunktion, sondern erhält neue Aufgaben: "Neben Bekanntmachung und Imageaufbau benötigen die Innovationsverantwortlichen vielfältige Unterstützung beim Monitoring von Ideen wie auch bei potenziellen Widerständen, beim Aufbau sowie der Pflege dialogorientierter Beziehungen zu verschiedensten Stakeholdern und nicht zuletzt bei der Erweiterung der persönlichen Kommunikationskompetenz von Forschern, Entwicklern und Produktmanagern" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 38). Die Wahrnehmung dieser Aufgaben ist keineswegs selbstverständlich. Ihre Erfüllung oder Nicht-Erfüllung ist vielmehr vom Verständnis der Unternehmenskommunikation abhängig. Hier lassen sich zwei Pole unterscheiden. Wird eine persuasive Informationspolitik verfolgt, sollen das Image des Unternehmens verbessert, die Reputation gesteigert und Produkte bekannt gemacht werden. "PR-Manager und Marketingmanager setzen unter den Bedingungen der Medienlandschaft das handwerklich professionell und kreativ um, was andere entschieden haben" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 37). Das strategische Kommunikationsmanagement ist dagegen an einem erweiterten Verständnis von Unternehmenskommunikation ausgerichtet: "Sich weniger als Megaphon denn als Stethoskop verstehend, setzt strategisches Kommunikationsmanagement nicht nur darauf, eigene Themen und Ergebnisse aufzubereiten und die Markteinführung zu unterstützen, sondern beobachtet auch die Meinungsbildung bei wichtigen Bezugsgruppen, managt den Fluss interner und externer Informationen und moderiert den Dialog zwischen dem eigenen Unternehmen und seinen Stakeholdern" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 37). Das Verständnis von Innovation und Kommunikation in einem Unternehmen ist entscheidend für die Ausgestaltung der Innovationskommunikation. Ein Unternehmen kann seine Innovationskommunikation beispielsweise anhand der nachfolgenden Typologie einordnen und beurteilen (vgl. Ernst, N./Zerfaß, A. (2009), S. 75 ff.): Traditionalisten unter den Kommunikationsverantwortlichen sehen die Aufgabe der Innovationskommunikation in der Bekanntmachung von Neuerungen und setzen auf persuasive Kommunikation. Selten sind sie in Innovationsprozesse eingebunden. Strategen sind zwar auch der "Closed Innovation" verhaftet, setzen aber neben externer Kommunikation auch auf die Mitarbeiter, für die interaktive Plattformen bereitgestellt werden. Allrounder wiederum schwanken zwischen diesen beiden Konzepten: sie sehen die Aufgabe der Innovationskommunikation vornehmlich in der Imagebildung und der Erschließung neuer Märkte. Taktiker setzen auf "Open Innovation", wollen aber persuasiv kommunizieren. Spielmacher befürworten ebenfalls "Open Innovation" und setzen auf frühzeitige und umfassende Einbindung der Stakeholder. Kommunikation ist für sie Dialog zum Wissenstransfer in beide Richtungen. Sie sind regelmäßig in die Innovationsprozesse eingebunden. Spielmacher nehmen situativ vier Kommunika-
Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation
111
tionsrollen ein: Als Expert Publisher sind sie für die kreative, zielgruppenspezifische und medienformatgerechte Aufbereitung von Themen und Ergebnissen zuständig. Als Idea Generator betreiben sie systematisches Monitoring, identifizieren Themen und stimulieren den Stakeholder-Input. Als Master of Communication schmieden sie strategische Partnerschaften, managen den Fluss interner und externer Informationen und etablieren Dialogplattformen zwischen dem Unternehmen und seinen Innovationspartnern. Als Devil's Advocate schließlich bringen sie mögliche Einwände und Befürchtungen relevanter Bezugsgruppen frühzeitig in interne Entscheidungsprozesse ein (vgl. Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 39). Die Typologie macht Chancen und Herausforderungen deutlich: "Über Kreativität, Vermittlungskompetenz und Medien-Know-How hinaus sind neue Fähigkeiten und Rollenbilder gefragt. Wer diese Erwartungen erfüllen kann, stärkt den Stellenwert der Kommunikationsfunktion und leistet einen aktiven Beitrag zur Innovationsfähigkeit des Unternehmens" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 41). Keinem der fünf Innovationstypen ist allerdings grundsätzlich Vorrang einzuräumen: Die geeignete Innovationskommunikation ist vielmehr insbesondere von der Unternehmensstrategie abhängig. Innovationsmanagement und Kommunikationsmanagement müssen aber in jedem Fall aufeinander abgestimmt werden, was in der Praxis keineswegs vorausgesetzt werden kann: "In zahlreichen Unternehmen haben Innovationsverantwortliche und Kommunikationsmanager gegenläufige Vorstellungen von ihrem jeweiligen Handeln, so dass schon deshalb nicht an einem Strang gezogen wird" (Möslein, K./Zerfaß, A. (2009), S. VII). Die Innovationskultur in einem Unternehmen spielt hier eine entscheidende Rolle, wie das nachfolgende Schaubild deutlich macht (vgl. Abbildung 1).
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Abbildung 1: Innovationskommunikation, Innovations- und Kommunikationsverständnis Quelle: Ernst, N. / Zerfaß, A. (2009), S. 80
3
Innovationskommunikation
3.1
Begriffsabgrenzung
Innovationskommunikation, verstanden als "systematisch geplante, durchgeführte und evaluierte kommunikative Vermittlung neuer Produkte, Dienstleistungen, Technologien, Prozesse, Konzepte und Ideen mit dem Ziel, Verständnis für und Vertrauen in die Innovation zu schaffen und die dahinter stehende Organisation als Innovator zu positionieren" (Zerfaß, A./Huck, S. (2007), S. 848), legt den Fokus der Innovationskommunikation auf die Vermittlung von Innovationen – eine wichtige, aber nicht die einzige Aufgabe von Innovationskommunikation. Bei der Vermittlung von Innovationen kann auf ein breites Instrumentarium zurückgegriffen werden: "Das Spektrum reicht von Innovationscommunities und Wikis im Intranet über externe Podcasts
Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation
113
sowie Lead-User-Plattformen bis hin zu dialogorientierten Events und Erlebnisparks rund um Technologiethemen" (Zerfaß, A./Ernst, N. (2009), S. 36). Innovationskommunikation muss aber breiter angelegt sein und früher ansetzen. Sie lässt sich definieren als "systematische Initiierung von Kommunikationsprozessen mit internen und externen Stakeholdern, in denen technische, ökonomische oder soziale Neuerungen befördert werden sollen a) durch den interessengeleiteten Aufbau, die Revision oder Zerstörung sozial geteilter Bedeutungsmuster und kommunikativer Ressourcen und b) durch die Stimulierung inhaltlicher Impulse für die Entwicklung sowie durch die professionelle Vermittlung von Neuheiten" (Zerfaß, A. (2009), S. 42). Innovationskommunikation bewegt sich damit im Dreieck zwischen F&E, Unternehmensführung und Kommunikation.
3.2
Akteure
Innovationskommunikation des Unternehmens lässt sich in drei Bereiche gliedern, denen entsprechende Stakeholder zugeordnet werden können: Im Rahmen des Innovationsmarketings werden alle Akteure angesprochen, mit denen Austauschoder Konkurrenzbeziehungen bestehen: Lieferanten, Entwicklungspartner, Kapitalgeber, Kunden, Händler, Wettbewerber. Die interne Innovationskommunikation hat einen anderen Fokus: "Handlungskoordination und Interessenklärung mit allen, die ein Unternehmen gestalten und an der arbeitsteiligen Formulierung und Umsetzung seiner Ziele mitwirken" (Zerfaß, A./Sandhu, S./Huck, S. (2002), S. 15). Im Mittelpunkt stehen Mitarbeiter, Führungskräfte, Geschäftsleitung und Eigentümer. Festlegung von Innovationszielen, Abbau von Ängsten, Aktivierung des vorhandenen Wissens, Erarbeitung gemeinsamer Visionen und Vermittlung von Motivation lauten hier die Schlagworte. Innovations-PR zielt wiederum auf Stakeholder, zu denen weder Organisations- noch Marktbeziehungen bestehen, die aber für die Durchsetzung von Innovationen von Bedeutung sind. Hierzu gehören die Medien und die Politik, aber auch Verbände und NGOs. Mit Innovations-PR sollen Handlungen abgestimmt werden – ein Beispiel ist die Formulierung gesetzlicher Rahmenbedingungen für neue Technologien. Im Mittelpunkt steht allerdings der Aufbau von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Die nachfolgende Abbildung zeigt die drei Bereiche der Innovationskommunikation im Überblick (vgl. Abbildung 2).
114
Nicole Plankert
Abbildung 2: Innovationskommunikation und Stakeholder Quelle: Zerfaß (2005), S. 27
Als Beispiel sei hier zunächst die Mitarbeiterkommunikation genannt. Innovationen sind häufig mit beträchtlichen Veränderungen in Organisationen verbunden, die bei den Mitarbeitern sowohl zu positiven Wirkungen (Motivationsschub, hohe Identifikation mit der Innovation beziehungsweise dem Unternehmen), aber auch zu negativen Wirkungen (Ängste, Stress) führen können. Die Kommunikation muss die Mitarbeiter bei der emotionalen und kognitiven Bewältigung der Auswirkungen von Neuerungen unterstützen: "Innovationskommunikation und Change Communication sind daher zwei Seiten einer Medaille" (Mast, C. (2009), S. 271). In den Medien wiederum kommen Innovationen überall vor; es handelt sich allerdings um ein Querschnittsthema, das in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Naturwissenschaft/Technik behandelt wird. 'Innovationsjournalisten' gibt es nicht. "Gute Innovationsberichterstattung kann deshalb nur von einem Allround-Journalisten geleistet werden, der technologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte der Innovation erkennen und einordnen kann" (Kupczyk, T. (2007), S. 94). Journalisten orientieren sich bei der Berichterstattung häufig an 'Nachrichtenwerten'. "Die Chance, dass ein Ereignis zur Nachricht wird, ist umso größer, je einfacher es zu erklären ist, je aktueller, je klarer, je unerwarteter und je negativer oder sensationeller es ist"
Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation
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(Mast, C. (2005), S. 35). Innovationen haben einen hohen Neuigkeitsgrad, sie sind aber gleichzeitig komplex und in ihrer konkreten Tragweite für den Mediennutzer zunächst oft kaum abschätzbar. Journalisten zögern aufgrund der Nähe des Themas zur Werbung häufig, über Innovationen zu berichten (vgl. Mast, C./Zerfaß, A. (2009), S. 222). Sie müssen durch solide fachliche Informationen, Tests und anschauliches Material überzeugt werden: "Wichtige Erfolgsfaktoren sind das direkte Anschauen, Anfassen, Erproben und Erleben, d.h. haptische Eindrücke, Vorführungen und 'Erlebnisse' mit Forschern und ihrer Arbeit" (Mast, C. (2005), S. 55). Kunden sollen über Innovationskommunikation an neue Produkte herangeführt werden. Ihre Informationsüberlastung ist allerdings hoch, so dass sie Reaktanz zeigen, wenn minimale Produktveränderungen in schillernden Farben als "Weltneuheiten" präsentiert werden. Die Kommunikation des echten Mehrwertes für den Kunden ist hier für die Akzeptanz entscheidend. Praktiker nennen Kunden und Fachjournalisten als besonders wichtige Zielgruppe der Kommunikation. Auch Mitarbeiter, Kapitalgeber und Kooperations- bzw. Entwicklungspartner werden als wichtig eingestuft, während Online-Medien eine geringere Rolle spielen und NGOs kaum im Fokus stehen – obwohl Kampagnen gegen neue Technologien häufig hier entstehen und ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte (vgl. Zerfaß, A. (2005), S. 27). Die Stakeholder verfolgen verschiedene, teilweise divergierende Interessen, denen die Innovationskommunikation Rechnung tragen muss. Die Schlüsselfragen, die mit Innovationskommunikation verbunden sind, lauten zusammengefasst: "Werden die Journalisten positiv berichten? Erkennen die Kunden den Mehrwert der Innovation?" Vertrauen die Investoren in die Zukunftsfähigkeit der Organisation? Und unterstützen Bezugsgruppen im gesellschaftlichen Umfeld die Innovation, oder ist mit Boykotten und öffentlichem Widerstand zu rechnen?" (Zerfaß, A. (2005), S. 29).
3.3
Chancen und Risiken
Innovationen bieten zahlreiche Chancen. Der Begriff ist zunächst einmal positiv besetzt, mit ihm wird "neu" und "spannend" assoziiert: "Aufbruch, Entdeckung, Neuland schwingen mit" (Zerfaß, A./Sandhu, S./Huck, S. (2002), S. 11). Diese positiven Assoziationen gilt es in der Kommunikation zu nutzen. Der Neuigkeitscharakter von Innovationen lässt sich als Nachrichtenwert einsetzen. Innovationen sind die Gelegenheit, von sich reden zu machen und das Unternehmen als dynamisch sowie
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zukunftsorientiert und -fähig zu positionieren. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich tatsächlich um Innovationen handelt. Der Begriff "Innovation" wird häufig inflationär oder missbräuchlich verwendet und droht, zum Unwort zu verkommen. Er wird überstrapaziert und für "alles und jedes" verwendet, so dass sogar davon abgeraten wird, ihn in der Kommunikation überhaupt zu verwenden: "In vielen Fällen kann es daher sinnvoll sein, den Begriff als solchen wegzulassen und stattdessen über die Chancen und Potenziale einer technischen Erfindung oder einer wirtschaftlichen Neuerung zu sprechen" (Mast, C. (2005), S. 48). Unabhängig von verwendeten Begrifflichkeiten basieren Innovationen häufig auf komplexen Neuerungen, die spezifische Anforderungen an die inhaltliche Vermittlung stellen. Auch die Neuartigkeit von Innovationen ist eine besondere Herausforderung. Die Reaktionen auf die Kommunikation unbekannter Themen lassen sich nur schwer im Voraus einschätzen. Sie können sowohl positiv als auch negativ ausfallen: Innovationen werden einerseits als zukunftsweisend betrachtet; andererseits erzeugen sie Ängste, da individuelle Erfahrungen fehlen, so dass Gefahren in den Fokus gestellt werden. Ist der konkrete Nutzen von Innovationen noch nicht klar, bleiben sie abstrakt. Einprägsame, einfache Beispiele sind – gerade zu einem frühen Zeitpunkt – häufig schwer zu finden. Neuartigkeit und Abstraktheit führen wiederum zu geringer 'Anschlussfähigkeit': Die Kommunikation kann nicht auf bekannte Themen, Schemata und Denkweisen der Stakeholder zurückgreifen. Selbst wenn der geplante Nutzen kommuniziert wird, bleibt er häufig unsicher, und die angestrebte Wertschöpfung für das Unternehmen kann nicht, nur teilweise oder erst später als geplant realisiert werden. Damit gerät das Unternehmen in Gefahr, an Glaubwürdigkeit zu verlieren: "Einerseits müssen die Vorteile der Innovation gegenüber allen Stakeholdern frühzeitig und deutlich herausgearbeitet werden. Andererseits erfahren Kunden ebenso wie Investoren und Mitarbeiter immer wieder, dass Innovationen scheitern und sich vollmundige Ankündigungen nicht halten lassen" (Zerfaß, A. (2005), S. 31).
3.4
Ziele sowie Strategien und Instrumente
Ein wichtiges Ziel der Innovationskommunikation ist die Einführung und Durchsetzung von Innovationen. Darüber hinaus ist die Positionierung als innovatives Unternehmen ein grundlegendes Ziel der Innovationskommunikation. Hier gilt es nicht nur, technologische Entwicklungen in den Vordergrund zu rücken. Vielmehr muss deutlich werden, dass das Unternehmen sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen Rechnung trägt. Als Beispiel sei hier die Nachhaltigkeit
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genannt. Auch die Beteiligung an der Gestaltung des gesellschaftlichen Innovationsklimas ist Ziel des Innovationsmanagements. Immer wichtiger wird zudem der Aufbau von innovationsbezogenen Austauschbeziehungen zum Unternehmensumfeld - nicht zuletzt als Voraussetzung für eine spätere Einbindung von Stakeholdern in den Entwicklungsprozess, die bei zahlreichen Produkten und Dienstleistungen unerlässlich ist. Die interne Innovationsfähigkeit kann ebenfalls mit Hilfe der Innovationskommunikation gefördert werden: Innovationsbezogene Führungskommunikation und Mitarbeiterkommunikation müssen für ein positives Innovationsklima und eine entsprechende Innovationskultur sorgen. Diese Innovationsziele (vgl. Fink, S. (2009), S. 212 f.) bilden die Grundlage für Kommunikationsstrategien und ihre taktische Umsetzung. Die Vermittlung insbesondere von abstrakten, komplexen Innovationen erfordert den Einsatz integrierter Kommunikation: Sämtliche Quellen der internen und externen Kommunikation müssen zeitlich, formal und inhaltlich aufeinander abgestimmt werden, damit ein konsistentes Bild des Unternehmens beziehungsweise der Innovation vermittelt wird. Diese Konsistenz ist umso wichtiger, als Widersprüche kaum zu verbergen sind: Der Einzelne kommt in verschiedenen Stakeholder-Positionen in Kontakt mit dem Unternehmen (beispielsweise als Mitarbeiter, Kunde und Umweltaktivist), so dass Inkonsistenzen zwischen interner Kommunikation, Innovations-PR und Innovationsmarketing rasch deutlich werden. Das Ineinandergreifen dieser drei Bereiche ist somit Voraussetzung für Aufbau und Festigung von Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Campaigning ist als Teil der integrierten Unternehmenskommunikation zu betrachten. Es verknüpft die "Positionierungsstrategie mit einer sich im Prozess herausbildenden und verändernden Kommunikationsstrategie" (Behrent, M./Mentner, P. (2001), S. 104). Unter Campaigning versteht man die Planung und Umsetzung von Kampagnen als "dramaturgisch angelegte, thematisch begrenzte, zeitlich befristete kommunikative Strategien zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit" (Röttger, U. (2006), S. 9 f.). Vier Elemente sind charakteristisch für Kampagnen (vgl. HuckSandhu, S. (2009), S. 198 f.): Kommunikative Doppelstrategie (Ansprache sowohl der Medien als auch des breiten Publikums), Non-Linearität (Kampagne als offener Prozess, der ständig überprüft und angepasst werden muss), Thematisierungsfunktion und Themenmanagement (das Thema muss in der öffentlichen Diskussion besetzt und individuell relevant gemacht werden) sowie dramaturgische Aufbereitung (Ausrichtung auf einen oder mehrere Höhepunkte hin) von Botschaften. Die Kampagnen sollen häufig nicht nur auf ein innovatives Produkt aufmerksam machen:
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Werden sie mit sozialen oder gesellschaftlichen Anliegen verknüpft und verständlich vermittelt, trägt Campaigning zur fokussierten Positionierung des Unternehmens bei. Campaigning birgt allerdings auch das Risiko, dass Gegner die Kampagne aufgreifen und für eigene Zwecke nutzen. Vor Einsatz dieses Instrumentes muss daher geprüft werden, ob die Innovation mit überzeugenden Argumenten vertreten und eine mögliche öffentliche Auseinandersetzung durchgestanden werden kann (vgl. Zerfaß, A. (2002), S. 17). Innovationskommunikation muss insbesondere komplexe, abstrakte Innovationen sprachlich und inhaltlich in einen "Frame of Reference" einbetten, damit Stakeholder an vorhandenes Wissen anknüpfen und die Innovation in einen Kontext einordnen können. Framing ist ein aus dem Journalismus bekanntes Konzept, "bei dem (1) bestimmte Objekte und Relationen zwischen Objekten betont, also bestimmte Ausschnitte der Realität beleuchtet werden und (2) bestimmte Maßstäbe bzw. Attribute, die man an Objekte anlegen kann, salient gemacht werden" (Scheufele, B. (2003), S. 46). Jedes Thema lässt sich fünf Basisframes (Dahinden, U. (2006), S. 210 ff.) zuordnen, die durch die Definition von Unterframes weiter ausdifferenziert werden können: Konfliktframe (Einzelinteressen von sozialen Gruppen stehen im Vordergrund, Machtfragen), Wirtschaftlichkeitsframe (Fokus wirtschaftliche Kriterien), Fortschrittsframe (neues Wissen steht im Vordergrund), Moralframe (moralische, ethische und rechtliche Fragen stehen im Fokus), Personalisierungsframe (Schwerpunkt individuelle Betroffenheit). Frames reduzieren Komplexität und strukturieren Informationen. Mit Framing kann die Innovation in ein Bedeutungsumfeld eingebettet werden, das die Chancen und den Nutzen der Innovation hervorhebt. Journalisten fehlt bei komplexen Innovationen zunehmend das Fachwissen zur Interpretation, so dass sie, nicht zuletzt auch aufgrund des hohen Zeitdrucks, Frames aus der Innovations-PR von Unternehmen aufgreifen. Daraus ergibt sich für die Innovations-PR die Notwendigkeit, Frames so zu gestalten, dass sie leicht von den Medien übernommen werden können. Hier gilt es zu beachten, dass Innovationen als klassisches Querschnittsthema häufig sowohl der Wirtschaft, als auch der Politik und der Wissenschaft zuzuordnen sind – für das innovierende Unternehmen ist es allerdings wichtig, dass die Medien in erster Linie den Nutzen der Innovation vermitteln. Bei Risikothemen in der Innovationskommunikation sollten statt sozialer und politischer Aspekte eher wissenschaftliche und technische Aspekte geframt werden: Risiken werden häufig höher eingeschätzt, wenn Innovationen in einem politisch-gesellschaftlichen Rahmen präsentiert werden, während sie als niedriger eingestuft werden, wenn dieselben Innovationen in einem wissenschaftlich-technischen Frame präsentiert werden (Vetter, E. (2007), S. 59). Es ist davon auszugehen, dass
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Framing nicht nur die Themenwahl in den Massenmedien, sondern auch die Bewertung der Themen in den Medien beeinflusst und mit dazu beiträgt, Innovationen glaubhaft zu vermitteln: "Mit dem strategischen und inhaltlichen Framing bietet sich der Innovationskommunikation … die Möglichkeit, die Definitions- und Deutungsmacht selbst in die Hand zu nehmen" (Huck-Sandhu, S. (2009), S. 203). Storytelling dient dazu, Innovationen zu veranschaulichen und lebendig zu machen sowie Verständnis und Vertrauen zu wecken. Als dramaturgische Aufbereitung von Inhalten verankern sich Geschichten im Gedächtnis besser als Einzelinformationen: "Im besten Fall sind sie inhaltlich mehrschichtig angelegt, so dass sie beim Rezipienten lange nachwirken und erst allmählich 'entpackt' werden" (Huck-Sandhu, S. (2009), S. 200). Einfachheit, Eingängigkeit und Emotionalität sind die wesentlichen Vorteile des Storytelling (Huck-Sandhu, S. (2009), S. 200). Kernelemente des Storytelling sind häufig eine zentrale Botschaft, eine Hauptfigur sowie eine Geschichte mit einem packenden Einstieg und einem symbolischen Abschluss (vgl. Simtion, A. (2007), S. 75). Geschichten werden häufig weitergegeben und lassen sogar neue Geschichten entstehen – ihre Verbreitung kann zum "Selbstläufer" werden. Diese Chance ist aber auch gleichzeitig die Herausforderung, die mit Storytelling verbunden ist: Geschichten sind nur begrenzt wiederholt kommunizierbar, und es besteht das Risiko, dass sie von Wettbewerbern oder anderen Rezipienten (in abgewandelter Form) aufgegriffen werden. Innovationskommunikation muss Zweifel und Ängste beseitigen und in Neugier und Begeisterung verwandeln. Der Einsatz von Vertrauenskommunikation erweist sich hier als unerlässlich. Die kritische Auseinandersetzung mit Gegenargumenten sorgt für Glaubwürdigkeit in der Innovationskommunikation. Kommunikation schafft die Grundlage für Ausbau und Absicherung von Vertrauen als Basis für eine erfolgreiche Markteinführung von Innovationen. Um das Vertrauen der Stakeholder kann allerdings nicht erst geworben werden, wenn die Innovation vermittelt werden soll – ein systematisches Issues Management ist hier von entscheidender Bedeutung. Im Rahmen des Issues Management erfolgt eine frühzeitige öffentliche Thematisierung der Innovationsfelder, die durch das Unternehmen dann glaubhaft besetzt werden können: "Diese als "First-Mover" erreichte Reputation wird zu wertvollem Kapital, sobald neue Produkte und Themen sich etablieren und ein Aufmerksamkeitswettbewerb beginnt" (Zerfaß, A. (2005), S. 16). Vertrauen kann auch durch Personalisierung aufgebaut und gestärkt werden. Personalisierung verleiht einer abstrakten Organisation durch einen Repräsentanten ein
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'Gesicht' und erleichtert dadurch die Zuordnung von Informationen zu der entsprechenden Organisation. Das Instrument weist entscheidende Vorteile auf: Schwierige Sachverhalte können vereinfacht dargestellt werden, Aufmerksamkeit und Interesse werden geweckt, Emotionalisierung ist möglich: Rationale Fakten treten gegenüber Erlebnissen und Empfindungen von Personen in den Hintergrund. Als Beispiel seien Anzeigen und Spots genannt, in denen Kinder von Mitarbeitern bestimmter Unternehmen über die Arbeit ihrer Eltern berichten. Personalisierung bringt allerdings auch Risiken mit sich. Fehltritte und Skandale der Repräsentanten des Unternehmens drohen beispielsweise das Unternehmensimage zu beeinträchtigen. Dennoch lässt sich feststellen: "Unternehmen, die nicht 'personalisieren', sind von vornherein im Nachteil" (Mast, C. (2008), S. 327). Das gilt in besonderem Maße für die Innovationskommunikation: Personalisierung kann hier vor allem im Rahmen des Storytelling eingesetzt werden, um Chancen und Möglichkeiten von Innovationen emotional zu vermitteln. Innovationskommunikation muss Nutzwerte verdeutlichen. Wer die Frage nicht beantwortet, was die Innovation für den Nutzer bedeutet, kann nicht mit Akzeptanz und Verständnis rechnen. Als Beispiel für Innovationskommunikation, die weder Vertrauen noch Nutzwerte in den Vordergrund stellt, lässt sich die Kommunikation des schottischen Roslin-Instituts anführen: Dem aus einer Euterzelle entstandenen Klonschaf gaben die Forscher den Namen "Dolly". Der Name war nicht geeignet, für Vertrauen zu sorgen. "Der Spiegel titelte: 'Der Sündenfall' und schnell verankerte sich das Bild von irrwitzigen Forschern, die ein widernatürliches Wesen bastelten" (Zerfaß, A. (2005), S. 18). Der Nutzen des Klonschafs, nämlich die Produktion eines Eiweiß zur Behandlung der Stoffwechselkrankheit Cystische Fibrose, stand lange Zeit nicht im Mittelpunkt der Kommunikation. Spekulationen und Vermutungen schossen ins Kraut. Erst als eine an Cystischer Fibrose erkrankte Schauspielerin einen aus der Wolle des Schafs gestrickten Pullover an das Londoner Science Museum überreichte und Dolly mit kranken Kindern fotografiert wurde, gelang es, die Innovation "fassbarer" zu machen und sympathisch zu vermitteln. Innovationskommunikation muss trotz der Schwierigkeiten, die Wirkung von Kommunikation isoliert zu bewerten, ihren Wertschöpfungsbeitrag belegen. Gemessen werden können beispielsweise das Image als Innovator oder das interne Innovationsklima. Im Rahmen der Markteinführung werden unter anderem die Medienberichterstattung und das Empfehlungsverhalten von Dritten untersucht (vgl. Fink, S. (2009), S. 224). Die notwendigen Finanzmittel werden allerdings in der Praxis häufig nicht bereitgestellt. Die zahlreichen möglichen Maßnahmen und Konzepte für eine
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erfolgreiche Innovationskommunikation machen aber eine Offenlegung der Zielsetzung und eine Messung der Wirkung erforderlich. Darüber hinaus setzt eine Innovationskommunikation, die ein Controlling erfährt, eine klare strategische Zielorientierung voraus.
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Fazit
Innovationen gelten als Motor für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit – ihre wichtige Funktion ist unbestritten. Die Notwendigkeit von Kommunikation steht ebenso außer Frage: Nicht allein die Innovativität von Produkten und Diensten, auch die entsprechende Kommunikation entscheidet über Erfolg beziehungsweise Misserfolg am Markt. Hier kann ein breites Instrumentarium genutzt werden, das von Internet-Plattformen bis hin zu Erlebnisparks reicht. Die Fokussierung der Innovationskommunikation auf die Vermittlung von Neuerungen greift allerdings zu kurz und ist zur Differenzierung im Wettbewerb nicht geeignet: "Konkurrenten können leicht nachziehen, indem sie erfolgreiche Konzepte imitieren, Mitarbeiter abwerben oder spezialisierte Kommunikationsagenturen beauftragen" (Ernst, N./Zerfaß, A. (2009), S. 36). Innovationskommunikation darf daher keineswegs erst am Ende des Entwicklungsprozesses beginnen. Sie ist als ständige Aufgabe im Rahmen des strategischen Kommunikationsmanagements anzusehen. Damit wird eine enge Verzahnung von unternehmensspezifischer Innovationsstrategie (inzwischen häufig offen und kollaborativ) und Kommunikationsstrategie (persuasive Information versus strategische Kommunikation) erforderlich. Innovationskommunikation muss auf den frühzeitigen Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu den Stakeholdern und den integrierten und systematisch auf die Innovationsstrategie ausgerichteten Einsatz von Instrumenten und Maßnahmen in allen drei Bereichen der Innovationskommunikation setzen: interne Innovationskommunikation (Fokus Mitarbeiter), Innovationsmarketing (Fokus Kunden) und Innovations-PR (Fokus Medien). Campaigning, Framing und Storytelling sind Beispiele für entsprechende Instrumente. Innovationskommunikation muss Vertrauen aufbauen und stärken, wobei Personalisierung häufig das Mittel der Wahl ist. Darüber hinaus gilt es, Nutzwerte zu verdeutlichen und den Wertschöpfungsbeitrag der Kommunikation zu belegen. Wird diesen Erfolgsfaktoren Rechnung getragen, lässt sich Innovationskommunikation als "Missing Link zwischen Idee und Markterfolg" (Zerfaß, A. (2006), S. 19) begreifen.
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Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation
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Teil 2: Innovationen in der Industrie
Herausforderungen und Faktoren für erfolgreiche Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie Nadine Walter*
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Einleitung ......................................................................................................128
2
Herausforderungen an das Innovationsmanagement von Konsumgüterunternehmen ...........................................................................129 2.1 Herausforderungen auf der Nachfragerseite ......................................129 2.1.1 Zunehmende Bedeutung des Zusatznutzens bei der Bedürfnisbefriedigung ..................................................129 2.1.2 Rückläufige Markenloyalität .....................................................130 2.2 Herausforderungen auf der Angebotsseite .........................................133 2.2.1 Verkürzung der Produktlebenszyklen ......................................133 2.2.2 Ansteigende Produktvielfalt .....................................................133 2.2.3 Konzentration und Professionalisierung des Handels.............................................................................135
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Faktoren für ein erfolgreiches Innovationsmanagement von Konsumgüterunternehmen............................................................................136 3.1 Verständnis des Kunden durch umfassende und verlässliche Marktforschungsdaten ....................................................138 3.2 Klares Nutzenversprechen durch Neuprodukt ....................................139 3.3 Frühzeitiges Erkennen von Markttrends und schnelle Umsetzung in Neuprodukte ................................................................140 3.4 Ausgewogenes Portfolio an inkrementellen und radikalen Neuproduktinnovationen.....................................................................141 3.5 Internationale Markteinführung des Neuproduktes .............................141 3.6 Professionelles internes operatives Projektmanagement von Innovationsprojekten ...................................................................142 3.7 Ideengewinnung mit Hilfe eines Netzwerkes aus externen Experten ..............................................................................143
4
Fazit und Ausblick .........................................................................................144
Literaturverzeichnis .................................................................................................145
* Prof. Dr. Nadine Walter ist Hochschullehrerin an der Hochschule Pforzheim.
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Nadine Walter
Einleitung
Schon in den 70er Jahren hatte Bruce Henderson, der Gründer der Unternehmensberatung Boston Consulting Group, die Herausforderungen von Neuproduktinnovationen herausgestellt: „The majority of products in most companies are cash traps. They will absorb more money forever than they will generate“ (Stern, C.W./Deimler, M.S. (2006), S. 255). Diese Erkenntnis ist auch über 30 Jahre später noch gültig. Die Mehrheit der Neuproduktinnovationen endet als Flops. Je nach Studie (und damit Branche) enden zwischen fünf und bis zu neun von zehn Neuprodukten als finanzielle Misserfolge und etwa die Hälfte aller Neuproduktinnovationen bei Konsumgütern hält sich kein Jahr im Markt (Vgl. Andrew, J.P./Sirkin, H.L. (2003), S. 77 und Ernst & Young Global Client Consulting (1999), S. 32).1 In der Nahrung- und Genussmittelindustrie liegt die Floprate sogar bei 85% (Vgl. Lewald, G. (2000), S.58). Doch diese hohe Misserfolgsquote schreckt die Konsumgüterindustrie nicht vor Neuproduktinnovationen ab. Neuproduktinnovationen sind u.a. wesentlich für Umsatzwachstum, Differenzierung vom Wettbewerb und Generierung von Aufmerksamkeit beim Kunden – und sichern so den langfristigen Erfolg von Unternehmen im Markt. Vor allem im Bereich der Verbrauchsgüter (sog. FMCG, d.h. „fast moving consumer goods“, wie bspw. Nahrungsmittel/Getränke, Kosmetik/Körperpflege oder Tabak) hat die Innovationsgeschwindigkeit der Unternehmen ungeahnte Ausmaße erreicht: mehr als 30.000 Neuprodukte kommen jedes Jahr in die Regale eines Supermarktes (Vgl. Gamringer, Y. (2010)). Doch auch bei den Gebrauchsgütern (sog. durables, wie bspw. Autos, Möbel oder Unterhaltungselektronik) ist die Anzahl beachtlich: allein für das Jahr 2010 werden mehr als 160 Modellneuheiten für den deutschen Automobilmarkt erwartet (Vgl. Dralle, J./Priemer, B./Stegemann, B. (2010)). Vor diesem Hintergrund stellen sich die zwei wesentliche Fragen, auf die in dem vorliegenden Artikel Antworten gegeben werden sollen: Was sind die Herausforderungen, denen sich das Innovationsmanagement von Unternehmen stellen muss? Wie können Unternehmen Neuproduktinnovationen zum Erfolg führen?
1
Bei sog. Linienerweiterungen haben 50% der Produkte nach einem Jahr eine Distributionsrate von unter 5%.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie
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Herausforderungen an das Innovationsmanagement von Konsumgüterunternehmen
Insgesamt wird erwartet, dass das Umfeld für Unternehmen noch anspruchsvoller wird. Herausforderungen stellen sich dabei auf der Nachfrageseite (durch die Veränderung des Kundenverhaltens) und auf der Angebotsseite (durch die Verkürzung von Produktlebenszyklen, ansteigende Produktvielfalt sowie die Konzentration und Professionalisierung des Handels).
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Herausforderungen auf der Nachfrageseite
Verändertes Kundenverhalten stellt eine Hauptherausforderung für große Teile der Konsumgüterindustrie dar. Dieses zeigt sich vor allem in der zunehmenden Bedeutung des Zusatznutzens bei der Bedürfnisbefriedigung des Kunden und der rückläufigen Markenloyalität.
2.1.1 Zunehmende Bedeutung des Zusatznutzens bei der Bedürfnisbefriedigung Bei der Befriedigung von Bedürfnissen steht für den Kunden der Nutzen des Produktes im Vordergrund. Dieser kann in Grundnutzen und Zusatznutzen unterschieden werden, die zusammen den Gesamtnutzen eines Produktes bilden. Der sog. Grundnutzen schafft dabei die aus den physisch-funktionalen Eigenschaften eines Produktes resultierende Bedarfsdeckung (bspw. Stillen des Hungers bei Nahrungsmitteln oder Transport von A nach B bei Autos). Der Zusatznutzen lässt sich weiter in Erbauungsnutzen und Geltungsnutzen unterscheiden. Unter Erbauungsnutzen wird die aus den ästhetischen Eigenschaften eines Produktes resultierende Bedarfsdeckung (bspw. Design, Geruch) verstanden, während der Geltungsnutzen aus den sozialen Eigenschaften (bspw. Prestige, soziale Anerkennung) eines Produktes resultiert (Vgl. Gabler Verlag (2010)). In der Konsumgüterindustrie reicht den Verbrauchern die Befriedigung des Grundnutzens schon seit langem nicht mehr, denn in der Regel vermag der Großteil der angebotenen Produkte den Grundnutzen sowieso zu befriedigen. Somit kommt der Befriedigung des Erbauungs- und Geltungsnutzen eine umso höhere Bedeutung zu. Der Großteil der Neuproduktinnovationen findet sich daher auch in diesem Bereich.
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Neuproduktinnovationen im Bereich des Erbauungsnutzens setzen in der Regel beim Produkt an sich an: als Beispiele bei Nahrungsmitteln können bspw. convenienceorientierte Zubereitungsformen (bspw. küchenfertig gewaschene Salatmischungen), bei Wimperntusche neue Formen der Applikation – bspw. mit vibrierendem Stift (bspw. Maybelline/Jade Pulse Perfection Vibrating Mascara) – oder bei Duschbad neue Duftstoffe (bspw. Nivea Water Lily & Oil Pflegedusche) genannt werden. Im Gegensatz zum Erbauungsnutzen stehen beim Geltungsnutzen nicht die Eigenschaften des Produktes, sondern die soziale Anerkennung, die mittels des Markenimages erzielt werden kann, im Vordergrund. Im Bereich Kosmetik bspw. steht L’Oreal für „glamouröse Schönheit“ (hauptsächlich transportiert von prominenten Testimonials, die diesem Schönheitsideal entsprechen, wie Penelope Cruz oder Linda Evangelista). Nivea hingegen steht für kein ideales Schönheitsbild, sondern für „natürliche Schönheit“ (hauptsächlich ausgedrückt durch unbekannte, natürliche Models). Je nachdem, welchem Typ („glamouröse Schönheit“ oder „natürliche Schönheit“) die Konsumentin für sich in ihrem sozialen Umfeld anstrebt, wird sie am Regal eher zu L’Oreal oder Nivea greifen. Auch wenn Produkte nicht direkt durch ihre physischen Eigenschaften Geltungsnutzen stiften können, so können sie doch indirekt durch ihren Neuigkeitscharakter das Markenimage beeinflussen. Marken wie bspw. Apple werden aufgrund ihrer zahlreichen Neuproduktinnovationen (iMac, iPod, iPhone) als besonders „trendy“ wahrgenommen. Der Bedeutung des Zusatznutzens über den Grundnutzen eines Produktes hinaus muss beim Innovationsmanagement Rechnung getragen werden. Dazu gehört auch ein klares Verständnis des Marketing-Teams, welche Produkt- und Markenattribute der Endverbraucher als Grund-, Erbauungs- und Geltungsnutzen sieht. Dies kann von Produkt zu Produkt unterschiedlich sein und sich auch mit der Zeit verändern.
2.1.2 Rückläufige Markenloyalität Abnehmende Kundenloyalität bezüglich Marken (und Produkten) ist einer der bedeutendsten Trends im Endkonsumentenmarketing (Vgl. Esch, F.R./Möll, T. (2006): S. 231). Dabei muss jedoch zwischen verschiedenen Begrifflichkeiten der Kundenloyalität unterschieden werden: Markenbereitschaft, Markentreue und Markenloyalität. Der Begriff der Markenbereitschaft drückt die Bereitschaft des Kunden aus, einen Markenartikel im Gegensatz zu einem „No-Name-Produkt“ zu kaufen (Vgl. Esch, F.-
Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie
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R. (2008), S. 41ff.). Die Markenbereitschaft ist in einigen Bereichen der Konsumgüterindustrie in den letzten Jahren gesunken – hier haben Markenartikel stark gegenüber Handelsmarken verloren. Von 1999 bis 2006 nahm bspw. der Anteil der Markenartikel im Lebensmitteleinzelhandel von 77% auf 64% ab. Dies ging mit einem steigenden Marktanteil der Discounter (bspw. Aldi und Lidl) einher, die im Vergleich zum traditionellen Lebensmitteleinzelhandel verstärkt Handelsmarken in ihrem Sortiment führen. Während die Discounter im Jahre 2000 noch 32% Marktanteil in Deutschland hatten, lag dieser 2007 schon bei 43% (Vgl. GFK Panel Services Deutschland/Accenture Deutschland (2009), S. 11). Allerdings gilt die generelle Abnahme von Markenbereitschaft nicht für alle Bereiche der Konsumgüterindustrie: je nach Produktkategorie kann die Markenbereitschaft sehr unterschiedlich sein. Im Bereich Elektrogeräte bspw. liegt die Markenbereitschaft im Durchschnitt bei 17% – allerdings ist sie bei Herren-Elektrorasierern mit 57% am höchsten und bei Folienschweißgeräten (4%) am niedrigsten (Vgl. GFK Panel Services (1998), zitiert nach Esch, F.-R. (2008), S. 43). Für die Loyalität bezüglich Marken ist die Markenbereitschaft allerdings nur eingeschränkt relevant, da sie nur die „Kaufbereitschaft“ ausdrückt – hier sind tatsächliche Markentreue und Markenloyalität entscheidender. Zwischen den beiden Begriffen bestehen Unterschiede – auch wenn sie in der Literatur teilweise synonym verwendet werden (Vgl. Baumgarth, C. (2001), S. 81). Unter Markentreue wird der „wiederholte Kauf des gleichen Gutes“ (Kroeber-Riel W./Weinberg, P. (2003), S. 405) verstanden. Es lassen sich echte und unechte Markentreue unterscheiden: bei echter Markentreue erfolgt der Wiederkauf aufgrund innerer Überzeugung und Einstellung gegenüber der Marke, unechte Markentreue hingegen findet habitualisiert statt, d.h. zufällig oder gewohnheitsmäßig (bspw. weil das Produkt gerade als einziges verfügbar ist), ohne kognitive Anstrengung (Vgl. Geigenmüller, A. (2003), S. 44). Während Markentreue tatsächliches beobachtbares Verhalten (in der Form eines Wiederkaufes) darstellt, drückt Markenloyalität die zugrunde liegende, verursachende kognitive Ebene aus, d.h. auch die Einstellung gegenüber der Marke. JACOBY/CHESTNUT definieren in ihrem Buch „Brand loyalty“ Markentreue als beabsichtigte, über einen längeren Zeitraum kontinuierliche und durch innere Verbundenheit geprägte Beziehung zwischen Konsument und Marke (Vgl. Jacoby, J./Chestnut, R.W. (1978), S.80). Markenloyalität in der Praxis wird allerdings aufgrund der einfacher zu erhebenden empirischen Daten meist als Markentreue erhoben. Die jährlich gemeinsam durchge-
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führte Studie „Verbraucheranalyse“ des Bauer Verlages und des Axel Springer Verlages erhebt bspw. Wiederkaufsraten für ausgewählte Produktkategorien bei Konsumgütern. Seit Jahren kann ein Rückgang der Markentreue in der Mehrzahl der untersuchten Kategorien festgestellt werden: von 2001 und 2009 nahm die Markentreue in 11 von insgesamt 16 untersuchten Produktkategorien ab. Die höchsten Rückgänge verzeichneten dabei Speiseeis (17 Prozentpunkte von 80% auf 63%), Parfum/Duftwasser (9 Prozentpunkte von 69% auf 60%), Duschbad (7 Prozentpunkte von 64% auf 57%) und Waschmittel (5 Prozentpunkte von 72% auf 67%) (Vgl. Bauer Verlag/Axel Springer Verlag (2009)).2 Eine Erklärung für die rückläufige Loyalität ist das sog. Variety Seeking. Darunter wird das Phänomen verstanden, rein aus Neugierde und dem Wunsch nach Abwechslung eine andere Marke zu kaufen (Vgl. Bänsch, A. (1995), S. 344). Der Konsument wechselt bei einem Wiederholungskauf nicht aufgrund von veränderten Präferenzen, sondern weil er in dem Markenwechsel selbst einen Nutzen sieht. Die Produktwahl wird somit nicht nur durch den Nutzen motiviert, den die zur Auswahl stehenden Produkte stiften, sondern auch durch den Nutzen, der aus dem Produktwechsel selbst resultiert. Bestimmte Produktkategorien sind dabei stärker vom Variety Seeking betroffen als andere. MEIXNER hat in einer empirischen Studie im Nahrungsmittelbereich herausgefunden, dass der Kunde bei Milch, Butter, Margarine und Eiern kaum nach Abwechslung sucht, wohingegen Joghurts, Käse, Wurst, Desserts und Fruchtsäfte typische Variety Seeking-Produkte darstellen (Vgl. Meixner, O. (2005), S. 49ff.). Um trotz sinkender Loyalität die Kunden dauerhaft zu binden, ist das Marketing besonders gefordert. Dies kann bspw. durch den Aufbau eines einzigartigen Markenimages, das Angebot herausragender Zusatzleistungen (bspw. Service/Installation), ein besseres Preis-/Leistungsverhältnis oder überragende Qualität eines Produktes erfolgen – und nicht zuletzt die Neuproduktinnovationen, die den Kunden dauerhaft an die Marke binden.
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Bei den in 2001 und 2009 untersuchten 16 Produktkategorien handelt es sich um Maschinengeschirrspülmittel, Eis in Haushaltspackungen, Haarspray, Whisky, Haut- /Handcreme, Waschmittel, Duftwasser, Zahnpasta, Sekt, Deomittel, Haarshampoo, Mineralwasser, Limonade, Duschbad, salzige Knabberartikel und Cola. Nur Whiskey, Haut-/Handcreme, Sekt, salzige Knabberartikel und Cola hatten steigende Markenloyalitäten.
Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie
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Herausforderungen auf der Angebotsseite
Auf der Angebotsseite stellen die Verkürzung der Produktlebenszyklen, die ansteigende Produktvielfalt sowie die Konzentration und Professionalisierung des Handels die wesentlichen Herausforderungen für Konsumgüterunternehmen dar.
2.2.1 Verkürzung der Produktlebenszyklen Der Produktlebenszyklus beschreibt den Zeitraum zwischen der Markteinführung und der Einstellung eines Produkts. In vielen Industrien werden Produktlebenszyklen immer kürzer (Vgl. Fischer, M. (2001), S. 83ff.). Zwischen den 60er und 90er Jahren haben sich bspw. die Produktlebenszyklen in der Pharmaindustrie von 24 auf 8 Jahre verkürzt. Im Bereich der Nahrungsmittel fand eine Verringerung von 20 auf 8 Jahre statt. Ähnlich sieht es auch bei Spielzeug und Kosmetika aus (Vgl. Sommerlatte, T. (1991), S. 10f.). Anschaulich wird die Verkürzung an einem Beispiel aus der Automobilindustrie, dem VW Golf: während der Produktlebenszyklus des Golf I noch 9 Jahre betrug (1974-83), verkürzte er sich zunehmend und betrug beim Golf II 8 Jahre (1983-91), beim Golf III und IV 6 Jahre (1991-97; 1997-2003) und beim Golf V nur noch 5 Jahre (2003-08) (Vgl. Framke, A./ Zimmermann, B. (2004) und o.V. (2010)). Die Verkürzung der Produktlebenszyklen macht es Herstellern schwieriger, Gewinne mit einem Modell zu erzielen. „Im ersten Lebenszyklus verdient ein Hersteller für gewöhnlich kein Geld an einem Auto“ stellt Gregor Matthies von der Unternehmensberatung Bain fest (Katzensteiner, T./Seiwert, M. (2007), S. 72). Die gestiegene Innovationsgeschwindigkeit verbunden mit steigender technologischer Komplexität ist nach Ansichten von Experten einer der wesentlichen Gründe, dass es in der Automobilindustrie zu einer weiteren Konsolidierung oder zumindest zu stärkeren F&EKooperationen zwischen konkurrierenden Herstellern kommen wird.
2.2.2 Ansteigende Produktvielfalt In der Konsumgüterindustrie hat in den letzten Jahren eine starke Erhöhung des Produktangebots stattgefunden, das in einigen Kategorien mittlerweile immens ist: Große Supermärkte haben meist mehr als 30.000 Produkte in ihren Regalen – von denen der Kunde bei einem durchschnittlichen Einkauf jedoch lediglich 30 Artikel
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kauft. Beim Autokauf ist der Käufer mit über 2.000 Modellen konfrontiert (von der Fülle an Ausstattungen noch ganz zu schweigen) (Vgl. Fletcher, W. (2006). Im Bereich der Medien ist das Angebot noch größer: Jedes Jahr erscheinen allein in Deutschland über 12.000 neue Tonträger (Pop und Klassik) und über 90.000 neue Bücher (Vgl. Börsenverein des deutschen Buchhandels (2010) und Bundesverband Musikindustrie (2009), S. 46). Eine Folge der Produktvielfalt ist eine gesteigerte Wettbewerbsintensität, da in vielen Produktkategorien nun eine höhere Anzahl Produkte um die Gunst des Endverbrauchers konkurriert. Der Schutz von Neuproduktinnovationen über Patente – wie er bspw. in der Pharmabranche möglich ist – ist in dieser Form in der Konsumgüterindustrie nur beschränkt durchführbar. Daher sind Unternehmen häufig direkt nach Produkteinführung Substituten von Wettbewerbsunternehmen ausgesetzt. Auf diese wird dann mit neuen Innovationen reagiert, so dass sich die Produktvielfalt weiter erhöht. Als wesentlicher Grund für die Vielzahl an Innnovationen wird von der Herstellerseite meist die Identifikation neuer Kundenbedürfnisse genannt, für die bedarfsgerechte Produkte entwickelt werden. Doch häufig ist der Kunde, der von dem stetig steigenden Produktangebot eigentlich profitieren soll, dieser immensen Angebotsfülle überhaupt nicht mehr gewachsen. FLETCHER, ehemaliger Direktor der britischen Werbeagentur DLKW, schreibt dazu im Guardian: „Modern life gives us an everincreasing number of options, bringing with them indecision, stress, anxiety and depression” (Fletcher, W. (2006)). SCHWARTZ, Autor des Buches „The paradox of choice“, argumentiert, dass die explosionsartige Steigerung von Wahlmöglichkeiten einer der Hauptgründe ist, warum die Lebensqualität in den Wohlstandsgesellschaften stagniert (Vgl. Schwartz, B. (2003)). Paradoxerweise sehnen sich Konsumenten in einer scheinbar unbeschränkten Konsumwelt nach Überschaubarkeit und Einfachheit. Für Unternehmen wiederum bedeutet dies, dass sich der eigentliche Nachteil eines schmalen Sortiments und geringer Neuprodukte sogar zu einem Wettbewerbsvorteil wenden kann. Die begrenzte Auswahl des Discounters Aldi, der nur etwa 600 Artikel in seinem Sortiment führt, ist nicht nur ein Kostenvorteil sondern auch aus Kundensicht ein nicht zu vernachlässigender Erfolgsfaktor (Vgl. Brück, M. (2003)).
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2.2.3 Konzentration und Professionalisierung des Handels Die internationale Handelslandschaft ist seit Mitte der 90er Jahre von stetiger Konzentration gekennzeichnet, die vor allem über Fusionen und Übernahmen beziehungsweise über organisches Wachstum im In- und Ausland stattfindet. Betrug im Jahre 1992 der Umsatzanteil der Top-10-Handelsunternehmen in Europa noch 24%, stieg er 2008 auf mittlerweile 34% an (Vgl. Walter, N. (2004), S. 75f. und o.V. (2008b)). Fusionen und Übernahmen trugen wesentlich zu dieser Konzentration bei – als eine der größten in Europa sind der Kauf von Promodès durch Carrefour in 1999 und die Übernahme des Discounter Plus durch Edeka in 2008 zu nennen (Vgl. Gurdjian et al. (2000), S. 71 und o.V. (2008a)). Filialeröffnungen im In- aber auch im Ausland sicherten das organische Wachstum der Händler. Aldi eröffnete allein in Deutschland zwischen 1998 und 2007 im Schnitt rund hundert neue Filialen pro Jahr und verfügt im Heimatmarkt mittlerweile über 4.200 Filialen. Doch nicht nur die Expansion im Inland, sondern auch im Ausland wurde die letzten Jahre stark verfolgt. Aldi hat mittlerweile neben den 4.200 deutschen Filialen noch 3.800 im Ausland (Vgl. GFK Panel Services/Accenture Deutschland (2009), S. 8ff.). Für andere Händler macht der Heimatmarkt sogar nur noch den geringeren Teil der Umsätze aus: in 2008 machte Carrefour 56% der Umsätze außerhalb Frankreichs und die Metro Group 61% außerhalb Deutschlands (Vgl. Carrefour (2010) und Metro Group (2010)). Die Expansion fand vor allem in die Märkte Westeuropas, Osteuropas (bspw. Russland, Polen, Ungarn) und Asiens (bspw. China, Indien, Vietnam) statt (Vgl. dazu ausführlicher KPMG (2010), S. 24-29). Die Konzentration im internationalen Handel führt vor allem zu höheren Einkaufsvolumina und damit zu einer Steigerung der Nachfragemacht. Mittlerweile sind viele Handelsunternehmen dazu übergegangen, ihre Konditions-, Preis- und Listungsverhandlungen nicht mehr auf nationaler sondern zumindest auf europäischer, wenn nicht sogar auf internationaler Ebene zu führen. Diese Verschiebung der Kräfte erlaubt Handelsunternehmen auch stärker – positiv oder negativ – auf die Listung und Vermarktung von Neuproduktinnovationen einzuwirken. Mit der Konzentration der Handelsunternehmen fand gleichzeitig eine Professionalisierung der Handelsbranche statt – getrieben durch neue Technologien und durch Partnerschaften zwischen Herstellern und Händlern. Neue Technologien – wie bspw. EDI (Electronic Data Interchange), Datenanalyse über Scanner-Kassen oder RFID (Radio Frequency Identification) – steigern die Effizienz der Supply Chain und sen-
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ken somit die Kosten für Händler und Hersteller (Vgl. Thonemann et at. (2005) S. 114ff. und 191ff.). Andererseits haben sie auch positive Auswirkungen auf Neuproduktinnovationen: Stock-outs können vermieden und Umsätze neuer Artikel detailliert analysiert werden. Neben neuen Technologien sind Partnerschaften zwischen Hersteller und Händler eine weitere Triebfeder der Professionalisierung der Branche. Sog. Strategic Vendor Partnering (SVP) zwischen Händlern und Herstellern sind – zumindest bei den großen Spielern im Markt – keine Seltenheit mehr. Bspw. führten der britische Einzelhändler Sainsbury’s und der Lebensmittelhersteller Kraft Foods in jüngster Zeit zahlreiche gemeinsame Projekte durch mit dem Ziel, durch Datenaustausch die Abverkäufe der Filialen und die Lagerreichweiten elektronisch zu steuern (um bspw. gemeinsam Aktionen durchzuführen), die Regalverfügbarkeit zu erhöhen und durch sog. Scorecarding die Leistungen des anderen zu überprüfen und zu verbessern (Vgl. Thonemann et al. (2005) S.112f.).
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Faktoren für ein erfolgreiches Innovationsmanagement von Konsumgüterunternehmen
Obwohl die Misserfolgsquote bei Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie gegenwärtig schon hoch ist (siehe Ausführungen Kapitel 1) und obwohl sich die Branche zusätzlich mit einer Vielzahl neuer Herausforderungen konfrontiert sieht (siehe Ausführungen Kapitel 2), werden Neuproduktinnovationen weiterhin Bestandteil der Marketingstrategie der Unternehmen bleiben, da sie wesentlicher Treiber für Wachstum sind. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey zeigte, dass Unternehmen mit hohem Innovationsfokus durchschnittlich 3,3% Umsatzwachstum erzielen, während gering oder mittelmäßig innovative Unternehmen bei unter einem Prozent Wachstum verharren (Vgl. Barrenstein, P./Junghans, M./Walter, N. (2003), S. 64). Doch pure Innovationsaktivität führt noch nicht zwangsläufig zu Erfolg. Hohe F&Ebzw. Marketingbudgets für Neuproduktinnovationen sind noch kein Garant für Erfolg. JARUZELSKI, einer der Autoren der „Global Innovation 1000”-Studie, stellt fest: „Innovation can lead to higher performance, but the process is not automatic and it does not necessarily require above average levels of investment. There is no silver bullet, and just throwing money at the problem is not the answer.” (Jaruzelski, B./Dehoff, K./Bordia, R. (2006), S. 49).
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Was sind – wenn nicht allein substantielle Investments – dann aber die Faktoren eines erfolgreichen Innovationsmanagements? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, wurde mit insgesamt 17 Experten eines führenden, internationalen Kosmetikunternehmens Anfang Januar 2010 eine Expertenbefragung durchgeführt. Aus Gründen der Vertraulichkeit kann der Name des Unternehmens nicht genannt werden. Bei den Experten handelt es sich um vier Marketingdirektoren, vier Marketingmanager und neun Senior Brand Manager bzw. Brand Manager, die alle über mindestens dreieinhalb Jahre Berufserfahrung im internationalen Innovationsmarketing verfügen. Die Wahl der Branche und der Personen erfolgte aufgrund der hohen Innovationsintensität der Kosmetikindustrie und dem damit entsprechend starken Erfahrungsschatz der Befragten. Da im Bereich Kosmetik Marketing und nicht F&E die treibende Kraft hinter Neuproduktinnovationen ist, beschränkt sich die durchgeführte Befragung auf Marketingexperten. Die Expertenbefragung fand in persönlichen Einzelinterviews statt und hatte explorativen Charakter. Zusätzlich zu den Interviews fand eine intensive Literaturrecherche von Fallstudien aus der Konsumgüterindustrie statt, wobei hier das Augenmerk vor allem auf Best-practice-Beispiele bzw. Misserfolge gelegt wurde. Die Erkenntnisse aus den Fallstudien sollen dazu dienen, die durch die Experteninterviews gewonnenen Erfolgsfaktoren zu illustrieren. Bei der Expertenbefragung wurden die wichtigsten Faktoren für erfolgreiche Neuproduktinnovationen in der Konsumgüterindustrie identifiziert. Als „wichtigste Faktoren“ werden dabei diejenige Faktoren definiert, die von mindestens 25% der befragten Experten in der Befragung genannt wurden (4 der 17 Experten). Dies sind die folgenden sieben Faktoren (in Klammern die Prozentwerte der Mehrfachnennungen): x
Umfassendes Kundenverständnis (100%).
x
Klares Nutzenversprechen des Neuproduktes (100%).
x
Frühzeitiges Erkennen von Markttrends und schnelle Umsetzung in Neuprodukte (88%).
x
Ausgewogenes Portfolio an inkrementellen und radikalen Neuproduktinnovationen (82%).
x
Internationale Markteinführung des Neuproduktes (82%).
x
Professionelles internes operatives Projektmanagement der Innovationsprojekte (71%).
x
Ideengewinnung mit Hilfe eines Netzwerkes aus externen Experten (41%).
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Die durch die empirische Studie identifizierten Faktoren sind insgesamt nicht überraschend. Dennoch wurde durch die Befragung deutlich, dass in der Marketingpraxis zwar die Kenntnis der Faktoren und deren Wichtigkeit vorhanden ist, dass es aufgrund der hohen Komplexität des Innovationsprozesses dennoch in der Praxis schwer fällt, diese auch entsprechend umzusetzen. Im Folgenden sollen daher – unter Wiedergabe der Expertenmeinungen – die Faktoren kurz näher erläutert werden und Praxisbeispiele sollen die Probleme bei der Umsetzung verdeutlichen.
3.1
Verständnis des Kunden durch umfassende und verlässliche Marktforschungsdaten
Alle 17 Experten nannten das Verständnis von Kundenbedürfnissen als essentiellen Faktor für den Erfolg von Neuproduktinnovationen. Nur bei umfassender Kenntnis der Kundenbedürfnisse sei es möglich, ein überlegenes Produkt anzubieten, das dem Kunden einzigartigen Nutzen bietet. Hauptquelle der Kundenkenntnis bei inkrementellen Neuproduktinnovationen (versus radikalen Neuproduktinnovationen) stelle die Marktforschung dar. Besondere Bedeutung komme dieser beim Testen des Produktkonzeptes (vor allem zur Identifikation der Zielgruppe, des Produktnutzens und des Konsumanlasses) und vor der Markteinführung zu. Hierbei sei es von essentieller Bedeutung, sich nicht auf die Erfahrung bzw. das Gespür des Marketingteams zu verlassen, sondern tatsächlich Marktforschungsdaten zu erheben. Vor allem um Kosten zu senken würde in der Praxis häufig auf umfassende Marktforschung verzichtet, was sich jedoch meist als großer Fehler herausstelle. Ein Beispiel für ein Unternehmen, bei dem der Testmarkt andere Ergebnisse lieferte als vom Marketingteam angenommen, stellt Pepsi dar: Im Mai 1996 testete Pepsi ein neu entwickeltes Produkt, Pepsi-Kona im Testmarkt Philadelphia. Bei dem Produkt handelte es sich um eine Kola mit Kaffegeschmack. Aufgrund des Markterfolgs von koffeinierten Soft Drinks (bspw. Coca-Colas Surge oder Jolt Cola), des Erfolgs von Kaffee (bspw. Starbucks) und aufgrund von Pepsis Erfahrung bei der Vermarktung von Frappuccino zusammen mit Starbucks war das Pepsi Brand Management Team überzeugt, dass Pepsi-Kona ein Erfolg werden würde. Doch der Testmarkt stellte sich als Misserfolg heraus – viele Konsumenten bemängelten vor allem den Geschmack von Pepsi-Kona. Durch den Testmarkt blieb dem Unternehmen eine kostspielige nationale Markteinführung erspart (Vgl. Crawford, M./Di Benedetto, A. (2006), S. 439ff.).
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Die Experten weisen zudem darauf hin, dass neben der traditionell angewandten Methodik der Fokusgruppe neue Marktforschungsmethoden (wie bspw. die Beobachtung der Probanden in ihrem persönlichen Umfeld) neuartige Erkenntnisse liefern können. Bei radikalen Neuproduktinnovationen jedoch würde die Marktforschung an ihre Grenzen stoßen, da sich die Kunden häufig noch nicht über ihre Bedürfnisse im Klaren seien. Ein Beispiel dafür ist der Energydrink Red Bull, der in der Marktforschung durchfiel, aber dennoch eingeführt wurde, und sich als herausragender Erfolg erwies: Die Marktforschungsresultate von Red Bull waren vernichtend: die dünne Farbe des Getränkes wurde als „unappetitlich“ und der Geschmack als „ekelerregend“ tituliert. Das Konzept „belebt Körper und Geist“ würde noch bestenfalls als „irrelevant“ bezeichnet. Das abschließende Urteil der Marktforschungsagentur war: „kein anderes Neuprodukt ist jemals so überzeugend durchgefallen“ (Wipperfürth, A. (2003), S. 1). Dennoch war Red Bull eines der erfolgreichsten Neuprodukte in der Getränkeindustrie – das Unternehmen verkauft in 2008 über vier Milliarden Dosen des Energydrinks weltweit und machte damit über 3,3 Milliarden Euro Umsatz (Vgl. o.V. (2009).
3.2
Klares Nutzenversprechen durch Neuprodukt
Von zentraler Bedeutung sehen alle 17 befragten Experten, dass das Neuprodukt ein klares Nutzenversprechen (sog. Value Proposition) für den Kunden beinhalte. Jedes Produkt müsse einen Nutzen für den Konsumenten darstellen. Als Beispiele für klare Nutzenversprechen wurden u.a. genannt: für L’Oreal Revitalift Gesichtscreme „Faltenreduktion“, für iPod/iTunes „Benutzerfreundlichkeit“ und für Diet Coke mit Splenda „voller Geschmack mit gleichzeitig niedrigen Kalorien“. Doch es wurde auch darauf hingewiesen, dass nicht immer ein „objektives Kundenbedürfnis“ vorliegen müsse, sondern vielmehr müsse ein „echtes, subjektives“ Kundenbedürfnis mit dem Produkt getroffen werden. Ein Beispiel für ein „objektiv nutzloses“ Neuprodukt, das dem Verwender aber einen „subjektiven Nutzen“ stiftet, ist das Tamagochi: Tamagochi heißt auf Japanisch „niedliches kleines Ei“ und ist ein virtuelles Küken der japanischen Firma Bandai, das sich in Japan und dann auch in Europa und USA Ende der 90er Jahre viele Millionen Mal verkaufte. Erfinderin des Tamagochi war die Japanerin Aki Maita, die bei der Beobachtung ihrer Mitmenschen zu der Einschätzung kam, dass die Japaner tierlieb sind, aber sehr kleine Wohnungen haben und in elektronische Spielereien vernarrt sind. Aus dieser Betrachtung heraus entwickelte sie das Tamagochi, ein Haustier, mit dem man spielen kann, es füttern, pflegen, er-
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ziehen und umsorgen muss, wenn es krank ist oder Zuneigung benötigt – aber das alle Risiken und Unannehmlichkeiten, die ein echtes Tier mit sich bringt, nicht hatte (Vgl. o.V. (1997)).
3.3
Frühzeitiges Erkennen von Markttrends und schnelle Umsetzung in Neuprodukte
88% der befragten Experten (d.h. 15 der 17) sehen in einer schnellen Speed-toMarket einen wesentlichen Erfolgsfaktor. Dabei ist zum einen entscheidend, Markttrends frühzeitig zu erkennen und zum anderen diese schnell in Neuprodukte umzusetzen. Zu lange Speed-to-Market könne dazu führen, dass sich Kundenbedürfnisse schon wieder verändert haben bis das Produkt auf den Markt kommt oder dass wertvolle Marktanteile an einen schnelleren Wettbewerber verloren werden. Als die beiden zentralen Maßnahmen, um eine schnelle Marktreife zu erreichen, wurden von den Experten genannt: Trendscouting, das sich seit Web 2.0 verstärkt über Foren/Communities durchführen lasse, sowie das Outsourcing von Schritten im Innovationsprozess (bspw. Entwicklung spezifischer Inhaltsstoffe durch Lieferanten oder Durchführung von Marktforschung durch externe Institute), um durch Parallelisierung eine Beschleunigung der Speed-to-Market zu erreichen. Ein Beispiel für ein Unternehmen, das durch Outsourcing wertvolle Zeit hätte sparen können, ist Polaroid bei der Einführung der Kamera PDC-2000: Polaroid hatte über viele Jahre eine monopolähnliche Stellung im Bereich der Sofortbildkameras inne. Den Wandel von der analogen zur digitalen Photografie erkannte Polaroid allerdings schon sehr früh in den 80er Jahren und investierte massiv in die Entwicklung und Produktion digitaler Kameras. Doch erst im Jahre 1996 brachte das Unternehmen seine erste digitale Kamera PDC-2000 auf den Markt. Das Produkt war technisch hochentwickelt, allerdings kostete die Kamera zwischen 2.995 US$ und 4.995 US$, während andere Digitalkameras schon längst für 1.000 US$ angeboten wurden. Der späte Markteintritt – kombiniert mit einem überdurchschnittlichen Preis (aufgrund der hohen Investitionen) – führte dazu, dass das Produkt schon 2 Jahre nach Launch wieder vom Markt genommen wurde (Vgl. Andrew, J.P/Sirkin, H.L. (2003), S. 80).
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Ausgewogenes Portfolio an inkrementellen und radikalen Neuproduktinnovationen
82% der befragten Experten (d.h. 14 der 17) sehen die richtige Mischung an inkrementellen und radikalen Neuproduktinnovationen als wesentlich für ein erfolgreiches Innovationsmanagement an. Unter radikaler Innovation werden gemeinhin Produkte verstanden, die erstmals einen bestimmten Kundennutzen befriedigen. Als bekannte Beispiele wären der iPod von Apple, der Mach3 Rasierer von Gillette, Nespresso-Kaffeesystem von Nestlé oder der Süßstoff Splenda von Johnson&Johnson zu nennen. Der derzeitige Anteil an radikalen Neuproduktinnovationen liege in dem Kosmetikunternehmen, bei dem die Umfrage durchgeführt wurde, bei unter 10% (gemessen am Umsatz). Dieser Wert wird von 14 der 17 befragten Experten als zu gering angesehen und müsse erhöht werden. Denn auch wenn radikale Neuproduktinnovationen zwar kostenintensiver und risikoreicher seien, so hätten sie doch aufgrund der hohen Aufmerksamkeitsstärke beim Kunden höhere Umsatz- und Erfolgsaussichten auf dem Markt. Die inkrementellen Neuproduktinnovationen des Unternehmens wurden insgesamt als positiv beurteilt. Gerade inkrementelle Neuproduktinnovationen seien aus Marketingkommunikation entscheidend, da diese als Neuerungen vermarktet werden können und somit Aufmerksamkeit beim Kunden generieren – ohne aber die hohen Innovationskosten einer radikalen Innovation zu haben.
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Internationale Markteinführung des Neuproduktes
82% der befragten Experten (d.h. 14 der 17) stellen fest, dass Neuprodukte zumindest regional – wenn nicht sogar international – eingeführt werden müssen, damit sie sich für das Unternehmen amortisieren. Aufgrund der meist hohen Entwicklungskosten sei es kaum mehr möglich, Produkte nur in einzelnen Ländern auf den Markt zu bringen. Allerdings wird auch auf die Gefahr hingewiesen, dass dadurch Wachstum in einzelnen Märkten, die sich durch besondere Bedürfnissen auszeichnen, aber kein darauf zugeschnittenes Produkt erhalten, verlorengehen könne. Die Problematik stelle sich in der Kosmetikindustrie vor allem für Asien, da hier bspw. bei Gesichtscremes „Whitening“, d.h. gesichtsaufhellende Produkte, nachgefragt würden, die in den großen westlichen Märkten keine Rolle spielen. Aufgrund hoher Innovationskosten für derartige Inhaltsstoffe und einer vergleichsweise kleinen vermögenden Zielgrup-
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pe, die sich die westlichen Produkte leisten könne, seien derartige Neuproduktentwicklungen schwierig durchzuführen und würden sich meist nicht rechnen. Ein Unternehmen, das es trotz hoher Innovationskosten durch globale Markteinführungen schafft, erfolgreich zu sein, ist Gillette: Der Launch des Sensor-Rasierers im Jahre 1990 kostete Gillette über 300 Millionen US$ – davon alleine 200 Millionen US$ für F&E und Produktion und nochmal zusätzliche 110 Millionen US$ für Fernseh- und Printwerbung im ersten Jahr des Eintritts. Als 1998 der Drei-Klingen-Rasierers Mach3 auf den Markt kam, übertraf Gillette dieses Budget sogar noch – die Kosten für F&E betrugen beim Mach3 über 680 Millionen US$. Die 2005 auf den Markt gebrachten Fünf-Klingen-Rasierer Fusion und Fusion Power sollen ähnlich viel wie der Mach3 gekostet haben. Diese hohen Kosten können nur durch einen globalen Markteintritt, der hohe internationale Volumina bringt, und durch eine hohe Preispositionierung erreicht werden (Vgl. Hammonds, K.H. (1990), S. 62 und Symonds, W.C. (2005)).
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Professionelles internes operatives Projektmanagement von Innovationsprojekten
Ein professionelles, stringentes und bereichsübergreifendes Projektmanagement wird von 71% der befragten Experten (d.h. 12 der 17) bei Innovationsprojekten als essentiell angesehen. Als kritischste Faktoren im Projektmanagementprozess wurde die strikte Auswahl der erfolgversprechendsten Projekte, das Managen der verschiedenen Stufen des Prozesses in Form eines Stage-Gate-Prozesses mit strikten Meilensteinen und die Koordination von sog. „cross-functional teams“ genannt (vor allem zwischen F&E, Produktion, Marketing und Sales). Erfahrungsgemäß falle gerade die strikte Einhaltung der einzelnen „Gates“ im Stage-Gate-Prozess schwer, da häufig Marketingdirektoren versuchten, ihre Projekte trotz Fehlschlagens an einem Gate noch „zu retten“ und diese vor anderen Projekten zu priorisieren. Dies müsse durch ein objektives, unabhängiges Komitee, das auf die strikte Einhaltung der vereinbarten Regeln bestehe, unterbunden werden. Gerade bei radikalen, kostspieligen Neuproduktinnovationen sei dies wichtig. Ein Unternehmen, das eine radikale Innovation aufgrund eines professionellen, unabhängigen Projektmanagements bis zum Erfolg führte, war Nestlé mit Nespresso: Eine der erfolgreichsten Neuproduktinnovationen des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé stellt unbestreitbar Nespresso dar – das Kaffeesystem, bei dem der Kaffee in Alu-
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miniumkapseln portioniert und in speziellen Kaffeemaschinen zubereitet wird. Die Neuproduktentwicklung, die zu Beginn mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hatte, gewann erst dann Fahrt, als Nespresso im Juni 1986 aus dem Nestlé-Konzern herausgelöst und als separates Unternehmen unter dem Namen Nestlé Coffee Specialities (NCW) geführt wurde. Erst dann gelang die zum Erfolg führende Koordination zwischen F&E, die die Technologie entwickelten, und Marketing, die durch die Premium-Positionierung (u.a. mit Nespresso Club) genau die Bedürfnisse der anvisierten Zielgruppe trafen (Vgl. Kashani, K./ Miller, J. (2000), S. 4ff.).
3.7
Ideengewinnung mit Hilfe eines Netzwerkes aus externen Experten
41% der befragten Experten (7 von 17) sehen es bei der Gewinnung von Neuproduktideen als unabdingbar an, sich über die internen Ressourcen hinaus Anregungen von externen Quellen zu holen. Die Anzahl notwendiger neuer Ideen sei durch die limitierten Ressourcen intern nur schwierig zu erreichen. Gerade im Bereich Texturen und Duftstoffe hätte man in der Vergangenheit positive Erfahrung mit innovativen Lieferanten gemacht. Auch Werbeagenturen würden sich als Ideengeber für Neuprodukte eignen. Als größte Herausforderung wurde die Identifikation möglicher externer Experten und der damit verbundene hohe Aufwand genannt. Als best-practice Beispiel für die Konsumgüterindustrie wird das Netzwerk „Connect and Develop“ von Procter&Gamble gesehen: Das Innovationsnetzwerk „Connect & Develop“ wurde von P&G im Jahr 2000 ins Leben gerufen, als klar wurde, dass sich die ambitionierten Wachstumsziele nicht durch interne Neuproduktinnovationen allein erreichen lassen. Der damalige Vorstandsvorsitzende Alan Lafley brach mit der Kultur, dass nur intern entwickelte Ideen werthaltig sind und zwang die Organisation in Kontakt mit externen Ideengebern. Das Netzwerk „Connect & Develop“ wurde dafür aufgebaut, das sich als großer Erfolg für P&G herausstellte: mittlerweile haben 35% der Neuproduktinnovationen Bestandteile, die außerhalb von P&G entstanden sind (2000 waren es noch 15%). Gleichzeitig sind seit 2000 die F&E-Kosten gesunken: von 4,8% auf 3,4% (Vgl. Huston, I./ Sakkab, N. (2006), S. 20ff.).
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Fazit und Ausblick
Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Konsumgüterindustrie vor zahlreichen Herausforderungen steht, die auch das Innovationsmanagement der Unternehmen betreffen. Unternehmen werden sich in diesen dynamischen Marktbedingungen nur dann erfolgreich gegenüber ihren Konkurrenten behaupten können, wenn sie ihr Innovationsmanagement professionell gestalten. Die empirische Untersuchung hat Faktoren aufgezeigt, die aus Sicht der befragten Experten für ein erfolgreiches Innovationsmanagement entscheidend sind. Die Liste dieser Faktoren kann nicht überraschen, aber sie zeigt eines deutlich: die Schwierigkeiten beim Innovationsmanagement bestehen nicht darin, dass der Praxis diese Faktoren unbekannt wären, sondern vielmehr, dass die Umsetzung dieser in dem sehr komplexen Innovationsprozess nicht einfach ist. Die in Kapitel 2 identifizierten Herausforderungen kommen erschwerend hinzu. Daher müssen Konsumgüterunternehmen weiterhin an der Professionalisierung ihres Innovationsmanagements arbeiten, um sicherzustellen, dass elementare Erfolgsfaktoren wie „Neuproduktentwicklungen mit klarem Kundennutzen“, „globale Launches“ oder „effizientes operatives Projektmanagement“ zur Selbstverständlichkeit im unternehmerischen Alltag werden. Dennoch – die Flopraten in der Konsumgüterindustrie (und vor allem im Bereich der Gebrauchsgüter) werden immer wesentlich höher sein als bspw. in der Investitionsgüterindustrie. Denn Neuproduktinnovationen sind hier häufig rein inkrementeller Natur ohne großen Neuigkeitsgrad (wie bspw. neue Verpackungen, die an eine jüngere Zielgruppe gerichtet ist, im Bereich Kosmetik oder neue Geschmacksrichtungen bei Lebensmitteln). Dies ist jedoch auch bewusst gewollt, da Neuprodukte auch ein reines Marketinginstrument darstellen. Sie sind lediglich der Anlass, beim Verbraucher Aufmerksamkeit durch Marketingkommunikation in der Print- oder Fernsehwerbung oder am Point-of-Sale zu erzielen. Eine kurze Dauer im Markt bei derartigen Produkten ist daher nicht wirklich ein Zeichen von „Innovationsmisserfolg“. Im Gegenteil: Sobald die Neuprodukte Interesse beim Kunden generiert haben, haben Sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt und können auch wieder vom Markt genommen werden.
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Web 2.0 - Marketing als Instrument zur Einführung von Produktinnovationen: Chancen und Herausforderungen für die Unternehmenspraxis Nina Saldsieder* und Kai Alexander Saldsieder**
1
Einleitung .....................................................................................................148
2
Was ist Web 2.0-Marketing ? – Ursprung, Kernbegrifflichkeiten, Trends ......................................................................150
3
Rahmenbedingungen des Web 2.0-Marketing.............................................152
4
Chancen und Herausforderungen des Web 2.0-Marketings .....................................................................................155
5
Beispiele aus der Unternehmenspraxis .......................................................157 5.1 Gescheiterte Markteinführungen aufgrund nicht verstandenem Web 2.0 Marketing............................................158 5.1.1 Nichtauthentische Kommunikation .........................................158 5.1.2 Nicht holistische Kommunikation............................................160 5.1.3 Unterbrechung von Kampagnen.............................................162 5.2 Erfolgreiche Markteinführungen ........................................................163
6
Implikationen für die Unternehmenspraxis und Forschung .........................169
Literaturverzeichnis ................................................................................................175
* Dipl.-Kauffrau Nina Saldsieder ist Lehrbeauftragte an der Hochschule Pforzheim und externe Doktorandin. ** Prof. Dr. Kai Alexander Saldsieder, M.B.A. (HMC) ist Professor für Allgemeine und Internationale BWL an der Hochschule Pforzheim mit Schwerpunkt Marketing und Vertrieb.
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Nina Saldsieder und Kai Alexander Saldsieder
Einleitung
Produktinnovationen sind eine wesentliche Antriebskraft des unternehmerischen Erfolges (vgl. hierzu: Pauwels et. al. (2004), S. 149). Gerade in hochentwickelten, wettbewerbsintensiven Märkten dienen Produktneuheiten vielen Industrieanbietern als entscheidendes Mittel zur Differenzierung ihres Leistungsangebotes im Streben nach Kunden und Konsumenten. Eine Vielzahl empirischer Studien belegt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Marketings für den Erfolg von Neueinführungen. Unternehmen, die Produktinnovationen frühzeitig und intensiv kommunizieren, erzielen nachhaltige Pioniervorteile in Form von Markt- und Umsatzanteilen (vgl. für Erfolgsbedeutung der Frühzeitigkeit von Produktkommunikation Coeurderoy/Durand (2004), S. 588.; vgl. des weiteren Boulding/Christen (2003); Heiens/Pleshko/Leach (2004); Cui/Lui (2005); Kuhn (2007). Vgl. für die Bedeutung der Intensität von Marketingmaßnahmen für Einführungserfolg Green/Ryans (1990), S. 55; Hart/Tzokas (2000), S. 399; Steenkamp/Gielens (2003), S. 378). Über Jahrzehnte hinweg galt hierbei FernsehWerbung als das ultimative Mittel zur Erzielung schneller und intensiver Kommunikation von Produktinnovationen. Im Vergleich zu anderen Kommunikationsinstrumenten obsiegte das Medium lange Zeit durch überproportionale Reichweiten und das vergleichsweise schnelle Erwirken substantieller Bekanntheitsgrade auf Seiten der Konsumenten. Dieses Medium, so scheint es, hat sich verbraucht. Durch die Deregulierung und Digitalisierung des Fernseh- aber auch des Hörfunkmarktes gibt es für Unternehmen heutzutage hunderte von gleichartigen Kanälen, um mit den Konsumenten zu kommunizieren (vgl. für Digitalisierungsinitative Zentralverband Elektrotechnikund Elektronikindustrie e.V. (2010): www.zvei.org/?id=3055). Allein in Deutschland konkurrieren derzeit über 60 Fernsehsender, 300 Radiostationen, 400 Zeitungen und zirka 600 Zeitschriften – Tendenz steigend. Für Unternehmen wird es somit immer schwieriger, die von ihnen gewünschte Werbebotschaft für die Einführung von Produktinnovationen effizient und effektiv auf Seiten potentieller Nachfrager zu platzieren. Vor diesem Hintergrund bietet das rasante Aufkommen des Internets neue Vermarktungschancen für die Werbetreibenden, die sich durch vergleichsweise niedrige Kontaktkosten und eine deutlich erhöhte Fokussierung in der Konsumentenansprache auszeichnen. Wie die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von WIRTZ/BURDA/BEAUJAN (2006) zeigen, hat sich das Internet mit einer täglichen
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_8, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Nutzungsdauer von knapp 100 Minuten fest neben den klassischen Kommunikationskanälen auf Seiten der Konsumenten etabliert (vgl. Wirtz/Burda/Beaujeau (2006), S. 85). Entgegen verschiedenen Prognosen hat das Internet die anderen Medien aber nicht verdrängt, sondern die Mediennutzung insgesamt hat sich ausgeweitet. Eine jüngst erschienene Studie von MICROSOFT (2009) postuliert überdies, dass das Internet den Kommunikationskanal Fernsehen innerhalb Europas bereits ab Mitte 2010 als traditionelles Leitmedium ablösen wird (vgl.: Bröker (2008), www.medienhandbuch.de/news/microsoft-studie-internet-loest-traditionelles-fernsehen-ab-23720.html; Vgl. auch: OMD Germany (2010): http: //www .omdgermany. de/index.php?id=49&tx_ttnews[tt_news]=128). Somit erscheint eine Marketingkommunikation ohne Berücksichtigung des Medienkanals Internet zukünftig unmöglich. Dafür spricht auch die zunehmende Verschmelzung von Online-Welt und OfflineWelt im privaten Gebrauch. Das Internet entwickelt sich zu einem Parallelmedium, das immer mehr Menschen tagtäglich begleitet. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer nicht im Internet ist, erscheint nicht mehr existent für die Gruppe der Internetuser. Für die werbetreibenden Unternehmen ist das Internet somit nicht nur Chance sondern auch Herausforderung, da sich das Web-Marketing von klassischen MarketingInstrumenten unterscheidet. Gerade für den Bereich des Internets ist im Zuge der Entwicklung des Web 2.0 zu konstatieren, dass eine klassische Marketingansprache an Bedeutung verliert und oftmals von Seiten der Konsumenten als unpersönlich abgelehnt wird. Immer stärker rücken below-the-line Marketingelemente in den Fokus der Unternehmen, die sich durch eine starke Dialogorientierung auszeichnen – Advertising wird somit zu Podvertising (vgl. Klee (2008), S. 166). Dieser Paradigmenwechsel von einem Push- zu einem Pull-Marketing stellt hohe Anforderungen an die Unternehmen in Bezug auf die Ausrichtung und Ausgestaltung ihrer Kommunikationspolitik (vgl. Göttgens/Dörrenbacher (2008), S. 214). Für die Marketingabteilungen bedeutet dies die Notwendigkeit zu einer grundlegenden Justierung des eigenen Marketings für Produkteinführungen. Der in vielen Fällen bestehende cross-mediale Marketing-Mix ist unter Einbindung des Internets in Richtung eines holistischen Marketingansatzes weiterzuentwickeln. Holistisches Marketing bedeutet dabei nicht, das gleiche Produkt und Key Visual über verschiedene Kanäle zu kommunizieren, sondern vielmehr, den potentiellen Konsumenten über den Kanal und den Zeitpunkt zu adressieren, in dem er am meisten willens ist, die Kom
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munikation tatsächlich zu rezipieren (vgl.: Neff, J. (2005): P&G finds the boss demanding, busy, hard to reach, http://goliath.ecnext.com/coms2/gi_0199-4250388/PG-finds-the-boss.html). In diesem Zusammenhang bietet Web 2.0-Marketing eine leistungsstarke Ergänzung cross-medialer Kommunikationsinstrumente und die Chance, disponible Stärken des Internet für die Einführung von Produktinnovationen zu nutzen. Das Internet und dessen crossmediale Vernetzung mit anderen Kommunikationskanälen sind auch deshalb wichtig, weil sich der Kaufprozess und der Kundendialog zunehmend im Miteinander von digitalen Kanälen und dem direkten Kontakt im Handel vollziehen (vgl.: Göttgens/Dörrenbacher (2008), S. 218). Vor diesem Hintergrund besteht die Zielsetzung des vorliegenden Beitrages darin, die Chancen und Herausforderungen für das Marketing in der Produkteinführungsphase durch die Möglichkeiten des Web 2.0-Marketings aufzuzeigen. Neben der Erläuterung der Kernbegrifflichkeiten und des Aufzeigens der Rahmenbedingungen liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Beitrages in der Nennung von substantiellen Verhaltensregeln für die Ausgestaltung eines Web 2.0-Marketings. Zur Illustration umsetzungsorientierter Anwendungsmöglichkeiten erfolgt die Darstellung von erfolgreichen sowie weniger erfolgreichen Praxisbeispielen als auch die Nennung von Ansatzpunkten für die weitere wissenschaftliche Erforschung des Bereiches Web 2.0Marketing.
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Was ist Web 2.0-Marketing? – Ursprung, Kernbegrifflichkeiten, Trends
Der Begriff Web 2.0 wurde 2005 maßgeblich vom Internetpionier und Softwareentwickler Tim O´Reilly geprägt (Vgl.: O´Reilly (2005): http://www.oreilly.de /artikel/web20.html.). Der Begriff Web 2.0 umschreibt in erster Linie einen veränderten Umgang mit dem Internet und seinen schon zuvor verfügbaren technologischen Komponenten (Ajax, blogs, Mash-ups, RSS-feeds) (vgl.: Berge/Buesching (2008), S. 24). Im Vergleich zu seiner Vorläuferversion sind die Anwendungen des Web 2.0 durch die Kernelemente Interaktivität, Vernetzung, Dynamik, Dezentralität und Offenheit zu charakterisieren. Das Web 2.0 integriert Werbetreibende und Werberezipienten in hohem Ausmaß. Vor allem aber das immense Grad an Interoperabilität der User und die damit einhergehende Entwicklung von stark vernetzten Interessensgruppen mit
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hoher Konsumentenmacht ist kennzeichnend für die Internetgemeinschaft (vgl.: Walter/Saldsieder (2010), S. 130 f). Vor diesem Hintergrund wird das Web 2.0 oftmals auch als Mitmachinternet bezeichnet. Dieser Begriff zielt dabei vor allem auf die Gestaltungsaktivitäten der Internetnutzer ab. Für die Unternehmen bedeutet dies, dass die Akzeptanz und Kommunikation von Produktneueinführungen nicht von ihnen sondern überwiegend konsumentenseitig gesteuert werden. Somit fördert und fordert das Web 2.0 eine Öffnung und Marktorientiertung von Unternehmen (Vgl.: Dieckmann (2010), Persönliches Interview vom 26.02.2010; Vgl. für den Begriff Mitmachinternet: Fiutak (2006): www.zdnet.de/news/wirtschaft_telekommunikation_ web_2 _0_ das__mitmach_internet__hat_viele_zuschauer_story-39001023-39149022-1.htm; Buck (2007): Mitmach-Internet für unterwegs, in: www.handelsblatt.com/mitmachinternet-fuer-unterwegs;1290163). Als Haupttreiber der starken Verbreitung des Web 2.0 benennt WIRTZ (2009) sinkende Kosten der Online-Nutzung, eine voranschreitende soziale Integration der Anwender, steigende Partizipation, die verbesserte Nutzbarkeit des Internets im Sinne einer technischen Handhabung sowie die steigende Diffusion von Breitbandanschlüssen (vgl.: Wirtz (2009), S. 38 ff. vgl. hierzu auch: Kilian/Hass/Walsh (2008), S. 8-12). Gerade für jüngere Generationen entwickelt sich das Internet, wie auch andere Kommunikationskanäle (TV, Radio), zu einem Parallelmedium. Das Internet ist mittlerweile fester Bestandteil der Jugendkultur. Seit 1995 stieg die generelle Mediennutzung um über 180 Minuten auf täglich neuneinhalb Stunden. Darüber hinaus übernimmt das Internet neue Funktionen und erschließt Nischen, die die klassischen Medien bislang nicht besetzt haben (vgl.: Wirtz (2009), S. 39; Rolke/Höhn (2008)). Die rasante Verbreitung von Breitband-Internetzugängen und mit ihr die stetige Zunahme der Internetnutzung beeinflussen das Verhalten der Konsumenten – und damit einhergehend die Rahmenbedingungen für Marken- und Produktkommunikation – in einschneidendem Ausmaß. Das Web 2.0 unterstützt den Trend zur Individualisierung der Konsumenten und eine fortschreitende, gesellschaftsdurchdringende Verbreitung des Internet ist absehbar: Aktuell verfügen rund 21 Millionen aller deutschen Haushalte über einen Internetzugang, bis 2015 sollen es sogar 27 Millionen und somit knapp 70 Prozent der Haushalte sein (vgl. Wirtz (2009), S. 48). Eine Analyse der Internetnutzer nach Altersgruppen unterstreicht die weiterhin zu erwartende Entwicklung: Während bei den heute 14- bis 19-Jährigen, den Digital Natives, ein Leben ohne Internet undenkbar ist, zeigt sich auch bei den Silver Surfern ein verän
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dertes Konsumenten- und Freizeitverhalten. Beispielsweise vermeldet das Social Network facebook gerade in dieser Nutzer-Gruppe der über 40-Jährigen das stärkste Wachstum (vgl.: Walter/Saldsieder (2010), S. 162; Dieckmann (2010), Persönliches Interview vom 26.02.2010). Im Gegensatz zu seinem Vorläufer bieten die Anwendungen des Web 2.0 freie Räume zur Selbstdarstellung, aber auch zu Eskapismus, sprich der Flucht aus einer sich zunehmend beschleunigenden und anonymen Welt. Somit bildet das Web 2.0 neue Konsumentengruppen heraus, die zunehmend Communities und weniger klassischen Zielgruppenmilieus der Marktforschung entsprechen. Die Entwicklung des Internetmarktes entspricht daher in hohem Maße dem allgemeinen Trend der Demassification, also einer Individualisierung von Konsumentenverhalten, aber auch -bedürfnissen. Insofern bietet ein Web 2.0-Marketing vor dem Hintergrund einer zunehmenden Fragmentierung der konsumentenseitigen Aufmerksamkeit grundsätzlich vorteilhafte und vielfältige Ansatzpunkte für das zielgruppenspezifische Marketing von Produktinnovationen.
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Rahmenbedingungen des Web 2.0-Marketing
Der Markt für Web 2.0-Anwendungen entwickelt sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Allein im Zeitraum Dezember 2008 bis Dezember 2009 erhöhte sich die Anzahl der weltweit erreichbaren Internetseiten um 21 Millionen auf insgesamt 207 Millionen websites. Dies bedeutet, dass das Angebot an websites monatlich um durchschnittlich 1,75 Millionen Seiten wächst – rund 15 Jahre nach der Einführung des Internets (vgl.: netcraft (2010): news.netcraft.com/archives/2008/12/24/ december_2008_web_server_survey.html). Für werbetreibende Unternehmen stellt sich somit die Frage, wo, wie und wann die Markteinführung von Produktinnovationen innerhalb des Internets am besten kommuniziert werden kann. Angesichts der schieren Anzahl von Internetseiten erscheint eine bloße Vermarktung neuer Produkte auf der unternehmenseigenen Seite wenig erfolgversprechend. Ein, wenn nicht das erfolgsrelevante Instrument zur Optimierung der Reichweite von web-Kommunikation sind Suchmaschinen wie Google, Yahoo und Bing. Suchmaschinen sind die Gate Keeper in der virtuellen Welt des Internets. Letzten Endes wird nur die web-Kommunikation empfangen, die über Suchmaschinen erreicht werden kann. Insofern besteht, seitdem es Suchmaschinen und Verzeichnisse gibt, auch der Wunsch in selbigen gelistet zu sein – am liebsten auf der ersten Seite einer Trefferliste. Vor diesem Hintergrund erfreut sich die Optimierung
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von Suchmaschinenergebnissen (Search Engine Optimization, SEO) seit Jahren großer Nachfrage seitens der werbetreibenden Unternehmen. Auch wenn dieses Instrument im Gegensatz zu Schlüsselinstrumenten des Web-2.0 Marketing rein leistungsbezogen (auch: performance channel) ist und keine Interaktionsmöglichkeiten aufweist, so besitzt es beträchtliche Bedeutung für die Unternehmenspraxis. Grundsätzlich bieten sich für die Nutzung der SEO im Rahmen von Produktneueinführungen zwei Optionen: Das Erreichen einer Platzierung im Rahmen der natürlichen Suchergebnisse einer Suchmaschine (Paid Search) oder bezahlte Anzeigen (Key Word Advertising), die in unmittelbarer visuellen Nähe zu Ergebnissen einer produktoder themenbezogenen Suche stehen (vgl.: Erhard (2008), S. 193 f). Ein jüngst entwickeltes Search-Tool ist SMO (Social Media Optimization), bei der durch Verlinkung verschiedener Web 2.0-Applikationen (Widgets) und -plattformen (beispielsweise Facebook, Twitter) die organische Suche von Inhalten innerhalb von Sozialen Netzwerken gefördert werden soll (vgl. für Social Media Optmization: Jaron.de (2010): http://www.jaron.de/smm-social-media-marketing/). Als grundsätzliche Trägermedien zur Platzierung werblicher Kommunikation eignen sich die websites von Communities, Entertainment- oder Informations-Anbietern (vgl. Berge/Buesching (2008), S. 25). Vor dem Hintergrund aktueller Rezeptionsstudien, die verstärkt auf eine zunehmende Informationsüberflutung vieler Konsumenten und steigende Streuverluste der Werbung hinweisen, erhält die bedürfnisspezifische Anpassung von Kommunikationsinhalten große Bedeutung (vgl. Die Zwei (2006), http://zeitung.diezwei.de/de-index-artikel-203.html. Vgl für Reizüberflutung in der Werbung: Kotler et. al. (2009), S. 691. Vgl. für Indikator zu Streuverlusten: Newspaper Association of America (2010): www.naa.org/TrendsandNumbers/AdvertisingExpenditures.aspx). Beispielhaft zeigen SCHMIDT ET. AL. (2006) in einer Studie über die externen und internen Kommunikationspotentiale von UnternehmensWeblogs, dass trotz der zunehmenden Informationen im Netz die Mehrheit von Bloglesern ausdrückliches Interesse an Unternehmensinformationen haben – vorausgesetzt, die Weblog-Inhalte haben persönliche Relevanz (vgl.: Schmidt et. al. (2006): www.fonk-bamberg.de/pdf/fonkbericht0601.pdf). Vor diesem Hintergrund konzentrieren sich viele Werbetreibende auf registrierungspflichtige Communities, deren Mitglieder Profildaten angeben und somit den Unternehmen Ansatzpunkte für zielgruppenorientiertes Web-Marketing auf Basis von validierten Identitäten und Interessen liefern (vgl.: Berge/Buesching (2008), S. 27). Eine von GREENWICH CONSULTING entwickelte Community-Matrix liefert einen Ordnungsrahmen für Werbe
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treibende zur Nutzung potentieller Trägermedien. Hierbei werden die potentiellen Plattformen für die Platzierung von Kommunikationsinhalten nach ihrer Tauglichkeit für Massenmarkt- oder individualisierte Werbung untergliedert. Prinzipiell, so die Aussage dieses Modells, steigt der werbliche Wert von Web 2.0-Plattformen mit dem Grad der verfügbaren Informationen über dessen Nutzer. Die nachstehende Abbildung 1 veranschaulicht die Kategorisierung von Communities aus Sicht der Plattformbetreiber und potentieller Werbetreibender (vgl.: Schmidt (2008), S. 27. Vgl. hierzu auch: Greenwich Consulting (2008): www.greenwich-consulting.com /templates /greenwich.php?NodId=118).
Abbildung 1: Greenwich Consulting Community-Matrix
Trotz der allgemeinen Zunahme der Geschäftstätigkeiten innerhalb der Net Economy, differieren die Möglichkeiten für den Einsatz von Web 2.0-Marketing nach Branchen sowie dem Ausmaß der Autonomie und Mitbestimmung seitens der Konsumenten. Im Hinblick auf die Potentiale von web-Communities zur Verbreitung von Kommunikationsinhalten im Zuge von Produkteinführungen bestehen ebenfalls große Unterschiede bezüglich der Verwendbarkeit von Inhalten, Medienformaten sowie der Kommunikationsintensität – in ihrer Gesamtheit sind die Communities, bezeichnet als Blogosphere, extrem heterogen. Beispielhaft unterscheiden KILIAN/HASS/WALSH (2008) zwischen Weblogs (kurz: Blogs), Consumer Communities (Ciao, idealo), Social Networks (facebook, XING, LinkedIn), File Sharing Communities (youtube,
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Flickr), Game Communities (Gameduell) sowie Wikis (Wikipedia) und BookmarkingDiensten (Del.icio.us) (vgl. Kilian/Hass/Walsh (2008), S. 12-14).
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Chancen und Herausforderungen des Web 2.0-Marketings
Überwiegende Einigkeit herrscht in der Literatur über die grundsätzlichen Vorteile und Herausforderungen durch die Nutzung des Web 2.0. Das heutige BreitbandInternet und die Vielzahl digitaler Distributionskanäle bieten Unternehmen die Möglichkeit, zu akzeptablen Kosten nicht nur die Rolle des Absenders sondern auch des Werbeträgers einzunehmen – und gleichzeitig in einen tiefgreifenden Dialog mit den Adressaten der Produktkommunikation zu treten (vgl. Göttgens/Dörrenbacher (2008), S. 214). Somit bietet Web 2.0-Marketing die Chance zu mehr Markt- und Kundennähe – bei deutlicher Reduzierung der Kontaktkosten und Streuverluste, verbessertem Unternehmensimage dank erhöhter Authentizität und Weiterempfehlung sowie eine Erhöhung der Konsumentenloyalität durch dialogische Erlebniskommunikation durch Audio, Video und Interaktivität „auf Augenhöhe“ (vgl.: Mühlenbeck/Skibicki (2007), S. 81 ff.; Chaffey et al. (2008), S. 4 ff.; Wirtz (2009), S. 617 ff). Kurzum: Web 2.0Marketing bietet seinen Nutzern eine Umgestaltung der Hersteller-KundenKonsumenten-Beziehung mit der Aussicht auf eine nachhaltige Steigerung des unternehmerischen, finanziellen Erfolges. Auf der anderen Seite ist eine nicht geringe Anzahl von Risiken zu nennen, die während der Konzeption eines Web 2.0-Marketings bedacht werden sollten. Die sicherlich größte Herausforderung ist der Umgang mit der Stärkung der Marktmacht auf Seiten der Internet-User. Durch umfassende Informationsmöglichkeiten, verbreiterte Auswahlmöglichkeiten, unmittelbarere Auftragserteilung sowie eine vereinfachte Kontaktaufnahme zu anderen Konsumenten haben Nutzer des Web 2.0 Möglichkeiten, die Markenwelt eines Unternehmens aktiv mitzugestalten. Diese Neuverteilung von Machtanteilen innerhalb der Marken-Konsumenten-Kommunikation bezeichnen verschiedene Autoren als Customer- oder Consumer Empowerment sowie Konsumentendemokratie (vgl. Wieser (2008), S. 49-52; Walter/Saldsieder (2010), S. 130. Vgl. dazu auch: Blutner/ Lüde (2009); Toffler (1983); Deckstein (2001); Hanekop et. al. (2001)). Im Gegensatz zu klassischen Kommunikationsmitteln ist Web 2.0Marketing tendentiell unkontrollierbarer, da die Steuerung der Kommunikation von Seiten der Nutzer erfolgt. Insbesondere die Befähigung der Internetuser mittels der
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Web 2.0-Anwendungen eine Meinung kollektiv zu formulieren, diese überdies im Sinne einer negativen Schwarm-Intelligenz weiterzuentwickeln, stellt eine große Herausforderung für das Marketing von Unternehmen dar. Somit besteht gerade bei der kommunikativen Begleitung von Neueinführungen grundsätzlich die Gefahr von Imageschäden und darüber hinaus von nachhaltigen Umsatz- und Ertragseinbußen. Insbesondere das Vorgehen gegen missliebige Verbrauchermeinungen oder der Versuch, in Folge von Zensur-Bemühungen ungewünschte Informationen aus dem Netz zu entfernen, verkehren sich gerade in der virtuellen Welt zu dramatischen Nachteilen für die Werbetreibenden. In Analogie zu den vergeblichen Bemühungen der U.S.-Schauspielerin Barbara Streisand, Fotos von Ihrer Villa aus dem Internet entfernen zu lassen, spricht man auch vom Streisand-Effekt (vgl.: Kleintz (2008): http://www.focus.de/digital/internet/wikipedia-sperrung-lutz-heilmann-und-der-streisand -effekt_aid_349124.html). Somit erscheint der Internetnutzer weniger „Kunde als König“, als vielmehr „der Boss der Unternehmen“ (vgl. für eine konsequent konsumentenbezogenen Unternehmensausrichtung: Lafley/ Charan (2008): http://money.cnn.com/2008/03/07/news/companies/lafley_charan.fortune/index.htm? Vgl. für Beispiel der Meinungsmacht der Blogosphere: Dambek (2006): http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,397397,00.html). Auf instrumentaler Ebene, wenn es um die tatsächliche, operative Umsetzung von Web 2.0-Aktivitäten geht, warten weitere Herausforderungen auf die Unternehmen. Für Werbetreibende sind nur die Web-Plattformen interessant, die ihre Nutzer langfristig binden und zur Interaktion motivieren können. Deshalb konzentrieren sich die Koordinationsbemühungen der Seitenbetreiber in erster Linie auf einen möglichst passgenauen Fit (auch: Matching) von Kommunikationsangebot und -nachfrage zur Erzielung einer konsumentenseitigen Akzeptanz (vgl. hierzu: Kollmann (2000)). Nach Ansicht von KOLLMANN/STÖCKMANN (2008) kann nur dann von Akzeptanz gesprochen werden, wenn sich die Teilnehmer über eine Registrierung von Sicherungssystemen, gleichgesetzt mit dem Kaufakt, Zutritt zu der Web 2.0-Plattform verschaffen (Anschlussakt), das Angebot nutzen, indem sie Information abrufen oder einstellen (Nutzungsakt) sowie mit anderen Plattformteilnehmer in Interaktion treten (Interaktionsakt, auch: Abwicklung des Matching). Da die Attraktivität von WebPlattformen in direktem Zusammenhang mit der Anzahl der Teilnehmer steht, stellt die kritische Masse, mit der das Angebot im Internet Bekanntheit und Nachfrage erreicht (auch: tipping point), einen bedeutsamen Faktor für die erfolgreiche operative Umsetzung von Web 2.0-Marketing dar (vgl.: Dieckmann (2010), Persönliches Interview vom 26.02.2010; Kollmann/Stöckmann (2008), S. 44).
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Die zentrale Zielgröße zur Beurteilung einer nachhaltig kritischen Masse von Web 2.0-Plattformen ist der Diffusionsgrad. Dabei ist zu beachten, dass die Diffusion nicht im Hinblick auf ein einmaliges Ereignis (Produktkauf = Adoption) sondern als wiederkehrendes Ereignis (Mehrfachereignis = Akzeptanz) gesehen werden muss. Eine vollständige Diffusion gilt dann als erreicht, wenn alle Interaktionen und damit das gesamte Transaktionsvolumen auf einer Plattform erfolgt. Bei der Beurteilung des Diffusionsgrades aus Sicht der Werbetreibenden sind vor allem drei Problemfelder zu beachten. Diese sind erstens: Quantitative Aspekte im Hinblick auf den Impulsgeber der Plattformaktivitäten (Wer beginnt die Kommunikation: Rezipient oder Werbetreibender, auch: Chicken-Egg-Dilemma) sowie die Ausgewogenheit von AnbieterNutzern-Relation (Doppeltes-Kritische-Masse-Problem), zweitens die Qualität der Nutzer im Sinne des Fits mit der Produktneueinführung sowie drittens die Berücksichtigung ethisch-rechtlicher Aspekte wie die Möglichkeit zur freien, aber nicht diskriminierenden Meinungsäußerungen innerhalb der Verwendergruppe und die Berücksichtigung von Urheber- als auch Persönlichkeitsrechten (vgl.: Kollmann /Stöckmann (2008) S. 48 f). Zur Illustration der Chancen und Herausforderungen eines Web 2.0-Marketings für die Einführung von Produktinnovationen, sollen die folgenden Fallbeispiele dienen.
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Beispiele aus der Unternehmenspraxis
Für eine übersichtlichere Ordnung der nachstehenden Praxisfälle wurde zunächst eine Gruppierung nach weniger erfolgreichen und erfolgreichen Web 2.0Marketingaktivitäten zur Einführung neuer Produkte vorgenommen. Als Hauptgründe für das Scheitern von Web 2.0-Marketing nennt DIECKMANN (2010): Falsche und/oder nicht authentische Kommunikation, das nicht-erreichen holistischer Kommunikation sowie die Unterbrechung von Kampagnen.
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Nina Saldsieder und Kai Alexander Saldsieder
Gescheiterte Markteinführungen aufgrund nicht-verstandenem Web 2.0 Marketings
5.1.1 Nichtauthentische Kommunikation Beispiel XING: Das Social Network startete im Februar 2010 eine TestimonialKampagne mit dem Titel „Und es hat XING gemacht…“. Ziel der neuen Kampagne war es, die Mitglieder der Social Community der Business-Networking-Plattform in den Mittelpunkt zu stellen – „[…] vorm PC, bei ihrem individuellen „XING-Moment“: der Traumjob, der passende Experte fürs Projekt – oder mehr Kontakte als der eigene Sohn.“, um so die konkrete Verwendungssituation mit den vielfältigen Nutzen des XING-Portals aufzuzeigen (Ahamer, H. (2010): http://blog.xing.com/2010/02/und-eshat-xing-gemacht/) KOTLER ET. AL. (2009) betonen im Hinblick auf die Verwendung von Testimonials (lat. testimonium = Zeugnis, Beurteilung, Beweis) die Bedeutung der wahrgenommenen Objektivität und Unabhängigkeit der Personen in Bezug zu der Marke oder das Produkt, für die sie eine Referenz angeben (vgl.: Kotler et. al. (2009), S. 699). Bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung der XING-Kampagne erschien in HORIZONT.NET ein Blog, der darauf hinwies, dass die von XING verwendeten Testimonials mitnichten unabhängig sondern vielmehr allesamt Angestellte des Unternehmens seien (Spießer (2010): http://off-the-record.de/2010/02/24/es-hat-xing-gemacht-undder-spiesser-lacht/, 24.02.2010). Somit erscheint die Markenkommunikation von XING im Hinblick auf die Aussagen der Referenzpersonen nur bedingt glaubwürdig. Darüber hinaus zeigen die bislang im Internet veröffentlichen Reaktionen in Foren und Blogs einen negativen Spill-over-Effekt auf das Unternehmen.
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Abbildung 2: Testimonial-Kampagne von XING Quelle: XING (2010): http://www. slideshare.net/XING_com/xingkampagne und es hat -xing-gemacht
Beispiel Süddeutsche Zeitung: Im Zuge der Digitalisierung von Print-Medien bietet die Süddeutsche Zeitung seit Anfang 2010 eine mobil-Version ihres onlineNachrichtenportals für das Apple iPhone an ( Süddeutsche Zeitung (2009): http://www.sueddeutsche.de/app/service/iphone/). Nach kurzer Zeit erschien im Medienblog UPLOAD (2010) ein Bericht, in dem die Leserschaft darüber unterrichtet wurde, dass Blog-Beiträge, die auf der Plattform Trigami positiv über das neue iPhone-App der Süddeutschen Zeitung erschienen sind, von dem Plattformbetreiber dafür bezahlt wurden (vgl.: Derrer (2010): http://multimediaethik.wordpress. com/ 2010/01/18/suddeutsche-zeitung-bezahlt-blogger-fur-positive-besprechung-ihreriphone-app/; o. V. (2010), o. V. (2010): www.randzone-online.de/?p=5106; Fleischmann (2010): www.maclife.de/iphone-ipod/iphone/sueddeutsche-bezahlt-blog-rezensionen). Teil der Ausschreibung sei es gewesen, dass die Blogger nach dem Herunterladen von zusätzlichen Softwarepakten für das iPhone (Application, auch: App) auf der online-Handelsplattform für Apps einen möglichst positiven Kommentar hinterlassen. Außerdem habe der Auftraggeber gleich diverse positive Textbausteine mitgeliefert, die die Blogger in ihren Berichten einbauen können (vgl. heise online (2010): http://www.heise.de/newsticker/meldung/Sueddeutsche-Zeitung-zieht-BlogWerbung-fuer-iPhone-App-zurueck-906929.html; für Beispiele der vorgefertigten Textbausteine vergleiche: Tißler (2010): http://upload-magazin.de/blog/4943
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sueddeutsche-iphone-app-trigami/). Aufgrund der Reaktionen der Blogosphere auf die Web 2.0-Aktivitäten der Zeitung anläßlich der Neueinführung des iPhone Apps stoppte die Süddeutsche Zeitung weitere Blog-Aktivitäten auf der Trigami-Plattform. Trigami ist nach eigenen Angaben eine führende Agentur für Social Media Marketing mit dem Ziel, Blogger sowie andere Meinungsmacher des Internets mit Unternehmen zusammenzubringen ( vgl.: Trigami AG (2010): http://www.trigami.com/faq/article/1). Wie das online-Magazin des zweiten deutschen Fernsehens, HEUTE.DE, berichtet, sind diese und ähnliche Fälle, in denen Unternehmen versuchen Blogs, Foren oder Bewertungsportale für ihre Werbung zu nutzen, keine Seltenheit. HUWENDIEK (2009) nennt beispielhaft den Versuch des U.S.-amerikanischen Herstellers von Lebensmittelzusätzen, Urban Nutrition, über Diät-Seiten mit Namen wie WeKnowDiets.com und GoogleDiets.com, um für seine Produkte zu werben. Auch virtuelle Shops seien im Fokus von kontrollierter, unlauterer Kommunikation. Der USamerikanische Hersteller von Elektronik-Zubehör, die Firma Beklin, soll angeblich 65 Cent für wohlwollende Produkt-Rezensionen auf dem Internetmarktplatz Amazon gezahlt haben ( Vgl.: Huwendiek (2009): www.heute.de/ZDFheute/inhalt/ 11/0,3672,7911147,00.html). Diese und andere Beispiele zeigen die Bedrohungen durch nichtauthentische Kommunikation im Internet und deren Folgen für das Unternehmensimage.
5.1.2 Nicht holistische Kommunikation Beispiel Krombacher Brauerei: Seit 2002 wirbt die deutsche Bierbrauerei Krombacher mit verschiedenen Slogans („Handeln und genießen“, „Gute Sache, gutes Bier“, „Schützen sie 1m² Regenwald“) nicht nur für Ihr eigenes Produkt sondern auch das soziale Engagement des Unternehmens zur langfristigen Sicherung eines Regenwald-Gebietes im Gebiet des Dzanga River, einem Nebenfluß des Kongo. Als Hauptinstrumente zur Kommunikation der wirtschaftlich erfolgreichen Initiative nutzte das Unternehmen über die Jahre TV und Kino-Werbung sowie den Einsatz verschiedener bekannter Persönlichkeiten wie den Fernseh-Moderator Günther Jauch oder die Tennisspielerin Steffi Graf, Fußball-Idol Rudi Völler sowie Kabarettist und Schauspieler Ottfried Fischer (Vgl.: o.V. (2003): http://www.horizont.net/aktuell/ marketing/pages/protected/Jetzt-auch-mit-Steffi-Graf-Krombacher-erweitert-RegenwaldProjekt_43889.html). Während im Rahmen der Fernsehwerbung vorrangig das Produkt beworben wurde, entstand parallel im Internet eine breit gefächerte ProjektKommunikation mit Hintergrundinformationen über die Gefährdung des Dzanga
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Sangha-Regenwaldes in Afrika und seinen Auswirkungen auf die gesamte Umwelt, den Stand des Spendenaufkommens und der -verwendung, einer detaillierten Darstellung aktueller Projekte (Solaranlagen, Wiederaufforstungen), Newsletter, einem Reise-blog unter Beteiligung des TV-Moderator Dirk Steffens rund um das Projekt, aber auch Eindrücken zu Land und Leuten sowie weiterhin einem video-making-of, Screensaver und Wallpaper für den eigenen PC interessierte Internetuser (Vgl.: Krombacher (2010): www.krombacher.de/regenwald/index.php).
Abbildung 3: Internetseite des Krombacher Regenwald-Projekt Quelle: ebd.
Zuletzt integrierten die Seitengestalter ein Gewinnspiel für die Internet-Community. Somit realisierte die Brauerei für die Kommunikation des Regenwald-Projektes einen aufmerksamkeitsstarken Auftritt unter Einbindung von Marken-Botschaft und -erlebnis, leider jedoch ohne eine durchgängige Verknüpfung zu anderen Medien. Entgegen einer holistischen Kommunikation bestand zwischen den verschiedenen Medienkanälen keine konsistente und aufeinander abgestimmte Projektkommunikation. Während zumindest im Handel eine schlaglichtartige Kommunikation des Projektes zu erkennen war, so lief die alte tv kampagne einfach durch. Damit ist das Regenwald-Projekt ein Negativbeispiel holistischen Marketings, trotz einer substantiellen Web 2.0-Gestaltung.
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5.1.3 Unterbrechung von Kampagnen Beispiel Procter & Gamble: 2003, weit vor vergleichbaren Casting-Shows, startete der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble einen Model Contest im Internet (Vgl. für Pantene-Model-Casting: Cosmoty. (2005): www.cosmoty.de/news/179/; www. presseportal.de/print.htx?nr=482959). Mit Hilfe des Wettbewerbes wollte das U.S.amerikanische Unternehmen Kandidatinnen für die Hauptrolle eines geplanten TVWerbespots der Haarpflege-Marke Pantene-Pro V auswählen (casten) und besetzen. Über das Internetportal Pantene.de wurde ein umfangreiches online-Programm entwickelt, um potentielle Models für eine Bewerbung zu begeistern. Frauen konnten ihr Foto auf der Seite hochladen, um an einer Online-Abstimmung (Voting), wie es auf Endverbraucher-Portalen (hier: C2C, Customer-to-Customer) wie hotornot.com angeboten wird, teilzunehmen; zusätzlich konnten die Teilnehmer über refer-a-friend messages gleichzeitig Freunde zur Unterstützung der eigenen Kandidatur animieren (Vgl. für refer-a-friend: Bronto Blog (2009): http://blog.bronto.com/2009/07/17/bestpractices-for-running-refer-a-friend-campaigns/). Da durch die Nutzung des C2CInstruments die Wahl des Pantene-Prov V Models komplett in die Hände der Endkunden gegeben worden wäre, entschied sich das Unternehmen schlussendlich, die beliebtesten Kandidatinnen der Online-Abstimmung seinerseits zu einer Gala einzuladen, im Rahmen derer die Auswahl eines Models nach konkreten Markengesichtspunkten (Haarfarbe und -länge, Hauttyp, Ausstrahlung etc.) durch eine zehnköpfige Jury, unter anderem mit der Beteiligung der Schauspielerinnen Yasmina Filali und Cosima von Borsody sowie Mitarbeitern von P&G und der gestaltenden Werbeagentur, erfolgte. Neben diesem inhaltlichen Bruch von on- zu off-line Kommunikation wurde die TVCopy erst nach einigen Monaten im Fernsehen eingesetzt, allerdings im Rahmen eines holistisch aufgesetzten above- und below-the-line-Kommunikationskonzeptes in Szene gesetzt. Im Hinblick auf die Durchführung der Web-Kommunikation ist kritisch zu bemerken, dass die mehreren zehntausend, mit Email-Adressen erfassten Teilnehmer der gesamten Votingphase nach Abschluss der Kampagne nur zweimal direkt angeschrieben wurden – nach der Entscheidung der off-line Gala (mit etwas komplizierter Kommunikation, warum nun ein anderes Modell gewonnen hat, als es die User im Internet wollten) und dann nach mehreren Monaten mit dem Hinweis auf die neue Copy. In beiden Fällen wurde es versäumt, die Mitglieder der gewonnenen Pantene-Community verbindlich für die Marke weiterhin einzubinden (Vgl.: Diekmann (2010), Persönliches Interview vom 26.02.2010). Somit hat sich das Unternehmen
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trotz pionierartiger Leistungen im Web -Marketing schlussendlich selbst um den Erfolg und die Unterstützung der Online-Community gebracht.
5.2
Erfolgreiche Markteinführungen
Neben den bereits genannten, weniger erfolgreichen Web 2.0-Marketingaktivitäten sollen beispielhaft positive Fälle gelungener online-Kommunikation für die Einführung von Produktinnovationen genannt werden: Beispiel Unilever: 2008 startete Unilever die Neueinführung des Deodorants Axe Dark Temptation. Für die Kommunikation des Produktes entwarf der Konsumgüterhersteller eine holistische Marketingkampagne zum „Anbeissen“: Der Schokoladenmann, der als Hauptprotagonist auf subtile Weise die Axe-Duftvariante versinnbildlichen soll. Im Zentrum des Werbekonzeptes stand ein 30-Sekunden-Spot der neuen Dark-Temptation-Linie, die für ihre kreative Gestaltung noch im selben Jahr auf den Filmfestspielen in Cannes mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. In dem Film sprüht sich der Darsteller nach der morgendlichen Dusche mit dem Deodorant Axe Dark Temptation ein. In einen Schokoladenmann verwandelt, begibt er sich anschließend nach draußen und wird auf seinem Weg von zahlreichen Frauen „angeknabbert“.
Abbildung 4: Video Axe Dark Temptation Schokoladenmann auf YouTube mit Affiliate Marketing – Elementen
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Die cross-mediale Vernetzung der Einführungskampagne erscheint ideal. Neben klassischen Instrumenten wie TV und Print nutzte Unilever vor allem below-the-lineInstrumente wie Citylight-Plakate in U-Bahnen und Bussen sowie Postkarten in der Szenegastronomie (vgl. Hebben (2009): www.horizont.net/aktuell/marketing /pages/ protected/Unilever-praesentiert-Axe-zum-Anbeissen-lecker_87051.html, 08.09.2009). Entgegen vorangegangen, oftmals lauten und lustbetonten Kampagnen, wie "The Axe Effect" oder "Boom Chicka Wah Wah", setzte Unilever bei der Einführung von „Dark Temptation“ auf subtile Kommunikation. Der Einbindung von Web 2.0Anwendungen wurde für die Erreichung der vielschichtigen Zielgruppe für Deodorants in hohem Ausmaß berücksichtigt. Neben einer Produkt-Website nutzte Axe auch zwei der drei größten Social Network-Plattformen in Deutschland: Facebook und StudiVZ. User von Facebook und StudiVZ können über selbst erstellte Applikationen ihre Freunde "anknabbern", auf dem Facebook-Portal wird das Profilbild des kontaktierten Users mit einer Biss-Spur versehen und in der Timeline des Benutzers – also auf dessen Profilseite – hinterlegt. Bei StudiVZ erscheint ein Banner auf der Profilsite des Nutzers, dabei wird auf einen kompetitiven Aspekt der Kampagne hingewiesen: Axe verlost Preise für die Internetuser, die am häufigsten „angeknabbert“ werden (vgl. Jahnke (2009): www.internetworld.de/old/Der-Schokomann-geht-um. 120.0.html?viewfolder=091123&viewfile=24_15_01_marketing). Mit dieser Vorgehensweise integriert Unilever die Kommunikation des neuen Produktes in die grundlegenden Strukturen der Social Communities effektvoll, da sie auf der sozialen Interaktion der User fußt und nicht auf Produktwerbung an sich. Hierdurch erreicht die Information über das neue Produkt auf spielerischem Weg eine humorgeladene und unaufdringliche Präsenz in der potentiellen Konsumentengruppe. Weitere sehr zielgruppenorientierte Instrumente sind zum einen der Einsatz einer AmbientAktion sowie die Einbindung eines Corporate Game. Im Rahmen der Ambient-Aktion können männliche Community-Mitglieder über das Portal von Facebook oder die Produkt-Website täglich 1.000 „Chocolate Boxes“ an eine Frau ihrer Wahl versenden lassen. Zum Abschluss der Aktion, bei der insgesamt 75.000 Schokoladen-Pakete zum Einsatz kamen, wurde ein weiteres Video auf YouTube platziert, daß den mutmaßlichen Nutzen der Schokoladensendung für die Frauen und die Absender humorvoll zusammenfasst (Vgl.: TheAXEOnline (2010): www.youtube.com/watch? v=iI28-EKCSlU&feature=channel).
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Abbildung 5: Corporate Game Axe Dark Temptation – Spielszenen
Das Corporate Game ist auf einer separaten Website platziert und stellt den TV-Spot in spielerischer Weise nach, in dem die Spieler als Schokoladenmann vor schokoladengierigen Frauen fliehend innerhalb einer gesetzten Zeit unbeschadet entkommen müssen. Abgerundet wird auch diese Seite durch verschiedene Extras, wie beispielsweise „Experten-Tipps“ von „Axe für Männer“, um die Frau des Herzens zum Valentinstag glücklich machen zu können, Downloads von Wallpaper und Screensaver-Motiven sowie Weiterleitungs- und Empfehlungsfunktionen mittels virtueller Postkarten und Emails. Explizite Informationen zum Produkt sind separat abrufbar, jedoch wird die Seite von subtileren viralen Elementen dominiert (vgl.: Rassler, S. (2009): http://www.corporate-web-lounge.de/corporate-web/muchas-mist/2051; vgl. für Axe Corporate Game: www.axedarktemptation.com/home.asp). Beispiel Procter & Gamble: 1990 akquirierte der Konsumgüterhersteller die Markenrechte für die seit 1937 von der Shulton Company hergestellten Herrenduftprodukte namens Old Spice. Während Old Spice eine Zeit lang als klassische Herrenduftmarke galt, verschwand sie über die Jahre in weiten Teilen aus den Regalen des Einzelhandels. Eine 2006 vom IFAK-Institut durchgeführte online-Erhebung unter über 19.000 Befragten veranschaulicht die geringe Attraktivität der Marke: Auf die Frage „Kaufen Sie bei Herrenkosmetik die Marke Old Spice?“ antworteten gerade einmal 2% mit „Ja“, 98% der Befragten lehnten einen Kauf der Marke ab (Ifak Institut (2007): http://de.statista.com/statistik/diagramm/studie/36366/umfrage/kauf-der-herrenkos
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metik-marke-old-spice/). Old Spice, so der Tenor, erscheint vielen Konsumenten angestaubt und nicht mehr zeitgemäß (vgl. o.V. (2010): http://www.trendish.de/mode-akosmetik/1363-old-spice-neue-werbekampagne-wird-kult-.html, 25.02.2010). 2009 startete Procter & Gamble in den U.S.A. einen Relaunch der Marke. Im Fokus der Kampagne stand eine Rückbesinnung auf den Markenkern: Klassisch, zeitlos, männlich. Old Spice präsentierte sich als treuer Begleiter echter Männer und deckte die Gruppen der Gentlemen, wie auch urwüchsiger Vertreter der Spezies ab. Dementsprechend lautete der aktuelle Slogan: „Smell like a man, man“. Die Produkteinführung wurde neben klassischen Elementen (TV, Print, below-the-line) vor allem über das Internet kommuniziert. Im Gegensatz zur bisherigen Old SpiceKommunikation gibt sich die Marke selbstironisch, überzeichnet. Begleitendende Videos wurden auf YouTube platziert und erreichen hohe Nachfrage- und Beurteilungswerte. Überdies wurde die Homepage oldspice.com überarbeitet und mit grundlegenden Web 2.0-Features versehen.
Abbildung 6: Old Spice Homepage - Introvideo Quelle: Procter & Gamble (2010): www.oldspice.com
Nach einem humorvollen Introvideo durch einen Gentlemen, der Tipps zum Verstehen der Damenwelt preisgibt, werden verschiedene Wahlmöglichkeiten zu einem Twitterportal mit vorformulierten Liebesbotschaften an die Frauen (Romance your Lady, Man), Videos (Watch my Spot, Man), einem Merchandising-Shop für Sie und Ihn, einem zielgruppenorientiertem Blog (Man Thoughts), Berichterstattung rund um den NASCAR-Autorennfahrer Tony, aber auch eine direkte Verlinkung zu Händler
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portalen zum Kauf der aktuellen Produkte (Follow your nose), angeboten. Das Old Spice Web-2.0 Marketing zur Einführung des Markenrelaunches überzeugt durch seinen starken Fokus auf die soziale Interaktion, die humorvolle Einbindung der Seitenbesucher, der Entwicklung einer eigenen produktnutzenbezogenen Community (Swagger: Don’t just smell good – look like you smell good) sowie die intensive Verbindung zu offline-Instrumenten. Beispiel Henkel: Ernster und in kulturell angepasster Tonalität präsentiert der deutsche Hersteller Henkel ein Multi-Brand-CRM-Programm mit dem Namen „Henkel lifetimes“. Über ein online-Portal werden registrierten Nutzern über ein Magazin Informationen zu aktuellen Trends in den Bereichen Mode, Wohnen, Haushalt sowie Empfehlungen für Reisen und Kochrezepte dargeboten. Praktische Tipps rund um das Thema Haushaltsreinigung und -pflege erhalten User im Bereich Ratgeber sowie konkrete Produktempfehlungen und Hintergrundinformationen unter der Rubrik Henkel Welt. Interessierte können sich einem Club anschließen, wodurch sie newsletter mit Inhalten zu Familie und Haushalt sowie Gutscheine und Proben erhalten. Über einen Ideenpool befragt Henkel die Communitymitglieder regelmäßig zu Leistungsfähigkeit und Verbesserungspotentialen der eigenen Produkte, wobei sich die Teilnehmer automatisch für Gewinnspiele und Verlosungen qualifizieren.
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Abbildung 6: CRM-Plattform Henkel Lifetimes Quelle: ebd. Mit dieser Onlinepräsenz erreicht Henkel eine direkte Kommunikation mit seinen Verbrauchern auf Augenhöhe. Bislang haben sich knapp 700.000 Mitglieder für eine aktive Teilnahme am Leben innerhalb der Henkel lifetimes-Plattform entschieden (vgl.: Henkel AG (2010): www.henkel-lifetimes.de).
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Implikationen für die Unternehmenspraxis und Forschung
Das Internet hat die Welt des Marketings bereichert. Für die werbetreibenden Unternehmen bedeutet das Aufkommen der virtuellen Welt nicht nur die Ausdehnung der bestehenden Kommunikationsmedien um einen weiteren Kanal, sondern vor allem eine qualitative Erweiterung des Marketinginstrumentariums. Wie bereits aufgezeigt, stehen den vielversprechenden Chancen des Web 2.0 eine Vielzahl Risiken gegenüber, die nicht wenige Unternehmen vor erhebliche Herausforderungen stellen. Fest steht: Marketing-Kampagnen für die Einführung von neuen Produkten lassen sich nicht eins zu eins auf das Medium Internet übertragen. Zu gering sind die Steuerungsmöglichkeiten der Internetkommunikation, zu beachtlich potentielle Image- und Ertragseinbußen. Wie auch bei der Gestaltung klassischer Kommunikation sollten im Vorfeld von Web 2.0-Aktivitäten grundlegende Fragen geklärt werden. Der erste Schritt sollte der Bestimmung der Zielgruppe gewidmet werden. Durch die Möglichkeit zur Interaktion kommt es innerhalb des Internets zur Bildung von Gruppen, Communities, die in ihren Interessen nicht durch gängige Zielgruppenmilieus zu erfassen sind. In pragmatischer, praxisorientierter Hinsicht empfiehlt es sich deshalb, die eigene Zielgruppe zu skizzieren und anschließend eine dazu passende Plattform zu suchen: Was sind die Grundbedürfnisse der Gruppe in Bezug zu meinem Produkt? Welche weiteren Interessen und Aktivitäten stehen dazu grundsätzlich in Beziehung? Für eine weitere Ausdifferenzierung empfiehlt sich ein Blick in das interne Controlling: Inwiefern kann ich innerhalb meiner aktuellen Kundschaft Cluster nach Ertrags- und Umsatzgrößen Ist- und Potentialgrößen bilden? Eine fundamentale Aufgabe ist die Analyse der eigenen Marken-Positionierung für das neue Produkt. Spricht die Innovation eher das „Herz“ oder den „Kopf“ der Betrachter an? An dieser Stelle müssen die Produkteigenschaften in Konsumentennutzen übersetzt werden. Im Kern geht es dabei um eine Aufsplittung der einzelnen Markenelemente und die Beantwortung der Frage, inwieweit diese einen tatsächlichen Grund- oder Zusatznutzenbeitrag aus Sicht der Verbraucher darstellen können. Im Anschluss an die strategische Ausrichtung und der Bestimmung der Positionierungs- und Differenzierungsmerkmale sind weitere Fragestellungen im Hinblick auf die operative Umsetzung zu klären. Welche Instrumente des Web 2.0-Marketings erscheinen angemessen für eine effektive Kommunikation der Produktneueinführung.
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Der Aufwand zur Installation und nachhaltigen Unterhaltung einer Web 2.0-Plattform erscheint nicht für jede Marke und jedes Produkt inhaltlich sinnvoll und auch betriebswirtschaftlich angemessen. Grundsätzlich gilt: Die Mehrkosten für die Nutzung des Medienkanals Internet müssen sich für das Unternehmen auszahlen. Insofern ist zu klären, inwiefern es adäquat erscheint, ein neues Produkt tatsächlich durch eine umfassende, auf Interaktion und Dialog ausgerichtete Web 2.0Kampagne in den Markt einzuführen oder ob hierfür nicht eine rudimentäre, eindimensional gerichtete Internetkommunikation hinreichend ist. Für die Beantwortung dieser Aufgabenstellung ist die qualitative und quantitative Substanz der neuen Marke oder des neuen Produktes zu analysieren. In vielen Fällen rechtfertigen Umfang und Art der hiermit verbundenen Inhalte keinen Web 2.0-Ansatz, so dass die Erstellung einer reduzierten Website mit wenigen Unterseiten und geringer Navigationstiefe (microsite) als durchaus hinreichend erscheinen kann. Grundsätzlich ist zu Beginn der Konzeptionsphase zu klären, was die konkrete Zielgröße für ein späteres Marketing-Controlling sein soll: Umsatz, Ertrag – hier würde sich eine Lead Kampagne eignen – oder vielmehr der Aufbau einer nachhaltigen Unique Advertising Proposition, die auf einer Steigerung des Images abzielt. Für den zweiten Fall böte sich eine Branding Kampagne an. Die aktuellen Entwicklungen des Web 2.0-Marketings zeigen eine zunehmende Verbreitung und Popularität von Branding Kampagnen, wie beispielsweise die Einführung des neuen Mini Countryman oder eben die bereits geschilderten Aktivitäten von Unilever (Axe Dark Temptation) sowie Procter & Gamble (Old Spice) (Vgl.: BMW AG (2010): http://www.youtube.com/watch?v=pv_T9Q5FVIw; Abakus (2010): http://trends.abakus-internet-marketing.de/de/k.html?Phrase = 1176547). Aufgrund interner Ressourcenlimitierungen erscheint es ratsam, für die Erstellung und Operationalisierung der Web-Kommunikation eine spezialisierte Agentur einzubinden. Grundsätzlich sollte eine Konzeptentwicklung jedoch nur unter Berücksichtigung von Marktforschungsdaten erfolgen. Darüber hinaus zeigen die Fallbeispiele, wie wichtig eine klare Kenntnis über die Aufenthaltsorte der Konsumenten im Netz ist, andernfalls besteht die Gefahr, dass die gesendete Kommunikation ihre Zielgruppe nicht erreicht und bestenfalls von Empfängern als irrelevant abgetan wird. Somit bietet sich zur Bestimmung zielgruppenaffiner Plattformen die Erstellung einer Orientierungskarte virtueller Aufenthaltsorte der potentiellen Rezipienten an.
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Ein wichtiger Aspekt, der bei der Entscheidung über die Wahl zwischen einer microsite und einer umfassenden Web 2.0-Applikation weiterhin zu berücksichtigen ist, ist die Kenntnis der eigenen Einflussmöglichkeiten auf Steuerung der gesendeten Kommunikation. Die illustrierten Praxisfälle zeigen, dass die „Mitmach-Eigenschaft“ der Konsumenten ein wesentliches Kriterium für die Gestaltung eines Web 2.0Marketings ist. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Kommunikation im Netz grundsätzlich dialogisch abläuft. Für die Werbetreibenden bedeutet dies, dass sowohl die Begeisterung von Werberezipienten als auch deren Verärgerung wesentlichen Einfluss auf den Erfolg einer Kampagne haben – und zwar mit hohen Multiplikatorwerten. Gerade unzufriedene Konsumenten verbreiten mit großer Verve entsprechende Botschaften in unzähligen Foren und Portalen, die ihrerseits wiederum mit weiteren Internetcommunities verbunden sind. Noch vor einigen Jahren hätte der Unmut einer Einzelperson wahrscheinlich lediglich Beachtung in einem begrenzten Personenkreis gefunden, heute jedoch kann dies in schnellster Zeit an tausende von Nutzern weltweit gelangen. Insofern ist zu überlegen, inwiefern ein Unternehmen bereit ist, mögliche Kontrollmöglichkeiten über die Internetkommunikation an die Seite der Konsumenten abzugeben. Der nachstehende Ordnungsrahmen von WALTER/SALDSIEDER (2010) gibt für die grundsätzlichen Optionen einen Überblick (vgl.: Walter/Saldsieder (2010), S. 140 f).
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Möglichkeiten zur Einflussnahme von Unternehmensseite
ANWENDUNGEN IM WEB 2.0
Hoch
„No regrets“ • Online-Nachrichten • Crowdsourcing • Social-BookmarksNetzwerke • Virtuelle Welten
„Focus areas“
• Media-Sharing• • • •
Plattformen Bewertungsportale Foren Hersteller-Websites Händler-Websites
„Minimalists“
„Problem children“
• Blogs/Weblogs • E-Mail/Twitter
• Soziale Netzwerke
Niedrig
Niedrig
Hoch
Ausmaß des Einflusses auf die Marke durch Konsumentendemokratie
Abbildung 7: Einflussnahme auf Web-Kommunikation von Seiten der Werbetreiben und Rezepienten Quelle: ebd., S. 141
Letztendlich lassen die aufgeführten Praxisfälle erfolgreichen Web 2.0-Marketings grundsätzliche Faktoren erkennen, deren Allgemeingültigkeit sicherlich einer weiteren empirischen Untersuchung bedarf. Aus Sicht der Unternehmenspraxis sind diese: Genaue Definition von Zielgruppe und Kommunikationsziel (quantitative kpi´s), Ausrichtung von Kommunikation und vertrieblichen Instrumenten unter Berücksichtigung der Community-Kultur – keine direkte Verkaufsansprache, sondern Betonung des Netzwerkgedankens, Authentizität, Definition relevanter Inhalte und Unterhaltungselemente, kontinuierliche Analyse der kommunikativen Wettbewerbsaktivitäten auf anderen websites, keine Unterbrechungen, keine Medienbrüche, intensive Verbindung von Online- und –Offline-Maßnahmen, Follow-up-Kommunikation direkt nach Interaktion und Abschluss einer Kampagne,
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Nutzung aktueller Monitoring-Tools zur Verfolgung von Kommunikationsrückläufern, Nutzung der Schwarm-Intelligenz der User und Einbindung (Wikis, Open Source Strukturen, Cloud Computing) derselben für Web-Marketing, Produktentwicklung – mit angemessenem Abstand und zeitlich verbindlicher Kommunikation „auf Augenhöhe“, rollierendes Marketingcontrolling mit kontinuierlicher Einbindung bisheriger positiver wie negativer Erfahrungen für folgende Kommunikationswelle (in der Regel nicht länger als maximal zwei Monate) (Vgl.: Diekmann (2007): http://www.marketing-boerse.de/Fachartikel/details/Onlinewerbung-unterstuetztMarkenaufbau, 04.11.2007; Knappe/Kracklauer (2007), S. 103 ff.; Hörner (2007), S. 3 f.; Walter/Saldsieder (2010), S. 142). Für die weitere betriebswirtschaftliche Forschung bietet die zunehmende Verbreitung des Web 2.0 verschiedene Ansatzpunkte. Unter der Vielzahl offener Fragestellungen sind die Folgenden im Hinblick auf Fragestellungen der Unternehmenspraxis besonders interessant: Einfluss des Mediums Internet auf die Veränderungen von betrieblichen Organisationsstrukturen, Integrationsmöglichkeiten des Mediums Internet in den Bereich des klassischen Marketing-Mix, Erfolgsfaktoren des Web 2.0-Marketings unter Berücksichtigung der Besonderheiten diverser Branchen/Funktionen auf Anbieter und Nachfragerseite, Marktpotentiale des Web 2.0 für verschiedene Branchen, Amalgamierung und Vergleichbarkeit von betrieblichen Kennziffern der Online- und Offline-Welt, zuletzt: Konsumentendemokratie – Bestimmung der Rahmenbedingungen, Einflussfaktoren und des kommunikativen Verhaltens von virtuellen Communities. Für die weitere Zukunft ist mit einer zunehmenden Bedeutung des Web 2.0Marketings zu rechnen. Gerade für den Bereich der Markteinführung von Produktinnovationen, in dem aktuell immer noch die Mehrheit der Launch-Initiativen scheitert, bieten sich zukünftig vielversprechende Chancen. In vielen Fällen wird die Rolle des Marketings schlichtweg unterschätzt, obwohl die Polarisierung des Konsums die zunehmende Bedeutung von Marken und die Chancen für Anbieter durch emotionale Differenzierung klar erkennen lassen. Web 2.0-Marketing bietet nicht nur Einsparungspotentiale im Bereich der Kontaktkosten und Streuverluste, Web 2.0-Marketing bietet vor allem den Aufbau einer intensiven, dialogischen und interaktiven direkten Hersteller-Konsumentenbeziehung – und so tatsächlichen Ansatzpunkt für eine
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markt- und bedürfnisgerechte Gestaltung und Kommunikation innovativer Produkte. Die Beispiele des Axe-Schokoladenmanns sowie der Relaunch der Marke Old Spice zeigen eindrucksvoll die Kraft des Web 2.0-Marketings durch die Multimedialität des Mediums Internet und seine damit, von anderen Instrumenten, unerreichten Möglichkeiten, die Sinne potentieller Konsumenten subtil und nachhaltig ansprechen zu können. Somit bietet die Nutzung von Web 2.0-Marketing echte Wettbewerbsvorteile bei der Einführung neuer Produkte. Die weitere Entwicklung des Internets hin zu einem Web 3.0, das mittels semantischer Verknüpfung die sozialen Strukturen der Communities nochmals intensiver gestalten wird, zeigt schon jetzt Perspektiven für eine fortschreitende Integration von Online- und Offline-Welt – und gleichzeitig die weitere Evolutionsstufen des Marketing (Vgl. Für den Begriff Web 3.0: Schmidt, E. (2007): http://iwatchblog.com/2007/08/09/eric-schmidt-definiert-das-web-30/; Wilke/Stumbek /Dell (2007), M.: http://www.ag-nbi.de/lehre/07/S_MWT/Material/ 10 _Web_3_0.pd).
Web 2.0 - Marketing und Produktinnovationen
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Innovationsmarketing im Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität – dargestellt am Beispiel der Modebranche Herbert Loock*
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Einflüsse auf den Prozess des Innovationsmarketing..................................180
2
Innovationsmarketingprozess in der Modebranche .....................................182
3
Rationalität und Emotionalität in der Modebranche .....................................185 3.1 Rationalität.........................................................................................186 3.1.1 Begriff der Rationalität ............................................................186 3.1.2 Rationalität bei Anbietern........................................................188 3.1.3 Rationalität bei Absatzmittlern ................................................189 3.1.4 Rationalität bei Konsumenten .................................................189 3.2 Emotionalität......................................................................................190 3.2.1 Begriff der Emotionalität..........................................................190 3.2.2 Emotionalität bei Anbietern .....................................................191 3.2.3 Emotionalität bei Absatzmittlern..............................................192 3.2.4 Emotionalität bei Konsumenten ..............................................192
4
Intuition und Zufriedenheit als Synthese von Rationalität und Emotionalität .........................................................................................193
Literaturverzeichnis ................................................................................................197
* Dr. Herbert Loock ist Geschäftsführer der Herbert Loock Beratungs- und Servicegesellschaft mbH in Mönchengladbach und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen.
Herbert Loock
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Einflüsse auf den Prozess des Innovationsmarketing
Der Begriff des Innovationsmarketing setzt sich aus den betriebswirtschaftlichen Begriffen „Innovation“ und „Marketing“ zusammen. Der neue Terminus umfasst die acht Phasen eines Prozesses, welcher die „Schaffung und Durchsetzung von potenziell und effektiv neuen Leistungsangeboten gegenüber bestehenden und potenziellen Absatzmärkten“ (vgl. Trommsdorff, V. / Steinhoff, F. (2007), S. 43) darstellt. Sie beginnen mit der Problemerkenntnis, dass eine innovative Leistung erbracht werden muss und führen über den Innovationserstellungs- und den Marketingprozess bis zum Verzicht auf eine weitere Vermarktung des ehemals neuen Produktes oder Prozesses (vgl. Loock, H. (2010a), S.17). Der linear hintereinander ablaufend dargestellte Prozess, welcher in der Realität aber eher durch eine Vernetzung der einzelnen Phasen gekennzeichnet sein dürfte, unterliegt zahlreichen Einflüssen aus der globalen Umwelt, dem Markt und aus dem Unternehmen selbst. Sowohl die umwelt- und marktorientierten als auch die unternehmensorientierten Einflüsse werden dabei durch das Handeln von Menschen geprägt. Dieses wird in allen Branchen bestimmt durch rationale Zielsetzungen, aber auch durch emotionale Beweggründe der handelnden Personen. Rationalität beschreibt dabei vernunftgeleitetes und die Emotionalität das gefühlsgeleitete Handeln. Die Einflüsse von Rationalität und Emotionalität auf den Prozess des Innovationsmarketing in der Modebranche sollen im Rahmen dieses Beitrages untersucht werden. In Abhängigkeit von dem persönlichem Involvement der Entscheidungspersonen kann es dabei Unterschiede zu anderen Branchen geben. Wegen der persönlichen Betroffenheit der Anbieter und Konsumenten bezüglich der Produktaussage aber auch der teilweise klar formulierten unternehmerischen Zielsetzungen sowie der funktionalen Leistungsanforderungen der Konsumenten kann hieraus ein besonderes Spannungsfeld zwischen den Einflüssen der Emotionalität und der Rationalität in der Modebranche entstehen, das im Interesse der Teilnehmer während des Prozesses des Innovationsmarketing aufzulösen ist. Abbildung 1 zeigt die Einflüsse der Umwelt-, Marktund Unternehmensbedingungen auf den Prozess des Innovationsmarketing (vergleiche Abbildung 1).
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_9, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität
Abbildung 1: Phasen des Innovationsmarketing und Einflussbereiche Quelle: Eigene Darstellung
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Herbert Loock
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Innovationsmarketingprozess in der Modebranche
Unter dem Begriff Mode wird „der ständige Wechsel von sinnlich-ästhetischen Produktqualitäten verstanden ..., die für eine gewisse Zeit innerhalb breiter Bevölkerungsschichten Akzeptanz finden“ (Hermanns, A. (1999), S. 14). Dabei ist dieser Begriff „unter keinen Umständen von einem bestimmten Gegenstand her zu begreifen, dem sie mit besonderer Vorliebe anhaftet, wie zum Beispiel der Kleidung. Vielmehr bezieht sie sich einzig auf eine besondere Verhaltensweise in den verschiedenen Situationen und gegenüber den mannigfaltigen Gegenständen“ (König, R. (1967), S. 21, ähnlich auch Piedboeuf; H. (1999), S. 255). So gehören unter anderem auch Kosmetik und Frisuren, Möbel aber auch Accessoires zur Modebranche. Auch wenn dieser Aussage gefolgt werden soll, so erlaubt sie doch die Auswahl von Bekleidungsmode als Darstellungsbeispiel für den Innovationsmarketingprozess in der Branche und die Einflüsse von Emotionalität und Rationalität auf diesen Prozess. HORSTMANN (1997) operationalisiert Bekleidungsmode als „zeitlich begrenzte, sich permanent wandelnde und für bestimmte Bevölkerungsgruppen vorherrschende Einheitlichkeit und Präferenz für Bekleidungstextilien und das entspechende Zubehör hinsichtlich einer bestimmten Kombination aus Material, Schnitt, Farbe sowie Dessin“ (Horstmann, S. (1997), S. 28). Während das Material die Art des Stoffes (Reine Schurwolle, Baumwolle, Mikrofaser etc.) beschreibt, umfasst der Schnitt die formenmäßige Beschreibung des Bekleidungsteiles (zum Beispiel bei Hosen die Beschreibung der Fußweite, Anzahl der Taschen, Anzahl von Bundfalten etc.). Mit unterschiedlichen Farben und Dessins (strukturelle Gestaltung der Flächen) werden Material und Schnitte weiter differenziert. Materialien, Schnitte, Farben und Dessins können in unterschiedlicher Art und Weise miteinander kombiniert werden, um so ein Modeprodukt zu kreieren, das den Bedürfnissen der Konsumenten gerecht wird. Diese Anstrengungen werden unternommen, damit „Mode ... zu den einzigartigen Dingen (gehört, Anm. des Verf.), die den menschlichen Sinn für das Schöne, die Freude an Selbstdarstellung und die Lust, sich zu schmücken, wecken“ (Lohr, M. / Giese, E. (1999), S. 69). Gleichzeitig unterliegt Mode aber auch den nüchternen Bedingungen einer hochrationalisierten Produktion. Mode ist ambivalent. Diese Ambivalenz zeigt sich für Konsumenten und Anbieter. Auf der Seite des Konsumenten sind der „phantastische Ausbruch aus dem Alltag, Models und Fotografen, Spaß, Attraktivität und Lebenslust ... kennzeichnend für das assoziaitve Umfeld zum Thema Mode“ (Niesel, M. (1999), S. 492). „Auf der anderen Seite steht aber auch der Kampf mit zu eng gewordenen Hosen, übervollen Läden“ (Niesel, M. (1999), S. 492)
Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität
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und der Suche nach dem gerade für den anstehenden Zweck passenden Bekleidung. Auch für den Anbieter zeigt sich die Ambivalenz von Mode. „Auf der einen Seite die Welt des Glamours, der neuen Ideen, attraktiver Produkte aus schönen Schnitten und Stoffen und andererseits die rückläufigen Konsumausgaben, der Kampf um marktgerechte Preise, verbunden mit Beschaffungsaktivitäten in immer neuen Billigländern der Erde“ (Loock, H. (2008), S. 76f). Die ambivalenten Einflüsse wirken auf die gesamte Wertkette, welche sich für die Bekleidungsindustrie aus den ausführenden Elementen Kollektionsentwicklung, Vertrieb, Beschaffung, Produktion und Logistik und die unterstützenden Aktivitäten Produktmanagement, Unternehmensführung, Marketing (Kommunikation), Controlling / Kalkulation, Personalwesen, Finanzen/Verwaltung und das Lizenzmanagement zusammen setzt. Die Wertkette ist in der Abbildung 2 dargestellt (vergleiche Abbildung 2).
Abbildung 2: Wertkette in der Bekleidungsindustrie Quelle: Loock, H. (2008), S. 52.
Grundlage für die Wertschöpfungskette ist die strategische Kollektionsentscheidung. Die am Markt bestehenden Chancen werden unter Berücksichtigung der unternehmenseigenen Stärken nach Ideen für erfolgversprechende Strategien untersucht. Aus der gefundenen Gesamtzahl von Ideen wird eine Selektion und Bewertung vorgenommen und die sich daraus ergebende Entscheidung operativ umgesetzt. Diese operative Entwicklung in Unternehmen der Modebranche kann auf Vorarbeiten verschiedener Institutionen beruhen, welche bereits bis zu zwei Jahren vor der aktuellen Saison mit Farb- und Garnentwicklungen beschäftigt sind (vgl. zum Prozess der
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Herbert Loock
Entwicklung von Modekollektionen auch Lohr, M. / Giese, E. (1999)). Diese wirken sich auf die Präsentationen von Unternehmen, wie Garnlieferanten und Webereien, aus den verschiedenen Stufen der Bekleidungsbranche aus. Sie werden mit den Verantwortlichen aus der Bekleidungsindustrie insbesondere in Seminaren, auf Messen und bei Produktpräsentationen in den Unternehmen kommuniziert und führen somit zu einer unternehmensübergreifenden Farb- und Stoffentwicklung. Aus dem Gesamtangebot wählen die Designabteilungen der einzelnen Unternehmen entsprechend ihrer gewünschten Modeaussage Farben und Materialien aus und entwerfen hierfür die Formen, welche nach ihrer eigenen Erkenntnis über Kundenbedürfnisse und ihrem eigenen modischen Empfinden zu einer Kollektion zusammengeführt werden sollen. Jedes einzelne so entworfene Teil wird zunächst als Prototyp gefertigt, an dem dann funktionale und geschmackliche Tests und darauf folgend Veränderungen vorgenommen werden können. Ist diese Entwicklung abgeschlossen, so werden mehrere Einzelteile zu einem Thema zusammen gestellt, das zu einem Liefertermin dem Markt zur Verfügung gestellt werden soll. Mehrere Themen zu mehreren Lieferterminen für eine Saison ergeben die Kollektion. Das Ergebnis des Entwicklungsprozesses stellt das Sortiment dar. Dieses dient den Anbietern und Absatzmittlern, wie Handelsvertretern, als Musterkollektion, um damit die entwickelte Ware zu verkaufen. Es handelt sich also um das Einsammeln von Bestellungen der Händler (Vororder), auf deren Grundlage dann die benötigten Materialien beschafft und die Einzelteile der Kollektion in Serienfertigung hergestellt werden. Dafür werden die Kundenaufträge zu Fertigungsaufträgen zusammengefasst. Die Produktion erfolgt über mehrere Fertigungsstufen und findet für die europäische Bekleidungsbranche heute überwiegend in sogenannten Billiglohnländern statt. Nach deren Fertigstellung wird die Ware aus den zurückgesandten Fertigungsaufträgen wieder nach Kundenaufträgen kommissioniert und an die Abnehmer verschickt, welche sie an die Endverbraucher verkaufen. Dieser Verkaufsprozess folgt nach der Einkaufsphase im Handel, dem Wareneingang und der Warenpräsentation. Ziel aller Aktivitäten ist letztlich dieser Kauf im Handel, welcher durch den Konsumenten vorgenommen wird. Der Vorgang wiederholt sich in einem regelmäßigen Rhythmus, den sogenannten Saisons. Eine grobe Unterteilung erfolgt hierbei nach den Jahreszeiten in Frühjahr/Sommer und Herbst/Winter Saison. Inzwischen haben aber zahlreiche Firmen auch schon detailliertere Unterscheidungen vorgenommen und bieten bis zu zwölf Monatskollektionen im Laufe eines Kalenderjahres an. (vgl. die Ausführungen von
Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität
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Hirtz, H. / Schwericke, C. (1999), S. 605f.). Diese Saisonunterteilungen implizieren, dass in kurzen Zeitabständen neue Kollektionen entstehen und damit die Lebensdauer vorangehender Kollektionen beendet ist. Nur bei wenigen Anbietern im klassisch konservativen Markt werden Kollektionen aus vorherigen Saisons weiter fortgeführt. Während die Einführungsphase im Prozess des Innovationsmarketing durch den Verkauf an den Handel und die dortige Präsentation vorgenommen wird, stellt die Durchsetzungsphase den Verkaufsprozess im Handel dar. Die Beendigung des gesamten Innovationsmarketingprozesses hinsichtlich einer einzelnen Kollektion liegt in dem Ausverkauf der letzten Teile. Die Ziele der Entwicklung von Modeprodukten bestehen damit für das anbietende Unternehmen als auch für die Absatzmittler in einer möglichst großen Abverkaufsquote der beschafften Produkte aus den einzelnen Kollektionen in einem möglichst kurzen Zeitraum (Loock hat durch eine empirische Untersuchung bewiesen, dass die Abverkaufsquote am Point of Sale das wichtigste Kriterium für die Messung des Kollektionsentwicklungserfolges darstellt, vgl. Loock, H. (2008), S. 254). Eine Erfolgsmessung findet dabei durch das Maß statt, in dem dieser Abverkauf gelungen ist. Gleichzeitig soll mit diesem Abverkauf aber auch der angestrebte Erfolg der Anbieter und Absatzmittler als auch der Konsumenten erzielt werden. Hierbei ist eine Übereinstimmung von Zielen der Anbieter und Konsumenten notwendig. Nur wenn diese Übereinstimmung vorliegt, existiert eine Zufriedenheit der Marktpartner, für deren Erklärung situative, soziodemographische und psychographische Faktoren sowie emotionale Aspekte herangezogen werden können (vgl. Hempel, A. (2010), S. 117). Diese Aspekte stellen die Grundlage für die Gestaltung marktorientierter Unternehmensführung dar.
3
Rationalität und Emotionalität in der Modebranche
Ein Teil dieser erfolgsbeeinflussenden Aspekte werden rational, ein weiterer Teil emotional gesteuert. Die Geschäftstätigkeit verbindet Akteure auf der Anbieter- und Nachfragerseite durch den Vertrieb von Modeartikeln miteinander. Einen wichtigen Aufgabenbereich nehmen in diesem wirtschaftlichen Austausch auch die Absatzmittler wahr. Bei ihnen handelt es sich um solche Personen oder Personengruppen, die den Austausch und die Geschäftsanbahnung zwischen Anbietern und Konsumenten unterstützen. Unter Umständen vertreten alle Beteiligten unterschiedliche Interessen und Ziele. In der Betriebswirtschaftslehre wird dieses durch die Principal-AgentTheory umfassend dargestellt (vgl. hierzu auch Picot, A. / Reichwald, R. / Wiegand,
Herbert Loock
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R. T. (2003), S. 55f.). Die unterschiedlichen Interessen werden gesteuert von ihren individuellen Zielsetzungen und auch von ihren persönlichen Stimmungen.
3.1
Rationalität
3.1.1 Begriff der Rationalität Im Rahmen der Vertretung dieser eigenen Interessen und Ziele wird das Bestreben, den eigenen Vorteil so groß wie möglich werden zu lassen, als rationales Handeln verstanden (vgl. Werth, L. (2004), S. 59). Rationalität ist also jedes menschliche Handeln, das mit dem Ziel der Maximierung des eigenen Vorteils verbunden ist. Die Formulierung einer solchen Aussage und die Anerkennung des eigenen Vorteils als Handlungsmaxime wird dabei als normative oder präskriptive Rationalität verstanden. Mit ihr verbunden ist die Akzeptanz des rationalen Handelns als Bedingung. Hierfür ist die Formulierung eines Zieles oder Zielbündels notwendig, an dem sich das rationale Handeln orientieren kann. Die Formulierung eines solchen Zielbündels, welche unter dem Aspekt der Vernunft erfolgt, benötigt dafür wertbezogene Postulate. Es handelt sich um eine materielle Rationalität. Für die Erreichung der so festgelegten Zielsetzung werden benötigte Ressourcen eingesetzt. Um diese im Rahmen rationellen Handelns hinsichtlich ihres Bedarfes und ihrer Bewertung angemessen einzuteilen, beruhen die eigenen Entscheidungen auf logischen Konsistenzen, das heisst auf einem Ziel-Mittel Denken. Der gesamte Ablauf unterliegt damit einer formalen Rationalität, das heisst, eines angemessenen Ressourceneinsatzes im Blick auf die Realisierung vorgegebener Ziele. Entscheidungen, die im Blick auf die Zielerreichung getroffen werden müssen, können theoretisch auf der Existenz vollkommener Markt- und Zukunftsinformationen beruhen. Sind diese vorhanden und handelt das Wirtschaftssubjekt nach ihnen, so handelt es objektiv rational. Das Vorhandensein eines objektiven Informationsstandes kann allerdings bei der überwiegenden Anzahl praktischer Fragestellungen nicht angenommen werden. Es gibt weder einen vollkommenen Marktüberblick noch vollkommene Zukunftsinformationen, sondern diese werden nur für den in wirtschaftswissenschaftlichen Theorien als Entscheidungsträger benutzen homo-oeconomicus vorausgesetzt. WARNECKE (1997) konzediert, dass Akteure bei ihrem Kaufverhalten „aufgrund der begrenzten menschlichen Aufnahme-, Speicher- und Vermarktungskapazitäten bei der rationalen Lösung komplexer Entscheidungsprobleme überfordert“ (Warnecke, P. (1997), S. 32) sind. Deshalb orientiert sich der Entscheidungs-
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träger nur an seinem subjektiven Informationsstand und richtet hieran das Optimum seines Handelns aus. Er erfasst nur eine begrenzte Anzahl von Handlungsalternativen und deren Konsequenzen und handelt deshalb subjektiv rational. Diese verschiedenen Arten der Rationalität stellen das Ergebnis theoretisch analytischer Betrachtungen dar. Wird dagegen das Verhalten von Wirtschaftssubjekten empirisch beobachtet und werden daraus Aussagen zum Verhalten getroffen, so handelt es sich um solche der explikativen oder deskriptiven Rationalität. Diese beschreiben dann eine zufriedenstellende und nicht eine möglichst große Zielerreichung. Auf der Grundlage dieser Analyse verschiedener Betrachtungsperspektiven wird Rationalität als das an einem individuell formulierten Zielbündel orientierte subjektive Entscheiden und Handeln definiert. Dieses Zielsystem beruht auf individuellen Werthaltungen und dient als Orientierung für die Entscheidungen im Umsetzungsprozess, welche durch den Informationsstand des Entscheiders bestimmt werden. Rationale Entscheidungen entstehen durch Bewertung der möglichen Entscheidungsalternativen hinsichtlich einer Erreichung der Zielsetzung. Diese Bewertung kann nach mathematisch formaler Prüfung vorgenommen werden oder auch durch emotionale oder Standardentscheidungen. Das Ergebnis der getroffenen rationalen Enscheidungen wird durch die Erreichung des gesetzten Zielbündels gemessen und dann auch als Erfolg oder Mißerfolg bezeichnet. Insgesamt bestätigen diese Aussagen zur Nutzung von Rationalität für Entscheidungen damit die Forderung nach einer Ordnung, mit der eine Person eine Zweck-Mittel Beziehung erkennt, beschreibt und verfolgt (vgl. auch Sukale, M. (2009), S. 24). Nach diesen grundsätzlichen Ausführungen zur Rationalität stellt sich die Frage, wie in diesem Zusammenhang Erfolg gemessen und damit das Maß rationalen Handelns aus dem Ergebnis heraus festgestellt werden kann. Dafür sind zunächst die Erfolgsindikatoren und dann die Erfolgseinflüsse für jede der beteiligten Gruppen zu definieren und für das Maß der Erreichbarkeit Erfolgsinhalte festzulegen, die auf einer nominalen, ordinalen oder besser noch kardinalen Skala gemessen werden können. Zu den beteiligten Gruppen gehören die Anbieter, die Absatzmittler und die Konsumenten.
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3.1.2 Rationalität bei Anbietern Die Ermittlung von Erfolgskriterien im Entscheidungsbereich der Anbieter erfolgt auf der Grundlage der aus dem Marketing bekannten Unterteilung in marktökonomische und marktpsychologische Ziele (vgl. Becker, J. (2009), S. 61ff). Die Suche nach marktökonomischen Zielen führt sehr schnell zur Betrachtung eines monetären Erfolges. Hierzu gehören beispielsweise die betriebswirtschaftlichen Größen der Umsatz- oder Eigenkapitalrendite sowie die aus den Wirtschaftlichkeitsberechnungen bekannte Größe des Return on Investment oder Return on Capital Employed (vgl. Küting, K. / Weber, C.-P. (2009), S. 53ff ). Diese können mit den betriebswirtschaftlich bekannten Maßstäben gemessen werden, die sich als relative Kennzahlen aus dem Verhältnis eines definierten Ergebnisses zu einer definierten Grundmeßzahl darstellen lassen. Auch viele andere Größen sind hier denkbar. Es handelt sich letztlich dabei aber immer um die Differenz von Erlösen und Kosten, die insgesamt oder auch in ihren einzelnen Bestandteilen zur Operationalisierung herangezogen werden können. Die Erlöse setzen sich dabei immer aus verkauften Mengen und erzielten Preisen zusammen. Zur detaillierteren Beurteilung von Rationalität können sie im Sinne einer Zielhierarchie in weitere Bestandteile unterteilt werden, wodurch die unterste Ebene dann Kriterien für die Operationalisierung enthält (vgl. hierzu auch Becker, J. (2009), S. 27ff). Als marktpsychologisches Kriterium ist die Brauchbarkeit der angebotenen Bekleidung für den Schutz des Körpers vor äußeren, insbesondere klimatischen Einflüssen zu betrachten. Hierzu gehört insbesondere die Forderung nach deren Funktionalität, die beispielsweise unterschiedliche Ausstattungen in Abhängigkeit von den Jahreszeiten notwendig macht. Darüber hinaus ist auch die Qualität der Bekleidung im Sinne ihrer Haltbarkeit ein marktpsychologisches Kriterium und kann in Material- und Verarbeitungsqualität unterteilt werden. Pflegeeigenschaften, die in Abhängigkeit von der Zweckorientierung der betrachteten Bekleidungsgegenstände festgelegt werden, sind ebenso als Rationalitätskriterium heranzuziehen wie die für die verschiedenen Größen erforderlichen Passformen. Bei ihnen handelt es sich um die körpergerechte Anfertigung von Bekleidungsteilen aus den Geweben, welche Flächengebilde darstellen. Die Passformen sind entscheidend für das Wohlgefühl, das mit dem Tragen von Bekleidung verbunden ist. Letztlich gehört zur Rationalität aus Anbietersicht auch das Maß der Verfügarkeit am Point of Sale und die Treffsicherheit der Kundenwünsche. Darüber kann auch das Maß der Durchsetzung eigener Modevorstellungen den Anbietern als rationalitätsorientierter Erfolgsmaßstab dienen. Als geeigneter Indikator ist in diesem Zusammenhang der prozentuale Anteil der gemessenen Ver-
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käufe einer bestimmten Schnitt / Artikel / Dessin Kombination im Verhältnis zu den geplanten Verkäufen zu nennen. Ein großer Anteil entwickelter, aber aufgrund mangelnder Verkäufe nicht produzierbarer Schnitt / Artikel / Dessin Kombinationen wird dabei als Mißerfolgsindikator für die Kollektionsentwicklung und damit die eigenen Modevorstellungen herangezogen. Auch die Umsetzbarkeit der eigenen Strategie ist als Erfolgsmaßstab anzusetzen. Wird eine Strategie aufgrund von Erfolgspotenzialen eines Unternehmens definiert und ihre Umsetzung geplant, so stellen die Istergebnisse im Verhältnis zu den Planergebnissen zum Zeitpunkt gesetzter Meilensteine den Erfolgsindikator dar. Da die Festlegung einer Strategie immer die Bestimmung von Erfolgspotenzialen voraussetzt, welche sich aus einer Abstimmung von Chancen und Risiken mit Stärken und Schwächen ergeben, wird die Messung der Rationalität durch den Eintritt der Einflußkritierien vorgenommen.
3.1.3 Rationalität bei Absatzmittlern Die Erfolgsbeurteilung aus der Rationalität bei Absatzmittlern orientiert sich insbesondere am mengenmäßigen oder wertmäßigen Erfolg. Hierfür können Umsatzzahlen, Stückzahlen, Renditezahlen, Abverkaufsquoten oder Treffsicherheit der Kundenwünsche im Rahmen der Wareneinkäufe ein Maßstab sein. Bei Handelsvertretern und Reisenden gelten als rationale Kriterien das Verkaufsvolumen und die erzielten Provisionseinnahmen. Ein internes Dilemma im Rahmen der Rationalität von Absatzmittlern kann dabei darin bestehen, dass aufgrund der Nachfrageelastizität eine Umsatzerhöhung nur durch eine Preisreduzierung erreicht werden kann.
3.1.4 Rationalität bei Konsumenten Auch im Rahmen der Rationalitätsbeurteilung von Konsumenten ist die Verfügbarkeit eines gesuchten Produktes das erste Erfolgskriterium. Sollte das erwartete Angebot am Point of Sale nicht vorhanden sein, dann kann der Einkaufswunsch als Zielsetzung nicht erfüllt werden. Erst danach ist das Bestreben nach Alternativprodukten, so dass eine Auswahlmöglichkeit gegeben ist, ein weiteres Kriterium. Die konkrete Auswahl kann über verschiedene weitere Kriterien erfolgen, beispielsweise die erwartete Funktion der Bekleidung und ergänzend die Qualitätsaspekte, wie sie bereits
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bei der Rationalität von Anbietern beschrieben wurden. Zu diesen gehören auch die Passform und die modische Sicherheit sowie die Preise. Diese genannten Kriterien dienen dazu, die Rationalität des Handelns von Kunden objektiv zu messen. Sie bedienen ökonomische Prinzipien der Nutzenmaximierung. Aber der Verstand selbst ist nicht die Ursache unseres Handelns (vgl. Steden, H.-P. (2006), S. 10, ähnlich auch Kroeber-Riel, W. / Weinberg, P. / Groeppel-Klein, A. (2009), S. 410f.). „Da ein Produkt immer auch einen subjektiven Wert für den Käufer hat, „unterminieren“ psychologische Faktoren ökonomische Prinzipien der Nutzenmaximierung“ (Werth, L. (2004), S. 59). Zu diesen psychologischen Faktoren gehört auch die Emotionalität.
3.2
Emotionalität
Umgangssprachlich ist dieser Begriff der Emotionalität geläufig. „Wir erkennen, erleiden und benutzen die Emotionen erfolgreich, aber wir haben von ihnen nur grobe und verwaschene Vorstellungen oder Begriffe“ (Sukale, M. (2009), S. 26). Um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm und eine Abgrenzung zur Rationalität deutlich zu machen, ist er jedoch eindeutig zu definieren und auf die Eignung für die Beschreibung des Vorgangs innerhalb von Menschen zu untersuchen.
3.2.1 Begriff der Emotionalität Im Alltagsleben begegnen uns Emotionen von Menschen durch deren aufgeregtes Verhalten, das eine innere Erregung widerspiegelt. SUKALE (2009) definiert deshalb Emotionen als „Zustände, die mit einem äußerlich sichtbaren und inhaltlich fühlbaren Bewegungsdrang verbunden sind“ (Sukale, M. (2009), S. 26, ähnlich auch KroeberRiel, W. / Weinberg, P. / Groeppel-Klein, A. (2009), S. 100). Mit diesem verbinden sich vegetative Reaktionen, wie der Ausbruch von Schweiß, Zittern am Körper, Erblassen und Röten der Haut. Kinetisch reagiert der Körper durch Gesten und die von ihm eingenommene Haltung (vgl. Ursua, N. (2009), S. 57.). Detaillierter beschreiben TRAUE / KESSLER (2003) diese Zustände als „subjektive Erlebnisse, die in bestimmten Situationen von verschiedenen Personen in ähnlicher Weise empfunden werden. Es besteht Handlungsbereitschaft“ (Traue, H. C. / Kessler, H. (2003), S. 22). Dabei können die Emotionen positiv oder negativ gerichtet sein. Während zu
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den positiven Reaktionen Bewunderung, Liebe, Wunsch und Freude gehören, zählen zu den negativ gerichteten Hass und Traurigkeit (vgl. Ursua, N. (2009), S. 55). Die von einer Emotion betroffene Person empfindet sie als Emotionen, Gefühle und Stimmungen (Kroeber-Riel, W. / Weinberg, P. / Groeppel-Klein, A. (2009), S. 100ff. unterscheiden diese Begriffe, die jedoch im Rahmen dieses Beitrages synonym verwendet werden sollen). Das von der Emotion betroffene Gefühl wird als Harmonie oder Disharmonie der Person mit sich selbst oder der Umwelt empfunden. Diese Bewußtseinsinhalte „können eine Genauigkeit besitzen, die ihnen zumindest außerhalb der Kunst nicht ohne weiteres zugetraut“ (Gugg, M. (2009), S. 101) werden. Als Beweggrund resultiert aus ihnen die Sicherung der Harmonie oder Beseitigung der Disharmonie. Die daraus resultierende Handlung ist damit auf diese genannte Zielsetzung gerichtet. Es entsteht das heftige Verlangen nach einem zur Befriedigung eines Wunsches benötigten Objekt, mit dem die Harmonie gesichert oder die Disharmonie beseitigt werden kann. Damit fließen Gefühle auch in die Tätigkeiten aller am Prozess des Innovationsmarketing in der Modebranche Beteiligten ein, also der Anbieter, Absatzmittler und Konsumenten.
3.2.2 Emotionalität bei Anbietern Die Gefühle der Anbieter können damit zurückzuführen sein auf die positiven Reaktionen. Sie freuen sich über die Beschäftigung mit der Mode und haben, da es sich bei ihnen in der Regel um branchenbezogene Experten mit einer hohen Affinität zum Produkt handelt, ein großes Interesse an der Durchsetzung eigener Modevorstellungen, die sich als Gesamtheit wieder in den ausgewählten Schnitten, den Materialien und den Farben niederschlagen. Sie haben Freude an ihrem Beruf und ihrer Tätigkeit und suchen nach der Bestätigung des Ergebnisses ihres Kollektionsgestaltungsprozesses. Werden sie von außen bestätigt oder sogar bewundert, so empfinden sie Freude und es tritt eine Harmonie in ihren Gefühlen ein. Ihre Tätigkeit ist daher geprägt von einer Individualisierung der Kollektionen im Blick auf das eigene modische Empfinden, die auch am Markt durchgesetzt werden sollen. Alleine schon die Beschäftigung mit der Entwicklung von Mode, deren Ergebnis in fertigen, erkenn- und beurteilbaren Bekleidungsprodukten besteht, entwickelt für die Anbieter eine Harmonie ihres eigenen Gefühles. Diese ist dann auch an die anderen Beteiligten des Prozesses zu vermitteln beziehungsweise diese sind sogar schon an der Produktentwicklung zu beteiligen, um auch bei ihnen eine Harmonie der Gefühle zu erzeugen.
192
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Umgekehrt ist die Situation bei Vorliegen von Unzufriedenheit mit der Tätigkeit oder ihrem Ergebnis. Die so entstehende Disharmonie im Gefühl der Anbieter erfordert eine Änderung der eigenen Tätigkeit, welche mit der Zieletzung verbunden ist, so schnell als möglich eine Harmonie wieder herzustellen. Gelingt diese Herstellung der Harmonie nicht, so kann die ständige weitere Suche nach ihr zu einer mangelnden Konsequenz in der Produktpolitik des anbietenden Unternehmens führen.
3.2.3 Emotionalität bei den Absatzmittlern Für die Absatzmittler ist eine Harmonie auch notwendig, wenngleich nicht in dem Maße wie bei den Anbietern. Bei ihnen dürfte vielmehr der rationale Aspekt der Vermarktung im Vordergrund stehen. Dabei fällt das Empfinden von Harmonie um so leichter, je mehr sich der Absatzmittler mit dem Produkt identifizieren und je erfolgreicher er es verkaufen kann. Er nimmt also eine subjektiv positive Einstellung dazu ein. Nur dann kann er das Produkt glaubwürdig vertreten und Sympathie vorleben. Diese emotionale Überzeugtheit ist deshalb auch Voraussetzung für das Erwerben von Kompetenz und gegenüber dem Konsumenten überzeugendes Auftreten.
3.2.4 Emotionalität bei Konsumenten In besonderer Weise, ähnlich wie bei Anbietern, wirkt die Emotionalität auf das Verhalten von Konsumenten, für die diese Produkte erstellt werden und die darauf mit einem Kauf reagieren sollen. Ihre Gefühle und der daraus resultierende Bewegungsdrang im Blick auf die Sicherung von Harmonie oder Beseitigung von Disharmonie ergeben ein besonderes Gefühl für Gegenstände. Sie entwickeln aus ihrer Einbildungskraft Ziele, Begehrlichkeiten, Wünsche und Präferenzen (vgl. Steden, H.-P. (2006), S. 68f ). Würde es keine Gefühle geben, so gäbe es keinen Beweggrund und ohne diesen Beweggrund wäre man nicht in der Lage, eine Enscheidung zu treffen (vgl. Ursua, N. (2009), S. 58ff ). Erkennen sie aus den angebotenen Waren in der Modewelt solche, die der Befriedigung der Gefühle gerecht werden, so ist dieses gleichzeitig auch eine gute Voraussetzung für den Kauf. Dieses Produkt wird begehrt. „Was dem Ursprung nach im Innern des Menschen noch getrennt sein mag, sei es durch den Ort oder die Funktion, fießt in einigen seiner inneren und in vielen seiner äußeren Produkte zu unzähligen und unzählig verschiedenen Ganzheiten zusammen“ (Sukale, M. (2009), S. 48). Während zu den rationalen Beweggründen die Befriedigung des Schutzbedürfnisses zu zählen ist, gehört zu den emotionalen die
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des Schambedürfnisses. Aber auch die Befriedigung des modischen Empfindens für die eigene Zufriedenheit, die Akzeptanz in der Umwelt, die Symbolisierung der Sozialstruktur und Darstellung von Prestige gehört zu den emotional gesteuerten Gründen für den Konsum von Bekleidung. Das Gefühl, aus einem umfangreichen Angebot auch alternativer Sortimente mit geringem Zeitaufwand und in einer bequemen Atmosphäre auswählen zu können, sind weitere Aspekte für den Konsumenten. Letztlich gehört damit zu dem emotionalen Aspekt die Erlangung einer modischen Sicherheit. Deshalb ist Gefühl und damit auch die Emotionalität gleichzeitig Voraussetzung für das Möglichwerden von Rationalität. Das persönliche Begehren des Konsumenten, das er auf dem Warenfeld „austoben“ kann, bleibt dabei immer in dem Objekt gefangen, das andere ihm suggerieren (vgl. Steden, H.-P. (2006), S. 68f). Aus diesem Grunde ist es auch für den Anbieter wichtig, eine Synthese von Rationalität und Emotionalität des Konsumenten zu kennen.
4
Intuition und Zufriedenheit als Synthese von Rationalität und Emotionalität
Die Gefühle der Konsumenten sind die Fähigkeiten und Möglichkeiten, sich Eigenschaften von Objekten gegenüber intuitiv zu öffnen beziehungsweise zu verschließen (vgl. Steden, H.-P. (2006), S. 25). Deshalb haben auch alle Gefühle einen grundlegenden Einfluss auf ihre Entscheidungen (vgl. Ursua, N. (2009), S. 60). Sie geben Richtungen vor, in welcher die Handlung stattfinden könnte. Das bedeutet aber nicht, dass ihnen ohne Rationalität gefolgt werden muss. Vielmehr erfolgt aus dem Begehren, das sich aufgrund der Emotionen ergibt, eine rational orientierte Bewertung. Diese erfolgt nach TRAUE / KESSLER (2003) in folgenden Phasen: x
Bewertung der Neuartigkeit,
x
Bewertung der Qualität, angenehm oder unangenehm,
x
Bewertung der Zielrelevanz,
x
Bewertung der Bewältigungsfähigkeit und
x
Bewertung der Selbstkonzeptrelevanz.
Letztlich ergibt sich aus dieser Synthese auf beiden Seiten des Marktes, nämlich sowohl bei den Anbietern als auch den Konsumenten, immer ein Kompromiss aus Rationalität und Emotionalität (Kroeber-Riel, W. / Weinberg, P. / Groeppel-Klein, A.
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(2009), S. 410ff. beschreiben die unterschiedlichen Einflüsse auf das Entscheidungsverhalten von Konsumenten). Dieses bedeutet nicht nur ein Kompromiss zwischen diesen Marktteilnehmern sondern auch innerhalb der individuellen Entscheidungsspektren. Im Rahmen marktorientierter Unternehmensführung existiert dabei allerdings die Bedingung, dass die rationalen und emotionalen Bedürfnisse der Konsumenten in einem bestmöglichen Ausmaß erfüllt werden müssen, um überhaupt deren Emotionen zu befriedigen und sich in dem Feld zu bewegen, das rationales Handeln bei ihnen zulässt. Dieses stellt nicht anderes als marktorientierte Unternehmensführung dar (vgl. Becker, J. (2009), S. 1). Als Marketingleitbild dient dabei die Kundenzufriedenheit, deren Niveau durch individuelle Abgleichprozesse der Kunden zwischen den eigenen Erwartungen und den versprochenen beziehungsweise erhaltenen Leistungen der Anbieter festgestellt wird (vgl. Becker, J. (2009), S. 82). Auch wenn die Grundlagen des Handelns von Konsumenten für den Anbieter nur annähernd bewußt sind und auch durch Marktforschungstechniken nur in einem begrenzten Rahmen erfasst werden können, so sind Entscheidungen oder Urteile zu fällen. Dieses gilt zunächst für das Spannungsverhältnis von Rationalität und Emotionalität, das sich auf das Handeln des Anbieters auswirkt. Dieses wird kontrolliert und in begrenztem Maße durch das sozial-kognitive Emotionssystem beeinflusst (vgl. Traue, H. C. / Kessler, H. (2003), S. 29). Daraus ergibt sich ein intrapersoneller Kompromiß auf der Seite des Anbieters. Ähnlich verhält es sich auf der Seite des Nachfragers, wo ebenfalls ein intrapersoneller Kompromiß zwischen Emotionalität und Rationalität stattfindet. Bei einem einzelnen bekannten Konsumenten mag die Einschätzung dieser Kompromißbereitschaft durch den Anbieter möglich sein. In der Regel sieht er sich aber einer großen und anonymen Menge von Konsumenten gegenüber, die ein unterschiedlich breites Spektrum zwischen Emotionalität und Rationalität besitzen. Außerdem zeichnet sich das sozial-kognitive Emotionssystem durch eine unterschiedliche Bereitschaft des Einzelnen zum Kompromiß aus, so dass sich aus der Gesamtheit der Konsumenten unterschiedliche Cluster ergeben. Diese stellen dann das gesamte System des Modemarktes dar, welches zur besseren Beurteilung in Marktsegmente und Zielgruppen unterteilt wird. Ein für diese Darstellung geeignetes System ist das HML Zielgruppensystem (vgl. Ertelt, U. (1999), S. 461ff). Es differenziert zunächst nach Bekleidung für Damen (DOB) und für Herren (HAKA). Eine identische Aufteilung wäre auch für Kinderbekleidung denkbar, wird aber im HML Zielgruppensystem nicht vorgenommen.
Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität
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Abbildung 3: HML Zielgruppensystem Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an www.hml-modemarketing.de Zahlenangaben laut Stand vom 24. März 2010
Innerhalb der DOB und der HAKA wird dann weiter nach Zielgruppen und Anspruchsniveaus unterschieden. Bei den Zielgruppen existieren der x
Modegrad 1: avantgardistisch, ausgefallen, modisch, jung,
x
Modegrad 2: modern, individuell, jugendlich, lässig,
x
Modegrad 3: solide, gepflegt, kultiviert und
x
Modegrad 4: ohne Modeanspruch
und bei den Anspruchsniveaus der
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x
Premiummarkt: hoher Anspruch an Qualität und Verarbeitung,
x
Markt der Mitte: mittlere Qualität zu angemessenen Preisen und
x
Preismarkt: Preis ist wichtiger als Qualität.
Aufgrund dieses Zielgruppenwürfels trifft das anbietende Unternehmen die strategische Entscheidung, welche Kombination aus Modegrad und Anspruchsniveau es bedienen will. Für das Cluster, welches dieser Zielgruppe zuzuordnen ist, hat es dann die wahrscheinliche Kombination aus Rationalität und Emotionalität zu erkennen. Dieses kann mit Hilfe von Intuition oder den Einsatz von Marktforschungsmethoden stattinden. In der Intuition verbinden sich Gefühle und Emotionen mit der Rationalität im Denken (vgl. Sukale, M. (2009), S. 46). Für eine Verbindung von Emotion und Rationaltät kann also ein intuitives Vorgehen erforderlich werden. Intuition „erlaubt das gleichzeitige Erfassen aller Merkmale eines Objektes, eines Erlebnisses oder einer Situation und ist ... in ihrer vollkommenen Aussage äußerst selten“ (Steden, H.-P. (2006), S. 38). Das erfolgversprechende Innovationsmarketing in der Modebranche kann sich demnach nicht alleine auf die Intuition des Anbieters verlassen, um die intrapersonelle Rationalität und Emotionalität von Zielgruppen zu nutzen. Es bedarf vielmehr eines oder mehrerer Instrumente, um die Kundenwünsche kennen zu lernen. „The meansend approach is an umbrella term that refers to a set of method for interviewing consumers about the reasons for their decision choice and interpreting consumers responses” (Olson, J. C. / Reynolds, T. J. (2001), S. 3). Untersuchungen über den Einsatz der Means-End Methoden in der Bekleidungsbranche sind aber nicht bekannt. Aus der brancheninternen Sicht wird auch heute noch eine Abstimmung von Anforderungen der Konsumenten mit der Angebotspolitik von Anbietern überwiegend intuitiv vorgenommen. Die Konzipierung des Einsatzes von Means-End Methoden für die Modebranche ist daher weiteren Arbeiten vorbehalten.
Spannungsfeld von Emotionalität und Rationalität
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Direktverträge als Instrument des Business-to-BusinessMarketings von forschenden Arzneimittelherstellern Martin Renze-Westendorf*
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Veränderte Rahmenbedingungen auf dem Arzneimittelmarkt ....................200
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Vertragsmodelle...........................................................................................202 2.1 Rechtliche Grundlagen......................................................................202 2.2 Unterscheidungsmerkmale verschiedener Vertragsmodelle .............203 2.3 Inputorientierte Vertragsmodelle .......................................................204 2.4 Prozessorientierte Vertragsmodelle ..................................................205 2.5 Outcomeorientierte Vertragsmodelle.................................................206 2.6 Vertragsmodelle im Versorgungssetting ...........................................207
3
Einbindung der Direktverträge in das strategische Businessto-Business Marketing .................................................................................208 3.1 Bedeutung des Business-to-Business-Marketings ............................208 3.2 Motive für den Abschluss von Direktverträgen ..................................209 3.3 Vertragsmodelle im Produktlebenszyklus .........................................211 3.4 Auswirkungen auf den Marketingmix ................................................212
4
Anforderungen der Vertragspartner .............................................................213 4.1 Aus Sicht der Ärzte ...........................................................................214 4.2 Aus Sicht der Krankenkassen ...........................................................214 4.3 Aus Sicht der Patienten.....................................................................215
5
Herausforderungen in der Umsetzung .........................................................216
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Fazit und Ausblick – Sind Direktverträge die Lösung ?................................218
Literaturverzeichnis ................................................................................................220
* Diplom-Kaufmann Martin Renze-Westendorf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Hamburg.
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Martin Renze-Westendorf
Veränderte Rahmenbedingungen auf dem Arzneimittelmarkt
Der demografische Wandel und die mit ihm verbundene steigende Morbidität sowie die zukünftigen Innovationen in der Versorgung von Patienten stellen alle im Gesundheitssystem beteiligten Akteure vor große Herausforderungen. Neben den zu erwartenden Steigerungen auf der Ausgabenseite werden die Spielräume durch ein schwaches wirtschaftliches Wachstum und eine nur gering zunehmende Grundlohnsumme zusätzlich auf der Finanzierungsseite eingeschränkt, so dass in den vergangenen Jahren bereits mehrfach Krankenversicherungsbeiträge erhöht werden mussten. Insbesondere die Ausgaben für Arzneimittel, die sich alleine im Zeitraum von 1993 bis 2008 auf rund 29 Mrd. EUR verdoppelten, geben immer wieder Anlass über Kosten und Nutzen der eingesetzten Mittel zu diskutieren. Sollten weder Effizienz noch Effektivität der Versorgung kurzfristig erhöht werden, stehen Deutschland dramatische Kostensteigerungen und Finanzierungsprobleme bevor (Hagist, C./Kotlikoff, L. (2005) und (2006)). Die Gesundheitspolitik hat auf diese Entwicklung reagiert und in den letzten Jahren das Gesundheitssystem durch eine Vielzahl von Reformen (GKV-WSG, AVWG, GMG) auf mehr Markt und Wettbewerb ausgerichtet, um die handelnden Akteure zu mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit zu zwingen. Der so entstandene neue Ordnungsrahmen des Gesundheitsmarktes hat weitreichende Veränderungen für Leistungserbringer, Kostenträger, Arzneimittelhersteller und Patienten ausgelöst. Die Folgen für den Arzneimittelmarkt, der in 2009 mit 18% den zweitgrößten Ausgabenblock der GKV darstellte, sollen in Folge überblicksartig dargestellt werden sollen: x
Selektivvertragliche Möglichkeiten: Die Öffnung des Kollektivvertragssystems, das einheitlich und gemeinsam Verträge mit allen Akteuren festlegt, für selektive Direktverträge eröffnet Wettbewerbsspielräume und ermöglicht die Optimierung der Versorgung in allen Bereichen. Kostenträger können hierdurch Verträge mit Arzneimittelherstellern und Leistungserbringer je nach Versorgungs- und Wettbewerbslage direkt verhandeln. Als Folge schlossen viele Krankenversicherungen bereits Rabattverträge im Generikabereich ab. Zusätzlich plant die aktuelle Bundesregierung, Preisverhandlungen zwischen Herstellern und Krankenkassen auch bei patentgeschützten Arzneimitteln vorzuschreiben.
x
Zentrale Kosten-Nutzen Bewertung: Ausgaben für neue, innovative Arzneimittel können durch Ermittlung von Erstattungshöchstgrenzen im Rahmen einer Kosten-Nutzen Bewertung des IQWiG begrenzt werden. Nur wenn der neue Wirk-
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_10, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
201
stoff einen deutlichen Zusatznutzen gegenüber bereits vorhandenen Wirkstoffen bietet, kann der Hersteller einen höheren Preis verlangen. Da bisher die Erstattungsfähigkeit eines Arzneimittels an die Zulassung geknüpft wurde, würde die zentrale Bewertung zu einer vierten Hürde (nach drei Hürden in der Zulassung) im Marktzugang führen. Eine ähnliche Bewertung findet bereits in anderen europäischen Ländern statt, wird allerdings in Deutschland auf Grund einer Methodendiskussion bislang noch nicht umfassend eingesetzt. x
Konzentration und Vernetzung der Leistungserbringer: Der Effizienzdruck hat zu einer stärkeren Integration und Konzentration der Leistungserbringer innerhalb der Versorgungssektoren und entlang der Versorgungsketten geführt. Klinikketten, Ärztenetze, Praxisketten oder MVZ sind Ausdruck dieser Entwicklung, die zu professionelleren Strukturen, besserem Qualitätsmanagement und einem neuen Arzneimittelbeschaffungsverhalten führt. Leistungsfähige Versorger entwickeln sich zu attraktiven Vertragspartnern der Kostenträger und der Industrie.
x
Konsolidierung der Kostenträger: In Folge von Gesundheitsfonds und selektiven Vertragsmöglichkeiten ist die Größe für Kostenträger in Zukunft immer entscheidender, um durch entsprechende Marktmacht und Skaleneffekte Wettbewerbsvorteile zu generieren. Den Arzneimittelherstellern stehen somit immer weniger, aber dafür größere und professionellere Krankenversicherungen gegenüber.
x
Mehr Eigenverantwortung der Versicherten und Patienten: Durch steigende Zuzahlungen, die Förderung der Transparenz über Qualität und Kosten der Versorgung und Aufklärungskampagnen erhalten Versicherte und Patienten die Möglichkeit zu mehr Eigenverantwortung, um im Bedarfsfall bewusster Gesundheitsleistungen und Arzneimittel nachzufragen.
Die Veränderungen in den Rahmenbedingungen des Arzneimittelmarktes zeigen, dass der regulative Druck auf die forschenden Arzneimittelhersteller zunimmt und immer mehr Stakeholder in den Marketing- und Vertriebsaktivitäten berücksichtigt werden müssen (Gänshirt et al. 2008; Lier 2007). Der Zwang, der Bedeutung der Kostenträgerseite und der Netzstrukturen Rechnung zu tragen, wandelt das bisherige Business-to-Consumer Modell, in dem die Ärzte die alleinige Zielgruppe waren, in ein Business-to-Business Modell mit zunehmend vertraglichen Beziehungen. Die Arzneimittelhersteller passen konsequent ihr Marketing- und Vertriebsmodell an, indem sie alle relevanten Stakeholder zielgerichtet ansprechen. Gleichzeitig müssen sie die entstehende interne Komplexität eingrenzen. Obwohl die meisten staatlichen Eingriffe in den Arzneimittelmarkt nur darauf abzielen, die Ausgaben zu senken, können die neuen Direktvertragsmöglichkeiten zusätzliche Optionen eröffnen, proaktiv
Martin Renze-Westendorf
202
auf Kundengruppen zuzugehen und langfristige Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Welche Modelle zur Verfügung stehen, unter welchen Voraussetzungen diese ökonomisch Sinn machen, welche Anforderungen der Vertragspartner und welche Herausforderungen bei der Umsetzung zu beachten sind, soll in den nächsten Kapiteln erörtert werden.
2
Vertragsmodelle
2.1
Rechtliche Grundlagen
Die rechtliche Grundlage aller Vertragsausgestaltungsmöglichkeiten in Deutschland ist derzeit der § 130a SGB V, der mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKVWSG) in 2007 seine aktuelle Form erhalten hat. Er regelt den ArzneimittelRabattvertrag, der eine vertragliche Vereinbarung zwischen einzelnen Arzneimittelherstellern und einzelnen deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen über die exklusive Belieferung der Krankenversicherten mit einzelnen Arzneimitteln des Herstellers darstellt. Diese bilateralen Verträge bilden die Basis für alle weiteren innovativen Vertragsformen, die in aller Regel weitere Vertragspartner einschließen, da ihre Umsetzung in die Versorgungspraxis ein spezifisches Versorgungssetting benötigt. Die selektivvertraglichen Optionen bezüglich des Versorgungssettings schreibt ebenfalls das SGB V vor. Hier können unter anderen Modellvorhaben (§63-65), hausarztzentrierte Versorgung (§73b), besondere ambulante Versorgung (§73c), DiseaseManagement-Programme (§137f-g) und die integrierte Versorgung (§140a-d) unterschieden werden. Die innovativen Direktvertragsmodelle im Arzneimittelbereich sind somit genau betrachtet, eine Kombination aus einem Rabattvertrag zwischen Hersteller und Krankenkasse und einem selektiven Versorgungsvertrag zwischen Leistungserbringer und Krankenkasse beziehungsweise einem Dienstleistungsvertrag zwischen Hersteller und Dienstleistungsgesellschaft. Es entsteht eine Dreiecksbeziehung zwischen den Beteiligten, die charakteristisch für fast alle Vertragsformen ist.
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
2.2
203
Unterscheidungsmerkmale verschiedener Vertragsmodelle
Da die Entwicklung von Direktvertragsmodellen noch recht jung ist und von unterschiedlichen Ideengebern beeinflusst wird, haben sich noch keine einheitlichen Begrifflichkeiten für bestimmte Ausgestaltungsmöglichkeiten durchgesetzt. Die in der Praxis erkennbaren Modelle lassen sich allerdings grob nach dem Leistungsumfang des Herstellers und der Steuerungsdimension der vertraglichen Ziele einordnen. Einerseits bieten Hersteller in Verträgen entweder ihr Produkt alleine oder zusammen mit zusätzlichen Dienstleistungen oder Versorgungsmanagementlösungen an. Andererseits können je nach Steuerungsfokus im medizinischen Prozess input-, prozessund outcomeorientierte Vertragsmodelle unterschieden werden. Unter Input werden dabei insbesondere die zur Behandlung notwendigen Produkte verstanden. Für die Krankenkasse steht die Minimierung des Kostenrisikos im Mittelpunkt. Hier sind die auf Preisnachlässe zielenden Rabattverträge einzuordnen. Verhandeln Krankenkassen mit den Herstellern Verträge zur Art und Weise des Arzneimitteleinsatzes im Behandlungsprozess, spricht man von prozessorientierten Vertragsmodellen, die auf die Minimierung des Behandlungsrisikos ausgerichtet sind. Mittels dieser Vertragsoptionen können bestimmte Abläufe zur Steigerung der Behandlungsqualität vertraglich festgelegt werden. Outcome-Verträge schließlich zielen auf das Ergebnis von Input, Strukturen und Prozessen ab (Donabedian, A. (1966)). Hier garantieren Arzneimittelhersteller einen definierten, messbaren Behandlungserfolg als Folge einer Pharmakotherapie. Der Kostenträger sichert so das Wirksamkeitsrisiko der Behandlung und des Arzneimittels ab. Während sich Inputverträge relativ leicht konzipieren und umsetzen lassen, sind beide letztgenannten Varianten erheblich davon abhängig, wie die Leistungserbringer eingebunden werden. Darüber hinaus sind Konzeptions- und Messprobleme gerade bei outcome-bezogenen Verträgen zu erwarten und bisher nur unzureichend gelöst worden (Straub, C./Lütjohann, I. (2009), S. 135).
Martin Renze-Westendorf
204
Ausrichtung auf…
Leistungsumfang des Herstellers
Kostenrisiko
Arzneimittel + Dienstleistungen
Behandlungsrisiko
Wirksamkeitsrisiko
Bundling Vertrag
Mehrwert-Vertrag
Pay-forPerformance
Risk-Share Pay-for-Cure
Prozess
Outcome
Rabattvertrag Capitation Arzneimittel
Sortimentsvertrag Portfoliovertrag Cost-Share Input
Steuerungsdimension Komplexität Abbildung 1: Übersicht der Vertragsmodelle Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Ecker, T./Preuß, K. J. (2008).
2.3
Inputorientierte Vertragsmodelle
Preis und Menge der verwandten Arzneimittel stehen bei den inputorientierten im Mittelpunkt. Der "einfache" Rabattvertrag bietet den Krankenkassen einen prozentualen Nachlass auf die im Vertrag eingeschlossenen Produkte, die meistens nach Wirkstoffen getrennt verhandelt werden. Der (Generika-)hersteller verspricht sich dadurch einen deutlichen Marktanteilszuwachs, der die gewährten Rabatte im Idealfall überkompensiert. Die Berechnung des Rabattes kann dabei an verschiedenste Kriterien geknüpft werden. So können die Vertragspartner eine Mengenstaffelung, Mindestabnahmemengen oder Maximalrabatte etc. vereinbaren. Weitere Varianten des Rabattvertrages stellen Sortimentsverträge, bei denen das gesamte Sortiment eines Herstellers rabattiert wird, oder Portfolioverträge, bei denen alle Produkte eines Herstellers in einer bestimmten Indikation oder für ein bestimmtes Organsystem verhandelt werden, dar.
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
205
Der Logik der Rabattverträge folgen im Prinzip auch die Cost-Share-Verträge, die statt eines fixen Rabattes oder einer Staffelung eine Rückerstattung auf die tatsächlich anfallenden Jahreskosten pro Patient vorsehen. Oftmals wird eine Zielschwelle vereinbart, ab der das Cost-Sharing beginnt, das umso größer wird, umso weiter diese Schwelle überschritten wird. Hiermit mindert die Krankenversicherung ihr Kostenrisiko durch eine steigende Fallzahl. Eine weitere Variante eines inputorientierten Vertrages ist der sogenannte Capitationvertrag, in dem die Krankenkasse entweder je Patient, je Indikation oder für die Versorgung aller Versicherten eine Pauschale vereinbaren kann. Damit überträgt die Krankenkasse – je nach Ausgestaltung – ganz oder teilweise das Morbiditätsrisiko auf den Hersteller und erlangt höhere Sicherheit über Ihre Zahlungsverpflichtungen, muss aber gleichzeitig sicherstellen, dass das ausgewählte Produkt auch wirklich von den Leistungserbringern verschrieben wird, um nicht "doppelt" zu zahlen. Eine Erweiterung erfährt das Capitationmodell durch eine Kooperation mit einem Leistungserbringer, in der indikationsbezogen auch die ganze Behandlung inkl. Medikation zu einer fixen Kopf- oder Fallpauschale verhandelt wird.
2.4
Prozessorientierte Vertragsmodelle
Bei dieser Gruppe der Verträge steht neben dem Produkt insbesondere der Verwendungs- und Behandlungsprozess im Mittelpunkt der Vereinbarung. Größte Bekanntheit haben Pay-for-Performance (P4P) Verträge erlangt, die Vorgaben hinsichtlich der medizinischen oder versorgungsspezifischen Prozessqualität machen, deren Einhaltung an monetäre Anreize für die Leistungserbringer geknüpft ist. Grundannahme ist hierbei, dass eine hohe Prozessqualität sich auch positiv auf die Ergebnisqualität der Versorgung auswirkt, so dass langfristig Kosten gespart werden. Dazu vereinbaren Kostenträger mit ausgewählten Leistungserbringern Leitlinien, Qualitätssicherungsmaßnahmen und Qualitätsindikatoren, die zumeist den Einsatz von Arzneimitteln einschließen. Hierbei geht es zum Beispiel um eine stufenschemagerechte Verschreibung, eine optimale Komedikation oder compliancefördernde Darreichungsformen. Da sich die meisten Modelle zwischen Versorgungsstrukturen und Krankkassen abspielen, werden die Hersteller in der Regel über speziell abgestimmte Rabattverträge eingebunden. Werden darin auch zusätzliche versorgungsunterstützende Dienstleistungen vereinbart, erhält das Modell zunehmend den Charakter eines Bundlingvertrages. Die Übergänge sind an dieser Stelle also fließend.
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206
Der angesprochene Bundlingvertrag bietet den Kostenträgern ein Bündel aus Produkt und versorgungsbegleitenden Dienstleistungen an, die gezielt Einfluss auf die Prozessparameter nehmen. Häufig werden Erinnerungsservices, Patienten-Coaches oder Krankenschwestern als Case Manager von den Herstellern angeboten. Damit soll zum einen die Therapiecompliance gestärkt und zum anderen die vertikale Integration im medizinischen Behandlungsprozess verbessert werden. Der Hersteller und die Krankenkasse schließen hierzu in der Regel einen Vertrag mit einem externen Dienstleister ab, der diese Leistungen übernimmt und von der Industrie finanziert wird. Die Evaluation erfolgt auf Basis von Qualitätsindikatoren der Prozessqualität. Häufig werden Bundlingverträge auch mit Mehrwert-Verträgen gleichgesetzt, die allerdings durch eine zusätzliche Risikoteilung und Ergebnisorientierung über den Umfang eines Bundlingvertrages hinausgehen.
2.5
Outcomeorientierte Vertragsmodelle
Die outcomeorientierten Verträge stellen den medizinischen Behandlungserfolg in den Mittelpunkt ihres Steuerungsansatzes. Die als Risk-Share bezeichneten Vertragsmodelle eignen sich insbesondere für neuartige Therapien, da sie eine Risikoteilung bezüglich des Therapierisikos anbieten. Erreicht eine Therapie nicht die vereinbarten Ziele, übernimmt der Hersteller einen Teil der Kosten oder gewährt einen Rabatt. Ist die Therapie dagegen erfolgreich, wird der volle oder ein höherer Preis fällig. Der Hersteller gewährt somit eine Art Garantie auf den Produktnutzen und übernimmt vom Kostenträger Teile des Behandlungs- und Compliancerisikos sowie das Wirksamkeitsrisiko seines Produktes. Einen verschärften aber ähnlichen Ansatz verfolgen Vertragsmodelle des Pay-forCure Konzepts. Diese Verträge bieten keinen Preisnachlass bei Misserfolg der Therapie, sondern honorieren nur erfolgreich behandelte Fälle. Damit geht das komplette Therapierisiko auf den Hersteller über, für den ein solches Modell nur bei wesentlichen Marktzugangsbarrieren zu erwägen ist. Sowohl Risk-Share als auch Pay-forCure sind grundsätzlich auf das Arzneimittel als Leistungsangebot des Herstellers begrenzt. Die Vertragslogik bietet allerdings einen Anreiz für den Hersteller zusätzliche nutzensichernde Maßnahmen wie Complianceförderung oder Versorgungssteuerung zu verfolgen, um das eigene Risiko zu begrenzen. Eine Ausweitung des Leistungsspektrums bei gleichzeitiger Übernahme des Wirksamkeits- und Therapierisikos sind auch Merkmale der Mehrwert-Verträge. Hierbei
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
207
bietet der Hersteller den Kostenträgern eine Systemlösung an, die über das bisherige Versorgungsniveau hinausgeht. Ziel ist es, zukünftige Kosten durch Komplikationen und Aggravation der Erkrankung zu vermeiden, und die Einsparungen für die Finanzierung der Systemlösung und die Honorierung des Anbieters einzusetzen. Die Kostenträger erhalten damit die Möglichkeit, ihren Versicherten zusätzliche Leistungen kostenneutral zur Verfügung zu stellen, während der Hersteller sich zu einem Systemanbieter von medizinischen und versorgungsunterstützenden Leistungen entwickelt. Die Umsetzung einer solchen Systemlösung ist allerdings durch die Vielzahl der Beteiligten, die Beeinflussung unterschiedlicher medizinischer Prozesse und unterschiedliche Patientenprofile sehr komplex und bedarf einer vergleichsweise hohen Anfangsinvestition.
2.6
Vertragsmodelle im Versorgungssetting
Die meisten zuvor vorgestellten Vertragsmodelle lassen sich nicht unabhängig von dem Versorgungssetting, in dem sie angewendet werden sollen, entwickeln und erfolgreich umsetzen. Ein entsprechender Versorgungvertrag muss die notwendigen Vertragspartner einbinden, die Komplexität der Steuerung und Messung abbilden und die richtigen Anreize durch entsprechende Vergütungsstrukturen zulassen können. Gleichzeitig hat die Krankenversicherung ein Interesse daran, durch die Wahl des Versorgungssettings ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber Wettbewerbern aufzubauen. Zwar gibt es kein spezifisches Setting, das sich über alle Varianten hinweg in diesen Kriterien als dominant gegenüber anderen erweist; trotzdem erleichtern bestimmte Versorgungsverträge die Anwendung der Vertragsinhalte. Eine qualitative Einschätzung welches Versorgungssetting sich für welchen Direktvertrag eignet, stellt Abbildung 2 vor.
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Keine Eignung Volle Eignung
Versorgungssetting / Versorgungsvertrag Vertragsmodell
MV § 63-65
HZV § 73b
BAV § 73c
MVZ § 95
IV DM § 137f-g § 140a-d
Rabattvertrag Capitation Cost-Sharing Bundling Pay-for-Performance Risk-Sharing Pay-for-Cure Mehrwert-Vertrag Verträge: MV = Modellvorhaben, IV = Integrierte Versorgung, DM = Disease Management, HZV = Hausarztzentrierte Versorgung, BAV = besondere ambulante ärztliche Versorgung, MVZ = Medizinisches Versorgungszentrum
Abbildung 2: Vertragsmodelle und Versorgungssetting Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Ecker, T./Preuß, K. J. (2008).
3
Einbindung der Direktverträge in das strategische Businessto-Business-Marketing
3.1
Bedeutung des Business-to-Business-Marketings
Die eingangs beschriebenen, veränderten Rahmenbedingungen auf dem Gesundheitsmarkt werden zu einem neuen Auswahlverhalten von Arzneimittel führen, das immer stärker einem Verhalten auf einem Industriegütermarkt ähnelt (Homburg, C./Krohmer, H. (2006), S. 1056; Backhaus, K./Voeth, M. (2007), S. 9-13). In der Vergangenheit glich der Arzneimittelmarkt eher einem Konsumgütermarkt, auf dem die Nachfrage zwar derivativ war und die Kundenbetreuung schon immer einen hohen Stellenwert einnahm, jedoch weitere Kriterien, die für einen Industriegütermarkt konstitutiv sind, nicht beobachtet werden konnten. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Vernetzung kann allerdings festgestellt werden, dass insbesondere die Multipersonalität, Multiorganisationalität und der Formalisierungsgrad der Beschaffung weiter zunehmen wird.
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
209
Das Pharmamarketing steht somit vor der Herausforderung sein bisheriges Marketing- und Vertriebsmodell grundlegend zu überarbeiten. Marketingmix und -organisation müssen auf das neue Beschaffungsverhalten angepasst werden. Das momentane Modell, das aus dem Business-to-Consumer-Marketing stammt und standardisierte Leistungen mit hohem Kommunikationsaufwand an die Ärzte bringt, genügt unverändert den Kriterien eines institutionellen Einkaufs nicht mehr. Der Pharmareferent wird zukünftig seltener dem einzelnen Arzt sondern dem Praxismanager für das Arzneimittelmanagement gegenüber sitzen. Darüber hinaus wird die Identifizierung und Entwicklung eines Zusatznutzens zur Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb zunehmend anspruchsvoller (siehe Kosten-Nutzen Bewertung). Strategisch bleibt für die Hersteller die Frage, wie es ihnen gelingt, in Zukunft weiterhin Kunden an sich zu binden und auf individuelle Kundenwünsche eingehen zu können.
3.2
Motive für den Abschluss von Direktverträgen
Die Konzeption und Umsetzung zielgerichteter Direktverträge scheint an diesem Punkt ein wichtiges Instrument eines immer bedeutsameren Business-to-BusinessMarketings zu sein. Denn durch spezifische Investitionen in Vertragslösungen kann der Hersteller individuell auf die Bedürfnisse der großen Kostenträger eingehen und gleichzeitig langfristige Partnerschaften und Kundenbindung erzielen (Koch, K. (2009)). Auf der anderen Seite kann den Arzneimittelherstellern grundsätzlich weiterhin eine Gewinnerzielungsabsicht unterstellt werden, so dass sich kein forschender Hersteller "ohne Not" auf einen signifikanten Rabatt einlassen wird, solange seine Produkte patentgeschützt und im kollektivvertraglichen System erstattungspflichtig sind. Denn der Abschluss eines Direktvertrages bedeutet für den Hersteller zumindest kurzfristig immer eine Investition und kostet Geld. Trotz dieser Einschränkung lassen sich generell folgende Motive für eine Beteiligung an Direktverträgen beobachten: Motive aus strategischen Gründen x
Informationsaufbau: Der Hersteller möchte Funktionsweise und Arbeit im Rahmen der Direktverträge und Versorgungskonzepte kennenlernen, um seine Kommunikation, Kundenmanagement und Geschäftsmodell als Inputlieferant zu verbessern.
x
Entwicklung von zukünftigen Versorgungslösungen: Durch Konzeption und Umsetzung von Versorgungskonzepten möchte der Hersteller gezielt Wissen aufbauen, um zukünftig übertragbare Versorgungslösungen den Kostenträgern an-
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210
zubieten und somit einen eigenen Wettbewerbsvorteil zu generieren. Ziel ist es in Zukunft das Leistungsspektrum von Arzneimitteln um Zusatzdienstleistungen zu erweitern. x
Reputationsaufbau: Das Engagement in Direktverträgen und Versorgungskonzepten nutzt der Hersteller, um sich bei seinen Stakeholdern als innovativer Partner in der Gesundheitsversorgung zu positionieren und Vertrauen aufzubauen.
Motive aus Wettbewerbsgründen x
Mengen- und Marktanteilsausweitung: Den Abschluss eines Direktvertrages nutzt der Hersteller, um seinen Marktanteil auszubauen, in dem er den Vertragsabschluss verstärkt kommuniziert und die Leistungserbringer für die Unterversorgung einer bestimmten Indikation zusätzlich sensibilisiert.
x
Reduzierung der Re-Importe: Den Direktvertrag (in der Regel Rabattvertrag) nutzt der Hersteller, um den Re-Import von günstigen Arzneimitteln aus dem Ausland zu verringern und so den Inlandsumsatz zu steigern.
x
Sicherung der Marktanteile nach Patentablauf: Durch einen entsprechenden Direktvertrag bereits vor dem Patentablauf kann der Hersteller die Substitutionsgeschwindigkeit zum Generikum verlangsamen und somit seinen Marktanteil länger halten.
x
Beschleunigung des Markteintritts: Durch den Abschluss von Direktverträgen und der damit verbundenen Kommunikation kann der Hersteller den Markteintritt eines neuen Produkts beschleunigen, da ein frühzeitiger Direktvertrag den Verordnern Regressfreiheit zusichert und Vertrauen aufbaut.
x
Versorgungsforschung: Direktverträge bieten die Möglichkeit mit Hilfe der Prozess- und Ergebnisdokumentation zusätzliche Daten für Indikationserweiterungen, neue Darreichungsformen oder Dosierungsempfehlungen im Rahmen von Versorgungsforschungsprojekten zu sammeln.
Motive aus Gründen des Marktzugangs und der Erstattungsfähigkeit x
Sicherung des Marktzugangs: Direktverträge bieten dem Hersteller Möglichkeiten, etwaige Marktzugangsbeschränkungen, wie etwa durch eine KostenNutzen-Bewertung, zu umgehen, und gleichzeitig zusätzliche Evidenz über den Nutzen des Arzneimittels in der Versorgungsrealität zu sammeln.
x
Erlangung der Erstattungsfähigkeit in Festbetragsgruppen: Im Falle einer eingeschränkten Erstattungsfähigkeit des patentgeschützten Arzneimittel auf Grund einer Festbetragsgruppenzuordnung, kann der Hersteller durch einen Rabatt-
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
211
vertrag auf Festbetragsniveau, die Erstattungsfähigkeit wiedererlangen und gleichzeitig den Listenpreis, der als Referenzpreis für andere EU-Länder gilt, unverändert lassen, um Umsatzeinbußen im Ausland zu verhindern.
3.3
Vertragsmodelle im Produktlebenszyklus
Welche Motive für den jeweiligen Hersteller hinsichtlich eines Produktes oder Produktportfolios ausschlaggebend sind, hängt sicherlich von der strategischen Positionierung, der Wettbewerbssituation, dem Marktzugang und der Phase des Produktlebenszyklus im Einzelfall ab. Eine grobe Einordnung der Attraktivität der Vertragsmodelle in Abhängigkeit der Produktlebenszyklusphase kann aber, vom Einzelfall abstrahierend, vorgenommen werden, denn die einzelnen Modelle haben gerade im Hinblick auf den Risikoübergang in den verschiednen Phasen unterschiedliche Relevanz (siehe Abbildung 3). Während zu Beginn des Lebenszyklus aus Sicht des Herstellers die Erstattungsfähigkeit, der Marktzugang und die rasche Produktadoption der Leistungserbringer im Vordergrund stehen, ist für den Kostenträger das Wirksamkeitsrisiko und das preisinduzierte Kostenrisiko von besonderer Bedeutung. Folglich bieten sich Risk-Share, Pay-for-Cure oder Cost-Sharing Modelle an, um eine Interessenskongruenz herzustellen. In der Wachstumsphase steht für den Hersteller besonders die Marktanteilsausweitung einer bereits bewährten Therapie im Vordergrund. Insofern machen Capitation, Pay-for-Performance und Mehrwert-Verträge Sinn. Diese verhindern ebenfalls das Erstarken möglicher neuer Wettbewerber, die typischerweise während der eigenen Reifephase neu in den Markt eintreten. Sind bereits Alternativen auf dem Markt können Bundling Verträge oder Portfoliorabattverträge Marktanteile sichern. Mit Blick auf den folgenden Patentablauf rücken schließlich Sortimentsverträge und reine Rabattverträge stärker in den Fokus, die einen Marktanteilsverlust nach Patentablauf verlangsamen sollen.
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Umsatz
Einführung
Wachstum
Reife
Verfall
SCHEMATISCH
Niedergang
Patentablauf Zulassung
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17 Zeit Jahre
• Pay-for-Cure • Risk-Share
• CostSharing
• Capitation • Pay-for-
• Bundling
Performance
• Sortimentsvertrag • Portfoliovertrag • Rabattvertrag
• Mehrwert-Vertrag Abbildung 3: Attraktivität der Vertragsmodelle im Produktlebenszyklus Quelle: Eigene Darstellung
Die Analyse der Attraktivität der Vertragsmodelle zeigt auch, dass nur echte Mehrwertverträge, die auf unternehmensspezifischem Know-How aufbauen und zu einer langfristigen besseren Versorgungsqualität und Kosteneffizienz führen, einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenüber neuen Marktteilnehmern darstellen und den Produktlebenszyklus verlängern können. Denn hier kommt es zu weitgehender Interessensangleichung zwischen Krankenkasse und Arzneimittelhersteller. Alle anderen Direktvertragsmodelle sind eher situativ nützlich, verlieren aber in anderen Phasen des Lebenszyklus an Attraktivität.
3.4
Auswirkungen auf den Marketingmix
Der Abschluss von Direktverträgen hat Auswirkungen auf alle weiteren Instrumente des Marketingmixes, insbesondere auf die Kommunikation und die Außendienstaktivitäten der Arzneimittelhersteller. In der Anbahnungsphase eines neuen Vertrages wird der Hersteller den anderen beteiligten Vertragspartnern – und hier in erster Linie dem Kostenträger – darlegen müssen, wo genau der Nutzen aus einem gemeinsamen Direktvertrag liegt. Diese "Value Story" muss quantitativ untermauert auf die Situation der Vertragspartner abgestimmt werden und entsprechend an die Beeinflus-
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
213
ser kommuniziert werden. Hierzu bedarf es nicht nur eines Key-AccountManagements, sondern auch Experten aus der Gesundheitsökonomie, des Versorgungsmanagements sowie angrenzenden Fachgebieten. Das Kundenbeziehungsmanagement wird in den späteren Phasen des Vertrages wichtig, um zeitnah mit den Vertragspartnern Probleme, aktuelle Ergebnisse und nächste Schritte zu diskutieren. Gegenseitiges Vertrauen und Transparenz sind notwendig für eine langfristige Vertragsbeziehung, aber nicht immer leicht herzustellen. Darüber hinaus sollte der Hersteller (a) seine übrige Kommunikation auf Stimmigkeit zu den Vertragsinhalten über alle Zielgruppen und Känale überprüfen und (b) den Vertragsabschluss bei den Leistungserbringern durch zusätzliche Maßnahmen bekannt machen. Letzteres fördert einerseits die Vertragsumsetzung, dient andererseits aber auch der eigenen Marktanteilsausweitung. Der Vertragsabschluss ist schließlich eine zusätzliche, positive Botschaft von einer neutralen Institution für das eigene Produkt, die für Kommunikationszwecke vorteilhaft eingesetzt werden kann. Neben den bereits angesprochenen Key-Account-Managern und entsprechenden Experten für die Betreuung von Kostenträgern wird durch die Aufnahme von Direktverträgen auch der übrige Außendienst verändert werden müssen. Je nach Produktportfolio und Vertragsmodell, sind entweder weniger bis gar keine Außendienstbesuche mehr (z. B. bei Rabattverträgen) oder zusätzliche, fachlich anspruchsvolle Besuche (im Rahmen von erklärungsbedürftigen Verträgen) notwendig. Insgesamt sind aber weniger Besuche denkbar, da die am Vertrag beteiligten Krankenkassen die Kommunikation zusätzlich unterstützen. Trotzdem bleibt es für die Hersteller wichtig, die Teilnahme an selektiven Verträgen in ihren Systemen nachzuhalten, um eine entsprechende zielgenaue Ansprache jedes Arztes sicherzustellen und die interne Komplexität beherrschbar zu halten.
4
Anforderungen der Vertragspartner
Bei der Konzeption, Anbahnung und Umsetzung von Direktverträgen sind auch die Interessen der Vertragspartner einzubeziehen. Die Anforderungen der wesentlichen Anspruchsgruppen sollen in Folge überblicksartig vorgestellt werden.
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214
4.1
Aus Sicht der Ärzte
Die Ärzteschaft steht individuell ausgehandelten Verträgen zwischen Herstellern und Krankenkassen eher kritisch gegenüber. Für sie sind die Nichtbeachtung der Versorgungsrealität, fehlende "head-to-head" Studien von unabhängigen Instituten und offene Fragen zu Patientensicherheit und Wirtschaftlichkeitsprüfungen die Hauptkritikpunkte (Ludwig, W./Walter, S. (2008)). Daher ist bei der Erarbeitung von Direktverträgen diesen Punkten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Eine frühe Einbindung von Ärztevertretern ist unerlässlich, um Versorgungskonzepte in einer späteren Phase auch umzusetzen. Die Nutzung von evidenzbasierter Medizin für die Erstellung von Behandlungspfaden, die Zusammenarbeit mit den KVen zur Sicherung der Regressfreiheit sowie die Berücksichtigung der Praxisrealität durch die Arbeit mit Ärzten sind grundlegende Anforderungen der Ärzteschaft. Eine klare Kommunikation zu Ärzten und Patienten beim Vertragsstart gehört ebenso dazu. Gleichzeitig ist es ein Kernanliegen der Ärzte, den zusätzlichen Dokumentationsaufwand und die Komplexität der Einzelregelungen möglichst gering zu halten. Als Gegenleistung für ihren Mehraufwand fordern sie eine aufwandsgerechte Zusatzvergütung bei der Umsetzung von Versorgungskonzepten, die von den anderen Vertragspartnern als Möglichkeit der Incentivierung und Steuerung gesehen wird.
4.2
Aus Sicht der Krankenkassen
Die Anforderungen von Krankenkassenseite an Direktverträge richten sich grundsätzlich an den Zielen der Kostenträger aus, eine qualitativ hochwertige Versorgung möglichst wirtschaftlich sicherzustellen. Bei einer Befragung unter den 20 größten Krankenkassen in Deutschland im Herbst 2009 zeigte sich zudem ein besonderer Fokus auf die Ausgabenreduzierung und Effizienzsteigerung der medizinischen Versorgung. Erst danach folgten qualitätsorientierte Zielsetzungen. Dieses Bild spiegelt sich auch in den Auswahlkriterien von Vertragspartnern und deren Angeboten wider, die zunächst auf Basis einer Kosten-Nutzen Analyse und des langfristigen Einsparpotenzials bewertet werden. Weitere wichtige anbieterbezogene Entscheidungskriterien sind Erfahrung im Indikationsbereich, Solidität und Zuverlässigkeit sowie eigenes Engagement für den Vertrag.
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
215
Welche Ziele sind derzeit im Leistungsmanagement Ihrer Krankenkasse wichtig? (1= unwichtig, 5 sehr wichtig), n = 15
Welche Kriterien sind bei der Auswahl eines Arzneimittelherstellers wichtig? (1= unwichtig, 5 sehr wichtig), n = 11
Ausgaben stabilisieren / reduzieren
4,53
Kosten-Nutzen Relation
Effizienz der medizinischen Versorgung verbessern
4,53
Gesundheitszustand der Versicherten verbessern
4,47
Qualität der Versorgung verbessern
4,33
Versichertenzufriedenheit erhöhen
4,45
Langfristiges Einsparpotenzial
4,18
Koordinationsaufwand des Vertrages
4,18
Wissenschaftliche Evidenz über den Produktnutzen
4,18
Erfahrung im Indikationsbereich
4,10
Solidität und Zuverlässigkeit
4,09
4,27 Kurzfristiges Einsparpotenzial
Leistungsprofil gegenüber anderen Krankenkassen schärfen
4,20
3,87
Einnahmen sicherstellen / erhöhen Attraktive Leistungserweiterungen für Patienten schaffen Partnerschaften mit Herstellern oder Versorgungsformen eingehen Zugang zu innovativen Therapieformen für alle Versicherten sicherstellen
3,80
4,00
Interesse an Verträgen / Engagement
3,91
Bisherige Zusammenarbeit
3,82
Ansehen / Reputation
3,60
Schnelligkeit der Entscheidungsfindung
3,55
Wirtschaftliche Stärke
3,50
3,60
3,53
Erfahrung mit selektiven Verträgen
3,10
Abbildung 4: Ziele im Leistungsmanagement und Kriterien bei der Auswahl von Herstellern Quelle: Eigene Darstellung
Die Versicherer müssen langfristig ihre Kosten unterhalb der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds halten und setzen auf kurzfristiges (jährliches) Kostenmanagement. Daher erwarten sie, dass ein Direktvertrag zumindest kurzfristig kostenneutral und langfristig kostensenkend wirkt bei gleichzeitiger Verbesserung der Versorgungsqualität. Zudem beklagen sie, dass Direktverträge mit einem erheblichen Koordinierungsaufwand für Administration, Abrechnung, Controlling und Evaluation verbunden sind.
4.3
Aus Sicht der Patienten
Patienten versprechen sich zunächst einmal Vorteile aus dem selektivvertraglichen Handeln ihrer Krankenkasse mit den anderen Vertragspartnern. So soll Ihnen doch eine bessere Versorgung geboten und der Zugang zu Arzneimittelinnovationen gesichert werden. Aus ihrer Sicht sind die Mitsprache bei Therapieentscheidungen, der Fortbestand des Vertrauensverhältnisses zu ihrem bisherigen Arzt, hohe Therapiesicherheit und Serviceaspekte wichtig (Kühn-Mengel, H. (2008)). Präventions-
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216
programmen sowie compliancefördernde Maßnahmen stehen sie positiv gegenüber, solange sie nicht für kommerzielle Zwecke missbraucht werden. Folglich sollte bei der Entwicklung von Direktvertragsmodellen nie der eigentliche Kunde, nämlich der Patient, und seine Bedürfnisse außer Acht gelassen werden. Nur der vom Versicherten wahrgenommene Mehrwert ist auch ein Wettbewerbsvorteil der Krankenversicherungen. Hohe Einschreiberzahlen verbessern zudem die Wirtschaftlichkeit der Direktverträge und sorgen für entsprechende Verhandlungsmacht.
5
Herausforderungen in der Umsetzung
Die Umsetzung von Direktverträgen umfasst alle Schritte nach Vertragsabschluss zwischen dem Kostenträger und dem Arzneimittelhersteller. Sollten das Versorgungssetting und die weiteren Vertragspartner bei Abschluss noch nicht bestimmt sein, so beginnt die Umsetzung mit der Suche und Auswahl der weiteren Vertragspartner (in der Regel Leistungserbringer) und schließt daran die Wahl des Versorgungssetting an. Die Entwicklung eines Kommunikationskonzeptes, die Schaffung der notwendigen IT-Systemvoraussetzungen und das Aufsetzen eines Projektmanagements sind die folgenden Schritte. Nach Abschluss der Vorbereitungen kommt es dann zur eigentlichen Umsetzung, die in vielen Fällen auch als Pilotprojekt gestartet wird und für die Vertragspartner in erster Linie die Kommunikation an alle wesentlichen Stakeholder bedeutet. Danach gewinnen fortlaufendes Projektmanagement, das Monitoring der Vertragsumsetzung und das Controlling der vereinbarten Erfolgskennzahlen an Bedeutung. Schließlich kommt es in regelmäßigen Abständen zu einer Evaluation hinsichtlich Effizienz und Effektivität des Vertrages. Folgende wesentliche Herausforderungen für die Umsetzung von Direktvertragsmodellen innerhalb des obengenannten Prozesses konnten durch Interviews mit Kostenträgern und Arzneimittelherstellern herausgearbeitet werden: x
Risikostratifizierung der Versicherten: Kostenträger und Hersteller zielen mit einem Direktvertrag auf eine klar definierte Patientengruppe, deren Versorgung effizienter gestaltet werden soll. Die genaue Ansprache und Einschreibung dieser Patienten gestaltet sich in der Realität oftmals schwierig, da insbesondere die Teilnahmebereitschaft nicht complianter Patienten deutlich geringer ist und ein neues Versorgungsangebot oftmals zu steigender Morbidität in dieser Indikation führt.
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
217
x
Evaluation: Die vielleicht größte Herausforderung der Vertragspartner ist die Evaluation des Vertrages, da häufig die Kriterien und die Faktoren für den Erfolg einer Therapie schwer zu definieren und zu berücksichtigen sind. Ebenso schwierig gestaltet sich die Suche nach einer Vergleichsgruppe in der Regelversorgung, die in allen Eigenschaften der Vertragspopulation entsprechen muss, um eindeutige Schlüsse über Kosten- und Nutzenentwicklung zu zulassen. Angebotsinduzierte Morbiditätsveränderungen, Anpassungen der Regelversorgung oder andere Umwelteinflüsse wirken alle gleichzeitig auf die Versichertenkohorte und erschweren eine eindeutige Bewertung.
x
Umsetzung der Arzneimittelempfehlungen: Trotz aller direktvertraglichen Regelungen gilt weiterhin die Therapiefreiheit des Arztes, die nur bei genau identischen Produkten (Generika) eine Einflussmöglichkeit der Kostenträger zulässt. Vor diesem Hintergrund ist eine Steuerung der Leistungserbringer hin zu einer bestimmten Therapie immer von der Mitarbeit dieser abhängig. Direktverträge versuchen mit verschiedenen Mitteln (z. B. Anreiz- und Sanktionsmechanismen, Kommunikation, Feedback-Berichte) die Therapiewahl zu beeinflussen. Die weitgehende Vertragskohärenz bleibt aber eine zentrale Herausforderung in der Umsetzung.
x
Controlling- und Administrationsaufwand: Insbesondere prozess- und outcomeorientierte Vertragsmodelle verursachen einen erheblichen Dokumentationsund Administrationsaufwand bei den Vertragspartnern (vorwiegend Ärzte und Krankenkassen). Ein zu hoher laufender Aufwand kann das Scheitern des Vertrages bedeuten. Der Aufbau von professionellen Versorgungsstrukturen wie Managementgesellschaften, eine verstärkte Nutzung von Informationstechnologie oder die Konzentration auf wesentliche Indikatoren in der Dokumentation können Strategien zur Aufwandsreduzierung darstellen.
x
IT-Systemintegration: Die Nutzung von Informationstechnologie zur Datenübermittlung und Kommunikation von Vertragsinhalten zwischen den Vertragspartnern bietet viele Vorteile und verringert den Arbeitsaufwand. Insbesondere die direkte Einbindung in die Arztpraxissoftware kann die Umsetzung des Vertrages in den Praxisalltag erleichtern, wenn nicht sogar erst ermöglichen. Die Integration der IT-Systeme ist allerdings auf Grund der Vielzahl von Praxismanagementsystemen komplex, zeitaufwändig und kostenintensiv.
x
Datenschutz: Der Übermittlung und Speicherung von Versicherten- und Behandlungsdaten zum Zwecke des Vertragscontrollings sind enge Grenzen durch datenschutzrechtliche Bestimmungen gesetzt. Es bedarf immer der Zustimmung des Patienten und des Arztes. Die Grenzen des Datenschutzes sind trotzdem
218
Martin Renze-Westendorf
juristisch nicht immer eindeutig. Zur Lösung wird oftmals ein Datentreuhänder eingesetzt.
6
Fazit und Ausblick – Sind Direktverträge die Lösung?
Nach Vorstellung der Vertragsmodelle, der Motive der Arzneimittelhersteller, der Anforderungen der übrigen Vertragspartner und den Herausforderungen in der Umsetzung lässt sich mit Blick auf die eingangs erwähnten großen Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen und die Möglichkeiten der Direktverträge ein differenziertes Bild zeichnen. Es ist sicherlich unstrittig, dass ein verstärktes Engagement aller Vertragspartner für eine bessere und effizientere Versorgung unter Nutzung des Instruments der Direktverträge grundsätzlich zu begrüßen ist. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass Direktvertragsmodelle in Abhängigkeit von Patientenpopulation, Produktlebenszyklus, Versorgungssituation und Wettbewerbsgeschehen nur situativ vorteilhaft für forschende Arzneimittelhersteller sind. Eine generelle Einführung im großen Stil wäre mit großem administrativem Aufwand bei nur geringen Vorteilen gegenüber den zurzeit geltenden kollektivvertraglichen Vereinbarungen verbunden. Es ist deshalb zu erwarten, dass arzneimittelbezogene Direktverträge auch in Zukunft nur flankierend zu einer Regelversorgung dort eingesetzt werden, wo entweder große Potenziale in der Versorgungsoptimierung zu erwarten sind oder es ökonomisch angezeigt ist, spezifisch auf Wünsche von Krankenkassen und Leistungserbringer einzugehen. Neue Lösungen führen insgesamt zu höherem Wettbewerb um die Gesundheitsausgaben und können das System leistungsfähiger machen, indem erfolgreiche Direktvertragskonzepte in die Regelversorgung übernommen werden. Gleichzeitig wird bei den vorangemachten Ausführungen aber auch klar, dass die Gesundheitspolitik entscheidenden Einfluss auf die Attraktivität der Direktverträge hat. Ihre Aufgabe ist es, den Ordnungsrahmen auch langfristig planbar für die Teilnehmer so vorzugeben, dass ein Wettbewerb um die effizienteste und qualitativ hochwertigste Versorgung sichergestellt ist. Langfristig wird so der Qualitätswettbewerb entscheiden, ob Direktvertragsmodelle und deren Versorgungskonzepte weitergeführt werden oder nicht (Porter, M./Teisberg, E. O. (2006)). Arzneimittelhersteller können die Vertragsmöglichkeiten nutzen, um langfristig Versorgungs-Know-How aufzubauen, um selber Zusatzangebote Krankenkassen entgeltlich anzubieten und so durch eine Diversifikation in versorgungsnahe Dienstleis-
Direktverträge als Marketinginstrument forschender Arzneimittelhersteller
219
tungen die Exklusivität ihrer Produkte zu sichern. Gleichzeitig können Direktverträge als Instrument für die Erreichung von Marketingzielen genutzt werden und eine höhere Kundenbindung (Krankenkassen, Leistungserbringer, Patienten) erzielen. Das Geschäftsmodell der Hersteller wandelt sich damit zunehmend zu einem Systemgeschäft aus Hardware (Arzneimittel) und Software (versorgungsnahe Dienstleistungen). Direktverträge können somit einen Beitrag leisten, die Versorgung effizienter zu gestalten und gleichzeitig den Innovationsstandort Deutschland zu erhalten.
220
Martin Renze-Westendorf
Literaturverzeichnis Backhaus, K./Voeth, M. (2007): Industriegütermarketing, 8., vollst. neu bearb. Aufl., München. Braun, G. E./Güssow, J./Heßbrügge, G./Schumann, A. (Hrsg. 2009): Innovative Versorgungsformen im Gesundheitswesen, Köln. Donabedian, A. (1966): Evaluating the quality of medical care, in: Milbank Memorial Fund quarterly, 44. Jg., Nr. 3,2/1966, S. 166-203. Ecker, T./Preuß, K.-J. (2008): Klassifikation und Charakterisierung der Vertragsarten, in: Ecker, T./Preuß, K.-J./Roski, R. (Hrsg. 2008), S. 27-64. Ecker, T./Preuß, K.-J./Roski, R. (Hrsg. 2008): Handbuch Direktverträge, Düsseldorf, Gänshirt, D./Harms, F./Lonsert, M. (2008): Zukunftsperspektiven für pharmazeutisches Marketing, in: Harms, F./Gänshirt, D./Rumler, R. (Hrsg. 2008), S. 139-151. Hagist, C./Kotlikoff, L. J. (2005): Who is going broke? Comparing healthcare costs in ten OECD countries, NBER Working Paper 11833, 2005. Hagist, C./Kotlikoff, L. J. (2006): Health care spending: What the future will look like, NPCA Policy Report No. 286, 2006. Harms, F./Gänshirt, D./Rumler, R. (Hrsg. 2008): Pharmamarketing, 2. Aufl., Stuttgart. Homburg, C./Krohmer, H. (2006): Marketingmanagement. Strategie - Instrumente - Umsetzung - Unternehmensführung, 2., überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden. Koch, K. (2009): Integrierte Versorgung und die Rolle der Pharmaindustrie, Mannheim. Kühn-Mengel, H. (2008): Anforderungen an innovative Vertragsmodelle aus der Sicht von Patienten und Versicherten, in: Ecker, T./Preuß, K.-J./Roski, R. (Hrsg. 2008), S. 121-131. Lier, M. van (2007): Netzwerkorientiertes Kundenmanagement am Beispiel der Pharma-Branche, Norderstedt. Ludwig, W.-D./Walter, S. (2008): Vertragsstrategien aus Sicht der Ärzteschaft, in: Ecker, T./Preuß, K.J./Roski, R. (Hrsg. 2008), S. 109-119. Porter, M. E./Teisberg, E. O. (2006): Redefining health care. Creating value-based competition on results, Boston, Mass. Straub, C./Lütjohann, I. (2009): Finanzierung und Vergütung von integrierten Versorgungsformen aus Sicht der Techniker Krankenkasse, in: Braun, G. E./Güssow, J./Heßbrügge, G./Schumann, A. (Hrsg. 2009), S. 131-143.
Innovationspotenziale in der Solarindustrie Enno E. Wolf*
1
Vorbemerkungen .........................................................................................222 1.1 Entwicklung der Solarindustrie ..........................................................222 1.2 Aktuelle Trends und Entwicklungen ..................................................224 1.3 Der deutsche Solarmarkt ..................................................................226
2
Innovationspotenziale in der Solarindustrie .................................................228 2.1 Systemspezifische Innovationspotenziale .........................................229 2.2 Innovationspotenziale in der Systeminstallation................................232 2.3 Innovationsmöglichkeiten in der direkten Systemumgebung ............233 2.4 Innovationspotenzial der das System umgebenden Infrastruktur......235
3
Fazit und Ausblick........................................................................................237
Literaturverzeichnis ................................................................................................238
* Dr. Enno E. Wolf ist Leiter Key Account Management und Projektentwicklung bei der Conergy Deutschland GmbH in Hamburg.
Enno E. Wolf
222
1
Vorbemerkungen
1.1
Entwicklung der Solarindustrie
Die erneuerbaren Energien haben in letzter Zeit erheblich an Bedeutung gewonnen. Der steigende Primärenergiebedarf weltweit bei gleichzeitig steigenden Rohstoffpreisen fossiler Energieträger (langfristiger Trend) sowie deren prognostiziertem Versiegen führen zu massiven Investitionen in Windkraft, Photovoltaik, Solarthermie, Wasserkraft und Biotechnik. Auch eine von vielen Experten erwartete kurzfristige Renaissance der Atomkraft vermag angesichts des absehbaren Endes der Uranressourcen die Veränderung im Energiemix der Zukunft (vgl. Abbildung 1) nicht wirklich aufzuhalten. Die Erneuerbaren Energien haben Rückenwind und sind weltweit auf dem Vormarsch.
1
Abbildung 1: Veränderung des weltweiten Energiemixes bis 2100 4XHOOH6RODUZLUWVFKDIWGH
In diesem Zusammenhang hat sich die Solarindustrie weltweit zu einer innovativen Wachstumsindustrie entwickelt, was abzulesen ist an einer zunehmend wachsenden Nachfrage nach PV-System und -Systemlösungen und einer insgesamt breiteren H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_11, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
223
Basis des PV-Marktes. So hat sich die jährliche Zubaumenge an Systemen international von anfangs einigen MWp in den 90ern auf mehre Hundert MWp vor einigen Jahren mittlerweile zu einem jährlichem Zubau im GWp-Bereich kontinuierlich weiter erhöht. Diese Expansion wäre nicht möglich gewesen ohne eine massive staatliche Unterstützung. Neue Technologien bedürfen am Anfang oftmals einer Förderung, damit sie sich durchsetzen und entwickeln können. So haben mittlerweile mehr als 40 Länder Förderprogramme für Regenerative Energien bzw. Photovoltaik aufgesetzt, wobei Deutschland nach wie vor eine Vorreiterrolle übernommen hat. Auch das Volumen des 2008 in Spanien installierten PV-Systems war hierbei von erheblicher Bedeutung: Der „goldene September“ 2008 hatte zu einem regelrechten Installationsboom geführt. Allerdings hat Spanien nach einer Gesetzesänderung in Bezug auf den lokalen Tarif seine Spitzenposition verloren und ist ins Mittelfeld abgerutscht. Von den international existierenden Förderprogrammen basieren mehr als 30 auf einem „Feed-in-Tarif“ Modell, in dem die erzeugten Energiemengen abzunehmen sind, eingespeist und nach einem bestimmten Vergütungssatz berechnet und erstattet werden. Die nachstehende Abbildung (vgl. Abbildung 2) vermittelt eine Übersicht über Länder mit Förderprogrammen und hebt die Märkte Deutschland, Italien, USA und Griechenland selektiv hervor. Neben Feed-In-Tarifen gibt es auch Investitionsanreize oder Steuervergünstigungen. Oftmals wirken zusätzlich regionale Modelle als Sonderförderung in Ergänzung zum nationalen Modell (z.B. Solarförderung von Dünnschicht-Anlagen in Hamburg in Ergänzung zum EEG). Einige Länder bedienen sich auch so genannter „Mischmodelle“, in denen unterschiedliche Arten der Förderung zugleich gelten können.
Enno E. Wolf
224
Deutschland | 20 Jahre Feed in Tarif | Keine Deckelung | Degression p.a. 9%
Italien | 20 Jahre Feed in Tarif | Ziel: 3 GW by 2016 | Degression p.a. 2%
Griechenland | 40% Investitionsförderung | Keine Deckelung | Zusätzlich regionale Programme
USA | 30% Tax Credit | Keine Deckelung | Zusätzlich regionale Programme
Quelle: Eigene Darstellung 2
Abbildung 2: Mehr als 40 Länder haben Förderprogramme aufgesetzt, 30 davon haben einen „Feed-in-Tarif“ Quelle: Eigene Darstellung
1.2
Aktuelle Trends und Entwicklungen
Nachwirkungen der Finanzkrise Im Rahmen der Finanzkrise sind im letzten Jahr die Möglichkeiten der Finanzierung von PV-Großprojekten zunächst eingeschränkt worden. Mittlerweile hat sich die Kreditvergabe finanzierender Banken wieder etwas entspannt. Es ist aber insgesamt immer noch zu beobachten, dass das Risikoverhalten der finanzierenden Banken nach der Krise restriktiver geworden ist. So ist zum Beispiel in Deutschland bei vielen PV-Vorhaben eine steigende Eigenkapitalquote im Rahmen der Finanzierung zu beobachten, die von früher um die 10 % auf derzeit teilweise über 20% angestiegen ist. Die Höhe dieser Eigenkapitalquote kann je nach Markt und Förderung unterschiedlich ausfallen.
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
225
Margenverlagerung und Preisverfall Wesentlicher Faktor für die positive Entwicklung im PV-Markt war im letzten Jahr der spürbare Preisverfall bei kristallinen Modulen sowie im Bereich der Dünnschicht. So ist Silizium (als ein wichtiger Rohstoff kristalliner PV-Module) preislich von Ende 2008 mit ca. 450 USD/kg auf 65-70 bzw. 55-60 USD/kg in 2009 abgesackt. Dieser Verfall hat sich für die Siliziumhersteller spürbar ausgewirkt; zugleich konnten von den sinkenden Siliziumpreisen die Modulhersteller, kundennahe Bereiche wie SystemInstallation und System-Integration und auch der Kunde selber profitieren. Im Modulbereich sind Preisverfälle - je nach Segment und Technologie und Land - von bis zu 20% und mehr beobachtbar gewesen. Im Systembereich Kleindachanlagen hat sich z.B. nach EUPD-Research beim Endkunden eine spürbare Preisreduktion von Q1/2009 mit ca. 3.922 €/ kWp auf Q1/2010 mit ca. 2.864 €/kWp ergeben [vgl. BSWSolar, April 2010, S. 4]. Neue Wettbewerber Auch in diesem Jahr werden wahrscheinlich weitere Firmen - angezogen durch verheißungsvolle Wachstums- und Ertragsaussichten - in den PV-Markt eintreten. So signalisierte Showa Shell den Einstieg wie diverse weitere Großkonzerne auch: Prominente Namen mit beabsichtigten oder bereits vollzogenen Markteintritten sind LG, Samsung, Panasonic, Hyundai und Bosch. Neue Technologien Neben den bisherigen etablierten Technologien werden in der noch jungen Solarbranche laufend neue Technologien entwickelt und vorgestellt. Diese können – sofern sie erfolgreich werden – zu signifikanten Technologiesprüngen führen, die erheblich die Kostensituation zu beeinflussen vermögen. Damit können von Fall zu Fall spürbare Verbesserungen im Kostengefüge eines Solarsystems erzielt werden, was den Markt und die Nachfrage weiter beflügeln kann. Aussichtsreiche Initiativen sind zum Beispiel neue Dünnschichttechnologien, metallurgisches Silizium, Drucktechnik für Solarzellen, Kombizellen, Konzentratorzellen, Hocheffizienzmodule und neue Typen von Wechselrichtern. Industrialisierung der Fertigung Die Fertigung von Solarzellen und Modulen tritt ein in eine neue Größenordnung. Waren früher kleine und mittlere Fabriken von zunächst 30-50 bzw. später 100 – 250 MWp schon am oberen Ende der Skala der Produktionsgröße, so sind heute im Bau befindliche Vorhaben und bereits angelaufene Projekte erheblich größer. So entstehen in Asien derzeit Produktionscluster im GWp Bereich (Bsp. Sharp Dünnschicht
Enno E. Wolf
226
bzw. Showa Shell). Diese Fabriken der neuesten Generation haben erhebliche Größenvorteile, weil sie billiger einkaufen können und anteilig geringere Kosten für die Verwaltung haben. Billig-Anbieter aus China werden die Premiumanbieter in Europa und den USA mittelfristig unter Druck setzen und das Hochpreissegment mit einer immer besseren Qualität herausfordern. Durch die Industrialisierung der Fertigung haben sich Solarmodule zu einem Standard-Gut entwickelt und den Massenmarkt erreicht. USA, China und Kanada mit eigenen Programmen In einer Reihe von wichtigen Märkten haben sich mittlerweile eigene Strukturen für PV-Förderprogramme gebildet. Hier bleibt abzuwarten, ob sich damit eine neue Form von solarem Protektionismus herausbildet oder ob auch etablierte Anbieter und Integratoren aus Europa unter fairen Marktbedingungen in diesen Märkten zum Zuge kommen können. Protektionismus birgt ein Risiko für die weitere internationale Entwicklung des PV-Marktes, weil er letztendlich Wettbewerb und Fortschritt im PVMarkt behindern und damit der notwendigen Effizienzsteigerung und dem zu wünschenden kontinuierlichen Innovationsprozess entgegenwirken kann. In diesem Zusammenhang werden nationale Normen, Standards und sonstige Vorgaben besonders aufmerksam auf Wettebewerbsverzerrungen zu beobachten sein.
1.3
Der deutsche Solarmarkt
Der deutsche Solarmarkt ist und bleibt – so Expertenschätzungen - auch nach 2009 (Zubau 2009: ~3,8 GWp) [ s. BSW 2010; Commerzbank (12.10; 2010), S.1], zumindest 2010 mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder der stärkste Solarmarkt weltweit. Ein für dieses Jahr erwartbarer Zubau von bis zu 5-6 GWp ist durchaus realistisch. Negativ könnte sich allerdings eine zu ambitionierte Sonder-Degression des EEGs auswirken, wie sie derzeit diskutiert wird. Verbraucherschützer monieren auch, dass die Kostenumlage durch das derzeitige EEG für den Normalverbraucher zu Mehrausgaben bei seinen Energiekosten führt. Trotzdem ist der Zubau von Photovoltaik in Deutschland von volkswirtschaftlicher Gesamtwarte aus positiv zu sehen.: Durch Photovoltaik können z.B. Rohstoffimporte fossiler Brennstoffe (Öl, Gas, Kohle etc.) verringert und so die Geldmittelabflüsse erheblich reduziert werden; ferner werden die durch fossile Energieträger verursachten Schäden für Wald- und Bausubstanz zurückgehen; zugleich kann eine nachhaltige lokale Wertschöpfung in der jeweiligen Infrastruktur entstehen, was sich auch auf den Arbeitsmarkt positiv auswirkt. Es wird geschätzt, dass die Anzahl der Beschäftigten im PV-Bereich bei ca. 60.000 liegt. [vgl.
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
227
BSW Solarbericht Statistische Zahlen der deutschen Solarstrombranche (2010, April), S.1].
3
Abbildung 3: Szenario EEG-Fördervolumen, vermiedene Kosten und Brennstoffimporte Quelle: IfnE auf Basis Branchenprognose; Stand 1/2009.
Im deutschen PV-Markt hat sich eine Reihe von wichtigen Markt-Segmenten herausgebildet, die u. a. unterschiedliche Anforderungen an System, Qualität, Service und Renditen stellen: x
Aufdachanlagen für private Haushalte,
x
den gewerblichen Sektor sowie
x
Freiflächenanlagen.
Traditionell ist Deutschland bisher ein Dachmarkt. Ca. 70-80 % der Gesamtinstallationen erfolgen im Dachsegment.
Enno E. Wolf
228
Aufdachanlagen für private Haushalte Wichtigstes Marktsegment in Deutschland sind nach wie vor die Aufdachanlagen für private Haushalte. Die typische Anlagengröße ist kleiner als 10 kWp, wenngleich sich diese in letzter Zeit kontinuierlich erhöht hat. Diese Art von Anlagen wird überwiegend durch kleine Betriebe installiert, die ihre Module bzw. Systeme hauptsächlich beim Großhandel beziehen. Aufdachanlagen für den gewerblichen Sektor Zweitwichtigstes Marktsegment in Deutschland sind die Aufdachanlagen für den gewerblichen Sektor. Hier zeigt sich immer noch ein hohes Potenzial bei industriellen Dachflächen. Neue Dachsysteme machen auch die Belegung von Dächern mit geringer Traglast möglich. Die typische Anlagengröße ist hier kleiner 400 kWp. Installierte Anlagen können jedoch mittlerweile auch die Größe von 1 MWp übersteigen. Auch hier ist eine kontinuierliche Zunahme der durchschnittlichen Anlagengröße zu beobachten. Freiflächenanlagen In der Vergangenheit haben sich auch in Deutschland die großen Freiflächenanlagen als ein weiteres wichtiges Marktsegment entwickelt. Zahlreiche Erfahrungswerte konnten hier gesammelt werden. Die zukünftige Wachstumsrate in Deutschland ist wahrscheinlich jedoch aufgrund der neuerlichen verringerten Einspeisevergütung eher niedrig. Freiflächenanlagen wurden und werden aus Wirtschaftlichkeitsgründen überwiegend mit Dünnschicht realisiert. Sollten die Ackerflächen aus der zukünftigen EEG-Vergütung herausfallen, kann dies unter Umständen zum „Aus“ für entsprechende Freiflächenanlagen in Deutschland führen. Es wird sich zeigen, inwiefern die Nutzung von Alternativflächen wie Positivflächen (nach EEG zu bestimmen) bzw. Konversions- und Gewerbeflächen diesen Rückgang zu kompensieren vermag.
2
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
Eine so junge Industrie wie die Photovoltaik birgt eine Reihe von Innovations- und Optimierungspotenzialen. Diese sind vielfältig und bedürfen einer Systematisierung. Es bietet sich an, das PV-System mit seinen Komponenten hier als kleinste Einheit in Bezug auf eine mögliche Optimierung zu sehen. Entsprechend ergeben sich systemspezifische Optimierungspotenziale in den einzelnen Komponenten sowie deren Zusammenspiel. Jegliche Form von System bedarf immer auch einer Installation. In
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
229
diesem Zusammenhang ist in diesem Bereich ein weiteres Gebiet möglicher Innovationen und Optimierungen gegeben. Ein installiertes PV-System selbst steht im Kontext mit seiner direkten systemischen Umwelt. Auch in der Integration in diese bzw. im Zusammenspiel mit dieser kann ein weiteres Optimierungspotenzial vermutet werden, was ebenfalls Raum für entsprechende Innovationen bietet. Erweitert man sukzessive den Blickwinkel auf die unmittelbare Systemumgebung, können auch hier durch neue Themengebiete und Einsatzmöglichkeiten Innovationspotenziale angenommen werden. Die nachstehende Abbildung fasst den Ansatz zur Bestimmung möglicher Innovationspotenziale zusammen (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4: Mögliche Ebenen von Innovationspotenzialen
Komplexität System & Integration
E-mobility Komplexe Netze…
Erweiterte Systemumgebung
Eigenverbrauch…
Unmittelbare Systemumgebung PV Systeminstallation
KITs…
PV System
Module
Gestelle
Wechselrichter
AC/ DC Kleinmaterial, Verkabelung System Reichweite Quelle: Eigene Darstellung
4
Abbildung 4: Mögliche Ebenen von Innovationspotenzialen Quelle: Eigene Darstellung
2.1
Systemspezifische Innovationspotenziale
Ein PV-System besteht aus diversen Komponenten, die zu einer Systemlösung integriert werden: Modulen (PV-Generatoren), Wechselrichtern, die den Gleichstrom in Wechselstrom umwandeln, sowie aus einem Gestell, das die Module fixiert. Weitere
230
Enno E. Wolf
ebenfalls erforderliche Komponenten sind die Generatoranschlusskästen, die Verkabelung auf Gleichstrom- sowie Wechselstromseite sowie der Stromzähler. Die Komponenten sind optimal aufeinander abzustimmen, damit das System bestmöglich über lange Zeit verlässlich läuft. Das PV-System liefert mit seiner installierten kWpLeistung einen spezifischen Ertrag, der nach Einspeisung final durch das EEG vergütet wird. Allerdings kann es dabei durch Leitungs- und Wandlungsverluste in Leitungen und Wechselrichter sowie durch Degradation der Module zu einer Minderung kommen. Auf Modulebene können ebenfalls Innovationen auf Wafer-, Zell- oder Modulebene zu Verbesserungen in der Effizienz, d.h. zu Mehrerträgen führen. Zusätzliche Effizienzpunkte sind z.B. gutes Schwachlichtverhalten, gutes Temperaturverhalten, Mehrbustechnik, Anschlussdosentechnik, Laminierung, Zellverschaltung, Zellsortierung. Jede marginale Verbesserung im Modulbereich trägt zugleich zu einer besseren energetischen Nutzung der verwendeten Fläche (Dach oder Freifläche) bei. Gerade in Ländern mit sehr knappen Flächen und hohen Landkosten ist dieser Wert wichtig. Die Moduleffizienz ist ein treibender Faktor des technologischen Wettstreits zwischen den Technologien Dünnschicht und Kristallin. Neben dem Modul ist der Wechselrichter das eigentliche „Herz“ der Solaranlage. Hier erfolgt die Wandlung vom Gleich- zum Wechselstrom, der in das Netz eingespeist wird. Im Wechselrichterbereich gibt es neben Stringwechselrichtern, die regelmäßig für Kleinanlagen verwendet werden, auch Minizentralwechselrichter für größere Dachanlagen und Zentralwechselrichter für sehr große Dachanlagen und Freiflächen. Mit der Weiterentwicklung der Stringvarianten werden inzwischen auch Stringwechselrichter in Freiflächenparks dezentral verbaut. Herausforderung ist hier deren Synchronisation bzw. die „Kommunikation“ untereinander. Im WechselrichterBereich sind die Wirkungsgrade in der Stromwandlung besonders relevant. Jede technische Innovation führt hier auch bei kleinsten Werten über eine lange Laufzeit zu Mehrerträgen und damit zu besseren Renditen für die Kunden. Insofern liegt hier ein wesentlicher Stellhebel für die Effizienz von Solarsystemen. Modernste Schalttechnik, innovatives Komponentendesign, Maximum-Power-Point Tracking sowie innovative Software-Lösungen zur Überwachung liefern ihre Beiträge zur Verbesserung der Gerätewirkungsgrade sowie zu einer optimierten Überwachung der Laufleistung. Auch das Gestellsystem ist für ein PV-System eine wichtige Komponente. Sie verbindet die Generatoren mit dem Dach oder dem Grund und Boden. Hier sind Wind-
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
231
lasten, maximale Dachlasten und Sicherheitsabstände zu beachten. Ein schnell verbaubares robustes Gestellsystem, das diverse Modultypen zulässt und sich durch Langlebigkeit und Stabilität auszeichnet, ist integraler Bestandteil einer effizienten Systemlösung. Innovationspotenziale im Gestellsystembereich sind vielfältig. So können neue Arten von Gestellsystemen wie Leichtgewicht-Gestellsysteme, durchdringungsfreie Dachgestellsysteme, selbsttragende Systeme und Fassaden- und Gebäudeintegration von PV-Gestellen zur Bebaubarkeit bisher unerschlossener Flächen führen. Zugleich kann durch materialoptimierte Träger sowie spezielle Pfosten im Freilandbereich erheblich Material eingespart werden, was angesichts stark schwankender Rohstoffpreise bei Aluminium und Stahl im Projektpreis sofort spürbar ist. Im Bereich der Modulverschraubung ist an innovative Klick- und Klemmtechnik zu denken, die das Verschrauben weitgehend vermeiden hilft, gleichzeitig aber die Stabilität über eine lange Laufzeit von 20 Jahren und mehr gewährleistet. Die nachstehende Abbildung fasst die zentralen Komponenten einer PV-Dachanlage illustrativ zusammen (vgl. Abbildung 5).
Quelle: SunTechnics
4
Abbildung 5: Zentrale Komponenten eines PV-Systems (Dachlösung) Quelle: SunTechnics
Enno E. Wolf
232
2.2
Innovationspotenziale in der Systeminstallation
Neben Innovationspotenzialen im PV-System im engeren Sinne ergeben sich auch Verbesserungsmöglichkeiten im Bereich der Systeminstallation auf Dächern und Freiflächen. Im Bereich der Dachsysteme kann durch Standardisierung der Komponentenwahl und optimale Abstimmung der Systembestandteile aufeinander der Wirkungsgrad des Gesamtsystems optimiert werden. Zudem können Standard-Systeme, so genannte KITs (bereits bekannt aus der Solarthermie), d.h. vorkonfektionierte, massenmarktfähige PV-Standard-Lösungen als kostengünstigere PV-Systeme weitere Kundengruppen gewinnen. Das Problem dabei ist allerdings, dass jedes Dach in der „realen Welt“ seine Besonderheiten hat, so dass eine Vielzahl der KIT-Systeme trotz Standard-Auslegung und -Belegung noch einer gewissen systemischen Anpassung bedarf. Durch eine entsprechende Vor-Kommissionierung und Konfektionierung kann die Installation von Dachsystemen auf der Baustelle erheblich verkürzt werden. Im Idealfall müssten alle erforderlichen Komponenten zum Bau verfügbar sein, was in anderen Industrien Standard ist; die junge Solarbranche aber teilweise immer noch vor logistische Herausforderungen stellt. Vorinstallierte Komponenten und Verschraubungen bei Dachsystemen können z. B. die Installation beschleunigen. Auch moderne Software in der Dachbelegung macht die Planung von Anlagen bis hin zur Modulbelegung, Wechselrichterverschaltung und automatischen Erstellung der Gestellsystem-Stückliste erheblich schlanker. So lassen sich in den Bereichen Systemplanung und Auslegung erhebliche Einsparpotenziale bei Zeit und Kosten realisieren. Auch im Bereich der Großanlagen auf Dächern hat sich bei der Systeminstallation viel verbessert. So können bestimmte Dachflächen bei vorhandenen Statikdaten mittlerweile gescannt und dementsprechend verschattungsoptimiert belegt werden; zugleich werden als Nebenbedingungen der Installation statische Anforderungen wie zum Beispiel maximale Dach- und Windlasten berücksichtigt. Die Existenz neuartiger Gestell- und Leichtgewichtsysteme lässt die Realisierung von PV-Anlagen auf Dachflächen zu, auf denen das vorher aus Gewichts- und Statikgründen nicht möglich war. Im Sektor der Freiflächen ist ebenfalls eine Vielzahl von Verbesserungspotenzialen identifiziert worden. So wird die Gründung in vielen Bereichen durch Rammung, eine
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
233
aus dem Leitplankenbau stammende Technik; industrialisiert vollzogen; die elektrische und mechanische Montage sind in ihren Abläufen erheblich verschlankt und standardisiert worden. Systemseitig wird nicht mehr in rein individuellen Lösungen gebaut, sondern immer mehr in so genannten Standard-Systemblöcken, die je nach Integrator dessen Standard-System-Architektur skalierbar aufnehmen und umsetzen. So werden auf die Freifläche quasi standardisierte „System-Blöcke“ gesetzt, die nach immer gleichem Muster möglichst dem Standard des jeweiligen Integrators entsprechen. Durch dieses Vorgehen, das noch weiter optimierbar ist, sind bereits in der Vergangenheit die BOS-Kosten, die Balance of System Kosten, erheblich gesunken. Hier liegen – so die Meinung vieler Experten - weitere erhebliche Optimierungspotenziale. Diverse Marktteilnehmer forschen am industriellen und automatisieren Systembau im Freiflächenbereich. Die derzeit realisierten Parks machen solche Ansätze möglich und erforderlich (z.B. Vorhaben mit über 70 MWp brauchen eine besonders effiziente Bauweise auf Grund der hohen Komplexität sowie der herausragenden Projektgröße).
2.3
Innovationsmöglichkeiten in der direkten Systemumgebung
Auch im Zusammenspiel von PV-Systemen und ihrer näheren Umgebung liegt grundsätzlich ein weiteres Innovationspotenzial: Photovoltaik vermag zum Beispiel im Bereich der Dach- und Fassadenintegration, beim Thema Eigenverbrauch, im Rahmen von integrierten Objekt-Energielösungen oder der dezentralen Energieversorgung neue technologische Impulse zu setzen, gleichzeitig kann sie ein verbindendes Element zwischen diesen vorgenannten Aspekten darstellen. So kann z.B. ein in die Fassade integriertes PV-System den Eigenverbrauch ermöglichen, zugleich aber auch Bestandteil eines Contracting-Ansatzes für ein Gebäudeobjekt sein, das etwa unter dem Management eines lokalen Energieversorgers steht. Photovoltaik kann so die vorstehenden Ansätze bereichern, integrieren und verbinden. Dach und Fassadenintegration Die Dach- und Fassadenintegration ist ein Bereich, der zum Beispiel in Frankreich intensiv gefördert worden ist. Aus optischen und ästhetischen Gründen kann eine diskrete Einbettung von PV-Technik in ein Gebäude vorteilhaft sein. Es gibt beispielsweise Bestrebungen, ganze Fassaden durch PV-Elemente zu gestalten, den Dachaufbau durch entsprechende solare Ziegeln zu vollziehen oder durch dachinte-
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Enno E. Wolf
grierte Lösungen die PV-Module ganz einzusparen. Somit könnten im Prinzip alle Außenflächen eines Objektes der Energiegewinnung dienen. Im Bereich der Dachund Fassadenintegration ist mit weiteren Innovationen im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der Dachsysteme oder auch in Kombination mit anderen Formen von regenerativer Energiegewinnung wie z.B. der Solarthermie zu rechnen. Ein Problem könnten dabei die Kosten, die Stabilität und die Langlebigkeit dieser Lösungen sein. Eigenverbrauch Das Thema Eigenverbrauch wird in Zukunft wichtiger werden. Grundlegende Idee dieses Ansatzes ist, den erzeugten Strom an Ort und Stelle lokal selbst zu verbrauchen und nicht in das öffentliche Stromnetz einzuspeisen. Ein solches Konzept erfordert technische Innovationen in Form von neuen Produkt- und Softwarelösungen, die mit dem bestehenden oder zu installierenden PV-System interagieren, dabei den Anforderungen des EEG zum Eigenverbrauch entsprechen und diese technisch umsetzen und zugleich für den Kunden in der Bedienung einfach und kundenfreundlich gestalten. Integrierte Objekt-Energielösungen Die Suche nach Optimierungspotenzialen führt auch im Bereich des Facility Managements von Gebäuden und größeren Immobilienbeständen dazu, dass sukzessive bei der Realisierung neuer oder der Modernisierung alter Bestandsobjekte moderne PV-Technik für deren Energiekonzepte verwendet wird. In diesem Zusammenhang ist neben den Gesichtspunkten der Einsparung von Energie und der Erhöhung der Effizienz auch der Aspekt der möglichen Erzeugung von Energie immer wichtiger geworden; nicht zuletzt um lokale Vorgaben und Standards sowie Selbstverpflichtungen von Unternehmen im Hinblick auf Energieeinsparung und Vermeidung von CO2 zu realisieren. Hier tauchen Stichworte auf wie die „CO2 freie Verwaltung“, das „CO2 freie Produkt“ oder der „CO2 neutrale Betrieb“. Photovoltaik spielt aufgrund ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten in diesem Bereich eine immer größere Rolle. Dezentrale Energieversorgung In den nächsten Jahren laufen in Deutschland diverse Konzessionen für Stromnetze aus. In diesem Zusammenhang überlegen viele kommunale und regionale Energieversorger, ob sie für diese Netze mit bieten sollen, um die Konzessionen zurückzubekommen. Ferner erfolgen diverse Neugründungen von Energieversorgern (z.B. Hamburg Energie) und Zusammenschlüsse kleinerer Marktteilnehmer zu Interessengruppen. Im Lager der Energieversorger gibt es mittlerweile eine Gruppe, die den Ausbau Erneuerbarer Energien in eigener Sache massiv betreibt, Photovoltaik in ihr
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
235
Erzeugungsportfolio aufgenommen hat und neben klassischen Kraftwerken und Kraftwerksscheiben PV-Anlagen in Ergänzung zu Wind-, Wasser- und Biogaskraftwerken betreibt. So entstehen zurzeit unter ihrer direkten Regie diverse PVGroßprojekte (u. a. Region Trier mit Fell, Bitburg; Berneburg; diverse EnBW Vorhaben). Man kann inzwischen sogar feststellen, dass bestimmte Regionen mittlerweile zu „Strom-Exporteuren“ geworden sind. Dieser Fall liegt dann vor, wenn die gesamte Stromerzeugung aus regenerativen Energiequellen in einem bestimmten geographischen Gebiet den lokalen Stromverbrauch übersteigt und der Überschuss abgeführt werden muss. Damit erfolgt eine Wertschöpfung aus Erneuerbaren Energien direkt in der Region für die Region. In diesem Zusammenhang werden intelligente Netze und Konzepte für eine dezentrale Energieversorgung entwickelt und sukzessive implementiert. Auch innovative lokale Stromprodukte mit hohem Anteil an Erneuerbarer Energie werden geschaffen und in den Markt eingeführt, wie zum Beispiel „Eiffelstrom“ oder „Fördestrom“. Die Vielzahl an regenerativen Energien und Erzeugungspunkten führt zu erheblichen Herausforderungen in Netzplanung und Netzsteuerung. Die vormals auf Großerzeugung ausgerichteten Netz-Topologien sind anzupassen an neue Realitäten, was desgleichen Raum bieten wird für Innovationspotenziale.
2.4
Innovationspotenzial der das System umgebenden Infrastruktur
Neben Innovationspotenzialen im PV-System selbst, in dessen Installation sowie der unmittelbaren Systemumgebung gibt es noch andere Themengebiete im erweiterten Umfeld von PV-Systemen, wo Photovoltaik einen Beitrag zu innovativen Konzepten zu leisten vermag und wo sich ebenfalls Raum für Innovationsmöglichkeiten und Optimierungspotenziale erschließen wird. Solche Themengebiete sind etwa e-Mobility, innovative Off-grid und Speicherlösungen e-Mobility e-Mobility gilt als ein wichtiges Mobilitätskonzept der Zukunft (vgl. dazu auch Frohwein (2009)). Es wird derzeit sehr intensiv und kontrovers diskutiert. Es gilt, langfristig individualisierte Mobilität auf umweltfreundliche Infrastruktur und Energieträger umzustellen. Erste Pilotregionen sind in Deutschland definiert und erste Projekte dazu laufen bereits. Herausforderung wird sein, die dafür benötigte Strommenge umweltfreundlich zu generieren und geeignet zur Verfügung zu stellen. Dieser Ansatz kann die individuelle Massenmobilität und deren bisher negative Auswirkungen spürbar positiv beeinflussen, falls es technisch gelingen sollte, umfangreiche Anteile des Personenverkehrs in Zukunft CO2 neutral zu gestalten. In diesem Zusammenhang
236
Enno E. Wolf
müsste für wirklich saubere Elektroautos neben einer geeigneten „Hardware“, den E-Fahrzeugen selber, auch eine geeignete Netz-Infrastruktur geschaffen werden. Hier könnten solare Tankstellen, die bereits als einzelne Prototypen bestehen, einen Teil der Infrastruktur ausmachen; ferner könnte dezentral erzeugte PV-Energie in ein separates Ladenetz für e-Mobile eingespeist werden. PV-Systeme und PVKraftwerke werden im Rahmen eines integrierten e-Mobilitätsansatzes sicherlich ihren Stellenwert finden, da Photovoltaik in Kleinsystemen wie in Großsystemen prinzipiell überall dezentral installiert werden kann und sich damit in neue Infrastrukturkonzepte gut einbetten ließe. Innovative Speicherlösungen Die Speicherung der durch Erneuerbare Energien erzeugten Energie ist nach wie vor eine Herausforderung. Als heutiger Speicher fungiert bisher das Stromnetz. Die mangelnde Speicherbarkeit des aus Erneuerbaren Energien erzeugten Stroms ist nach wie vor ein erheblicher Nachteil dieser Energiequellen. Entsprechend gibt es - Biogas-Kraftwerke sind davon eine Ausnahme – auch immer noch keine echte Grundlastfähigkeit. Dieses Problem ist erkannt und wird in diversen Forschungsvorhaben adressiert. Sollte es in diesem Zusammenhang gelingen, hocheffiziente und zugleich auch wirtschaftliche Speicher zu entwickeln, was zweifellos eine erhebliche Innovation wäre, könnte der solare Strom wirtschaftlich gespeichert werden. Damit könnte in den Spitzenzeiten gewonnene Energie für nachts oder Zeiten ohne Erzeugung vorgehalten werden. Eine speichergestützte Grundlastfähigkeit für Erneuerbare Energien wäre so denkbar. Eine effektive und effiziente Speicherlösung für dezentrale Energiesysteme könnte der Photovoltaik zu einem weiteren erheblichen Entwicklungsschub verhelfen. Innovative Off-grid Lösungen Auch der Off-grid Markt ist ein Wachstumsmarkt im PV-Geschäft, der noch erhebliches Innovationspotenzial bergen sollte. Insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer, wo oftmals stabile Stromnetze fehlen, fragen verstärkt Inselsystemansätze nach. Hier gilt es oftmals, dezentrale Mini-Netze zu schaffen, die auch eine Versorgung nachts und an Tagen mit geringer solarer Einstrahlung sicherstellen (vgl. dazu auch Häberlin (2010)). Hier werden zum Beispiel häufig konventionelle Ansätze (Dieselaggregate, Gasturbinen) und klassische solare Systeme (HVAC und PV) kombiniert und in kostengünstige lokale Gesamtlösungen integriert. Vorteil ist, dass solche Lösungen unmittelbare Verbesserungen bieten, auch wenn die nationalen Versorgungsnetze diese Region noch nicht erschlossen haben. Experten erwarten bei an-
Innovationspotenziale in der Solarindustrie
237
haltendem weiterem Preisverfall der Systeme auch in diesem Bereich erhebliches Wachstum.
3
Fazit und Ausblick
Die immer noch sehr junge und unreife PV-Industrie muss sich langfristig von nationalen Programmen und Fördertarifen entkoppeln. Dies wird letztendlich dann gelingen, wenn PV-Systeme auch ohne Förderung wirtschaftlich sinnvolle Investitionen werden. In diesem Zusammenhang ist ein oftmals angeführter Punkt die Netzparität, die es hierfür zu erreichen gelte. Mit dem Erreichen der Netzparität könnten Endkunden prinzipiell frei wählen, ob sie Ihren Strom aus der „Steckdose“ beziehen wollen oder aus einem eigenen Solarsystem. Für den Fall, dass auch noch das Problem der Speicherung von Energie zeitgleich gelöst sein sollte, käme es zu einer grundlegenden Änderung auf dem heimischen Energiemarkt, z.B. zu einer spürbaren Reduktion des Einflusses überregionaler Versorgungsunternehmen. Um dieses Stadium zu erreichen, bedarf es sicher noch einer Vielzahl von Verbesserungen und entsprechenden Innovationen im PV-System selber, in der Installation, in der Integration sowie in der Vernetzung von PV-Lösungen mit ihren Umgebungssystemen. Insgesamt ist festzustellen, dass in der PV-Industrie noch erheblicher Optimierungsbedarf besteht und ein entsprechend großer Raum für Innovationspotenziale vermutet werden kann.
238
Enno E. Wolf
Literaturverzeichnis BSW-Solar, Bericht zu PV; April 2010 Commerzbank Branchenanalyse (12.10; 2010) Frohwein, Torsten (2009): Innovationsstrategien im Projekt "e-mobility Berlin". Universität Stuttgart, Betriebswirtschaftliches Institut, Abteilung I - Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsmanagement, Betriebswirtschaftliches Inst. der Univ., Lehrstuhl für ABWL, Forschungs-, Entwicklungsund Innovationsmanagement, Stuttgart Häberlin, Heinrich (2010): Photovoltaik : Strom aus Sonnenlicht für Verbundnetz und Inselanlagen. In: Electrosuisse ;: VDE VERLAG, 2010, Ausgabe: 2., rev. Aufl., Berlin Kühl, Lars (2010): Solare Stromerzeugung: Photovoltaik. In: Matthias Kramer (Hrsg.). Integratives Umweltmanagement: systemorientierte Zusammenhänge zwischen Politik, Recht, Management und Technik, Gabler, S. 563-585. Wiesbaden Sander, Beate & Fath, Peter & Leiner, Anka (2010): Nachhaltig investieren in Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme und Desertec, Ausgabe: Börse Online Ed.: Finanz Buch, München Müller, Karl-Heinz & Giber, János (2010): Erneuerbare (alternative) Energien: reale Zukunft der Energieversorgung, einschließlich Kernenergie. Unter der Mitw. von: Andreas (András) Blazsek und Nikolas Adrian Müller, 2., erw. und aktualisierte Aufl.,: Shaker Media, Aachen
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing Oliver Kutz*
1
Einleitung ........................................................................................................240
2
Grundlagen der Lizenzierung ..........................................................................241 2.1 Markenlizenzierung ............................................................................241 2.2 Imagetransfer .....................................................................................242
3
Empirische Untersuchung ...............................................................................244
4
Messung des Lizenzmarkenerfolgs.................................................................247
5
Erfolgreiches Lizenzmarkenmanagement .......................................................250
6
Ausblick...........................................................................................................258
Literaturverzeichnis .................................................................................................259
* Dr. Oliver Kutz ist General Manager Caucasus bei Imperial Tobacco in Hamburg.
Oliver Kutz
240
1
Einleitung
Für die nationale Umsetzung einer Markenstrategie zur Einführung eines neuen Produktes sind Investitionen in zwei- bis dreistelliger EURO-Millionenhöhe nötig. Dabei handelt es sich allerdings keineswegs um ein risikoloses Vorhaben; der Anteil von Fehlschlägen wird je nach Branche mit bis zu 90% angegeben. Hieraus resultiert das Interesse der Hersteller an neuen Marketingansätzen, die das Floprisiko der unter hohem Ressourceneinsatz entwickelten Neuprodukte reduzieren. Die Produkte unter einer etablierten Lizenzmarke einzuführen, stellt ein solches Erfolg versprechendes Instrument des Innovationsmarketing dar (vgl. Binder, C.U. (2005), S. 533, Mayerhofer, W. (1995), S. 2). Die Lizenzierung bietet einem Lizenznehmer die Chance, einen bekannten Namen zu erwerben, der absatzfördernd auf die eigenen Produkte wirkt. Durch das Wiedererkennen des Markennamens besteht auf Seiten der Konsumenten Vertrautheit mit der etablierten Marke. Dies senkt die Kosten für die Distribution, erhöht die Effizienz von Kommunikationsmaßnahmen und führt häufig zu Probekäufen der Konsumenten. Für den Lizenzgeber eröffnen sich Möglichkeiten zur Ausweitung und Stabilisierung der Marke und zur Erschließung neuer Marktsegmente (vgl. Binder, U. (2005), S. 530; Braitmayer, O. (1998), S. 3; Esch et al. (2005), S. 914; Sattler, H. (2004), S. 821; Schiele, T.P. (1997), S. 191; Taylor, D. (2004), S. 1-2). Das gestiegene Interesse an der Markenlizenzierung dokumentiert sich in einer Vielzahl von Transferbeispielen der jüngsten Zeit. Mövenpick Joghurt, McDonald’s Bekleidung, Adidas Uhren und Porsche Brillen sind nur einige Beispiele für diesen Trend. Den am weitesten fortgeschrittenen Entwicklungsstand hinsichtlich Umsatzes und Anzahl der Lizenzen weist die Bekleidungsindustrie auf, eine Branche, in welcher der Marke als kaufentscheidendem Kriterium eine hohe Relevanz zukommt (vgl. Baumgarth, C. (2008), S. 158; Binder, U. (2005), S. 526; Ott, M. (1998), S. 50-51). Den erheblichen Vorteilen der Markenlizenzierung stehen nicht zu unterschätzende Risiken für Lizenzgeber und -nehmer gegenüber. Durch eine Vielzahl von Erweiterungen kann die Marke langfristig "überstrapaziert" und die Klarheit des Markenbildes getrübt werden. Falsche Erweiterungen rufen negative Assoziationen hervor, die, wenn überhaupt, nur mittels erheblicher finanzieller Ressourcen geändert werden können (vgl. Sattler, H. (2004), S. 822; Smith, D.C./Park, C.W. (1992), S. 298). Der Blick in die Unternehmenspraxis zeigt folglich, dass die strategischen Markenallian-
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_12, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
241
zen in Form von Lizenzvereinbarungen nicht nur Chancen bieten, sondern mit erheblichen Risiken verbunden sind, die nicht selten das Scheitern des Kooperationsabkommens zur Folge haben. So liegt die Frage nahe, wie die Lizenzpartner ihre Marke zu führen haben, um die damit verbundenen Ziele zu realisieren. Die Identifikation der Schlüsselfaktoren, die den Markenerfolg der Lizenznehmer signifikant beeinflussen, stellt somit ein zentrales Anliegen der Unternehmenspraxis dar.
2
Grundlagen der Lizenzierung
2.1
Markenlizenzierung
Grundsätzlich versteht man unter Lizenzierung die gegen Entgelt gewährte Einräumung eines Benutzungsrechtes für immaterielle Güter wie Patente, Geschmacksmuster, Know-how oder Marken (vgl. Auer, M./Diederichs, F.A. (1993), S. 121; Hätty, H. (1989), S. 43). Bezogen auf Markenrechte, lässt sich die Lizenzierung definieren als die vom Berechtigten autorisierte Verwendung eines Markenzeichens durch einen anderen als dessen Inhaber. Die Lizenzierung von Marken stellt ein bedeutendes Konzept der Markentransferstrategie dar. Im Gegensatz zur Markeninnovation erfolgt beim Markentransfer der Rückgriff auf ein bereits für andere Produkte verwendetes Markenzeichen. Neben dem Zeichen sollte, soweit möglich, auch die entsprechende Ausstattung mitübertragen werden. Das Ziel muss sein, dass der Verbraucher alle mit der Marke gekennzeichneten Produkte als eine zusammengehörende Einheit wahrnimmt (vgl. Auer, M./Diederichs, F.A. (1993), S. 168; Huber, H. (1997), S. 128; Meffert, H. (1992), S. 147). Bei der Vergabe von Markenlizenzen liegen die Herstellung und der Vertrieb unterschiedlicher, aber gleichmarkierter Produkte in den Händen rechtlich und wirtschaftlich selbstständiger Unternehmen (vgl. Auer, M./Diederichs, F.A. (1993), S. 121; Henning-Bodewig, F./Kur, A. (1989), S. 173). Daher besteht ein größerer Koordinationsbedarf als bei einem Markentransfer im engeren Sinne, bei dem lediglich ein Unternehmen beteiligt ist. Die Markenlizenzierung hat sich somit als rechtliche Form der organisierten Partizipation mehrerer Parteien an der Ausnutzung des ökonomischen und außerökonomischen Wertes einer Marke herausgebildet. Der zu Grunde liegende Gedanke ist, dass alle Beteiligten vom Wert der Marke profitieren – bei Teilung der Herstellungs-
Oliver Kutz
242
und Vertriebsrisiken sowie der Organisationsaufgaben (vgl. Henning-Bodewig, F./Kur, A. (1988), S. 40). Die konkreten Formen, in die sich das Benutzungsrecht an einer Marke vertraglich aufteilen lässt, sind sehr vielgestaltig. Im Wesentlichen handelt es sich um die zweckkonforme Bestimmung x
der wirtschaftlichen und rechtlichen Selbstständigkeit des Lizenzpartners,
x
des Exklusivitätsgrades des Markenrechtes,
x
der räumlichen, zeitlichen und sachlichen Beschränkung sowie
x
der Bemessungsgrundlage der Lizenzgebühren (vgl. Ahlert, D./Schröder, H. (1996), S. 147).
2.2
Imagetransfer
Unter Zugrundelegung des allgemeinen Imageverständnisses soll der Imagetransfer in dieser Untersuchung als eine Unternehmensaktivität definiert werden x
zur Übertragung vorhandener, positiver Imagebestandteile, das heißt Denotationen und Konnotationen von einer Lizenzmarke mit bestehendem Produktbereich auf ein Lizenzprodukt einer anderen Produktkategorie über das Vehikel des gemeinsamen Markennamens, und
x
zur Rückübertragung und Verstärkung dieser positiven Imagebestandteile von dem Lizenzprodukt zur Lizenzmarke (Esch et al. (2005), S. 922; Meffert, H. (1992), S. 147).
Demzufolge erwartet man bei einer solchen Maßnahme sowohl einen positiven Einfluss der Lizenzmarke auf das hinzugekommene Produkt als auch eine Stärkung der Marke durch die Erweiterung. Der Rückfluss von Imagebestandteilen des Transferproduktes vermag das Assoziationsfeld der Lizenzmarke zu erweitern und sie damit zu stärken. Eine idealtypische Wirkungsbeziehung setzt allerdings voraus, dass zwischen der etablierten Marke und dem Lizenzprodukt ein starker imagemäßiger Zusammenhang von den Konsumenten wahrgenommen oder hergestellt werden kann (vgl. Abbildung 1).
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
243
Goodwill-Transfer
Lizenzprodukt Lizenzmarke
(=Erweiterungsprodukt)
Stärkung der Lizenzmarke Abbildung 1: Idealtypischer Imagetransfer einer Lizenzmarke Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Meffert 1992, S. 147 – 149.
Daraus ist abzuleiten, dass das Markenimage die wesentliche Determinante dafür ist, ob und wohin die Lizenzmarke übertragen werden kann. Abgesehen von primären, durch ein bestimmtes Markenzeichen ausgelösten Assoziationen, besitzt der Kunde vor der erstmaligen Konfrontation mit einer neuen Marke keine weiteren Vorstellungen. Die Einstellungs- bzw. Imagebildung, welche die Grundlage des Imagetransfers ist, vollzieht sich somit erst mit zunehmender Erfahrung (vgl. Gröppel-Klein, A. (2004), S. 324). Die Generalisierung zwischen den Mitgliedern der Lizenzmarke ergibt sich ebenfalls im Zeitablauf. Solche Lernprozesse finden nicht nur statt, wenn ein Verhalten durch genau gleiche Reize erzeugt wird, sondern auch bei ähnlichen Reizen. Eine phonetische Ähnlichkeit existiert zum Beispiel bei klangähnlichen Markennamen (Nescafé/Nesquick, Badedas/Duschdas etc.). Darüber hinaus erfolgt eine semantische Generalisierung auf Grund des gleichen oder ähnlichen Bedeutungsinhaltes, wobei die vermittelnden Assoziationen durch den beim Kunden gespeicherten Gedächtnisinhalt verlaufen und daher die Botschaft individuell abgewandelt oder weiterentwickelt wird. Die Verbraucher assoziieren das Markenbild also auch mit bestimmten Eigenschaften bzw. Bildern, wie sie durch Kommunikationsmaßnahmen vermittelt werden. Durch entsprechende Ausgestaltung der Lizenzmarkenstrategie (gemeinsame Werbung, Handelsplatzierung etc.) kann die Generalisierung unterstützt werden (vgl. Meffert, H. (1992), S. 148; Wiswede, G. (1992), S. 82-83).
Oliver Kutz
244
3
Empirische Untersuchung
Die Studie leistet einen Beitrag zur Lösung der auf Lizenznehmerseite mit der Führung von Lizenzmarken einhergehenden Entscheidungsproblematik. Auf empirischer Basis werden diejenigen Faktoren ermittelt, die erfolgreichen Lizenzmarken gemeinsam sind und die sie signifikant von weniger erfolgreichen unterscheiden. Dies geschieht unter Berücksichtigung vorhandener theoretischer Ansätze und früherer empirischer Ergebnisse der Erfolgsfaktorenforschung. Mit Hilfe eines konzeptionellen Bezugsrahmen werden die Suchfelder potenzieller Erfolgsfaktoren eingrenzt. Die zentrale Funktion eines solchen Bezugsrahmens besteht in der Strukturierung der komplexen Realität, der Leitung explorativer Befragungen sowie der anschließenden Stützung generierter Untersuchungshypothesen. Innerhalb des entworfenen Bezugsrahmens sind drei Arten von Variablen berücksichtigt (vgl. Abbildung 2): 1. Situationsvariablen, welche die Merkmale, Dimensionen oder Faktoren der relevanten Umweltsituation des Lizenznehmers beschreiben, 2. Aktions- und Interaktionsvariablen, welche die Handlungsalternativen des Lizenzmarken-Management und die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Lizenzpartnern beschreiben, sowie 3. Erfolgsvariablen, welche die Facetten des Lizenzmarken-Erfolgs repräsentieren und deren Ausprägungen von den Situationsvariablen beziehungsweise Aktions- und Interaktionsvariablen abhängen (vgl. Fritz, W. (1992), S. 71-75). Zur Operationalisierung des Erfolgs sind zunächst die Ziele zu untersuchen, welche die Unternehmen mit der Lizenznahme von Marken verfolgen. Diese werden in Unternehmensziele, psychographische Ziele, Wachstumsziele, Kommunikationsziele, Vertriebsziele, finanzielle Ziele und Zeitziele unterschieden. Anhand der daraus abgeleiteten Erfolgsindikatoren sollen die Lizenzmarken je nach Erfolgsausprägung in verschiedene Gruppen klassifiziert werden. Zur Eliminierung kurzfristiger Schwankungen und zur Sicherstellung des strategischen Charakters erfolgt die Beurteilung der Erfolgsmessgrößen über einen langfristigen Zeitraum. Als Erfolgsfaktoren gewinnen anschließend die Bestimmungsfaktoren Relevanz, die zwischen den Gruppen signifikant unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Im Einzelnen ist dabei von einem Erfolgsfaktor (bzw. Misserfolgsfaktor) auszugehen, wenn die betreffende Größe in deutlich höherem (niedrigerem) Ausmaß bei den er-
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
245
folgreichen gegenüber den wenig erfolgreichen Lizenzmarken zutrifft (vgl. Patt, P.J. (1988), S. 71). Als Auswahlkriterium für die Einbeziehung einzelner Bestimmungsfaktoren in die empirische Untersuchung werden die durch Auswertung der Sekundärliteratur und zahlreiche explorative Vorgespräche gewonnenen Erkenntnisse über die zu erwartende Relevanz herangezogen. Außerdem müssen die Bestimmungsfaktoren einer empirischen Erfassbarkeit zugänglich sein. Der Bezugsrahmen nimmt schließlich die potenziellen Erfolgsfaktoren auf und strukturiert sie durch folgende Bausteine: Zunächst ist zwischen Unternehmens- und Produktebene des Lizenznehmers zu unterscheiden. Während auf der erstgenannten Ebene die spezifischen Unternehmensmerkmale, wie zum Beispiel Firmenimage und Distributionsstärke, Berücksichtigung finden, geht es auf der Produktebene im Wesentlichen um Entscheidungen innerhalb der Bereiche Marketingstrategie, -instrumentarium und -kontrolle. Darüber hinaus befindet sich der Lizenznehmer in einer ständigen Interaktion mit den Lizenzpartnern. Zwischen ihnen besteht auf der einen Seite ein großer Kooperationsbedarf hinsichtlich der Markenführung. Auf der anderen Seite findet ein Imagetransfer zwischen den unter der gemeinsamen Marke geführten Produkten statt. Letztlich spielt auch die spezifische Umwelt des Lizenznehmers eine Rolle, welche ihre wesentliche Ausprägung im Wettbewerbs-, Konsumenten- und Handelsumfeld des Unternehmens findet.
Oliver Kutz
246 Potenzielle Einflussfaktoren des Lizenzmarken-Erfolgs
Operationalisierung des Lizenzmarken-Erfolgs
Unternehmensumwelt
Strategische Ziele
Wettbewerb
Konsumenten
Unternehmensziele
Handel
Psychographische Ziele Wachstumsziele
Lizenznehmer Kommunikationsziele Unternehmensmerkmale
Vertriebsziele
Marketingstrategie
Finanzielle Ziele Zeitziele
Marketinginstrumentarium Produkt
Preis
Kommunikation
Distribution
Strategischer Erfolg Kontrolle
Kooperation
Imagetransfer
Hoher Erfolg
Lizenzpartner Lizenzgeber Unternehmen
Markenführung
Produktführung
weitere Lizenznehmer Unternehmen
Markenführung
Produktführung
Abbildung 2: Bezugsrahmen der Untersuchung Quelle: Kutz, O. (2000), S. 110.
Mittlerer Erfolg
Geringer Erfolg
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
4
247
Messung des Lizenzmarkenerfolgs
Ist schon die Beurteilung des Erfolgs einer einzelnen Produktmarke von zahlreichen Schwierigkeiten gekennzeichnet, so gilt dies in noch viel höherem Maße für kooperative Vereinbarungen im Rahmen der Markenlizenzierung. Diese zeichnen sich zum Teil durch eine enorme Interessenpluralität der Lizenznehmer aus, welche durch eine ausschließliche Orientierung an monetären Maßstäben bei der Erfolgsbewertung nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Fraglos kann man unterschiedlicher Meinung darüber sein, welcher Indikator letztlich zur Messung des Lizenzmarken-Erfolgs heranzuziehen ist. Da jedoch zum gegenwärtigen Kenntnisstand der empirischen Erfolgsfaktorenforschung noch kein übereinstimmendes Meinungsbild dahingehend vorliegt, welcher Indikator das Konstrukt Marken- bzw. Lizenzmarken-Erfolg mit bestmöglicher Genauigkeit abbildet, ist es angeraten, auf eine eindimensionale Erfolgsoperationalisierung zu verzichten und stattdessen auf eine multidimensionale Erfolgsmessung zurückzugreifen. Folgt man der in der Zielformulierung geläufigen Mittel-Zweck-Beziehung von Einzelzielen, liegt es nahe, sowohl ökonomische als auch außerökonomische Ziele in das Bündel von Erfolgsindikatoren aufzunehmen.
Oliver Kutz
248
4,04
Erschließung neuer Marktsegmente Langfristiges Umsatzwachstum
3,91
Langfristiges Absatzwachstum
3,89
Differenzierung vom Wettbewerb
3,86
Erhöhung des Distributionsgrades
3,75
Langfr. Marktanteilswachstum
3,74
Langfr. Deckungsbeitragswachstum
3,71 3,67
Erhöhung der Kundenbindung Verbesserung des Firmenimages
3,47 3,36
Erschließung regionaler Absatzmärkte
3,32
Verbesserung des Produktimages Verbesserung der Werbeeffizienz
3,11 3,07
Fokussierung des Kerngeschäftes
2,79
Erzielung von Zeitvorteilen
2,74
Senkung der Stückkosten
1,0 (Median)
1,5
2,0
2,5
3,0
3,5
1 = keine - 5 = sehr hoch
4,0
4,5
5,0 (n=55)
Abbildung 3: Bedeutung der mit der Markenlizenznahme verfolgten Ziele Quelle: Kutz 2000, S. 146.
Es finden nur solche Ziele Berücksichtigung, die über die theoretische Fundierung hinaus auch eine Praxisrelevanz besitzen. Zur Erfassung der mit der Lizenznahme verfolgten Zielsetzungen wurden die Experten zunächst um eine Bewertung der Zielbedeutung gebeten. Abbildung 3 zeigt das Ergebnis der Befragung von 55 Lizenznehmern aus der Bekleidungsindustrie. Als Ausschlusskriterium für die Verwendung des Zieles in der Untersuchung wird eine mittlere Zielbedeutung oder geringer festgelegt (Median). Es ist dadurch sichergestellt, dass nur Ziele mit hoher bis sehr hoher Praxisrelevanz Berücksichtigung finden. Darüber hinaus soll das Ziel "langfristiges Absatzwachstum" bei der Clusteranalyse nicht einbezogen werden, da der Absatz ebenfalls Bestandteil des Zieles "langfristiges Marktanteilswachstum" ist und der Marktanteil zusätzlich Aussagen über die Wettbewerbsposition zulässt. Letztlich wer-
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
249
den sieben Indikatoren zur Erfolgsklassifikation der Lizenzmarken herangezogen, die ein breites Spektrum sowohl ökonomischer als auch außerökonomischer Zielgrößen abdecken: Erschließung neuer Marktsegmente/Zielgruppen, Differenzierung vom Wettbewerb, Erhöhung der Kundenbindung, Erhöhung des Distributionsgrades, langfristiges Marktanteilswachstum, langfristiges Umsatzwachstum und langfristiges Deckungsbeitragswachstum. Mit Hilfe der Clusteranalyse wird eine Erfolgsklassifikation der 55 untersuchten Lizenznehmer angestrebt. Diese sollen so zu Erfolgsgruppen zusammengefasst werden, dass sich die Unternehmen in einem Cluster hinsichtlich der Erfolgsindikatoren möglichst ähnlich sind und sich die Cluster untereinander signifikant unterscheiden. Die Analyse ergab, dass 52 Lizenznehmer in drei relativ homogene Erfolgsklassen aufgeteilt werden können. Die verbliebenen drei Unternehmen scheinen im Vergleich zu den übrigen Objekten eine vollkommen anders gelagerte Ausprägung der Zielerreichungsgrade aufzuweisen. Diese Ausreißer werden aus der Untersuchung ausgeschlossen, um die Erfolgshomogenität der Lizenznehmer einer Klasse aufrechtzuerhalten. Eine Verzerrung der Untersuchungsergebnisse durch deren Ausschluss ist nicht zu erwarten. Durch diese Vorgehensweise konnten zwölf Lizenznehmer in die Gruppe mit geringem Markenerfolg, 21 Lizenznehmer in die Gruppe mit mittlerem Markenerfolg und 19 Lizenznehmer in die Gruppe mit hohem Markenerfolg eingeteilt werden. Abbildung 4 veranschaulicht die Ausprägung der einzelnen Zielerreichungsgrade innerhalb der Gruppen. Alle sieben Erfolgsindikatoren leisten einen hochsignifikanten Beitrag zur erfolgsspezifischen Klassifikation der Lizenznehmer.
Oliver Kutz
250 kein Erfolg
(Median)
1
Erschließung neuer Marktsegmente
S**
Differenzierung vom Wettbewerb
S**
Erhöhung der Kundenbindung
S**
Langfristiges Marktanteilswachstum
S**
Langfristiges Umsatzwachstum
S**
Langfristiges Deckungsbeitragswachstum
S**
Erhöhung des Distributionsgrades
S**
sehr hoher Erfolg
2
3
4
5
NS: nicht signifikant
geringer Lizenzmarken-Erfolg (n=12)
S*: signifikant (0,01 < 0,05)
mittlerer Lizenzmarken-Erfolg (n=21)
S**: signifikant ( 0,01)
hoher Lizenzmarken-Erfolg
(n=19)
Abb. 4: Zielerreichungsgrade der klassifizierten Lizenzmarken Quelle: Kutz 2000, S. 148.
5
Erfolgreiches Lizenzmarken-Management
Zur Untersuchung des Zusammenhanges zwischen den nach Erfolg klassifizierten Lizenzmarken werden in der Studie neben absoluten und relativen Häufigkeiten des Auftretens einzelner Ausprägungen auch das arithmetische Mittel – sofern zumindest eine Intervallskalierung vorliegt – und der Median verwendet. Zur Überprüfung der Abhängigkeit ist zu berechnen, inwieweit sich die Werte zwischen den Vergleichsgruppen unterscheiden. Unterscheiden sie sich wesentlich, spricht das dafür, dass die Erfolgseinteilung einen Einfluss auf die abhängige Variable besitzt; im anderen Fall ist das Fehlen eines solchen Zusammenhanges anzunehmen. Es wird also – wie bei einer Fall-Kontrollstudie – ausgehend von der Wirkung (Erfolg) untersucht, ob Unterschiede hinsichtlich der Variablen (potenziellen Erfolgsfaktoren) bestehen.
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
251
Der empirisch zu beobachtende Zusammenhang der Variablen, der sich in den Unterschieden der Werte der Vergleichsgruppen zeigt, kann tatsächlich bestehen oder auch auf den Zufall zurückzuführen sein. Zur Überprüfung wird die Gegenhypothese formuliert, dass ein solcher Zusammenhang nicht existiert und ein entsprechender Signifikanztest durchgeführt. Bei der Überprüfung einzelner Hypothesen wurde die Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% als Ablehnungskriterium vorgegeben. Aufbauend auf den theoriegeleiteten Überlegungen und den entsprechenden empirischen Ergebnissen sind 13 strategische Erfolgsfaktoren festzuhalten: Erfolgsfaktor 1:
Markeninflation, Produkthomogenität und Markentreue in der Zielkategorie der Lizenznahme
Die Untersuchung ergibt, dass die Lizenzproduktkategorie der erfolgreichen Bekleidungshersteller durch eine vergleichsweise hohe Markeninflation und Produkthomogenität sowie geringe Markentreue geprägt ist. Als Gründe für das Vorliegen dieser unternehmensexternen Erfolgsfaktoren sind folgende Aspekte anzuführen: x
Durch wachsende Markenvielfalt werden die Angebote in einzelnen Produktbereichen der Bekleidungsindustrie nahezu unüberschaubar und erschweren es dem Konsumenten, sich im Markt zurechtzufinden. Während in einer solchen Situation die Einführung einer zusätzlichen Produktmarke die Markenvielfalt noch weiter ansteigen ließe und einer begrenzten Informationskapazität der Konsumenten gegenüberstände, bietet die Integration mehrerer Produkte unter einer gemeinsamen Lizenzmarke den Verbrauchern einen sortimentsübergreifenden "Wahrnehmungsanker". Die Markenlizenznahme entspricht somit dem Bedürfnis der Konsumenten nach Vereinfachung ihrer Kaufentscheidungen (vgl. Bruhn, M. (2004), S. 24; Esch, F.R./Wicke, A. (2005), S. 13; Schiele, T.P. (1997), S. 185-186).
x
Die aktuelle Situation der Hersteller in der Bekleidungsindustrie ist durch fehlende sachliche Differenzierungsmöglichkeiten der Produkte gekennzeichnet, die sich unter anderem auf deren technologische Ausgereiftheit zurückführen lassen (vgl. Bruhn, M. (2004), S. 22). Austauschbare Produkte mit nahezu identischen Eigenschaften und Leistungen tragen demnach kaum zur Differenzierung bei. Insbesondere bei starker Produkthomogenität können die Unternehmen durch die Lizenznahme der Marke einen psychologischen Zusatznutzen erhalten, der ihr Produkt von funktional gleichwertigen Konkurrenzprodukten abhebt und einen relativen Wettbewerbsvorteil erbringt (vgl. Esch, F.R./Wicke, A. (2005), S. 18).
Oliver Kutz
252
x
In vielen Produktsegmenten der Bekleidungsindustrie ist eine abnehmende Markentreue festzustellen. Ein häufig anzutreffender Erklärungsansatz des Markenwechsels stellt die Kundenzufriedenheit in den Mittelpunkt. Falls die individuelle Toleranzschwelle für die Differenz zwischen Anforderungsprofil und wahrgenommenem Eigenschaftsprofil der Marke überschritten wird, wendet sich der Nachfrager beim nächsten Kauf ab und erwirbt eine Konkurrenzmarke. Der Wechsel zwischen den Marken ist erst beendet, wenn der Verbraucher eine solche gefunden hat, die seinen Ansprüchen gerecht wird. Unternehmen mit geringer Markentreue in der Zielkategorie der Lizenznahme können mit segmentspezifisch gestalteten Konzepten der Lizenzmarke dem Anforderungsprofil der Zielgruppe besser Rechnung tragen (Meffert, H. (1992), S. 139-140; Schiele, T.P. (1997), S. 167-168).
Erfolgsfaktor 2:
Unternehmensstärken des Lizenznehmers hinsichtlich Distribution, produktionstechnischer Ressourcen und Qualitätsniveau sowie Marktstellung in der Zielkategorie der Lizenznahme
Durch die Lizenzerteilung bekommen Bekleidungshersteller die Markenkompetenz für den jeweiligen Produktbereich in mehr oder weniger begrenztem Ausmaß übertragen. Auf Grund dieser Markenverantwortung ist im Rahmen der Partnerauswahl den Unternehmensstärken und -schwächen des Lizenznehmers eine große Bedeutung beizumessen. Die Untersuchung zeigt, dass die erfolgreichen Lizenznehmer über ein vergleichsweise hohes Qualitätsniveau sowie über einen relativ starken Vertrieb verfügen, um die Platzierung der Produkte im Handel sicherzustellen. Darüber hinaus handelt es sich bei den Lizenznehmern vielfach um mittelständische Unternehmen, bei denen die Höhe der produktionstechnischen Ressourcen von Erfolgsrelevanz ist, um das Produkt langfristig und in ausreichenden Mengen anbieten zu können. Auf dem Bekleidungsmarkt ist es kaum möglich, einen bisher nicht vorhandenen oder sehr schwachen Produktbereich des Unternehmens durch die Markenlizenznahme aufzubauen (vgl. Braitmayer, O. (1998), S. 93). Die erfolgreichen Bekleidungshersteller verfügten daher bereits vor der Lizenznahme über eine relativ starke Marktstellung in der Zielkategorie und können die vorhandene Kompetenz für das zu etablierende Lizenzprodukt nutzen. Erfolgsfaktor 3:
Priorität des Lizenzgeschäftes im Unternehmen des Lizenznehmers
Lizenzen als Instrument des Innovationsmarketing
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Alle untersuchten Bekleidungshersteller führen neben der betrachteten Lizenzmarke weitere Marken, weshalb die begrenzten Unternehmensressourcen auf diese aufzuteilen sind. Im Lizenzgeschäft sollten die Unternehmen trotz der Synergiepotenziale bereit sein, in die eingegangene Beziehung zu investieren und ausreichend Managementkapazitäten sowie eventuell benötigte Mittel zur Führung der Lizenzmarke bereitzustellen. Die erfolgreichen Lizenznehmer räumen dem Lizenzgeschäft in diesem Zusammenhang einen hohen Prioritätsgrad ein und sind in größerem Ausmaß bereit, die begrenzten Ressourcen der Lizenzmarke zuzuteilen. Erfolgsfaktor 4:
Zusammenarbeit des Lizenznehmers mit den Lizenzpartnern unter besonderer Berücksichtigung der Strategieabstimmung
Während der Lizenzgeber grundsätzlich die Kompetenz hinsichtlich der Markenführung besitzt, verfügt der Lizenznehmer über die Produktkompetenz in dem jeweiligen Bekleidungssegment. Durch Kooperation kann das jeweilige Know-how gebündelt und Synergiepotenzial genutzt werden, um einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Auf Grund der erhaltenen Selbstständigkeit der Unternehmen im Rahmen der Lizenzvereinbarung stellt die Zusammenarbeit an das Management besondere Anforderungen. Die erfolgreichen Lizenznehmer arbeiten relativ eng mit ihren Kooperationspartnern zusammen und tauschen in hohem Maß Informationen aus. Ferner zeigen die Ergebnisse der Untersuchung, dass der Strategieabstimmung zwischen den Lizenzpartnern eine hohe Erfolgsrelevanz zukommt. Die erfolgreichen Bekleidungshersteller weisen einen höheren Abstimmungsgrad hinsichtlich der Lizenzmarkenstrategie mit den Beteiligten auf. Zudem formulieren die Lizenzgeber häufig Richtlinien für die strategische Zusammenarbeit, womit die Einzelmaßnahmen von den Lizenznehmern zielgerichtet und effizient umgesetzt werden. Erfolgsfaktor 5:
Flexibilität innerhalb der mit/von den Lizenzpartnern festgelegten Strategiekonzepte
Innerhalb der festgelegten Strategien verfügen die erfolgreichen Lizenznehmer über einen relativ hohen Grad an Freiheit, um sich den individuellen Gegebenheiten ihres Marktes kurzfristig anzupassen sowie die damit verbundenen Chancen zu nutzen und Risiken zu vermeiden. Vor dem Hintergrund der Dynamik des Bekleidungsmarktes und der sich verändernden Anforderungen an die Lizenzbeteiligten ist der Flexibilitätserhalt demnach von Erfolgsbedeutung. Ein geringer Flexibilitätsgrad bedingt da-
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gegen zunehmende Trägheit und beeinträchtigt erforderliche Abstimmungs- und Anpassungsprozesse. Erfolgsfaktor 6:
Markenstärke operationalisiert durch den Bekanntheits- und Sympathiegrad der Lizenzmarke sowie durch die Marktstellung der darunter geführten Produkte
Die Markenstärke wird in der vorliegenden Untersuchung durch den Bekanntheitsund Sympathiegrad der Lizenzmarke sowie die Marktposition der unter ihr geführten Produkte operationalisiert (vgl. Braitmayer, O. (1998), S. 81). Ihr kommt eine entscheidende Bedeutung für den Markenerfolg der Lizenznehmer zu, denn um den Goodwill gegenüber einem Produkt über das Vehikel eines gemeinsamen Markennamens auf ein anderes übertragen zu können, muss ein Vertrauensvorschuss bei den Konsumenten existieren. Lizenzmarken mit einem relativ niedrigen Bekanntheitsund Sympathiegrad bieten dagegen nur einen geringeren Kaufanreiz, und die Markeninhalte können weniger klar auf das Erweiterungsprodukt übertragen werden (vgl. Esch et al. (2005), S. 922; Ott, M. (1998), S. 50; Sattler, H. (1997), S. 151; Schiele, T.P. (1997), S. 218-219; Taylor, D. (2004), S. 18). Zudem weist der Bekleidungsmarkt trotz einer zunehmenden Wettbewerbsdynamik weitgehend gefestigte Strukturen auf. Für das Aufbrechen solcher Strukturen mittels der Lizenzierung bedarf es einer Marke, die in ihren Märkten eine gewisse Alleinstellung innehat. Da mit zunehmender Markenverwendung die Produktvertrautheit und Verarbeitungstiefe steigen, erreichen Lizenznehmer von einer Marke, die über eine starke Marktposition in den geführten Produktkategorien verfügt, eine höhere Zielerreichung (vgl. Brenner, R. (1999), S. 7). Die Untersuchung zeigt weiter, dass insbesondere der Stammproduktklasse eine hohe Erfolgsbedeutung zukommt; kann sich die Marke in dieser Kategorie nicht durchsetzen, ist sie dazu in einem neuen Bereich zumeist auch nicht in der Lage (vgl. Ott, M. (1999), S. 90; Taylor, D. (2004), S. 17). Erfolgsfaktor 7:
Nutzenorientiertes Image der Lizenzmarke, unabhängig vom Grad der Markenausdehnung
Während bei einem produktgeprägten Image unterschiedliche Schwierigkeiten und Einschränkungen des Imagetransfers existieren, bestehen für Lizenzmarken mit nutzengeprägtem Image diese Vorbehalte nicht. Die Markenerweiterung in eine neue Produktkategorie schließt in diesem Fall keine Abkehr von der tragenden Imagekomponente ein, sofern der wahrgenommene Nutzen beibehalten wird. Zur Gewährleis-
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tung eines Imagetransfers muss somit keine direkte Verbindung zwischen Stammund Lizenzprodukt bestehen, sondern sie wird vornehmlich durch die gemeinsame Nutzenerwartung der Verbraucher bezüglich der beteiligten Produkte geschaffen (vgl. Hätty, H. (1989), S. 221-226; Schiele, T.P. (1997), S. 220). Die Untersuchung ergibt, dass erfolgreiche Lizenznehmer – unabhängig vom Grad der Markenausdehnung – einen relativ starken assoziativen Zusammenhang zwischen Lizenzmarke und wahrgenommenen Nutzen aufweisen. Erfolgsfaktor 8:
Emotionale Affinität zwischen Erweiterungsprodukt und Lizenzmarke sowie Erweiterungs- und Stammprodukt
Bekleidungsprodukte werden nicht ausschließlich auf Grund ihres funktionalen Nutzens, sondern auch wegen der sozialen oder psychologischen Bedeutung der kennzeichnenden Marke gekauft (vgl. Mayerhofer, W. (1995), S. 179; Weinberg, P./Diehl, S. (2005), S. 265). Bei den Lizenznehmern mit hohem Markenerfolg besteht eine relativ hohe emotionale Ähnlichkeit sowohl zwischen Lizenzprodukt und Gesamteindruck der Marke als auch zwischen Lizenzprodukt und Stammprodukt. Im Gegensatz dazu entsteht bei einem Lizenzprodukt, welches in einer konfligierenden emotionalen Beziehung zur Marke bzw. zum Stammprodukt steht, bei den Verbrauchern der Eindruck, dass das Transferprodukt nicht zum übrigen Angebot und daher auch nicht zur Lizenzmarke passt. Der Widerspruch zwischen der Information über das in das Markensystem eingegliederte Lizenzprodukt und der Erfahrung mit der Marke bildet unter Umständen den Auslöser für eine kognitive Dissonanz, die im Extremfall zu einer Kaufverweigerung führt (vgl. Mayerhofer, W. (1995), S. 180 und 191-193; Schiele, T.P. (1997), S. 216). Erfolgsfaktor 9:
Komplementarität des Lizenzproduktes mit den unter der Lizenzmarke angebotenen Produkten
Der Grad der Komplementarität zwischen den bisher unter der Marke geführten Produkten und dem hinzugekommenen Lizenzprodukt gibt an, inwieweit die Produkte in einem gemeinsamen Anwendungskontext stehen. Die Relevanz ergibt sich im Wesentlichen aus dem Denken der Verbraucher in Bedarfs- und Verwendungszusammenhängen und ist im Rahmen von Kaufentscheidungen im Bekleidungsbereich besonders ausgeprägt, so dass Lizenznehmer mit hohem Markenerfolg gegenüber den weniger erfolgreichen einen höheren Komplementaritätsgrad aufweisen (vgl. Park et al. (2005), S. 965; Sattler, H. (1997), S. 136-139).
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Erfolgsfaktor 10: Innovationsstrategie des Lizenznehmers für das Erweiterungsprodukt Das von erfolgreichen Lizenznehmern angebotene Bekleidungsprodukt weist einen vergleichsweise hohen Innovationsgrad auf. Dieser Innovationsstrategie stehen allerdings weitgehend gleiche Kenntnisse der Wettbewerber in Forschung und Entwicklung sowie ein ausgeschöpftes Innovationspotenzial in der Bekleidungsindustrie gegenüber (vgl. Meffert, H. (1992), S. 133). Als Ausweg aus diesem Dilemma kennzeichnen einige weniger erfolgreiche Unternehmen – als Ersatz für die nicht vorhandene technisch-funktionale oder marketingpolitische Innovation – das Produkt mit einer Lizenzmarke, welche unter Umständen über ein innovatives Image verfügt. Ein solches Lizenzprodukt erfüllt in den meisten Fällen jedoch nicht die Erwartungen der Konsumenten. Erfolgsfaktor 11: Einheitlichkeit des Markenauftrittes unter Einbeziehung aller unter der Lizenzmarke geführten Produkte Lizenzmarken erfordern neben der vertikalen Koordination des absatzpolitischen Instrumentariums auch eine horizontale Harmonisierung der verschiedenen unter der Marke geführten Produkte (vgl. Esch et al. (2005), S. 938; Hätty, H. (1989), S. 305). Im Zentrum stehen dabei Maßnahmen mit unterschiedlicher Wirkung auf das Markenimage (vgl. Schiele, T.P. (1997), S. 224). In diesem Zusammenhang hängt der Erfolg der Markenlizenznahme von der Positionierungsidentität zwischen der Marke und dem Lizenzprodukt ab. Die Stimmigkeit stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit der Marketingstrategien dar und ist bei den erfolgreichen Bekleidungsherstellern in sich weitgehend widerspruchsfrei (vgl. Henning-Bodewig, F./Kur, A. (1988), S. 18-20). Die bestehende Positionierung begründet daher die Basis für die Marketingstrategien des Lizenzproduktes und wird entsprechend umgesetzt. Im Hinblick auf die Marketinginstrumente der Bekleidungsunternehmen ist das Produktdesign als wesentliche Grundlage des Imagetransfers zu bezeichnen. Der Verbraucher verbindet mit der spezifischen Ausprägung eines Gestaltungselementes gewisse Markenerlebnisse, deren Beibehaltung ihm eine Übertragung der Markenerlebniswelt auf das Lizenzprodukt erleichtert (vgl. Braitmayer, O. (1998), S. 164-165). Daher wird bei den Lizenznehmern mit hohem Markenerfolg der angestrebte Imagetransfer durch weitgehend übereinstimmende Gestaltungselemente aller Produkte der Lizenzmarke unterstützt.
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Dem vermehrten Einsatz verschiedener Werbemedien stehen erhöhte Anforderungen an die effiziente Abstimmung des Kommunikationsinhaltes der Lizenzpartner gegenüber. Es zeigt sich, dass bei der Beurteilung von Erweiterungsprodukten die erklärende Verbindung zur Lizenzmarke eine zentrale Rolle spielt. Sie erlaubt es den Konsumenten, das Lizenzprodukt in ihre Markenerwartungen zu integrieren und unterstützt den Zusammenhalt des Schemas (vgl. Esch et al. (2005), S. 943). Daher kommen in der Kommunikation der erfolgreichen Lizenznehmer die gemeinsamen Attribute des Lizenzproduktes und der kennzeichnenden Marke vergleichsweise intensiv zum Einsatz. Erfolgsfaktor 12: Nutzung angestammter Distributionskanäle der Lizenzmarke für den Vertrieb des Lizenzproduktes Der Aufbau von Vertriebsstrukturen und die Listung von Bekleidungsprodukten im Handel sind sehr zeit- und kostenintensive Prozesse. Die erfolgreichen Lizenznehmer greifen im Gegensatz zu den weniger erfolgreichen häufiger auf bestehende Vertriebskanäle der Marke zurück. Zum einen ist hier mit einer größeren Handelsaufnahmebereitschaft und -unterstützung zu rechnen, zum anderen erleichtert die räumliche Nähe zum Stammprodukt Generalisierungsprozesse beim Verbraucher und löst dadurch möglicherweise Verbundkäufe aus (vgl. Binder, C.U. (2005), S. 528; Braitmayer, O. (1998), S. 190; Fischer, O. (1999), S. 122). Für den Markenerfolg der untersuchten Bekleidungshersteller ist in diesem Kontext auch die Höhe des Distributionsgrades der unter der Lizenzmarke geführten Produkte relevant. Erfolgsfaktor 13: Kontrollen des Lizenznehmers und -gebers hinsichtlich des Einsatzes der absatzpolitischen Instrumentarien Die absatzpolitischen Maßnahmen der unter einer Lizenzmarke geführten Produkte sind regelmäßig aufeinander abzustimmen und veränderten Situationen anzupassen. Der Erfolg eines Lizenznehmers liegt in der Kontrolle dieser Aktivitäten (vgl. Ott, M. (1999), S. 90). Die Bekleidungshersteller mit hohem Markenerfolg kontrollieren Produktqualität, Distribution, Marken- und Produktimage sowie ökonomische Zielgrößen in relativ hohem Ausmaß, wodurch ein effizienter Ressourceneinsatz erfolgt und einer möglichen Fehlentwicklung rechtzeitig entgegengesteuert wird. Demgegenüber leistet lediglich das Ausmaß der Kontrolle des Marken-/Produktimages durch den Lizenzgeber einen Erfolgsbeitrag.
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6
Ausblick
Mit zunehmender Produkthomogenität und Markeninflation sowie der damit verbundenen Verschärfung des Wettbewerbsdrucks gewinnen Lizenzmarken in der Unternehmenspolitik immer größere Bedeutung. Vor diesem Hintergrund ist die Unternehmenspraxis aufgefordert, sich verstärkt mit den Problemfeldern, Herausforderungen und erfolgsadäquaten Strategien dieses Marketinginstruments auseinander zu setzen. In den meisten Unternehmen bestehen zwar Vorstellungen über diejenigen Faktoren, die vermutlich für den jeweiligen Erfolg ausschlaggebend sind, doch liegen in der Regel keine entsprechenden Untersuchungen vor, die diese Annahmen verifizieren oder falsifizieren. Der Beitrag liefert konkrete Ansatzpunkte für die Entwicklung eines umsetzungsreifen Managementkonzeptes aus Sicht der Lizenznehmer. Zwar bleibt für jede einzelne Unternehmung die Notwendigkeit, ihre spezifischen kritischen Erfolgsfaktoren selbst herauszufinden, jedoch kann der vorliegende Artikel für die Lösung dieser Aufgabe eine fundierte Hilfestellung leisten.
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Literaturverzeichnis Ahlert, D.; Schröder, H. (1996): Rechtliche Grundlagen des Marketing, 2. Aufl., Stuttgart u.a. Auer, M; Diederichs, F.A. (1993): Werbung – Below the Line: Licensing, TV-Sponsoring, Product Placement, Landsberg/Lech. Baumgarth, C. (2008): Markenpolitik: Markenwirkungen – Markenführung – Markencontrolling, Wiesbaden. Binder, C.U. (2005): Lizenzierung von Marken, in: Esch, F.R. (Hrsg.), S. 523-548. Braitmayer, O. (1998): Die Lizenzierung von Marken: eine entscheidungs- und transaktionskostentheoretische Analyse, Frankfurt am Main u.a. Brenner, R. (1999): Playing the "oldies" pays off, in: Licensing Scope, Vol. 97 (6), S. 72. Bruhn, M. (2004): Begriffsabgrenzungen und Erscheinungsformen von Marken, in: Bruhn, M. (Hrsg.), S. 3-49. Bruhn, M. (Hrsg. 2004): Handbuch Markenführung: Kompendium zum erfolgreichen Markenmanagement, Bd. 1, 2. Aufl., Wiesbaden, Dichtl, E.; Eggers, W. (Hrsg. 1992): Marke und Markenartikel als Instrumente des Wettbewerbs, München. Esch, F.R.; Fuchs, M.; Bräutigam, S., Redler, J. (2005): Konzeption und Umsetzung von Markenerweiterungen, in: Esch, F.R. (Hrsg. 2005), S. 906-946. Esch, F.R.; Wicke, A. (2005): Herausforderungen und Aufgaben des Markenmanagements, in: Esch, F.R. (Hrsg. 2005), S. 3-55. Esch, F.R. (Hrsg.2005): Modere Markenführung: Grundlagen – innovative Ansätze – praktische Umsetzungen, 4. Aufl., Wiesbaden. Fischer, O. (1999): Marketing: Geliehener Ruhm, in: Manager Magazin, 29. Jg (8), S 118-125. Fritz, W. (1992): Marktorientierte Unternehmensführung und Unternehmenserfolg: Grundlagen und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Stuttgart. Gröppel-Klein, A. (2004): Verhaltenswissenschaftliche Grundlagen für die Markenführung von Konsumgütern, in: Bruhn, M. (Hrsg. 2004), S. 321-346. Hätty, H. (1989): Der Markentransfer, Heidelberg. Hauser, U. (Hrsg. 1997): Erfolgreiches Markenmanagement: vom Wert einer Marke, ihrer Stärkung und Erhaltung, Wiesbaden Henning-Bodewig, F.; Kur, A. (1988); Marke und Verbraucher: Funktionen der Marke in der Marktwirtschaft, Bd. 1: Grundlagen, Weinheim u.a. Henning-Bodewig, F.; Kur, A. (1989): Marke und Verbraucher: Funktionen der Marke in der Marktwirtschaft, Bd. 2: Einzelprobleme, Weinheim u.a. Huber, H. (1997): Markenwert und Extensionspotenzial, in: Hauser, U. (Hrsg. 1997), S. 125-160. Kutz, O. (2000): Strategisches Lizenzmarken-Management: eine empirische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der kritischen Erfolgsfaktoren, München u.a. Mayerhofer, W. (1995): Imagetransfer: die Nutzung von Erlebniswelten für die Positionierung von Ländern, Produktgruppen und Marken, Wien. Meffert, H. (1992): Strategien zur Profilierung von Marken, in: Dichtl, E.; Eggers, W. (Hrsg. 1992), S. 129-156. Ott, M. (1998): Marken, Märkte, Merchandising, in: Textilwirtschaft, 53. Jahrgang (24), S. 50-51. Ott, M. (1999): Mehr als eine Generation gewinnen, in: Textilwirtschaft, 54. Jg (24), S. 90.
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Teil 3: Innovationen im Handel
Ausgewählte Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien im Handel Peter M. Rose*
1
Begriff und Genese der Innovation....................................................................264
2
Zur Strategiebildung im Handel .........................................................................265
3
Ausgewählte Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien im Handel.........................................................................................266 3.1 Ansatzpunkte für Produkt- und Leistungsinnovationen im Handel ...............................................................................................266 3.2 Innovative Ansatzpunkte durch Handelsmarken.....................................266 3.3 Innovative Ansatzpunkte durch Steigerung der Dienstleistungsqualität............................................................................267 3.4 Innovative Ansatzpunkte durch Steigerung der Kundennähe .................269 3.5 Innovative Ansatzpunkte durch Kreierung neuer Betriebstypen .............271 3.6 Ansatzpunkte für Prozessinnovationen...................................................272 3.7 Ansatzpunkte für soziale und organisatorische Innovationen .................273 3.8 Auslöser für Innovationen im Handel ......................................................274
Literaturverzeichnis .................................................................................................275
* Prof. Dr. Peter M. Rose ist Hochschullehrer an der Hochschule Bremen.
264
1
Peter M. Rose
Begriff und Genese der Innovation
Schumpeter (Vgl. Schumpeter, J. A. (1912), S.158) setzte schon im Jahre 1912 innovative Tugenden mit der Aussage: „Alles Andersmachen im wirtschaftlichen Bereich“ gleich. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht bedeutet Innovation „die erstmalige Einführung einer Idee im Betrieb“. Aus der volkswirtschaftlichen Perspektive ist eine Innovation die „[…] erstmalige kommerzielle Nutzung einer Neuerung in der Wirtschaft“ (Vgl. Gabler-Wirtschafts-Lexikon (1997), S.1899). Heute lassen sich Innovationen nach mehreren Kriterien klassifizieren. Ein möglicher Kriterienkatalog (Vgl. z.B. Vahs, D./Burmester, R. (2005), S.72ff. und Trommsdorff, V. et. al. (1987), S.7f.): x
Objekt.
x
Auslöser,
x
Neuheitsgrad sowie
x
Veränderungsumfang bzw. Gewohnheitsgrad.
Nach dem Kriterium „Objekt“ lassen sich vier Innovationsarten unterscheiden: x
Produkt- bzw. Leistungsinnovationen,
x
Prozessinnovationen,
x
Soziale Innovationen sowie
x
Organisatorische Innovationen.
Produkt- bzw. Leistungsinnovationen implizieren Entscheidungen darüber, welche Leistungen am Markt angeboten werden (sollen), Prozessinnovationen beschäftigen sich mit den prozessualen Abläufen innerhalb einer Unternehmung, soziale Innovationen zielen auf die Humanressourcen ab und organisatorische Innovationen haben die Aufbau- und Ablaufstruktur eines Unternehmens zum Gegenstand (Vgl. z.B.: Vahs, D./Burmester, R. (2005), S.80f.). Auslöser einer Innovation können z.B. Veränderungen im Konsumentenverhalten oder neue Technologien sein (Vgl. ebda., S.80f.). Der Neuheitsgrad einer Innovation bemisst sich nach dem Neuheitsgrad der für sie eingesetzten Technologie. Pleschak und Sabisch (Pleschak, F./Sabisch, H. (1996), S.4) unterscheiden beispielsweise Basis-, Verbesserungs-, Anpassungsinnovationen, Imitationen und Scheininnovationen. Basisinnovationen basieren auf Schlüsseltechnologien, Verbesserungsinnovationen führen zu Qualitätsverbesserungen und Anpassungsinnovationen bestehen
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_13, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Innovative Strategien im Handel
265
darin, Lösungsvorschläge an Kundenwünsche anzupassen. Bei einer Imitation übernimmt ein Unternehmen eine bestehende Lösung. Bei einer Scheininnovation entsteht keine wahrnehmbare Nutzenstiftung beim Konsumenten. Bei einer Radikalinnovation tritt eine starke Veränderung in einem Unternehmen ein, bei Inkrementalinnovationen ist der Veränderungsumfang gering. Es handelt sich dabei um gewohnte Routineerneuerungen. Bevor anhand der einzelnen Innovationsarten nach strategischen Ansatzpunkten für den Handel gesucht wird, gilt es zunächst, grundsätzlich zur Strategiebildung im Handel Stellung zu nehmen.
2
Zur Strategiebildung im Handel
Strategische Entscheidungen im Handel werden hinsichtlich der (effektiven und gewünschten) Position des Handelsunternehmens getroffen. Dabei kann eine Unternehmung entweder die Outside-in- oder die Inside-out-Perspektive einnehmen (Zur Outside-In bzw. Inside-Out-Perspektive vgl. z.B.: Amit, R./Schoemaker, P. J. H. (1993), S. 37). Bei der Outside-in-Perspektive überwiegt die Betrachtung der Umweltsituation, in der sich das Unternehmen befindet (Branchenstruktur, Marktbesetzung, Markttrends, Kaufverhalten). Das Handelsunternehmen sucht seine Position in (umkämpften) Märkten. Die Inside-out-Perspektive reflektiert die individuellen Möglichkeiten des betreffenden Unternehmens, die Ressourcen so zu bündeln, dass es Wettbewerbsvorteile generiert. Gelingt es dem Unternehmen, strategierelevante Kompetenzen nachhaltig aufzubauen, spricht man von Kernkompetenzen [Vgl. zur Strategiekompetenz: Rudolph, T. (2005), S. 35ff.); Vgl. zum Begriff der Kernkompetenz: Rose, P. M. (2000), S. 34ff.]. Diese Kernkompetenzen dienen der Profilierung gegenüber dem Wettbewerber. Ein nachhaltiger Aufbau von Kernkompetenzen kann nur gelingen, wenn eine nachhaltige Nutzenstiftung beim Konsumenten erzeugt, mit anderen Worten: wenn eine
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Peter M. Rose
Kundenbindung erzielt wird. Von daher sind Scheininnovationen von vornherein nicht geeignet, eine Akzeptanz beim Konsumenten hervorzurufen. Schließlich finden sich Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien im Handel nicht nur als Leistungs- und Prozessinnovationen, sondern auch als Innovationen im Marketing (z.B. neue Werbekonzepte) sowie im Organisationsbereich und im Rahmen von Diversifikationsstrategien.
3
Ausgewählte Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien im Handel
3.1
Ansatzpunkte für Produkt- bzw. Leistungsinnovationen im Handel
Zu den Leistungsfaktoren im Handel zählen die Waren, das Sortiment und der Standort. Konstitutive Merkmale wie zum Beispiel Größe der Verkaufsfläche, Sortimentsstruktur, Bedienungsform oder Preisniveau determinieren die Betriebsformen im Handel (Vgl. zum Begriff „Betriebsformen“ z.B. Meffert, H. (1998), S.1104. Zu den Betriebsformen zählen z.B. Warenhäuser, Fachgeschäfte, Verbrauchermärkte, Supermärkte, Discounter u.a.). „Betriebstypen sind als Variationen von Betriebsformen aufzufassen, wobei Art und Ausmaß der Variation branchenabhängig ausfallen“ (Vgl. ebda., S. 1105). Zu den Betriebstypen zählt z.B. ein aktionsorientierter Fachmarkt für Unterhaltungselektronik. Da die Betriebstypen des Einzelhandels an Standorte gebunden sind, sind alle Leistungsfaktoren in unterschiedlichen Faktorenkombinationen am „Produkt“ (Autoren, die im Betriebstyp das „Produkt“ im Handel sehen gehören z.B.: Heinemann, G. (1989), S. 17 und: Burkhardt, A. (1997), S.3.) des Handels, an den Betriebstypen, beteiligt. Insofern zählen auch Betriebstypeninnovationen zu den Produkt- bzw. Leistungsinnovationen.
3.2
Innovative Ansatzpunkte durch Handelsmarken
Produktinnovationen strahlen Sortimentskompetenz aus und beschreiben zusammen mit einer ansprechenden Warenpräsentation, die auf die Wünsche und Verhaltensweisen der Kunden abgestimmt ist, und einer angemessenen Andienungsform, z.B. Beratung oder Selbstbedienung, den Marktauftritt des Händlers.
Innovative Strategien im Handel
267
Herstellermarken stehen generell für Produktinnovationen und lösen durch ihre starke Sprungwerbung (Die Werbung richtet sich direkt an den Letztverbraucher; der Handel wird „übersprungen”) einen Pull-Effekt (Der Pull-Effekt beschreibt einen “SogEffekt”, der den Handel “zwingt”, beworbene Markenartikel in das Sortiment aufzunehmen) aus. Gleichwohl bieten Handelsmarken gute Ansatzpunkte für innovative Strategien im Handel; denn die Akzeptanz der Handelsmarken ist in Deutschland hoch: 81% der Deutschen halten das Preis-Leistungs-Verhältnis für gut und 88% sehen in Handelsmarken eine gute Alternative zu Herstellermarken (Vgl. A.C. Nielsen, (2005), S. 3, 5). Der Handelsmarkenanteil in Deutschland betrug laut A.C. Nielsen im Jahr 2005 30% mit einem jährlichen Wachstum von 3% (Vgl. A.C. Nielsen (2005), S. 11, 13). Die GfK hingegen gibt für das Jahr 2005 einen Wert von 35,1% und 2006 einen Wert von 36,1% bei den Fast Moving Consumer Goods an (Vgl. EHI Retail Institut, Ausgabe 2007/2008, Quelle: GfK Hauspanel ConsumerScan, S. 358). Erfolgreiche Handelsmarken setzen eine hohe Qualität, eine Parallelität zu Herstellermarken, ein gutes Design und eine geeignete Verpackung voraus (Vgl. Tietz. B. (1993), S. 322). Dies hat zur Folge, dass Handelsunternehmen professionell gestaltete Handelsmarken auf den Markt bringen und somit Herstellerkompetenzen erwerben. Gemäß einer Studie der KPMG und des EHI-EuroHandelsinstituts aus dem Jahre 2006 (Vgl. KPMG Deutsche Treuhand-Gesellschaft Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, (2006)) geht „… der Siegeszug der Handelsmarke […] vor allem zulasten der B- und C-Marken – anfällig ist nur die schwache Marke (Zitiert nach der Studie „Trends im Handel“ der KPMG, a.a.O.)“ und: „Die Eigenmarke dient dem Handel verstärkt zur Profilierung und Abgrenzung gegenüber dem Wettbewerb (Vgl. ebda.)“, wobei das Ausmaß der Profilierung und Abgrenzung vom Innovationsgrad der Handelsmarke abhängig ist (d. Verf.).
3.3
Innovative Ansatzpunkte durch Steigerung der Dienstleistungsqualität
Neben der Qualität des Produktes, ob Herstellermarke oder Eigenmarke, bietet das Ausmaß der Dienstleistungsqualität weitere Ansatzpunkte für innovative Strategien. „Dienstleistungsqualität ist die durch den Konsumenten anhand einzelner Leistungs-
268
Peter M. Rose
attribute wahrgenommene und im Hinblick auf seine Nutzenerwartungen bewertete Beschaffenheit primär intangibler („Intangibel“ im Sinne von „immateriell“) Leistungen, die im direkten Kontakt mit dem Kunden oder dessen Objekten erstellt werden.“(Vgl. Deppisch, C. G. (1997): Dienstleistungsqualität im Handel, S. 31). Nach Parasuraman/Zeithaml/Berry [Parasuraman, A./Zeithaml, V.A./Berry, L.L. (1985), S.12-40; zitiert nach: Meffert, H./ Bruhn, M. (1997), S.202f.] lassen sich fünf Qualitätsdimensionen darstellen: x
Die Annehmlichkeiten des tangiblen Umfeldes („tangible“) beinhaltet das äußere Erscheinungsbild des Dienstleistungsortes, insbesondere die Ausstattung der Räume und das Erscheinungsbild des Personals.
x
Als Zuverlässigkeit („reliability“) wird die Fähigkeit des Dienstleistungsanbieters (hier: des Handels, d. Verf.) bezeichnet, die versprochenen Leistungen auch auf dem avisierten Niveau zu erfüllen.
x
Die Reaktionsfähigkeit („responsiveness“) stellt die Frage, ob das Dienstleistungsunternehmen in der Lage ist, auf spezifische Wünsche der Kunden einzugehen und sie zu erfüllen. Dabei spielen sowohl die Reaktionsbereitschaft als auch die Schnelligkeit der Reaktion eine Rolle.
x
Die Leistungskompetenz („assurance“) bezieht sich auf die Fähigkeiten des Anbieters zur Erbringung der Dienstleistung, insbesondere in Bezug auf das Wissen, die Höflichkeit und die Vertrauenswürdigkeit der Mitarbeiter.
x
Das Einfühlungsvermögen („empathy“) kennzeichnet sowohl die Bereitschaft als auch die Fähigkeit des Dienstleistungsanbieters, auf individuelle Wünsche der Kunden einzugehen.
Ansatzpunkte für innovative Strategien im Handel lassen sich anhand eines Aktivitäten-Portfolios ausmachen, nach dem die Qualitätsdimensionen „Einfühlungsvermögen“, „Leistungskompetenz“ und „Zuverlässigkeit“ am erfolgversprechendsten sind. Abbildung 1 zeigt die Ausgangssituation anhand der Dimensionen „Beurteilung der Qualität“ und „Bedeutungsgewicht für den Kunden“:
Innovative Strategien im Handel
269
Abbildung 1: Beispiel für ein Aktivitäten-Portfolio Quelle: Bruhn, M. (2003), S.104
3.4
Innovative Ansatzpunkte durch Steigerung der Kundennähe
Die Nutzung der Innovationspotenziale setzen das Wissen um den Kunden und die ständige Bereitschaft seitens des Handels, Erkenntnisse aus den Kundenreaktionen in konkretes Handeln umzusetzen, voraus. Erkenntnisse aus Kundenreaktionen können wiederum nur gewonnen werden, wenn das Unternehmen „nah am Kunden ist“ bzw. Kundennähe praktiziert. Nach Christian Homburg (Homburg, C. (1998), S. 120) kann Kundennähe durch das Leistungsangebot oder durch das Interaktionsverhaltens erzielt werden. Abbildung 2 kennzeichnet die Zusammenhänge:
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Peter M. Rose
Kundennähe Kundennähe
Faktor Fakt or11
Dimension Dimension11
Dimension Dimension 22
Kundennähe Kundennähedes des Leistungsangebots Leistungsangebots
Kundennähe Kundennähedes des Interaktionsverhaltens Interakti onsverhaltens
Faktor Faktor22
Produkt - und Produktund Diens tleisDienstleistungs qualität tungsqualität
Qualität Qualit ätder der kundenkundenbez bezogenen ogenen Prozesse Prozesse
Fakt or 33 Faktor Flexibilität Flexibilitätim im Umgang Umgangmit mit Kunden Kunden
Faktor Faktor44 Qualit ät der Qualität der Beratung Berat ung durch durch Verkäufer Verkäuf er
Fakt or 55 Faktor Offenheit Off enheitim im Informations I nformat ionsverhalt en verhalten gegenüber gegenüber Kunden Kunden
Faktor Fakt or66 Of fenheit Offenheit gegenüber gegenüber Anregungen Anregungen von von Kundenseite Kundenseite
Faktor Faktor77 KundenKundenkontakte kontaktevon von nicht nichtim imVerVerkauf tätigem kauf t ät igem Personal Personal
Abbildung 2: Struktur der Konzeptualisierung von Kundennähe Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Homburg, C. (1998), S. 120.
Sowohl in der Qualität der Produkte und Dienstleistungen als auch in der Qualität kundenbezogener Prozesse liegen Innovationspotenziale. Kundenbezogene Unternehmensprozesse finden an den Schnittstellen zwischen den Unternehmen und den Konsumenten statt und sind somit den Bereichen Marketing, Vertrieb und Service zuzurechnen. So entstehen gerade im Beschwerdemanagement (Zum Beschwerdeprozessmanagement vgl. z.B. Bruhn, M. (1999), S. 180; und an Stauss, B./Seidel, W. (1996), S. 62) Ansatzpunkte für innovative Lösungen: Das setzt allerdings das generelle Bewusstsein seitens des Unternehmens voraus, dass eine Beschwerde keine Last, sondern eine Chance zur Gewinnung von Verbesserungs- und somit Innovationspotenzialen darstellt. Ferner sind verbindlich Verantwortlichkeiten innerhalb eines Unternehmens zu etablieren, die sich auf den gesamten Beschwerdeprozess („Process Owner“), auf die einzelne Beschwerdefallbearbeitung („Complaint Owner“) oder auf die Kontrolle des Bearbeitungsfortschritts („Task Owner“) bezieht (Zu den einzelnen Rollen im Beschwerdemanagementprozess vgl. z.B.: Stauss, B./Seidel,W. (2002), S. 180), sodass keine Kundeninformation verloren gehen. Die Flexibilität im Umgang mit Kunden äußert sich in der Fähigkeit und Bereitschaft, dem Kunden auch in unterwarteten Situationen zuzuhören und Anregungen aufzunehmen, die zu innovativen Problemlösungen führen können. So wurde beispielsweise von Obi erkannt, dass nicht jeder Hobby-Handwerker perfekt sein muss und
Innovative Strategien im Handel
271
dass das Angebot, Kundenseminare anzubieten, Schwellenängste abbauen hilft und allzu „fachmännische Beratung“ nicht immer verstanden und gewünscht wird (So zeigt z.B. ein Mitarbeiter von Obi, wie man Laminat und Parkett richtig verlegt (ObiHomepage zu Veranstaltungen, Sonderaktionen, Kundenseminare usw.). Ein Beratungsgespräch, das vom Kunden nicht als „Verkauf“ sondern als „Problemlösung“ erlebt wird, bietet Ansatzpunkte für innovative Leistungen. Eine grundsätzliche Offenheit im Interaktionsverhalten gegenüber dem Kunden, eine gewisse Neugierde, wissen zu wollen, was dem Kunden nicht gefällt und wie man es „anders“ bzw. „besser“ machen kann bildet die Grundlage für eine innovative Interaktion mit dem Kunden. Eine dauerhafte Einrichtung eines „Kundenparlaments“ sichert den ständigen Dialog. Informationsergebnisse aus Kundenkontakten von nicht im Verkauf tätigem Personal runden den Informationspool für innovative Ansatzpunkte ab.
3.5
Innovative Ansatzpunkte durch Kreierung neuer Betriebstypen
Betriebstypen, jeweils gekennzeichnet durch Kombinationen von Faktoren wie Flächengröße, Art des Angebots u.a., durchlaufen Entwicklungsphasen von Entstehung, Wachstum, Reife und Niedergang (Lebenszyklus-Hypothese). (Zur LebenszyklusHypothese in Bezug auf Einzelhandelsgeschäfte vgl. Berger, S. (1977), die sich als Erste mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat). Kreative BetriebsformenInnovationen sind durch rasches Wachstum und Imitation durch andere Handelsunternehmen gekennzeichnet. Im Zuge von Betriebsformen-Innovationen kommt es zu einer sog. „store erosion“ [Unter „store erosion“ versteht man den Alterungsprozess, vornehmlich von Lebensmitteleinzelhandelsläden. Vgl. Berger, S. (1977)]; d.h. wenig attraktive Betriebsformen verschwinden wieder vom Markt. An der Entwicklung der Betriebsformen des Einzelhandels und deren Standorte in der Bundesrepublik kann die Lebenszyklus-Hypothese nachvollzogen werden: Die Bedienungsläden der 50er Jahre wurden in den sechziger Jahren durch großflächigere Betriebsformen ersetzt. Zudem setzte sich die Andienungsform „Selbstbedienung“ zunehmend durch. In den 80er Jahren kamen die noch größeren Verbrauchermärkte mit einem zusätzlichen Non-Food-Angebot auf den Markt. In den 90er Jahren traten die Discounter ihren Siegeszug an. Außerdem kam es zu Agglomerationen, d.h. zu Standortballungen unterschiedlicher Betriebsformen als sog. Einkaufs-
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Peter M. Rose
zentren. Shopping-Malls, Galerien und Einkaufszentren haben ihre Standorte entweder in innerstädtischen Zentren oder an verkehrsorientierten Randlagen. Unter Druck geraten sind die klassischen Warenhäuser mit einem breiten und hochpreisigen Sortiment in Citylagen. Allerdings kann man den Alterungsprozess von Betriebstypen des Einzelhandels nicht gesichert vorhersagen, wie man bei der jüngsten Entwicklung einzelner Warenhaus- und Versandhausketten schmerzlich erfahren hat. Um Innovationspotenziale und dynamische Entwicklungen nutzen zu können, bietet sich ein sog. Retailing-Mix (Unter einem Retailing-Mix versteht man ein Portfolio verschiedener Betriebstypen in einem Handelskonzern, d. Verf.) an. Die Akquisitionsbemühungen in der jüngeren Zeit, um Innovationspotenziale z.B. beim Betriebstyp Discounter nutzen zu können, sind dafür ein Beleg (Z.B. die Akquisition der Kette „Plus“ durch EDEKA und die Zusammenlegung mit den „Netto“-Filialen).
3.6
Ansatzpunkte für Prozessinnovationen
„Beschaffung, Logistik und Verkauf zählen zu den so genannten Primäraktivitäten im Wertschöpfungsprozess eines Handelsunternehmens“ (Rudolph, T. (2005), S.16). Im Handel stehen „[…] die Beschaffung und Verteilung von Waren und Dienstleistungen im Mittelpunkt dieser drei Kernprozesse“ (Ebda.). Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien im Handel sind insbesondere im sog. „integrierten Wertschöpfungsnetz (IWN)“ (Die Integrationskomponente beschreibt das gemeinsame Management der gesamten Leistungskette (Hersteller – Handel – Kunde) über alle Schnittstellen hinweg, um dadurch die Kundenbedürfnisse besser, schneller und kostengünstiger zu befriedigen und dadurch einen gegenseitigen Nutzen zu erzielen (eine sog. Win-Win-Situation; d. Verf.) auf der Grundlage einer „Efficient Consumer Response (ECR)“ (Frei übersetzt: „Effiziente Reaktion auf die Kundennachfrage“; d. Verf.). Damit sind zwei Phänomene verknüpft. Die Kooperation zwischen Zuliefern, Herstellern und dem Handel und die wachsende Erkenntnis, dass die Nachfrage des Kunden am POS (POS= Point of Sales (Ort des Verkaufs); d. Verf.), erfasst in Form von Scannerdaten, den gesamten Leistungsprozess bis zur Produktion steuern möge. Diese Phänomene determinieren eine innovative Vorgehensweise und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen ist eine Kooperation zwischen Zuliefern, Herstellern und dem Handel insofern als innovativ zu bezeich-
Innovative Strategien im Handel
273
nen, als sich Hersteller und Handel vor nicht allzu langer Zeit noch als Gegner betrachteten. Auf der anderen Seite ist die Steuerung der gesamten Leistungsprozesse durch die Nachfrage des Kunden durchaus als innovativ zu bezeichnen. Entlang der Wertschöpfungskette werden im Rahmen des sog. „Supply Chain Managements“ (Die Supply Chain beschreibt den logistischen Wertschöpfungsprozess; d. Verf.) nicht nur Kosten reduziert sondern auch Kundenbedürfnisse schneller befriedigt. Mit einem „Category Management“ (Mit einer „Category“ wird eine Warengruppe bezeichnet; d. Verf.) kann im Rahmen einer gemeinsamen Neuproduktentwicklung von Hersteller und Handel optimal auf Kundenwünsche eingegangen und somit innovative Produktlösungen kreiert werden. Das schon allein aus dem Grund, dass Informationen von beiden Seiten in den Prozess eingehen.
3.7
Ansatzpunkte für soziale und organisatorische Innovationen
Soziale und organisatorische Innovationen betreffen den Humanbereich und können helfen, Leistungs- und Prozessinnovationen zu implementieren und zu fördern. Damit ist nicht nur das Interaktionsverhalten an der Schnittstelle zum Konsumenten angesprochen, sondern reflektiert auch auf das interne Marketing und die interne Leistungsqualität eines Handelsunternehmens im Sinne der drei Arten des Marketings in Dienstleistungsbranchen in der Literatur. Abb. 3 zeigt die drei Arten des Marketings in Dienstleistungsbranchen
Abbildung 3: Arten des Marketings in Dienstleistungsbranchen Quelle: Kotler, P. / Bliemel, F. (1995), S. 716.
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Peter M. Rose
Dabei sei darauf hingewiesen, dass innerhalb eines Handelsunternehmens „Lieferanten-Kunden“-Beziehungen existieren – insbesondere im Hinblick auf Informationsflüsse, die es zu optimieren gilt, um auch im organisatorischen und sozialen Bereich Ansatzpunkte zur Entwicklung innovativer Strategien zu ermöglichen.
3.8
Auslöser für Innovationen im Handel
Auslöser für innovative Strategien im Handel können Veränderungen im Konsumentenverhalten bzw. Änderungen in der Bevölkerungsstruktur sein. Obwohl die Veränderungen in der Alterspyramide zugunsten der älteren Bevölkerung schon längst kein Geheimnis mehr sind, tut sich der Handel schwer, mit innovativen Lösungen auf diese Entwicklung zu reagieren. Senioren fühlen sich im Supermarkt (immer noch) allein gelassen [So das Ergebnis einer Studie der Verbraucherzentralen und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e. V. (BAGSO) mit 3.326 Teilnehmern, die im ersten Halbjahr 2007 durchgeführt wurde]. Da liegt eine großes Innovationspotenzial brach. Dabei sind innovative Problemlösungen ohne großen Aufwand jederzeit möglich, indem beispielsweise die Warenbereiche besser beschildert und größere Schriften zur Kennzeichnung der Waren eingesetzt werden. Neue Technologien sind Treiber von Innovationen im Handel: Beispielweise die Lasertechnologie, die Scannerkassen erst ermöglicht, die Radio-FrequenzIdentfikationstechnologie (RFID) zur Verbesserung der Prozessabläufe in Beschaffung und Logistik, sowie der Einfluss der Informationstechnologie zur Ermöglichung neuer Verkaufsplattformen (Internet-Portale, E-Bay) und Betriebstypen (Teleshopping). Die Lasertechnologie kann als Basisinnovation bezeichnet werden, weil mit dieser Schlüsseltechnologie Möglichkeiten geschaffen wurden, die Konsumentenreaktionen in die Wertschöpfungsprozesse des Handels zu integrieren und innovatives Potenzial freizusetzen. Ähnliches gilt für RFID-Technologie, mit deren Hilfe Prozesse beschleunigt werden können, wenn die Verbreitung dieser Technologie fortschreitet und Anpassungsinnovationen erfolgreich durchgeführt werden können.
Innovative Strategien im Handel
275
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Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance innovativer und umweltfreundlicher Handelsimmobilien Hubert Steppeler*
1
Stand der Nachhaltigkeitsdiskussion in der Immobilienwirtschaft .................278
2
Nachhaltigkeit versus Green Building ...........................................................279 2.1 Dimensionen der Nachhaltigkeit.......................................................279 2.2 Reichweite des Green Building ........................................................280
3
Hindernisse in der Umsetzung von Nachhaltigkeit ........................................281
4
Innovationsmarketing zur Positionierung von Nachhaltigkeit ........................282
5
Handel- und Handelsimmobilien in Ausgangs- und Interessenlage ..............283
6
Nachhaltigkeit aus Sicht der Nutzer und Investoren .....................................285 6.1 Nutzeraspekte ..................................................................................285 6.2 Kostenaspekte..................................................................................286 6.3 Risikoaspekte ...................................................................................287 6.4 Werthaltigkeitsaspekte .....................................................................288 6.5 Finanzierungsaspekte ......................................................................289
7
Zertifizierung als Bewertungsverfahren von Nachhaltigkeit...........................291 7.1 Zertifizierungsgegenstand ................................................................291 7.2 Zertifizierungsstand ..........................................................................291 7.3 Zertifizierungsdefizite .......................................................................292 7.4 Zertifizierungsfolgen .........................................................................293 7.5 Zertifizierungsanspruch ....................................................................294
8
Ausgewählte Einfluss- und Bestimmungsgrößen der Marktperformance......295
9
Schlußbetrachtung und Ausblick...................................................................297
Literaturverzeichnis .................................................................................................299
* Dr. Hubert Steppeler ist als Projektentwickler und Investor sowie als geschäftsführender Gesellschafter in der Bau- und Einrichtungsbranche tätig.
Hubert Steppeler
278
1
Stand der Nachhaltigkeitsdiskussion in der Immobilienwirtschaft
Die Welt steht vor großen und vielfältigen Herausforderungen der Zukunft, insbesondere bei der Sicherung und dem Erhalt der natürlichen Ressourcen und dem Schutz der Umwelt. In der Klima- und Umweltdiskussion hat die Immobilienwirtschaft über viele Jahre ein Schattendasein geführt. Dies erscheint schon deshalb unverständlich, als Immobilien nach Schätzungen der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in Industriestaaten etwa 40% der erzeugten Energie verbrauchen und insofern einen sehr maßgeblichen Anteil der energiebezogenen Treibhausemissionen zu verantworten haben. Darüber hinaus bilden Immobilien Arbeitsumgebung und Lebensraum, in denen Menschen bis zu 90% ihrer Lebenszeit verbringen. Auch aus dieser Sicht wird verständlich, dass die Immobilienbranche ihre lange Zeit passive Haltung zu überdenken und sich ihrer Verantwortung gegenüber Umwelt und Gesellschaft in der Beachtung auch ökologischer Ziele zu stellen hat (vgl. Rottke, N.B. (2009), S. 7). Mit der Aufforderung zum Bau, dem Betrieb und der Vermarktung umweltfreundlicher Gebäude wird ihr in der Diskussion um ökologische Zuständigkeiten eine neue Interessenorientierung zugewiesen. Differenziert man die einzelnen Immobilienarten nach Funktion und Nutzung, so bedürfen Handelsimmobilien einer besonderen Betrachtung. Ihre Drittverwendung bei Leerstand ist häufig eingeschränkt oder nur mit erheblichem Kosteneinsatz überhaupt neu herzustellen. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit steht im Mittelpunkt notwendiger Investitionsentscheidungen die zentrale Frage der Kosten- und Nutzenerwartung. Hier allerdings ist ein ungleiches Nutzer- und Investoreninteresse allein schon der Tatsache geschuldet, dass Mieter nachhaltigkeitsorientierte Investitionen in den gesamten Nebenkosten sofort spüren, während Vermieter die investitionsveranlassten (Mehr-)Kosten weder exakt quantifizieren, noch diese aufgrund der Marktmacht der Nutzer in jedem Fall auf die Mieter umzulegen vermögen. In der für notwendig erklärten Neuausrichtung der Gebäudequalitäten befindet sich die deutsche Immobilienbranche noch in der Pionierphase. Seit Einführung der Messung nachhaltiger Immobilienkriterien durch die Deutsche Gesellschaftt für Nachhaltiges Bauen (DGNB) im Jahre 2008 wurden 78 Immobilien mit einem Zertifikat ausgezeichnet. Prämiert wurden überwiegend selbstgenutzte Verwaltungs- und Büroge-
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_14, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
279
bäude; Handelsimmobilien waren nicht darunter. Zurzeit werden gerade die auf Handel zugeschnittenen Nachhaltigkeitskriterien formuliert, bevor im Anschluss daran noch in 2010 die Pilotphase eingeleitet werden soll.
2
Nachhaltigkeit versus Green Building
2.1
Dimensionen der Nachhaltigkeit
Das Fehlen eindeutig definierter Begriffe für umweltfreundliches Bauen führt in der Öffentlichkeit sowohl im Diskussionsansatz wie im Diskussionsergebnis recht häufig noch zu Unstimmigkeiten und Fehlinterpretationen. Dieses Phänomen kennzeichnet aber auch die aktuelle Auseinandersetzung in der Immobilienwirtschaft, in der die Herausforderungen der Zukunft diskutiert werden und unterschiedliche Nachhaltigkeitsansätze zu erkennen sind. Die Deutsche Gesellschaftt für Nachhaltiges Bauen (DGNB) definiert in Reichweite und Umfang den international umfassendsten Nachhaltigkeitsbegriff und folgt dabei dem Mehr-Säulen-Konzept. Er besteht aus einer ökologischen, einer ökonomischen und einer sozialen Komponente. Diese drei Säulen – auch als „Triple-Bottom-LineAnsatz“ bezeichnet – stehen gleichgewichtig als Parameter nebeneinander (vgl. Rottke, N.B./ Reichardt, A. (2009), S. 30): x
Die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit befasst sich mit dem Schadstoffausstoß der Immobilien in der Zielsetzung, den Gesamtenergiebedarf im Lebenszyklus einer Immobilie zu minimieren und eine energieveranlasste Schädigung der Umwelt zu reduzieren.
x
Die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit folgt dem immobilienwirtschaftlichen Ziel, die Gesamtkosten im Lebenszyklus der Immobilie einschließlich notwendiger Revitalisierungskosten zu reduzieren. Hier findet sich ein großes Optimierungspotential, wenn man bedenkt, dass rund 80% der Lebenszykluskosten mit dem Betrieb der Immobilie verbunden sind (vgl. Rottke, N.B./Reichard, A. S. 30).
Hubert Steppeler
280
x
Die soziokulturelle Dimension erfasst den Komfort einer Immobilie und berührt so wesentliche Fragen wie z. B. Gesundheit, Zufriedenheit oder auch Produktivität der Mitarbeiter.
Die nachfolgende Abbildung belegt anschaulich das Zusammenwirken dieser drei Interaktionsansätze in einer branchenbezogenen Übertragung auf die Immobilienwirtschaft.
Abbildung 1: Die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft Quelle: (Reichardt, A./ Rottke, N.B. (2010), S. 32).
2.2
Reichweite des Green Building
Insbesondere der Begriff „Green Building“ wird stellvertretend gern als Synonym für Nachhaltigkeit diskutiert. Nur beispielsweise sei darauf verwiesen, dass die DENA (Deutsche Energie-Agentur GmbH) den Begriff des Green Building verwendet, ob-
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
281
wohl sie ausschließlich die energetische Qualität der Gebäude betrachtet, dagegen den weiteren Ressourcenverbrauch völlig ignoriert (vgl. Kemfort, G. (2009), S. 58f). Im Rahmen dieses Beitrages wird der Begriff „Green Building“ sprachalternativ verwandt, sofern bestehende Interaktionen zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Standards gesehen und in der Reichweite akzeptiert werden.
3
Hindernisse in der Umsetzung von Nachhaltigkeit
Nachdem Klima- und Umweltfragen in Deutschland seit einigen Jahren mit einer höheren Dringlichkeit diskutiert werden, hat seit dem Jahre 2007 das Thema Nachhaltigkeit auch in der Immobilienwirtschaft eine angemessene Beachtung gefunden (vgl. Reichardt, A./Rottke, N.B. (2009), S. 92). Das ist u. a. einem in der Breite gewachsenen Interesse an zertifizierten Gebäuden geschuldet. Wie die Entwicklung der Nachhaltigkeit in der Immobilienbranche aus Insidersicht gesehen wird, ist einer Expertenbefragung aus der Immobilienwirtschaft zu entnehmen, in der nach den Hindernissen einer nachhaltigen Entwicklung gefragt wird; die Einschätzung gibt Abb. 2 wieder. Im Ergebnis hat die Einschätzung der Befragten zu berücksichtigen, dass deren Antworten ein nicht zu vernachlässigendes Maß an Emotionalität beinhalten, da zum Beispiel die Amortisationszeit nicht pauschal, sondern nur in Kenntnis der Höhe der Nachhaltigkeitskosten beurteilt werden kann. Unterlegt wird ein vermuteter Mangel an Objektivität auch dadurch, dass 78 Personen die Vorteile der Nachhaltigkeit zwar schätzen, Kriterien zu deren Messbarkeit aber nicht zur Verfügung standen. Darüber hinaus bleibt zu bedenken, dass im Mittelpunkt dieser Frage nur Hindernisse standen und es von daher kein Widerspruch sein muss, wenn 45 % der Befragten der Nachhaltigkeitsbewegung eine langfristige Perspektive und Wirksamkeit einräumen und 40 % die Auffassung äußerten, Nachhaltigkeit sei auch für die Immobilienwirtschaft sehr relevant.
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282
Abbildung 2: Hindernisse der nachhaltigen Entwicklung Quelle: Reichardt, A./Rottke, N.B. (2009), S. 97.
4
Innovationsmarketing zur Positionierung von Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist keine Vision mehr, sondern wird in einem wachsenden Maße zu einer gesellschaftspolitischen Komponente, der sich alle am Wirtschaftsleben und Ressourcenverbrauch befassten Entscheider zu stellen haben. Mit dieser Aufgabenstellung sollte von daher ein Innovationsmarketing in allen Unternehmen befasst sein, damit die Nachhaltigkeitsziele eine konsequente und wirksame Umsetzung erfahren. „Gerade in Zeiten, in denen Corporate Social Responsibility, also das freiwillig verantwortungsbewusste Handeln, (auch) von den Stakeholdern gefordert und positiv bewertet wird, ist es für Unternehmen wichtig, Nachhaltigkeit in das Leitbild zu integrieren und somit als übergeordnetes Konzept für alle Entscheidungen zu etablieren“ (Reichardt, A./Rottke, N.B. (2010), S. 100). Es darf erwartet werden, dass der zukünftige Erfolg eines Unternehmens nicht mehr allein auf die erfolgreiche Lösung ökonomischer Fragestellungen reduziert werden wird. In der Bedeutung zunehmen werden innovative Strategien und Schritte in der Bewältigung nachhaltiger und zukunftsweisender Fragestellungen. Als beispielgebend können hier die Unternehmen Hipp und Kuhnert zitiert werden, die ihr eigenes Öko-Label als Teil der Firmenphilosophie in der Werbung inhaberbezogen personifiziert haben.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
283
Ein wirksames Innovationsmarketing wird zukünftig branchenunabhängig von allen erfolgreichen Unternehmen zu betreiben sein und sich in Form einer umweltbezogenen Markt- und Unternehmensstrategie zu erkennen geben. In der Flanke offen und unbestimmt bleiben – auch für die deutsche Immobilienwirtschaft – Intensität und Geschwindigkeit einer für notwendig erklärten Unternehmensausrichtung (vgl. Bonning, M./Schwind, S./Wild, D. (2010), S. 335). Möglicherweise vollzieht sich diese Entwicklung in einer globalen Welt deutlich schneller als heute noch von Pessimisten bedacht. So bilden z.B. in den USA und Großbritannien heute bereits Investments, die eine Umsetzung auch ökologischer, ethischer und sozialer Kriterien fordern, eine feste und wachsende Größe. Insbesondere institutionelle Investoren aus dem Bereich der Versicherungen, Fondgesellschaften, Pensionsfonds oder auch anderer Kapitalsammelstellen nutzen bereits die Chance, als Open Innovator (vgl. Möslein, K.M./Neyer, A. K. (2009), S. 85) mit dem Hinweis in den Blickpunkt einer interessierten Öffentlichkeit zu treten, bereits frühzeitig etwas für die Umwelt getan zu haben.
5
Handel und Handelsimmobilien in Ausgangs- und Interessenlage
Der deutsche Einzelhandel hat im Verlaufe vieler Jahre eine Entwicklung genommen, die gleichermaßen erstaunlich wie bedenklich ist. Ein ungebrochenes Wachstum an Verkaufsflächen hat dazu geführt, dass immer größere Einkaufsstandorte und neue Einkaufslagen entstanden sind, die sich perspektivisch einer alternden Gesellschaft und einer schrumpfenden Anzahl an Konsumenten gegenüber sehen. Kaufkrafteinschnitte und sinkende Konsumausgaben werden den Wettbewerb der Einkaufsstandorte weiter verschärfen und damit die Marktauslese vorantreiben. Die Marktteilnehmer werden sich dabei einem Verbraucher gegenüber sehen, der in seinem Konsumverhalten zunehmend schwieriger und unberechenbarer wird und dadurch eine Verbrauchertypisierung und Zielgruppenbildung erschwert (vgl. Steppeler, H. (2006), S. 52f). In der Bedeutung wachsen wird dabei ein wettbewerbsbedingter Preisverfall, der die Handelsspannen verkürzt, die Flexibilität im Marktauftritt begrenzt und die Ertragskraft der Betriebe gefährdet. Einzelhandel in eigenen Immobilien zu treiben galt über Jahrzehnte als Zeichen einer guten Kapitalausstattung. Zwischenzeitlich allerdings ist der Markt für Handelsimmobilien nicht nur sehr facettenreich, sondern auch schwierig und risikoreich geworden.
284
Hubert Steppeler
Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Marktfähigkeit und Wertentwicklung dieser Immobilien sich aus den vielfältigen Interdependenzen und den an Bedeutung wachsenden Interaktionen aus Standortlage, Standortqualität, Gebäudezuschnitt, Gebäudequalität, Vermietbarkeit, Leerstandsgefahr, Cashflow und nicht zuletzt der Mieterbonität bestimmt, wird deutlich, welche Risiken in dem Betrieb eigener Immobilien zu übernehmen sind (vgl. Schulte, K.W. (2008), S. 127). Diese Problemvielfalt haben einige Handelskonzerne, wie z. B. die Metro, schon vor Jahren gesehen und durch den Verkauf eigener Handelsflächen gelöst und so frühzeitig ein Outsourcing an Entscheidungen und Problemen betrieben, die mit einer zunehmenden Verkürzung der wirtschaftlichen Lebensdauer einer Handelsimmobilie in der Wertveränderung einhergehen. Marktdynamik und Wettbewerbsdruck dürften in der Veranlassung begründen, dass der Handel sein Kostenmanagement weiter professionalisiert und Kostenentlastung durch Kostenverlagerung betreiben wird. Nachfolgende Beispiele belegen: x
Eine wirksame Möglichkeit, die Kostenproblematik durch Umverteilung zu lösen besteht darin, die Verlängerung des Mietvertrages bei Bestandsimmobilien mit einer kostenentlastenden Durchführung energetischer Maßnahmen zu verbinden.
x
Traditionell gewohnte Vertragslaufzeiten einer Erstanmietung befinden sich im Umbruch. Waren früher im Lebensmitteleinzelhandel Erstlaufzeiten von 15 bis 20 Jahren durchaus üblich, so gelten heute 10 Jahre als marktüblich und normal.
x
Immer mehr Handelsketten befassen sich mit einem Green Building und schicken Pilotprojekte in die Testphase, um die Kostenwirkung zu eruieren und daneben auch ein aktives Umweltmanagement und ein Maß an gesellschaftlicher Sozialverpflichtung zu belegen.
Die Motive für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Nachhaltigkeit sind sicherlich sehr vielfältig. Reduziert man die Betrachtung auf die rein ökonomische Ebene, so sind es insbesondere die Einsparpotentiale in den Nebenkosten, die als Triebfeder einer konsequenten Umsetzung von Nachhaltigkeit zu sehen sind. Diese Annahme ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn Nutzer die nachhaltigkeitsbedingten Einsparpotentiale über eine höhere Kaltmiete nicht selbst zu bezahlen haben.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
6
Nachhaltigkeit aus Sicht der Nutzer und Investoren
6.1
Nutzeraspekte
285
Investitionen in Nachhaltigkeit sind in Bezug auf die Performance von Handelsimmobilien mit einer Vielzahl von Auswirkungen und Konsequenzen verbunden, die nachfolgend systematisiert werden (vgl. Eurohypo (2008), S. 24): x
Marktperformance Vermietbarkeit, Miethöhe, Leerstand, Cashflow, etc.
x
Kapitalwert Marktfähigkeit der Immobilie, Rendite, Risiko bezüglich der Höhe der Investitionskosten, Outperformance alter Gebäude, etc.
x
Indirekter Nutzen Image, Wohlfühlfaktor, Raumqualität, Produktivitätswirkung auf die Mitarbeiterleistung etc.
Untersuchungen, die das Thema Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft zum Gegenstand hatten, weisen in der Nutzerorientierung darauf hin, dass das primäre Interesse der Nutzer an Nachhaltigkeit sich in der Wertschätzung darauf reduzieren lässt, welches Maß an Kostenreduzierung sich mit der Umsetzung von Nachhaltigkeit verbinden lässt. Dieser Eindruck festigt sich, wenn man die Ergebnisse einer anderen Untersuchung heranzieht und zur Kenntnis zu nehmen hat, dass drei Viertel der Befragten nachhaltige Aspekte bei einer zukünftigen Neuanmietung berücksichtigen wollen, allerdings nur eine ganz geringe Zahl an Befragten bereit ist, für eine verbesserte Bauqualität auch mehr Miete zu zahlen (vgl. Friedemann, T./Büchner, G. (2010), S. 76f). Das jedoch muss nicht zwingend bedeuten, dass die Beachtung ökologischer und sozialer Kriterien von den Befragten nicht hinreichend geschätzt oder als notwendig bedacht wird. Als Ursache sollte auch bedacht werden, dass die ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitskriterien aus dem persönlichen und praktischen Erleben heraus nicht ausreichend bewertet werden können. Vermutlich ist die Vorstellung noch zu diffus, was eigentlich mit dem Begriff einer nachhaltigen Bauqualität in der Ge-
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286
samtwirkung zu verbinden ist. Auffallend häufig wird die Bemessung der Nachhaltigkeit ausschließlich mit der Verbesserung der energetischen Performance verbunden (vgl. Friedemann, T./Büchner, G. (2010), S. 77).
6.2
Kostenaspekte
Umweltprotagonisten, die das Tempo der gedanklichen Aufnahme und Umsetzung von Nachhaltigkeit insbesondere auch in der Immobilienwirtschaft beklagen, bekommen in der Begründung dafür zur Antwort, die Integration von Nachhaltigkeit in der Errichtung von Neubauvorhaben führe im Vergleich zu konventionellen Bauten zu einem Maß an Mehrkosten, das wirtschaftlich nicht zu vertreten sei. Meinungsbildend in dieser Frage ist dabei offenbar eine Diskussion, die in der Analyse undifferenziert und kritiklos nationale und internationale Untersuchungsergebnisse vergleicht, ohne die länderindividuell unterschiedlichen und gesetzlich veranlassten Baustandards in die Beurteilung angemessen einfließen zu lassen (vgl. Rottke, N.B./ Reichardt, A. (2010), S. 42). In der Antwort offen bleibt dabei die Frage, ob die hier angesprochenen Unterschiede überhaupt objektiv und vergleichsfähig zu interpretieren sind. Zumindest eine kritische Distanz scheint notwendig, wenn man bedenkt, dass die aktuell gültigen deutschen Bauvorschriften in ihrer Wirkung derart stark greifen, dass mit der gesetzlichen Erfüllung vielfach bereits eine Eingangszertifizierung erreicht werden kann. Nur die Suche einer in der Zertifizierung höheren Niveaustufe ist in der Regel mit einer Zunahme an Mehrkosten verbunden. Neben der angestrebten Niveaustufe einer Zertifizierung ist die Gebäudegröße heranzuziehen, wenn mögliche Zusatzkosten zu diskutieren sind (vgl. Landgraf, D. (2010), S. 125). Es darf davon ausgegangen werden, dass tendenziell kleinere Gebäude prozentual höhere Mehrkosten verursachen als vergleichsfähig größere Gebäude. Die Mehrzahl an vorliegenden Studien gibt moderate Mehrkosten zu erkennen, wenn es beispielsweise nur um die niedrigste Zertifizierungsstufe geht. So verweist eine Studie auf Mehrkosten in Höhe von 2 % für ein LEED-Eingangszertifikat und 5 % Mehrkosten für eine Zertifizierung in der LEED-Höchststufe. Eine andere Studie wiederum verweist bei der letztgenannten Betrachtungsebene auf Mehrkosten von 6,5 %.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
287
In der Beantwortung muss offen bleiben, mit welchen Investitionskosten in einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Revitalisierung eines vorhandenen Gebäudebestandes zu rechnen ist. Hier bietet sich in dafür notwendigen Kostenuntersuchungen nicht nur noch ein weites Betätigungsfeld, sondern erklärt auch, warum Vermieter in Unkenntnis der Kostenhöhe und Kostenverteilung nur selten bereit sind, die Kosten einer energetischen Sanierung zu tragen (vgl. Lehmann, H./ Lünenburger, B./Penn-Bressel, G. (2010), S. 317.
6.3
Risikoaspekte
Die Umsetzung von Nachhaltigkeit verbindet sich für Eigentümer und Investoren mit einer richtungsweisenden Entscheidung über die persönliche Risikobereitschaft. Risikoscheue Marktteilnehmer dürften in dieser Frage eher minimalinvestive Schritte bevorzugen und mit Blick einer gegebenenfalls bevorstehenden Vertragsschließung versuchen, sich auf die Umsetzung der Mindestanforderungen zu beschränken. Wer dagegen eine „risikoaffine Strategie fährt, wird versuchen, die Chancen, die sich in einem definierten Marktumfeld ergeben, gewinnbringend für sich zu nutzen“ (Friedemann, T./ Büchner, G. (2010), S. 81)“. Das Ausmaß an Chancen sollte dabei ebenso wenig wie das Ausmaß der damit einhergehenden Risiken generalisierend und marktübergreifend diskutiert werden. Es bestehen nicht eben selten sehr vielfältige Wechselbeziehungen, die oftmals über den Faktor Marktmacht ihren Einfluss in der Kosten- und Risikowirkung entwickeln. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll anhand einiger Beispiele belegt werden, welche Folgewirkungen auftreten können, wenn sich u. a. in der Stärke zwei ungleichgewichtige Marktteilnehmer gegenüber stehen. x
Projektentwickler oder auch Investoren entwickeln Handelsimmobilen für eine bestimmte Nutzung oder für interessierte Nutzer nach nutzerindividuellen Bauund Ausstattungsvorgaben. Diese Kosten werden aus der Erfahrung heraus kalkuliert und liegen vor Baubeginn zum Zeitpunkt der mietvertraglichen Einigung bereits vor. Die zusätzlich entstehenden Kosten der Nachhaltigkeit dagegen bleiben spekulativ und sind in der frühen Phase der Umsetzung von Nachhaltigkeit in Neubauten noch mit einer gehörigen Portion Risiko versehen.
x
„Transaktions-und/oder Mietpreise für nachhaltige Immobilien sowie Preisvergleiche mit ähnlicher Qualität und Nutzungsart liegen derzeit kaum vor“ (Lütz-
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kendorf, T. (2009), S. 37.) Es können also keine Benchmarks zur Orientierung herangezogen und so eine Orientierung für eine faire Kostenverteilung geliefert werden. x
Es darf nicht zwingend als sicher gelten, dass nachhaltigkeitsindizierte und damit niedrigere Betriebskosten die Bereitschaft der Mieter erhöhen, sich an den damit verbundenen Investitionskosten über eine höhere Kaltmiete zu beteiligen.
x
Große Teile des Handels werden auf ihre eigene Bautätigkeit und Kenntnis der Baupreise verweisen. Es bleibt zu erwarten, dass es schon bei der Höhe der diskutierten Mehrkosten zu Unstimmigkeiten kommt. Hier dürfte die Marktmacht der Nachfrage den finalen Spielraum in der Kostenverteilung bestimmen, dies insbesondere dann, wenn weitere Handelsflächen zukünftig geliefert und vom Mieter unter Vertrag genommen werden sollen.
x
Ein anderer Einfluss an Marktmacht gibt sich auch daraus zu erkennen, wie erfolgreich ein Handelspartner die Verlängerung eines bestehenden Mietvertrages mit dem Entfallen der nachhaltigkeitsbedingten Mehrkosten im Rahmen der Neuvermietung an einem anderen Standort verquicken kann.
x
Bei der Bewertung von Handelsimmobilien auf Vergleichswerte abzustellen ist gleichermaßen schwierig wie gefährlich. Die sich bietenden Standortvoraussetzungen einer Standortlage gelten immer dann als optimal, wenn sie den Standortanforderungen der vorhandenen Standortnachfrage entsprechen. Je höher dieses Maß an Übereinstimmung ist, umso größer dürfte die Bereitschaft der Immobiliennutzer sein, sich an den nachhaltigkeitsbedingten Mehrkosten zu beteiligen.
6.4
Werthaltigkeitsaspekte
Der Markt für Einzelhandelsimmobilien ist in Deutschland mit Eintritt der Finanz- und Bankenkrise fast vollkommen zum Erliegen gekommen. Die Ursachen dafür sind vielfältig und keineswegs ausschließlich internationaler Natur. Der deutsche Markt für Einzelhandelsimmobilien hatte auch schon vor der Krise an Beachtung verloren und das Anlagekapital nicht mehr in der gewohnten Weise zu lenken vermocht. Während in einigen europäischen Ländern Total Returns von 10% und mehr zu erzielen wa-
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
289
ren, entfernte sich das deutsche Marktniveau auf eine Bandbreite von lediglich 3,5% bis 6%. Handelsimmobilien verzeichnen aktuell in Deutschland eine negative Wertentwicklung, und es ist in einer perspektivischen Betrachtung wenig motivierend, dass die rückläufige Entwicklung keineswegs auf den deutschen Markt beschränkt bleiben dürfte (vgl. Bays, W.R. (2010), S. 498). Diese Ausgangssituation reflektierend stellt sich von daher die Frage, ob Nachhaltigkeit ein tragfähiger Erfolgs- und Wertschöpfungsfaktor ist, der die Performance einer Handelsimmobilie positiv beeinflusst. In einer diesbezüglichen Wertung bleibt zu bedenken, dass x
sich bisher noch kein tragfähiger Markt für nachhaltige Handelsimmobilien entwickelt hat (vgl. Rottke, N.B./Reichardt, A. (2010), S. 46),
x
auch ein Investoreninteresse auf breiter Front noch nicht zu verzeichnen ist, da höhere Baukosten bei unbestimmter Rendite gesehen werden. Fokussiert werden von daher niedrige Baukosten und eine konventionelle Bauweise (vgl. Friedemann, T./ Büchner, G. (2010), S. 78) und
x
der positive Einfluss von Nachhaltigkeit derzeit noch nicht messbar ist. Es fehlt in der Beurteilung ein verlässlicher Rückgriff auf eine repräsentative Bewertungsmatrix.
„Der Suche nach allseits anerkannten Bemessungsgrundlagen stehen etablierte Interessen entgegen“ (Friedemann, T./Büchner, G. (2010), S. 80). Verbände, Kammern oder auch Lobbyisten tun sich noch schwer damit, ihre gewachsenen Verhaltensmuster abzulegen und durch anerkannt neue, interdisziplinäre Lösungen zu ersetzen. 6.5
Finanzierungsaspekte
Die internationale Finanzmarktkrise ist in ihren Folgewirkungen spürbar auch in der Realwirtschaft angekommen und hat dort u. a. zu veränderten Rahmenbedingungen in der Kreditvergabe geführt. Insbesondere der Mittelstand und hier wiederum die noch relativ jungen Firmen beklagen in einem wachsenden Ausmaße einen deutlich erschwerten Kreditzugang bei der Finanzierung gewerblicher Immobilien. Banken
290
Hubert Steppeler
erwarten heute im Rahmen gewerblicher Finanzierungen von den Kreditnehmern ein gegenüber früher deutlich höheres persönliches Engagement. Das bezieht sich gleichermaßen auf Eigenkapitaleinsatz, Bereitstellung an Sicherheiten oder auch Übernahme an Risiken, die mit der Investition einhergehen. Der Aspekt der Nachhaltigkeit ist von daher auch aus der Perspektive der Gebäudefinanzierung zu betrachten, obwohl es bisher keine Untersuchung gibt, die das Finanzierungsverhalten der Banken in dieser Frage untersucht. Investoren dürften im Rahmen ihrer Finanzierungsakquise auf folgende Optionen treffen: x
Nachhaltigkeit wird das Finanzierungsverhalten positiv begleiten, wenn man in der Einschätzung die Schweiz als Maßstab heranzieht. Nachhaltige Gebäudequalitäten werden dort von einigen Banken mit einer Konditionsbesserstellung gegenüber konventionellen Bauten belohnt (vgl. Landgraf, D./Rohde, Ch. (2010), S. 240).
x
Optional denkbar ist ebenso, dass Banken die Bautätigkeit von nachhaltigen Handelsimmobilien nicht durch Konditionsunterschiede anregen, diese Entwicklung aber in ihrer Rolle als Stakeholder begleiten, indem sie sich öffentlich zur Finanzierung ökologischer und sozialer Themeninhalte bekennen. „Durch eine Nachhaltigkeitsberichterstattung können die Aktivitäten dokumentiert und deren Wirkung bestimmt werden“ (Vogel, L. (2010), S. 351).
x
Es dürften ebenso Banken anzutreffen sein, die mit Blick auf eine Risikominimierung in der Kreditvergabe nachhaltige Gebäude favorisieren, da diese das Risiko eines Kreditausfalls stärker begrenzen.
x
Es dürfte außerdem Banken geben, die dem Kreditnehmer auferlegen, nachhaltigkeitsbedingte Mehrkosten aus dem Eigenkapital heraus zu finanzieren, da repräsentative Bezugnahmen für eine nachvollziehbare Kostenkalkulation nicht zur Verfügung stehen.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
7
Zertifizierung als Bewertungsverfahren der Nachhaltigkeit
7.1
Zertifizierungsgegenstand
291
Nachhaltigkeit ist ein Konzept, dass die Lebenszeit einer Immobilie in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt und dabei nach den Bedürfnissen und Wirkungen fragt, mit denen unterschiedliche Akteure während der Phase der Planung, der Gebäudeerstellung, der Nutzung, der Revitalisierung oder dem Abriss einer Immobilie befasst sind. Im Rahmen einer Lebenszyklusanalyse wird der Einfluss untersucht und quantifiziert, der mit der Lebensleistung einer Immobilie in der Auswirkung auf die Umwelt verbunden ist (vgl. Koch, M. (2010), S. 160). Sie erfasst in einer tiefgehenden Analyse die Auswirkungen der ökologischen, ökonomischen und der soziokulturellen Dimension, um die Wertschöpfungsstufen und Wertschöpfungsprozesse im Ergebnis erfassen zu können. Diese Vielfalt an Daten und Informationen ist hilfreich in der Zielsetzung, das Ökoprofil einer Immobilie schon während der Planungsphase durch einen Abgleich von Zielsystem und Zielerreichungsgrad beeinflussen und dadurch die Lebenskosten einer Immobilie beeinflussen und optimieren zu können. Eine Ergebniszertifizierung ist abschließend ein hilfreiches Instrument, den Nachhaltigkeitsgrad einer Immobilie dokumentieren zu können.
7.2
Zertifizierungsstand
Um die Nachhaltigkeit von Gebäuden bewerten und kommunizieren zu können, müssen die Nachhaltigkeitskriterien einer Immobilie erfasst und im Rahmen einer Zertifizierung verarbeitet und dokumentiert werden. Großbritannien war das erste Land, welches Ende der achtziger Jahre in Form des BREEAM-Standard ein Gebäudebewertungssystem installierte, um dadurch die umweltrelevante Gesamtleistung eines Gebäudes bestimmen und durch ein Gütesiegel definieren zu können. Im Jahr 2000 folgten die USA mit dem LEED-Standard. Deutschland reagierte erst 2007 mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Das von ihr entwickelte Gütesiegel DNGB befindet sich seit 2009 in der praktischen Anwendung. Weltweit sind es aktuell etwa 15 Systeme, die sich mit einer standardisierten Gebäudekennzeichnung befassen (vgl. Friedemann, T./Büchner, G. (2010), S. 82). Die überwiegende Mehrzahl davon hat nur eine nationale Bedeutung
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292
überwiegende Mehrzahl davon hat nur eine nationale Bedeutung entwickeln können. Internationale Bedeutung haben bisher nur LEED und BREEAM erreicht. Von daher wird mit Interesse zu verfolgen sein, welche Nachfrage das deutsche DNGBGütesiegel auf nationaler wie auf internationaler Ebene entwickeln wird. Die Zahl der systembezogenen Zertifizierungsstufen und die damit verbundene Notengebung zeigt Abbildung 3.
Abbildung 3: Praktizierte Notengebung bei nationalen und internationalen Nachhaltigkeitsbewertungsverfahren mit drei- und vierstufigem Notensystem Quelle: Gertig, K. u.a. (2010), S. 177.
7.3
Zertifizierungsdefizite
Ein Zertifizierungssystem hat die lokalen Marktgegebenheiten aufzunehmen, um so die baurechtlichen, architektonischen, klimatechnischen oder auch geographischen Ausprägungen in Art und Umfang entsprechend abbilden zu können (vgl. Koch, M. (2010), S. 159). Die Inhalte der typisierten Erfassungskategorien sind demzufolge national geprägt und differenzieren im länderindividuellen Ansatz damit zum Teil erheblich. Deutlich wird das zum Beispiel daran, dass zwar alle namhaften Bewertungskonzepte sich am Triple-Bottom-Line-Konzept orientieren, allerdings keineswegs identische Dimensionen der Nachhaltigkeit kategorisieren. „Die objektive Ver-
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
293
gleichbarkeit von nationalen Zertifizierungssystemen wird dadurch eingeschränkt. So legt LEED beispielsweise einen starken Fokus auf die ökologische Dimension, wohingegen das DNGB-Siegel alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit (gleichgewichtig) (vgl. Friedemann, T./Büchner, G. (2010), S. 83) abdeckt“ (Landgraf, D. (2010), S. 107). In der Beurteilung hat das zur Folge, dass Zertifizierungsergebnisse nicht bedingungslos miteinander verglichen werden können, wenn es darum geht, das Potential einer Immobilie unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu analysieren. Notwendig bleibt in einer finalen Wertung ein gewisses Maß an Relativierung in der Adaption situationsspezifischer Gegebenheiten.
7.4
Zertifizierungsfolgen
Die beschränkte Vergleichsfähigkeit der systemspezifischen Zertifizierungsergebnisse ist aktuell ein häufig beklagter Zustand. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass die vorgetragene Kritik zwar berechtigt ist, dass eine kritische Auseinandersetzung den Trend zu mehr Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft nicht brechen, sondern vielmehr in der Tendenz durchaus auch positiv begleiten kann. Dabei ist u. a. daran zu denken, dass je nach Marktperspektive und Interessenlage auch unterschiedliche Informationen einer Zertifizierung in der Wertung helfen, zum Beispiel, wenn die Innovationsbereitschaft und die Innovationskraft eines Unternehmens anzuregen ist (vgl. Koch, M. (2010), S. 161) oder auch die Erfolge zu belegen sind, die ökonomisch auf eine Investition in Nachhaltigkeit beruhen. Selbst weiche Nachhaltigkeitskriterien, wie zum Beispiel das Image eines Unternehmens oder die Mitarbeiterzufriedenheit, entfalten mit einer wachsenden Umweltorientierung eine positive und greifbare Wirkung. Das belegt eine Untersuchung aus den USA, die im Jahre 2007 die Mitarbeiterloyalität in Bezug auf das Umweltverhalten der Arbeitgeber untersucht hat. Danach zeigen Mitarbeiter eine umso stärkere Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, wie dieser sich in einer wahrnehmbaren und nachvollziehbaren Form seiner Umweltverantwortung stellt (vgl. Cone, C. (2007), S. 11). Ebenso kann es für Dienstleister, wie Banken, Versicherungen, Anwälte etc. unter dem Aspekt der eigenen öffentlichen Reputation von Interesse sein, durch Anmietung und/oder Nutzung nachhaltiger Gebäude ein ökologisches Interesse zu signalisieren und öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren. Es ist also eine sehr große Bandbreite an Marktteilnehmern, die aus der eigenen unternehmerischen Interessen-
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294
lage heraus von den Auswirkungen eines sich ausweitenden Green-Building profitieren. Insofern ist an wenigen Beispielen schon zu belegen, „dass ein erfolgreiches Zertifizierungssystem nicht ausschließlich auf die Interessen von Investoren und Nutzern ausgelegt sein kann. Es muss vielmehr die Interessen einer möglichst breiten Gruppe von Marktteilnehmern repräsentieren, um Akzeptanz im Markt zu finden“ (Koch, M. (2010), S. 168).
7.5
Zertifizierungsanspruch
Auch wenn aus durchaus nachvollziehbaren Gründen auf einen Leistungs- und Ergebnisvergleich unterschiedlicher Zertifizierungssysteme verzichtet werden kann, wird dieser Vergleich zunehmend häufiger zur Voraussetzung erhoben, wenn zertifizierte Produkte auf globalen Märkten gehandelt werden sollen. Hier muss nicht nur die Benotung einen sicheren Rückschluss auf den Grad der erreichten Nachhaltigkeit erlauben, sondern es sollten daneben auch die ökonomischen, ökologischen wie auch die sozialkulturellen Bezugnahmen in der Ergebniswirkung miteinander vergleichbar sein. Vergleichsfähige Zertifizierungsergebnisse bieten hier eine bedeutsame Hilfe im Asset-Management bei der Abwägung von Chancen und Risiken. Bisher gibt es keine Hinweise, ob ein heute bereits tätiges Zertifizierungssystem sich zu einem Weltstandard entwickeln wird. Am ehesten traut man es LEED zu. „Der Grund hierfür ist nicht die Überlegenheit des Systems, sondern das LEED durch die langjährige Erfahrung in seinem großen Heimatland und starke Unterstützung durch internationale Investoren, verbunden mit einem guten Marketingkonzept, einen Vorsprung vor anderen Systemen hat“( Koch, M. (2010), S. 170). Den Ansatz, mehr Transparenz zwischen den Systemen zu schaffen, verfolgt auch die neu gegründete SB Alliance (Sustainable Building Alliance). Sie arbeitet als Kooperationsmodell und folgt der Zielsetzung, eine internationale Basis für ein Gebäudebewertungssystem zu finden. Mehr als 20 Länder zeigen sich aktuell interessiert, dieser Kooperation beizutreten.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
8
295
Ausgewählte Einfluss- und Bestimmungsgrößen der Marktperformance
„Nachhaltigem Denken ist jeder zugetan, selbst wenn das eigene Tun den Möglichkeiten nicht gerecht wird“ (o. V., Immobilienzeitung (2010), S. 15. Dieser auch in der Immobilienbranche anzutreffende Widerspruch erklärt sich unter anderem auch aus dem Rollenverständnis des Staates, der in seiner Ökologie und Umweltverantwortung über eine permanente Verschärfung der energetischen Standards auf der gesetzlichen Ebene seit Jahren bereits um Einsparpotentiale bemüht ist. Aber weder in den Bemühungen noch im Ergebnis ist es gelungen, die Sensibilität der Marktteilnehmer für ein freiwilliges, zusätzliches Maß an Selbstverantwortung und Selbstverpflichtung zu schärfen. Die gesellschaftliche Gesamtverantwortung erklärt die Verpflichtung, den Nachfolgegenerationen das Ausmaß an Ressourcen zu hinterlassen, das heutige Nutzer bei ihrer Geburt übernommen haben. Ein hier gezeigtes Maß an Rücksichtnahme würde zu einem Erfolgsfaktor für die Wertentwicklung materieller wie auch immaterieller Wirtschaftsgüter. Der Stellenwert der Nachhaltigkeit erfährt in der Immobilienbranche noch nicht die Wertschätzung, die als umweltgerecht und angemessen bezeichnet werden kann. Häufig wird Nachhaltigkeit in der Umsetzungsdringlichkeit noch zu unscharf und in der Wirkung noch zu unbestimmt diskutiert. Das wiederum verhindert eine verlässliche Prognose, wie und in welchem Ausmaß eine zertifizierte Nachhaltigkeit den Wert einer Handelsimmobilie beeinflusst und deren Performance verändert. Nimmt man die internationale Karriere dieses Begriffes in der Umsetzung als Maßstab für die deutsche Entwicklung, so dürften sich die Vorstellungen bezüglich der vorhandenen Erwartungshaltung und die damit einhergehende Umsetzungskonsequenz recht bald aufeinander zubewegen. Die USA sind hier absolut beispielgebend. Die Zahl der Immobilienfonds dort wächst spürbar, die Green Buildings und deren Zertifizierung in der Anlageentscheidung und/oder im Asset-Management bedingen oder als notwendig voraussetzen. Es wird für die Performance von Handelsimmobilien von sehr großer Bedeutung sein, welchen Druck die Nachfrage auf die Entwicklung der Nachhaltigkeit zu übernehmen vermag. Je stärker nachhaltige Gebäudequalitäten im Rahmen der Erstvermietung gefordert werden, umso schneller und deutlicher verliert ein vorhandener Bestand an Immobilien an Wert. Die Haus- und Gebäudetechnik einer 25 Jahre alten Handelsimmobilie erfordert zum Beispiel in der Regel Revitalisierungskosten, die mit heutigen
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Neubaukosten in etwa gleichzusetzen sind. Es ist zu befürchten, dass Banken hier noch einen bedeutsamen Abschreibungsbedarf haben, wenn immobiliengesicherte Kredite im Rahmen der Kredittilgung nur über eine Immobilienverwertung zu bedienen sind. Zu bedenken bleibt weiterhin, dass mit der Umsetzung von Nachhaltigkeit zwar eine zukunftsweisende Bestimmungsgröße der Wertentwicklung geliefert wird, aber auch darauf hinzuweisen ist, dass der Aspekt der Nachhaltigkeit keine Defizite in den übrigen Lage- und Ausstattungsmerkmalen zu eliminieren vermag. Der Wert einer Handelsimmobilie entwickelte sich dabei umso positiver, je stärker die am Standort wirkende Nachfrage ein dort verfügbares Angebot übersteigt. In den unmittelbaren Auswirkungen zeigt sich ein hohes Maß an Performance auch in einem geringen, nur kurzfristig wirksamen Flächenleerstand bei ansonsten langfristigen Mietverträgen mit bonitätsstarken Mietern. Bestandsimmobilien verlieren hier umso stärker an Wert, je geringer sie im vorhandenen Energie- und Revitalisierungsstand die Zeit- und Markterfordernisse abzubilden vermögen. Eine weitere Bestimmungsgröße der Wertentwicklung darf darin gesehen werden, wie diese auf den bevorstehenden demographischen Wandel zu reagieren vermögen und in der Bedürfnislage einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft zu entsprechen wissen. Eine nachhaltige, damit wirtschaftlich effiziente, umweltfreundliche und ressourcenschonende Handelsimmobilie hat insofern auch eine „kleinräumige Mobilität“ und darauf bezogen auch Lösungen für einen nachhaltigen Kunden, Anliefer- und Entsorgungsverkehr zu liefern. Die Ausführungen zu den Bestimmungsgrößen der Wertentwicklung sollen mit dem Hinweis enden, dass es unmöglich ist, alle Werteinflussgrößen in ihrer interagierenden und interdependenten Wirkung situationsgerecht zu operationalisieren. Nur beispielhaft sei darauf verwiesen, dass nicht vorhersehbar ist, welchen Einfluss das Internet auf den zukünftigen Bedarf an Handelsflächen zu übernehmen vermag oder wie Mietpreisentwicklung und Mietflächenangebot miteinander korrelieren und in der Wirkung die Bautätigkeit nachhaltiger Immobilien anzuregen vermögen.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
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Schlussbetrachtung und Ausblick
Fundamentale Veränderungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass neue Motive und Leitbilder für ein gesellschaftlich notwendiges Engagement zu entwickeln sind. Es greift die Einsicht, dass die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Zukunft nur im Einklang mit der Belastbarkeit des Ökosystems gestaltet werden kann. Aufzugeben ist von daher die verbreitete Auffassung, dass ökonomische und ökologische Zielvorstellungen sich in der Lösung einander ausschließen. Dass in dieser Frage ein Bewusstseinswandel einzutreten hat, belegen die Klima- und Umweltveränderungen. In den USA hat sich in der Nachhaltigkeitsorientierung bereits ein deutlich anderes Grundverständnis entwickelt. Hier stellt sich beispielsweise nicht mehr die Frage, ob Green Buildings ein Nischensegment repräsentieren, sondern „zu welchem Zeitpunkt sie zum Marktstandard werden“ (Landgraf, D. (2010), S. 129. Hier sind es primär die Nutzer von Nachhaltigkeit, die als Treiber die Entwicklung beschleunigen. Für Investoren ist die Kenntnis darüber von zentraler Bedeutung, welche Immobilienmerkmale in Ausmaß und Gewichtung den Wert einer Handelsimmobilie bestimmen. Aktuell noch nicht repräsentativ zu benennen ist die Wertveränderung, die mit der Umsetzung von Nachhaltigkeit zu verbinden ist. Die heute am Markt vorhandenen Zertifizierungssysteme vermögen zwar den Nachhaltigkeitsgrad und damit die Potentiale einer Immobilie in dieser Frage zu messen, allerdings verwendet jedes Zertifikat eigene Informationsquellen, Systematiken und Bewertungskriterien mit der Folge, dass die Ergebnisse von Zertifizierungen nicht in repräsentativer Form miteinander verglichen werden können. Für eine stärkere Akzeptanz und Marktdurchdringung nachhaltiger Gebäude bedarf es noch eines großen Forschungsbedarfs. Das Ausmaß an Entscheidungen bei unvollkommener Information ist derzeit noch absolut groß. So ist beispielsweise bei den Baukosten der Frage nachzugehen, welche Mehrkosten mit der Erreichung unterschiedlicher Zertifizierungsstufen zu verbinden sind. Von Interesse dabei ist zudem auch, in welch einem Ausmaß die Zertifizierung einen Einfluss auf die Markt- und Verkaufspreisentwicklung von Handelsimmobilen ausübt.
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Dass Nachhaltigkeit sich zu einem bedeutsamen Parameter der Marktperformance von Immobilien entwickelt, wird unter den Experten der Immobilienwirtschaft kaum kontrovers diskutiert. Handelsimmobilen dürften diesbezüglich kaum eine andere Wertschätzung erfahren. Zu fordern bleibt, dass die Immobilienökonomie als noch sehr junge wissenschaftliche Disziplin in aller Kürze ein Fundament legt, um ein heute noch notwendiges Ausmaß an Annahmen und Spekulationen durch eine wissenschaftliche Bezugnahme ersetzen zu können.
Nachhaltigkeit als Parameter der Marktperformance
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301
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Teil 4: Innovationen in Dienstleistungsunternehmen
Innovative Wege der Zielgruppenansprache am Beispiel des Dienstleistungssektors Stefanie Shanahan*
1
Einleitung .....................................................................................................306
2
Grundlagen zum Dialogmarketing ...............................................................306 2.1 Begriffsverständnis ............................................................................306 2.2 Einsatzfelder......................................................................................307 2.3 Werbeformen.....................................................................................309
3
Innovatives Zielgruppenmarketing im Dienstleistungssegment....................311 3.1 Definiton Dienstleistung .....................................................................311 3.2 Erklärungsansätze zu den Besonderheiten im Dienstleistungsmarketing ..................................................................312 3.3 Innovativer Ansatz der Zielgruppenansprache ..................................315
4
Fazit .............................................................................................................318
Literaturverzeichnis ................................................................................................319
* Dr. Stefanie Shanahan ist als Business Consultant in München tätig.
Stefanie Shanahan
306
1
Einleitung
Eine wichtige Säule unternehmerischer Tätigkeit ist effizientes, zielgruppengerechtes Marketing. Mit der zunehmenden Produktvielfalt und der wachsenden Anbieterzahl, die durch das Internet nahezu allen Konsumenten zugänglich sind, besteht für Unternehmen mehr denn je die Herausforderung, sich von der Konkurrenz abzuheben und die Kunden zu erreichen. Insbesondere im Dienstleistungssektor, der durch Unsicherheit und eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Anbietern geprägt ist, gilt es, potenzielle Kunden entsprechend ihren Bedürfnissen und Interessen anzusprechen. Der direkte Weg zum Kunden erschließt sich über die Medien des Dialogmarketings. Hierzu zählen vor allem der klassische Brief wie auch verschiedene OnlineWerbeformen, wie beispielsweise personalisierte Newsletter oder Behavioral Targeting. Eine sinnvolle Abstimmung dieser Dialogmarketing-Maßnahmen mit den klassischen Werbeformen, wie TV und Print, führt zu einem integrierten Marketingkonzept, das die Werbewirkung verbessern und somit einen effizienten Werbemitteleinsatz ermöglichen kann. Weshalb die Abstimmung von Dialogmarketingmaßnahmen mit den klassischen Werbeformen insbesondere im Dienstleistungssektor von großer Bedeutung ist und wie eine innovative Methode dazu beitragen kann, Kunden besser zu erreichen, wird im Folgenden dargestellt.
2
Grundlagen zum Dialogmarketing
2.1
Begriffsverständnis
Die Begriffe Dialogmarketing und Direktmarketing werden sowohl in der Praxis als auch in theoretischen Arbeiten oftmals synonym verwendet, auch wenn einige Autoren eine strikte Trennung der beiden Begriffe fordern (Vgl. Mann, A. (2004), S. 138). Begründet ist diese Uneinheitlichkeit einerseits in der semantischen Ungenauigkeit der Begriffe in Bezug auf Wechselseitigkeit und Interaktivität, andererseits auch in dem gewachsenen Anspruchsspektrum an Dialogmarketing (vgl. Meffert, H./Krummenerl, M. (2006), S. 11).
In dieser Arbeit soll dem Verständnis von Krummenerl gefolgt werden. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen Dialog- und Direktmarketing ist hier der Grad der
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_15, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
307
Wechselseitigkeit des Dialogs. Sowohl Dialog- als auch Direktmarketing können dabei instrumentell, strategisch oder normativ verstanden werden (vgl. Meffert, H./Krummenerl, M. (2006), S. 4; Meffert, H. (2002), S. 43). Die folgende Abbildung verdeutlicht dieses Begriffsverständnis.
Abbildung 1: Begriffliche Trennung Dialog-/Direktmarketing Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an: Meffert, H./Krummenerl, M. (2006), S. 12.
Die in den folgenden Ausführungen betrachteten Elemente sind primär der Ebene der Kommunikationsinstrumente zuzuordnen, wobei sie je nach Ausgestaltung sowohl als Direkt- als auch als Dialogkommunikation verstanden werden können. Der klassische Werbebrief wäre beispielsweise der Direktkommunikation zuzuordnen, ein Brief mit Responseelement, der auf einen Dialog mit den Kunden ausgerichtet ist, entspricht hingegen eher der Dialogkommunikation. Die vorgestellte Innovationslösung zur Zielgruppenkommunikation setzt jedoch, wie sich im entsprechenden Kapitel zeigen wird, zudem eine strategische Verankerung von Direkt- bzw. Dialogkommunikation voraus.
2.2
Einsatzfelder
Der direkte und individuelle Kundenkontakt ermöglicht es, die Bedürfnisse der Zielgruppe zu verstehen, umzusetzen und somit neue Kunden zu gewinnen oder beste-
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hende Kunden an das Unternehmen zu binden, wodurch der langfristige ökonomische Erfolg des Unternehmens gesichert werden kann (Vgl. Bruhn, M. (1999), S. 13 f.; Mann, A. (2005), S. 26; Meffert, H. (2002), S. 44).
Klassischerweise können drei wesentliche Zielbereiche in Bezug auf eine dialogorientierte Marketingstrategie identifiziert werden: Dialog- bzw. Direktmarketing unterstützt die Erreichung akquisitorischer, informatorischer sowie Kundenbindungs- und Beziehungsziele. Zu den akquisitorischen Zielen zählen Umsatz- und Absatzsteigerungen, die Aktivierung von Cross-Selling-Potenzialen, der Aufbau eines kundenorientierten Images sowie die Förderung der Mund-zu-Mund-Propaganda. Der letzte Aspekt nimmt vor allem im Dienstleistungssektor eine bedeutende Rolle ein, wie in Kapitel 2.2. gezeigt werden wird (Vgl. Hummel, R. (2008), S. 8). Ebenso bedeutend sind die informatorischen Ziele, die die Aspekte Vertrauensaufbau, Generierung von Kundenfeedback sowie die kommunikative Lösung von eventuellen Konflikten in Bezug auf die Zielgruppe beinhalten. Die Kundenbindungs- und Beziehungsziele konzentrieren sich auf den Aufbau einer Beziehung von Unternehmen und Kunden. Einerseits zählen hierzu die Maßnahmen zur Stärkung der Kundenbindung und Loyalität, andererseits aber auch die Erhöhung der Wiederkaufquoten (Vgl. Mann, A. (2004), S. 102). An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass die drei Zielbereiche eng miteinander verknüpft sind und die Trennung nicht überschneidungsfrei möglich ist. Die folgende Abbildung verdeutlicht noch einmal die Ziele und die Zusammenhänge.
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
309
Abbildung 2: Ziele des Dialogmarketings Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an: Mann, A. (2004), S. 106.
2.3
Werbeformen
Die aufgeführten Zielsetzungen werden durch die Nutzung verschiedener Dialogmedien umgesetzt. Grundsätzlich werden Medien dann als Dialog- oder Direktmedien bezeichnet, wenn sie „einen direkten, gezielten Kontakt zwischen Unternehmen und (potentiellen) Kunden beinhalten und dabei auf die jeweiligen Interessen zugeschnittene Produkte und Dienstleistungen anbieten“ (Deutsche Post (2009), S. 8). Dies beinhaltet sowohl Werbesendungen und telefonische Kontakte als auch E-Mail-Marketing und Internetauftritt. Die Bedeutung dieser Medien für die Dienstleistungsbranche zeigt sich in der Betrachtung der Werbeaufwendungen im Jahr 2008. Etwas mehr als 50 % der gesamten Werbespendings in Höhe von 29,9 Mrd. Euro im Bereich Dialogmarketing wurden von Dienstleistungsunternehmen generiert. Neben dem telefonischen Kontakt und der Internetpräsenz zählen auch Werbesendungen zu den hier genutzten Medien, wie die folgende Abbildung verdeutlicht.
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Abbildung 3: Werbeaufwendungen für DM im Dienstleistungssektor nach Medien (in Mrd. Euro) Quelle: Deutsche Post (2009), S. 42.
Im Rahmen des klassischen Werbebriefes können drei verschiedene Adressierungsformen unterschieden werden: volladressiert, teiladressiert und unadressiert. Die unadressierte Werbesendung enthält, wie der Name vermuten lässt, keine personalisierte Ansprache und erreicht somit keine Werbeverweigerer. Je nach Selektion können unadressierte Werbesendungen an alle Haushalte, Haushalte mit Tagespost oder Postabholer versendet werden. Weitere Selektionskriterien, auf die jedoch an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll, können von den werbetreibenden Unternehmen ausgewählt werden. Unadressierte Sendungen gelten als kostengünstig und bieten sich vor allem dann an, wenn möglichst viele Haushalte erreicht werden sollen (Vgl. Deutsche Post (2010 a), S. 1). Auch die teiladressierten Sendungen ermöglichen einen Versand von Werbebriefen ohne einen eigenen Adressbestand. Im Gegensatz zu den unadressierten Werbesendungen erfolgt jedoch eine Selektion innerhalb des Verteilgebietes nach bestimmten Kriterien, wie z. B. Gebäudedaten oder Wohnsituation. Somit wird eine Verringerung der Streuverluste erreicht, die Zielgruppe besser getroffen und Kosten können gespart werden (vgl. Deutsche Post (2010 b), S. 1.). Die volladressierte Sendung hingegen beinhaltet die Zustellung von Werbesendungen, Prospekten, Broschüren etc. an eine bestimmte Person bzw. Haushalt. Durch
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
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die Adressierung ist eine persönliche Ansprache der Kunden möglich, was insbesondere im Dienstleistungsbereicht von Bedeutung ist (vgl. Deutsche Post (2010 c), S. 1). Mit 19 % Nutzeranteil zählt die volladressierte Werbesendung zu den beliebtesten Varianten des klassischen Werbebriefs. Betrachtet man die oben abgebildete Darstellung, wird ebenfalls deutlich, dass auch im Dienstleistungssektor diese Variante als beliebte Werbeform genutzt wird. Die Personalisierung und somit die direkte Ansprache der Kunden mit relevanten und ggf. individualisierten Inhalten nimmt in dieser Branche eine große Bedeutung ein. Auf die Gründe wird in den folgenden Kapiteln eingegangen.
3
Innovatives Zielgruppenmarketing im Dienstleistungssegment
3.1
Definition Dienstleistung
Die Abgrenzung von Dienstleistungen gegenüber Sachgütern wird von vielen Autoren unterschiedlich vorgenommen. Hier soll dem Ansatz von Woratschek gefolgt werden, der den Grad der Verhaltensunsicherheit als Konsequenz der Immaterialität, die Integrativität, also die Integration des externen Faktors/des Kunden zur Leistungserstellung sowie den Grad der Individualität als abgrenzende Determinanten festlegt. In der folgenden Abbildung wird dies noch einmal verdeutlicht.
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Abbildung 4: Dienstleistungstypologie Quelle: Woratschek, H. (2001), S. 265.
Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dieser Darstellung um eine Typologie handelt und nicht um eine klassische Begriffsdefinition, können die Achsen als Kontinuum betrachtet werden, das eine Einordnung der Dienstleistung zwischen den Extrempunkten ermöglicht (Vgl. Bruhn, M./Meffert, H. (2006), S. 35). Insbesondere bei Dienstleistungen, die durch eine hohe Verhaltensunsicherheit geprägt sind, zählt die Kommunikation mit den (potenziellen) Kunden zu einer der wichtigsten Maßnahmen, um Vertrauen aufzubauen und so letztlich Kunden zu binden und zu gewinnen.
3.2
Erklärungsansätze zu den Besonderheiten im Dienstleistungsmarketing
Einige Gründe, weshalb die Kommunikation mit Kunden im Dienstleistungssektor eine solch zentrale Größe darstellt, sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln erwähnt, sind insbesondere die persönliche Ansprache basierend auf der Verhaltensunsicherheit und der direkte Austausch mit
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
313
den Kunden aufgrund der Integrativität und Individualität im Dienstleistungssektor von großer Bedeutung. Ein Erklärungsansatz für die Besonderheiten im Dienstleistungssektor ist der Prinzipal-Agent-Ansatz. Ausgangspunkt sind hier die Vertragsbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Vertragspartnern. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Informationen der Partner asymmetrisch verteilt sind und das Verhalten der Parteien somit von Unsicherheit geprägt ist (Vgl. Gümbel, R./Woratschek, H. (1995), S. 1012 f.; Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 74). Der Vertragspartner, der über weniger Informationen verfügt und somit stärker vom Verhalten der anderen Partei abhängig ist, wird als Prinzipal bezeichnet, der andere ist der Agent (Vgl. Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 74). Insbesondere Dienstleistungen, die im Gegensatz zu klassischen Sachgütern primär durch Vertrauens- und Erfahrungseigenschaften charakterisiert sind, erzeugen bei den Konsumenten Unsicherheiten, da eine Qualitätsbeurteilung der Leistung vor dem Kauf schwer oder gar nicht möglich ist (Vgl. Burr, W./Richter, A. (2005), S. 474 f.). Typischerweise können drei Problemfelder, die Unsicherheit verursachen, unterschieden werden: Hidden Characteristics, Hidden Actions und Hidden Intentions. Das erste Problemfeld, Hidden Characteristics, beschreibt Merkmale der zu erbringenden Leistung, die dem Prinzipal bewusst vorenthalten werden. Es handelt sich hierbei also um Qualitätsunsicherheit. Der Agent verfügt über einen Informationsvorsprung und der Prinzipal hat, im Besonderen im Dienstleistungssektor, keine Möglichkeit, vor der Entstehung der Vertragsbeziehung die Leistungsmerkmale einzuschätzen (Vgl. Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 74). Das zweite Problemfeld sind die Hidden Actions, also versteckte Handlungen des Agenten, aus denen beim Prinzipal Verhaltensunsicherheit resultiert. Diese bezieht sich auf die Unmöglichkeit der Beurteilung und Kontrolle der Handlungen des Agenten. Es ist für den Prinzipal auch nach der Leistungserstellung, bedingt durch die asymmetrisch verteilten Informationen, nicht nachvollziehbar, weshalb das Leistungsergebnis erzielt worden ist. Der Prinzipal kann nicht beurteilen, ob Erfolg durch die Anstrengungen des Agenten oder durch reines Glück beziehungsweise Misserfolg durch eigennütziges Verhalten des Agenten (Moral Hazard) oder Pech entstanden ist (Vgl. Gümbel, R./Woratschek, H. (1995), S. 1013; Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 75). Das dritte Problemfeld, die Hidden Intentions, bezeichnet die versteckten Absichten des Agenten, die zu opportunistischem Verhalten in der Vertragsbeziehung führen.
314
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Allerdings wird in diesem Fall, im Gegensatz zu Hidden Actions, nicht das Leistungsergebnis betrachtet, sondern der Leistungswille. Hierunter fallen beispielsweise Kulanzleistungen, Garantien oder ein bestimmtes Entgegenkommen. Diese Felder können zwar im Rahmen der Vertragsvereinbarung geregelt werden, unterliegen jedoch bestimmten Freiräumen, die nicht vollständig regelbar sind (Vgl. Woratschek, H. (1996), S. 65; Coase, R. H. (1937), S. 392). Der Leistungswille des Agenten kommt an dieser Stelle zum Tragen. Im Rahmen der Hidden Intentions wird unterstellt, dass der Agent ausschließlich eigennützig handelt und somit gegebenenfalls für den Prinzipal nachteilige Handlungen durchführt. Oftmals besteht jedoch für den Prinzipal keine Möglichkeit mehr, sich dieser Tatsache zu erwehren, da an dieser Stelle bereits vertragliche oder sonstige Bindungen bestehen. Diese Situation wird als Hold-up bezeichnet (Vgl. Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 76). Unternehmen und Kunden reagieren auf diese Unsicherheiten in der Vertragsbeziehung mit speziellem Informationsverhalten, nämlich Screening und Signaling. Signaling beschreibt das wiederholte Aussenden glaubhafter Informationen. Es handelt sich um die aktive Bereitstellung von Informationen über die Fähigkeiten und Qualitäten des Unternehmens durch in der Regel kommunikationspolitische Maßnahmen. Meist ist diese Aufgabe den Anbietern zugeschrieben, da diese oftmals die besser informierte Marktseite sind (Vgl. Roth, S. (2001), S. 51; Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 68). Zu den möglichen Elementen solcher Signale, die Anbieter aussenden können, gehören unter anderem die Darstellung des eigenen Leistungspotenzials, Qualitätsgarantien, der Preis oder Referenzkunden (Vgl. Burr, W./Richter, A. (2005), S. 475). Die wiederholte Aussendung dieser glaubhaften Informationen führt letztlich zu Reputationsaufbau, der für Dienstleistungsunternehmen von zentraler Bedeutung ist (Vgl. Roth, S. (2001), S. 52 f.; Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 69; Burr, W./Richter, A. (2005), S. 475.).
Im Gegensatz zu Signaling stellt Screening die aktive Informationssuche der schlechter informierten Vertragspartei dar. Das nachfragerseitige Screening erfordert die Verfügbarkeit von Informationen über die Anbieter. Kommunikationspolitische Instrumente sind dabei von großer Bedeutung, aber auch Empfehlungen oder Referenzkunden sowie die persönliche Kommunikation spielen eine wichtige Rolle (Vgl. Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 70; Burr, W./Richter, A. (2005), S. 475).
Auch für Unternehmen kann es sinnvoll sein, Informationen über Kunden oder Kundensegmente einzuholen, um beispielsweise die Attraktivität der Kundengruppe zu
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
315
beurteilen und Erwartungen der Kunden einschätzen und darauf reagieren zu können (Vgl. Meffert, H./Bruhn, M. (2000), S. 69 f). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Verhalten von Transaktionspartnern im Dienstleistungssegment, basierend auf dem Prinzipal-Agent-Ansatz, durch Unsicherheit und Informationsasymmetrie gekennzeichnet ist. Als Konsequenz ergeben sich sowohl für den Anbieter als auch für den Nachfrager Besonderheiten im Informationsverhalten. Einerseits sind für die Anbieterseite Informationen über den Kunden notwendig, um Kundenzufriedenheit herzustellen und individuelle Angebote bieten zu können, andererseits ist die aktive Bereitstellung von Informationen über das eigene Leistungsspektrum und -potenzial seitens des Unternehmens entscheidend, um den Kunden eine Ex-ante-Einschätzung der Qualität zu ermöglichen.
3.3
Innovativer Ansatz der Zielgruppenansprache
Die vorangehenden Ausführungen zeigen, dass die Ansprache attraktiver Kundensegmente und der Dialog mit den Kundengruppen im Dienstleistungsbereich von besonderer Bedeutung sind. In Zeiten, in denen Kunden mit Informationen überhäuft werden, ist es eine Herausforderung für Unternehmen, sich von anderen Anbietern abzuheben und die Zielgruppe möglichst genau und mit für diese relevanten Informationen zu erreichen. Einen innovativen Ansatz für die Optimierung der Zielgruppenansprache hat die Deutsche Post mit dem Produkt Media Mail entwickelt. Der Ansatz basiert auf der Tatsache, dass klassische Medien und Dialogmedien im Sinne des integrierten Marketings oftmals parallel geplant wurden, um eine möglichst gute Wirkung zu erzielen. Dennoch konnte bisher nicht sichergestellt werden, dass tatsächlich die Zielgruppe, die beispielsweise einen Fernsehspot gesehen hat, auch ein Mailing erhalten hat. Im Sinne eines crossmedialen Marketingansatzes und mit Hinblick auf die optimale Ansprache von Zielgruppen wird bei Media Mail die Klassikzielgruppe in eine Dialogzielgruppe überführt. Durch eine Zusammenführung der Datenbestände der „Typologie der Wünsche“ (TdW) und der Haushaltsdatenbank Microdialog konnte eine neue Datenbasis, die TdW Dialog, entwickelt werden. Diese dient als Basis für den Einsatz von Media Mail. Bevor die Funktionsweise dieses Ansatzes genauer erläutert wird, soll ein kurzer Blick auf die einzelnen Datenbestände geworfen werden. Die TdW ist eine der größten Markt-Media-Studien in Deutschland, die sowohl sozio-demographische und psychographische Merkmale als auch das Mediaund Konsumverhalten von 19.000 Personen über 14 Jahren dokumentiert. Die Haushaltsdaten hingegen liefern beispielsweise soziodemographische Informationen
316
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über Haushalte, Strukturdaten und Daten über die Region. Um den Datenschutz zu gewährleisten, werden die Daten auf Mikrozellenebene erhoben, wobei eine Mikrozelle durchschnittlich 6,6 Haushalte umfasst. Grundsätzlich kann Media Mail adressiert, teil- und unadressiert versendet werden. Ausgangsbasis für die Selektion der Zielgruppe ist die Mediazielgruppe. Das bedeutet, dass in einem ersten Schritt (potenzielle) Kunden identifiziert werden, die in einer definierten Kontakthäufigkeit Werbung durch klassische Medien, also beispielsweise Print oder TV erhalten sollen. In einem weiteren Schritt werden dann die Personen selektiert, die ein überdurchschnittlich hohes Produktinteresse oder Kaufabsicht haben. Hierdurch erfolgt nach der Mediaoptimierung eine Produktoptimierung. Im letzten Schritt, der Geooptimierung, werden die bislang ausgewählten Kunden weiter selektiert, indem eine Auswahl relevanter regionaler Gebiete erfolgt. Die folgenden Abbildungen verdeutlichen das Selektionsprinzip:
Abbildung 5: Optimierung Mediazielgruppe Quelle: Deutsche Post (2009a), S. 3.
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
Abbildung 6: Produktoptimierung der Zielgruppe Quelle: Deutsche Post (2009a), S. 4.
Abbildung 7: Geooptimierung der Zielgruppe Quelle: Deutsche Post (2009a), S. 5.
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318
. Abbildung 8: Dialogoptimierte Zielgruppe Quelle: Deutsche Post (2009a), S. 6.
Durch die Kombination verschiedener Datenbasen kann eine Optimierung der crossmedialen Werbeansprache erfolgen, wodurch sich sowohl der Anteil der gelesenen Werbesendungen als auch die Kaufwahrscheinlichkeit erhöhen kann. Zieht man ein Beispiel aus der Automobilbranche heran, so konnte die Quote der Kunden, die einen Kauf planen bzw. wahrscheinlich planen, um ca. 26 % erhöht werden (Vgl. Deutsche Post (2009 a), S. 16). Auch andere Unternehmen, vor allem aus dem Dienstleistungssektor, nutzen Media Mail erfolgreich. Dies geht mit den theoretischen und konzeptionellen Ausführungen zu Beginn des Artikels konform, da durch Media Mail eine zielgruppengenaue Ansprache ermöglicht wird, die die Interessen der Kunden trifft.
4.
Fazit
Auch wenn crossmediales Marketing seit vielen Jahren in Unternehmen angewendet wird, konnte dennoch gezeigt werden, dass Innovationen in diesem Bereich möglich und notwendig sind. Insbesondere vor dem Hintergrund der spezifischen Anforderungen im Dienstleistungssektor, der geprägt ist von Verhaltensunsicherheit, kann durch gezielte und abgestimmte Bereitstellung von Informationen durch verschiedene Medien und die Abstimmung der Informationsinhalte auf die Zielgruppenbedürfnisse eine deutliche Erhöhung der Akzeptanz und Werbewirkung erfolgen.
Innovative Zielgruppenansprache im Dienstleistungssektor
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Literaturverzeichnis Bruhn, M. (1999), „Kundenorientierung: Bausteine für ein exzellentes Customer Relationship Management“, München. Bruhn, M./Meffert, H. (2006), „Dienstleistungsmarketing“, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden. Bruhn, M./Stauss, B. (Hrsg. 2001), Jahrbuch Dienstleistungsmanagement 2001, Gabler Verlag, Wiesbaden. Burr, W./Richter, A. (2005), „Referenzkunden als komplexe Signale hoher Dienstleistungsqualität“, S. 474-485, in: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 5. Coase, R. H. (1937), „The Nature of the Firm“, S. 386-405, in: Economica, New Series, Volume IV, Numbers 13-16. Deutsche Post (2009), „Dialogmarketing Deutschland 2009“, Dialog Marketing Monitor, Studie 21, über: http://www.deutschepost.de/dpag?xmlFile=link1015573_28880, aufgerufen am 11.02.2010. Deutsche Post (2009 a), „MediaMail – neue Zielgruppenintelligenz für crossmediale Kampagnen“, interne Unterlage. Deutsche Post (2010 a), „Postwurfsendung – Werbung mit unadressierten Sendungen“, über: http://www.deutschepost.de/dpag?tab=1&skin=hi&check=yes&lang=de_DE&xmlFile=link101555 0_1087, aufgerufen am: 11.02.2010. Deutsche Post (2010 b), „Postwurfspezial – Erfolg ohne eigene Adressen“, über: http://www.deutschepost.de/dpag?tab=1&skin=hi&check=yes&lang=de_DE&xmlFile=link101555 1_1083, aufgerufen am: 11.02.2010. Deutsche Post (2010 c), „Infopost und Kataloge national – effiziente Produktwerbung per Mailing“, über: http://www.deutschepost.de/dpag?tab=1&skin=hi&check=yes&lang=de_DE&xmlFile=link1015547_103 27, aufgerufen am: 11.02.2010. Gümbel, R./Woratschek, H. (1995), Institutionenökonomik, S. 1008-1019, in: Tietz, B. et al., „Handwörterbuch des Marketing“, Stuttgart. Hummel, M. (1998), „Der Markt für Dienstleistungen“, S. 53-72, in: Bruhn, M./Meffert, H. (Hrsg.), „Handbuch Dienstleistungsmanagement“, Wiesbaden. Mann, A. (2004), „Dialogmarketing. Konzeption und empirische Befunde“, Wiesbaden. Mann, A. (2005), „Integriertes Dialogmarketing – mehr als der kombinierte Einsatz von Direktmedien“, S. 22-26, in: marketing journal, Direktmarketing, Europa-Fachpresse-Verlag. Meffert, H. (2002), „Direkt Marketing und marktorientierte Unternehmensführung“, S. 33-55, in: Dallmer, H. (Hrsg.), „Das Handbuch - Direct – Marketing and more“, 8. Auflage, Wiesbaden. Meffert, H./Bruhn, M. (2000), „Dienstleistungsmarketing“, 3. Auflage, Wiesbaden. Meffert, H./Krummenerl, M. (2005), „Erfolgsfaktoren im Dialogmarketing – eine empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung von B2B- und B2C-Unternehmen“, Arbeitspapier 190, Münster, Wissenschaftliche Gesellschaft für Marketing und Unternehmensführung. Roth, S. (2001), „Interaktionen im Dienstleistungsmanagement – eine informationsökonomische Analyse“, S. 35-66, in: Bruhn, M./Stauss, B. (Hrsg. 2001), Wiesbaden. Woratschek, H. (1996), „Die Typologie von Dienstleistungen aus informationsökonomischer Sicht“, S. 59-71, in: Der Markt, Heft 1, 35. Jahrgang.
320
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Woratschek, H. (2001), „Zum Stand einer ‚Theorie des Dienstleistungsmarketing‘ “, S. 261-278, in: Die Unternehmung – Schweizerische Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis, Heft 4/5, 55. Jahrgang.
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche Innovationsgrad und Subjektivität von Produktneuerungen Michael Dorka*
1
Ausgangssituation .......................................................................................322
2
Überblick über die Versicherungsbranche ...................................................323
3
Produktinnovationen ....................................................................................326 3.1 Innovationen ......................................................................................326 3.2 Produkte in der Versicherungsbranche .............................................328 3.3 Produktinnovationen in der Versicherungsbranche ...........................330 3.4 Innovationsgrad und Subjektivität......................................................333
4
Fazit .............................................................................................................334
Literaturverzeichnis ................................................................................................336
* Michael Dorka, M.A, war viele Jahre in verschiedenen Führungspositionen im Vertrieb der Versicherungsbranche tätig und ist Doktorand an der Universität Hamburg.
322
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Ausgangssituation
Die deutsche Versicherungswirtschaft sieht sich enger gewordenen Wachstumsspielräumen und steigendem Druck auf die Ertragsmargen ausgesetzt. Zwischen den einzelnen Unternehmen beziehungsweise Unternehmensgruppen besteht zudem ein intensiver Wettbewerb, der durch die teilweise erheblich schwankenden Marktanteile einzelner Anbieter deutlich wird. Bei den Versicherungskunden, als Käufer der angebotenen Produkte, sind in den letzten Jahren ebenfalls Veränderungen aufgetreten. Der Wertewandel führte bei den (potentiellen) Kunden zu veränderten Bedürfnissen, nachlassende Kundenloyalität, stärkeren Individualisierungstendenzen und zunehmenden Erwartungshaltungen. Außerdem besteht eine veränderte Kundensicht durch die Entwicklung der Altersstruktur in Deutschland und den daraus folgenden Problemen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, versuchen die Versicherungsunternehmen ihre Positionierung am Markt neu zu bestimmen. In den letzten Jahren war eine deutlich gestiegene Anzahl der Unternehmensübernahmen, Fusionen und insbesondere der Kooperationen zwischen den einzelnen Unternehmen festzustellen, die zu einer zunehmenden Dynamik der Versicherungsmärkte beigetragen haben. Eine weitere Möglichkeit der Neupositionierung ist die Überprüfung des Kerns der unternehmerischen Tätigkeit, nämlich der Versicherungsprodukte. Die Versicherungsunternehmen stehen immer vor der Frage, wie das eigene Produktprogramm zu gestalten ist. Für die Unternehmen können Produktinnovationen, zumindest zeitweise, Vorteile gegenüber den Wettbewerbern bringen. Diese Vorteile können zu Umsatzsteigerungen und in der Folge zu einem gesteigerten Shareholder Value führen. Bei den Kunden führen Produktinnovationen, insbesondere wenn diese auf die aktuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind, zu einem verbesserten Image des Versicherungsunternehmens, mit entsprechend positiven Folgen für den Absatz der Produkte. Was bedeuten nun eigentlich Produktinnovationen in der Versicherungsbranche? Was führt bei Versicherungsprodukten zu einer Innovation und wie sind die bestehenden Produkte zu ändern beziehungsweise neue zu gestalten, um als Innovation wahrgenommen zu werden?
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_16, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
323
Um diesem Thema näher zu kommen, wird zunächst ein Überblick über die Situation in der Versicherungsbranche gegeben. Anschließend erfolgen die Beschreibung von Innovationen im Allgemeinen und die Betrachtung des Aufbaus von Versicherungsprodukten anhand des Produktkonzeptes von Haller. Die Bedeutung von Produktinnovationen in der Versicherungsbranche aus den Blickwinkeln des Innovationsgrades und der Subjektivität wird danach beleuchtet und durch ein Fazit abgeschlossen.
2
Überblick über die Versicherungsbranche
Unter der Versicherungsbranche soll in diesem Beitrag die private Erstversicherungsbranche der Individualversicherung verstanden werden und schließt damit die Sozialversicherung und die private Rückversicherung aus. In Deutschland gibt es insgesamt ca. 447 Mio. Versicherungsverträge, das heißt auf jeden Bundesbürger entfallen somit etwa sechs Verträge. Die Relation der gesamten Beitragseinnahmen (gebuchte Brutto-Beiträge der Erstversicherer) zum deutschen Bruttoinlandsprodukt, die so genannte „Versicherungsdurchdringung“, beläuft sich nach vorläufigen Werten in 2009 auf 7,07 %. Diese Kennzahl fiel seit 2005 von 7,04 % leicht auf 6,60 % in 2008 ab und stieg nun erstmals wieder an. (vgl. GDV (2009a), S. 1) Im Jahr 2008 waren insgesamt 563 Erstversicherungsunternehmen mit Geschäftstätigkeit, ohne die bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht unter Landesaufsicht stehenden und zumeist regional tätigen kleineren Unternehmen, zum Versicherungsgeschäft zugelassen. (vgl. BaFin (2009), S. 75 f.) Diese 563 Unternehmen sind nicht mit der Anzahl an Wettbewerbern am Markt gleichzusetzen, da in dieser Gesamtzahl auch die Versicherungsunternehmen enthalten sind, die wegen des gesetzlichen Spartentrennungsprinzips als rechtlich selbständige Unternehmen geführt werden müssen. Wenn nur die Versicherungskonzerne beziehungsweise – gruppen als Wettbewerber berücksichtigt werden, die sich aus miteinander verbundenen Versicherungsunternehmen zusammensetzen, können ca. 70 Wirtschafteinheiten gezählt werden. Der Wettbewerb in der Versicherungsbranche wird durch den Konzentrationsgrad, also der Verteilung des Versicherungsgeschäftes auf die Marktteilnehmer, widergespiegelt. Aufgrund der spezifischen Situation in der deutschen Versicherungs-
324
Michael Dorka
branche wird der Konzentrationsgrad für Versicherungsgruppen ermittelt. Im Jahr 2007 entfielen bei den Lebensversicherern 67,4 % und in der Schaden-/Unfallversicherung 62,1 % der gesamten verdienten Brutto-Beiträge auf die jeweils zehn größten Versicherungsgruppen. Die erheblich schwankenden Veränderungen in den Marktanteilen der einzelnen Versicherungsunternehmen zeugen von einem intensiven Wettbewerb in der deutschen Versicherungsbranche. (vgl. GDV (2009a), S. 71 f.) Ein Ranking der Versicherungsgruppen beziehungsweise –konzerne hinsichtlich der Beitragseinnahmen zeigt auf, dass sich mit einem deutlichen Abstand die AllianzGruppe auf der ersten Position befindet. Auf den nachfolgenden Rängen sind die Münchener-Rück-Gruppe (mit den Erstversicherern der ERGO-Gruppe), Talanx und die Generali-Gruppe zu finden.
102.598
Allianz Gruppe Münchener-RückGruppe
37.262 19.130
Talanx
13.769
Generali-Gruppe Axa-Konzern
9.785
R+VVersicherungsgruppe
9.044 7.517
Debeka-Gruppe Zurich-Gruppe
5.983
Versicherungskammer Bayern
5.730
HUK-Coburg-Gruppe
4.749 0
20.000
40.000
60.000
80.000
100.000
120.000
Beitragseinnahmen in Millionen EUR
Abbildung 1: Top 10 der deutschen Versicherungen nach Beitragseinnahmen in Millionen Euro im Jahr 2007 Quelle: Statista (2009)
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
325
In der deutschen Versicherungsbranche war in 2009 insgesamt ein leicht steigendes Beitragsaufkommen (gebuchte Brutto-Beiträge) von rund 3 % gegenüber 2008 festzustellen (2008: + 1,0 %). Die Vorausschätzungen für das Jahr 2010 ergeben insgesamt einen Rückgang der Beitragseinnahmen um 0,5 %. Trotz der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind kaum Auswirkungen auf die Versicherungsnachfrage beziehungsweise auf die Beitragseinnahmen der deutschen Versicherungsunternehmen zu erkennen. (vgl. GDV (2009), S. 20) Nach einer Untersuchung des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung München hat sich das Geschäftsklima in der deutschen Versicherungsbranche im Jahresverlauf 2009 deutlich erholt. Im Vergleich zu der übrigen gewerblichen Wirtschaft fällt das Geschäftsklima der Versicherungsbranche erheblich freundlicher aus. Im Einzelnen beurteilen 4 % der Versicherungsunternehmen ihre Geschäftslage als günstig und für die nähere Zukunft erwarten 9 % eine eher günstigere Geschäftslage. Der mit 92 % größte Teil der Versicherungsunternehmen beurteilt seine Lage als befriedigend und 71 % rechnen in naher Zukunft kaum mit Veränderung. Die verhaltenen Erwartungen in der deutschen Versicherungsbranche liegen einerseits in den schwierigen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen begründet. Andererseits ist eine Verengung der Wachstumsspielräume für die einzelnen Unternehmen seit Jahren spürbar. (vgl. GDV (2009), S. 12) Insgesamt sind in der Versicherungsbranche seit längerer Zeit ein deutlich verlangsamtes Beitragswachstum, eine technologisch bedingte Dynamisierung der Marktprozesse und Tendenzen zur Globalisierung festzustellen. Damit verbunden ist eine Intensivierung des Wettbewerbs zwischen den Versicherungsunternehmen. Die Branche wird auch immer wieder vor erhebliche Anpassungserfordernisse ihrer Produkte gestellt, durch Veränderungen in den politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen. Neue Aufgaben ergeben sich auch aus der zunehmenden Ausdifferenzierung der Kundengruppen und dem demographischen Wandel bei den (potentiellen) Kunden. Dementsprechend sind die Versicherungsmärkte in Deutschland stärker in Bewegung geraten. Dies zeigt sich mittels deutlicher Verschiebungen in den relativen Marktpositionen der einzelnen Wettbewerber, Pluralisierung der Vertriebsstrukturen und der fortschreitenden Rationalisierung der internen Geschäftsprozesse. Ein Aspekt der Dynamik ist dazu die Veränderung der Produktlandschaft durch diverse Neuerungen im Angebot der einzelnen Unternehmen. (vgl. GDV (2009a), S. 64)
326
Michael Dorka
3
Produktinnovationen
3.1
Innovationen
Zunächst soll der Begriff Innovation charakterisiert werden. Nach Trommsdorff/Steinhoff sind Innovationen aus unternehmenssubjektiver Sicht neuartige Gegenstände (Produkte oder Prozesse), die nicht nur „erfunden“ werden müssen, sondern auch unternehmensintern und extern im Markt durchzusetzen sind. Damit stellen Trommsdorff/Steinhoff auf eine rein betriebliche Sicht ab, bei der der neuartige Gegenstand lediglich für das Unternehmen neu sein muss und integrieren den Durchsetzungsaspekt. Die folgenden acht Kategorien werden zur Charakterisierung des Innovationsbegriffes hervorgehoben (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 27): x
Objektive und subjektive Neuartigkeit,
x
Produkt- und Prozessinnovation,
x
Markt- und Technologieinnovation,
x
Marktsog- und Technologiedruckinnovation,
x
Investitionscharakter (Chancen und hohes Risiko),
x
Innovationsgrad,
x
sozialtechnische und technisch-wirtschaftliche Dimension und
x
komplexes System mit Phasen des Innovationsprozesses.
Bei Hauschildt/Salomo heißt es zunächst allgemein: „Bei Innovationen geht es um etwas ‚Neuartiges’“. (Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 3) Die Wahrnehmung und das Bewusstsein der Neuartigkeit sind wesentlich. Für eine weitere Differenzierung können zur Bestimmung des Innovationsbegriffes die folgenden Dimensionen der Innovation als Kriterien verwendet werden (vgl. Hauschildt, Salomo (2007), S. 8): x
Inhaltliche Dimension (Was ist neu?),
x
Intensitätsdimension (Wie neu?),
x
Subjektive Dimension (Neu für wen?),
x
Prozessuale Dimension (Wo beginnt, wo endet die Neuerung?) und
x
Normative Dimension (Ist neu gleich erfolgreich?).
In diesem Beitrag sollen nicht alle Kategorien beziehungsweise Dimensionen von Innovationen beleuchtet werden. Das Hauptaugenmerk liegt hinsichtlich der inhaltlichen Dimension auf den Produktinnovationen, also der Entwicklung, Erzeugung und Durchsetzung neuer Produkte und Produktqualitäten. Die klassische Trennung von
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
327
Produkt- und Prozessinnovation fällt in der Dienstleistungsbranche schwer, da bei Innovationen in diesem Bereich die Produkt- und Prozessinnovationen zusammenfallen. (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 9) Bei Köhne wird aus inhaltlicher Sicht zum Kriterium der Neuartigkeit, also worin die eigentliche Neuerung besteht, folgendes ausgeführt: „Das Kriterium der Neuartigkeit einer Innovation muss sich […] am Kunden (-nutzen) orientieren und zu einer höheren oder andersartigen Bedürfnisbefriedigung führen.“ (Köhne, T. (2008), S. 3) Als weitere Grundlage wird nachfolgend auf die Aspekte der objektiven und subjektiven Dimension sowie des Innovationsgrades beziehungsweise der Intensitätsdimension eingegangen. Für wen eine Innovation neu ist, wird bei der subjektiven Dimension hinterfragt. Die Wahrnehmung des gravierenden Unterschieds ist wichtig. Alles, was als innovativ dargestellt und angeboten werden kann und vom Betrachter als innovativ gehalten wird, ist eine Innovation. Aus industrieökonomischer Sicht sind alle Produkte oder Verfahren Innovationen, die innerhalb einer Unternehmung und gleichzeitig innerhalb einer Branche erstmalig eingeführt werden. Aus rein betrieblicher Sicht reicht die erstmalige Einführung innerhalb eines Unternehmens aus, um als Innovation zu gelten. (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 24 ff.) Für bestimmte Kundensegmente kann ein aus Unternehmenssicht altes Produkt eine Innovation sein. Zu unterscheiden sind unternehmens- und kundensubjektive Innovationen. (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 27) Die Intensitätsdimension soll Auskunft über den Innovationsgrad geben. Der Innovationsgrad lässt sich auf einem Kontinuum zwischen inkrementaler Veränderung und radikaler Innovation verorten. Zur Differenzierung der Neuartigkeit werden unterschiedliche Skalenniveaus genutzt. Allen Differenzierungsansätzen gemeinsam ist, dass der Innovationsgrad mit der Neuartigkeit der technischen Lösung, des Kundensegments und der Problemlösungsfunktion steigt. (vgl. Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 33 ff.)
328
Michael Dorka
Grad der Neuartigkeit
Objektiv inkrementale Produktinnovation Variation
Produktinnovation mit mittlerem Innovationsgrad
Objektiv radikale Produktinnovation
Erweiterung der Produktlinie
Revolutionäre Entdeckung
Leichte Modifikation Neues Produkt in bestehender Linie
Produktinnovation im weiteren Sinne Abbildung 2: Innovationsgrade Quelle: Trommsdorff, V./ Steinhoff, F. (2007), S. 37
Eine übersichtliche und einfache Differenzierung ist zum Beispiel die Ordinalskala, die Produktinnovationen unterscheidet nach (vgl. Hauschildt, J./Salomo, S. (2007), S. 17) x
absolut neuen oder entscheidend geänderten Produkten,
x
deutlich verbesserten Produkten,
x
neuen oder verbesserten Zusatzeinrichtungen oder –dienstleistungen und
x
Produkt- oder Dienstleistungsdifferenzierungen.
3.2
Produkte in der Versicherungsbranche
Eines der wichtigen produktbezogenen Konzepte der Versicherungsbetriebslehre ist das Drei-Ebenen-Modell von Haller, bei dem die Kundensituation detailliert erfasst wird. In diesem Modell können Versicherungsprodukte auf drei Ebenen abgebildet werden, nämlich (vgl. Farny, D. (2006), S. 9) x
dem Kernprodukt „Versicherungsschutz“,
x
mit den unmittelbar auf den Schutz bezogenen Dienstleistungen für die Geschäftsabwicklung des Versicherungsunternehmens und
x
einer weitgehend offenen Ebene für weitere Dienstleistungen zur Problemlösung des Kunden.
Das Versicherungsprodukt weist eine materielle (äußere Sicherheit) und eine immaterielle (innere Sicherheit) Schutzkomponente auf. Die erste Ebene bildet mit dem
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
329
Kernprodukt „Versicherungsschutz“ die Basis und kommt rechtlich zum Beispiel durch die Versicherungsbedingungen zum Ausdruck. Die materielle Komponente drückt sich in dem tatsächlichen Verfügen über den Versicherungsschutz und dem Kunden übergebenen Versicherungsdokumenten aus. Die innere Sicherheit, die die Kunden durch den Abschluss von Versicherungsverträgen erlangen, beinhaltet die immaterielle beziehungsweise soziale Komponente. Auf der zweiten Ebene wird das Kernprodukt zur Marktleistung ergänzt, insbesondere durch unmittelbare Dienstleistungen, wie die Beratungsleistung, Betreuung und Schadenbearbeitung der Produktanbieter. Auf dieser Ebene ist die Umschreibung der Kundenbedürfnisse erforderlich, die durch die Marktleistung erfüllt werden sollen beziehungsweise können. Das Versicherungsprodukt wird durch den Einschluss von erweiterten Leistungen auf der dritten Ebene zur umfassenden Dienstleistung, zum Beispiel durch Vertiefung der finanziellen Funktion, der Sicherungsfunktion oder produktfremde Leistungen. Durch die Leistungen der dritten Ebene sind eine verstärkte Produktdifferenzierung und zusätzliche Einsatzfelder einer persönlichen Beratung der Außendienstorganisation möglich. Die Kundenorientierung kann durch die Kombination und Integration der drei Ebenen verwirklicht werden, zum Beispiel durch Gestaltung der Produkte in einzelne individuell kombinierbare Module. (vgl. Jara, M. (1999), S. 237 f.; Köhne, T. (2008), S. 23 ff.; Haller, M. (1988), S. 562 ff.)
3. Ebene erweiterte Funktionen
2. Ebene Kernmarktleistung Kernfunktion
1. Ebene Kernprodukt
Abbildung 3: Drei-Ebenen-Modell des Versicherungsproduktes Quelle: Jara, M. (1999), S. 238; Haller, M. (1988), S. 563
Beim Drei-Ebenen-Modell sind alle drei Ebenen grundsätzlich an der Kernfunktion orientiert, wobei die höheren Ebenen auch für weitere Leistungsinhalte offen sind.
330
Michael Dorka
Die jeweils tiefere Ebene ist in diesem Modell in der nächsthöheren eingegliedert. (vgl. Haller, M. (1988), S. 562)
3.3
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
Bei Versicherungsunternehmen stellen Innovationen Neuerungen bei den Sortimenten und Versicherungsprodukten sowie den versicherungs- und betriebstechnischen Verfahren der Versicherungsproduktion dar. Zu differenzieren sind einerseits die enge Auslegung des Innovationsbegriffes als neue Sortimente, Produkte oder Verfahren, die bisher noch nicht existierten oder genutzt wurden, andererseits die „Fortentwicklung“ als Veränderung vorhandener Produkte und Verfahren durch Variation und Differenzierung. (vgl. Farny, D. (2006), S. 549) Aus der Dimension des Neuheitsgrades der Innovation lassen sich also produktspezifisch Produktinnovation und Produktmodifikation unterscheiden. Zum weiteren Begriffsverständnis werden die beiden Begrifflichkeiten nach Köhne folgendermaßen definiert (Köhne, T. (2008), S. 5): Produktinnovation: „Ein Versicherungsprodukt inklusive seiner prozessualen Ausprägung im Dienstleistungsprozess stellt eine Produktinnovation dar, wenn es im Hinblick auf die Befriedigung des Bedürfnisses nach finanzieller Risikovorsorge oder damit in funktionsorientiertem Zusammenhang stehender Bedürfnisse bislang auf dem relevanten Markt noch nicht angeboten worden ist und insofern eine Marktneuheit ist.“ Produktmodifikation: „Alle anderen Veränderungen an bestehenden Versicherungsprodukten, die ‚nur’ Anpassungen, Ergänzungen und Flexibilisierungen des versicherten Bereichs beziehungsweise des Kernproduktes darstellen, sind demgegenüber Produktmodifikationen.“ Unter Produktinnovation im weiteren Sinne beziehungsweise Produktneuerung lassen sich die beiden Aspekte Produktinnovation und –modifikation subsumieren. Sofern aus Kundensicht eine erwartete Funktion besser beziehungsweise zufrieden stellender gelöst werden kann als bisher oder eine neuartige, die finanzielle Risikovorsorge als Kernfunktion sinnvoll ergänzende Funktion ausgeübt werden kann, liegt eine kundenorientierte Innovation vor. (vgl. Köhne, T. (2008), S. 5) Die Produktmodifikation lässt sich unterscheiden in eine Produktvariation und – differenzierung. Bei der Produktvariation wird ein Produkt durch ein modifiziertes er-
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
331
setzt, um die Marktposition zu sichern oder einer nachlassenden Nachfrage neue Impulse zu geben. Die Produktdifferenzierung belässt das bisherige Produkt am Markt und wandelt es lediglich ab, um aufgrund differenzierter Kundenwünsche neue Käuferschichten zu erschließen. (vgl. Wisshofer, H. (1996), S. 149) In einer Untersuchung zur Rolle und Bedeutung von Produktinnovationen und – modifikationen nach der Deregulierung 1994 in der versicherungsbetrieblichen Praxis wurden alle Produktneuerungen in dem Zeitraum von 1996 bis 2005 untersucht. Insgesamt waren in diesem Zeitraum 650 Produktneuerungen festzustellen, wovon lediglich 24 als Produktinnovationen nach der engen Auslegung des Innovationsbegriffes gelten können. Von der Vielzahl an Produktmodifikationen waren 23 % von politisch-rechtlichen Veränderungen beeinflusst, insbesondere aufgrund der Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Alterseinkünftegesetz, die somit nicht direkt auf eigenen innovativen Ideen der Versicherungsunternehmen beruhen. Insgesamt wird die quantitative Bedeutung von Produktneuerungen für die Versicherungsbranche als relativ gering eingestuft. (vgl. Kopp, F. (2008), S. 44 ff.; eine komplette Übersicht der Produktneuerungen zwischen 1996 und 2005 ist im Anhang des Beitrages von Kopp zu finden) Als Beispiele für Produktneuerungen bei Sortimenten und Produkten können die folgenden genannt werden (Farny, D. (2006), S. 549): x
„Versicherungsgeschäft: o neuer Versicherungsschutz für neue Risiken (z.B. Versicherung von Satelliten), o neuer Versicherungsschutz für alte Risiken (z.B. Dread DeseaseVersicherung, Betriebsunterbrechungsversicherung verschiedener Art, Pflegeversicherung), o neue Versicherungsformen in der Erstversicherung (z.B. Versicherungsschutz mit hohen Franchisen) und in der Rückversicherung (z.B. FinanzRückversicherung, Versicherungsderivate, alternative Risikotransfergeschäfte), o neue Formen von Spar-/Entspargeschäften (z.B. veränderte Mischung von Spar- und Risikoanteil in Lebensversicherungen, von garantierter und nichtgarantierter Verzinsung, fondsgebundene Lebensversicherung), o neue Versicherungsvertragstypen, insbesondere durch Kombinationsmöglichkeiten von „Versicherungsschutzbausteinen“ („Modulen“) zu einem Gesamtprodukt,
332
Michael Dorka
o
neue Service- und Kommunikationsverfahren gegenüber Kunden und Vermittlern;
x
Kapitalanlagegeschäft: o neue Kapitalanlageprodukte (z.B. Anlagen in Investmentfonds, „strukturierten Produkten“), o derivative Finanzprodukte (z.B. Futures, Optionen, Swaps, Wertpapierleihe);
x
sonstige Geschäfte, z.B. Verbundprodukte aus Versicherungsschutz mit Assistanceleistungen und anderen Finanzgeschäften“.
Produktneuerungen ergeben sich in der Versicherungsbranche häufig durch Änderung der wirtschaftlichen, rechtlichen oder technologischen Rahmenbedingungen, da die bestehenden Produkte oder Verfahren entsprechend angepasst werden müssen. Als Produktmodifikation können Änderungen der Versicherungsbedingungen, Integration neuer Deckungselemente beziehungsweise Service-Leistungen oder die Verbindung mit anderen Dienstleistungen in Frage kommen, um den Kundenbedürfnissen besser gerecht zu werden. (vgl. Görgen, F. (2007), S. 149 f.) Die Abgrenzung zwischen „echten“ Produktinnovation und Produktmodifikation ist in der Praxis häufig nicht eindeutig zu bestimmen. Teilweise entstehen in der Versicherungsbranche „neue“ Produkte allein durch Gesetzesänderungen. Ein Beispiel hierfür ist die in Deutschland eingeführte „Riester-Rente“, die versicherungstechnisch keine Neuheit darstellt, jedoch wird eine neue Art der Bedarfdeckung geboten, durch neuartige produktbezogene Förderung und Auflagen des Gesetzgebers. (vgl. Görgen (2007), S. 143) Praktisch ist die Grenze zwischen einer Innovation und einem bereits am Markt vorhandenem Produkt, das nur durch Variierung von Ausstattungsmerkmalen den Neuheitsgrad beansprucht, fließend. Aus Unternehmenssicht sind Produktneuerungen bei Sortimenten und Produkten primär marktbezogen und sollen insbesondere die Erreichung der Wachstums- und Umsatzziele fördern. Darüber hinaus sind die Stärkung der Marktposition, Verbesserung beziehungsweise Arrondierung des Dienstleistungsprogramms sowie Verbesserung der Ertragslage als Ziele von Produktinnovationen festzustellen. Für die entsprechende Zielgruppe von Abnehmern eines Versicherungsproduktes soll eine Produktneuerung ein „Neuheitserlebnis“ sein.
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
3.4
333
Innovationsgrad und Subjektivität
Der Grad der Neuartigkeit bestimmt aus objektiver Sicht den Umfang der Neuerungen eines Produktes. In Verbindung mit dem Drei-Ebenen-Modell bedeutet dies, dass bei einer radikalen Produktneuerung alle drei Ebenen betroffen sind. In diesem Fall handelt es sich um die umfassendste Art der Neuerung, die dementsprechend als Produktinnovation gilt. Die geringsten Änderungen erfolgen bei der inkrementalen Produktneuerung, die „lediglich“ leichte Modifikationen des Produktes darstellen. Die geringfügigste Änderung für das Gesamtprodukt kann bei den erweiterten Leistungen in der dritten Ebene erfolgen. In der zweiten Ebene befinden sich unmittelbar zur Kernleistung gehörende Dienstleistungen, deren Änderungen mit großer Wahrscheinlichkeit auch Änderungen bei den erweiterten Leistungen der dritten Ebene nach sich ziehen würden. Änderungen dieser Art können objektiv als mittlere Produktneuerungen eingestuft werden. Die inkrementalen und mittleren Produktneuerungen lassen sich als Produktmodifikationen zusammenfassen.
Grad der Neuartigkeit Objektiv inkrementale Produktneuerung
Objektiv mittlere Produktneuerung
Produktmodifikationen
Objektiv radikale Produktneuerung
Produktinnovation
Produktneuerungen Abbildung 4: Grad der Neuartigkeit bei Versicherungsprodukten Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 37.
In der Praxis lassen sich auch geringfügige Änderungen am Kernprodukt „Versicherungsschutz“, zum Beispiel in den Versicherungsbedingungen und damit der ersten Ebene, durchführen, ohne bedeutende Auswirkungen auf die zweite und dritte Ebene. Denkbar ist dies analog für die zweite Ebene. Dies wäre sicherlich als inkremen-
334
Michael Dorka
tale Produktmodifikation einzustufen und ist in der obigen vereinfachten schematischen Darstellung nicht berücksichtigt. Bei der subjektiven Dimension ist die Wahrnehmung der Neuerung erheblich. Neuerungen können sowohl für den gesamten Versicherungsmarkt, als auch für einzelne Unternehmen oder nur für bestimmte Kundengruppen als Innovation gelten. Dies führt zu einer Unterscheidung zwischen unternehmens- und kundensubjektiven Innovationen. Aus subjektiver Sicht sind Innovationen also unabhängig vom Grad der Neuerung und der veränderten Ebene beziehungsweise Ebenen. Nach Köhne sind Produktinnovationen die instrumentelle Umsetzung einer Differenzierungsstrategie auf Produktebene, während bei Produktmodifikationen zumindest versucht wird, über das Marketing und die Vermittler die Differenzierung und Besonderheit des veränderten Produkts zu kommunizieren. (vgl. Köhne, T. (2008), S. 36) „Im Zuge einer Differenzierungsstrategie als (ständiger) Produktinnovator dürfte die Werbewirksamkeit von Produktmodifikationen und ihr Beitrag zum Image als Innovator sowie der Vertriebsimpuls für Vermittler in den meisten Fällen weitaus wichtiger sein als ihr wirklicher Innovationsgehalt beziehungsweise Kundennutzen.“ (Köhne, T./ Kopp, F. (2007), S. 256) Aus Kundensicht sind Versicherungsprodukte grundsätzlich Low-interest-Produkte und allgemein ist das Interesse an Versicherungsfragen gering. Folglich ist selbst für wirklich innovative Versicherungsprodukte ein großer Marketingaufwand notwendig, um von einem Großteil der potentiellen Versicherungskunden überhaupt wahrgenommen zu werden. (vgl. Köhne, T. (2008), S. 38) Bei kundensubjektiven Innovationen ist im Rahmen einer marktorientierten Unternehmensführung die vom Marketing vorgegebene Art und Form des Produktangebotes wichtig, um als Unternehmen von den Kunden für innovativ gehalten zu werden. Im Rahmen einer Produktneuerung ist die Kommunikation des Neuen für die subjektive Wahrnehmung durch den Betrachter wesentlich, um ein „Neuheitserlebnis“ beim Kunden zu gestalten.
4
Fazit
Objektiv können Produktneuerungen in Produktinnovationen und –modifikationen unterteilt werden. Der Grad der Neuartigkeit bestimmt den Umfang der Produktveränderung. Für wen ein Produkt neu ist, bestimmt die Subjektivität, wobei zwi-
Produktinnovationen in der Versicherungsbranche
335
schen unternehmens- und kundensubjektiver Innovation unterschieden werden kann. Die Produkte der Versicherungsbranche lassen sich nach Haller in drei Ebenen gliedern, nämlich in das Kernprodukt, die Kernmarktleistung beziehungsweise Kernfunktion und die erweiterten Leistungen. Bei einer objektiven Innovation, die eine absolute Marktneuheit darstellt, ist eine radikale Produktneuerung über alle drei Ebenen notwendig. Eine subjektive Innovation ist unabhängig vom Grad der Innovation, das heißt es reichen Änderungen der zweiten und/oder dritten Ebene bei unverändertem Kernprodukt. Mit einem steigenden Grad der Neuartigkeit, werden bei Neuerungen mehr Produktebenen berührt. Wesentlich ist die Kommunikation, da die Wahrnehmung und das Bewusstsein der Kunden entscheidend sind, für das Ansehen des „neuen“ Produktes als ideale innovative Problemlösung. Je geringer der Innovationsgrad, desto wesentlicher erscheint die Kommunikation der Besonderheit und Differenzierung des veränderten Produktes. Für bestimmte Kundengruppen kann praktisch die Ummantelung eines grundsätzlich bekannten Kernproduktes mit diversen Zusatz- und Serviceleistungen aus dessen Sicht auch schon eine Produktinnovation darstellen. Es müssen also nicht gänzlich neue Produkte entwickelt werden, sondern es reichen Änderungen einzelner Elemente, die durch ein entsprechendes Marketing hervorgehoben werden müssen und damit als kundenorientierte Innovation ein „Neuheitserlebnis“ darstellen. Ein wesentlicher Faktor bei kundenorientierten Produktneuerungen ist also das Marketing, das die Neuheit als etwas wirklich neues und als eine ideale Problemlösung für den Kunden darstellen soll. Die Angebotserweiterungen durch Produktneuerungen sind in einem sich ständig intensivierenden Wettbewerb unverzichtbar für die Verteidigung bestehender Kundenverbindungen und Gewinnung neuer Marktanteile. Darüber hinaus kann die Werbewirksamkeit und das Image des Unternehmens aus Sicht der Kunden verbessert werden.
336
Michael Dorka
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Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche Anja Potratz*
1
Aktuelle Entwicklungen in der Versicherungsbranche .................................338
2
Innovationsmarketing in der Versicherungsbranche ....................................342
3
Vertriebswege in der Versicherungsbranche ...............................................345 3.1 „Klassische“ Vertriebswege ...............................................................345 3.2 Bedeutung der Vertriebswege ...........................................................347 3.3 Aktuelle Herausforderungen im Vertrieb............................................351
4
Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche....................................354 4.1 Innovative Vertriebskanäle und Kooperationen .................................354 4.2 Prozessinnovationen im Versicherungsvertrieb.................................357
5
Zusammenfassung und Schlussbetrachtung ...............................................359
Literaturverzeichnis ................................................................................................360
* Dr. Anja Potratz ist Senior Beraterin bei der Steria Mummert Consulting AG in Hamburg.
Anja Potratz
338
1
Aktuelle Entwicklungen in der Versicherungsbranche
Im Hinblick auf die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Versicherungsbranche nach Einschätzungen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), insbesondere hinsichtlich der Beitragseinnahmen, vergleichsweise unbeschadet geblieben. Die Versicherungswirtschaft nimmt in Deutschland eine bedeutende Rolle ein. So machen die gesamten Beitragseinnahmen laut GDV im Jahr 2009 7,07% des Bruttoinlandsproduktes aus. Insgesamt bestanden etwa 447 Millionen Versicherungsverträge von deutschen Bundesbürgern, also etwa sechs Versicherungspolicen je Einwohner. Auf jeden Einwohner entfallen somit jährliche Prämien von rund 2.000 Euro (vgl. GDV (2010) und GDV (2009a), S. 2).
Beiträge in Mio. Euro
Ein Blick auf das absolute Beitragswachstum der Erstversicherungsunternehmen mit den Sparten Lebens-, Kranken- sowie Schaden- und Unfallversicherung zeigt, dass es sich seit 1980 insgesamt um eine wachsende Branche handelt. Dabei erhält die Sparte der Lebensversicherung die größte Bedeutung (vgl. hierzu Abbildung 1).
100.000 80.000 60.000 40.000 20.000 0 1980 Lebensversicherung
1990
2000
2005
Krankenversicherung
2006
2007
2008
Schaden- und Unfallversicherung
Abbildung 1: Absolutes Beitragswachstum der Erstversicherungsunternehmen seit 1980 Quelle: GDV (2009a), Tabelle 1.
Die Wachstumsraten in der Erstversicherung haben sich seit 1980 jedoch drastisch verändert. So weist die private Krankenversicherung, im Vergleich zu den anderen Versicherungssparten der Erstversicherungsunternehmen, seit 2005 die höchsten Wachstumsraten auf. Die der Schaden- und Unfallversicherung sind hingegen seit 2006 rückläufig (vgl. hierzu Abbildung 2).
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_17, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche
339
140,00%
Wachstumsraten in %
120,00% 100,00% 80,00% 60,00% 40,00% 20,00% 0,00% 1990
2000
2005
2006
2007
2008
-20,00% Lebensversicherung Schaden- und Unfallversicherung
Krankenversicherung
Abbildung 2: Wachstumsraten der Erstversicherungsunternehmen seit 1980 Quelle: GDV (2009a), Tabelle 1.
Wie sich auf Basis der Entwicklung der Wachstumsraten in den letzten Jahren in der Erstversicherung bereits annehmen lässt, sehen sich die Versicherungsunternehmen einer Reihe von Herausforderungen gegenüber. So hat die Anzahl und die Stärke der auf die Versicherungsunternehmen wirkenden exogenen Faktoren, wie beispielsweise neue Gesetzesvorgaben, die demographische Entwicklung, steigende Energie- und Rohstoffpreise, die internationale Immobilien- und Kapitalmarktkrise oder der Wettbewerb innerhalb der Branche zugenommen. Die deutsche Lebensversicherung war in den letzten Jahren erheblich durch strukturelle Veränderungen geprägt. Besonderes Gewicht hatte der einsetzende Trend von der Kapitallebensversicherung zur Rentenversicherung. Mit der Wirtschaftskrise und der Unsicherheit über die weitere gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat sich bei den privaten Haushalten die Vorsichts- und Abwartehaltung zum Abschluss von Lebensversicherungspolicen verstärkt (vgl. GDV (2009b), S.14f.). Langfristige Anlageentscheidungen wurden aufgeschoben und bestehende Verträge vermehrt storniert. Ein Blick auf die Geschäftsentwicklung der deutschen Lebensversicherungsunternehmen der Jahre 2007 und 2009 zeigt ein Delta von rund minus 19% bei der Anzahl der neu abgeschlossenen Verträge (vgl. Fitch Ratings (2010), S. 4). Die deutschen Lebensversicherungsunternehmen haben es jedoch geschafft, sich von der deutschen Wirt-
340
Anja Potratz
schaftskrise, insbesondere durch den Anstieg der Nettoverzinsung und durch ein starkes Wachstum der gebuchten Bruttobeiträge durch das Einmalbeitragsgeschäft, zu erholen. Angesichts der niedrigen Zinsen und der hohen Volatilität an den Kapitalmärkten werden der Lebensversicherungsbranche zukünftig weitere Herausforderungen bescheinigt. Die Rating-Agentur Fitch hat vor diesem Hintergrund die Bewertung der deutschen Lebensversicherung im Oktober 2009 sogar von „stabil“ auf „negativ“ geändert (vgl. Fitch Ratings (2010), S. 1). In der privaten Krankenversicherung ist die Neugeschäftsentwicklung besonders stark durch politische Rahmenbedingungen geprägt. So erhöht sich zwar die Attraktivität der privaten Krankenversicherung zunehmend durch Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, der Gesetzgeber hat jedoch mit der letzten Gesundheitsreform (GKV-Wettbewerbstärkungsgesetz - GKV-WSG) den Zugang in die private Krankenversicherung erneut erschwert. Damit hat sich das Neugeschäftswachstum der Vollversicherung in den vergangenen Jahren erheblich reduziert. Im Jahr 2005 bestand noch ein Nettoneuzugang an versicherten Personen in Höhe von 113.600 (in 2001 sogar 216.400), im Jahr 2008 waren es nur noch 48.9001 Versicherte (vgl. PKV-Verband (2009), S. 16; PKV-Verband (2006), S. 21 und PKV-Verband (2005), S. 11). Die Schaden- und Unfallversicherung (Kompositversicherung) ist seit Jahren durch einen intensiven Preiswettbewerb gekennzeichnet. Zudem besteht in dieser Sparte bereits ein hoher Grad der Marktdurchdringung, der einem weiteren Geschäftswachstum Grenzen setzt. In der Schaden- und Unfallversicherung hat bereits vor rund 15 Jahren eine Phase nur noch mäßig expandierender und teilweise sogar rückläufiger Beitragseinnahmen eingesetzt. Dabei verzeichnet insbesondere die Kraftfahrzeugversicherung seit 2005 Jahr für Jahr deutliche Beitragsrückgänge (vgl. GDV (2009b), S. 18). Die zusammenfassende Betrachtung der Sparten Lebens-, Kranken- und Kompositversicherung zeigt, dass die Versicherungsunternehmen im Wesentlichen Wachstumsschwierigkeiten aufweisen. Als eine Ursache der Wachstumsschwäche der vergangenen Jahre gelten die veränderten und erhöhten Anforderungen der Kunden. Dabei wird prognostiziert, dass auch in Zukunft die Anforderungen steigen werden. Die wachsenden staatlichen Finanzprobleme, die Unsicherheiten auf dem Arbeits1
Bereinigt um Sondereffekte, wie der Zugang durch den Abschluss reiner Anwartschaftsversicherungen (20.500) und der Zugang aufgrund der eingetretenen gesetzlichen Pflicht zur Versicherung (20.900).
Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche
341
markt und die demographische Entwicklung zwingen die Menschen dazu, mit ihrem verfügbaren Einkommen bewusst umzugehen. So ist festzustellen, dass die Kunden zunehmend kritischer und anspruchsvoller werden. Sie sind in hohem Maße über den Markt und das Umfeld der Produkte informiert und nutzen diese Informationen für eine kritische Bewertung der angebotenen Versicherungsprodukte. Die Kunden haben zunehmend eine genaue Vorstellung davon, welche Merkmale ein Produkt aufweisen sollte. Werden die Anforderungen nicht erfüllt oder kann ein Konkurrenzprodukt bessere Leistungen bieten, wird das Produkt oder das Versicherungsunternehmen kurzerhand gewechselt (vgl. Hinrichs (2010), S. 17 und Gellert (2010), S. 26).2 Die Vielfalt der Herausforderungen und ihre Wirkungen auf die Unternehmensergebnisse der Versicherungsunternehmen fordern vom Management eine regelmäßige Überprüfung bestehender und die Entwicklung neuer innovativer Managementansätze. Ziel der Versicherungsunternehmen ist es, über das Zusatzgeschäft mit Bestandskunden und über die Akquisition von Neukunden zu wachsen. So gilt es neue, innovative Produkte zu entwickeln und über innovative Wege zu vertreiben sowie neue Möglichkeiten der Automation und der Standardisierung von Geschäftsprozessen zu identifizieren und umzusetzen (vgl. Hinrichs (2010), S. 17 und Gellert (2010), S. 26). Der vorliegende Artikel beschäftigt sich deshalb mit dem Innovationsmarketing in Versicherungsunternehmen. Es wird skizziert, wie mit Hilfe des Innovationsmarketings, insbesondere mit innovativen Vertriebsansätzen, eine weitere Erhöhung des Neugeschäfts in einzelnen Versicherungsunternehmen realisiert wird. Hierzu erfolgen zunächst eine Darstellung des Innovationsmarketings und dessen Übertragung auf die Versicherungsbranche. Im Anschluss wird eine Analyse der bestehenden Vertriebswege durchgeführt. Hierzu erfolgen zunächst eine Darstellung der klassischen Vertriebswege und die Untersuchung deren aktueller Bedeutung. Danach wird schließlich die Identifizierung von Vertriebsinnovationen hinsichtlich der Nutzung neuer Vertriebswege und innovativer Vertriebsprozesse vorgenommen.
2
Die Produktkenntnis ist erheblich vom Versicherungsprodukt und dessen Komplexität abhängig. Auch die Wechselbereitschaft der Versicherungsnehmer variiert nach dem Produkt, dessen Komplexität und dessen persönlicher Bedeutung für den Versicherungsnehmer.
Anja Potratz
342
2
Innovationsmarketing in der Versicherungsbranche
In den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wird der Begriff „Innovation“ allgemein als gezielte Veränderung eines Systems beschrieben. Trommsdorff/Steinhoff verstehen unter einer Innovation einen unternehmenssubjektiv neuartigen Gegenstand (Produkt oder Prozess), den es nicht nur zu „erfinden“ gilt, sondern der im Unternehmen auch nach außen durchgesetzt werden muss. Innovation bedeutet nach dieser Definition nicht, dass es sich zwingend und objektiv um eine absolute Neuerung handelt, sondern vielmehr, ob es sich allein aus Sicht des Betrachters (dem Unternehmen oder dem Markt) um eine Neuartigkeit handelt. So können beispielsweise auch ein altes Produkt eines Unternehmens oder eine Produktimitation für bestimmte Kundensegmente Produktinnovationen sein (vgl. Trommsdorff/Steinhoff (2007), S. 26-40). Das Innovationsmarketing beschäftigt sich nach Trommsdorff/Steinhoff schließlich mit der Schaffung und Durchsetzung von potenziell und effektiv neuen Leistungsangeboten gegenüber bestehenden und potenziellen Absatzmärkten. In diesem Sinne definieren Trommsdorff/Steinhoff das Innovationsmarketing als Querschnittsfunktion eines Unternehmens und vergleichen dieses mit anderen Querschnittsfunktionen wie Führung, Controlling oder Logistik (vgl. hierzu Abbildung 3). Das Innovationsmarketing bezieht sich damit auf die gesamte Wertkette und beeinflusst jeweils viele Unternehmensfunktionen. So geht es beim Innovationsmarketing um die Entdeckung, Konkretisierung und Umsetzung von Wettbewerbsvorteilen durch neue Produkte, aber auch um die Begleitung des neuen Produkts in den Markt (vgl. Trommsdorff/Steinhoff (2007), S. 43-44).
Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche
F&E
Beschaffung
343
Produktion
Vertrieb
Führung
Innovationsmarketing
Controlling
Abbildung 3: Innovationsmarketing als Querfunktion Quelle: Trommsdorff, V./Steinhoff, F. (2007), S. 43.
Die Adaption des Innovationsbegriffes und des Innovationsmarketings nach Trommsdorff/Steinhoff auf die Versicherungsbranche zeigt, dass Innovationen im Bereich der Produktpolitik und der Vertriebspolitik dazu dienen können, die oben beschriebenen Herausforderungen zu bewältigen (insbesondere hinsichtlich des Marktwachstums). So können Innovationen und damit die Chance zur Gewinnung oder Bindung von Kunden durch die Entwicklung neuer Produkte, durch die Erhöhung der Anzahl der Vertriebswege, durch die Auswahl der Vertriebswege oder durch die Entwicklung neuer Vertriebsprozesse erreicht werden. In den Produktsparten Lebens- und Krankenversicherung versuchen die Versicherungsunternehmen beispielsweise Produktinnovationen durch flexible und auf die Kundengruppenbedürfnisse abgestimmte Produkte zu erreichen. So sehen innovative Lebensversicherungsprodukte beispielsweise nach Abschluss der Verträge eine individuelle Gestaltung durch die Kunden vor, indem offen gelassen wird, wann und in welcher Höhe das gesparte Kapital ausgezahlt wird. In der Krankenversicherung sehen neue Produkte beispielsweise eine flexible Anpassung des Leistungsumfangs je nach Lebenslage und finanzieller Situation vor. Ein Wechsel zwischen verschiedenen Tarifstufen ermöglicht somit die Anpassung des Versicherungsschutzes an die jeweils veränderten Lebensumstände eines Versicherten. Neben der Flexibilisierung der Produkte setzen viele Versicherungsunternehmen auch auf die Erschließung neuer Geschäftsfelder.
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Die Erschließung neuer Geschäftsfelder spielt insbesondere für die private Krankenversicherung (PKV) eine große Rolle. Denn das Vollversicherungsgeschäft der privaten Krankenversichererversicherungsunternehmen wurde in der letzten Legislaturperiode der deutschen Bundesregierung nachweislich geschwächt. So besteht nicht nur innerhalb der privaten Krankenversicherung erhöhter Druck einer optimalen Wettbewerbspositionierung, sondern bedingt durch die diskutierten Systemveränderungen auch über die Systemgrenzen hinweg, zwischen der privaten und der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Fortbestand der PKV wird auch zukünftig immer wieder politische Diskussionen hervorbringen. Die privaten Krankenversicherungsunternehmen versuchen in diesem Zusammenhang insbesondere neue Produkt- und Versicherungslösungen im Bereich der Kranken- und Pflegezusatzversicherungen zu entwickeln (vgl. u.a. Steria Mummert Consulting (2008), S. 24-25). Die Analyse der Literatur zum Thema Innovationsmarketing zeigt, dass die Entwicklung neuer Produkte im Fokus der Innovationsbemühungen steht. Es scheint das Prinzip „der Vertrieb folgt dem Produkt“ zu gelten. Dieses Prinzip lässt sich jedoch nicht kompromisslos auf die Versicherungsbranche übertragen. Denn in der Versicherungsbranche geht der Produktentwicklung häufig eine Vertriebsinnovation voraus, die schließlich für die Anpassung der Produkte verantwortlich ist. In diesem Sinne richtet sich die Produktpolitik eines Versicherungsunternehmens häufig an der Vertriebspolitik aus. Denn für einen erfolgreichen Vertrieb ist es entscheidend, auf die Vertriebswege gezielt abgestimmte Produkte im Portfolio vorhalten zu können. So sind je nach Vertriebsweg unterschiedliche Produktmerkmale von Bedeutung. Der Ausschließlichkeitsvertrieb stellt andere Anforderungen an ein Produkt als beispielsweise der Bankenvertrieb oder der Vertrieb über Kooperationspartner wie gesetzliche Krankenkassen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass bei einem Innovationsmarketing in der Versicherungsbranche die Vertriebspolitik mit der Entwicklung innovativer Vertriebsansätze eine entscheidende Rolle spielt.
Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche
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Vertriebswege in der Versicherungsbranche
Für eine spätere Betrachtung von Vertriebsinnovationen sollen zunächst die „klassischen“ Vertriebswege, deren Bedeutung und die aktuellen Herausforderungen dargestellt werden. Die folgenden Ausführungen beinhalten deshalb zunächst eine Erläuterung der wichtigsten Vertriebswege der Versicherungsbranche. Im Anschluss daran erfolgt die Darstellung der aktuellen Bedeutung der Kanäle sowie der aktuellen vertrieblichen Herausforderungen in der Branche.
3.1
„Klassische“ Vertriebswege
In der Versicherungsbranche wird eine Vielzahl an Vertriebskanälen genutzt. Zu den „klassischen“ Vertriebswegen zählen der Vertreter- und Agenturvertrieb, der Maklervertrieb, der Vertrieb über Vertriebsgesellschaften, der Strukturvertrieb, der Bankenvertrieb und der Direktvertrieb. Der Vertreter- und Agenturvertrieb (auch als Ausschließlichkeitsvertrieb bezeichnet) ist für ein Versicherungsunternehmen heute immer noch der bedeutendste Vertriebsweg. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass über diesen Kanal im Wesentlichen Produkte einer einzigen Gesellschaft vertrieben werden. Vertreter und Agenturen sind somit hinsichtlich ihrer Produktpalette und auch wirtschaftlich an ihre Versicherungsunternehmen gebunden. Die mangelnde Unabhängigkeit des Vertreters wird aus Kundensicht häufig als ein Nachteil betrachtet. Denn möglicherweise kann der Vertreter das für den Kunden individuell passende Produkt gar nicht vorhalten. Zudem wird den Vertretern häufig zugeschrieben, sie würden in erster Linie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen und die des Versicherungsunternehmens vertreten und sich nicht vordergründig an der Bedarfssituation des Kunden ausrichten. Es besteht jedoch vielfach ein dichtes Agenturnetz mit kurzen Wegen für die Kunden und somit eine persönliche Kundenbindung beziehungsweise Kundenansprache (vgl. Görgen (2002), S. 189-190). Für die Versicherungsunternehmen ist die Nutzung dieses Vertriebsweges mit vergleichsweise und historisch bedingten hohen Kosten verbunden, die sich schließlich in der Preispositionierung der über diesen Kanal vertriebenen Produkte niederschlagen (vgl. Farny (2000), S. 701). Beim Maklervertrieb handelt es sich um einen Vertriebsweg, über den Versicherungsprodukte unterschiedlicher, voneinander unabhängiger Versicherungsunterneh-
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men vertrieben werden. Makler sind von einzelnen Versicherungsunternehmen unabhängige Vermittler und können auf die Kundenbedürfnisse gezielt abgestimmte Produkte vertreiben. Ihr Auftrag ist die Geschäftsbesorgung im Namen des Kunden. Zu den besonderen Merkmalen dieses Vertriebsweges gehören darum auch die Vorzüge einer breiten Produktpalette und eine hohe Präsenz im gesamten Bundesgebiet, welches eine persönliche Beratung des Kunden ermöglicht. Aus Kundensicht handelt es sich hierbei um einen mit zunehmender Akzeptanz belegten Vertriebsweg, da die Kunden insbesondere über unabhängige Makler ihre Interessen gut vertreten sehen. Makler sind schon allein von Gesetz wegen dem Kundeninteresse verpflichtet und haften für eine Falschberatung (vgl. Görgen (2002), S. 191-194). Unter den Verbrauchern wird hingegen auch zunehmend kritisiert, dass eine Vielzahl von Maklern nur mit wenigen Gesellschaften zusammen arbeiten und zudem vorrangig vom eigenen Provisionsinteresse geleitet seien und weniger vom konkreten Kundenbedarf. In Vertriebsgesellschaften werden viele Makler gebündelt, die häufig eine Spezialisierung auf bestimmte Berufsgruppen oder andere Zielgruppen aufweisen und auch für Einzelfälle und individuelle Anforderungen der Kunden Lösungen bieten. Bei Strukturvertrieben handelt es sich um versicherungseigene oder unabhängige Absatzorgane. Strukturvertriebe werden durch besondere Anreizsysteme gesteuert und weisen ein besonderes Vergütungssystem auf, welches bei Abschluss von Versicherungsgeschäften die Teilung der Vergütung zwischen dem eigentlichen Verkäufer und die über ihm liegenden Hierarchieebenen vorsieht. Je nach Erfolg des Verkäufers wird hier ein Aufstieg in der Karriere- und Vergütungshierarchie vorgesehen (vgl. Görgen (2002), S. 196). Hinsichtlich des Vergütungssystems der Strukturvertriebe wird auch hier angenommen, dass die Verkäufer ihrem eigenen Interesse nachgehen und vorrangig die Produkte mit hohen Provisionseinnahmen verkaufen (vgl. Farny (2000), S. 692-693). Auch Kreditinstitute bieten eine breite Produktpalette an Versicherungen an. Das Angebot ist jedoch häufig auf konzerneigene Produkte oder Produkte von Kooperationspartnern begrenzt. Auch hier bietet das dichte Filialnetz der Kreditinstitute Vorteile für eine persönliche Beratung und die Herstellung der Kundennähe. Der Direktvertrieb ist dadurch gekennzeichnet, dass zum Absatzzeitpunkt eine räumliche Distanz zwischen Nachfrager und Versicherungsunternehmen besteht. Die Abwicklung erfolgt hier per Post, Telefon, Fax oder Mail. Der Direktvertrieb ist durch
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besonders einfache, wenig erklärungsbedürftige Produkte gekennzeichnet, die zudem in den unteren Preissegmenten positioniert sind. So können die Versicherungsunternehmen durch den Verzicht auf kostenintensive Vertriebsorganisationen die Versicherungsprodukte preisgünstiger – ohne Abschlusskostenladung – kalkulieren, als Produkte die über den Ausschließlichkeitsvertrieb oder über den Maklervertrieb angeboten werden (vgl. Görgen (2002), S. 196-197). Eine weitere Absatzmöglichkeit, die in den vergangenen Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat und deren sich insbesondere die Direktversicherungsunternehmen bedienen, ist der Internetvertrieb. Diese Absatzmöglichkeit wird in der Literatur entweder als eigenständiger Vertriebsweg aufgeführt oder unter den Direktvertrieb gefasst. Beim Internetvertrieb lassen sich wiederum unterschiedliche Ansätze unterscheiden. So erfolgt hier der Vertrieb beispielsweise über Internet-Makler3, über Internet-Marktplätze4 oder direkt über den Internetauftritt5 der Versicherungsunternehmen.
3.2
Bedeutung der Vertriebswege
Der Vertrieb erhält in der Versicherungsbranche besondere Bedeutung und gilt als entscheidender Erfolgsfaktor. Der Grund für die Bedeutung des Vertriebs liegt in der Erklärungsbedürftigkeit der Versicherungsprodukte. So zeigt ein Blick auf die Beschäftigungszahlen der Branche, dass neben 220.000 Beschäftigten im Innendienst rund 44.000 im Außendienst beschäftigt sind. Im Jahr 2009 waren laut GDV zudem rund 77.000 selbständige Einfirmenvertreter, 3.000 Mehrfachvertreter und etwa 20.000 Versicherungsmakler tätig. Insgesamt sind rund 40% aller in der Versicherungsbranche tätigen Menschen im Vertrieb eingesetzt (vgl. GDV (2010), www.gdv.de). Eine Studie6 der Unternehmensberatung Steria Mummert Consulting AG in Zusammenarbeit mit dem F.A.Z.-Institut aus dem Jahr 2008 zeigt, dass die Versicherungen 3
Hierbei handelt es sich um Makler/Mehrfachagenten, die den Vertriebskanal Internet nutzen, um ihre Dienste anzubieten. 4 Wird als die schnellste und preisgünstigste Möglichkeit betrachtet Versicherungsprodukte zu kaufen. Hier wird zunächst der Versicherungsbedarf individuell ermittelt und der Käufer kann sich selbst ausführlich rund um die Uhr über die Produkte informieren. Im Weiteren ist auch der Online-Abschluss möglich. 5 Versicherungsunternehmen bauen ihren Internetauftritt seit einiger Zeit kontinuierlich aus. Sie stellen ihr Leistungsangebot im Internet vor und viele Versicherungsunternehmen bieten heute bereits bei ausgewählten Produkten auch einen Online-Abschluss an. 6 Im Rahmen dieser Studie wurden im Juni 2008 100 Führungskräfte aus 100 der größten Versicherungsgesellschaften Deutschlands über ihre Investitionsziele und Marktpolitik bis 2011 befragt. Von den Befragten werden die Sparten der Personen- und Schadenversicherung vertreten.
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bei einer Sicht über alle Sparten hinweg derzeit vertrieblich stark auf Makler setzen. So ist die Bedeutung der Makler sowohl für Personen- als auch Schadenversicherungsunternehmen hoch. Daneben arbeiten beide Versicherungssparten mehrheitlich mit Mehrfachagenten und Ausschließlichkeitsorganisationen zusammen. Die Personenversicherungsunternehmen sogar noch häufiger als die Schadenversicherungsunternehmen. Für die großen Versicherungsunternehmen ist jedoch nach wie vor die Ausschließlichkeitsorganisation der wichtigste Vertriebsweg; dieser soll auch weiter gestärkt werden. Zwei Drittel der Personenversicherungsunternehmen und eine Minderheit der Schadenversicherungsunternehmen nutzen den Vertriebsweg über Banken. So hat der Verkauf von Lebensversicherungsprodukten durch Banken in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen; er erfreut sich einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung und bei den Banken selbst (vgl. Bartsch (2010), S. 23). Der Studie der Steria Mummert Consulting AG und dem F.A.Z.-Institut zufolge planen 70% der befragten Versicherungsunternehmen den Ausbau ihrer Vertriebskooperationen mit Banken (vgl. Steria Mummert Consulting (2008), S. 13). Personenversicherungen bauen außerdem stark auf den Strukturvertrieb. Dagegen nutzen mehr Schadenversicherungen das Internet (vgl. hierzu Abbildung 3).
Die Interviewpartner waren Vorstandsvorsitzende, Vorstandsmitglieder oder Leiter der für Investitionen zuständigen Finanz- und Entwicklungsabteilungen sowie Leiter des Marketings. Die Befragung wurde vom Marktforschungsinstitut forsa in Telefoninterviews nach der Methode des Computer Aided Telephone Interviewing (CATI) durchgeführt.
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Abbildung 4: Bedeutung der Vertriebswege nach Personenversicherungen und Schadenversicherungen aus Sicht der Versicherungsunternehmen Quelle: Steria Mummert Consulting (2008), S. 14.
Eine Studie der Unternehmensberatung Accenture GmbH aus dem Jahr 2010 untersucht hingegen die Bedeutung unterschiedlicher Vertriebskanäle aus Sicht der Privatkunden.7 Hiernach nimmt das Internet als Vertriebskanal insbesondere für KfzProdukte und für Privatkunden-Sachversicherungsprodukte an Bedeutung zu. Ein Vergleich mit den Ergebnissen der Studie der Steria Mummert Consulting AG und dem F.A.Z.-Institut zeigt, dass die Bedeutung dieses Vertriebsweges sowohl aus Versicherungsunternehmenssicht als auch aus Privatkundensicht als bedeutsam bewertet wird (vgl. Steria Mummert Consulting (2008), S. 14 und Beenken (2010b), S. 1). Die Accenture-Studie hat hervorgebracht, dass derzeit 75% der befragten deutschen Versicherungskunden mindestens ein Versicherungsprodukt über einen Versicherungsvertreter abgeschlossen haben und 30% der Befragten über das Internet. Letz-
7
Im Rahmen der Studie „Bancassurance multi-country consumer survey“ wurden rund 3.500 Privatkunden in sechs verschiedenen Ländern befragt, davon gut 500 in Deutschland.
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tere Abschlüsse können sowohl bei einem Versicherungsunternehmen direkt, als auch bei einem Vermittler oder über Vergleichsportale erfolgt sein. 21% der Kunden weisen mindestens einen über einen Versicherungsmakler vermittelten Vertrag auf. Von den Befragten haben zudem bereits 14% einen Versicherungsvertrag bei einer Bank geschlossen und ganze 9% konnten sogar bereits telefonisch für den Abschluss eines Versicherungsvertrages gewonnen werden. Im Einzelhandel haben hingegen bisher nur 4% der Befragten einen Versicherungsvertrag abgeschlossen (vgl. hierzu Abbildung 6). Die Befragung der Kunden hinsichtlich ihrer in den nächsten 12 Monaten präferierten Nutzung von Vertriebskanälen der Versicherungsunternehmen zeigt, dass der Onlineabschluss auch weiterhin an Bedeutung zunehmen wird. So wollen 46% der befragten deutschen Versicherungskunden den Onlinekanal zum Abschluss neuer Versicherungsverträge nutzen. Die Bedeutung des Onlinekanals reicht somit bis auf 2% an die Bedeutung des Vertriebes über Versicherungsvertreter mit 48% heran. Die Bedeutung der Versicherungsmakler bleibt mit 21% nach dieser Befragung aus Kundensicht unverändert und die des Bankvertriebes nimmt leicht ab (vgl. hierzu Abbildung 6).
Abbildung 6: Bisherige und zukünftige Inanspruchnahme von Vertriebskanäen durch die Versicherten Quelle: Beenken (2010b)
Die heutige und zukünftige Bedeutung der Vertriebskanäle aus Sicht der Kunden weist jedoch zwischen den einzelnen Versicherungssparten zum Teil erhebliche Un-
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terschiede auf. So übersteigt die Bereitschaft zum Onlineabschluss in der Kfz-Versicherung die Bereitschaft zum Vertreterabschluss. Geht es jedoch um den Abschluss anderer Versicherungen, wie beispielsweise Personenversicherungen, nimmt der Vertreterabschluss wieder deutlich an Bedeutung zu. Hier ist die persönliche Beratung von hoher Bedeutung. So bewerten 47% der befragten Kunden für den Abschluss einer Lebensversicherung den Vertreterkanal als den wichtigsten; nur 28% der Befragten würden im Falle des Abschlusses einer Lebensversicherung das Internet nutzen (vgl. Beenken (2010b), S.2). Als Fazit der aktuellen Vertriebswegebedeutung lässt sich konstatieren, dass die Nutzung der Vertriebswege deutlich von der Erklärungsbedürftigkeit der Versicherungsprodukte abhängt und im Besonderen von der persönlichen Tragweite, die der Versicherungsabschluss für den Kunden hat. So kann unterstellt werden, dass insbesondere die Produkte der Personenversicherungen, wie die der Lebens- oder der Krankenversicherung, eine sehr viel höhere Bedeutung und persönliche Tragweite für den Kunden haben als beispielsweise die der Kfz-Haftpflichtversicherung. Bei ersteren ist somit der Bedarf an einem persönlichen Beratungsgespräch höher.
3.3
Aktuelle Herausforderungen im Vertrieb
Der deutsche Versicherungsmarkt beschäftigt sich mit kaum einem Thema so intensiv wie mit der Frage „Welcher Vertriebsweg ist der richtige Vertriebsweg für die Zukunft?“. Wie die oben aufgeführten Untersuchungsergebnisse verdeutlichen, ist der Absatzmarkt der Versicherungsbranche in ständiger Bewegung und es bestehen Verschiebungen zwischen den Vertriebswegen in den einzelnen Sparten. Als wesentlicher Treiber des Veränderungsprozesses lassen sich die unterschiedlichen Einflüsse aus dem technischen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Umfeld der Versicherungsvertriebe identifizieren. Diese sind zwar für alle Vertriebswege vergleichbar, treffen aber auf unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten (vgl. Bartsch (2010), S. 22-23). Im Rahmen einer PESTEL-Analyse der Versicherungsforen Leipzig wurde festgestellt, dass die wichtigsten Einflussfaktoren aus dem technischen Umfeld in der Verbreitung des Internets und dessen stärkerer Nutzung als Informations- und Kommunikationsmedium zu finden sind. In diesem Zusammenhang ist die Veränderung des Informationsverhaltens aller Konsumenten hin zu höheren Ansprüchen an die Informationsbereitstellung durch Versicherungsunternehmen unstrittig. Diese Verän-
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derung bildet neben einer technischen auch eine vertriebliche Herausforderung hinsichtlich der Positionierung von Vermittlern in diesem Segment und der Informationsstrategien für diesen Kundentyp (vgl. Bartsch (2010), S. 23). Aus dem politischen Umfeld resultiert die Verpflichtung der Versicherungsunternehmen und ihrer Vermittler, komplexe Produktinformationen vereinfacht aufzubereiten. Gegenüber dem Kunden soll bereits beim erstmaligen Kontakt Transparenz über den Status und die Interessenlage des jeweiligen Vermittlers geschaffen werden. In diesem Zusammenhang wird derzeit kontrovers diskutiert, den Prozess der Beratung von dem des Verkaufs zu trennen. Gegenstand dieser Diskussion ist somit auch die Vergütung der Vermittlerleistungen und die Frage, ob das Versicherungsunternehmen oder der Kunde die Vermittlerkosten übernehmen sollte (vgl. Bartsch (2010), S. 23). Zukünftig werden voraussichtlich nur die Vertriebe eine hohe Bedeutung haben, die sich rechtzeitig auf die veränderten Rahmenbedingungen und neue Zielgruppen eingestellt haben. So gilt es, dem Kunden mehrwertige Informationen über Versicherungsprodukte bereit zu stellen und die Arbeitsprozesse auf die neuen rechtlichen Pflichten und Auflagen vollständig auszurichten (vgl. Bartsch (2010), S. 23). Mit der zunehmenden Bedeutung des Maklervertriebs erhöht sich auch die Erforderlichkeit, die bestehenden Vertriebsprozesse zwischen Versicherungsunternehmen und Makler funktional und technisch zu verbessern (vgl. Wedekind (2010), S. 19). Denn wie eine Studie der YouGovPsychonomics AG zeigt, sind die Makler bisher häufig nicht oder nur mäßig mit den Unterstützungsprozessen der Versicherungsunternehmen zufrieden. Dabei kann bei gleicher Kundenbedarfsdeckung durch verschiedene Versicherungsunternehmen beziehungsweise Versicherungsprodukte, die Effizienz der Unterstützungsprozesse über die Selektion eines Versicherungsunternehmens entscheiden. In diesem Zusammenhang nimmt auch die Industrialisierung der Prozesse an Bedeutung zu (vgl. Beenken (2010), S. 1). Als besondere Herausforderung gilt hier die bestehende Heterogenität der IT-Infrastruktur der verschiedenen Makler bei denen es sich in der Regel um isolierte Lösungen handelt, die mit kaum kompatiblen Schnittstellen besetzt sind. Im Maklervertrieb ergeben sich somit Problemstellungen wie beispielsweise eine Mehrfach-Authentifizierung, eine Doppelerfassung von Daten und ein ständiges Umstellen der Arbeitsabläufe. So scheint ein wesentliches Zukunftsthema im Maklervertrieb die Optimierung und Standardisierung der IT-Prozesse zwischen Makler und Versicherungsunternehmen zu sein (vgl. Wedekind (2010), S. 19).
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Die Darstellung der Vertriebsherausforderungen verdeutlicht, dass die Versicherungsunternehmen nicht nur gezwungen sind neue innovative Vertriebswege zur Erhöhung des Neugeschäfts zu ergreifen, sondern zudem die bestehenden Vertriebswege mit innovativen Prozessen und Dienstleistungen bedienen müssen. Ein Blick auf die Investitionsbereitschaft der Top-Entscheider der großen Versicherungsunternehmen (ab 1.000 Mitarbeitern) im Vertrieb zeigt, dass die Versicherungsunternehmen, der Studie der Steria Mummert Consulting AG und dem F.A.Z.Institut zufolge, die genannten Herausforderungen bereits aufgegriffen und in ihren Investitionsplanungen bis 2011 berücksichtigt haben. So planen die Entscheider insbesondere Investitionen in Vertriebsschulungen, in die personelle und finanzielle Stärkung des Außendienstes, in die Standardisierung von Vertriebsprozessen mit Hilfe der IT, in das Vertriebswegemanagement und in die Stärkung der Ausschließlichkeitsorganisation (vgl. hierzu Abbildung 5).
Abbildung 5: Analyse der Investitionsbereitschaft der Versicherungsunternehmen bis zum Jahr 2011 Quelle: Steria Mummert Consulting (2008), S. 15.
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Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche
Versicherungsunternehmen sind zur Generierung von Neugeschäft gezwungen, Vertriebsinnovationen zu entwickeln und zu nutzen. Unter Berücksichtigung des Innovationsbegriffes nach Trommsdorff/Steinhoff (vgl. Abschnitt 2.) sowie der Erkenntnisse über die aktuelle Bedeutung und der Herausforderungen im Versicherungsvertrieb (vgl. Abschnitt 3.) lassen sich unter dem Begriff der Vertriebsinnovationen die Nutzung neuer Vertriebskanäle und die Entwicklung neuer Vertriebsprozesse beziehungsweise Vermittler-Betreuungsmodelle subsumieren. Im Folgenden sollen deshalb innovative Ansätze bei der Vertriebswegenutzung sowie Ansätze zur Prozessinnovation zwischen dem an Bedeutung zunehmenden Maklervertrieb und den Versicherungsunternehmen betrachtet werden.
4.1
Innovative Vertriebskanäle und Kooperationen
In der Versicherungsbranche werden regelmäßig neue Vertriebswege identifiziert und neue Vertriebskooperationen geschlossen. Über Vertriebskooperationen versuchen Versicherungsunternehmen Zugang zu neuen Vertriebswegen zu bekommen sowie neue Geschäftsfelder zu erschließen und Zielgruppen zu erreichen.8 So wird bereits seit einigen Jahren der Einzelhandel für den Vertrieb einfacher, wenig erklärungsbedürftiger Produkte genutzt, in dem laufend neue Kooperationspartner gewonnen werden. Dabei lassen sich die Versicherungsprodukte mit oder ohne direkten Bezug zu den jeweiligen Produkten des Einzelhandels anbieten. Lässt sich zwischen den Produkten des Einzelhandels und den Versicherungsprodukten ein Bezug herstellen, wird auch von Produktbündeln gesprochen. Im Versandhandel werden heute unter anderem Hausrat-, Hundehalter-Haftpflicht-, Rechtsschutz-, Kfz-, Privathaftpflicht-, Risiko-Lebens- oder Zahnzusatzversicherungen angeboten. Der jeweilige Kooperationspartner hält im Internet Informationen zu den jeweiligen Produkten vor und für Interessierte besteht die Möglichkeit, die jeweils angebotenen Versicherungslösungen direkt im Internet abzuschließen. In diesem Fall können die Interessierten entweder auf den Seiten des Händlers selbst die Ver-
8
Bei der Vermittlung von Versicherungsprodukten sind rechtliche Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. So ist immer zu prüfen, ob es sich um eine Versicherungsvermittlung im Sinne des Versicherungsvertragsgesetzes, einen Annexvermittler oder lediglich um einen Versicherungstipp handelt. Auf die rechtlichen Rahmenbedingungen soll im Weiteren jedoch nicht näher eingegangen werden.
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sicherungsprodukte kaufen oder sie werden zum Vertragsabschluss direkt auf die Internetseiten des jeweils anbietenden Versicherungsunternehmens weitergeleitet. Neben dem Versandhandel werden außerdem Supermärkte für den Vertrieb genutzt. Hier werden unter anderem anlassbezogene Aktionen durchgeführt, in deren Rahmen für einen bestimmten Zeitraum Versicherungsprodukte zu besonders günstigen Konditionen angeboten werden. So haben in der Vergangenheit die Versicherungsunternehmen ARAG und Rheinland in einer befristeten Aktion die sogenannte Deutschland-Rente beim Discounter Plus angeboten. Zuvor hatte die ARAG beim Discounter Penny Rechtschutzversicherungspolicen verkauft. Nachdem noch vor einigen Jahren der Versicherungskonzern AXA mit dem Kaffeeröster Tchibo kooperierte, vertreibt dieser heute Versicherungsprodukte der Gothaer-Tochter Asstel.9 Hier werden Krankenzusatz-, Lebens- und Rentenversicherungen sowie Kfz-, Haftpflicht-, Hausrat-, Rechtschutz- und Unfallversicherungen angeboten. Sogar beim Modehaus C&A lässt sich heute eine Kfz-Versicherung abschließen. Versicherungsunternehmen konnten außerdem den Tiernahrungshandel als Kooperationspartner gewinnen; hierüber werden Tierhalterhaftpflichtversicherungen verkauft. Ein weiteres bekanntes Beispiel für eine erfolgreiche Nutzung des Vertriebskanals Einzelhandel durch die Bildung von Produktbündeln ist die Kooperation des Versicherungsunternehmens Hanse Merkur mit dem Optiker Fielmann. Hier lässt sich zusammen mit dem Kauf einer Brille eine sogenannte Brillenversicherung abschließen. Produktbündel werden seit 2010 auch für Telekom-Kunden angeboten. Diese können für ihre Mobilfunkgeräte den sogenannten Handy-Schutzbrief des Versicherungskonzerns AXA abschließen. Im Weiteren wird versucht, über Produktbündel Vertriebspotenzial zu heben. Erfolgreiche Anbieter sind vor allem Autohändler und Autovermietungen, die Kfz-Versicherungen vertreiben. Auch Reiseveranstalter bieten erfolgreich Produktbündel an. So gehört der Abschluss von Reiseversicherungen zusammen mit einer Hotel- oder Flugbuchung heute bereits zum Standard. Eine Studie10 des Marktforschungsinstitut YouGovPsychonomics AG zur Frage, welche Produktbündel am Markt akzeptiert werden, hat ergeben, dass die Anbündelung
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Diese Kooperation steht jedoch zurzeit auf dem Prüfstand. So wird Tchibo vorgeworfen ohne eine entsprechende und erforderliche Registrierung als Vermittler tätig zu sein. 10 Im Rahmen dieser Studie wurden zwei Online-Gruppendiskussionen und eine repräsentative Befragung von 1.000 Konsumenten durchgeführt.
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einer Haftpflichtversicherung an ein Notebook große Akzeptanz erhält. Bei passendem Preis-Leistungs-Verhältnis können sich Kunden außerdem gut vorstellen, eine Hausratversicherung zusammen mit Möbeln oder einer Küche zu erwerben. Auch Baumaterialien, Werkzeuge oder Produkte eines Baumarktes scheinen eine attraktive Bündelung mit Hausratversicherungen darzustellen. Der Vertrieb eines privaten Altersvorsorgeproduktes, wie einer Riester-Rente oder einer Kapitallebensversicherung, wirkt der Studie zufolge am stärksten in Verbindung mit einem kostenlosen Girokonto oder einem Wellness-Urlaub (vgl. Beenken (2009a), S. 1). Laut YouGovPsychonomics könnte ein Lösungskonzept auch aus einem ganzen Paket gebündelter Produkte bestehen. So erhielt ein Produktpaket aus Kfz-Versicherung, Werkstattkundenkarte, Fahrsicherheitstraining und einer Jahresmitgliedschaft in einem frei wählbaren Autoclub sowie einer TÜV-Hauptuntersuchung oder einer GebrauchtwagenUntersuchung die größte Akzeptanz unter den befragten Probanden (vgl. Beenken (2009a), S. 2). Neben diesen Kooperationen bestehen zahlreiche weitere Kooperationen in der Versicherungswirtschaft. So werden beispielsweise in der privaten Krankenversicherung Zusatzversicherungsprodukte über gesetzliche Krankenkassen vermittelt. Eine weitere Form von Kooperationen bezieht sich auf Prämienprogramme. So können Interessierte, die eine Versicherung bei Asstel abschließen, im Vielfliegerprogramm Miles & More bis zu 10.000 Prämienmeilen sammeln. Wer eine Krankenzusatzversicherung bei der Signal Iduna abschließt, kann Payback-Punkte sammeln, die unter anderem für Prämien und/oder Warengutscheine eingelöst werden können. Die jüngste Vertriebswegeinnovation der Versicherungsbranche wäre wohl der Versicherungsabschluss per Handy. So hat das Marktforschungsunternehmen Heute und Morgen GmbH herausgefunden, dass Apps11 von Versicherungsunternehmen Interesse finden würden. Die Untersuchung, in der 500 repräsentative Bürger zwschen 18 und 65 Jahren befragt wurden, ergab, dass 15% der Befragten einen Versicherungsabschluss über ein Smartphone vornehmen würden (vgl. Beenken (2010c), S. 1). Bisherige Angebote wie der AXA umfassen Leistungen rund um die Kfz-Haftpflichtversicherung, insbesondere zur Schadenmeldung. Ein Versicherungsabschluss über das Handy ist bisher jedoch noch nicht möglich.
11
Apps sind Anwenderprogramme für Multimedia-Handys.
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Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Nutzung der hier aufgezeigten Vertriebswege beziehungsweise der Kooperationen in der Versicherungsbranche einer kontroversen Diskussion unterliegen. So lassen sich über diese Vertriebswege im Wesentlichen wenig erklärungsbedürftige und in der Regel preiswerte Produkte vertreiben. Bei Versicherungsprodukten, insbesondere komplexe Produkte aus der Personenversicherung, mit einem erforderlichen Beratungsbedarf sind derartige Vertriebswegeinnovationen nicht empfehlenswert und genießen kaum Akzeptanz in der Branche. Die Nutzung der klassischen Vertriebswege wie der des Ausschließlichkeitsvertriebs und des Maklervertriebs sind daher unverzichtbar. Die hier beschriebenen Vertriebsinnovationen können somit als Ergänzung und keinesfalls als Ersatz der „klassischen“ Vertriebswege betrachtet werden. Dies zeigt auch (wie unter Abschnitt 3.3 erwähnt) die aktuelle Diskussion um die Trennung des Beratungsprozesses und des Verkaufsprozesses von Versicherungsprodukten durch die sogenannte Honorarberatung.
4.2
Prozessinnovationen im Versicherungsvertrieb
Neben der Nutzung neuer Vertriebswege und der Schließung neuer Vertriebskooperationen gilt es schließlich, die klassischen und insbesondere die an Bedeutung zunehmenden Vertriebswege mit wettbewerbsfähigen und innovativen Prozessen zu gestalten. Dabei sind insbesondere im an Bedeutung zunehmenden Maklervertrieb, die Vertriebsunterstützungspozesse stetig zu verbessern und an die Anforderungen der Makler anzupassen. Besondere Bedeutung erhält in diesem Zusammenhang der Makler-Datenaustausch. So ist es in der Versicherungsbranche bisher nicht gelungen, eine enge Vernetzung von unabhängigen Vermittlern und Versicherungsunternehmen zu schaffen. Verhindert wird dies durch unterschiedliche Prozesse, Software und Schnittstellen. Bei den bisherigen Geschäftsprozessen zwischen Maklern und Versicherungsunternehmen handelt es sich häufig um ineffiziente Insellösungen; teilweise werden die Prozesse sogar per Papier abgewickelt. Konsequenz hieraus ist, dass viele Makler die Anzahl ihrer Versicherungsunternehmens-Anbindungen reduzieren (vgl. Beenken (2009b), S. 1). Mit intelligenten und Geschäftsprozess vereinfachenden Lösungen kann es den Versicherungsunternehmen gelingen, Versicherungsmakler für den Vertrieb ihrer Produkte zu gewinnen. Aus dieser Situation heraus haben sich bereits Initiativen gegründet die sich die Verbesserung der Geschäftsprozesse zur Aufgabe gemacht haben.
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Hinsichtlich der Prozessvereinfachung zwischen Versicherungsunternehmen und Maklern werden zentrale und dezentrale Lösungen diskutiert. So bestehen den Versicherungsforen Leipzig zufolge Bemühungen, zwischen den Maklern und den Versicherungsunternehmen zentrale Dienstleister mit der Aufgabe zu betrauen, als Schnittstelle zu wirken und die erforderlichen Prozesse und Dialoge zwischen den ITWelten darzustellen. Dieser Ansatz bietet durch seine Einfachheit für den Anwender Vorteile, birgt jedoch durch die Abhängigkeit von einem Dienstleister auch Nachteile (vgl. Wedekind (2010), S. 19). Neuere dezentrale Ansätze bieten eine komponentenbasierte Softwarearchitektur und -infrastruktur und könnten Nachteile bisheriger zentraler Ansätze vermeiden. So ergibt sich den Versicherungsforen Leipzig zufolge der Mehrwert dieser Systeme aus einer optimalen Integration existierender Anwendungen und bestehender sowie neu entstandener Services (vgl. Wedekind (2010), S. 19) (vgl. Abbildung 6).
Transaktionsschicht
Konsolidierte VU-Daten
Daten
Anwendung
Bestandsführung Makler
Abbildung 6: Beispiel für die Industrialisierung des Abwicklungsprozesses zwischen Versicherungsunternehmen und Maklervertrieben Quelle: Helten (2008) und Franke (2008).
Eine dezentrale, verteilte Architektur kann die Unabhängigkeit der Anbieter sichern und folglich Alleinstellungsmerkmale der Systeme berücksichtigen. Dabei bieten einfache und funktionale Schnittstellen eine schnelle und kostengünstige Integration und Pflege (vgl. Wedekind (2010), S. 19).
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Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
Die Herausforderungen der Versicherungswirtschaft wachsen. Die eintretende Marktsättigung und die steigenden Kundenanforderungen zwingen Versicherungsunternehmen neue Marketingstrategien zu entwickeln. Ziel sollte sein, mit Hilfe des Innovationsmarketingansatzes insbesondere den produkt- und vertriebsspezifischen Herausforderungen der Branche zu begegnen. So gilt es durch innovative Ansätze Neugeschäft zu generieren und eine gute Position im Wettbewerb zu erreichen. Der Handlungsspielraum der Versicherungsunternehmen ist vielfältig; mit Kreativität und der Nutzung neuer Technologien lassen sich echte Innovationen erreichen und damit Wachstum generieren. Dabei verspricht insbesondere der technologische Wandel für die Zukunft innovative Ansätze wie beispielsweise der Verkauf von Versicherungsprodukten über das Handy. Von Bedeutung ist hierbei jedoch immer die Produktvariabilität. Diese erfordert eine gezielte Abstimmung des zu verkaufenden Versicherungsproduktes und seiner Produktmerkmale auf den zu nutzenden Vertriebsweg.
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Vertriebsinnovationen in der Versicherungsbranche
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PKV-Verband (2005): Die private Krankenversicherung. Zahlenbericht 2004/2005. Steria Mummert Consulting AG/F.A.Z.-Institut (2008): Branchenkompass 2008, Hamburg. Trommsdorff, Volker, Steinhoff, Fee (2007): Innovationsmarketing, München. Wedekind, Kai (2010): Makleranbindungen - Der Markt bewegt sich, in: Versicherungsforen-Themendossier - Aktuelle Entwicklungen, 1. Quartal 2010, Ausgabe: 06/2010, S. 19-20. Zerres, Michael, Reich, Michael (2010): Handbuch Versicherungsmarketing, Berlin. Zerres, Christopher, Zerres Michael (2009): Marketing, 2. aktualisierte Auflage, Stuttgart.
Six Sigma in Versicherungsunternehmen Michael Reich*
1
Einleitung ........................................................................................................364 1.1 Kontinuierliche Verbesserung und Six Sigma Ansätze in der Automotive Industrie .....................................................................364 1.2 Durchdringung qualitätsorientierter Veränderungsprozesse im deutschen Versicherungsmarkt .........................................................366 1.3 Methodische Grundelemente aus Six Sigma ..........................................372 1.4 Organisatorische Einbindung und Personalentwicklungskonzepte.........377
2
Inhaltliches und methodisches Vorgehen bei der Einführung..........................381
3
Kritische Erfolgsfaktoren bei qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen in der Versicherung................................................385
4
Zusammenfassung und Ausblick ....................................................................385
Literaturverzeichnis .................................................................................................387
* Dr. Michael Reich ist Geschäftsführer der 67rockwell Consulting GmbH in Hamburg.
Michael Reich
364
1
Einleitung
1.1
Kontinuierliche Verbesserung und Six Sigma Ansätze in der AutomotiveIndustrie
1992 galten japanische Autos noch als qualitativ minderwertig. Die Ergebnisse einer MIT-Studie lösten hierzulande eine große Aufregung aus (Kostka, S./Kostka, C. (2006), S. 9). In diesem Jahr erschien nämlich in Deutschland unter dem Titel „Die zweite Revolution in der Automobilindustrie“ die MIT-Studie von Wormack, Jones und Roos. Darin werden die Produktionssysteme der Automobilindustrie weltweit untersucht und es wurde überprüft, auf welche Weise Produktivität und Qualität der Produkte erreicht werden. Die japanische Automobilindustrie schien mit ihren „schlanken“ auf kontinuierliche Verbesserung basierenden Produktionssystemen den europäischen und amerikanischen Autobauern überlegen zu sein. Die hohe Produktivität bei gleichzeitig hoher Qualität korrelierte mit einer bei 60% liegenden Teamarbeit. Darin wurden die Mitarbeiter in Problemlösungsprozesse, die ihren unmittelbaren Aufgabenbereich betrafen, integriert (Kostka, S./Kostka, C. (2006), S. 10ff). Viele nachdenklich gewordene Manager machten sich jedoch auf den Weg nach Japan und schauten sich vor Ort in Unternehmen, wie z.B. Toyota, deren Produktionsweisen an. KAIZEN, dass Prinzip der „kontinuierlichen Verbesserung“ führte zu hoher Produktivität bei gleichzeitig hoher Qualität Schon nach dem Zweiten Weltkrieg wendeten die Japaner dieses Prinzip an und entwickelte bereits Ende der 40er Jahre eine Initiative zur Verbesserung der Qualität. Seit 1951 leitete der in den USA damals weitgehend unbeachtete US-amerikanische Professor William Edward Deming in Japan zahlreiche Kurse insbesondere für das Top-Management. Gleichzeitig fanden seine Ideen zu dem prozessorientierten unternehmensweiten Einsatz statistischer Verfahren zur Qualitätssicherung schnelle Anwendung in Japan (Kostka, S./Kostka, C. (2006), S. 12). 1954 wurde der US-Amerikaner Juran für mehrere Vorträge nach Japan eingeladen. Dieser erweiterte die statistischen Kenntnisse Demings durch einen kundenorientierten Qualitätsbegriff. Um das Fehlerniveau zu senken, empfahl er kleine ressortübergreifende Teams zur schrittweisen Qualitätsverbesserung einzusetzen.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_18, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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365
Die frühere schwierige wirtschaftliche Situation der Toyota Motor Company veranlasste insbesondere den Ingenieur Taichi Ohno zur Entwicklung eines konsequent schlanken Produktionssystems. Da keinerlei Ressourcen z.B. zur Neubeschaffung von Maschinen vorhanden waren, konzentriert man sich auf die kontinuierliche Verbesserung der Produktion im Kundenkontakt mit möglichst geringer Verschwendung von Ressourcen jeglicher Art im Produktionsprozess. Als Basis diente das heute wichtigste Steuerungsinstrument zur ständigen Verbesserung, der von Shewhart entwickelt und von Deming vorbereitete PDCAVerbesserungszyklus (PLAN-DO-CHECK-ACT). Erst Anfang der 90er Jahre, angeregt durch die MIT-Studie, fand das Konzept der ständigen Verbesserung in westlichen Organisationen Beachtung. Prominentestes Beispiel für den erfolgreichen und konsequenten Einsatz in Deutschland ist sicherlich Porsche (Kostka, S./Kostka, C. (2006), S. 10ff). Das Toyota-Produktionssystem (TPS) wurde in einem Zeitraum von über 20 Jahren entwickelt und bis heute weiter verfeinert. Die darin enthaltenen Methoden wie Kanban, Just-in-Time etc. wurden aus der Notwendigkeit zur Verbesserung der Produktivität und Qualität entwickelt, eingesetzt und wiederum kontinuierlich verbessert. Die Notwendigkeit zum Einsatz dieser Methoden ergab sich aus entdeckten Verschwendungen in Prozessen. Als nicht wertschöpfend werden dabei alle Aktivitäten betrachtet, die keine Werte schaffen bzw. das Schaffen von Werten be- oder verhindern. Dazu gehören Lagerbestände, Abfall, Unordnung und Intransparenz genauso wie unklare Absprachen und Ziele sowie Zuständigkeiten. Auch Funktionen des Produktes, die vom Kunden nicht genutzt werden, gelten als Verschwendung (Töpfer. A. (2001), S. 1023ff). Alle natürlichen Systeme verändern sich kontinuierlich. Aber schrittweise Veränderung scheint offensichtlich noch kein fester Bestandteil der westlichen Lebensart zu sein. Vielmehr neigen die Westeuropäer stark dazu, Verbesserungen ausschließlich durch Innovationen bewirken zu wollen. Neben den Konzepten zur kontinuierlichen Verbesserung (KVP) und Lean Production rücken Konzepte des Qualitätsmanagements wie z.B. Six Sigma in den Fokus der Unternehmen. Der Erfolg erklärt sich vielleicht dadurch, dass dieses Konzept eine Integration vieler bekannter Konzepte wie Business Reengineering (BPR), Benchmarking, klassische Qualitätsmethoden und Change Management erlaubt.
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366
Die nachfolgende Abbildung 1 stellt den Zusammenhang zwischen dem Ansatz der Kontinuierlichen Verbesserung (KVP) und dem konventionellen Innovationsmanagement dar.
Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Innovation und KVP Quelle: Kostka, S./Kostka, C.; 2006; S. 9ff.
Motorola gilt als das Unternehmen, in dem die Six-Sigma-Methode erfunden wurde. Der Ingenieur Bill Smith entwickelte das System unter der Ägide von Robert Galvin. Beteiligt war die Beratung Six Sigma International Ltd. (SSI) aus Akron (USA). Motorola gewann später den bekannten Qualitätspreis „Malcom Baldrige Award“. Große Verbreitung fand der Begriff Six Sigma erst ab Mitte der 90er Jahre, als Jack Welch bei General Electric unter diesem Namen ein groß angelegtes Change-Programm initiierte, in dem es weniger um Statistik ging als darum, viele radikale Ideen zu identifizieren und umzusetzen. Es ging hier im Besonderen um einen Kulturwandel im Unternehmen.
1.2
Durchdringung qualitätsorientierter Veränderungsprozesse im deutschen Versicherungsmarkt
Die Ertrags- und Strukturkrise im Finanzdienstleistungsbereich, insbesondere bei Banken ist deutlich kritischer als die Situation im Versicherungsbereich, obwohl dort
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
367
die großen Schadensfälle, wie z.B. der 11. September 2001, und der Verfall der Aktienkurse in den letzten Jahren zu Ertrags- und Ergebnisproblemen geführt haben, da vor allem die Lebensversicherer hohe Anlagen in Wertpapieren getätigt haben. Es gibt eine Reihe von Haupteinflussfaktoren, die den Schritt hin zur Industrialisierung zu einer Notwendigkeit für das Geschäft der meisten europäischen Versicherer machen. Die nachfolgende Abbildung macht den Zusammenhang zwischen Einflussfaktoren und der Marktdynamik deutlich.
Abbildung 2: Einflussfaktoren und Marktdynamik Quelle: Eigene Darstellung.
Margenerosion und -druck Neue Markteintritte und traditionelle Wettbewerber, die ihre Geschäftsmodelle und Prozesse der Leistungserstellung (Operating Models) verändern, um im Wettbewerb bestehen zu können. Dabei kristallisieren sich drei Optionen von Geschäftsmodellen heraus: Lean Operators, Marken-/ Vertriebsführer und Produktexperten.
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Regulierung Sich verändernde Anforderungen gleichzeitig über verschiedene Einheiten hinweg harmonisieren. Wettbewerb Hohe Anpassungsnotwendigkeit durch neue Markteintritte und neue Formen des Wettbewerbs. Globalisierung In Abhängigkeit der Geschäftsmodelle und der entsprechenden Prozesse adaptieren größere „Europäische Versicherungsunternehmen „industrielle“ Operating Models als Hauptwerkzeug zur Erreichung von Kostensenkungen und Verbesserungen des Kundenservices. Auch Marktentwicklungen und Wettbewerbskräfte sind treibende Kräfte hinter diesen Veränderungen. Industrialisierung bezieht sich auf eine Reihe von verschiedenen, aber wichtigen Entwicklungen. Für die meisten Versicherer bedeutet dies (Deloitte, C. (2007), S.3ff): x
Geschäftsprozesse sind grundsätzlich zu standardisieren und automatisieren,
x
Erfolgsmessung ist akzeptiert, wird verstanden und ist über alle operativen Geschäftseinheiten hinweg konsistent,
x
Ähnliche Prozessaktivitäten sind weitestgehend konsolidiert, um mehr Kostensynergien zu erreichen,
x
IT-Systeme sind mehrheitlich in Komponenten zerlegt und verstärkt integriert und
x
Versicherer werden sich auf ihre Kernstärken oder -kompetenzen fokussieren und weniger wertschöpfende Aktivitäten outsourcen.
Für die Prozess-Industrialisierung der Versicherer wird dabei folgendes berücksichtigt werden müssen: x
Economies of scale,
x
Beherrschung (und Kontrolle) der Prozesse und des Prozessmanagements mit dem Ziel einer ganzheitlichen Lösung und
x
Umfassende Verbesserungen der Servicequalität.
Qualitätsorientierte Veränderungsprozesse im Rahmen von Six Sigma sind deshalb Ansatzpunkte der Prozess-Industrialisierung für die Versicherer. Six Sigma ist dabei
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
369
ein professionelles Prozessmanagement und strebt eine Wertorientierung des Unternehmens durch schlanke Prozesse mit deutlich verbesserten Durchlaufzeiten, durch Null-Fehler-Qualität und eine dadurch bewirkte hohe Kundenzufriedenheit an. Im Fokus der Durchführung von Six Sigma Projekten stehen dabei insbesondere die drei Umsetzungstreiber Kunde-Prozess-Qualität (Töpfer, A. (2001), S. 3ff). Ziel ist es auf neue Herausforderungen besser, schneller und schlanker zu reagieren als die Konkurrenz. Dies gilt uneingeschränkt und branchenübergreifend aus folgenden Gründen: x
Kunden fordern eine immer höhere Qualität bei den angebotenen Produkten und Dienstleistungen, z.B. fehlerfreie Policierungen,
x
Wettbewerber verkürzen sukzessive ihre Entwicklungszeiten mit direkter Wirkung auf die Produktlebensdauer, z.B. innovative Altersvorsorgemodelle von Finanzdienstleister und
x
eigene Versicherungsunternehmen stehen fortwährend vor dem Problem, Entwicklungs- und Herstellungskosten zu reduzieren.
Six Sigma will also als projektorientiertes Managementkonzept die wesentlichen Kundenanforderungen über schlanke und effiziente Prozesse für das Unternehmen wirtschaftlich erfüllen. Gerade bei Versicherungsunternehmen soll die erreichbare Null-Fehler-Qualität nicht nur zu Kostensenkungen, sondern über gestiegene Kundenzufriedenheit auch zu Umsatzsteigerungen, z.B. durch Ausschöpfung des dann aktivierbaren Cross-Selling-Potenzials führen. Auch wenn bei Versicherern keine Produktionsstätten und Fertigungsabläufe im klassischen Sinne existieren, gibt es viele Tätigkeiten, die effizienter und effektiver gestaltet werden können. Im Dienstleistungsbereich sind die zusätzlich zu erreichenden Einsparungen durch verstärkte Prozessfokussierung sogar überdurchschnittlich hoch. Es erstaunt deshalb nicht, dass immer mehr Banken und Versicherer, qualitäts- und kostenbewußter werden und dabei den „Six Sigma“ Weg gehen. Allerdings vorwiegend in den USA. In anderen Ländern, z.B. in Deutschland steht die Anwendung insbesondere im Versicherungswesen erst am Anfang. Die Deutsche Bank hat beispielsweise seit 2002 eine erste Six Sigma Einführung begonnen (Liebermann/Moormann, 2004, S. 28). Im Vergleich hierzu haben z.B. fast alle großen Banken beziehungsweise Finanzdienstleister wie GE Capital (Beginn 1996), Citibank (Beginn 1997) als Tochtergesellschaft der Citigroup, American Express und J. P. Morgan Chase (Beginn 1999) einen deutlichen zeitlichen und inhaltlichen Vorsprung
Michael Reich
370
und damit bereits auch realisierte Ergebniswirkungen. In gleicher Weise sind die britische HSBC und auch die Bank of America inkl. Fleet Boston Financial gestartet. Zu weiteren erfolgreichen Anwendern bei den Finanzdienstleistern zählen u.a. AIG Insurance und Credite Suisse (Töpfer, A. (2002), S. 7). Der Hauptgrund für die zeitlich späte Einführung des Six Sigma Konzeptes im deutschen Versicherungsmarkt liegt darin, dass lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass Prozesse für Versicherungsdienstleistungen weitgehend anders sind als Prozesse in der industriellen Fertigung bei produzierenden Unternehmen. 67rockwell Consulting hat 2008 eine umfangreiche Untersuchung hinsichtlich des Durchdringungsgrades im deutschen Versicherungsmarkt zu diesem Thema durchgeführt. Dabei wurde im Rahmen von Befragungen festgestellt, inwieweit das oben diskutierte Konzept bereits pilotiert, ausgerollt oder in Versicherungsunternehmen verankert wurde. Die nachfolgende Darstellung zeigt den Implementierungsgrad im deutschen Markt.
Allianz AXA
d ra g s g n u r ie t n e m e l p Im
Swiss Life Skandia
Basler
GE Insurance Solutions
VHV
Victoria
Pilotieren
Ausrollen
Verankern
deutschsprachiger Markt (illustrativ)
1) Die
Unternehmens-/ Prozessleistung wird anhand des Sigmawertes (s ) gemessen. Eine Leistung von Six Sigma bedeutet eine Fehlerquote von 3,4 Fehlern pro 1 Million Möglichkeiten
Abbildung 3: Implementierungsgrad von Six Sigma Konzepten Quelle: Eigene Darstellung
Es zeigte sich, dass sich zum Zeitpunkt der Erhebung ein Teil der Versicherer in einer sogenannten Pilotierungsphase befanden. In der Pilotierungsphase werden ers-
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
371
te Erfahrungen hinsichtlich der Einführung dieses Ansatzes gewonnen. Insbesondere werden hier Prozesse ausgewählt, die hinsichtlich ihrer Komplexität beherrschbar sind und relativ schnell erste valide Ergebnisse bringen. In der sich anschließenden Phase des Ausrollens werden die aus der Pilotierungsphase gewonnenen Ergebnisse auf die Organisation angewandt. In dieser Phase befand sich zu diesem Zeitpunkt die Skandia. Diese hatte mit der Einführung des Konzeptes im Jahr 2004 begonnen und befand sich nach ca. 4 Jahren im „Ausrollen des Konzeptes“. Die Weiterentwicklung war auf einen Zeitraum von 2-3 Jahren angelegt. Wesentlich für diese Phase, war die Schulung der „Senior Manager“ zu Six Sigma Projektleitern, diese sollten als Multiplikatoren den Six-Sigma Gedanken im Unternehmen verbreiten. Innerhalb von 12 Monaten konnten erste messbare Ergebnisse realisiert werden. Nach dem „Ausrollen“ des Konzeptes, gilt es dieses stabil in der Organisation zu verankern. Hier sind als Beispiele die AXA und Allianz hervorzuheben, die im Rahmen ihrer Programme entsprechende organisatorische Verankerung der Six-Sigma Ansätze herstellen konnten. Insbesondere die Allianz konnte scheinbar diese Ansätze derart gut implementieren, dass sie fester Bestandteil ihrer QM-Methodik wurden. Das Allianz Programm OPEX (Operational Excellence) umfasste schon 2008 ein Projektteam von ca. 70 Mitarbeitern, die eingesetzt sind zur Weiterbildung und Multiplikation des OPEX-Know-Hows im Konzern. Wesentliche Erfahrungen, die im Verlauf des Programmes gesammelt werden konnten, waren: x
Langfristig ist es notwendig mindestens 1% der Mitarbeiter zum Black Belt auszubilden.
x
„Schadensprozesse“ eignen sich u.a. besonders zur Optimierung mit der Six Sigma Methodik.
x
Es muss ein entsprechendes Veränderungsmanagement im Unternehmen institutionalisiert werden.
Insgesamt zeigt sich jedoch, dass bislang im deutschsprachigen (Versicherungs-) Raum die Ansätze qualitätsorientierter Veränderungsprozesse noch wenig ausgeprägt sind und es hier einen großen Nachholbedarf gibt. Dies ist sicherlich darin begründet, dass heute der „Reifegrad“ der Versicherungen im Hinblick auf die Implementierung derartiger Konzepte noch nicht hoch genug ist. Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung in der Versicherung ist eine hohe Business Excellence im Versi-
372
Michael Reich
cherungsunternehmen, d.h. die Qualität von Managementkonzepten einerseits, aber auch der Führungskräfte anderseits muss den entsprechenden „Reifegrad“ haben. Zur weiteren Diskussion von Six Sigma Ansätzen in Versicherungen, werden zunächst die methodischen Grundelemente ausgeführt und in einen Gesamtzusammenhang gestellt.
1.3 Methodische Grundelemente aus Six Sigma In zahlreichen Publikationen, Seminarbeiträgen und Praxisberichten über das Thema Six Sigma wird immer wieder dargestellt, welche Leistungen und Erfolge sowohl im produzierenden als auch im dienstleistenden Unternehmen mit diesem Konzept erreicht wurde. Ausgehend von den oben beschriebenen Grundsätzen entwickelte sich Six Sigma als eigenständige Verbesserungsmethodik mit fünf Kernelementen. Die nachfolgende Abbildung 4 illustriert den Zusammenhang der fünf Kernelemente.
Abbildung 4: Kernelemente von Six Sigma Quelle: Eigene Darstellung
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
373
Null-Fehler Strategie Fehler und deren Reduktion oder Elimination sind fest in zahlreichen Managementansätzen verankert, so z.B. die sieben Verschwendungsarten im Lean Management. Es erscheint logisch, dass jeder Fehler, egal wo er auftritt, grundsätzlich einen Verlust darstellt, wenngleich die Fehlerwirkung durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Beispielsweise ist ein Fehler, der beim Versicherer zu Beginn der Wertschöpfungskette auftritt und bis zur Versendung einer Police nicht behoben wird, durch die damit verbundenen hohen Herstellkosten (unterschiedliche Bearbeitungsstationen im Unternehmen) gravierender ist als jener, der erkannt und sofort beseitigt werden kann. Noch schmerzlicher sind Fehler, die im Unternehmen nicht erkannt werden und bis zum Kunden gelangen, wo sie möglicherweise nachhaltig die Kundenzufriedenheit und somit das gesamte Image der Organisation negativ beeinflussen (Gramweger, Jöbstl, Strohrmann, Suchowerskyj, 2009, S.6ff). Six Sigma greift diesen Gedanken konsequent auf und stellt somit den Kunden und die damit verbundene Fehlerbeseitigung in den Mittelpunkt der unternehmensweiten Verbesserungsaktivitäten. Die Definition, was ein Fehler ist, erfolgt direkt anhand der Kundenanforderungen oder aber auch anhand interner Spezifikationen. Prozessorientierung und Messbarkeit Prozesse stellen den Ausgangspunkt der Six-Sigma-Verbesserungen dar. Unter „Prozess“ wird im Allgemeinen die Aufeinanderfolge von zusammenhängenden Arbeitsschritten mit definiertem Anfang und Ende verstanden, die wiederholt durchlaufen werden können. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um Produktions- oder Dienstleistungsprozesse handelt. Fehlerfreie Prozesse in der Versicherung wirken über eine hohe Servicequalität und die daraus resultierende Kundenzufriedenheit bzw. die damit verbundenen Wettbewerbsvorteile und Umsatzsteigerungen schließlich auf den Unternehmensgewinn. Wesentlich einfacher zu quantifizieren sind Fehlerkosteneinsparungen durch fehlerfreie Prozesse (Ausschuss-, Nacharbeitskosten), welche direkt auf das Ergebnis wirken und daher zumeist auch als Messgröße für den Erfolg von Six-Sigma Projekten dienen. Eine konsequente Messung der Verbesserungen durch die Six-Sigma Aktivitäten kann nur dann erfolgen, wenn entsprechende Messsysteme auf finanzieller und nicht finanzieller Basis zur Verfügung stehen. Anhand solcher Messsysteme ist es möglich, den Erfolg von Six Sigma auch für nicht direkt involvierte Stakeholder transpa-
Michael Reich
374
rent zu machen. Dies betrifft vor allen Dingen die oberen Führungskräfte des Unternehmens, welche die Projekte durch ihre persönliche Unterstützung und die Freigabe von Ressourcen fördern sollen. Erst wenn es gelingt, den Führungskräften ein realistisches Bild über die zu erwartenden Ergebnisse zu liefern, um diese dann in der Umsetzung zu erreichen bzw. sogar zu übertreffen, kann Six-Sigma ein erfolgversprechender Ansatz für das Versicherungsunternehmen werden. Es ist daher eine der wesentlichen Voraussetzungen, die konkreten Resultate jeglicher Maßnahme im Hinblick auf Kosteneinsparung bzw. Kundenzufriedenheit zu planen und zu bewerten (Gramweger, Jöbstl, Strohrmann, Suchowerskyj, 2009, S.8ff). Straffes Projektmanagement Verbesserungen finden in Six Sigma-Projekten über die Anwendung unterschiedlicher Methoden statt. Abhängig von der Komplexität unterscheidet man die Methoden: x
„Get Work Out“,
x
„Lean Action Workout“ und
x
„Lean DMAIC“.
Die Abbildung 5 illustriert die einzelnen Methoden im Überblick.
Abbildung 5: Methoden im Überblick Quelle: Eigene Darst ellung
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
375
Insbesondere das „Get Work Out“ eignet sich für einfache, wenig komplexe Fragestellungen innerhalb von Bereichen. Hier sind unmittelbar Arbeitserleichterungen nach Anwendung dieser Methodik zu erreichen. Für Probleme mittlerer Komplexität, z.B. einfache „Prozessärgernisse“ bietet sich die Anwendung von „Lean Action Workout“ an. Dabei wird versucht im Rahmen von 2-3 wöchigen Kurzanalysen, direkte Arbeitserleichterungen herzustellen. Bei komplexen, umfangreichen Prozessthemen bietet sich die „Lean DMAIC“ Methode an, die in der Regel zwischen 3-6 Monaten benötigt. DMAIC steht hierbei für die zu durchlaufenden Projektphasen: x
Define: In der Define-Phase, wird zunächst das Problem bzw. das (finanzielle) Verbesserungsziel konkretisiert und festgelegt. Das Projekt wird mit seinen Ressourcen und Meilensteinen geplant und vom jeweiligen Steering Committee freigegeben.
x
Measure: Die notwendigen Daten werden gesammelt, es werden die maßgeblichen Größen gemessen, um ein Bild über den Istzustand der Prozesse zu erhalten.
x
Analyse: In dieser Phase werden Ursachen und Wirkungen analysiert und, anhand von statistischen Methoden abgesichert.
x
Improve: Nachdem in „Analyse“ die Haupteinflussfaktoren und Fehlerursachen für das festgelegte Projektziel identifiziert wurden, kann hier mit konkreten Prozessverbesserungsmaßnahmen begonnen werden.
x
Control: In dieser letzten Phase des Projektes wird überprüft, ob die angestrebten und in der Define-Phase festgelegten Ergebnisse tatsächlich erreicht wurden und für die weitere Zukunft abgesichert werden können.
Statistische Methoden werden dabei eingesetzt, um neben dem Expertenwissen der Teammitglieder auch noch Zahlen und Fakten in die Verbesserungsarbeit einzubeziehen. Durch die Ergänzung des Erfahrungswissens der Mitarbeiter in Form von mathematischen und statistischen Techniken erhält Six Sigma-Ansatz erst seine besondere Wirkung. Besonderer Schwerpunkt kommt dabei der statistischen Untermauerung von Expertenmeinungen zu (Gramweger, Jöbstl, Strohrmann, Suchowerskyj, 2009, S.9ff). Promotorenkonzept Im Six Sigma-Konzept finden besondere, zum Teil komplexe Methoden und Techniken (z.B. Statistik) intensive Verwendung. Aus Überforderungsgründen kann ungeschulten Mitarbeitern dies nicht, gering geschulten Mitarbeitern nur begrenzt „zuge-
376
Michael Reich
mutet“ werden. Six Sigma setzt daher auf den Einsatz speziell geschulter und trainierter Mitarbeiter, die idealerweise sogar vollzeitlich für Six Sigma-Projekte zur Verfügung gestellt werden sollten. Die meisten Six Sigma-Funktionen tragen aus dem Kampfsport entnommene Gürtelfarben und werden somit je nach Ausbildungsgrad als z.B. „Green Belt“ oder „Black Belt“ bezeichnet. Diese Personen haben als Projektleiter operativ dafür zu sorgen, dass die Verbesserungsprojekte ordnungsgemäß abgewickelt werden. Bei größeren Projekten wird diese Funktion von Black Belts, bei kleineren Projekten von Green Belts ausgeübt. Unter Machtpromotoren sind in Six Sigma jene Führungskräfte zu verstehen, die sich für ein Vorankommen von Six Sigma-Vorhaben in oberen Managementebenen persönlich einsetzen. Der „Six Sigma-Champion“ oder auch „Projektsponsor“ wird in der Regel von Anfang der Projektdefinition an mit eingebunden und unterzeichnet auch die offizielle Verabschiedung der Projektcharta. In der Projektcharta werden alle wesentlichen projektrelevanten Bausteine definiert, wie z.B. der Projektname des Vorhabens, die Ausgangssituation, die Problemstellung und Zielsetzung, der Projektumfang (in Scope /out of Scope), die Projektleitung/Team sowie die involvierten Bereiche. In der nachfolgenden Abbildung 6 wird beispielhaft eine Projekt-Charta dargestellt.
Abbildung 6: Beispiel Projekt-Charta Quelle: Eigene Darstellung
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
377
In der Regel sind die Steering-Comittees mit Mitgliedern des Vorstandes des Versicherungsunternehmens besetzt. Es handelt sich dabei anders als in herkömmlichen Lenkungsausschüssen nicht um ein Gremium, das ausschließlich Ergebnisse abnimmt, sondern um ein mehr oder weniger stark ausgerichtetes Arbeitsgremium. Alleine die Zeitverteilung, ein Drittel Abnahme von Ergebnissen des Projektes und zwei Drittel Beurteilung des Vorgehens zeigt, dass sich der Vorstand hier mit konkreten Fakten auf der Arbeitsebene auseinandersetzen muss. Unsere Erfahrungen mit Six Sigma Projekten in Versicherungen zeigten, dass insbesondere der Vorstand mit einer derartigen operativen Auseinandersetzung einzelner Themen der Projekte nicht vertraut war. Durch dieses Vorgehen wurde dem Vorstand ein tieferer Einblick in die strukturellen Probleme seines Hauses ermöglicht. Des Weiteren führt diese direkte Auseinandersetzung zwischen Mitarbeiter und Vorstand auf der Arbeitsebene zu hohen Motivationseffekten bei den Mitarbeitern, da in der tradierten Aufbaustruktur der Versicherung dieser Weg üblicherweise ausschließlich über die Führungs-kräfte im mittleren Management läuft und so kein direkter Zugang der Mitarbeiter zum Vorstand möglich ist. Bei Veränderungen der Rahmenbedingungen im Projekt oder beim Auftreten von Schwierigkeiten können die Vorstände und Führungskräfte auf direktem Wege, d.h. unabhängig vom normalen Dienstweg, für Unterstützungsleistungen eingeschaltet werden.
1.4
Organisatorische Einbindung und Personalentwicklungskonzepte
Neben der methodischen Grundlagen bei qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen, kommt neben der organisatorischen Einbindung von Green- und Black Belts im Versicherungsunternehmen vor allen Dingen der Personalentwicklung eine besondere Bedeutung zu. In Bezug auf die organisatorische Einbettung im Versicherungsunternehmen existieren grundsätzlich vier Alternativen, die aktuell diskutiert werden: 1. Es besteht die Möglichkeit einen „Sub-Bereich“ zu organisieren, der eine Unterabteilung eines Vorstandsbereiches, z.B. IT-Ressort bildet. Hier können die Black Belts gebündelt werden. Da die Green Belts erfahrungsgemäß für weniger komplexe Projekte eingesetzt werden, sind diese weiterhin in der Linie zu organisieren. Diese Organisationsform hat den Vorteil, dass es evtl. in bestehende Struktu-
Michael Reich
378
ren des Hauses passt. Die Nachteile sind hier jedoch offenkundig, da die Six Sigma Leitung nicht direkt in den Gesamtvorstand berichtet, besteht die Möglichkeit einer hohen Intransparenz und Unsicherheit im Unternehmen. Des Weiteren kann eine zu hohe Distanz zu anderen Fachbereichen entstehen. 2. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Ausgestaltung eines Competence-Centers in gleichartiger Form, wie einen Vorstandsbereich. Auch hier würden, wie oben diskutiert, die Black Belts in einer Organisationseinheit gebündelt werden. Die Green Belts würden weiterhin in der Linie angesiedelt. Diese Organisationsform hätte den Vorteil, dass neben dem entsprechenden Stellenwert in der Gesamtorganisation der Versicherung, hier die Black Belts, fest im Zugriff des Veränderungsmanagers (KVP-/Six Sigma Leiters) sind. Gravierender Nachteil dieser Organisationsform ist, dass die Organisationseinheit zu klein ist, um einen Vorstandsbereich zu begründen. 3. Die Organisation als funktionaler Setup erfolgt ebenfalls auf der Ebene der Vorstandsbereiche. Dabei wären sowohl die Green- als auch die Black Belts in der Linie angesiedelt. Die Nachteile sind hier: o o o
Black Belts sind nicht disziplinarisch an den Veränderungsmanager gebunden, Black Belts sind nur unter Schwierigkeiten in übergreifenden Projekten zu straffen und durch die räumliche Trennung können sich die Black Belts nur bedingt austauschen.
4. Neben den oben beschriebenen Organisationsformen, bietet sich noch die Möglichkeit der Organisation als Competence-Center in der Form einer Stabsstelle an. Diese Stabsstelle würde im günstigsten Falle direkt dem CEO des Versicherungsunternehmens zugeordnet sein. Hier hat man notwendiger Weise alle Vorteile des oben detailliert beschriebenen Competence-Centers, ohne den schwerwiegenden Nachteil der kritischen Größe eines Vorstandsbereiches nachzukommen. Aus der Diskussion der unterschiedlichen Organisationsmodelle, lässt sich die Komplexität der aufgeworfenen Fragestellung erkennen. Aus Projekterfahrungen sollte diese Auseinandersetzung frühzeitig geführt werden, denn wenn die organisatorische
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
379
Einbettung nicht geklärt ist, kann insbesondere die Rekrutierung ausgewählter Black Belts erschwert werden. Neben der organisatorischen Ansiedlung der Einheit für „qualitätsorientiertes Veränderungsmanagement“, gilt es für den Personalbereich, frühzeitig Überlegungen hinsichtlich der Entwicklung eines innovativen Personalentwicklungskonzeptes für das Versicherungsunternehmen zu konzipieren. Grundsätzlich dient die Personalentwicklung dem Ausbau und dem Erhalt der Leistungsfähigkeit und der Flexibilität aller Mitarbeiter vom Auszubildenden bis zum Management rund um die Bereiche Wissen, Können und Wollen, um den aktuellen und zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei ist eine zielorientierte Planung, Umsetzung und Ergebniskontrolle unbedingt erforderlich. Personalentwicklung beinhaltet alle Maßnahmen der Bildung (z.B. Berufsausbildung, Weiterbildung, Umschulung) und Förderung (z.B. Karriereplanung, Mitarbeitergespräch, Coaching) aller Mitarbeiter. Sie umfasst die Konzeption und Implementierung von wichtigen Personalentwicklungs- und Führungsinstrumenten sowie einen Teilbereich der Organisationsentwicklung. Grundsätzlich lässt sich das Feld der Personalentwicklung in zwei Ebenen beschreiben: x
Die erste Ebene, das gesamte Personalentwicklungskonzept des Versicherungsunternehmens, stellt den Rahmen für einzelne Personalentwicklungsmaßnahmen dar und umfasst Aussagen zu grundsätzlichen Haltungen und Vorgehensweisen.
x
Die zweite Ebene stellt die anschließende praktische Umsetzung dar, die sich aus einzelnen, oft recht unterschiedlichen Maßnahmen zusammensetzt. Dabei gilt es zu beachten, dass nicht jede Maßnahme für jeden Zweck geeignet ist. Deshalb ist es notwendig, für jede Anforderung immer den strategisch besten Instrumentenmix zu finden. Welche Ansätze erfolgreich sind, hängt von Faktoren der jeweils spezifischen Unternehmens- und Mitarbeitersituationen ab (Lorenz, Rohrschneider, 2007, S. 284ff).
Michael Reich
380
Abbildung 7: Übergreifendes Personalentwicklungskonzept Quelle: Eigene Darstellung
Wie die oben dargestellte Abbildung 7 zeigt, gilt es hier möglicherweise neue Rollenmodelle, die abseits der Linienorganisation eines Versicherers sind, zu konzipieren und umzusetzen. Hier bietet sich insbesondere an, ein Karrieremodell zu entwickeln, welches Prozess-/Projektmanager bzw. Projektleiter neben der Linienorganisation abbildet. Insbesondere vor dem Hintergrund der Rekrutierung von Black Belts, sind die üblichen Fragestellungen: x
Wie sind die Karriereperspektiven außerhalb der Linienorganisation?
x
Kann man beispielsweise über den Weg des Black Belts Führungskraft in der Linie werden?
x
Sind die Entwicklungspfade genauso effizient wie in der Linie?
x
Gibt es gleichwertige Leitungsfunktionen in der Organisation?
x
Zeitpunkt der Überführung in die Linie,
x
etc.
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
381
frühzeitig zu beantworten. Wie oben ausführlich diskutiert, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass insbesondere mit dem Beginn von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen, frühzeitig sowohl die organisatorische Einbettung der „neu“ entstehenden Organisationseinheit als auch innovative Personalentwicklungskonzepte zu konzipieren sind.
2
Inhaltliches und methodisches Vorgehen bei der Einführung
Die Einführung derartiger „qualitätsorientierter Veränderungsprozesse“ im Versicherungsunternehmen, mit Six Sigma-Ansätzen, bedarf einer detaillierten Planung und Steuerung. Die Projekterfahrungen von 67rockwell Consulting zeigen, dass sich hier ein drei stufiges Vorgehen anbietet. Die nachfolgende Abbildung 8 illustriert das dreistufige Vorgehen.
Abbildung 8: Vorgehen zur Einführung Quelle: Eigene Darstellung
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382
In der Vorbereitungsphase sind zunächst die Rahmenbedingungen zur Etablierung des Lenkungsausschusses bzw. Steering Committee herzustellen. Dazu gehört einerseits die Zusammensetzung mit relevanten Mitgliedern des Vorstandes als auch das Finden weiterer Sponsoren bzw. Champions für einzelne Projektvorhaben. Insbesondere für das Steering Committee sind am Eingang die Aufgaben festzulegen und mit den Mitgliedern abzustimmen. In der Regel sind nachfolgende Aufgaben des Gremiums relevant: x
Auswahl der Verbesserungsprojekte,
x
Auswahl des Champion für jedes Projekt,
x
Beurteilung und Abnahme der Projekt-Charter,
x
Budgetfreigabe,
x
Abnahme der einzelnen Projektergebnisse sowie
x
Verankerung zur Unternehmensstrategie sicherstellen.
Nachdem das Lenkungsgremium (Steering Committee) etabliert ist, gilt es, die Projekte zu selektieren, die in der Kick-off Veranstaltung abzunehmen sind. Es sollte hier systematisch vorgegangen werden, da sich nicht alle Vorhaben mit dem Six SigmaAnsatz lösen lassen. Zu diesem Zweck prüft man jedes Vorhaben entsprechend der nachfolgend dargestellten „Projektselektionsleiter“.
Six Sigma in Versicherungsunternehmen
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Abbildung 9: Projektauswahlverfahren Quelle: Eigene Darstellung
Nach Auswahl der Projekte mit der entsprechenden Methode, sind die einzelnen Projekte zu priorisieren. Erfahrungsgemäß sind zu Beginn nicht genügend Ressourcen vorhanden, um alles in der gewünschten Qualität abzuarbeiten. Dazu bietet sich an, die Projekte entsprechend unternehmensspezifischer Kriterien zu beurteilen und anschließend zu priorisieren. Dabei können Kriterien wie z.B. Kundenzufriedenheit, Machbarkeit der Projekte, Kosten-/ Nutzenbetrachtung sowie Unterstützung der jeweiligen Unternehmensstrategie als gewichtete Kriterien Berücksichtigung finden. Um ein hohes Commitment der Vorstandsmitglieder auf das Gesamtvorhaben zu erreichen, sollte ein „Awareness Training“ durchgeführt werden. Dabei wird weniger Wert auf die Schulung statistischer Verfahren gelegt, als vielmehr deren Anwendung in praktischen Beispielen. So wurden beispielsweise im Rahmen eines Projektes die Vorstände mit einer sogenannten „Katapult-Übung“ im Schnellverfahren in die methodischen Ansätze von Six Sigma eingeführt. Im Weiteren gilt es in der Vorberei-
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tungsphase die notwendigen Richtlinien für Personal und Finanzen zu erstellen und mit den betroffenen Fachbereichen abzustimmen. Wesentlich ist es auch, sich frühzeitig mit der Ausarbeitung des Kommunikationskonzeptes zu befassen. Erfahrungsgemäß, ist es zwingend notwendig den Betriebsrat frühzeitig in das Gesamtvorhaben einzubinden, da ansonsten mit möglichen „Blockaden“ zu rechnen ist. In der Vorbereitungsphase werden sowohl die Black- als auch die Green Belts für die späteren Projekte ausgewählt. Nachdem festgelegt wurde aus welchen Ressorts die Greenund Black Belts zu rekrutieren sind, wurden die Ressortvorstände aufgefordert, Vorschläge an das Six Sigma Team zu liefern. Diese Vorschläge zu den genannten Mitarbeitern wurden im Steering Committee diskutiert und anschließend mindestens für Black Belts ein Assessment Center durchgeführt. Aufgrund des aufwändigen Auswahlverfahrens sollte das Personalentwicklungskonzept, wie oben ausführlich diskutiert, vorliegen. Im Anschluss der Vorbereitungsphase, erfolgt in der Pilotphase die eigentliche Ausbildung der Green- und Black Belts. Daneben ist es sinnvoll, die ersten Pilotprojekte zu starten, damit die methodische Grundausbildung direkt angewendet wird. Die Startprojekte sollten nicht zu komplex sein, um die in der Ausbildung befindlichen Mitarbeiter nicht zu demotivieren. Nachdem erste Erfahrungen mit den Pilotprojekten vorliegt, sollte die Kommunikation ins Versicherungsunternehmen intensiviert werden. Möglichkeiten sind hier, evtl. über das Intranet Ergebnisse zu einzelnen Projekten zu veröffentlichen. In der Rollout-Phase beginnen alle weiteren Ausbildungswellen von Green- und Black Belts sowie die Ausbildung von internen Trainern, die anschließend die Aufgabe der externen Ausbildung im Versicherungsunternehmen übernehmen. Desweiteren, werden entsprechend dem oben ausführlich beschriebenen Projektauswahlverfahren weitere Projekte in die Umsetzung gebracht. Wesentlich in dieser Phase ist es, den gesamten Regelprozess der Prozessoptimierung und späteren Steuerung zu initiieren. Nachdem ausführlich das strukturierte Vorgehen für die Einführung von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen auf Basis von Six Sigma-Ansätzen diskutiert wurde, sollen im nachfolgenden Abschnitt die kritischen Erfolgsfaktoren derartiger Vorhaben diskutiert werden.
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Kritische Erfolgsfaktoren bei qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen in der Versicherung
Die erfolgreiche Umsetzung von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen richtet sich an acht „kritischen“ Erfolgsfaktoren in vier Bereichen aus: Allgemein 1. Das Sponsoring durch das Top-Management ist ein entscheidender Erfolgsfaktor bei der Einführung des Six Sigma-Ansatzes. Organisation/Kommunikation 2. Mitarbeiterorientierte Kommunikation ist erfolgskritisch für die Einführung von „Six Sigma“ orientierten Veränderungsprozessen im Unternehmen. 3. Die organisatorische Ansiedlung im Unternehmen ist frühzeitig zu klären, um dem Aspekt der Nachhaltigkeit Rechnung zu tragen. 4. Frühzeitige Einbindung in ein übergreifendes Personalentwicklungskonzept bietet engagierten Mitarbeitern Karrierechancen. Mitarbeiter 5. Der Know-How Transfer auf die Mitarbeiter muss unmittelbar nach Projektstart erfolgen und sukzessive ausgebaut werden. 6. Eine angemessene Anzahl von Black- und Green Belts ist entscheidend für die erfolgreiche Etablierung. 7. Nachhaltiger Erfolg wird durch die Einbeziehung aller Mitarbeiter im Rahmen eines „Bottom-up-Ansatzes“ erreicht. Ansatz 8. Die Kombination aus „Top-down und Bottom-up“ Vorgehensweise führt zu optimalen Ergebnissen in der Umsetzung.
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Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch die Einführung von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen auf der Basis von Six Sigma-Ansätzen mehrere Benefits für das Unternehmen verbunden sind. Von Beginn der Initiative an, werden messbare finanzielle Resultat erzielt und können der Gesamtorganisation kommuniziert werden. Des Weiteren orientiert sich dieser Ansatz radikal am Kunden, sowohl
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Intern als auch Extern und verändert damit das Verhalten der Mitarbeiter. Schrittweise wird ein Business Process Management System aufgebaut, das dem TopManagement die Steuerung des Unternehmens auf Basis von Zahlen, Daten und Fakten ermöglicht sowie klare Verantwortlichkeiten in der Organisation schafft. Daneben werden die Leistungen der Mitarbeiter messbar und objektivierbar. Ein weiterer wesentlicher Erfolg ist die Auflösung des in Versicherungsunternehmen typischen vertikalen (Silo-) Denkens, durch prozessorientiertes Denken.
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Literaturverzeichnis: Deloitte C. (2007): Versicherungsunternehmen-auf dem Weg zur Industriealisierung, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (ZfbF), 2007, S. 50ff. Harvard Business manager: Was ist…Six Sigma, 2005, S. 45ff. Hillenkötter, D. (2007): Erfahrungen der Deutschen Automobilindustrie mit Just-In-Time-, Toyota- und Lean-Production, Seminar:“Lohn und Leistung“, Ruhr-Universität Bochum. Kostka, K./ Kostka, C. (2006): Der kontinuierliche Verbesserungsprozess, Hanser. Lieber, K. (2004): Six Sigma in Banken, 1. Aufl., Frankfurt a. M.. Reich, M. (2003): Innovatives Kundenbindungs-Controlling, Hampp. Töpfer, A. (2007): Six Sigma in Banken und Versicherungen, 3. Aufl., Springer. Uzzi, J., A., Attenello, D. (2004): Six Sigma: Ein messbarer Ansatz zur Qualitäts-Services, in: Insurance Journal, 2004, S. 1-3.
Produktinnovationen bei Banken Christina Schrader*
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Produktinnovationen in Banken ...................................................................390
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Von der Aktie zum strukturierten Produkt – Entwicklung des Marktes von Finanzprodukten im Zeitverlauf ...............................................391
3
Produktinnovationen am Beispiel von Zertifikaten .......................................393 3.1 Grundgedanke und Funktionsweise von Zertifikaten.........................393 3.2 Ausprägungsformen von Zertifikaten.................................................394 3.3 Kritische Würdigung von Zertitikaten .................................................396
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Ausblick........................................................................................................398
Literaturverzeichnis ................................................................................................400
* Dr. Christina Schrader ist Kundenberaterin im Private Wealth Management der BHF Bank in Frankfurt am Main.
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Produktinnovationen in Banken
Im Gegensatz zu vielen anderen Branchen, in denen innovative Produktlösungen eines Anbieters das Kerndifferenzierungsmerkmal zu Wettbewerbern darstellen, ist dies auf Banken nicht in gleicher Weise übertragbar. Gleichwohl lassen sich jedoch auch im Bank- und Finanzbereich verschiedene Dimensionen von Innovationen identifizieren, die im Folgenden kurz abgegrenzt werden sollen. Büschgen/Büschgen (2002) unterscheiden in diesem Zusammenhang Service-, Prozess- und Leistungsinnovationen. Serviceinnovationen stellen neue Dienstleistungen dar, die über das traditionelle Bankgeschäft hinaus gehen. Ein bekanntes Beispiel ist hierbei die Entwicklung des Online Banking. In diesem Zusammenhang zielen darüber hinaus viele Serviceinnovationen auf die Erhöhung der Sicherheitsstandards ab. So wurde die Benutzung des Online Banking vor dem Hintergrund einer größtmöglichen Sicherheit fortdauernd weiterentwickelt und gerade im Bereich der zur Legitimation von Buchungsvorgängen erforderlichen sogenannten Transaktionsnummern, kurz TAN, um kontinuierlich höhere Sicherheitsstandards in Form von innovativen Servicelösungen ergänzt. Prozessinnovationen beschreiben neue und effizientere Entwicklungen der innerbetrieblichen Prozessabläufe. Als Beispiel kann hierbei eine zentralisierte Orderabwicklung genannt werden, bei der die einzelnen Kaufaufträge von Kunden gebündelt und in Form einer einzelnen übergreifenden Kauforder ausgeführt werden. Die erworbenen Wertpapiere werden sodann den jeweiligen Kunden zugeteilt, wodurch der Aufwand und die damit verbundenen Kosten für die Bank erheblich reduziert werden können. Leistungsinnovationen schließlich bezeichnen die Entwicklung neuer Finanzprodukte. Beispielhaft lassen sich hier die neuen Investitionsmöglichkeiten in Solarfonds anführen. Im Fokus der folgenden Ausführungen sollen hierbei die Leistungs- und damit die Produktinnovationen stehen, welche in der Regel für alle Teilnehmer eines bestimmten Marktes mehr oder weniger simultan erhältlich sind. Aus diesem Grund ist die Differenzierung über das reine Produktangebot für Banken erheblich erschwert. Dabei lassen sich Leistungsinnovationen gemäß den jeweiligen Dimensionen nach dem Subjekt, der Intensität sowie dem Zeithorizont der Innovation unterscheiden. Hinsichtlich des Subjekts geht es dabei um die Frage, für wen die jeweilige Leistung eine Innovation darstellt. So werden gerade im Bereich der Finanzprodukte Innovationen vielfach erstmals auf dem US-amerikanischen Markt neu entwickelt und verbreiten sich anschließend erst mit einem gewissen Zeitabstand auf den weltweiten Märkten. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Intensität lassen sich Innovationen weiH. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_19, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Produktinnovationen bei Banken
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terhin danach unterscheiden, ob diese eine neue Kombination altbewährter Produkte sind oder beispielsweise aufgrund einer Gesetzesänderung völlig neuartige Produkte darstellen, die den Anbietern bisher so nicht zulässig waren. So stellen beispielsweise Strukturierte Produkte eine neue Form von Aktieninvestitionen dar, welche je nach Ausgestaltung die Partizipation an steigenden, fallenden oder seitwärts laufenden Märkten ermöglichen. Dagegen wurde Privatanlegern die Investition in Hedge Fonds erstmals überhaupt durch das am 1. Januar 2004 in Kraft getretene sogenannte Investmentmodernisierungsgesetz möglich, nach dem der Einsatz von Leerverkäufen und Fremdfinanzierungshebeln in Deutschland zulässig wurde. Hierbei handelt es sich folglich um ein für deutsche Privatinvestoren gänzlich neuartiges Produkt. Der zeitliche Horizont einer Produktinnovation bringt schließlich die Frage auf, wie lange eine Produktneuerung als „Innovation“ angesehen wird. Obgleich die Innovationsfrequenz bei Finanzprodukten, wie eingangs beschrieben, nicht mit innovationsträchtigen Branchen wie beispielsweise der Telekommunikations- oder Automobilindustrie vergleichbar ist, verbreiten sich vermeintliche Finanzinnovationen aufgrund ihrer Nicht-Schützbarkeit besonders schnell, sodass sich die allgemeine Wahrnehmung als solche entsprechend stark verkürzt.
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Von der Aktie zum strukturierten Produkt - Entwicklung des Marktes von Finanzprodukten im Zeitverlauf
Die Entwicklung und Einführung von Finanzprodukten soll im Folgenden anhand einiger selektierter, bedeutender Innovationen in diesem Bereich skizziert werden. So geht beispielsweise die Geschichte der Aktie, als klassischstes und traditionellstes Finanzprodukt, bis zu den Anfängen des siebzehnten Jahrhunderts zurück. Zur damaligen Zeit schickten Amsterdamer Gewürzhändler jährlich bis zu 70 Schiffe nach Indonesien, um von dort Pfeffer zu importieren. Der Handel entwickelte sich dabei zu einem derart erträglichen Geschäft, dass sich zunehmend zahlreiche Firmen daran beteiligen und in den Handel einsteigen wollten. Die größten unter ihnen schlossen sich im Jahr 1602 zur Vereinigten Ostindischen Handel-Kompanie (V.O.C.) zusammen, an der sich sowohl Städte und Provinzen als auch private Kaufleute in Form von Gesellschaftsanteilen beteiligen konnten. Dabei konnten diese Anteile erstmalig auch zwischen den Investoren gehandelt werden, ohne dass die Gesellschaft Kapital zurückzahlen musste. Die V.O.C. wird daher im Allgemeinen als erste Aktiengesellschaft im modernen Sinn angesehen.
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Etwa 200 Jahre später, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, entwickelten die Schotten den ersten Investmentfonds, als diese an dem vermeintlich lukrativen Wirtschaftsaufschwung in den USA partizipieren und somit in ausländische Aktien investieren wollten. Aufgrund der großen Distanz und der dadurch erheblich erschwerten Einschätzung und Beurteilung geeigneter Investitionsobjekte legten die schottischen Anleger ihr Kapital zusammen und ließen es von einem Treuhänder direkt in den USA verwalten. Die für damalige Verhältnisse innovative Form der Kapitalanlage verbreitete sich jedoch zunächst sehr langsam. So wurde die erste Investmentgesellschaft in den USA erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im Jahr 1894, gegründet. In Deutschland wurde diese Idee sogar erst ein weiteres halbes Jahrhundert später, im Jahr 1949, aufgegriffen, als mit der Gründung der „Allgemeinen Deutschen Investment GmbH“ in München der erste deutsche Aktienfonds aufgelegt wurde. Der erste Rentenfonds in Deutschland folgte im Jahr 1966. Aus der Idee heraus, Privatanlegern ein Produkt anzubieten, bei dem sie ihre temporäre Liquidität flexibel und jederzeit verfügbar anlegen und gleichzeitig eine höhere Rendite als auf dem gering verzinsten Girokonto erzielen können, entstanden 1970 sodann die ersten Geldmarktfonds in den USA. Auch hier erfolgte die Einführung am Finanzplatz in Deutschland erst wesentlich später im Jahr 1994. In den vergangenen zwei Dekaden hat sich die Entwicklung innovativer Produkte nunmehr erheblich beschleunigt. So begann die Erfolgsgeschichte der sogenannten Zertifikate mit der erstmaligen Emission eines Indexzertifikats auf den DAX im Jahr 1989 durch die Dresdner Bank. Im Jahr 1995 folgte die Einführung von Discountzertifikaten. Gleichwohl war die Nachfrage zum damaligen Zeitpunkt noch sehr begrenzt. Mit dem Platzen der High-Tech-Blase wuchs das Interesse jedoch an risikoärmeren Produkten, woraus die im Jahr 2003 erstmalige Einführung von Bonuszertifikaten resultierte. Für besonders konservative Anleger wurden zudem noch Garantiezertifikate entwickelt. Auch im Bereich der geschlossenen Beteiligungen führten immer neue Trends zu innovativen Produkteinführungen. So wurde beispielsweise im Jahr 2002 erstmals ein geschlossener Fonds für gebrauchte Lebensversicherungen in Deutschland aufgelegt. Mit der Novellierung des Erneuerbare Energien Gesetzes im Jahr 2004 wurde außerdem die Grundlage für die Entwicklung innovativer Umwelt- und Energiefonds geschaffen. Zudem wurden im Jahr 2004 erstmalig die in den USA schon länger verbreiteten Hedge Fonds als handelbare Investmentfonds zugelassen. Eine der jüngsten Produktinnovation auf dem deutschen Markt stellen außerdem die 2007 einge-
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führten Real Estate Investments Trusts dar, welche Anlegern die Investition in Immobilienanlagen in Form von an der Börse gehandelten Anteilen ermöglichen. Fasst man die Entwicklung der Finanzmärkte und die Einführung innovativer Produkte im Zeitverlauf zusammen, so zeigt sich, dass es insbesondere in den letzten beiden Dekaden zu einem sprunghaften Anstieg von Finanzprodukten gekommen ist. Mit zunehmender Geschwindigkeit sind dabei nicht nur die Ausprägungsarten dieser Produkte, sondern vor allem auch deren Komplexität gestiegen. Insbesondere in jüngster Vergangenheit wurden im Zuge der Finanzkrise die Chancen und Risiken von komplexen Finanzprodukten, deren genaue Funktionsweise sich insbesondere Privatanlegern kaum noch erschließt, kontrovers diskutiert. Im Zentrum dieser Diskussion stand dabei oftmals die Produktgruppe der Zertifikate. Im weiteren Verlauf soll daher am Beispiel der Zertifikate diskutiert werden, inwieweit Finanzinnovationen einen Segen oder einen Fluch für private Investoren darstellen. Hierzu soll diese Produktgruppe zunächst erläutert und anschließend vor dem Hintergrund ihres Chance-Risiko-Profils für Privatanleger bewertet werden.
3
Produktinnovationen am Beispiel von Zertifikaten
3.1
Grundgedanke und Funktionsweise von Zertifikaten
Zertifikate sind eine besondere Form von Wertpapieren, welche man zu den sogenannten „Strukturierten Produkten“ zählt. Der Grundgedanke hierbei ist, dass die Wertentwicklung eines Zertifikats an einen sogenannten Basiswert, beispielsweise eine Aktie, eine Kombination mehrerer Aktien oder einen Index, gekoppelt ist. Dabei sind die Zertifikate speziell auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten, die von standardisierten Finanzinstrumenten nicht erfüllt werden können. Hierzu werden sogenannte Derivate, das heißt Finanzinstrumente, deren Preis oder Wert von einem Basiswert abhängt, und Geldmarktinstrumente miteinander kombiniert, um Strukturen zu bilden, die sich durch erhebliche Kostenersparnisse beziehungsweise bewußt gesteuerte Risiko-Rendite-Profile auszeichnen, welche die standardisierten Geldmärkte in dieser Form nicht bieten können. Auf diese Weise lassen sich daher Strukturen erzeugen, die exakt auf die Preiserwartungen und die Risikoneigung des Kunden zugeschnitten sind. Weiterhin lassen sich hierdurch Strukturen mit einem RisikoRendite-Verhältnis erstellen. Ferner lassen sich über Zertifikate jedoch auch gänzlich neue Strukturen entwickeln, die vor dem Hintergrund der Steuerbelastung effizienter
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als deren einzelne Komponenten sind, sodass der Anleger folglich auch auf diese Weise profitiert. Je nach Art und Ausgestaltung des Zertifikats entstehen für den Anleger besondere Chancen und Risiken. Für eine kritische Bewertung der Vor- und Nachteile von Investitionen in Zertifikate sollen im Folgenden zunächst die bedeutendsten Zertifikatstypen skizziert und in ihrer Funktionsweise erläutert werden.
3.2
Ausprägungsformen von Zertifikaten
Generell lassen sich Zertifikate in so genannte Partizipationszertifikate einerseits und Zertifikate mit einem definierten Rückzahlungsprofil andererseits unterscheiden. Bei den Partizipationszertifikaten richtet sich der Wert des Zertifikats dabei nach dem Wert des jeweiligen Basiswerts. Für den Anleger bietet sich hierbei die Möglichkeit, in jegliche Form von Basiswerten flexibel und kostengünstig investieren zu können, ohne diesen selbst kaufen zu müssen. Dies ist insbesondere dann vorteilhaft, wenn es sich bei dem Basiswert um einen aus vielen Einzelwerten bestehen Index oder um nicht in Deutschland handelbare, exotische Basiswerte handelt. Partizipationszertifikate sind in ihrer Laufzeit in der Regel nicht begrenzt. Als Beispiele für Partizipationszertifikate können hierbei Tracker-, Index- oder Basketzertifikate angeführt werden. Generell spielen Partizipationszertifikate gemessen am Gesamtvolumen emittierter Zertifikate nur eine untergeordnete Rolle. Volumenmäßig wesentlich bedeutender sind Zertifikate mit einem definierten Rückzahlungsprofil. Der Wert des Zertifikats nimmt hierbei zur Fälligkeit einen von vorab festgelegten Bedingungen abhängigen Wert an. Die Laufzeit wird bei der Emission festgelegt. Als bedeutendste Zertifikatearten dieser Kategorie können Garantie-, Bonus- und Discountzertifikate genannt werden, welche nachfolgend in ihren Grundzügen erläutert werden sollen. Garantiezertifikate Garantiezertifikate, auch Kapitalschutzzertifikate genannt, gewähren dem Anleger die Sicherheit, am Laufzeitende mindestens das eingesetzte Kapital zurück zu erhalten. Selbst wenn der dem Zertifikat zugrunde liegende Basiswert zur Fälligkeit unter dem Wert des Zertifikates liegt, erhält der Investor hierbei den Nominalbetrag des Zertifikats, während er gleichzeitig an Wertsteigerungen des Basiswerts direkt partizipiert. Dabei bezieht sich die Kapitalgarantie stets auf den Nennbetrag des Zertifikats, das
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heißt auf 100, und ausschließlich auf das Fälligkeitsdatum. Während der Laufzeit kann der Kurs des Zertifikats folglich unter den Ausgabekurs fallen, sodass der Anleger bei einer Veräußerung entsprechende Verluste erleiden würde. Behält der Anleger das Zertifikat jedoch bis zum Fälligkeitsdatum, sind seine maximalen Verluste auf die Kosten des Zertifikats, beispielsweise in Form eines Ausgabeaufschlags oder eines Handelspreads, begrenzt. Mit einem Garantiezertifikat erkauft sich der Anleger folglich eine Risiko-Minimierung mit einer unterdurchschnittlichen Teilnahme an etwaigen Wertsteigerungen. Bonuszertifikate Bonuszertifikate zahlen dem Anleger zum Fälligkeitsdatum einen vorab festgelegten Bonus, wenn der Kurs des zugrunde liegenden Basiswerts während der Laufzeit oberhalb einer vorher festgelegten Barriere notiert und diese Barriere während der Laufzeit niemals berührt oder unterschritten hat. Notiert der Basiswert zum Fälligkeitszeitpunkt oberhalb der definierten Bonusgrenze, erhält der Anleger den jeweiligen Kurswert und partizipiert somit direkt an dieser positiven Wertentwicklung. Fällt der Basiswert jedoch während der Laufzeit jemals unter die Barriere, entfällt der Bonusanspruch und der Anleger erhält bei Veräußerung den sodann gültigen Kurs des Basiswerts. Bonuszertifikate eignen sich folglich zur Spekulation auf moderate Kursrückgänge oder Seitwärtsbewegungen. Discountzertifikate Discountzertifikate verbriefen einem Anleger das Recht, am Ende ihrer festgelegten Laufzeit entweder den Basiswert oder einen vorher festgelegten Geldbetrag, den so genannten Cap, in bar zu erhalten. Dabei wird das Discountzertifikat gegenüber dem Basiswert mit einem Preisabschlag (Discount) angeboten, wodurch sich eine Risikobegrenzung im Vergleich zu einem Direktinvestment in den Basiswert ergibt. Liegt der Kurs des Basiswerts zum Laufzeitende unter dem Cap, wird dem Anleger die Aktie in das Depot gebucht, sodass sich aufgrund des Discounts eine positive Rendite für den Anleger ergibt. Notiert der Basiswert zum Fälligkeitsdatum oberhalb des Caps, wird die Rückzahlung durch den Betrag des Caps begrenzt. Notiert der Basiswert dagegen unterhalb des Kaufpreises des Discountzertifikats erhält der Anleger die Aktie und erleidet folglich einen Verlust. Weitere Formen und Exoten Neben diesen eher klassischen Ausgestaltungen gibt es darüber hinaus jedoch noch eine scheinbar nicht zu erfassende Vielzahl komplexerer und exotischer Zertifikatsstrukturen. So kann ein Anleger beispielsweise mit sogenannten Double Chance Zer-
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tifikaten innerhalb einer bestimmten Kursspanne an Kurssteigerungen des Basiswerts doppelt profitieren. Sofern der Basiswert dabei über den vorab definierten Höchstbetrag steigt, erhält der Investor sowohl den Höchstbetrag als auch die Differenz zwischen diesem und dem Anfangsbetrag ausbezahlt. Liegt der Basiswert am Laufzeitende unter dem Anfangsbetrag, kann die Auszahlung dabei in Form von Aktien erfolgen. Bei sogenannten Expander-Zertifikaten kann der Anleger überproportional an Kurserholungen partizipieren, wenn der zugrundeliegende Basiswert während der Laufzeit bestimmte vordefinierte Aktivierungsschwellen berührt oder unterschreitet. Dabei wirken sich mögliche Kurserholungen umso positiver für den Anleger aus, je mehr Aktivierungsschwellen während der Laufzeit berührt oder unterschritten und zum Laufzeitende wieder überschritten wurden. Für den Fall, dass keine Aktivierungsschwellen berührt oder unterschritten werden, ist das Zertifikat direkt an die Wertentwicklung des Basiswerts gekoppelt. Highflyer-Zertifikate bieten dem Anleger die Möglichkeit, einen während der Laufzeit an einem der monatlichen Beobachtungstage einmal errechneten Höchststand des Basiswerts zum Fälligkeitstermin abzusichern, auch wenn der Index zum eigentlichen Fälligkeitstermin niedriger notiert. Darüber hinaus existieren unzählige weitere Ausprägungen, deren abschließende Erläuterung in diesem Rahmen nicht möglich ist. Die beispielshafte Darstellung der drei vorgestellten Typen zeigt jedoch, dass der Fantasie möglicher Strukturierungen offenbar keine Grenzen gesetzt werden und Banken Anleger hierbei mit immer neuen Ideen zur Optimierung ihres jeweiligen individuellen Rendite-Risiko-Profils ansprechen.
3.3
Kritische Würdigung von Zertifikaten
Wie bereits erläutert, ist es dem Anleger je nach Ausgestaltung des Zertifikats möglich, sowohl an steigenden als auch an fallenden oder sich seitwärts bewegenden Wertentwicklungen des Basiswerts zu partizipieren. Zertifikate erlauben dem Anleger somit eine auf seine jeweiligen Anlageziele, Markteinschätzung und Risikobereitschaft angepasste individuelle Portfoliogestaltung. Da Zertifikate in der Regel an mindestens einer Börse fortlaufend notiert und somit börsentäglich gehandelt werden, weisen Zertifikate in der Regel eine hohe Liquidität auf, wodurch dem Anleger im Hinblick auf den Kauf beziehungsweise die Veräußerung eine weitgehende Flexibilität gewährleistet wird. Neben den Chancen unterliegen Zertifikate jedoch auch einer Reihe von Risiken. So spiegelt der Preis des Zertifikats die Kursbewegungen des zugrunde liegenden Ba-
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siswerts wieder. Das generelle Kursrisiko von Zertifikaten ergibt sich folglich aus der jeweiligen Schwankungsintensität des Basiswerts, auch als Volatilität bezeichnet. Je größer die Volatilität des Basiswerts, desto größer sind auch die Preisschwankungen des Zertifikats und damit dessen Kursschwankungen. Darüber hinaus erfolgen bei Zertifikaten in der Regel keine laufenden Ausschüttungen. Die einzige Ertragschance liegt daher in einer Steigerung des Kurswerts des Zertifikats. Im Gegensatz zu Aktien und Anleihen können Kursverluste demnach nicht durch Ausschüttungen ganz oder teilweise kompensiert werden. Weiterhin kann sich aus der besonders großen Vielfalt von Zertifikaten und Emittenten ein Risiko für den Anleger ergeben. So ist die Auswahl der geeigneten Zertifikate für den Kunden aufgrund der mangelnden Transparenz des Marktes unter Umständen nur sehr schwer möglich. Besondere Unübersichtlichkeit erlangt der Markt darüber hinaus durch die teilweise sehr exotischen Bezeichnungen, mit denen die verschiedenen Banken ihre oftmals sehr ähnlich strukturierten Zertifikate betiteln. Angesichts der Vielzahl der verschiedenen Zertifikatsstrukturen kann außerdem gegebenenfalls das jeweilige Emissionsvolumen, das heißt die Anzahl der von einem Zertifikat ausgegebenen Papiere, mitunter sehr gering sein. Hieraus ergibt sich für den Anleger das Risiko, dass er die Zertifikate aufgrund der Marktenge nicht zu jedem gewünschten Zeitpunkt kaufen oder verkaufen kann beziehungsweise dies nur mit sehr hohen Geld-Brief-Spannen und entsprechenden Kosten für den Anleger möglich ist. Gelegentlich stellen die Emittenten in diesen Fällen für die von ihnen ausgegebenen Zertifikate selber Kurse. Einen Rechtsanspruch hierauf hat der Anleger jedoch nicht, sodass er sich mit dem Kauf wenig gehandelter Zertifikate in eine hohe Abhängigkeit des Emittenten und seiner Bereitschaft zur Stellung von Kursen begibt. Des Weiteren gibt es bei Zertifikaten, im Gegensatz zu Investmentfonds, keine Pflicht zum Ausweis der Gebührenstrukturen für den Emittenten. Da der Anleger die genauen Kosten in Verbindung mit dem Produkt somit vielfach nicht eindeutig nachvollziehen kann, ergibt sich hieraus eine weitere Unsicherheitskomponente. Als wichtigster Punkt vor dem Hintergrund des zertifikatespezifischen Risikoprofils ist jedoch insbesondere die Bonität des jeweiligen Emittenten zu beachten. So sind Zertifikate in ihrer Rechtsnatur eine besondere Form einer Schuldverschreibung der emittierenden Bank. Ein besonderes Risiko ergibt sich folglich aus der Abhängigkeit deren jeweiliger Zahlungsfähigkeit. So gehören Zertifikate weder zu dem separat geführten Sondervermögen, wie es beispielsweise bei Investmentfonds der Fall ist, noch wird das in Zertifikaten angelegte Vermögen durch den sogenannten Einlagensicherungsfonds, in den alle namhaften deutschen Kreditinstitute zum Schutz der
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Kundengelder im Insolvenzfall einzahlen, geschützt. Bei Zertifikaten droht dem Anleger somit unter Umständen sogar der Totalverlust seines eingesetzten Kapitals im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Emittenten. Über viele Jahre hinweg erfreuten sich Zertifikate einer immer steigenden Beliebtheit bei Privatkunden. So weckten die im vorigen Abschnitt aufgezeigten, immer exotischeren Innovationen dieser Produktkategorie zunehmend das Interesse der Investoren, die die immer komplexeren Zertifikatesstrukturen euphorisch weiter in ihre Depots kauften. Dabei ist der deutsche Markt für Zertifikate aufgrund der besonders großen Vielfalt an strukturierten Produkten weltweit eine Besonderheit, da der Gesetzgeber - im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten beispielsweise - den deutschen Kapitalmarktteilnehmern eine weit höhere Flexibilität bei der Ausgestaltung der Produkte lässt. So erreichte das in Zertifikate investierte Marktvolumen seinen Höchststand im September 2007 mit insgesamt rund 139 Mrd. Euro. Erst nach der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 wurde vielen Anlegern bewusst, dass Zertifikate nicht nur Ertragschancen bieten, sondern im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Emittenten auch ganz erhebliche Verlustrisiken bergen.
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Ausblick
Wie in den voran gegangenen Ausführungen herausgestellt werden konnte, bieten die verschiedenen innovativen Zertifikatsstrukturen den jeweiligen unterschiedlichen Anlegerbedürfnissen entsprechende Renditechancen und erscheinen vor diesem Hintergrund als strategischer Portfoliobestandteil durchaus sinnvoll. Gleichwohl ließ sich ebenfalls zeigen, dass Investitionen in Zertifikate stets auch mit einem nicht zu unterschätzenden Risiko verbunden sind, welches sich oftmals insbesondere dadurch exponentiell verstärkt, dass die Anleger mit der Einschätzung und Bewertung der jeweiligen Risikostrukturen überfordert sind. Ein in vielen Banken anzutreffender starker Produktvertrieb erhöht dabei nochmals die Gefahr, dass Anlegern Zertifikate verkauft werden, die ihre Kenntnisse in diesem Bereich übersteigen und diese sich somit ausschließlich auf die Empfehlung ihres Bankberaters verlassen können. Vor diesem Hintergrund entwickeln verschiedene Banken aktuell komprimierte und übersichtliche Informationsblätter, die sich inhaltlich an Vorschlägen des Bundesverbraucherministeriums und Vorgaben der EU-Kommission orientieren. Dabei soll dem Anleger in kompakter Weise erklärt werden, um was für ein Anlageprodukt es sich handelt, wer es verkauft, wie es funktioniert und welche Rendite bei verschiedenen Marktentwicklungen zu erwarten ist. Darüber hinaus werden die genauen Kosten-
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strukturen ausgewiesen, das jeweilige Risiko beschrieben sowie steuerliche Besonderheiten erläutert. Über die Sinnhaftigkeit derartiger Informationsblätter wurde zuvor ausführlich diskutiert. Während Verbraucherschützer diese schon lange als wichtige Grundlage für die Aufklärung der Anleger betrachteten, scheuten viele Banken neben dem Mehraufwand insbesondere den expliziten Ausweis der Gebührenstrukturen. Obgleich diese Produktblätter den intensiven Beratungsprozess nicht ersetzen können, bieten sie dennoch im Vergleich zu den oftmals über 200 Seiten umfassenden Emissionsprospekten eine durchaus übersichtlichere Auflistung der Kernpunkte eines Produktes. Die bisherige Resonanz stellt sich dabei durchaus positiv dar, was sicherlich unter anderem einer - vor dem Hintergrund der jüngsten Verwerfungen im Zusammenhang mit Zertifikatsstrukturen - aktuell besonders großen Verunsicherung der Verbraucher geschuldet ist. Es zeigt sich, dass neben der Entwicklung innovativer Finanzprodukte auch bei deren Vertrieb mitunter neue Wege zu gehen sind, um das Vertrauen der Anleger für diese zu gewinnen. Insgesamt scheinen viele Privatanleger im Zuge der Finanzkrise im Hinblick auf komplexe Finanzkonstrukte zunehmend sensibilisiert zu sein, so dass zumindest temporär ein künftiger Trend zu generell einfacheren, nachvollziehbaren Finanzprodukten zu erwarten ist.
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Literaturverzeichnis Büschgen, Hans. E. / Büschgen, Anja. (2002): Bankmarketing, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Düsseldorf. Diewald, Sascha (2007): Neukundengewinnung im Wealth Management, Frankfurt am Main. Engelbrecht, Marc (2008): Anlageklasse des Private Banking im Überblick, in Rudolf, Markus (2008): Private Banking, Frankfurt am Main. Oberhuber, Nadine / Scherff, Dyrk (2010): „Was taugt ein Beipackzettel?“ in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. Februar 2010, Nr. 8, S. 45. Scholz, Stefan (2007): Optimierung von Vertriebsstrategien im Private Banking, Frankfurt am Main.
Prozessinnovationen bei Banken Patrick Zenz-Spitzweg*
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Innovationen im Bankensektor.....................................................................402
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Prozessmanagement von Banken ...............................................................403
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Entwicklungstendenzen des Bankensektors als Treiber von Innovationen .............................................................................405
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Wertschöpfung durch Prozessinnovationen.................................................407
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Ausblick ......................................................................................................409
Literaturverzeichnis ................................................................................................410
* Dr. Patrick Zenz-Spitzweg ist Business Manager bei der UBS Deutschland AG in Frankfurt am Main.
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Innovationen im Bankensektor
In den vergangenen Jahren hat sich das Innovationsverständnis bei Banken zunehmend verändert. In den Mittelpunkt der Diskussion ist dabei die Frage gerückt, auf welche Weise Banken durch innovative Lösungsansätze individuelle Strategien definieren und umsetzen können, um ihre Position im hart umkämpften Wettbewerb sichern und verbessern zu können. Zwar gibt es bei Banken viele Vorgänge und Leistungsarten, die seit einigen Dekaden weitestgehend unverändert sind und einen festen Bestandteil des Dienstleistungsangebotes darstellen; gleichwohl sind insbesondere in den letzten Jahren auch in dieser Branche Innovationen zur entscheidenden Erfolgsursache geworden. Aufgrund der sich verändernden Kundenbedürfnisse und des rasanten und ständigen Wandels des Bankgeschäftes sind die Modifikation bestehender sowie die Entwicklung neuer und innovativer Prozesse und Leistungen Vorgänge, die kontinuierlich durchgeführt und den spezifischen Marktgegebenheiten angepasst werden müssen. Im Zentrum dieser Bemühungen steht dabei immer der Kunde und seine formulierten beziehungsweise die von ihm vermuteten Bedürfnisse, da die von einer Bank erbrachten Dienstleistungen schließlich unmittelbar an ihn abgegeben werden. Aus Kundensicht ist verständlicherweise insbesondere der aus den Innovationen für ihn tatsächlich resultierende Nutzen von Interesse. So kann sich ein funktionaler Nutzen zum Beispiel daraus ergeben, auf dem „neuesten Stand der Technik“ zu sein oder in Form von Wertsteigerungen aus innovativen Finanzprodukten zu profitieren. Zudem baut ein hoher Grad an Innovationsstärke aus Kundensicht ein positives und begehrenswertes Image des Anbieters auf, welches wiederum eine positive Markenassoziation bildet, mit der sich der Kunde gerne identifiziert. Auf diese Weise kann die Innovationsleistung sogar zur Steigerung des emotionalen Nutzens beitragen. Für den Anbieter fördert die Innovationsfreudigkeit das Image, modern und dynamisch zu sein, wodurch im Gegenzug strategische Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz gesichert werden können. Dies lässt sich unter anderem dadurch erreichen, dass ein Leistungs- und Serviceangebot offeriert wird, welches jenes der Konkurrenten als überholt erscheinen lässt. Damit wird angestrebt, einen Wettbewerbsvorsprung gegenüber weniger dynamischen Konkurrenten im Markt zu sichern und Marktanteile zu stabilisieren beziehungsweise auszubauen. Durch kundenorientierte Innovationsprozesse sollen bestehende Kunden langfristig an den Anbieter gebunden sowie sukzessive neue Kunden hinzugewonnen werden.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_20, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Prozessinnovationen bei Banken
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Unter dem Begriff der Innovation lässt sich dabei eine ganze Vielzahl von Erscheinungsformen differenzieren. So können im Bankensektor Innovationen in Form von Leistungs-, Vertriebs- und Prozessinnovationen auftreten. Leistungsinnovationen beziehen sich auf die Entwicklung und Anwendung neuer Finanzinstrumente. Dabei bietet neben der klassischen Innovation von Einzelleistungen auch die Erstellung neuer Leistungsbündel erhebliches Potenzial, da hier größere Gestaltungsmöglichkeiten bestehen. In den vergangenen Jahren sind vornehmlich Innovationen im Wertpapierbereich entstanden. Hierzu zählen zum Beispiel besondere Formen von Options- und Future-Geschäften sowie Strukturierte Produkte. Unter Vertriebsinnovationen verstehen sich die Entwicklungen neuer, über das traditionelle Bankgeschäft hinausgehende Beratungs- und Informationsleistungen, die auf den hohen Servicebedarf der Kundschaft abgestimmt sind. Prozessinnovationen umschreiben schließlich Neuheiten im Bereich der während der Leistungserstellung und deren vor- und nachgelagerten Aufgaben ablaufenden Prozesse. Hierunter fallen auch Aspekte der Technologienutzung, die Anwendungsbereiche bei der Kommunikation mit den Kunden, der Optimierung von bestehenden Abläufen sowie der Entscheidungsunterstützung der Bankberater finden.
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Prozessmanagement von Banken
Prozessmanagement ist für Banken von zunehmend höherer und entscheidender Bedeutung. Je größer eine Organisation wird und je stärker sie ihr Produkt- und Dienstleistungsangebot erweitert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, einer zunehmenden Intransparenz der innerbetrieblichen Abläufe, welche wiederum in Redundanzen und Ineffizienzen resultiert. Dies ist nicht nur aus Risikogesichtspunkten kritisch zu bewerten, sondern kann insbesondere auch einen immensen, unerwünschten Kostenblock verursachen, welcher aus einer sinkender Produktivität sowie einem steigenden Koordinations- und Abstimmungsbedarf hervorgerufen wird. Das Prozessmanagement umfasst eine Vielzahl von Fragestellungen, die in einer Ablauforganisation beantwortet werden. Auf Grund der Komplexität ist ein solcher Prozess innerhalb einer Bank meist eine Aufgabe, die nicht nur funktions- sondern auch abteilungsübergreifend auftritt. Jeder Geschäftsprozess hat dabei ein klar definiertes Ereignis als Auslöser. Ausnahme bilden hierbei gegebenenfalls routinemäßige Prüf- und Sicherheitsprozesse, die in einer Bank in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden. Im Regelfall tritt jedoch ein Geschäftsvorfall auf, der als „Input“ eine Reihe von Prozessschritten auslöst. Beispielhaft können die Eröff-
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nung eines Kontos oder die Ausführung einer Wertpapiertransaktion genannt werden. An ein solches Ereignis schließen sich verschiedene Aufgaben an, die in einer logischen und vorab definierten Weise bearbeitet werden müssen. Je nach Komplexität der Aufgabe können dabei sowohl mehrere Personen und/oder verschiedene Organisationseinheiten der Bank involviert sein, die zur Erfüllung der Aufgabe auf Informationen sowie Sach- und Arbeitsmittel zurückgreifen. Das Ende eines Geschäfts-prozesses bildet ein fallabschließendes Ergebnis – der „Output“. Im Laufe solch eines Prozesses können verschiedene Geschäftsprozessarten involviert sein. Den Ausgangspunkt bildet dabei der operative Prozess, bei dem meist der Kunde im Vordergrund steht, da er letztlich im Endeffekt nicht nur Auslöser der Geschäftsprozesse, sondern auch Empfänger der daraus resultierenden Ergebnisse ist. Diese operativen Prozesse sind damit unmittelbar an der Wertschöpfung einer Bank beteiligt und können in jeder Situation der Kundenbeziehung – angefangen von der Akquisition, über die Produktion und den Verkauf bis zur Auftragsabwicklung – auftreten. Zu diesen operativen Prozessen kommen Support- und ManagementProzesse hinzu. Support-Prozesse unterstützen die Wertschöpfung nur indirekt und haben insofern eher eine unterstützende Wirkung. Zu nennen sind beispielhaft die Bereitstellung relevanter Daten und Informationen oder Sachmittel und Personal. Managementprozesse haben einen übergreifenden Charakter und sind in erster Linie für die Planung und Lenkung der Bank sowie für die Einhaltung entsprechender Kontrollschritte verantwortlich. Im Mittelpunkt eines aus solchen Teilprozessen bestehenden Gesamtprozesses stehen verschiedene Grundsätze, deren Einhaltung nicht immer gleichermaßen möglich ist und somit Zielkonflikte entstehen können. So streben Banken einerseits einen möglichst hohen Grad der Standardisierung von Prozessen an, um auf diese Weise Economies of Scale, Automatisierungen von Entscheidungen sowie Lerneffekte gefördert zu erzielen. Problematisch dabei ist, dass sich das immaterielle Gut einer Bankdienstleistung gerade durch individuelle und auf den Kunden zugeschnittene Beratung auszeichnet. Eine zu starke Automatisierung und Standardisierung der Abläufe ruft dabei womöglich bei Kunden den Eindruck einer nur wenig individuellen Beratung hervor. Darüber hinaus resultieren aus der Standardisierung jedoch noch weitere Effekte. So ist eines der Ziele stets die Wirtschaftlichkeit der Prozesse, die durch effiziente Abläufe, möglichst geringe Transaktionskosten sowie optimierte Schnittstellen erreicht werden soll. Diesem Drang nach Einsparpotenzial steht wiederum der Sicherheitsaspekt gegenüber, da sich Banken mit sehr hohen Sicherheitsanforderungen konfrontiert sehen. Hierunter fallen zum einen rechtliche und regula-
Prozessinnovationen bei Banken
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torische Anforderungen, zum anderen jedoch auch Kontrollprozesse, die sich die Banken selbst mit Hilfe von Controlling- und Risiko-Tools sowie hauseigener Policies auferlegen. Hierdurch sollen einerseits möglichst alle Abläufe fehlerfrei und im Sinne des Kunden bewältigt werden, gleichzeitig sollen jedoch insbesondere auch finanzielle Schäden, die aus diesen Fehlern resultieren – beispielsweise im Zusammenhang mit der Abwicklung von Wertpapiergeschäften – vermieden werden.
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Entwicklungstendenzen des Bankensektors als Treiber von Innovationen
Die Finanzindustrie befindet sich seit Jahren in einem massiven Umbruch und einem Umfeld, das durch einen einen starken Verdrängungswettbewerb geprägt ist. Dabei zwingen verschiedene Faktoren Banken immer wieder dazu, nicht nur ihre Geschäftsmodelle, Risiko-Rendite Profile und Ertragsmöglichkeiten, sondern auch ihre Prozesse neu zu überdenken und kontinuierlich zu verbessern. Der deutsche Bankenmarkt nimmt dabei eine besondere Rolle ein, da er seit Jahren durch eine ganz erhebliche Wettbewerbsintensität geprägt ist und durch die hohe Zahl an Kreditinstituten als „overbanked“ gilt. Dies begründet sich nicht zuletzt darin, dass er zu den europäischen Nachbarländern mit dem sogenannten Drei-SäulenModell eine einmalige Besonderheit aufweist. So teilen sich in Deutschland drei Gruppen den Bankenmarkt – Privatbanken, Genossenschaftsinstitute und Sparkassen. Steigende regulatorische Anforderungen und Fixkosten erhöhen zudem zunehmend den Druck auf einzelne Institute. Im Sparkassensektor und im Genossenschaftsbereich existieren zwar noch immer eine Vielzahl kleinerer Institute, deren Zahl ist durch den Konzentrationsprozess der vergangenen Jahre jedoch zunehmend gesunken. Bei den privaten Banken ist eine ähnliche Konsolidierungsentwicklung zu beobachten, wie das jüngste Beispiel des Zusammenschlusses von Commerzbank und Dresdner Bank zeigt. Beweggründe dieser Fusionen sind Skalen-, Verbund-, Diversifikations- und Marktmacht-Effekte. Neben dieser Rivalität und Anbieterdichte deutscher Banken wird der Wettbewerb durch das Expansionsbestreben sowie der verstärkten Aktivität internationaler Anbieter im Zuge der Harmonisierung der Finanzmärkte getrieben. Dabei nähert sich das Produktprogramm der Anbieter stetig an, sodass die Finanzdienstleister dem Bankkunden zunehmend austauschbar erscheinen. Parallel dazu hat sich dieser in den letzten Jahren stark emanzipiert und verfügt über eine gehobene Erwartungshaltung
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sowie eine differenziertere und anspruchsvollere Bedürfnisstruktur. Zudem ist der Markt im Kontext des Informationszeitalters sehr viel transparenter geworden; dies lässt den Kunden informierter und gleichzeitig kritischer werden. Ein hohes Renditebewusstsein und wachsende Preis- und Qualitätssensibilität erschweren es den Banken zudem, die gewünschte Kundenzufriedenheit zu erreichen. Darüber hinaus unterstützt der sinkende Aufwand eines Bankverbindungswechsels die steigende Macht der Nachfrager weiter. Sinkende Kundenloyalität und hohe Wechselbereitschaft sind die Folgen. Insgesamt ist der „Kampf um den Kunden“ für Banken daher härter und schwieriger geworden – der Markt hat sich von einem Verkäufer- zu einem Käufermarkt entwickelt. Weiterhin ist eine zunehmende Aufweichung der traditionellen Branchengrenzen zu beobachten, aus der sich weitere Wettbewerbsimpulse ergeben. So hat sich beispielsweise die klassische Arbeitsteilung zwischen Versicherungen, Bausparkassen und Kreditinstituten schon in vielen Aspekten aufgelöst. Ein mögliches Substitut für die Anlageprodukte einer Bank können zum Beispiel Lebens- oder Rentenversicherungen von Versicherungsunternehmen sein. Einige Banken haben versucht, diesem Trend durch die Gründung einer eigenen Versicherungsgesellschaft entgegenzuwirken. Ein weiteres Beispiel für die Verwischung der klassischen Branchengrenzen stellt der Markt der Unternehmenskredite dar. Während dieser Markt einst von Banken dominiert wurde, nutzen Unternehmen zunehmend den Kapitalmarkt zur Aufnahme von Fremdkapital. Ein extremes Beispiel dieser Entwicklung ist der Callcenter-Betreiber Walter Services, der Anfang des Jahres 2010 das Callcenter der SEB-Bank übernahm und nun als erste „Nichtbank“ Bankdienstleistungen auf dem deutschen Markt anbietet. Dieser Strukturwandel und die damit einhergehende sinkende Profitabilität hatten sich zwar bereits über viele Jahre abgezeichnet, die sehr positive Entwicklung der Wertpapier- und Kapitalmarkte und die damit verbundenen Erträge aus dem Handelsgeschäft vermochten die Problematik jedoch noch ein paar Jahre hinauszuzögern. Durch das angespannte Umfeld während und im Anschluss an die Finanzkrise 2008/2009 ist der Handlungsbedarf auf Seiten der Banken nun aber stärker gegeben als je zuvor. Mehr denn je sehen sich Banken mit der Anforderung konfrontiert, mit der Überarbeitung ihrer Prozesse und Geschäftsmodelle auf den starken Wettbewerb, das sich verändernde Marktumfeld und die steigenden Kundenanforderungen zu reagieren.
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Wertschöpfung durch Prozessinnovationen
Das traditionelle Verständnis einer (Universal-) Bank sieht vor, dass die Leistungserstellung überwiegend innerhalb des eigenen Unternehmens beziehungsweise wie bei Sparkassen innerhalb einer geschlossenen Verbundstruktur erfolgt. Die Gründe hierfür lassen sich überwiegend in der historischen Entwicklung des Bankensektors finden. So haben Banken insbesondere in der Nachkriegszeit sukzessive ihr Leistungsangebot erweitert, eine Rationalisierung des Mengengeschäftes wurde durch den zunehmenden Einsatz von elektronischer Datenverarbeitung erreicht. Eine solche Struktur hat den Vorteil, dass ein Großteil der Wertschöpfungskette – von der Entwicklung, über die Vermarktung bis zum Verkauf und der Abwicklung der Produkte und Dienstleistungen – unter der eigenen Kontrolle liegt und vergleichsweise schnell angepasst werden kann. Die große Gefahr hierbei liegt jedoch in einem hohen Steuerungs- und Verwaltungsaufwand sowie in der Schaffung von Quersubventionen, wenn beispielsweise Dienstleistungen innerhalb eines Verbundes eingekauft werden, obgleich sie bei einem externen Wettbewerber günstiger am Markt zu beziehen wären. Die beschriebenen wettbewerbspolitischen Entwicklungstendenzen zwingen die Banken aber nun, sich von einer Universalbank zu einer Spezialistenrolle zu entwickeln, in der echte Differenzierungsmöglichkeiten geschaffen werden können. In den vergangen Jahren haben sich Banken zu stark auf die gleichen Inhalte konzentriert und den Aspekt der Differenzierung als wesentliches Element des Wettbewerbs zumindest auf der leistungspolitischen Ebene vernachlässigt. Dabei haben viele Banken zwischenzeitlich erkannt, dass eine schrittweise Verbesserung der Prozesse und Geschäftsabläufe nur bedingten Erfolg erzielt und haben sich folglich zu stärkeren Veränderungen entschlossen. Insbesondere die Industrie, in der der Wandel der Geschäftsprozesse im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich drastischer vorangeschritten ist als im Bankensektor, dient dabei als Vorbild für eine erfolgreiche Prozessoptimierung. So sind beispielsweise in der Automobilindustrie oder dem Maschinenbau die Wertschöpfungstiefen im Gegensatz zum Bankensektor bereits sehr niedrig. Dieser grundlegenden Herausforderung können Banken nur begegnen, indem sie entweder Dienstleistungen auslagern (Outsourcing) oder auf spezialisierte Tochterunternehmen verlagern (Insourcing), die ihre Dienstleistungen dann nicht mehr nur im eigenen Unternehmen oder Verbund, sondern auch Wettbewerbern anbieten. Durch diese vertikale Desintegration kommt es zunehmend zur Herausbildung von Funktionsspezialisten, die nur Teile der Wertschöpfungskette anbie-
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ten, diese jedoch wesentlich effizienter und spezialisierter. Die Vertriebsbank konzentriert sich auf die Beratung und Betreuung von Kunden sowie dem damit verbundenen Produktvertrieb. Dagegen steht bei der Produktbank die Entwicklung und das Management von Produkten im Mittelpunkt. Quasi im Hintergrund arbeitet die Abwicklungsbank, die alle Aufgaben rund um die Abwicklung von Wertpapieren, dem Zahlungsverkehr und des Handels koordiniert. Durch die so entstehenden Wertschöpfungsnetzwerke konzentrieren sich Banken auf ihre Kernkompetenzen bei gleichzeitiger Nutzung von Synergien mit anderen Finanzdienstleistern und Schaffung von Skalen- und Kostendegressionseffekten. Neben der Veränderung der Wertschöpfungsprozesse innerhalb der Branche müssen aber auch die einzelnen Prozessschritte optimal ausgestaltet und stetig verbessert beziehungsweise durch neue Prozesse ersetzt werden. Bei solchen Prozessinnovationen geht es in erster Linie um die Effizienz, also um die optimale Erstellung der angebotenen Dienstleistungen und der mit ihr verbundenen Produkte. Dabei müssen Abläufe unter Umständen auch an neue Technologien und neue Kundenbedürfnisse angepasst werden – bei Bestandskunden muss beachtet werden, dass auch sie zukünftig im Rahmen der neuen Prozesse betreut werden. Schließlich können noch neue gesetzliche und aufsichtsrechtliche Vorgaben bestehen, die umgesetzt werden müssen. Im Mittelpunkt der Prozessinnovationen stehen unterschiedliche Ziele. Zunächst geht es darum, die Qualität der Dienstleistung zu verbessern. Hierzu müssen eine bessere Erreichbarkeit der Mitarbeiter für den Kunden geschaffen und die Abläufe individuell auf die Bedürfnisse des Kunden abgestimmt werden. Um dies erreichen zu können, müssen Mitarbeiter von zeitraubenden Routinearbeiten entlastet und Fehlerraten minimiert werden. Die Abläufe und Kundenkontakte sollten durch Beschwerdemanagement-Tools und ein adäquates Qualitätsmanagement überwacht werden. Das zweite Ziel besteht in der Verkürzung der Durchlaufzeiten. Hierbei geht es nicht nur um die reine Verkürzung von Vorgangsarbeiten, sondern insbesondere auch um die Einhaltung von zugesagten Terminen. Insgesamt muss die Bank schnell und effizient reagieren können, sei es auf Marktentwicklungen oder sonstige für den bankbetrieblichen Ablauf relevante Informationen. Das dritte Ziel besteht in der Minimierung der Kosten. Neben der Vermeidung von Opportunitätskosten geht es dabei um die allgemeine Überwachung und Hinterfragung der Prozesskosten. Daneben spielen die Auslastung des Personals, der IT und der Infrastruktur eine entscheidende Rolle. Offensichtlich ist eine gleichzeitige Umsetzung von Qualitätsmaximum, Zeitminimum und Kostenminimum nur schwer vorstellbar, da zum Beispiel eine Verbesserung der
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Qualität in der Regel mit steigenden Kosten verbunden ist. Die Priorisierung muss jede Bank an ihrem individuellen Geschäftsmodell und ihren Zielen ausrichten, wobei die Interessen aller Stakeholder gegeneinander abzuwiegen sind.
Abbildung 1: Zielkonflikte der Optimierung von Prozessabläufen Quelle: Eigene Darstellung
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Ausblick
Insbesondere vor dem Hintergrund der herausfordernden Entwicklungen des Bankenmarktes in den vergangenen Jahren und dem sich parallel immer mehr verschärfenden Wettbewerbes wird die Bündelung und Standardisierung von Prozessen in den nächsten Jahren ganz entscheidend für die Wirtschaftlichkeit von Banken sein. Auf der Suche nach Möglichkeiten zur Erhöhung der Erträge werden sich Banken verstärkt an den Grundsätzen moderner Leistungserstellung orientieren, wie sie in industriellen Unternehmen zu finden sind. Dabei wird versucht werden, die Leistungserbringung nicht nur im Hinblick auf Schnelligkeit und Effizienz, sondern auch durch hohe Qualitätsstandards und geringe Kosten zu optimieren und fokussiert auf Service- und Kundenorientierung auszurichten. Dies werden Banken erreichen, indem sie sich zunehmend auf wenige Kernkompetenzen konzentrieren. Funktionen, die keine Kernkompetenz darstellen, werden an interne (Insourcing) oder externe Dienstleister (Outsourcing) weitergegeben; die Herausbildung von Funktionsspezialisten wird in diesem Kontext weiter steigen. Dabei wird diese Entwicklung durch steigenden Dokumentationsaufwand der Prozesse, der Erfüllung zunehmender regulatorischer Anforderungen und einer allgemeinen Minimierung der operativen Risiken geprägt sein.
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Prozessmanagement: Nicht Kosten senken, sondern Komplexität managen – Ein Praxisbericht der Berliner Flughäfen Henrik Haenecke* und Marcus Dietzsch**
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Die Inbetriebnahme eines neuen Flughafens als komplexe Herausforderung ....................................................................412
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Erfolgreich, aber ungeliebt: Kosten senken mit Prozessmanagement ...................................................................................414
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Inbetriebnahmeplanung als neue Chance für das Prozessmanagement ............................................................................416
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Es gibt noch viel zu tun….............................................................................419
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Dr. Henrik Haenecke ist Leiter Unternehmensentwicklung und kaufmännische Steuerung bei den Berliner Flughäfen (Flughafen Berlin Schönefeld GmbH) in Berlin. ** Diplom-Kaufmann Marcus Dietzsch ist Prozessmanagement-Koordinator bei den Berliner Flughäfen (Flughafen Berlin Schönefeld GmbH) in Berlin
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Henrik Haenecke und Marcus Dietzsch
Die Inbetriebnahme eines neuen Flughafens als komplexe Herausforderung
Die Berliner Flughäfen betreiben heute mit rund 1.400 Mitarbeitern die beiden Berliner Flughäfen Schönefeld und Tegel. 2009 wurden an den Berliner Flughäfen knapp 21 Mio. Passagiere abgefertigt. Damit hatte Berlin nach Frankfurt und München die meisten Passagiere in Deutschland. Ende Oktober 2011 soll am Standort Schönefeld der neue Flughafen Berlin Brandenburg International (BBI) eröffnet werden, der dann den Flugverkehr der Region Berlin-Brandenburg an einem Standort konzentrieren wird. Gleichzeitig werden die bestehenden Flughäfen Schönefeld und Tegel geschlossen. Eigentümer des Flughafenbetreibers sind mit gleichen Teilen von jeweils 37% die Länder Berlin und Brandenburg sowie mit 25% die Bundesrepublik Deutschland. Die Luftverkehrsbranche spielt für die wirtschaftliche Entwicklung der Hauptstadtregion eine sehr große Rolle. Einerseits schafft sie tausende direkte Arbeitsplätze im Flughafenumfeld und andererseits führt sie der Tourismusbranche im Raum BerlinBrandenburg über die anreisenden Passagiere die Kaufkraft zu, die die ansässige Tourismuswirtschaft benötigt. Die Berliner Flughäfen stehen heute vor der Herausforderung, die wachsenden Passagiermengen in der bestehenden Flughafeninfrastruktur abzuwickeln und gleichzeitig alle vorhandenen Ressourcen zur Entwicklung des neuen modernen Flughafens Berlin Brandenburg International einzusetzen. Hierzu zählen insbesondere der Bau von Verkehrsinfrastruktur, Terminals, Start- und Landebahn etc., aber auch die Planung der Inbetriebnahme des Flughafens und natürlich die Finanzierung des Vorhabens. Der Flughafenbau wird ein voraussichtliches Investitionsvolumen in Höhe von rund 2,5 Mrd. Euro haben, was erhebliche Anstrengungen bezüglich der Innenfinanzierung durch die Flughafenbetreiber-Gesellschaft impliziert. In den Jahren 2005 bis 2011 müssen im operativen Geschäft 440 Mio. Euro erwirtschaftet werden und 430 Mio. Euro bezuschussen die Eigentümer. Der restliche Betrag wird durch Bankenkredite finanziert und muss in den kommenden Jahren kontinuierlich zurück gezahlt werden. Das erfordert erhebliche Anstrengungen zur Optimierung der Wirtschaftlichkeit der Berliner Flughäfen: Zur Bedienung der Kredite ist über die Jahre eine deutliche Steigerung der Einnahmen bei gleichzeitig nur moderatem Wachstum der Kosten erforderlich. H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_21, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Prozessmanagement an den Berliner Flughäfen
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Der neue Flughafen BBI umfasst eine Fläche von 1.470 ha, was etwa 2.000 Fußballfeldern entspricht. Darauf werden 85 Abstellpositionen für Flugzeuge geschaffen, die auch an 25 Fluggastbrücken, über die der Passagier direkt vom Terminal zum Flugzeug gelangt, anlegen können. Zu Spitzenzeiten werden pro Stunde bis zu 6.500 Passagieren starten bzw. landen können. Der Flughafen BBI wird eine Anfangskapazität von 27 Mio. Passagieren pro Jahr haben und wird über zwei Ausbaumodule in Zukunft bis zu 45 Mio. Passagiere pro Jahr abfertigen können. Am 30. Oktober 2011 soll der neue Flughafen in Betrieb gehen. Hierzu ist eine umfangreiche Vorbereitung notwendig. Es wird ab dem ersten Tag der Inbetriebnahme sicherzustellen sein, dass bis zu 70.000 Passagiere pro Tag automatisch den richtigen Weg durch das Terminal finden, egal ob sie nur abfliegen, nur ankommen oder von einem zu einem anderen Flug umsteigen wollen. Dabei gilt es, viele komplexe Prozesse zu etablieren und dabei rechtliche Regelungen zu beachten, zum Beispiel bei den Passkontrollen. So müssen die Pässe von Passagieren, die in ein Land des Schengen-Raumes abfliegen oder von dort kommen nicht kontrolliert werden. Passagiere, die in ein Land außerhalb des SchengenRaumes abfliegen oder von dort kommen müssen jedoch ihre Identität nachweisen. Und wenn Umsteige-Passagiere aus dem Schengen-Raum kommen und in ein Land des Non-Schengen-Raumes umsteigen, wird dies noch komplizierter. All dies muss ein Türsteuerungssystem berücksichtigen, das es bisher in Berlin noch nicht gibt, ab der Inbetriebnahme des BBI aber einwandfrei funktionieren muss. Ebenfalls eine große Herausforderung wird die Organisation des Umzugs von den beiden heute noch bestehenden Flughäfen Schönefeld und Tegel sein. Innerhalb von einer Nacht muss nach aktueller Planung ein Großteil der Gerätschaften und teilweise auch Einrichtungsgegenstände von Fluggesellschaften, Bodenabfertigern (verantwortlich z.B. für Check-in und Gepäck), Sicherheitsdienstleistern und des Flughafens selbst aus dem Sicherheitsbereich des Flughafens durch die Stadt zumeist in den neuen Sicherheitsbereich des Flughafens BBI transportiert werden. Das bedeutet, dass über 1.000 Lastwagenladungen durch die Stadt Berlin geführt und von der Bundespolizei bei Eintreffen am Flughafen BBI kontrolliert und anschließend auf dem Flughafengelände verteilt werden müssen, denn am nächsten Morgen soll der Luftverkehr am dann einzigen Berliner Flughafen reibungsfrei beginnen. Die Erfahrungen bei der Inbetriebnahme neuer Flughäfen oder auch nur einzelner neuer Terminals an anderen Flughäfen zeigen, dass die Komplexität der Aufgabe nicht immer erfolgreich gemeistert wird. So musste der zwar im geplanten Zeitrah-
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men eröffnete neue Flughafen von Bangkok/Thailand nach der offiziellen Eröffnung wieder geschlossen werden, da der Bau samt Inbetriebnahme noch nicht vollständig abgeschlossen war und die aufkommenden Probleme nicht im laufenden Betrieb gelöst werden konnten. Auch die Inbetriebnahme des neuen Terminal 5 am größten europäischen Flughafen in London Heathrow war von erheblichen Problemen begleitet. So gab es am Tag der offiziellen Eröffnung umfangreiche Flugverspätungen und -streichungen. Bei der Vorbereitung auf die Inbetriebnahme waren nicht alle operativen Aspekte berücksichtigt worden, so dass es zu Fehlern in einigen operativen Kernprozessen kam.
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Erfolgreich, aber ungeliebt: Kosten senken mit Prozessmanagement
Wie beschrieben müssen die Berliner Flughäfen die Profitabilität des Unternehmens über die Jahre stetig verbessern, um die aufgenommenen Kredite bedienen zu können. Ein Hebel, um dies zu schaffen, ist ein konsequentes Management der Kosten. Um die Kosten deutlich zu senken, stoßen Unternehmen häufig Kostensenkungsprogramme an. Damit die Effekte solcher Programme nicht wieder nach kurzer Zeit wirkungslos verpuffen, ist es erforderlich, Veränderungen nachhaltig zu verankern. Ein wichtiger Ansatzpunkt, um dies zu erreichen, ist das prozessorientierte Optimieren und das Etablieren eines dauerhaften Prozessmanagements. Der Erfolg des Prozessmanagements wird durch empirische Studien belegt. So konnte gezeigt werden, dass Unternehmen, die gezielt Prozessmanagement betreiben, im Schnitt mit einer Umsatzrendite rund zwei Prozentpunkte über ihren Mitbewerbern ohne Prozessmanagement liegen. Die Einführung von Prozessmanagement in einem Unternehmen bedeutet eine substantielle Veränderung der Unternehmenskultur. Ein solcher Prozess dauert in der Regel Jahre und erfordert Zähigkeit, Willen und die volle Unterstützung der obersten Führungsebene. Um Prozessmanagement zu etablieren, ist ein systematisches Vorgehen erforderlich. Hierzu zählen insbesondere die folgenden Schritte: 1. 2. 3. 4.
Saubere Definition und Abgrenzung des Begriffs „Prozess“. Übergreifende Abgrenzung von Prozessen in einer „Prozesslandkarte“. Standardisierte Dokumentation von Prozessen. Vergabe und Institutionalisierung von Prozessverantwortung.
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5. Definition von Prozesszielen und Messung mithilfe von Prozesskennzahlen (abgeleitet aus Unternehmenszielen und -kennzahlen). 6. Verknüpfung von Prozesszielen/-kennzahlen mit den persönlichen Zielvorgaben der Führungskräfte. Bei den Berliner Flughäfen wurde vor einigen Jahren die Basis für ein Prozessmanagement gelegt. Es wurde die erforderliche Prozessmanagement-Infrastruktur geschaffen. Hierzu zählen die Definition und Abgrenzung der Begrifflichkeiten, der Aufbau einer Prozessstruktur in Form einer Prozesslandkarte und projektgetriebene Prozessdokumentationen zur Herstellung von Transparenz. Bereits diese ersten Schritte des Prozessmanagements haben Erfolge bei der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit ermöglicht. So hat sich herausgestellt, dass bereits die strukturierte Diskussion von Prozessen und das Vergegenwärtigen von bestehenden Prozessinhalten auf Basis der ursprünglich vorgenommenen Prozessdefinition Optimierungen hervorbringen können. Durch das standardisierte Dokumentieren der Prozesse werden unnötige Schnittstellen und Prozessschlaufen deutlich. Es ist mehrfach vorgekommen, dass bereits sofort nach Abschluss einer solchen Dokumentation und den damit verbundenen Erkenntnissen die zuständige Fachkraft Veränderungen eingeleitet hat, seit langem bestehende Ineffizienzen zu beheben. Schwachpunkte sind häufig redundante Datenerfassungen in unterschiedlichen DVSystemen. Grund hierfür sind nicht selten fehlende DV-Schnittstellen, die eine mehrfache Dateneingabe erfordern. Es kommt aber auch vor, dass Kundenanforderungen nur unzureichend berücksichtigt und Daten für Kundenauswertungen aufbereitet werden, die der Kunde überhaupt nicht benötigt. Somit sind auch die Datenerfassungen überflüssig. So erfolgreich das prozessorientierte Optimieren der Kosten auch ist, so schwer ist es auch, diesen Ansatz konsequent zu verfolgen. Nicht selten scheitert das Prozessmanagement: Zu groß scheint der Aufwand, zu stark sind die Widerstände, etablierte Prozessschritte zu überprüfen. Zu stark wird das Prozessmanagement einseitig mit Kostenreduktion und damit negativ besetzten Projekten verbunden. Dies trifft auch auf das Prozessmanagement bei den Berliner Flughäfen zu. Auch wenn bereits die Anfänge des Prozessmanagements in verschiedenen Projekten nachweisbare Erfolge zutage gefördert haben, hat das Prozessmanagement bei den Berliner Flughäfen noch keine herausragende Bedeutung gewinnen können. So wur-
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de die Prozessverantwortung bisher nur punktuell vergeben. Kennzahlendefinitionen und die prozessorientierte Zielfestlegung der Führungskräfte fehlen zumeist noch. Die Möglichkeiten des Prozessmanagements zur weiteren Optimierung werden daher häufig noch unzureichend genutzt.
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Inbetriebnahmeplanung als neue Chance für das Prozessmanagement
Die Innovation entlang von Prozessen ist aber nicht nur für die Optimierung der Wirtschaftlichkeit von hoher Bedeutung. Prozessorientiertes Vorgehen kann auch die Voraussetzung für eine substantielle Neuordnung eines Unternehmens sein – wie zum Beispiel für die erfolgreiche Inbetriebnahme des neuen Flughafens BBI. Durch die mit dem prozessorientierten Vorgehen verbundene starke Verbesserung der Transparenz der Aufgaben und Abläufe wird die Komplexität der Inbetriebnahme überhaupt erst handhabbar gemacht. Die Verknüpfung der Instrumente des Prozessmanagements mit der Inbetriebnahmeplanung bietet nun eine neue Chance: Durch die positiv besetzte Inbetriebnahme des neuen Flughafens kann das bisher nur rudimentär eingeführte Prozessmanagement neu an Fahrt gewinnen und die Basis für einen substantiellen Wandel schaffen. Ziel der Inbetriebnahme-Planung für den BBI ist es, Mitarbeiter und Technik in die Lage zu versetzen, den Flughafenbetrieb ab dem Tag der geplanten Eröffnung, also ab dem 30.10.2011, am neuen Standort lückenlos, reibungslos und im geplanten Budgetrahmen aufzunehmen. Dabei ist die Aufgabe für die Berliner Flughäfen nochmal komplexer als bei der Inbetriebnahme anderer Flughäfen oder Terminals: In einer Nacht sollen zwei Flughäfen geschlossen und ein neuer eröffnet werden. Über 200 Prozesse, in denen jeweils neben verschiedenen internen Fachabteilungen oft auch eine Reihe von externen Unternehmen beteiligt sind, müssen so organisiert werden, dass diese ab dem Tag der Eröffnung reibungsfrei funktionieren. Für die Berliner Flughäfen war von Anfang an klar: Eine so komplexe Aufgabe kann nur durch konsequent prozessorientiertes Vorgehen gelöst werden. Ausgangspunkt für die Planungen waren die Kernprozesse des Unternehmens: Passagierabfertigung, Flugzeugabfertigung, Gepäckabfertigung, Disposition und Steuerung sowie Sicherheit („Safety and Security“).
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Die konkrete Betriebsplanung wurde zunächst entsprechend der Aufbauorganisation den verantwortlichen Bereichen zugeordnet. Von diesen wurden jeweils sogenannte Betriebskonzepte erarbeitet. Ein Betriebskonzept beinhaltet die wesentlichen Informationen darüber wie der BBI vom einzelnen Bereich betrieben werden soll. Insbesondere beinhaltet ein Betriebskonzept eine Beschreibung der jeweils inbetriebnahmekritischen Prozesse. Es beschreibt die Anforderungen an Gebäude, Anlagen, Flächen und unterstützende Systeme, um den Prozess erfolgreich bearbeiten zu können. Das Betriebskonzept beschreibt ebenso den Bedarf an Eigen- und Fremdpersonal. Betriebskonzepte sind beispielsweise für die Sicherheit und die Informations- und Kommunikationstechnik erarbeitet worden. Das Konzept der Sicherheit beinhaltet alle Informationen, Regelungen und Daten, die zur Planung und Durchführung eines vor Anschlägen und anderen kriminellen und terroristischen Straftaten sicheren Flugbetriebs notwendig sind, beispielsweise lückenlose Abschirmung des Sicherheitsbereiches und der nach Nutzergruppen unterschiedlich konfigurierte Zugang zum Sicherheitsbereich (Passagiere, Crews, Warenanlieferer). Das Konzept der Informations- und Kommunikationstechnik wiederum behandelt alle Regelungen, die bei der Planung und dem Betrieb des Flughafens notwendig sind, damit der Betreiber, die Mieter und Konzessionäre alle Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen, die für die Ausführung ihrer Aufgaben erforderlich sind, beispielsweise Telefonanlagen, Verkehrssteuerungssysteme, Internetzugänge. Die Betriebskonzepte wurden zunächst entsprechend der Aufbauorganisation geschnitten. So war die Verantwortung klar verankert. Wichtig aber sind stabile Prozesse, die vielfach quer zu Bereichsstrukturen und der Aufbauorganisation laufen. Die konsequente Weiterentwicklung der Betriebskonzepte erfolgt nun mit Hilfe der Instrumente des Prozessmanagements. Es werden daher die Prozesse und damit die Schnittstellen der Betriebskonzepte untersucht. Ein anschauliches Beispiel bietet der Kernprozess der Passagierabfertigung. Ab dem ersten Tag des Bestehens des Flughafens muss sichergestellt sein, dass zwischen der Passagieranreise und dem Abflug jeder einzelne Prozessschritt abgestimmt ist und ohne Probleme funktioniert. Aspekte dieses Prozesses werden in sieben der zehn Betriebskonzepte beschrieben. So wird die gesamte Fragestellung der Anreise des Passagiers – sei es über öffentliche Verkehrsmittel, mit dem Taxi oder dem Auto – im Betriebskonzept „Landseite“ beschrieben, der Zugang zum Terminal bis zum
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Check-in im Betriebskonzept „Terminal“. Die darauf folgende Bordkartenkontrolle im Betriebskonzept „Sicherheit“. Die anschließende Sicherheitskontrolle wird im Betriebskonzept „Sicherheit“ und im Betriebskonzept „Terminal“ berührt. In der weiteren Betriebsplanung wird nun der gesamte Prozess des Passagiers als eine Kette, die mit der Anreise zum Flughafen beginnt, den Zugang zum Flughafen, Check-in, Bordkarten- und Sicherheitskontrolle berücksichtigt und mit dem Boarding des Passagiers endet, betrachtet. Parallel dazu wird die Abfertigung des Gepäcks betrachtet. Folgende Abbildung soll dies verdeutlichen:
Abbildung 1: Aviation-Prozess Quelle: Eigene Darstellung
Durch die prozessorientierte Detaillierung ist somit eindeutig erkennbar, wie die Aufgaben und Tätigkeiten der verschiedenen Unternehmenseinheiten und der externen Unternehmen zusammenhängen. Damit wird auch deutlich, wie die Betriebskonzepte an den Schnittstellen ineinander greifen. Ein anderes anschauliches Beispiel für die prozessorientierte Detaillierung der Betriebskonzepte stellt die Entwicklung der Verkehrssteuerungssysteme für den neuen Flughafen dar. Mithilfe der Verkehrssteuerungssysteme sollen die operativen Abläufe gesteuert werden, wozu im Kern An- und Abflüge der Luftfahrzeuge und davon abhängig der allergrößte Teil der Bewegungen am Flughafen (Flugzeugbewegungen am Boden, Gate- und Counterbelegung, Türsteuerungen zum Ableiten der Passagierströme bei Aus-, Einreise oder Umstieg etc.) gehören. Um ein solches System zu konfigurieren, muss der operative Prozess, der vom System gesteuert werden soll, verstanden und abgegrenzt werden. Hierzu war es zunächst notwendig, den Prozess zu erfassen und transparent zu machen. So wurde der Prozess beschrieben und gra-
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fisch abgebildet bzw. die bestehende Beschreibung ergänzt. Es stellte sich heraus, dass zur Erstellung des Fachkonzepts äußerst detaillierte Informationen an jedem einzelnen Prozessschritt notwendig sind. Um diese zu gewinnen, mussten zum einen die Prozesse weiter analytisch detailliert werden. Zum anderen musste entlang des Prozesses das Fachwissen der Mitarbeiter eingebracht werden, die an ähnlichen allerdings weitaus weniger komplexen Systemen der heutigen Flughäfen tätig sind. Das prozessorientierte Vorgehen half den Mitarbeitern, strukturiert vorzugehen und den Verkehrsprozess vom Anfang bis zum Ende – also vom Betreten des Terminals durch den Passagier bis zum Abheben des Flugzeugs – zu denken und keinen Prozessschritt zu vergessen.
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Es gibt noch viel zu tun…
Die Vorbereitungen für die Inbetriebnahme des neuen Flughafens Berlin Brandenburg International sind noch lange nicht abgeschlossen. Die Prozesse müssen weiter detailliert und Schnittstellen beschrieben werden. Die Mitarbeiter der Berliner Flughäfen und der weiteren Unternehmen am Standort werden in die Topographie des neuen Flughafens eingeführt. Sie müssen dann entsprechend der neuen Prozesse geschult werden. Die Prozesse werden in der Folge mit den Mitarbeitern der verschiedenen Unternehmen im Rahmen eines mehrmonatigen Probebetriebs eingeübt. Mögliche Fehlerquellen werden dann beseitigt und die bei Bedarf korrigierten Prozesse weiter eingeübt. Schließlich muss der Umzug detailliert geplant und umgesetzt werden. Bis zur erfolgreichen Inbetriebnahme des neuen BBI gibt es also noch eine Menge zu tun. Das prozessorientierte Vorgehen wird die Planungen wesentlich beeinflussen. Die prozessorientierte Vorbereitung der Inbetriebnahme bietet für das Prozessmanagement der Berliner Flughäfen eine neue Chance: Statt mit Kostensenkungsprogrammen assoziiert zu werden, kann das Prozessmanagement seine Kraft bei der Inbetriebnahme des neuen Flughafens beweisen. Mitarbeiter und Führungskräfte lernen, verstärkt prozessorientiert zu denken. Eine erfolgreiche Inbetriebnahme, die dann auch auf dem prozessorientierten Vorgehen beruht, kann dem Prozessgedanken hoffentlich neuen Schwung geben, so dass das Prozessmanagement in der Folge im Unternehmen weiter ausgebaut werden kann. Und so wird es weiter dazu beitragen, die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zu stärken – dann hoffentlich, ohne einseitig mit Kostenoptimierung assoziiert zu werden.
Innovation im osteuropäischen Immobilienmarketing, dargestellt am Beispiel Russlands aus Anbietersicht Jörg Gutknecht*
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Einleitung ..........................................................................................................422 1.1 Ausgangslage .........................................................................................422 1.2 Problemstellung .....................................................................................422 1.3 Begriffsdefinition .....................................................................................424
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Differenzierung der Immobilien für das Immobilienmarketing............................426
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Immobilienmarketing .........................................................................................427 3.1 Marketinginstrumente für Immobilien auf Anbieterseite ..........................427 3.1.1 Produktpolitik ...........................................................................427 3.1.2 Distributionspolitik ....................................................................428 3.1.3 Kontrahierungspolitik ...............................................................429 3.1.4 Kommunikationspolitik .............................................................429 3.2 Innovation im konstruktiven (Neu)Bau von Immobilen............................431
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Situation des Immobilienmarketing vor dem Transformationsprozess in Russland .......................................................................................................433
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Situation des Immobilienmarketing nach dem Transformationsprozess in Russland ......................................................................................................435
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Fazit und Schlussbetrachtung ...........................................................................436
Literaturverzeichnis .................................................................................................438
* Dr. Jörg Gutknecht ist Geschäftsführer der Speidel System Trocknung GmbH in Hamburg.
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1.1
AUSGANGSLAGE
Nach den historischen Umwälzungen von 1989 hat Europa eine Phase der Übergänge und Unsicherheiten erlebt. In Osteuropa begann ein dreifacher Transformationsprozess, der sich dahingehend gestaltete, dass der Übergang von der Diktatur zur Demokratie, von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft und von der Blockstruktur zur nationalen Eigenständigkeit vollzogen wurde. Ende der achtziger Jahre wurde versucht, das Wirtschaftssystem von der zentralen Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft umzustellen. Dies beinhaltete die Privatisierung der Produktionsund Handelssysteme, die Liberalisierung der Produktion und die Liberalisierung der Vermarktung einschließlich des Binnen- und Außenhandels sowie die Einführung eines effizienten, den demokratischen Prinzipien folgenden, Rechtssystems. Mit dem Beitritt der Staaten Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern traten am 1. Mai 2004 zehn neue Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) bei, die damals 25 Mitglieder zählte. Damit gelangten zusätzlich über 40 Millionen Erwerbstätige auf den EU-Binnenarbeitsmarkt. Die Gesamtbevölkerung der EU umfasst inzwischen fast eine halbe Milliarde Menschen. Bulgarien und Rumänien traten zum 1. Januar 2007 als neue EU- Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft bei. Für das Bewerberland Türkei hat der Rat der EU im Dezember 2004 positiv über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen für den Zeitraum ab 2013 entschieden. Als weiteres offizielles Bewerberland gilt seit Juni 2004 Kroatien.
1.2
PROBLEMSTELLUNG
Mit der Ost-Erweiterung der EU 2004 um zehn neue Mitgliedsstaaten sowie dem Beitritt von zwei weiteren osteuropäischen Staaten im Jahre 2007 änderten sich im zunehmenden Maße die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb dieser Gemeinschaft. Insbesondere für die mittel- und osteuropäischen Staaten boten sich mit der Aufnahme in die EU vielfältige wirtschaftliche Möglichkeiten und Chancen. Gleichzeitig ergaben sich aber auch erhebliche Probleme bei der Etablierung politischer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Ordnungen. Dazu gehörte beispielsweise die Implementierung des gesamten EU-Rechtsbestandes mit den
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_22, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
423
entsprechenden Gesetzen, Richtlinien, Normen und Prinzipien, welches zum Beispiel untermittelbare Auswirkungen auf die Neugestaltung und Bebauung von Immobilien hatte. Gerade die Internationalisierung der Märkte hatte hier im Immobilienbereich tiefgreifende Veränderungen und Reformen zur Folge. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt befinden sich insbesondere die Vermarktung von Immobilien und das Immobilienmarketing in einem innovativen Umbruch. Eine immer größere Rolle spielt das Marketing für Immobilien; das gilt in gleichem Maße für Wohn-, Gewerbe- und Industrieimmobilien als auch für öffentlich genutzte Immobilien. Die Instrumente für die Vermarktung von Immobilien in Mittelosteuropa werden von daher eine immer größere und entscheidendere Rolle spielen, so dass es nicht verwunderlich ist, wenn sich zum Zwecke der Vermarktung von Immobilien auch das Immobilienmarketing in einem fortlaufenden Innovationsprozess befindet, um die rasant ansteigende Zahl von neuen und Bestandsimmobilien auf dem Markt zu platzieren. Wurden in den Jahren vor dem Transformationsprozess in Mittelosteuropa keine oder nur rudimentäre Werbemaßnahmen für Immobilen vorgenommen, hat sich das über die letzten zwei Jahrzehnte zunehmend und nachhaltig verändert. Nachfolgend soll am Beispiel russischer Immobilien dargestellt werden, wie sich die Vermarktung von Immobilien verändert und welche Innovationen innerhalb des Marketings stattgefunden haben. Darüber hinaus soll auch beschrieben werden, welcher Innovationsprozess bei der konstruktiven Bauweise von Immobilien eingetreten ist. Diese neuen Konzepte verlangten und verlangen im Hinblick auf betriebs- und finanzwirtschaftliche Sachverhalte wie auch auf dem Gebiet des innovativen Marketings neue Denk- und Verhaltensweisen aller Beteiligten. Dieses wird sowohl von den Unternehmern und Führungskräften als auch von den staatlichen Institutionen verlangt. Darüber hinaus wurde die Übernahme bestimmter politischer, wirtschaftlicher und technischer Standards erwartet, aus dem sich wiederum innovativ die Marketinginstrumente für die Vermarktung von Immobilien und das Immobilienmarketing gebildet hat. Neben den notwendigen Begriffsdefinitionen soll nachfolgend zum einem die Situation des Immobilienmarketings vor und nach dem Transformationsprozess dargestellt werden. Abschließend soll abgeleitet werden, welche Innovationen im Immobilienmarketing vorgenommen wurden und welche notwendigen Innovationen sich im Immobilienmarketing zukünftig ergeben werden.
Jörg Gutknecht
424
1.3
BEGRIFFSDEFINITION
Der Begriff des hier verwendeten Untersuchungsgegenstandes – Immobilien, Immobilienmarketing bzw. Innovation - muss, bevor auf die Problemstellung eingegangen wird, näher betrachtet werden. Nachfolgend soll daher eine Begriffsklärung des Untersuchungsgegenstandes erfolgen. Unter dem Begriff Immobilien, auch Liegenschaften oder Anwesen, ist im allgemeinen Sprachgebrauch ein Grundstück inklusive darauf befindlicher Gebäude und deren Zubehör zu verstehen. Juristisch und ökonomisch gesehen ist es ein unbewegliches Sachgut woher sich auch das Wort Immobilie ableitet; lateinisch immobilits für eine bewegliche Sache (Murfeld, E. (2006), S. 9f.). Wird eine Einordnung der immobilienwirtschaftlichen Tätigkeitsfelder innerhalb der Wirtschaftsbereiche bzw. -güter vorgenommen, so müssen diese zunächst den Realgütern zugeordnet werden. Nominalgüter umfassen finanzielle Forderungen und Zahlungsmittel, Realgüter beinhalten demgegenüber „alle übrigen Güter, einschließlich Realforderungen und Verpflichtungen“ sowie bestimmte Güter immaterieller Natur (Murfeld, E. (2006), S. 23f). Der Begriff Marketing beinhaltet zwei wesentliche Bestandteile. Das sind zum einem die Informationsbeschaffung über den Markt und zum anderen der Einsatz marketingpolitischer Instrumente auf der Grundlage gewonnener Informationen über den Markt (Kippes, S. (2001), S. 149). Immobilienmarketing ist das bewusst (teil-)marktorientierte Entscheidungsverhalten der Anbieter von Immobilien wie z.B. Projektentwickler, Bauträgern, Wohnungsunternehmen etc. und der Anbieter von Dienstleistungen (z.B. Immobilienmaklern, Hausverwaltern). Dabei ist Immobilienmarketing die Gesamtheit aller unternehmerischen Maßnahmen, die zur Beschaffung, zum Verkauf, zur Vermietung oder der Verwaltung einer Immobilie führen (KIPPES, S. (2006), S. 8). Mit steigender Tendenz zu Käufermärkten wurde der Absatzbereich zunehmend Engpass betrieblicher Planung. Die Folge daraus war die Erarbeitung neuer, situationsgerechter Konzepte. Dieser Umorientierung wurde mit Einführung des Marketings entsprochen. Damit wurde signalisiert, dass ein neues Konzept absatzwirtschaftlichen Handels erstellt worden ist. Während in der traditionellen Absatzpolitik weitgehend vorgegebene Leistungen der Unternehmen unter Einsatz
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
425
absatzpolitischen Instrumentariums gewinnmaximierend zu verkaufen waren, werden in den Marketingkonzepten die Entscheidungen der Unternehmen von vornherein auf die Bedürfnisse und Wünsche der Nachfrager ausgerichtet. Marketing entwickelte sich somit zur bewusst marktorientierten Führung des gesamten Unternehmens (Bauer, K. U. (2003) S. 11f.). Diesem Managementanspruch wird durch drei Ansatzpunkte Rechnung getragen: x
Die konsequente Ausrichtung aller Entscheidungen an den Erfordernissen und Bedürfnissen der Abnehmer bzw. Käufer; somit Marketing als Maxime,
x
der koordinierte Einsatz marktbeeinflussender Instrumente zur Schaffung dauerhafter Präferenzen und Wettbewerbsvorteile; somit Marketing als Mittel und
x
die systematische, moderne Technik nutzende Entscheidungsfindung, somit Marketing als Methode ( Kippes, S. (2006), S. 13f.).
Dabei geht es weniger um die jeweilige Optimierung des Einsatzes der einzelnen marketingpolitischen Instrumente, so z.B. um eine gewinnmaximale Preispolitik oder um die Optimierung der werbepolitischen Instrumente etc. als vielmehr um die stimmige Kombination der verschiedenen marketingpolitischen Instrumente, das aufeinander abgestimmte Marketing-Mix. Immobilienmarketing ist daher ein bestimmter Bereich, in dem die marketingpolitischen Instrumente angewendet werden. Eine exakte Definition des Immobilienmarketings abzugeben ist auf Grund der Heterogenität dieses Bereichs nur bedingt möglich. Die Immobilienwirtschaft umfasst alle wirtschaftlichen Funktionen (Murfeld, E. (2006), S. 301f), bei der zum einen das Wirtschaftsgut Immobilie im Ergebnis des betrieblichen Leistungsprozess entsteht und zum anderen, die Immobilie wesentlicher Produktionsfaktor ist, der in den Leistungsprozess des Immobilienunternehmens eingebracht wird, um letztlich ein wirtschaftliches Ergebnis aus der Immobilie zu erzielen. Das bedeutet, dass die Immobilienwirtschaft sowohl Bestandteil des produzierenden als auch des dienstleistenden Bereichs ist (Murfeld, E. (2006), S. 325f.). Innovation heißt wörtlich „Neuerung“ oder „Erneuerung“, „..etwas neu geschaffenes“. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff unspezifisch im Sinne von neuen Ideen und Erfahrungen und für deren wirtschaftliche Umsetzung verwendet. Im engeren Sinne resultieren Innovationen erst dann aus Ideen, wenn diese in neue Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren umgesetzt werden, die tatsächlich
426
Jörg Gutknecht
erfolgreiche Anwendung finden und den Markt durchdringen. In der Wirtschaftswissenschaft wurde der Begriff durch SCHUMPETER mit seiner Theorie der Innovationen eingeführt. Von Innovation im ökonomischen Sinne kann erst gesprochen werden, wenn innerhalb einer Volkswirtschaft der Produktionsprozess verändert wird. Man unterscheidet unter anderem technische, organisatorische, institutionelle und soziale Innovationen. Laut HAUSCHILD geht es bei einer Innovation grundsätzlich um etwas „Neues“: Neue Produkte, neue Märkte, neue Vorgehensweisen, neue Verfahren, neue Prozesse, neue Vertriebswege, neue Werbeaussagen etc. Innovationen sind im Ergebnis etwas „neuartiges“, das sich gegenüber dem vorangegangenen Zustand merklich unterscheidet. Diese Neuigkeit muss wahrgenommen, muss bewusst bemerkt werden (Hauschildt, J. (2007), S38ff).
2
Differenzierung der Immobilien für das Immobilienmarketing
Im Mittelpunkt des Immobilienmarketing steht das Produkt Immobilie, das ein Unikat darstellt. Hieraus ergibt sich, dass die Marketingkonzepte in der Immobilienwirtschaft so vielseitig sind wie die Immobilien selbst. Nachfolgend soll in kurzer und „grober“ Form dargestellt werden, wie sich Immobilien in der Art und im Gebrauch/ Funktionalität unterscheiden. Aus den unterschiedlichen Arten und der Funktionalität der Immobilien resultieren die unterschiedlichen Ansätze für Marketingkonzepte. Im Rahmen dieser Ausarbeitung stehen jedoch nur die Privatals auch Gewerbe- und Industrieimmobilien im Mittelpunkt des Interesses. Unter Privatimmobilien werden in der Regel Wohnimmobilien verstanden. Wohnimmobilien unterscheiden sich in Einfamilienhaus, Zwei- oder Mehrfamilienhaus, Wohnung als Mietwohnung oder Eigentumswohnung (Kühne-Büning, L. (2005), S.235). Eine Unterscheidung vom Oberbegriff Gewerbeimmobilien kann dagegen in folgenden Kategorien vorgenommen werden: Handelsimmobilien, Industrieimmobilien, Bürohaus, Gewerbepark, Hotel, Ferienimmobilien, Technologie-Zentren (Kippes, S. (2006), S. 487). Öffentlich genutzte Immobilien sind z. B. Schulen, Hochschulen, Universitäten, Kindergärten, Bahnhöfe, Flughäfen, Verwaltungsgebäude, Krankenhäuser, Sportein-
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
427
richtungen, Schwimmbäder, Kläranlagen etc. Unter Entertainmentimmobilien werden Musical-Theater, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Großkinos, Bade- und Spiellandschaften, Tennis- und Golfclubs, Aquarien, Planetarien etc. verstanden.
3
Immobilienmarketing
3.1
Marketinginstrumente für Immobilien auf Anbieterseite
3.1.1 Produktpolitik Die Produktpolitik umfasst alle Maßnahmen, die unmittelbar auf das Produkt gerichtet sind. Hierzu gehören die Produktqualität, Produktgestaltung, Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit dem Produkt angeboten werden etc. Im Rahmen des Immobilienmarketing gehören zur Produktpolitik: x
Die Beschaffungspolitik,
x
die Produktpolitik, bei dem die Immobilie Produktionsergebnis ist und
x
die Produktpolitik, bei dem die Immobilie Trägermedium für eine zu erbringende Dienstleistung ist (Tietz, B. (1993), S. 1277).
Mit der Produktpolitik in dem Sinne, dass die Immobilie Produktergebnis des betrieblichen Leistungsprozesses ist, wird entschieden, welche Art Immobilie (Wohnimmobilien, Privatimmobilien, Gewerbeimmobilien oder Industrieimmobilien) produziert wird. Die Produktpolitik, bei der die Immobilie Trägermedium für eine zu erbringende Dienstleistung ist, wird mitunter auch als Servicepolitik bezeichnet. Die Servicepolitik umfasst die Beratung zum Immobilienerwerb und zur Ver- bzw. Anmietung, den Verkauf und die Vermietung sowie die Verwaltung und Bewirtschaftung von Immobilien (Murfeld, E. (2006), S. 314f.). Die Produktpolitik von Projektentwicklern und Bauträgern wird mitunter auch als Objektpolitik bezeichnet. Sie umfasst die eigentliche Produktpolitik in Verbindung mit der Beschaffung im Sinne der Grundstücksbeschaffung. Ihr Ziel ist die Präsentation des Produktes Immobilie in seinen Vorzügen gegenüber anderen Immobilien am Markt. Solche Vorzüge können die Berücksichtigung individueller Wünsche, eine
Jörg Gutknecht
428
besondere Ausstattung oder variable Grundrissgestaltungen sein. Wichtige Kriterien für eine Kaufentscheidung, die es bei der Produktpolitik zu berücksichtigen gilt, sind Preis-Leistung-Verhältnis, Flexibilität bei der Gestaltung der Innenräume, gute Verkehrsanbindungen, Infrastruktur, Freizeitangebot etc. - eben die mikro- und makropolitischen Parameter (Murfeld, E. (2006), S. 327f.).
3.1.2 Distributionspolitik Die Distributionspolitik umfasst die Verteilung im Sinne der Bestimmung der Vertriebswege, auf denen der jeweilige Nachfrager das Produkt oder die Dienstleistung erhält. Im Rahmen des Immobilienmarketings können das direkte oder indirekte Vertriebswege sein. Von direktem Vertrieb wird gesprochen, wenn durch den jeweiligen Produzenten wie, z.B. Bauträger und Projektentwickler, vertrieben wird. Indirekter Vertrieb beinhaltet den Absatz von Immobilien oder immobilienwirtschaftlichen Dienstleistungen mit Hilfe von Immobilienmaklern, Absatzvermittlern, Spezialverkäufern etc (Bauer, K. U. (2003), S. 335). Auf der Anbieterseite (Bauträger, Makler, Projektentwickler) von Immobilien stellt sich in erster Linie naturgemäß die Frage nach den Wegen, die beschritten werden sollen, um Immobilien zu vermarkten. Hier geht es vor allem um Fragen nach dem richtigen Markt, der passenden Zielgruppe und die Entwicklung eines entsprechenden Verwertungskonzeptes. Auch Fragen der Organisation des Außendienstes und der Verkaufsförderung spielen eine Rolle. Da es sich in der Immobilienwirtschaft um immaterielle Dienstleistungen handelt, die nicht gelagert werden können, entfällt bei der klassischen Absatzpolitik der Bereich der physischen Absatzwege (Murfeld, E. (2006), S. 327f.). Bei der Wahl der Absatzkanäle hat der Objektanbieter - bei Suchaufträgen analog der Suchende - , neben der Direktvermarktung mehrere Möglichkeiten: x
Die Beauftragung eines Maklers, der sich an Objektnachfrager wendet (einstufiger Absatzkanal),
x
die Beauftragung eines Maklers, der wiederum für sich freie Handelsvertreter wirken lässt (zweistufiger Absatzkanal),
x
ein zweistufiger Absatzkanal liegt auch dann vor, wenn ein Makler die Immobilie akquiriert (Objektmakler) und ein zweiter Makler (Interessentenmakler) einen
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
429
Käufer bzw. Mieter beibringt und x
beim dreistufigen Absatzkanal schaltet der erste Makler einen zweiten Makler zwecks Gemeinschaftsgeschäft ein. Dieser zweite Makler beschäftigt wiederum Handelsvertreter im Rahmen des Vermarktungsprozesses (Kippes, S. (2006), S. 48f.).
Hierbei kann auch im Falle von Suchaufträgen von Absatzkanälen gesprochen werden, da es bei objektiver Betrachtung um eine Transaktion geht, bei der eine Immobilie einen neuen Eigentümer/ Mieter findet oder zumindest finden soll. Aus der Sicht des suchenden Interessenten wäre es vielleicht denkbar, von Akquisitionskanälen zu sprechen. Für den Anbieter ist die Frage nach der Marktbestimmung bzw. der Zuordnung Objekten zu den jeweils zuständigen sachlichen und räumlichen Teilmärkten zunehmender Bedeutung (Murfeld, E. (2006), S. 314f.). Der Immobilienmarkt sich in eine unüberschaubare Anzahl von sachlichen, räumlichen zielgruppenspezifischen Teilmärkten.
von von teilt und
3.1.3 Kontrahierungspolitik Die Kontrahierungspolitik umfasst alle Maßnahmen, mit denen über die Preisgestaltung (Preishöhe, Rabattgewährung, Vereinbarung von Zahlungszielen) auf den Vertragsabschluss (Kontakt) aktiv gewirkt wird. Auch bei der Kontrahierungspolitik ist im Rahmen des Immobilienmarketing zu unterscheiden, ob die Immobile Produktionsergebnis oder Produktionsfaktor, d.h. Trägermedium für eine Dienstleistung ist. Im ersten Fall geht es primär um die konkrete Kaufpreis- und Mietpreisgestaltung, um die Gewährung von Kaufpreisnachlässen in Abhängigkeit von der Dauer des geschlossenen Mietvertrages. Die Kontrahierungspolitik bei zu erbringenden Dienstleistungen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem im Dienstleistungsvertrag (Maklerauftrag, Verwalterauftrag) fixierten Leistungsumfang (Bauer, K. U. (2003), S. 324).
3.1.4 Kommunikationspolitik Die Kommunikationspolitik umfasst all jene Aktivitäten, auf deren Grundlage mit potentiellen Nachfragern nach dem Produkt bzw. nach den Dienstleistungen
Jörg Gutknecht
430
kommuniziert wird. Hierzu gehören x
die Öffentlichkeitsarbeit,
x
die Werbung,
x
die Verkaufsförderung und
x
der persönliche Verkauf oder die persönliche Vermietung (Bauer, K.U. (2003), S. 335).
Die Bündelung und der strategische Einsatz der marketingpolitischen Instrumente führt zum Marketing-Mix. Die Festlegung des richtigen Marketing-Mix stellt die letzte und zusammenfassende Stufe in der Entwicklung von Marketing-Konzeptionen dar (Murfeld, E. (2006), S. 317f.). Kommunikationspolitik umfasst schwerpunktmäßig die Bereiche Werbung und Öffentlichkeitsarbeit (PR). Diese können in Firmenwerbung und PR (originäres Marketing) und Objektwerbung und PR (derivates Marketing) unterschieden werden. Objektwerbung ist gegenwartsbezogen. Mit ihr soll jetzt oder in naher Zukunft ein konkreter Absatzerfolg erzielt werden. Objektwerbung bezieht sich auf einen aktuellen Vertragsabschluss (Murfeld, E. (2006), S. 318). In der Praxis gibt es mitunter Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Werbung und PR. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Instrumentarien besteht darin, dass Werbung unmittelbar der Durchsetzung eigener Unternehmensziele am Markt dient und sich an aktuelle oder potentielle Kunden richtet. Im Bereich der Immobilienwirtschaft dient sie primär dem aktuellen Vertrieb oder der Akquise. Öffentlichkeitsarbeit unterscheidet sich dagegen bei der Produktion und Aussendung von Informationen nicht zwischen Kunden und Nicht-Kunden. Es geht um die Gewinnung der öffentlichen Meinung zu Vorhaben des Unternehmens. Öffentlichkeitsarbeit stellt auf das – in der Regel durch Medien vermittelte – öffentliche Ansehen schlechthin ab. In allen Bereichen der Immobilienwirtschaft geht es bei der Öffentlichkeitsarbeit um Bekanntheitsgrad und Vertrauen als Basis für das eigentliche Kerngeschäft (Kippes, S. (2006), S. 54f.). Eine Sonderform ist hierbei das Beziehungsmarketing. Dieses ist für Immobilienunternehmen von besonderer Bedeutung, da sie nicht nur ein Produkt haben, das entsprechend vermarktet bzw. verkauft werden muss, sondern welches sie erst unter Anstrengungen akquirieren müssen.
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
431
Hinsichtlich der Art des Kontaktes mit dem Kunden kann im Rahmen der Kommunikationspolitik einerseits unterschieden werden, ob es sich um eine mittelbare, d.h. unpersönliche Kommunikationsbeziehung handelt oder um eine unmittelbare, d.h. persönliche. Zum anderen ist zu unterscheiden, ob ein direkter oder lediglich ein indirekter Kontakt vorliegt. Ausgehend von diesen beiden Unterscheidungsmerkmalen lässt sich eine Vier-Felder-Matrix der unterschiedlichen Kommunikationsbeziehungen von Immobilienunternehmen aufzeigen (Bauer, K. U. (2003), S. 355f.): x
Direkter Kontakt und eine mittelbare Kommunikationsbeziehung, also eine Kommunikationsbeziehung, die über eine Art Trägermedium stattfindet, sind z.B. Telefonwerbung, telefonische Beratung, Chiffrebriefe oder Direct Mail,
x
direkte Kontakte mit unmittelbarer, also direkter Kommunikationsbeziehung sind z.B. Besichtigungen, Verkaufsgespräche, persönliche Finanzierungsgespräche,
x
Indirekte Kontakte und eine mittelbare Kommunikationsbeziehung bestehen demgegenüber z.B. bei Gemeinschaftswerbung, Immobilienanzeigen, Exposes oder beim Sponsoring und
x
bei der vierten Form handelt es sich um eine unmittelbare Kommunikationsbeziehung bei gleichzeitigem Kontakt. Gemeint ist hier gerade die im Dienstleistungsbereich rein kommunikative Wirkung wie die der interpersonellen Mund-zu-Mund-Kommunikation (Gondring, H. P. (2008), S. 374f.).
3.2
Innovation im konstruktiven (Neu)Bau von Immobilien
Die mittel- und osteuropäischen Länder und EU-Mitgliedsstaaten sind verantwortlich für die Einhaltung der EU-Richtlinien und EU-Standards, die den allgemeinen technischen und hygienischen EU-Anforderungen entsprechen und durch die somit zum einem eine Wettbewerbsverzerrung vermieden werden soll und durch die sich zum anderem die mittel- und osteuropäischen Staaten dem internationalen Wettbewerb der nächsten Generation stellen können. Das hat eine nicht unbedeutende Auswirkung auf die Entstehung und den konstruktiven Bau von Immobilien. Vor dem Transformationsprozess konnte eine Vergleichbarkeit von Richtlinien und Vorschriften mit denen der westlichen EULänder, was die Entstehung des Baukörpers betrifft, nicht vorgenommen werden.
432
Jörg Gutknecht
Zwischenzeitlich haben sich die Bauvorschriften, die Bebauungspläne und die Sicherheitsvorschriften, dahingehend verändert, dass eine Unterscheidung zu westlichen Ländern kaum mehr gegeben sind. Begründet durch die, wie bereits erwähnt, EU-Vorschriften und die EU-Standards, aber auch durch den um sich greifenden globalisierenden Wettbewerb, wurden öffentliche Institutionen als auch private Projektentwickler und Bauträger „gezwungen“, diese Vorschriften im konstruktiven Bau umzusetzen. Von einem innovativen Prozess im Bereich der Umsetzung von Baumaßnahmen kann hier nicht die Rede sein, weil sie von staatlicher Seite oder durch übergeordnete staatliche Institutionen vorgegeben wurden und umgesetzt werden müssen. Am Beispiel von Großmarkteinrichtungen für den Lebensmittel-Frischebereich lässt sich aufzeigen, wo im konstruktiven Baubereich Innovationen eingesetzt haben und welcher innovative Prozess sich daraus abgeleitet hat. Die Vermarktung von Frischeerzeugnissen auf Großmärkten in den EU- Ländern Mittel-und Osteuropas entsprach früher weder in ökonomischer noch in ökologischer Hinsicht den EUAnforderungen. Die Großmarktwettbewerbspotentiale sind bis heute teilweise nicht hinreichend entwickelt, um damit eine nationale und internationale Konkurrenzfähigkeit entstehen lassen zu können. Der Auf- und Ausbau von internationalen Handelsbeziehungen muss weiterhin unterstützt werden. Es mangelt an einem effizienten Marketingkonzepten, mit dem das Management von GroßmarktBetreibergesellschaften in die Lage versetzt wird, Großmarktunter-nehmen für den Lebensmittel-Frischebereich eigenständig, d. h. ohne externe Hilfe und mit positiver Bilanz, dauerhaft führen zu können. Der Handel mit Obst, Gemüse und Lebensmittel-Frischeprodukten wurde bis vor wenigen Jahren, bis auf wenige Ausnahmen, in Osteuropa auf ungesicherten und unkontrollierten Plätzen mit den unterschiedlichsten Hallenkomplexen durchgeführt. Vorschriften und Regelungen für den Handel und die Lagerung der Lebensmittelprodukte gab es entweder nicht oder sie wurden meist nicht eingehalten. Mit der Übernahme der EU-Vorschriften werden nunmehr Großmarkteinrichtungen in fast allen Ländern Osteuropas und Russland neu projektiert um die bestehenden technischen und hygienischen Regeln zu erfüllen. Der eigentliche Innovationsprozess im konstruktiven Bau ist die Auswahl und die Verwendung von Baumaterialien westlicher Qualität sowie der Einbau westlicher Technologien und Geräte. Über das eigentliche Maß der EU-Vorschriften und der länderspezifischen Bauverordnungen hinweg ist das Maß der Vorraussetzungen der
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
433
westliche Qualitätsanspruch. In diesem Beispiel wird durch die Produktinnovation zum einem die Wettbewerbsfähigkeit zu anderen Ländern hergestellt und zum anderem der Nutzen der Kunden gemehrt. Des Weiteren wurde eine Prozessinnovation innerhalb der Betreibergesellschaften eingeleitet, die mit schlanken, effizienten und effektiven Prozessen nunmehr die Möglichkeit bietet, eigenständig und ohne fremde Hilfe zu bestehen. Die Frage der Neuerung, der Innovation im konstruktiven Bau als auch im innovativen Prozessablauf lässt sich sicher beantworten. Durch Schulungsmaßnahmen, Beobachtungen und personelle Hilfen wurden die zum Tragen kommenden Innovationen übernommen und erfolgreich implementiert.
4
Situation des anbieterorientierten Immobilienmarktes vor dem Transformationsprozess in Russland
Am Beispiel der ehemaligen Sowjetunion soll nachfolgend die Situation beschrieben werden wie der Immobilienmarkt und entsprechend das Immobilienmarketing, vor dem Transformationsprozess aufgestellt waren. Um in der ehemaligen Sowjetunion eine Immobilie zu erwerben, standen zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Zum einem gab es die Staatsverteilung (Wohnungen wurden durch den Staat nach Wartelisten zugeteilt), zum anderen gab es Wohnkooperativen. Zielsetzungen der Kooperativen war, ihre Mitglieder mit preisgünstigem Wohnraum zu versorgen. (Hyperlink http://hik-russland.de/dateien.de /immobilienrechtinrussland.pdf,2010). Mit Eintritt der Volljährigkeit konnte jeder sowjetische Bürger, sofern nachgewiesen werden konnte, dass Wohnungsbedarf vorlag, den Antrag auf die Vermittlung eines Wohnraumes stellen. Die zustehende Wohnfläche pro Person belief sich auf neun Quadratmeter Wohnfläche zuzüglich 1,5 Quadratmeter für Sozialräume. Eine dreiköpfige Familie hatte demnach einen Anspruch auf Wohnraum von ca. 25 bis 30 Quadratmeter. Die Beantragung eines Wohnraumes konnte entweder direkt bei der zuständigen Stadtverwaltung vorgenommen werden oder beim Verwaltungsrat der volkseigenen Produktionsbetriebe. Ausnahmen bildeten junge Universitätsabgänger deren Einsätze an weitab gelegenen Orten fernab „ihrer“ zugeteilten Produktionsstätten lagen. Für diese Personengruppen wurde kostenloser Wohnraum (Zimmer) in Wohnheimen zur Verfügung gestellt (HYPERLINK http://salans.com/en-GB/media,
434
Jörg Gutknecht
Rechtliche Rahmenbedingungen für Immobilien in Russland, 2009). Für finanziell besser gestellte Personengruppen bestand die Möglichkeit auf schnellerem Wege Wohnraum zu beschaffen. Hierzu existierten die Kooperativen, die so aufgestellt waren, dass in einem Zeitraum von bis zu 12 Monaten mit einer 40%igen Anzahlung der ermittelten Entstehungskosten der zustehende Wohnraum definitiv zur Verfügung gestellt wurde. Die restlichen 60% der Entstehungskosten wurden in Raten über einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren abgezahlt. Dadurch bestand das Recht, den Wohnraum zu nutzen. Die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft war der Zusammenschluss von Beschäftigten in Betrieben und Institutionen in der Sowjetunion zu einer sozialistischen Genossenschaft mit dem Zweck der Errichtung, Erhaltung und Verwaltung von Wohnungen. Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften wurden u. a. mit zinslosen Krediten staatlich gefördert. Die Mitglieder erbrachten Arbeitsleistungen und erwarben Genossen-schaftsanteile (HYPERLINK http:// revolution.allbest.ru/bank.pdf, 2010). Hervorzuheben ist, dass einzig und allein der Staat den Wohnraum zur Verfügung stellte und entsprechend Wohnungen baute. Es konnten keine Wohnungen käuflich erworben werden, es bestand ausschließlich die Möglichkeit, Wohnungen untereinander zu tauschen. Alle Wohnungen standen ausschließlich im Besitz des Staates. 1990 wurde ein Gesetz verabschiedet, nach dem die Wohnungen, für die die gesamten Entstehungskosten abbezahlt wurden, erstmalig vom Staatseigentum in Privateigentum übergingen. Durch das Privati-sierungsprogramm wurden die Rahmenbedingungen geschaffen mit Wohnraum zu werben, sie anzubieten und zu verkaufen bzw. zu verschenken. Bis 1990 bestand kein Immobilienmarketing in der ehemaligen Sowjetunion, da der gesamte Immobilienbesitz dem Staat gehörte, der ihn verwaltete. Sämtliche Marketinginstrumente wurden dadurch überflüssig, da nur der Staat in monopolistischer Art und Weise Wohnraum „vertrieb“. Werbung im klassischen Sinne erfolgte für Wohnraum nicht, da alle Wohnungen im Standard und in der Form der Wohnraumgestaltung nahezu gleich waren. Keimzelle des Immobilienmarketing in der ehemaligen Sowjetunion war das Privatisierungsgesetz von 1990 (HYPERLINK http:// hik-russland.de/dateien.de/immobilienrecht in russland.pdf, 2010).
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
5
435
Situation des anbieterorientierten Immobilienmarktes nach dem Transformationsprozess in Russland
Nach dem Transformationsprozess fand eine Globalisierung der Märkte, Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Intensivierung des Wettbewerbs in den letzten Jahrzehnten in Russland statt. Dieser Prozess hatte massive Auswirkungen auf den Immobiliensektor. Die Perestrojka hat nach dem Transformationsprozess dazu beigetragen, dass sich die Kooperativen auflösten und stattdessen freie und unabhängige Vermarktungseinrichtungen bilden konnten. Ab 1991 besteht für jeden Bürger der russischen Föderation die Möglichkeit, staatliche Mietwohnungen zu privatisieren, das heißt, die vom Staat zugeteilten Mietwohnungen zu erwerben und in Eigenbesitz umzuschreiben. Von diese Option, die als die Innovation auf dem Immobilienmarkt gefeiert wurde, haben Millionen von Bürgern Gebrauch gemacht. Dieses ist im weitesten Sinne eine Innovation, wenn Privatpersonen kraft Rechtsgeschäft mit Privatpersonen und öffentlichen Institutionen Grundstück- und Immobilienerwerb vornehmen können. Darüber hinaus wurden Gesetze beschlossen, die den Erwerb von Grundstücken und Gebäuden absichern. Beispielhaft ist die Einführung eines legitimierten Dokumentes, welches den Veräußerer eines Grundstückes oder einer Immobilie als Eigentümer ausweist oder als Vollmacht zum Zwecke der Veräußerung legitimiert. Möglichkeiten des Erwerbes können im Wege der Erbfolge, durch gerichtliche Entscheidung oder infolge einer Entscheidung eines staatlichen Organes vorgenommen werden. Nach der Rechtsordnung der Russischen Föderation (Art.1 Pkt 1, Unterpunkt 5, Art.35 Pkt. 4 Boden und GebäudeGB) können Objekte, die fest mit dem Grundstück verbunden sind (z.B.), nicht selbstständig veräußert werden. Mit anderen Worten teilen solche Objekte das rechtliche Schicksal des Grundstückes (HYPERLINK http://salans.com/en-GB/media, Rechtliche Rahmenbedingungen für Immobilien in Russland, 2009). Betrachtet man Innovation rückblendend nochmals als Ganzes, so ist eine Innovation jede Idee oder jedes Verhalten, welches sich auf Grund der Differenzierung von bereits Existierendem unterscheidet. Eine Innovation ist eine signifikante Änderung im Status Quo eines Systems, welches gestützt auf neue Erkenntnisse, Verhaltensweisen, Materialien und technischen Maschinen direkt oder indirekt eine Ver-
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436
besserung des Systems bewirkt. Innovation für das Unternehmen bedeutet häufig Diversifikation mit dem Ziel, über zusätzliche Aktivitäten das Wachstum noch mehr zu beschleunigen. Gefragt sind Einfallsreichtum, Kreativität und flexibles Handeln um auf Umfeldveränderungen schnell reagieren und sich auf neue Situationen anpassen zu können. Erfolgreiche Innovation heißt, sich in erster Linie auf elementare Grundfragen des Umfeldgeschehens zu besinnen. Innovationen sind also im Ergebnis qualitativ neuartige „Produkte“ oder „Verfahren“, die sich vom vorangehenden Zustand merklich unterscheiden. Beziehen wir das auf das skizzierte vorliegende Thema, so stellt sich unweigerlich die Frage, welche „Produkte und Verfahren“ am Beispiel des russischen Immobilienmarketings neu sind, sich durch Innovation gebildet haben und woher diese Innovationen kommen. Theoretisch war bekannt, dass es in westlichen Ländern einen freien Immobilienmarkt gibt, überwiegend unbekannt waren die theoretischen Ansätze wie Immobilienmarketing als solches sowie die Abläufe, wie Immobilien in westlichen Ländern vermarktet werden. Durch den Transformationsprozess ergaben sich nunmehr Rahmenbedingungen, die an sich erst einmal völlig neu waren. Immobilien konnten frei gehandelt und öffentlich angeboten werden. Keimzelle des russischen Immobilienmarketing waren jedoch die Einflüsse westlicher Unternehmen und Berater, die die Strukturen des Vermarktens von Immobilen von außen hineintrugen. Gleichermaßen wurden erprobte und erfolgreiche Benchmarks zur Hilfe genommen, um sie mehr und mehr in den innovativen Strukturen des Immobilienmarketings zu etablieren. Die eigentliche Innovation am Beispiel des russischen Immobilienmarketings ist, dass sich sämtliche Abläufe des Vermarktens von Immobilien als auch das auf das Land Russland ausgerichtete Immobilienmarketing neu entwickelt haben. In einer zwanzigjährigen kontinuierlichen Entwicklung hat das Vermarktungssystem unter Anwendung der klassischen Instrumentarien der Produkt-, Service-, Kommunikations-, Distributions- und Kontrahierungspolitik einen Gleichstand zu der in den westlichen Ländern praktizierten Vermarktung von Immobilien erreicht.
6
Fazit und Schlussbetrachtung
Eine systematische Marktforschung, die Bereitschaft zum Innovationsprozess sowie die Übernahme erfolgreicher etablierter Strukturen hat dazu geführt, dass es keine
Innovationen im osteuropäischen Immobilienmarketing
437
spürbaren Unterschiede bei der Vermarktung von Immobilien in Russland zu den westlichen Ländern gibt. Die erforderlichen Informationsgrundlagen, wie Entwicklungspotential des Immobilienmarktes, Anforderungsprofile der Kunden, Marktmacht der Bauträger und Bauunternehmen u.v.m. werden in einem ständigen Prozess analysiert und bewertet, resultierende Veränderungsprozesse werden eingeleitet. Innerhalb von 'wenigen' Jahren hat sich ein Innovationsprozess im Immobilienmarketing vollzogen, der sich inhaltlich nicht mehr von den Strukturen der etablierten westlichen Länder unterscheidet. Auch in Zukunft dürfte sich der Innovationsprozess im Immobilienmarketing in Russland in gleicher Geschwindigkeit weiter entwickeln, wie er ihn den westlichen Ländern in der Vergangenheit beobachtet werden konnte.
438
Jörg Gutknecht
Literaturverzeichnis Bauer, K. U. (2003): Grundlagen der Immobilienwirtschaft, Recht, Steuern, Marketing, Finanzierung, Bestandsmanagement, 4., vollständig überarbeitete Auflage, Wiesbaden. Gondring, H. P. (2009): Immobilienwirtschaft, 2., vollständig überarbeitete Auflage, München. Hauschildt, J. (2007): Innovationsmanagement, 4., überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Auflage, München. Kippes, S. (2001): Professionelles Immobilienmarketing, Handbuch für Makler, Bauträger, Projektentwickler und Immobilienverwwalter, ohne Auflage, München Kühne-Büning, L. (2005): Grundlagen der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, 4., überarbeitete und erweiterte Auflage, Hamburg. Murfeld, E. (2006): Spezielle Betriebswirtschaftslehre der Immobilienwirtschaft, 5. Auflage, Hamburg. Tietz, B. (1993): Der Handelsbetrieb, Grundlagen der Unternehmenspolitik, 2. Auflage, München.
Teil 5: Normativ- und Komplexitätsaspekte im Innovationsmarketing
Innovation und Menschenbild Annette Hempel*
1
Einleitung ...................................................................................................... 442
2
Begründung ethisch orientierter Innovationen ............................................ 443
3
Profile relevanter Menschenbilder .............................................................. 445 3.1 Menschenbilder in den Naturwissenschaften ..................................... 445 3.2 Menschenbilder in der Ökonomie ....................................................... 446 3.3 Das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft ................................ 448 3.4 Das Menschenbild der anthropologischen Philosophie ...................... 449 3.5 Das Menschenbild der Logotherapie ................................................. 450 3.6 Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften ...................................... 451
4
Das Menschenbild der Zukunft
5
Bildung als Weg zum holistischen Menschenbild .......................................... 455
6
Fazit
................................................................. 452
........................................................................................................... 456
Literaturverzeichnis ................................................................................................. 458
* Dr. Annette Hempel ist Geschäftsleiterin der Fritz Hempel Wolfsburg GmbH.
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Einleitung
Menschenbilder dienen dazu, Handlungen und Annahmen des Menschen zu erklären. Sie beeinflussen die Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung von Staaten, die Entwicklung von Unternehmensleistungen sowie die Denkmuster von Individuen. Über eine deskriptiv-analytische Funktion hinaus können Menschenbilder auch über normative Aspekte verfügen, indem sie das menschliche Verhalten gemäß eines ethisch und human orientierten Idealbildes aufzeigen (vgl. Siebenhüner, B. (2001), S. 344). Der Entwurf eines Menschenbildes im normativen Sinne dient als Leitidee für wirtschaftliches und politisches Handeln und ist im Zusammenhang mit dem Entwurf einer zukunftsorientierten und integrierten Gesellschaft unabdingbar. Jenseits der politischen Sphäre kommt Unternehmen durch ihr umfassendes, teilweise Grenzen übergreifendes Einflusspotenzial eine große Verantwortung zu, ein ressourcenorientiertes und ganzheitliches Menschenbild zu formen, das dem Menschen und der Umwelt, die ihn umgibt, gerecht wird. Das Bild, das sich Unternehmen vom Menschen im weitesten Sinne, also von ihren Kunden, ihren Mitarbeitern, ihren Zulieferern machen, stellt gewissermaßen die Überzeugungen dar, die mit diesen Individuen verbunden werden und die sich in der Konzeption von Produkten und Dienstleistungen niederschlagen. Um neue Leistungen zu entwickeln, ist es somit notwendig, ein Bild zu zeichnen, das den Akteuren eine Richtung vorgibt und über die Frage nachzudenken: Was ist der Mensch? Menschenbilder werden nicht vorgefunden, sondern je nach Bedarfslage, Zielsetzung und Weltanschauung entworfen, das heißt konstruiert (vgl. Pircher-Friedrich, A.M., (2005), S. 63). In diesem Aufsatz geht es um die Konstruktion eines zukunftsorientierten Menschenbildes für Unternehmen, die ethisch wertvolle und ökonomisch vernünftige Innovationen entwickeln. Im Folgenden wird zunächst begründet, warum Innovationen über einen ethischen Hintergrund verfügen sollten. Dabei wird unterstellt, dass Unternehmen, die „intelligente Selbstbindung und ordnungspolitische Mitverantwortung“ (Maak, T./Ulrich, P. (2007), S. 94) leben, über ein enormes gesellschaftliches Lenkungspotenzial verfügen und daher auch proaktiv zu der Beantwortung der Frage beitragen: Wie kann/soll der Mensch sein? Zu der normativen Komponente gesellt sich somit eine optative Variante: Welche sinnvollen Entscheidungsalternativen kann ich als Unternehmen dem Konsumenten offerieren? Mit dem Ziel, ein zukunftsfähiges Menschenbild zu definieren, wird ein Überblick über Welt- und Menschenbilder aus den Perspektiven verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen gegeben. Schließlich wird ein holistisches Menschenbild entwickelt, das ökonomi-
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_23, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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sche Rationalität mit Verantwortung und Sinnorientierung verbindet und somit gesellschaftlich bedeutsame Innovationen begünstigen kann.
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Begründung ethisch orientierter Innovationen
Die Ökonomisierung der Gesellschaft und die bisher in diesem Ausmaße nicht gekannte individuelle Freiheit bewirken in weiten Teilen der Gesellschaft Unbehagen und Orientierungslosigkeit. Insbesondere bei der Gruppe der gebildeten und reflektierenden Konsumenten können Intransparenz, Selbstüberschätzung und übertriebene beziehungsweise unrealistische Werbeversprechen eine Umleitung von Wahlentscheidungen und, bei mangelnden Alternativen, sogar Konsumenthaltung verursachen. Online-Transparenz trägt dazu bei, irreführende Marketing-Kampagnen zu entlarven, den Markenmythos zu entzaubern, sollten sich dessen Erwartungen nicht für die Nutzer erfüllen und können sogar dazu beizutragen, Marken zu bewerten.1 Angesichts eines zunehmenden Misstrauens der Konsumenten gegenüber der unüberschaubaren Angebotsvielfalt und der daraus folgenden Suche nach Orientierung und Sinn dürfen sich Anbieter bei der Produktkonzeption nicht nur von der Maxime leiten lassen, einen Markterfolg im ökonomischen Sinne zu erzielen. Marketing wird heute überwiegend als marktorientierte Unternehmensführung verstanden. Da unternehmerisches Handeln in der Regel langfristige Auswirkungen auf die Umwelt und die Lebensqualität unbeteiligter Dritter erzeugt, sind Sinn-, Werte- und Nachhaltigkeitsdimensionen 2 in der Unternehmensführung von zunehmender Bedeutung. Eine Innovation ist definiert als „eine Produktleistung, die einen gewissen Neuheitsgrad aufweist“ (Homburg, C./Krohmer, H. (2006), S. 569). Eine echte Innovation beinhaltet den positiven Effekt der Überraschung, etwas Neues hervorgebracht oder auch etwas Bekanntes auf eine andere Art und Weise realisiert zu haben, und zwar auch oder gerade dann, wenn der (Massen-)Markt die wesentlichen Produktcharakteristika (noch) nicht verlangt oder kennt. Für Europa ist die Investition in innovative Technologien wettbewerbsentscheidend. Bisher haben sich die Ziele der LissabonAgenda, die die Schaffung einer öko-effizienten Wirtschaft vorsieht, im Hinblick auf die Ausgaben für Forschung und Entwicklung nicht erfüllt; Europa finanziert nach wie vor mehr die Erhaltung alter Strukturen als für ein Klima der Innovation zu begeistern 1 2
Zum Beispiel durch die Plattform www.rankabrand.com im Hinblick auf die Erfüllung von Nachhaltigkeitsaspekten. Konsumenten können sich als „Markenbewerter“ ausbilden lassen. Mit Nachhaltigkeit ist die gleichberechtigte Berücksichtigung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte gemeint.
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(vgl. Kaps, C. (2009), S. 10). Andererseits sind grüne Technologien in vielen Konsummärkten ein beliebtes Trendthema, dem eine profitable Zukunft vorhergesagt wird. Die Neuartigkeit einer Leistung beeindruckt zunehmend nicht nur durch technische Features, biotechnologische Entdeckungen oder ein exzeptionelles Design, sondern ebenso durch Art und Weise des Zustandekommens dieser Leistung, das heißt durch den ethischen Hintergrund des Anbieters. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat zudem den Ruf der Konsumenten nach Fairness, Glaubwürdigkeit und Beständigkeit eher noch verstärkt. Wirtschaftliche Akteure, und insbesondere jene, die Grenzen übergreifend agieren, sind daher mehr denn je angehalten, sich über das gesetzliche Regelwerk hinaus als Teil einer globalen Gesellschaft wahrzunehmen, die Konsequenzen ihres Handelns vorzudenken und sich ihres Potenzials zur emotionalen und rationalen Beeinflussung und Entscheidungsfindung der Konsumenten bewusst zu sein. Die Soziale Marktwirtschaft bietet grundsätzlich einen übergeordneten Rahmen für ein Chancen eröffnendes wirtschaftliches und gesellschaftliches Miteinander; die Unternehmen tragen ihrerseits dafür Sorge, die freiheitlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen, sich aber gleichzeitig ethische Leitplanken aufzuerlegen. Dieses Verantwortungsethos von Unternehmen gewinnt vor dem Hintergrund, dass notwendige politische Entscheidungen auf globaler Ebene oft durch nationalstaatliche Interessen unterminiert werden, an Bedeutung. So hat die Wissenschaft (vgl. Müller-Jung, J. (2009), S. N1) den Teilnehmern des Kopenhagener Gipfeltreffens wie auch einer breiten Öffentlichkeit deutlich die Folgen aufgezeigt, die sich durch die Vernachlässigung einer verbindlichen Weltklimapolitik ergeben. Dennoch hat das Streben nach nationalstaatlicher Souveränität über den Willen, sich auf globale Instanzen und Interessen zu einigen, gesiegt (vgl. Leggewie, C./Messner, D. (2009), S. 8). Auch ist die Politik heute weniger auf Solidarität als auf die Möglichkeiten, das Eigeninteresse möglichst effizient zu verfolgen, ausgerichtet (vgl. Müller, A. (2010), S. 33). Unternehmen kommt somit die große Bedeutung zu, die ökonomische Rationalität verantwortlich zu gestalten und sie um eine philosophisch-ethische Erweiterung zu ergänzen (vgl. Ulrich, P. (1987), S. 123), um nicht nur Innovationen im ökonomischen Sinne, sondern im Sinne der Gesellschaft voranzutreiben.
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Profile relevanter Menschenbilder
Sowohl für die Wissenschaft wie auch die marktorientierte Unternehmensführung stellt sich die Frage nach dem Grundverständnis vom Menschen, das für Forschung beziehungsweise Praxis gleichsam handlungsleitend ist. Heutige Menschenbilder sind beeinflusst von einer Vielzahl vorgefundener Orientierungsmuster beziehungsweise Idealkonzeptionen über das menschliche Wesen. Seit der Antike haben sich diverse Einzelwissenschaften mit der Betrachtung des Menschen aus verschiedenen Perspektiven befasst. Im Folgenden sollen die Grundzüge ausgewählter Menschenbilder der Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Sozialen Marktwirtschaft, der anthropologischen Philosophie und der Logotherapie einer Betrachtung unterzogen werden. Da die Neurowissenschaften in den vergangenen Jahren eine Fülle von Forschungsergebnissen hervorgebracht haben, die neue Perspektiven im Hinblick auf die Erklärung verschiedener Dimensionen menschlichen Verhaltens eröffnen, sollen auch diese zentralen Erkenntnisse kurz skizziert werden.
3.1
Menschenbilder in den Naturwissenschaften
Um auch heute noch vorherrschende, rationalistisch mechanistisch geprägte Denkweisen in der Ökonomie verstehen zu können, ist ein Blick auf die naturwissenschaftliche Anthropologie, wie sie beispielsweise von Descartes und Newton geprägt wurde, hilfreich. Ausgehend von einer wachsenden Bedeutung der Vernunft in der Renaissance, wurde im 17. Jahrhundert die Mathematik als Methode unantastbarer Beweisführung populär, und es stellte sich die Frage, ob nicht auch alle anderen Wissenschaften auf eine ähnliche Grundlage zu stellen seien (vgl. Störig, H.J., (1999), S. 355 ff.). Descartes, Philosoph und Naturwissenschaftler, wollte die Welt quantifizieren und objektivieren. Um Probleme besser zu verstehen, zerlegte er sie in ihre Einzelteile. Mit der Trennung von Geist und Materie, Subjekt und Objekt wurden Fragmente isoliert betrachtet, ohne den Bezug zu einem umfassenden Ganzen herzustellen. Newton berief sich auf unveränderbare Gesetze, nach denen das Universum geregelt ist und verglich Menschen mit Atomen, die im sozialen Raum aufeinanderstoßen (vgl. Pircher-Friedrich, A.M., (2005), S. 64). Obige, grob skizzierte Welt- beziehungsweise Menschenbilder weisen auf eine eindimensionale Bedingtheit menschlichen Handelns hin, das heißt, es mangelt an der Fähigkeit und/oder Bereitschaft, Probleme
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von einer Metaebene zu betrachten, wechselseitige Abhängigkeiten zu erkennen, und nach Lösungen zu suchen, die die Lebensgrundlage von Mensch und Natur sichern und erhalten. Bei allen Unterschiedlichkeiten in der Interpretation der Evolutionstheorie wurde nicht nur die Biologie, sondern auch das damalige Welt- und Menschenbild durch die Erkenntnisse von Darwin revolutioniert. Sein Ziel war es, die Entstehung und Entwicklung von Arten naturwissenschaftlich zu erklären. Durch Darwins Forschungsergebnisse wurde der im christlich-jüdisch geprägten Kulturkreis bis dato vorherrschende Glaube, dass alle Lebewesen, und insbesondere der Mensch, von Gott erschaffen worden seien, zutiefst erschüttert. Somit relativierte sich die Auffassung vom Menschen, der, wie andere Lebewesen auch, nicht über der Natur stehe, sondern lediglich ein Teil von ihr sei. Seine Studien beschränkten sich zudem nicht auf rein biologische Entwicklungsprozesse. In Darwins wenig bekanntem Werk „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Mensch und Tier“ bezeichnete er die Empathie als die im Individuum vorherrschende Motivation (vgl. Bauer, J. (2009), S. 59 ff.). Außerdem betrachtete Darwin den Menschen durchaus als moralfähiges Wesen, er hoffte auf zunehmende Fernstenliebe und die Kultivierung der Humanität gegenüber Tieren (vgl. Engels, E.-M., (2009)).
3.2
Menschenbilder in der Ökonomie
Die klassische Nationalökonomie, beginnend mit Adam Smith, ging von der Annahme aus, dass marktwirtschaftliche Arbeitsteilung die Ursache des Reichtums der Nationen darstellt. Obwohl Smith den Menschen als egozentrisches, rationales Wesen ansah, das bestrebt ist, seine wirtschaftliche Lage zu verbessern, sei sein Handeln dennoch von der Fähigkeit zu „Sympathie“ und Sittlichkeit geprägt und wirke sich somit positiv auf das Gemeinwohl aus. Bei diesem Menschenbild werden neben der ökonomischen Dimension sowohl anthropologische, soziologische und institutionelle Aspekte berücksichtigt; der Mensch wird als politisches Wesen wahrgenommen (vgl. Schlösser, H.-J. (2007), S. 69). Der homo oeconomicus, als ein von Egoismus und Individualismus gekennzeichneter Typus, beherrschte über einen langen Zeitraum das Menschenbild der Neoklassik. In der Neoklassik strebte die Volkswirtschaftslehre durch eine mathematische Strukturierung der grundlegenden Wirkungszusammenhänge die Entwicklung zur exakten Wissenschaft an (vgl. ebenda). Das dieser theoretischen Präzisierung zugrunde lie-
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gende Menschenbild ging davon aus, dass der Mensch rational handelt, seinen persönlichen Nutzen maximiert, vollständig informiert ist, auf ökonomische Anreize reagiert und mögliche Handlungsspielräume, die sich durch Marktintransparenz ergeben, opportunistisch ausnutzt. Eine freiwillige Verantwortungsübernahme von Individuen und Unternehmen ist in diesem Menschenbild nicht vorgesehen (vgl. Schneider, U./Steiner, P. (2004), S. 67). Allerdings stellt sich die Frage, ob es sich um ein reales Menschenbild handelt, das menschliche Motivation des Agierens beschreibt oder um eine spieltheoretische Annahme, die aufzuzeigen vermag, wie Akteure auf Rahmenbedingungen beziehungsweise auf das Verhalten anderer reagieren. Somit erlaubt das Modell auch Altruismus; es geht darum herauszufinden, welche Rahmenbedingungen solidarisches Handeln fördern (Wallner, J. (2007), S. 129 ff.). Die Neue Institutionenökonomik geht im Gegensatz zur Neoklassik von der unvollständigen und ungleichen Distribution von Informationen aus. Die Unkenntnis aller Handlungsoptionen kann zu einer Ausnutzung dieser Möglichkeiten durch einen Vertragspartner führen. Um einer Unsicherheit der wirtschaftlichen Akteure vorzubeugen, werden Institutionen, das heißt Regeln in Form von Gesetzen, Gütesiegeln, Moralvorstellungen und Konventionen entwickelt (vgl. Schlösser, H.-J. (2007), S. 70). Diese Institutionen können aber Transaktionskosten verursachen und somit den Einsatz von Ressourcen und die Entwicklung von Innovationen beeinflussen. Marketing hingegen soll der Förderung von Markttransaktionen durch eine Reduzierung von Informations- und Unsicherheitsproblemen dienen (vgl. Kaas, K.P. (1995), S. 5). Grundsätzlich stellt sich das Menschenbild der Neuen Institutionenökonomik aber als eine auf begrenzte Rationalität und Opportunismus limitierte Sichtweise des Menschen dar. In der Betriebswirtschaftslehre haben sich seit den Fünfziger Jahren MenschenbildTheorien entwickelt, die Menschenbilder zum Objekt ihrer Forschung machten, um Führungsmodelle, Leitbilder und Verhaltensrichtlinien zu entwerfen, die dem jeweiligen Menschenbild entsprechen. Dabei wurden die Theorien als Kritik an früheren Ansätzen, wie zum Beispiel von Taylor und Ford, formuliert. Dem diagnostizierten „falschen“ Menschenbild wurde vorgeworfen, dass es dem Wesen des Menschen nicht entspräche und der Erreichung der Unternehmensziele nicht zuträglich sei. Das „richtige“ Menschenbild hingegen trage zur Humanisierung der Arbeitswelt bei und unterstütze die Verfolgung der Unternehmensinteressen (vgl. Matthiesen, K. (1995),
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S. 77). In diesem Zusammenhang sind die Theory X 3 von McGregor als vorherrschendes Menschenbild und Theory Y 4 als modernerer Idealtyp zu nennen. Diese Theorien wurden 1971 durch Colin und 1981 durch Ouchi zur Theorie Z 5 ausgebaut (vgl. Pircher-Friedrich, A.M. (2004), S. 69 ff.). Eine weitere Differenzierung wurde 1980 von Schein vorgenommen; er entwarf vier Menschentypen,6 wobei die letzte Kategorie 7 alle vorhergehenden Ansätze integrieren sollte. Nun stehen die zur Organisationsentwicklung entworfenen Menschenbilder nicht im Fokus dieses Beitrages, sie sind aber ein Beispiel für vereinfachte Denkschemata, die nicht den Anspruch erfüllen, kreative Lösungen für ein immer komplexer werdendes Lebensumfeld zu finden. Die Entfaltung menschlichen Potenzials erfordert eine ganzheitliche, vernetzte und sowohl verstandes- als auch gefühlsorientierte Perspektive. Die Entfaltung menschlichen Potenzials zuzulassen und zu fördern ist die größte Herausforderung für die Entwicklung von Basisinnovationen, die wiederum für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unabdingbar sind.
3.3
Das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft
In der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise ist die Diskussion über die „richtige“ Wirtschaftsordnung neu entfacht. Es werden ebenso Fragen zur Wirksamkeit des ordnungspolitischen Rahmens aufgeworfen wie auch die Pakete zur Förderung von
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Gekennzeichnet durch die folgenden Aussagen: Der durchschnittliche Mensch hat Abneigung gegen die Arbeit, die meisten Menschen sind nicht ehrgeizig, haben wenig Lust zu Verantwortung, sie wollen lieber geführt werden, sie haben nur eine geringe Vorstellungskraft, sind unkreativ bei der Lösung betrieblicher Probleme, Motivationen spielen sich nur auf der Ebene körperlicher Bedürfnisse und des Sicherheitsbedürfnisses ab, Menschen müssen kontrolliert werden und zur Verfolgung betrieblicher Ziele gezwungen werden. Gekennzeichnet durch die Aussagen: Arbeit ist genauso natürlich wie ein Spiel, der Mensch hat Spaß an der Arbeit, er ist bereit, Verantwortung zu übernehmen und kann auch Menschen führen, er ist kreativ und hat eigene Ideen zur Lösung innerbetrieblicher Probleme, er ist bereit, sich selbst zu kontrollieren, um betriebliche Ziele zu erreichen, er kann sich auch selbst führen und Vorstellungskraft bei der Arbeit entwickeln, Motivationen spielen sich auf der Ebene des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit, Wertschätzung und Selbstverwirklichung ab, der Mensch strebt gleichzeitig nach körperlicher wie sozialer Sicherheit, Motivation durch Zutrauen und zugestandene Selbstverantwortung. Gekennzeichnet durch die Aussagen: Mensch strebt nach Vertrauen, Vertrauen und Produktivität sind vereinbar, Mitarbeiter wollen in die Organisation einbezogen sein, menschliche Beziehungen sind komplex und veränderlich, man muss mit Menschen vorsichtig umgehen, vorsichtiger Umgang mit ihnen und Achtung ihrer komplexen Strukturen führt letztlich auch zu Produktionssteigerung. Rational oeconomic man, social man, self-actualizing man, complex man. Gekennzeichnet durch die Aussagen: ist motiviert gemäß ständig sich wandelnder Bedürfnishierarchie, ist lernfähig, hat verschiedene Motive in den unterschiedlichen Systemen.
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Konjunktur und Wachstum kontrovers diskutiert (vgl. Waigel, T. (2009), S. 12). Generell wird in diesem Zusammenhang der Ruf nach einer „neuen“ Ordnungspolitik deutlich hörbar. Für Erhard war diese Wirtschaftsordnung vom Menschen bestimmt und getragen und Resultat kultureller und geschichtlicher Einflüsse. Aus diesem Grund wird im Folgenden auf das Menschenbild Erhards eingegangen, um aufzuzeigen, wie eng menschliches und soziales Dasein mit der Wirtschaftspolitik verknüpft ist. Das Menschenbild Erhards gründet auf einer umfassenden philosophischen Bildung und seiner christlichen Überzeugung. Es umfasst die Aspekte eines sozialen, politischen, wohlwollenden und eigenverantwortlichen Wesens, getragen von einem vernunftorientierten Pflichtbewusstsein. Im Gegensatz zu der neoklassischen Wirtschaftstheorie basiert die Wirtschaftsordnung nicht auf mathematischen Modellen, sondern der gesellschaftlichen Wirklichkeit (vgl. Schlösser, J. (2007), S. 68 ff.). Kulturelle Voraussetzung der Sozialen Marktwirtschaft ist das christliche Menschenbild, das sich auf die Grundpfeiler Menschenwürde und Freiheit mit sittlicher Verantwortung stützt und das Wohl des Menschen zum Ziel allen wirtschaftlichen Handelns erhebt. Konstitutives Element, abgeleitet aus der Menschenwürde, ist die Forderung nach Gerechtigkeit; das demokratische System gewährleistet die rechtliche Gleichheit der Bürger. Dennoch ist die Soziale Marktwirtschaft eine Wettbewerbsordnung, die den Einzelnen zur Entfaltung seiner Kreativität und Begabung ermutigt. Somit kann das individuelle Streben zu unterschiedlichem ökonomischen Erfolg und damit zu Ungleichheit führen. Der Staat hat durch seine Ordnungsfunktion die Aufgabe, fairen Wettbewerb und soziale Gerechtigkeit in Ausgleich zu bringen, was aber untrennbar mit der Übernahme von Eigenverantwortung der Akteure verbunden ist. (vgl. Marx, R. (2009), S. 4 ff.) Vor diesem Hintergrund bietet das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft seinen Akteuren grundsätzlich die Freiheit, Chancen und Leistungspotenziale zu nutzen, fordert aber gleichzeitig ein, diese auf ein ethisches Fundament zu stellen.
3.4
Das Menschenbild der anthropologischen Philosophie
Die Philosophie beschreibt den Versuch des Menschen, die äußere Welt und sein Inneres mit dem Denken zu erhellen und zu erklären (vgl. Störig, H.-J. (1999), S. 22). Mit den Fragen nach dem menschlichen Erkennen, Handeln und Glauben beschäftigt sie sich mit der Suche nach den richtigen Grundsätzen menschlichen Tuns. Die Anthropologie, als Lehre vom Menschen, ist eine deskriptive Analyse der menschlichen Wirklichkeit.
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Die von Kant eingeführte anthropologische Philosophie versteht Anthropologie nicht als normative Lehre vom Menschen, aus der ethische Prinzipien abgeleitet werden, sondern geht davon aus, dass der Mensch im Faktum der Vernunft gleichzeitig ein „factum ethicum“ ist. Diese Definition beinhaltet den Begriff der Menschenwürde, die auch in der zweiten Fassung des kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommt. Jeder Mensch besitzt demnach einen absoluten Wert, der sich in der Menschenwürde manifestiert. Folglich ist der Mensch niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich zu betrachten (vgl. Mierth, D. (2005), S. 39 ff.). Vor diesem Hintergrund wird Menschsein durch eine ethische Haltung begründet. Diese Gesinnung bestimmt die Ausgestaltung der individuellen Wirklichkeit in allen Lebensbereichen. Dabei unterscheidet Kant zwischen einer physiologischen Anthropologie, die das beschreibt „was die Natur aus dem Menschen macht“ und einer pragmatischen Anthropologie, die sich auf das bezieht, „was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll“. Diese zweite Anschauung beinhaltet ein wesentliches Element der Logotherapie nach Frankl, die Gegenstand der folgenden Ausführungen sein soll.
3.5
Das Menschenbild der Logotherapie
Die von Frankl begründete Logotherapie als Dritte Wiener Schule der Psychotherapie leitet ihr Menschenbild aus dem Paradigma ab, dass der Mensch im Prinzip ein sinnorientiertes Wesen ist (vgl. Kurz, W. (2002), S. 5). Die Logotherapie wird gemeinhin der Humanistischen Psychologie und Pädagogik zugerechnet. Diese hat im Sinne einer exakten Wissenschaft fünf Postulate zum Menschenbild formuliert: Ganzheit, Individualität und Eingebundenheit, Bewusstheit, Freiheit und Verantwortung und Intentionaliät (vgl. Roth, W. (2008), S. 63 f.). Vor allem diese letzte Forderung drückt die bewusste Suche nach Wegen aus, wie ein für den Menschen vitalisierendes Leben aussehen könne und zum anderen nach dem Erwerb von Kompetenzen zur Verwirklichung dieser Lebenskonzeption (vgl. Kurz, W. (2008), S. 14 f.). Nach Frankl sieht sich der Mensch als freier Gestalter einer jeden Situation, indem er sich über Determinierungen und Beschränkungen hinwegsetzt und sich selbst auffordert, die Möglichkeiten, die sich ihm bieten, wahrzunehmen. Der Mensch wird demnach nicht nur durch sein Umfeld geprägt, sondern „der Mensch macht auch etwas aus sich“, er ist nicht Opfer, sondern nutzt seine geistigen Fähigkeiten zur ethischen Reflexion, zur Selbsttranszendenz und zur Selbstdistanzierung im Sinne des Frankl-Zitates „muss man sich denn auch alles von sich gefallen lassen?“ (in: Pircher-Friedrich, A.M. (2004), S. 99). Für eine Konsumgesellschaft, die sich zunehmend nicht über ihr
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„Sein“, sondern über das „Haben“ definiert, die die Orientierung an „toten“ Objekten über die Entwicklung von Achtung, Fürsorge und Erkenntnis stellt, ergibt sich zwangsläufig eine Dilemmasituation, die durch einen Sinnverlust gekennzeichnet ist. Angesichts globaler Probleme wie der Finanzkrise, dem Klimawandel und dem Überangebot an Konsumgütern gewinnt das Bild vom eigenverantwortlich handelnden und sinnsuchenden Bürger wieder an Bedeutung. Neben der Vermittlung von Leidenschaft und Freude in Bezug auf die angebotenen Leistungen ist die Unternehmensführung in besonderem Maße verantwortlich für die Sinngebung und -vermittlung auf der Grundlage eines vernunftbasierten Werteverständnisses (vgl. Zerres, M. (2005), S. 3 ff.). Unternehmen, die sich ihres Einflusses, aber auch ihrer Pflicht, werte- und zukunftsorientiert zu handeln, bewusst sind, vertreten somit idealtypisch ein humanistisches, nach dauerhaften Werten strebendes Menschenbild.
3.6
Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften
Um das Erleben und Verhalten von Menschen umfassender verstehen zu können, greifen verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, wie die Psychologie, die Philosophie, aber auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in den vergangenen Jahren zunehmend die Erkenntnisse der Neurowissenschaften auf. Im Hinblick auf die über Jahrzehnte diskutierte Frage, ob das Denken, Fühlen und Handeln stärker einer psychischen und psychosozialen Determiniertheit unterliege, also von angeborenen Verhaltensprogrammen abhängig sei oder auf internen und externen Realitäten, das heißt auf Erfahrungen basiere, hat sich mittlerweile die Erkenntnis herausgebildet, dass das Nervensystem über kein „oberstes Wahrnehmungs- und Verhaltenssteuerungssystem“ (Roth, G. (1996), in: Storch, M./Krause, F. (2009), S. 31) verfügt, sondern dass sich das Gehirn über die im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen selbst organisiert. Das Gehirn bewertet die Erfahrungen und setzt diese Kenntnis zur Planung künftiger Handlungen ein. Ziel der Selbstorganisation des Gehirns ist dabei das psychobiologische Wohlbefinden. Neuronale Verschaltungen und synaptische Verbindungen sind permanent veränderbar, es kann somit davon ausgegangen werden, dass das Gehirn zeitlebens lernfähig ist und auch alte Verhaltensmuster „verlernt“ werden können. In der Psychologie wird der Fall, in dem beabsichtigt ist, ein altes Verhaltensmuster durch ein neues zu ersetzen, als psychische Entwicklung bezeichnet. Hier treten neue neuronale Verbindungen an
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die Stelle von nicht mehr verwendeten Synapsen; die Herausbildung und Festigung neuronaler Netze hängt also davon ab, wie und wofür das Gehirn genutzt wird (vgl. Hüther, F. (2009), S. 17 f., Storch, M./Krause, F. (2009), S. 31 ff.). In Bezug auf die Erforschung der Emotionen und der sozialen Interaktionen wurde mittlerweile konzediert, dass Gefühlen bei den Wahrnehmungs- und Denkprozessen und bei der Verankerung früher Erfahrungen eine große Bedeutung beigemessen werden muss. Auch ist der Aufbau des menschlichen Gehirns in besonderer Weise dazu angetan, Aufgaben zu lösen, die mit „psychosozialer Kompetenz“ beschrieben werden können (vgl. Hüther, F. (2009), S. 18). Mit bildgebenden Verfahren konnte aufgezeigt werden, dass, bei gleich hohen materiellen Gewinnen, die Kooperation mit Menschen statt mit Computern als besonders belohnend empfunden wurde, so dass die emotionale Ausstattung des Menschen Kooperation eher zu begünstigen scheint (vgl. Schlösser, J. (2007), S. 71). Die Erkenntnisse aus der aktuellen Hirnforschung tragen also in erheblichem Maße dazu bei, auf empirischem Wege die rationalistisch-mechanistischen Paradigma aufzulösen. Sie zeigen, über welche Ressourcen Individuen verfügen, was Menschen motiviert und was zur Entfaltung der in einem Menschen angelegten Potenziale dienlich ist. Diese Kenntnis ist sowohl für die Entwicklung von Innovationen als auch für die Konstruktion eines Menschenbildes der Zukunft essenziell.
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Das Menschenbild der Zukunft
Technische Neuerungen haben den Menschen in weiten Teilen der Welt vielfältige Konsummöglichkeiten, Komfort, Gesundheit und Unterhaltung gebracht. Dass steigende Wohlstandsindikatoren jedoch nicht frei von „Nebenwirkungen“ sind, zeigen beispielweise der Klimawandel, die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich und die Sinnsuche, auch und insbesondere von Menschen in der nördlichen Hemisphäre. Die Verankerung von Nachhaltigkeit durch die Vereinten Nationen im BrundtlandBericht 1987 offenbart, dass die folgende Maxime für eine verantwortliche wirtschaftliche Entwicklung als notwendig erachtet wird: „Entwicklung zukunftsfähig zu machen, heißt, dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befrie-
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digen zu können." Somit geht es nicht nur um die Bedürfnisbefriedigung der Abnehmer, sondern um die Konzeption von Innovationen unter dem Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse. Das Menschenbild der Zukunft wird die Ausgewogenheit der Bedürfnisse unter allen Menschen mehr denn je berücksichtigen müssen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass das Menschenbild der Zukunft stark beeinflusst wird von der Information und Kommunikation, das heißt, Konsumenten sind Nutznießer einer immer größer werdenden (auch manipulierbaren) medialen Transparenz, werden misstrauischer und kritischer. Zudem greifen sie, was künftige Entscheidungen betrifft, auf eigene Erfahrungen im Hinblick auf die Authentizität von Marketingmaßnahmen und den funktionalen und/oder symbolischen Nutzen durch die Leistung zurück. Somit ist davon auszugehen, dass Ehrlichkeit, Qualität und eine lebensdienliche Gesinnung der Unternehmensführung mehr denn je von den Verbrauchern erwartet werden und somit Menschenbild prägend sind. „Nutznießer“ eines solchen Menschenbildes sind nicht nur alle Stakeholder des Unternehmens, sondern auch das komplexe Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Natur im Sinne des Retinitätsprinzipes (lat. rete - das Netz). Einzelne Handlungen sollten also nicht isoliert betrachtet werden, sondern von Interdependenz, das heißt der Erkenntnis geprägt sein, dass das wirtschaftliche Handeln zunehmend Spuren in den ökologischen und sozialen Systemen hinterlässt. Gemäß dem Retinitätsprinzip stellen sich Entscheidungen und daraus folgende Aktionen als Knotenpunkte eines vernetzten Gefüges dar. Hieraus ergibt sich die ethische Aufforderung, die Entwicklung von Innovationen an langfristige Erhaltungs- und Funktionsbedingungen zu koppeln und diese in ein umfassendes ethisches Bezugssystem zu stellen, also Ziele nicht nur auf ihren Wert für den Menschen auszurichten, sondern auf den Erhalt natürlicher Ressourcen um ihrer selbst willen. Mit der Umweltethik (Verantwortung für den Umgang mit der natürlichen Umwelt) beweist der Mensch nicht nur Respekt vor der Natur aus der Motivation der Erhaltung seiner eigenen Lebensgrundlage, sondern zeigt „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer in: Kreikebaum, H. (1988), S. 64). Nachdem die klassischen Naturwissenschaften, wie Mathematik, Physik und Chemie, die Phase der einzelteiligen Untersuchung von Phänomenen mehr oder weniger abgeschlossen haben, beschäftigt sich die relativ junge Disziplin der Biologie noch immer mit der Sammlung, Sortierung und Beschreibung einzelner Komponenten, um nach und nach die Vielfalt des Lebens in ihrer Komplexität zu erfassen. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass der Mensch sich nur geringfügig von hochentwickelten Säugetieren unterscheidet und somit ein Teil der Natur ist wie andere Lebewesen auch (vgl. Hüther, G. (2009), S. 15 ff.). Es bleibt abzuwarten, ob der Mensch diese
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schon von Darwin festgestellte Einbettung erkennt und akzeptiert oder ob er weiterhin in anthropozentrischer Manier danach strebt, sich die Natur zu unterwerfen. Die „Idealverantwortung“ des Menschen geht daher, auch und insbesondere im Sinne des christlichen Menschenbildes, über den Horizont einer Individualethik (Verantwortung des Menschen für sich selbst) und der Personalethik (Verpflichtung zur zwischenmenschlichen Humanität) hinaus. In gesättigten Konsummärkten drängt sich die Frage auf, welche neuen Produkte der Markt benötigt, ob ihre Lancierung also ökonomisch, ökologisch und sozial gerechtfertigt ist oder ob das vorherrschende Ziel in der Verdrängung bestehender Leistungen besteht. Dabei geht es nicht nur um die Umsetzung altruistischen Gedankengutes. Im Darwinschen Sinne ist eine Anpassung an sich verändernde Lebensverhältnisse gefordert, um zukünftigen Ansprüchen an ein integeres Wirtschaften gerecht zu werden. Somit kommt dem Innovationsmanagement und damit auch dem Marketing eine besondere Verantwortung zu, um auf diese Weise ein Menschenbild zu formen, das sich für den Menschen und seine heutigen und zukünftigen Lebensumstände interessiert. Aus den bisher angestellten Überlegungen ergeben sich folgende Eckpunkte für die Konzeption eines zukunftsorientierten Menschenbildes, das für ethisch wertvolle Innovationen eine Leitbildfunktion ausüben kann: x
Der Mensch ist eingebettet in ein komplexes Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Natur.
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Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und sozialer Interaktion.
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Die Grundmotivation des Menschen ist der „Wille zum Sinn“ und das Streben nach einem gelingenden Leben.
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Der Mensch ist frei, sein Leben und seine Zukunft eigenverantwortlich zu gestalten, er betrachtet Freiheit als positive Möglichkeit sich einzubringen und Antworten zu finden.
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Das Verhalten des Menschen wird von seinen Erfahrungen bestimmt.
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Die Wahrnehmungs- und Denkprozesse werden stark von Gefühlen beeinflusst.
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Der Mensch ist zu jedem Zeitpunkt seines Lebens grundsätzlich lernfähig und in der Lage, Verhaltensmuster zu verändern.
Diese Annahmen über das Wesen des Menschen dienen der Prägung eines Unternehmerethos, das sowohl Respekt vor der Menschenwürde zum Ausdruck bringt als
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auch die Stellung des Menschen in einem vernetzten Kontext berücksichtigt. Ein solches Menschenbild ist gewissermaßen normativ, dennoch gesamtgesellschaftlich wohlwollend, denn es erzeugt Innovationen, die den Menschen auffordern, sich für die bessere, menschenwürdige Variante zu entscheiden. Es mutet ihm allerdings auch zu, sich mit den ihm dargebotenen Chancen und Angeboten auseinanderzusetzen.
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Bildung als Weg zum holistischen Menschenbild
Welche internen und externen Lenkungsmechanismen führen zu einem holistischen Menschenbild? Die Rahmenbedingungen, die eine Soziale Marktwirtschaft in ihrer ursprünglich angedachten Form charakterisieren, geben dem Bürger größtmögliche Freiheit zur Verwirklichung seiner spezifischen Möglichkeiten, verpflichten ihn aber gleichzeitig zu der Einhaltung ethischer Spielregeln. Was hiermit gemeint ist, kann nur durch eine umfassende Bildung vermittelt werden. An erster Stelle steht dabei die eigene Wahrnehmung, im positiven wie im negativen Sinne Einfluss nehmen zu können beziehungsweise sich zu verantworten. Diese Erkenntnis handlungsfähig zu sein, prägt wiederum die Selbstachtung, die als intrinsische Motivation Entscheidungen steuert. Ulrich, Begründer des integrativen wirtschaftsethischen Ansatzes, spricht davon, „diese Motivationsbasis im Selbstverständnis moderner Wirtschaftsbürger(-innen) zu lokalisieren und pädagogisch zu stärken – als deren zivilisiertes Selber-Wollen“ (Ulrich, P. (2004), S. 13). Ulrich geht von einer vernunftethischen Reflexion autonomer Individuen aus, die sich die ihnen bietenden Optionen mit dem Ziel eines „zivilisierten“ Umgangs untereinander ergreifen. Die pädagogische Grundlage, das Nachdenken über den Grund seiner Ziele und Absichten, nicht nur über die Ziele und Absichten selbst, sollte im Mittelpunkt der Bildungsinstitutionen stehen, um junge Menschen anzuleiten, ihr Leben so zu gestalten, dass es ihnen sinnvoll erscheint und gleichzeitig einen Beitrag für die Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur zu leisten (vgl. Kurz, W. (2008), S. 28 ff.). Die frühe Bildung, die die soziale und emotionale Intelligenz fördert, den Umgang mit moralischen Dilemmasituationen diskutiert, die erleben lässt, was lebensdienlich ist, was Fairness bedeutet, sollte später um berufsspezifische Komponenten wie die Entwicklung einer werteorientierten Personalführung und Organisationsentwicklung erweitert werden, um Mitarbeiter nicht nur als Arbeitskraft, sondern als Mensch wahrzunehmen, um zu erlernen, wie mit vermeintlichen oder realen Systemzwängen umzugehen ist, kurz: wie Innovationsmanagement unter ethischen Gesichtspunkten funktioniert. Die Integration praxistauglicher ethi-
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scher Inhalte, insbesondere in wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge, ist unabdingbar, um zu vermeiden, dass der erfolgsorientierte und ichbezogene Einfluss, der durch die Vermittlung ökonomischer Theorien derzeit die Studenten der Ökonomie einseitig prägt, eine nachhaltige Verantwortungsökonomik torpediert (vgl. Klink, D. (2010), S. 48 f.). Somit wird postuliert, dass eine Bildung, die unabhängig von der Herkunft und dem wirtschaftlichen Status bei Anbietern und Nachfragern die Voraussetzungen schafft Fragen zu stellen, vor allem sich selbst, der größte Hebel für die Konstruktion eines ganzheitlichen Menschenbildes ist.
6
Fazit
Gesättigte Märkte bieten Unternehmen eine Vielzahl von Entscheidungsalternativen. Die Zukunft wird den klugen Lieferanten gehören, die Leistungen herstellen, welche in den Augen der Verbraucher nicht nur ihre persönlichen Bedürfnisse befriedigen, sondern gesellschaftlichen Mehrwert schaffen. Dabei ist von einem holistischen Menschenbild auszugehen, das die Beziehungen zu anderen Menschen, zur Umwelt und Kultur immer wieder in einen multikausalen Zusammenhang bringt. Es stellt sich somit die Frage, ob das heute vielfach vertretene Marketingverständnis im Sinne einer marktorientierten Unternehmensführung, das heißt einer Ausrichtung des gesamten Unternehmens an den Bedürfnissen der Konsumenten, nicht zu kurz greift. Zweifellos gilt der Konsument als Souverän, dennoch ist er beeinfluss- und lenkbar, eine Tatsache, die sich das Marketing seit jeher zunutze gemacht hat. Somit erhält die von den Unternehmen erdachte Zukunftsorientierung einen großen Stellenwert für die Entwicklung gesamtgesellschaftlich bedeutsamer Innovationen. Je mehr die Zahl der Angebote durch verantwortlich agierende Unternehmen jedoch zunimmt, desto höher wird wiederum ihr Einfluss auf die Art und Weise des Verbrauchs, der seinerseits Nachfragedruck nach Leistungen, die sich durch bestimmte ethische Kriterien auszeichnen, ausübt.
Innovation und Menschenbild
457
Dieses Menschenbild bezieht sich nicht nur auf den Konsumenten, sondern auf alle Stakeholder des Unternehmens. In der Vielfalt der möglichen Stakeholderbeziehungen zeigt sich das große Einflusspotenzial des Unternehmens. Die Rolle der Bildung(sinstitutionen) besteht nun darin, Kreativität für Innovationen zu fördern und gleichzeitig Überzeugungen ausbilden, dass Innovationen ein zukunftsorientiertes Werteverständnis voraussetzen.
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Annette Hempel
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Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz Nicole Fabisch*
1 2
Einleitung ...................................................................................................462 Begriffsklärungen .....................................................................................463 2.1 Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility ..........................463 2.2 Nachhaltigkeitsmarketing...................................................................463
3
Nachhaltigkeit im Marketing-Managementprozess.......................................464 3.1 Nachhaltige Stakeholderinteressen in Analyse und Planung.............465 3.1.1 Kunden als Stakeholder..........................................................466 3.1.2 Mitarbeiter und Zulieferer als Stakeholder ..............................467 3.1.3 NGO´s, Medien und Öffentlichkeit als Stakeholder.................467 3.1.4 Weitere relevante Stakeholder................................................468 3.2 Nachhaltigkeitsaspekte im Marketingmix...........................................469 3.2.1 Produktpolitische Implikationen ..............................................469 3.2.2 Preis- und vertriebspolitische Implikationen............................471 3.2.3 Kommunikationspolitische Implikationen ................................473 3.3 Nachhaltigkeit als Herausforderung für das Management .................473 3.4 Nachhaltigkeitsmarketing als Business Case ....................................474
4
Zusammenfassende Betrachtung ..............................................................476
Literaturverzeichnis ................................................................................................477
* Prof. Dr. Nicole Fabisch ist Geschäftsführerin der Sponsoring und Consulting und Hochschullehrerin am Euro Business College in Hamburg.
Nicole Fabisch
462
1
Einleitung
Nachhaltigkeit, Corporate Social Responsibility (CSR) oder die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung sind in der aktuellen Diskussion um Entscheidungen für zukunftsfähiges und auch betriebswirtschaftlich nachhaltiges Wirtschaften unvermindert ganz oben auf der Agenda. Auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene werden die Auswirkungen des Klimawandels, die Finanzkrise und die daraus resultierenden sozialen Veränderungen ebenso diskutiert wie der Vertrauensverlust, den die Krise für Unternehmen zur Folge hatte. Vor allem die Verantwortung der Wirtschaft für Menschen und Umwelt ist zum zentralen Thema geworden. Verbraucher, Politiker und selbst Analysten zeigen zunehmend Interesse daran, inwieweit sich Unternehmen dieser Herausforderung stellen. Wenn der WWF beispielsweise prognostiziert, dass wir zur Aufrechterhaltung unseres aktuellen Konsumverhaltens die Ressourcen von mindestens zwei Planeten Erde benötigten (vgl. WWF (2008): Living Planet Report 2008, S.1), ist als genuin absatzfördernde Abteilung auch das Marketing angesprochen, aktiv Stellung zu nehmen und sich des Themas Nachhaltigkeit anzunehmen. Diese Forderung ist keineswegs als altruistisches Opfer zu verstehen, sondern als strategisch sinnvolle und betriebswirtschaftlich notwendige Aufgabe. Marketingtheoriker haben bereits Mitte der 80er Jahre von Öko-Marketing gesprochen und spätestens seit 2000 ist von Nachhaltigkeits-Marketing die Rede ( vgl. Suchanek, A./Kirchgeorg, M. (2009), S. 17). Doch scheint die Praxis mittlerweile die Theorie eingeholt zu haben, denn Kunden und Vertreter von Naturschutz- oder Menschenrechtsorganisationen fragen zunehmend nach, wie und auf wessen Kosten produziert wird und inwieweit soziale und ökologische Fragen ins Kalkül gezogen wurden. Hier liegen neben der Verpflichtung auch die Chancen, sich als verantwortungsvoller Produzent zu positionieren. Gerade weil Unternehmen im globalen Markt zunehmend homogener Produkte mit Identitäts- und Positionierungsproblemen ihrer Marken konfrontiert sind, ist ganzheitliches Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz zu betrachten, um Vertrauen aufzubauen, Verantwortung zu dokumentieren und sich im Wettbewerb zu differenzieren.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_24, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz
2
Begriffsklärungen
2.1
Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility
463
Die Diskussion um Nachhaltigkeit hat in Deutschland bereits eine gewisse Tradition, war jedoch lange Zeit umweltpolitisch geprägt. Dies liegt nicht zuletzt in der Tradition des Wortes begründet, das aus der Forstwirtschaft stammt und eine Bewirtschaftung des Waldes bezeichnet, bei der nicht mehr Holz geschlagen wird, als nachwachsen kann (vgl.www.umweltlexikon-online.de). So wurde Nachhaltigkeit vor allem als schonender Ressourcenverbrauch verstanden und die Verbesserung der ÖkoEffizienz als zentrale Herausforderung für nachhaltiges Wirtschaften gesehen. Mittlerweile werden Nachhaltigkeit und die englische Übersetzung „Sustainability“ zunehmend auch auf soziale Themenbereiche ausgeweitet, so dass in der angloamerikanischen Literatur vom „Triple P“ gesprochen wird, als der Verantwortung gegenüber „people“, „planet“ und „profit“, der sogenannten Triple Bottom Line, als der ausgewogenen Balance dieser drei Säulen Diese erweiterte Sichtweise erscheint durchaus sinnvoll, da es letztendlich um Menschen, den Erhalt ihrer Lebenswelten auch für zukünftige Generationen, ihrer Gesundheit und nicht zuletzt ihrer Arbeitskraft geht. In diesem Dreiklang aus sozialer, ökologischer und ökonomischer Verantwortung kommt Nachhaltigkeit mit dem Konzept der CSR fast zur Deckung. Dieses verlangt von Unternehmen eine freiwillige Rechenschaftslegung nach sozialen, ökologischen und ökonomischen Kriterien und steht für eine Managementpraxis, die sich selbst verpflichtet, auf eine bessere Gesellschaft und eine saubere Umwelt hinzuwirken ( Vgl. www.europarl.europa.eu). Themenschwerpunkte sind im sozialen Kontext beispielsweise Menschenrechte, die Einhaltung internationaler Sozialstandards oder Gleichstellungsfragen und im ökologischen Zusammenhang Aspekte der ÖkoEffizienz, des Umweltschutzes oder des Ressourceneinsatzes.
2.2
Nachhaltigkeitsmarketing
Im deutschen Sprachraum hat sich Nachhaltigkeitsmarketing als Begriff in der Betriebswirtschaftslehre noch kaum etabliert. Theoretisch kann es als „spezifische Ausrichtung des Marketingansatzes an dem normativen Leitbild der nachhaltigen Entwicklung“ (vgl. http://wirtschaftslexikon.gabler.de). oder auch als Weiterentwicklung des Öko-Marketings verstanden werden, indem die soziale Komponente des CSRAnsatzes ergänzt wird. Nachhaltigkeitsmarketing stellt auf die „Vermeidung oder Ver-
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464
ringerung ökologischer und sozialer Probleme“ ab (vgl. Suchanek, A./Kirchgeorg, M. (2009), S. 9). Zur Herausforderung für Marketingverantwortliche wird diese Vorgabe an das Marketing dann, wenn es zu Zielkonflikten zwischen betriebswirtschaftlich richtigen, weil profitablen, aber ethisch problematischen, weil sozial und ökologisch nachteiligen Entscheidungen kommt. Aus diesem Grund wird im Folgenden die Nachhaltigkeitsthematik mit „ethischem Marketing“ oder einer spezifischen Marketingethik verknüpft, ein Diskurs, wie er in Deutschland noch kaum, international aber vermehrt geführt wird. Hierbei steht die systematische Suche nach moralischen Standards im Zentrum, die als Entscheidungsgrundlage für Marketinghandlungen gelten können und Integrität sowie Fairness gegenüber Kunden und anderen Stakeholdern inklusive der Umwelt als Leitidee formulieren (vgl. Murphy et al. (2005), S. XVIII). Auf Basis dieser Überlegungen soll im Weiteren untersucht werden, an welchen Stellen des klassischen Marketing-Managementprozesses ethische Probleme auftauchen, die soziale oder ökologische Interessen von Stakeholdern verletzten können. Nachhaltigkeitsmarketing wird also verstanden als diejenigen Aktivitäten oder Prozesse, die darauf ausgerichtet sind, Angebote zu schaffen, zu kommunizieren, physisch zu vertreiben und auszutauschen, die für Kunden, Auftraggeber, Partner und weitere gesellschaftliche Stakeholder inklusive der Umwelt von Nutzen sind und hierbei explizit soziale und ökologische Themen berücksichtigen sowie mögliches unethisches Verhalten aktiv vermeiden (vgl. zur allgemeinen Marketingdefinition Walsh, G./Klee, A./Kilian, T. (2009), S. 4). Darüberhinaus wird analysiert inwieweit eine Ausrichtung an der normativen Vorgabe eines Nachhaltigkeitsmarketing dazu führen kann, mittel- bis langfristig Wettbewerbsvorteile zu erzielen.
3
Nachhaltigkeit im Marketing-Managementprozess
Nachhaltigkeitsaspekte im Sinne des Dreiklangs aus sozialen Themen, ökologischer Verantwortung und profitablem Wirtschaften also auch im Sinne der CSR tauchen auf allen Ebenen der Marketingpraxis auf. Sie finden sich im Rahmen des MarketingManagementprozesses auf analytischer, strategischer und operativer Ebene und sollen im Folgenden beleuchtet werden (vgl. Abb.1).
Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz
465
Situations- und Stakeholderanalyse
Analyse
Soziale Themen - Menschenrechte - Gleichstellung - Sozialstandards - etc.
Marktforschung Planung
Ökologische Themen
Marketingziele und -strategien
Umsetzungsphase Produkt
Kontrolle
- Ressourcen - Emissionen - Umweltschutz - etc.
Marketingmix Preis
Kommunikation
Marketingcontrolling
Vertrieb
Ökonomische Themen - Governance - Business Case - Qualität - etc.
Abbildung 1: Nachhaltigkeitsaspekte im Marketingmanagementprozess Quelle: Eigene Darstellung
3.1
Nachhaltige Stakeholderinteressen in Analyse und Planung
Marketing wird im Rahmen des „Broadening“ und „Deepening“ bereits länger als ein Austauschprozess verstanden, dessen traditionelle Leitidee einer Kunden- und Wettbewerbsorientierung um die Perspektive weiterer „Stakeholder“ erweitert wurde (vgl. Walsh, G./Klee, A./Kilian, T. (2009), S. 9ff ). Wenngleich die Diskussion der Integration einer Stakeholderperspektive in das Marketing zunächst eher akademisch geführt wurde, hat sich die Erkenntnis mittlerweile auch in der Praxis durchgesetzt, dass es unabdingbar ist, Interessen relevanter Stakeholder in Marketingentscheidungen einzubeziehen. Kein Unternehmen kann es sich langfristig leisten, Aspekte sozialer Gerechtigkeit oder Umweltfragen zu ignorieren ohne dass sein Image Schaden nimmt. Insofern ist die Berücksichtigung dieser Anspruchsgruppen, die das Unternehmen beeinflussen können oder ihrerseits von ihm beeinflusst werden (in Anlehnung an Freeman, R.E. (1984)) für einen nachhaltigen Marketingerfolg unabdingbar. Nachfolgend soll kurz analysiert werden, welche Themenfelder für Stakeholder von Interesse
466
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sein können und somit auch in der Situationsanalyse des Marketing berücksichtigt werden sollten.
3.1.1 Kunden als Stakeholder Unabhängig davon, welches Marketingverständnis man zugrunde legt, sind Kunden die wichtigste Stakeholdergruppe des Marketing. Kundenbedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen ist nach wie vor eine der zentralen Aufgaben des Marketing. Bis heute hält sich allerdings in vielen Unternehmen hartnäckig das Vorurteil, dass die durchschnittlichen Kunden rational kalkulierende Schnäppchenjäger sind. Eventuelle Bekenntnisse zum sozial-ökologischem Einkauf werden als sozial erwünschte Lippenbekenntnisse abgetan. Diese Unterstellung mag auf einen Teil der Konsumenten zutreffen, eine wachsende Anzahl potenzieller Käufer ist jedoch zum nachhaltigen Kunden geworden. Die Anzahl derjenigen Kunden, die beispielsweise dem „Lifestyle of health and sustainability“, kurz LOHAS, zuzurechnen sind, umfasst laut A.T. Kearney zwischen 25 und 30% der Bevölkerung ( vgl. Hermes, V. (2010), S. 36). Auch die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) ist der Auffassung, dass Themen wie fairer Handel, Nachhaltigkeit und Verantwortung von Unternehmen, die „Kaufentscheidungen von krisenresistenten Haushalten immer stärker beeinflussen“ werden (Ebd., S. 37). Bereits 2008 waren 75% der Marketingentscheider der Auffassung, dass die Gruppe der LOHAS-orientierten für das Marketing an Bedeutung gewinnen wird (vgl. W&V Nr. 3/2008, zitiert nach www.karmakonsum.de) und die Sonderausgabe „Marken 2010“ der „absatzwirtschaft“ widmet ihre Titelgeschichte dem Thema „Nachhaltigkeit“. Dieser anhaltende Trend zur Nachhaltigkeit ist in vielen Branchen zu beobachten. Die Automobilindustrie setzt mittlerweile genauso auf nachhaltige Produkte, wie die Modebranche, der Lebensmittelsektor oder die tendenziell konservative Finanzwelt. International stiegen die Zahlen für ethischen Konsum parallel zum erweiterten Angebot kontinuierlich an. Allein Großbritannien verzeichnete in den Jahren 2002 bis 2007 eine Wachstumsrate von 81% (vgl. Williams, E. (2008), S. 11). Diese Entwicklung ist nach Expertenansicht nicht nur eine Reaktion auf ein Modethema, sondern geht auch auf betriebswirtschaftliches Kalkül zurück. Es ist also sowohl im Interesse der Kunden als auch der Unternehmen Nachhaltigkeit bereits im Rahmen der Analyse- und Planungsphase auf die Agenda zu setzen.
Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz
467
3.1.2 Mitarbeiter und Zulieferer als Stakeholder Unternehmensintern wird die Betreuung der Mitarbeiter zumeist ausschließlich der Abteilung Personal anvertraut und nicht auch als eine Aufgabe des internen Marketing gesehen. Unter Aspekten eines erweiterten Marketingverständnisses ergeben sich jedoch interessante strategische Anknüpfungspunkte, wenn man die Gruppe der Mitarbeiter weiter differenziert. Auszubildende, Frauen, Behinderte, ältere oder ausländische Arbeitnehmer stellen Untergruppen mit jeweils besonderen Interessen dar, die im Rahmen einer nachhaltigen Strategie berücksichtigt werden könnten. Da Mitarbeiterbindung zukünftig für jedes Unternehmen aufgrund der demographischen Entwicklung noch entscheidender sein wird als bisher, ist die Ausarbeitung sozialer Angebote, wie attraktiver Entwicklungsmöglichkeiten, familienfreundlicher Arbeitszeitmodelle oder die Work-Life-Balance gerade auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten unabdingbar. Auch in einem engeren Marketingverständnis ist die Berücksichtigung sozial-ökologischer Themen von Vorteil. Die Umsetzung von Cause-RelatedMarketingkampagnen, bei denen ein Teil des Verkaufserlöses einem guten Zweck zugeführt wird, steigert bei 73% der Mitarbeiter die Loyalität zum Arbeitgeber (vgl. Adkins, S. (2004), S. 53). Darüber hinaus ist das Augenmerk auch auf die Zulieferer als externe Mitarbeiter zu richten. Es ist dem guten Ruf eines Unternehmens extrem abträglich, wenn die Öffentlichkeit aus den Medien erfährt, dass die Arbeitsbedingungen in asiatischen Produktionsstätten menschenverachtend sind. Ebenso wenig vereinbar mit einem umfassenden Verständnis von Nachhaltigkeitsmarketing kann es sein, wenn Zulieferer aufgrund von preisstrategischen Überlegungen massiv unter Druck gesetzt werden.
3.1.3 NGOs, Medien und Öffentlichkeit als Stakeholder Eine zentrale Bedeutung kommt den Medien und ihren Vertretern zu. Sie können in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Sender und Empfänger eine erhebliche Wirkung auf den Reputationsprozess ausüben. Diese kann positiv ausfallen, wenn über nachhaltige Innovationen oder CSR-relevante Veränderungen im Unternehmen berichtet wird. Ein wichtiger Treiber für nachhaltige Veränderungen waren in der Vergangenheit vor allem Negativschlagzeilen durch die Aufdeckung von illegitimem Verhalten. Einige Medien befassen sich explizit mit der Überwachung nachhaltigen Verhaltens, wie beispielsweise die Test-Zeitschriften „Öko-Test“ oder „Stiftung Warentest“. Als die letztgenannte Publikation im Jahre 2004 beschloss, zukünftig auch soziale As-
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pekte in die Bewertung einzelner Produkte einfließen zu lassen und beispielsweise zu untersuchen, ob Unternehmen fair mit ihren Mitarbeitern umgehen oder in Ausund Weiterbildung investieren, ging ein regelrechter Ruck durch die Marketingabteilungen. Gerade Nichtregierungsorganisationen (NGOs – Non-Governmental Organizations) unterhalten oftmals sehr gute Medienkontakte. „Parallel zu ihrer steigenden Bedeutung durch Mitarbeit, Expertise und Lobbytätigkeit erhöhte sich die Anzahl der NGOs von 1991 bis 2007 kontinuierlich von 4.620 auf gut 7.600.“ (vgl. Union of International Associations (UIA) (2009), Yearbook of International Organizations: Statistics on international organizations, unter: www.bpB.de) Das Hauptaugenmerk der meisten NGOs liegt auf den Themen Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Unternehmen, die seitens der NGOs in Zusammenarbeit mit den Medien der Missachtung von Umwelt- oder Menschenrechtsfragen beschuldigt wurden, benötigen im Allgemeinen viel Zeit und Geld, um den beschädigten Ruf wieder herzustellen und das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen.
3.1.4 Weitere relevante Stakeholder Der Kreis relevanter Stakeholder, die in der Analyse- und Planungsphase Berücksichtigung finden sollten, ist je nach Branche noch zu erweitern. Speziell für Aktienunternehmen sind Analysten eine wichtige Gruppe, obliegt es ihnen doch zu bewerten, ob Unternehmen auch zukünftig in der Lage sein werden ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Sind im Rahmen der herkömmlichen kapitalmarkttheoretischen Modelle außerökonomische Determinanten in der Regel nicht vorgesehen, spielen in jüngster Zeit zunehmend soziale und ökologische Faktoren eine Rolle bei der Bewertung von Unternehmen, so dass „Strukturen eines eigenständigen Marktes für Informationsdienstleistungen zur Corporate Sustainability bzw. Corporate Social Responsibility mit internationaler Ausrichtung nachweisbar“ sind (vgl. Schäfer, H. (2005), S. 53). Auch wird bis Ende 2010 ein Anstieg des Anteils nachhaltiger Kapitalanlagen von derzeit 17 auf 35 Prozent erwartet (vgl. Bergius, S. (2010).). Eine weitere wichtige Fraktion stellen Politiker dar, die aufgrund ihrer gesetzgebenden Funktion Unternehmen mit einer Fülle von Regularien belegen kann. So ist beispielsweise die Freiwilligkeit von CSR-Maßnahmen ein Thema, das zwischen Vertretern aus Wirtschaft und Politik durchaus kontrovers diskutiert wird. Die Berücksichti-
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gung der Bedürfnisse unterschiedlicher Stakeholdergruppen stellt bereits in der Analysephase eine zentrale Anforderung an das Nachhaltigkeitsmarketing dar. Die Vernachlässigung bestimmter Interessen, die eventuell nicht in direkter Vereinbarkeit mit betriebswirtschaftlichen Gewinnzielen stehen, kann sich mittelfristig zu einem Imageschaden und somit auch zu einem monetären Verlust entwickeln. Neben den Stakeholderinteressen ergeben sich im Rahmen der Marketingplanung weitere Anknüpfungspunkte für die Berücksichtigung nachhaltiger Themenfelder. Im Marktforschungskontext ist beispielsweise darauf zu achten, dass die Privatsphäre respektiert wird, die Probanden nicht getäuscht und Datenschutzbestimmungen eingehalten werden. Im Rahmen der Segmentierung ist der explizite oder in Kauf genommene Zielgruppenausschluss von lebensnotwendigen Produkten zu nennen, wie es für weite Teile der Entwicklungsländer bei Medikamenten der Fall ist oder bei der Verweigerung von Bankkonten für Personen ohne festes Einkommen. Auch besonders schützenswerte Zielgruppen wie Kinder oder Menschen mit eingeschränktem Beurteilungsvermögen oder Gesundheitszustand sollten im Rahmen des Nachhaltigkeitsmarketings besonderen Respekt und Schutz erfahren, der über bereits bestehende gesetzliche Restriktionen hinausgeht. Andernfalls ist abzusehen, dass der Gesetzgeber reagiert und schärfere Verordnungen erlässt, wie die Diskussion um ein Werbeverbot für Süßigkeiten im Rahmen von Kinderprogrammen zeigt.
3.2
Nachhaltigkeitsaspekte im Marketingmix
3.2.1 Produktpolitische Implikationen Im Rahmen der produktpolitischen Überlegungen gibt es eine Reihe sensibler Themenbereiche die im Nachhaltigkeitsmarketing Beachtung finden sollen. Diese umfassen neben konkreten Umweltaspekten auch soziale Themen, die unter ethischen Erwägungen als ungerecht und somit nicht legitim angesehen werden können (vgl. Abb. 2). An erster Stelle sind hier explizit umweltfeindliche Produkte zu nennen. So ist es im Rahmen sozial- und umweltfreundlichen Marketings kaum zu verantworten, dass Einwegverpackungen oder sinnlose Wegwerfgimmicks produziert werden. Auch die Produktionsbedingungen zu denen ein Konsumartikel hergestellt wird, fallen in diese Kategorie. Tierversuche zu nichtmedizinischen Zwecken, Kinderarbeit oder andere
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menschenrechtsverletzende Produktionsbedingungen, die nicht im Einklang mit Normen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) stehen, sollten im Rahmen des Nachhaltigkeitmarketings selbstverständlich ausgeschlossen werden. Die Nutzung unübersichtlicher Zulieferketten oder Subsubunternehmer entlässt das produzierende Unternehmen nicht aus seiner Verantwortung, insbesondere dann nicht, wenn diese Praxis bekannt ist und somit vorsätzlich in Kauf genommen wird. Daneben stellt die Sicherheit der Produkte eine zentrale Komponente der Produktpolitik dar, die Kunden in Deutschland oftmals als selbstverständlich ansehen.
Abbildung 2: Nachhaltigkeitsaspekte im Marketingmix Quelle: Eigene Darstellung
Dies ist jedoch in vielen Bereichen trotz umfangreicher gesetzlicher Bestimmungen, des TÜV und diverser Qualitätssiegel nicht immer der Fall. Aufgrund von Produktionsverlagerungen ins außereuropäische Ausland und die zunehmende Unübersichtlichkeit der Produktionsverantwortung treten Sicherheitsmängel zunehmend häufiger auf. Gerade die besonders sensiblen Bereiche Kinderspielzeug oder -kleidung tauchen immer wieder im Kontext mit gesundheitsschädlichen Materialen auf. Beispielsweise ist im Jahr 2009 bei einem Test des Verbraucherschutzministeriums im
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Auftrag der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen jedes fünfte Spielzeug mit Mängeln durchgefallen (vgl. o.V. (2009)). Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Produktobsoleszenz. Hierbei ist vor allem die vorzeitige Veralterung von Produkten aufgrund etwaiger „Sollbruchstellen“ zu nennen, die neben dem Veralten von Produkten aufgrund neuer, modernerer Variationen ethisch besonders problematisch erscheint, da sie die Ressourcenverschwendung aktiv unterstützt. Im Rahmen der Verpackungspolitik sind irreführende Verpackungsgrößen oder -etikettierungen zu nennen. Diese nutzen Informationsasymmetrien zwischen Hersteller und Verbraucher aus und stellen bei nicht korrekten Produktauszeichnungen gerade im Lebensmittelsektor ein gesundheitliches Risiko dar. Hier wurde seitens der Gesetzgebung in den letzten Jahren permanent nachgebessert, um einen optimaleren Schutz der Verbraucher vor Allergien oder Fettleibigkeit zu gewährleisten. Garantie- und Kundendienstleistungen stellen ebenfalls einen sensiblen Bereich dar, insbesondere dann, wenn im Kleingedruckten der Ausschluss der Garantieleistungen für bestimmte Geräteteile vorgenommen wird oder das Unternehmen durch eine ungenügende Erreichbarkeit die Möglichkeiten des Beschwerdemanagements aushebelt. Der Themenbereich Produktpiraterie wird an dieser Stelle lediglich erwähnt, da er aufgrund seiner deutlich juristischen Ausprägung nicht mehr in das Segment freiwilliger ethischer Überlegungen fällt. Aus all diesen Beispielen lassen sich im Umkehrschluss konkrete Chancen generieren, indem Produkte angeboten werden, die explizit umweltfreundlich, fair produziert und wirklich Sinn-voll sind, indem sie auf das wachsende Bedürfnis der Verbraucher nach moralischen Werten und Nachhaltigkeit eingehen.
3.2.2 Preis- und vertriebspolitische Implikationen Nimmt man Nachhaltigkeitsmarketing als ganzheitlichen Ansatz ernst, ergeben sich auch in der Preis- und Vertriebspolitik kritische Anknüpfungspunkte. So kann es beispielsweise unter ethischen Aspekten nicht als legitim angesehen werden, wenn Preise unter Ausnutzung von Notlagen überteuert festgesetzt werden, wie dies oft
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bei Schlüsselnotdiensten oder auch bei bestimmten überlebensnotwendigen Medikamenten der Fall ist. Besonders schützenswert sind auch hier wiederum Kinder, wenn versucht wird, deren noch eingeschränktes Preisbewusstsein auszunutzen, indem beispielsweise überteuerte Handyklingeltöne verkauft werden sollen. Problematisch ist es ebenfalls, die Einsamkeit älterer Menschen auszunutzen, um ihnen auf sogenannten Kaffeefahrten Rheumadecken oder andere Güter mit sozialem Druck zu überhöhten Preisen zu verkaufen. Während Preisabsprachen zumeist kartellrechtlich geregelt und somit illegal sind, fallen „Mondpreise“ in die Kategorie problematischer Preispolitik. Diese bezeichnen vorsätzlich überhöhte „unverbindliche Preisempfehlungen des Herstellers“, die den real verlangten Preis als extrem günstig erscheinen lassen. Mittlerweile ebenfalls gesetzlich sanktioniert sind irreführende Preisangaben, bei denen verdeckte Kosten nicht ausgewiesen werden. Hierbei wurden explizit Fluggesellschaften ins Visier genommen, die Kunden mit falschen Angaben lockten, indem Steuern, Flughafengebühren sowie sonstige Zuschläge und Entgelte zunächst verschwiegen wurden. Als weiterer Punkt ist die Preisdiskriminierung anzuführen, bei der unterschiedliche Preise für gleiche Produkte veranschlagt werden, die nicht durch unterschiedlich hohe Selbstkosten begründbar sind. Diese Praxis findet sich beispielsweise in der Bankenlandschaft, indem weniger solventen Kunden höhere Kontoführungsgebühren oder Kreditkonditionen abverlangt werden. Als positives preispolitisches Beispiel sind fair gehandelte Waren zu nennen, die den Produzenten unabhängig vom eventuell floatenden Börsenkurs (z.B. bei Kaffee) einen Festpreis garantieren, der deren Existenzminimum sichert. Vertriebspolitisch gibt es ebenfalls einige Bereiche, die sich nicht mit einem integeren Marketingverhalten decken. Hier sind an erster Stelle Haustürgeschäfte unter Einsatz von Außendienstmitarbeitern, sogenannte Drückerkolonnen zu nennen, bei denen teilweise mit erfundenen Geschichten versucht wird, das soziale Gewissen der Kunden auszunutzen oder extremen Verkaufsdruck auszuüben. Diese sind sowohl im Spendensammelkontext unrühmlich aufgefallen, als auch im Verkauf von Zeitschriftenabonnements. In der Kritik sind auch Varianten des Strukturvertriebs, bei denen persönliche Vertrauensverhältnisse zwischen Menschen für den Verkauf ausgenutzt und nahezu ausschließlich provisionsbasiert entlohnt werden.
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Unter ökologischen Aspekten ist es darüber hinaus auch noch relevant zu berücksichtigen, auf welchen Wegen das Produkt zum Endverbraucher kommt und welche Emissionen durch Flüge oder lange Schifffahrtswege für die Umwelt entstehen.
3.2.3 Kommunikationspolitische Implikationen Als kommunikationspolitisch kaum verantwortungsbewusst ist jede Form von Irreführung zu nennen. Diese ist laut § 5 UWG verboten und bezeichnet die Täuschung des Verbrauchers durch falsche Angaben oder auch durch Auslassung von Fakten, wenn eine Hinweispflicht besteht. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Marketingkommunikation entweder aktiv falsche Vorstellungen weckt oder einen Vorteil aus der Schwierigkeit oder dem Unvermögen der Kunden zieht, eine rationale Kaufentscheidung treffen zu können. Vorab muss auch beurteilt werden, wie ein durchschnittlich informierter Durchschnittsverbraucher die Werbeaussage wahrscheinlich auffassen wird. Generell gilt es in der Kommunikation eine gewisse Sensibilität walten zu lassen. Dies betrifft insbesondere provozierende Werbung, die bestimmte Zielgruppen diskriminiert. Darüber hinaus sollten sich verantwortungsvolle Marketingexperten beispielsweise auch fragen, inwieweit sie mit Hilfe der Werbung das noch fragile Selbstwertgefühl Jugendlicher beeinflussen, indem sie mit Hilfe bestimmter Rollenmodelle indirekten Druck auf Aussehen oder Konsumverhalten ausüben. Die aktuellen Initiativen der Modebranche extrem untergewichtige Models von den Showen auszuschließen setzen hier ein Zeichen. Kontrovers diskutiert wird weiterhin die Verherrlichung des Konsums per se, der nicht nur psychologisch, sondern auch unter Umweltaspekten mehr als fragwürdig ist. Zu erwähnen ist im kommunikationspolitischen Kontext noch die Verantwortung zur integeren Markenführung. So kritisieren Murphy et al. beispielsweise den Einsatz bekannter Gangsta-Rapper als Testimonials bestimmter Produkte, da diese einen Lebensstil propagieren, bei dem Drogengebrauch und „gang rape“ als legitime Freizeitbeschäftigung angesehen werden (vgl. Murphy et al. (2005), S. 106).
3.3
Nachhaltigkeit als Herausforderung für das Management
Nachhaltigkeit ist keine Marketingtaktik, sondern eine Frage der ganzheitlichen Unternehmensethik. Eine nachhaltige Marketingpraxis muss von der Unternehmensführung gewollt, mitgetragen und aktiv vertreten werden. Beispielsweise ist es sinnvoll,
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die als relevant ermittelten Stakeholder in das Leitbild zu integrieren und das Verhalten des Unternehmens ihnen gegenüber im Sinne eines Soll-Zustandes festzuschreiben. Gerade in ethisch-ökonomischen Konfliktsituation, bei denen ein eventueller Verzicht auf kurzfristige Gewinne zugunsten der Nachhaltigkeit entstehen kann, muss es eindeutige Direktiven geben, an denen man sich orientieren kann. Ähnlich wie im Fall der Korruptionsprävention kann es hilfreich sein, wenn es neben einem allgemeinen nachhaltigkeitsorientierten Mission Statement klar formulierte Leitlinien gibt, in denen noch einmal konkret festgehalten wird, welche Praktiken oder Inhalte marketingseitig zu vermeiden sind. Dennoch kann es trotz einer schriftlichen Fixierung der Mission, der Strategie oder konkreter Ziele immer wieder Situationen geben, in denen neu diskutiert oder abgewogen werden muss. Hierbei ist eine diskursive Unternehmenskultur hilfreich, die den – auch abteilungsübergreifenden – Dialog fördert und eine kritische Auseinandersetzung ohne hierarchischen Druck zulässt. Die erfolgreiche und glaubwürdige Positionierung von echten nachhaltigen Marken lässt sich allerdings nur im Rahmen eines ganzheitlichen Ansatzes verwirklichen. Es birgt ein hohes Risiko, wenn versucht wird, eine Marke als „nachhaltiges Flaggschiff“ zu etablieren, ohne die notwendigen Voraussetzungen geschaffen zu haben. Hierin mag einer der Gründe liegen, warum die offensichtlichen Vorteile (noch) nicht in größerem Maße genutzt werden. Die Gefahr, sich den Vorwurf des „window dressing“ gefallen lassen zu müssen, ist in dem Maße gegeben, in dem die entsprechenden Rahmenbedingungen nicht implementiert sind. Dies bedeutet, dass es nicht ausreicht, zu versuchen einzelne Marken im Rahmen der Kommunikationspolitik „nachhaltig anzureichern“ oder „grün zu waschen“, sondern dass es eines eindeutigen Commitments der Unternehmensführung und eines Anpassungsprozesses der gesamten Unternehmens- und Kommunikationskultur unter Berücksichtigung verschiedenster interner und externer Stakeholder bedarf (vgl. Fabisch, N. (2004), S. 293 ff).
3.4
Nachhaltigkeitsmarketing als Business Case
Gelingt es den Verantwortlichen die Unternehmenskultur im oben beschriebenen Sinne glaubwürdig nachhaltig zu gestalten, bieten sich eine Reihe konkreter Vorteile für das Marketing im engeren Sinne (vgl. Abb.3). Nachhaltigkeit als Unternehmensphilosophie wird zum Business Case, setzt neue Akzente, befördert das Innovationspotenzial für nachhaltige Produkte und schafft neue Marktchancen.
Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz
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Differenzierung im Wettbewerb
Reputations- und Vertrauensaufbau zur Steigerung des Markenwerts
Gewinnung und Bindung von attraktiven Neukunden Business Case für Nachhaltigkeitsmarketing
Kostenersparnis durch Ressourcenreduktion
Motivation der Mitarbeiter und des Medieninteresses Steigerung des Innovationspotenzials
Abbildung 3: Der Business Case für Nachhaltigkeitsmarketing Quelle: Eigene Darstellung
Auf der Suche nach Differenzierungsmöglichkeiten, die umweltpolitisch sinnvoll und sozial fair sind, bieten sich Anknüpfungspunkte für Produktinnovationen an. Derartig nachhaltige Produkte sprechen wiederum neue attraktive Kundengruppen an, die explizit ethisch konsumieren wollen und auch als entsprechend loyal gelten, da sich das Wissen um die Wichtigkeit nachhaltigen Konsums nicht mehr löschen lässt. Die Positionierung als nachhaltiges Unternehmen oder Wert-volle Marke ist somit ein deutliches und Gewinn bringendes Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb. Im Einklang hiermit reduzieren sich auch Reputationsrisiken, die ihrerseits den Unternehmens- und Markenwert beeinflussen oder zu Kundenboykottaktionen führen können. Darüber hinaus werden durch Ressourcen sparende Produktionsbedingungen Kosten reduziert. Nicht zu vernachlässigen ist auch die motivierende Wirkung auf Mitarbeiter, die stolz sind in einem wahrhaft nachhaltigen Unternehmen zu arbeiten sowie die Medien, die über ethische Produktinnovationen eher geneigt sind, zu berichten.
Nicole Fabisch
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4
Zusammenfassende Betrachtung
Nachhaltigkeit ist im Trend. Mehr und mehr Konsumenten achten auf nachhaltige Indikatoren beim Kauf. Für Unternehmen wiederum bietet die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Aspekte nicht nur Einsparpotenziale, sondern auch Differenzierungsmöglichkeiten im Wettbewerb. Diejenigen Unternehmen, denen es gelingt einen Wertekonsens mit ihren Stakeholdern herzustellen und glaubwürdige „Morability“-Marken (Mix aus Moral und Sustainability) zu etablieren, die echten Sinn stiften und nicht nur sinnlose Worthülsen verwenden, haben die besten Chancen nachhaltige Vertrauensbeziehungen zu ihren Stakeholdern aufzubauen. Folglich kann Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz dazu beitragen, in einem globalen Wettbewerb den langfristigen Erfolg des Unternehmens zu sichern.
Nachhaltigkeitsmarketing als innovativer Strategieansatz
477
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Komplexität - Eine Einführung in die Komplexitätsforschung und Auswirkungen auf das Management komplexer Projekte Klaus-Peter Schoeneberg*
1
Einleitung ......................................................................................................480
2
Komplexitätsmanagement ...........................................................................481 2.1 Strukturierung der Theorien der Komplexitätsforschung ....................481 2.1.1 Komplexität durch die Komponentenanzahl ............................482 2.1.2 Komplexität durch die Anzahl der Verknüpfungen...................482 2.1.3 Komplexität durch Nicht-Linearität...........................................482 2.1.4 Komplexität durch die Intensität der Beziehungen ..................483 2.1.5 Komplexität durch Limitierung des Wissens ............................483 2.1.6 Komplexität durch Überforderung oder Fehlinterpretation des Beobachters.........................................484 2.2 Ökonomische Anwendungsbereiche für Komplexität .........................485 2.3 Umgang mit Komplexität ....................................................................487 2.3.1 Reduktion der Komplexität ......................................................487 2.3.2 Beherrschung der Komplexität ................................................487 2.3.3 Komplexitätstreibende Kriterien...............................................488 2.3.4 Systemevolution zum komplexen System ...............................489
3
Auswirkungen des Komplexitätsmanagements auf projektorientierte Unternehmen ....................................................................491 3.1 Gründe für das Scheitern von Projekten ............................................492 3.2 Ansätze zum praktischen Umgang mit komplexen Projekten.............493
4
Resumee ......................................................................................................495
Literaturverzeichnis ................................................................................................497
* Diplom-Kaufmann Klaus-Peter Schoeneberg ist Inhaber der Unternehmensberatung Schoeneberg Consulting, Doktorand an der Universität Hamburg und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen.
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1
Einleitung
Die voranschreitende Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, steigende Komplexität und Wettbewerbsintensität, sowie Prozess- und Produktheterogenität stellen Unternehmen vor die Herausforderung, ihre Erfolgspotenziale durch strategische Maßnahmen zu sichern beziehungsweise auszubauen (vgl. Himme, A. (2008), S. 3; Wilke, P./Nerdinger, F.W. (2009), S. 1). Ein hoher Grad an Anpassungsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit, sowie vernetzte Systeme und deren Nutzungsmöglichkeit unabhängig von Ort und Zeit werden von den Unternehmen verlangt. Darüber hinaus sollen Innovationsstrategien alle Phasen des Produktlebenszyklus als innovationsrelevant betrachten. Innovationen stellen komplexe Neuerungen dar, die mit technischem, sozialem und wirtschaftlichem Wandel einhergehen (vgl. Gabler 2010, S. 1515). Intelligente und adaptive Produktion innerhalb komplexer Wertschöpfungspartnerschaften ist von den Unternehmen in zukunftsfähige Innovationsstrategien einzubetten (vgl. ISF München o. J.). Die Zunahme an Komplexität und Dynamik in unseren Systemen zeigt sich in der Notwendigkeit, Probleme mit zunehmender Vernetztheit und Schwierigkeitsgrad lösen zu müssen (vgl. Bleicher, K. (2004), S. 51). Der Begriff Komplexität wird in vielen Forschungsfeldern wie auch in der Praxis unterschiedlich verwandt (vgl. Schmidt, S. (2009), S. 82; Ludwig, B. (2001), S. 20). Zur Herstellung eines gemeinsamen Verständnisses von Komplexität wird im ersten Abschnitt zunächst auf die Theorien zur Komplexitätsforschung und die ökonomischen Anwendungsbereiche eingegangen. Es folgt ein Überblick über die unterschiedlichen Möglichkeiten zum Umgang mit Komplexität. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit Ergebnissen der praktischen Umsetzung komplexer Systeme innerhalb von Projekten. Zunächst werden die Gründe für das Scheitern von Projekten unter Komplexitätsaspekten systematisiert dargestellt. Anschließend werden Fragestellungen für die weitere Forschung und praktische Anwendung aufgeworfen. Im dritten Abschnitt wird ein Resümee über den Stand der dargestellten theoretischen und praktischen Aspekte zur Komplexität gezogen und ein Ausblick für die weitere Forschung gegeben.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4_25, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
Management komplexer Projekte
2
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Komplexitätsmanagement
In den Technik- und Naturwissenschaften ist die Forschung nach dem Management von Komplexität und komplexen Systemen weit verbreitet (vgl. Kastl, T./Schmid, A. (2008), S. 215; Bleicher, K. (2004), S. 51). Auch in den Sozialwissenschaften wird seit den 1960er Jahren versucht, im Rahmen der systemischen Managementlehre die Lenkung komplexer Ordnungssysteme zu analysieren (vgl. Malik, F. (2008), S. VII). Es folgt zunächst die Strukturierung und Darstellung von Theorien zur Komplexitätsforschung, bevor betriebswirtschaftliche Anwendungsbereiche und Möglichkeiten zum Umgang mit Komplexität dargestellt werden.
2.1
Strukturierung der Theorien der Komplexitätsforschung
Die Strukturierung der Theorien der Komplexitätsforschung erfolgt anhand der Weiterentwicklung der von Weyer (2009) aufgestellten Kreuztabelle mit folgenden Dimensionen (vgl. ebd., S. 6; siehe auch Kneip, P. (2004), S. 25 ff.): x
Strukturelles, systemimmanentes Faktum im Sinne einer objektiven Tatsache versus eines subjektiven Konstruktes eines Beobachters.
x
Quantität der Komponenten versus Qualität der Interaktion und der sich daraus ergebenden Eigendynamik.
x
Die Art der Vernetzung in qualitativer versus quantitativer Sicht. quantitativ
strukturelles Faktum Vielzahl an Komponenten (objektive Tatsache) (Sozialwissenschaften) Vernetzung
subjektives Konstrukt
qualitativ Nicht-Linearität (Naturwissenschaften)
Anzahl der Verknüpfungen (Sozialwissenschaften)
Intensität der Beziehungen (Sozialwissenschaften)
Limitierung des Wissens (Sozialwissenschaften)
Überforderung, Fehlinterpretation des Beobachters (Sozialwissenschaften, Psychologie)
Tabelle 1: Strukturierung der Komplexitätsforschung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Weyer, J. (2009), S. 7.
Im Folgenden werden die einzelnen Quadranten erläutert.
482
Klaus-Peter Schoeneberg
2.1.1 Komplexität durch die Komponentenanzahl Beim quantitativen Verständnis von Komplexität als Vielzahl von Komponenten ist primär die Anzahl der Elemente eines Systems relevant. Malik (2008) bestimmt die Komplexität quantitativ anhand der Varietät als „(…) die Anzahl der unterscheidbaren Zustände eines Systems bzw. die Anzahl der unterscheidbaren Elemente einer Menge“ (ebd., S. 168). Luhmann (1975) nimmt die „Unterscheidung zwischen der Zahl der Elemente eines Systems und der Zahl und Verschiedenartigkeit der zwischen ihnen möglichen Beziehungen“ (ebd., S. 257; vgl. auch Luhmann, N. (1985), S. 49) vor. Steigt die Anzahl der Elemente so stark, dass nicht mehr alle theoretisch möglichen Beziehungen realisiert werden können, muss das System mit den gegebenen Möglichkeiten selektiv verfahren (vgl. Luhmann, N. (1984), S. 176). Anstieg und Reduktion der Komplexität werden zu strukturbildenden Bestandteilen des Systems. Sie finden ihre Grenzen in der Umwelt, die komlexere Verhältnisse aufweist, als es das System zu erkennen vermag (vgl. Luhmann, N. (1986), S. 210).
2.1.2 Komplexität durch die Anzahl der Verknüpfungen Milling (1981) definiert Komplexität über das strukturelle Faktum, ergänzt jedoch die Dimension Konnektivität, also die Anzahl der Verknüpfungen zwischen den Elementen als Maß für die Verflechtungsdichte des Systems (vgl. ebd., S. 91 ff.). Die Konnektivität ist dem Unterscheidungskriterium Vernetzung zuzuordnen.
2.1.3 Komplexität durch Nicht-Linearität Dem strukturellen Sachverhalt, fokussiert auf die Qualität der Interaktion, ist der Ansatz der Nicht-Linearität zuzuordnen. Focus der Betrachtung ist hier die Qualität der Prozesse und Strukturen. Abzugrenzen sind hier komplizierte von komplexen Sachverhalten. Beide weisen eine Vielzahl von Einflussfaktoren und eine starke Verknüpfung auf. Komplizierte Systeme sind durch eine hohe Anzahl von Elementen oder Variablen gekennzeichnet, zwischen denen zahlreiche Verknüpfungen vorliegen oder vermutet werden (vgl. Fisch, R. (2004), S. 323). Bei genauer Analyse weisen sie allerdings nachvollziehbare, lineare Beziehungen auf. Komplexe Systeme erfüllen ebenfalls alle Kriterien der komplizierten Systeme. Darüber hinaus sind sie durch Dynamik gekennzeichnet. Die Kontrollierbarkeit der Sys-
Management komplexer Projekte
483
teme wird erschwert, da sie sich im Zeitverlauf auf Grund von Umwelteinflüssen oder vorhandener Eigendynamik verändern (vgl. Funke, J. (2004), S. 23). Die Art der Beziehungen kann sich bei komplexen Systemen verändern, sodass Wechselwirkungen einfacher und höherer Ordnung auftreten können (vgl. Fisch, R. (2004), S. 323). Ulrich/Probst (1990) definieren Komplexität als die Fähigkeit eines Systems, „ (…) in einer gegebenen Zeitspanne eine große Anzahl von verschiedenen Zuständen annehmen zu können“ (ebd., S. 58). Da es sich zumeist um offene Systeme handelt, können Einflussfaktoren dazu stoßen oder wegfallen. (vgl. Homburg, C./Krohmer, H. (2007), S. 203; Gomez, P./Probst, G. (1999), S. 22). Als Konsequenz zieht Kaebler (2003), dass das Verhalten komplexer Systeme nicht vorhergesehen werden kann (vgl. ebd., S. 55). Fraglich ist, ob ein kompliziertes System durch einen dynamischen Bestandteil, beispielsweise durch eine zufällige Interaktion mit der Umwelt, zu einem komplexen System wird (vgl. Weyer, J. (2009), S. 10). Auf eine Diskussion bezüglich des Übergangs zwischen den beiden Systemtypen wird hier verzichtet.
2.1.4 Komplexität durch die Intensität der Beziehungen Bei der Betrachtung der Vernetzung kann neben der Quantität der Beziehungen auch die Qualität als Unterscheidungskriterium gelten. Die Beziehungen innerhalb komplexer Systeme lassen sich aus qualitativer Sicht unterscheiden nach deren Art und Intensität. Ebenso wie die Dynamik kann auch die Intensität der Beziehungen variieren.
2.1.5 Komplexität durch Limitierung des Wissens Der Komplexität als strukturelles, systemimmanentes Faktum im Sinne einer objektiven Tatsache steht das Konstrukt mit subjektiven Faktoren gegenüber (vgl. ebd., S. 11). Die subjektiv – quantitative Dimension als primäre Ursache von Komplexität betrachtet Malik (2008). „Das Überschreiten eines Schwellenwertes auf der Komplexitätsskala bringt eine völlige Änderung der meisten Aufgaben mit sich, soweit diese mit der Führung des Unternehmens zusammenhängen. (…) Erst jenseits des kritischen Komplexitätswertes wird Führung und Organisation zu einem entscheidenden Problem; erst dann erfordert Management mehr als Intuition, Erfahrung und Fingerspit-
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zengefühl.“ (ebd., S. 75 f.) Bezogen auf die quantitative Verarbeitungskapazität führt er aus, dass die Komplexität die Kapazität des menschlichen Gehirns übersteigt. Mit Bezug auf den Management-Kontext führt er an, „dass die formalen Führungsorgane einer Unternehmung niemals über ausreichende Informationen, niemals über genügend Wissen und niemals über genügend Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen können, um eine Unternehmung, die sich jenseits der Komplexitätsbarriere befindet, im Detail zu steuern und zu gestalten“ (ebd., S. 76). In Maliks quantitativem Ansatz wird Komplexität auf die Anzahl der zu betrachtenden Komponenten beschränkt. Maßstab zur Messung der Komplexität ist die Problemverarbeitungskapazität des Subjekts. Die Steuerung einer Organisation erfolgt nach Malik (2008) jedoch zum großen Teil durch Selbstregulation und Selbstorganisation, also intrinsische Steuerung, das heißt, sie befindet sich unterhalb der angeführten Komplexitätsbarriere (vgl. ebd.).
2.1.6 Komplexität durch Überforderung oder Fehlinterpretation des Beobachters Der Komplexität durch Überforderung oder Fehlinterpretation des Beobachters liegt das Verständnis des subjektiven Konstrukts mit dem Fokus qualitativer Aspekte zugrunde. Da wir es gewohnt sind, linear zu denken, sind gemäß Dörner (2003) Misserfolge bei komplexen Aufgabenstellungen vorprogrammiert. (vgl. ebd., zit. nach Weyer, J. (2009), S. 15). Grote (2005) sieht aus einer technischen Sichtweise die Ursache für Fehler eher in dem Kontrollentzug des Menschen durch die Technik, wodurch der Mensch erst mit einer unlösbaren Aufgabe konfrontiert wird (vgl. ebd., S. 70). Als Ergebnis konstatiert Weyer (2009), in eine Theorie komplexer Systeme sowohl das strukturelle Faktum als auch das subjektive Konstrukt zu integrieren. Er weist darauf hin, dass ebenso die qualitative wie auch die quantitative Dimension zu berücksichtigen ist (vgl. ebd., S. 19 f.).
Management komplexer Projekte
2.2
485
Ökonomische Anwendungsbereiche für Komplexität
Auch in der betriebswirtschaftlichen Literatur findet sich die Komplexität in vielen Anwendungsbereichen wieder. Schmidt (2009) führt Begriffe aus, die in Verbindung mit der Beschreibung diffiziler Produkte zu finden sind (vgl. ebd., S. 85 ff.): x
Produktkomplexität oder komplexe Produkte
x
Komplexe Systeme
x
Komplexe Technologie
x Organisatorische Komplexität Unter Produktkomplexität versteht Perillieux (1991), dass ein Produkt aus einer großen Komponentenanzahl besteht, einen hohen Innovationsgrad sowie eine hohe technische Komplexität besitzt und einen hohen Dienstleistungsanteil hat (vgl. ebd., S. 41, zit. nach Schmidt, S. (2009), S. 86). Komplexe Systeme bestehen aus einer Anzahl von Elementen. Die makroskopischen Zustände des Systems werden nach Mainzer (2004) auf mikroskopische Wechselwirkungen der Elemente zurückgeführt (vgl. ebd., S. 5). Technologische Komplexität kann nach Rycroft/Kash (1999) anhand des strukturellen Faktums mit drei unterschiedlichen Konzepten definiert werden (vgl. ebd., S. 54 f.). Hierzu zählt als Erstes das Messen der Anzahl der Komponenten des Produktes, als Zweites die Anzahl der Verbindungen zwischen den Komponenten und Subsystemen und als Drittes das Konzept der engen Beziehungen zwischen den Prozessen, Produkttechnologien und dem organisatorischen System, das auf Rückkopplungsschleifen basiert. Organisatorische Komplexität meint die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Ebenen und Akteuren im betrieblichen Kontext. Auch hier ermöglicht nur die Nicht-Linearität des Produktentwicklungsprozesses die Entwicklung von komplexen Systemen (vgl. ebd., S. 58 ff.). Aus der Sichtweise des Marketing-Managements haben Tidd et al. (2005) eine Matrix zur Innovationenforschung nach dem Reifegrad des Marktes und der Technologie aufgestellt (vgl. ebd., S. 243).
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Abbildung 1: Innovationenforschung anhand des Reifegrads der Technologie und des Marktes Quelle: Tidd et al. 2005, S. 243.
Komplexität wird als Kombination der Dimensionen Neuheit der Technologie und des Marktes dargestellt. Ziel ist die Identifikation eines Musters einer Innovation sowie die Erfassung der Interdependenzen zwischen Technologien und Märkten (vgl. ebd., S. 243 ff.). Aufgrund der neuen Technologien und Märkte erfolgen stetige Wechselwirkungen zwischen beiden, die zu komplexen Gebilden führen können. Anwendungsfelder für die betriebliche Praxis kommen hier aus der Diffusionsforschung durch eine enge Zusammenarbeit der Entwickler mit den Adoptoren. Zu den bekannten Technologien und Anwendungen zählen Produkte der Telekommunikation, IT, Multimedia,. Luft- und Raumfahrttechnik sowie der Pharmazie (vgl. Schmidt, S. (2009), S. 90). In den vorherigen Abschnitten wurden die theoretischen Merkmale der Komplexitätsforschung und die betrieblichen Anwendungsfelder dargestellt. Der folgende Abschnitt befasst sich mit Möglichkeiten der Handhabung komplexer Aufgabenstellungen. Anschließend werden Ansätze zur Umsetzung eines Systems zum Komplexitätsmanagement dargestellt.
Management komplexer Projekte
2.3
487
Umgang mit Komplexität
Der Umgang mit Komplexität kann nach marktstrategischen Gesichtspunkten erfolgen. Zu entscheiden ist hier, ob die Komplexität reduziert oder beherrscht werden soll. Für organisationale Problemstellungen wurden in einer Reihe wissenschaftlicher Disziplinen konkrete Verfahren zum Umgang mit komplexen Aufgabenstellungen entwickelt. Einen Überblick hierzu bietet Beck (2004) (vgl. ebd., S. 55). Zugrunde liegt den entwickelten Verfahren ein prozessorientiertes Verständnis der Problemlösung und Entscheidungsfindung. Beck (2004) definiert einen Orientierungsrahmen mit sechs Phasen, die bei der Problemlösung oder Entscheidungsfindung durchlaufen werden sollen: Orientierung, Lösungssuche, Alternativenauswahl, Maßnahmenplanung, Umsetzung und retrospektive Bewertung (vgl. ebd.). In das Phasenschema gliedert er unterstützende phasenübergreifende und phasenspezifische Verfahren ein.
2.3.1 Reduktion der Komplexität Für Adlbrecht (2008) hat die Komplexitätsvermeidung oder zumindest die Reduktion „natürlich oberste Priorität“ (ebd., S. 287). Zur Komplexitätsvermeidung empfiehlt er ein ausgereiftes System zu schaffen oder weiterzuentwickeln. Ziel ist es, dem Kunden in Zukunft vorgenerierte Standardlösungen anzubieten. Sein Einfluss auf die Auftragsabwicklung soll minimiert und das Vertragswerk vereinfacht werden. Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Kunden sollen Wettbewerbsvorteile generiert werden (vgl. ebd., S. 287, s. a. Denk, R./Pfneissl, T. (2009), S. 26).
2.3.2 Beherrschung der Komplexität Der zweite Weg ist die Beherrschung der Komplexität. Als Voraussetzung bedarf es hierfür einer „adäquaten Organisation und Führung, passender Instrumente, einer entsprechenden Unternehmens-(Projekt-)Kultur und unzähliger geeigneter Mitarbeiter“ (ebd.). Die Beherrschung der Komplexität im Sinne einer vollständigen Datenerfassung sieht auch Vester (o. J.) als Utopie an, zumal es sich um offene Systeme handelt (vgl. ebd., S. 2). Da eine vollständige Betrachtung von Komplexität nicht möglich ist, wird auch hier zunächst eine Reduktion vorgenommen (vgl. Vester, F. (2000), S. 160; Vester, F. (o. J.), S. 2). Diese erfolgt durch Ermittlung der kritischen
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488
Variablen, Komponenten und Funktionen eines Systems und der Hinterfragung des Sinns des Systems (vgl. Schwegler, R. (2008), S. 49). Ziel ist es hierbei, Aussagen über das Gesamtsystem und nicht lediglich über Teilaspekten zu erhalten. Hier liegt die Erkenntnis zugrunde, dass mittels einfacher Theorien keine komplexen Fragestellungen beantwortet werden können (vgl. Willke, H. (2000), S. 169; Simon, H. A. (1978), S. 120 f; Hayek, F. A. v. (1972), S. 16). Die Ergebnisse stellen aufgrund der Komplexität keine konkreten Vorhersagen sondern grundlegende Funktionszusammenhänge und Verhaltensmuster dar, die unterstützend genutzt werden können zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Eintritts bestimmter Ereignisse oder Ergebnisse (vgl. Willke, H. (2000), S. 198; Willke, H. (1999), S. 12). Der Umgang mit Komplexität mittels der Systemtheorie vermittelt nach WILLKE (1999) die Fähigkeit, relevante Zusammenhänge und Unterschiede zu erkennen und Wichtiges von Unwichtigem leichter und schneller zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 12). Für die Handhabung komplexer Fragestellungen, beispielsweise der Möglichkeiten und Grenzen flexiblen Projektmanagements ist dies von großer Bedeutung. Komplexität ist bei Problemstellungen sozialer und psychischer Systeme heute der Normalfall, sodass die neuere Systemtheorie wertvolle Beiträge für unternehmerisches Handeln liefern kann (vgl. ebd., S. 68).
2.3.3 Komplexitätstreibende Kriterien Bei der Lösung komplexer Aufgabenstellungen ist zu beobachten, dass Einzelpersonen, wie auch Gremien gemäß Dörner (1989) scheinbar einer ‚Logik des Misslingens’ folgen. Vester (2000) fasst sechs Fehler im Umgang mit komplexen Systemen zusammen, die die Beherrschbarkeit von Systemen reduzieren (vgl. Vester, F. (2000), S. 160; Vester, F. (o. J.), S. 36 ff, nach Dörner, D. (1998), s. a. Denk, R./Pfneissl, T. (2009), S. 21 ff.): x
Falsche Zielbeschreibung,
x
unvernetzte Situationsanalyse,
x
irreversible Schwerpunktbildung,
x
unbeachtete Nebenwirkungen,
x
Tendenz zur Übersteuerung und
x
Tendenz zu autoritärem Verhalten.
Als Ergebnis konstatiert er, dass bei den jeweiligen Fehlerursachen der Systemcharakter, also das vernetzte Gesamtsystem nicht mit betrachtet wurde (vgl. Vester, F. (2000), S. 38). Im folgenden Abschnitt wird dieser Kritik Rechnung
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(2000), S. 38). Im folgenden Abschnitt wird dieser Kritik Rechnung getragen, indem die Entwicklung von Systemen hin zu komplexen Systemen erläutert wird.
2.3.4
Systemevolution zum komplexen System
Nach Vaughn (2008) tendieren komplexe Systeme dazu, adaptive Systeme zu sein (vgl. ebd., S. 192). Die agierenden Personen lernen im Zeitverlauf, den Umgang mit ihrer Umwelt zu optimieren. Aufgrund der Abhängigkeiten von Anderen und deren Aktionen tendieren sie einerseits zur Kooperation, andererseits auch zum Wettbewerb, um die eigene Anpassungsfähigkeit an die Umgebung zu optimieren (vgl. ebd., S. 192 f.). Aus der Sicht der Systementwicklung können nach Willke (2000) Systeme unterschiedliche Zustände auf dem Weg zu (hoch-)komplexen Systemen durchlaufen (vgl. ebd., S. 68 ff.). Schwegler (2008) gibt eine Übersicht über die Stadien der Systemevolution von der Entstehung eines Quasi-Systems hin zu einem hochkomplexen System (vgl. ebd., S.56 mit Bezug auf Willke, H. (2000), S. 68 ff.). Innerhalb der Evolutionsschritte sind unterschiedliche Komplexitätsanforderungen zu bewältigen. Zur Bewältigung sind von den Systemen unterschiedliche Fähigkeiten zu entwickeln, die wiederum neue Herausforderungen und Fähigkeiten zu Bewältigung des folgenden Systemzustandes nach sich ziehen. Die jeweiligen emergenten Eigenschaften lassen sich den Systemzuständen zuordnen, da sie charakteristisch sind für die Evolutionsebene des komplexen Systems (vgl. ebd., S. 56 mit Bezug auf Krohn, W./Küppers, G. (1992)).
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Komplexitätsanforderung –
Problem
x Umwelt
Sachliche Komplexität
x Knappheit
Soziale Komplexität
x Ordnung
Zeitliche Komplexität
x Zeit
Operative Komplexität
Kognitive Komplexität
Bewältigungsstrategien x Grenzziehung zur Definition von System-/ Umweltdifferenz x Rollendefinition zur Bewältigung von Knappheit x Interne funktionale Differenzierung der Rollen und Festlegung von Prozessregeln zur Schaffung von (sachlicher) Ordnung x Ausdifferenzierung von Strukturen und Prozessen zur zeitlichen Abstimmung
Systemzustand
Emergente Eigenschaft
x Entstehung eines QuasiSystems
–
x QuasiSystem
–
x QuasiSystem
–
x Übergang zum komplexen System
xStrukturen und Prozesse
x Identität
x Sinngebung, Identitätsbildung x Komplexes System x Integration und Selbststeuerung
xKognitive Strukturen (Fähigkeit zur Reflexion)
x Evolution
x Aufbau und Steuerung von Wissen x (Hoch-) Komplexes Sysx Generative Diftem ferenzierung zur zielgerichteten Evolution
xGenerativität (Fähigkeit zur Genese) xWissenschaft
Tabelle 2: Systemevolution Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Schwegler, R. (2008), S. 56 mit Bezug auf Willke, H. (2000), S. 68 ff.
Nach der Reduktion der Komplexität innerhalb der Quasi-Systeme erfolgt der Umgang mit Komplexität beim Übergang zu komplexen Systemen auf Basis der Steuerung und Koordination. Zur Bewältigung der zeitlichen Komplexität erfolgt die Ausdifferenzierung von Strukturen und Prozessen, die zeitlich optimal abzustimmen sind.
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Bei Erreichung des komplexen Systemzustands liegt aufgrund der kognitiven Strukturen die Fähigkeit zu Reflexion vor (vgl. Heidsiek, C. (2009), S. 59 ff.). Eine emergente Eigenschaft hochkomplexer Systeme ist es, die Funktion der Genese herauszubilden (vgl. Schwegler, R. (2008), S. 55). Erst durch die Fähigkeit zur Reduktion der Komplexität können die kognitiven Strukturen und die Fähigkeiten zur Reflexion und Genese, die eine Erhöhung der Komplexität mit sich führen können, entwickelt werden (vgl. Willke, H. (2000), S. 131). Wimmer (2009) bezeichnet es als systembegründende Paradoxie, dass gerade durch die Selektion und Reduktion der Informationen der Umwelt die Fähigkeit zur gezielten Fokussierung der Bearbeitungsroutinen auf bestimmte Leistungsaspekte möglich ist, da durch die Selektion eventuell relevante Umweltinformationen oder entwicklungen ausgeblendet werden. Der Umgang mit der systembegründende Paradoxie ist die Voraussetzung dafür, dass Organisationen eine dynamische Stabilität gewinnen. Ziel ist es, innerhalb des permanenten Veränderungsprozesses die Identität der Organisation zu erhalten (vgl. ebd., S. 220). Lasch/Gießmann (2009) stellen Ansätze zum Komplexitätsmanagement aus ganzheitlicher Sicht dar, die als Prozesse aufgefasst werden und als Leitlinien für die Implementierung eines Komplexitätsmanagements dienen können (vgl. ebd., S. 195 ff.).
3 Auswirkungen des Komplexitätsmanagements auf projektorientierte Unternehmen Das hohe Maß an Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit, die zunehmende Komplexität von Wertschöpfungsprozessen, die Fragmentierung der Wertschöpfungsketten und die steigende Wissensintensität ist für Unternehmen innerhalb der klassischen organisatorischen Strukturen und Prozesse nicht darstellbar (vgl. Mayer et al. 2008, S. 4). Zur Realisierung der Anforderungen ist in den letzten Jahren das Thema Projektmanagement wieder verstärkt in den Focus der Wissenschaftler und Praktiker gerückt. Innerhalb von Projekten sind die emergenten Eigenschaften der flexiblen Strukturen und Prozesse als Kennzeichen der Evolutionsebene der zeitlichen Komplexität realisierbar.
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Die Umsetzung der prozessualen Vorgehensweise des Innovationsmarketings (siehe hierzu den Beitrag Grundlagen des Innovationsmarketing von Herbert Loock in dieser Festschrift) ist aus komplexitätstheoretischer Sicht auch innerhalb dynamischer komplexer Projekte möglich. Sie bedingt einen zumindest temporären Anstieg der zeitlichen Komplexität, da für das Projektmanagement zusätzliche oder alternative Strukturen und Prozesse zu definieren und zeitlich abzustimmen sind. Analog der Dynamik in komplexen Projekten kann mit der in Innovationsprozessen umgegangen werden. Eine dynamische Steuerung bis hin zur Selbst- und Wissenssteuerung kann erreicht und für Innovationen genutzt werden. Dem jeweiligen Entwicklungsstand folgend können die Herausforderungen der operativen und gegebenenfalls der kognitiven Komplexität mittels der dargestellten Bewältigungsstrategien angegangen werden. Voraussetzung für den Systemzustand der operativen Komplexität ist der Aufbau kognitiver Strukturen und die Fähigkeit zur Reflexion. Für hochkomplexe Systeme ist die Fähigkeit zur Genese zu entwickeln. Das Wissen um die Bewältigungsstrategien bedeutet allerdings nicht, dass die Komplexitätsprobleme erfolgreich bewältigt werden. Die Analyse des Entwicklungsprozesses ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Offen ist auch, wie eine Übertragung der dynamischen Stabilität eines Projektes auf die Gesamtorganisation erfolgen kann. In der Praxis scheitert ein Großteil von Projekten aus sehr unterschiedlichen Gründen. Im Folgenden werden diese strukturiert dargestellt, bevor Fragestellungen aufgeworfen werden, die zur Komplexitätsbeherrschung beitragen können.
3.1
Gründe für das Scheitern von Projekten
Die Zahl projektorientierter Arbeit innerhalb und zwischen Organisationen ist zwar erheblich gestiegen, allerdings werden noch immer bei 70-80% der Projekte einzelne Ziele nicht erreicht oder die Projekte scheitern (vgl. ebd., S. 1; Roth, A./Dineiro, V.H. (2008), S. 17; Siegmund, J. (2007)). Die meist genannten Gründe lassen sich in drei Kategorien unterteilen.
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Dimension
Organisation / Struktur
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Gründe des Scheiterns von Projekten x Mangelnde Integrationsfähigkeit der IT-Infrastrukturen in das Projektmanagementkonzept (vgl. Hesseler 2007, S. 6) x Organisationale Probleme (vgl. ebd., S. 6) x Mangelnde Voraussetzungen zur Beherrschung der Prozesse (vgl. ebd., S. 59 ff.) x Fehlende Projektmanagementkompetenz (vgl. Siegmund 2007)
Mensch / Verhalten
x Mangelnde Unternehmens- und Führungskultur (vgl. Kosel/ Weißenrieder 2007, S. 68 f.; Hesseler 2007, S. 59 ff.) x Personelle Probleme (vgl. Hesseler 2007, S. 6; Litke 2008, S. 73) x Mangelndes / veraltetes Projektmarketing-Verständnis (vgl. Hagen 2007, Blog)
Technik / Vernetzung
x Fehlender Fokus der Zielsetzung zur Maximierung des Kunden-, Unternehmens- und Mitarbeiternutzens in Projekten (vgl. ebd.) x Fehlende systemorientierte Betrachtung (vgl. Bea et al. 2008, S. 15 ff.) x Mangelhafte Stakeholderanalyse (vgl. Patzak/Rattay 2009, S. 95; Bea et al 2008, S. 97)
Tabelle 3: Dimensionen und Gründe des Scheiterns von Projekten Quelle: Eigene Darstellung
Für die Praxis sind mehr die Gründe des Scheiterns, denn die Aufteilung in die Dimension relevant. Zu beachten ist, dass auch hier Ebenen vorliegen, die es zu überprüfen gilt.
3.2
Ansätze zum praktischen Umgang mit komplexen Projekten
Vor dem Hintergrund des Scheiterns der großen Anzahl von Projekten erlangt das Projektmanagement mehr denn je strategische Bedeutung. Die Forschung und ihre
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Reflexion in der Praxis müssen Antworten finden auf offene Fragen, die sich ebenfalls den Dimensionen Organisation/Struktur, Mensch/Verhalten und Technik/Vernetzung zuordnen lassen (vgl. Adlbrecht, G. (2008), S. 282): Dimension
Offene Fragestellungen x Wie muss die geeignete Organisationsstruktur für den jeweiligen Systemzustand und die Komplexitätsanforderungen aussehen? x Wie müssen die geeignete Organisationsstruktur und die Prozesse für die Art der zu bewältigenden Aufgaben aussehen?
Organisation / Struktur
x Welche Art und welches Maß an Netzwerkorganisation sind für die Art der zu bewältigenden Projekte umzusetzen? x Wie sind geeignete Projektpartner für die Art der Projekte auszuwählen? x Wie sind Schnittstellen zu gestalten bzw. wie erfolgt das Schnittstellenmanagement innerhalb komplexer Prozesse? x Wie können emergente Eigenschaften ausgebildet und genutzt werden?
Mensch / Verhalten
x Wie sehen die für die Art der Projekte notwendigen Kompetenzen und Persönlichkeitsprofile der Mitarbeiter und Projektpartner aus? x Wie können Netzwerke für die Art der zu bewältigenden Projekte optimal genutzt werden? x Wie können emergente Eigenschaften ausgebildet und genutzt werden? x In welchem Maße erfolgt die Integration der Umwelt?
Technik / Vernetzung
x Wie sind Netzwerke zur Optimierung der Verflechtungsdichte nutzbar? x Wie können emergente Eigenschaften ausgebildet und genutzt werden?
Tabelle 4: Dimensionen und offene Fragenstellungen zum Umgang mit Komplexität in Projekten Quelle: Eigene Darstellung
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Diese und weitere Fragen sind von Wissenschaftlern und Praktikern zu klären und bieten einen großen Raum für die weitere Forschung.
4 Resumee Das theoriegeleitete Verständnis über ein System basiert auf einer geeigneten Möglichkeit der Beschreibung. Die Komplexität selbst stellt hierbei eine entscheidende Eigenschaft dar, die dessen Handhabbarkeit und Beschreibbarkeit bestimmt (vgl. Ludwig, B. (2001), S. 133). Bei komplexen Aufgabenstellungen sind verschiedene Dimensionen analytisch unterscheidbar. Der Transfer von der Theorie der Komplexität zum Projektmanagement hat gezeigt, dass die Gründe für das Scheitern von Projekten sowie die Ansätze zum praktischen Umgang mit komplexen Projekten eine entsprechende analytische Gliederung zulassen. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Trennung der Komplexität in die dargestellten Dimensionen zur Strukturierung durchaus sinnvoll ist. Sie kann dem Praktiker gut als Hilfestellung zur Beachtung der unterschiedlichen Dimensionen, nicht aber aus theoretischen Erwägungen zur Unterstützung der Entscheidung für nur eine der Dimensionen dienen. Die gezielte Steuerung komplexer Systeme stellt eine große Herausforderung für die theoretische Forschung und die Praxis dar. Komplexität lässt sich nicht in wissenschaftliche Disziplinen eingrenzen, was für einen wissenschaftlichen Austausch über Disziplingrenzen hinweg spricht. Im Hinblick auf die beschleunigt fortschreitende Entwicklung gewinnt das Komplexitätsmanagement im Rahmen des Innovationsmanagements zunehmend an Bedeutung. In diesem Zusammenhang muss Fragestellungen der Interdependenzen der Ergebnisse von Innovations- und Komplexitätsprojekten nachgegangen werden. Weiterhin sind die Entwicklungsprozesse und deren gegenseitige Abhängigkeiten zu untersuchen. Zu hinterfragen sind auch die Grenzen und Übergänge zwischen den Systemen und der Umwelt bei sich beeinflussenden Innovations- und Komplexitätsprojekten. Eine aktuelle Forschungsrichtung ist das Knowledge Managment. Die Aufnahme und Bildung neuen Wissens sollen verwaltet und unternehmensweit oder unternehmens-
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übergreifend verwertet und verteilt werden. Hierzu werden fakultätsübergreifend organisatorische Lehr-/Lernkonzepte mit Ergebnissen der Innovations- und Komplexitätsforschung und dem Einsatz moderner IT-Konzepte kombiniert.
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Autorenverzeichnis
Diplom-Kaufmann Marcus Dietzsch ist Prozessmanagement-Koordinator bei der Berliner Flughäfen (Flughafen Berlin Schönefeld GmbH) in Berlin. Michael Dorka M.A. war viele Jahre in verschiedenen Führungspositionen im Vertrieb der Versicherungsbranche tätig und ist Doktorand an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Nicole Fabisch ist Geschäftsführerin der Sponsoring und Consulting und Hochschullehrerin am Euro Business College in Hamburg. Prof. Dr. Sascha Götte ist Abteilungs- und Studiengangsleiter Wirtschaftsingenieur | Innovation und Dozent an der Hochschule Luzern – Technik & Architektur sowie Gastprofessor an der Universität Fribourg. Dr. Jörg Gutknecht ist Geschäftsführer der Speidel System Trocknung GmbH in Hamburg. Dr. Henrik Haenecke ist Leiter Unternehmensentwicklung und kaufmännische Steuerung bei der Berliner Flughäfen (Flughafen Berlin Schönefeld GmbH) in Berlin. Dr. Annette Hempel ist Geschäftsleiterin der Fritz Hempel Wolfsburg GmbH. Dr. Oliver Kutz ist General Manager Caucasus bei Imperial Tobacco in Hamburg. Dr. Herbert Loock ist Geschäftsführer der Herbert Loock Beratungs- und Servicegesellschaft mbH in Mönchengladbach und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Prof. Dr. Olaf Passenheim ist Hochschullehrer an der Hochschule Emden / Leer. Dr. Nicole Plankert ist Senior Referentin bei der Deutschen Telekom AG Bonn. Dr. Anja Potratz ist Senior Beraterin bei der Steria Mummert Consulting AG in Hamburg. Dr. Michael Reich ist Geschäftsführer der 67rockwell Consulting GmbH in Hamburg. Diplom-Kaufmann Martin Renze-Westendorf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Universität Hamburg.
H. Loock, H. Steppeler (Hrsg.), Marktorientierte Problemlösungen im Innovationsmarketing, DOI 10.1007/978-3-8349-8973-4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010
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Prof. Dr. Peter M. Rose ist Hochschullehrer an der Hochschule Bremen. Prof. Dr. Kai A. Saldsieder, M.B.A. (HMC) ist Professor für Allgemeine und Internationale BWL an der Hochschule Pforzheim mit Schwerpunkt Marketing und Vertrieb. Dipl.-Kauffrau Nina Saldsieder ist Lehrbeauftragte an der Hochschule Pforzheim und externe Doktorandin. Diplom-Kaufmann Klaus-Peter Schoeneberg ist Inhaber der Unternehmensberatung Schoeneberg Consulting, Doktorand an der Universität Hamburg und Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen. Dr. Christina Schrader ist Kundenberaterin im Private Wealth Management der BHF Bank in Frankfurt am Main. Dr. Stefanie Shanahan ist als Business Consultant in München tätig. Dr. Hubert Steppeler ist als Projektentwickler und Investor sowie als geschäftsführender Gesellschafter in der Bau- und Einrichtungsbranche tätig. Dipl.-Ing. Florian Thiebes ist Konstruktionsleiter bei einem führenden Unternehmen des Kunststoffmaschinenbaus und Doktorand an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Nadine Walter ist Hochschullehrerin an der Hochschule Pforzheim. Dr. Enno E. Wolf ist Leiter Key Account Management und Projektentwicklung bei der Conergy Deutschland GmbH in Hamburg. Dr. Patrick Zenz-Spitzweg ist Business Manager bei der UBS Deutschland AG in Frankfurt am Main.