I de Gruyter Lexikon Methodengeschichte der Germanistik
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I de Gruyter Lexikon Methodengeschichte der Germanistik
II
Methodengeschichte der Germanistik
herausgegeben von
Jost Schneider unter redaktioneller Mitarbeit von Regina Grundmann
Walter de Gruyter · Berlin · New York
IV
Ü Gedruckt
auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt ISBN 978-3-11-018880-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhaltsverzeichnis
V
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von J OST S CHNEIDER
1
Alteritätsforschung / Interkulturalitätsforschung . . . . . . . . . . . . . von A LEXANDRE K OSTKA UND S ARAH S CHMIDT
33
Dekonstruktion / Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von R EMIGIUS B UNIA UND T ILL D EMBECK
71
Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . von R OLF P ARR
89
Editionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 von R ÜDIGER N UTT-K OFOTH Feministische Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 von S ARA L ENNOX Formalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 von U LRICH S CHMID Gattungstheorie und -geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 von E VA -M ARIA S IEGEL Geistesgeschichte (Ideen- / Problem- / Form- / Stilgeschichte) . 195 von N INA H AHNE Hermeneutik / Neohermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 von H ILTRUD G NÜG Intermedialitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 von W OLFGANG B OCK Intertextualitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 von U WE L INDEMANN Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 von B ETTINA G RUBER
VI
Inhaltsverzeichnis
Leseforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 von J AN B OELMANN Linguistische Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 von U LRICH S CHMID Literarische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 von L OTHAR VAN L AAK Literaturpsychologie / Psychoanalytische Literaturwissenschaft . . 355 von J OACHIM P FEIFFER Literatursoziologie / Feldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 von M ARKUS J OCH Medientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 von W OLFGANG B OCK Mentalitätengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 von B IRGIT N ÜBEL Mythenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 von R ALPH K ÖHNEN Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 von K ARIN K RESS Nationalistische und rassistische Germanistik . . . . . . . . . . . . . . . . 529 von U WE -K. K ETELSEN Performativitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 von H ANS R UDOLF V ELTEN Positivismus / Biographismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 von H ANS -M ARTIN K RUCKIS Rezeptionsästhetik / Rezeptionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 von H ANS -E DWIN F RIEDRICH Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 von D ORIS M OSBACH Stoff- und Motivanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 von H ANS -J AKOB W ERLEN Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 von K ERSTIN K UCHARCZIK
Inhaltsverzeichnis
VII
Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 von N ATALIE B INCZEK Textwirkungsforschung / Empirische Literaturwissenschaft . . . . 721 von M ARGRIT S CHREIER Thematologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 von C HRISTINE L UBKOLL Werkimmanente Literaturwissenschaft / New Criticism . . . . . . . . 763 von B ETTINA G RUBER Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Einleitung von J OST S CHNEIDER I. Zur Methodik der Methodengeschichtsschreibung I.1 Selektion I.2 Reihenbildung I.3 Strukturierung und Anordnung der Artikel II. Allgemeine Entwicklungsimpulse der Methodengeschichte II.1 Innovationspostulat II.2 Distinktionszwang II.3 Kontextadaption II.4 Kontingenz II.5 Praxisbewährung II.6 Eigendynamik III. Spezifische Probleme der germanistischen Methodik III.1 Gelöste Probleme III.2 Ungelöste Probleme IV. Literaturverzeichnis
I. Zur Methodik der Methodengeschichtsschreibung Die Methodengeschichtsschreibung kennt ihre eigenen methodologischen Probleme, die eine kurze Vorbesinnung und Selbstreflexion erfordern: Es sind dies die Selektion und die Reihenbildung sowie die innere Strukturierung und die Anordnung der Artikel. I.1 Selektion Zu den vornehmsten Übungen jeder Methodengeschichtsschreibung gehört es zunächst, sich über die eigene Terminologie Rechenschaft abzulegen. Im Zentrum des Interesses steht hierbei die Frage, ob man überhaupt von ‚Methoden‘ sprechen darf und soll. Alternative Kategorien
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Jost Schneider
stehen in reicher Zahl zur Verfügung: ‚Theorie‘, ‚Ansatz‘, ‚Paradigma‘, ‚Forschungsrichtung‘, ‚Schule‘, ‚System‘, ‚Diskurs‘, ‚Verfahren‘, ‚Arbeitsstil‘ und viele weitere Begriffe sind diskutiert worden, um zu einer Lösung dieses Problems zu gelangen. Die elaboriertesten neueren Reflexionen hierzu1 haben demonstrieren können, dass eine wissenschaftlich haltbare Differenzierung immer auf normativen Vorentscheidungen beruht, die ihrerseits expliziert, reflektiert und historisiert werden müssen. Daraus ist der Befund abzuleiten, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung auch auf diesem Gebiet in der Regel voneinander abweichen. So ist es zwar möglich, auf der Basis ganz bestimmter Wissenschaftlichkeitskonzepte zu der Auffassung zu gelangen, dass der Dekonstruktivismus keine Methode und erst recht keine vollgültige Theorie, sondern nur ein Verfahren ist. Doch sobald man das hierbei unterstellte Wissenschaftlichkeitskonzept verändert, wird man zu einer ganz anderen, womöglich gegenteiligen Auffassung gelangen. Im Rahmen einer systematischen Darlegung ist es zwar sicherlich möglich und wünschenswert, durch reflektierte normative Entscheidungen zu einer möglichst klaren Definition und Systematik der entsprechenden Termini zu gelangen und beispielsweise scharf zwischen Theorien und Methoden zu unterscheiden.2 Im Rahmen einer Methodengeschichte, wie sie hier vorliegt, wäre ein solches Verfahren jedoch nicht zielführend, weil es, sofern es sich überhaupt konsequent durchführen ließe, zu einer vor-pluralistischen und deshalb anachronistischen (s. u.) Perspektivierung führen müsste. Im Folgenden wird deshalb mit Absicht ein Methodenverständnis zu Grunde gelegt, das nicht auf einer vorgängigen Differenzierung zwischen Theorien, Methoden, Paradigmen usw. beruht, sondern alle ‚Ansätze‘ zu integrieren versucht, die zumindest von bestimmten wissenschaftstheoretischen Positionen aus, die aber nicht diejenigen des Herausgebers oder des Artikelautors sein müssen, als Methoden wahrgenommen und bezeichnet worden sind. In den einzelnen Artikeln sind Hinweise darauf zu finden, welche wissenschaftstheoretischen Positionen dies im Einzelnen sind und von welchen anderen Positionen aus eine solche Rubrizierung als unpraktikabel und vielleicht sogar als skandalös eingestuft wird. Begriffe wie ‚Methode‘, ‚Theorie‘ oder 1
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Danneberg, Lutz / Höppner, Wolfgang / Klausnitzer, Ralf (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a. M. u. a. 2005. Ein aktuelles Musterbeispiel hierfür liefert: Jahraus, Oliver, Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel 2004. S. 2–6.
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‚Paradigma‘ werden hierbei nicht als Ehrentitel, sondern als neutrale deskriptive Kategorien verstanden. Und es wird, was nicht in allen Publikationen zu diesem Thema berücksichtigt wird, keine Dominanz der Neugermanistik unterstellt, sondern auch – soweit dies im jeweiligen Fall sachlich angemessen ist und soweit es den Artikelverfassern möglich war – das Feld der Linguistik und der Mediävistik mit einbezogen. Ferner finden einige Arbeitsgebiete des Faches, die – wie z. B. die Editionsphilologie oder die Gattungstheorie – zu bestimmten Zeiten maßgeblichen Anteil an der Fortentwicklung einer oder mehrerer Methoden hatten, in separaten eigenen Artikeln Berücksichtigung. Es wäre ein Versäumnis, um einer vorgefassten Idee von systematischer Konsequenz willen diese Arbeitsbereiche nicht mit zu behandeln. Bei der Auswahl der Lemmata waren auch Sachzwänge zu berücksichtigen. Da die einzelnen Artikel dem Konzept dieses Buches gemäß eine gewisse Mindestlänge erreichen sollten, der Gesamtumfang des Bandes jedoch naturgemäß begrenzt war, konnten nicht alle relevanten Gegenstände aufgenommen werden. Gemeinsam mit dem Herausgeber werden es manche Leser gewiss bedauern, dass beispielsweise keine Artikel zu Themen wie Metrik, Figurenanalyse, Soziolinguistik oder Computerphilologie geliefert werden konnten. I.2 Reihenbildung So wie die Literaturgeschichtsschreibung „das unübersichtliche Geflecht der literarischen Kommunikation auf überschaubare Handlungsverläufe mit einer sehr begrenzten Anzahl von Akteuren und Episoden zu reduzieren pflegt“,3 so neigt auch die Methodengeschichtsschreibung dazu, ‚große Erzählungen‘ (Lyotard) zu produzieren, in denen ‚die‘ Entwicklung ‚der‘ Germanistik als geordnetes Nacheinander von sich ablösenden Paradigmen dargestellt wird.4 ‚Der‘ Entwicklungsgang der Germanistik führt dann im Wesentlichen von einer theologisch-altphilologisch geprägten Vor- oder Frühzeit des Faches über die Ära der Nationalphilo3
4
Vgl. Schneider, Jost: Literatur und Text. In: Anz, Thomas (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007. S. 1–23. Hier: S. 21. Wichtigste Beispiele hierfür: Anz, Thomas (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 3. Institutionen und Praxisfelder. Stuttgart, Weimar 2007. S. 1–190; Hermand, Jost: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg 1994.
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logie und die Epoche der Geistesgeschichte hin zu den Innovationen der 1960er- und 1970er-Jahre. Eine graphische Veranschaulichung der Argumentationsstruktur derartiger Darstellungen würde eine Kette ergeben, von deren Einzelgliedern aus zwar hier und da Nebenwege abzweigen, die jedoch eine Hauptrichtung, einen Hauptstrom der Entwicklung, erkennen lässt. Die der vorliegenden Übersicht zu Grunde liegende Vorstellung ist demgegenüber eher die einer Akkumulation. Wir haben es dabei nicht mit einer Ausdifferenzierung zu tun, wie sie in Gestalt eines sich immer feiner verzweigenden Baumes graphisch veranschaulicht werden könnte, sondern mit einer Akkumulation, bei der immer mehr einzelne Komponenten von außen hinzutreten und sich anlagern. Die nebenstehende tabellarische Übersicht über die Methoden und ihre Entwicklungsphasen vermittelt wichtige Aufschlüsse, die nachfolgend in einigen zentralen Thesen zusammengefasst werden sollen. Zunächst soll aber kurz erläutert werden, wie diese Tabelle aufgebaut ist: Die erste Spalte deckt aus Gründen der Übersichtlichkeit den gesamten Zeitraum vor 1830 ab. Die Vor- und Frühgeschichte der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen und identifizierbaren Methoden reicht bis in die ersten Anfänge der antiken Philologie zurück, wie sie bereits in Rudolf Pfeiffers frühem Standardwerk History of Classical Scholarship (1968) detailreich beschrieben wurden. Von Xenophanes und Theagenes über die Sophisten des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts und die große Zeit der athenischen Philosophie bis zur Entstehung der alexandrinischen Philologie mit ihren ersten Höhepunkten im Schaffen von Zenodot, Kallimachos, Eratosthenes, Aristophanes von Byzanz und Aristarch entfaltet sich bereits in vorchristlicher Zeit ein reiches Spektrum an philologischen Praktiken, aus denen sich die Editionsphilologie, die Hermeneutik und die Gattungslehre als die ersten drei schärfer konturierten Arbeitsgebiete der Philologie herauspräparieren lassen. Erst später, aber jedenfalls auch noch vor 1830 treten mit den Vorformen des Positivismus (Entwicklungslinie von Descartes über Condorcet zu Comte), der nationalistischen Philologie (Moscherosch, Fichte), der Geistesgeschichte (Hegel) und der Mythen-Analyse (Vico) neue Optionen hinzu, die sich zunächst nicht in expliziten Theorien und Manifesten, wohl aber in konkreten Arbeitspraktiken und Forschungsprojekten niederschlagen. So steht – um es hier nur an einem ausgewählten Beispiel zu verdeutlichen – „auch die so genannte positivistische Literaturwissenschaft in der Tradition der Klassischen Philologie, alles über Autoren zu sammeln und aufzubereiten, was überhaupt greifbar ist“ (so Hans-Martin Kruckis in seinem diesbezüglichen Artikel im vorliegenden
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Band). Bezeichnet man demnach mit dem Begriff ‚Positivismus‘ nicht die Programmatik einer strikt anti-spekulativen, faktenorientierten, szientifischen Philologie, sondern die tatsächlichen Aktivitäten und Produkte der Scherer-Schule, so kommt man kaum umhin, die Vor- und Frühgeschichte dieses Ansatzes auf eine Zeit weit vor dem Erscheinen der einschlägigen Publikationen Scherers und selbst Comtes zurückzudatieren.5 Freilich stellt sich die Frage, ob dann nicht noch in vielen anderen Fällen großzügigere Rückdatierungen möglich und sinnvoll wären. Die Strukturierung unserer Tabelle trägt dieser ausufernden Problematik insofern Rechnung, als sich die in der letzten Spalte gewählte Abfolge der Paradigmen nicht an ihrer jeweiligen Gesamtlebensdauer orientiert, sondern nur an dem Nacheinander ihrer jeweiligen Durchsetzungs-/Akutphasen (dunkelgrau), in denen die wichtigsten Repräsentanten der verschiedenen Methoden und ihre Hauptwerke entstehen und in der Fachöffentlichkeit diskutiert werden. Sie lassen sich erheblich leichter und präziser datieren als die davor liegenden Formationsphasen (hellgrau) 5
Details hierzu bei: Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S. 457–480.
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und die nach der Akutphase folgenden Perseveranzphasen (mittelgrau). Die genaue Datierung dieser Formations- und Perseveranzphasen wird vermutlich auf immer ein Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Diskussionen bleiben. Der geneigte Leser wird also gebeten, die hellgrauen Markierungen in der Tabelle mit einer gewissen Benevolenz zu betrachten oder wenigstens dem Herausgeber Glauben zu schenken, wenn er versichert, dass ihm die Unabschließbarkeit der Auseinandersetzungen über Beginn und Ende der Formations- und Perseveranzphasen zu Gelegenheit vieler Diskussionen mit Kontribuenten dieses Bandes noch deutlicher bewusst geworden ist, als dies bei Übernahme der Herausgebertätigkeit ohnehin schon der Fall war. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage der Stetigkeit oder Kontinuität angesprochen werden. Wenn sich eine Markierung über mehrere benachbarte Felder erstreckt, so kann dies nicht bedeuten, dass in jedem einzelnen Jahr des damit abgedeckten Zeitraumes wichtige Publikationen zu dieser Methode veröffentlicht wurden. Strenggenommen dürften also in der Tabelle nur Punkte eingetragen werden, was aber wiederum den Nachteil hätte, dass nur das – manchmal wenig signifikante – Erscheinungsjahr der einem Ansatz zuzuordnenden Hauptwerke und nicht die sich an die Veröffentlichung anschließende Diskussion in der Fachöffentlichkeit markiert und verzeichnet wäre. Außerdem wäre damit nichts über die praktische Anwendung der jeweiligen Methode gesagt, d. h. es würde ignoriert werden, ob eine Methode ‚fruchtbar‘ ist und z. B. viele Qualifikationsschriften generiert oder ob das – wofür sich ja durchaus Beispiele anführen ließen – nicht der Fall ist. Auch wenn also zwischen den Schaffenszeiten von Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Frank als den Hauptrepräsentanten der Hermeneutik jeweils mehrere Jahrzehnte klaffen, so lassen sich doch aus allen dazwischen liegenden Dezennien in reicher Zahl literaturwissenschaftliche Studien benennen, die man mit gutem Recht als hermeneutisch bezeichnen kann. Da in diesem Band konzeptionsgemäß nur solche Methoden berücksichtigt werden sollten, die bereits ihre Durchsetzungs-/Akutphase durchlebt haben, wurde in der Tabelle für den Zeitraum ab 1990 keine Auflistung der Formationsphasen geliefert. Es ist nicht absehbar, welche der sich ganz aktuell formierenden Methoden irgendwann eine Durchsetzungsphase erreichen, d.h. sich etablieren werden. (Im Hintergrund zeichnet sich hier das diskursanalytische Projekt einer alternativ-tragischen Geschichte jener germanistischen Methoden der letzten 200 Jahre ab, die niemals über das Stadium der Formationsphase hinausgelangt sind.)
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Versuchen wir aber nun, die angekündigten Thesen zur Methodengeschichte der Germanistik aus der Analyse unserer Tabelle zu gewinnen. Drei Befunde halte ich für offenkundig und aufschlussreich: 1. Befund: Die Methodengeschichte der Germanistik folgt dem Prinzip der beständigen Akkumulation.6 Es treten fortlaufend neue methodische Instrumente hinzu, die aber am Ende ihrer Durchsetzungsphase nicht ganz verschwinden, sondern gewissermaßen in der Werkzeugkiste verbleiben und weiterhin zur Lösung bestimmter Spezialaufgaben benutzt werden. Man könnte auch sagen, dass die Durchsetzungsphase der einzelnen Methoden durch eine Hypertrophie oder Universalisierung ihrer Geltungsansprüche gekennzeichnet ist, dass sie sich dann aber in der alltäglichen Arbeit nur in ganz bestimmten Kontexten bewähren und auf Normalmaß zurechtgestutzt werden. So könnte man beispielsweise behaupten, dass die psychoanalytische Literaturwissenschaft zum Zeitpunkt ihrer Durchsetzung mit höchsten Erwartungen und Ansprüchen auftrat, jedoch erst nach ihrer Reifung zur Spezialmethode für die Analyse jener rätselhaften, traumlogisch organisierten Texte und Äußerungen, in denen sich das Unbewusste vernehmlicher als sonst äußert, (fast) allgemein anerkannt oder wenigstens toleriert wurde und inzwischen fest etabliert ist. Insofern der Kanon der germanistischen Untersuchungsgegenstände eine Vielzahl derartiger Texte und Äußerungen enthält und aller Voraussicht nach auch weiterhin enthalten wird, steht der Fortbestand dieses Ansatzes – sowohl in der Neugermanistik als auch in der Mediävistik und der Linguistik – außer Zweifel, auch wenn die Diskussionen über dieses Paradigma in ihrer mit den 1990erJahren erreichten Perseveranzphase nicht mehr jene Wogen schlagen, die wir in den 1970er- bis 80er-Jahren beobachten konnten. Es scheint nur drei Ausnahmen von diesem Prinzip der fortgesetzten Akkumulation zu geben, nämlich den Nationalismus/Rassismus, den Formalismus und die Werkimmanenz. Was den Nationalismus/Rassismus anbelangt, so muss wohl konstatiert werden, dass das Akkumulationsprinzip in diesem Fall durch einen massiven Eingriff von außen, d. h. durch die gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung in Gestalt des Nationalsozialismus und seines abrupten Endes in der Katastrophe des Völker6
Dies gilt, sofern man – wie hier geschehen – die Methodengeschichte des Faches nicht nur als Methodengeschichte der deutschen Germanistik, sondern global betrachtet, sogar für die Zeit des Nationalsozialismus (Exilgermanistik, Auslandsgermanistik).
Einleitung
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mordes und des Weltkrieges, tatsächlich außer Kraft gesetzt wurde. Auch wenn es nach 1945 noch einige Jahre dauerte, bis eine grundlegende methodologische Erneuerung des Faches in die Wege geleitet werden konnte,7 hielten doch Gerhard Fricke, Fritz Martini, Erich Trunz, Benno von Wiese und viele andere prominente Fachvertreter mit Kriegsende nicht mehr an ihren politisch äußerst prekären, in der NS-Zeit geäußerten Vorstellungen fest und begaben sich auf das unverfänglichere Terrain einer demonstrativ entpolitisierten, ideologische Neutralität beanspruchenden Methodik und Programmatik. Und mit dem Auftreten einer neuen Germanistengeneration wurde dann um 1968 der nationalistisch (-rassistische) Ansatz endgültig ad acta gelegt. Für den Formalismus kann im Hinblick auf die stalinistische Kulturpolitik ähnlich argumentiert werden, doch außerdem bietet sich hier die Möglichkeit, von einem Aufgehen dieses Ansatzes im Strukturalismus, also gleichsam von einer sofort auf das Ende folgenden Wiederauferstehung unter anderer Bezeichnung zu sprechen. Im Falle des New Criticism und der Werkimmanenz könnte unter bestimmten Gesichtspunkten von einem partiellen Wiederaufleben unter der Maske des Dekonstruktivismus gesprochen werden,8 der in seiner konkreten Anwendung nicht selten an die detailfixierten Lektürepraktiken der Werkimmanenz erinnert. Doch es soll hier nicht der Versuch unternommen werden, alle drei Ausnahmefälle wegzudiskutieren. Es genügt das Resümee, dass in mehr als 90 Prozent aller dokumentierten Fälle kein Absterben und endgültiges Verschwinden einer einmal etablierten und konsolidierten Methode konstatiert werden kann, sondern dass in aller Regel erhalten bleibt, was in einer Durchsetzungsphase durchgesetzt wurde und in der alltäglichen Berufspraxis zumindest in bestimmten Anwendungsgebieten solide Arbeitsergebnisse erbringt. Die Bezeichnung einer Methode mag in ihrer Perseveranzphase aus dem fachöffentlichen Diskurs verschwinden; die Sache selbst bleibt jedoch in der Regel erhalten. 2. Befund: Die Pluralisierung der germanistischen Methodologie erfolgt im Wesentlichen in zwei Schüben. Unter Bezugnahme auf die Zahlen7
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Vgl. Hermand, Jost, Geschichte der Germanistik, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 114–164. Hierzu beispielhaft: Spinner, Kaspar, „Von der Werkinterpretation über die Rezeptionsästhetik zur Dekonstruktion“, in: Hans Vilmar Geppert / Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. I, Tübingen 2003, S. 259–270.
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reihen am unteren Ende der Tabelle und unter Verwendung gängiger historischer Symboldaten kann deren erster auf die Zeit um 1918 (zwischen 1910 und 1930) und deren zweiter auf die Zeitspanne um 1968 (von 1960 bis 1990) datiert werden. 3. Befund: Diese beiden Entwicklungsschübe sind durch ein deutliches Unterscheidungsmerkmal von einander abzugrenzen. Unter Einbeziehung gesellschaftsgeschichtlicher Kontextfaktoren lässt sich kurz und bündig konstatieren: Um 1918 wird die Gesellschafts- und Werteordnung des bürgerlichen Zeitalters (langes 19. Jahrhundert) durch die neue Gesellschafts- und Werteordnung des demokratisch-pluralistischen Zeitalters ersetzt;9 zeitgleich entwickeln sich zahlreiche neue Methoden, die offenbar den im Zuge dieser Gesamtumwälzung hervortretenden, neuartigen Realitätskonstruktionen gerecht zu werden versuchen, die jedoch zunächst ein Vor- oder Frühstadium (Formationsphase) durchlaufen, in dem sie zunächst nur in bestimmten Ländern oder Fachgebieten rezipiert werden. Erst um 1968, als die Studentenbewegung – teilweise nolens volens10 – die ein halbes Jahrhundert zuvor begonnene, durch den Rückschlag der NS-Zeit zunächst gehemmte Pluralisierung der Gesellschaft gleichsam im zweiten Anlauf endgültig durchsetzt, treten die meisten der ab 1918 entwickelten neuen Methoden in ihre Durchsetzungsphase ein, werden also in der Fachöffentlichkeit auf breiter Front diskutiert und schließlich – bis hin zur institutionellen Etablierung11 – 9
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Vgl. im Detail: Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München, Bd. III: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914. 1. Aufl. 1995; Bd. IV: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1949. 1. Aufl. 2003; Schneider, Jost, Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin, New York 2004, S. 161–436. Auf die innere Widersprüchlichkeit vieler gesellschaftlicher und wissenschaftlichmethodologischer Tendenzen dieser Zeit verweisen zutreffend die Beiträge in: Bogdal, Klaus-Michael / Müller, Oliver (Hrsg.), Innovation und Modernisierung, Germanistik von 1965 bis 1980, Heidelberg 2005. Die deutsche Germanistik verfügte 1850 über 27 Hochschullehrer (einschließlich Privatdozenten), 1870 über 38 Hochschullehrer, 1890 über 62 Hochschullehrer, 1910 über 87 Hochschullehrer. 1960 gab es dann 151 und 1979 genau 493 deutsche Germanistik-Professoren (ohne Fachhochschulprofessoren und ohne Privatdozenten). Auch aus institutionsgeschichtlicher Perspektive kann also festgestellt werden, dass erst um 1968 der wesentliche Ausbau des Faches (und zeitgleich die Pluralisierung seiner Methoden) stattfand. Zahlenangaben nach: Höppner, Wolfgang, „Literaturwissenschaft in den Nationalphilologien“, in: Thomas Anz
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durchgesetzt. An der damit geschaffenen Situation hat sich bis heute nichts geändert. Aktuell tätigen Germanisten stehen knapp vier Mal so viele methodologische Optionen zu Gebote wie den Begründern ihres Faches. I.3 Strukturierung und Anordnung der Artikel Da es sich bei dem vorliegenden Band um ein Nachschlagewerk handelt, wurde den Kontribuenten im Hinblick auf die Verbesserung der Benutzbarkeit ein bestimmtes festes Schema für den Aufbau der Artikel vorgegeben. Im Einzelnen enthalten die Artikel jeweils die folgenden sechs Unterabschnitte: 1. Definition 2. Beschreibung x zentrale Fragestellungen / Grundgedanken x wichtige Prämissen x spezifische Termini, Schlüsselbegriffe x konkrete Analyseverfahren und Vorgehensweisen x bevorzugte bzw. besonders geeignete Gegenstände und Anwendungsbereiche 3. Institutionsgeschichtliches x Entstehungszeit und -kontext x Umstände der Etablierung und Durchsetzung in der scientific community x wichtigste Repräsentanten und Schulen x wissenschaftsinterne und -externe Förderer (Kritiker, Verlage, Zeitschriften usw.) x Feindbilder und wirkliche Widersacher x ggf. Umstände des Niedergangs, der Ablösung 4. Publikationen x wichtigste theoretische Schriften/Manifeste x bekannte, vielzitierte, einflussreiche Anwendungsbeispiele
(Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 25–70, hier S. 50; Klausnitzer, Ralf, „Institutionalisierung und Modernisierung der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 70–147, hier S. 91; Frühwald, Wolfgang, „Germanistik im Spannungsfeld von literarischer Kritik und Literaturwissenschaft“, in: Gießener Universitätsblätter, 17/1984, 1, S. 33–44.
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Jost Schneider 5. Fachgeschichtliche Einordnung x wichtigste Leistung, fach-/kulturgeschichtliche Bedeutung x wichtigste Defizite, Gegenargumente x Nachwirkung x unausgeschöpfte Potentiale 6. Auswahlbibliographie
Da es sich bei dem vorliegenden Band um ein Nachschlagewerk handelt, wurden die Artikel zur Erleichterung der Benutzung alphabetisch sortiert. Gemäß der Tabelle und den drei oben dargestellten Befunden kann aber eine Unterteilung in drei Hauptentwicklungsphasen vorgenommen werden: 1) Gründungsphase (bis ca. 1918) 2) Phase des latenten Pluralismus (ca. 1918 bis ca. 1968) 3) Phase des manifesten Pluralismus (ab ca. 1968)
II. Allgemeine Entwicklungsimpulse der Methodengeschichte Wie kommt es überhaupt dazu, dass immer wieder neue Methoden entstehen? Was führt dazu, dass bestimmte Methoden zu bestimmten Zeiten (Durchsetzungs-/Akutphasen) in aller Munde sind? Worauf ist es zurückzuführen, dass Methoden plötzlich aus dem Fokus der Wissenschaften verschwinden (Übergang in die Perseveranzphase), obwohl dies der Sache nach kaum zu rechtfertigen ist? Zur Beantwortung dieser Fragen soll hier ein Ensemble von sechs relevanten Faktoren präsentiert und analysiert werden, die in allen Wissenschaften (in der modernen westlichen Welt) und so auch in der Germanistik den Gang der Methodenentwicklung maßgeblich prägten und prägen. In einem sich dann anschließenden Kapitel werden zusätzliche fachspezifische Entwicklungsfaktoren beschrieben. II.1 Innovationspostulat In seinem vielzitierten Werk Die Legitimität der Neuzeit (1966; 1973/74) hat Hans Blumenberg dargestellt, wie sich bereits in der Frühen Neuzeit eine Neu- und Höherbewertung der im christlichen Mittelalter negativ konnotierten ‚curiositas‘ vollzog, die von Nikolaus von Kues und Francis
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Bacon als ‚theoretische Neugierde‘ (Blumenberg) aufgefasst und zur Quelle eines wissenschaftlichen Erkenntnisdranges umgedeutet wurde, dessen Unabschließbarkeit die Unerschöpflichkeit der Natur widerspiegeln sollte. Seither gilt es als Wesensmerkmal wissenschaftlicher Arbeiten, dass sie neue Beobachtungen nicht bloß als weitere, detailliertere Bestätigung geoffenbarter oder ‚selbstevidenter‘ absoluter Wahrheiten enthüllen, sondern ganz neue, eventuell auch horizontverlagernde, ein Umdenken erzwingende Einsichten schaffen sollen. In Promotions- und Habilitationsordnungen findet dieser Gedanke bis heute seinen direktesten, sinnfälligsten Niederschlag. So dürfte es kein Zufall sein, dass in den Einleitungen zu wissenschaftlichen Qualifikationsschriften fast immer einige prominente Repräsentanten jener Methoden (zustimmend) zitiert werden, die sich aktuell in ihrer Durchsetzungsphase befinden. Auch in Rezensionen zu wissenschaftlichen Werken schwebt über der Argumentation in aller Regel die Leitfrage ‚What’s new?‘. Dabei macht sich die in der Moderne zu konstatierende Veränderung des Wahrheitsbegriffes allerdings in irritierender Weise geltend, und zwar insofern, als die schon um 1789 beim Übergang vom feudalistischen zum bürgerlichen Zeitalter realisierte Außerkraftsetzung des Konzeptes der absoluten Wahrheit zu einem Perspektivismus und letztlich im demokratisch-pluralistischen Zeitalter zu einem Konstruktivismus führte, der es schwierig macht, zwischen Erkenntnis (‚stabile Konstruktion‘) und Spekulation (‚wackelige Konstruktion‘) zu unterscheiden. In der Geschichte der Wahrheitstheorien sind zahlreiche Bemühungen auszumachen, den Wegfall des Kongruenzpostulates (adaequatio rerum et intellectus) zu kompensieren: Konsenstheorien fordern die Zustimmung der in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft regelgeleitet argumentierenden Wissenschaftler (Beifall der Experten), Kohärenztheorien begnügen sich mit der Überprüfung der inneren Stimmigkeit eines Konzeptes (stringente Rückführbarkeit auf – ihrerseits nicht rein wissenschaftlich begründbare – Axiome), pragmatische Theorien postulieren die praktische oder wenigstens heuristische Nutzbarkeit der Forschungsergebnisse (medizinische, technologische, therapeutische, pädagogische usw. Verwertbarkeit). Rein unter dem Aspekt der Produktivitätssteigerung erweist sich das Gegeneinander dieser verschiedenen Wahrheitskonzepte durchaus als fruchtbringend: Zwar ist die Gefahr sehr groß, dass ein methodologischer Neuansatz unter offener oder versteckter, bewusster oder unbewusster Bezugnahme auf ein anderes Wahrheitskonzept von einem Teil der scientific community in Diskussionen oder Rezensionen zurückge-
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wiesen wird, doch fast genau so sicher ist es, dass ein anderer Teil dieser community demselben Ansatz Beifall zollen wird, und sei dies auch nur der eigene, womöglich sorgfältig aufgebaute und gepflegte Zitationszirkel. Die Publikationshemmschwelle sinkt unter diesen Voraussetzungen. Der um 1918 beim Übergang vom bürgerlichen zum demokratischen Zeitalter postulierte Methodenpluralismus ist heute alltägliche Realität, und das Innovationspostulat führt unter diesen Rahmenbedingungen zu einer fortlaufenden Steigerung der Aktivitäten im Bereich der Methodenproduktion (Überproduktionskrise). Mit Thomas S. Kuhn (The structure of scientific revolutions; 1962) und gegen Karl R. Popper (The logic of scientific discovery; 1935) kann also mit Bezug auf die konkrete Methodengeschichte der Germanistik nach dem oben Gesagten recht eindeutig festgestellt werden, dass der mit dem Symboldatum 1918 markierte Paradigmenwechsel von der ‚Weltanschauung‘ des bürgerlichen zu der des demokratisch-pluralistischen Zeitalters offenbar in maßgeblicher Weise die innere Logik der Forschung überformt und geprägt hat. Die entscheidenden Wachstumsschübe (wissenschaftliche Revolutionen) ereignen sich um 1918 und um 1968, d.h. in Zeiten großer gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlicher Umbrüche (Paradigmenwechsel). Dabei muss allerdings noch einmal betont werden, dass in der Germanistik die für das vorherige Paradigma charakteristischen Methoden im Gefolge dieses Wechsels nicht von der Bildfläche verschwinden, sondern einer inneren Modernisierung unterliegen12 und in Gestalt neu hinzutretender Methoden eine Ergänzung und damit Relativierung erfahren. II.2 Distinktionszwang Anders als in der Frühphase der Fachgeschichte sind die Germanistischen Institute der (deutschen und ausländischen) Universitäten heute so groß und derart pluralistisch besetzt, dass selbst jemand, der nur an einer einzigen Universität das Fach studiert, mit mehreren verschiedenen, unter Umständen sogar inkompatiblen Methoden in Berührung kommt. Dazu kommt noch der durch Studienortwechsel, Kongressbesuch, Lektüre oder kollegiale Kontakte entstehende Austausch auch über Methodengrenzen hinweg, so dass sich der Nachwuchswissenschaft12
Dazu: Geppert, Hans Vilmar / Zapf, Hubert, „Vorwort“, in: Dies. (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. II, Tübingen 2005, S. 3 f.
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ler heute einer Vielzahl von heterogenen Einflüssen ausgesetzt sieht. Da es vor dem Hintergrund des sich beschleunigenden Methodenwechsels riskant wäre, sich ganz und ausschließlich als Gefolgsmann des Diskursbegründers X oder Y zu präsentieren, und da das Innovationspostulat auch in methodologischer Hinsicht gegenüber jedem einzelnen Nachwuchswissenschaftler geltend gemacht werden kann, bemühen sich heutige Wissenschaftler in der Regel um die Herausarbeitung eines spezifischen Profils, das es ermöglicht, ihnen in Berufungsgutachten oder Empfehlungsschreiben den Status einer ‚eigenständigen Forscherpersönlichkeit‘ zu attribuieren. Man könnte deshalb durchaus behaupten, dass sich der dem Innovationszwang geschuldete Methodenpluralismus durch die gleichzeitige Einwirkung des institutionell begründeten Distinktionszwanges heute bis hin zu einem Methodenindividualismus fortentwickelt hat. Viele Wissenschaftler würden demnach für sich in Anspruch nehmen, eine ganz persönliche Kombination13 aus drei oder vier Methoden entwickelt zu haben, wobei es in der Regel sich überkreuzende Loyalitäten gegenüber methodologisch unterschiedlich orientierten Förderern und Vorbildern sind, die hierbei eine zentrale Rolle spielen. Tatsächlich ist es nach wie vor eine ganz ungewöhnliche Seltenheit, wenn ein Assistent sich nicht als mehr oder minder treuer Diener seiner Herren erweist, sondern methodologisch ganz anders orientiert ist als diejenigen, die seine MasterArbeit, seine Dissertation oder seine Habilitation betreut haben und/ oder die seine Ernennung zum Wissenschaftlichen Mitarbeiter, zum Assistenten, zum Privatdozenten und schließlich zum Professor beantragt oder durch Gutachten, Tipps und Kontaktvermittlung unterstützt und gefördert haben. Obwohl sie selbst nicht als methodologische Innovator/inn/en auftreten und in aller Regel auch gar nicht diesen Anspruch haben, können die meisten Wissenschaftler/innen deshalb heute mit Recht für sich in Anspruch nehmen, eine individuelle Mischform aus drei oder vier Methoden entwickelt und das Methodenspektrum dadurch um eine weitere Nuance bereichert zu haben. Der Distinktions13
Auf dieses Phänomen scheinen die Herausgeber des Bandes Germanistik als Kulturwissenschaft zu reagieren, wenn sie in ihrer Einleitung behaupten: „Das Zeitalter des Methodenstreits scheint vorüber. Die gegenwärtigen ‚Methoden nach den Methoden‘ sind eklektizistisch und offen, sie übernehmen Theoreme aus den tradierten Methoden und ergänzen sie durch neue, bilden aber untereinander auch Überschneidungen und Ähnlichkeiten“ (Benthien, Claudia / Velten, Hans Rudolf, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 7–34, hier S. 7).
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zwang bewirkt also eine weitere Steigerung des Ausstoßes an Methoden und Theorien. Als ein Beispiel hierfür kann der Übergang von der älteren Stoff- und Motivforschung zur neueren Thematologie genannt werden. Wie die diesbezüglichen Artikel von Hans-Jakob Werlen und Christine Lubkoll im vorliegenden Band verdeutlichen, ist der sachliche Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen schwer dingfest zu machen. Doch offenkundig spielen hier im Hintergrund prima facie geringfügig erscheinende, letztlich jedoch die gesamte wissenschaftliche Grundhaltung und das berufliche Selbstverständnis prägende Grundanschauungen eine entscheidende Rolle, die wesentlich mit der Dichotomie Nationalphilologie vs. Komparatistik zu tun haben. Die Thematologie erscheint vor diesem Hintergrund als die modernere, zeitgemäßere Option, auch wenn eine detailliertere Analyse zeigt, dass sie teilweise älteren Wein in neueren Schläuchen zu präsentieren versucht. Auch und gerade auf diese Schläuche scheint es jedoch im Kontext eines Paradigmenwechsels ganz wesentlich anzukommen. II.3 Kontextadaption Da die Wissenschaft kein geschlossenes oder gar abgeschlossenes System ist, sondern beständig in Wechselwirkung mit Kultur, Politik, Wirtschaft, Religion usw. steht, tragen wissenschaftsexterne Einflüsse wesentlich dazu bei, dass bestimmte Sektoren des reich ausdifferenzierten Methodenspektrums zu bestimmten Zeiten mehr in den Fokus des öffentlichen wie auch des fachöffentlichen Interesses geraten, während andere Sektoren dieses Spektrums für kurze oder längere Zeit ein Schattendasein führen. So steht bei einem Blick auf die eingangs präsentierte Tabelle wohl außer Zweifel, dass der Nationalismus, die Reformbewegung, der Faschismus, die Studentenbewegung, die Emanzipationsbewegung und andere wissenschaftsexterne Denkansätze oder Mentalitätsentwicklungen bedeutenden Einfluss auf die methodologische Entwicklung ausgeübt und den Fokus auch der Fachöffentlichkeit zeitweise auf gewisse Probleme und Fragestellungen gelenkt haben. In den Kategorien der Agenda-setting-Theorie ließe sich dieser Vorgang dahingehend deuten, dass zwar die Germanistik ihre eigene, aus der internen Entwicklungslogik der bisherigen Methodengeschichte durch idealtypische Extrapolation ableitbare Fachagenda besitzt, dass jedoch diese spezifische Agenda immer wieder – wie in einer offenen pluralisti-
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schen Gesellschaft auch kaum anders zu erwarten – durch die Agenda der Massenmedien, der Kultur- und Wissenschaftspolitiker sowie vieler anderer ‚Träger öffentlicher Belange‘ überformt wird. Das berufsethische Grundproblem, ob die Öffnung gegenüber solchen fachexternen Agenden als Bemühung um Relevanzsteigerung honoriert oder aber ganz im Gegenteil als Verrat am Autonomiepostulat sanktioniert werden soll, lösen viele Wissenschaftler/innen in der Praxis erst und nur dann, wenn sich eine konkrete Chance zur Gewinnung von Aufmerksamkeit in größeren als fachwissenschaftlichen Kontexten auftut, und zwar in aller Regel im Sinne einer Bejahung der Öffnung. Obwohl hierin einerseits eine begrüßenswerte, zeitgemäße Steigerung der Bereitschaft zur wissenschaftsjournalistischen Aufbereitung eigener Forschungsresultate erblickt werden kann, bleibt doch andererseits die hierbei feststellbare Passivität und – horribile dictu – auch durch Kooperation mit den (überlasteten) Pressestellen der Universitäten nicht in zureichendem Maße kompensierbare Unprofessionalität der entsprechenden Vermittlungsaktivitäten ein nicht nur für die Germanistik, sondern nach wie vor für die meisten Wissenschaften schwer zu lösendes Problem. Dass wenigstens dann und wann die fachinterne Agenda einmal umgekehrt die fach- und wissenschaftsexternen Agenden überformen können sollte, ist ein zurzeit noch recht exotischer Gedanke, dessen Realisierung aufgrund fehlender Ressourcen wohl erst zu erwarten steht, wenn die Fakultäten der Universitäten es sich irgendwann leisten können und wollen, spezielle Stabsstellen für Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschafts-‚Marketing‘ zu unterhalten. Auch wenn – um hier nur eins von vielen aktuellen Beispielen zu nennen – die Entwicklung der Arabistik, der Islamwissenschaften und der Orientalistik nach den Anschlägen auf Manhattan und Washington ab ovo die Hoffnung dämpfen dürfte, dass solche PR-Maßnahmen der eigenen, fachinternen Agenda größeres Gewicht verleihen können, wäre es gewiss kurzschlüssig, aus dieser Beobachtung auf die generelle Unwirksamkeit derartiger Maßnahmen zu schließen. Da dies alles aber erst einmal Zukunftsmusik bleibt, kann vorläufig nur konstatiert werden, dass die Methodenentwicklung der Germanistik bis heute de facto sehr häufig in erster Linie von fach-/wissenschaftsexternen Instanzen und Faktoren geprägt wurde.
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II.4 Kontingenz Als vierter Faktor ist jener mit Bloch oder Musil zu denkende Vorgang der Möglichkeitsreduktion zu nennen, der aus anderem Blickwinkel als Kontingenzfaktor beschrieben werden könnte und der dafür sorgt, dass aus dem Spektrum der zu einem gegebenen Zeitpunkt tatsächlich vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten jeweils nur eine verwirklicht wird. Dass beispielsweise Eberhard Lämmert in das Bonner Oberseminar von Günther Müller aufgenommen wurde und hier die konzeptionelle Basis für sein Standardwerk über die Bauformen des Erzählens (1955) entwickeln konnte, ist ebenso ein historischer Zufall wie die Tatsache, dass Wolfgang Kayser bereits 1960 verstarb. Wie wäre die Methodenentwicklung der Germanistik verlaufen, wenn diese beiden historischen Zufälle nicht eingetreten wären? Die einzige mögliche Antwort auf diese Frage lautet: anders. Es wären andere Möglichkeiten verwirklicht worden, die aber dadurch, dass Lämmert bei Müller promovierte und Kayser nicht am Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre partizipieren konnte, gerade nicht zur Realisierung gelangten. Es handelt sich bei den hier angesprochenen ontologischen Aspekten keineswegs um ein Randproblem von bloß theoretischem Interesse, sondern um eine für die Darstellung von Geschichtsverläufen sehr wichtige Frage. Die Glätte und Stringenz vieler Geschichtsdarstellungen resultiert zu einem großen Teil aus der Skotomisierung des Kontingenten, das in Verfolgung einer hegelianischen Vorstellung von der Geschichte einer Sache als Hervortreibung ihres Wesens begründet liegt. In Abgrenzung von solchen Geschichtsvorstellungen wird in den Artikeln des vorliegenden Handbuches auch nach den jeweiligen historischen Quisquilien gefragt, die den Entwicklungsgang einer Methode de facto geprägt haben, und zwar auch dann, wenn es sich – nach Hegel’schem Verständnis – um Partikularitäten handelt, die einer historiographischen Dokumentation prima facie nicht würdig zu sein scheinen. Dazu gehören beispielsweise die publikations- und institutionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen oder auch die relevanten wissenssoziologischen Data und Fakta wie etwa die Begründung von Allianzen und Zitationszirkeln, die Organisation von Gefolgschaftsverhältnissen usw. Neben der Kontextadaption erweist sich diese ‚Depotentialisierung‘ als zweiter wesentlicher Faktor bei der Entwicklung von Asymmetrien in der Verteilung der den zu einem gegebenen Zeitpunkt synchron existierenden Ansätzen jeweils von der Fachöffentlichkeit, aber auch vom kulturell interessierten Publikum im Allgemeinen zugeteilten Aufmerksam-
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keit. Wie es also konkret im Einzelfall dazu kam, dass von den vielen Lampen, die der Flamme harrten, gerade diese oder jene angezündet wurde, soll hier mitbedacht sein, auch wenn gewiss schwer zu ergründen ist, in welchen Farben die letztlich nicht entzündeten Lampen geleuchtet hätten. II.5 Praxisbewährung Von ausschlaggebender Bedeutung für die Durchsetzungsfähigkeit und Langlebigkeit einer Methode ist nicht zuletzt der Grad ihrer Fähigkeit, bestimmte relevante, in der alltäglichen Forschung und Lehre immer wieder entstehende Probleme auf eine effiziente, praxistaugliche Weise zu lösen. So können beispielweise im Bereich der Büchner-Edition Fragen auftreten, bei deren Beantwortung ein positivistischer Ansatz gute Dienste leistet. Die Analyse der Jugendsprache geht leichter von der Hand, wenn man mit bestimmten Verfahren der strukturalistischen Textanalyse vertraut ist. Und das mittelalterliche Oster- oder Fastnachtsspiel lässt sich in den Kategorien der modernen Performativitätsforschung besser verstehen, als es vor der Entwicklung dieser Methode und ihres Begriffsinstrumentariums der Fall war. Allerdings existiert in der Regel ein Widerspruch zwischen der alltagspraktischen Reservierung der einzelnen Methoden für jeweils ganz bestimmte Arbeitsfelder oder Analyseaufgaben einerseits und ihrem – in der jeweiligen Durchsetzungsphase nicht selten sehr lautstark vorgetragenen – Universalitätsanspruch andererseits. So beharrt etwa die Dekonstruktion darauf, dass sich nicht nur polyvalente oder hermetische, sondern letztlich alle Texte selbst dekonstruieren. Und der hermeneutische Ansatz postuliert, dass letztlich alle Sprachkunstwerke einer verstehenden, Textaussagen auf den Begriff bringenden Auslegung zugänglich seien. In der alltäglichen Berufspraxis scheinen sich jedoch sogar die jeweiligen Methodenadepten selbst nach erfolgter Etablierung (Ende der Durchsetzungsphase) in stillschweigendem Einverständnis über diese Universalitätspostulate hinwegzusetzen und sich weitestgehend auf die in unmittelbarer Reichweite ihrer Methode(n) liegenden Untersuchungsgegenstände und Forschungsfragen zu konzentrieren. Aus dieser Beobachtung können interessante Arbeitsprogramme für diskursanalytisch geschulte Wissenschaftshistoriker abgeleitet werden. Doch hier an dieser Stelle sei daraus zunächst nur gefolgert, dass es einen unausgesprochenen fachinternen Konsens darüber zu geben scheint, welche Instrumente
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bei welcher Operation benutzt werden sollten – und welche anderen man hierbei besser im Instrumentenkoffer lässt. Das Überleben einer Methode scheint jedenfalls gesichert zu sein, wenn sie unter Beweis stellen konnte, bei der Lösung ganz bestimmter, in Forschung und/oder Lehre immer wiederkehrender Probleme gute Dienste zu leisten. II.6 Eigendynamik Wie jede eingespielte Praxis entwickelt auch die Methodendiskussion Autonomisierungstendenzen. Auf einer Metaebene kann untersucht und diskutiert werden, ob in der Abfolge der Methoden allgemeine, abstrakte Entwicklungstendenzen erkennbar sind, und diese Tendenzen können geglättet und extrapoliert werden, so dass einerseits aus dem unübersichtlichen Neben- und Ineinander der Methoden ein wohlsortiertes Nacheinander gemacht und andererseits eine Prognostik bezüglich künftiger Methodenentwicklungen begründet werden kann. Unterstützt wird dieser Trend durch die akademische Institutionalisierung und Etablierung der Methodologie als einer eigenen Unterdisziplin der Germanistik mit speziellen Lehrstühlen, Publikationsorganen, Vortragsreihen, Erwähnungen in Studien- und Prüfungsordnungen, Bibliographien usw.14 Diese Entwicklung ist in der Germanistik inzwischen dermaßen weit fortgeschritten, dass ohne Zögern von einer durchgreifenden Autonomisierung des Methodendiskurses gesprochen werden kann, auch im Sinne einer Zunahme an Selbstzweckhaftigkeit dieses Diskurses. Methodologen verstehen sich nicht unbedingt als ‚Dienstleister‘ für ihre Kolleginnen und Kollegen, sondern mehr und mehr als Spezialisten mit ganz eigenem Arbeitsgebiet. In der Folge kommt es zu einer Festigung der eingangs beschriebenen Ausdifferenzierung zwischen den scharf konturierten ‚Methoden der Methodologen‘ und den makkaronischen ‚Methoden der Praktiker‘. Dieser Ausdifferenzierungsvorgang kann und darf nicht unter funktionalen oder gar moralischen Aspekten als sinnlos und schädlich diskreditiert werden. Vielmehr ist es anscheinend ein allgemeines, kaum zu unterbindendes Symptom aller Bewusstseinsreifung, dass Phänomene nicht 14
Wichtigste Belege hierfür sind wohl die 1972 erfolgte Einrichtung der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie die 1994 realisierte Etablierung der Arbeitsstelle Fachgeschichte am Institut für Deutsche Literatur der Berliner Humboldt-Universität.
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nur bearbeitet werden, sondern dass auch die Art der Bearbeitung reflektiert, diese Reflexion erneut reflektiert wird usf., bis schließlich der Eindruck einer weitgehenden Loslösung von den ursprünglich interessierenden oder Sorge bereitenden Fragen und Problemen entsteht. Triebfeder dieser Entwicklung dürfte wieder der oben erwähnte Innovationszwang sein. Von einem bestimmten Punkt der Diskursentwicklung an ist das Spektrum der überhaupt artikulierbaren Positionen systematisch erfasst und beschrieben. Und außerdem ist das Ensemble der bei optimistischster Kalkulation einigermaßen zustimmungsfähigen Standpunkte irgendwann ausgeschöpft, so dass – will man keine Extrem- oder Außenseiterposition übernehmen – nur noch der Weg in die Metaierung bleibt, wenn man etwas Substanzielles und Neuartiges zur Methodenfrage hervorbringen will. Da es zudem besonderen Scharfsinn und ausgedehnte Kenntnisse erfordert, sich nicht nur zwei oder drei, sondern möglichst alle Methoden anzueignen, verspricht dieser Weg besonders hohen Distinktionsgewinn. So entstehen auf quasi natürliche Weise immer glänzendere, intellektuell brillantere, aber zugleich von der alltäglichen Berufspraxis entferntere Methodendiskurse. Die zunehmende Entfremdung führt dann zu einer Konsolidierung beider Lager, d.h. zu einer Verhärtung der Positionen. Die Chance der ‚Praktiker‘, ihren makkaronisch-individuellen Standpunkt im Diskurs der Methodologen geltend zu machen, verringert sich, was sie veranlassen kann – gelegentlich sogar unter mehr oder minder offener Anverwandlung vorwissenschaftlicher Topoi eines hochproblematischen Antiintellektualismus – Theoretikerschelte zu betreiben und sich endgültig in ihrer Praxis einzumauern. Umgekehrt treibt die frustierende innerfachliche Resonanzlosigkeit der Methodologen unter Umständen ein outriertes Avantgardebewusstsein hervor, dessen konsolatorischer Effekt nur durch Selbstabschottung bewahrt werden kann. Wenn in den einzelnen Artikeln des vorliegenden Handbuches immer auch beispielhafte Anwendungsfälle vorgestellt werden, so darf daraus nicht auf eine naive Vorstellung von Theorie-Praxis-Relationen geschlossen werden. Dass die zum methodologischen Urgestein zu zählende Hermeneutik ein Füllhorn prominentester Praxisbeispiele ausstreuen kann, während neuere und neueste Methoden weniger und unbekanntere Anwendungsfälle vorzuweisen haben, ist nicht alleine der Anciennität geschuldet, sondern der im eben dargelegten Sinne nolens volens größeren Selbstreflektiertheit und Praxisferne neuerer Ansätze, die sich eben nicht mehr nur als Methoden für die Praxis verstehen können, sondern immer auch als Methoden für eine unterdessen autonomisierte
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Methodologie präsentieren können müssen. Die Operationalisierung dieser avancierteren Methoden erfolgt heute im Genre der in immer rascherer Folge publizierten ‚Einführungen‘ in das Studium der Germanistik. Der selbstreflexive und selbstzweckhafte Anteil dieser Methoden wird darin oft auf irreführende Weise skotomisiert, weil für den Anfänger zunächst nur das unmittelbar Praxistaugliche genug Anschaulichkeit und Relevanz besitzt, um wahrgenommen zu werden. Die Eigendynamik der Methodengeschichte wirkt also einerseits durch Anziehung, andererseits aber auch durch Abstoßung maßgeblich darauf ein, dass den einzelnen Methoden in den verschiedenen Sektoren oder Varietäten des Fachdiskurses zu einem gegeben Zeitpunkt jeweils ein sehr unterschiedlicher Grad an Aufmerksamkeit zuteil wird.
III. Spezifische Probleme der germanistischen Methodik Zusätzlich zu den sechs gerade beschriebenen allgemeinen Faktoren, welche die Methodenentwicklung aller (modern-westlichen) Wissenschaften maßgeblich prägen, können einige weitere, für die Germanistik spezifische Faktoren identifiziert werden. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive kann hierbei zwischen älteren, inzwischen gelösten Problemen einerseits und aktuellen, noch ungelösten Problemen andererseits unterschieden werden. III.1 Gelöste Probleme Bei ihrer Entstehung im frühen 19. Jahrhundert war die Germanistik mit drei gravierenden ‚Geburtsfehlern‘ behaftet. Es hat fast zwei Jahrhunderte gedauert, diese drei Probleme zu beheben. Trotz vieler Hemmnisse und Rückschläge ist dies aber schließlich gelungen. Politisch-ideologische Instrumentalisierung Wie Uwe-K. Ketelsen in seinem diesbezüglichen Artikel im vorliegenden Band zeigen kann, ist die Germanistik von ihren ersten Anfängen bis hin zur Katastrophe des Nationalsozialismus eine in vielerlei Hinsicht ‚deutsche‘ Wissenschaft gewesen, die sich zunächst patriotisch, dann nationalistisch und schließlich rassistisch gab. Aufgrund personeller Kontinuitäten und da die Ideologiekritik noch in ihrer Formationsphase steckte und erst um 1968 akut wurde, dauerte es nach 1945 zunächst noch einige
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Jahre, bis die ‚Nationalphilologie‘ älteren Typs endgültig abgelöst werden konnte.15 Zurzeit besteht aber glücklicherweise kein Anlass, an der Endgültigkeit dieses Bruches zu zweifeln. Im aktuellen Methodenportfolio der Germanistik befinden sich zahlreiche Methoden mit dezidiert internationaler, komparatistischer Grundorientierung wie etwa Semiotik, Systemtheorie, Feldtheorie, Textwirkungsforschung, Diskursanalyse, Dekonstruktion, Gender Studies u.v. a. Auch eine deutsch-nationale Intertextualitätstheorie, Medientheorie oder Thematologie müsste wohl als Widerspruch in sich selbst bezeichnet werden. Überschätzung des Gegenstandes Aus dem Ästhetik-Konzept des Deutschen Idealismus heraus konnte die Teilhabe an gehobener literarischer Kommunikation bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein gelegentlich wie das Nonplusultra menschlicher Existenz dargestellt werden. Liest man bestimmte Formulierungen aus dieser Zeit – beispielsweise solche aus der Feder des jungen Friedrich Gundolf –, so könnte man ernsthaft bezweifeln, ob von ihm überhaupt noch zur Gattung des Homo sapiens gerechnet wurde, wer nicht die Texte der deutschen Klassiker gründlich durchstudiert hatte. Von solchem Überschwang hat sich die moderne Germanistik befreien können. Selbstreflexive Methoden wie die Literaturpsychologie, die Ideologiekritik oder die Rezeptionsforschung einerseits und betont nüchtern-szientifische Verfahren wie der Strukturalismus, die Narratologie oder die Semiotik andererseits haben ein solches normatives Denken weitestgehend aus der Wissenschaft verbannt.16
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Dazu: Höppner, Wolfgang, „Literaturwissenschaft in den Nationalphilologien“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 25–70, hier S. 64 f.; Klausnitzer, Ralf, „Institutionalisierung und Modernisierung der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert“, in Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 70–147, hier S. 123–134; Müller, Dorit, „Literaturwissenschaft nach 1968“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 147–190, hier S. 147–152. Selbst neuere Studien zum Verhältnis zwischen Literatur und Wissen, die prima facie unter erhöhten Normativitätsverdacht zu stellen wären, üben sich in systematischer Selbstrelativierung. Vgl. beispielhaft: Klausnitzer, Ralf, Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin, New York 2008.
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Antipluralismus trotz faktischer Pluralität Von der Zurkenntnisnahme des um 1918 entstandenen Pluralismus bis zu seiner Bejahung hat es ein gutes halbes Jahrhundert gedauert.17 Jener wertkonservative Antimodernismus, wie ihn beispielsweise Max Picard in seinem vielzitierten Buch Hitler in uns selbst (1946) oder Hans Sedlmayr in seiner Studie Verlust der Mitte (1948) noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Erfolg propagiert hatten, findet heute nur noch in außerwissenschaftlichen, jedenfalls nicht in germanistischen Kreisen und Kontexten Gehör. Die gegenwärtige Germanistik argumentiert nicht mehr vom Standpunkt verabsolutierter Wertordnungen aus, sondern operiert mit dem Grundgestus der Selbstrelativierung und Selbsthistorisierung. Wo solche Verabsolutierungen noch aufzutreten scheinen wie etwa in George Steiners Real presences (1989), werden sie eher als Kuriosum denn als ernstzunehmender wissenschaftlicher Einspruch rezipiert. Auf einer Metaebene muss allerdings konzediert werden, dass die Selbstrelativierung ihrerseits zum Dogma und damit zur bloßen äußerlichen Pflichtübung werden kann, wenn ihre Fundierung in der Werte- und Gesellschaftsordnung eines demokratisch-pluralistischen Zeitalters nicht immer wieder bewusst gemacht wird.18
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Rainer Kolk hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Germanistik schon nach 1800 „eine große Bandbreite konkurrierender Wissenschaftskonzepte“ verzeichnet habe (Kolk, Rainer, „‚Gemischtes Publicum‘. Popularisierung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens in der Germanistik des 19. Jahrhunderts“, in: Danneberg, Lutz / Höppner, Wolfgang / Klausnitzer, Ralf (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion ( I ), Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 179–196, hier S. 182). Eine solche Pluralität bereits als frühen „‚Methodenpluralismus‘“ (ebd.) zu bezeichen, erscheint mir jedoch irreführend, weil hiermit der wichtige Unterschied zwischen der singularistischen Wahrheitskonzeption des bürgerlichen und der relativistischen Wahrheitskonzeption des demokratisch-pluralistischen Zeitalters verwischt wird. Zudem wäre es bei Übernahme einer solchen Sichtweise schlechterdings unmöglich, irgendeine Epoche der Wissenschaftsgeschichte als nicht-pluralistisch zu bezeichnen. Zu dieser Problematik vgl. das instruktive Kapitel 2.3 (Theorienpluralismus in der Literaturwissenschaft?) in: Köppe, Tilmann / Winko, Simone, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2008, S. 14–18.
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III.2 Ungelöste Probleme Nach Beseitigung der drei oben beschriebenen ‚Geburtsfehler‘ des Faches sind inzwischen vier andere, neuartige Mängel hervorgetreten, an deren Beseitigung gewiss noch längere Zeit zu arbeiten sein wird. Diese vier neuen Probleme können jedoch im direkten Vergleich als relativ harmlos eingestuft werden, auch wenn sie die Außendarstellung des Faches erschweren und die Arbeitszufriedenheit vieler Fachvertreter gefährden. Bildungsbegriff im globalisierten Universitätssystem Der in seiner ganzen Tragweite erst nach und nach erfassbare, in Deutschland in seiner aktuellen Erscheinungsform oft als Degradierung der Humboldt’schen Universität zum College US-amerikanischen Typs erlebte Bologna-Prozess impliziert eine technokratisch anmutende Pragmatisierung des Bildungsbegriffes, die den geisteswissenschaftlichen Fächern überdurchschnittliche Adaptionsleistungen abverlangt. Neben der Philosophie und der Pädagogik ist hierbei ohne Zweifel die Germanistik jene Disziplin, die nicht nur unter verwaltungstechnischen, sondern auch und gerade unter inhaltlichen, ihre Gegenstände und ihr Selbstverständnis betreffenden Aspekten die weitestgehenden Konzessionen zu machen gezwungen ist. Denn das Konzept der Bildungsautonomie hat nicht nur die mit der Literatur des Deutschen Idealismus befassten Spezialisten beschäftigt, sondern die gesamte Fachentwicklung durchgreifend und nachhaltig geprägt. Es ist jedenfalls zu erwarten, dass die Kenntnis der Autonomieästhetik oder des Sprachidealismus selbst als nützliches Wissen und nur als nützliches Wissen klassifiziert wird, ohne dass der Widerspruch zwischen den Inhalten des Faches und der Form, in der sie vermittelt werden müssen, in angemessener Weise reflektiert wird. Und es steht durchaus zu befürchten, dass dieser innere Widerspruch nicht zu einer produktiven Infragestellung verwaltungstechnischer Abläufe, sondern zu einem schleichenden Geltungsverlust der Inhalte selbst führen wird.19 Aber vielleicht gibt es ja unter den Studierenden genug kritische Geister, die sich mit dem Bildungsbegriff in Goethes Wilhelm Meister nicht nur deshalb beschäftigen, weil damit sechs oder acht Credit points zu holen sind …
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Vgl. Dainat, Holger, „Hochschullehre“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 199–209, hier S. 206–208.
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Habitusspezifische Verzerrung der wissenschaftlichen Einstellung Ein Wissenschaftler muss die Fähigkeit besitzen, den Gegenständen seiner Wissenschaft gegenüber eine neutrale wissenschaftliche Einstellung einnehmen zu können. Nur so kann er Ekel, Angst, Scham und ähnliche Empfindungen überwinden, die bei der vorwissenschaftlichen Beschäftigung mit bestimmten Untersuchungsobjekten leicht auftreten können. In der Philologie (und vielen anderen Kulturwissenschaften) wird aber noch immer vielfach die ästhetische Einstellung als Surrogat für die echte wissenschaftliche Einstellung benutzt und akzeptiert. Zur Verdeutlichung der Problematik stelle man sich einen Biologen vor, der es ablehnt, sich mit anderen Tieren als dem Löwen zu beschäftigen, weil dieser doch der König der Tiere sei. In ähnlicher Form bringen es bis heute viele Kulturwissenschaftlicher nicht über sich, in distanziert-neutraler, wissenschaftlicher Form jene Varietäten der Sprache und der literarischen Kommunikation zu thematisieren, die nicht den Geschmackspräferenzen der Bildungseliten entgegenkommen; die germanistische Linguistik, in der immerhin Phänomene wie die Alltagssprache, die Umgangssprache, die Jugendsprache usw. bearbeitet werden, ist in dieser Hinsicht allerdings weiter fortgeschritten. In dieser Feststellung liegt kein Widerspruch zu der oben angemahnten Verteidigung des Autonomiegedankens. Der Zoologe bewahrt sich seine wissenschaftliche Autonomie nicht dadurch, dass er die Untersuchung – vermeintlich oder tatsächlich – hässlicher, gefährlicher oder ekelerregender Tierarten verweigert, sondern dadurch, dass er die Untersuchung und Beschreibung solcher Tierarten mit sachlich-nüchterner, neutralwissenschaftlicher Einstellung durchführt. Universaldilettantismus statt Interdisziplinarität Von der Hermeneutik über die Geistesgeschichte, die Mentalitätengeschichte und die Medientheorie bis hin zur Kulturwissenschaft gab und gibt es in der Germanistik eine Vielzahl von Methoden, die von einer besonders weiten Definition ihres Gegenstandes geprägt sind. So kommt es nicht selten zu ‚Übergriffen‘ in mehr oder minder benachbarte Bereiche wie Anglistik, Romanistik, Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Theologie oder Philosophie, aber auch Jurisprudenz, Wirtschaftswissenschaften, Biologie usw. Leider stellen echte interdisziplinäre Projekte hierbei noch immer eine seltene Ausnahme dar. Und das betrifft nicht nur jene Fälle, in denen Germanisten sich selbst zur Bearbeitung bestimmter Themen eine Ad-hoc-Kompetenz in den jeweils relevanten Gebieten aneignen, sondern auch einen Großteil der offiziell
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geförderten Projekte, an denen Repräsentanten verschiedener Wissenschaften beteiligt sind. Jedenfalls gibt es bis heute keine eigene germanistische Methodologie des interdisziplinären Arbeitens.20 Es ist unklar, welche Kategorien, Prozeduren und Fragestellungen in welche außerfachlichen Richtungen welche Anschlussmöglichkeiten eröffnen. Hier kann der vorliegende Band nur auf ein Desiderat der Methodologie hinweisen und vor der weiteren Kultivierung jenes Universaldilettantismus oder Pseudouniversalismus warnen, der mit erstaunlicher Chuzpe nach allem greift, was in Reichweite sprach- und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen zu kommen scheint. Marginalisierung des Methodendiskurses im Berufsalltag Auf die Frage nach ‚ihrer‘ Methode reagieren Wissenschaftler heute nicht selten ausweichend oder ablehnend. Wenige bekennen sich ausdrücklich zu einem bestimmten Ansatz oder Paradigma. Oft wird in der Einleitung zu wissenschaftlichen Studien nur vage durch Zitate in Fußnoten oder Anmerkungen ein Spektrum von zwei oder drei Forschungsansätzen umrissen, in deren Schnittpunkt der Verfasser eine eigenständige Position zu beanspruchen versucht. Die Ursachen für diese Zurückhaltung sind vielfältig: Erstens werden die in aller Konsequenz ausdifferenzierten Einzelmethoden oft als zugespitzte Extrempositionen aufgefasst, die in der Praxis alltäglicher Forschung und Lehre unnötige Reibungsverluste erzeugen und deshalb quasi prophylaktisch ihrer spitzen Ecken und Kanten beraubt werden müssen, um anschlussfähig zu sein. Zweitens befürchten offenbar viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, durch eine zu starke Schärfung ihres eigenen methodischen Profils berufspraktische Nachteile zu erfahren, weshalb man sich lieber durch seine Arbeitsgebiete als durch seine Arbeitsmethodik zu definieren versucht: Man ist lieber Grammatiktheoretiker als Strukturalist, lieber Romantikspezialist als Dekonstruktivist, sofern man nicht – was selten der Fall ist – als Diskursbegründer auftreten und ein ganz neues Paradigma stiften will (bzw. im unmittelbaren Wirkungskreis einer solchen
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Dazu Klein, Wolfgang, „Die Werke der Sprache. Für ein neues Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik“, in: LiLi, 150/2008, S. 8–32, hier S. 13: „Die Forderung nach mehr Interdisziplinarität ist ein Topos. In Wirklichkeit ist diese Forderung weltfremd. Die Interdisziplinarität geht in der Praxis selten über ein kultiviertes Gespräch hinaus“.
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Gründerpersönlichkeit arbeitet und in einem entsprechenden Abhängigkeits- oder sogar Gefolgschaftsverhältnis steht). Drittens wird häufig der Eindruck artikuliert, dass das Methodenkarussell sich immer schneller dreht, dass also der schon von Herder bemerkte, von Blumenberg und Koselleck analysierte Prozess der neuzeitlichen ‚Beschleunigung der Zeit‘ auch die Wissenschaften erfasst und zu einer Konjunktur ephemerer Paradigmen geführt hat, die eher dem Diktat des Modewandels als einer inneren Entwicklungslogik oder den Ansprüchen des Lehr- und Forschungsalltags zu genügen scheinen. Viertens wird die Situation auf dem Markt der Methoden heute oft als besonders unübersichtlich erfahren, denn die inzwischen professionell betriebene Ausdifferenzierung der Methodologie und der Methodengeschichte hat zu einer relativen Entkonturierung der verschiedenen, bis ins Feinste und Kleinste ausdifferenzierten Ansätze geführt. Fünftens und letztens scheint außerdem der personale Faktor bei der Methodenwahl nach wie vor von ausschlaggebender Bedeutung zu sein: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelangen allem Anschein nach höchst selten durch eigenständiges Vergleichen aller rivalisierenden Methoden zur bewussten Entscheidung für eine derselben; vielmehr geraten sie offenbar im Verlauf ihrer beruflichen Initiation und Etablierung in den Einflussbereich einiger Kolleginnen und Kollegen, die durch fachliche Brillanz, durch Macht oder durch persönliches Charisma ihre persönliche und berufliche Entwicklung stark beeinflussen (vgl. oben Kap. II.2). Dieser Mechanismus führt zur Ausprägung zahlreicher methodologischer Mischformen, die sich kaum noch auf einen Begriff bringen oder klar definieren lassen. Die Frage nach der ‚eigenen Methode‘ wird deshalb nicht selten als naiv-praxisferne Gretchenfrage empfunden, die an den Realitäten des Berufsalltags vorbeigeht und im Grunde nur jene wenigen Kolleginnen und Kollegen betrifft, die den Status von Methodik-Experten oder Diskursbegründern zugewiesen bekommen und die deshalb als Inseln im Meer jenes gewöhnlichen diffusen Methodenpotpourris erscheinen, das die alltägliche Berufspraxis dominiert.21 Damit entsteht aber auch die 21
Ein Topos praktisch aller neueren Publikationen zur Methodologie ist deshalb der so eindringlich formulierte wie folgen- und hilflose Aufruf zur methodologischen Selbstreflexion. Als Beispiel zitiere ich Strelka, Joseph, Methodologie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1978, S. XI: „Schließlich sei noch in aller aufrichtigen und gebührenden Bescheidenheit darauf hingewiesen, daß das Studium der Methodologie einer Wissenschaft – und schon gar in jener vereinfachenden Weise, wie dies im
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Gefahr, dass die methodologische Selbstreflexion zur alleinigen Spezialaufgabe der oben unter II.6 beschriebenen ‚Methodologie der Methodologen‘ deklariert wird und dass sich der Durchschnittsgermanist der Notwendigkeit enthoben sieht, seine methodische Orientierung – wenigstens von Zeit zu Zeit – auf den Begriff zu bringen und auf den Prüfstand zu stellen. Die Professionalisierung und scheinbare Dynamik der Methodendiskussion ginge dann mit einer neuen methodologischen Unbedarftheit vieler Praktiker einher, denen es genügt, in den Einleitungskapiteln ihrer Publikationen routinemäßig auf jene zwei oder drei Positionen zu verweisen, denen sie verpflichtet waren, verpflichtet sind und verpflichtet sein werden. Das kreative Potential einer pluralistisch gewordenen Methodologie bliebe dann unausgeschöpft. So bleibt zuletzt zu hoffen, dass der vorliegende Band eine Inspirationsquelle für alle Fachkolleginnen und -kollegen werden kann, – also auch für jene, die über der Bewältigung ihres anstrengenden Alltagsgeschäftes dazu übergegangen sind, die Frage nach ihrer Methode nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber als Gretchenfrage einzustufen. Frau Alexandra Schulz M. A. gebührt großer Dank für ihre zuverlässige, akribische Hilfe bei der Einrichtung des Manuskriptes. Für die sorgsame Erstellung des Registers danke ich Frau Dr. Christine Henschel.
IV. Literaturverzeichnis Strelka, Joseph, Methodologie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1978. Frühwald, Wolfgang, „Germanistik im Spannungsfeld von literarischer Kritik und Literaturwissenschaft“, in: Gießener Universitätsblätter, 17/1984, H. 1, S. 33–44. Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989. folgenden geboten wird – zwar niemanden zum großen Literaturwissenschaftler machen kann, daß aber dennoch die wissenschaftstheoretische Selbstbesinnung auf die methodologischen Grundlagen einer Wissenschaft die unabdingbare Voraussetzung für geordnetes und klares Denken und Vorgehen und damit für ein gedeihliches Arbeiten darstellt“. Faktum scheint aber gerade zu sein, dass es sich nicht um eine ‚unabdingbare Voraussetzung‘, sondern (bloß) um eine – allerdings sehr wünschenswerte – Ergänzung und Vertiefung handelt.
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Hermand, Jost, Geschichte der Germanistik, Reinbek bei Hamburg 1994. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München. Bd. III: Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, 1. Aufl. 1995. Vietta, Silvio / Kemper, Dirk (Hrsg.), Germanistik der 70er Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie, München 2000. Benthien, Claudia / Velten, Hans Rudolf, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002. Spinner, Kaspar, „Von der Werkinterpretation über die Rezeptionsästhetik zur Dekonstruktion“, in: Hans Vilmar Geppert / Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. I, Tübingen 2003, S. 259–270. Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München, Bd. IV: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1949, 1. Aufl. 2003. Jahraus, Oliver, Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel 2004. Schneider, Jost, Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin, New York 2004. Bogdal, Klaus-Michael / Müller, Oliver (Hrsg.), Innovation und Modernisierung. Germanistik von 1965 bis 1980, Heidelberg 2005. Danneberg, Lutz / Höppner, Wolfgang / Klausnitzer, Ralf (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a. M. u. a. 2005. Geppert, Hans Vilmar / Zapf, Hubert (Hrsg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. II, Tübingen 2005.
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Kolk, Rainer, „‚Gemischtes Publicum‘. Popularisierung und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens in der Germanistik des 19. Jahrhunderts“, in: Lutz Danneberg / Wolfgang Höppner / Ralf Klausnitzer (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 179–196. Anz, Thomas (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007. Dainat, Holger, „Hochschullehre“, in: Anz, Thomas (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 199–209. Höppner, Wolfgang, „Literaturwissenschaft in den Nationalphilologien“, in: Anz, Thomas (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 25–70. Klausnitzer, Ralf, „Institutionalisierung und Modernisierung der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 70–147. Müller, Dorit, Literaturwissenschaft nach 1968, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 3: Institutionen und Praxisfelder, Stuttgart, Weimar 2007, S. 147–190. Schneider, Jost, „Literatur und Text“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2007, S. 1–23. Klausnitzer, Ralf, Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin, New York 2008. Köppe, Tilmann / Winko, Simone, Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2008.
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Alteritätsforschung / Interkulturalitätsforschung von A LEXANDRE K OSTKA und S ARAH S CHMIDT
1. Definition 1.1 Etymologie, Sprachräume Der Begriff ‚Alterität‘ (engl.: ‚alterity‘; franz.: ‚altérité‘) ist im Deutschen ein aus dem Lateinischen (‚alteritas‘) abgeleiteter Neologismus und steht für ‚Andersheit‘. Als solcher wird er in den einschlägigen deutschen Wörterbüchern einschließlich der deutschen Fremdwörterbücher bis heute nicht aufgeführt. Das französische ‚altérité‘ und das englische ‚alterity‘ werden hingegen spätestens seit dem 17. Jahrhundert im Sinne von Andersheit (‚otherness‘, ‚caractère de ce qui est autre‘) verwendet. Das lateinische ‚alteritas‘ entspricht den griechischen ‚µ ‘ und ‚ ‘. Das Adjektiv ‚«‘ (‚heteros‘) bezeichnet sowohl das exklusive Andere oder das zweite Andere als auch eine allgemeine Verschiedenheit. Während das lateinische ‚alter‘ (‚alternus‘ = abwechselnd) das Eine von Zweien meint und in diesem Sinne auch als das Entgegengesetzte verwendet werden kann, so meint das Wort ‚alius‘ (griech. ‚állos‘, ‚ «‘) ein Anderes unter verschiedenen Anderen. Im deutschen Sprachraum wird sowohl ‚alter‘ als auch ‚alius‘ weit gehend durch das aus dem ig. Wort ‚antero-‘ (ai. ántara- = fern, verschieden, anderer; av. ‚an’tara-‘ = der andere, zweite) gebildete gemeingermanische Wort ‚ander‘ ersetzt. Als Für- und Zahlwort bezeichnet ‚ander‘ zunächst die exklusive Bedeutung von ‚alter‘ als des Zweiten oder Entgegengesetzten eines Ganzen, also eine Geteiltheit im doppelten Sinne, übernimmt jedoch bald auch die weitere Bedeutung des ‚alius‘ als offene Verschiedenheit oder Anderes unter vielen möglichen Anderen. Das Zahlwort ‚ander‘, das vereinzelt noch bis ins 17. Jahrhundert als solches verwendet wurde, wird jedoch von dem Wort ‚zweite‘ verdrängt.
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1.2 Definition ‚Alterität‘ oder ‚Andersheit‘ ist ein Relationsbegriff, d. h. ein Begriff, der ein Differenzverhältnis zwischen Subjekt und Objekt, Subjekt und KoSubjekt, zwischen Kollektiva, einem Subjekt zu sich selbst oder aber jenseits der vorausgesetzten kollektiven oder subjektiven Einheiten zwischen und innerhalb von Systemzusammenhängen bestimmt. Der oder das Andere kann dabei ebenso politischer, sozialer, geschlechtsspezifischer, geographischer, ethnologischer, religiöser, sprachlicher bzw. medialer Natur sein und verweist je nach Fokus, Disziplin und Schule auf phänomenologische, hermeneutische, systemtheoretische, strukturalistische oder poststrukturalistische Ansätze. Allen Ansätzen des Alteritätsdenkens ist gemeinsam, die Funktionsmechanismen von Eigen- und Fremdzuschreibung zu untersuchen und mit der konkreten Analyse von Differenzverhältnissen zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit von Differenz und Identität schlechthin zu reflektieren. Für die Literaturwissenschaft ist das Alteritätsdenken zum einen ein interpretativer Ansatz der Textanalyse, zum anderen eine Methodenreflexion auf das eigene wissenschaftliche Vorgehen selbst. Beide Ebenen zu trennen – Alterität als ein in dem jeweiligen literarischen Text behandeltes Thema und Alterität als Produktions- und Rezeptionsbedingung von (Literatur)Wissenschaft – ist im Einzelnen nicht immer möglich, da gerade die Beschäftigung mit der literarischen Darstellung außerliterarischer Andersheit Fragen nach dem eigenen wissenschaftlichen Vorgehen hervorruft. Insofern die Generierung von Selbst- und Fremdbildern in verstärktem Maße in Motiven des Anderen und Fremden, wie z. B. in dem des ‚Irren‘ oder dem des Kindes eine literarische Inszenierung findet, wird das Alteritätsdenken auch zu einem Ansatz in der Motivgeschichte.1 Da bestimmte Gattungen, wie z. B. der Reisebericht oder der Brief, eine besondere Affinität zur Darstellung des Anderen oder Fremden aufweisen, stellen sich auch gattungstheoretische Fragen im Kontext der Diskussion um Alterität neu.2 1
2
Vgl. Lehnert, Gertrud, „Kindheit als Alterität zur Dämonisierung von Kindern in der Literatur der Moderne“, in: Petra Josting (Hrsg.), Bücher haben ihre Geschichte. Kinder- und Jugendliteratur, Literatur und Nationalsozialismus, Deutschdidaktik, Hildesheim u. a. 1996, S. 246–261. Neben Reiseberichten und Briefen (weiterführende Literaturangaben s. u.) stellen auch Märchen eine prädestinierte Literaturgattung dar, in der das Andere, hier in
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2. Beschreibung Die Untersuchung von Andersheit und Differenzverhältnissen unter dem Schlagwort der Alterität hat sich seit den 1970er-Jahren mittlerweile in viele Themenbereiche verzweigt und in den unterschiedlichsten Fächern durchgesetzt, sodass es sinnvoll ist, den Diskurs anhand verschiedener ‚Achsen‘ darzustellen, die einen ersten Überblick über die Debatten erlauben. Die mittlerweile gängige Unterscheidung in zwei Verwendungsweisen oder ‚Achsen‘ der Alteritätsrelation, in eine ‚vertikale‘ oder zeitliche und eine ‚horizontale‘ oder kulturelle Alterität, ließe sich um zwei ‚diagonale‘ Achsen der Alterität ergänzen. Geht es in der ‚vertikalen‘ oder zeitlichen Achse um die Alterität historischer Distanz, wie sie in der Mediävistikforschung zwischen Mittelalter und Moderne prominent von Hans Robert Jauß thematisiert wurde, benennt die kulturelle Alterität ein ‚horizontales‘ oder synchrones Alteritätsverhältnis zwischen verschiedenen Kulturen. Eine diagonale Achse, der entlang Alteritätsdiskurse geführt werden, ließe sich als ‚mediale Achse‘ bezeichnen, insofern das Medium im Zentrum steht und beispielsweise, wie in der Übersetzungstheorie, die Alterität zwischen den Sprachen oder aber, wie in der ‚poetischen Alterität‘, die Alterität zwischen diskursiver und poetischer Sprache thematisiert wird. Eine weitere diagonale Achse, quer zur kulturellen, zeitlichen und medialen Alterität, diese schneidend und doch nicht vollständig in ihnen abzubilden, markiert den Diskurs um die Alterität der Geschlechter. Es versteht sich von selbst, dass sich diese Achsen ebenso wenig wie die verschiedenen Ebenen, auf denen Alterität thematisiert wird, strikt voneinander trennen lassen. Vielmehr sind sie immer miteinander verwoben, sie kreuzen sich und gehen teilweise in Abhängigkeit von der jeweiligen Definition von Kultur ineinander über: Kulturelle Alterität manifestiert sich auch und nicht zuletzt in Sprache. Die Differenz des historischen Abstandes wird nicht nur als sprachliche, sondern auch als kulturelle Differenz analysierbar; die Alterität der Geschlechter wird in Sprache erfahrbar, und die vermeintlich anthropologische oder biologische Alterität erweist sich als kulturell vermittelter Machtdiskurs. Für eine Trennung dieser Achsen spricht, dass sie zum Teil zeitversetzt prominent werden und auf unterschiedliche methodisch-theoretiForm des Phantastischen, Wunderbaren oder Unheimlichen, thematisiert wird. Vgl. dazu Kathöfer, Gabi, Auszug in die Heimat. Zum Alteritätsraum Märchen, Hildesheim 2008.
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sche Impulse zurückgehen. Für eine Trennung in der Darstellung spricht ebenfalls, dass sie einen mittlerweile unübersichtlich und komplex gewordenen Diskurs zu strukturieren hilft, der sich oft entlang dieser Achsen entfaltet, und dass sich gerade in ihrer Trennung die ‚Intersektionalität‘, d. h. die komplexe Verflechtung unterschiedlich gelagerter Alteritäten, besser verfolgen lässt. Eine gemeinsame Entwicklung der verschiedenen Diskurse um Alterität zeichnet sich insofern ab, als Vertreter einer so genannten ‚essentialistischen‘ Position von Vertretern einer so genannten ‚relationistischen‘ Position weitgehend abgelöst werden. Während die ‚Essentialisten‘ die alteritären Größen als für sich und unabhängig vom Anderen bestehend interpretieren und eine Vermittlung mit dem Bild eines Brückenschlages zwischen zwei fest verankerten Pfeilern beschrieben werden kann, gehen die ‚Relationisten‘ davon aus, dass die beiden Größen im Differenzverhältnis selbst konstituiert werden. Eine ähnlich gelagerte Opposition, die die Diskussion um Alterität quer durch ihre Achsen prägt, ist die von Differenzdenkern und Universalisten. Während die Differenzdenker die radikale Alterität des Anderen in ihrer Unverfügbarkeit betonen und sich dabei an postmoderne Positionen anschließen, unterstreichen die Universalisten die Doppelfigur von Alterität und Identität. Unter den postmodernen Denkern ist es neben Michel Foucault (Les mots et les choses) und Jacques Derrida (Grammatologie) vor allem Emmanuel Lévinas, der immer wieder zum theoretischen Ausgangspunkt für ein Denken der unaufhebbaren Alterität gewählt wird. Anstatt das Verhältnis von Ich und Anderem vom Ich aus zu denken und das Andere auf ein Selbes zurückzuführen, bemüht sich Lévinas um eine Umkehrung der Perspektive und entwickelt seine Ethik der Alterität aus der Begegnung mit einem nicht begreifbaren, unverfügbaren Anderen. Im „Antlitz“ des Anderen zeigt und entzieht sich mir der Andere zugleich. Als etwas, das mein System von Welt übersteigt, stört es mich in meinem Selbstbesitz – ohne sich in seinem Anderssein zu erkennen zu geben; denn jede Erkenntnis ist für Lévinas schon mit der Vereinnahmung gleichzusetzen. Auf diesen „Anruf“ des Anderen erwächst dem Ich eine Verantwortung für den Anderen: „Aber das Verhältnis zum Anderen als nicht-begriffen oder als nicht-umarmt, wie ich es phänomenologisch erscheinen lasse, rührt daher, dass dieses Verhältnis kein Bejahen und kein Moment des Wissens ist. Die Andersheit, in der der Andere erscheint, erscheint als Befehl. Und worüber geht dieser Befehl? Dieser Befehl ist ein Anrufen, ein Anruf zur Verantwortung. Er ist ein erstes
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Sprechen, das nicht nur Antwort, sondern zunächst Verantwortung verlangt.“3 Der Begriff der ‚Alterität‘ liegt in unmittelbarer Nähe zum Begriff der ‚Alienalität‘ oder Fremdheit. Gerade im deutschsprachigen Raum findet der Begriff der ‚Fremdheit‘ trotz der internationalen Popularität der Kategorie ‚Alterität‘ eine größere Anwendung als der der Alterität. Eine Erklärung für diese deutsche Besonderheit könnte man in der umfassenden Bedeutung sehen, die das Wort ‚fremd‘ (etymologisch aus dem gotischen Partikel ‚fram‘ = ‚fern von‘, ‚weg von‘ hervorgegangen) besitzt. Im Gegensatz zum angelsächsischen und romanischen Sprachraum – hier finden sich Ableitungen aus dem Lateinischen ‚alienus‘, ‚extraneus‘ und ‚foras‘ – lassen sich – unter den Begriff der ‚Fremdheit‘ unterschiedlichste Phänomene zu einer Fremdheitsforschung bündeln. Ein Unterschied von ‚Alterität‘ und ‚Fremdheit‘, auch wenn diese Begriffe international sowie im deutschsprachigen Raum oft synonym verwendet werden, ließe sich im Umfang der beiden Begriffe ausmachen. Obgleich Fremdheit wie Alterität in allen vier Achsen thematisiert werden,4 so liegt der Akzent in der Fremdheitsforschung doch auf der kulturellen und sozialen Fremdheit. Dies führt u. a. dazu, dass in der Fremdheitsforschung sozialtheoretische, phänomenologische und hermeneutische Theorieansätze überwiegen. Von verschiedener Seite ist der Versuch unternommen worden, die Bedeutung von Fremdheit und Alterität in ihrer Bedeutung zu differenzieren. Eine eingängige, weil dem alltäglichen Sprachgebrauch nahe Unterscheidung von ‚fremd‘ und ‚anders‘ liefert Harald Weinrich. Während für Weinrich ‚anders‘ eine Differenz bezeichnet, die nicht explizit bewer3
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Lévinas, Emmanuel, „Antlitze und erste Gewalt. Ein Gespräch mit Hans-Joachim Lenger über Phänomenologie und Ethik“, in: Christian Kupke (Hrsg.), Lévinas’ Ethik im Kontext, Berlin 2005, S. 11–25, hier S. 18; vgl. ebenfalls Lévinas’ erstes und zweites Hauptwerk: Totalité et l’Infini. Essais sur l’extériorité, La Haye 1961, dt.: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg 1987; ders., Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974; dt.: Jenseits des Sein oder anders als Sein geschieht, Freiburg 1992; eine gute Einführung bietet Krewani, Wolfgang Nikolaus, Emmanuel Lévinas. Denken des Anderen, Freiburg, München 1992. Dies belegen beispielsweise die umfassenden phänomenologischen Studien Bernhard Waldenfels’ zur Fremdheit, die neben dem Denken Edmund Husserls auch auf den Differenzdenker Emmanuel Lévinas zurückgehen und Fremdheit nicht nur als soziales, historisches und kulturelles Phänomen fassen, sondern u. a. auch als Fremdheit in Sprache untersuchen. Vgl. Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990; Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997–1999; Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006.
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tet wird, betont das Wort ‚fremd‘ den Standpunkt des eigenen und kann als „Interpretament von Andersheit“ verstanden werden.5 In der folgenden Darstellung wird keine Differenzierung zwischen Alterität/Andersheit und Fremdheit vorgenommen. 2.1 Alterität historischer Distanz In der Mediävistik wird der Term ‚Alterität‘ Anfang der 1970er-Jahre in der Debatte zwischen Paul Zumthor, Peter Haidu und Hans Robert Jauß zum theoretischen Konzept.6 Im Mittelpunkt steht die Andersheit mittelalterlicher Sprache und Kultur und die Frage, wie wir als zeitgenössische Leser, aus der historischen Distanz heraus, derart fremde Texte rezipieren und interpretieren können. Dass die vormoderne europäische Literatur in Bezug auf ihre textuellen, sozialen, performativen und situativen Bedingungen für das moderne Verständnis nur schwer zugänglich ist, entspricht in gewisser Weise der ‚Erfindung‘ der Epoche selbst. Denn der Begriff des ‚Mittelalters‘ impliziert die Idee einer Zäsur gegenüber der Neuzeit. Diese Andersheit des Mittelalters dient immer wieder als positiv oder negativ belegte Kontrastfolie für den Entwurf des eigenen neuzeitlichen Selbstverständnisses, das sich bis zur Gegenwart entlang der Oppositionen von religiösem Weltbild versus vernünftigem Weltbild, Mündlichkeit versus Schriftlichkeit, Bild versus Text, Individualität versus Kollektivität, Kult versus Kunst etc. manifestiert. Dabei schreibt der wertende Rückgriff auf diese Kontrastfolie Mittelalter, der je nach Epoche und Gruppierung sowohl 5
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Vgl. Weinrich, Harald, Wege der Sprachkultur, Stuttgart 1985, S. 197. Andere Unterscheidungen finden sich u.a. bei Turk, Horst, „Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 22/1990, 1, S. 8–31, hier S. 11; Barth, Volker, „Fremdheit und Alterität im 19. Jahrhundert: Ein Kommentar“, in: Discussions 1/2007, 36 Absätze; Online-Publikation auf „Perspectiva.net“, Zugang: 10. 04. 09; Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006. Vgl. Zumthor, Paul, Essai de Poétique médiévale, Paris 1972; Haidu, Peter, „Making it (new) in the Middle Ages. Towards a problematics of alterity“, in: Diacritics 4/1974, 2, S. 2–11; ders., Langue, texte, énigme, Paris 1975; Jauß, Hans Robert, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977; Zumthor, Paul, „Comments on H.R. Jauß’s Article“, in: New Literary History 10/1979, 2, S. 367–376; ders., Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994 (franz.: La poésie et la voix dans la civilisation médiévale, Paris 1984).
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positiv als auch negativ belegt ist und zum Argument für die je eigene ‚Modernität‘ wird, selbst Geschichte.7 Insofern der Leser oder Literaturwissenschaftler selbst Teil des betrachteten Alteritätsverhältnisses ist, zielt dieser von Zumthor und Jauß angestoßene Diskurs auf die Metaebene des literaturwissenschaftlichen Vorgehens und reflektiert das Ineinander von literaturwissenschaftlicher Praxis und Literaturtheorie. Hans Robert Jauß entwickelt in Rückgriff auf den Sprachwissenschaftler Eugenio Coseriu8 und in Weiterführung der Gadamer’schen Hermeneutik9 einen rezeptionstheoretisch fundierten Alteritätsbegriff. Das Befremden des modernen Lesers gegenüber der Alterität mittelalterlicher Literatur ist Quelle ästhetischen Vergnügens und Anlass zu einer reflektierten Rezeption, die die Modernität des Mittelalters erst sichtbar macht. Modernität meint dabei nicht den simplen Gleichklang, mit dem wir uns in einer Tradition mit dem anderen Text verorten. Sondern in der Auseinandersetzung mit der Alterität des Textes entdecken wir ihn als etwas für uns Relevantes. In seiner Antwort auf Hans Robert Jauß kritisiert Paul Zumthor10 die Geschlossenheit, die Jauß in der mittelalterlichen Zivilisation konstatiert, und die vereinnahmende Geste des rezeptionsästhetischen Ansatzes. Gegenüber einer relativen Alterität, die sich im ästhetischen Genuss manifestiert, führt Zumthor eine absolute, nicht aufzulösende Alterität ins Feld. In eine ähnliche Richtung argumentiert die zum Teil sehr polemische Antwort auf Jauß von Peter Haidu, die in Jauß’ Ansatz eine tota7
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Vgl. Heinzle, Joachim, Einleitung: Modernes Mittelalter, in: hrsg. v. dems., Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 10 f.; vgl. auch Moos, Peter von, Gefahren des Mittelalterbegriffs. Diagnostische und präventive Aspekte, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 33–63; Oexle, Otto Gerhard, „Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung“, in: Frühmittelalterliche Studien, 24/1990, S. 1–22; Oexle, Otto Gerhard, „Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 7–28; Belting, Hans, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. Coseriu, Eugenio, „Thesen zum Thema ‚Sprache und Dichtung‘“, in: Beiträge zur Textlinguistik, hrsg. von W.-D. Stempel, München 1971, S. 183–188. Gadamer, Hans Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. Zumthor, Paul, „Comments on H.R. Jauß’s Article“, in: New Literary History, 10/1979, 2, S. 367–376.
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litäre Geste der Vereinnahmung sieht.11 Eine Semiotik der Alterität, in der sich Haidu auf strukturalistische Ansätze bezieht, ist nicht primär auf die Verminderung des Differenten, sondern auf eine Konturierung des Differenten aus. Anstatt sich in der Auseinandersetzung mit vormoderner Literatur auf klare Oppositionen zu fixieren, schlägt Peter Strohschneider insbesondere in Auseinandersetzung mit Peter Czerwinski vor, die Komplexität von Differenzen zu beachten, die sich nicht über schlichte Negationen konstruieren lassen.12 2.2 Kulturelle Alterität Dass Kulturen als ‚andere‘ erfahrbar und als solche Stoff einer literarischen Verarbeitung werden, ist ein die Kulturgeschichte begleitender und sie konstituierender Vorgang, dessen Zäsuren jeweils neue Fragestellungen und literarische Strategien zeitigten. Dabei haben sich Kulturkontakte im Verlauf der Geschichte nicht nur exponentiell ausgeweitet und an Intensität gewonnen; auch der Begriff der ‚Kultur‘ selbst unterliegt einer stetigen Modifikation und schreibt seine eigene Geschichte. Die progressive Öffnung und Erweiterung des Kulturbegriffs, der Wandel von einem essentialistischen zu einem relationalen Kulturverständnis ist dabei von fundamentaler Bedeutung für die Diskussion um kulturelle Alterität, wobei zentrale Impulse aus der Ethnologie bezogen wurden. Mit Clifford Geertz kommt Mitte der 1970er-Jahre eine neue ‚relationale‘ Auffassung der Ethnologie auf (Dichte Beschreibung, 1973), die auch für die Auffassung der Beziehungen zwischen Kulturkreisen Auswirkungen hat.13 Orientierte sich die Ethnographie mit dem ‚linguistic turn‘ in 11
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Vgl. Haidu, Peter, „The Semiotics of Alterity. A Comparison with Hermeneutics“, in: New Literary History, Vol. 21, 1989–1990, S. 671–691. Vgl. Strohschneider, Peter, „Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag zum Mittelalter-Entwurf von Czerwinskis, Peter, „Gegenwärtigkeit“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 20/1995, S. 173–191; ders., „Textualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problemskizze am Beispiel des ‚Wartburgkrieges‘“, in: Jan-Dirk Müller / Horst Wenzel (Hrsg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 19–41; ders., Gegenwärtigkeit: simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München 1993. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, Frankfurt a. M. 1983, S. 9 (engl.: The Interpretation of Culture, New York 1973); ders., Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, Frankfurt a. M. 1993 (engl.: Works and Lives, The Anthropologist as Author, Stanford 1988). Einen Einblick in den Forschungsstand vermittelt Ellrich, Lutz,
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den 1970er-Jahren an der Literaturwissenschaft, so wurde ab den 1980erJahren im Gegenzug die Ethnographie zu einem zentralen Impuls für die Literaturwissenschaften, indem literarische Texte als Medien der kulturellen Selbstauslegung in Bezug auf das Fremde verstanden wurden.14 Ebenso entscheidende Impulse bezieht die Alteritäts-Debatte aus dem angelsächsischen Postkolonialismus, welcher seinerseits Ansätze des französischen Poststrukturalismus verarbeitet. So unterwerfen Edward W. Said (Orientalismus, 1978) oder Homi Bhabha (Verortung der Kultur, 1994) das binäre Denken, das sich in Oppositionen wie „Zentrum/ Peripherie“ oder „kultiviert/barbarisch“ manifestiert, einer radikalen Kritik und öffnen Perspektiven hin zu einem „hybriden“ Begriff von Kultur, durch den versucht wird, den Austausch mit einem „Anderen“ als konstitutiv für das „Eigene“ zu fassen.15 Als eine frühe literarische Quelle, die sich spezifisch mit dem Problem der kulturellen Alterität befasst, kann man Herodots Historien betrachten. Der französische Historiker François Hartog hat 1980 in einem viel beachteten, aber auch vielfach kritisierten Kommentar dargelegt, wie Herodot in einer „Rhetorik der Alterität“ sein Werk nach einem binären Schema inszeniert: Das Eigene steht dem (je nach Entfernung im Grade steigerbaren) Fremden gegenüber.16 Kulturelle Unterschiede werden zu einer feststehenden ontologischen Kategorie, und kultureller Austausch wird strengen Regeln unterworfen. Kulturelle Mischungen, wie z. B. in skythischem Gebiet griechische Kleidung tragende Skythen oder gar an griechischen Mysterien teilhabende Fremde, beurteilt Herodot mit äußerster Strenge und zeigt, dass die Götter solche Grenzübertretungen grausam bestrafen. Obwohl Hartog diesen Bezug nicht ausdrücklich her-
14
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Verschriebene Fremdheit. Die Ethnographie kultureller Brüche bei Clifford Geertz und Stephen Greenblatt, Frankfurt a. M., New York 1999. Vgl. Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996; dies., „Texte zwischen den Kulturen: ein Ausflug in ‚postkoloniale Landkarten‘“, in: Hartmut Böhme / Klaus Scherpe (Hrsg.), Literatur und Kulturwissenschaften – Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996, S. 60–77. Bhabha, Homi K., „Verortungen der Kultur“, in: Elisabeth Bronfen / Benjamin Marius / Therese Steffen (Hrsg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 123–148; Said, Edward W., Orientalismus, Frankfurt a. M. 1979 (engl.: Orientalism, New York 1978). Hartog, François, Le miroir d’Hérodote, Paris 1980, bes. Kap. 3, „Une rhétorique de l’altérité“, S. 224–269.
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stellt und auch die französischen Denker der „déconstruction“ nicht auf Herodot verweisen, kann angemerkt werden, dass Platon ungefähr zur gleichen Zeit die von Derrida kritisierten grundlegenden Unterscheidungen zwischen „materiell/geistig“, „Körper/Seele“ etc. trifft, d.h. jene binären Kategorisierungen, die den westlichen Diskurs Jahrtausende lang konstituiert haben und deren essentialistische Paradigmen den Alteritätsdiskurs bis zur dekonstruktivistischen „Wende“ durchziehen.17 Auch in der Mediävistik bilden Fragen nach der Wechselwirkung von Eigen- und Fremdzuschreibung seit den 1980er-Jahren einen zentralen Forschungsschwerpunkt, wobei der Reflexion über die Gattung eine große Aufmerksamkeit zukommt.18 Kulturtransfer findet vor allem an den Höfen eine literarische Verarbeitung. Textgruppen, die eine derartige Untersuchung behandeln, sind Reisebeschreibungen, höfische Romane, in denen der ritterliche Held in der Fremde seine Bewährung sucht, fingierte Briefe wie die des Priesterkönigs Johannes oder aber fiktionale Beschreibungen fremder, „monströser“ Völker des Ostens.19 Zu den höfischen Romanen gehören beispielsweise die in allen europäischen Sprachen entstandenen Alexanderdichtungen, in denen der Held in der Fremde und in Konfrontation mit dem Fremden seine eigene Identität konstituiert. Reiseberichte unter dem Paradigma des Fremden und Anderen lesen – beispielsweise die Reiseberichte über Fernostasien im 13. Jahrhundert20 –, bedeutet nicht mehr primär, nach historischen Indizien zu suchen, sie als Quellen der Geschichtsschreibung zu lesen und fiktionale bzw. semifiktionale Texte auf ihre ‚Richtigkeit‘ zu prüfen, sondern nach der Bedeutung 17
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Derrida, Jacques, La Dissémination, Paris 1972, S. 4–6; siehe auch den Interviewband Positions, Paris 1972; Derrida gibt in diesem Werk den von Platon deklassierten Begriffen eine neue, „umgekehrte“ Bedeutung; dass diese Überlegungen in die Arbeiten von Said, Bhabha und Spivak Eingang gefunden haben, wird von den Autoren wiederholt betont. Bachorski, Hans-Jürgen / Röcke, Werner (Hrsg.), Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit, Trier 1995; zum Einfluss des ethnologischen Diskurses auf die mediävistische Forschung vgl. Kiening, Christian, „Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven“, in: Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Forschungsberichte zur germanistischen Mediävistik, Bern u. a. 1996, S. 11–129. Siehe v. a. Münkler, Marina, „Alterität und Interkulturalität. Ältere deutsche Literatur“, in: Claudia Benthien / Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002, S. 323–369, mit weiterführender Literatur. Münkler, Marina, Erfahrungen des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 282–285.
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der Darstellung des Fremden und Anderen für das eigene Weltbild und das eigene kulturelle Selbstverständnis zu fragen. Die frühe Neuzeit ist – nicht nur bezogen auf das durch die neue Wissenskultur veränderte Selbstbild – eine wichtige Epochenschwelle, sondern vor allem durch die mit ihr einhergehende Konstruktion europäischer Identität gegenüber der „neuen“ Welt.21 Die Auseinandersetzung mit den so genannten ‚Americana‘, mit Briefen, Reiseberichten- oder Beschreibungen der neuen Welt aus europäischer Sicht, die seit Ende des 15. Jahrhunderts in großer Zahl auftraten, gehört zu den Forschungsfeldern, die mit dem Begriff der ‚Alterität‘ arbeiten.22 Die Konstruktionen europäischer Identität(en) spiegeln sich in der Literatur neben den zahlreichen utopischen Entwürfen u. a. in dem bis über die Aufklärung hinaus wirkenden Motiv des ‚edlen Wilden‘.23 In der Auseinandersetzung mit der Entdeckung Amerikas entwickeln sich auch einige wichtige theoretische Ansätze, die in der Literaturwissenschaft Anwendung und Resonanz gefunden haben. Der Züricher Historiker Urs Bitterli entwarf in seiner zu diesem Zeitpunkt bahnbrechenden Studie Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistesund Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung (1976) eine breit angelegte Perspektive, die sich auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebenso stützte wie auf Literatur, Ethnologie und Anthropologie.24 Er entwickelte dabei ein Modell, welches zwischen „Kulturberührung“, „Kulturkontakt“, „Kulturzusammenstoß“ und „Kulturverflechtung“ unterscheidet.25 Ein mindestens ebenso wirkungsträchtiger Beitrag ist Tzvetan Todorovs Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen (1982), worin 21
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König, Hans-Joachim / Reinhard, Wolfgang / Wendt, Wolfgang (Hrsg.), „Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung“, in: Zeitschrift für historische Forschung, 1989, Beih. 7; Harbsmeier, Michael, „Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen. Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen“, in: Antoni Maczak / Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, Wolfenbüttel 1982. Vgl. Neuber, Wolfgang, Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der frühen Neuzeit, Berlin 1991. Fludernik, Monika (Hrsg.), Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden: Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002. Bitterli, Urs, Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976; ders., Die Entdeckung Amerikas: von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München 1992 (2. Aufl.). Bitterli, Die Wilden, S. 81.
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sich der am französischen Forschungsinstitut CNRS arbeitende Linguist vor allem auf die Textproduktion der spanischen Konquistadoren und Missionare stützt.26 Wie Todorov verzichtet auch Stephen Greenblatt in seinem Buch Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker (1991) auf die Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch‘ bei seiner Untersuchung der Diskurse der Eroberer und versucht stattdessen die Grenzen der europäischen Vorstellungen der Alterität auszuloten.27 Die Expansion des europäischen Horizontes durch Kolonialismus und die Intensivierung der internationalen Handelsbeziehungen führte im Zeitalter der Aufklärung zu einem geradezu leidenschaftlichen Interesse für die Möglichkeiten eines interkulturellen Dialogs. In seiner Analyse grundlegender Texte aus dem französischsprachigen Raum zeigt Todorov, wie sich ein Diskurs entwickelt, in dem kulturelle Fremdheit sowohl im Kontext eines elitär-universalistischen Denkens europäischer Überlegenheit als auch im Kontext eines sich entwickelnden pluralistischen Denkens interpretiert wird.28 La Bruyère, Pascal und Descartes stimmen trotz aller sonstigen Differenzen darin überein, dass die europäische Zivilisation die beste aller möglichen ist, deren Technik, Wissen und Wertvorstellungen möglichst weite Ausbreitung finden sollen. Vor dem Eindruck der Versklavung der überseeischen Bevölkerung hatte aber schon Montaigne für einen Pluralismus der Zivilisation plädiert, den Diderot in seiner Schrift Supplément au voyage de Bougainville (posthum veröffentlicht 1798) noch radikalisiert. Jeder solle, so Diderot, nicht einer allgemeinen „nature“ folgen, sondern nur seiner eigenen „nature“, d.h. auch die außereuropäischen Völker sollten ihren Vorstellungen gemäß leben können. Mit der Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Anderen oder Fremden wird auch der Begriff der ‚Toleranz‘ zentral, wie er sich in der Literatur exemplarisch in Lessings Nathan der Weise manifestiert.29 26
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Todorov, Tzvetan, Die Eroberung Amerikas: Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1988 (frz.: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre, Paris 1982). Greenblatt, Stephen, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994 (engl.: Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Oxford 1991). Todorov, Tzvetan, Nous et les autres. La réflexion française sur la diversité humaine, Paris 1989. Siehe Schneider, Jost, „Toleranz und Alterität in Lessings ‚Nathan der Weise‘“, in: Oxana Zielke (Hrsg.), unter Mitarbeit von Thorsten Meier, Nathan und seine Erben. Beiträge zur Geschichte des Toleranzgedankens in der Literatur. Festschrift für Martin Bollacher, Würzburg 2005, S. 25–35.
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Rousseaus Discours sur l’origine des hommes (1755) öffnete schließlich einer schwärmerischen Bewunderung des Exotischen die Tür, die sich exemplarisch in Chateaubriands Atala (1801) äußert. Herders einflussreiche Schriften zur Kultur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, vor allem seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91), erscheinen als eine Weiterentwicklung grundlegender Ideen der Aufklärung, da „fremde“ Kulturen grundsätzlich als ebenbürtig akzeptiert werden. Herders Denkanstöße gehen jedoch von einer essentiellen oder wesenhaften Andersheit aus, vertreten ein geschlossenes, zeitloses Kulturmodell, welches sich in Sprache und Tradition ein für alle Mal konstituiert habe.30 Beflügelte dieses ‚romantische‘ Modell die Wissenschaft seiner Zeit und führte es vor allem (im deutschen Sprachraum) zur Hinwendung zu den Sprachen und Kulturen des Ostens, speziell zur Indologie, so schrieb es auch Differenzen fest, verengte den Blick auf die Konstituierung von Wissen in nationalen Räumen und verdinglichte die „imagined community“ (Benedict Anderson) der eigenen Kultur in umfangreichen Lexika zur Sprachentwicklung sowie in Sammlungen historischer und literarischer „Denkwürdigkeiten“.31 Somit wurden nicht nur nationale Traditionen betont bzw. „erfunden“ (Eric Hobsbawm) – als unmittelbare Konsequenz ergab sich auch eine imaginäre Kartographie von ‚verwandten‘ Kulturkreisen, mit denen in Kontakt zu stehen für befruchtend erklärt wurde, während Austausch mit der eigenen Tradition fernstehenden Partnern nach Möglichkeit unterbunden
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Die Debatte um Herders Thesen ist kontrovers; siehe Pénisson, Pierre / Waszek, Norbert (Hrsg.), Themenheft „Herder et les Lumières“ der Revue Germanique Internationale, 20/2003; Geschlossenheit der Kulturräume schließt Beziehungen jedoch in keiner Weise aus, sondern macht sie zu einer Möglichkeit der Selbstdefinition; siehe z. B. Essen, Gesa von, „Nationale Emanzipation als internationale Kontaktgeschichte bei Johann Gottfried Herder“, in: Ulrike Christine Sander / Fritz Paul (Hrsg.), Muster und Funktionen kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Beiträge zur internationalen Geschichte der sprachlichen und literarischen Emanzipation, Göttingen 2000, S. 391–413. Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation: zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 1995 (engl.: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983). In dieser Perspektive siehe z. B. die interdisziplinäre Synthese von Thiesse, Anne-Marie, La création des identités nationales. Europe XVIIIeXXe siècles, Paris 1999; Espagne, Michel / Werner, Michael (Hrsg.), Philologiques III. Qu’est-ce qu’une littérature nationale?, Paris 1994.
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werden sollte.32 Im Zeitalter der deutschen Nationbildung bedeutete dies eine Hinwendung zum imaginären Idealpartner England und eine Bekämpfung des französischen Einflusses. So kritisierte z. B. Lessing die „schwächende“ Wirkung von Racine auf die deutsche Literaturentwicklung, während die Schlegel’schen Übersetzungen von Shakespeare entscheidend zur Inkorporation des englischen Dichters in den Kanon der deutschen Literatur beitrugen.33 Die Zeit der Nationalstaaten ist keineswegs anzusehen als ein Moment gebremster Interkulturalität; ganz im Gegenteil setzt die Bewusstwerdung der Alterität, und damit der eigenen Identität, eine verstärkte Internationalisierung in Gang.34 Der von Michel Espagne und Michael Werner Mitte der 1980er-Jahre vorgeschlagene Ansatz des Kulturtransfers hinterfragt diese längst obsolet gewordene Kategorie des ‚Nationalstaats‘ und demaskiert sie als ein Konstrukt; die Moderne sei gekennzeichnet von einer Vielfalt von Kulturkontakten, die mit der diffusen Kategorie eines hierarchisch gedachten „Einflusses“, ausgehend von einer „Kulturnation“ zu einer weniger kultivierten Nation, nicht zureichend beschrieben werden können.35 Im Zeitalter des Kolonialismus bzw. des Imperialismus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erreichte die Alteritätsdebatte eine neue Dimension. Zwischen ‚Metropole‘ und ‚Kolonie‘ wurde ein tiefer Graben postuliert. Erst im Nachhinein wurde man sich bewusst, dass der Kolonialismus nicht nur die unterworfenen Kulturen tief geprägt bzw. zerstört hat, sondern auch die Kolonisatoren viel tiefer beeinflusste, als dies lange angenommen wurde.36
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Hobsbawm, Eric, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 1991 (engl. Nations and Nationalism since 1780. Programme, myth, reality, Cambridge 1990). Roger, Christine, La réception de Shakespeare en Allemagne de 1815 à 1850, Bern u. a. 2008. Siehe z. B. Schöning, Udo, Madame de Staël und die Internationalität der europäischen Romantik: Fallstudien zur interkulturellen Vernetzung, Göttingen 2003. Siehe die Synthese von Espagne, Michel, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999. Michael Werner hat inzwischen ein neues Konzept, die „histoire croisée“ vorgeschlagen, welches die Impulse der postkolonialen Debatte integriert, siehe Werner, Michael / Zimmermann, Bénédicte (Hrsg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004. Honold, Alexander / Simons, Oliver, Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen u. Basel 2002.
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Galt der Blick in den 1950er- und -60er-Jahren vor allem dem Prozess der Dekolonisierung selbst,37 so hat sich unter dem Blickwinkel der postkolonialen Fragestellungen ein Paradigmenwechsel vollzogen. Edward Saids 1978 erschienenes und sofort ins Deutsche übersetztes Werk kann als eine bedeutende Zäsur betrachtet werden, nicht zuletzt da er versucht, diese neue Herangehensweise für einen ganzen Wissenszweig anzuwenden, den im Westen im 19. Jahrhundert konstituierten „Orientalismus“, der in allen seinen Facetten (Ethnographie, Geographie, aber auch Literatur und Bildende Kunst) als ein im Foucault’schen Sinne strukturierter „Diskurs“ analysiert wird. Die von ihm angestoßene und heftig diskutierte postkoloniale Debatte hat zu neuen Perspektiven in den Beiträgen von Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak (Subaltern Studies) geführt.38 Der von Samuel Huntington postulierte Kampf der Kulturen (The Clash of Civilizations, zuerst 1993 als Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienen) hat dieses ohnehin sehr dynamische Forschungsfeld noch mehr angeheizt. Im Kontext der postkolonialen Debatte gewinnt auch der Begriff der ‚Hybridität‘ (Homi Bhabha) seine heuristische Schärfe, der sich gegen eine bipolare Gegenüberstellung von eigen und fremd wendet und darauf hinweist, dass Kulturen immer Mischkulturen sind, in denen sich Alteritätsdiskurse vernetzen.39 Die Fragestellungen der postkolonialen Literaturtheorie haben seit langem ihren ursprünglich angelsächsischen und französischen Bezugsrahmen überschritten – ihre theoretischen Ansätze 37
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Césaire, Aimé, Über den Kolonialismus, Berlin 1968; Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1981. Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2007; (Spivak, Gayatri Chakravorty / Guha, Ranajit, Selected Subaltern Studies, Delhi 1988); weiterführend: Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, darin Kapitel „Postcolonial turn“, S. 184ff. Siehe auch Ashcroft, Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin, Helen (Hrsg.), The Post-Colonial Studies Reader, London, New York 1995; Rahnema, Majid / Bawtree, Victoria (Hrsg.), The Post-Development Reader, London 1997; Castro Varela, Maria do Mar / Nikita, Dhawan, Postkoloniale Theorie: eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. Bhabha, Homi K., „Verortungen der Kultur“, in: Elisabeth Bronfen / Benjamin Marius / Therese Steffen (Hrsg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 123–148 (Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London 1994), sowie der Aufsatz „DissemiNation: Time, Narrative and the Margins of the Modern Nation“, in: Homi K. Bhabha, Nation and Narration, London, New York 1990, S. 291–323; ebenfalls Homi K. Bhabha, „The Third Space. Interview with Homi Bhabha“, in: Jonathan Rutherford (Hrsg.), Identity, Community, Culture, Difference, London 1990, S. 202–221.
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finden sich auch in Betrachtungen der deutschsprachigen Literaturen der Moderne.40 „Dritte Wege“ zwischen Zentrum und „Peripherie “ werden exploriert – eine Fragestellung, die auch auf die deutsch-französischen Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit mit ihrer „Fluktuation zwischen dem nationalen und dem europäischen Rahmen“ zurückprojiziert werden kann.41 Ebenso halten Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Globalisierungen ihren Eingang in die Literaturtheorie, die ihre Fragestellungen transdisziplinär anderen Medien gegenüber öffnet.42 2.3 Mediale Alterität – Alterität in der Übersetzung Mediale oder sprachliche Alterität wird in der Übersetzungstheorie als Differenz zwischen verschiedenen Sprachen und die Bedingung der Möglichkeit ihrer Vermittlung in der Übersetzung als zentraler Gegenstand reflektiert. Auch wenn der Terminus erst über rezeptionstheoretische Modelle in die Übersetzungswissenschaft eingegangen ist, so hat die Problematik der grundsätzlichen Alterität zwischen Sprachen eine Tradition, sie wird in den sprachphilosophischen Studien Herders, Humboldts, Schlegels und Schleiermachers prononciert formuliert und mit der Entstehung der nationalen Philologien im 19. Jahrhundert institutionell zementiert. Ein Grundlagentext für die Übersetzungstheorie, dessen Grundgedanken bis heute relevant geblieben sind, ist die 1813 von Friedrich Schleier40
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Jüngst Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.), Orientdiskurse in der deutschen Literatur, Bielefeld 2007; Bachmann-Medick, Doris, „Dritter Raum. Annäherung an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung.“, in: Claudia Berger / Tobias Döring (Hrsg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam, Atlanta 1998, S. 19–36; siehe auch das Diskussionsforum: Postkoloniale Arbeiten / Postcolonial Studies, Leitung: Anil Bhatti (New Delhi), http://www.goethezeitportal.de/ index.php?id=1431 (konsultiert im März 2009). Vgl. z. B. Keller, Thomas, Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse, München 2001, S. 7. Valentin, Jean-Marie (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, ‚Germanistik im Konflikt der Kulturen‘, Bern u. a. 2007; Gutjahr, Ortrud, „Alterität und Interkulturalität. Neuere deutsche Literatur“, in: Claudia Benthien / Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002, S. 345–69; Schmeling, Manfred / Schmitz-Emans, Monika / Walstra, Kerst (Hrsg.), Literatur im Zeitalter der Globalisierung, Würzburg 2000; Reichardt, Ulfried, Die Vermessung der Globalisierung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Heidelberg 2008.
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macher vor der Berliner Akademie der Wissenschaften gehaltene Rede Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens.43 Mit Rückgriff auf die politischen Metaphern des Verfremdens und des Einbürgerns bezeichnet Schleiermacher zwei mögliche Strategien der Übersetzung: Die grundsätzliche Differenz zwischen zwei Sprachen – oder in Schleiermachers Terminologie ihre „Irrationalität“ –, vor deren Hintergrund keine identische Übertragung möglich ist, kann entweder durch das „Einbürgern“ eines fremden Sinnzusammenhanges gelöst werden oder aber durch Verfremdung. Während Einbürgern um eine in der Zielsprache bekannte und geläufige Terminologie bemüht ist, sucht die Verfremdung das Andere als Anderes zu bewahren und wählt dazu mitunter sperrigere, weniger geläufigere Wege. Ähnlich wie Schleiermacher, der für eine Übersetzung plädiert, in der das Eigentümliche des Ursprungstextes noch zu spüren ist, fordert Walter Benjamin in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers von 1923, dass das Fremde noch „durchscheinend“ bleiben muss.44 Unter anderem Vokabular haben sich diese von Schleiermacher formulierten zwei Wege als rezeptions- und produktionsorientierte Übersetzungsstrategien bis heute in der Übersetzungswissenschaft gehalten. Die Frage, wie man sich zwischen diesen beiden Strategien entscheidet, ob man der kulturellen Funktion den Vorzug gibt und für eine „annektierende Übersetzung“ (P. Forget) des fremden „Inhalts“ in die eigene Sprache plädiert oder in der „aneignenden Übersetzung“ das Befremdende bewusst erhalten soll, wird bis heute kontrovers diskutiert.45 Unmittelbar steht in der Übersetzung die mediale Alterität im Vordergrund, die jedoch mittelbar immer im Wechselverhältnis zu einer kultu43
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Schleiermacher, Friedrich, „Über die verschiedenen Methoden des Uebersezens“ (1813), in: Friedrich Schleiermacher, Sämtliche Werke, dritte Abteilung: Zur Philosophie, Bd. 2, Berlin 1938, S. 207–245. Benjamin, Walter, „Die Aufgabe des Übersetzens“ (1923), in: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hrsg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, S. 9–21 (bes. S. 18, 20). So sehen beispielsweise Koller, Werner, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, 1978, aber auch Reiß und Vermeer (vgl. Beiträge in Wierlacher, Alois (Hrsg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987) den Sinn der Übersetzung in der kommunikativen Funktion, Forget, Philippe, „Aneignung und Annexion. Übersetzen als Modellfall textbezogener Interkulturalität“, in: Alois Wierlacher (Hrsg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987, S. 511–527; Tippner, Anja, Alterität, Übersetzung und Kultur. Cechovs Prosa zwischen Rußland und Deutschland, Frankfurt a. M. u. a. 1997, vertreten eine relationistische Haltung.
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rellen Alterität steht. Eine konkrete Auseinandersetzung damit, wie Übersetzungen der Konstruktion von kulturellen Selbst- und Fremdbildern folgen, liefert Anja Tippner am Beispiel der Übersetzung von Cechovs Prosa ins Deutsche.46 Dabei erweisen sich die Übersetzungen von Cechov ins Deutsche stark abhängig von der Konstruktion einer russischen Identität von deutscher Seite und der literaturwissenschaftlichen Grundannahme, in Cechov einen dominanten Repräsentanten dieser Identität zu sehen. 2.4 Poetische Alterität Nicht die Differenz zwischen verschiedenen Sprachen, sondern die Differenz zwischen dichterischem und diskursivem Sprechen wird mit dem Terminus der ‚poetischen Alterität‘ bezeichnet, den Norbert Mecklenburg in verschiedenen Aufsätzen einführt und mit dem er nach der grundsätzlichen Andersheit poetischer Sprache und Dichtung gegenüber dem diskursiven Sprechen fragt.47 Nach Mecklenburg lassen sich als eine Art Konsens unter allen literaturtheoretischen Äußerungen über Dichtung, quer durch die Schulen und Kulturen hinweg, Aussagen zu ihrer grundsätzlichen Uneinnehmbarkeit durch Theorie feststellen: Dichtungen sind von diskursiver Rede nicht restlos einholbare Sinneinheiten, und dies zeige sich vor allem indirekt in der Auslegung poetischer Texte, die sich der literaturwissenschaftlichen Bestimmung immer wieder entzieht. Poetische Alterität muss dabei für Mecklenburg nicht zwangsläufig die Steigerung einer bestehenden kulturellen Alterität darstellen, sie kann auch ein interkulturelles Potential bergen, sodass sehr hermetische Dichtung, die der diskursiv bestimmten Sprache unauflösbar alteritär gegenüber steht, dennoch über die verschiedenen Sprachen und Kulturen hinweg als Dichtung verstanden wird.48 Mecklenburg beschäftigt sich zum Beispiel mit den Romanen Fontanes und verweist auf die Naturly-
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Tippner, Anja, Alterität, Übersetzung und Kultur. Mecklenburg, Norbert, „Das Mädchen aus der Fremde“, in: ZfdPh, 108/1989, S. 263–279; Mecklenburg, Norbert, „Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik“, in: A. Wierlacher (Hrsg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987, S. 563–584. Vgl. Mecklenburg, „Das Mädchen aus der Fremde“, hier S. 268.
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rik, die trotz westlich-östlich unterschiedlicher Ausprägung erstaunliche Gemeinsamkeiten aufzeige, welche er als „transkulturelle poetische Universalien“ bezeichnet.49 Als Beispiel für die in der Literatur selbst thematisierte poetische Alterität kann die so genannte ‚Dingästhetik‘ der literarischen Moderne herangezogen werden. Im Zeichen der Erkenntnis- und Sprachkrise wenden sich Autoren wie Hofmannsthal, Rilke oder Benjamin nicht nur verstärkt neuen Ausdrucksformen zu, suchen in Geste, Ton und Bild eine adäquatere, „unschuldige“ Sprache, sondern orientieren sich an dem ganz Anderen des Menschen, den Dingen.50 Die Alterität dieser „stummen Sprache der Dinge“, die für das epistemisch noch nicht Erfasste und nicht Fassbare steht, wird dabei zum Platzhalter einer aufgegebenen poetischen Sprache, die sich eben nicht am gewöhnlichen Sprachspiel, sondern an einer absoluten Sprachalterität orientieren soll. Sich mit der nicht belebten Umwelt in ein Alteritätsverhältnis zu setzen, thematisiert immer auch die Einheit des Belebten und Unbelebten und stellt auf diese Weise, ob affirmativ oder skeptisch, immer auch die Frage nach Transzendenz und Offenbarung. In diesem Sinne untersucht beispielsweise Gabris Kortian Musils Aussagen über Kunst in seinem Essay Ansätze zur neuen Ästhetik (1925).51 Ein Anzeichen, dass sich der Terminus der ‚poetischen Alterität‘ durchgesetzt hat, ist die Selbstbezeichnung im DFG-Forschungsprojekt Literatur der Alterität – Alterität der Literatur. Das Fremde und das Eigene in den skandinavischen Literaturen seit 1800, welches danach fragt, was künstlerische Alterität zur Vermittlung kultureller Alterität beitragen kann.
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Ebd., S. 270. Dieses ganz Andere der Dinge formuliert Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit der Dingpoetik des Dichters Francis Ponge in seinem Werk Signéponge: „Das Ding ist nicht etwas, das sich Gesetzen fügt, von denen ich in objektiver (adäquater) oder im Gegenteil subjektiver (anthropomorpher) Weise zu sprechen hätte. Allem voran ist das Ding das Andere, das ganz Andere, welches das Gesetz diktiert oder schreibt, ein Gesetz, das nicht einfach Naturgesetz ist (lex naturae rerum), sondern ein unendlich, unerschöpflich gebieterischer Befehl, dem ich mich zu unterwerfen habe (…).“ Vgl. Derrida, Jacques, Signéponge, New York 1984, S. 17. Kortian, Gabris, „Das Kunstwerk und die Erfahrung der Differenz. Wider einen aktuellen Hang, das Andere der Kunst mit Mystik zu verwechseln“, in: Merkur, 54/2000, 12, S. 1163–1171. Zur Alterität der Dinge vgl. Frank, Michael C. / Gockel, Bettina u. a., Fremde Dinge. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2007.
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2.5 Alterität als Erzählstrategie Mit dem Begriff des ‚alteristischen Schreibens‘, wie ihn Gerhard Probst in den 1970er-Jahren in einer Reihe von Aufsätzen einzuführen versucht,52 wird Alterität nicht nur als Reflexions-, sondern auch als Produktionsstrategie untersucht. Probst stellt das alteristische Erzählen dem so genannten „auratischen“ bzw. dem „autonomen“ Erzählen gegenüber, in dem die Autonomie des Kunstwerkes und die nach Probst „klassisch-romantische […]“ Einheit von Autor und Werk, seine Einmaligkeit, Geschlossenheit und Endgültigkeit nicht in Frage gestellt wird. Alteristisches Schreiben ist für Probst eine Schreibstrategie, bei der der Schriftsteller dem Leser bei der Sinnkonstitution bewusst einen großen Teil zuweist und somit zum einen deutlich macht, inwiefern Interpretation als Alternieren zwischen Text und Interpret entsteht, zum anderen die Einheit der Erzählung und die Möglichkeit eines in sich geschlossenen Werkes in Frage stellt und mithin die grundsätzliche Alterität, das Immer-anders-Sein der Erzählung, unterstreicht. Allerdings ist eine solche Erzählstrategie, wie sie Probst für die zeitgenössische deutsche Erzählliteratur ‚entdeckt‘ und beispielsweise in Frischs Werken Andorra, Stiller oder Mein Name sei Gantenbein, in Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., Siegfried Lenz’ Das Vorbild oder aber Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob in verschiedenen Aufsätzen untersucht, nicht lediglich ein Merkmal der deutschen Gegenwartsliteratur.53 Dass sich der Begriff des ‚alteristischen Schreibens‘ nicht durchgesetzt hat, obgleich er mit der Übertragung der Alteritätsproblematik auf die Produktionsstra52
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Vgl. Probst, Gerhard, „Thematization of Alterity in Christa Wolf ’s Quest for Christa T.“ in: The University of Dayton Review 13/1978, 2, S. 25.–35; ders., „Unbestimmtheitsstellen wertender Art in Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob“, in: Colloquia Germanica 11/1978, S. 68–74; ders., „‚Du sollst dir kein Bildnis machen‘. Überlegungen zu Max Frischs Roman Mein Name ist Gantenbein“, in: Colloquia Germanica 11/1978, S. 317–329; ders., „Auch eine Thematisierung der Alterität. Bemerkungen zu Siegfried Lenz’ Roman Das Vorbild “, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, 27/1977, 4, S. 457–461; ders., „Alteristisches Erzählen. Beziehungen zwischen Struktur und Thematik der Nachkriegslitertur“, in: Wolfgang Elfe / James Hardin / Günther Holst (Hrsg.), Deutsche Exilliteratur. Literatur der Nachkriegszeit, Akten des III. Exilliteratur-Symposiums der University of South Carolina, Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte, Bd. 10, Bern u. a. 1981, S. 88–95. Z.B. Probst, Gerhard, „Auch eine Thematisierung der Alterität. Bemerkungen zu Siegfried Lenz’ Roman ‚Das Vorbild‘“, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, 27/1977, 4, S. 457–461, hier S. 458.
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tegien des Schriftstellers sozusagen ein neues Feld absteckt, mag an dieser Einschränkung liegen, die ältere literarische Strategien wie die der romantischen Ironie oder die der ‚autofiction‘ nicht berücksichtigt. 2.6 Alterität der Geschlechter Dafür, dass der Mensch zur Konstruktion seiner Identität auf das andere Geschlecht als das Alter ego, als das gleiche und doch andere Menschsein, zurückgreift und sich in dieser Konstitution ein Machtdiskurs manifestiert, mangelt es in der Kultur-, Gesellschafts- und Wissensgeschichte nicht an Beispielen. Die Entwicklung der Reflexion auf diese Selbst- und Fremdkonstruktionen der Geschlechter ist eng verbunden mit der Geschichte der Frauenemanzipation ab dem Ende des 19. Jahrhunderts bzw. der Lesben- und Schwulenbewegung ab den 1970er-Jahren sowie der Queerbewegung ab den 1980er-Jahren. Obgleich Motor und Anlass wissenschaftlicher Reflexion über die Alterität der Geschlechter, treten emanzipatorische Forderungen immer wieder auch in Konflikt mit ihnen. Dieser Konflikt entsteht unter anderem, wenn eine politische Forderung mit der Annahme der Gleichheit operiert oder im Kampf für das Marginalisierte eine Festschreibung vorgenommen wird. Eine Geschichte der Reflexion über die Alterität der Geschlechter beginnt nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts, obwohl sich diese Geschichte vom 20. und 21. Jahrhundert her mit anderen Vorzeichen liest. So entwerfen die Frühromantiker Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher (nicht unabhängig von der für kurze Zeit im Zirkel der Frühromantiker gelebten Frauenemanzipation) eine Theorie dialektischer Wechselwirkung der Geschlechter. In Romanen wie Friedrich Schlegels Lucinde (1799) findet die Polemik gegen die karikaturhafte Überzeichnung und Festschreibung männlicher wie weiblicher Geschlechtscharaktere einen Ausdruck. Friedrich Schleiermacher ‚antwortet‘ auf diesen Roman mit Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800). In ihnen wird der Begriff der „Schamhaftigkeit“ entwickelt, der als Ausdruck des Respekts vor der unhintergehbaren Alterität des Anderen auch auf eine ethische Dimension hindeutet. Eine wichtige Etappe in der Auseinandersetzung mit der Alterität der Geschlechter ist der Wechsel der Blickrichtung, der das Weibliche von seiner Negativbeschreibung auf eine offene, noch zu findende Andersheit hin entwirft. Gründungstext der philosophischen Geschlechterfor-
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schung ist das von Simone de Beauvoir 1949 veröffentlichte Buch Le deuxième sexe (dt.: Das andere Geschlecht, Hamburg 1952). Mit dem Hinweis auf das „Gewordensein“ der Geschlechter und der Analyse des Objektstatus der Frau im „Mythos Frau“ als des „absolut Anderen“ zeigt Beauvoir, wie die Geschlechterhierarchie über Jahrhunderte hinweg zementiert wurde. Als Vertreterin einer existentialistischen Ethik mit Rückgriff auf den Hegel’schen Begriff der ‚Anerkennung‘ geht es Beauvoir jedoch nicht darum, Alterität als Dialektik von Selbst und Anderem zu leugnen. Diese bleibt Voraussetzung als Bedingung menschlicher Subjektivität und ist nur in konkreter Erfahrung möglich. Mit der Bestimmung des Körpers als „Situation“, in dem sich Entwürfe von Welt zeigen, formuliert Beauvoir bereits die soziale Konstruktion des Körpers,54 die erst mit der Historikerin Barbara Duden55 und der Philosophin Judith Butler56 in den 1990er-Jahren eine verstärkte Diskussion erfuhr. Für die Literatur und Literaturwissenschaft ist die Frage nach der ‚écriture féminine‘, dem weiblichen Schreiben, von großer Bedeutung, die von Hélène Cixous und Luce Irigaray ins Spiel gebracht und vertreten wurde.57 Im Mittelpunkt steht die Frage, wie in einer von ‚männlichen‘ Machtund Wertestrukturen durchwirkten Sprache ein anderes, ‚weibliches‘ Schreiben möglich werden kann; dies berührt auch die Frage der poetischen Alterität.58 In der heute gängigen Unterscheidung in einen so genannten ‚Substanzfeminismus‘ und einen ‚Differenzfeminismus‘ ließen sich Cixous, Irigaray und Kristeva als Vertreterinnen einer essentialistischen Position zuordnen.
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Vgl. Konnert, Ursula / Beauvoir, Simone de, „Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau“, in: Martina Löw / Bettina Mathes (Hrsg.), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung, Wiesbaden 2005, S. 26–58. Duden, Barbara, Geschichte unter der Haut, Stuttgart 1987; dies., Der Frauenleib als öffentlicher Ort, Hamburg 1991. Butler, Judith, Bodies that Matter: On the Discursive Limits of ‚Sex‘, London, New York 1993 (dt.: Körper von Gewicht, Frankfurt a. M. 1997). Irigaray, Luce, Speculum. De l’autre femme, Paris 1974 (dt.: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts); dies., Ce sexe qui n’en est pas un, Paris 1977 (dt.: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979). Vgl. Weigel, Sigrid, Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen, Hamburg 1989; Masanek, Nicole, Männliches und weibliches Schreiben? Zur Konstruktion und Subversion in der Literatur, Würzburg 2005.
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Einen Grundlagentext für einen relationistischen Feminismus lieferte Judith Butler mit ihrem Buch Gender Trouble (1990; dt.: Das Unbehagen der Geschlechter, 1991). Wie Cixous, Irigaray und Kristeva geht Butler auch auf psychoanalytische Ansätze von Freud und Lacan zurück, wendet sich jedoch ausdrücklich gegen eine Binäropposition der Geschlechter. Mit Rückgriff auf Foucaults Diskursanalyse wird die gängige Unterscheidung in biologisches Geschlecht (sex) und gesellschaftliches Geschlecht (gender) unterlaufen, indem die vermeintliche Natürlichkeit des Körpers als soziales Konstrukt dekonstruiert wird. Butler plädiert dabei für einen subversiv-performativen Umgang mit Geschlechterhierarchie und „Zwangsheterosexualität“ in Form von Parodie oder Imitation. Aus Alterität der Geschlechter ist somit ihr Plural, Alteritäten der Geschlechter, geworden. Zu den wichtigen Impulsen, die aus der Diskussion um Alterität(en) der Geschlechter gegenwärtig für die Alteritätsforschung kommen, gehört der Begriff der ‚Intersektionalität‘, der auf die komplexen Wechselwirkungen kultureller, medialer und genderspezifischer Alterität(en) aufmerksam macht.59 Für den deutschsprachigen Raum und die deutschsprachige Literatur, die kulturelle Alterität und genderspezifische Alterität in ihrer Interdependenz untersuchen, stehen beispielsweise Arbeiten von Uerlings und Allerkamp.60
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Knapp, Gudrun-Axeli, „Intersectionality“ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur Transatlantischen Reise von ‚Race, Class, Gender‘, in: Feministische Studien, 23/2005, S. 68–81; Crenshaw, Kimberlé, „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine“, in: The University of Chicago Legal Forum, 1989, S. 139–167; McCall, Leslie, „The Complexity of Intersectionality“, in: Signs. Journal of Woman in Culture and Society, 30/2005, S. 1771–1800. Vgl. Allerkamp, Andrea, Die innere Kolonisierung. Bilder und Darstellungen des/der Anderen in deutschsprachigen, französischen und afrikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts, Weimar, Wien 1991; Uerlings, Herbert / Hölz, Karl / Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hrsg.), Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001; Uerlings, Herbert, ‚Ich bin von niedriger Rasse‘. Postkolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur, Bonn 2006.
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3. Institutionsgeschichtliches Der Begriff der ‚Alterität‘, obgleich im Englischen und Französischen seit dem 17. Jahrhundert im Sinne von Andersheit zuvor verwendet, findet erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine theoretische Schärfung. Seit den 1980er-Jahren erfährt der Begriff der ‚Alterität‘ nicht zuletzt im Kontext der Popularität postmoderner und poststrukturalistischer Theorien eine Hochkonjunktur und wird in den unterschiedlichsten Disziplinen und Themenstellungen zu einem weit verbreiteten Problemansatz. Ab den 1990er-Jahren ist eine geradezu explosionsartige Verbreitung zu beobachten, die die Vielfalt der theoretischen und methodischen Ansätze deutlich macht, zugleich aber auch eine Sinn- und Bedeutungsinflation zum Ausdruck bringt, die mit der Publikationsfülle, insbesondere als Titel auf Tagungsbänden, einher geht. Auch die internationalen Germanistenkongresse, die sich seit den 1990er-Jahren verstärkt der Interkulturalität und Fremdheitsforschung widmen und in einzelnen Sektionen explizit unter dem Thema der Alterität antreten (so z. B. in Tokyo 1990 mit einer Sektion Theorie der Alterität, in Wien 2000 mit einer Sektion Interkulturalität und Alterität und 2005 in Paris mit einer Sektion Alteritätsdiskurse in Sprache, Literatur und Kultur der skandinavischen Länder), tragen mit einer Sammlung heterogener Beiträge eher zu einer weiten Verwendung als zu einer theoretischen Schärfung des Begriffs der ‚Alterität‘ bei.61 Die Gründe für die weit verzweigte, über die Disziplinen und Sprachen hinausreichende prominente Anwendung des Begriffs der ‚Alterität‘ liegen aus gesellschaftlicher Perspektive in der Brisanz einer Dynamik von Globalisierung und kultureller Ausdifferenzierung. In einer Zeit, in der sich politische und ökonomische Grenzen verschieben und Kulturen mischen, lösen sich alte, an großen Einheiten orientierte Identifikationsmodelle auf. Damit ist die Identitätsproblematik oder die Bestimmung des Eigenen in Abgrenzung zum Anderen oder Fremden 61
Vgl. Shichiji, Yoshinori (Hrsg.), Theorie der Alterität. Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, Bd. 2, Sektion 1, München 1991; Wiesinger, Peter u. a. (Hrsg.), Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X, internationalen Germanistenkongresses, Wien 2000, Bd. 9: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft: Interkulturalität und Alterität; Interdisziplinarität und Medialität; Konzeptualisierung und Mythographie, Bern u. a. 2003; Valentin, Jean-Marie (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 ‚Germanistik im Konflikt der Kulturen‘, Bd. 2, Bern u. a. 2007.
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nicht etwa ad acta gelegt, sondern gewinnt unter dem Vorzeichen hybrider Mischkulturen eine neue Brisanz. Gründe für die Durchsetzung des Begriffs ‚Alterität‘ sind aber nicht nur auf gesellschaftspolitischer, sondern auch auf wissenschaftsinterner Ebene, d. h. im Glauben an insbesondere drei wissenschaftliche Leistungen zu suchen, die dieser Begriff zu versprechen scheint: 1. etwas ‚Neues‘ zu liefern bzw. einen Bruch mit der Tradition vorzunehmen, 2. internationale Anschlussfähigkeit und 3. interdisziplinäre Anwendbarkeit. Dies scheint gerade für die seit den 1980er-Jahren einsetzende Neuorientierung der Geisteswissenschaften, weg von historisch gewachsener Disziplinierung und nationalem Alleingang, hin zu einer interdisziplinäreninternationalen Kulturwissenschaft, besonders relevant. Die Erwartung, dass mit dem Konzept der Alterität ein neuer Ansatz verbunden sei, wird vor allem von postmoderner Seite aus genährt, die der abendländischen Kultur und insbesondere der Identitätsphilosophie in ihrer Kritik am ‚Logozentrismus‘ vorwerfen, Andersheit und Differenz nicht ausreichend bedacht zu haben. Andersheit und Fremdheit sind jedoch Grunderfahrungen der menschlichen Existenz, und die Reflexion auf Identität, Differenz und Andersheit gehört zu einem, wenn nicht zu dem zentralen Thema der westlichen Philosophie- und Ideengeschichte. Dabei wird Andersheit in der Antike und im Mittelalter als das Andere vorrangig aus ontologischer Perspektive, d. h. in Bezug auf die Bestimmung des Seins in Gegenüberstellung von Einheit und Andersheit reflektiert.62 In der Philosophie des Nikolaus von Kues taucht sogar das lateinische ‚alteritas‘ im Begriffspaar „unitas/alteritas“63 auf und erhält dort eine theologische Auslegung. Einheit und Verschiedenheit sind in allem Seienden immer miteinander verbunden, insofern jedes bestimmte Sein immer auch Negation des Seins als eines Anderen einschließt. Die Reflexion auf den Anderen als den menschlich Anderen, also Andersheit als intersubjektive Bestimmung, findet seit Hegel und in Hegels Philosophie in der Herr-Knecht-Problematik unter dem Begriff der ‚An-
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Vgl. Wyller, Egil A., Einheit und Andersheit. Eine historische und systematische Studie zur Henologie ( I–III ), Würzburg 2003 (norweg. Oslo 1981). Vgl. Kues, Nikolaus von, Vom Nichtanderen. De li non aliud, übersetzt und mit Einführungen und Anmerkungen, hrsg. von Paul Wilpert, Hamburg 1976 (2. Aufl.), S. 11; vgl. auch ebd., S. 5; Pätzold, Detlev, Einheit und Andersheit: die Bedeutung kategorialer Neubildungen in der Philosophie des Nicolaus Cusanus, Köln 1981.
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erkennung‘ eine zentrale Grundlegung.64 Der Begriff der ‚Andersheit‘ in seiner personell-anthropologischen Bedeutung wird im 19. und 20. Jahrhundert insbesondere in der Phänomenologie (Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Karl Jaspers), der Existenzphilosophie (Jean Paul Sartre)65 und bei dialogischen Denkern wie Martin Buber oder Franz Rosenzweig weitergeführt. Dass gerade im 20. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit dem Anderen ein besonderes Gewicht erhält und eine zentrale Herausforderung ist, die das moderne Denken in den Griff zu bekommen versucht, führt Michael Theunissen in seinem Buch Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart aus.66 Der Vorwurf postmoderner Philosophie, nachdrücklich formuliert von Jacques Derrida und Emmanuel Lévinas, zielt jedoch weniger auf das Nichtvorhandensein der Thematik des Anderen und Differenten in der Tradition, sondern auf seine Verstellung und Verdeckung in der Art und Weise, wie es thematisiert wurde. Gemeinsam sei dieser philosophischen Tradition aus der Perspektive postmoderner Philosophie, dass sie das Fremde, Andere und Differente aus der Perspektive des Eigenen, NichtAnderen und Identischen zu bestimmen versucht. Von diesem Primat des Eigenen aus, für das Identität Ausgangs- und Zielpunkt ist, erscheint der Andere immer als etwas, das irritiert oder stört und in dieser Störungsfunktion bekämpft, überwunden oder eben ‚anerkannt‘ werden muss. Auch wenn der Begriff der ‚Alterität‘ immer wieder mit postmodernen Theorieansätzen und der Philosophie der Differenz identifiziert wird, so zeichnet sich die Gesamtheit der Publikationen zur Alterität – dort wo eine theoretische Verortung vorgenommen wird – bis heute gerade durch eine Vielfalt der methodisch-theoretischen Ansätze aus. Wollte man diese 64
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Auf die Aktualität der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik für die Diskussion um kulturelle Alterität verweist beispielsweise Reichardt, Ulfried, Alterität und Geschichte. Funktionen der Sklavereidarstellung im amerikanischen Roman, Heidelberg 2001, S. 70 ff. Zur Aktualität der Sartre’schen Theorie des Anderen in einer multikulturellen Gesellschaft vgl. Gomez-Muller, Alfredo (Hrsg.), Sartre et la culture de l’autre, Paris 2006. Theunissen, Michael, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin, New York 1977. In eine ähnliche Richtung weist Vincent Descombes Geschichte der jüngeren französischen Philosophie, die er um das Begriffspaar des „Selben“ und des „Anderen“ strukturiert (Descombes, Vincent, Le Même et l’autre. Quarantecinq ans de philosophie française (1933–1978), Paris 1979, (dt.: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933–1978, Frankfurt a. M. 1981). Auch Bernhard Waldenfels kennzeichnet modernes Denken mit dem Begriffspaar fremd/eigen (Waldenfels, Bernhard, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990).
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Vielfalt in Gegnerschaften teilen, so könnte man innerhalb der Alteritätsdebatte einen Theoriestreit ausmachen, in dem ein eher universalistisch orientiertes Lager einem Lager der Differenzdenker gegenübersteht. Während das Differenzdenken gegenüber dem abendländischen Identitätsdenken die Unverfügbarkeit des Andren unterstreicht und das radikal Andere aus seiner Abseitsposition, seinem Ausgeschlossen-Sein des auf Identität abzielenden Denkens immer wieder ‚dekonstruierend‘ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wenden sich ihre Gegner gegen einen „Alteritäts-Absolutismus“,67 der „unaufhebbare Fremdheit“ hypostasiert und jedem Denken von Differenz selbst das Wasser abgrabe. Für die Etablierung von Debatten und Positionen ist nicht zuletzt auch ihre institutionalisierte Förderung verantwortlich. Für die germanistische Literatur- und Sprachwissenschaft ist hier vor allem auf die Institutionalisierung der ‚Interkulturellen Germanistik‘ seit den 1980erJahren hinzuweisen, die sich als eigener kulturwissenschaftlicher Forschungszweig der Fremdheitsforschung zu entwickeln sucht und die weitgehend dem universalistischen Lager zuzurechnen ist.68 Etappen dieser institutionellen Etablierung sind die 1984 erfolgte Gründung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GIG) auf der Konferenz ‚Deutsch als Fremdsprache‘ in Karlsruhe sowie in den 1980er- und -90er-Jahren die Einrichtung von Lehrstühlen und Studiengängen zu ‚Interkultureller Germanistik‘ an mehreren deutschen Universitäten.69 Die aus dem Kontext der GIG hervorgehenden Publikationen lösen sich jedoch personell wie inhaltlich nur langsam von ihrer Herkunft, dem Fach Deutsch als Fremdsprache, und der in ihr praktizierten didaktisch reflektierten Fremdsprachenlehre. Theoretisch sind die meisten Forschungsbeiträge einer hermeneutisch-rezeptionsästhetischen Tradition verpflichtet, neben der Anerkennung der „hermeneutischen Vielfalt globaler Germanistik“ besteht die Annahme „transkultureller Universalien“.70 Der Begriff der ‚Fremdheit‘ scheint prominenter als der der Al67
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Vgl. Mecklenburg, Norbert, „Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik“, in: Alois Wierlacher (Hrsg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987, S. 563–584, hier S. 568. Wierlacher, Alois (Hrsg.), Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, München 1993. So z. B. in Bayreuth, München, Karlsruhe und Düsseldorf; vgl. Wierlacher, Alois (Hrsg.), Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 15, München 1989. Wierlacher, Alois (Hrsg.), „Einleitung“, in: ders., Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987, S. 15.
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terität,71 theoretische Ansätze der Postmoderne und der im Kontext der Postkolonialismus- oder Genderdebatte entstandenen Publikationen finden weniger Beachtung. Als eine für den Begriff der ‚Alterität‘ zentrale Forschungsinstitution in Deutschland ist der von Monika Fludernik an der Universität Freiburg 1997 bis 2003 geleitete SFB Identitäten und Alteritäten zu nennen. Bereits aus der Wahl des Titels geht hervor, dass Konstruktion von Alterität nicht ohne Konstruktion von Identität gedacht werden kann. Zugleich unterstreicht die Wahl des Plurals, dass es nicht um die Reetablierung eines klassischen Identitätsdenkens geht.
4. Publikationen Bhaba, Homi K., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 (The Location of Culture, London 1994). Der an der Harvard Universität lehrende indische Philosoph eröffnet in diesem 1994 erschienenen Werk eine neue Periode der postkolonialen Studien. Gestützt auf Lacan und Foucault kreist sein Denken um hybride Räume, in denen die traditionellen binären Beziehungsmuster zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ zugunsten eines „dritten Raumes“ aufgegeben werden, um neue Beziehungen zwischen sich immer erneuernden Identitäten zu ermöglichen. Das postmoderne Selbstverständnis wird als Leben an der „Grenze“ bezeichnet, es ist utopisch besetzt als das „darüber Hinausgehende (beyond)“, welches durch den Fremden, Heimatlosen repräsentiert wird. „Kultur“ erscheint solchermaßen als ein Ort eines flexiblen, für alle Seiten potentiell schmerzhaften Aushandelns von Werten und Verhaltensweisen zwischen Gruppen, deren Grenzen nie scharf zu ziehen sind: „Kulturen sind niemals in sich einheitlich, und sie sind auch nie einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen. […] Daß ein kultureller Text oder ein kulturelles Bedeutungssystem sich nicht selbst genügen kann, liegt daran, daß der Akt des kulturellen Ausdrucks – der Ort der Äußerung – von der différance des Schreibens überkreuzt wird. […] Es geht hier also nicht um den Inhalt des Symbols oder seine soziale Funktion, sondern um die Struktur der Symbolisierung“ (S. 54). 71
Bezeichnend dafür ist, dass sich im 2003 erschienenen Handbuch zur Interkulturalität (Wierlacher, Alois / Bogner, Andrea (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Germanistik, Stuttgart 2003) kein eigener Eintrag zum Begriff der ‚Alterität‘ befindet.
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Der bewusst schwierige Duktus seines Stiles hat viel Kritik hervorgerufen (und zur Verzögerung der deutschen Übersetzung beigetragen); diesem Vorwurf begegnet Bhaba mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Sprache, die sich einer falschen Transparenz verwehrt. Jauß, Hans Robert, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München 1977. Mit der zwischen 1956 und 1976 geschriebenen Aufsatzsammlung begründet der Romanist und Mediävist Hans Robert Jauß ein neues, wachsendes Interesse an mittelalterlicher Literatur, deren Modernität für den heutigen Leser er gerade in ihrer befremdenden Andersheit sieht und u. a. in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Tierepik exemplifiziert. Eine methodische Entfaltung des Alteritätsbegriffs findet sich vor allem in der für die Sammlung geschriebenen programmatischen Einleitung sowie in dem 1975 erstmals erschienenen abschließenden Aufsatz Ästhetische Erfahrung als Zugang zu mittelalterlicher Literatur. Insbesondere gegen eine „positivistische Traditionsforschung“ (S. 10), die einem im 19. Jahrhundert entwickelten Geschichtsmodell und der ihr inhärenten „Illusion geschichtlicher Kontinuität“ (S. 15) anhänge, möchte Jauß, im Anschluss an Arbeiten u. a. von Paul Zumthor, Eugène Vinaver oder Robert Guiette, Kontinuitätsbrüche in den Vordergrund stellen. Der Mitbegründer der Rezeptionstheorie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rolle des Lesers und geht davon aus, dass sich jeder Text erst im Leseprozess selbst vor dem Hintergrund des zeitbedingten historischästhetischen Erwartungshorizontes des Lesers konkretisiert.72 Orientiert an Gadamers Horizontverschmelzung formuliert Jauß einen dreischrittigen Rezeptionsprozess, in dem einer präreflexiven ersten Rezeption des Textes, in der uns die Andersheit des Textes deutlich wird, der Versuch folgt, den Erwartungshorizont des ursprünglichen Lesers zu rekonstruieren. Die Einsicht in die Modernität des Mittelalters lässt sich für Jauß nur im „reflektierten Durchgang durch ihre Alterität […] gewinnen“ (S. 25), indem wir die Bedeutung des befremdend anderen Textes für uns aktualisieren. Diese Modernität ist eine überraschende, uns selbst neu definierende Modernität, denn sie sagt ebenso viel über den mittelalterlichen Text aus wie über uns selbst.
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Jauß, Hans Robert, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967; Warning, Rainer, Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975.
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Themen, an denen sich die Alterität des Mittelalters in Bezug auf den gegenwärtigen Leser manifestiert, sind für Jauß u. a. ihre Mündlichkeit oder ihr Werkverständnis. Als „die Beziehung auf ein anderes, verstehendes Bewußtsein“ (S. 329) ist ‚Alterität‘ jedoch ein relationaler Begriff, der in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte ein sich wandelndes komplexes Differenzverhältnis zwischen einem historischen, zu rekonstruierenden und einem je aktuellen Erwartungshorizont darstellt. Kritik fand Jauß ähnlich wie Gadamer u. a. für die Darstellung der Leser-Text-Beziehung als Gespräch, insofern eine dialogische Situation nur im übertragenen Sinne gegeben ist. Das Modell der Horizontverschmelzung wird von strukturalistischer Seite aus, wie beispielsweise von Peter Haidu, als vereinnahmende Aneignung des Alteritären gedeutet. Said, Edward W., Orientalismus, Frankfurt a. M. 1979 (Orientalism, New York 1978). Der an der New Yorker Columbia Universität lehrende Literaturforscher palästinensischen Ursprungs Edward W. Said (1935–2003) zieht in diesem in 26 Sprachen übersetzten Klassiker der Kulturgeschichte der Gegenwart eine verheerende Bilanz der abendländischen Orientforschung, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit erreichte: Unter dem Vorwand des rationellen Verstehens habe sie zu einem quasi strukturellen kulturellen Missverständnis beigetragen, das den Imperialismus legitimiert habe. Nach dem Schema „Sie-Wir“ habe sie einen Monolog gehalten, der die orientalische Bevölkerung vereinnahmt habe und der, einmal konstituiert, durch keine Erfahrung mehr korrigiert werden konnte. Gestützt auf die Diskursanalyse von Michel Foucault, versucht Said anhand einer breiten Auswahl von Autoren v. a. aus England und Frankreich zu zeigen, dass der „Andere“ als „Bild“, nicht als Abbild einer Wirklichkeit konstruiert wurde. So kommt Said zum Schluss, dass im 19. Jahrhundert „jeder Europäer, in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist und ein fast vollkommener Ethnozentriker war“ (S. 204). Dieses Bild habe sich bis in die heutigen Tage erhalten; Saids heftige Kritik an der amerikanischen Außenpolitik, vor allem dem Irak-Krieg, stützt sich auf den Gedanken, dass auch heute noch „der Araber“ grundsätzlich nur als Feind wahrgenommen würde, die Diversität des arabischen Lebens und der Kultur nicht anerkannt werde. Die von Said kritisierten Orientalisten warfen ihm eine grobe Verkennung der Arbeitsprinzipien ihrer Disziplin sowie eine vorsätzliche Ausklammerung des Islam als politischen Faktors vor und kritisierten die
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verengte Auswahl seiner Quellen (deutsche und ungarische Orientalisten – deren Bedeutung Said zugibt – werden von ihm nicht berücksichtigt). In seinem Vorwort zur französischen Ausgabe hebt Tzvétan Todorov hervor, dass Said über Alternativen, die zu einem besseren Verständnis zwischen West und Ost führen können, sehr vage bleibt, sodass der Eindruck entstehen könne, als sei der Kulturenkonflikt ein Schicksal. Todorov, Tzvetan, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1998 (frz.: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre, Paris 1982). Im Unterschied zu Asien oder Afrika, mit denen Europa schon immer in Kontakt stand, stellte Amerika an der Epochenschwelle der Frühen Neuzeit ein „absolutes Anderes“ dar (Vorwort). Im umfangreichen zweiten Kapitel stellt Todorov die Unterwerfung der fremden Kultur als ein Musterbeispiel der Leistungsfähigkeit semiotischer Analyse dar: Während die Azteken durch die Überdeterminierung ihrer Kultur gelähmt bleiben, erscheint Hernàn Cortés als „Hermeneut“ (S. 23), der sich schnell in ein Kultursystem eindenken kann, um es zu instrumentalisieren. „Den Indianern wird nicht bewusst, dass Worte eine ebenso gefährliche Waffe sein können, wie Pfeile“ (S. 112). Schnell verlor der Andere den Status eines Mitmenschen und wurde innerhalb eines totalitären Assimilationssystems zur Ressource degradiert (S. 177–219). Für Todorov begünstigte die Fremdheitserfahrung, vor allem die Tatsache, dass Europa eine „allozentrische Kultur“ war (das religiöse Zentrum, Jerusalem, lag außerhalb des eigenen Einflussbereichs und die wichtigsten kulturellen Referenzen, Athen und Rom, gehörten der Vergangenheit an), die Fähigkeit, neue Referenzen in eine „offene“ Kultur zu integrieren (S. 133). Obwohl der Begriff der ‚kulturellen Alterität‘ nicht explizit benutzt wird, spielt der damit bezeichnete Themenkomplex eine zentrale Rolle. In seinem Epilog weist Todorov, französischer Staatsbürger aus Bulgarien, darauf hin, dass totalitäre Systeme unfähig seien, die Andersheit als solche zu akzeptieren, womit der Bezug zwischen dem frühneuzeitlichen Amerika und dem post-stalinistischen Europa hergestellt wird. Die begeisterte Rezeption des Werkes vollzog sich vor dem Hintergrund von Glasnost und der Freisetzung einer multiplen europäischen Geschichte. Von Seite der Amerikanisten ist das Werk nicht ohne Kritik geblieben. So weist Inga Clendinnen, Autorin eines Standardwerkes zu den Azteken, darauf hin, dass die Indianer nicht dem Bild einer rezeptiven, überdeterminierten Kultur entsprochen haben, welches sich erst nach
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der Conquista zur Legitimation der Eroberer kristallisiert habe.73 Bei allem Respekt für die schriftstellerische Brillanz attestiert auch der Konstanzer Universalhistoriker Jürgen Osterhammel Todorov eine Verzerrung des Handelsspielraums der indianischen Bevölkerung, die er auf sein „romantisches“ Kulturverständnis zurückführt.74
5. Fachgeschichtliche Einordnung In den letzten zwanzig Jahren ist ‚Alterität‘ zu einem wichtigen kulturwissenschaftlichen „Suchbegriff“75 geworden, der neue Fragestellungen generiert und Themenfelder miteinander vernetzt. Davon zeugen nicht nur zahlreiche interdisziplinär angelegte Forschungsprojekte, Tagungen und Publikationen unter diesem Titel. In diesem Sinne leistet der Begriff der ‚Alterität‘ einen wesentlichen Beitrag zur Neuformation der Literaturwissenschaften auf dem Weg zu einer literaturwissenschaftlich orientierten Kulturwissenschaft. Die drei Leistungen, die eine Theorie der Alterität versprach, den Bruch mit der Tradition, internationale Anschlussfähigkeit und interdisziplinäre Anwendbarkeit, sind dabei jeweils nur bedingt eingelöst. Zwar ist die Diskussion um Alterität ohne Frage international und interdisziplinär, aber die Breite und Fülle der über Fächer- und Ländergrenzen hinweg geführten Reflexion hat nicht zu der Herausbildung eines internationalen Theoriekanons der Alterität geführt. Gerade im deutschsprachigen Raum, in dem eine sozialtheoretisch, phänomenologisch und hermeneutisch ausgerichtete Fremdheitsforschung mit der Diskussion um Alterität verschmilzt, zeigt sich eine methodische und theoretische Vielfalt in der Alteritätsdebatte, die man, wie oben geschehen, als postpostmodernen Methodenstreit interpretieren kann. Trotz der großen Popularität des Begriffs gibt es unseres Wissens noch keine Darstellung, die in der großen Publikationsfülle die modisch infla73
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Clendinnen, Inga, „‚Fierce and Unnatural Cruelty‘. Cortez and the Conquest of Mexico“, in: Stephen Greenblatt (Hrsg.), New World Encounters, Berkeley 1993, S. 12–47. Osterhammel, Jürgen, „Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said“, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 240–265. Vgl. Balme, Christopher, Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen 2001, S. 8.
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tionäre Verwendungen des Begriffs von theoretisch reflektierten scheidet und die Vielfalt der Themen und methodischen Ansätzen einander gegenüberzustellen versucht.76 Eine solche begriffsgeschichtliche Aufarbeitung (beispielsweise entlang der vier Achsen), die auch seine Einbindung in die Tradition nicht scheut, steht noch aus.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Schleiermacher, Friedrich, „Über die verschiedenen Methoden des Übersezens (1813)“, in: Friedrich Schleiermacher, Sämtliche Werke, Dritte Abteilung: Zur Philosophie, Bd. 2, Berlin 1938, S. 207–245. Grundlage der Übersetzungstheorie, in der Schleiermacher von einer unhintergehbaren Alterität der Sprachen oder „Sprachkreise“ ausgeht, die er terminologisch als „Irrationalität“ der Sprachen gegeneinander fasst und die bei literarischen Werken ganz besonders deutlich zu Tage 76
Kurzdefinition und Darstellung zu einzelnen Aspekten der Alteritätsdiskussion finden sich in folgenden Lexika: Nünning, Ansgar (Hrsg.), Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart, Weimar 2005; ders. (Hrsg.), Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2008; Strohschneider, Peter „Alterität“, in: Klaus Weimar (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. A-G, Berlin, New York 1997, S. 58–59; Trebeß, Achim (Hrsg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart, Weimar 2006; Kuon, Barbara, „Alterität“, in: Ralf Schnell (Hrsg.), Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart, Stuttgart, Weimar 2000, S. 16–17; darüber hinaus findet sich eine Darstellung einzelner Ausschnitte der Diskussion bei Münkler, Marina, „Alterität und Interkulturalität. Ältere deutsche Literatur“, in: C. Benthien / H. R. Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbeck 2002, S. 323–344; Gutjahr, Ortrud, „Alterität und Interkulturalität. Neuere deutsche Literatur“, in: C. Benthien / H. R. Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbeck 2002, S. 344–369; Mecklenburg, Norbert, „Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik“, in: Alois Wierlacher (Hrsg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987, S. 563–584; Mecklenburg, Norbert, „Das Mädchen aus der Fremde“, in: ZfdPh, 108/1989, S. 263–279; Schlieben-Lange, Brigitte (Hrsg.), Themenheft zum Thema „Alterität“, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), 28/1998, 110; Tippner, Anja, Alterität, Übersetzung und Kultur. Cechovs Prosa zwischen Rußland und Deutschland, Frankfurt a. M. 1997; Paterson, Janet M., L’altérité, Toronto 1999; Eßbach, Wolfgang (Hrsg.), Wir – ihr – sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000; Reichardt, Ulfried, Alterität und Geschichte. Funktionen der Sklavereidarstellung im amerikanischen Roman, Heidelberg 2001, insbesondere S. 45–77.
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tritt. Für den Übersetzer als Mittler dieser „Irrationalität“ gibt es nach Schleiermacher zwei Übersetzungsstrategien, die als produktionsorientierte und rezeptionsorientierte Methoden bis heute in der Übersetzungswissenschaft in unterschiedlicher Terminologie ihre Gültigkeit haben. Schleiermacher plädiert dabei für die Methode, in der das Fremde als Fremdes erhalten bleibt. Buber, Martin, Ich und Du, Leipzig 1923. Philosophischer Grundlagentext zum Begriff des ‚Anderen‘ mit dialogischem Ansatz, der eine Ich-Es-Beziehung, die unser Verhältnis zur Welt bestimmt, von einer Ich-Du-Beziehung, die unser Wechselverhältnis zu dem Anderen bestimmt, unterscheidet. Der Andere wird nicht als irgend ein Anderer (alius), sondern als der exklusiv Andere (alter) verstanden, mit dem zusammen sich eine Identität erst ergibt, die Buber als Liebe definiert. Sartre, Jean Paul, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943 (dt.: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1952). Philosophischer Grundlagentext für den Begriff des ‚Anderen‘. Wie Hegel formuliert auch Sartre die Auseinandersetzung mit dem Anderen in Das Sein und das Nichts als einen Kampf. Durch den Blick des Anderen erfährt sich das Ich als Objekt, es wird zu einem Erblickten, zu einem Seinfür-Andere. Dieser Blick stört das Für-sich-Sein des Ichs, in dem es die Welt als um sich zentriert erlebt. Fortan kämpfen zwei Subjekte mit ihrem Erblicken und Verobjektivieren des Anderen um ihren Subjektstatus und mithin um ihre Freiheit. Lévinas, Emmanuel, Totalité et Infini. Essais sur l’extériorité, La Haye 1961 (dt.: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg 1987). Erstes Hauptwerk Lévinas’, formuliert eine Alternative zur Totalität des abendländischen Denkens und ihrem Bemühen, Anderes auf ein Selbes zurückzuführen, indem er das Verhältnis von Ich und Anderem vom Anderen aus denkt. Im „Antlitz“ des Anderen begegnet dem Ich der Andere in seiner irreduziblen, radikalen Alterität; aus diesem „Anruf“ erwächst dem Ich eine Verantwortung für den Anderen. Jauß, Hans Robert, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977. Grundlegende, intensiv rezipierte und diskutierte Aufsatzsammlung, die ein rezeptionstheoretisches Konzept der Alterität entwickelt und in verschiedenen Aufsätzen u. a. in der Interpretation mittelalterlicher Tier-
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epik aufzeigt. Die Alterität der mittelalterlichen Literatur ist zugleich das, was ihre Modernität ausmacht. Said, Edward W., Orientalismus, Frankfurt a. M. 1979 (engl.: Orientalism, New York 1978). Said dekonstruiert in dieser Schrift den in europäischer Wissenschaft und Literatur dominierenden Blick auf den Orient als Herrschaftsanspruch des Okzidents. Dabei geht es Said nicht darum, diesem „Orientalismus“ einen „wirklichen“ Orient gegenüberzustellen, sondern mit Rückgriff auf Foucault ideologische Diskursstrukturen zu kennzeichnen. Hartog, François, Le miroir d’Hérodote. Essais sur la représentation de l’autre, Paris 1980. Liest Herodots Geschichtsschreibung als „Rhetorik der Alterität“, mit der Fremdbilder inszeniert werden. Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985 (frz.: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre, Paris 1982). Die Untersuchung zeigt am Beispiel der Eroberung Amerikas, wie zwei unterschiedliche Interpretationen des Anderen Instrument der Unterdrückung des Anderen werden, und ist zu einem viel diskutierten Grundlagentext der Alteritätsdebatte in den Literaturwissenschaften geworden. Wierlacher, Alois (Hrsg.), Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik, München 1987. Die Aufsatzsammlung fasst die Beiträge des ersten Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GIG) zusammen, versucht eine Standortbestimmung der interkulturellen Germanistik als Fach. Interessant für den Begriff der ‚Alterität‘ vor allem die Sektion 4 (Übersetzung, in sich spannungsreich mit Beiträgen von P. Forget, F. Lönker, H. Turk und H. J. Vermeer), die Sektion 5 (Methodologie, enthält Beitrag von N. Mecklenburg zur poetischen Alterität) sowie die Sektion 6 zur Stereotypenforschung und Kulturanthropologie. Kristeva, Julia, Etrangers à nous-mêmes, Paris 1988 (dt.: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1990). Fokussiert im Rückgriff auf Freuds Aufsatz „Über das Unheimliche“ eine intrasubjektive Alterität, indem das Ich vor dem von ihm unterdrückten Bekannten oder Eigenen (Un-heimlichen) als einem Fremden steht.
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Butler, Judith, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, London, New York 1990 (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991). Zählt zu den Grundlagentexten des antiessentialisten Feminismus. Die Alterität der Geschlechter wird in einem psychoanalytischen Ansatz (Freud, Lacan) als „Zwangsheterosexualität“ enttarnt. Mit Rückgriff auf postmoderne Theorieansätze (Foucault, Kristeva) wird die gängige Unterscheidung in biologisches Geschlecht (sex) und gesellschaftliches Geschlecht (gender) unterlaufen, indem die vermeintliche Natürlichkeit des Körpers als soziales Konstrukt dekonstruiert und der Blick für Alteritäten der Geschlechter geöffnet wird. Geertz, Clifford, Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller, München 1990 (engl.: Works and Lives. The Anthropologist as Author, Stanford 1988). In dieser einflussreichen Publikation geht Clifford Geertz auf die „Maultiernatur“ der Anthropologie ein, die bislang nur von ihrem mütterlichen Onkel gesprochen habe (dem Pferd, i.e. der exakt beobachtenden Feldforschung) und nicht von ihrem Vater (dem Esel, i.e. der literarischen Texterzeugung). Am Beispiel von vier herausragenden Vertretern des Faches (Lévi-Strauss, Evans-Pritchard, Malinovski, Benedict) werden die literarischen Strategien beschrieben, mit denen die Alterität nicht-europäischer Kulturen aufgebaut bzw. als überwindbar definiert wurde. Heinzle, Joachim (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1994. Der Herausgeber sieht in Alterität und Kontinuität zwei Denkfiguren, die das Verhältnis zum Mittelalter und mit ihr den jeweiligen Forschungszugang bestimmen. Vor diesem Hintergrund liefern die Beiträge des Bandes eine kritische Reflexion des Epochenverständnisses des Mittelalters. Tippner, Anja, Alterität, Übersetzung und Kultur. Cechovs Prosa zwischen Rußland und Deutschland, Frankfurt a. M. u. a. 1997. Am Beispiel deutscher Cechov-Übersetzungen soll die unterschiedliche Praxis des Übersetzens reflektiert und die ihnen zugrunde liegende Theorie und Rhetorik der Alterität anhand von wiederkehrenden Motiven freigelegt werden. Die Einleitung liefert eine Zusammenfassung der Alteritätsthematik in der Übersetzungswissenschaft.
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Waldenfels, Berhard, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt a. M. 1997. Erster Band und zugleich Grundlage einer vierbändig angelegten Studie, die die mit dem Buch Der Stachel des Fremden (1990) begonnenen Studien zur Fremdheit fortführt. Fremdheit ist dabei bei Waldenfels nicht allein auf die kulturelle Achse beschränkt, sondern umfasst ebenso Überlegungen zur Fremdheit in den Künsten und in der Rede. Mit dem Terminus ‚Topographie‘ unterstreicht Waldenfels den Primat des Raumes für den Ansatz einer Phänomenologie des Fremden. Schlieben-Lange, Brigitte (Hrsg.): Themenheft zum Thema „Alterität“. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), 28/1998, 110. Der Themenband zur Alterität möchte zu einem nicht-trivialen Umgang mit dem Begriff der ‚Alterität‘ beitragen, indem er vor allem das Wechselverhältnis von Identität und Alterität reflektiert und die „Doppeldeutigkeit“ der Alterität, das ganz Andere und das gleiche Andere zugleich zu benennen, verfolgt. Fludernik, Monika / Gehrke, Hans-Joachim (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999. Interdisziplinäre Aufsatzsammlung basierend auf der ersten Tagung des SFB Identitäten und Alteritäten mit Schwerpunkt auf dem Begriff der ‚Grenze‘ und besonderer Aufmerksamkeit für die Figur des ‚Grenzgängers‘. Grenze wird dabei sowohl in geographischer, kultureller religiöser als auch in sexueller Hinsicht verstanden; der Band enthält sowohl Aufsätze mit theoretisch-definitorischer Intention als auch Fallbeschreibungen. Paterson, Janet M., L’altérité, Toronto 1999. Aufsatzsammlung mit Beiträgen zum Konzept der Alterität nach einzelnen Disziplinen. Enthält eine ausführliche Bibliographie zum Begriff der ‚Alterität‘. Eßbach, Wolfgang (Hrsg.), Wir – ihr – sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000. Zweite Publikation des SFB Identitäten und Alteritäten, die als theoretische Grundlegung des SFB gelten kann und wichtige Grundlagenüberlegungen zum Begriff der ‚Alterität‘ enthält.
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Balme, Christopher, Das Theater der Anderen. Alterität und Theater zwischen Antike und Gegenwart, Tübingen 2001. ‚Alterität‘ wird als ein weiter, alle Differenzthematiken umfassender Begriff verstanden, der auf die drei kulturellen Grundthematiken, das Fremde außerhalb der Grenze, das Fremde innerhalb der Grenze und das grenznahe Fremde, Bezug nimmt. Die Aufsätze beschäftigen sich mit der Thematisierung dieser drei Aspekte in Theaterstücken von der Antike bis zur Gegenwart. Reichardt, Ulfried, Alterität und Geschichte. Funktionen der Sklavereidarstellung im amerikanischen Roman, Heidelberg 2001. Untersucht die Darstellung der Sklaverei von Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Der literarischen Analyse vorangestellt ist eine Reflexion auf Alterität des zeitlichen Abstandes und kulturelle Alterität, deren unterschiedliche Ansätze Reichardt diskutiert. In seiner „Theorie der Alterität“ bringt er die in Hegels Phänomenologie unter dem Denkmodell von Herr und Knecht entwickelte Anerkennungsproblematik als fruchtbaren Ansatz ins Spiel. Uerlings, Herbert / Hölz, Karl / Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hrsg.), Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001. Fallstudien, die sich der Leitfrage widmen, „inwieweit europäische Darstellungen der Alterität außereuropäischer Kulturen gerecht werden“ (S. 9), und dazu jeweils Interkulturalitätsforschung und feministische Kulturkritik zusammenführen. Alterität wird dabei als Andersheit verstanden, deren Konstruktcharakter in der Analyse und Konfrontation unterschiedlicher Alteritätsdiskurse deutlich wird. Han, Byung-Chul, Tod und Alterität, München 2002. Philosophisch-literaturwissenschaftliche Studie über die als (radikale) Alterität erfahrene Todesproblematik, die sich u. a. eingehend mit Hegel, Heidegger, Lévinas, Ionesco und Canetti beschäftigt.
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Dekonstruktion / Poststrukturalismus von R EMIGIUS B UNIA und T ILL D EMBECK
1. Definition Die Ausdrücke ‚Dekonstruktion‘ und ‚Poststrukturalismus‘ stehen für eine Vielfalt von Strömungen und Methoden; dabei gilt ‚Poststrukturalismus‘ als Oberbegriff, der unter anderem auch unterschiedliche Formen der Dekonstruktion umfasst. Poststrukturalistische Ansätze sind aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus entstanden; gleichwohl ist eine scharfe Abgrenzung zwischen poststrukturalistischen und strukturalistischen Positionen kaum möglich. Gemeinsam ist den poststrukturalistischen Ansätzen, zentrale Grundannahmen der alteuropäischen Rationalität und Metaphysik zurückzuweisen. Als Dekonstruktion wird insbesondere eine philosophische und literaturwissenschaftliche Methode verstanden, die jene versteckten Voraussetzungen in Texten aufzudecken versucht, die sich aus diesen Grundannahmen herleiten. Zum Poststrukturalismus rechnet man auch die Diskursanalyse M. Foucaults sowie Teile der Gender Studies (z.B. J. Butler) und der Intertextualitätsforschung (z.B. J. Kristeva).
2. Beschreibung 2.1 Prämissen/Schlüsselbegriffe Jeder Versuch, ‚Poststrukturalismus‘ und ‚Dekonstruktion‘ zu beschreiben, sieht sich vor Abgrenzungsprobleme gestellt, vor allem, weil eine Selbstzurechnung selten ausdrücklich erfolgt. Dies wiederum hängt mit der weithin von Poststrukturalisten geteilten Einsicht zusammen, dass jede Einheitlichkeit (oder Identität) auf kontingente Differenzierungsprozesse zurückzuführen ist und sich daher nicht aus apriorischen Grundsätzen herleiten lässt. Poststrukturalismus versteht sich insofern als Ergeb-
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nis einer Überwindung des Strukturalismus: Trotz seines Zweifels an der Gegebenheit mit sich selbst identischer Phänomene wie ‚Subjekt‘, ‚Geist‘ oder ‚Sprache‘ führt nämlich der Strukturalismus diese Erscheinungen auf selbstidentische, prägende Strukturen zurück. Demgegenüber haben sich die einzelnen poststrukturalistischen Ansätze einer Rückführung auf eine mit sich identische Grundidee stets verweigert. Daher kann es keine verbindliche Auswahl von ‚Schlüsselbegriffen‘ geben. Für einzelne Kontexte haben sich solche im wissenschaftshistorischen Verlauf allerdings durchaus etabliert. Unter den Ansätzen des Poststrukturalismus ragt die Dekonstruktion, die auf die Arbeiten von J. Derrida zurückgeht, heraus. Sie ist für die Literaturtheorie von besonderer Bedeutung, weil sich dank ihrer sowohl neuartige Techniken der Textlektüre etabliert als auch Debatten um Basisannahmen des Text- und Sprachverstehens entzündet haben. Derrida vertritt die fundamentale These, dass die westliche Philosophie und damit vielleicht auch die westliche Gesellschaft selbst auf einen Primat der Präsenz und speziell des mündlich gesprochenen Wortes setzt. Dies bezeichnet er als Logo- bzw. Phonozentrismus. In diversen Anwendungen der Dekonstruktion werden ähnliche Kritiken der westlichen Metaphysik erprobt (‚Eurozentrismus‘, ‚Phallozentrismus‘ etc.). Zentral für die Dekonstruktion ist im Gegenzug Schrift, die in der westlichen Tradition für das Abwesende und das ‚bloß‘ Repräsentierende, ein Supplement, steht. Schrift wird dabei nicht nur als das Schriftbild begriffen, das etwa auf dem Papier erscheinen kann, sondern als jede Form der Einkerbung oder der Spur. Für Derrida setzt jede Präsenzerfahrung die Verwendung schriftförmiger Verfestigungen voraus, um sich selbst als präsent zu beschreiben. Derridas Schriftkonzept ist besonders über seinen Begriff der ‚différance‘ rezipiert worden. ‚Différance‘ bedeutet zugleich ‚Differenz‘ und ‚Aufschub‘ (frz. ‚différer‘ heißt ‚unterscheiden‘ und ‚aufschieben‘). Eine différance ist mithin eine Differenz, die sich nur in einer Bewegung des Aufschubs ihrer (also unmöglichen) endgültigen Bestimmung konstituieren kann. Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierungsbewegung ist dann ein Effekt der grundlegenden Schriftbezogenheit jeder Sinngebung, die der Ausdruck ‚différance‘ markiert, indem er sich von frz. ‚différence‘ (‚Unterschied‘) nur in der Schreibung und nicht im Lautbild unterscheidet. Gegen den ‚Logozentrismus‘, wie ihn Derrida kritisiert, wendet sich auch die von P. de Man entwickelte Dekonstruktion. Seine ‚deconstruction‘ gründet sich auf eine Theorie der Rhetorik, genauer auf eine
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Abgrenzung der Rhetorik von der Grammatik bzw. Logik: Geht es der Grammatik darum, über die Korrektheit sprachlicher Äußerungen eindeutig zu entscheiden, so beschreibt die Rhetorik die kontingenten Erfolgsbedingungen der Rede. Als wichtigste Komponente jeder Bedeutungskonstitution erweisen sich für de Man die (rhetorischen) Tropen. Auch insgesamt nimmt die poststrukturalistische Literaturwissenschaft das Erbe der Rhetoriktheorie auf (schon in Arbeiten von R. Barthes und bis in die Gegenwart). Dies beruht darauf, dass sich die Rhetorik von der Antike bis zur Frühen Neuzeit als Komplement der Logik (‚Dialektik‘ bei Aristoteles) verstanden hat und in der Frühen Neuzeit dem ‚logozentrischen‘ Rationalismus hat weichen müssen; die rationalismuskritische Haltung des Poststrukturalismus findet daher in der Rhetoriktheorie ein Vorbild, die sich gegen simplizistische Schemata richtet, sich aber dennoch um Systematisierung bemüht. Die poststrukturalistische Rhetorik-Theorie geht dabei zwar davon aus, dass Fehler in der Sprachverwendung vorkommen, bestreitet aber die Behauptung, es gebe Norm- oder Normalzustände der Sprache oder der Kommunikation, an denen sich Abweichungen und Fehler ohne Weiteres messen ließen. Hier kollidiert sie mit der (analytischen) Sprachphilosophie. Denn sie weist die Möglichkeit der Bestimmung einer propositionalen oder konstativen, also bloß Tatsachen feststellenden Rede als eine Idealisierung aus. Wie die Sprachphilosophie betont sie die performative Dimension jedes Handelns und Verstehens, folgt aber der epistemischen Annahme, dass Sinnerzeugung und -annahme sich als Differenzierungsbewegungen beschreiben lassen, die nicht im Erreichen eines welthaltigen Signifikats stillzustellen sind. 2.2 Konkrete Analyseverfahren und Vorgehensweisen Die Dekonstruktion gilt als Methode der Textinterpretation. Da ihr indes keine systematisch beschreibbaren Verfahren des Textumgangs zu Grunde liegen, lässt sie sich bisweilen eher als ‚Haltung‘ denn als ‚Methode‘ begreifen. Zur Methode wird sie, wenn Texte auf ihre versteckten Voraussetzungen geprüft und dann mit ihren expliziten Bekundungen konfrontiert werden. Diese Lesestrategie wird heute am ehesten mit ‚Dekonstruktion‘ verbunden; sie zeichnet aus, dass sie die sichtbare Intention des Textes vernachlässigt und sich damit nicht um die ‚einzig‘ richtige Textdeutung bemüht. Eher als Haltung lässt sich Dekonstruktion verstehen, wenn jede mögliche Grundannahme hinterfragt und da-
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mit auch die ‚Suche nach versteckten Widersprüchen‘ als problematische Vereindeutigung gewertet wird. Die Dekonstruktion akzentuiert somit in beiden Fällen den Akt der Lektüre. Eine Lektüre in ihrem Sinne setzt sich kleinteilig mit einem Text oder einem Textkorpus auseinander, ohne die bereits festgefügte Interpretationsüberlieferung zu respektieren. Die Aufmerksamkeit gilt jedem einzelnen Wort und seiner Etymologie, nicht aber seiner (mehr oder weniger) offensichtlichen ‚Aussageabsicht‘. Als Verfahren nutzt die Dekonstruktion zentrale poststrukturalistische Einsichten für die Textinterpretation. Die auf Barthes und Foucault zurückgehende Einschätzung, der Autor spiele für das Textverstehen keine wesentliche Rolle, und die Annahme, der Kontext einer Äußerung könne ihre Bedeutung nur bedingt festlegen, führen zu einem Textumgang, der die diskursiven Beschränkungen ermittelt, die die Deutungsmöglichkeiten und damit die Freiheitsgrade im Umgang mit dem Text eingrenzen. Die Dekonstruktion versteht sich schließlich als eine Disziplin der Ethik, die sich indes nicht auf explizite Maximen festlegen lässt, sondern die Aporien ethischer Reflexionen aufzeigt. Ethische Methoden gründen sich etwa oftmals auf dem Verfahren der Dekonstruktion, wenn sie unterschwellige ‚Zentrismen‘ suchen oder ungenannte Voraussetzungen aufdecken. Dabei beziehen dekonstruktionistische Ethiken durchaus Position, etwa Derrida gegen die Todesstrafe (beispielsweise in De quoi demain). Aus der Ethik heraus entwickelt die Dekonstruktion dann auch eine politische Dimension. Sie äußert Kritik an den Defiziten gegenwärtiger Demokratie und erlaubt die Neubewertung politischer Schriften des 18., 19. und 20. Jahrhunderts (siehe etwa Spectres de Marx von Derrida); ferner lassen sich weite Teile des Poststrukturalismus als Kritik an bestimmten hegemonialen Auffassungen des Westens beschreiben. In den USA fokussiert die politische Literaturtheorie mit der Dekonstruktion als unerlässlichem Hilfsmittel bevorzugt die Verankerung ‚ungerechter‘ Haltungen in Literatur und Geistesgeschichte.
3. Institutionsgeschichtliches 3.1 Entstehungszeit und -kontext Poststrukturalismus und Dekonstruktion sind in den 1960er-Jahren in Frankreich als Überbietung des Strukturalismus entstanden. Bei einzelnen Vertretern des Poststrukturalismus (z.B. Barthes) werden eine strukturalistische und eine poststrukturalistische Phase unterschieden. Auch
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die Weichenstellungen in der strukturalistischen Forschung, die eine poststrukturalistische Radikalisierung provoziert haben, sind im Wesentlichen französischer Provenienz. Nach F. de Saussures Linguistik konstituiert sich die Bedeutung eines Zeichens immer nur in der Differenz zu anderen Bedeutungen, sodass Zeichen also nicht für sich, sondern nur im Bezug zu anderen Zeichen Bedeutung erzeugen und Identität besitzen. Dieses rein strukturalistische Konzept fand bei C. Lévi-Strauss Anwendung in der Ethnologie, bei J. Lacan in der Psychoanalyse und bei L. Althusser im Bereich der Ideologiekritik marxistischer Provenienz. Eine solche Übertragung des linguistischen Modells führte insbesondere zur Annahme einer Dezentrierung des integralen Subjekts, wenn etwa Lévi-Strauss Verwandtschaftsbeziehungen als Strukturvorgaben ausweist, deren ‚Füllung‘ durch konkrete Individuen nebensächlich ist, oder wenn Lacan das Freud’sche ‚Unbewusste‘ als ‚Rede des Anderen‘ im Subjekt bezeichnet. Auch die strukturalistische Literaturwissenschaft versucht, Texte als Strukturgefüge zu beschreiben, die sich nicht auf integrale Größen wie das Autorsubjekt zurückführen lassen. Grundlegend war Barthes’ strukturale Erzählanalyse. An seinen Arbeiten lässt sich der fast unmerkliche Übergang zu poststrukturalistischen Argumentationen nachzeichnen: Sein Buch S/Z stellt eine übersteigerte Anwendung der strukturalistischen Methode auf einen literarischen Text dar. Ähnlich wie für Barthes ließe sich auch für andere französische Strukturalisten, also etwa für Lévi-Strauss, Lacan oder Althusser behaupten, dass in ihren Arbeiten der Übergang zum Poststrukturalismus bereits angelegt ist. Ihre Texte sind für Autoren wie M. Foucault, J. Derrida und G. Deleuze immer Bezugspunkte geblieben. Daneben steht jedoch eine enge Orientierung an der deutschen philosophischen Tradition, insbesondere an F. Nietzsches, E. Husserls und M. Heideggers MetaphysikKritik, aber auch an G. W. F. Hegels, K. Marx’ und S. Freuds Philosophie. In der Lektüre ihrer Texte entstanden die frühen Formen der französischen Dekonstruktion bei J. Derrida. Als eines der Fermente des Poststrukturalismus gilt schließlich die besonders rigide und unfreie Philosophieausbildung in Frankreich. Ohne diese Einschränkung dürften Derrida, Deleuze, Barthes, aber auch Foucault kaum so radikale disziplinäre Befreiungsversuche unternommen haben. Im Establishment der französischen Hochschullandschaft werden sie bis heute eher als Fremdkörper empfunden. Namentlich wurde das in Frankreich bis heute verpflichtende Verfahren der explication de texte, eine Variante des close reading, durch Derrida von Innen zersetzt:
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Die Dekonstruktion nahm seine Rigorosität so ernst, dass die Fragwürdigkeit seiner Prämissen transparent werden musste. 3.2 Umstände der Etablierung und ‚Durchsetzung‘ in der scientific community Derrida erarbeitete sich in Europa erst über seine Rezeption in der amerikanischen Literaturwissenschaft – nicht in der Philosophie – seine Reputation. Dass sich die Dekonstruktion in den USA etablieren konnte, hing mit vier Voraussetzungen zusammen: Erstens hatte der New Criticism, die amerikanische Variante werkimmanenter Interpretation, der dekonstruktiven Lektüre vorgearbeitet, die de Man und andere Repräsentanten der ‚Yale Critics‘, etwa H. Bloom, ‚erfanden‘. Zweitens bereitete G. Spivaks englische Übersetzung von Derridas De la Grammatologie mit ihrer einflussreichen Einleitung den Boden für eine politisch engagierte Aufnahme der Dekonstruktion (z. B. in den Postcolonial Studies). Die Dekonstruktion knüpfte so an die in der amerikanischen Literaturwissenschaft schon entstehende ethische Orientierung der Literaturwissenschaften frühzeitig an. Drittens erfuhr der Poststrukturalismus Aufwind, als der Sprachphilosoph R. Rorty von den Analytikern zu den Poststrukturalisten ‚übertrat‘. Einschlägig ist seine Studie Philosophy and the Mirror of Nature. Viertens wurde die Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Geschichtstheorien, namentlich der Diskursanalyse, zum Einsatzpunkt des bis heute wirkmächtigen New Historicism von S. Greenblatt und anderen. Die breite Wirkung, die Poststrukturalismus und Dekonstruktion ausübten, war nicht zuletzt Vermittlern wie z. B. J. Culler zu verdanken. Prominente und eigenständige Anschlüsse an den Poststrukturalismus fanden im Bereich der Germanistik beispielsweise A. Ronell und D. Wellbery. Während also in den USA nicht nur die Dekonstruktion, sondern auch der französische Poststrukturalismus im Allgemeinen seit den 1970erJahren breit rezipiert wurde, ging ihre Rezeption in Deutschland recht schleppend voran, nicht zuletzt weil H. G. Gadamers Hermeneutik die deutsche Literaturwissenschaft stabil theoretisch unterfütterte. So stellte sich, obwohl erste Übersetzungen etwa der Schriften Derridas schon in den 1970er-Jahren vorlagen (so J. Hörischs Übersetzung von La voix et le phénomène von 1973 mit einem stark rezipierten Vorwort), eine breitere Rezeption erst in den 1980er-Jahren ein, und nie kam es zu einer so flächendeckenden Akzeptanz von Poststrukturalismus und Dekon-
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struktion wie bis in die späten 1990er-Jahre in den USA. Verdient um die Rezeption des Poststrukturalismus machte sich M. Frank, der den französischen Poststrukturalismus mit der deutschen hermeneutischen Tradition seit Schleiermacher engführte (z. B. in Was ist Neostrukturalismus? von 1983). Nicht zuletzt dank Franks Bemühungen kam es zu einer umfassenden Auseinandersetzung zwischen Gadamer und Derrida (Text und Interpretation, hg. v. P. Forget, 1984). Später fanden Dekonstruktion und Poststrukturalismus in erster Linie durch produktive Anwendungen auf zentrale Gegenstände der Disziplin Anerkennung in der deutschen Germanistik. So regte E. Behler (wieder von Amerika aus) eine Debatte über die Aktualität der Frühromantik (Sammelband, 1987) an: Er und auf andere Weise W. Menninghaus (Unendliche Verdoppelung, 1987) vertraten die These, dass das frühromantische Denken wichtige Züge der poststrukturalistischen Metaphysikkritik bereits ausgeprägt habe. A. Haverkamp widmete seine vielbeachtete dekonstruktive Studie Laub voll Trauer (1991) dem späten Hölderlin, Texten also, die immer schon die avancierte Theoriebildung herausgefordert haben. Als bedeutsam für die Verbreitung poststrukturalistischer Argumentation in der deutschen Germanistik erwies sich seit Ende der 1970erJahre die auf G. Kaisers Arbeiten zurückgehende, medientechnologische Variante des Poststrukturalismus, wie sie vor allem F. Kittler vertrat. Unter dem Schlagwort einer Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften (hg. v. Kittler, 1980) wurde eine psychoanalytische Literaturwissenschaft Lacan’scher Prägung mit medientechnologischen Paradigmen ‚kurzgeschlossen‘. Kittler zeigte in Aufschreibesysteme 1800 · 1900 (1985), wie medientechnische Apparate die Konzeption und die soziale Einbettung literarischer Kommunikation prägen. Ihm wurde jedoch in der Folge der Vorwurf gemacht, damit einem einseitigen Determinismus das Wort zu reden und so mit wesentlichen poststrukturalistischen Prämissen zu brechen. Die Rezeption des Poststrukturalismus ging von der Literaturwissenschaft und nicht von der Philosophie aus. Zwar zeigten einzelne namhafte Vertreter der Philosophie wie C. Menke (in Die Souveränität der Kunst, 1988) und der Germanistik wie W. Hamacher (z. B. in Entferntes Verstehen, 1998) das genuin philosophische Potential der Dekonstruktion auf. Dennoch mussten poststrukturalistische Philosophen teils als Literaturtheoretiker Anstellung finden: Berühmtestes Beispiel ist R. Rorty. W. V. O. Quines Begründung gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophie an Derrida, die die Universität Cambridge 1992 plante, enthielt den Hinweis, dass Derrida unter Literaturwissenschaft-
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lern und nicht unter Philosophen anerkannt sei. Doch auch originelle gegen den Poststrukturalismus gerichtete Positionen etablierten sich später auf literaturwissenschaftlichen Lehrstühlen (zum Beispiel W. B. Michaels). Sowohl die Politisierung als auch die Aufnahme epistemologischer Fragestellungen in das Aufgabenfeld der Literaturtheorie führten so dazu, dass diese sich jetzt teils nicht mehr nur als Erforscherin der künstlerischen Literatur, sondern als Grundlagenwissenschaft in Konkurrenz zur Philosophie begreift. Dies ist nicht zuletzt dem Poststrukturalismus zu verdanken. 3.3 Weitere Repräsentanten und Schulen Neben den wirkmächtigsten Vertretern von Poststrukturalismus und Dekonstruktion, J. Derrida, M. Foucault, P. de Man, R. Barthes, G. Deleuze, existieren eine Reihe weiterer poststrukturalistischer Ansätze, die sich teils dezidiert nicht als Dekonstruktion begreifen und teils auch bloß dem Poststrukturalismus nahestehen, insofern sie mit den Annahmen des Strukturalismus ausdrücklich brechen. Dabei sind auch primär nicht-literaturwissenschaftliche Arbeiten für die Literaturtheorie bedeutsam gewesen. Zu nennen ist hier J.-F. Lyotard, der gerade aus seiner Nähe zur frühen Sprachphilosophie und zur Naturwissenschaft heraus gegen vereinfachende Determinismusannahmen argumentiert; er wendet sich so gegen Auswüchse der späten Sprachphilosophie, gegen die Systemtheorie und gegen J. Habermas’ Konsensrationalismus. M. Serres führt in seinem kommunikationstheoretischen Ansatz den Parasiten als Theoriefigur ein – eine Figur, die nicht als Normabweichung, sondern als nicht-sekundäre und ko-evoluierende Erscheinung aller vermeintlich primären Phänomene auftritt. Jüngst schlägt B. Latour aus der Perspektive der Wissenschaftsgeschichte eine Netzwerk-Theorie vor, die sich gegen ‚große erklärende Systeme‘ wendet. Serres und Latour stehen in der Tradition der poststrukturalistischen Skepsis, dürften sich aber nicht als Poststrukturalisten bezeichnen. Dahingegen lassen sich Foucaults Ideengeschichte und seine Methode der Diskursanalyse, Kristevas Intertextualitätstheorie sowie Teile der Gender Studies (Butler, H. Cixious, L. Irigaray) recht klar dem Poststrukturalismus zurechnen. Die Gender Studies lehnen sich in weiten Teilen an Derrida an; Irigaray ist eine Schülerin Lacans. Diskursanalyse und Gender Studies sind innerhalb der Literaturwissenschaft zu Disziplinen mit eigenen Methoden und Schulen geworden. In jüngerer Zeit werden auch
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politisch und ethisch interessierte Adaptionen in der Germanistik rezipiert. Dazu gehören die Postcolonial Studies (z. B. bei Spivak und H. K. Bhabha) und einige vom Marxismus geprägte Theoretiker (z. B. E. Laclau und C. Mouffe); G. Agamben wird wegen seiner Lektüren von Heidegger, Marx sowie anderen und dank seiner Staatskritik von poststrukturalistischen Arbeiten im einschlägig interesssierten Umfeld breit zur Kenntnis genommen. Zu den wichtigeren Weiterentwicklungen der von de Man begründeten Dekonstruktion zählt die literaturwissenschaftliche Ethiktheorie, wie sie vor allem D. Martyn vertritt (Sublime Failures, 2003). Sie zeigt die Unmöglichkeit von ethischen ‚Totallösungen‘ in der westlichen Philosophietradition und verweist auf die Notwendigkeit, ‚Partiallösungen‘ zu konkreten Fragen zu finden. Die heutige Germanistik zehrt teils von einem allzu engen Anschluss an die poststrukturalistischen Autoritäten. Zugleich bereichert der Poststrukturalismus jedoch die philologische Diskussion ungemein (N. Wegmann, G. Stanitzek, T. Schestag, M. Wetzel). Eine Besonderheit der deutschsprachigen Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit Poststrukturalismus und Dekonstruktion stellt die Diskussion über Parallelen zur Systemtheorie (insbesondere in der Prägung N. Luhmanns) dar, der zentrale poststrukturalistische Ideen benutzt, um seine Epistemologie aufzubauen (siehe dazu Arbeiten von N. Binczek und Urs Stäheli). Hohe Bedeutung für die Literaturwissenschaft besitzen diejenigen Arbeiten, die Systemtheorie und Dekonstruktion verbinden, um den Blick für ungewöhnliche Textphänomene zu schärfen (G. Stanitzek, J. Fohrmann). 3.4 ‚Feindbilder‘ und tatsächliche Widersacher Die wichtigste offene Gegenströmung zum Poststrukturalismus bilden – vor allem in den USA und in Großbritannien – die Analytische Philosophie und Literaturwissenschaft. Diese Feindschaft beruht auf gegensätzlichen Fundamentalannahmen. Während die analytischen Positionen in weiten Teilen von einem emphatischen Wahrheitsbegriff ausgehen und annehmen, sprachliche Ausdrücke hätten eine hinreichend klar ermittelbare Extension (‚Begriffsumfang‘) und Eigennamen bezeichneten erfolgreich Einzelobjekte, bezweifeln Poststrukturalisten die Möglichkeit, über stabile Bedeutung zu verfügen, da jede Beschreibung von Bedeutung wieder sprachlich ist und Ausdrücke der Alltagssprache sich nicht strikt ‚definieren‘ lassen. Pflegen die analytischen Ansätze ferner – der in ihnen tief verwurzelten Wertschätzung für den ‚gesunden Menschenver-
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stand‘ gemäß – den plain style des Rationalismus, also eine möglichst schnörkellose, begrifflich klare, definitorisch geregelte Sprache, die auf Tropen verzichtet, so bevorzugt dagegen poststrukturalistische Theoriebildung meist einen eher spielerischen Umgang mit Sprache. Beide ‚Stilentscheidungen‘ hängen mit den jeweiligen Fundamentalannahmen über die Präzisierungsfähigkeit der Sprache zusammen. Neben der Auseinandersetzung in der Philosophie kritisieren den Poststrukturalismus aus analytisch-literaturwissenschaftlicher Sicht im europäischen Kontext fiktionstheoretische (z. B. F. Zipfel) und allgemein literaturtheoretische Arbeiten (z. B. L. Danneberg), im amerikanischen eine Ethik- und Semiotikkritik (z. B. W. B. Michaels). In Deutschland spielte die Konfrontation zwischen Dekonstruktion und Hermeneutik eine große Rolle. In seinem Disput mit Gadamer wurde Derrida vorgeworfen, keine Verständigung zu wollen: Er verschärfe die Divergenz zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion bewusst und zeichne gegen den Grundsatz der ‚hermeneutischen Billigkeit‘ ein verzerrtes Bild der Hermeneutik. Derrida suggerierte daraufhin, diesem Vorwurf liege ein ‚guter Wille zur Macht‘ zugrunde. Inwiefern Grundfiguren der Hermeneutik wie der hermeneutische Zirkel (in F. Schleiermachers Beschreibung) mit der Dekonstruktion vereinbar sind, ist in der Folgezeit kontrovers diskutiert worden (etwa von Frank und Hamacher). Noch A. Koschorkes Dekonstruktionskritik, vorgetragen in der an Diskursanalyse und Systemtheorie angelehnten Studie Körperströme und Schriftverkehr (1999), stützt sich auf Argumente, die denen Gadamers nicht ganz fern stehen: Dem dekonstruktiven Impetus von Derridas Phonozentrismuskritik stellt er eine konstruktive ‚Mediologie‘ gegenüber, die zeigt, wie erst unter den medialen Bedingungen der Schriftlichkeit Konzepte von Selbstpräsenz, Unmittelbarkeit und Ursprung haben entstehen können. Auf andere Weise strebt H. U. Gumbrecht in The Production of Presence (2004) eine Ablösung des Poststrukturalismus an. Er sieht in der Fixierung auf Sinnsysteme einen Irrweg der Literaturwissenschaft, die sich in Zukunft der Präsenzerfahrung – etwa in der Lektüre – zuwenden sollte. Die – im Kern richtige – Metaphysik-Kritik des Poststrukturalismus blendet für Gumbrecht zu Unrecht aus, dass Welt nicht nur gedeutet, sondern auch erlebt werden kann. In der deutschen Literaturwissenschaft widmen sich in jüngerer Zeit F. Jannidis, S. Winko, G. Lauer, H.-H. Müller und andere als Vertreter einer positivistischen und teilweise analytischen Haltung der poststrukturalistischen Kritik etwa am Autor oder an der Intention. Sie reagieren auf
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die problembezogenen Vorwürfe seitens des Poststrukturalismus, akzeptieren aber dessen Positivismuskritik nicht und versuchen diese durch ein partielles Entgegenkommen in einzelnen Sachfragen zu entkräften (namentlich in der Intentionsdebatte). Diese zurückhaltend auftretende Ablehnung des Poststrukturalismus bemüht sich, dessen Einfluss zu tilgen, indem sie dessen semiotische und epistemologische Einwände als irrelevant zurückweist und übergeht. 3.5 Umstände des ‚Niedergangs‘, der ‚Ablösung‘ Auch wenn sich poststrukturalistische Ansätze in der Literaturwissenschaft vielleicht derzeit in der Defensive sehen, kann von einem ‚Niedergang‘ nicht die Rede sein. Gleichwohl sind erstens einige ‚epigonale‘ Aufweichungen der Argumentationsweisen insbesondere der Dekonstruktion zu beobachten: So verlieren die sich auf die Dekonstruktion berufenden Ethiken bisweilen aus dem Blick, dass Kennzeichen der Dekonstruktion die Befragung auch ihrer eigenen Voraussetzungen ist; in diesem Sinne erscheint ein Weltverbesserertum, das Floskeln der Dekonstruktion übernimmt, bisweilen als Verfallserscheinung der poststrukturalistischen Ethik. Darüber hinaus haben sich viele, ursprünglich epistemologische Fragestellungen im Laufe der Zeit zu rein thematisch begrenzten Forschungsfeldern verengt und sind zu purem Jargon verkommen. Zweitens haben in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zwei größere Skandale für die Prognose eines baldigen Endes des Poststrukturalismus gesorgt. Als 1987 bekannt wurde, dass de Man zur Zeit des zweiten Weltkrieges im von den Nationalsozialisten besetzten Belgien kollaborationistische und antisemitische Zeitungsartikel veröffentlicht hatte, erklärten Gegner, eine Konsequenz der Dekonstruktion sei eine ethische Beliebigkeit – wie de Mans mangelnde Prinzipientreue im Vorhinein demonstriere. Dass Derrida dem entgegenzuhalten schien, de Mans Verurteilung gehorche einer ebenso totalitären Logik wie dessen antisemitische Propaganda, bestätigte den Eindruck, mit den Mitteln der Dekonstruktion lasse sich jede Position gleichermaßen verteidigen wie angreifen. Auf einen anderen Mangel poststrukturalistischer Forschung machte im Jahr 1996 der sogenannte Sokal-Skandal aufmerksam: Der Physiker A. Sokal sandte einen parodistischen und gewollt unsinnigen Text an eine Zeitschrift, die ihn ohne Beanstandung druckte. Sokal verriet daraufhin, dass seine Einsendung den Zweck verfolgt hatte, die post-
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strukturalistischen Cultural Studies zu diskreditieren, deren mangelnde Konsistenzanforderungen so angeblich vollends sichtbar wurden. Eine mögliche Weiterentwicklung des Poststrukturalismus liegt in den Versuchen, die Qualitäten formalen Denkens – wie sie in der Mathematik und den Naturwissenschaften hervortreten – stärker zu würdigen, ohne die Möglichkeiten von Aporien oder unvermeidbaren Paradoxien zu leugnen. D. Baeckers Arbeit an einer Theorie der Form – die für einen literaturwissenschaftlichen Kulturbegriff bereits fruchtbar gemacht worden ist – erscheint als eine vielversprechende Option. Ein gleichberechtigter Austausch zwischen Literaturwissenschaft und Biologie bzw. Psychologie, wie er etwa von W. Menninghaus erstrebt wird, bietet die Chance zu erklären, wie man in alltäglicher Sprache, aber auch in der Kunst die unscharfen Phänomene der Welt – etwa Emotionen, Liebe etc. – zu ordnen und sich kognitiv (aber nicht rational) verfügbar zu machen vermag. Auch für die Fiktions-, Darstellungs- und Medientheorie sowie für die Textund Kommunikationstheorie liegen Arbeiten vor, die das systematische Potential des Poststrukturalismus ausschöpfen. Die poststrukturalistische Rationalismuskritik wandelt sich so zu dem Bemühen, die Erfolge rationalistischer Wissenschaft und Ethik überhaupt zu erklären.
4. Publikationen Jacques Derrida: De la Grammatologie (1967). Die wohl mit Abstand wichtigste Schrift des Poststrukturalismus ist die Grammatologie von Derrida. Die Studie analysiert Rousseaus Positionen zu Schrift und mündlicher Äußerung und stellt fest, dass Rousseau entgegen seinen ausdrücklichen Bekundungen von einem Primat der Schrift ausgeht. In einer Lektüre von Lévi-Strauss problematisiert Derrida das – für die Sprachphilosophie zentrale – Konzept des Eigennamens. Im Zuge seiner Analysen führt er viele der in der Dekonstruktion geläufigen Begriffe (‚différance‘, ‚Differenz‘, ‚Spur‘) ein. Die Grammatologie ist im Duktus und in ihrem Bemühen um die Klärung des Verhältnisses von Schrift und gesprochener Sprache der bis dahin herrschenden philosophischen Tradition verhaftet; Derrida positioniert sie ausdrücklich als Gesprächsangebot an die Analytische Philosophie. Die Derrida vorgeworfene Neigung zur exzessiven Reflexion auf die eigene Sprache findet sich in diesem Text kaum. Dass die Grammatologie Ursprung der Dekonstruktion hat werden können, liegt an ihrer grundsätzlichen Rationalismuskritik.
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Gilles Deleuze: Logique du sens (1969). Die Logik des Sinns von Deleuze befasst sich mit der schieren Möglichkeit, Sinn von Unsinn abzugrenzen und auf angemessene Weise zu charakterisieren. Deleuze beschäftigt sich mit den Eigenarten von Paradoxien und von Bedeutung und strebt eine prozessorientierte Semiotik an; ein Hauptgegenstand seiner Untersuchung ist das ‚Ereignis‘. Er nimmt literarische Texte – namentlich Carrolls Alice-Erzählungen – als erkenntniskritische Beiträge ernst. Die Studie ist anspielungsreich und skizziert viele der dargelegten Gedanken nur in Andeutungen. Gemeinhin wird Deleuze’ Anstrengung noch künftiges Potential zugemessen. Im Poststrukturalismus hat sich die Logik des Sinns vor allem als Ideengeberin etabliert. Roland Barthes: S/Z (1976). An Barthes’ detailversessener Studie S/Z, die sich H. de Balzacs Erzählung Sarrasine widmet, zeigt sich der Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus. Barthes wählt die Gesamtheit aller Details von Balzacs Text zum Gegenstand, gibt sich also nicht mit der (in der Literaturwissenschaft bis heute üblichen) Interpretation vorab selektierter Zitate zufrieden. Stattdessen werden alle Einheiten des Textes in der Reihenfolge ihres Erscheinens zitiert und auf die Strukturen hin befragt, die sie determinieren. Im Ergebnis erweist es sich jedoch als weder möglich noch erstrebenswert, den Text in seinen Details auf apriorisch benennbare Strukturen zu reduzieren: Während eine solche ‚klassisch‘ strukturalistische Vorgehensweise aufgrund vorgängiger Schemata (für deren Anwendung man sich schon vor der Lektüre entscheidet) nach der Lektüre die Bestandteile des Textes auswiese, fällt Barthes’ Verfahren vor der Lektüre eine Entscheidung gegen die Anwendung vorgängiger Schemata und überlässt sich damit der Nachträglichkeit der Sinnkonstitution. Radikal lässt sich allerdings auch dieses Verfahren nicht umsetzen, und so verfällt Barthes auf einen Kompromiss: Er untersucht Balzacs Text als einen ‚unvollständig pluralen‘ Text, d.h. er geht in seinen Beschreibungen zwar von im Vorhinein benennbaren Mustern aus, allerdings nur um aufzuzeigen, wie sich diese Strukturen gegeneinander in Bewegung setzen. Paul de Man: Allegories of Reading (1979). Die wohl einflussreichste Arbeit der amerikanischen ‚deconstruction‘ ist de Mans Buch Allegories of Reading. Darin findet sich de Mans Fokus auf Rhetorik in einer Reihe von Einzelstudien konkretisiert. De Man folgt dabei der (an Jean Paul und Nietzsche anschließenden) Einsicht, dass jede Bedeutungskonstitution auf tropische Ersetzungsfiguren rück-
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führbar ist, während sich die Tropen zugleich einer grammatischen Erfassung widersetzen. Unterscheidet der Strukturalismus im Sinne einer solchen ‚Grammatik der Tropen‘ etwa die Metapher als paradigmatische von der Metonymie als syntagmatischer Ersetzungsfigur (R. Jakobson), so zeigt de Man, dieses Argument überbietend, wie die Rekonstruktion der tropischen Bedeutungsbildung stets an Punkte führt, an denen angesichts einander unmittelbar widersprechender Deutungen nicht mehr entschieden werden kann, welche Deutung die ‚richtige‘ ist. Weil Sprache ‚immer schon‘ figurativ funktioniert, können an jedem Punkt literale und figurale Bedeutung miteinander in einen unaufhebbaren Konflikt geraten. Für Werke von R. M. Rilke, M. Proust, Nietzsche, H. v. Kleist und Rousseau weist de Man nun nach, dass sich diese Texte gerade nicht in Unentscheidbarkeiten schlicht verstricken, wie sie die unhintergehbare Rhetorizität jedes Textes ohnehin erzeugt. Vielmehr zeichnen sich gelungene literarische Texte dadurch aus, dass sie um die ihnen inhärente dekonstruktive Dimension bereits ‚wissen‘. Dadurch werden sie zu ‚Allegorien des Lesens‘: Sie führen vor, an welchen Punkten sie unlesbar sind – und in diesem Sinne wissen sie ‚immer schon‘ mehr als ihre (dekonstruktiven) Leser. Jacques Derrida: Limited Inc. (1990). Bedeutsam für die Literaturtheorie und für den Konflikt zwischen Poststrukturalismus und Analytischer Philosophie ist die Searle-Derrida-Debatte, die Limited Inc. dokumentiert. Ihr Ausgangspunkt ist Derridas früher Aufsatz Signatur Ereignis Kontext, den J. R. Searle in seiner Reply heftig kritisiert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Austins Sprechakttheorie auszulegen sei. In den in Limited Inc. versammelten Texten legt Derrida dar, dass Textbedeutung nicht vom Autor sichergestellt werden kann und eine Fiktionstheorie, die über Wahrheitsanspruch, Intention und Aufrichtigkeit argumentiert und die Fiktion als parasitären Sonderfall normalen Sprechens versteht, idealisierende und sogar völlig realitätsfremde Annahmen trifft. Im Schlussteil, Vers une éthique de la discussion, kritisiert Derrida die rüden Umgangsformen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs und stellt klar, dass er nicht ‚Referenz‘ und ‚Sinn‘ grundsätzlich ‚ablehnt‘, sondern die Bedingungen ihrer Möglichkeit hinterfragt. Jacques Derrida: Spectres de Marx (1993). Derridas Auseinandersetzung mit Marx stellt (u. a.) einen der Höhepunkte des politischen Einsatzes der Dekonstruktion dar. Derrida nähert sich Marx an, indem er dessen Metapher des Gespenstes bzw.
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des Gespenstischen als Theoriefigur ernstnimmt. Gespenster können als Repräsentanten von Gerechtigkeitsforderungen dienen, da sie als nur partiell körperlich gewordener Geist in Erscheinung treten und nur im Namen auch aller Abwesenden Gerechtigkeit denkbar ist. Daher muss sich Marx’ Ideologiekritik, die sich als Austreibung der Gespenster eines von den materiellen Produktionsbedingungen abgekoppelten ideologischen Überbaus versteht, ihrerseits im Namen der Gerechtigkeit neue Gespenster in die Welt setzen – ohne dass sie sich das eingestünde und daraus Konsequenzen für ihren eigenen Materialismus zöge. Derrida verbindet so eine Marx-Kritik mit der Aufwertung von dessen teils totgesagter Theorie, indem er betont, dass sie das Phänomen der politischen Gespenster überhaupt sichtbar gemacht habe.
5. Fachgeschichtliche Einordnung 5.1 Wichtigste Leistung, fach-/kulturgeschichtliche Bedeutung Die wichtigste Leistung der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus besteht darin, die philologische Kompetenz der Textwissenschaften zu betonen. Gegen gängige geistesgeschichtliche Generalisierungen und autorzentrierte, vermeintlich hermeneutische Verfahren fordern beide, dass die Genauigkeit der Lektüre nicht um der Eindeutigkeit der Ergebnisse willen aufgegeben werden darf. Beide zeigen schließlich, dass Kunst und speziell Literatur sowie die ‚nichtsystematische Philosophie‘ (Romantik, Nietzsche, heute auch P. Sloterdijk) konstruktive Weltbeschreibungen und Erkenntnisse liefern und nicht hinter der ‚systematischen Philosophie‘ zurückbleiben. 5.2 Wichtigste Defizite, Gegenargumente Dem Poststrukturalismus und der Dekonstruktion werden oft – im Kern allerdings zu Unrecht – gewollte Unverständlichkeit und Esoterik vorgeworfen, weil ihre Positionen sich nicht auf eine eindeutige Formulierung festlegen ließen. In der Tat begegnen in eher epigonalen, vom Poststrukturalismus angeregten Arbeiten ohne sichtbaren Erkenntnismehrwert poststrukturalistische Theoriefetzen oder Ausdrücke (bricolage, différance etc.), die als „transzendentale Abschlusssignifikate“ (G. Stanitzek) zum Zielpunkt jeder Lektüre werden. Damit
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aber brechen diese Arbeiten mit zentralen poststrukturalistischen Einsichten. Schwerer wiegt, dass poststrukturalistischen Arbeiten – insbesondere den ethischen und politischen – mangelnde Konstruktivität attestiert werden kann. In ihnen lassen sich häufig nur negative Voraussetzungen ausmachen; sie geben aber nicht an, wie man es (praktikabel) ‚besser‘ machen sollte. Durchsetzungsfähig scheinen allein Sprachregelungen (z. B. in den Gender Studies), die allerdings oft zu rigiden Vorschriften der politischen Korrektheit ohne realen politischen oder ethischen Gewinn umschlagen. 5.3 Unausgeschöpfte Potentiale Der Poststrukturalismus könnte in Zukunft zu einer neuen Semiotik und einer neuen Epistemologie anregen. Bislang orientiert sich das Repräsentations- und Zeichenverständnis – auch das poststrukturalistische – an Konzepten wie Signifikat/Signifikant und Inhalt/Form (trotz bekannter Kritik, vgl. M. Sternberg, C. Metz). Der Poststrukturalismus zeigt allerdings Möglichkeiten der Überwindung auf: Der ‚Präsenz der Dinge‘ ist stärker Rechnung zu tragen, und Bedeutung ist dann zu begreifen als eine Kombination prozessualer Freiheitsgrade und -beschränkungen, die weder ein umrissenes Signifikat noch einen Referenten voraussetzen. Daran könnte die jüngere literaturwissenschaftliche Orientierung an der Kognitionswissenschaft anknüpfen, da letztere sich mit einem prozessorientierten Modell (ohne metaphysische Grundannahmen) verträgt. Auch analytische Schulen beginnen, aus ihren Performativitätskonzepten heraus Prozessmodelle zu entwickeln, deren Nähe zu poststrukturalistischen Ideen zu erkunden wäre; damit werden bislang verborgene Nähen zwischen L. Wittgenstein, A. N. Whitehead oder C. S. Peirce auf der einen und Derrida, N. Luhmann und Deleuze auf der anderen Seite langsam sichtbar. Eine ‚Aussöhnung‘ scheint denkbar, auch weil sich der Poststrukturalismus stärker auf seine systematisierende Tradition (etwa in der Rhetorik) besinnen kann.
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6. Auswahlbibliographie Rorty, Richard, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1980. Rorty vollzieht mit diesem Text eine Abwendung von der analytischen Philosophie hin zum Poststrukturalismus, indem er die versteckten Annahmen der analytischen Theoriebildung untersucht. Hempfer, Klaus W. (Hrsg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart 1992. Der Sammelband (mit Aufsätzen von D. Wellbery, A. Kablitz u. a.) wahrt zum Poststrukturalismus eine gewisse Skepsis und erörtert das Verhältnis zwischen poststrukturalistischer Theorie und postmoderner Literatur. Neumann, Gerhard (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1997. Der Berichtsband zu einer DFG-Konferenz stellt hochrangige Arbeiten zu den Bereichen Schrift, Gedächtnis, Rhetorik, Poetik, Literatur, Text, Geschichte und Repräsentation aus Neuphilologie, Mediävistik, Philosophie und weiteren Fächern zu einer nach wie vor aktuellen Bestandsaufnahme zusammen. Wirth, Uwe (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002. Der Band enthält klassische Texte zur poststrukturalistischen Performanztheorie (von J. Derrida, J. Searle, J. Butler u. a.), kanonisierte Vorläufertexte (von J. L. Austin, E. Goffmann, W. Iser u. a.) sowie aktuelle Arbeiten (von E. Schumacher, N. Werber u. a.) und bietet so einen guten Überblick über poststrukturalistische Theoriebildung. Fohrmann, Jürgen (Hrsg.), Rhetorik. Figuration und Performanz,, Stuttgart 2004. Der Sammelband führt in den aktuellen Stand der (vor allem) poststrukturalistischen Rhetoriktheorie ein (mit Arbeiten von R. Campe, D. Martyn, E. Geulen, H. Winkler, N. Pethes u. a.). Der Fokus liegt auf Wissensordnungen; es finden sich erste Überlegungen zu einer poststrukturalistischen Theorie der Kognition.
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Bertram, Georg W. / Lauer, David / Liptow, Jaspar / Seel, Martin, In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt a.M. 2008. Die vier Autoren stellen die Nähe zwischen strukturalistischen, poststrukturalistischen, analytischen und ‚neoanalytischen‘ Arbeiten zur Sprachtheorie heraus (F. de Saussure, R. Jakobson, J. Derrida, M. Schlick, D. Davidson u. a.); sie ebnen damit den Weg für eine weitere Annäherung zwischen analytischen und poststrukturalistischen Positionen.
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1. Definition ‚Diskurs‘ ist der zentrale Begriff, unter dem das Denken Michel Foucaults Eingang in die Literatur- und Kulturwissenschaften gefunden hat, obwohl Literatur für Foucault selbst kaum einmal Gegenstand genuiner Diskursanalysen gewesen ist. Zudem hat Foucault den Diskursbegriff uneinheitlich verwendet. Auf einem hohen Abstraktionsniveau lässt sich ‚Diskurs‘ jedoch in Anlehnung an Michael Titzmann als ein „System des Denkens und Argumentierens“ definieren, das sich auf einen „Redegegenstand“ bezieht, spezifische Regularitäten aufweist und durch „Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist“.1 Mit ‚Diskursanalyse‘ wird entsprechend die Methodik der Untersuchung dieses komplexen Zusammenhangs bezeichnet.
2. Beschreibung Seit Beginn der 1970er-Jahre haben drei Ansätze zur Diskursanalyse eine Rolle gespielt, die jeweils auch in der Germanistik und den anderen Philologien rezipiert wurden: (1) Die Diskursanalyse im Sinne der ‚Gesprächs- bzw. Konversationsanalyse‘ angloamerikanischer Prägung (einschließlich Sprechakttheorie) ist einer mal stärker linguistisch, mal stärker psychologisch orientierten Pragmatik verpflichtet, wobei das Augenmerk in beiden Fällen auf über die Satzgrenze hinausgehende Redezusammenhänge und ihren pragmatischen Rahmen gerichtet ist.2 (2) Ur1
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Titzmann, Michael, „Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft“, in: hrsg. v. dems., Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 395–438, hier S. 406. Vgl. zum Überblick Ehlich, Konrad (Hrsg.), Diskursanalyse in Europa, Frankfurt a. M. u. a. 1994; Brünner, Gisela, Angewandte Diskursforschung, 2 Bde., Opladen, Wiesbaden 1999.
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sprünglich daran anknüpfend, sich dann aber verselbständigend meint ‚Diskurs‘ bei Jürgen Habermas eine spezifische Form der Interaktion, die sich am Idealtyp herrschaftsfreier Kommunikation mit dominant rationalem Austausch von Argumenten als Ideal orientiert. (3) Insbesondere aber verstehen sich all jene seit den 1960er-Jahren aufgetretenen und wenig später auch in der Germanistik vermehrt rezipierten Denkrichtungen als diskursanalytisch, die die Materialität sowie die Machtund Subjekteffekte von historisch je spezifischen Aussageformationen und ihre Beziehungen untereinander sowie zu nicht-diskursiven Praktiken zum Gegenstand haben.3 Im Folgenden wird (unter Ausklammerung der Derrida’schen Dekonstruktion und Lacan’schen Psychoanalyse, die als poststrukturalistische Ansätze zunächst noch mit Foucault zusammen diskutiert wurden) von Diskurs und Diskursanalyse in diesem dritten Sinne der an Foucault anknüpfenden, seine Überlegungen weiterführenden und vielfach über sie hinausgehenden Ansätze gesprochen.4 Orientiert an Foucaults Arbeiten fassen die an ihn anknüpfenden Theorien Diskurse im strikten Sinne als materielle Produktionsinstrumente auf, mit denen auf geregelte Weise soziale Gegenstände und die ihnen entsprechenden Subjektivitäten produziert werden. Von daher ist immer von einem Nebeneinander vieler Diskurse und ihrer diskursiven Formationen auszugehen, auch wenn Foucault selbst an einigen Stellen für die allgemeinen Charakteristika aller Diskurse von dem Diskurs im Singular spricht. Den Ausgangspunkt der Analysen Foucaults in der Archäologie des Wissens und in Die Ordnung des Diskurses5 bildet nämlich die Überlegung, dass sich für moderne Gesellschaften ab etwa dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts hochgradig spezialisierte Wissensbereiche
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Ähnliche Typologien finden sich bei Link, Jürgen / Link-Heer, Ursula, „Diskurs/ Interdiskurs und Literaturanalyse“, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 20/1990, 77, S. 88–99; Winko, Simone, „Diskursanalyse, Diskursgeschichte“, in: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 463–478; Gerhard, Ute / Link, Jürgen / Parr, Rolf, „Diskurs und Diskurstheorien“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 3. Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 117–120. Unabhängig von dieser Dreiertypologie ist in der Erzähltheorie von ‚Diskurs‘ für den ‚Vollzug des Erzählens‘ (frz. discours) im Gegensatz zum bloßen Rohstoff der erzählten ‚Geschichte‘ (frz. histoire, engl. story) die Rede. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973 (frz. 1969); ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1974 (frz. 1970).
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voneinander abgrenzen lassen, die jeweils relativ geschlossene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Diese Spezialdiskurse können – je nach Theorieoption – als Resultat zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierung (so die Terminologie der Systemtheorie) bzw. zunehmender Arbeitsteilung (so in der eher marxistischen Denktradition) angesehen werden. Die verfestigten, z. B. institutionalisierten Formen der Rede innerhalb solcher differenzierter Wissensbereiche lassen sich als je spezifische Diskurse verstehen, wobei ‚Diskurs‘ immer nur die sprachliche Seite einer weiterreichenden ‚diskursiven Praxis‘ meint, die das gesamte Ensemble von Verfahren der Wissensproduktion durch Institutionen wie z. B. Schulen, Universitäten oder Sammlungen (etwa Bibliotheken), durch Verfahren wie das der Kanalisierung von Wissen, der Verarbeitung sowie durch Regelungen der Versprachlichung bzw. der Verschriftlichung und Medialisierung umfasst und schließlich auch die Frage nach autoritativen Sprechern und ihren speziellen Sprecherpositionen. Diskurse im Sinne der an die Arbeiten Michel Foucaults anschließenden Theorien sind demnach dadurch bestimmt, dass sie sich auf je spezielle Wissensausschnitte beziehen, deren Grenzen durch Regulierungen dessen, was sagbar ist, was gesagt werden muss und was nicht gesagt werden kann, gebildet sind, sowie durch ihre je spezifische Operativität. Diskursanalyse bezeichnet dementsprechend die Methodik der Untersuchung dieser komplexen diskursiven Praxis, Diskurstheorie wäre ihre Reflexion auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene. Foucault selbst hat jedoch die Methodologie seines diskursanalytischen Vorgehens nicht systematisch entwickelt, auch wenn die Archäologie des Wissens immer wieder als sein ‚discours de la méthode‘ bezeichnet wurde. Dennoch lassen sich aus den von ihm durchgeführten materialen Analysen zur Klinik, Medizin, Psychiatrie, zur Konstellation von Allgemeiner Grammatik, Naturgeschichte und Analyse der Reichtümer im klassischen französischen Zeitalter und schließlich zum Gefängnis einige typische Arbeitsschritte einer ‚Diskursanalyse‘ abstrahieren, die in der germanistischen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft dann produktiv aufgegriffen wurden. Dazu gehören (1) die Abgrenzung eines Diskurses gegen andere; (2) die bestandsaufnehmende und insofern immer auch empirisch-materielle Beschreibung seiner Formation, also der jeweiligen Diskursstruktur, die sich aus den Regularitäten ergibt, die einen Diskurs ausmachen; (3) die Analyse seiner Entwicklungsdynamik, seines historischen Auftauchens, seines Verfalls, seiner Ablösung durch neue Diskurse in neuen interdiskursiven Konstellationen; (4) die Beschreibung der inter- und extradiskursiven Einbettung eines Diskurses;
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(5) die Frage nach diskursiven Innovationen; (6) schließlich die nach Interventionsmöglichkeiten. Auch literarische Texte können und müssen aus Perspektive der Diskursanalyse als Bestandteile übergreifender historischer Diskursformationen verstanden werden. Als Literaturanalyse fragt die Diskursanalyse daher nach denjenigen diskursiven Regularitäten, die literarische und im Weiteren kulturell-mediale Texturen stets mit konstituieren, nach dem Status der Literatur als Spezialdiskurs, der Kontextualisierung literarischer Texte innerhalb der Diskurssysteme ihrer Zeit (Welche anderen Diskurse spielen für die Literatur eine Rolle? Welche nicht? Gibt es dabei Dominanzen oder Hierarchien?) sowie nach den diskursiven Spielräumen und Potenzialen literarischer Innovation. Das methodische Instrumentarium der Diskursanalyse kann dabei ebenso für die Untersuchung einzelner Textstrukturen, der Subjektivitäten ihrer Produzenten (Was ist ein Autor? Schreibt ein Autor oder wird er durch die Diskurse geschrieben?) und Rezipienten sowie des Rezeptionsprozesses insgesamt genutzt werden. Damit ist die Diskursanalyse anschlussfähig an die (materialistische) Literatursoziologie,6 die Sozialgeschichte der Literatur7 und – was den Befund der Ausdifferenzierung nach relativ autonomen gesellschaftlichen Spezialbereichen angeht – an die Systemtheorie. Darüber hinaus hat sie der traditionellen Begriffsgeschichte ebenso Impulse gegeben wie der neueren Rhetorik. Foucaults Orientierung an der Streuung von Aussagen quer durch ganze Bündel von nicht nur literarischen Texten stellte zunächst jedoch eine enorme Irritation dar, denn sie erweiterte den seit Ende der 1960erJahre durch den Einbezug von beispielsweise Werbetexten und Trivialliteratur ohnehin schon über die Grenze der ‚hohen Kunstliteratur‘ hinaus geöffneten Textbegriff noch einmal deutlich.8 Das stellte einerseits den Werkbegriff, den des individuellen Autors und darüber hinaus die Instanz des in sich geschlossenen, intentional handelnden Subjekts als Ort des Ursprungs von Diskursen energisch in Frage, denn die „diskursiven 6
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Vgl. als exemplarisches Dokument eines solchen ‚Anschlusses‘ Link, Jürgen / Link-Heer, Ursula, Literatursoziologisches Propädeutikum. Mit Ergebnissen einer Bochumer Lehr- und Forschungsgruppe Literatursoziologie 1974–1976 (Hans Günther, Horst Hayer, Ursula Heer, Burckhardt Linder, Jürgen Link), München 1980. Vgl. Parr, Rolf, Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik, Tübingen 2000. Vgl. für die Verbindung von Trivialliteratur als Gegenstand und Diskursanalyse als Methode Runte, Annette, Subjektkritische Diskurstheorie. Narratologische Textanalysen von ‚Erlebnisgeschichten‘ am Beispiel von ‚Emma‘ und ‚Meine Geschichte‘, Köln 1982.
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Prozesse laufen subjektlos ab, die sie konstituierende Macht ist anonym“.9 Für die Literaturwissenschaft bedeutete das, sich ihrer bis dato für genuin erachteten Aufgaben beraubt zu sehen: der Interpretation und des erläuternden Kommentars über den Text,10 gegenüber denen sich Foucault als einen lediglich ‚Diskursbestände aufnehmenden Positivisten‘ präsentierte. Das wurde von Seiten hermeneutischer Theorien, die sich besonders herausgefordert fühlen mussten, als ‚Verlust des Subjekts, des Autors, des Werkes‘ beklagt.11 In der Tat kann Diskursanalyse sich nicht nur auf Einzeltexte beziehen, sondern ist darauf angewiesen, sie zu kontextualisieren. Andererseits eröffnete dies jedoch eine übergreifend kulturwissenschaftliche Perspektive für die Germanistik, und zwar zu einem Zeitpunkt, als von Kulturwissenschaft im deutschsprachigen Bereich noch kaum die Rede war.12 Weiter verschob sich die alte Mimesis-Frage nach der Abbildung von Realität im Text ebenfalls hin auf die nach der Konturierung der diskursiven Elemente, Regulierungen und Praktiken als eigener Form von Materialität, die Wirklichkeiten allererst mit konstituiert. Das Funktionieren von Texten, nicht ihr vermeintlicher Sinn rückte damit in den Mittelpunkt des Interesses. Brachte dies den Diskurstheorien vom Typus Foucault gelegentlich den Vorwurf eines wenn vielleicht auch nicht im Kern, so doch immerhin restidealistischen Konstruktivismus ein, so steht einer solchen Argumentation entgegen, dass die Diskursanalyse keineswegs behauptet, die ganze Welt sei lediglich das Produkt von Diskursen, sondern mit Foucault zwischen ‚diskursiven‘ und ‚nicht diskursiven‘ Praktiken unterscheidet, wobei beide Formen gesellschaftlicher Praktiken als materiell und im Zustand wechselseitiger funktionaler Verzahnung begriffen angesehen werden.
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Dainat, Holger / Kruckis, Hans-Martin, „Die Ordnungen der Literatur(wissenschaft)“, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hrsg.), Literaturwissenschaft, München 1995, S. 115–155, hier S. 138. Vgl. ebd., S. 140. Vgl. u. a. Frank, Manfred, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a. M. 1984, insbesondere die „12. Vorlesung“, S. 259–278. Vgl. dazu fast durchgängig die Beiträge im ersten Heft von kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie (1/1982 bis 53/2007).
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3. Institutionsgeschichtliches Der Strukturalismus, speziell in seiner semiotischen Variante, hatte die Aufmerksamkeit der germanistischen Literatur- und Sprachwissenschaft seit Mitte der 1960er-Jahre verstärkt auf die französischen Theorien und Theoretiker, etwa Claude Lévi-Strauss und Algirdas Julien Greimas, gelenkt, sodass für die Diskursanalyse Foucaults bereits eine gewisse Aufmerksamkeit vorhanden war und diese daher vergleichsweise schnell und intensiv wahrgenommen wurde. Das geschah unabhängig von der erst etwas später einsetzenden Diskussion darüber, ob man die Diskursanalyse als weiterentwickelten Strukturalismus oder umgekehrt als Bruch mit ihm anzusehen habe. Hinzu kam, dass das ‚diskursive Ereignis‘ der 1968er Studentenbewegung den Blick ein zweites Mal auf das intellektuelle Paris hin ausrichtete, wobei sich das Interesse für neue, zum deutschen literaturwissenschaftlichen Betrieb alternative Denkmodelle mit der Suche nach theoretisch reflektierbaren Möglichkeiten zu politischer Intervention verband. Zugleich wurden die alten ‚linken‘ Ansätze von Kritischer Theorie bis hin zur „marxistisch inspirierten Literaturwissenschaft“ zunehmend skeptischer gesehen, da man mit ihnen „aus Schematisierungen wie progressiv versus reaktionär, klein- und großbürgerlich versus proletarisch […] ‚in letzter Instanz‘ nicht heraus“13 kam. Brücken zwischen Marxismuskritik, Strukturalismus und Foucault’scher Diskursanalyse bildeten dabei nicht zuletzt die Arbeiten von Louis Althusser, Michel Pêcheux und Pierre Macherey. Man suchte jedoch nach ’68 auch unabhängig von politischen Einbettungen verstärkt nach Möglichkeiten einer gegenüber Hermeneutik und werkimmanenter Interpretation objektiveren und präziseren Methode der Textanalyse und des Verstehens von Texten. Das führte zwar für einen Moment zur Orientierung der Literaturwissenschaft an der Linguistik14 und sollte ein Plus an intersubjektiver Nachprüfbarkeit und damit Wissenschaftlichkeit sicherstellen, doch wurden solche Kopplungsmanöver bald wieder eingestellt. Die Diskursanalyse mit ihrer Ablehnung des emphatisierten Werkbegriffs, der Interpretation als bevorzugter Methode und zugleich auch noch der Infragestellung der vielfach auratisch verklärten, weil sinnverbürgenden Autorinstanz musste in dieser Situa13 14
Dainat / Kruckis, „Ordnungen“, bes. S. 136–142 („Diskurs“). Vgl. dazu ausführlich Bogdal, Klaus-Michael, „Diskursanalyse, literaturwissenschaftlich“, in: Ulrike Haß / Christoph König (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, Göttingen 2003, S. 153–174.
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tion gleich in mehrfacher Hinsicht auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Sie war zudem anschlussfähig an struktural-semiotisches Denken und konnte auf diese Weise ein zweites, für zumindest ‚objektiver‘ erachtetes Modell literaturwissenschaftlichen Vorgehens partiell integrieren.15 Schließlich hatte die Diskursanalyse auch Antworten auf eine Reihe von Problemlagen zu bieten, die in den 1970er- und -80er-Jahren für die Germanistik auf der Tagesordnung standen. Als vier solche „Problemfelder“ hat Klaus-Michael Bogdal identifiziert: a) die nicht-ontologische „Bestimmung der Besonderheit und Singularität literarischer Kunstwerke“ (ihre Literarizität), b) „die doppelte Bestimmung der Historizität von Literatur als Literaturgeschichte und als Literatur in der Geschichte“, c) „die Bestimmung des sozialen Orts der Literatur und der an ihr beteiligten Subjekte“ und d) die neue „Frage nach der Medialität von Literatur“.16 Ein institutionelles Zentrum der Foucaultrezeption – und damit einen nicht unwesentlichen Faktor im Prozess der Etablierung der Diskursanalyse innerhalb der deutschen Germanistik – stellte von Ende der 1970er- bis Anfang der 1990er-Jahre die Ruhr-Universität Bochum dar, an der neben Jürgen Link als Dozent unter anderem Gerhard Plumpe, Jutta Kolkenbrock-Netz, Clemens Kammler, Peter Schöttler, Reinhard Meyer-Kalkus und Klaus-Michael Bogdal zur nachfolgenden Assistenten-, Doktoranden- und Habilitandengeneration gehörten; mit Friedrich Kittler kam ab 1987 die sich allerdings schnell von ihren Foucault’schen Ausgangspunkten entfernende medientheoretische Variante der Diskursanalyse hinzu, deren Verdienst es war, komplementär zu Foucaults ‚historischem Apriori‘ auf das ‚mediale Apriori‘ der Literatur hinzuweisen.17 Damit war eine breite Basis für eine auch über die Fachgrenzen der Germanistik hinausgehende diskursanalytische Diskussion gegeben, die 1978/79 mit der Einrichtung des Sonderforschungsbereichs 119 Wissen und Gesellschaft im 19. Jahrhundert auch die Möglichkeit zu umfangreicheren Quellenforschungen bekam. In diesem Kontext entwickelte Jürgen Link seine Konzepte von Interdiskursivität und Kollektivsymbolik weiter und zeigte am Beispiel des ‚Ballon‘-Symbols ihre auch genuin litera-
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Vgl. Link, Jürgen / Parr, Rolf, „Semiotische Diskursanalyse“ in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen, Wiesbaden 1990, S. 107–130. Bogdal, „Diskursanalyse, literaturwissenschaftlich“, S. 162 f. Vgl. dazu Parr, Rolf / Thiele, Matthias, „Foucault in den Medienwissenschaften“, in: Clemens Kammler / Rolf Parr (Hrsg.), Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Heidelberg 2006, S. 83–112.
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turwissenschaftliche Relevanz auf.18 Weiter entstanden diskursanalytisch orientierte Habilitationsschriften, wie die von Gerhard Plumpe zur Fotografieproblematik19 und etwas später die Dissertationen einer dritten diskursanalytisch arbeitenden Bochumer Generation. Rückblickend gehören zu den wichtigeren Repräsentanten und Forschungsprogrammen in diesem Prozess der Etablierung der Diskursanalyse in der Germanistik neben Friedrich A. Kittler vor allem Jürgen Link mit seinem Foucault für die Literaturwissenschaft weiterentwickelnden und zugleich methodisch operationalisierenden Ansatz der Interdiskursanalyse. Eine zweite Welle literaturwissenschaftlicher Diskussion der Foucault’schen Diskursanalyse leitete 1988 der aus einer im „Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ durchgeführten Tagung hervorgegangene Sammelband Diskurstheorien und Literaturwissenschaft von Jürgen Fohrmann und Harro Müller ein, der sowohl Bilanz zog als auch nach zukünftigen Forschungsperspektiven fragte.20 Seit Ende der 1980er-Jahre kommt die hauptsächlich von Klaus-Michael Bogdal vertretene Variante einer dezidiert ‚historischen Diskursanalyse‘ hinzu, die stärker als andere den Anschluss an die traditionelle Hermeneutik sucht.21 Ein wichtiges Instrument des Transfers zwischen Wissenschaft und praktischen Anwendungsfeldern bildet seit 1982 das von Jürgen Link herausgegebene Periodikum kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, in dem versucht wird, die Foucault’schen und auch die selbst entwickelten ‚Werkzeuge‘ in je aktuellen politischen Zusammenhängen nutzbar zu machen und das nötige Wissen für diskurstaktische Interventionen bereitzustellen.22 18
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Vgl. Link, Jürgen, „‚Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‘ Diskursanalyse des Ballonsymbols!,“ in: ders. / Wulf Wülfing (Hrsg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 149–164. Vgl. Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990. Vgl. Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988. Vgl. von Bogdal, Klaus-Michael den eine Reihe von Aufsätzen aus den 1990er-Jahren zusammenführenden Band Historische Diskursanalyse der Literatur, Opladen, Wiesbaden 1999 (2. Aufl. Heidelberg 2007). Vgl. dazu ausführlich Link, Jürgen / Parr, Rolf, „Projektbericht: diskurs-werkstatt und kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie“, in: Forum für Qualitative Sozialforschung / Forum Qualitative Social Research 8/2007, 2, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-07-2-P1-d.htm (Stand: 12. 05. 2007).
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Explizit diskursanalytisch arbeitet in der Germanistik aktuell vor allem die Generation derjenigen, die etwa zwischen 1975 und 1985 studiert haben, also zur Zeit des Prozesses der Durchsetzung der Diskursanalyse innerhalb des Methodenspektrums der Germanistik. Dazu gehören, um nur einige Vertreterinnen und Vertreter zu nennen, Annette Runte,23 Ute Gerhard24 und Rolf Parr,25 zu einer noch einmal jüngeren, ab etwa 2000 promovierten Generation diskursanalytisch ausgerichteter Forscher Hania Siebenpfeiffer.26 Seit 2001 gibt es mit Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien eine eigene diskursanalytische Reihe, herausgegeben von Klaus-Michael Bogdal, Alexander Honold und Rolf Parr. Platz darin finden Studien, die ihre Gegenstände mit Blick auf das sie umgebende Wissensfeld thematisieren und nach den je konkreten Möglichkeiten des Zustandekommens ihrer diskursiven Ordnungen fragen. Damit geht es nicht darum, welche ‚Bedeutungen‘ kulturelle Texturen, Subjekte und Geschichte haben, sondern auf welche Weise diese konstituiert werden und welche heterogenen Wissensfelder und Praktiken sie bündeln.27
4. Publikationen Prägnant hat Foucault sein methodisches Arbeitsprogramm in dem die eigene Methodik rückblickend reflektierenden Aufsatz Antwort auf eine Frage zusammengefasst, der 1970 in der Zeitschrift Linguistik und Didaktik erschien und einen wichtigen Impuls für die vermehrte Rezeption der Diskursanalyse in der Germanistik darstellte.28 Große Teile der zwischen Mitte der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre Studierenden wurden durch diesen Aufsatz das erste Mal auf Foucault aufmerksam, es folgte 23 24
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Runte, Subjektkritische Diskurstheorie; dies., Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996. Gerhard, Ute, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen, Wiesbaden 1998. Parr, Rolf, Interdiskursive As-Sociation. Studien zu literarisch-kulturellen Gruppierungen zwischen Vormärz und Weimarer Republik, Tübingen 2000. Siebenpfeiffer, Hania, Böse Lust. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln, Weimar, Wien 2002. Vgl. Parr, Rolf / Bogdal, Klaus-Michael / Honold, Alexander, Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien, Heidelberg 2001 ff., Rückumschlag. Vgl. Michel Foucault, „Antwort auf eine Frage“, in: Linguistik und Didaktik, 1970, 3, S. 228–239 und 1970, 4, S. 313–324.
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meist die 1974 bei Hanser und 1977 noch einmal bei Ullstein auf deutsch veröffentlichte Inauguralvorlesung Die Ordnung des Diskurses (frz. 1970) und vielfach erst dann eine systematischere Lektüre der größeren Untersuchungen. Was die frühe Sekundärliteratur angeht, war der grundlegende Aufsatz Wissen ist Macht. Über die theoretische Arbeit Michel Foucaults, erschienen 1980 in der Philosophischen Rundschau, auch für die Germanistik von Wichtigkeit, da er eine Schnittstelle zwischen der philosophischen Subjekt-, Historizitäts- und Humanismusproblematik und der literaturwissenschaftlich operationalisierten Foucaultrezeption29 bot und so ein Wissenstransfer stattfinden konnte. Das gilt auch für die 1986 erschienene Foucault-Dissertation von Clemens Kammler.30 Eine frühe Applikation nicht nur des Foucault’schen diskursanalytischen, sondern (noch) eng aufeinander bezogen auch des Derrida’schen und Lacan’schen poststrukturalistischen Instrumentariums findet sich in der Einleitung des von Friedrich A. Kittler und Horst Turk 1977 herausgegebenen Sammelbandes Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Ziel ist es, die „Tragweite des Diskursbegriffs für eine Erneuerung der Wissenschaft von Reden und Texten“31 auszuloten und damit „das Projekt einer systematischen Neubegründung der Literaturwissenschaft als Diskursanalyse“32 zu beginnen. Das Spektrum der theoretisch nicht durchgehend homogenen Beiträge bleibt hinter diesem weitgesteckten Anspruch jedoch bisweilen zurück: Foucault wird meist da zitiert, wo es von der Literatur aus thematische Anschlüsse gibt, was sich für die frühe Phase der Foucaultrezeption durch die Germanistik tendenziell verallgemeinern lässt: Denn da Foucault selbst keine expli-
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Zu dieser Unterscheidung vgl. Link, Jürgen im Gespräch mit Diaz-Bone, Rainer „Operative Anschlüsse: Zur Entstehung der Foucaultschen Diskursanalyse in der Bundesrepublik“, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 7/2006, 3, Absatz 12, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-06/06-3-20-d.htm (Stand: 14. 06. 2007). Kammler, Clemens, Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werkes, Bonn 1986. Kittler, Friedrich A. / Turk, Horst (Hrsg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a. M. 1977, S. 7. Dabei wird noch stark auf die Gemeinsamkeit von Foucaults ‚Archäologie‘, Derridas ‚Grammatologie‘ und Lacans ‚strukturaler Psychoanalyse‘ abgehoben, um „das Sprechen selber, diese Zufluchtsstätte des Bewusstseins und des Idealismus, in seiner Materialität zu bestimmen“ (ebd.). Wunderlich, Stefan, Michel Foucault und die Frage der Literatur: Beitrag zu einer Archäologie des poststrukturalistischen Denkens, Frankfurt a. M. 2000. S. 2.
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zite Theorie des literarischen Diskurses entwickelt hat,33 Literatur vielmehr als eine Quelle der Erforschung von Wissensformationen neben anderen bzw. als grenzüberschreitenden ‚Gegendiskurs‘ ansah,34 ging der Mainstream der Rezeption seiner Arbeiten in den Kultur- und Literaturwissenschaften zunächst nicht in Richtung einer möglichst umfassenden Bestimmung der Spezifik des literarischen Diskurses, sondern knüpfte einerseits an die in Was ist ein Autor? 35 begonnene Problematisierung der Autorfunktion an,36 verfolgte andererseits die von Foucault herauspräparierten Spezialdiskurse wie Wahnsinn, Medizin oder Psychiatrie als Themen der Literatur weiter. Diese zwar von Foucault stimulierte, aber eher motiv- und themengeschichtlich als diskursanalytisch orientierte Forschungsrichtung scheint inzwischen jedoch weitgehend ausgereizt zu sein.37 Zudem kann sie ein abstrahierbares und auf neue Gegenstände übertragbares Analyseinstrument ‚Diskursanalyse‘ nur auf Umwegen verfügbar machen. Weiter haben sich – innerhalb der an Foucault anschließenden Diskurstheorien – in den beiden letzten Jahrzehnten unterschiedliche Akzentuierungen einzelner Aspekte seiner Theoreme bzw. Kombinationen mit weiteren Theorieelementen entwickelt: Stärker an Lacan als an Foucault lehnen sich psychoanalytisch orientierte Diskurstheorien an, wobei vor allem die Faszinationskomplexe unbewusster Wunschenergien in den Mittelpunkt des Interesses rücken;38 eine medientheoretisch orientierte Richtung (Friedrich Kittler, teilweise auch
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Vgl. Foucault, Michel, Schriften zur Literatur, Daniel Defert / François Ewald und unter Mitarbeit von Jacques Lagrange (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2003. Mit der Kritik konfrontiert, dass bei allen eingeräumten Spielräumen auch literarische Diskurse Machteffekte produzieren können, hat Foucault diese Position später revidiert. Vgl. dazu „Funktionen der Literatur. Ein Interview mit Michel Foucault“, in: Eva Erdmann / Rainer Forst / Axel Honneth (Hrsg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a. M., New York 1990, S. 229–259; sowie ausführlich Geisenhanslüke, Achim, Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault, Heidelberg 2007; sowie Wunderlich, Michel Foucault und die Frage der Literatur. Foucault, Michel, „Was ist ein Autor“, in: ders., Schriften zur Literatur, S. 7–31. Vgl. Plumpe, Gerhard, „Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, XXIII/1980, S. 175–196; ders., Der tote Blick. Mit seiner Studie zum Motiv ‚Gefängnis‘ hat Frank Reiser (Andere Räume, entschwindende Subjekte. Das Gefängnis und seine Literarisierung im französischen Roman des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Heidelberg 2007) eine der wahrscheinlich letzten Forschungslücken dieser Art geschlossen. Vgl. Gallas, Helga, Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur, Reinbek 1981.
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Manfred Schneider39, Bernhard Siegert, Bernhard Dotzler) fragt – zunächst noch in konsequenter Verlängerung Foucaults – nach den Medien als diskurskonstituierenden, diskursbedingenden und diskursregulierenden „Aufschreibesystemen“;40 feministische Ansätze wie auch die Gender Studies untersuchen geschlechtsspezifische diskursive Kodierungen und Ordnungen (Annette Runte u. a.);41 im Zuge des Booms der in den letzten Jahren vermehrten kulturwissenschaftlichen Thematisierung von Körpern sind ebenfalls einige diskursanalytisch orientierte literaturwissenschaftliche Arbeiten entstanden.42 Eine Weiterentwicklung für den Spezialfall ‚Literatur‘ erfährt die Diskurstheorie Michel Foucaults mit der von Jürgen Link und Ursula Link-Heer entwickelten Interdiskursanalyse, die literarische Diskurse als Orte der Häufung solcher Diskurselemente und diskursiver Verfahren versteht, die der Re-Integration des in den Spezialdiskursen arbeitsteilig organisierten Wissens dienen.43 Denn gäbe es nur Spezialdiskurse, so wäre Verständigung über deren Grenzen hinweg kaum möglich. Die Tendenz zur Spezialisierung muss also durch umgekehrte Mechanismen der Integration wieder kompensiert werden, d.h. es muss neben den Spezialdiskursen auch re-integrierende, inter-diskursive Verfahren geben. Solche integrierenden Diskurselemente entstehen nun beispielsweise dadurch, dass Elemente von Spezialdiskursen zum strukturierenden Medium anderer Spezialdiskurse gemacht werden, also durch analogiebildende Ver-
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Vgl. Kittler, Friedrich A. / Schneider, Manfred / Weber, Samuel (Hrsg.), Diskursanalysen 1: Medien, Opladen, Wiesbaden 1987. Kittler, Friedrich A., Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985; ders., Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986; Siegert, Bernhard, Relais. Geschichte der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913, Berlin 1993; Dotzler, Bernhard, Diskurs und Medium. Zur Archäologie der Computerkultur, München 2006. Vgl. Runte, Biographische Operationen; Mehlmann, Sabine, Unzuverlässige Körper. Zur Diskursgeschichte des Konzepts geschlechtlicher Identität, Königstein Ts. 2006. Ludewig, Karin, Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler, Frankfurt a. M., New York 2002; Lösch, Andreas / Schrage, Dominik / Spreen, Dierk / Stauff, Markus (Hrsg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001; Schulte-Holtey, Ernst, „Körper/Figuren. Zur interdiskursiven Konstitution elementaren Wissens“, in: Marion Heinz / Friederike Kuster (Hrsg.), Geschlechtertheorie – Geschlechterforschung. Ein interdisziplinäres Kolloquium, Bielefeld 1998, S. 63–82. Vgl. Link, Jürgen, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, mit einem Beitrag von Jochen Hörisch u. Hans-Georg Pott, München 1983; ders., „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik“, in: Fohrmann / Müller (Hrsg.), Diskurstheorien, S. 284–307.
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fahren wie Metapher, Symbol, Allegorie, insbesondere aber solche, die als Kollektivsymbole von jedermann gebildet und verstanden werden können. Weiter gehören zu solchen Diskurse verbindenden Verfahren narrative Schemata, Mythen und Charakterbilder. Sie bilden in ihrer Gesamtheit den allgemeinen interdiskursiven Rahmen eines Diskurssystems. Interdiskurse stellen somit eine Art Reservoir von Anschauungsformen für die notwendige Kodierung spezialdiskursiver Sachverhalte und ‚Halbfertigfabrikate‘ bereit, auf die auch die Produktion literarischer Texte angewiesen ist.44 Bei solch interdiskursiver Kodierung lassen sich nun relativ stabile, immer wiederkehrende Teilstrukturen auch empirisch identifizieren, z. B. Kollektivsymbole wie ‚Organismus‘, ‚Körper‘, ‚Schiff‘, ‚Auto‘, ‚Deich/ Flut‘ usw., die zwar mit verschiedenen Spezialdiskursen verbunden sein können (so z. B. ‚Organismus‘ und ‚Körper‘ mit der medizinischen Wissenschaft), die aber jenseits solcher Spezialität in verschiedensten Diskursen und zugleich durch unterschiedlichste soziale Träger verwendet werden. Sie verbinden gesellschaftliche Praxisbereiche und schließen sie zugleich an Alltagserfahrungen an. Semiotisch besehen sind solche Kollektivsymbole komplexe, ikonisch motivierte, paradigmatisch expandierte Zeichen, die eine Bildseite (‚Pictura‘) und eine Seite des eigentlich Gemeinten (‚Subscriptio‘, ‚Sinn‘) vereinen. Diskurstheoretisch betrachtet stellen sie Kopplungen von Spezialdiskursen dar. In ihrer Gesamtheit bilden sie ein sich historisch zwar modifizierendes, synchron jedoch relativ stabiles und in sich kohärentes System, was daraus resultiert, dass sie sowohl auf Seiten der Pictura als auch der Subscriptio zu paradigmatischen Äquivalenzklassen tendieren. Denn einmal können Picturaelemente aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen bei beibehaltenem ‚Sinn‘ untereinander ausgetauscht werden. So lässt sich ein Gesellschaftssystem mal als Fahrzeug (Auto, Boot, Flugzeug, Zug oder Fahrrad) symbolisieren, dann aber auch als Organismus (mit Kopf, den verschiedenen Gliedmaßen, dem Blutkreislauf usw.). Daraus ergeben sich Ketten von Bildern. Zweitens nun können verschiedenste Sachverhalte unter einem Bild subsumiert werden. ‚Flut‘-Symbole stehen gleichzeitig für Wassermassen, Flüchtlinge, Fußballfans und Autokolonnen bei Beginn der Sommerferien. Aus diesen beiden Strukturachsen resultiert insgesamt der Charakter der Kollektivsymbolik als ein komplexes, synchrones System, das zwar aus vielen einzelnen Symbolen besteht, die 44
Vgl. Turk / Kittler, „Einleitung“, S. 38, die von solchen Diskurselementen als „Wiedergebrauchsreden“ sprechen.
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aber untereinander in Beziehung gesetzt sind. In konkreten Texten wird daher der fortlaufende Bildbruch (Link spricht von „Katachresenmäander“45) den Normalfall des integrierenden Ins-Spiel-Bringens verschiedenster gesellschaftlicher Praxisbereiche bilden. Literatur ist aus der Perspektive der Interdiskurstheorie demnach als ein Spezialdiskurs zu beschreiben, dessen vorrangige Aufgabe darin besteht, interdiskursive Elemente und als deren kohärente Vernetzung ganze Interdiskurse zu produzieren. (‚Kultur‘ wäre analog dazu als das immer wieder neu integrierte Ensemble ausdifferenzierter moderner Wissensbereiche zu verstehen und ‚elementare Kultur‘ als das alltagskonstitutive Integralwissen über die Einzelsektoren hinweg.)46 Der Literatur kommt aus interdiskurstheoretischer Sicht somit ein quasi paradoxer Status zu: Einerseits ist sie als Spezialdiskurs zu beschreiben, da sie eigenen Formationsregeln unterliegt (z. B. dem tendenziellen Gesetz der ästhetischen Innovation); andererseits greift sie, da sie ja kein genuin eigenes Thema hat, in besonders hohem Maße auf diskursübergreifende Elemente der beschriebenen Art zurück, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens ‚extensiv‘ durch enzyklopädische Akkumulation von Wissen (viel Wissen aus verschiedensten Sektoren nebeneinander aufstellen; zweitens ‚intensiv‘ dadurch, dass polyisotopes (mehrstimmiges, d. h. auch mehrdeutiges) Diskursmaterial so verwendet wird, dass die Ambivalenzen und semantischen Anschlussmöglichkeiten noch gesteigert werden und im Extremfall die gesamte Struktur der Spezial- und Interdiskurse einer Kultur ins Spiel gebracht wird. Das Hand-in-Hand-Gehen von extensiver und intensiver Re-Integration des in Spezialdiskursen zirkulierenden Wissens ist in der institutionalisierten Kunstliteratur der Regelfall, wofür Goethes Faust II exemplarisch ist, in dem Vulkanismus- und Neptunismustheorien mit anderer Literatur (z. B. Chamissos Peter Schlehmil ), orientalischen Märchen und aktuellen Technikentwicklungen verknüpft wird.47 Was die Methodik angeht, setzt interdiskurstheoretisches Arbeiten zunächst stets die Rekonstruktion desjenigen Diskurssystems oder derjeni-
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Vgl. dazu Link, Jürgen, „Faust II, gelesen als Katachresenmäander der europäischen Kollektivsymbolik“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 3/1983, S. 51–56. Vgl. Link, Jürgen, „Zur Frage, was eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Literaturdidaktik bringen könnte“, in: kultuRrevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 45–46/2003, S. 71–78. Vgl. Link, „Faust II“.
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gen diskursiven Formation voraus, innerhalb derer ein zu analysierender literarischer Text in seiner Spezifik zu situieren ist. Diese Rekonstruktionsarbeit kann den gesamten Fächer der Spezial- und Interdiskurse einer Zeit umfassen oder auch nur den Gebrauch eines einzelnen Diskurselementes, etwa eines einzelnen Kollektivsymbols. Dieses Vorgehen impliziert immer auch eine gewisse empirische Komponente, denn interdiskursive Regularitäten werden – wie alle Regularitäten diskursiver Formation – erst in der Serialität des Materials und der sich wiederholenden Befunde als solche sichtbar. Im nächsten Schritt ist dann zu analysieren, welche Praxisbereiche jeweils integriert werden und in welchem Verhältnis dieses Projekt partiell-imaginärer Integration zum Diskursfächer der Zeit steht. Bestätigt es ihn? Entwirft es eine Alternative? Stellt es eine Art Putsch oder eine kulturelle Revolution dar? Weiter ist mit Blick auf die jeweils verwendeten interdiskursiven Elemente selbst zu fragen, ob sie kohärent verwendet werden, etwa indem sie mit konstant bleibenden Wertungen verknüpft sind. Dann würde man diese kohärente Verwendungsweise eines ganzen Ensembles von Interdiskurselementen als einheitliche ‚diskursive Position‘ bezeichnen können. Von hier aus lässt sich dann eine interdiskurstheoretische Alternative zum theoretisch nicht immer überzeugenden Ideologiebegriff entwickeln und auch der Zusammenhang von Texten, diskursiven Positionen und (Lese-)Publikum erforschen.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die wichtigsten Leistungen der Diskursanalyse innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft liegen darin, den älteren Werk- und Autorbegriff energisch hinterfragt und den Textbegriff noch einmal wesentlich erweitert zu haben, wodurch plötzlich ganz neue und zumindest bisher weitgehend unbeachtete Korpora auch für die Literaturwissenschaften interessant wurden, sodass sie in Richtung einer übergreifend angelegten Kulturwissenschaft anschlussfähig werden konnte. Damit kann die Diskusanalyse sich als Verdienst anrechnen, eine im Vergleich mit anderen durchaus langlebige theoretische Perspektive schon früh eingenommen und gefördert zu haben, was unter anderem dem New Historicism, insbesondere Stephen Greenblatt, vorgearbeitet hat. Immer wieder gegen Foucault und die Diskursanalyse ins Feld geführt wird, dass er keine stringente Terminologie habe, sondern zugunsten von Beispielanalysen weitgehend auf Definitionen verzichte, zwar Machtkritik betreibe, allerdings ohne daraus Konsequenzen für Veränderungen zu zie-
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hen, und schließlich das handelnde Subjekt geradezu eliminiere.48 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive werden diese Kritikpunkte in der Regel als Ausklammerung des textschöpferisch handelnden Autorsubjekts bzw. als Unfähigkeit zur Erfassung der je ästhetischen Besonderheit des literarischen Kunstwerks artikuliert. Die Diskursanalyse könne die literarischen Texte stets nur den übergreifend gültigen diskursiven Regularitäten und Zwängen subsumieren, womit das eigentlich Wichtige, die Individualität des einzelnen Textes, verloren gehe. Hier wäre allerdings deutlicher zu unterscheiden zwischen den Arbeiten des frühen Foucault, der Literatur immerhin als grenzüberschreitenden Gegendiskurs verstanden und ihr so einen besonderen Status eingeräumt hat, und den zwar von Foucault ausgehenden, ihn aber um so entscheidende Elemente wie die Ebene des Interdiskurses und diejenige differierender diskursiver Positionen erweiternden literaturwissenschaftlichen Ansätzen. Gerade diese diskursanalytischen Ansätze sind zudem semiotisch fundiert und haben mit der Literarizität von Texten ihre Unverwechselbarkeit durchaus im Blick. Trotz der vielfältigen diskursanalytischen Forschungen in den letzten drei Jahrzehnten bleibt die Frage zu stellen, ob bereits alles erforscht ist, oder es Gegenstände und Themen gibt, die näher zu untersuchen sich gerade mit einem diskurstheoretischen Instrumentarium anbietet. Zu den Desideraten gehört eine übergreifendere Arbeit, die in diachroner Perspektive Grundlinien der Entwicklung der Kollektivsymbolsysteme vom 18. Jahrhundert bis heute aufzeigen und damit zugleich die Entwicklung der Interdiskurse sichtbar machen würde, was eventuell sogar in Form einer nach Trägerschaften differenzierten Analyse geschehen könnte. Die vielen vorhandenen Einzelstudien zur Kollektivsymbolik49 müssten dazu ausgewertet und zusammengeführt werden. Damit wäre zugleich die Basis für eine Alternative zu herkömmlichen Modellen von Literaturgeschichtsschreibung geschaffen, denn als Evolutionsgeschichte von Interdiskursen würde das Augenmerk nicht mehr auf Epochenkonstrukte und deren Abgrenzung, sondern auf der Frage nach diskursiven Transformationsprozessen liegen. Weiter ließe sich, was bisher auch erst ansatzweise geschehen ist, auf diskursanalytischer Basis eine neue Form 48
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Vgl. exemplarisch Frank, Was ist Neostrukturalismus; sowie die Liste der Kritikpunkte bei Müller-Funk, Wolfgang, Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften, Tübingen, Basel 2006, S. 211. Vgl. die Einträge in Parr, Rolf / Thiele, Matthias, Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten ‚Interdiskurs‘, ‚Kollektivsymbolik‘ und ‚Normalismus‘ sowie einigen weiteren Fluchtlinien. Jürgen Link zum 65. Geburtstag, Heidelberg 2005.
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von Genretheorie entwickeln.50 Last but not least ist die Chance zu kulturvergleichenden Analysen von Interdiskursen, speziell von Kollektivsymbolsystemen, bisher erst wenig genutzt worden. So ließe sich fragen, ob das europäische und das amerikanische System der Kollektivsymbole identisch sind oder wo die Differenzen gegenüber dem deutschen liegen, was dann wieder Rückschlüsse auf die unter den jeweiligen ‚Symbolbedingungen‘ entstehende Literatur erlauben würde. Das Gleiche wäre auch für die europäische Binnenperspektive zu leisten. Schließlich wäre zu fragen, ob sich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung ansatzweise so etwas wie ein ‚internationaler Interdiskurs‘ herausbildet, der dann die Basis für eine neue Form von ‚Weltliteratur‘ darstellen würde. Obwohl für den Bereich der (germanistischen) Medienwissenschaft in den beiden letzten Jahren eine regelrechte Konjunktur der Diskursanalyse zu verzeichnen ist,51 gibt es auch hier offene, sich für ein diskursanalytisches Vorgehen eignende Forschungsfelder. So fassen neuere Publikationen Medien vermehrt als diskursiv produzierte Gegenstände auf,52 was den Medienbegriff gegenüber linearen Modellen der Informationsübermittlung insgesamt offener für variable Bedeutungszuweisungen macht.53 Da die Interdiskursanalyse seit den 1970er-Jahren zunächst vorwiegend an Printmaterial, wenn auch durchaus schon unter Einbezug von Bildern, entwickelt wurde, ist die Frage nach den dynamisch gemachten, erzählten und visualisierten Kollektivsymbolen des Fernsehens erst ansatzweise angegangen worden.54 Zu fragen wäre etwa, was für solche medialen Bereiche wie Fernsehen, Video, Internet überhaupt die verbindenden Interdiskurselemente sind.55 Die Ergebnisse ließen sich 50 51 52
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Vgl. ansatzweise Link / Link-Heer, Literatursoziologisches Propädeutikum, S. 377–415. Vgl. Fahle, Oliver / Engell, Lorenz, Philosophie des Fernsehens, München 2006. Vgl. als aktuelle Beispiele Thiele, Matthias, Flucht, Asyl und Einwanderung im Fernsehen, Konstanz 2005; Stauff, Markus, ‚Das neue Fernsehen‘. Machtanalyse, Gouvernementalität und Digitale Medien, Hamburg, Münster 2005. Bleicher, Joan Kristin, „Abschiede von der Wirklichkeit. Aktuelle Frontlinien der medien- bzw. kommunikationswissenschaftlichen Fernsehforschung seit 2005 – eine Sammelrezension“, in: Medien & Kommunikationswissenschaft, 54/2006, 4, S. 654–665, hier S. 6. Vgl. Thiele, Flucht; Rolf Parr, „Börse im Ersten: Kollektivsymbole im Schnittpunkt multimodaler und multikodaler Zeichenkomplexe“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 54/2007, 1, S. 54–70. Parr, Rolf / Thiele, Matthias, „Eine ‚vielgestaltige Menge von Praktiken und Diskursen‘. Zur Interdiskursivität und Televisualität von Paratexten des Fernsehens“, in: Klaus Kreimeier / Georg Stanitzek (Hrsg.), unter Mitarbeit von Natalie Binczek, Paratexte in Literatur, Film und Fernsehen, Berlin 2004, S. 261–282.
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wiederum für die Analyse von Literatur/Medien-Beziehungen nutzen und würden so in die Literaturwissenschaften zurückwirken.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Link, Jürgen, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, mit einem Beitrag von Jochen Hörisch u. Hans-Georg Pott, München 1983. Der Band versammelt Aufsätze aus den 1970er-Jahren, die es ermöglichen, die Genese der semiotisch-struktural fundierten Interdiskursanalyse nachzuvollziehen, wobei neben theoretisch angelegten Texten auch Fallstudien zu einzelnen interdiskursiven Elementen (wie dem Kollektivsymbol ‚Ballon‘) und einzelnen literarischen Texten (Brecht, Malinowski, Hölderlin, Schiller) stehen. Abgeschlossen wird der Band durch die zwischen Link auf der einen und H.G. Pott/J. Hörisch auf der anderen Seite kontrovers geführte Diskussion ‚generative‘ versus ‚hermeneutische‘ Diskursanalyse, die bereits die vermittelnde Position eröffnet, die dann die historische Diskursanalyse (K.-M. Bogdal) einnimmt. Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hrsg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988. Nimmt man die 1977 erschienenen Urszenen (H. Turk/F. Kittler) als Beginn, so zieht dieser Band nach einem Jahrzehnt diskursanalytischen literaturwissenschaftlichen Arbeitens im Anschluss an Foucault und auch Derrida (weniger Lacan) eine erste Bilanz, prüft die Tragweite des Ansatzes in exemplarischen Einzelanalysen und fragt zugleich nach zukünftigen Perspektiven. Zudem enthält der Band mit den Beiträgen von J. Link („Literaturanalyse als Interdiskursanalyse“), G. Plumpe („Kunst und juristischer Diskurs“) und J. Kolkenbrock-Netz („Diskursanalyse und Narrativik“) gleich mehrere Beiträge, die zu kanonischen Texten der Forschung geworden sind. Bogdal, Klaus-Michael, Historische Diskursanalyse der Literatur, Opladen, Wiesbaden 1999 (2. Aufl., Heidelberg 2007). Der Band integriert eine Reihe von Aufsätzen aus den 1990er-Jahren, wobei gegenüber der Interdiskursanalyse der differenzierende Aspekt im „produktiven“ Anschluss an hermeneutische und im Weiteren an philologische Verfahren überhaupt liegt, etwa in der Verknüpfung von Textnähe und historischer Darstellung (S. 7).
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Geisenhanslüke, Achim, Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault, Heidelberg 2007 (1. Aufl., Opladen, Wiesbaden 1997 unter dem Titel Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung). Geisenhanslüke geht dem Verhältnis von Literatur und Diskursanalyse bei Foucault in zweifacher Weise nach, indem er erstens die Funktion der Literatur im Hinblick auf Foucaults eigenen Theoriebildungsprozess von den frühen Schriften bis hin zur Geschichte der Sexualität untersucht, zweitens die Stellung der Diskursanalyse mit Bezug auf die konkurrierenden Theoriemodelle, insbesondere Hermeneutik und Kulturwissenschaften, zum Gegenstand macht.
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Editionswissenschaft von R ÜDIGER N UTT-K OFOTH
1. Definition Die Editionswissenschaft ist eine philologische Teildisziplin der Geistesund Kulturwissenschaften. Sie beschäftigt sich mit Theorie und Praxis der ‚Herausgabe‘ (lat.: ‚editio‘) von (zuvorderst literarischen) Texten, das meint zugleich auch die Präsentation von Fassungen, Textstadien, Varianten und der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte sowie etwaiger Kommentare. Die auf editionswissenschaftlicher Grundlage erarbeiteten Ausgaben, insbesondere die so genannte ‚historisch-kritische‘ oder die ‚kritische Ausgabe‘, bilden die Grundlage jeder weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit den so edierten Texten. Daher stellt die Editionswissenschaft ein Basiselement aller mit Texten arbeitenden wissenschaftlichen Fächer dar, für die Germanistik gilt sie als ein disziplinärer Kern. Sie ist durch eine reiche Methodengeschichte geprägt.
2. Beschreibung Im Folgenden sollen mit wissenschaftsgeschichtlichem Fokus methodische Entwicklungen innerhalb der germanistischen Editionswissenschaft vorgestellt und einige transdisziplinäre Verknüpfungen markiert werden. Schon der historische Anfang der germanistischen Editionswissenschaft ist ein interdisziplinärer, und zwar im Sinne einer Ableitung. Als sich die Germanistik im frühen 19. Jahrhundert – im Zusammenhang mit dem zunehmenden Interesse an der Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums – als universitäres Fach zu entwickeln begann, gab es kaum verlässliche Druckfassungen der alt- und mittelhochdeutschen Literatur. Insofern die sich etablierende Germanistik ihre Objekte, die literarischen oder sprachgeschichtlichen Dokumente, nun erstmalig beschaffen und im Druck herausgeben musste, bildete das editorische Arbeiten auch ein historisches Fundament des neuen Faches. Dass die junge Ger-
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manistik dazu auf die Verfahren der seit Jahrhunderten gepflegten Altphilologie zur Konstitution von Texten der Antike (einschließlich der Bibelkritik) zurückgriff, kann in zweifacher Hinsicht als eine notwendige Ableitung verstanden werden: Zum einen konnte das neue Fach durch den Rückgriff auf erprobte gelehrte Verfahren etwaigen Zweifeln an seiner Wissenschaftlichkeit begegnen, zum anderen gab es schlicht kein anderes weit anerkanntes Vorbild, das hätte benutzt werden können. So konnte Karl Lachmann in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf der Basis altphilologischer Methodik ein Verfahren der ‚Textkritik‘ entwickeln, das als die ‚Lachmann’sche Methode‘ nachhaltige Wirkung auf die folgende Editionstätigkeit ausübte. Lachmann selbst hat das Verfahren nicht zusammenfassend dargestellt, erst weit später ist es von anderen systematisch aufgearbeitet worden. Lachmanns wesentliche Leistung bestand in der Abkehr vom bis dato vor allem üblichen Rückgriff auf den ‚textus receptus‘ für den Textabdruck, ein Verfahren, bei dem auf weitergehende Handschriftenvergleiche verzichtet wurde. Stattdessen betonte Lachmann die Notwendigkeit einer strikten wissenschaftlichen Recensio durch Sammlung, Überprüfung und Vergleichung der überlieferten Textträger. Da Lachmann sein Verfahren sowohl auf antike Texte als auch auf Texte mittelalterlicher deutscher Autoren sowie zugleich auf Texte eines neueren deutschen Autors anwandte, konnte es als ein editorisches Universalverfahren erscheinen. Entscheidende Voraussetzung von Lachmanns Textkritik ist die Überlieferungslage mittelalterlicher deutscher Texte, die – wie auch die Texte der Antike – ganz überwiegend ohne Beteiligung des Autors in Jahrzehnte oder Jahrhunderte später angefertigten, autorfremden Abschriften tradiert, deren Originale hingegen nicht erhalten sind. Lachmanns Ziel ist es, den Text des Originals aus den Abschriften wiederherzustellen, denn die überlieferten Abschriften gelten ihm als Dokumente einer zunehmenden Textüberfremdung durch Fehler, Ergänzungen, Fortlassungen oder sonstige Eingriffe der Abschreiber, die im textkritischen Prozess wieder rückgängig gemacht werden müssen. Dazu müssen sämtliche erhaltenen Abschriften auf ihre Abhängigkeiten voneinander geprüft werden, wobei die Handschriften durch die Feststellung von Übereinstimmungen und Abweichungen zu einem ‚Stemma‘ (grafische Darstellung des Beziehungssystems der Handschriften in Form eines Stammbaums) geordnet werden. Hilfreich dafür sind die so genannten ‚Leitfehler‘, die anzeigen, an welcher Stelle des ‚Stemmas‘ sich die Überlieferung verzweigt (‚Trennfehler‘) und welche Handschriften durch gleiche Fehler in einen Stemmastrang gehören (‚Bindefehler‘). Dadurch können die eine oder
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die wenigen Handschriften ermittelt werden, die von keiner anderen erhaltenen Handschrift abhängig sind. Durch deren Vergleich sowie durch die textkritischen Verfahren von Emendation (sichere Verbesserung) und Konjektur (begründete Vermutung über den richtigen Wortlaut) wird nun nicht der Text des Originals, sondern der des so genannten Archetyps hergestellt, das heißt der aufgrund der Überlieferung letztmöglichen Erschließungsstufe als der weitestmöglichen Annäherung an das Original. Die Zielsetzung verdeutlicht somit das Anliegen des ‚Rekonstruktionsverfahrens‘: Der unverfälschte, ursprüngliche Autortext soll wiederhergestellt werden. Dieses Verfahren ist jedoch mit einer Reihe von Unwägbarkeiten und vereinfachenden Vorannahmen verbunden, die nicht immer der Überlieferungslage gerecht werden. Insbesondere lässt sich eine glatte stemmatische Rekonstruktion des Überlieferungsverlaufs und der Abhängigkeitsverhältnisse nur dann herstellen, wenn die einzelnen Abschriften keine, für die mittelalterliche Überlieferung nicht unübliche Textmischung (Kontamination) aus verschiedenen Handschriften aufweisen. Nach Joseph Bédiers auf französischsprachige Texte bezogener Intervention gegen die Lachmann’sche Methode in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat für die Germanistik insbesondere Karl Stackmanns wirkungsmächtiger Aufsatz von 19641 die Kritik am Rekonstruktionsverfahren nachhaltig verstärkt. Stattdessen begann sich seitdem das ‚Leithandschriftenverfahren‘ verstärkt durchzusetzen, dessen Vorformen sich schon vor Lachmann, aber etwa auch in den von Lachmann abschätzig beurteilten Editionen seines Zeitgenossen Friedrich Heinrich von der Hagen finden und das dann modellhaft seit Anfang des 20. Jahrhunderts in der von Gustav Roethe begründeten und bis heute fortgesetzten Reihe Deutsche Texte des Mittelalters eingeführt wurde. Unter Anwendung textkritischer Operationen ist das Ziel des Leithandschriftenverfahrens nicht die Rekonstruktion des verlorenen Autororiginals, sondern die Herstellung eines Textes nach der besten der überlieferten Handschriften. Dieses Verfahren steht damit dem faktisch Überlieferten näher als die strenge Rekonstruktionsmethode. Zugleich dämmte es mit seiner stärkeren Orientierung am vorgefundenen Text das Überhandnehmen der Konjekturfreudigkeit, für die als prominentes Beispiel Carl von Kraus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht, ein. 1
Vgl. Stackmann, Karl „Mittelalterliche Texte als Aufgabe“, in: William Foerste / Karl Heinz Borck (Hrsg.), Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag, Köln, Graz 1964, S. 240–267.
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Einen Schritt weiter geht das in den 1970er-Jahren – insbesondere im Zusammenhang mit dem zunehmenden Interesse für mittelalterliche Gebrauchstexte – entwickelte Verfahren der ‚überlieferungskritischen‘ bzw. ‚textgeschichtlichen Edition‘. Es orientiert sich verstärkt an den zu einer bestimmten Zeit tatsächlich gelesenen Formen von Texten, berücksichtigt also explizit die Redaktionen der Schreiber für die Textedition. Damit hatte sich in der mediävistischen Germanistik eine methodische Verschiebung vollzogen, die durch eine Verlagerung der editorischen Zielsetzung vom originalen, aber durch die Überlieferungslage häufig nur schwer wiederzugewinnenden Autortext hin zu den erhaltenen und rezipierten bzw. einfacher zu ermittelnden späteren Überlieferungszuständen eines Textes gekennzeichnet ist. Jedoch haben sich die Verfahren in der Folgezeit nicht abgelöst, sondern wurden nebeneinander verwendet. Methodengeschichtlich lässt sich dies als die Alternative von ‚autororientierter‘ und ‚textorientierter Textkritik‘ oder anders akzentuiert von ‚originalorientierter‘ und ‚überlieferungsorientierter Textkritik‘ beschreiben. Der somit entwickelte differenzierte Blick auf die Überlieferung mittelalterlicher Texte ermöglichte also, die erhaltenen Abschriften nicht allein als Ausdruck von Textverschlechterung, sondern auch als rezeptionshistorische und mit zeitgenössischen Wirkungsintentionen versehene Dokumente zu verstehen. Diese Perspektive wurde gestützt durch die vertiefte Einsicht in die Überlieferungsgeschichte der einzelnen Texte. Die Veränderungen in den verschiedenen Abschriften ließen sich unter dem Begriff der ‚mouvance‘ schon seit den 1970er-Jahren2 – nun nicht mehr negativ gewertet – als Wanderung von Textelementen beschreiben. Verstärkt (und radikalisiert) wurde diese Perspektive auf die Überlieferung mit der expliziten Akzentuierung der ‚variance‘ durch die auf Theorien der Postmoderne fußende französisch-amerikanische ‚New Philology‘ in den späten 1980er- und den 1990er-Jahren, die im ‚unfesten Text‘, in der ‚Varianz‘ das unhintergehbare Merkmal der mittelalterlichen Überlieferung sieht. Zugleich konnten im Sinne einer ‚Material Philology‘ die einzelnen Textträger als die Orte, an denen sich die Varianz in ihrer je spezifischen Beschaffenheit zeigt, nachdrücklicher in den Vordergrund gerückt werden. Der von der ‚New Philology‘ erhobene Anspruch des Neuen ließ sich zwar mit Verweis auf die editorische Methodengeschichte der germanistischen Mediävistik erheblich relativieren, doch ergab sich 2
Zum Begriff ‚mouvance‘ vgl. Zumthor, Paul, Essai de poétique médiévale, Paris 1972, S. 507.
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aus den Veränderungen in der Perspektive auf den mittelalterlichen Text nun die Möglichkeit, in stärkerem Maße synoptisch-parallelisierte Fassungen literarischer Texte in der Edition zu präsentieren, am nachhaltigsten diskutiert anhand von Joachim Bumkes Verfahren zur Edition der Nibelungenklage Ende der 1990er-Jahre. Die Kriterien für die Edition mittelalterlicher deutscher Texte waren damit intensiv in den Kontext der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion eingebunden. Faktoren wie die Opposition von ‚Mündlichkeit‘ und ‚Schriftlichkeit‘ und der damit einhergehende Aspekt der ‚Performanz‘ sowie die wieder neu akzentuierte Frage nach dem mittelalterlichen Autor konnten nun je nach Überlieferungslage für die Edition mit berücksichtigt werden. Die germanistische Neuphilologie hat sich anderen, von der Mediävistik zu unterscheidenden methodischen Fragen zu stellen. Das liegt an der andersartigen Überlieferung von Texten neuerer Autoren. Hier sind in aller Regel eigenhändige Handschriften, Typoskripte etc. des Autors und/ oder vom Autor kontrollierte oder gebilligte Drucke erhalten. Folglich entfällt die Notwendigkeit einer Rekonstruktion des verlorenen Autortextes. Dennoch ist das stemmatische Verfahren zur Bestimmung der Textträgerverhältnisse auch in der Neuphilologie von Bedeutung, doch nun nicht als ‚genealogisches‘, sondern als ‚genetisches‘ Verfahren, indem es nicht Abhängigkeiten zunehmend autorfernerer Abschriften darstellt, sondern die Textproduktion des Autors von den ersten Notizen über die Entwürfe, die Reinschrift bis hin zum Druck etc. widerspiegelt. Diese kategoriale Differenz der Überlieferungslage konnte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert erst langsam erkannt werden, was nicht nur an der Tatsache lag, dass Karl Lachmann auch einen neueren Autor (Lessing) nach seinen an der Edition antiker und mittelalterlicher Texte entwickelten Prinzipien ediert hat, sondern auch daran, dass die neuere Literatur erst nach und nach ein Gegenstandsbereich des neuen universitären Faches der Germanistik wurde. Statt des mediävistischen Fokus auf verlorene Handschriften und ihre etwaige Rekonstruktion stellt sich der neugermanistischen Editionswissenschaft aufgrund der Überlieferungslage ihrer Texte eine andere Aufgabe. Für neuere Autoren sind nämlich vielfach verschiedene, vom Autor hergestellte ‚Fassungen‘ eines Werks, etwa die eines Entwurfs, einer Reinschrift, einer Druckfahne oder eines Drucks erhalten, die dem Editor nun zur ‚Textkonstitution‘ des so genannten edierten Texts dienen, also für den Text, der im Vollabdruck zur Rezeption angeboten wird. Bis in die 1950er-Jahre konnte z. B. in der ersten Phase der Goethe-
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Akademie-Ausgabe (1952–1959; 2. Phase bis 1967, abgebrochen; nachfolgend Einzelbände) noch die Herstellung des ‚besten Textes‘ eine Leitvorstellung der Edition bilden, doch setzte sich danach die Einsicht durch, dass die vom Autor hergestellten verschiedenen Fassungen je historische Ausprägungen des Werks sind und nicht miteinander vermischt (kontaminiert) werden sollen. Stattdessen wählt der Editor eine der überlieferten Fassungen als Grundlage der Textkonstitution des edierten Textes. Dabei wird im Regelfall – soweit vorhanden – auf die Druckfassung zurückgegriffen, doch wurde auch diskutiert, ob wegen der möglichen Überfremdung des Drucktextes durch Dritte, die am Produktionsprozess beteiligt sind (z. B. Redakteure, Setzer, Drucker), die reinschriftliche Druckvorlage des Autors oder – falls vorhanden – die vom Autor durchgesehene Druckfahne benutzt werden sollte. Bei Zugrundelegung der Reinschrift erhielte man einen vom Autor in allen Einzelheiten hergestellten Text, bei Verwendung der Druckfahne einen vom Autor durchgesehenen und gebilligten Text. Als Argument für den direkten Rückgriff auf den Druck lässt sich anführen, dass hiermit die in die Öffentlichkeit gelangte und historisch rezipierte Fassung geboten würde. Wenn Autoren unterschiedliche Fassungen eines Werks in weiter auseinanderliegenden Zeitabschnitten herstellen, muss der Editor zudem entscheiden, ob er die frühere oder die spätere Fassung als edierten Text wiedergibt. Diese Frage ist unter dem Stichwort ‚frühe Hand – späte Hand‘ diskutiert worden. Das Paradigma dieser Diskussion war Goethe. Er hatte in seiner von ihm selbst so betitelten Ausgabe letzter Hand (1827–1830) die Textbearbeitungen des greisen Autors zur definitiven Rezeption bereitgestellt. Die 143-bändige Weimarer Goethe-Ausgabe (1887–1919) verstand diese Vorgabe Goethes für die Werkabteilung als Verpflichtung. Die Entscheidung der Weimarer Ausgabe hatte durchaus exemplarische Funktion für die folgenden Editionsprojekte. Eine Gegenposition bezog die GoetheAkademie-Ausgabe, die die Werkabteilung der Weimarer Ausgabe ersetzen sollte. Sie legte ihrer Textkonstitution die Fassung des ersten Drucks zugrunde, eine Entscheidung, die zudem noch durch neue Erkenntnisse über die textkritische Beteiligung Goethes an seiner Ausgabe letzter Hand gestützt werden konnte, die sich geringer als angenommen erwies. Die anschließende editionswissenschaftliche Diskussion um die Fassung früher oder später Hand hat das generalistische Entweder-oder allerdings relativiert und die Entscheidung des Editors allein von der jeweiligen Überlieferungssituation des betreffenden Textes abhängig gemacht. Daher gelten heute alle Fassungen eines Textes als ‚historische Textfas-
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sungen‘,3 aus denen der Editor für den edierten Text eine (oder mehrere) mit einer stichhaltigen Begründung frei wählen kann. Mit der Diskussion um die dem edierten Text zugrunde zu legende Fassung verknüpft ist eine Frage, die sich für die neugermanistische Editionswissenschaft methodengeschichtlich als ein wichtiges Innovationsmoment erwiesen hat, nämlich die nach der editorischen Relevanz des ‚Autorwillens‘ oder auch der ‚Autorintention‘. Die Weimarer Goethe-Ausgabe hatte den Autorwillen noch zum Maßstab ihrer Entscheidung bei der Textkonstitution gemacht und damit den historisch letzten Autorwillen für verbindlich erklärt. In der Folgezeit wurde jedoch klar, dass der Autorwille zum einen aufgrund mangelnder Zeugnisse vielfach nicht sicher zu erkennen oder zu erschließen ist und sich zum anderen zu Lebzeiten des Autors durchaus wandelt. Insofern erwies sich die Orientierung an der Kategorie des Autorwillens als zu hypothesenlastig. Um den Editor von solchen interpretatorischen Unwägbarkeiten zu lösen und ihn aus der Abhängigkeit von Autorvorgaben zu befreien, wurde seit den 1960er- und -70er-Jahren an die Stelle des Autorwillens das Prinzip der ‚Autorisation‘ gesetzt. Es arbeitet nicht primär autororientiert, sondern textorientiert, indem es Autorisation als Merkmal der Textqualität versteht, die sich durch die Verfasstheit oder die Billigung eines Textes durch seinen Autor zu einer bestimmten Zeit konstituiert. Das heißt konkret, dass etwa sämtliche vom Autor selbst hergestellten ‚Handschriften‘ seines Werkes ebenso als autorisiert gelten wie alle von anderen produzierten, aber vom Autor geprüften oder gebilligten Abschriften und Drucke. Neuere Diskussionen um den Begriff zeigen jedoch, dass die Bezeichnung sämtlicher eigenhändiger ‚Handschriften‘ als autorisiert deshalb missverständlich ist, weil Autorisation eigentlich ‚Bevollmächtigung‘ bedeutet. Deshalb wurde ‚Authentizität‘ als Ersatzbegriff vorgeschlagen, doch überschneiden sich hier unterschiedliche Begriffsfüllungen. Im Hinblick auf die Echtheit könnte ‚Authentizität‘ den Begriff ‚Autorisation‘ durchaus präzisierend ersetzen, doch wird ‚Authentizität‘ in Teilen der Editionswissenschaft im Sinne von ‚Ursprünglichkeit‘ benutzt und meint dann nur vom Autor persönlich, ohne Beteiligung Dritter niedergeschriebene Texte, schließt also vom Autor beauftragte und geprüfte Abschriften und insbesondere die kontrollierten und/oder gebilligten Drucke aus. Jenseits des Mankos einer luziden Begrifflichkeit im Bereich von ‚Autorisation‘ und ‚Authentizität‘ besteht 3
Vgl. Scheibe, Siegfried, „Zu einigen theoretischen Aspekten der Textkonstitution“, in: editio 5/1991, S. 28–37, hier S. 29.
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jedoch Übereinkunft, dass der Autorwille kein bzw. nicht der alleinige Leitmaßstab für die editorischen Entscheidungen sein kann. Neben der somit gewonnenen Unabhängigkeit des Editors vom Autor bei der Wahl der Fassung für den edierten Text hatte dieser Klärungsprozess auch Folgen für den Begriff des ‚Textfehlers‘ in der neugermanistischen Editionswissenschaft, die sich nun primär text- statt autororientiert verstand. Für die Eruierung von Textfehlern bedeutete dies seit Beginn der 1970er-Jahre, dass nicht mehr nach dem Willen oder der Äußerungsabsicht des Autors gesucht werden sollte, die beim Fehlen konkreter Zeugnisse allemal schwer zu ermitteln sind, sondern dass nun die „Struktur der textspezifischen Logik“ alleiniges Kriterium der Fehlerermittlung wird. Ist diese Struktur gestört, was „bei konventionellen Texten also“ Stellen meint, die „für sich oder im engeren Kontext keinen Sinn zulassen“,4 liegt ein Textfehler vor. Die textorientierte statt autororientierte Vorgehensweise spiegelt sich noch in der Definition, die den Textfehler als ein „stellenweises Aussetzen der Autorisation“ beschreibt, und zeigt damit die enge Zusammengehörigkeit der Begriffsklärungen im Bereich von ‚Textfehler‘ und ‚Autorisation‘. In diesem Sinne soll dann nicht das textkritische Ingenium des Editors, sondern die Untersuchung der physisch-technischen Überlieferungsbedingungen zum maßgeblichen Nachweis eines Textfehlers dienen.5 Dies macht nicht nur deutlich, wie weit dieser Fehlerbegriff durch den Strukturalismus der 1960er-Jahre geprägt wurde, sondern verweist auch auf das Anliegen, zur Ermittlung eines Fehlers statt rein interpretativer Schlüsse bevorzugt objektivierbarere Erkenntnisse über Fakten des technischen Produktionsprozesses heranzuziehen. Können Zweifel beim Fehlernachweis nicht ausgeräumt werden, wurde für den Verzicht eines Eingriffs im edierten Text plädiert.6 Dieser rigide Fehlerbegriff wurde allerdings nicht von allen Editoren geteilt, weil er den textkritischen Spielraum des Editors sehr weit einschränkt. Argumente für einen weiter gefassten Fehlerbegriff sind daher gleichfalls vorgetragen worden. 4
5
6
Scheibe, Siegfried, „Editorische Grundmodelle“, in: Siegfried Scheibe / Christel Laufer (Hrsg.), Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie, Berlin 1991, S. 23–48, hier S. 31. Vgl. Zeller, Hans, „Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung“, in: LiLi, 5/1975, 19 f., S. 105–126, hier S. 118 f. Vgl. Zeller, Hans, „Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition“, in: Gunter Martens / Hans Zeller (Hrsg.), Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München 1971, S. 45–89, hier S. 70–73.
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Weil in der neueren Literatur häufig verschiedene Autorfassungen eines Werks vorliegen, erhielt die Edition nun auch die Aufgabe, die vom edierten Text verschiedenen Fassungen adäquat darzustellen, denn sie repräsentieren die Entstehungs-, die Entwicklungsgeschichte des Werks. Wichtige methodische Schritte dazu konnten erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts getan werden. Voraussetzung war nämlich zunächst, dass die besondere Relevanz dieses Textmaterials im Verhältnis zur Überlieferung von antiker und mittelalterlicher Literatur erkannt wurde, dann dass editionstechnische und methodische Möglichkeiten entwickelt wurden, um dieses Material in der Edition seinem Status gemäß sichtbar zu machen. Die erste maßgebliche Reflexion zur Bedeutung der ‚Textgenese‘ wurde 1924 von Reinhold Backmann vorgetragen7 – mit der nahezu umstürzenden, das traditionelle Verständnis von Edition auf den Kopf stellenden Forderung, nicht den edierten Text, sondern den Apparat zur Hauptaufgabe der Edition zu machen. Backmann selber konnte jedoch keine überzeugenden praktischen Vorschläge für ein entsprechendes Darstellungsverfahren vorlegen. Auch er benutzte den ‚lemmatisierten‘ oder ‚nicht-lemmatisierten Einzelstellenapparat‘ zusammen mit verbalisierten Hinweisen auf Änderungsvorgänge in den Handschriften. Erst mit dem von Friedrich Beißner in den 1930er-Jahren entwickelten Modell einer (treppen-)stufenartigen Darstellung separierter Änderungseinheiten, das in der von ihm herausgegebenen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (1943–1985) wissenschaftsgeschichtlich Epoche machte, gelang der Durchbruch zur lesbaren Darstellung von Varianten. Beißners ‚Stufenapparat‘ benötigte aber weiterhin den edierten Text als Bezugsgröße der Variantenverzeichnung, weil dieser Apparat nur die vom edierten Text abweichenden Stellen nennt. Dies wurde anders in dem von Hans Zeller für die C.F.-MeyerAusgabe (1958–1996) entwickelten ‚synoptischen Apparat‘. Er rubriziert Textänderungen zeilenbezogen. Weil er dabei die vollständig abgedruckte Grundfassung eines Verses als Ausgangspunkt wählt und in den Folgezeilen sämtliche Änderungen vermerkt, stellt dieser Apparattyp die Varianten als Textentwicklung eigenständig dar. Er benötigt von seiner Anlage her keinen edierten Text als Bezugstext, weil die gesamte Textentwicklung und damit auch sämtliche Fassungen selbstständig im Apparat dokumentiert sind. Damit war auch von editionstechnischer Seite 7
Vgl. Backmann, Reinhold, „Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. (Mit besonderer Berücksichtigung der großen Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien)“, in: Euphorion, 25/1924, S. 629–662.
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der Boden für die theoretische Wiederaufnahme und Fortführung von Backmanns Betonung der Textgenese bereitet. Sie schlug sich in der Konzeption eines veränderten editorischen Textverständnisses nieder, das Gunter Martens Anfang der 1970er-Jahre unter den Begriff der ‚Textdynamik‘ fasste. Der Text des Werkes ist in diesem Verständnis nicht mehr durch eine oder mehrere Fassungen repräsentiert, sondern durch die Gesamtheit des überlieferten Textes zu einem Werk. Dieser Text ist in seinem Ganzen durch die Änderungsprozesse, die er im Laufe seiner Entwicklung erfahren hat, gekennzeichnet. Nicht die Statik einzelner Fassungen, sondern die ‚Prozesshaftigkeit‘ der Textgenese charakterisiert den dynamischen Textbegriff. Aus ihm folgt eine weitere Verschiebung der Aufgaben von ediertem Text und Apparat. Der Apparat verselbstständigt sich und wird zum Kern der Edition, der edierte Text wird nur noch als rein optionales Zusatzangebot im Sinne eines separierten Klar- oder Lesetexts verstanden. Konsequenterweise verzichten auch die explizit textgenetischen Ausgaben wie die Heym-Ausgabe (1993) oder die Innsbrucker Trakl-Ausgabe (1995 ff.) vollständig auf ein solches zusätzliches Textangebot und präsentieren den Werktext in seinen verschiedenen Stadien allein durch Textsynopsen. Die Editionswissenschaft als eine mit Handschriften, Drucken etc., also Materialitäten arbeitende Disziplin unterliegt einer nicht hintergehbaren Dichotomie, die methodisch nachhaltig erst zu Anfang der 1970er-Jahre herausgearbeitet wurde: ‚Befund und Deutung‘ bzw. ‚Dokumentation und Interpretation‘. Der Editor findet auf dem Textträger die materialisierten Schriftzeichen vor und muss diesen Ausgangsbefund zunächst feststellen, um aufgrund dessen z. B. genetische Prozesse zu rekonstruieren. Doch zugleich ist das Lesen der Schriftzeichen und das Erkennen von deren räumlicher Ordnung auf dem Textträger schon eine erste Interpretationsleistung, die in die Befundbeschreibung eingeht. Es war eine Leistung der Meyer-Ausgabe, die Befunde – vor allem die Orte, an denen Varianten auf dem Manuskript positioniert waren – in die editorische Diskussion einzubringen. Die in der Meyer-Ausgabe durch zusätzliche Zeichen mitgeteilten Variantenpositionen konnten dann besser vermittelt werden, als die gesamte ‚Topografie‘ der Handschrift durch Faksimiles sichtbar gemacht wurde, wie es D.E. Sattlers Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975/76 ff.) für sämtliche Autorhandschriften vorführt. So kann die Abbildung der Handschrift eine objektiviertere Repräsentation des Originals bilden als jede Beschreibung. Seit Mitte der 1990erJahre hat die breite Ausstattung von Gesamtausgaben mit Faksimiles nicht nur zugenommen (Innsbrucker Trakl-Ausgabe; Marburger Büchner-
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Ausgabe 2000 ff.), sondern auch Raum für einen weiter spezifizierten Textbegriff gegeben. Er findet seinen Ausdruck in der Historisch-Kritischen Kafka-Ausgabe (1995 ff.), in der die nur handschriftlich überlieferten Texte Kafkas allein durch das Manuskriptfaksimile und die mit einigen genetischen Informationen angereicherte diplomatische Umschrift repräsentiert werden. Diesem Textbegriff liegt die Vorstellung zugrunde, dass die handschriftliche Fixierung in Schreibduktus und Topografie genuiner Bestandteil des Textes ist, der daher von seiner materialen Grundlage nicht abgehoben werden kann. Doch existieren die verschiedenen Textbegriffe und ihre editorischen Konsequenzen auch in der Neugermanistik der Gegenwart eher nebeneinander, als dass eines der jüngeren Modelle tatsächlich ältere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Vorstellungen vollständig abgelöst hätte. Der Akzentuierung der Materialität innerhalb der jüngsten neugermanistischen Editionswissenschaft steht aber ein weiteres, seit Mitte der 1990er-Jahre Raum findendes Interesse zur Seite, das das ‚Schreiben des Autors‘ zu einem Untersuchungsgegenstand macht. Durch die Notwendigkeit, die Textgenese zu beschreiben, wurde deutlich, dass die ‚Arbeitsweise des Autors‘ schon deshalb ein Untersuchungsgegenstand der Editionswissenschaft ist, weil dadurch Aufschluss über die Methode oder auch die Technik, die für die Darstellung der Textgenese in der betreffenden Edition am effektivsten ist, erlangt werden kann. In editorischer Rückkoppelung und literaturwissenschaftlicher Erweiterung kann von hier aus – in Anknüpfung an den analytischen Umgang mit Handschriften in der französischen ‚critique génétique‘ – das Manuskript als eigenwertiger Gegenstand der Analyse in den Blick genommen werden.8 Dadurch lassen sich nicht nur Erkenntnisse über den Autor als Schreiber gewinnen, dessen Schreiben etwa als werkgenetisch oder als psychogenetisch klassifiziert werden kann, sondern auch Rückschlüsse auf die editorische Interpretation eines Schreibverhaltens ziehen. So konnte z.B. je nach Editorperspektive der gleiche Autor als rezeptionsorientiert (Goethe, Weimarer Ausgabe; Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe) oder produktionsorientiert (Goethe, Akademie-Ausgabe; Hölderlin, Frankfurter Ausgabe) ediert werden.9 8
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Vgl. Hurlebusch, Klaus, „Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens“. In: Hans Zeller / Gunter Martens (Hrsg.), Textgenetische Edition, Tübingen 1998 (Beihefte zu editio 10), S. 7–51. Vgl. Hurlebusch, Klaus, „Deutungen literarischer Arbeitsweise“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 105/1986, Sonderh., S. 4–42.
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3. Institutionsgeschichtliches Aus historischer Perspektive war die germanistische Editionswissenschaft schon während der Entstehung des Faches Germanistik mit der Sprach- und Literaturwissenschaft verschränkt, indem das editorische Arbeiten die notwendige Grundlage, nämlich die Texte, für die sprachwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Auswertungen bereitstellte. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert firmierte sie daher unter dem Namen ‚Textkritik‘, was auch ihren Aufgabenbereich eingrenzte, nämlich auf die als primäres Ziel verstandene textkritische Herstellung des Werktextes als eines Lesetextes. In der mediävistischen Germanistik wird ‚Textkritik‘ noch bis in die Gegenwart als Name für die Gesamtheit des editorischen Arbeitens verwendet. In der sich sukzessive entwickelnden Neugermanistik zeigte sich dagegen seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie das Spektrum des editorischen Arbeitens durch die im Verhältnis zur Mediävistik andersartige Überlieferung auch andere Bezeichnungen erforderte. So stellt die erste Monografie zum neugermanistischen Edieren, vorgelegt 1924 von Georg Witkowski, ‚Textkritik und Editionstechnik‘ als Begrifflichkeit nebeneinander10 und zeugt damit von der Einsicht, dass die herkömmlichen, aus Altphilologie und Mediävistik übernommenen Darstellungsweisen von Text und Apparat für die Edition neuerer Autoren nicht ausreichen, weil nun die Präsentation der Textgenese auch neue editionstechnische Lösungen verlangte. Aus dieser Erweiterung des editorischen Aufgabenfelds erwuchsen zugleich veränderte Vorstellungen innerhalb der theoretischen Grundlagen des Edierens und damit auch für den Namen des Arbeitsfeldes. Hatte noch der Begriff der ‚Editionstechnik‘ Edieren eher als Handwerk verstanden, entwickelte sich durch die zunehmende Komplexität der theoretischen Überlegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein scharf konturiertes Fachgebiet, dessen Status jedoch unterschiedlich akzentuiert wurde. In der DDR gewann zunehmend die Vorstellung Raum, das editorische Arbeiten sei von den Aufgaben der interpretierenden Literaturwissenschaft zu separieren. In den 1980er-Jahren wurde dies theoretisch begründet und durch die Namensgebung ‚Textologie‘ verdeutlicht.11 10
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Vgl. Witkowski, Georg, Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch, Leipzig 1924. Vgl. Scheibe, Siegfried, „Zum Verhältnis der Edition/Textologie zu den Gesellschaftswissenschaften. Mit einem Anhang: 25 Thesen zur Textologie“, in: Weimarer Beiträge, 33/1987, S. 158–166.
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Das so konstituierte Fach sah seine Aufgabe in der Erarbeitung von Editionen. Diese Tätigkeit wurde als eine dem literaturwissenschaftlichen Umgang mit Texten explizit vorgeschaltete verstanden. Dadurch sollte der Einfluss interpretativer Annahmen auf die Konzeption von Editionen weitgehend verhindert werden. Unverkennbar war so zugleich vor dem Hintergrund der DDR-Wissenschaftspolitik ein Schutzraum geschaffen, in dem sich das editorische Arbeiten den zunehmend ideologisierten Steuerungen der DDR-Germanistik leichter entziehen konnte. Dennoch hatte dies weiten Einfluss auf den Status des Edierens in der Germanistik aller deutschsprachigen Länder, denn die Textologie war so durch eine Vorstellung geprägt, die editorisches Arbeiten als generell objektivierbar verstand. Damit verband sich der Anspruch auf Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Fachs. Außerhalb der DDR wurde diese strenge Konzeption von ‚Textologie‘ jedoch nicht vorbehaltlos betrachtet. Zwar war man sich auch in der westlichen Germanistik seit den 1970er-Jahren über den erlangten Disziplincharakter des editorischen Gebiets bewusst, doch gab man in der Regel den Zusammenhang dieses Fachgebiets mit der Literaturwissenschaft nicht auf. Insofern ist der für diese Richtung benutzte Name ‚Editionsphilologie‘ bezeichnend dafür, dass sich diese mit Edieren beschäftigte Disziplin als Teilgebiet der Philologie, nicht aber als selbstständiges Fach versteht. Damit bleibt berücksichtigt, dass auch editorisches Arbeiten nicht generell interpretationsfrei und vorannahmenlos sein kann. Im fachsprachlichen Gebrauch wird die Bezeichnung ‚Editionsphilologie‘ seit den 1980er-Jahren zunehmend durch ‚Editionswissenschaft‘ ersetzt. Diese jüngere Bezeichnung verdeutlicht eine verstärkte interdisziplinäre Orientierung, spricht für die Konstitution eines theoretisch und praktisch reich ausdifferenzierten Feldes und gibt doch den Zusammenhang mit dem interpretationshaltigen Philologiekonzept nicht auf. Insofern vereinigt ‚Editionswissenschaft‘ Elemente der Konzepte von ‚Textologie‘ und ‚Editionsphilologie‘ und schreibt sie erfolgreich in Hinblick auf eine nicht allein rein germanistische, sondern auch transdisziplinäre und internationale Perspektive fort, was in einer Rückkoppelung zu einer weiteren Schärfung des editorischen Potenzials der Germanistik im Kontext der Kulturwissenschaften führt. Die institutionellen Räume des Edierens sind schon seit den Anfängen der Germanistik vielfältig. Neben den Universitäten waren und sind vielfach die Akademien und die Archive Orte, an denen Editionen erarbeitet werden. Es hat in der Geschichte der Germanistik keine Stelle gegeben, die als eine Art editorisches Zentrum fungiert hätte. Zwar betreuen z.B.
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seit 1904 die damalige Preußische Akademie der Wissenschaften und ihre Nachfolgeorganisationen bis zur heutigen Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Reihe der Deutschen Texte des Mittelalters, auch hat etwa das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar seit der voluminösen Weimarer Goethe-Ausgabe eine ganze Reihe von Editionen zu Autoren der Goethe-Zeit veranstaltet, doch gab und gibt es neben den genannten Institutionen eine vielfältige Editionslandschaft ebenso in anderen institutionellen Kontexten. Insofern bestand niemals die Gefahr einer etwaigen Unifizierung editorischer Vorstellungen, stattdessen kann die so ermöglichte Pluralität der institutionellen Förderer und Träger als eine Voraussetzung für die Entwicklung innovativer Konzepte verstanden werden. Die vehemente Ausdifferenzierung der germanistischen Editionstheorie und -praxis seit den 1970er- und -80er-Jahren stand im Kontext einer neuen internationalen Orientierung, sichtbar geworden vor allem durch Kontakte mit den französischen Analytikern literarischer Handschriften, den ‚généticiens‘ der ‚critique génétique‘, die sich zumeist im 1982 gegründeten I.T.E.M. (Institut des textes et manuscrits modernes) in Paris sammelten. In den späten 1970er- und frühen 80er-Jahren haben drei große Tagungen in deutsch-französischer Kooperation stattgefunden. Der sich intensivierende Austausch über editorische Fragen führte 1985 zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition.12 Sie sieht ihre Aufgabe darin, Foren der editorischen Diskussion zu bieten, und steht allen Interessierten für jedes editorische Anliegen offen. Alle zwei Jahre veranstaltet sie eine große Tagung zu einer zentralen editorischen Fragestellung und fördert zudem kleinere Kolloquien und Initiativen. Großen Wert legt die Arbeitsgemeinschaft auf Interdisziplinarität. Sie führt nicht nur Alt- und Neugermanisten zusammen und stiftet damit Zusammenhänge in der sich zunehmend diversifizierenden Germanistik, sondern unterhält auch intensive Kontakte zu den editorisch arbeitenden Philosophen und Musikwissenschaftlern, die regelmäßig an den großen Arbeitstagungen teilnehmen. Einen eher losen Austausch hat es bisher mit anderssprachigen Philologien gegeben. Allerdings bestehen enge Verbindungen zur European Society for Textual Scholarship (ESTS), der 2001 gegründeten englischsprachigen, Editoren aus ganz Europa (und vereinzelt auch aus Übersee) zusammenführenden Vereinigung. Seit 1994 existiert zudem das Institut für Textkritik e.V. in Heidelberg. Es ist Träger verschiedener Editionsprojekte, insbesondere der Bran12
Weitere Informationen: www.ag-edition.org, mit Links zu anderen editorischen Organisationen.
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denburger Kleist-Ausgabe (1988 ff.) und der Historisch-Kritischen KafkaAusgabe. Deren Herausgeber sind die hauptsächlichen Leiter des Instituts, das auch technische Informationen, insbesondere in Hinblick auf typografische und elektronische Fragestellungen, zur Verfügung stellt.
4. Publikationen Selbstständige Veröffentlichungen in Form von Monografien oder Aufsätzen zu Methodenfragen des Edierens sind im 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rar. In der Regel stellen die Einleitungen oder sonstige Herausgeberbemerkungen in den Editionen selber die Orte da, an denen Hinweise zum Methodischen der jeweiligen Edition erfolgen. Für die Altgermanistik kann allerdings immerhin Lachmanns Abhandlung Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth von 181613 genannt werden, in der zumindest Teile jener Vorstellungen und Begrifflichkeiten angeführt werden, die das Zentrum von Lachmanns Textkritik-Verständnis ausmachen. Es ließe sich eine Reihe weiterer Editionen der nächsten anderthalb Jahrhunderte nennen, doch ist – nach der wichtigen Kritik an der Lachmann’schen Methode in Stackmanns Aufsatz von 196414 und nach Jürgen Kühnels Beitrag zum Status des mittelalterlichen Texts von 197615 – die methodisch besonders innovative 36. Auflage von Des Minnesangs Frühling (1977) hervorzuheben. Deren Herausgeber Hugo Moser und Helmut Tervooren edierten die auf einer langen Editionstradition beruhende Liedersammlung nun konsequent nach dem Leithandschriftenprinzip, was reiche Diskussionen auslöste.16 Kurz darauf war Kurt Ruhs Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis
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Vgl. Lachmann, Karl, Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth, Göttingen 1816, wieder abgedruckt in: ders., Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, Berlin 1876, S. 1–80. Vgl. Stackmann, „Mittelalterliche Texte als Aufgabe“, S. 240–267. Vgl. Kühnel, Jürgen, „Der ‚offene Text‘. Beitrag zur Ueberlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters (Kurzfassung)“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A. Kongreßberichte, 2/1976, 2, S. 311–321. Wiederabdruck der Editionsprinzipien zur 36. Auflage (1977) – die auch die Spezifik des Leithandschriftenverfahrens in dieser Edition, nämlich den möglichen Wechsel der Leithandschrift bei jeder Strophe, erläutern – und des Vorworts zur 37. Auflage (1988) sowie Rezensionen von Burghart Wachinger (1980) und Johannes Janota (1981) in: Bein, Thomas (Hrsg.), Altgermanistische Editionswissenschaft, Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 167–223.
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(1978) erschienen, das die textgeschichtliche bzw. überlieferungskritische Editionsmethode vorstellte, 1985 folgte ein Sammelband zu dieser Editionsrichtung, in dem Georg Steer das Verfahren am Beispiel der ‚Rechtssumme‘ Bruder Bertholds resümierend beschrieb.17 Nachhaltigen Einfluss auf die Diskussionen der germanistischen Mediävistik übten die Thesen der französisch-amerikanischen ‚New Philology‘ aus, die durch Bernard Cerquiglinis Éloge de la variante 1989 initialisiert wurden und durch die Erörterungen in der Zeitschrift Speculum 1990 breite Aufnahme fanden.18 Die germanistische Diskussion reagierte darauf auf der Bamberger Tagung 1991, deren Beiträge an verschiedenen Orten publiziert wurden, von denen hier nur die Veröffentlichung der Plenarvorträge in dem Sammelband Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte von 1993 genannt sei.19 Zustimmung, Relativierung und Ablehnung der von der ‚New Philology‘ vertretenen These über das Varianz-Phänomen mittelalterlicher Texte finden sich in einer Reihe von Beiträgen der Folgezeit,20 doch hat sich der innovative Charakter der These für die Rekapitulation der mediävistischen Editionstätigkeit innerhalb der Germanistik nachdrücklich erwiesen. Nicht von ungefähr erschien innerhalb des ersten Jahrzehnts nach dem Beginn der Diskussion die intensiv besprochene synoptische Edition der Nibelungenklage (1999) von Joachim Bumke, die 17
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Vgl. Ruh, Kurt, „Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis“, in: Ludwig Hödl / Dieter Wuttke (Hrsg.), Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn 26.–28. Februar 1973, Boppard 1978, S. 35–40; Steer, Georg, „Textgeschichtliche Edition“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 37–52. Vgl. Cerquiglini, Bernard, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989; Speculum, 65/1990, S. 1–108. Vgl. Bergmann, Rolf / Gärtner, Kurt (Hrsg.), unter Mitarbeit von Volker Mertens, Ulrich Müller, Anton Schwob, Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.–29. Juni 1991. Plenumsreferate, Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 4). Vgl. u. a. Stackmann, Karl, „Neue Philologie?“, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 398–427; Schnell, Rüdiger, „Was ist neu an der ‚New Philology‘? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik“, in: Martin-Dietrich Gleßgen / Franz Lebsanft (Hrsg.), Alte und neue Philologie, Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), S. 61–95; Bennewitz, Ingrid, „Alte ‚neue‘ Philologie? Zur Tradition eines Diskurses“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 116/1997, Sonderh., S. 46–61; Strohschneider, Peter, „Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘“, in: ebd., S. 62–86.
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durch eine ausführliche monografische Abhandlung vorbereitet, begründet und kontextualisiert wurde (1996).21 Resümierend lässt sich feststellen, dass durch die Intensivierung der fachlichen Erörterung Aufmerksamkeit auf die Breite der germanistischen Editionsmethoden gelenkt werden konnte, die sich etwa in der Publikation zur jüngsten großen Fachtagung der Mediävisten Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion (2005) spiegelt.22 Auch die Methodenfragen der editorischen Neugermanistik fanden ihren Ausdruck fachgeschichtlich zunächst in den Ausgaben selbst und in deren Einleitungen, wenn sie überhaupt explizit zur Sprache kamen. So wiesen Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger in ihrer Vorrede zur Edition von Opitz-Gedichten 1745 auf die methodische Differenz von Varianten bei neueren Autoren im Verhältnis zu denen der Antike hin.23 Während Karl Goedeke im Nachlassband seiner chronologisch geordneten Schiller-Ausgabe 1876 schon erste Hinweise auf die textgenetische Bedeutung der Handschriften gab und deren fotografische Wiedergabe andachte,24 begründeten Herman Grimm und Bernhard Suphan 1887 im ersten Band der Weimarer Goethe-Ausgabe die Ordnung nach Gattungen und den Rückgriff auf die Ausgabe letzter Hand mit der Orientierung am Willen des Autors.25 Dabei hatte Michael Bernays in der für seine Zeit einmaligen Monografie zur Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes 1866 schon auf die Textverschlechterungen aufmerksam gemacht, die Goethes Drucktexte zu Lebzeiten des Autors er21
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Vgl. Die ‚Nibelungenklage‘. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hrsg. von Joachim Bumke, Berlin, New York 1999; Bumke, Joachim, Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 8). Vgl. Schubert, Martin J. (Hrsg.), Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.–3. April 2004, Tübingen 2005 (Beihefte zu editio 23). Vgl. Bodmer, Johann Jacob / Breitinger, Johann Jacob, „Vorrede der Herausgeber“, in: Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte, von J. J. B. und J. J. B. besorget, Erster Theil, Zürich 1745, Bl. 2r–7v. Vgl. Goedeke, Karl, „Vorwort“, in: Schillers sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. dems., im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer, Bd. 15,2, hrsg. von Karl Goedeke, Stuttgart 1876, S. V–VIII. Vgl. Grimm, Herman, „Vorwort“, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 1, Weimar 1887, S. XI–XVII; vgl. Suphan, Bernhard [im Namen der Redactoren], „Vorbericht“, in: ebd., S. XVIII–XXV.
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fahren haben.26 Die erste ausführliche Erörterung editorischer Fragen außerhalb von Ausgaben stellt Georg Witkowskis Aufsatz Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke von 1921 dar, in dem er u. a. das zu jener Zeit dominierende Verfahren der Weimarer Goethe-Ausgabe einer kritischen Revision unterzog.27 Der Aufsatz mündete in die erste monografische Abhandlung über Methoden der Edition neuerer Autoren 1924: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch.28 Dass ein solches Buch mit der Beschränkung auf die Edition neuerer Autoren erscheinen konnte, markiert, dass die notwendige Differenz der Editionsmethoden mittelalterlicher und neuerer Autoren aufgrund der andersartigen Überlieferungslage nun endgültig ins Bewusstsein getreten war. Im gleichen Jahr erschien Reinhold Backmanns schon oben erwähnte Reflexion über die aufgrund der Überlieferungslage bei neueren Autoren grundsätzlich neu zu charakterisierende Bedeutung des Apparats und der Textgenese.29 Die daraufhin entwickelten Verzeichnungsmethoden mit den ihnen impliziten Textbegriffen werden vor dem Hintergrund der Methodengeschichte von editorischer Alt- und Neugermanistik ausführlich in Hans Werner Seifferts Monografie Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte (1963)30 aufgearbeitet, nach Witkowski die zweite bilanzierende und damit auch die Etablierung des editorischen Fachgebiets fördernde Publikation. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur Beißners Stufenapparat durch seine Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe popularisiert, sondern Hans Zeller hatte zudem seinen synoptischen und Variantenpositionen beschreibenden Apparat in einem aufsehenerregenden Beitrag im Euphorion 195831 publiziert. Seit 1961 lagen als Manuskript auch die Grundlagen der Goethe-Ausgabe vor, die von den Mitarbeitern nach dem konzeptionellen Umbruch der Ostberliner Goethe-Akademie-Ausgabe 1959/60 ausgear26 27
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Vgl. Bernays, Michael, Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes, Berlin 1866. Vgl. Witkowski, Georg, „Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke“, in: Werner Deetjen u. a., Funde und Forschungen. Eine Festgabe für Julius Wahle zum 15. Februar 1921, Leipzig 1921, S. 216–226. Vgl. Witkowski, Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Vgl. Backmann, „Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter“, S. 629–662. Vgl. Seiffert, Hans Werner, Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte, Berlin 1963, 2. Aufl. 1969 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 28). Vgl. Zeller, Hans, „Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen“, in: Euphorion 52/1958, S. 356–377.
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beitet worden waren. Es sind die für jene Zeit ausführlichsten Prinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe mit Erörterungen von Begrifflichkeiten und Beschreibung des ‚integralen‘, mit Einblendungen arbeitenden ‚Apparatmodells‘. Sie durften seinerzeit nicht veröffentlicht werden, doch haben sie durch unter der Hand weitergegebene Kopien auch Eingang in die Diskussion der westdeutschen Germanistik gefunden.32 Die Restriktionen der DDR-Wissenschaftspolitik gegenüber der Editionstätigkeit vor dem Hintergrund ihrer angemahnten gesellschaftlichen Relevanz spiegeln sich in dem Aufsatz von Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer mit dem prägnanten Titel Wissenschaft auf Abwegen?33 Mit ihm lag ein offiziöses Verdikt über die Leistungsfähigkeit der jüngsten Entwicklungen in der neugermanistischen Editionswissenschaft vor, dessen Folge u.a. die Einstellung der Goethe-Akademie-Ausgabe war. In überarbeiteter und verallgemeinerter Form fanden Teile der Grundlagen der Goethe-Ausgabe aber dennoch im Beitrag Siegfried Scheibes 1971 Eingang in den Epoche machenden Sammelband Texte und Varianten, den Gunter Martens und Hans Zeller herausgaben. Rückblickend erweist sich dieser Sammelband als die Initialzündung für die seitdem vehement beschleunigte Entwicklung von Editionstheorie und -praxis. Neben Scheibes Aufsatz sind insbesondere die Beiträge der beiden Herausgeber, Zellers Befund und Deutung und Martens’ Textdynamik und Edition, jahrzehntelang Bezugspunkte für die editorische Diskussion der Neugermanistik gewesen.34 Martens’ Textdynamik-Modell war dabei von den ein Jahr zuvor publizierten Überlegungen Gerhard Seidels begleitet worden.35 32
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Vgl. Grundlagen der Goethe-Ausgabe, ausgearbeitet von den Mitarbeitern der GoetheAusgabe, als Manuskript vervielfältigt [1961]; Erstdruck: Scheibe, Siegfried, Kleine Schriften zur Editionswissenschaft, Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 1), S. 245–272. Vgl. Hahn, Karl-Heinz / Holtzhauer, Helmut, „Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur“, in: forschen und bilden. Mitteilungen aus den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Weimar 1/1966, S. 2–22. Vgl. Martens / Zeller (Hrsg.), Texte und Varianten, darin u. a.: Scheibe, Siegfried, „Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe“, S. 1–44; Zeller, „Befund und Deutung“; Martens, Gunter, „Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen“, S. 165–201. Seidel, Gerhard, Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition. Untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts, Berlin 1970 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 46, Reihe E: Quellen und Hilfsmittel zur Literaturgeschichte); später erweitert als: Seidel, Gerhard, Bertolt Brecht – Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß, Berlin bzw. Stuttgart 1977.
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Mit der Gründung von editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 1987 und der Reihe Beihefte zu editio 1991 schuf sich die Editionswissenschaft Organe, die der enormen Zunahme der editorischen Forschung und Reflexion Raum geben konnten. Dass das Arbeitsgebiet weiter expandierte, zeigte sich in der Ergänzung dieser Publikationsorte durch die Reihen Arbeiten zur Editionswissenschaft (1988 ff.) und Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft (1997 ff.), wobei innerhalb letzterer seit 2005 das Rezensionsorgan Editionen in der Kritik erscheint. Seit 1995 werden zudem die Hefte des Periodikums Text. Kritische Beiträge veröffentlicht, das die Diskussion aus der Perspektive des Heidelberger Instituts für Textkritik bereichert. Die Breite der editionswissenschaftlichen Publikationsorte spiegelt die Reichhaltigkeit der Diskussion zwischen traditionelleren Editionsmethoden und ihrer steten kritischen Reflexion und Weiterentwicklung bis hin zu methodisch neuen Ansätzen. Dabei erweist sich gegenüber einer umfassenden monografischen Darlegung der Aufsatz innerhalb von Zeitschriften oder Sammelbänden als bevorzugte Textsorte. Damit geht der Vorteil einher, dass die so gestalteten Periodika und Sammelbände vielfach interdisziplinär ausgerichtet sind und auch auf der Ebene des Publikationsmediums die jüngere Orientierung des Faches spiegeln.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Ohne Zweifel stellt die Editionswissenschaft ein zentrales Arbeitsgebiet innerhalb der Germanistik dar. Gleichwohl scheint das Bewusstsein der nicht-editorisch arbeitenden Germanisten für das Potenzial der nach editionswissenschaftlichen Erkenntnissen hergestellten Ausgaben noch nicht nachhaltig genug ausgeprägt zu sein. Dies betrifft zweierlei: Zum einen lässt sich noch zu oft feststellen, dass nicht die besten, gesichertsten Ausgaben für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt werden, was einer Unterschätzung der editionswissenschaftlichen Leistung entspricht, zum anderen geht damit eine Unterschätzung des Einflusses einer Edition auf die auf ihr beruhende Interpretation einher, da häufig die interpretativen Auswirkungen des jeweiligen editorischen Textbegriffs und der gesamten Editionsanlage von Interpretenseite nicht bedacht werden. Dabei lässt sich mit Blick auf die Methodengeschichte der Editionswissenschaft feststellen, dass das gegenwärtige editorische Reflexionsniveau den bisher höchsten Stand der Fachgeschichte erreicht hat. Erfreulicherweise bewegt sich die jüngste Diskussion insge-
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samt relativ undogmatisch innerhalb eines als Bereicherung verstandenen Methodenpluralismus, der keineswegs eine editorische Beliebigkeit befürwortet, sondern in Abwägung der Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition, also in Hinblick auf ihre Zielsetzung und ihre Grundlagen, die Angemessenheit der Darstellung zu erreichen sucht. Eine entscheidende zukünftige Herausforderung dürfte nun vor allem die Art und Weise betreffen, in der das elektronische Medium für das jeweilige Editionsziel genutzt werden kann, um das editorische Material unter Umständen noch adäquater als bisher möglich zu vermitteln. In welcher Weise die EDV besonders effektiv nutzbar ist – etwa für eine Hybridedition als eine Mischung aus Buchdruck- und elektronischem Verfahren oder für eine rein digitale Edition –, ist ebenso noch zu klären wie die Frage, von welchen methodischen Interessen das jeweilige Verfahren getragen wird bzw. welche Auswirkungen es hat, z. B. hinsichtlich einer etwaigen Verschiebung vom primär editorischen zum vorherrschend archivalischen Charakter des entstehenden Produkts.36 Dass die Editionswissenschaft durchaus stärker den kulturwissenschaftlichen Horizont der Germanistik ansprechen könnte, wie es etwa in Hinblick auf die Rahmenbedingungen einer Edition oder die historischen Rahmenbedingungen der in ihr edierten Texte – so mit Bezug auf die Zensur, das Schreiben, die Materialität oder die Medialität37 – in 36
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Siehe die unterschiedlichen Verfahrensweisen etwa für die Musil-NachlassCD-ROM (1992), die hybride Gottfried Keller- (1996 ff.) und die hybride Harry Graf Kessler-Tagebuch-Ausgabe (2004 ff.) oder das in Arbeit befindliche digitale Parzival-Projekt; vgl. auch das Konzept einer ‚dynamischen Edition‘ bei Hofmeister-Winter, Andrea, Das Konzept einer „Dynamischen Edition“. Dargestellt an der Erstausgabe des „Brixner Dommesnerbuches“ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.). Theorie und praktische Umsetzung, Göppingen 2003 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 706). Vgl. zur Zensur Plachta, Bodo, „Zensur und Textgenese“, in: editio 13/1999, S. 35–52; ders., „Die Politisch-Herrschenden und ihre Furcht vor Editionen“, in: Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Ringvorlesung des Studiengebiets Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin, Berlin 1998 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 3), S. 303–342; zum Schreiben vgl. z. B. Hurlebusch, Klaus, Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 86); Radecke, Gabriele, Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes „L’Adultera“, Würzburg 2002 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 358); Schütterle, Annette, Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaues“, Freiburg i. Br. 2002 (Cultura 33); vgl. die Buchreihe Zur Genealogie des Schreibens, München 2004 ff.; zur Materialität vgl. Lüdeke, Roger, „Materialität und Varianz. Zwei Herausforderungen eines textkritischen Bedeutungsbegriffs“, in: Fotis
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ersten Schritten angedacht ist, wäre zu wünschen, um nachhaltiger die Relevanz des editorischen Arbeitens auch für die aktuelle Literaturwissenschaft sichtbar zu machen. Wie überhaupt die Wechselbeziehung zwischen Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft in den 200 Jahren der Germanistik-Geschichte verlaufen ist, ist noch weitgehend unerforscht. Die zu wünschende historische Rekapitulation ist allerdings mit einer neuen Buchreihe Bausteine zur Geschichte der Edition (2005 ff.) auf den Weg gebracht. In diesem Zusammenhang ist auch eine vertiefte Betrachtung der in diesem Artikel skizzierten Methodengeschichte der Editionswissenschaft zu erhoffen.
6. Kommentierte Auswahlbibliografie Im Folgenden werden nur solche Titel genannt, die nicht schon in den vorstehenden Abschnitten in den Anmerkungen angeführt und durch begleitende Informationen im Haupttext kommentiert sind. Bevorzugt berücksichtigt sind Überblicke und Einführungen jüngeren Datums, die methodische Fragen mit abhandeln. Scheibe, Siegfried (Leitung) / Hagen, Waltraud / Laufer, Christel / Motschmann Uta, Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie, Berlin 1988. Leicht lesbare Einführung in die Benutzung von Editionen, die dem Aufbau einer Edition folgt und deren methodische Grundlagen mitbedenkt. Kanzog, Klaus, Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur, Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik 31). Editionswissenschaftliche Kategorien systematisch vorstellende Einführung, jeweils mit reichhaltigen Beispielen veranschaulicht. Bein, Thomas (Hrsg.), Altgermanistische Editionswissenschaft, Frankfurt a. M. u. a. 1995 (Dokumentation Germanistischer Forschung 1). Sammelband mit dem Abdruck wichtiger Auszüge oder Volltexte aus Forschungsdokumenten zur mediävistischen Editionswissenschaft in Jannidis / Gerhard Lauer / Matías Martínez / Simone Winko (Hrsg.), Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, Berlin, New York 2003 (Revisionen 1), S. 454–485; zur Medialität vgl. Nutt-Kofoth, Rüdiger, „Editionsphilologie als Mediengeschichte“, in: editio 20/2006, S. 1–23.
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der Germanistik, von Lachmann bis zur Gegenwart. Mit einer ausführlichen Einleitung und einer umfangreichen Bibliografie. Nutt-Kofoth, Rüdiger / Plachta, Bodo / van Vliet, H.T.M. / Zwerschina, Hermann (Hrsg.), Text und Edition. Positionen und Perspektiven, Berlin 2000. Sammelband mit primär neugermanistisch orientierten Beiträgen, die systematisch die Rahmenbedingungen des Edierens, die Bestandteile der Edition, die methodischen Auswirkungen u. a. befragen. Überblickshaft finden u. a. auch die Mediävistik, die Frühe Neuzeit, die französische ‚critique génétique‘ oder die anglo-amerikanische Edition in separaten Beiträgen Berücksichtigung. Kraft, Herbert, Editionsphilologie, (1990), zweite, neubearb. und erw. Aufl. mit Beiträgen von Diana Schilling und Gert Vonhoff, Frankfurt a. M. u. a. 2001. Präsentation einer neugermanistischen Editionstheorie (Fortschreibung und wesentliche Erweitung von Krafts Buch: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Eine Theorie der Edition, Bebenhausen 1973) vor dem Hintergrund eines spezifischen Literaturverständnisses, das Literatur nach ihrem historisch-soziologischen Kritikpotenzial bemisst. Mit vielen Beispielen. Roloff, Hans-Gert (Hrsg.), Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung, Berlin 2003 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 5). Sammelband zu einer 1999 abgehaltenen Ringvorlesung mit Überblicken zur Entwicklung einer Reihe mit Edieren befasster Disziplinen. Auf die Germanistik bezogen sind die Beiträge von Hans-Gert Roloff (Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen, S. 63–81), Winfried Woesler (Neugermanistische Editionsleistungen des 19. Jahrhunderts, S. 123–142) und Hans Zeller (Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert, S. 143–207). Nutt-Kofoth, Rüdiger (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition, Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition 1). Sammlung wichtiger Dokumente zur neugermanistischen Editionswissenschaft von der Vorrede in Bodmers und Breitingers Opitz-Ausgabe 1745 bis 1970. Präsentation von Auszügen oder Volltexten, versehen mit einer ausführlichen Einleitung.
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Nutt-Kofoth, Rüdiger / Plachta, Bodo (Hrsg.), Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte, Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition 2). Sammelband mit Darstellungen der Ausgabenlandschaft zu 20 editionsgeschichtlich bedeutsamen deutschsprachigen Autoren und einem Beitrag zur Geschichte der elektronischen Edition. Plachta, Bodo, Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, (1997), 2., ergänzte und aktualisierte Aufl., Stuttgart 2006. Instruktiver Überblick über die wichtigsten Fragestellungen der neugermanistischen Editionswissenschaft. Mit den bedeutsamsten disziplinintern diskutierten Beispielen. Bein, Thomas, Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editionswissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil, Frankfurt a. M. u. a. 2008. Ausführliche und gegenüber der Vorfassung (Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen der Edition altdeutscher Dichtung, Göppingen 1990) wesentlich erweiterte, dabei neu didaktisierte Einführung in die Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Mit zahlreichen veranschaulichenden Grafiken.
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Feministische Literaturwissenschaft von S ARA L ENNOX
1. Definition Feministische Literaturwissenschaft setzt sich mit inhaltlichen und formalen Repräsentationen von Frauen, von Gender und von Genderbeziehungen sowie mit der Darstellung von Weiblichkeit in literarischen Texten auseinander. Als politische und wissenschaftliche Praxis versucht die feministische Literaturwissenschaft festzustellen, inwiefern Repräsentationsstrategien eines Textes feministische Interessen fördern oder verhindern. Im Lauf des mittlerweile schon fast vierzigjährigen Bestehens der feministischen Literaturwissenschaft hat aber die Bedeutung solcher Schlüsselbegriffe wie ‚Repräsentation‘, ‚Frau‘, ‚Gender‘, ‚Weiblichkeit‘ oder ‚feministische Interessen‘ zahlreiche Umdeutungen und Neudefinitionen erfahren, und feministische LiteraturwissenschaftlerInnen vertreten oft ganz unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Grundvoraussetzungen ihrer Methodologie. Die Mehrheit feministischer ForscherInnen ist sich inzwischen darin einig, dass es sich bei ‚Gender‘ (das englische Wort wurde ins Deutsche übernommen, da die deutsche Sprache kein ausreichend exaktes Äquivalent aufweist) um eine sozial konstruierte Kategorie handelt. Das einer Gesellschaft eigene Verständnis von ‚Frau‘ und ‚Weiblichkeit‘ kann dabei jeweils nur in Verbindung mit der ihr ebenfalls eigenen Definition von ‚Mann‘ und ‚Männlichkeit‘ verstanden werden. Diese Kategorien sind historisch und kulturell spezifisch und d.h. auch, dass womöglich Frauen eben nicht durch alle Zeiten und über alle Regionen hinweg mit Hilfe dieser Kategorien miteinander in Verbindung zu setzen sind. Die Anerkennung dieses Umstandes hat bei feministischen Aktivistinnen Betroffenheit, ja Ablehnung hervorgerufen: Sie sahen sich einer gemeinsamen Handlungsgrundlage beraubt. Schließlich führte die diesbezügliche Debatte zu der Postulierung des von Gayatri Chakravorty Spivak formulier-
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ten „strategischen Essentialismus“,1 der auf der Bildung vorläufiger solidarischer Frauenbünde zum Zwecke sozialer Aktionsfähigkeit basiert. Viele feministische WissenschaftlerInnen vertreten die Ansicht, dass gesellschaftlich zirkulierende Diskurse (d.h. Bedeutungssysteme) für die Konstruktion der Kategorie Gender verantwortlich sind. Obgleich noch immer eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der bestimmenden Funktion materieller Realität besteht, sind sich nahezu alle feministischen ForscherInnen einig, dass Materialität diskursiv vermittelt wird. Einige feministische WissenschaftlerInnen unterscheiden dabei zwischen Gender und dem biologischen Substrat, auf welchem Gender beruht (‚sex‘ oder biologisches Geschlecht), während andere darauf beharren, dass auch der Körper als eine soziale Konstruktion verstanden werden muss.2 Unter dem Einfluss von Queer Theory behaupten noch andere feministische ForscherInnen, dass sowohl Gender als auch sexuelle Identität durch eben jene Akte (‚Performanzen‘) hervorgerufen werden, welche sie auszudrücken scheinen.3 Wenn auch die Psychoanalyse, dem Selbstverständnis ihrer Vertreter nach eine Universaltheorie, und die Gender Studies mit ihrer historischen Spezifik nicht ohne Schwierigkeiten auszusöhnen sind, beziehen sich einige feministische WissenschaftlerInnen auf die Theorien Freuds oder Lacans, um mit ihrer Hilfe die verschiedenen Formen psychosozialer Subjektkonstitution zu verstehen.
2. Beschreibung Feministische ForscherInnen der Gegenwart konzedieren die weibliche Identität als stets von anderen sozialen Kategorien durchquert. Diese, wie beispielsweise Klasse, Nationalität, Ethnizität, Rasse, sexuelle Orientierung, Region, Religion und Alter, müssen in Betracht gezogen werden, um die jeweiligen sozialen Umstände jeder einzelnen Frau erfassen zu können (dieser Zugang ist von einigen FeministInnen ‚Intersektionalität‘ genannt worden).4
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Spivak, Gayatri Chakravorty, In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York 1987, S. 205. Vgl. Nicholson, Linda, „Interpreting Gender“, in: Signs, 20/1994, 1, S. 79–105. Vgl. Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990. Vgl. Collins, Patricia Hill, Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment, Boston 1990.
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Da in diesem Sinne Frauen niemals außerhalb der sozialen Ordnung, deren Teil sie sind, gestellt werden können, nehmen Frauen dominierender sozialer Gruppen eine komplexe Position gegenüber den Machtausübenden ihrer Gesellschaft ein: Benachteiligt in einigen Bereichen, sind sie zugleich tendenziell den machtausübenden Kräften verbündet oder komplizenhaft in deren dominierende soziale Aufstellungen anderer Zusammenhänge eingewoben. Demgemäß räumen feministische WissenschaftlerInnen denn auch ein, dass schließlich sie selbst auch einen bestimmten sozialen Ort besetzen, welcher unvermeidlich die von ihnen erarbeiteten Standpunkte beeinflusst und so zwangsläufig zu unvollkommenen, provisorischen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen führt. Um die Spezifität der jeweils individuellen feministisch-wissenschaftlichen Position beschreiben zu können, entwickelten die ForscherInnen den Terminus ‚Positionalität‘.5 Da jedes individuelle Subjekt von den Auswirkungen des Diskurses unterschiedlich betroffen wird und die wirkenden Diskurse im jeweiligen Moment flüchtig, heterogen und häufig nicht kompatibel sind, da außerdem unterschiedlich situierte Frauen eine große Anzahl von Subjektpositionen gleichzeitig einnehmen können, da also ebenfalls die Diskurse wie die historische Realität, die sie hervorbringen und beschreiben, permanenten Verschiebungen unterworfen sind, sind denn auch beide, d.h. sowohl die Kategorie der Weiblichkeit als auch das einzelne weibliche Subjekt, instabil und von vielfältigen Widersprüchen durchkreuzt. Um zu verstehen, in welcher Form die Diskurse von Gender und Sexualität in Erscheinung treten und erhalten, moduliert, unterlaufen, herausgefordert und/oder transformiert werden, haben sich zahlreiche feministische WissenschaftlerInnen der Geistes- und Sozialwissenschaften der Analyse von Signifizierung und kultureller Produktion zugewandt und damit eine weiterreichende Verschiebung intellektuellen Interesses eingeleitet, die als linguistischer oder kultureller ‚turn‘ (Wende) bezeichnet wird.6 Aus dieser neuen intellektuellen Perspektive nahmen literarische Texte eine erneuerte und auch anders verstandene Bedeutung für die Arbeit feministischer LiteraturwissenschaftlerInnen ein. Ein Ergebnis dieses neuen Verständnisses der Rolle diskursiver Produktion war eine neue Auffassung der Beziehungen zwischen dem literarischen Kanon und der außerhalb von ihm liegenden kulturellen Pro5
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Alcoff, Linda, „Cultural Feminism versus Post-Structuralism. The Identity Crisis in Feminist Theory,“ in: Signs, 12/1988, 2, S. 434. Vgl. Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006.
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dukte. Seit den Anfängen der Frauenbewegung haben FeministInnen immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Darstellung von Frauen innerhalb der Literatur nicht über Voreingenommenheiten der jeweiligen Entstehungszeit hinausreichte, sondern diese stattdessen hauptsächlich nachbildete. Die feministische Literaturwissenschaft untersucht im Besonderen die Art und Weise, in der Texte des literarischen Kanons die Kategorien Weiblichkeit, Männlichkeit und Genderbeziehungen beschreiben, und welchen Intentionen diese Konstruktionen dabei folgen. Die zunehmende Betonung der Intersektionalität bedeutete, dass feministische LiteraturwissenschaftlerInnen zudem immer öfter untersuchten, inwiefern Genderkategorien von textlichen Konstruktionen anderer sozialer Kategorien beeinflusst werden und diese wiederum formen. In zunehmendem Maße erkannten FeministInnen dabei, dass Frauen nicht ausschließlich in der Opferrolle auftreten: Sie konnten zeigen, inwiefern literarische Texte Frauen mit anderen hegemonialen Kategorien verbanden und sie so in eine anderen Frauen überlegene Position versetzten. Schließlich lässt sich von hier ausgehend analysieren, wie einige Konzeptionen von Genderbeziehungen, beispielsweise jene auf Eurozentrismus, liberalem Individualismus oder Heteronormativität basierenden, hegemonialen Strukturen entsprechen oder diese verstärken. Obwohl die meisten feministischen Untersuchungen immer noch eine einzige Lesart des literarischen Textes favorisieren, ist es einigen feministischen ForscherInnen gelungen, die Widersprüchlichkeit dieser Texte aufzudecken und dabei zeigen zu können, wie sich zum Beispiel konflikthafte Genderdiskurse, deren Harmonisierung oder Aussöhnung zum Zwecke eines scheinbar schlüssigen Textausklanges die AutorInnen womöglich anstreben, in ihnen abzeichnen. Andererseits haben feministische LiteraturwissenschaftlerInnen die Arbeiten bekannter oder vergessener Autorinnen unter feministischer Perspektive neu interpretiert oder diese gar erst entdeckt. Sie stellen die Autorinnen in den Zusammenhang der historischen Verhältnisse, welche weibliche Autorenschaft befördert oder behindert haben, und untersuchen den Einfluss dieser auf Inhalt, Form und Publikationsmöglichkeit der Texte von Frauen. In den vergangenen fast 40 Jahren haben feministische LiteraturwissenschaftlerInnen sehr verschiedene, mitunter sich nahezu widersprechende feministische Ansätze genutzt, um Texte von Autorinnen zu analysieren. Während frühe feministische ForscherInnen unterstrichen, wie die Autorinnen den bis dahin nicht repräsentierten weiblichen Erfahrungen Ausdruck verliehen, heben neuere Untersuchungen stattdessen die Rolle hervor, die diese Texte bei der Hervorbrin-
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gung einer solchen Erfahrung spielten, wie also z.B. solche Texte Auffassungen von weiblicher Subjektivität, Sexualität, des weiblichen Körpers, der Handlungsfähigkeit (‚agency‘), von Kollektivität und Widerstand konstruieren, wie sie gesellschaftliche Kategorien, die die Zurückgestelltheit von Frauen unterstützen, in Frage stellen oder dekonstruieren. Feministische ForscherInnen untersuchen ebenso die Intertextualität weiblicher Texte und zeigen dabei auf, wie diese auf frühere Texten zurückgreifen, um dabei eine weibliche Tradition zu etablieren, oder wie sie mit den Texten männlicher Autoren in Auseinandersetzung stehen und sich diese aneignen oder sie variieren und verwerfen, um die eigenen literarischen Bedürfnisse zu erfüllen. Einige feministische WissenschaftlerInnen haben zusätzlich literarische Texte als Indiz für Instabilität, Fluidität und/oder Hybridität der Kategorien von Identität und Subjektivität überhaupt aufgefasst, während andere wiederum die Formen aufdecken konnten, in denen Gender, Sexualität und andere Kategorien sozialer Identität ausgelegt und als performatives Element repräsentiert werden. Da hoch geschätzte literarische Texte nachweisbar und anschaulich stets die gleichen Bilder von Frauen reproduzieren wie andere, weniger angesehene kulturelle Produkte der Trivial- oder Unterhaltungsliteratur oder auch die Massenmedien, waren feministische WissenschaftlerInnen von Beginn an skeptisch gegenüber den den literarischen Texten zugeschriebenen oder innewohnenden ‚besonderen‘ Qualitäten. Aus diesem Grund wandten sie sich besonders häufig der Untersuchung von Verbindungen und Affinitäten zwischen der Literatur und den kulturellen Produkten anderer Bereiche zu. Angelehnt an die angelsächsischen Cultural Studies oder auch die deutsche Kulturwissenschaft konzentrieren sie sich häufig auf ein weiterreichenderes Spektrum von Texten und Praktiken als nur das der eher traditionell ausgerichteten Literaturwissenschaft. Auf diese Art interdisziplinäre Einflüsse aufnehmend, beziehen sie Impulse aus der intellektuellen, kulturellen und sozialen Geschichte sowie aus der Ethnologie und der Kunst mit ein. Mit dieser Beziehung der Texte untereinander und ihrer Kopplung an ihren jeweiligen historischen Kontext (der stets ja auch als ein textuelles Produkt vermittelt wird) gelingt es feministischen ForscherInnen in ihren Untersuchungen, politisch-soziale Effekte dieser Texte zu Tage zu fördern und dabei aufzudecken, inwieweit diese Texte in ihrer Entstehungszeit dominierende soziale Arrangements unterstützt oder unterlaufen haben. Ursprünglich in der herkömmlichen Literaturwissenschaft ausgebildete FeministInnen widmen sich inzwischen so vielfältigen Themen wie Erinnerung, Raum und Räumlichkeit, Konsum, Fashion, Ernährung, Popmusik und Pop-
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magazinen, medizinischen Untersuchungen, politischer Rede, Medienwissenschaften, Märchen, Einwanderungsstatistiken oder Dienstbüchern.
3./4. Institutionsgeschichtliches/Publikationen Vor allem im englischsprachigen Kontext, zunehmend aber auch im deutschsprachigen Raum haben FeministInnen nichthegemonialen ethnischen Hintergrunds ihre Stimme erhoben, um gegen ihren Ausschluss aus den dominanten feministischen Paradigmen zu protestieren und um den Besonderheiten ihrer weiblichen Erfahrung zum Ausdruck zu verhelfen. Seit den 1980er-Jahren haben die theoretischen und literarischen Arbeiten der Women of Color die feministische Forschung in den USA fundamental verändert und insbesondere aufgedeckt, wie das Schreiben der Frauen dominanter Gruppen oftmals auf rassistisch und ethnisch begründetem Ausschluss basierte. In Anerkennung der Tatsache, dass die Studien von ‚Frauen‘ schlechthin nicht per se emanzipatorische oder subversive Aufdeckungen garantierten, haben feministische LiteraturwissenschaftlerInnen aus dominanten ethnischen Gruppen auch begonnen, ihre Aufmerksamkeit auf die Analyse von Texten von Frauen ethnischer Minderheiten, Frauen aus postkolonialem Zusammenhang oder Frauen aus der Dritten Welt zu lenken. Feministische Studien von US-amerikanischen WissenschaftlerInnen sind so mittlerweile nur noch selten ausschließlich auf weiße Frauen fokussiert. Auch in der deutschsprachigen feministischen Forschung wird den Arbeiten der MigrantInnen, der afrodeutschen Frauen, der jüdisch-deutschen Frauen und anderer Frauen nicht-weißer deutscher Herkunft langsam wissenschaftliches Interesse entgegengebracht, während sich andere feministische ForscherInnen deutschen Reiseautorinnen oder den in den Kolonien entstandenen Arbeiten von Frauen zugewandt haben, um an ihnen zu verdeutlichen, wie diese Autorinnen ihre eigenen privilegierten Positionen repräsentieren. Der Fokus auf Writers of Color hat feministischen WissenschaftlerInnen auch erlaubt, neue Fragen bezüglich literarischer Texte aufzuwerfen: Weißsein, Hybridität und transnationale Identitäten rückten so in den Mittelpunkt. Feministische LiteraturwissenschaftlerInnen untersuchen dabei auch die Umstände, unter welchen ein geschlechterbezogener Vorwand der Legitimierung anderer sozialer Beziehungen dient, so beispielsweise in der Beziehung von Machthabern gegenüber einer Bevölkerung oder der eines Kolonisators gegenüber dem kolonialisierten Land oder dessen Einwohnerschaft sowie auch dort, wo geschlechterba-
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sierte Symbolik zu einem Aspekt der Auseinandersetzung wird. In der Untersuchung von Mythen, Topoi und Bildern, die mit Gender assoziativ verbunden wurden, verdeutlichen sie, wie AutorInnen solche Bedeutungszusammenhänge in ihr Schreiben einfließen lassen, um Genderbeziehungen u.a.m. darzustellen. Schließlich, und obgleich das Schreiben von Frauen niemals außerhalb eines es auch formenden kulturellen Diskurses stehen kann, haben feministische LiteraturwissenschaftlerInnen untersucht, wie weibliche Autoren ihre Texte nutzen, um in ihnen bisher nicht realisierte Alternativen zu einer negativen sozialen Realität zu entwerfen. So erläutert Inge Stephan: „Die Inszenierung der Geschlechter ist also auch im Medium der Literatur nicht frei, sondern historisch, kulturell und individuell beeinflusst und an den Körper als phantasmatischen Raum gebunden. Trotzdem bietet gerade die Literatur noch am ehesten die Chance, durch utopische Entwürfe, parodistische Verfremdung, Karnevalisierung und Maskerade, aber auch durch dramatische Zuspitzung, epische Entfaltung und lyrische Konzentration der Konfliktlinien zwischen den Geschlechtern die sex-gender-Relation in ihrer Geltung spielerisch zu unterlaufen und die zerstörerischen Wirkungen aufzuzeigen, die das sex-gender-System nicht nur im Medium der Literatur hat“.7 Die zweite Welle des Feminismus hat offensichtlich nicht als wissenschaftliche Methode begonnen, sondern vielmehr als eine politische Bewegung, die aus dem Zusammenhang vielfältiger politischer Bewegungen der 1960er-Jahre hervorging. Mit diesen häufig in starken Auseinandersetzungen stehend, lehnten viele FeministInnen der ersten Stunde die Teilnahme von Frauen in weiterhin sexistischen, androzentrischen oder in anderer Hinsicht unterdrückerischen Institutionen gänzlich ab. Eher aufgrund der Verschiedenheiten der amerikanischen und deutschen Institutionen als aufgrund der renitenten Haltung von Männern erlangte die feministische Forschung den Status ihrer Institutionalisierung im akademischen Rahmen in den USA zu einem viel früheren Zeitpunkt als in Deutschland. In den frühen 70ern wurden in den USA neue landesweite Gesetze erlassen, deren ‚Affirmative Action‘-Praktiken (Einstellungspraktiken, die Menschen aus bisher unterrepräsentierten Kategorien favorisierten) von nun an für alle Bildungsinstitutionen galten, welche Finanzhilfe vom amerikanischen Staat bezogen. Die Folge war häufig die Einstellung von 7
Stephan, Inge, „‚Gender‘. Eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft“, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 9/1999, 1, S. 35.
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jungen Wissenschafterinnen (oder auch People of Color), die bereits feministisch ausgerichtet arbeiteten oder im Verlauf ihrer Beschäftigung zu Feministinnen wurden. Anzahl und Vielfalt der amerikanischen Hochschulen bewirkten dabei zugleich, dass es für junge feministische Wissenschaftlerinnen viel einfacher wurde, eine akademische Vollzeitstelle zu erhalten. Das US-amerikanische Verfahren mit der Möglichkeit, nach einer sechsjährigen Probezeit in eine an die Assistentenzeit anschließende Position auf Lebenszeit übernommen zu werden, verhalf feministischen ForscherInnen, die erfolgreich diese Hürde überwinden konnten, zu Status, Prestige und dauerhafter Institutionalisierung ihrer Position. Feministische WissenschaftlerInnen in den USA etablierten in der Folge schnell feministische Gremien innerhalb der akademischen Disziplinen, und da das Schreiben von Frauen immer eine signifikante Rolle für die Artikulation der Beschwerden und Hoffnungen von Frauen gespielt hatte, gehörte die Literaturwissenschaft mit zu den ersten Wissenschaftszweigen, in denen derartige feministische Gremien gebildet wurden. Das erste Universitätsseminar in Women’s Studies wurde 1966 angeboten, schon 1973 fanden mehr als 200 Kurse statt. 1970 war das erste Women’s Studies – Programm an der San Diego State University gegründet worden; im Jahr 1977 existierten bereits 276 Programme8. In Westdeutschland entwickelten sich die Frauenstudien zunächst außerhalb des universitären Rahmens in Form von Volkshochschulkursen und einwöchigen Sommeruniversitäten, an denen sowohl Akademikerinnen als auch Nicht-Akademikerinnen teilnahmen. Die ersten Einrichtungen auf Universitätsebene sind in der Bundesrepublik zu Anfang der 1980erJahre zu verzeichnen. Dazu gehören die Interdisziplinäre Forschungsgruppe Frauenforschung in Bielefeld (1980), die Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung an der Freien Universität Berlin (1981) und, kurz vor der Wiedervereinigung, das Zentrum für Interdisziplinäre Frauenforschung an der Humboldt Universität zu Berlin. In der Einführung ihres Bandes Gender-Studien (2000) geben Christina von Braun und Inge Stephan einen Überblick über die bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen dreizehn universitären Forschungszentren für feministische Studien und berichten außerdem von vier weiteren geplan8
Allen, Ann Taylor, „Women’s Studies as Cultural Movement and Academic Discipline in the United States and West Germany. The Early Phase, 1966–1982“ in: Jeanette Clausen / Sara Friedrichsmeyer (Hrsg.), Women in German Yearbook 9, Lincoln, Nebraska 1994, S. 6.
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ten Zentren.9 Am bedeutsamsten für die Institutionalisierung der feministischen Literaturwissenschaft in Deutschland war ohne Zweifel die von den drei feministischen Wissenschaftlerinnen Sigrid Weigel, Inge Stephan und Marianne Schuller 1985 initiierte und an der Universität Hamburg realisierte Arbeitsstelle für feministische Literaturwissenschaft, zu der 1985 Annegret Pelz und 1986 Kerstin Wilhelms hinzutraten und an der Sibylle Benninghoff-Lühl als Vertretungsprofessorin von 1990 bis 1993 beschäftigt war. Die von der Arbeitsstelle herausgegebene Nullnummer des Rundbriefes Frauen in der Literaturwissenschaft erschien im Jahr 1983 unter den Herausgeberinnen Renate Berger, Sigrid Weigel und Inge Stephan. Diese wissenschaftliche Zeitschrift, die ab 1993 von Inge Stephan, Dagmar von Hoff und Ulrike Vedder ediert wurde, ging mit dem Jubiläumsheft Nr. 50 im Mai 1997 zu Ende und wurde 1999 unter dem Titel figurationen. gender literatur kultur, nunmehr unter der Leitung von Barbara Naumann, wiedergegründet. Durch die fünfzig Ausgaben hindurch war es Frauen in der Literaturwissenschaft gelungen, sowohl Literatur von Frauen als auch feministische Forschung in zahllosen Ländern der Welt bekannt zu machen, dabei den eigenen Schwerpunkt der in den Bereich der Kulturwissenschaft hineinführenden Bewegung der Literaturwissenschaft anzugleichen und diesen so dementsprechend für interdisziplinäre Themen zu öffnen. Die großen Konferenzen, die Frauen in der Literaturwissenschaft in den 1980er-Jahren sponserte, wie die in Hamburg (1983, 1986), in Bielefeld (1984) und in Paderborn (1989), wie auch die Konferenzbände, in denen diese anschließend dokumentiert wurden, waren von unschätzbar großer Bedeutung für die Etablierung der feministischen Literaturwissenschaft in Deutschland. Obwohl feministische Literaturwissenschaft vom Standort der ‚Positionalitäten‘ aus per definitionem immer heterogen sein wird und nahezu jeder Überblick über die feministische Forschung diese Heterogenität der Ansätze unterstreicht, ist es dennoch möglich, einen allgemeinen Abriss der historischen Entwicklung des Forschungsgebietes für die letzten vierzig Jahren zu entwerfen. Obwohl die frühen US-amerikanischen FeministInnen der späten 1960er-Jahre je nachdem liberale, radikale oder sozialistische FeministInnen genannt wurden, fokussierte die Literaturanalyse, die alle drei Tendenzen charakterisierte, im Besonderen 9
Vgl. Jähnert, Gabriele: „Einrichtungen zur Frauen- und Geschlechterforschung in der Bundesrepublik Deutschland“ in: Christina von Braun / Inge Stephan (Hrsg.), Gender-Studien. Eine Einführung, Stuttgart 2000, S. 347–350.
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auf die Demaskierung erniedrigender und sexistischer Stereotype von Frauen speziell im Schreiben von Männern, Stereotype, die der Legitimierung sozialer Ungleichbehandlung von Frauen dienten. In der Mitte der 1970er-Jahre, etwa zu der Zeit, als die Frauenbewegung in Westdeutschland weithin an Aufmerksamkeit gewann (z. B. mit dem erstaunlichen Erfolg von Verena Stefans Roman Häutungen 1975), wurden aber Varianten des Feminismus, die die Integration von Frauen in veränderte maskuline Bereiche forderten, inhaltlich ersetzt durch eine neue, häufig als ‚kultureller Feminismus‘ bezeichnete feministische Tendenz, die stattdessen nach autonomen weiblichen Bereichen in der Gegenwart strebte und Belege von eigenständigen weiblichen Errungenschaften in der Vergangenheit suchte, die die weibliche Spezifität bestätigen würden, die durch das Patriarchat verdeckt worden war. Die feministische Literaturwissenschaft dieser Periode, von der Anglistin Elaine Showalter ‚Gynokritik‘ genannt, suchte nach verschollenen Texten von Frauen, nach der verdeckten weiblichen Tradition, an der sie teilgenommen hatten, und nach der weiblichen Ästhetik, der sie Ausdruck verliehen. Diese hoffnungsvolle Suche wurde in den späten 1970er-Jahren modifiziert, und feministische LiteraturwissenschaftlerInnen unternahmen einen Schritt in die Richtung der Gender Studies, indem sie die Tatsache anerkannten, dass Autorinnen sich notwendigerweise auch auf die von Männern entwickelten literarischen Strategien beziehen, auch wenn sie diese eventuell für ihre Zwecke modulieren. Etwa zur gleichen Zeit wurde eine theoretische Untermauerung der essentialistischen und universellen Forderungen des kulturellen Feminismus durch die französischen Theoretikerinnen wie z. B. Hélène Cixous und Luce Irigaray eingebracht, deren Texte zu argumentieren schienen, dass die Besonderheit des ‚parler femme‘, der ‚écriture féminine‘ oder des ‚weiblichen Schreibens‘, die sich in Arbeiten der Avantgarde manifestierten, in der Morphologie des weiblichen Körpers verwurzelt war, der besondere Arten der ‚weiblichen jouissance‘, das Schreiben in Muttermilch oder die wechselseitige Umarmung nach Art der weiblichen (Scham-) Lippen, ermöglichte. Die Beziehungen der so genannten ‚französischen Feministinnen‘ (eine Bezeichnung, die sie sich niemals selbst gaben) zu männlichen strukturalistischen/poststrukturalistischen/psychoanalytischen Theoretikern mit dem Namen Jacques (wie eine amerikanische Feministin einst witzelte; sie meinte natürlich Derrida und Lacan) lenkte die Aufmerksamkeit der feministischen LiteraturwissenschaftlerInnen fort von der Repräsentation weiblicher Erfahrung hin zu Strategien literarischer Signifizierung. Diese Kritik, die die ‚écriture féminine‘ an den ‚Phallogozentrismus‘
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richtete, die den französischen Theoretikerinnen zufolge die gesamte westliche Tradition charakterisierte, wurde, wie Jutta Osinski ausführte, verstanden als semiologisch begründet: „Die Sprache und mit ihr das Denken schlossen alles A-logische, Nichtidentische, sprachlich nicht Fixierbare als unwesentliches Andere aus. Das ausgeschlossene Andere wurde mit dem ‚Weiblichen‘ identifiziert […]. Was jenseits der herrschenden Kultur sein könne, blieb offen. Nahe lag der Gedanke, daß es mit Inhalten gefüllt werde, wenn Frauen ihre eigene, den ‚Phallogozentrismus‘ durchbrechende Sprache finden könnten, in der das Ausgegrenzte in die bezeichnende Praxis einging. Die ‚écriture féminine‘ unternahm so eine Engführung von semiologisch verstandener ‚Weiblichkeit‘ und realen Frauen; die Emanzipation der Frau wurde analogisiert mit der Emanzipation zu einer neuen, befreienden und integrierenden statt fixierenden und ausschließenden Sprache“.10 So unvorstellbar es heute erscheint, erreichte dieser für feministische LiteraturwissenschaftlerInnen sehr schmeichelhafte Ansatz in den 80ern eine hegemoniale Kontrolle über die feministische Literaturanalyse in Westdeutschland. In diesem Moment begann, aus eher demographischen als aus anderen Gründen, die etliche Jahre andauernde Divergenz von US-amerikanischer und deutscher feministischer Literaturwissenschaft. Zwar wurden in den 1980er-Jahren viele US-amerikanische feministische LiteraturwissenschaftlerInnen auch angezogen vom ‚französischen Feminismus‘ und infolgedessen auch von etwas anderen feministischen Varianten der männlichen französischen Theoretiker, die Cixous und Irigaray beeinflusst hatten, wie Barbara Vinkens Sammlung Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika11 zeigt. Von den späten 1970er-Jahren an wurden aber amerikanische FeministInnen wiederholt konfrontiert mit den Protesten der Women of Color, nach denen die Behauptungen weißer FeministInnen die Weiblichkeit betreffend auf Women of Color nicht zutrafen. Offensichtlich waren die Unterschiede, auf welche die Women of Color hinwiesen, nicht begründet durch biologische, sondern durch soziale und kulturelle Determinanten. Diese konfliktreiche Begegnung mit Unterschieden zwischen Frauen (nicht länger mit dem einzigen anatomischen und semiotischen Unterschied zwischen Männern und Frauen) hatten in den USA viel früher als in Deutschland den Boden 10 11
Osinski, Jutta, Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin 1998, S. 58–59. Vgl. Vinken, Barbara (Hrsg.), Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt 1992.
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bereitet für eine Auffassung von Maskulinität/Femininität als sozialer Konstruktion und für die Anerkennung der Tatsache, dass auch Körpererfahrung sozial vermittelt wird. Auf diesen Einsichten beruht die gegenwärtige Konzeptionalisierung von Gender. Eine andere, eher historisch-spezifische Aneignung der französischen Theorie, dabei insbesondere von Foucault, stellte die speziellen Hilfsmittel bereit, mit denen es den US-FeministInnen gelang, die Fundamente der Gender Studies auszuarbeiten. Weil der deutsche Feminismus keine große Anzahl unüberhörbarer Women of Color einschloss und weil Proteste gegen Rassismus innerhalb der deutschen Frauenbewegung, beginnend in den Mittachzigern, weithin ignoriert wurden, gelangten deutsche feministische ForscherInnen sehr viel später zur Einsicht in die Unterschiede zwischen Frauen und zur Anerkennung der Komplizenhaftigkeit von Frauen innerhalb dominanter Machtverhältnisse.12 Der radikale Sozialkonstruktivismus von Judith Butlers Gender Trouble (1990, übersetzt zu Das Unbehagen der Geschlechter, vgl. folgende Diskussion hier) wurde, wie Jutta Osinski erläutert hat, in Deutschland eher als eine sehr kontroverse und gänzlich eigenartige Intervention wahrgenommen denn als ein Beitrag zu einer andauernden Debatte zur Thematik der ‚spezifischen Frauen in spezifischen Situationen‘. Als Folge der frühen Bemühungen der Frauenbewegung, kulturelle Institutionen von Frauen für Frauen zu organisieren, wurden die ersten Verlage und Journale zur Veröffentlichung feministischer Forschung von Feministinnen selbst organisiert. Frauenoffensive war der erste deutschsprachige feministische Verlag, gegründet 1974, im gleichen Jahr gefolgt vom Orlanda Frauenverlag. In Österreich wurde 1980 der Wiener Frauenverlag gegründet, der sich 1997 in Milena Verlag umbenannte, sowie 1988 der eFeF-Verlag in der Schweiz. In den späten 1970er-Jahren entdeckten die großen Buchverlage wie Fischer, Suhrkamp und dtv, dass der Feminismus verkaufsträchtig war, und trugen, wie auch akademische, progressive und alternative Verlage wie Argument, Böhlau, Campus, Metzler und Westfälisches Dampfboot, zur Verbreitung von Frauentexten bei. Die links-feministische Berliner Zeitschrift Courage, die von 1974–1984 herausgegeben wurde, und die eher populäre Emma (1977 bis heute) richteten die Diskussionen um weibliches Schreiben und zahlreiche andere feministische Fragestellungen auf ein größeres feministisches Publikum aus. Theoretischere Journale wie die Beiträge zur feministischen Theorie 12
Vgl. Lennox, Sara, „Divided Feminism: Women, Racism, and German National Identity,“ in: German Studies Review, 18/1995, 3, S. 481–502.
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und Praxis (erscheint seit 1978) und die Feministischen Studien (seit 1982) nehmen sich vielseitiger Themen an, welche von Interesse für feministische ForscherInnen sind, während Virgina. Zeitschrift für Frauenbuchkritik (seit 1986) sich auf weibliche Texte konzentriert. In den letzten Jahren haben zahlreiche akademische, linke und alternative Zeitschriften sich den für die feministische literarische Forschung zentralen Fragen zugewandt. Vor dem Anfang der zweiten Welle der Frauenbewegung der 1960erJahre haben einige Schlüsseltexte Frauen und literarische Produktion thematisiert und so die Fundamente für die spätere feministische Literaturanalyse gelegt. 1928 publiziert, untersucht Virgina Woolfs A Room of One’s Own (dt. Ein Zimmer für sich allein, 1978) die Bedingungen für die literarische Produktion von Frauen. Indem sie vorschlägt: „eine Frau muß Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Fiction schreiben will (…)“,13 macht sie sozio-ökonomische Faktoren für den Mangel an großen Autorinnen in vorangegangenen historischen Perioden verantwortlich. Dennoch und im Gegensatz zu vielen späteren feministischen LiteraturwissenschaftlerInnen behauptet sie, dass Frauentexte oft von Wut „deformiert und verzerrt“ seien.14 Literarisches Genie, so führt sie aus, ist nur der androgynen Seele möglich, welche zu gleichen Teilen männlich und weiblich zu sein habe. In Le deuxième sexe (1949; dt. Das andere Geschlecht, 1951) behauptet Simone de Beauvoir, dass die männliche Abstellung der Frauen in ein Anderssein verantwortlich ist für ihre Unterordnung, und sie untersucht Biologie, Psychologie, Soziologie, Geschichte, Mythologie und Literatur, um zu zeigen, wie Männer Frauen definiert haben. Mit ihrer berühmten Behauptung „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“,15 ruft sie die Frauen stattdessen auf, über die Immanenz, auf welche sie bisher beschränkt wurden, hinauszugehen, um die Transzendenz zu erreichen. Obgleich feministische Literaturwissenschaft ohne die Grundlagen, die Woolf und Beauvoir gelegt haben, undenkbar ist, so ist doch Kate Milletts Sexual Politics (1970; dt. Sexus und Herrschaft, 1971), ursprünglich als Dissertation an der Columbia University vorgelegt, dasjenige Buch, das die feministische Literaturanalyse der zweiten Feminismuswelle begründete. Gemäß ihrer Behauptung, dass 13
14 15
Woolf, Virginia, Ein Zimmer für sich allein, übers. v. Renate Gerhardt, Frankfurt a. M. 1981, S. 8. Vgl. ebd., S. 79. de Beauvoir, Simone, Das andere Geschlecht, übers. v. Eva Rechel-Mertens / Fritz Monfort, Hamburg 1951, S. 265.
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„unsere Gesellschaft wie alle anderen Gesellschaften in der Geschichte ein Patriarchat ist“,16 untersuchte Millett die Institutionen einschließlich der Literatur, welche die männlichen Machtverhältnisse stützten. Im berühmt gewordenen ersten Kapitel Beispiele von Sexualpolitik, welches in die Problematik einleitet, analysiert Millett patriarchale Voreingenommenheiten sowie die Beziehungen zwischen sexueller Potenz und soziopolitischer Macht, die den sexuell expliziten Szenen in den Werken von Henry Miller, Norman Mailer und Jean Genet zu Grunde liegen. Wurde das Buch auch sehr kontrovers aufgenommen, so etablierte Sexual Politics doch Schlüsselprinzipien und analytische Kategorien, welche feministische WissenschaftlerInnen von nun an anwandten, um zu verstehen, wie literarische Texte die männliche Vorherrschaft gegenüber Frauen zu sichern halfen. Als aber in den 1970er-Jahren die kritische Betrachtung der Qualitäten weiblicher Texte mehr ins Zentrum rückten als die Aufdeckung männlichen Sexismus, traten andere Texte der feministischen Literaturtheorie in den Vordergrund: Silvia Bovenschens weithin rezipiertes Essay Über die Frage: Gibt es eine ‚weibliche‘ Ästhetik? (1976) erlangte Einfluss in den USA wie auch in Deutschland, als feministische WissenschaftlerInnen zunehmend zu erklären versuchten, wie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Schreiben von Autorinnen Ausdruck fand. Bovenschen argumentierte überzeugend: „Wenn aber der sinnliche Zugang, das Verhältnis zu Stoff und Material, die Wahrnehmung, die Erfahrung und der Zeitrhythmus – und das ist etwas, was Ästhetik einem alten Modell zufolge als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung ja auch einmal meinte – bei Frauen qualitativ andere Voraussetzungen haben, dann müsste das logischerweise auch in besonderen Formen der mimetischen Transformationen sichtbar werden“.17 Bovenschen beschreibt 1979 in ihrem Buch Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen die historisch-spezifischen „kulturellen Grundmuster, in denen Vorstellungen vom Weiblichen organisiert werden“ wie auch die „Geschichte solcher Grundmuster“.18 Durch die Kulturtheorie der Frankfurter Schule beeinflusst betonte Bovenschen, dass, ob formuliert von männlichen oder 16
17 18
Millett, Kate, Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, übers. v. Ernestine Schlant, München 1974, S. 39. Bovenschen, Silvia, „Über die Frage: Gibt es eine ‚weibliche‘ Ästhetik?“ in: Ästhetik und Kommunikation, 7/1976, 25, S. 60–75. Osinski, Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, S. 75.
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weiblichen Autoren, die Repräsentationen von Femininität keinen transparenten Zugang zu einer realen weiblichen Erfahrung zuließen, sondern stattdessen nur aufzeigten, wie Frauen durch unterschiedliche historische Epochen hindurch imaginiert worden waren. Auf anderem Wege kamen Sandra Gilbert und Susan Gubar zu etwa derselben Zeit mit The Madwomen in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination (1979) zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Sie legten dar, dass sich Autorinnen sowohl mit patriarchalen Mustern literarischer Kreativität als auch mit ihrer eigenen „Angst vor Autorenschaft“ auseinandersetzen müssten, wobei sie, innerhalb männlich bestimmter Genres wirkend, „literarische Arbeiten, die in manchem Sinne Palimpseste sind“, produzierten, „Werke, deren Oberflächen weniger zugängliche (und weniger sozial akzeptierte) Verständnisebenen“19 aufweisen. Feministische Forschung von Women of Color, zumeist nicht ins Deutsche übersetzt, wurde eingeführt durch inzwischen legendäre Bücher wie This Bridge Called My Back. Writings of Radical Women of Color (1981) von Cherríe Moraga und Gloria Anzaldúa (Hrsg.) oder auch All the Women Are White, All the Blacks are Men, But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies (1982) von Gloria T. Hull, Patricia Dell Scott und Barbara Smith (Hrsg.). Diese Arbeiten stellten emphatisch die Essentialisierung von bisher gebräuchlichen Kategorien im Erarbeiten weiblicher Texte in Frage und dehnten ebenso die Genregrenzen der feministischen Theorie und Analyse aus. So stellt beispielsweise die schwarze Literaturwissenschaftlerin Barbara Christian fest: „People of Color haben immer theoretisiert, allerdings in von der westlichen Form abstrakter Logik sehr unterschiedlichen Formen“.20 Die afroamerikanische Autorin Audre Lorde legte zum Beispiel dar, dass ‚Dichtung nicht Luxus sei‘, sondern der erste Schritt zur Artikulation der eigenen, inneren, chaotischen Gedanken- und Gefühlswelt; eine Erfahrungsdestillation, notwendig für den Prozess der Theoretisierung, während Moraga und Anzaldúa, deren Bücher Texte sowohl in englischer als auch in spanischer Sprache enthalten, unterstreichen, dass solche Hybridität (‚mestizaje‘) der Formung ihrer Identität als ChicanaLesben Ausdruck verleihe. Später in den 1980er-Jahren hinterließen feministisch-postkoloniale ForscherInnen eine signifikante Spur in der feministischen Literaturtheorie: In ihrem einflussreichen Artikel Under Western Eyes vertrat Chandra Talpede Mohanty die Auffassung, dass 19 20
Gilbert, Sandra M. / Gubar, Susan, The Madwoman in the Attic. The Women Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New Haven 1979, S. 73. Christian, Barbara, „The Race for Theory,“ in: Feminist Studies, 14/1998,1, S. 68.
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westliche FeministInnen und westliche AutorInnen die Frauen der Dritten Welt als passive Opfer von Patriarchat und Tradition porträtierten, die außerhalb von Geschichte und ohne eigene Interessensvertretung existierten. Die marxistisch-feministische Dekonstruktivistin Gayatri Chakravorty Spivak, Übersetzerin der Grammatologie Derridas, wandte sich einerseits der theoretischen Beschreibung der Verortung nichtwestlicher Frauen in der westlichen Literatur und anderen Texten zu und analysierte Texte nichtwestlicher Autorinnen. In ihrem berühmten Essay Can the Subaltern Speak?21 und andernorts vertrat sie die Behauptung, dass der untergeordneten nicht-westlichen Frau die Rolle des sprechenden Subjektes innerhalb der westlichen Welt und innerhalb der grundlegenden westlichen Texte verwehrt bleibe. Die radikalen Fragen, die Judith Butler auf die Stabilität von Gender und seine Verortung im Diskurs in den frühen 1990er-Jahren bezogen formulierte, waren also schon durch die amerikanische feministische Theorie der 1980er-Jahre antizipiert. In Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity (1990; dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) ging Butler, um die Theorie der Genderperformativität weiter zu entwickeln, einen Schritt weiter über diesen Konstruktivismus hinaus, indem sie eine Theorie der Performativität entwickelte, d. h. sie behauptete, dass eine geschlechtsspezifische Subjektivität durch die wiederholte individuelle Performance des Genderdiskurses erworben werde. Für Butler sind Sex, Gender und der Körper Effekte von Macht, verkörperlichte Subjektivität wird diskursiv produziert und sowohl Sex als auch Gender existieren nicht außerhalb von Kultur. Wie Foucault verortet sie die Möglichkeiten zu Widerstand und Transformation innerhalb des diskursiven Feldes, das existierende Machtverhältnisse und Formen von Subjektivität hervorbringen. Feministische LiteraturwissenschaftlerInnen, die sich auf Butler beziehen, fassen Texte sowohl als Beitrag zu den regulativen Diskursen, die bestehende heteronormative Machtverhältnisse reproduzieren, als auch als Subversion von bestehenden Gender- und Sexualitätsdiskursen auf. In Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘ (1993; dt. Körper von Gewicht, 1995) stellte Butler klar, dass Gender-Performance keine freie Wahl war, sondern „ein Prozess der Iterabilität, eine regulierte und erzwungene Wiederholung von Normen. Und diese Wiederholung wird nicht ausgeführt durch ein Subjekt; es ist diese Wiederholung, die das Subjekt befähigt und zugleich die temporäre Bedingtheit 21
Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. Alexander Joskowitz / Stefan Nowotny, Wien 2008, S. 17–118.
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des Subjektes festlegt“.22 In ihrer Zusammenfassung der deutschen Butler-Rezeption merkt Jutta Osinski an, dass deutsche Feministinnen in ihrer Kritik Butler „Vernachlässigung weiblicher Körpererfahrung“ vorwarfen. Osinksi erwidert aber mit einem Zitat aus Butlers Antwort auf diese Vorwürfe in dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Körper von Gewicht: „Während es jene Feministinnen gibt, die argumentieren würden, daß Frauen ihren Körpern von Grund auf entfremdet werden, wenn sie die biologische Basis ihrer Besonderheit in Frage stellen, würde ich deutlich machen, daß dieses Infragestellen durchaus ein Weg zu einer Rückkehr zum Körper sein kann […], dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten. Vielleicht sucht meine Arbeit auf diese Weise das Bündnis mit jenen Feministinnen, die körperliche Freiheit nach wie vor höher ansetzen als die einschränkenden Wirkungen der Hetero-Normativität“.23
5. Fachgeschichtliche Einordnung Wie viele neuere Überblicksdarstellungen der feministischen Literaturwissenschaft in Deutschland bestätigen, ist Gender heutzutage eine analytische Kategorie, die weder in der Literaturwissenschaft noch in anderen Disziplinen zu ignorieren ist. Wie jedoch in der Diskussion bereitwillig eingestanden wird, besteht die feministische Literaturwissenschaft heute nicht aus einer einzigen, sondern aus vielen, heterogenen und häufig unvereinbaren Methoden: Alle hier erwähnten feministischen Ansätze können sich noch immer behaupten und viele andere literaturwissenschaftliche Methodologien, die in dieser Methodengeschichte angesprochen werden, haben ihre eigenen feministischen Varianten. Sicherlich hat die feministische Literaturwissenschaft bei der Demaskierung universaler Behauptungen in der Literatur und anderswo geholfen, hat in der Aufdeckung des angeblich Natürlichen als sozial Bestimmten den Essentialismus hinterfragt und für die Konstruiertheit sozialer Realität argumentiert. Gemeinsam mit anderen literaturwissenschaftlichen Methodologien, die seit den 1960er-Jahren entwickelt wurden, hat die feministische Literaturwissenschaft das Eingebettetsein literarischer Produktion in die soziale Realität unterstrichen und auf der 22 23
Butler, Judith, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ‚Sex‘, New York, London 1993, S. 95. Butler, Judith, Körper von Gewicht, übers. v. Karin Wördemann, Berlin 1995, S. 10–11.
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Bedeutung von Literatur und Kultur für die Konstruktion sozialer Realität bestanden, indem sie diese sowohl untermauert als auch transformiert hat. Feministische Literaturwissenschaft hat auch dazu beigetragen, Unterscheidungen zwischen hoher und trivialer Literatur und zwischen Literatur und anderen Formen kultureller Produktion zu verwischen, da alle Texte nachweislich auf ähnliche Weise die die herrschende Ordnung stützenden Diskurse sowohl konstruieren als auch bestreiten. Aus dieser Perspektive hat der Feminismus eine bedeutende Rolle gespielt für die grundlegende und andauernde Wandlung der Literaturwissenschaft. Andererseits ist die feministische Literaturwissenschaft aller Arten gewissermaßen ein Opfer ihres eigenen Erfolges. Die Einblicke in die Genderkonstruktion, hervorgebracht durch die Entwicklung der feministischen Wissenschaft, haben allmählich deren eigene frühe Analyse verunmöglicht, haben sogar den Feminismus als politische Einstellung extrem schwierig gemacht. Als feministische WissenschaftlerInnen zunehmend erforschten, wie rassische, ethnische, sexuelle und klassenspezifische Unterschiede vorhergehende Modelle genderbezogenen Lesens und Schreibens ausweiten konnten, mussten sie auch einsehen, dass es unmöglich war, für eine einzige feministische oder weibliche Perspektive gegenüber oder innerhalb des literarischen Textes zu argumentieren. Zudem wurde deutlich, dass oftmals weibliche oder selbst feministische Argumentationen in vielerlei Hinsicht die herrschende Gesellschaftsordnung stützten. Mit der wachsenden Akzeptanz gegenüber der politischen Leitung von Frauen wurde es zunehmend schwieriger zu behaupten, dass die Perspektive von Frauen ohne weiteres systemdestablisierend, gegenhegemonial oder subversiv wirkte, und manchmal schien es, dass, wenn nicht kombiniert mit anderen oppositionellen Strategien, der Feminismus sich erschöpfen könnte in der Forderung nach dem Zugang aller Frauen zu Privilegien, die bis dato Männern ihrer eigenen Rasse, Klasse, Ethnie usw. vorbehalten waren. Zudem schien der Erfolg von Wissenschaftlerinnen im Hochschulsektor und die Institutionalisierung von Frauen- oder Gender Studies fast notwendigerweise die feministische Wissenschaft von dem feministischen Aktivismus und von den allgemein-gesellschaftlichen politischen Kämpfen abzukoppeln, aus denen sie einstmals hervorgegangen war. Ob Ursache oder Wirkung – nur wenig innovative feministische Literaturwissenschaft oder bahnbrechende feministische Theorie wurde in der letzten Dekade produziert, und die feministische Bewegung ist als politische Kraft kaum sichtbar.
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Sowohl in den USA als auch in Deutschland haben sich viele einst führende feministische LiteraturwissenschaftlerInnen weiterbewegt hin zur Untersuchung anderer Fragen als der von Gender. Viele WissenschaftlerInnen, die ihre durch den Feminismus erlernten Lektionen bewahren, untersuchen jetzt andere Formen der Unterwerfung etwa in Texten von Schwulen oder anders sexuell Abweichenden, rassischen und ethnischen Minderheiten oder kolonialen und postkolonialen Subjekten, während sie weiterhin auf den Genderaspekten aller sozialer Erfahrung bestehen. Optimaler Weise würde eine feministische Literaturwissenschaft, die ihre unausgeschöpften Potentiale zu expandieren sucht, fortfahren, ihr Verständnis der Bedeutung von Gender seinen Repräsentationen in spezifischen Zeiten und an spezifischen Orten in einer Interaktion mit tausenden anderen Variablen zu verfeinern. Obwohl ihre spezifische Ausbildung in literarischen Lektüren liegt, wären sie ebenso beständig bestrebt, ihr Verständnis des interdisziplinären Kontextes, aus welchem die Texte hervorgehen und innerhalb dessen sie gelesen werden, auszuweiten, und blieben dabei vollkommen au courant mit der Wissenschaft anderer Disziplinen, deren Gegenstand relevant ist für ihre eigene Arbeit. Gleichzeitig würden sie, auf ihre eigene Positionalität genauer achtend, verstehen, dass ihre Sicht auf Texte (und alles andere) unvermeidlich bestimmt ist von den epistemologischen Begrenzungen ihrer eigenen sozialen Verortung. Schließlich werden feministische LiteraturwissenschaftlerInnen, der Gendergleichheit noch immer verpflichtet, die Versuchungen einer einfachen Integration in Mainstream-Institutionen, wie sie von den Machtverhältnissen gegenwärtig konfiguriert sind, ablehnen und anerkennen, dass Gerechtigkeit für Frauen nur durch Gerechtigkeit für alle zu erreichen ist, und weiterhin ihre wissenschaftlichen Bemühungen zu Erreichung dieses Zieles einsetzen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Bußmann, Hadumod / Hof, Renate (Hrsg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart, 1995. Sammlung von Beiträgen zur Entwicklung von Gender Studies sowie zur Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der Philosophie, theologischen Wissenschaft, Sprachwissenschaft, Literaturgeschichtsschreibung, Kanonbildung, Geschichtsschreibung, Musikwissenschaft und ästhetischen Repräsentation.
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Hof, Renate, Die Grammatik der Geschlechter. Gender als Analysekategorie der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1995. Übersicht über die Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft mit Betonung des Konzepts Gender, der Beziehung zwischen Werk und AutorIn, geschlechtsspezifischer Rezeption und Dekonstruktion. Lindhoff, Lena, Einführung in die feministische Literaturtheorie, Stuttgart 1995. Übersicht über die Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft bis zu den frühen 1990er-Jahren mit Schwerpunkt auf der Psychoanalyse, Lacan, Derrida, Kristeva, Cixous und Irigaray. Osinski, Jutta, Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin 1998. Überblick über die Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft von ihren Anfängen bis zum Ende der 1990er-Jahre mit Schwerpunkt auf den US-amerikanisch beeinflussten Gender Studies und einem Versuch einer Systematik der Untersuchung bedeutender theoretischer Einflüsse. Zeitschrift für Germanistik. Schwerpunkt: Gender Studies/Geschlechterstudien, Neue Folge 9/1999,1. Beiträge zum Nutzen von Gender Studies für die Literaturwissenschaft, zum Maskulinismus, zur Androgynie und zu Tendenzen und Perspektiven der deutschspachigen Gender-Forschung; Projektvorstellungen universitärer Einrichtungen und Besprechungen von wissenschaftlichen Texten zu Gender- und Frauenstudien. Bontrop, Hiltrud / Metzler, Jan Christian (Hrsg.), Aus dem Verborgenen zur Avantgarde. Ausgewählte Beiträge zur feministischen Literaturwissenschaft der 80er Jahre, Hamburg 2000. Wiederauflage zentraler Essays deutscher feministischer Literaturwissenschaftlerinnen, zuerst publiziert in fünf Argument-Verlag-Sammlungen der 1980er-Jahre. Stephan, Inge, „Literaturwissenschaft“, in: Christina von Braun / Inge Stephan (Hrsg.), Gender Studien. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 290–299. Überblick über die Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft und über zentrale Arbeitsfelder der Geschlechterforschung mit einem Ausblick.
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Bischoff, Dörte, „Neuere deutsche Literatur. ‚Gender‘ als Kategorie der Kulturwissenschaft“, in: Claudia Benthien / Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Konzepte, Reinbek 2002, S. 298–322. Identifizierung von Analysefeldern, in denen sich die germanistischen Gender-Studien mit kulturwissenschaftlichen Fragehorizonten verknüpfen, und Untersuchung von Weiblichkeit und Briefkultur im 18. Jahrhundert als Beispiellektüre. Hotz-Davies, Ingrid, „Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies“, in: Ralf Schneider (Hrsg.), Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Eine anglistisch-amerikanistische Einführung, Tübingen 2004, S. 117–139. Definition der Gender Studies und Verteidigung der Notwendigkeit von Gender als Kategorie der Literaturanalyse unter Nutzung anglophoner Beispiele. von Braun, Christina / Stephan, Inge (Hrsg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln 2005. Essaysammlung, die Gender Studies vorstellt und die relevanten Themenfelder untersucht sowie Abgrenzungen und Überschneidungen zwischen Gender Studies, Postmoderne, Queer Studies, postkolonialer Theorie, Medienwissenschaften und Cultural Studies herausarbeitet.
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1. Definition Der (russische) Formalismus, der in den frühen 1920er-Jahren zur größten Entfaltung gelangte, markiert den Beginn einer methodisch reflektierten Literaturwissenschaft, die Texte in ihrer ästhetischen Organisation beschreiben will. Die Formalisten haben eine präzise Terminologie bereitgestellt, die auch heute noch literarische Phänomene auf adäquate Weise kategorisieren kann. Die strukturalistischen Analyseverfahren sind ohne die Vorarbeiten des russischen Formalismus undenkbar.
2. Beschreibung Der Formalismus versucht, die Literatur als autonomes System zu betrachten. Deshalb insistieren die Formalisten auf der ‚Literarizität‘ ihres Untersuchungsgegenstandes. Darunter verstehen sie jene spezifische Qualität, die einen literarischen Text aus dem Leben heraushebt. Boris Tomaˇsevskij erklärt die Literarizität mit einem anschaulichen Vergleich: „Es ist möglich, die Elektrizität zu untersuchen, ohne zu wissen, was sie ist. Und was bedeutet überhaupt die Frage: Was ist Elektrizität? Ich würde antworten: Sie ist das, was eine Glühbirne zum Leuchten bringt, wenn sie eingeschraubt wird. Wenn man Phänomene studiert, benötigt man keine a priori Definition des Wesens der Dinge. Man muss nur ihre Erscheinungsformen unterscheiden und ihre Verbindungen beschreiben. So untersuchen die Formalisten die Literatur. Sie begreifen die Poetik als eine Disziplin, die literarische Phänomene und nicht das Wesen der Literatur untersucht“.1
1
Tomaˇsevskij, Boris, „Formal’nyj metod. Vmesto nekrologa“, in: Sovremennaja literatura. Sbornik statej, Leningrad 1925, S. 148.
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Die Beschränkung auf die Literarizität bedeutet, dass ein literarisches Kunstwerk nicht in seinen biographischen, kulturellen, geschichtlichen oder ideologischen Kontexten, sondern in seiner künstlerischen Organisation erklärt werden soll. Die Formalisten wenden sich gegen „jede mimetische Ästhetik“ und berücksichtigen das Leben ausschließlich in seiner Relevanz für das literarische Kunstwerk. So kann etwa der Tod eines Dichters zu einem ‚literarischen Faktum‘ werden, das seinerseits Eingang in literarische Texte über dieses Ereignis findet. Die formalistische Terminologie verwendet zur Denotation des Lebens oft den schwer übersetzbaren russischen Begriff ‚byt‘, den Roman Jakobson als „Erstarren des Lebens in engen, verknöcherten Schablonen“ und „Bewachsen mit geistig unbeweglichem Kram“2 definiert. Diese negative Konnotation des ‚byt‘ wird von den Formalisten oft als Kontrastfolie für die spezifischen Erkenntnisleistungen des literarischen Kunstwerks eingesetzt. Im ‚byt‘ dominiert die automatisierte Wahrnehmung: Alle Phänomene der Welt werden wie selbstverständlich als gegeben und unveränderbar hingenommen. Die Kunst hingegen verfremdet die Alltagsoptik und weist auf das Konstruierte, Unnatürliche und Falsche des ‚byt‘ hin. Mehr noch: Die Kunst wird dem Leben vorgeordnet und entwickelt einen kulturrevolutionären Impetus. Ein berühmtes Beispiel für diese Entautomatisierung der Wahrnehmung bietet Lev Tolstojs Erzählung Leinwandmesser, in dem sich ein Pferd darüber wundert, dass die Menschen mit dem Possessivpronomen ‚mein‘ Eigentumsverhältnisse bezeichnen. Die spezifische Leistung der Kunst liegt für die Formalisten also im verfremdenden Blick auf den ‚byt‘. Die ‚Verfremdung‘ darf als wichtigstes Verfahren für die kategoriale Trennung von Kunst und Leben gelten. Eine maximale Steigerung erfährt die Verfremdung in der ‚Entblößung des Kunstgriffs‘: Ein literarisches Werk kann seine eigene ästhetische Organisation zum Thema machen, wie dies etwa in Hermann Brochs Methodologischer Novelle (1918) auf prominente Weise geschieht. Ähnlich verhält es sich mit der Dominanz der Kausalität im ‚byt‘: Das alltägliche Leben ist determiniert von privaten, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, während im literarischen Kunstwerk die Teleologie vorherrscht. Jedes Element eines Textes ist genau auf einen ästhetischen Effekt ausgerichtet, oder negativ formuliert: Es gibt 2
Jakobson, Roman, „Von einer Generation, die ihre Dichter vergeudet hat“, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, S. 158–191, hier S. 164.
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im literarischen Kunstwerk keine Zufälle. Im Gegensatz zum Leben ist die Kunst auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet. Genau diesen Unterschied hat etwa Anton Cˇechov im Auge, wenn er fordert, dass ein Gewehr, das im ersten Akt eines Stücks an der Wand hänge, im letzten auch losgehen müsse. Das Leben bietet mithin nur das Material, das von der Kunst in einem bestimmten Verfahren für ihre eigenen Zwecke aufbereitet werden muss. Die formalistische Literaturinterpretation richtet deshalb ihre Aufmerksamkeit auf die Faktur, auf die Gemachtheit des Textes. Dabei wird zwischen dem Sujet und der Fabel unterschieden. Der Begriff ‚Fabel‘ bezeichnet das Rohmaterial eines literarischen Kunstwerks, der Begriff ‚Sujet‘ bezieht sich auf das definitive künstlerische Arrangement der Fabelelemente.3 Berühmte formalistische Einzelanalysen konzentrieren ihr Erkenntnisinteresse genau auf diesen Aspekt. Von Boris E˙jchenbaum stammt der programmatische Aufsatz mit dem Titel Wie Gogol’s ‚Mantel‘ gemacht ist, Viktor Sˇklovskij beschäftigt sich mit dem Problem Wie Don Quijote gemacht ist. Beiden Formalisten geht es gerade nicht um eine produktionsästhetische Untersuchung der genannten literarischen Werke. In den zwei Arbeiten kommen die Autoren der analysierten Werke nicht vor. Als literaturwissenschaftlicher Gegenstand rücken einzig und allein die stilistischen und kompositorischen Verfahren der Textorganisation in den Blick. Die ‚Autorfeindlichkeit‘ des Formalismus muss allerdings cum grano salis genommen werden. Es gibt eine Reihe von formalistischen Untersuchungen, in denen eine einzelne Autorpersönlichkeit im Zentrum des Interesses steht. Zu nennen sind hier etwa Boris E˙jchenbaums Arbeiten über Tolstoj oder Jurij Tynjanovs Romane über russische Dichter des frühen 19. Jahrhunderts. In aller Deutlichkeit hat Boris Tomaˇsevskij dieses Problem in seinem Aufsatz Literatur und Biographie formuliert. Tomasˇevskij unterscheidet scharf zwischen Kulturgeschichte und Literaturgeschichte. Für die Kulturgeschichte ist die gesamte Biographie eines Autors relevant. Die Literaturgeschichte hingegen soll nur insofern auf den Autor Rücksicht nehmen, als dieser selbst seine Biographie zu einer literarisch wahrnehmbaren Legende umgeformt und damit als Interpretationshintergrund für seine Werke einkalkuliert hat.4 3
4
Unglücklicherweise fällt die deutsche umgangsprachliche Verwendung von ‚Sujet‘ („Das Sujet von E.T. ist die Landung eines Außerirdischen“) mit dem formalistischen ‚Fabel‘-Begriff zusammen. Vgl. Tomaˇsevskij, Boris, „Literatur und Biographie“, in: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 49–64.
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Das spezifische Erkenntnisinteresse des Formalismus bevorzugt eine synchrone Literaturbetrachtung. Texte werden nicht in erster Linie als historisch gewordene, sondern als ästhetisch organisierte Gebilde wahrgenommen. Gegen diese Einseitigkeit wandte sich vor allem Jurij Tynjanov, der eine wichtige Theorie der literarischen Evolution entwarf. Dabei wich er auf produktive Weise vom Prinzip ab, dass sich die formalistische Interpretation nur mit der ‚Literarizität‘ eines Werks befassen dürfe. Tynjanov untersuchte die komplexen Wechselwirkungen zwischen Literatur und außerliterarischem Leben und wies etwa darauf hin, dass die klassizistische Ode auf den mündlichen Vortrag ausgerichtet gewesen sei. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe sich dieses Genre „verschlissen“; Oden seien nur noch zu bestimmten außerliterarischen Zwecken, z.B. für Gratulationen, einsetzbar gewesen.5 Aus solchen Beobachtungen leitete Tynjanov generelle Gesetze zur Beschreibung der literarischen Evolution ab. Er setzte mit einer allgemeinen Kritik der Literaturgeschichte ein, die er als Geschichte der Generäle bezeichnete: Nur kanonisierte Autoren seien vertreten, die traditionelle Literaturgeschichte spiegle überhaupt nicht den Reichtum und die Vielfalt der Literatur in einer bestimmten Epoche. Außerdem gehe die Literaturgeschichte von der Illusion aus, die Literatur entwickle sich stetig, das Neue entstehe organisch aus dem Alten. Tynjanov verortet jeden Text zweifach: einerseits im literarischen System seiner Gegenwart, andererseits in der diachronen Reihe seines Genres. Der Literaturhistoriker muss immer beide Aspekte im Auge behalten. Jede Epoche stellt ein Genre in ihren Mittelpunkt: Der Klassizismus die Tragödie, die Romantik das Poem, der Realismus den Roman usw. Mit der Zeit verliert aber jedes Genre seine verfremdene Wirkung und sinkt in die Epigonalität ab. Deshalb wird das dominante Genre nicht durch etwas abgelöst, das sich organisch aus dem Vorhergehenden entwickelt. Der entscheidende Motor der literarischen Evolution liegt in der abrupten Setzung von etwas ganz Neuem, Unerhörtem, das über eine ungebrochene Verfremdungsfähigkeit verfügt. Für Tynjanov präsentiert sich die Literaturgeschichte mithin als Tradition des Traditionsbruchs. Wenn ein bestimmter Kunstgriff zu oft eingesetzt wird, verliert er seine Innovationskraft und wird zum Gegenstand einer literarischen Parodie. Gleichzeitig rücken bisher marginale literarische Formen ins Zentrum des Genresystems. Die Formalisten nennen diesen Vorgang ‚Kanonisierung der 5
Vgl. Tynjanov, Jurij, „Über die literarische Evolution“, in: Jurij Striedter (Hrsg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1988, S. 433–461, hier S. 453.
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Seitenlinie‘: Der Albumvers des Klassizismus wird in der Romantik als lyrisches Kurzgedicht zum dominanten Genre, Dostoevskij gibt mit Verbrechen und Strafe dem Kriminalroman die Würde einer literarischen Norm, Cˇechov führt Elemente der Farce in die Novellengattung ein. Tynjanov gab der Theorie der literarischen Evolution wertvolle Impulse, allerdings gelang es ihm nicht, Tempo und Richtung mit hinreichender Klarheit zu benennen. Weitere Fortschritte in dieser Hinsicht bringt erst die Rezeptionsästhetik (Ingarden, Mukaˇrovsk´y, Jauss).
3. Institutionsgeschichtliches Der Formalismus entwickelte sind in den Jahren nach 1915 in den beiden russischen Hauptstädten. In St. Petersburg schlossen sich Boris E˙jchenbaum, Viktor Sˇklovskij, Jurij Tynjanov und andere zur Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache zusammen (Opojaz). In Moskau formierte sich ein linguistischer Zirkel, dem u. a. Roman Jakobson, Petr Bogatyrev und Grigorij Vinokur angehörten. Beide Organisationen hatten nur einen informellen Charakter und lösten sich zu Beginn der 1920er-Jahre auf. Der Opojaz wurde in das staatliche Institut für Kunstgeschichte in Leningrad integriert, der Moskauer linguistische Zirkel verlor 1920 durch Jakobsons und Bogatyrevs Emigration nach Prag zwei führende Köpfe. Um 1930 verschwand der Formalismus aufgrund ideologischer Anfeindungen aus dem öffentlichen Diskurs der Stalinzeit. Die Bezeichnung ‚Formalismus‘ wurde dieser literaturwissenschaftlichen Schule, die über einen eher lockeren Zusammenhang verfügte, von ihren Kritikern verliehen. Die Formalisten selbst wiesen immer wieder darauf hin, dass sie ‚Form‘ nicht als Gegensatz zum Begriff ‚Inhalt‘ verstanden wissen wollten, sondern als künstlerisches Organisationsprinzip. Besonders vehement lehnten die Formalisten die Auffassung ab, dass die Form eine Art Gefäß darstelle, in die ein Inhalt gegossen werde. Der Formalismus entstand nicht im luftleeren Raum. Er ist als theoretischer Ansatz eng mit der literarischen Entwicklung in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden. Zwar polemisierte Viktor Sˇklovskij heftig gegen die Ästhetik des russischen Symbolismus, weil er meinte, dass die Kunst dort zu einem Erkenntnisinstrument degradiert werde. In der Tat hatten die Symbolisten die Kunst mit einer Alabastervase verglichen, in der das Licht der reinen Wahrheit brenne. Prominente Symbolisten hat-
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ten die Aufgabe der Kunst darin gesehen, den Menschen von den „realia“ zu den „realioria“ zu führen.6 Solche Metaphern mussten den Formalisten, die das Kunstwerk selbst als höchsten Zweck der Kunst betrachteten, in der Tat fremd erscheinen. Gleichwohl verdankt die formalistische Theoriebildung der symbolistischen Ästhetik viel: Auch die Symbolisten insistierten auf der Autonomie der poetischen Sprache. Wichtige symbolistische Dichter wie Valerij Brjusov und Andrej Belyj legten verstheoretische Arbeiten vor, die in ihrem Erkenntnisinteresse und in ihrer Durchführung durchaus formalistisch genannt werden können. Umgekehrt baute Aleksandr Blok die ästhetische Wirkung seines Kurzdramas Die Schaubühne (1906) ganz auf dem Prinzip der Verfremdung auf. Eine ungleich stärkere Affinität verband den Formalismus mit dem Futurismus. Hier ergänzten sich Theorie und Praxis in idealer Weise. Der junge Roman Jakobson verfasste selbst futuristische Dichtungen, bevor er sich der theoretischen Erfassung der poetischen Sprache zuwandte. Die Vorliebe futuristischer Dichter für Neologismen deckt sich mit dem formalistischen Verfremdungsbegriff: Wenn Aleksandr Kruˇcenych sein berühmtes gegenstandsloses Gedicht dyr bul ˇsˇcyl schreibt, das auch im Russischen nichts bedeutet, dann setzt er das formalistische Ideal einer nicht-mimetischen Literatur um. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Futurismus und Formalismus liegt in ihrer Vorliebe für Manifeste. Beide Richtungen wenden sich in aller Schärfe gegen die Fehler der Tradition und propagieren mit Verve ihre eigenen Prinzipien. Berühmt geworden ist die Neun-PunkteErklärung von Jurij Tynjanov und Roman Jakobson zu den Problemen der Sprach- und Literaturwissenschaft aus dem Jahr 1928. Bereits Viktor Sˇklovskijs berühmte Aufsätze Die Auferweckung des Worts (1914) und Kunst als Kunstgriff (1916) weisen alle Merkmale von Programmschriften auf: Sie setzen mit einer radikalen Kritik des Status quo ein, gehen dann zu einer Explikation der eigenen Position über und enden mit einem Aufruf. Auch die Malerei der Avantgardekunst weist bedeutende Parallelen zum Formalismus auf. Die Begeisterung für primitive und ursprüngliche Formen, die Absage an die Mimesis und die Revolutionierung der Perspektivik können als verfremdende Praktiken verstanden werden. Wissenschaftsgeschichtlich basiert der Formalismus vor allem auf den Erkenntnissen der strukturalen Linguistik, die zu Beginn des
6
Vgl. Schmid, Ulrich, Fedor Sologub. Werk und Kontext, Bern 1995, S. 29–43.
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20. Jahrhunderts von Ferdinand de Saussure in Genf entwickelt wurde. Besonders wichtig war die relationale Betrachtungsweise, die den Wert eines Elements nicht als absolute Setzung, sondern als Resultat aller Beziehungen zu den übrigen Elementen des Systems auffasste. Bedeutende Impulse kamen überdies von der Phänomenologie. Husserl wandte sich gegen die positivistische Auffassung, dass nur Erfahrung Wissen generieren könne. Er forderte eine Rückkehr „zu den Sachen selbst“, allerdings nicht zu den singulären, realen Gegenständen, sondern zu den „irrealen“ Phänomenen, die gerade aufgrund ihrer Wirklichkeitsenthobenheit in ihrem innersten Wesen erkannt werden. Husserls erkenntnistheoretischer Optimismus basiert auf einer konsequenten „Entrealisierung“ der Welt: Die Gegenstände der konkreten Wirklichkeit sind nicht selbständig, sondern existieren nur als Korrelate eines reinen Bewusstseins. Deshalb traut Husserl der Phantasie höhere Wahrheitschancen zu als der Erfahrung und bezeichnet die Fiktion als „Lebenselement“ der Phänomenologie. Die Parallelen zwischen Formalismus und Phänomenologie reichen bis in einzelne Analysekategorien hinein: Zu nennen sind hier etwa die Begriffe ‚Motivation‘ (‚motivirovka‘) und ‚Einstellung‘ (‚ustanovka‘). Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Ablehnung der Psychologie: Die Formalisten wollten sich von problematischen subjektivistischen Begriffen wie der Autorintention oder dem Lesereindruck emanzipieren, Husserl löste die individuelle Erfahrung im Postulat eines transzendentalen Ich auf.7 In den 1920er-Jahren geriet der Formalismus in immer schärferen Gegensatz zum Marxismus. Zunächst gab es durchaus Berührungspunkte. In beiden Denksystemen spielte der handelnde Mensch als Akteur eine untergeordnete Rolle. Die historische Evolution der Gesellschaftssysteme im Marxismus und die literarische Evolution der Genres im Formalismus gehorchen gleichermaßen abstrakten Gesetzen, die nicht von Individuen kontrolliert werden. Nach der Revolution wollten sowohl der Marxismus als auch der Formalismus die Rolle der Kunst nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen neu definieren. Boris E˙jchenbaum ging in seinem Aufsatz 5=200 (1922) so weit, die Revolution und die Literaturwissenschaft als sich gegenseitig stützende Größen zu bezeichnen. Viele herausragende Formalisten standen den marxistischen Zeitschriften LEF und Novyj LEF nahe. Genau aus dieser struk-
7
Vgl. Hansen-Löve, Aage A., Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978, S. 181.
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turellen Ähnlichkeit ergab sich später die ideologische Konkurrenz zwischen Marxismus und Formalismus.8 Die eigentliche Konfrontation beider Schulen fand in den späten 1920er-Jahren statt. 1923 gab Lev Trockij den Formalismus zum Abschuss frei. In einem längeren Artikel für die Pravda, den er im gleichen Jahr auch in sein Buch Literatur und Revolution integrierte, griff er den Formalismus scharf an. Trockijs besonderen Ärger erregte die formalistische Trennung von Leben und Literatur. Trockij wies darauf hin, dass der Dichter von seiner sozialen Umwelt determiniert sei und den Stoff für seine Literatur nur im Leben finden könne. Trockij beendete seinen Aufsatz mit einem vernichtenden Verdikt: „Die formale Schule ist eine von Stubengelehrten präparierte Frühgeburt des Idealismus, auf die Fragen der Kunst angewandt. Auf den Formalisten liegt das Siegel eines frühreifen Popentums. Sie sind Johanniter, für sie war im Anfang das Wort. Aber für uns war im Anfang die Tat. Das Wort folgte ihr nach als ihr lautlicher Schatten“.9 Der sowjetische Kulturminister Anatolij Lunaˇcarskij denunzierte in einem Referat aus dem Jahr 1924 den Formalismus als Ausdruck eines bourgeoisen Kunstverständnisses und kündigte einen entscheidenden Kampf zwischen Marxismus und Formalismus an.10 Gemäßigter äußerte sich im Jahr 1925 Nikolaj Bucharin, der die wissenschaftlichen Leistungen des Formalismus anerkannte, aber forderte, dass man das Phänomen Kunst dialektisch verstehen müsse, d. h. die Funktion der Kunst im Leben nicht vernachlässigen dürfe.11 1928 erschien Pavel Medvedevs Buch Die Formale Methode in der Literaturwissenschaft. Medvedev warf den Formalisten vor, das Kunstwerk vom subjektiven Bewusstsein und damit auch aus seiner ideologischen und sozialen Bindung herauszulösen. Das Verhältnis zwischen Literatur und Leben werde ganz einseitig gefasst, kritisierte Medvedev weiter. Zwar könne ein wirklicher Tatbestand ein literarisches Faktum werden, damit werde aber seine Alltagsbedeutung gewissermaßen annulliert. Dieses 8
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10
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Vgl. Tihanov, Galin, „When Eurasianism met Formalism. An Episode from the History of Russian Intellectual Life in the 1920s“, in: Die Welt der Slaven, 48/2003, S. 359–382, hier S. 368 ff. Trotzki, Lev, „Die Formale Schule der Dichtung und der Marxismus“, in: ders., Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S. 100–118, hier S. 118. Vgl. Lunaˇcarskij, Anatolij, „Der Formalismus in der Kunstwissenschaft“, in: Hans Günther (Hrsg.), Marxismus und Formalismus. Dokumente einer literaturtheoretischen Kontroverse, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1976, S. 83–95. Vgl. Bucharin, Nikolaj, „Über die formale Methode in der Kunst“, in: ebd., S. 65.
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„Aufsaugen“ des Lebens durch die Literatur werde diesem Prozess nicht gerecht, der eher als eine Art Überlagerung von fiktionalen und realen Bedeutungen gefasst werden müsse. Medvedevs intelligente Kritik war in der ersten Ausgabe des Buchs noch von einer Wertschätzung für den Formalismus getragen: „Der Formalismus hat insgesamt eine fruchtbare Rolle gespielt. Er hat es verstanden, die wesentlichsten Fragen der Literaturwissenschaft auf die Tagesordnung zu setzen“.12 Bereits in der zweiten Ausgabe von 1934 fehlen diese anerkennenden Worte. Das Vorwort setzt mit einem gehässigen Angriff ein: „In unserem kampferfüllten und angespannten ideologischen Leben kommt der Entlarvung verschiedener antimarxistischer literaturwissenschaftlicher und ästhetischer Konzeptionen ein beachtlicher Platz zu“.13 Die Hetze gegen die Formalisten ging so weit, dass Viktor Sˇklovskij in einem Artikel in der Literaturnaja gazeta vom 27. Januar 1930 Selbstkritik üben und den Formalismus als „wissenschaftlichen Irrtum“ bezeichnen musste. Spätestens mit der Durchsetzung des sozialistischen Realismus als der einzig gültigen Kunstdoktrin der Sowjetunion im Jahr 1934 wurde der Begriff ‚Formalismus‘ zur ideologischen Kampfvokabel, mit der alle missliebigen Erscheinungen der Kunstproduktion und -interpretation diffamiert werden konnten. Pavel Medvedev gehörte zum Kreis um Michail Bachtin. Bis heute ist ungeklärt, ob sein Formalismus-Buch nicht von Bachtin selbst verfasst wurde. Jedenfalls ist Bachtins Verhältnis zum Formalismus von einer ähnlichen Ambivalenz geprägt. Bachtin versteht seinen eigenen Ansatz als Metalinguistik: Er will die stilistischen Regeln des Einsatzes verschiedener Stimmen im Text untersuchen. Berühmt geworden ist seine Analyse der Gerichtetheit des Worts in Dostoevskijs Romanen. Darin kommt er einem formalistischen Erkenntnisinteresse sehr nahe: Auch die Formalisten untersuchen die ästhetischen Implikationen, die sich aus der perspektivierten Wahrnehmung einer Handlungsfigur in einem narrativen Text ergeben. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt im gesteigerten Interesse für die künstlerische Funktion der Parodie: Für Sˇklovskij ist die Parodie ein Prüfstein für seine Verfremdungstheorie, während Tynjanov auf der Parodie eine literarische Evolutionstheorie aufbaut. Michail
12 13
Medvedev, Pavel, Formal’nyj metod v literaturovedenii. Kritiˇceskoe vvedenie v sociologiˇceskuju po˙etiku, Leningrad 1928, S. 232. Medvedev, Pavel, Formalizm i formalisty, Leningrad 1934, S. 7.
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Bachtin sieht in der Parodie den stilistischen Keim der Polyphonie, die aus seiner Sicht für den Roman konstitutiv ist. Gleichzeitig lassen sich aber auch tiefgreifende Unterschiede zwischen Bachtin und den Formalisten feststellen. Bachtin verfolgt zunächst kein genuin literaturwissenschaftliches Interesse. Ihn interessiert die Ethik, die aber bei den Formalisten konsequent ausgeblendet wird. Gerade Bachtins frühe Arbeiten zum Verhältnis zwischen Autor und Held sind von einem moralischen Pathos getragen. Der Text ist für Bachtin keine autonome Wirklichkeit, sondern ein fiktionales Modell für das Leben, in dem Beziehungen zwischen Menschen gewissermaßen als Laborexperiment durchgespielt werden können.14
4. Publikationen Als Kernschrift des russischen Formalismus darf Viktor Sˇklovskijs Aufsatz Kunst als Kunstgriff (1916) gelten. Sˇklovskij grenzt den alltäglichen Sprachgebrauch vom künstlerischen Sprachgebrauch ab. Die Alltagssprache diene als Kommunikationsmittel und bemühe sich deshalb, ihre Inhalte so ökonomisch wie möglich zu formulieren. Im Gegensatz dazu bevorzuge die dichterische Sprache die „erschwerte Form“. Die Dichtung wolle damit die Aufmerksamkeit vom Bezeichneten auf das Bezeichnende, mithin auf sich selbst lenken. Kunst ist für Sˇklovskij in erster Linie Wortkunst, sie dient gerade nicht als Transportmittel für einen außerliterarischen ästhetischen Inhalt. Das sorgfältig gestaltete Kunstwerk sei vielmehr dieser Inhalt selbst. Zentrale Bedeutung kommt dem Begriff der ‚Verfremdung‘ zu. Kunst solle die alltägliche, automatisierte Wahrnehmung ausschalten und zu einem neuen Sehen führen. In diesem Sinne sei das literarische Kunstwerk eine Schule des Erkennens. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft bestehe nun darin, in der künstlerischen Organisation des Textes jene Elemente aufzuspüren, die das neue Sehen ermöglichen. Später hat Viktor Sˇklovskij sein technizistisches Literaturverständnis weiter präzisiert: „Wer Schriftsteller werden will, muss ein Buch ebenso aufmerksam betrachten, wie ein Uhrmacher eine Uhr oder ein Chauffeur ein Auto. Autos werden üblicherweise wie folgt untersucht: Die 14
Vgl. Tihanov, Galin, „Formalisty i Bakhtin. K voprosu o preemstvennosti v russkom literaturovedenii“, in: P. A. Nikolaev (Hrsg.), Literaturovedenie na poroge XXI veka, Moskva 1998, S. 64–71.
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dümmsten Leute gehen zum Auto und drücken auf den Ballon der Hupe. Das ist der erste Grad der Dummheit. Leute, die ein bisschen mehr verstehen, ihre Kompetenz aber überschätzen, kommen zum Auto und spielen mit dem Ganghebel. Das ist ebenfalls dumm und schlecht, weil man nicht mit Dingen spielen sollte, für die ein anderer Arbeiter verantwortlich ist. Ein vernünftiger Mann untersucht das Auto eingehend und findet heraus, was wozu dient. Warum hat das Auto soviele Zylinder und warum hat es große Räder, wo ist das Getriebe, warum läuft das Heck in einem spitzen Winkel zu und warum ist der Kühler nicht lackiert? So muss man lesen“.15 Eine formalistische Musterinterpretation bietet Boris E˙jchenbaum in seinem Aufsatz Wie Gogol’s ‚Mantel‘ gemacht ist (1918). E˙jchenbaum stellt den Begriff des ‚skaz‘ in das Zentrum seiner Ausführungen. Unter ‚skaz‘ verstehen die Formalisten die Orientierung des Erzähltextes auf die mündliche Rede. Dadurch erhält das Werk eine bestimmte sprachliche Einfärbung, die als Kontrastfolie für alle anderen Redestile dient. E˙jchenbaum stellt die These auf, dass die Handlung von Gogols berühmter Erzählung nur den Vorwand bietet, verschiedene Redestile gegeneinander auszuspielen. Das Sujet des ‚Mantels‘ wird also nicht von einer dramatischen, sondern von einer rhetorischen Notwendigkeit diktiert. Jurij Tynjanovs wichtigster Beitrag zum Formalismus liegt in seinen Aufsätzen Das literarische Faktum (1924) sowie Die literarische Evolution (1927). In beiden Texten formuliert Tynjanov die Gesetze der Entwicklung von Stilepochen. Die Literaturgeschichte wird als dynamisches System begriffen, in dessen Zentrum jeweils ein dominantes Genre steht. Zu jedem Zeitpunkt lässt sich die literarische Werthierarchie des Systems bestimmen. Das dominante System wird von „Archaisten“ gestützt, steht aber auch unter künstlerischem Dauerfeuer der „Neuerer“. Tynjanov beschreibt die literarische Evolution am Beispiel des Briefs. Im 18. Jahrhundert ist der Brief noch ein privates Dokument, das keine Beziehung zur Literatur aufweist. Bei Karamzin, Puˇskin und Dostoevskij wird dann der Brief zu einem „literarischen Faktum“, er wird in das System der Literatur integriert und nach literarischen Gesichtspunkten geschrieben und gelesen. Die literarische Kanonisierung des Briefs ist allerdings nicht endgültig, in späteren Epochen sinkt der Brief wieder ins außerliterarische Leben ab. Die literaturgeschichtliche Dynamik des Briefs kann mutatis mutandis auf die meisten literarischen Genres ange-
15
Sˇklovskij, Viktor, Technika pisatel’skogo remesla, Moskva 1928, S. 7 f.
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wandt werden. Tynjanov versteht die literarische Evolution vor allem als Geschichte der Ablösung verschiedener Systeme und nicht als Tradition. Der Formalismus hat eine besondere Affinität zu folkloristischen Texten, die keinen konkreten Autor aufweisen, sondern mündlich überliefert werden. Berühmt geworden ist Vladimir Propps Morphologie des Märchens aus dem Jahr 1928. Für Propp ist das Märchen kein Phänomen der Literatur, sondern der Sprache. Er betrachtet die Gesamtheit der russischen Zaubermärchen als ein System, das aufgrund bestimmter Regeln aus einer beschränkten Anzahl von Figuren- und Handlungsmustern eine unbeschränkte Anzahl von Texten generieren kann. Propp reduziert das Personeninventar des Zaubermärchens auf sieben Aktantentypen (Held, scheinbarer Held, Antagonist, Entsender, Geber, Helfer, Königin). Diese Aktanten können in 31 verschiedenen Handlungsformen auftreten (z. B. Verbot, Erhalt eines Zaubermittels, Auszug, Rückkehr, Transfiguration, Hochzeit usw.). Propp bezieht sich ausdrücklich auf Goethes Morphologiebegriff (von Goethe stammen auch die Epigraphen zu den einzelnen Kapiteln der Morphologie des Märchens). Claude Lévi-Strauss kritisierte 1960, dass Propp eine rein textimmanente Analyse vorgelegt hatte, ohne auf den ethnographischen Kontext Rücksicht zu nehmen. Propp verteidigte sich mit dem Hinweis darauf, dass ähnliche folkloristische Schemata in ganz unterschiedlichen Kulturzusammenhängen auftreten können und sich hinsichtlich ihrer narrativen Ausdifferenzierung überhaupt nicht an die historische Genealogie halten müssen. Eine Sonderstellung im russischen Formalismus nimmt Viktor Zˇirmunskij ein. Sein komparativistisches Erkenntnisinteresse trennt ihn von den Formalisten, deren Methodologie er jedoch in zahlreichen Punkten nahe steht. So stellt das literarische Kunstwerk auch für Zˇirmunskij ein geschlossenes System von poetischen Verfahren dar, die auf einen bestimmten ästhetischen Effekt gerichtet sind. Allerdings wandte sich Zˇirmunskij gegen die formalistische Beschränkung des Textes auf seine ‚Literarizität‘. Er erweiterte die formalistischen Grundkategorien ‚Material‘ und ‚Kunstgriff‘ um den Begriff des ‚Stils‘. Er forderte vor allem für die Erklärung der literarischen Evolution die Berücksichtigung breiterer kultureller Kontexte, die für die Einzeltexte stilbildend wirken. Als ‚Stil‘ eines Kunstwerks bezeichnete Zˇirmunskij jene ästhetische Einheit, die als teleologisches Konstruktionsprinzip den literarischen Text dominiert. In weit gehender Übereinstimmung mit den Formalisten wusste sich Zˇirmunskij auch in seiner Konzeptualisierung des Verhältnisses von Form und Inhalt, die für ihn untrennbar miteinander verbunden waren. Er kritisierte indes die maximalistische Position Sˇklovskijs,
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der den Inhalt nur als einen Aspekt der Form verstand. Dabei verwies Zˇirmunskij auf den „philosophisch-poetischen Synkretismus“ etwa von Nietzsches Zarathustra, dessen Poetik sowohl hinsichtlich Thematik als auch hinsichtlich Komposition beschrieben werden müsse. Verallgemeinernd hielt Zˇirmunskij fest, dass ein Kunstwerk sich nicht in seiner ästhetischen Qualität erschöpfe, sondern darüber hinaus philosophische, moralische oder religiöse Wirkungen entfalte.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die Bedeutung des russischen Formalismus für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung im 20. Jahrhundert kann kaum überschätzt werden. Besondere Relevanz kommt vor allem dem hohen methodologischen Reflexionsgrad der formalen Schule zu. Erst durch die Offenlegung und die damit verbundene Überprüfbarkeit der zentralen Analysekategorien gelang der quellenorientierten Philologie des 19. Jahrhunderts der Schritt zur modernen Literaturwissenschaft. Obwohl der Formalismus selbst nicht im strengen Sinne des Wortes strukturalistisch vorgeht (d. h. Oppositionen bildet und Taxonomien erstellt), bauen alle strukturalistischen Ansätze auf dem russischen Formalismus auf. Die wichtigste personelle Verbindung zwischen dem Formalismus und dem Strukturalismus bildet Roman Jakobson, der 1926 nach dem Vorbild des Moskauer linguistischen Zirkels den Prager Zirkel gründete. Der entscheidende Fortschritt gegenüber der formalistischen Theoriebildung bestand in einer doppelten Erweiterung des Instrumentariums: Zum einen führte der Prager Strukturalismus kultursemiotische Gesichtspunkte in die Betrachtung ein, zum anderen wurde das literarische Kunstwerk nicht mehr als „Summe aller Kunstgriffe“ (Sˇklovskij), sondern als funktionales Gebilde aufgefasst. Jakobson versucht in seinen literaturwissenschaftlichen Arbeiten im Exil, möglichst viele Aspekte der Bedeutungskonstitution eines Textes zu berücksichtigen. Jakobson unterstrich vor allem die Autonomie der ästhetischen Funktion eines literarischen Kunstwerks, die allerdings auch mit anderen (politischen, dokumentarischen usw.) Funktionen gepaart sein konnte. Damit setzte er sich ab von der einseitigen formalistischen Betonung der Literarizität des Kunstwerks. Auch der französische Strukturalismus ist weitgehend vom russischen Formalismus beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielt hier die Vermittlungstätigkeit von bulgarischen Literaturwissenschaftlern wie Tsve-
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tan Todorov oder Julia Kristéva, die in Frankreich tätig wurden. Ein formalistischer Grundgestus lässt sich etwa in Roland Barthes minutiöser Studie S/Z beobachten, in der eine kurze Balzac-Erzählung Satz für Satz ausschließlich auf ihre textuelle Organisation hin untersucht wird. Weiter ist auf Jurij Lotmans Kultursemiotik hinzuweisen, die ebenfalls auf den Methoden des Formalismus aufbaut. Lotman hatte selbst 1939 in Leningrad bei ehemaligen Mitgliedern der formalen Schule studiert. Lotmans innovative Leistung besteht darin, dass er den Textbegriff auf die Kultur ausweitet und sich mit der Übersetzbarkeit zwischen verschiedenen „Kulturtexten“ beschäftigt. Lotmans ausgeprägtes Interesse für kulturelle Phänomene hat Efim Etkind ˙ veranlasst, den sowjetischen Strukturalismus scherzhaft als „Formalismus mit menschlichem Antlitz“ zu charakterisieren.16 Die formalistische Evolutionstheorie hat noch viel zu wenig Eingang in die Theorie und Praxis der Literaturgeschichtsschreibung gefunden, die sich nach wie vor allzu oft in der positivistischen Aneinanderreihung von Autorbiographien und Werkzusammenfassungen erschöpft. Immerhin hat Hans-Robert Jauss in seinem Aufsatz Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1967) formalistische Theorieangebote aufgegriffen und durch das hermeneutische Konzept des ‚Erwartungshorizonts‘ erweitert. Deutlich beeinflusst von Tynjanovs Gedanken ist auch Harold Bloom, der in seinem Buch Anxiety of Influence (1973) die bewusste Abwehr epochenspezifischer Merkmale zu einem wichtigen Merkmal der Konstituierung dichterischer Identitäten erhebt.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Erlich, Viktor, Russischer Formalismus, München 1963. Bereits klassisch gewordene Darstellung von Geschichte und Lehre des russischen Formalismus. Erlich beschreibt die intellektuelle Entstehung des Formalismus und stellt die wichtigsten theoretischen Konzepte einzeln vor. Hansen-Löve, Aage A., Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978. Bisher umfassendste Darstellung des russischen Formalismus. HansenLöve untersucht die wichtigsten Ausgangspunkte für den Formalismus 16
Vgl. Egorov, Boris, Zˇizn’ i tvorˇcestvo Ju.M, Lotmana, Moskva 1999, S. 164.
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(Romantik, Symbolismus, Avantgarde, Futurismus) und geht dann über zu einer Periodisierung des Formalismus. Er unterscheidet drei Phasen, die mit zunehmend komplexeren Modellen operieren. Das paradigmatische Reduktionsmodell rückt die ästhetische Wahrnehmung in den Vordergrund, das syntagmatische Funktionsmodell beschäftigt sich mit der Komposition und das pragmatische Modell berücksichtigt gesellschaftliche und kommunikative Aspekte. Steiner, Peter, Russian Formalism. A Metapoetics, Ithaca, London 1984. Gute wissenschaftshistorische Einführung in den Formalismus. Steiner sieht den Formalismus eher als disparates Phänomen und unterscheidet drei Basismetaphern (Maschine, Organismus, System), die er verschiedenen Vertretern dieser Schule (Sˇklovskij, Zˇirmunskij, Tynjanov) zuordnet. Striedter, Jurij, Literary Structure, Evolution and Value. Russian Formalism and Czech Structuralism Reconsidered, Cambridge (Mass.), London 1989. Striedter bietet eine Einführung in den russischen Formalismus und zeichnet die Entwicklungslinien nach, die vom Formalismus zur Prager Schule führen. Gleichzeitig macht er auch auf die entscheidenden Unterschiede zwischen Formalismus und Strukturalismus aufmerksam.
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1. Definition Ausgehend davon, dass die Debatte um die Gattungsproblematik nicht „vom Problem des Mediums und des Darstellungsmodus getrennt werden kann“, bestimmt Peter Stolz ‚Gattungen‘ als „historische Formen bestimmter Kulturen“, deren Strukturen „als ‚longue durée‘-Beschreibungsmodell […] hypothetische Wahrscheinlichkeit vermitteln“.1 Die Zuordnung zu einer Gattung prägt den Text immer weniger als eine normative Komponente, sie tritt vielmehr in Form einer historischen Begriffs(re-)konstruktion in eine Beziehung zu den jeweiligen Texten ein. Diese Entwicklungstendenz stellt v. a. Wilhelm Voßkamp heraus. Er betont, dass literarische Gattungen „zu den wichtigsten Einteilungs- und Gliederungsmöglichkeiten der Literatur und Literaturgeschichte“ gehören. Dem Befund sei eine wichtige Komponente hinzuzufügen: Mit Hilfe der Gattungszuordnung werden „durch das Herausarbeiten signifikanter Faktoren und dominanter Tendenzen […] Gesichtspunkte gewonnen, die ein gegebenes literaturgeschichtliches Datenmaterial gruppieren, einander zuordnen und umfassender charakterisieren lassen“.2 Aus den Arbeiten der modernen Gattungstheorie und -geschichte geht hervor, dass normative Gattungsgesetze oder -regeln als weitgehend 1
2
Stolz, Peter, „Der literarische Gattungsbegriff – Aporien einer literaturwissenschaftlichen Diskussion. Versuch eines Forschungsberichts zum Problem der ‚literarischen Gattungen‘“, in: Siegfried Mauser (Hrsg.), Theorie der Gattungen, Laaber 2005, S. 24–33, hier S. 27. Voßkamp, Wilhelm, „Gattungen“, in: Helmut Brackert / Jörn Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. H. 1992, S. 253; vgl. auch ders., „Gattungen als literarisch-soziale Institutionen“, in: Walter Hinck (Hrsg.), Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27–44. Der Aufsatz plädiert für die Interpretation und Beschreibung von Gattungen als „historisch bedingte[n] Kommunikations- und Vermittlungsformen, d.i. als soziokulturelle[n] Phänomene[n]“.
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obsolet gelten. Damit tritt der Klassifikationsdiskurs der Gattungen in eine neue Aufgabe ein: Er geht jenen Produktions- bzw. Rezeptionseinstellungen nach, die normativ-begrenzend oder transitiv-entgrenzend mit der Gattungsproblematik umgehen, oder er wendet sich im Zuge der Untersuchung einzelner Gattungen und Genres mikrologischen Beschreibungen im Sinne eines ‚pragmatisch konzipierten Gattungssystems‘ zu.3 Die Funktionsbeschreibung reicht bis zu einer Bestimmung ihrer Aufgabe, die besagt, dass „die literaturwissenschaftliche Gattungstheorie […] eigentlich nichts anderes“ ist „als ein systematischer und auf Prinzipienwissen ausgerichteter Versuch der theoretischen Reflexion über literarische Gattungen“.4
2. Beschreibung Seit Aristoteles hat die zentrale Fragestellung, die sich an Geschichte und Theorie des in der Regel philosophisch-erkenntnistheoretisch begründeten Klassifikationsbegriffs ‚Gattung‘ knüpft, eine Differenz von Präskription und Deskription zum Ausgangspunkt. András Horn hebt diesen Aspekt besonders deutlich hervor: „Jegliche Gattungstheorie ordnet die konkreten Werke der Literatur, doch nicht nach Land bzw. Sprache (dies tut die Geschichte der Nationalliteraturen), auch nicht nach Perioden, etwa nach jener des europäischen Klassizismus oder der euroamerikanischen Romantik (dies ist Sache der vergleichenden Literaturwissenschaft), sondern nach transkulturell wiederkehrenden, grundlegenden, allgemeinen Eigentümlichkeiten: Ist dieses Werk eher dramatisch, episch oder lyrisch zu nennen? […] Heute ist die Gattungstheorie deskriptiv, beschreibend; sie versucht überall auffindbare, ‚elementare‘ Merkmale der Gattungen schlicht zu beschreiben. Ob diese Merkmale in einem konkreten Werk aufweisbar sind oder nicht, sagt ihrer Auffassung nach nichts über seinen ästhetischen Wert aus“.5 Drei Aspekte dieser tendenziellen Verabschiedung des ÄsthetischNormativen aus der Gattungstheorie sind besonders hervorzuheben. Insofern die moderne Gattungstheorie sich für das Allgemeine der Gat3 4
5
Vgl. Stolz, „Der literarische Gattungsbegriff“, S. 32 f. Zymner, Rüdiger, Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003, S. 9 (Hv. von dem Vf.). Horn, András, Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft, Würzburg 1998, S. 10.
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tungen interessiert, ist das Erkenntnisvermögen ihrer Begrifflichkeit nicht darauf ausgerichtet, das Singuläre des einzelnen literarischen Kunstwerks zu erfassen. Neben den drei poetischen Hauptunterteilungen Lyrik, Dramatik und Epik taucht zweitens innerhalb der Gattungsgeschichte noch eine vierte Schlüsselkategorie auf. Sie umfasst didaktische oder dokumentarische Funktionen bzw. Komponenten von Texten oder Textsorten. Die damit verbundene Trennungslinie verläuft entlang des Begriffes der ‚Fiktionalität‘.6 Zu betonen ist drittens, dass unter Berufung auf die im Zuge der Jahrhunderte alten gattungstheoretischen Reflexion gewonnenen Vorgehensweisen und Analyseverfahren – wie z. B. der Gedichtinterpretation, der Dramenanalyse oder der Romananalyse – sich deren Gegenstands- bzw. Anwendungsbereich außerordentlich stark erweitert hat. Unter der Voraussetzung, dass die Gattungsproblematik nicht mehr von medialen Darstellungsproblematiken zu trennen ist, erhebt sich im Gegenzug die von Rüdiger Zymner aufgeworfene Frage, ob Gattungen denn „überhaupt existieren“7 – und wie es sich, wenn sie als Klassifizierungsgewohnheiten beibehalten werden, mit einer alltagspraktischen Kategorie wie etwa dem „Schmöker“8 verhält. Seine Ausführungen zum ‚vitalen Gattungsverständnis‘ problematisieren die Kluft zwischen Alltagsgewohnheiten bei der Rezeption literarischer Texte und dem Nachdenken der Literaturwissenschaft über die Dichtkunst bzw. „das Lesen“ als das „heilsamste Vergnügen“.9 Sie reagieren damit auf die in den Kommunikationswissenschaften aufgeworfene provokante Frage, ob sich nicht noch in den „Grußbotschaften von Anrufbeantwortern“ Merkmale von ‚minimal genres‘ aufweisen lassen, die sich „an einem festen Schema“10 orientieren. Gattungen ‚gibt es‘ z. B. auch im Rechtswesen, wo Kategorien zur Klassifikation von Einzelfällen ebenfalls mit diesem Begriff gekennzeichnet werden. Festzuhalten ist, dass parallel mit der Erweiterung des Gegenstandsfeldes der Literaturwissenschaft hin zur Medien- und/oder Kulturwissenschaft Gattungen „in Massenmedien und elektronischer Kommunikation“11 eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Darauf verweisen etwa neuere Arbeiten 6 7 8 9
10 11
Uerding, Gert (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Darmstadt 1996, Spalte 552 (Artikel von H. Knoblauch). Zymner, Gattungstheorie, S. 37–60. Ebd., S. 7 f. Bloom, Harold, Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten, München 2000, S. 13. Uerding, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Spalte 561. Ebd. (Hv. im Text).
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zur Filmtheorie, die, ausgehend vom ‚performative turn‘, den „Zusammenhang von Gender und Genre“ in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und damit die Konzeptualisierung von „Medien, Genre und Gender“12 vorantreiben. Insofern ist die Erweiterung der Schauplätze, auf denen sich die Diskussion um den Gattungsbegriff und seine theoretischen Reflexionsmöglichkeiten abspielt, gegenwärtig als ein Brennpunkt literaturwissenschaftlicher Methodologie zu bezeichnen.
3. Institutionsgeschichtliches Ansätze der Gattungslehre lassen sich bis zu Platons Dialog Der Staat zurückverfolgen. Bereits ca. 370 v. Chr. steht der „Wirklichkeitsbezug“ der Dichtung, die ‚mím¯esis‘, im Mittelpunkt: „Dass die Dichter lügen können, behauptete schon Hesiod. Ihm folgten andere Dichter: Solon, Xenophanes und Pindar. Berühmt wurde zumal die Kritik, die Xenophanes, ein leidenschaftlicher Monotheist, an den homerischen Göttern übte; er erklärte sie für naive Selbstprojektionen der Menschen von einst. Der Vorwurf zielte überhaupt auf diesen Punkt: daß die Dichter falsche Götter lehren. Er entsprang einer bestimmten Bewußtseinslage: Die Mythen Homers hatten einst nicht nur Geschichte, sondern auch Deutung, nicht nur das wahre Einzelne, sondern auch das verbindlich Allgemeine in schwer fasslicher wechselseitiger Durchdringung mitgeteilt. Die homerischen Epen blieben sich gleich, doch die Deutung des Menschen und seiner Götter änderte sich; aus dieser Differenz erwuchs der Protest“.13 Formal betrachtet führt Platon die von Aristoteles im 3. Kapitel der Poetik übernommene Dreiteilung vor: einfache Erzählung, unmittelbare Darstellung sowie ein Gemisch aus beidem; Hymnus, Drama und Epos. Am Beginn steht allerdings weniger das Interesse an der Dichtkunst als vielmehr das Interesse an ihrem Reglement. Eingebettet in seine Lehre von den Ideen, weist Platon jenen Verfahren, die der Darstellung von Affekten gelten, einen untergeordneten Rang zu. Deshalb sollte „die dramatische Darstellung und die epische Mischung von Bericht und 12
13
Vgl. u. a. Schneider, Irmela, „Genre, Gender, Medien. Eine historische Skizze und ein beobachtungstheoretischer Vorschlag“, in: Claudia Liebrand / Ines Steiner (Hrsg.), Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg 2004, S. 16–28. Fuhrmann, Manfred, Dichtungstheorie der Antike, Darmstadt 1992, S. 89.
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direkter Rede […] gänzlich verworfen und nur die ‚herbste‘ Form, die einfache Erzählung zugelassen werden; Platons politische Ideale dulden einzig eine gereinigte, gesinnungsertüchtigende Zweckpoesie. Als Grund für das Verbot von Epos und Drama verlautet, daß sich niemand als Dichter oder Schauspieler mit verschiedenartigen Rollen identifizieren dürfe; die Nachahmung schlechter Handlungen […] färbe auf den Charakter des Nachahmenden ab“.14 Demgegenüber erweist sich die Gattungstheorie des Platon-Schülers Aristoteles in Peri Poietikes – Über die Dichtkunst, ca. 335 v. Chr. – als geprägt von einem philosophisch-analytischen Interesse. Sie ist im Wesentlichen wirkungsorientiert. Dem Charakter nach wissenschaftliche Lehrschrift, bildet ihre Grundlage u. a. empirisches Untersuchungsmaterial. Deskriptive und präskriptive Aspekte werden noch weitgehend nebeneinander abgehandelt. Normative Folgerungen beruhen im Wesentlichen auf dem Gedanken der Entelechie: Die sich im Stoff verwirklichende Form ist die im Organismus liegende Kraft; sie bewirkt seine Entwicklung und Vollendung. Den ersten beiden Teilen der poetischen Gattungslehre werden systematische und anthropologisch-entwicklungstheoretische Grundlegungen vorangestellt. Manfred Fuhrmann verweist darauf, dass sie „der historisch-positivistischen Philologie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts oft wichtiger waren als die gesamte aristotelische Theorie“.15 Dichtung ist dem aristotelischen Verständnis nach zuallererst ‚mím¯esis‘, Nachahmung. Doch sollte der Dichter „nicht Geschehenes darstellen, sondern was geschehen könne, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich sei. [Aristoteles] bringt hiermit eine Bestimmung, die nicht allein der Tragödie, sondern Poiesis überhaupt gilt […] Nicht einmalige und wirkliche, sondern allgemeingültige und mögliche Handlungen seien Gegenstand der Dichtung“.16 In der Poetik dienen die Gattungen Tragödie, Epos und Komödie als Kernprinzipien der Einteilung des gesamten Stoffes. Ihre zum Teil eindimensionale Rezeption ist u. a. aus dem Umstand hergeleitet worden, dass die vermutlich in einem zweiten Buch dargelegte Theorie der Komödie als verschollen gilt, während die erhaltene Schrift vorwiegend der Abgrenzung der Tragödie vom Epos gewidmet ist. Weit weniger als seinen Nachfolgern bis weit in das 18. Jahrhundert hinein ging es dem Ver14 15 16
Ebd., S. 92. Ebd., S. 15. Ebd., S. 31; vgl. auch S. 18.
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fasser um ein Regelwerk, das beim Dichten zu beachten wäre. Vielmehr steht im Fokus das ästhetische Objekt. Zymner betont: „Aristoteles schreibt weniger Regeln vor, als daß er Regelhaftigkeit beschreibt“.17 Drei Differenzierungsmerkmale lassen sich hinsichtlich der Mimesis anführen: Darstellungsmittel, Gegenstände und Darstellungsart. Rhythmus, Sprache und Melodie gelten als Elemente, die entweder einzeln oder in kombinierter Form auftreten. Zur ‚poí¯esis‘, zur Dichtkunst, zählt Aristoteles nur, was sich auf menschliches Handeln – ‚práxis‘ – bezieht. Aus der Alternative von ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Handlungen leitet er drei Darstellungsmöglichkeiten – idealisierend, karikierend und porträtierend – ab. Diese Triade wird ihm zum Unterscheidungsmerkmal der dramatischen Gattungen und zwar ebenfalls im Rahmen eines moralischen Diskurses. Zu den Darstellungsarten zählt Aristoteles den Bericht, d. h. die Erzählung, sowie die unmittelbare Darstellung des Geschehens im Schauspiel, in der Musik und im Tanz. Weitere Unterscheidungen wie die von Epos und Tragödie betreffen formale Aspekte, so den Umfang der Handlung, das Versmaß und die Komposition. Während die aristotelische Poetik als Gattungstheorie aus dem Bann hervorgegangen ist, den Platon über die Dichtkunst verhängte, richtet sich die später von Quintilian so bezeichnete Ars Poetica des Horaz – 65–8 v. Chr. – auf Aufgabe und Verpflichtungen der Dichter. Sie trägt weitgehend den praktischen Charakter eines Handbuches und „begnügt sich damit, das Gültige zu kodifizieren“.18 Im Zeichen ihrer Epoche, der augusteischen Klassik stehend, kommt sie einer dichtungstheoretischen Abhandlung sehr nahe. Die Prämissen der poetischen Form werden auf zwei Gattungen verpflichtet: das Lehrgedicht und die Versepistel.19 Für spätere Distanzierungen vom Mimesisbegriff gewinnt der Schlüsselbegriff der ‚imitatio‘ an Bedeutung. Dieser repräsentiert nicht mehr die Nachahmung einer als vorbildlich verstandenen oder im Abgrenzungsmodus dargestellten Wirklichkeit, sondern dient der ‚intertextuellen‘ Orientierung an literarischen Modellen und Mustern. Damit richtet sich der Blickwinkel verstärkt auf deren institutionalisierenden Charakter aus. Dass in der Spätantike „bereits die wesentlichen Gattungen des frühmittelalterlichen Schrifttums entwickelt“ worden sind, „die auch für den Unterricht, die Schreibtätigkeit und den Fundus der Bibliotheken aus-
17 18 19
Zymner, Gattungstheorie, S. 11. Fuhrmann, Dichtungstheorie der Antike, S. 125. Vgl. ebd., S. 126.
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schlaggebend wurden“,20 konstatiert Schieffer. Ein relativer Vorsprung kam Italien im 6., Spanien im 7. und England im 8. Jahrhundert zu. Aufschwünge literarischen Schaffens gelangen, als sich im Reich Karls des Großen die Traditionsstränge der Übergangszeit bündelten und regionale Unterschiede zurücktraten. „Es versteht sich, daß dabei die Bedürfnisse der Kirche im Vordergrund standen“.21 Dennoch emanzipierten sich die im Schoße der Kirche überlieferten literarischen Muster sowie die im Schulbetrieb eingeprägten formalen Fertigkeiten „zaghaft“ von dieser Bestimmung und wurden weltlichen Zwecken dienstbar gemacht – so in den Bildungszentren des Frankenreiches die Briefkultur oder die Geschichtsschreibung in Gestalt von Annalen, Chroniken und Herrscherbiographien.22 Zwischen 1050 und 1250, in der Zeit des Hochmittelalters, gewinnt die Welt deutende Leistung von Literatur an Gewicht. Den einzelnen Gattungen wird ein „Vorgang der Ablösung von primär kultisch bestimmter zu eher immanenter ästhetischer Erfahrung“ zugerechnet. „Die höfische Lyrik wäre kaum lebensfähig geblieben, hätte sie nicht unter der formalen Variation Weisen des Lebensvollzugs thematisiert, die für das gesellschaftliche Selbstverständnis von Bedeutung waren“,23 so Henning Kraus. Der höfische Roman bezog seinen Reiz aus der Lust am Ungelösten, Dunklen. Aber er bot auch „Lösungen an, die nichts mehr mit der alle Schichten umfassenden Welt- und Heilsgeschichte zu tun haben“, wie sie die Heldenepik thematisiert. Die „Fähigkeit zur Entschlüsselung der zunächst als opak erfahrenen Wirklichkeit“ wird einer „Nobilität“ zugerechnet, „die sich polemisch gegen nachdrängende Gruppen […] abschottet.“24 Insbesondere für die spätmittelalterliche Literatur wird festgehalten, dass ihre Situation ohne den Einbezug literarischer Gebrauchsformen nicht angemessen zu kennzeichnen ist.25 Gattungslehre als Zuordnung 20 21 22 23 24 25
See, Klaus von (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 6: Europäisches Frühmittelalter, Wiesbaden 1985, S. 85 f. Ebd., S. 86. Vgl. ebd. Krauss, Henning (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 7: Europäisches Hochmittelalter, Wiesbaden 1981, S. 4. Ebd., S. 5. Vgl. hierzu Frank, Barbara, „‚Innensicht‘ und ‚Außensicht‘. Zur Analyse mittelalterlicher volkssprachlicher Gattungsbezeichnungen“, in: hrsg. v. ders. / Thomas Haye / Doris Tophinke, Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1979, S. 117–136, hier S. 120. Betont den intersubjektiven „kollektiven Anteil“ der Gattungsbezeichnungen.
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zu institutionalisierten Kategorien und christliche Lehre geraten in ein deutliches Spannungsverhältnis. Was in die gattungstheoretischen Überlegungen Einzug hält, zeigt sich verbunden mit dem Aufkommen typologischer Kategorien, wie sie etwa die Poetria des aus England stammenden Johannes de Garlandia benutzt. Sie gehört zu den regelrechten Lehrbüchern der Dichtkunst, die wenig Theorie, dafür aber umso mehr praktische Hinweise auf ästhetisch befriedigende Gestaltung enthalten.26 Im Zuge der Vorstellung einer ständisch gegliederten Gesellschaft werden den drei Stilarten drei Stände zugeordnet, so dass Standeslehre, Stiltheorie und Gattungseinteilung sich verbinden. Ausgangspunkt dieses Ordnungsmodells ist der Oberbegriff der ‚narratio‘. In ihm verknüpfen sich Darbietungsform, sprachliche Form, Fiktionalitätsgrad und der Ausdruck von Emotionen. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Schemata gilt in der Forschungsliteratur als Beleg dafür, dass die Literatur der Zeit nicht hinreichend mit tradierten Gattungsmerkmalen zu beschreiben war. Darüber hinaus erwies sich das aristotelische Verständnis von Mimesis als nur implizit überliefert. Demzufolge konnte es als Unterscheidungskriterium für fiktionale und nicht-fiktionale Formen kaum wirksam werden – ein Umstand, der sich mit dem Aufkommen nationalsprachlicher Poesie und Prosa noch verschärfte. Erich Auerbach führt zur Institutionalisierung einer ‚mittleren‘ Stillage mit Bezug auf Boccaccios Decamerone aus, dass diese „zwar noch vielfach an die Formen und Vorstellungen der feudal-höfischen Kultur anknüpfte“, aber bald unter dem Einfluss frühhumanistischer Strömungen „ein neues, weniger ständisches, stark persönliches und realistischeres Gepräge“ erhielt.27 Die Fragen stilistischer Einordnung zeigen sich auch an Dantes gattungspoetologischen Überlegungen in De vulgari eloquentia. Sie rücken die Kanzonendichtung in den Mittelpunkt. Hier stellt der Verfasser ganz andere Anforderungen an den hohen und tragischen Stil als diejenigen, die er später in der Komödie erfüllt. Auerbach nennt in diesem Zusammenhang die Auswahl des Gegenstandes und den Purismus der Form- und Wortwahl, der auf die antike Stiltrennungslehre referiert.28 26
27 28
Vgl. Brunhölzl, Franz, „Die lateinische Dichtung“, in: Willi Erzgräber (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 8: Europäisches Spätmittelalter, Wiesbaden 1978, S. 519–564. Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1949], 3. Aufl., Bern, München 1964, S. 209. Vgl. ebd., S. 178.
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Während der Renaissance und im Barock diktiert die normative Poetik „das Gesetz“, das auf der Ebene der Dichtung herrscht, „so gut wie unumschränkt“.29 Die ‚ars‘, die erlernbare dichterische Technik, und die ‚doctrina‘, das gelehrte Wissen, komplettieren die von der Antike übernommene Vorstellung des ‚ingeniums‘, der angeborenen Begabung. Die ‚imitatio‘ wird zur ‚aemulatio‘, Nachahmung der antiken Muster zur Verwirklichung dichterischer Individualität vermittels der Aneignung der Vorbilder.30 Dabei bleibt die modellhafte Vorstellung der griechischen ‚Muster‘ zunächst erhalten. Doch verselbständigt sich die Dichtkunst gegenüber Grammatik und Rhetorik. Im Zuge der Etablierung der ‚studia humanitatis‘ wird das Leitbild des ‚poeta doctus‘ grundsätzlich eingebunden in eine Vorstellung von Dichtung als Bildungstätigkeit. Mit dieser Verlagerung des Akzents auf die ‚techné‘, auf die Erlernbarkeit des Dichtens, geht eine pädagogische Komponente einher. Sie deutet die aristotelische Poetik größtenteils normativ um. Besonders deutlich zeigt sich dies an der Forderung des italienischen Humanisten Lodovico Castelvetro nach den drei Einheiten in der Tragödie: der Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes. Im Gegensatz zu Petrarcas esoterischer Dichtungslehre, in der Ruhm und Gelehrsamkeit einen bedeutenden Platz einnahmen, forderte Castelvetro, „Dichtung solle das gemeine Volks unterhalten und müsse daher von diesem verstanden werden“; die Stimme eines „Predigers in der Wüste“,31 wie Buck betont. Unter Berufung auf die Beachtung der Wahrscheinlichkeitskriterien proklamiert der italienische Theoretiker die Wahrung der drei Einheiten als „Grundgesetz der Tragödie“, das in Frankreich eine fast uneingeschränkte Zustimmung fand. Boileau fasst es in die oft zitierten Verse: ‚Qu’en un Lieu, qu’en un jour, un seul Fait accompli/ Tienne jusqu’a la fin le Theatre rempli‘ (‚Möge eine in sich geschlossene Handlung an einem Ort und an einem Tag das Theater bis zum Schluß voll besetzt halten‘)“.32 Während im Mittelalter „gebundene und ungebundene Kunstrede als vertauschbar galten“,33 emanzipiert sich die Dichtkunst im Vergleich zur Prosarede, die eine Abwertung erfährt. Um jene Folgen, die sich aus der 29
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Buck, August, „Dichtungslehren der Renaissance und des Barock“, in: hrsg. v. dems., Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 9: Renaissance und Barock, Frankfurt a. M. 1972, S. 28–60, hier S. 20. Vgl. ebd., S. 32 f. Ebd., S. 37. Ebd., S. 46. Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], 11. Aufl., Tübingen, Basel 1993, S. 158.
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vorausgesetzten Modellhaftigkeit der Antike für die zeitgenössische Dichtung ergaben, beginnen insbesondere die ‚Querelles des Anciens et des Modernes‘ zu kreisen. Sie setzen ein mit dem Streit zwischen Ciceronianern und deren Gegnern im 15. und 16. Jahrhundert und werden über die ‚Querelles‘ des 17. Jahrhunderts in Frankreich bis zur Auseinandersetzung zwischen Klassikern und Romantikern in Deutschland fortgeführt. Bei E.R. Curtius findet sich dazu Grundsätzliches vermerkt: „Die klassischen Schriftsteller sind immer die ‚Alten‘. Man kann sie als Vorbilder anerkennen, man kann sie auch als überholt ablehnen. Dann haben wir eine Querelle des Anciens et des Modernes. Das ist ein konstantes Phänomen der Literaturgeschichte und Literatursoziologie“.34 Symptomatisch für das Vorgehen bleibt dabei der widerspruchsvolle Ort der Lyrik. Unter dem Einfluss des ‚Petrarkismus‘ war sie zum Gegenstand theoretischer Reflexion geworden; als Gattung erschien sie weder bei Aristoteles noch bei Horaz. Julius Caesar Scaligers einflussreiche Schrift Poetices libri septem, in Lyon 1561 erschienen, greift in ihrer grundsätzlichen Funktionsbestimmung der Dichtung auf die Autorität von Aristoteles zurück, übernimmt ansonsten aber eher die mittelalterliche Lehre vom Bezug zwischen Gattung, Stand und Stil. Das „Wesen der Poesie“ erblickt sie in „ihrem metrischen Bau“.35 Institutionalisiert werden im Gegensatz zu den Poetiken des Hochmittelalters aber nicht mehr Vergils Werke als Grundlage einer Stiltheorie, sondern vielmehr Komödie und Tragödie. Während der niedrige Stil dem Personal der Komödie gewidmet ist, bleibt der hohe Stil der Tragödie vorbehalten. Der mittlere Stil – bei Boccaccio gebunden an die Novelle – findet in diesem Rahmen keinen Gattungsbezug. Mit Scaligers Lehre beginnt die Trias literarischer Gattungen mit dem Begriff der ‚Literatur‘ „deckungsgleich“ zu werden, eine Vorstellung, die bald „mentalitätsbildende Kraft“ gewinnt.36 Damit wird ein dem soziokulturellen Gefüge angepasstes Gattungsgefüge etabliert. In Gestalt der ‚genera dicendi‘ tritt es etwa im Barock in der so genannten Ständeklausel zu Tage. Seither gilt es, „die Ordnung der Welt durch die Mittel der Sprache zu bestätigen“, treten Stillehren in Verbindung mit Gattungsbestimmungen. Im Falle des Barock beruhen sie auf der Funktion des ‚aptum‘. Als Norm stilistischer Sprachge34 35
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Ebd., S. 256. Scaliger, Julius Caesar, Poetices libri septem, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561, Stuttgart, Bad Cannstatt 1964, S. XIV; zu Scaliger vgl. auch Jung, Werner, Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997, S. 48 ff. Trappen, Stefan, Gattungspoetik, Heidelberg 2001, S. 13.
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staltung sorgt sie für die „Entsprechung zwischen einer gegliederten und nach Rangunterschieden abgestuften Welt und deren Spiegelung in verschiedenwertigen Sprachebenen“.37 Demgegenüber gewinnt die Kategorie der Wahrscheinlichkeit im Sinne jenes ‚decorum‘ normative Bezüge, das die Regelwerke der Rhetorik ergänzt. Als ‚bienséance‘, als Schicklichkeit, feiert es in der Poetik des französischen Klassizismus Auferstehung. Die zum Teil bereits wirkungsästhetische Orientierung macht eine Abhängigkeit des Dichters vom Urteil eines klar definierten Publikums zur impliziten Voraussetzung. So verlangt etwa die Anerkennung durch ‚la cour et la ville‘, durch Hof und Großbürgertum, in Nicolas Boileau-Despréaux’ L’Art Poétique – das Manifest in der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ – nach einem Kriterium der Angemessenheit, das davon ausgeht, das „Ziel der Belehrung durch das mit dem Kunstgenuß verbundene Vergnügen effektiver als die Moralphilosophie erreichen zu können“.38 Die Nachahmung gilt nun einer idealisierten, der Ratio adäquaten ‚Natur‘. Da der ‚bon sens‘ Ausgewogenheit fordert, d. h. das korrekte Verhältnis der Teile zum Ganzen und das eingehaltene Maß der behaupteten drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung, resultiert daraus die Ablehnung vermischter Gattungen.39 Bevor auf die normativen Systementwürfe im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts eingegangen wird, die an den französischen Klassizismus anknüpfen, ist ein Blick auf Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey aus dem Jahr 1624 angebracht.40 In der Gattungseinteilung folgt er Scaliger. Im Verweis auf Autoritäten folgt er der kommentierten Aristoteles-Übersetzung des niederländischen Gelehrten Daniel Heinsius. Den Dichter Opitz interessiert indes v. a. die Dichtungspraxis: „Hier möchte er Regeln anbieten, bestimmen, wie viele Gattungen es gibt und welche Regeln beachtet werden müssen […]“.41 Die Verschränkung von Präskription und Deskription führt dazu, dass Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey im 17. Jahrhundert als eine Art „Leitpoetik“ gilt, die
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Fischer, Ludwig, Gebunden Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock, Tübingen 1968, S. 263. Boileau-Despréaux, Nicolas, Art Poétique/ Die Dichtkunst, Halle 1968, S. VII. Vgl. zur Wirkungsgeschichte Gesse, Sven, ‚Genera mixta‘. Studien zur Poetik der Gattungsvermischung zwischen Aufklärung und Klassik-Romantik, Würzburg 1997. Vgl. Opitz, Martin, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, George Schulz-Behrend (Hrsg.), Stuttgart 1978, Bd. 2/1, S. 373–416; vgl. dazu auch Drux, Rudolf, Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem, Bonn 1976, S. 152. Zymner, Gattungstheorie, S. 16 f.
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Inhalt und Personenregister von Tragödie und Komödie auf „Personenkreise und Geschehensbereiche“42 festlegt. Aus vielerlei Gründen interessieren sich während des 18. Jahrhunderts Philologen, Dichter und Philosophen für das „jahrtausendealte und, wie man sagen darf, älteste Problem der Literaturwissenschaft“.43 Während die größtenteils ‚nebenberuflichen‘ Dichter klare Regeln und Gattungsgrenzen erwarten, beginnt um die Mitte des Jahrhunderts eine philosophische Ästhetik ihren Aufstieg, die jene ‚Regelpoetiken‘ ersetzt, wie sie sich etwa mit Johann Christoph Gottscheds Critischer Dichtkunst verbanden. Alexander Gottfried Baumgartens Schrift Aisthetica, verfasst 1750–1758, verdankt die neue philosophische Richtung ihren Namen. Karlheinz Barck zufolge überwinden Baumgarten und später Kant „die Isolierung der Imagination (Einbildungskraft) durch ihre Bindung an den speziellen Bereich der Poesie“ dadurch, dass sie die ‚Logik der Phantasie‘ theoretisch „als eine Grundkraft der Vermögen im Zusammengang mit anderen Vermögen“44 behandeln. Zymner spricht von der „Umwertung eines menschlichen Erkenntnisdefizits“, mit der eine philosophische Nobilitierung der ‚cognitio sensitiva‘ einherging. Es kommt zu einer Aufwertung der Dichtkunst als eines eigenen Erkenntnisvermögens – ein Schritt, „dessen Auswirkungen noch in der literaturtheoretischen Diskussion im 20. Jahrhundert zu spüren sind“.45 An die psychologischen Aspekte schließt Sulzers Empfindungslehre in der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste an, in der Gattungen allerdings nur ‚Launen‘ des Dichters repräsentieren. Auch Baumgarten geht in den Aesthetica nur ‚en passant‘ auf gattungstheoretische Fragestellungen ein. Doch nimmt seine Schrift Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus aus dem Jahr 1735 auf die Trias der Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik deutlich Bezug.46
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Fischer, Gebunden Rede, S. 100. Kayser, Wolfgang, Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948, S. 332, mit Verweis auf die „positive Wirkung“ der „scharfen Negation des Gattungshaften“ bei Benedetto Croce. Barck, Karlheinz, Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne, Stuttgart, Weimar 1993, S. 61; vgl. auch Campe, Rüdiger, „Der Effekt der Form. Baumgartens Ästhetik am Rande der Metaphysik“, in: Eva Horn / Bettine Menke / Christoph Menke (Hrsg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, S. 17–33. Zymner, Gattungstheorie, S. 17 f. Vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts, Hamburg 1983, § 106, zit. nach ebd.
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Auch die sensualistische Vielfalt, die von den Schweizern Bodmer und Breitinger noch vor dem Kant’schen „Paradigmenwechsel“ hin zur „Analyse der Einbildungskraft“47 zum bevorzugten Gegenstand dichterischer Darstellung erklärt wird, erfordert ein Spektrum an Ausdrucksformen, das einer Beschränkung auf poetische Gattungen zuwider läuft. Für Schiller schließlich gewinnen ausgewählte lyrische Gattungen als ‚Nachahmungen‘ von Gemütsbewegungen an Gewicht. Ebenso stellt die lyrische Form der Ode in Herders gattungspoetischen Überlegungen ein Zentralmoment dar. Mit „normativen, dichtungstypologischen ‚Grundbegriffen‘“48 arbeitet Goethes Differenzierung von Dichtarten und Dichtweisen, die im Sinne von ‚Naturformen der Dichtung‘ noch heute gelegentlich zur heuristischen Unterscheidung von Genres und Gattungen dient. In den Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des ‚West-östlichen Divans‘ heißt es: „Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken“.49 Die jüngere Forschungsliteratur hebt hervor, dass Goethes Konzeptualisierung des institutionellen Gefüges von Gattungen und Genres zum einen von Mischformen spricht und zum zweiten von Merkmalen und nicht von Klassifizierungen. Dabei spiele der Gedanke der Differenzierung eines ursprünglichen Ganzen eine vergleichbare Rolle wie etwa in F. Schlegels Entwurf einer Universalpoesie, an den wiederum A. W. Schlegels Jenaer Vorlesungen anknüpfen. S. Holmes ordnet beide in den Paralleldiskurs von Universalisierung und Reglementierung ein.50 F. Schlegel bezieht in seiner geschichtsphilosophisch begründeten Gattungspoetik die Trias von Lyrik, Epik und Dramatik auf die antike Literatur. Als ‚Naturpoesie‘ moderner ‚Kunstpoesie‘ gegenübergestellt, verknüpften sich damit Kategorien des ‚Subjektiven‘, des ‚Objektiven‘ und des ‚Synthetischen‘. Die Historisierung der Gattungslehre, die das „Problem von deren geschichtlichen Wandel“ einbegreift, zieht Peter Szondi
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Barck, Poesie und Imagination, S. 66. Voßkamp, „Gattungen als literarisch-soziale Institutionen“, S. 27. Goethe, Johann Wolfgang von, „Divan. Noten und Abhandlungen“, in: Ernst Beutler (Hrsg.), Gedenkausgabe, Bd. 3: Epen. West-östlicher Divan. Theatergedichte, Zürich 1949, S. 413–566, hier S. 480 f. Vgl. Holmes, Susanne, Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei August Wilhelm Schlegel, Paderborn 2006, S. 233.
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zufolge die Überwindung der Gattungspoetik nach sich und impliziert eine Vereinigung aller Gattungen, die in eine einzige literarische Repräsentation einmünden: den Roman. Er steht stellvertretend für die Dichtung der Epoche, deren Kernbegriff das Romantische ausmacht.51 Hegels geschichtsphilosophische Betrachtung der Gattungsproblematik ordnet Szondi in den Zusammenhang einer Denkfigur des 19. Jahrhunderts ein. Die Spirale als „Figur der Synthese von Fortentwicklung und Wiederkehr“52 transformiert, gelesen als „Geschichtsbild“, das Versprechen der Aufklärung in ein Nebeneinander und Widerspiel von geschichtlicher Dynamik und poetologischer Klassifizierung zugleich. Im „System der einzelnen Künste“ wird die Dichtkunst besonders hervorgehoben, weil sie „auf einer höheren Ebene, nämlich auf der Ebene der inneren Vorstellung“, diese „Entwicklung“53 wiederholt. Restlos ins Geschichtliche überführt, wird die Gattungstrias als dialektische entwickelt, die Form in der Eigendynamik des Prozesses verortet. Auch bei Hegel gerinnt das Studium der Klassik zum Inbegriff und Muster aller Kunst. Das Griechentum wird zum unwiederbringlichen Kulminationspunkt des geschichtsphilosophischen Triptychons: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der These vom Ende der Kunstperiode stellen die Hegelianer Vischer und Rosenkranz Konzepte entgegen, die alle Poetik Gattungspoetik sein lassen. Sie rekurieren auf außerhalb des Literarischen liegende Kategorien und nähern sich damit der ‚realistischen‘ Verkündungsformel von der „Materialität des Sinnlichen“, die „die ‚gemischten Empfindungen‘ im Inneren des Zeitalters“54 konstituiert. Darauf aufbauend, etabliert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Gegenströmung zur idealistischen Gattungssystematisierung, die weitgehend induktiv verfährt. Wilhelm Scherers Poetik geht von „Natur- und Grundverhältnissen der Poesie“ aus, eine Voraussetzung, die dazu führt, dass „das Heranziehen von Fundierungsfaktoren zur Darstellung der literarischen Formenwelt […] nie anders erfolgt als auf dem Weg ihrer Einbeziehung in gattungsgesetz51
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Vgl. Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. 2: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik, Frankfurt a. M. 1974, S. 28. Szondi, ebd., Bd. 1: Antike und Moderne der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, S. 500. Ebd., S. 499. Siegel, Eva-Maria, „Nach dem Vormärz oder von der ‚Emancipation des Fleisches‘ zur ‚Ästhetik des Hässlichen‘, in: Hartmut Kircher / Erich Kleinschmidt (Hrsg.), Literatur und Politik in der Heine-Zeit. Die 48er Revolution in Texten zwischen Vormärz und Nachmärz, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 205–218, hier S. 208 und S. 214.
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liche Zusammenhänge“.55 Dass diese Annahme nirgendwo mehr gerechtfertigt werden muss, gilt als Indiz für die äußerste institutionelle Verfestigung der Analogie von Geistes- und Naturwissenschaften.
4. Publikationen Die „Art und Weise, in der der Gattungsgedanke durchgesetzt wird, ist die Verabsolutierung von Mustern“,56 resümiert Gottfried Willems. Für das Ende des 19. Jahrhunderts hält er eine Ausschaltung historischer Aspekte zu Gunsten der Engführung mit einem ‚biologistischen‘ Gattungskonzept in die Literaturtheorie fest.57 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es jedoch zu einer entschiedenen Abwendung von fundamentalistisch-anthropologisch ausgerichteten Kategorien. Es setzt sich eine „Orientierung an wissenschaftstheoretischen Maßstäben“58 der ‚scientific community‘ durch. Kernfrage der Gattungstheorie bleibt die Frage nach der Bestimmung einzelner Gattungen. Weitere Prinzipienfragen treten hinzu: die Eruierung des Verhältnisses von Schreibweise und Gattung oder die Frage nach geschlechtsbezogenen Dispositionen. Damit beschleunigt sich der Prozess der Ablösung von herkömmlichen Klassifizierungs- und Beschreibungsmustern. Aspekte der literarischen Produktion wie Schock, Impression, Expression, Originalität, Verfremdung werden verstärkt akzentualisiert. Paradigmatisch dafür steht die grundsätzliche Ablehnung von Gattungskonzeptualisierungen durch Benedetto Croce. Die Bestimmung des Kunstwerks erfolgt in seiner Schrift La Poesia vielmehr über eine Verletzung der Regelnorm. Kunst wird als Synthese von Einfühlung und Ausdruck begriffen, das Problem der ästhetischen Erkenntnis grundlegend von anderen Formen logischen und praktischen Denkens unterschieden.59 55
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Willems, Gottfried, Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers, Tübingen 1981, S. 313. Ebd., S. 188. Vgl. auch unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung mit der ‚Zwei-Kulturen-These‘ im Hinblick auf die Vernetzung von Literatur und Wissen Kilcher, Andreas B., mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. Zymner, Gattungstheorie, S. 33. Vgl. Croce, Benedetto, Die Dichtung. Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur, Tübingen 1970.
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Die gattungstheoretische Reflexion in Deutschland wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Einfluss Wilhelm Diltheys geprägt. Er operiert auf zunächst empirisch-psychologischer Basis, um dann eine Hermeneutik zu entwerfen, in der er Gattungen als „Weltanschauungstypen“ konzeptualisiert, gebunden an das „Medium der Sprache“, in dem die Dichtung „ein besonderes Verhältnis zur Weltanschauung“60 gewinnt. Erich Staigers Grundbegriffe der Poetik stehen noch ganz im Zeichen dieses Entwurfs. Mit Bezug auf die Daseinsphilosophie begründen sie Gattungszuweisungen ontologisch. Aus einer „Fundamentalpoetik“ wird ein „Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie“.61 Käte Hamburgers Logik der Dichtung von 1957 legt den Begriff der ‚Fiktionalität‘ neu als Differenzierungsmerkmal zugrunde. Sie grenzt eine fiktionale oder mimetische Fiktion – Epik und Dramatik bzw. Film – von einer existenziellen Gattung Lyrik ab, deren „Wirklichkeitsaussage“62 sich durch die Kategorie des Aussagesubjekts unterscheidet. Aufgewiesen wird, dass „erst die Struktur der Aussage das vieldiskutierte Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit und damit auch das von Dichtung und Wirklichkeit erhellt“.63 Das „Aussagesubjekt“ sei nicht „wirklich“ im Film, der auf dem „Wege der sinnlichen Wahrnehmung“ aufgenommen wird „und nicht auf dem Weg der Vorstellung“64 wie der Roman. Hamburgers Standortbestimmung der filmischen Fiktion, in der Zweidimensionalität ein dreidimensionales Raumerleben vermittelt, während es sich in der Bühnenrealität umgekehrt verhält, zählt damit zu den weitestreichenden Ansätzen moderner Gattungstheorie. Einflussreicher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird aber der Perspektivwechsel hin zum ‚Erwartungshorizont‘ der Rezipienten in Hans Robert Jauß’ rezeptionstheoretischen Überlegungen.65 Parallel zur hermeneutischen Fundierung lassen sich Einflüsse der linguistischen Kom60 61
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Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, Bd. 8: Weltanschauungslehre, Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Leipzig, Berlin 1931, S. 92. Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poesie, Zürich, Freiburg i. B. 1946, S. 12. Der Band ist dem Mediziner L. Binswanger gewidmet. Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung [1957], 2. Aufl., Stuttgart 1968, S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 177. Jauß, Hans Robert, „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970, S. 163. Der Aufsatz macht die Einsicht praktikabel, dass „das geschichtliche Wesen des Kunstwerks nicht allein in seiner darstellerischen oder expressiven Funktion“ liegt, sondern „gleich notwendig auch in seiner Wirkung“.
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munikationstheorie wie der Konzeptualisierung durch die russischen Formalisten beobachten. Sie tragen zu einer weiteren Historisierung des Formbegriffs bei. Besonders die Praktikabilität des Textbegriffs wird ausgelotet. So umfasst die ‚Textsortenlehre‘ als „Arbeitsgebiet“ die „Einteilung und Gruppierung literarischer Texte nach ihren Hauptmerkmalen“, wobei „Spannungen“, die hinsichtlich des Zusammenspiels von „Tradition und Wandel“ auftreten, „auf der Hand“66 liegen. Sie verstärken sich in dem Maße, wie die Gattungstheorie ihr Augenmerk auf die „Korrespondenz zwischen Erwartungshaltungen im Lesepublikum und Entstehungs- wie auch Erstarrungsbedingungen von literarischen Gattungen“67 richtet. Exemplarisch dafür steht Jürgen Links ‚programmierte Einführung‘ Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, die Konstituenten der Genreund Gattungstheorie untersucht, zu deren Analyse anleitet und Übergänge zur Filmanalyse aufweist.68 Dieter Schlenstedts Wirkungsästhetische Analysen von 1979 sowie der Band Literarische Widerspiegelung von 1981 kennzeichnen Beiträge zur Rezeptionsästhetik. Sie begreifen „Widerspiegelung“ als ein „Beziehungsbündel“69 und zeigen dessen „Dimensionenvielfalt“ und „Funktionsdeterminierung“70 auf. Eine dritte Position begründet Wilhelm Voßkamps systemtheoretisch fundierter Ansatz. Er rückt Gattungen als soziokulturell verfasste Konventionen in den Fokus der Aufmerksamkeit und weist verstärkt auf deren institutionelle Verfasstheit hin. Gattungen gelten als Konsensbildungen, die produktionswie rezeptionsästhetische Merkmale vereinen.71
5. Fachgeschichtliche Einordnung Wenn die Buchstabenschrift als ein wesentliches Medium der Literatur „spätestens im 20. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich als ‚Eigentümlichkeit‘ der Literatur bezeichnet“ werden kann, gilt diese Aussage ver66
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Lämmert, Eberhard, „Vorwort“, in: Hinck (Hrsg.), Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, S. V und VI. Ebd., S. IV. Vgl. z. B. Link, Jürgen, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis [1974], 5. Aufl., München 1995, S. 256. Schlenstedt, Dieter, Wirkungsästhetische Analysen, Berlin 1979; ders. (Ltg. und Gesamtred.), Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems, Berlin, Weimar 1981, S. 15. Ebd., S. 18 und S. 176. Vgl. Voßkamp, „Gattungen“, S. 259.
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stärkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts: „Kalligramme, komplexe TextBild-Beziehungen, scheinen die engen Grenzen eines Gattungsbegriffs medial in Frage zu stellen“.72 Die Aporien der Diskussion um den Gattungsbegriff aber erweisen sich als höchst produktiv, seitdem Diskursverfechter ihn den Elementen eines allgemeinen semiotischen Sinngebungsprozesses zuordnen.73 Solche Überlegungen knüpfen an die sich seit dem 18. Jahrhundert durchsetzende Grundthese an, dass es Archetypen von Gattungen ‚nicht gibt‘, insofern diese kulturhistorisch vermittelt sind. Gérard Genette fügt daher in Palimpsestes die gattungsspezifische Relation in ein Netz der „Archetextualität“74 ein, das damit zu einer möglichen Beziehungsstruktur zwischen Texten wird. Gattungszuordnung wird zum ‚Material‘ der Textproduktion. Dabei haben Produktions- wie Rezeptionsseite Einstellungen zur Voraussetzung, die „normativ-begrenzende oder transitiv-entgrenzende Tendenzen“75 aufweisen können. Kontextualisierung ist das Zauberwort. Jede Perspektive hat institutionalisierte Sozialisationsformen zur Bedingung. Jedem sinnlichen Eindruck gehen kulturell geformte Modi komplexer Zeichenpraktiken voraus. Auf dieser Grundlage wird die Komplexität von Lektüresituationen zum Ausgangspunkt von Überlegungen, die konkret-praktische Beschreibungskategorien für ästhetische Wirkung entwickeln.76 Licht fällt dabei insbesondere auf typologische Ansätze, die Textkorpora erfassen, welche innerhalb bestimmter Rezipientengruppen den Status literarischer Institutionen erlangt haben. Im Zusammenhang damit rückt die jüngste Forschung literarische „Emotionalisierungspotenziale“ ins Zentrum, die eine „spielerische Erprobung emotionale Kompetenzen“ erlauben, wie sie in „risikoreicheren Interaktionen mit sozialen und natürlichen Umwelten“77 abverlangt werden. Zusammengefasst gilt die Gattungslehre lange Zeit als intrinsische Theorie der Betrachtung literarischer Texte. Ihre wichtigste Leistung liegt in der Produktivität der Aporie von normativen und deskriptiven Ansätzen. Sie stellt den Motor der fach- und kulturgeschichtlichen Bedeutung wie ihrer enormen Folgewirkungen dar. Wenn Adornos metho72 73
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Stolz, Der literarische Gattungsbegriff, S. 25. Vgl. insbesondere Raible, Wolfgang, „Was sind Gattungen? Eine Antwort aus semiotischer und textlinguistischer Sicht“, in: Poetica 12/1980, S. 320–349, hier S. 327. [Ursprungstitel: „Gattungen als Textsorten“] Genette, Gérard, Palimpsestes. Die Literatur auf zweiter Stufe, Paris 1982, S. 9. Stolz, Der literarische Gattungsbegriff, S. 32. Vgl. Schneider, Jost, Einführung in die Romananalyse, Darmstadt 2003, S. 11. Anz, Thomas, „Tod im Text, Regeln literarischer Emotionalisierung“, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes, 54/2007, 3, S. 306–327, hier S. 325.
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disches Prinzip Geltung behält, „daß von den jüngsten Phänomenen her Licht fallen soll auf alle Kunst anstatt umgekehrt, nach dem Usus von Historismus und Philologie“,78 wenn Gattungszuordnung grundsätzlich konstitutiv nachträglich erfolgt, dann wäre allerdings zu fragen, was gattungstheoretische Betrachtungen zum ‚topographic‘ turn beizutragen haben. Wie erklärt sich etwa die „große anthropologische Bedeutung“, die „das Erzählen von Geschichten für den Menschen“79 hat? Festzuhalten ist, dass die Frage, ob Gattungen „existieren“, ein „essentialistisches Missverständnis“80 darstellt. Was aber macht transkulturell wiederkehrende Eigentümlichkeiten aus? Mit Blick auf räumliche Kategorien ist erneut zu klären, „unter welchen Bedingungen man von Gattungen spricht, welches die kulturell eingeübten und tradierten Regeln der Sprachspiele sind, in denen man über Gattungen spricht“.81 Gattungen sind konventionalisierte Klassifikationen, die der Strukturierung dienen. In sie gehen komplexe kulturelle Traditionen ein, für die identitätslogische Definitionen heute kaum noch Verwendung mehr finden.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Platon, Der Staat, Leipzig 1988. Scaliger, Julius Caesar, Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561, Stuttgart, Bad Cannstatt 1964. Boileau-Despréaux, Nicolas, Art Poétique/ Die Dichtkunst [1674], Halle 1968. Opitz, Martin, Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, George Schulz-Behrend (Hrsg.), Bd. 2/1, Stuttgart 1978, S. 373–416. Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, Bd. 8: Weltanschauungslehre, Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Leipzig, Berlin 1931. 78 79
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Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 533. Nünning, Vera / Nünning, Ansgar, „Produktive Grenzüberschreitungen. Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie“, in: hrsg. v. dens., Erzähltheorie transgenetisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 1–22, hier S. 1. Zymner, Gattungstheorie, S. 60. Ebd. (Hv. von dem Vf.)
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Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik, Zürich, Freiburg i. B. 1946. Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], (11. Aufl.) Tübingen, Basel 1993. Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1949], 3. Aufl., Bern, München 1964. Literaturgeschichtlicher Aufriss des Problems der Widerspiegelung seit Homer, im Istanbuler Exil verfasst. Nachahmung von Wirklichkeit in der Literatur wird als Kernproblem des Realismus herauspräpariert; Ausgangspunkt ist antike Mimesisvorstellung, die auf Poetiken im europäischen Sprachraum appliziert wird. Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung [1957], 2. Aufl., Stuttgart 1968. Fischer, Ludwig, Gebunden Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock, Tübingen 1968. Croce, Benedetto, Die Dichtung. Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur, Tübingen 1970. Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie [1970], Frankfurt a. M. 1973. Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1974. Drux, Rudolf, Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem, Bonn 1976. Hink, Walter (Hrsg.), Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977. Sammelband mit Dokumentation der Diskussion um den Textbegriff; Gattungen werden erstmals als literarisch-soziale Institutionen begriffen. Müller-Dyes, Klaus, Literarische Gattungen. Lyrik, Epik, Dramatik, Freiburg 1978. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1978 ff. Frank, Barbara, „‚Innensicht‘ und ‚Außensicht‘. Zur Analyse mittelalterlicher volkssprachlicher Gattungsbezeichnungen“, in: hrsg. v. ders. /
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Thomas Haye / Doris Tophinke, Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1979, S. 117–136. Raible, Wolfgang, „Was sind Gattungen? Eine Antwort aus semiotischer und textlinguistischer Sicht“, in: Poetica 12/1980, S. 320–349 [Ursprungstitel: „Gattungen als Textsorten“]. Standardaufsatz, leitet Hinwendung der Gattungstheorie zur Textsortenlehre ein. Gattungen gewinnen die Funktion, Rahmenbedingungen für Sinngebung komplexer sprachlicher Zeichen zu setzen. Willems, Gottfried, Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers, Tübingen 1981. Fuhrmann, Manfred, Dichtungstheorie der Antike, Darmstadt 1982. Überblicksdarstellung mit Verbreitung weit über Fachgrenzen hinaus, Erschließung der Antike als literarisch-kultureller Epoche. Genette, Gerard, Palimpsestes. Die Literatur auf zweiter Stufe, Paris 1982. Standardwerk der französischen Narratologie. Schnur-Wellpott, Margrit, Aporien der Gattungstheorie aus semiotischer Sicht, Tübingen 1983. Bickmann, Claudia, Der Gattungsbegriff im Spannungsfeld zwischen historischer Betrachtung und Systementwurf. Eine Untersuchung zur Gattungsforschung an ausgewählten Beispielen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1984. Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. H. 1992. Grundlagenband, ‚Gattung‘ gilt neben ‚Epoche‘ als zentraler Begriff literaturwissenschaftlicher Systematik. Kommunikationsorientiertes und systemtheoretisch untermauertes Gattungskonzept, zeigt Aspekte einer struktur- und funktionsgeschichtlichen Gattungsgeschichte vor allem am Beispiel des Bildungsromans auf. Barck, Karlheinz, Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne, Stuttgart, Weimar 1993.
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Eva-Maria Siegel
Schwalm, Helga, „Moderne und Postmoderne. Zum Problem epochaler Klassifizierung im Kontext der Moderne“, in: Hans Joachim Piechotta / Ralph-Rainer Wuthenow / Sabine Rothemann (Hrsg.), Die literarische Moderne in Europa, Bd. 3: Aspekte der Moderne in der Literatur bis zur Gegenwart, Opladen 1994, S. 355–369 Link, Jürgen, Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis [1974], 5. Aufl., München 1995. Baßler, Moritz u. a., Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996 Bleissem, Isabella / Reisner, Hans-Peter, Uni-Training Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Gattungen – Literarische Texte in typologischer Sicht, Stuttgart 1996. Ueding, Gert (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Darmstadt 1996. Gesse, Sven, ‚Genera mixta‘. Studien zur Poetik der Gattungsvermischung zwischen Aufklärung und Klassik-Romantik, Würzburg 1997. Jung, Werner, Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997. Horn, András, Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft, Würzburg 1998. Siegel, Eva-Maria, „Nach dem Vormärz oder von der ‚Emancipation des Fleisches‘ zur ‚Ästhetik des Hässlichen‘“, in: Hartmut Kircher / Erich Kleinschmidt (Hrsg.), Literatur und Politik in der Heine-Zeit. Die 48er Revolution in Texten zwischen Vormärz und Nachmärz, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 205–218. Bloom, Harold, Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten, München 2000. Verstärkung der Rezeptionsästhetik durch Anleitung zu regelhafter Lektüre, Plädoyer für das Lesen als heilsames Vergnügen und ganzheitlichen Akt, Aufstellung von Prinzipien für den Leseakt, verteidigt normativen Gattungsbegriff.
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Gernig, Kerstin (Hrsg.), Fremde Körper, Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001. Trappen, Stefan, Gattungspoetik, Heidelberg 2001. Nünning, Vera/ Nünning, Ansgar, „Produktive Grenzüberschreitungen. Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie“, in: hrsg. v. dens., Erzähltheorie transgenetisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 1–22. Perspektivenreicher Aufsatzband, arbeitet die interdisziplinäre Relevanz der Erzähltheorie heraus, Narrativität gilt als gattungs-, medien-, kulturund epochenübergreifendes, anthropologisch fundiertes Problemfeld. Kilcher, Andreas B., mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. Schneider, Jost, Einführung in die Romananalyse, Darmstadt 2003. Anleitung zu methodisch fundierter Analyse narrativer Textsorten, rezeptionsanalytischer Ansatz, interdisziplinäre Herangehensweise an die Romangattung wird betont, Konnexion mit Mentalitätsforschung hergestellt. Zymner, Rüdiger, Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003. Überblicksdarstellung zur historischen Genese des Gattungsbegriffs; die Frage, inwiefern und inwieweit es Gattungen ‚wirklich gibt‘, avanciert zum ontologischen Problem literaturwissenschaftlicher Forschungsarbeit. Schneider, Irmela, „Genre, Gender, Medien, Eine historische Skizze und ein beobachtungstheoretischer Vorschlag“, in: Claudia Liebrand / Ines Steiner (Hrsg.), Hollywood hybrid, Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg 2004, S. 16–28. Hempfer, Klaus W., „Probleme der Terminologie, Wissenschaftssprache, Objektebene und Beschreibungsebene“ [1973], in: Siegfried Mauser (Hrsg.), Theorie der Gattungen, Laaber 2005, S. 3–15. Methodischer Neuansatz, ausgehend von Kritik am Zustand der Gattungstheorie. Erneuertes Plädoyer für Textbegriff, lässt aber keine terminologische Differenzierung verschiedener Abstraktionsstufen zu, Sam-
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melbegriffe wie der Gattungsbegriff gelten lediglich als ‚Zweckformen‘ und Klassen im logischen Sinne. Stolz, Peter, „Der literarische Gattungsbegriff. Aporien einer literaturwissenschaftlichen Diskussion. Versuch eines Forschungsberichts zum Problem literarischer Gattungen“ [1990], in: Siegfried Mauser (Hrsg.),Theorie der Gattungen, Laaber 2005, S. 24–33. Methodischer Neuansatz und Gegenentwurf zur reinen Klassifikationstheorie, stellt Klärung und Einbezug von sozio-kulturellen Kontexten als zentrale Aufgabe der Literaturwissenschaft heraus, fruchtbar insofern für kulturwissenschaftliche Ausrichtung des Fachs Germanistik. Plädiert für die Trennung von Gattungsgesetzen und -regeln sowie für Beschreibungsheuristiken im Sinne eines pragmatisch konzipierten Gattungssystems. Campe, Rüdiger, „Der Effekt der Form. Baumgartens Ästhetik am Rande der Metaphysik“, in: Eva Horn / Bettine Menke / Christoph Menke (Hrsg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, S. 17–33. Holmes, Susanne, Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei A. W. Schlegel, Paderborn u. a. 2006. Anz, Thomas, „Tod im Text. Regeln literarischer Emotionalisierung“, in: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 54/2007, 3, S. 306–327.
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Geistesgeschichte (Ideengeschichte / Problemgeschichte / Form- und Stilgeschichte) von N INA H AHNE
1. Definition Geistesgeschichte als Methode der Literaturwissenschaft bezeichnet eine spezifische Ausprägung der Literaturgeschichtsschreibung. Sie untersucht komplexe Formen geistiger Kohärenz in ihrer jeweiligen literarischen Repräsentation, wobei diese Kohärenz als eindeutig bestimmbar verstanden wird, so zum Beispiel in Form von Epochen oder als überzeitliche Ausprägung nationalen Charakters. Die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft entsteht um 1910 und entfaltet ihre Hauptwirkung bis in die späten 1920er-Jahre. Hierbei handelt es sich um die Adaption und theoretische Ausarbeitung eines Programms aufgeklärter Literaturgeschichtsschreibung, welches sich um 1800 in Ergänzung eines idealistischen Verständnisses des Begriffes ‚Geist‘ entwickelt und seine entscheidenden Impulse von Herder, F. Schlegel und Hegel empfängt. Die Begriffskonsolidierung erfolgt in Schlegels Wiener Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur (1812), in welchen die „Geschichte des menschlichen Geistes“ in ihren nationalen Ausprägungen mit besonderem Blick auf die „Geschichte deutscher Geistesbildung“ behandelt wird.1 Die Geistesgeschichte bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Herders unsystematisch konzipierter Idee der sich in unendlichem Wandel offenbarenden Humanität und Hegels systematisch fundiertem Begriff des sich selbst bewusst werdenden ‚Weltgeistes‘. Zumeist tritt der teleologische Gedanke zugunsten einer Sichtweise in den Hintergrund, welche in den literarischen Leistungen des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und der Romantik (nach Hermann August Korff als ‚Goethezeit‘ 1
Schlegel, Friedrich, „Geschichte der alten und neuen Literatur, Vorlesungen, gehalten zu Wien im Jahre 1812“, in: Ernst Behler / Hans Eichner (Hrsg.), Friedrich Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente [1812–1823], 6 Bde., Paderborn, München, Wien, Zürich 1988, Bd. 4, S. 1–234, hier S. 8 und S. 215.
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bezeichnet) Kulminationspunkte des ‚deutschen Geistes‘ sieht, so dass nachfolgende künstlerische und philosophische Leistungen einen qualitativen Abstieg bedeuten. Ein wesentliches Charakteristikum der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft ist ihre intensive Auseinandersetzung mit der Poetologie der Romantik, welcher sie ihre philosophische Fundierung entlehnt, sowie ihre damit einhergehende Rehabilitierung der Romantik gegenüber der Klassik als gleichberechtigter Form künstlerischen Ausdrucks.
2. Beschreibung Den Geist einer Zeit aus literarischen Werken zu erschließen, ist somit Aufgabe der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft. Welche Merkmale dabei in den Fokus der Untersuchung rücken, resultiert aus individueller Schwerpunktsetzung: Gegenstand der Betrachtung sind vor allem historisch rückverfolgbare Ideen von zentraler gesellschaftlicher Prägekraft (zum Beispiel ‚Bildung‘) oder die ästhetische Auseinandersetzung mit menschlichen Grundproblemen (prominenteste Beispiele: ,Liebe‘ und ,Tod‘). Andererseits können auch bestimmte Form- und Stilmerkmale im Mittelpunkt stehen oder aber der Verfasser selbst in seiner als für den Zeitgeist repräsentativ verstandenen Einheit von Individualität und Werk. Man spricht daher von ‚Ideengeschichte‘, ‚Problemgeschichte‘, ‚Form- und Stilgeschichte‘ sowie ‚Kräftegeschichte‘, wobei in der wissenschaftlichen Praxis zumeist Mischformen auftreten (die einzelnen Varianten werden unter Punkt 4 näher erläutert). Die Frage, ob alle genannten Ansätze gleichwertig unter den Sammelbegriff ‚Geistesgeschichte‘ zu subsumieren sind und ob es hierarchische Abstufungen gibt, wird unterschiedlich beantwortet. So spricht zum Beispiel Jost Hermand für den Zeitraum zwischen 1895 und 1918 hinsichtlich der Literaturgeschichte von „geistesgeschichtlichen, formtypologischen, neuromantischen-nationalistischen, heimatlich-stammlichen und arischrassistischen Konzepten“.2 Hermand versteht die Form- und Stilgeschichte somit als eine separate Methode neben der geistesgeschichtlichen,3 die mit dieser jedoch bedeutende Verbindungen eingegangen 2 3
Hermand, Jost, Geschichte der Germanistik, Hamburg 1994, S. 77. Die Begriffe ‚Formtypologie‘ und ‚Stiltypologie‘ bezeichnen die Formgeschichte beziehungsweise Stilgeschichte mit Betonung der Präferenz dieser Methoden für die Bildung formaler Klassifikationsschemata.
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sei.4 Das von Thomas Anz herausgegebene Handbuch Literaturwissenschaft hingegen zählt auch die nationale und die stiltypologische Strömung zu den geistesgeschichtlichen Ansätzen.5 Hier wird zum einen die Problemgeschichte als Bereich der Ideengeschichte verstanden, und zum anderen werden auch die Form- und Stilgeschichte als geistesgeschichtliche Ausrichtungen aufgefasst. Zur Problematik der Einordnung finden sich ebenfalls unter Punkt 4 im Kontext der Gegenüberstellung einzelner Anwendungsbeispiele genauere Angaben. Zentral für das Selbstverständnis der Geistesgeschichte ist ihr Bestreben, durch die Beschäftigung mit Literatur direkt auf das Leben des Menschen einzuwirken. Vorreiter ist hierbei Wilhelm Dilthey, welcher Dichtung als „die lebendigste Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge in dem Sinn des Lebens“6 versteht. Die Geistesgeschichte bezieht ihre lebensweltlichen, ethischen Prämissen aus den Begriffen ‚Humanität‘ und ‚Bildung‘. So konstatiert Ernst Cassirer in seinen Kleinere[n] Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte, das Konzept ‚Bildung‘ bezeichne geradezu repräsentativ den Geist der Goethezeit; allein diese sei befähigt gewesen, den komplexen Gehalt des Wortes zu erfassen.7 Die Logik der Argumentation beruht in diesem Fall auf einer typischen Vorannahme der geistesgeschichtlichen Theorie, welche ein Wechselverhältnis von Geist und konkreten historischen Gegebenheiten postuliert. Somit gewinnt eine Idee wie ,Bildung‘ autonomen Charakter und beansprucht, durch den Menschen vollständig erschlossen zu werden. Gleichermaßen bestimme wiederum der Geist die historischen Verhältnisse.8 In der Monographie, der bevorzugten geistesgeschichtlichen Darstellungsform, folgen in der Regel auf eine allgemeine (essayistische) Einführung autor- oder themengebundene Einzeldarstellungen, welche die dargelegten Thesen, immer mit Bezug auf die übergeordnete Syntheseleistung, belegen sollen (so zum Beispiel bei Wilhelm Dilthey in Das 4 5
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Vgl. Hermand, Germanistik, S. 73 ff. Vgl. Klausnitzer, Ralf: „Institutionalisierung und Modernisierung der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 2007, S. 70–146, hier S. 94–101. Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Leipzig, Berlin 1916, S. 179. Vgl. Cassirer, Ernst, „Goethes Idee der Bildung und Erziehung“, in: Barbara Neumann / Simon Zumsteg (Hrsg.), Ernst Cassirer, Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte 1925–1944, Hamburg 2006, S. 11–14. Vgl. ders., „Philosoph[ische] Probleme u[nd] Tendenzen der deutschen Geistesgeschichte“, in: ders., Kleinere Schriften, S. 3–10.
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Erlebnis und die Dichtung oder bei Hermann August Korff in Geist der Goethezeit). Da sich das Dichtungsverständnis der „klassischen“ Geistesgeschichte normativ aus Klassik und Romantik herleitet, ist ihre Beschäftigung bevorzugt auf Texte und Personen gerichtet, die sich im philosophischliterarischen Raum zwischen Aufklärung und Idealismus bewegen. Überproportionales Interesse erfährt daher vor allem Goethe, daneben widmet man sich unter anderem Hegel, Herder, Hölderlin, Kleist, Lessing, Novalis oder Schiller. Werke, deren Autor keiner Generation, Epoche oder literarischen Tradition zuzuordnen ist, erweisen sich daher als weniger geeignet für die stark biographieorientierte geistesgeschichtliche Methode. Die verbreitete These, geistesgeschichtliches Arbeiten richte sich primär auf Werke von formaler Geschlossenheit, kann jedoch nicht bestätigt werden, da formale Geschlossenheit kein notwendiges Kriterium geistesgeschichtlicher Betrachtung ist. Auch ist die romantische Literatur, einer der bevorzugten Gegenstände geistesgeschichtlicher Betrachtung, in besonderem Maße durch die Verwendung offener Formen gekennzeichnet.
3. Institutionsgeschichtliches In der sogenannten ‚Krise der Germanistik‘ um 1900 definiert die literaturwissenschaftliche Geistesgeschichte sich selbst in Abgrenzung gegen eine – oft mit abwertender Absicht als ‚Positivismus‘ bezeichnete – literaturgeschichtliche Praxis der Deutschen Philologie, welche sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Analogie zur Klassischen Philologie konstituiert hatte. Rudolf Unger charakterisiert treffend Gegenstandsbereich und Vorgehensweise dieser Philologie: „Der Methodik der alten und der germanischen Philologie analog solle also auch in der neueren Literaturgeschichte die Textinterpretation und -kritik als die grundlegende Tätigkeit in den Mittelpunkt der Forschung treten. Daran habe sich die formale und inhaltliche Bearbeitung zu schließen: sprachliche, stilistische und metrische Untersuchungen einerseits, anderseits die Behandlung der Fragen nach Entstehungsgeschichte, Verfasser, Quellen, Stoff- und Motivgeschichte, Kompositionsweise, Typen, Tendenzen, Entlehnungen, Anspielungen und Anklängen, Vorbildern, Einflüssen, Umarbeitungen, Aufnahme bei den Zeitgenossen, kritischen Beurteilungen, Nachwirkungen usw. Als wichtigstes Hilfsmittel hierbei
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gilt die Vergleichung nach ihren beiden Richtungen, als Parallelisierung und Kontrastierung“.9 Unter den vielfältigen frühen Ansätzen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur, welche sowohl die Lehre des dichterischen Handwerks als auch geistesgeschichtliche Ziele mit einschlossen, hatte um 1820 im Kampf um ein adäquates Wissenschaftlichkeitsverständnis die Philologie den Sieg davon getragen. Wie Klaus Weimar ausführt, bestimmten Georg Friedrich Benecke, Jacob und Wilhelm Grimm sowie Karl Lachmann die orthographisch, grammatisch und metrisch vereinheitlichte Textedition zur Kernbeschäftigung der Philologie, während eine am Gehalt des Werkes orientierte Praxis der Literaturbetrachtung per se als unwissenschaftlich abgewiesen wurde.10 Holger Dainat legt dar, dass sich in der Neueren deutschen Literatur die Philologie erst in den 1880er- und 1890er-Jahren vollständig durchsetzte.11 Dann jedoch habe sie ein strenges „Wahrheitsregime“ errichtet,12 welches den wissenschaftlichen Nachwuchs einer regelrechten „Sozialdisziplinierung“ unterzog,13 um die uneingeschränkte Geltung philologischer Maßstäbe zu gewährleisten. Auch die Auseinandersetzung zwischen Vertretern einer geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung und den Verfechtern der ‚exakten‘ Philologie ist in erster Linie wissenschaftstheoretisch motiviert: Die geistesgeschichtliche Theorie verurteilt die Philologie aufgrund ihres (angeblich) naturwissenschaftlich-kausalen Ansatzes, welcher dem empirisch fundierten Positivismus eines Auguste Comte entspreche. Dieser Positivismus zerstöre den historischen Sinn, das Gefühl der Verbundenheit mit der Vergangenheit. So konstatiert Walter Strich in seinem Beitrag Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte, 1922 veröffentlicht in dem von ihm selbst herausgegebenen Jahrbuch für Geisteswissenschaften mit dem Titel Die Dioskuren (erschienen 1922–1924): „Die Frage also, wie 9
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Unger, Rudolf, „Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft“, in: ders., Gesammelte Studien, Erster Band: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Darmstadt 1966, S. 1–32, hier S. 1 f. Vgl. Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, S. 231. Vgl. Dainat, Holger, „Ein Fach in der ‚Krise‘, Die ‚Methodendiskussion‘ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft“, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 247–272, hier S. 257. Ebd., S. 255. Ebd., S. 254.
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das Werk entstanden ist, richtet die philologische Geschichte. Durch sie wird diese zu einem Archiv, in dem alles als toter Gegenstand aufgehoben wird, was lebendig wirken wollte“.14 Die positivistische Arbeitsweise wird in der geistesgeschichtlichen Polemik immer wieder mit dem Namen Wilhelm Scherers in Verbindung gebracht, dessen Berliner Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturgeschichte auch in der Neubesetzung durch seinen Nachfolger Erich Schmidt (1887) und dessen Nachfolger Julius Petersen (1920) als ein Bollwerk philologisch exakter Methodik gegen die neue geistesgeschichtliche Mode gilt.15 Jürgen Sternsdorff legt dar, wie Wilhelm Scherers Werk durch bewusste Fehlinterpretation zum materialistischen Feindbild der Geistesgeschichte aufgebaut wird und welche vor allem auch großdeutsch-nationalistischen Interessen sich dahinter verbergen.16 Sternsdorff, der Scherers Werk vor allem politisch beurteilt, sieht Scherer dabei vielmehr in der Tradition der Aufklärung und einer von dieser hergeleiteten „kosmischen Vorstellung, in der die Natur selbst schon zur Durchsetzung der allgemeinmenschlichen Natur, zum humanitären Fortschritt gegen alle despotisch-künstlichen Behinderungen treibt“.17 Diese Anschauung bringt Scherer den Vorwurf des Historismus und damit des Relativismus ein, ein Kapitalverbrechen in den Augen der Geistesgeschichtler, denen es gerade nicht um die geschichtliche Relativierung von Werten geht, sondern um die Sichtung überkommener Werte und ihre Prüfung auf Gegenwartstauglichkeit. Das stark überzeichnete Bild der angeblich positivistischen Philologie, welche in dieser Extremform niemals praktiziert wurde, dient daher in erster Linie als Negativfolie für die geistesgeschichtliche Selbstbestimmung. Ausgehend von dieser Kritik entwickeln sich zunächst die ideengeschichtliche (Wilhelm Dilthey, Ernst Cassirer, Hermann August Korff) und die problemgeschichtliche Variante (Rudolf Unger, Paul Kluckhohn, Walter Rehm). Daran anschließend und in stärkerer Betonung des formalen Charakters 14
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Strich, Walter, „Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte“, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, Bd. 1, München 1922, S. 1–34, hier S. 27. Vgl. Höppner, Wolfgang, „Eine Institution wehrt sich, Das Berliner Germanische Seminar und die deutsche Geistesgeschichte“, in: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt a. M. 1993, S. 362–380. Vgl. Sternsdorff, Jürgen, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer, Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen, Frankfurt a. M. 1979, vor allem S. 262–296. Ebd., S. 267.
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literarischer Werke bildet sich die form- und stilgeschichtliche Ausprägung (Paul Böckmann, Fritz Strich, Oskar Walzel) heraus, während die Kräftegeschichte (Ernst Bertram, Friedrich Gundolf) eine Sonderstellung einnimmt. Initiatorische Wirkung entfalten in diesem Prozess die Monographie Wilhelm Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung (1906) sowie Rudolf Ungers Aufsatz Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft (1908) und seine Monographie Hamann und die Aufklärung (1911). 1923 wird die Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte durch Erich Rothacker und Paul Kluckhohn als zentrales Publikationsorgan der Geistesgeschichte gegründet, welches jedoch auch für andere Methoden offen ist. Aus dem kurzen programmatischen Vorwort des ersten Bandes der DVJS (1923) geht hervor, dass die formund stilanalytische Methode nicht zur geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft gezählt wird, aber auch nicht als deren Opposition erscheint, da die Herausgeber eine engere Verbindung als „fruchtversprechend und wegweisend“ erachten. Außerdem spricht man sich ausdrücklich gegen die Veröffentlichung „bloßer Materialsammlungen“ oder „rein stofflicher Quellenuntersuchungen“ aus, also gegen positivistische Ansätze generell, bekennt sich gleichzeitig jedoch hinsichtlich der Grundlagenarbeit ebenso zu philologischer Strenge und Gewissenhaftigkeit, um auf diese Weise dem nach wie vor wirkungsmächtigen Gebot der Wissenschaftlichkeit gerecht zu werden.18 Holger Dainat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch die Philologie letztendlich die Erforschung deutschen Geisteslebens bezweckt, dass sich jedoch in Relation zur Geistesgeschichte das Verhältnis von Analyse und Synthese umkehrt: Erwarte die Philologie, dass die „möglichst vollständige Aufarbeitung des Materials gewissermaßen automatisch, d. h. unter einem minimalen Einsatz von Intuition bzw. Konstruktion, zur zusammenfassenden Synthese führt“,19 so werden in der geistesgeschichtlichen Vorgehensweise die bereits vorgefassten Synthesen häufig lediglich noch durch Beispiele aus einem ausgewählten Textkorpus belegt. Auch die Literatursoziologie, die sich ebenfalls in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konstituiert, ist in diesem Zeitraum nicht 18
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Kluckhohn, Paul / Rothacker, Erich (Hrsg.), Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1/1923, S. Vf. Dainat, Holger, „Überbietung der Philologie“, in: König / Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 232–239, hier S. 234.
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klar von der Geistesgeschichte abgegrenzt. Unvereinbar mit soziologischem Arbeiten ist der Anspruch der Geistesgeschichte auf den absoluten Wert der Dichterpersönlichkeit und des dichterischen Kunstwerkes, welche die Soziologie nur innerhalb ihres jeweiligen geschichtlichen Zusammenhangs bestimmen kann. Die Beschaffenheit des Milieus ist für die geistesgeschichtliche Biographie etwas Äußeres, Kontingentes, da sie davon ausgeht, dass der Mensch bereits von Geburt an mit einem originellen Weltverständnis ausgestattet ist, welches sich in der Biographie quasi „offenbart“. Eine spannungsreiche Zwischenstellung nimmt hier die ‚stammesethnographische‘ (oder in der zeitgenössichen Terminologie: ‚stammeskundliche‘) Literaturgeschichte ein, welche aufgrund politischer und sozialer Verhältnisse Aussagen über geistige Entwicklungen von Stämmen und Nationen und den in ihnen – so die zentrale These – charakterlich verwurzelten Dichtern trifft.20 Zentral ist hier die Prager Rektoratsrede August Sauers mit dem Titel Literaturgeschichte und Volkskunde aus dem Jahre 1906. Rudolf Unger bezeichnet die stammesethnographische Literaturgeschichte als „soziologischen Positivismus“ und weist sie doch trotz starker Zweifel an der wissenschaftlichen Aussagekraft ihrer Thesen keineswegs von der Hand. In seinem Aufsatz Die Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Betrachtungen zur stammeskundlichen Literaturgeschichte (1925) setzt sich Unger mit Joseph Nadlers vierbändigem Werk Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (ab 1912) auseinander. Nadlers These, die Romantik sei ein Produkt des gespaltenen Wesens des ostdeutschen Menschen, welcher dem ‚romantischen Seelentypus‘ angehöre, zieht Unger stark in Zweifel. Besonders kritisiert er, dass sich bei Nadler ein „anthropologisch-naturwissenschaftlicher“ mit einem „kulturhistorisch-geisteswissenschaftlichen“ Begriff von „Stamm und Stammestum“ vermische.21 Unger sieht darin den wissenschaftlich zweifelhaften Versuch, die Typenpsychologie auf „psychische Verschiedenheiten innerhalb desselben Volksganzen“ anzuwenden.22 Die wissenschaftliche Validität einer Typenpsychologie generell wird allerdings nicht in Frage gestellt und vielmehr der interdisziplinäre 20
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Vgl. hier vor allem Nadler, Josef, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 4 Bde., Regensburg 1912 ff. Unger, Rudolf, „Die Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Betrachtungen zur stammeskundlichen Literaturgeschichte“, in ders., Prinzipienlehre, S. 171–195, hier S. 189. Ebd., S. 190.
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Ansatz des Werkes gelobt. Deutlich wird jedoch das Vorrecht der Geistesgeschichte hinsichtlich der Betrachtung eines primär als literaturgeschichtlich verstandenen Phänomens wie der Romantik herausgehoben, zu welchem die Stammeskunde gerne, „aber eben nur in Verbindung mit und unter Führung der geisteshistorischen Literaturgeschichte“ etwas beitragen könne.23 Die Stammeskunde wird somit durch Unger stärker der Soziologie zugeordnet als der Geistesgeschichte. Die direkte ideologische und rhetorische Nähe der Stammesethnographie zum Gedankengut des Nationalsozialismus (zentrale Begriffe bei Nadler sind ‚Blut‘, ‚Boden‘, ‚Rasse‘, ‚Raum‘ etc.) hat außerdem dazu geführt, dass diese auch nachträglich in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung nicht in den Kreis „klassischer“ geistesgeschichtlicher Positionen aufgenommen wurde. Wie Christa Hempel-Küter in ihrer Studie zur fachinternen Reaktion der Germanistik auf den Nationalsozialismus ausführt, ist die nationale Ausrichtung der Germanistik bereits vor 1933 so stark ausgeprägt, dass nach der Machtübernahme eine „inhaltliche Gleichschaltung“ des Faches nicht notwendig ist.24 Am Beispiel Herbert Cysarz (1896–1985) zeigt sich besonders augenfällig die Affinität der Geistesgeschichte zum Nationalismus und ihre sich daraus ergebende äußerst problematische Rolle im Nationalsozialismus. Die geistesgeschichtliche Auffassung Cysarz’ ist bereits in seinem Werk Literaturgeschichte und Geisteswissenschaft aus dem Jahre 1926 sehr nationalistisch orientiert und verwendet eine ins Militaristische ausgreifende kräftegeschichtliche Bildlichkeit.25 In seinem Werk Das Deutsche Schicksal im Deutschen Schrifttum aus dem Jahre 1942 zeichnet Cysarz den langen Verlauf der kulturellen und politischen Einigung Deutschlands anhand herausragender (Dichter-) Persönlichkeiten nach und sieht sich auf diese Weise im Schulterschluss mit den Frontsoldaten. In auffälligem Kontrast stehen dabei einerseits Cysarz’ Wertschätzung fremder kultureller Leistungen (seine akademischen Vorträge auch über jüdische Autoren machten ihn dem NS-Regime verdächtig, führten jedoch nicht zu seiner Absetzung), andererseits seine Überzeugung von der naturgegebenen Eigenschaft des deutschen „Führervolkes“, welche ihn den 2. Weltkrieg als „Dienst an Europa“ zur Her23 24
25
Unger, „Vorbereitung der Romantik“, in: ders., Prinzipienlehre, S. 190. Hempel-Küter, Christa, Germanistik zwischen 1925 und 1955, Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000, S. 39. Vgl. Cysarz, Herbert, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft, Kritik und System, Halle (Saale) 1926.
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stellung einer neuen Völkerordnung verstehen lässt, als „Verantwortung und Sorge für alle“.26 In den Nachkriegsjahren sind von Seiten der Geistesgeschichte sehr unterschiedliche Reaktionen auf die Katastrophe des Nationalsozialismus zu beobachten. In seiner 1946 im Rahmen der Reihe Der Deutschenspiegel: Schriften zur Erkenntnis und Erneuerung erschienen Studie Die Idee des Menschen in der Goethezeit beschwört Paul Kluckhohn das Idealbild des Menschen der Goethezeit als Gegengewicht zu den Schrecken des vergangenen Krieges und als Orientierungspunkt für die Erneuerung des nationalen Selbstgefühls. Leitbild sei dabei „[d]ie Forderung der Totalität, für welche die Griechen immer wieder als Vorbild angesprochen werden, der Gedanke der Höherentwicklung, der Appell an die innere Freiheit und an die Stimme des Gewissens, die Bedeutung der Eigentümlichkeit der Individualität, zu der die Forderung der Gemeinschaft und ihrer Pflichten ebensowenig im Gegensatz stehen wie das Nationale zum Universalen oder Übernationalen“.27 Dargestellt wird die Entwicklung dieses Ideals vom 16. Jahrhundert bis zur Romantik, nach deren Ende Kluckhohn, bedingt durch Materialismus und technischen Fortschritt, nur noch „Rückschritte der Kultur, der wahren Bildung, Rückschritte des Menschentums“ erkennt.28 Der Nationalsozialismus wird sehr abstrakt behandelt und dem anti-modernistischen Weltbild eingefügt. So heißt es direkt zu Beginn: „Bei so manchen Geschehnissen der letzten Jahre mußte man das peinliche, beschämende und empörende Gefühl haben, daß das Bild des Menschen herabgewürdigt, ja in den Schmutz gezogen wurde“.29 Nur aus einer solchen Ausgangslage kann Kluckhohn argumentieren, dass eine Besinnung auf die Ideen der Goethezeit für die aktuelle gesellschaftliche Situation Relevanz besitzt. Nur auf der Ebene von Bildern und Ideen kann die Wissenschaft inhaltlich direkt dort anschließen, wo sie bis zum Beginn der Diktatur und vielfach bis zum Ende des Krieges tätig gewesen ist. Zum Schluss wird die Unzulänglichkeit dieser Verfahrensweise dem Autor deutlich, um im gleichen Augenblick jedoch erneut negiert zu werden: „[…] in keinem Falle können wir einfach zu einer vergangenen Zeit und ihren Ideen zurückkehren. Unser Weg muß vorwärts gehen, 26
27 28 29
Vgl. ders., Das Deutsche Schicksal im Deutschen Schrifttum, Ein Jahrtausend Geisteskampf um Volk und Reich, Leipzig 1942, S. 70. Kluckhohn, Paul, Die Idee des Menschen in der Goethezeit, Stuttgart 1946, S. 44. Ebd., S. 45. Ebd., S. 7.
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wenn er auch zunächst durch lastendes Dunkel führt. Aber das Beste und Tiefste, was jene Höhenzeit deutscher Geistesgeschichte zu sagen hatte, kann uns Hilfe sein zur Besinnung auf unser eigenes Wesen und ein Kraftquell, der immer neu für uns entspringt“.30 Fritz Strich hingegen betont im Vorwort einer Vortragssammlung mit dem Titel Der Dichter und die Zeit (1947), welche Vorträge von 1929 bis 1947 umfasst, diese Vorträge seien ein Versuch gewesen, die dargestellten Dichter als „Beschwörer der entfesselten Dämonen“ herbeizurufen.31 Alle Vorträge seien daher auf die gegenwärtige Zeit bezogen und spiegelten ein geistesgeschichtliches Selbstverständnis, welches darauf ausgerichtet sei, dem Leser die Fähigkeit zu vermitteln, die eigene Zeit zu beurteilen. Besonders deutlich wird dies in seinem Vortrag Zu Lessings Gedächtnis (1929), in welchem Strich mit deutlichen Worten den „Ungeist der Zeit“, die „unselige Verhetzung zwischen Rassen und Religionen“ und die „dunklen, dumpfen, unbewussten Kräfte des Blutes“ mit ihrer „rhetorischen Pathetik“ an den Pranger stellt.32 In seiner weiteren Vortragssammlung Kunst und Leben aus dem Jahr 1960 begreift der Geistesgeschichtler Strich sich selbst als Außenseiter innerhalb der Literaturwissenschaft. ,Geistesgeschichte‘ und ,Weltanschauung‘ seien Spottnamen geworden, die Literaturwissenschaft habe sich auf die reine Textinterpretation und damit auf „die Isolierung des Werkes in sich selbst“ zurückgezogen.33 Gegen diese Werkimmanenz erhebt Strich vehementen Einspruch: „Wissenschaft beginnt in dem Augenblick, in welchem man sich vom Text zu entfernen anfängt und nicht mehr an ihm klebt“.34 Im Vordergrund der Literaturbetrachtung müsse stets der Dichter als „menschliche Einheit und Ganzheit“ stehen.35 Zwar rückt der jüdische Literaturwissenschaftler Strich durch das Erlebnis des Nationalsozialismus nicht von der Geistesgeschichte als solcher ab, doch hat sich sein Verhältnis zur Romantik tief greifend verändert. Stärkt er den Wert der Romantik 1922 in Deutsche Klassik und 30 31
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Ebd., S. 46. Strich, Fritz, Der Dichter und die Zeit, Eine Sammlung von Reden und Vorträgen, Bern 1947, S. 10. Ders., „Zu Lessings Gedächtnis, Rede zur Staatsfeier seines zweihundertjährigen Geburtstages in Berlin 1929“, in: ders., Der Dichter und die Zeit, S. 135–147, hier S. 136 f. Ders., Kunst und Leben, Vorträge und Abhandlungen zur deutschen Literatur, Bern, München 1960, S. 7. Ebd. Ebd.
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Romantik noch, so nimmt er diese Aufwertung in seinem Vorwort zur fünften Auflage des Werkes von 1962 wieder zurück. Die Geistesgeschichte müsse eine Überwindung der Romantik leisten, da diese den „Rückgang auf ein magisch-dämonisches Weltbild“ darstelle und damit maßgeblich an der Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie beteiligt gewesen sei. Zwar revidiert Strich nicht seine Ansicht von der ästhetischen Bedeutung der Romantik, doch müsse diese aus dem Leben und der Politik ferngehalten werden, denn: „Die Romantik war die Abdankung der europäischen Vernunft“.36 Mit der werkimmanenten Interpretation, welche sich folgerichtig aus einer Formgeschichte entwickelt, wie sie durch Paul Böckmann, Wolfgang Kayser und andere nach 1945 proklamiert wird, zieht sich die Literaturwissenschaft somit aus der ideologisch verdächtigen Geistesgeschichte zurück.
4. Publikationen 4.1 Ideengeschichte Als ein bedeutender Vertreter der Ideengeschichte vor der ‚geistesgeschichtlichen Wende‘ ist Rudolf Haym (1821–1901) zu nennen. Seine Werke, zum Beispiel Hegel und seine Zeit (1857) oder Die romantische Schule (1870) zeigen das Weiterleben geistesgeschichtlicher Denkweisen auch nach dem Niedergang der Hegel’schen Schule und in Koexistenz mit der Philologie des 19. Jahrhunderts. Der Liberale Haym richtet sich vehement gegen die als restaurativ bewertete Hegel’sche Philosophie und sieht in der Geistesgeschichte den allein fruchtbaren Fortbestand Hegel’schen Gedankengutes. Ziel der Geistesgeschichte sei es, „die Wandlungen des Ideenlebens einer Nation“ darzustellen,37 wobei zum einen ein biographischer Ansatz notwendig sei, da „große Geister“ die Ideen trügen und diese durch sie wirkten, zum anderen besäßen die Ideen jedoch auch eine „sich selbst einwohnende […] Lebenskraft“,38 deren Entwicklung auf ihre Gesetz36
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Ders., Deutsche Klassik und Romantik, Oder Vollendung und Unendlichkeit, Ein Vergleich, Bern, München 1962, S. 11 f. Haym, Rudolf, Die Romantische Schule, Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1928, S. 8. Ebd.
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mäßigkeiten hin untersucht werden müsse. Das einzelne literarische Werk sei Kreuzungspunkt sowohl allgemeiner Entwicklungen als auch individualpsychologischer Aspekte. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, „zugleich das Durchgehende und Allgemeine festen Blickes zu verfolgen, und zugleich verstehend und mitfühlend sich in die Eigenart von Individuen, in die inneren Erlebnisse bedeutender Menschen zu versetzen“.39 Der Begriff des ‚Erlebnisses‘, der anschließend für Dilthey und in seiner Nachfolge für die gesamte geistesgeschichtliche Bewegung zentrale Bedeutung erlangt, ist hier bereits vorgeprägt. In seiner Romantischen Schule strebt Haym an, ein realistisches Bild der Romantik zu zeichnen, nachdem restaurative Kräfte seit den 1840ern durch die Verbreitung klischeehafter Vorstellungen den Ruf der Romantik zerstört und diese als das allein Rückwärtsgewandte, nicht Lebensfähige dargestellt hätten. Das Bild, welches Haym zeichnet, ist jedoch nicht positiver. Auf der Folie seines ästhetischen Ideals einer geschlossenen, organisch gewachsenen Form im Sinne der Dichtung Goethes fällt er ein hartes Urteil: In der Ästhetik der Romantiker habe Talent keine Rolle gespielt, ihre Dichtung sei ein künstliches Produkt auf der Basis der romantischen Universalpoesie, einer dilettantischen Regelpoetik, und der Willkür des Dichters. Besonders Friedrich Schlegel wird für Haym zum Zielpunkt seines Angriffs; er erklärt dessen Theorie der Universalpoesie beziehungsweise der romantischen Ironie aus Schlegels zweifelhaftem Charakter (erkenntlich nach Haym vor allem aus Schlegels Roman Lucinde, in welchem das Konzept der romantischen Universalpoesie in die Praxis umgesetzt wird). Die Form des romantischen Fragments stehe dafür sinnbildlich: sie sei eine „formlose Form“, welche „aus Bequemlichkeit“ zum philosophischen und literarischen Grundsatz ernannt worden sei.40 Zusammenfassend stellt Haym fest: „Allein das ist ja vielmehr das Auszeichnende der romantischen Poesie, daß in ihr, was sonst das Zeugnis der Unbeholfenheit und der Unpoesie ist, zum Stempel der Schönheit und Vollendung wird“.41 Findet sich also bei Haym zwar eine ideengeschichtliche Basis der Literaturbetrachtung, so etabliert sich die Geistesgeschichte als literaturwissenschaftliche Methode im engeren Sinne doch erst mit Wilhelm Dilthey (1833–1911) und seinen Nachfolgern, welche um eine Versöhnung des klassischen und des romantischen Dichtungsideals bemüht 39 40 41
Ebd., S. 9. Ders., Romantische Schule, S. 280. Ebd., S. 556.
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sind und diese als konsistente Entwicklungsphasen der deutschen Nationalliteratur darstellen. Diltheys Konzept einer geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung ist in seine theoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften als „moralisch-politische Wissenschaften“ eingebettet.42 Dasjenige seiner Werke, welches für die Begründung der Geistesgeschichte maßgebend ist, Das Erlebnis und die Dichtung (1906), setzt als Anwendungsbeispiel geisteswissenschaftlichen Arbeitens eine Kenntnis seines Theoriegebäudes voraus. Dies kann zur Folge haben, dass eine literaturwissenschaftliche Dilthey-Rezeption, welche sich primär an diesem Werk orientiert, zentrale Begrifflichkeiten wie ‚Leben‘ / ‚Erlebnis‘, ‚Geist‘ oder ‚Sinn‘ in einen metaphysischen Kontext stellt, welchen Dilthey gerade vermeiden will. Zur theoretischen Ergänzung eignen sich daher neben der 1883 erschienenen Einleitung in die Geisteswissenschaften besonders Diltheys 1910 veröffentlichte Studiensammlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, welche in komprimierter Form seine Kernthesen darstellen. ‚Geist‘ bezeichnet bei Dilthey weder eine rein subjektiv-psychologische noch eine metaphysische Konstante, sondern vielmehr einen Ausschnitt aus dem gesamten ,Leben‘, der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit des interaktiv handelnden Menschen. Zeichnen sich die Naturwissenschaften nach Dilthey dadurch aus, dass in ihnen der Mensch hinter einen Gegenstand aus dem Bereich der empirischen Naturbetrachtung zurücktritt, dessen Eigenschaften mit den Mitteln der Abstraktion erklärt werden können, so besitzen die Geisteswissenschaften im Gegenzug ihren gemeinsamen Untersuchungsgegenstand im „ganzen Menschen“, welcher als „psycho-physische Lebenseinheit“ innerhalb eines Gefüges sozialer Systeme verstanden wird.43 Das wissenschaftliche Verstehen des Menschen ist dabei für Dilthey primär ein entwicklungsgeschichtliches, es geht ihm um die Schaffung einer Kritik der historischen Vernunft, welche – in Abgrenzung zu Kant – nicht von einem „starren a priori unseres Erkenntnisvermögens“ ausgeht.44 Zentral ist dabei der Begriff des ‚Erlebnisses‘, welcher die Fähigkeit des Individu42
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Vgl. Johach, Helmut, Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistesund Sozialwissenschaften bei Wilhelm Dilthey, Meisenheim am Glan 1974, S. 6. Dilthey, Wilhelm, „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, in: Gesammelte Schriften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, Bernhard Groethuysen (Hrsg.), Stuttgart, Göttingen 1990, S. 15. Ebd., S. XVIII.
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ums bezeichnet, aufgrund seines eigenen Eingebundenseins in die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit deren Eigengesetzlichkeit auf der Basis hermeneutischer Prozesse nachzuvollziehen. Poesie nun basiert nach Dilthey auf den Erlebnissen des Dichters, welcher mit Hilfe der Phantasie eine „zweite Welt“ schafft45, in welcher das einzelne Geschehnis durch die Bedeutung, die der Dichter hineinlegt, den Bezug auf das Lebensganze, zum Symbol des Lebens erhoben wird. Der Dichter verfügt nach Dilthey über eine besondere Intensität des Erlebens, er ist in besonderem Maße dazu befähigt, diejenigen psychischen und sozialen Prozesse zu erfassen, die das Leben des Menschen bedingen, und diese komprimiert im literarischen Symbol zu gestalten. Dies macht ihn zu einer „dämonischen Natur“.46 Der Dichter erweitert den geistigen Besitz der Menschheit, denn: „Jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, eine Eigenschaft des Lebens heraus, die so vorher nicht gesehen worden ist“.47 Aus literarischen Werken erschließe sich somit der Sinn des Lebens, wobei ‚Sinn‘ verstanden wird als „Zusammenhang, wie er sich aus der Bedeutung der Teile ergibt“.48 Dieses Vorhaben weist der Literaturgeschichte einen bedeutenden Platz innerhalb der Gesellschaft zu: Sowohl durch eine psychologische Auseinandersetzung mit dem einzelnen Dichter und seinem Werk im Nacherleben der gestalteten Erlebnisse als auch durch das Verstehen geistiger Objektivationen, welche dieses Werk historisch bedingen (Traditionen, Normen, Werte), kann der Geist einer Zeit erfasst werden. Untersucht werden nicht innere Vorgänge, „sondern ein in diesen geschaffener, aber von ihnen ablösbarer Zusammenhang“,49 welchen Dilthey in Anlehnung an Hegel auch als ,objektiven Geist‘ bezeichnet, ohne jedoch Hegels teleologisches Geschichtsbild zu übernehmen oder diesem Geist eine eigene Subjektivität zuzuschreiben. ,Geist‘ ist nach Dilthey ein Produkt der Gesellschaft, welche zum einen durch die immergleichen Attribute des menschlichen Wesens und zum anderen durch die veränderlichen historischen Bedingungen bestimmt wird. 45 46 47 48
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Dilthey, Erlebnis, S. 185. Ebd., S. 188. Ebd., S. 197. Ders., „Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, in: Gesammelte Schriften, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Bd. 7, Bernhard Groethuysen (Hrsg.), Leipzig, Berlin 1927, S. 240. Ders., „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, in: Schriften, Bd. 7, Groethuysen (Hrsg.), S. 85.
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Geistesgeschichtliche Erkenntnis darf jedoch nicht gesucht werden, indem von den einzelnen Phänomenen nach dem Prinzip der Kausalität auf das Allgemeine geschlossen wird, wie es nach Dilthey die Positivisten in der Nachfolge Auguste Comtes beziehungsweise die naturwissenschaftlich ausgerichteten Empiriker im Sinne John Stuart Mills praktizieren, welche Dilthey zufolge die geschichtliche Wirklichkeit „verstümmeln“.50 Abstraktion und mechanische Unterordnung der Erscheinungen unter die jeweiligen Konstruktionsmittel seien das Prinzip der Naturwissenschaften, verstehende Einordnung der Erscheinungen in die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit das der Geisteswissenschaften.51 Besonderes Studienobjekt ist hierbei nach Dilthey die Generation. Diese eignet sich besonders als Bindeglied in der wechselnden Betrachtung von Individuen und sozialen Systemen; sie ermöglicht die angestrebte Kombination aus subjektiv-psychologischer und objektivsoziologischer Betrachtung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, hervorzuheben, dass Dilthey, wenn er von Psychologie spricht, nicht die eigentliche Wissenschaft der Psychologie meint, sondern eine konkrete Psychologie oder Anthropologie, welche Fragen nach der Bedeutung des Lebens stellt. Wie Gunter Scholtz ausführt, ergibt sich aus der Tatsache, dass Dilthey einerseits anthropologische Konstanten voraussetzt, andererseits jedoch den Menschen aus der Geschichte begreifen will, kein Widerspruch. Beide Prämissen verhielten sich vielmehr zueinander „wie systematischer Rahmen und Konkretion“.52 Diltheys Theorie, in welcher der Literaturgeschichte ein zentraler Platz zukommt, geht somit über das, was als ‚klassische‘ Geistesgeschichte bezeichnet wird, weit hinaus. Die Rezeption Diltheys innerhalb der Geistesgeschichte beschränkt sich jedoch vor allem auf seine ideengeschichtliche Konzeption mit dem Kern des Erlebnisbegriffes, während Diltheys Hermeneutik in der Literaturwissenschaft unberücksichtigt bleibt. Diese Tatsache veranlasst Tom Kindt und Hans-Harald Müller zu dem Urteil, „dass Diltheys kurzzeitiger Erfolg in der Literatur50
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Ders., „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, in: Schriften, Bd. 1, Groethuysen (Hrsg.), Vorwort S. XVII. Vgl. ders., „[Über vergleichende Psychologie] Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96)“, in: Gesammelte Schriften, Die geistige Welt, Einleitung in die Philosophie des Lebens, erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Georg Misch (Hrsg.), Leipzig, Berlin 1924, S. 265. Scholtz, Gunter, „Diltheys Philosophiebegriff“, in: Gudrun Kühne-Bertram / Frithjof Rodi (Hrsg.), Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie, Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes, Göttingen 2008, S. 17–37, hier S. 31.
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wissenschaft eher als Bestandteil einer rhetorischen Legitimierungsstrategie denn als Ergebnis einer genauen inhaltlichen Auseinandersetzung zu sehen ist“.53 Ist die Dilthey-Rezeption um 1910 sehr selektiv, so wirkt Diltheys Werk Das Erlebnis und die Dichtung doch gerade dadurch als Katalysator für bereits vorhandene geistesgeschichtliche Tendenzen, welche sich aus einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den Methoden und Ergebnissen der Philologie ergeben. Ein weiterer bedeutender Vertreter der Ideengeschichte, Hermann August Korff (1882–1963), stellt in seinem vierbändigen Werk Geist der Goethezeit (ab 1923) die philosophische und literarische Entwicklung in Deutschland vom Sturm und Drang über die Klassik und die Frühromantik bis hin zur Hochromantik als eine konsistente Entwicklung dar. Korff verfährt dabei geistesgeschichtlich, indem er nicht einzelne Phasen der Entwicklung in ihrer zeitlichen Abfolge nachvollzieht, sondern seine Darstellung nach sachlichen Kategorien (Weltanschauung, Lebensanschauung, Kunstanschauung) systematisch ordnet.54 Getragen wird die Darstellung nach Korff „von dem alten Hegelschen Aberglauben […], daß die Entwicklung der Ideengeschichte im Großen gesehen auch einen logischen Fortgang habe und die systematische Darstellung einer ausgereiften Ideenwelt darum zugleich ein ideelles Bild der geistigen Bewegung gebe“.55 Korff prägt mit seinem Werk den Begriff ‚Goethezeit‘ für den Zeitraum von 1770–1830, dessen kunstphilosophischen Charakter er in Goethe und Hegel verkörpert sieht. 4.2 Problemgeschichte Rudolf Unger (1876–1942) entwickelt sein Konzept einer Problemgeschichte in mehreren Schritten. In seinem Aufsatz Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft (1908) sowie in seiner monographischen Darstellung Hamann und die Aufklärung (1911) orientiert er sich noch stark an Diltheys ideengeschichtlichem Konzept und kombiniert dieses mit seinem kräftegeschichtlichen Grundverständnis, welches das Irratio53
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Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, „Eine Wende ohne Folgen, Die Fassungen von Das Erlebnis und die Dichtung und die Dilthey-Rezeption in der Literaturwissenschaft“, in: Kühne / Rodi (Hrsg.), Hermeneutische Wende, S. 333–347, hier S. 334. Vgl. Korff, Hermann August, Geist der Goethezeit, Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, Bd. 2: Klassik, Leipzig 1958, S. 4. Ders., Goethezeit, S. 4.
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nale (verkörpert nach Unger in der Person Hamanns) zu einer „Erneuerung der Religion“ beschwört und sich darüber hinaus in einer Bildlichkeit des „Dunklen“, „Chaotischen“ und „Dämonischen“ manifestiert.56 Sein späterer Aufsatz Literaturgeschichte als Problemgeschichte (1924) präsentiert einen neuen Ansatz. Diltheys Ausrichtung auf die subjektive Erlebnisseite der Dichtung wird nun kritisch verworfen, Scherer und Dilthey hinsichtlich ihrer angeblich ‚psychologistischen‘ Ausrichtung miteinander verglichen und Dilthey somit in die Richtung des Positivismus gerückt.57 Literatur wird nun verstanden als eine „Spiegelung der Entwicklung sachlicher Probleme“ (wie zum Beispiel Liebe und Tod), deren Darstellung die Aufgabe der Ausbildung einer „nationalen Ethik“ vorantreiben soll. Dilthey habe diese Probleme als Gegenstand geistesgeschichtlicher Forschung nicht erkannt,58 eine unzutreffende Behauptung, da Dilthey menschliche Grundprobleme als eine von vielen Untergruppen unter die Aspekte des Lebens fasst.59 Im Sinne eines neuen „philosophischen Objektivismus“ sei es Aufgabe der Literaturgeschichte, die Natur des Menschen nicht länger individualpsychologisch zu untersuchen, sondern ihre Vergegenständlichung im Sinne einer „Phänomenologie der Lebensprobleme“ zu erforschen.60 Hatte sich Unger 1908 vor allem auf Herder als den Ahnherrn der Geistesgeschichte bezogen, so rückt nun Hegel an dessen Stelle. Zwei Jahre später veröffentlicht Unger mit seinem Aufsatz Literaturgeschichte und Geistesgeschichte (1926) seine systematischste Darstellung des Konzeptes Problemgeschichte, in welchem er die Positionen von 1908 und 1924 zur Synthese führt. Unger geht nun von einer „Doppelnatur der Lebensprobleme des Geistes“ aus, welche einerseits als „geschichtlich und psychologisch sich wandelnd“ und andererseits als „im unveränderlichen Grunde der Menschennatur und ihrer Situation im Kosmos wurzelnd“ aufgefasst werden müssten.61 Daher müsse die Geistes56
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Unger, „Philosophische Probleme“, in: ders., Prinzipienlehre, S. 16; Unger, Rudolf, Hamann und die Aufklärung, Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert, Bd. 1 / Text, Jena 1911, S. 576 ff. Vgl. ders., „Problemgeschichte“, in: ders., Prinzipienlehre, S. 144. Vgl. ebd., S. 144. Konstatiert Dilthey doch in Das Erlebnis und die Dichtung: „[D]ie großen Momente des Daseins, Geburt, Liebe, Tod werden verklärt durch Bräuche, die die Realitäten umkleiden und über sie hinausweisen.“ (Dilthey, Erlebnis, S. 184.) Unger, „Problemgeschichte“, in: ders., Prinzipienlehre, S. 154. Ders., „Literaturgeschichte und Geistesgeschichte, Ein Vortrag“ [1926], in: ders., Prinzipienlehre, S. 212–225, hier S. 218 f.
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geschichte die Lebensprobleme von zwei Seiten her erforschen, von der subjektiv-psychologischen (nach Dilthey) und von der dialektischen beziehungsweise phänomenologischen (Hegel).62 Unger fasst abschließend zusammen: „Geistesgeschichte bedeutet in unserem Zusammenhang also die übergreifende innere Einheit von Seelengeschichte, sei es individual-, sei es sozialpsychologischer Art, und historisch sich entfaltender wesensmäßiger Problemdialektik“.63 Eine Durchführung dieses problemgeschichtlichen Konzeptes stellt Walther Rehms (1901–1963) Studie Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik (1928) dar, in welcher er an Rudolf Ungers Studie Herder, Novalis und Kleist, Studien über die Entwicklung des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik (1922) anschließt und deren zeitlichen Untersuchungsrahmen erweitert. Nach Rehm erschließt sich der Geist einer Zeit vor allem aus ihrem spezifischen Bezug zu den grundlegenden Problemen ‚Leben‘ und ‚Tod‘, welcher sich in Kunst und Philosophie ausgestalte. 4.3 Kräftegeschichte Bestimmt man die Geistesgeschichte primär aus ihrem Antagonismus zur „positivistischen“ Philologie, so stellt die kräftegeschichtliche Ausrichtung Friedrich Gundolfs (1880–1931) ihre radikalste Ausprägung dar. Gundolfs Habilitationsschrift, Shakespeare und der deutsche Geist, welche zeitgleich mit Ungers Hamann-Monographie 1911 erscheint, weist bereits die Hauptmerkmale seiner Darstellungsweise auf wie das gänzliche Fehlen eines literaturwissenschaftlichen Apparates und den emphatischen Duktus seiner Sprache, welche eine Ästhetisierung des Werkes bewirken sollen. Gundolf, der Mitglied des Künstlerkreises um Stefan George ist und sich nach und nach durch seine literaturwissenschaftlichen Ambitionen und Aktivitäten aus diesem entfernt, bezieht seine Wissenschaftsauffassung aus dieser „künstlerischen Erneuerungsbewegung“.64 Gundolf versteht sich als Vorkämpfer gegen die materialistische und „geistig flache“ Gegenwart, gegen den anglo-amerikanischen Protestan62 63 64
Vgl. ebd., S. 218 f. Ebd., S. 219. Osterkamp, Ernst, „Friedrich Gundolf“, in: Christoph König / Hans-Harald Müller / Werner Röcke (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Portraits, Berlin, New York 2000, S. 162–175, hier S 175.
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tismus und Kapitalismus, zu deren Bekämpfung er einen neuen „Kulturheiland“ in direkter Nachfolge Dantes, Shakespeares und Goethes herbei sehnt und zu welchem er Stefan George stilisiert.65 In der deutschen Gegenwart sei alles „mechanisch-willkürlich zusammengezwungen“; daher müsse ein ‚Formbringer‘ eine Zeit neuer kultureller Einheit und Harmonie herbeiführen.66 Gundolfs Geschichtsverständnis ist dabei zyklisch, nicht progressiv. In seinem Essay Vorbilder aus dem dritten Band des von 1910 bis 1912 in der Herausgeberschaft Friedrich Gundolfs und Friedrich Wolters erschienenen Jahrbuchs für die geistige Bewegung legt Gundolf sein Geschichtsbild dar, welches das Gestern als Kraft begreift, deren Größe – zur Erscheinung gekommen in den großen menschlichen Gestalten, den Vorbildern – bis in die Gegenwart wirke. Ein einzelner großer Mensch kann nach Gundolf allein den Zeitgeist, ein ganzes ,Weltalter‘ gestalten. Gundolf vertritt somit eine rein subjekt-zentrierte Kräftegeschichte: Die geistige und geschichtliche Welt existiere nicht außerhalb wirklicher Menschen, daher könne sie nur durch Auswahl und Deutung zentraler Persönlichkeiten verstanden werden; auch hier kommt ein starker künstlerischer Impuls zum Tragen: „Zu befinden was aus einem unerschöpflichen und unauflösbaren gesamtwesen bloss historie und was mitwirkende gegenwart sei: dazu sind die lebendigen wähler und wirker jedes zeitalters da, das gehört zum beruf der geistigen bewegungen. Sie wehren den betrachtern nicht die objektive feststellung der tatsachen, aber bei der gestaltung ihrer heroen fragen sie nicht nach ‚wahrheit‘, sondern nach wirklichkeit“.67 Gundolfs Verehrung der Vorbilder wird von ihm selber als Kult verstanden, ihr Leben und Wesen bezeichnet er als ,Mythus‘. Als Vorbild gilt der „kosmisch runde Mensch“, welcher den christlichen Zwiespalt von Leib und Seele in sich aufhebe und somit „oberstes sichtbares Sinnbild der Gottheit“ werde.68 In seinen Gestalt-Monographien bringt Gundolf diese Konzeption zur Anwendung, vor allem in seinem Buch Goethe von 1916, in welchem er die harmonische Einheit von Leben und Werk Goethes gemäß seiner
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Vgl. die Einleitung zum 3. Jahrgang des Jahrbuchs für die geistige Bewegung (Gundolf, Friedrich / Wolters, Friedrich (Hrsg.), Jahrbuch für die geistige Bewegung, 3/1912, S. III–VIII.) Gundolf, Friedrich: „Vorbilder“, in: Gundolf / Wolters, (Hrsg.), Geistige Bewegung, S. 1–20, hier S. 8. Ebd. S. 2 Ebd., S. 7.
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Grundidee der Kräftekugel darstellt, deren Zentrum, die „lebendige, ausstrahlende Kraft“, alle Schichten des Werkes, ihre „Atmosphäre“ bestimme und zu einer einheitlichen Gestalt forme.69 Entscheidend ist für Gundolfs geistesgeschichtliche Literaturbetrachtung ebenfalls der Erlebnisbegriff. Er unterscheidet zwischen ,Urerlebnissen‘ „denen der Mensch kraft seiner inneren Struktur ausgesetzt ist“, ,Bildungserlebnissen‘ d. h. den bereits vorgefundenen geistigen Objektivationen der Zeit, und einer „Reihe langsam und heimlich bildender Mächte“, deren Eigenart nicht näher bestimmt wird.70 Gundolfs Werke erreichen eine breite Leserschaft, vor allem in nichtwissenschaftlichen Kreisen, doch innerhalb der Literaturwissenschaft reagiert man auf sie reserviert, wobei auch ein latenter Antisemitismus gegenüber dem jüdischen Autor Gundolf seinen Einfluss geltend macht. Hauptkritikpunkt ist jedoch vor allem die als unwissenschaftlich betrachtete Kunst-Wissenschaft Gundolfs, die zwar ästhetisch verdienstvoll, im akademischen Bereich jedoch unangebracht sei. So warnt Rudolf Unger als Verfechter philologischer Exaktheit vor dieser neuen Art der Geschichtsbetrachtung, wobei das Gefahrenpotenzial allein im wissenschaftlichen Bereich gesehen wird: „Und zwar begegnet es [das problemgeschichtliche Programm] in der heutigen Geisteslage, bei allem Einverständnis mit tieferen Tendenzen derselben, zugleich einer mächtigen Gegenströmung: dem Drange zur willkürlichen Stilisierung und subjektivistischen Verflüchtigung des Geschichtlichen und seines geistigen Gehaltes in vermeintlich künstlerischer Gestaltung und ‚Schau‘. Diese mehr oder minder bewußte und absichtsvolle freie Umbildung und Umdichtung der Geschichte, vor allem auch der Literaturgeschichte – im weitesten Sinne – zum ‚Mythos‘ wächst sich, wie mir scheint, immer mehr zu einer ernsten Gefahr für unsere und die Nachbarwissenschaften aus“.71 4.4 Form- und Stilgeschichte Die Form- und Stilgeschichte zeigt bereits eine gewisse methodische Distanz zur Ideen- und Problemgeschichte. In Anlehnung vor allem an Heinrich Wölfflin bemüht man sich um eine Übertragung kunstge69 70 71
Ders., Goethe, Berlin 1916, S. 14 f. Ebd., S. 49. Unger, „Problemgeschichte“, S. 167.
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schichtlicher Begriffe und Kategorien auf die Analyse des literarischen Werkes, um auf diese Weise eine stärkere Betonung des gestalterischen Anteils zu erreichen. So spricht Oskar Walzel (1864–1944) in seiner Monographie Wechselseitige Erhellung der Künste (1917) von der „Architektonik einer Dichtung“72 und plädiert 1923 in Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters im Sinne seines Verständnisses von Dichtung als einem „Organismus“ für einen Mittelweg zwischen geistesgeschichtlicher und formanalytischer Literaturwissenschaft: „Geistiges als Voraussetzung der Gestalt des Dichtwerks, die Gestalt des Dichtwerks als Ausdruck seines geistigen Inhalts gilt es zu nehmen“.73 Fritz Strich (1882–1963) geht in seinem stilgeschichtlichem Werk Deutsche Klassik und Romantik (1922) einen ähnlichen Weg. An die Stelle des Begriffes ‚Geist‘ rückt der Stil eines Autors oder einer Zeit, welcher sich aus menschlichen ,Urphänomenen‘ oder ,Grundhaltungen‘ ergebe und in künstlerischer Ausdrucksform erscheine.74 ,Stilvergleichung‘ sei daher das angemessene Vorgehen, um den Geist eines Werkes und einer Zeit zu begreifen.75 Strich geht von zwei überzeitlichen polaren Stilrichtungen aus, welche in allen literarischen Epochen wiederkehrten, da sie die Grundeinstellungen des Menschen zum Leben und zur Zeit repräsentierten. Diese bezeichnet er mit den stilgeschichtlich neu definierten Begriffen ‚Klassik‘ und ‚Romantik‘, wobei es der Klassik um die Verewigung des Augenblicks und damit die anschauliche Darstellung der Vollendung im Endlichen zu tun sei, während die Romantik durch eine vergeistigte Sprache die Vergänglichkeit der Zeit und die daraus entstehende Sehnsucht nach dem Ewigen fokussiere.76 Besondere Bedeutung gewinne dabei für die Romantik die metaphorische Sprache: „Wenn die romantische Sprache durch und durch metaphorisch ist, so will doch diese Bildlichkeit nicht etwa Anschauung erwecken, sondern sie vernichten. […] Das Bild ist wie eine magische Formel, welche den Gegenstand in Geist verwandelt. […] Je mystischer der Gedanke ist, desto metaphorischer ist die Sprache. Denn das Wort des unendlichen Geistes, der sich jedem Begriff und jeder Vorstellung entzieht, ist das sprechende Bild“.77 Strich tritt ge-
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Walzel, Oskar, Wechselseitige Erhellung der Künste, Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe, Berlin 1917, S. 24. Ders., Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923, S. 15. Strich, Klassik und Romantik, S. 15. Ebd., S. 16. Vgl. Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 22 ff. Ebd., S. 173.
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gen die Absolutsetzung des klassischen Dichtungsverständnisses ein und betont die Rolle der deutschen Romantik für die Weltliteratur, welche sehr viel größer gewesen sei als die der Klassik.78 Strichs Stilgeschichte betont somit die ästhetische Autonomie des Kunstwerkes, bezieht ihre Betrachtungen zur Form jedoch aus ideengeschichtlichen Vorüberlegungen. Textbeispiele dienen dementsprechend auch sehr allgemein zur Illustration der Synthesen und nicht als Ausgangspunkt der Untersuchung. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs greift Paul Böckmann in seinem Werk Formgeschichte der deutschen Dichtung (1949) diese noch stark an der Ideengeschichte orientierte Literaturbetrachtung auf und entwickelt daraus seine Formgeschichte, die ihren Ausgangspunkt ausschließlich an der Gestalt des Kunstwerkes nimmt. Böckmann versteht sich zugleich in Opposition und Ergänzung zur Geistesgeschichte: Für ihn ist die sprachliche Form das Bestimmende der Literatur, nicht ihr Gehalt, daher dürfe Literaturgeschichte nicht nur allgemeine Kultur- und Geistesgeschichte sein. Böckmann möchte mit seiner Formgeschichte der Literaturgeschichte eine „größere Sachnähe“ geben.79 Sowohl Biographismus als auch Ideengeschichte hätten die Formensprache der Dichtung bislang unberücksichtigt gelassen;80 in dieser Zusammenstellung zweier antagonistischer Richtungen zeigt sich besonders deutlich Böckmanns Verständnis eines grundlegenden Neuansatzes innerhalb der Geistesgeschichte, welcher ihn bereits fast aus dieser heraus hebt: „Die Formgeschichte geht von der Überzeugung aus, daß die Dichtung zur Ausbildung von Lebensanschauungen und Lebensidealen nur insoweit beiträgt, als sie eine Formensprache zur Verfügung stellt, in der sich der Mensch über sich selbst zu verständigen vermag. Sie sucht die Dichtung als Dichtung zum Forschungsgegenstand zu machen und sieht sich deshalb genötigt, bis zur konkreten Struktur des jeweiligen Werkes vorzufragen“.81 Böckmann begreift die dichterischen Formen somit als „Auffassungsformen des Menschlichen“.82 Deren Untersuchung ist das zentrale Anliegen der Böckmann’schen Formgeschichte: Nicht einzelne Form-
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Vgl. ebd., S. 360. Böckmann, Paul, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Erster Band: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache, Der Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter zur Neuzeit, Hamburg 1973, S. 2. Vgl. ebd. Ders., Formgeschichte, S. 2. Vgl. ebd., S. 13.
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elemente, sondern ein allen formalen Erscheinungen innerhalb eines Werkes zugrunde liegender ,Stilwille‘ soll erschlossen werden und Aufschluss geben über den Geist des Dichters und seiner Zeit.83 Die Radikalität der Position Böckmanns liegt nicht darin, dass sie die Formensprache der Dichtung ins Zentrum der Betrachtung rückt – dies ist keine Innovation –, sondern darin, dass sie das geistesgeschichtlich relevante Potential der Dichtung ausschließlich in dieser Formensprache sieht. Der Begriff ‚Formensprache‘ ist jedoch bei Böckmann sehr weit gefasst, wie er bereits 1931 in seinem Aufsatz Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung in der DVJS darlegt: Er beinhaltet vor allem die Symbolgestaltung eines Werkes, welche sich durch Rhythmus, Bild, Charakter und Fabel zeige, also Kategorien, deren Untersuchung den Gehalt des Werkes notwendigerweise inkorporieren muss.84
5. Fachgeschichtliche Einordnung Der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft kommt das Verdienst zu, erneut eine Brücke zwischen Literaturwissenschaft und Philosophie geschlagen und damit den wissenschaftlichen Horizont der Germanistik beträchtlich erweitert zu haben. Sie hebt die Vereinseitigung der Philologie auf und öffnet sie auch für weiter gehenden interdisziplinären Austausch. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass Ausprägungen wie die stammesethnographische Literaturgeschichte dazu gedient haben, nationalsozialistischem Gedankengut ein wissenschaftliches Forum zu bieten. Das größte Problem der geistesgeschichtlichen Darstellungsweise liegt in ihrer Tendenz zum essayistischen Schreiben, welche die Autorität des Verfassers absolut stellt und auf den Nachweis verwendeter Quellen beziehungsweise auf die nachvollziehbare Rekonstruktion der Thesenbildung verzichtet. Direkt nach 1945 lassen sich zwei übergreifende Beurteilungen der Geistesgeschichte feststellen: Zum einen wird sie totgesagt und die geistesgeschichtliche Literaturgeschichte aus der engeren – werkimmanenten – Literaturwissenschaft ausgeschlossen, so beispielsweise durch 83 84
Vgl. ebd., S. 29 f. Vgl. ders., „Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung“, in: Kluckhohn / Rothacker (Hrsg.), Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 9, Halle (Saale) 1931, S. 448–471, hier S. 461.
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Wolfgang Kayser in seiner literaturwissenschaftlichen Einführung Das sprachliche Kunstwerk aus dem Jahr 1948. Karl Viëtor hält in der 60. Ausgabe der amerikanischen Reihe Publications of the Modern Language Association 1945 fest: „Die Epoche der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise und ihrer Methoden ist offenbar abgeschlossen. Seit etwa zehn Jahren schon befindet sich die Schule in einem Zustand der Erschöpfung, ja der Sterilität. Neue Ideen und Leistungen von Rang sind in ihrem Kreis nicht mehr hervorgetreten. Der politische Terror hat die Zersetzung der philosophischen Position beschleunigt und zudem eine tiefgehende Korruption der intellektuellen Redlichkeit hervorgerufen. Zugleich hat aber aus dem Streit der mannigfaltigen Richtungen die Einsicht sich herauszuheben begonnen, daß der interpretierende Wissenschaftler es zunächst und vor allem mit dem künstlerischen Phänomen zu tun haben sollte, also mit dem Dichtwerk als dem Produkt des eigentümlichen und einzigartigen Vermögens, das den Künstler zum Künstler macht“.85 Zum anderen jedoch wird der Geistesgeschichte auch das Potenzial zugeschrieben, der traumatisierten Nation ein neues, positives Selbstbild zu geben. Diese gegensätzlichen Positionen bestimmen den Umgang mit der Geistesgeschichte bis auf den heutigen Tag. Im Zuge einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaft ist auch die Geistesgeschichte wieder salonfähig geworden. Dabei wird ihr wiederum ein ethischer Wert beigelegt, so zum Beispiel bei Heinz Gockel, welcher in seiner ideengeschichtlichen Textsammlung Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte (2005) den Begriff ‚Geistesgeschichte‘ neu definiert als „Geschichte ethischer Verantwortung“, in direkter Abgrenzung gegen jegliche erneute ideologische Vereinnahmung.86 Seine Einleitung überschreibt er mit dem Goethe-Zitat Das Unternehmen wird entschuldigt, woraus deutlich wird, dass der geistesgeschichtliche ‚Sündenfall‘ noch immer tief verwurzelt ist. Geistesgeschichte sieht sich daher in die Notwendigkeit versetzt, methodologisch selbstreflexiv zu verfahren. Dies ist vor allem der Problematik geschuldet, dass der Begriff ‚Geistesgeschichte‘ homonym ist, das heißt er bezeichnet sowohl die angewendete Methode als auch den Gegenstand der Betrachtung, die voraussetzungslos behauptete Existenz 85
86
Viëtor, Karl, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, Reprint, Bern 1967, S. 32 f. Gockel, Heinz, Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, Vorträge und Aufsätze, Würzburg 2005, S. 12.
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eines Zeitgeistes und dessen Beschreibbarkeit. Die lebensphilosophische (idealistische) Grundlage der „klassischen“ Geistesgeschichte verhinderte solch eine methodische Selbstreflexion. Einen bedeutenden Schritt zur Aufarbeitung des geistesgeschichtlichen Erbes der Germanistik leistet die 1972 gegründete Marbacher Arbeitsstelle für die Geschichte der Germanistik des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar. Zu den Veröffentlichungen dieser Arbeitsstelle mit Bezug zur Geistesgeschichte zählen unter anderem der Sammelband Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925 (1993), der Sammelband Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts (2000), das Internationale Germanistenlexikon 1800–1950 (2003) sowie die jährlich erscheinende Reihe Geschichte der Germanistik, Mitteilungen. Die 2007 neu gegründete Zeitschrift für Ideengeschichte, herausgegeben durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel sowie die Klassik Stiftung Weimar, präsentiert sich selbst von der Überzeugung getragen, dass die politische und kulturelle Gegenwart unverständlich bleiben muss, solange sie ideengeschichtlich nicht erschlossen ist.87 Einen weiteren Beitrag leistet die 1983 gegründete Dilthey-Forschungsstelle am Philosophischen Institut der Ruhr-Universität-Bochum, welche zwischen 1983 und 2000 das Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften in 12 Bänden herausgab und die Gesammelten Schriften Wilhelm Diltheys (26 Bände) vervollständigte. Diese Entwicklungen bezeugen ein neu belebtes Interesse an der Methode.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie 6.1 Literatur zur Einführung in das Thema: König, Christoph / Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910–1925, Frankfurt a. M. 1993. Diese umfangreiche Sammlung von Beiträgen erörtert die Bedeutung der Geistesgeschichte für Wissenschaft und Gesellschaft.
87
Vgl. http://www.z-i-g.de/ueberuns.cfm (Stand: 26. 11. 2008)
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König, Christoph / Müller, Hans-Harald / Röcke, Werner (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin, New York 2000. Anhand von Lebensläufen bedeutender Germanisten erschließen sich die Ursachen für Entstehung und Ablösung der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft. Hempel-Küter, Christa, Germanistik zwischen 1925 und 1955, Studien zur Welt der Wissenschaft am Beispiel von Hans Pyritz, Berlin 2000. Die Arbeit gibt unter anderem Auskunft über die Beziehung zwischen Geistesgeschichte und Nationalsozialismus. Kühne-Bertram, Gudrun / Rodi, Frithjof (Hrsg.), Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie, Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes, Göttingen 2008. Der Band spiegelt den aktuellen Stand der Dilthey-Forschung und behandelt unter anderem Diltheys Verhältnis zur geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft. 6.2 Theoretische Schriften / Anwendungsbeispiele Haym, Rudolf, Die Romantische Schule, Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870. Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung, Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin, Leipzig 1906. Unger, Rudolf, Hamann und die Aufklärung, Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert, Bd. 1: Text, Jena 1911. Gundolf, Friedrich, „Vorbilder“, in: Friedrich Gundolf / Friedrich Wolters (Hrsg.), Jahrbuch für die geistige Bewegung, 3/1912, S. 1–20. Nadler, Josef, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 4 Bde., Regensburg 1912 ff. Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, 26 Bde., Karlfried Gründer / Frithjof Rodi (Hrsg. ab dem 18. Bd.), Leipzig, Berlin 1914 ff., Stuttgart, Göttingen 1957 ff., Göttingen 1970 ff.
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Gundolf, Friedrich, Goethe, Berlin 1916. Walzel, Oskar, Wechselseitige Erhellung der Künste, Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe, Berlin 1917. Strich, Fritz, Deutsche Klassik und Romantik, Oder Vollendung und Unendlichkeit, Ein Vergleich, München 1922. Strich, Walter, „Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte“, in: hrsg. v. dems., Die Dioskuren, Jahrbuch für Geisteswissenschaften, Bd. 1, München 1922, S. 1–34. Kluckhohn, Paul / Rothacker, Erich, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1/1923. Korff, Hermann August, Geist der Goethezeit, Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, 4 Bde., Leipzig 1923 ff. Walzel, Oskar, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923. Cysarz, Herbert, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft, Kritik und System, Halle (Saale) 1926. Böckmann, Paul, „Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung“, in: Paul Kluckhohn / Erich Rothacker, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 9, Halle (Saale) 1931, S. 448–471. Cysarz, Herbert, Das Deutsche Schicksal im Deutschen Schrifttum, Ein Jahrtausend Geisteskampf um Volk und Reich, Leipzig 1942. Kluckhohn, Paul, Die Idee des Menschen in der Goethezeit, Stuttgart 1946. Strich, Fritz, Der Dichter und die Zeit, Eine Sammlung von Reden und Vorträgen, Bern 1947. Kayser, Wolfgang, Das sprachliche Kunstwerk, Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1948.
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Böckmann, Paul, Formgeschichte der deutschen Dichtung, Erster Band: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache, Der Wandel der literarischen Formensprache vom Mittelalter zur Neuzeit, Hamburg 1949. Kluckhohn, Paul (Hrsg.), Charakteristiken, Die Romantiker in Selbstzeugnissen und Äußerungen ihrer Zeitgenossen, Stuttgart 1950. Strich, Fritz, Kunst und Leben, Vorträge und Abhandlungen zur deutschen Literatur, Bern, München 1960. Unger, Rudolf, Gesammelte Studien, 1. Band: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Darmstadt 1966. Viëtor, Karl, Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, Reprint, Bern 1967. Schlegel, Friedrich, „Geschichte der alten und neuen Literatur, Vorlesungen, gehalten zu Wien im Jahre 1812“, in: Ernst Behler / Hans Eichner (Hrsg.), Friedrich Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente [1812–1823], 6 Bde., Paderborn, München, Wien, Zürich 1988, Bd. 4, S. 1–234. Gockel, Heinz, Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Würzburg 2005. Cassirer, Ernst, Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte 1925–1944, Barbara Neumann / Simon Zumsteg (Hrsg.), Hamburg 2006. 6.3 Weitere zitierte Literatur Johach, Helmut, Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Wilhelm Dilthey, Meisenheim am Glan 1974. Sternsdorff, Jürgen, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung, Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer, Eine Biographie nach unveröffentlichten Quellen, Frankfurt a. M. 1979. Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989.
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Hermand, Jost, Geschichte der Germanistik, Hamburg 1994. Anz, Thomas (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 2007. Dainat, Holger, „Ein Fach in der ‚Krise‘, Die ‚Methodendiskussion‘ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft“, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 247–272, hier S. 257.
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Hermeneutik / Neohermeneutik von H ILTRUD G NÜG
1. Definition Der griechische Gott Hermes, der den Menschen die Botschaften der Götter übermittelte, stand wohl1 Pate bei der Namensgebung einer wissenschaftlichen Methode, die sich mit der sinngerechten Auslegung, Interpretation eines Schriftwerks beschäftigt. Dem Götterboten schrieb man – so Gerhard Ebeling2 – die Erfindung der Sprache und der Schrift zu, und er hatte auch die Aufgabe, den Menschen die Worte der Götter auszulegen. Das griechische Wort ‚hermeneuein‘ – auslegen, deuten – verweist schon auf diesen Aspekt der Hermesgestalt. Die Hermeneutik gehört in den Grundbereich der sprachlichen Kommunikation, sie setzt eine gewisse Fremdheit der Kommunizierenden voraus, jedoch auch die grundsätzliche Möglichkeit des Verstehens, sie findet – so Hans-Georg Gadamer – zwischen einer Polarität von Fremdheit und Vertrautheit3 statt. Hermeneutik bezeichnet die Lehre von den Methoden der Deutung von Texten im Unterschied zum Deutungsakt selbst. Sie stellt – so Martin Heidegger4 – die grundsätzliche Erkenntnistheorie dar, auf die andere Methodologien der einzelnen geistesgeschichtlichen Disziplinen aufbauen. Es ist zwischen der theo1
2
3
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Jean Grondin äußert Skepsis: „Der Zusammenhang ist wohl zu offensichtlich, um auch wahr zu sein. Indessen hat es noch keine bessere Deutung vermocht, sich allgemein durchzusetzen, so dass die Frage um die Herkunft des Wortfeldes hier offen bleiben muß“. Grondin, Jean, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 2. Aufl., Darmstadt 2001, S. 39. Ebeling, Gerhard, „Hermeneutik“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 3, hrsg. v. Kurt Galling, 3. Aufl., Tübingen 1959, S. 242–262, hier S. 243. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., Tübingen 1972, S. 279. Heidegger, Martin, „Hermeneutik“, in: Gesamtausgabe, Bd. 63, Frankfurt a. M. 1975, S. 12 ff.
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logischen, philologischen, historischen und der juristischen Hermeneutik zu differenzieren.
2. Beschreibung Die literaturwissenschaftliche Hermeneutik gilt einerseits als eine besondere Interpretationsmethode, neben u. a. dem Positivismus, dem Strukturalismus, der Literatursoziologie, der Literaturpsychologie, der Kritischen Theorie, der Dekonstruktion. Doch andererseits steht jede Analyse, jede Interpretation allgemein im Zeichen der Hermeneutik, der Kunst der Auslegung. Hermeneutik versteht sich als Kunst der sinngemäßen Auslegung, der Deutung, der Exegese, der Interpretation eines Schriftstücks. In der Neuzeit, seit der Lutherzeit, wurde darunter die Lehre von der Methode des Verstehens verstanden im Unterschied zum Vollzug des Auslegens. Das hermeneutische Denken entwickelte sich im Zusammenhang mit einem geschichtlichen Bewusstsein; so verstand Giovanni Battista Vico5 in seiner Neuen Wissenschaft von 1725 im Gegensatz zum cartesianischen Weltbild, das die zeitlose ahistorische Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens betonte, die Welt als Geschichte. Der Gedanke, dass die Menschen die historische Welt erkennen können, weil die Menschen sie erschaffen haben,6 formuliert die erkenntnistheoretische Prämisse für die Geschichtswissenschaft. In Deutschland zeigt sich vor allem im Werk Herders7 der Wandel vom normativen zum historischen Denken. Er begreift Völker und Nationen in Analogie zum Individuum als Individualitäten, die ihren eigenen Wertmaßstab in sich tragen und aus sich heraus, durch einen Akt der Einfühlung, verstanden werden können. Historisches Denken bedeutet – so formuliert Gadamer – „jeder Epoche ein eigenes Daseinsrecht, ja eine eigene Vollkommenheit zugestehen“.8 5
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8
Vico, Giovanni Battista, Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die Natur der Völker, mit deren Hilfe die Prinzipien eines neuen Systems des Naturrechts der Völker wiederhergestellt werden, hrsg. v. W. E. Weber, Leipzig 1822. Vgl., Hauff, Jürgen / Heller, Albert / Hüppauf, Bernd / Köhn, Lothar / Philippi, Klaus-Peter (Hrsg.), Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft, Bd. 2, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, S. 5. Herder, Johann Gottfried, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, in: Herders Werke, ausgewählt und eingeleitet von W. Dobbek, Bd. 2, Weimar 1957, S. 279–378. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 188.
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Schon vor dem 19. Jahrhundert gab es die Praxis hermeneutischer Auslegung, z.B. die Homer-Exegese der alexandrinischen Schule, die biblische Hermeneutik zur Zeit des Augustinus, die Auslegung der Bibel im Sinne des mehrfachen Schriftsinnes im Hochmittelalter, das protestantische Prinzip ‚Scriptura sui ipsius interpres‘. Dieses Konzept ‚Die Heilige Schrift ist der Interpret ihrer selbst‘ führte im Zusammenhang der humanistischen Philologie zu einer streng philologischen und stark historischen Auslegung der Bibel. Man denke an Martin Luthers Bibelübersetzung, die als Übersetzung in eine andere Sprache schon eine Interpretation voraussetzt, einen hermeneutischen Akt darstellt. Er betreibt die Auslegung nach dem aus der Rhetorik bekannten ‚hermeneutischen Zirkel‘, nach dem es das Ganze der Heiligen Schrift ist, die das Verstehen der einzelnen Textstelle leitet, so wie umgekehrt dieses Ganze nur aus dem differenzierten Verständnis des Einzelnen erworben wird. Ein Beispiel: „Ich bin der gute Hirte, meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie und sie folgen mir und ich gebe ihnen das ewige Leben“.9 Wie hat man diesen Hirten und die Schafe zu deuten, als Schäferidylle? Dieser Deutung widerspricht der Gedanke des ewigen Lebens. Nur aus dem biblischen Kontext ist der Text zu verstehen. Die Schafe als die Gläubigen, der gute Hirte als Gottessohn, der sie vom Bösen erlöst. Wesentlich für die Entstehung neuzeitlichen hermeneutischen Denkens ist ‚La Querelle des Anciens et des Modernes‘. In diesem Streit, der im 17. Jahrhundert geführt wurde, ging es um den idealen Maßstab der Kunst. Ausgelöst hatte ihn Charles Perrault (1628–1703) durch seine Schrift Les Parallèles des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences,10 die in vier Bänden 1688–1697 erschien. Sie erregte die entschiedene Kritik des Verfassers der Art poétique, Nicolas Boileau, und entfachte eine heftige Auseinandersetzung um die Vorbildlichkeit der Antike für die Kunst. Angesichts der vielen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und der u. a. durch Descartes mitbegründeten philosophiegeschichtlichen Wende flammte der Streit um Fortschrittsgedanken auf und er spaltete die berühmtesten Repräsentanten der Epoche in zwei Lager. Während die Traditionalisten, die Anciens, daran festhalten, dass nur durch die Nachahmung der antiken Autoren 9
10
Joh. 10, 11, 27 ff., in: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers mit seinen Vorreden, Stuttgart 1967, S. 1200. Perrault, Charles, Les Parallèles des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences / Vergleich zwischen den Alten und den Modernen, die Künste und Wissenschaften betreffend, Faksimile mit einer Einleitung von Hans Robert Jauß, München 1964.
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das Vollkommene in der Kunst zu vollbringen sei, setzen die Modernen dem Anspruch der Anciens das rationalistische Argument der natürlichen Gleichheit aller Menschen entgegen, und sie behaupten den Fortschritt der Wissenschaften und Kultur. Sie messen die antike Kunst am Maßstab des ‚bon goût‘, des guten Geschmacks ihrer Zeit. Darauf erwidern die Anciens noch defensiv, eine jede Epoche habe ihren eigenen Geschmack. Und im Laufe der Querelle entwickelte sich daraus auf beiden Seiten die Erkenntnis, dass es neben der ‚beauté universelle‘ noch ein ‚beau rélatif‘ gebe. Es zeichnet sich ein Weg zum Abbau klassizistischer Normen hin zu einem ersten historischen Verständnis ab, es zeigt sich die Entwicklung weg von einer normativen Poetik hin zu einer geschichtlich bestimmten Ästhetik.11 Was hat das nun mit der Hermeneutik zu tun? Der erste Standpunkt der ‚anciens‘ ist noch normativ, unhistorisch, reflektiert weder das eigene Vorverständnis noch die Fremdheit und die je eigenen Bedingungen der Antike. Für sie gibt es kein Verstehensproblem, kein Ausdeutungsproblem, die Antike ist für sie unmittelbar gegebener Maßstab idealer Schönheit. Für sie gilt, in der Antike sei das ideale Maß vollkommener Kunst geschaffen worden. Der erste Standpunkt der ‚modernes‘ ist ebenso unhistorisch, nur der Maßstab verkehrt sich, denn es fehlt an Einsicht in die Historizität, in die Eigengesetzlichkeit und Fremdheit der anderen zurückliegenden Epoche. Jedoch bewirkt die Umkehrung eine neue Reflexion auf die Gültigkeit des Maßstabs. Erst mit der Einsicht in die ‚Geschichtlichkeit der Kultur‘ und ihrer Werteskala kann die Frage nach Beurteilungskriterien, d. h. auch nach den Methoden der Auslegung entstehen. Diese geistesgeschichtlich bedeutende Wende zum historischen Bewusstsein, zur Geschichtlichkeit des Verstehens12 überhaupt, verändert die Reflexion auf die Hermeneutik. Das Verstehensproblem erfährt durch das Wissen um die grundsätzliche Fremdheit und Eigentümlichkeit alles Historischen eine neue Dimension. Die Hermeneutik ist nicht mehr nur eine Hilfsdisziplin der Theologie, Philologie oder Jurisprudenz, sondern sie gewinnt als Erkenntnistheorie des geschichtlichen Lebens Selbständigkeit. Die hermeneutische Differenz zwischen Text und Auslegung wird dem geschichtlichen Bewusstsein zur Frage. 11
12
Vgl. Perrault, Charles, Les Parallèles, München 1964, darin die Einleitung von Hans Robert Jauß. Vgl. Ricklefs, Ulfert, „Hermeneutik“, in: Literatur 2.1, hrsg. v. W.-H. Friedrich und W. Killy, Frankfurt a. M. 1965, S. 277–293, hier S. 284.
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Friedrich Schleiermacher formulierte seine Konzeption in den Akademiereden von 1829, er führte seine „Kunstlehre des Verstehens“ in seiner Hermeneutik-Vorlesung aus, hier entwickelt er eine psychologische Hermeneutik, bricht mit der theologischen und philologischen Tradition hermeneutischen Denkens und verlagert die hermeneutische Reflexion vom Feld der Textphilologie auf das der Psychologie des Autors.13 Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die Kategorie der ‚Divination‘, die die Differenz zwischen Text und Interpret überbrücken soll. Nicht sollen unverständliche Textstellen verständlich gemacht werden, sondern es soll die zwischen den Individuen bestehende Fremdheit überwunden werden. Gefühl und Einfühlungsvermögen des Interpreten sollen die Schranken der Fremdheit zum Autor überwinden. Das bedeutet ein divinatorisches Verhalten auf Seiten des Interpreten, ein Nachbilden des schöpferischen Aktes. „Verstehen ist also“ – so Gadamer14 – „eine auf eine ursprüngliche Produktion bezogene Reproduktion, ein Erkennen des Erkannten (…), eine Nachkonstruktion, die von dem lebendigen Moment der Konzeption, dem ‚Keimentschluß‘ als dem Organisationspunkt der Komposition ausgeht“. Letztlich wäre die ‚Kongenialität‘ der Geister die Voraussetzung geglückten Verstehens! Schon ein Titel wie der eines Gedichts des Barockdichters Gryphius Es ist alles eitel verlangt vom Interpreten geschichtliches Wissen, das über die voraussetzungslose Textkenntnis hinausgeht, nämlich das von der Bedeutungsentwicklung des Wortes ‚eitel‘; nicht Eitelkeit im Sinne von selbstgefällig, eingebildet ist gemeint, sondern die Vergänglichkeit allen irdischen Daseins. Das lyrische Ich sieht in diesem bekannten Sonett überall nur Eitelkeit, die Hinfälligkeit der Dinge, der Menschen mit ihren Gütern, es beklagt die Vergänglichkeit alles Seins, alles Irdischen; doch dieser düstere Blick verdankt sich nicht nur einer existenziellen Melancholie, sondern diese ist die Haltung eines Menschen, der einen endlosen Krieg erlebt, nämlich den dreißigjährigen, und der nur Tod und Vernichtung um sich herum sieht. Allein im Horizont dieses geschichtlichen Kontextes ist das Gedicht zu verstehen. Der Alexandriner mit seiner starken Zensur entspricht der antinomischen gedanklichen Struktur des Gedichts, dem Kontrast von Bau und Zerfall, Blühen und Vergehen. Man sieht, stilistische, sozialgeschichtliche, autobiographische Deutungsansätze müssen sich ergänzen, nur die verschiedenen Aspekte tragen zu 13 14
Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. Manfred Frank, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1999. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 175.
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einem komplexeren Verständnis des Werks bei. Ein literarischer Text lässt sich daher angemessen nur im Wissen um seinen vielschichtigen historischen, kulturellen, biographischen, literarischen Kontext verstehen. Der Begriff ‚hermeneutische Differenz‘ verweist auf einen wesentlichen Aspekt aller sprachlichen Kommunikation. Das gilt auch für die Alltagskommunikation, doch trotz aller darin möglichen Verständigungsschwierigkeiten ist die ‚hermeneutische Differenz‘, die zwischen dem Interpreten und einem vielschichtigen Text der Literaturgeschichte besteht, in der Regel erheblich größer. Die literaturwissenschaftliche Hermeneutik hat es mit poetischen Texten zu tun, die mit artistischen Mitteln, rhetorischen Figuren, Bildern, ästhetischen Strukturen gebildet sind, die sich oft bewusst gegen die Alltagssprache wenden, selbst die grammatischen Regeln aushebeln, gegen die Vorerwartungen der Leser gerichtet sind. Man denke an die poésie pure, die hermetische Lyrik, an literarische Allegorien, Satiren, die sich einem wörtlichen Verständnis entschieden widersetzen. Das gilt im Wesentlichen auch für ein frühes Werk fortwährender hermeneutischer Reflexion, das das Abendland in seinen Grundstrukturen prägte: für die Bibel! So sehen Dilthey und Gadamer bezeichnenderweise etwa den Entstehungsort bzw. die Entstehungszeit einer eigenständigen Hermeneutik im Protestantismus, als Luther mit seiner Bibelübersetzung, die wesensmäßig zugleich Auslegung, Deutung war, eine die westliche Welt prägende Leistung hermeneutischer Exegese schuf.
3./4./5. Institutionsgeschichtliches/Publikationen/ Fachgeschichtliche Einordnung Im 20. Jahrhundert durchlief die Hermeneutik zunächst drei Phasen der Rezeption: Zu Beginn des Jahrhunderts beeinflusste sie Wilhelm Diltheys literaturwissenschaftliches Selbstverständnis. Dilthey gilt neben Schleiermacher als Begründer der modernen Hermeneutik, die er als grundlegende Methode der Geisteswissenschaften von der der Naturwissenschaften abhebt. Seine Studie Die Entstehung der Hermeneutik15 zeitigte eine große Wirkung. Zum Ausgangspunkt seiner Argumentation wird der Gedanke vom Nachfühlen fremder Seeelenzustände, die Fähigkeit des Menschen, fremde Lebensäußerungen, das heißt auch: die Texte 15
Dilthey, Wilhelm, „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: W. D., Gesammelte Schriften, Bd. 5, 5. Auflage, Stuttgart, Göttingen 1968, S. 317–331.
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anderer Individuen und Epochen, nachzuvollziehen. „Für die Geisteswissenschaften folgt […,] daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“.16 Er argumentiert im Sinne der romantischen Einfühlungstheorie und der psychologischen Hermeneutik Schleiermachers. In der Nachkriegszeit entwickelt Martin Heidegger17 eine philosophische Erkenntnistheorie, die eine Grundlage für die speziellen Erkenntnistheorien der Einzelwissenschaften bilden sollte und die zeitweise auch die Literaturwissenschaft sehr beeinflusst hat. Seine philosophische Hermeneutik reflektiert die Bedingungen des Verstehens und die grundsätzlichen Möglichkeiten der Auslegung. Heideggers Philosophie inspirierte auch die Germanistik, hat u. a. die Werke Emil Staigers18 und Wolfgang Kaysers19 geprägt. Die immanente Werkinterpretation, von Emil Staiger und Wolfgang Kayser vertreten, versteht sich auch als polemische Gegenposition zu einer positivistischen Textanalyse, die den literarischen Text aus seinen Entstehungsereignissen, biographischen Umständen des Autors, den sozialgeschichtlichen Bedingungen der Zeit erklärt, kurz, die ihn als Funktion einer außerdichterischen Realität begreift. Literatur – so hieß es bei Erich Schmidt20 – wurde verstanden als „Abbild umgebender Sitten“, bei Wilhelm Scherer21 ist vom „Erlebten, Ererbten, Erlernten“ die Rede, das es zu untersuchen gelte. Auch für spätere Positionen des Positivismus gilt, dass diese Methode das literarische Werk in seinen Quellen, literarischen Einflüssen analysiert, seine Motive, Stilistika, biographischen Daten etc. auflistet, erklärt. Sie sucht die Intentionen des Autors ‚zu rekonstruieren‘. Das impliziert: Es gibt quasi nur die eine ‚richtige‘ Deutung, die idealiter mit der Autor-Intention zusammenfiele. Das bedeutet weiter: Das Werk zerfällt gleichsam in einzelne verifizierbare Aspekte, während das Sinnganze des literarischen Textes sich diesem methodi16 17 18 19
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Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 5, 5. Aufl., Stuttgart,Göttingen 1968, S. 143 f. Heidegger, Martin, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 2005, S. 7–81. Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946; ders., Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955. Kayser, Wolfgang, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1969. Schmidt, Erich, „Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte. Eine Antrittsvorlesung“, in: E.S., Charakteristiken, Bd. 1, Berlin 1886, S. 280–498. Scherer, Wilhelm, Aufsätze über Goethe, 2. Aufl., Berlin 1900. Zitiert nach Methodendiskussion I, S. 43.
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schen Modell entzieht. Dass der Interpret immer schon mit einem bestimmten Vorverständnis an den Text herangeht, sein eigenes ‚Erkenntnisinteresse‘ – so Jürgen Habermas22 – die Interpretation leitet, entzieht sich der Einsicht des Positivismus. Auch der spätere kritische Rationalismus – so etwa die Theorie Ernst Topitschs23 – vertritt nach Ansicht Th. W. Adornos24 ein positivistisches Wissenschaftsmodell, das zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher Praxis strikt trennt. Im Gegensatz zum literaturwissenschaftlichen Positivismus älterer Spielart will die werkimmanente Interpretation den literarischen Text allein aus der Organisationsform des einzelnen Werks deuten. Die Kunst der Interpretation25, so lautet der Titel einer germanistischen Studie, die seit ihrem Erscheinen 1955 in jedem germanistischen Institut stand und eine enorme Wirkung zeitigte. Staigers Ausführungen waren symptomatisch für das wissenschaftliche Selbstverständnis der 1950erund -60er-Jahre, sie knüpften an eine stilanalytische deutsche Tradition an, und sie entwickelten im Rekurs auf Heideggers philosophische Theorien einen metaphysischen Kunstbegriff, der seinerseits nun das Kunstwerk aus all seinen sozialgeschichtlichen Beziehungen löste. Heideggers Essay Der Ursprung des Kunstwerkes definiert das Wesen der Kunst als „das Sichins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“,26 das heißt, Heidegger begreift Poesie als Wahrheit, als eine Wahrheit jedoch, die – so Jost Hermands27 Kritik – direkt aus dem Absoluten stammt und daher jenseits aller bildungsmäßigen, politischen, religiösen, psychologischen, sozial-ökonomischen Voraussetzungen steht. Heidegger konzipierte einen metaphysischen Kunstbegriff, der dem geistesgeschichtlichen Dichtungsverständnis eines Staiger entgegenkam. Oliver Jahraus28 bemerkt: „Die immanente Dimension des Verstehens wird betont, ohne jedoch ihre Transzendenz aufzugeben. Das geschieht einerseits durch eine verstärkte Auratisierung des Textes als Werk und 22
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Habermas, Jürgen, „Erkenntnis und Interesse“, in: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘. Frankfurt a. M. 1968. Topitsch, Ernst, Das Verhältnis zwischen Sozial und Naturwissenschaften. Eine methodologisch-ideologiekritische Untersuchung, Köln, Berlin 1966. Adorno, Theodor W., „Ästhetische Theorie“, in: Ges. Schriften. Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970. Staiger, Emil, Die Kunst der Interpretation, Zürich 1955. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 30. Hermand, Jost, Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft, München 1968, S. 32. Jahraus, Oliver, Literaturtheorie, Tübingen, Basel 2004, S. 266.
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zum anderen durch eine stillschweigende Aufwertung des Interpreten“. Dem ist zuzustimmen. Nach der Devise, „denn groß ist nur, der sich an Großem misst“, beschäftigten sich die Anhänger der werkimmanenten Interpretation nur mit hochkarätigen Werken, betrieben eine monumentale Geschichtsschreibung, wie Nietzsche sie in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben29 kritisch beschreibt, eine Art Starkult. Doch das vielschichtige kulturelle Leben, das nicht nur von den überragenden Genies lebt, fand keine Beachtung. Problematisch war jedoch nicht nur der literarische Kanon, sondern eben die Isolation des Werks aus seinen sozialen, kulturellen, biographischen Bezügen, der Anspruch der Werkimmanenz der Deutung. Wilhelm Dilthey hat sich vor allem in drei Studien mit der Hermeneutik befasst; in seinem Essay Die Entstehung der Hermeneutik30 von 1900 gibt er einen Überblick über die Entwicklung der Hermeneutik von den ersten Textexegesen im klassischen Griechenland über die Bibelauslegungen zur Lutherzeit bis hin zur intensiven Auseinandersetzung mit der Hermeneutik-Theorie bei Schleiermacher. Sein geschichtlicher Überblick zeigt die Bedeutung auf, die der Hermeneutik für die Begründung der Geisteswissenschaften zukommt. Die Geisteswissenschaften, zu denen er „Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen, endlich die Psychologie“ zählt, stimmen alle in dem überein, dass sie den Menschen betrachten, „die Menschen, ihre Verhältnisse zueinander und zur äußeren Natur“.31 Dieser erste Essay zum Problem wird sein bekanntester Beitrag zur Geschichtsschreibung der Hermeneutik bleiben. Hier bestimmt er die Hermeneutik als die „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen“. Er unterscheidet strikt zwischen der Methode der Natur- und derjenigen der Geisteswissenschaften: „Für die Geisteswissenschaften folgt …, dass in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglicher gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“.32
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Nietzsche, Friedrich, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: Werke, Bd. 20, hrsg. v. Karl Schlechta, 8. Aufl., München 1977, S. 209–286. Dilthey, Wilhelm, „Die Entstehung der Hermeneutik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Misch, Stuttgart, Göttingen 1968, S. 317–331. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 70. Ebd., S. 143 f.
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Das Leben als ein individueller Bedeutungszusammenhang gilt ihm als der nicht weiter zu hinterfragende Grund der Erkenntnis. In seiner Fragment gebliebenen Einleitung in die Geisteswissenschaften33 sollte der Hermeneutik eine zentrale Rolle zukommen. In der Studie Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910 sucht er in Abhebung zu den Naturwissenschaften eine philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften: „Nur was der Geist erschaffen hat, versteht er. Die Natur, der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfasst die unabhängig vom Wirken des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften“.34 Sein Ziel, eine allgemeine Methode der Geisteswissenschaften insgesamt in essentieller Unterscheidung zu den Methoden der Naturwissenschaften zu entwickeln, hat die Literaturwissenschaft geprägt. Neue Impulse erhielt die Diskussion um die Hermeneutik in den 1960er-Jahren, in diese Zeit fällt die Rezeption der Theorie Hans-Georg Gadamers, dessen Studie Wahrheit und Methode aus dem Jahr 1960 größte Wirkung zeigte. Die Hermeneutik macht – im Gegensatz zum Positivismus – einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Der Positivismus vertrat dagegen einen wissenschaftstheoretischen Monismus, d. h. er reklamierte für die Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften die gleiche Methode, für ihn ist der Zusammenhang der Naturwissenschaften ein ‚kausaler‘, das einzelne Phänomen wird durch eine Vielzahl von Determinanten bestimmt, die im isolierenden Verfahren des Experiments in ihrer Wirksamkeit erkannt werden; dagegen ist der Zusammenhang in den Geisteswissenschaften ein ‚geschichtlicher‘, dessen individuelle Sinnstrukturen in ihrer Besonderheit, in ihrer Einmaligkeit begriffen werden. Hans Georg Gadamer betrachtet die Hermeneutik als ‚Gespräch‘, fordert die kommunikative Offenheit der Gesprächspartner: „Es ist daher mehr als eine Metapher – es ist eine Erinnerung an das Ursprüngliche, wenn sich die hermeneutische Aufgabe als ein In-das-Gesprächkommen 33
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Dilthey, Wilhelm, „Einleitung in die Geisteswissenschaften“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. B. Groethuysen, 5. Aufl., Stuttgart, Göttingen 1962, S. 332 f. Dilthey, Wilhelm, „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. v. B. Groethuysen, Stuttgart, Göttingen 1968, S. 77–188.
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mit dem Text begreift“.35 Er geht von der Einsicht aus, dass „wir als geschichtlich Lebende … ständig in Überlieferungen“36 stehen, und insofern soll die Hermeneutik die Aneignung von ‚Tradition‘, die wissenschaftliche Erforschung der eigenen Geschichte leisten. Da sowohl der literarische Text als auch der Interpret sich in einem bestimmten zeitlichen Horizont befinden, soll das Gespräch zwischen Interpret und Text zu einer ‚Horizontverschmelzung‘ führen,37 ein Schlüsselbegriff bei Gadamer, der die hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstands akzentuiert, die Polarität von „Vertrautheit und Fremdheit“. „In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik“.38 Anders als Schleiermacher, der die Interpretation als Rekonstruktion einer ursprünglichen Produktion verstand und der die Fremdheit zwischen Text und Interpret durch die Kongenialität der Geister approximativ auslöschen wollte, akzentuiert Gadamer den Zeitenabstand, betont die Geschichtlichkeit des Verstehens. Der Zeitenabstand lässt den „wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen“.39 Auch er beschreibt den Verstehensprozess als einen hermeneutischen Zirkel. Dieser Zirkel vom Ganzen und von den Teilen ist ein substanzielles Moment das Verstehens, oder in Gadamers Worten, „ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens“ selbst.40 Das heißt konkret, der Interpret muss schon eine Vorstellung vom Sinnganzen des Textes haben, um von diesem Sinnganzen aus die einzelnen Teile zu deuten. Gadamer proklamiert zwar die Geschichtlichkeit des Verstehens, jedoch deutet sich schon in dem Begriff der ‚Horizontverschmelzung‘ die Tendenz zu unkritischer Annahme der literarischen Tradition an. Die Möglichkeit kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition ist in diesem Ansatz nicht gegeben. Jürgen Habermas41 kritisiert: „Gadamers Vorurteil für das Recht der durch Tradition ausgewiesenen Vorurteile bestreitet die Kraft der Reflexion, die sich doch darin bewährt, daß sie den Anspruch von Traditionen auch abweisen kann“. Er entrückt die Überlieferung dem reflektierten kritischen Zugriff der Wissenschaft.
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Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 350. Ebd., S. 266. Ebd., S. 290. Ebd., S. 286. Ebd., S. 282. Ebd., S. 273. Habermas, Jürgen, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1970, S. 284 f.
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Gadamer „ontologisiert“ letztlich – so das Autoren-Quintett der ‚Methodendiskussion‘ – „das Überlieferungsgeschehen“.42 Doch auch das produktive Konzept des hermeneutischen Zirkels selbst wirft Probleme auf! Das Problematische an diesem Konzept, dem hermeneutischen Zirkel vom Ganzen und den Teilen, liegt darin, dass der Interpret von der Idee eines vollkommen geglückten Kunstwerks auszugehen hat. Aber was ist nun, wenn das Werk Brüche aufweist, Widersprüche, Unstimmigkeiten? Dann greift dieses Konzept nicht! Daraus folgt, die Textanalyse im Horizont des hermeneutischen Zirkels muss sich mit literaturkritischer Betrachtung verbinden, andernfalls ist immer der Interpret für eventuelle Widersprüche und Unstimmigkeiten verantwortlich! Auch Jürgen Habermas hat sich in seiner methodenkritischen Studie Erkenntnis und Interesse43 von 1968 mit den Repräsentanten hermeneutischer Reflexion – vor allem mit Dilthey – auseinandergesetzt. Mit Gadamer teilt er die Kritik an einem positivistischen Wissenschaftsverständnis, an einem erkenntnistheoretischen Modell, in dem sich Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, also Interpret und Text, unvermittelt gegenüberstehen. Er stimmt mit Gadamer darin überein, dass wir immer schon in Traditionen stehen und folglich von Vorurteilen geleitet sind, die durch die Tradition bestimmt sind. Vorurteil, das bedeutet keineswegs ein falsches Urteil, sondern ein Urteil vor der wissenschaftlichen Überprüfung. „Der Interpret“ – so heißt es bei Habermas – „kann den offenen Horizont der eigenen Lebenspraxis nicht einfach überspringen und den Traditionszusammenhang, durch den seine Subjektivität gebildet ist, nicht schlicht suspendieren“.44 Er fordert gegenüber Gadamer das Recht, „den Anspruch von Traditionen auch abzuweisen“.45 Habermas stellt das ‚erkenntnisleitende‘ Interesse in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die ‚kommunikative Erfahrung‘, die zwischen Text und Interpreten entsteht, ist abhängig vom Standpunkt des Interpreten. „Autorität und Erkenntnis kongruieren nicht. Gewiß ist Erkenntnis in faktischer Überlieferung ver-
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Hauff, Jürgen / Heller, Albert / Hüppauf, Bernd / Köhn, Lothar / Philippi, Klaus-Peter, Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft 2, Frankfurt a. M. 1972, S. 31. Habermas, Jürgen, „Erkenntnis und Interesse“, in: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt a. M. 1968. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 227 f. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 284 f.
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wurzelt; sie bleibt an kontingente Bedingungen gebunden. Aber Reflexion arbeitet sich an der Faktizität überlieferter Normen nicht spurlos ab. Sie ist zur Nachträglichkeit verurteilt, aber im Rückblick entfaltet sie rückwirkende Kraft … Aber indem die Reflexion jenen Weg der Autorität erinnert, auf dem die Sprachspielgrammatiken als Regeln der Weltauffassung und des Handelns dogmatisch eingeübt werden, kann der Autorität das, was an ihr bloße Herrschaft war, abgestreift und in den gewaltlosen Zwang von Einsicht und rationaler Entscheidung aufgelöst werden“.46 Jürgen Habermas argumentiert, dass die hermeneutischen Verfahren, die den hermeneutischen Erkenntnisprozess nicht an individuellen und kollektiven Sozialisationsverfahren überprüfen, dem ‚Ideologieverdacht‘ verfallen. Die kritische Hermeneutik fordert – so Habermas –, den Standpunkt des Interpreten aufzuklären, d. h. die Realität der herrschenden Normen und Meinungen durchschaubar zu machen, die die jeweilige Frage grundiert. Jede Fragestellung drückt schon ein bestimmtes Erkenntnisinteresse aus, fokussiert bestimmte Aspekte, blendet andere aus, das sollte sich jeder Interpret bewusst machen. Fragt er zum Beispiel nach dem Frauenbild, der Kunstkonzeption oder dem erotischen Liebesentwurf in Friedrich Schlegels Lucinde, rücken unterschiedliche Momente des Textes in den Blick. Das erkenntnisleitende Interesse bestimmt den ganzen analytischen Prozess. Die kritische Hermeneutik soll das Selbstverständnis, das Vorverständnis des Interpreten bewusst machen, dieser setzt sich dem Ideologieverdacht aus, wenn er sein eigenes Erkenntnis leitendes Interesse nicht reflektiert. Mit Jürgen Habermas hatte die Hermeneutik einen ihrer kritischsten Repräsentanten gefunden. Anfang der 1970er-Jahre erfuhr die Diskussion um die Möglichkeiten und Schranken literaturwissenschaftlicher Methoden Hochkonjunktur. Hans Robert Jauß47 setzt sich in der viel beachteten Studie Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft kritisch mit der formalistischen und marxistischen Literaturtheorie auseinander, moniert, dass die „orthodoxe Ästhetik des Marxismus“ Autor und Leser nur in ihrer sozialen Schichtung begreife, die formalistische Schule wiederum den Leser als wahrnehmendes Subjekt, als Philologen benötige, der den Text entschlüsselt. Dagegen postuliert er – gegenüber einer Produktionsästhetik und Darstellungsästhetik – eine „Rezeptions- und Wirkungsästhetik“; nur so sei für das „Problem, wie die geschichtliche Folge lite46 47
Ebd. Jauß, Hans Robert, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1970.
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rarischer Werke als Zusammenhang der Literaturgeschichte zu begreifen sei, eine neue Lösung“ zu finden. Er greift Gadamers Gedanken vom ‚Gespräch‘ auf: „Sieht man die Geschichte der Literatur derart im Horizont des kontinuitätsbildenden Dialogs von Werk und Publikum, so wird auch der Gegensatz ihres ästhetischen und historischen Aspekts ständig vermittelt und ineins damit der Faden von der vergangenen Erscheinung zu der gegenwärtigen Erfahrung der Dichtung weitergeknüpft, den der Historismus durchschnitten hatte“.48 Auch er reflektiert den Zeitenabstand zwischen Interpret und Werk, fasst ihn aber konkreter und zielt auf die differenzierte Recherche hinsichtlich der damaligen Produktionsbedingungen, Publikumserwartungen, poetologischen Vorgaben etc. Jauß fordert die Rekonstruktion des ‚Erwartungshorizonts‘ eines Werks. Dieser Zugang „bringt die hermeneutische Differenz zwischen dem einstigen und dem heutigen Verständnis eines Werkes vor Augen“, macht die „Geschichte seiner Rezeption bewusst und stellt damit die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass im literarischen Text Dichtung zeitlos gegenwärtig und ihr objektiver, ein für allemal geprägter Sinn dem Interpreten jederzeit unmittelbar zugänglich sei, als ein platonisierendes Dogma der philologischen Metaphysik in Frage“.49 Man denke an Molières Misanthrope, den die damalige Zeit und der Autor durchaus als komische Figur verstanden haben, den jedoch spätere Leser – so etwa Rousseau oder Goethe eher als tragische Figur empfanden. In diesem Zusammenhang sind auch die Zensurprozesse interessant – wie der um Baudelaires Fleurs du Mal oder um Flauberts Madame Bovary, Werke, denen von der Staatsanwaltschaft Verstöße gegen die öffentliche Moral und gegen die Religion („offenses à la morale publique et à la réligion“50) vorgeworfen wurden. Dass Emma ihren Ehebruch nicht bereut, ihn sogar glorifiziert, empfand der Ankläger als unmoralischer als den Ehebruch selbst.51 Heute gehört der Roman zur großen klassischen Literatur, der provoziert, jedoch kaum das Sittlichkeitsempfinden der heutigen Leserschaft verletzt. Die Gewinnung des geschichtlichen Erwartungshorizonts vermittelt uns produktive Einblicke in das historische Selbstverständnis, in den
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Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 170. Ebd., S. 204. Flaubert, Gustave, „Madame Bovary. Procès, Appendice“, in: Oeuvres, Bd. 1, hrsg. v. A. Thibaudet / R. Dumesnil, Paris 1951, S. 615. Procès. Le Ministre Public contre Gustave Flaubert. Réquisitoire de M. l’Avocat Impériale M. Ernest Pinard, in: Oeuvres I: „elle chante le cantique de l’adulterie, ses voluptés. Voilà eux, bien plus immoral que la chute elle-même!“, S. 623.
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Wertewandel, in das veränderte Verständnis von Anstand, Schicklichkeit und Moral. Das Beispiel des Romans Madame Bovary, der 1857, im selben Jahr wie die Fleurs du Mal veröffentlicht wurde, macht deutlich, dass ein neuer Stil, ein Wandel ästhetischer Darstellung sehr provokant wirken kann. Es ist die neue personale Erzählperspektive, aus der Emmas erotische Eskapade, ihr Ehebruch dargestellt wird, der Verzicht auf kritische Distanz, der die Sittenwärter herausforderte. Jauß kommentiert: „So kann ein literarisches Werk die Erwartungen seiner Leser durch eine ungewohnte ästhetische Form durchbrechen und sie zugleich vor Fragen stellen, deren Lösung ihnen die religiös oder staatlich sanktionierte Moral schuldig blieb“.52 Gadamers kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus, die seine Konzeption der philosophischen Hermeneutik bestimmte, hat Wissenschaftler immer wieder angeregt, sich differenziert mit seiner Argumentation auseinanderzusetzen. Karl-Otto Apel sucht in seiner Studie Das Apriori der Kommunikationswissenschaft 53 die „verstehenden“ Geisteswissenschaften mit den erklärenden Naturwissenschaften zu verbinden. Er zieht eine Analogie zwischen dem psychotherapeutischen und dem hermeneutischen Gespräch und folgert daraus, es ergebe sich „die methodologische Forderung einer dialektischen Vermittlung der sozialwissenschaftlichen ‚Erklärung‘ und des historisch-hermeneutischen ‚Verstehens‘ der Sinntradition unter dem regulativen Prinzip einer ‚Aufhebung‘ der vernunftlosen Momente des geschichtlichen Daseins“.54 Paul Ricœur55, ein Hauptrepräsentant der hermeneutischen Phänomenologie in Frankreich, geht in seiner Schrift von 1971 von der These aus, dass die menschliche Handlung wie ein Text „ein unvollendetes offenes Werk ist, dessen Sinn in der Schwebe bleibt“. Er folgert: „Alle entscheidenden Ereignisse und Taten stehen auf diese Weise der praktischen Interpretation durch die gegenwärtige Praxis offen“. Ricœur wendet sich gegen die von Dilthey aufgestellte Dichotomie von Erklären und Verstehen, die dieser jeweils den Naturwissenschaften bzw. den Geisteswissenschaf-
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Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 207. Apel, Karl-Otto, „Das Apriori der Kommunikationswissenschaft“, in: HansUlrich Lessing (Hrsg.), Philosophische Hermeneutik, München 1999, S. 225–257. Apel, Apriori, S. 257. Ricœur, Paul, „Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen“, in: W.L. Bühl (Hrsg.), Verstehende Soziologie. Grundzüge und Entwicklungstendenzen, zitiert nach Lessing, S. 276.
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ten zuordnete. Er geht von dem „dialektischen Charakter der Beziehung zwischen Erklären und Verstehen“ aus, „wie sie sich am besten beim Lesen zeigt“.56 Er kritisiert den Ansatz der romantischen Hermeneutik, welche „die dialogische Situation zum Standard des hermeneutischen Verfahrens der Textinterpretation“57 genommen hat, er dagegen bestimmt die „Lesesituation als ein Paradigma von eigenem Recht“.58 Vier Grundzüge – die „Fixierung des Sinngehalts“, die „Trennung von Sinngehalt und geistiger Intention des Autors“, die „Entfaltung von nicht ostentativen Bezügen“ und die „unbegrenzte Reihe ihrer Adressaten“ – „machen die ‚Objektivität‘ der Texte aus“.59 Er betont, dass „einen Text verstehen noch lange nicht heißt, sich in den Autor hineinzuversetzen“,60 und er verweist auf die „Dissoziation zwischen Sinngehalt und Intention“;61 der objektive Sinngehalt eines Textes unterscheidet sich von der subjektiven Intention des Autors und insofern kann „dieser Sinngehalt auf verschiedene Weise konstruiert oder rekonstruiert werden“. Das Wort ‚Rekonstruktion‘ stellt keine glückliche Bezeichnung für das Phänomen dar, insofern es nur eine Weise der Rekonstruktion im Sinne des vorgegebenen Plans geben kann, Ricœur jedoch eine Vielzahl von Rekonstruktionen bzw. besser: Auslegungen anvisiert. Zuvor bestimmte er selbst die Hermeneutik, „die für die Interpretation von schriftlichen Dokumenten unserer Kultur erforderlich ist“,62 als ‚Auslegung‘ im Unterschied zum ‚Verstehen‘, das sich auf alle „Arten von Zeichen, in denen sich psychisches Leben ausdrückt“, bezieht. Ricœurs Verweis auf die Dissoziation zwischen Sinngehalt und Intention, das heißt zwischen Werkintentionalität und Autorintention, ist sinnvoll, ist sie doch eine der Prämissen von Literaturkritik, die oft Differenzen zwischen dem Schreibentwurf des Autors und seinem fertigen Text feststellt. Doch auch ein gelungenes Werk muss nicht der Intention seines Autors entsprechen. So wollte z.B. Grabbe in seinem Drama Don Juan und Faust die Antipoden sinnlicher und intellektueller Lebensweise gegenüberstellen, doch der dramaturgische Plan, die beiden selbständigen Stoffe zu einem Handlungsgeschehen zu verbinden, ändert vor allem die Figur des Don Juan, zwingt ihn zum Dialog, zur Selbstreflexion. Aus der
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Ebd., S. 277. Ebd. Ebd., S. 278. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 260.
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Inkarnation erotischer Sinnlichkeit wird ein reflektierter Verführer. Das Werk in seiner Intentionalität, in seinem Sinnentwurf, widerspricht der Intention seines Autors. Was Gadamer als Vorentwurf eines Sinnganzen bezeichnet, stellt sich bei Ricœur als Erfindung von Hypothesen dar, Hermeneutik wäre „eine Kunst des Hypothesen-Erfindens“.63 Er geht im Sinne der tradierten Bedeutung von dem zirkulären Charakter der „Rekonstruktion eines Textes als eines Ganzen“64 aus und führt für die „Hypothesenbestätigung“ aus, dass diese eher einer „Logik der Wahrscheinlichkeit“ als einer „Logik der empirischen Verifikation“ gleicht.“ Ricœur bezieht sich in diesem Kontext mit diesem Begriff auf Eric D. Hirschs65 Studie Validity in Interpretation und er folgert: „In diesem Sinne geht es um Validierung und nicht um Verifikation“.66 Letztlich unterscheidet sich Ricœur von der Hermeneutik eines Gadamer mehr durch seine an den Naturwissenschaften angelehnte Terminologie als durch seine Argumentation selbst. Das deutet sich auch in der Schlussfolgerung seines Beitrags zum „hermeneutischen Verstehen“ an: „Wenn wir deshalb die Sprache der romantizistischen Hermeneutik, die von der Überwindung der Distanz, vom Zu-eigen-machen, von der Annäherung des Entfernten, Fremden spricht, beibehalten wollen, kann das nur möglich sein, wenn wir ein wichtiges Korrektiv einführen. Das, was wir uns zu eigen machen, – was wir uns aneignen –, ist nicht eine fremde Erfahrung, sondern es ist das Ergebnis unserer Bemühung, eine in den Bezügen des Textes angedeutete Welt ins Bewusstsein zu heben“.67 Ricœur betont den Zusammenhang von Entschlüsselung und Aneignung, er akzentuiert so gegenüber Gadamers Konzept der zeitlichen Horizontverschmelzung den Aspekt der Entdeckung von Welt, gleichsam der Selbsterfahrung in Texterfahrung. Manfred Frank hat vier Essays, die sich mit Schleiermachers Sprachtheorie, Sartres Flaubert-Studie, mit Jacques Lacans und Jacques Derridas Hermeneutik-Konzepten beschäftigen, in einem Buch mit dem Titel Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie 68 publiziert. Er wirft die Frage nach einem „Kontinuum 63 64 65 66 67 68
Ebd., S. 279. Ebd. Hirsch, Eric D., Validity in Interpretation, New Haven/Conn. 1967, S. 25. Ebd., S. 281. Ebd., S. 290. Frank, Manfred, Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt a. M. 1980.
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zwischen der Ebene der universellen Bedeutungen einer Sprache und der individuellen Sinngebung des gesprochenen Worts“69 auf. Anhand von Schleiermachers Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik70 stellt er ein dreistufiges Textmodell vor. Der Text ist zunächst eine Tatsache, d. h. er verdankt sich „der Tat eines sinnstiftenden Individuums“. Als eine zusammenhängende „Äußerungsreihe“, als „Relation“, ist er erstens strukturiert, er unterscheidet sich von anderen Texten durch „Entgegensetzung“ und „Koordination“, er gehört einer bestimmten Gattung an, einem Genre; im Blick auf das Genre kann der Interpret feststellen, „wo der Autor eine Konvention befolgt und wo er über sie hinausgeht“. Und schließlich enthält „jedes Werk – das wäre die dritte Stufe, die Schleiermacher aushebt – mehr oder weniger ausgeprägt Spuren einer individuellen Komposition, es hat einen unverwechselbaren Stil, den es mit keinem anderen Werk teilt und der insofern den Vorschriften der Kodifikation entgeht: Der Stil ist das irreduzibel Nicht-Allgemeine des Textes“.71 Frank führt an, dass unter dem Konkurrenzdruck der sogenannten ‚exakten Wissenschaften‘ „das Interesse der Literaturwissenschaften an den strukturalen Qualitäten eines Textes befördert“72 wurde. Diese Präferenz bedeutete z. B. für die Interpretation eines Sonetts von Gryphius: Das Gedicht würde als Sonett, in seinem Strophenaufbau, seiner Versform, in seinen barocken Wortbedeutungen etc. erläutert, quasi in seinen objektiv beschreibbaren Strukturen und Merkmalen, die sich auf allgemeine poetische Normen, Regeln oder Konventionen beziehen, vorgestellt; doch das, was sein unverwechselbar Individuelles, seinen besonderen Stil ausmacht, geriete nicht in den Blick. Doch Texte wie Sprachen – so Frank – existieren auf zwei Ebenen: „[A]ls systematische Ordnungen syntaktischer und semantischer Einheiten und als gesprochene oder geschriebene Reden (als Systeme und Ereignisse)“.73 Er moniert letztlich das Auseinanderfallen dieser Perspektiven, die bei Schleiermacher noch eine Einheit bildeten, in modernen wissenschaftstheoretischen Konzepten. „Struktur“ und „Sinnverstehen“, das „Erfassen des Allgemeinen und die Deutung des Individuellen“ müssen sich durchdringen. Er betont, „wie aktuell zumal der philologische An69 70
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Frank, Das Sagbare, S. 7. Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. Manfred Frank, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1999. Frank, Das Sagbare, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd.
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satz Schleiermachers geblieben ist und wie gut er sich eignet, den Dialog zwischen strukturalistischen und sprachanalytisch-hermeneutischen Positionen in Gang zu bringen“.74 Frank setzt mit Schleiermacher bei der „Krise des Subjekts“ an: „Sie findet statt, sobald das Subjekt die Wahrheit, in der es besteht, nicht mehr erzeugen, sondern nur noch bezeugen kann“.75 Es hat aufgehört, der Ort einer übergeschichtlich sich offenbarenden Wahrheit zu sein. Urteile über „das Seiende der geschichtlichen Welt“ lassen sich nicht von den individuellen Erfahrungen des Subjekts deduzieren. „Die Transzendenz des Wissensgrundes zwingt das Subjekt, die Evidenz seiner Erkenntnisse auf dem Felde zwischenmenschlicher Verständigung zu bewähren“.76 Hier ist die Dialektik gefragt, die Schleiermacher als die „Darlegung der Grundsätze für eine kunstgemäße Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens“77 bestimmt. Ziel der Dialektik ist das „Wissen“, das in seinem Wesen in der „Unveränderlichkeit und Allgemeinheit der Theorie“78 besteht. Eine weitere Prämisse der Dialektik ist die „Selbigkeit des Gegenstandes, dem divergierende Prädikate zugesprochen werden. Nur sie ermöglicht das Aufeinanderprallen dialektisch aufzuhebender Widersprüche“.79 Da es keine objektive Instanz gibt, die über Richtigkeit oder Falschheit der sich widersprechenden Urteile entscheidet, sind die Gesprächspartner gezwungen, jedes „aufrichtig“ dem Gegenstand zuerkannte Prädikat „in die Formulierung ihres möglichen Konsensus mit einzubeziehen, d. h. einzugestehen, dass der Gegenstand des Urteils nicht gleichgültig ist gegen die individuellen Interpretationen, die die Gesamtheit der Subjekte von ihm fertigt“.80 Das heißt, eine eindeutige Prädikation des Gegenstands ist unmöglich, und diese Unmöglichkeit ist nicht etwa ein Mangel, sondern ein Grundzug der Hermeneutik. „Die irreduzible Nicht-Allgemeinheit oder ‚Relativität des Denkens‘ verweist die Dialektik an die ‚Auslegungskunst‘ oder ‚Hermeneutik‘“. Während die Hermeneutik Sprachäußerungen vorwiegend unter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwiefern sich in ihnen das Individuelle geltend macht, betont die Dialektik umgekehrt den Aspekt, dass auch die „privateste Äußerung von Sinn teils im Vorblick
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Ebd., S. 14. Ebd., S. 19. Ebd. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 412. Ebd., S. 414. Frank, Das Sagbare, S. 20. Ebd.
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auf eine allen Denkenden gemeinschaftliche ‚Idee des Wissens‘ erfolgt, teils um ihrer möglichen Mitteilbarkeit sprachlich verfasst sein muß“81. Frank folgert mit Schleiermacher: „Daraus ist klar, dass beide [Hermeneutik und Dialektik] nur miteinander werden“.82 Frank versteht mit Schleiermacher Sprache als „ein individuelles Allgemeines“. „Sie besteht als universelles System nur aufgrund prinzipiell widerrufbarer Übereinkünfte ihrer Sprecher und verändert ihren Gesamtsinn mit jeder Redehandlung und in jedem Augenblick, sofern wenigstens dieser semantischen Neuerung der Durchbruch ins grammatische Repertoire gelingt, wie es in den Gesprächshandlungen ständig geschieht“.83 Die Sprecher verhalten sich mit ihren einzelnen Sprechakten schöpferisch innerhalb des gegebenen Systems der langue. Saussures Bestimmung des Verhältnisses von ‚langue‘ und ‚parole‘ entspricht – so Frank – Schleiermachers Ausführungen. In der poetischen Rede sieht Schleiermacher „in aller Reinheit“ die „sinnschöpferische Potenz der Sprache“ hervortreten. „Die Metaphorik der symbolischen Sprachverwendung“ unterläuft die „konventionalisierten Bedeutungen (Schemata) der Wörter durch einen wohlkalkulierten Schock,84 der des Lesers ‚freie Produktivität in der Sprache‘ herausfordert“.85 Wird das zunächst „singuläre Bild“86 vom Rezipienten der Rede zugeeignet, so hat es aufgehört, exklusiv oder privat zu sein und existiert als ein virtuell allgemeines Schema bzw. als Sprachverwendungsregel (neben anderen) im Gesamt der Sprache“.87 In diesen Gedankengang verortet Frank Schleiermachers Theorem der Divination, das „fundamentale Argument“ seiner Sprachtheorie, das „von den schlimmsten Missverständnissen skandiert“88 sei. Es gehöre ursprünglich keineswegs in den Kontext „der historischen Dimension der Überbrückung des Zeitenabstands zwischen Interpret und Interpretand“, darf auch nicht durch „Einfühlung“ übersetzt werden. „Die ‚Divination‘ begegnet im Rahmen einer Theorie des ‚Stils‘“.89 Stil – so Frank – versteht er als die ‚Behandlung der Sprache‘, und zwar in dem 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd., S. 21. Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 411; Frank, Das Sagbare. Ebd., S. 27. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 143. Ebd., S. 405 f. Ebd., S. 407 f. Vgl. ebd., S. 410 f., Frank, Das Sagbare, S. 28. Frank, Das Sagbare. Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 168; Frank, Das Sagbare, S. 28 f.
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Sinne, dass der Sprecher die ihm „eigentümliche Art den Gegenstand aufzufassen, (…) in die Anwendung und somit auch in die Sprachbehandlung mit einbringt“.90 Ein Bespiel: In seinem Mignon-Lied zeigt Goethe nicht einfach ein Italienbild mit Lorbeer-, Zitronen- und Apfelsinenbäumen, wie es ein Reiseprospekt abbilden könnte, er entwirft Mignons Sehnsuchtsbild einer erinnerten Südlandschaft, die etwas Zauberisches, Paradiesisches ausstrahlt, ein Süd-Idyll voller Aromen, vibrierender Leuchttöne, das ganz von dem melancholischen Fern- und Heimweh Mignons kündet. In seinem Stil – in der Form seiner Erscheinung – teilt sich die Sicht des Kindes mit. Es ist ein individueller Entwurf, und nur im Nachhinein ließen sich Regeln seiner Komposition formulieren. Über eine Sache als schön urteilen wir – so Kant – „in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion)“.91 Der Stil ist individuell, insofern nicht auf einen Begriff zu bringen, der immer nur das Allgemeine, Abstrakte der Sache fasst. „Darum sind alle Modelle“ – so Frank –, „die den Stil als regelgeleitetes oder mehrfach-codiertes Verfahren einem generativen Apparat unterstellen möchten, zum Scheitern verurteilt“.92 Nicht weil dem Stil etwa eine „extraverbale Qualität“ eignete, sondern weil er etwas Singuläres schafft, entzieht er sich abstrakter Zuordnung. Kant formuliert in seiner Kritik der Urteilskraft dieses Phänomen für das Genie. „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: G e n i e ist die angeborne Gemütslage (ingenium), d u r ch we l ch e die Natur der Kunst die Regel gibt“.93 Die Kunst, der Stil, ist also keineswegs regellos – „eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird“94 –, doch er lässt sich nicht vorab als Regel, als Produktionsanleitung bestimmen. Das Genie/ ingenium, das der ‚künstlichen‘/ künstlerischen Produktion fähig ist, ist demnach eine eingeborene Naturgabe, die selbst regelsetzend ist.
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Vgl. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 168; Frank, Das Sagbare, S. 29. Kant, Immanuel, „Kritik der Urteilskraft“, 46. Werkausgabe 10, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1977, S. 116 § 2. Frank, Das Sagbare, S. 30. Kant, Urteilskraft, S. 241 f. Ebd., S. 242.
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Jochen Hörisch95 hat recht spät auf die Hermeneutik-Diskussion reagiert und erst 1988 seine Kritik an der „Wut des Verstehens“ – so der bezeichnende Titel seiner Polemik – publiziert. Er bezieht sich in seinem Essay, der sich als grundsätzliche Abrechnung mit der Hermeneutik versteht, vor allem auf die Schriften Schleiermachers, von dem er auch seinen Titel bezieht. Er befasst sich mit Hermes, dieser zwielichtigen Gestalt, dem schillernden Gott, „der deutend, lügend, betrügend, Zeugen tötend und Meineide schwörend Aussagen manipuliert wie kein zweiter“.96 Kein überzeugender Einwand gegen die Hermeneutik, da Hermes als Namensgeber der hermeneutischen Methode nicht unumstritten ist und der Name wenig über die Schlüssigkeit der Methode aussagt, die zudem eine markante geschichtliche Entwicklung mit differierenden Positionen durchlaufen hat. Der Autor lässt sich auf die fortgeschrittenen Positionen einer kritischen Hermeneutik gar nicht ein, er nennt zwar Gadamer im Zusammenhang mit der Kunst der Interpretation97 – so ist eine bekannte Studie Emil Staigers betitelt –, doch er setzt sich in keiner Weise differenziert mit dessen Konzept auseinander. Jürgen Habermas, der auf hohem Niveau ideologiekritisch die Fallstricke hermeneutischer Verfahren aufdeckte, wird nicht einmal im Literaturverzeichnis genannt. Jean-François Lyotard geht von dem grundsätzlichen Konflikt zwischen der Wissenschaft und „den Erzählungen“ aus, das heißt, den groß angelegten Sinnauslegungen geschichtlicher Entwicklungen. Die Wissenschaft führt über ihr „eigenes Statut einen Legitimationsdiskurs, der sich Philosophie genannt hat“.98 Ursprünglich hat Jean-François Lyotards Untersuchung von 1979 mit dem Titel La condition postmoderne „die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften, für die er von amerikanischen Soziologen die Bezeichnung ‚postmodern‘ übernahm“,99 zum Gegenstand. Doch was er im „Auftrag des Universitätsrats der Regierung von Québec“ als Bericht plante, „wurde dann aber zu einem Versuch, neue Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, in der Politik, im Alltagsleben und in der Kunst nicht nur, wie sonst üblich, als Fortschreibung des Projektes der Moderne zu verstehen, sondern sie als 95 96 97 98 99
Hörisch, Jochen, Die Wut des Verstehens, Frankfurt a. M. 1988, S. 18. Ebd. Ebd., S. 82. Lyotard, Jean-François, Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1999. S. 13. Ebd., S. 9.
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Phänomene des Bruches mit diesem Projekt zu begreifen“.100 Die 1982 erschienene Schrift bildet einen Ausgangspunkt der weltweiten Diskussion um die Postmoderne, die ihrerseits mit den ‚Meta-Erzählungen‘ der Moderne, dem Diskurs der Aufklärung und der Geschichtsphilosophie Hegels, bricht, wichtigen Voraussetzungen des klassischen hermeneutischen Denkens. Insofern stellt sein ‚Bericht‘ einen radikalen Gegenentwurf hermeneutischer Theorie dar. Im letzten Kapitel seiner kritischen Hermeneutik-Geschichte, die sich mit „Nietzsches Reduktion der Erkenntnisinteressen“ auseinandersetzt, zeigt Habermas, dass Nietzsche „mit dem Positivismus den Begriff von Wissenschaft“101 teile, er wie Comte „die kritischen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts als Überwindung der Metaphysik“ deute. Nietzsche setzt sich kritisch mit dem zeitgenössischen Historismus auseinander, der mit „einer Kritik an der Verwissenschaftlichung der Historie begründet“102 ist. Jedoch durchschaut Nietzsche – so Habermas103 – den objektivistischen Anspruch des Historismus nicht als „falsches szientistisches Selbstverständnis“, sondern er hält ihn für eine „notwendige Implikation der Geschichtswissenschaft 104 überhaupt, die die Konstellation von Leben und Historie verändert und die das Leben daran hindert, das Wissen um die Vergangenheit zu bändigen. Das Ich im Zeichen des Historismus verfügt nicht mehr über die „plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur“, die „Vergangenes und Fremdes umzubilden, sich einzuverleiben“105 vermag. Als Gegenmittel gegen das Historische nennt Nietzsche „die Namen von Giften“, „das Unhistorische und das Überhistorische“.106 Doch er hätte sich – so Habermas107 – auf seine eigene Argumentation im zuvor entstandenen Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn besinnen sollen, dann hätte ihm das falsche Selbstverständnis des Historismus bewusst werden müssen. In dieser frühen erkenntnistheoretischen Schrift stellt Nietzsche die Vorstellung, der Mensch könne die Wahrheit einer objektiven unabhängigen Realität erkennen, als Illusion dar. Er hält die klassische Definition von Wahrheit, ‚adaequatio rei et intel100 101 102 103 104 105 106 107
Ebd. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 354. Ebd., S. 358. Ebd., S. 354. Ebd., S. 358. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 231. Ebd., S. 213. Ebd., S. 281. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 358.
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lectus‘, die Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand, der Realität, für eine Lüge. Der Begriff, in dem traditionell das gefasst ist, was die Sache an sich ist, ist nur eine vom Menschen entworfene Metapher, deren Metapherncharakter er vergessen hat. „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“.108 Kurz, für Nietzsche gibt es keine objektive Wahrheit, nur eine von Menschen geschaffene, erdichtete Wahrheit. Der Mensch ist ein „Baugenie“109, der anders als die Biene, die aus dem Wachs, „das sie aus der Natur zusammenholt“, baut, „aus dem weit zarteren Stoff der Begriffe, die er erst aus sich fabrizieren muß“, seine Welt schafft, eine Welt, die er dann als Wahrheit bezeichnet. Wenn es aber generell so um die Wahrheit bestellt ist, kann es auch den objektivistischen Anspruch des Historismus nicht geben bzw. ist dieser leicht als Illusion zu entlarven. Gerade Friedrich Nietzsche in seiner pointierten Erkenntniskritik hätte das falsche wissenschaftliche Selbstverständnis des Historismus aufdecken können. Ohne dass er den Begriff der ‚Hermeneutik‘ darin angeführt hat, weist ihn seine Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn implizit als Denker der philosophischen Hermeneutik aus.
6. Kommentierte Auswahlbiographie Droysen, Johann Gustav, Grundriß der Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. R. Hübner, München 1967. Droysen ist derjenige unter den bekannten deutschen Historikern, der die von der Historischen Schule praktizierte Theorie der Geschichte kritisch reflektierte. Sein Konzept von den Möglichkeiten der Geschichtsforschung entwickelte sich in Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie und Rankes Geschichtsschreibung.
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Nietzsche, Friedrich, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: F. N., Werke in drei Bänden, Bd. 3, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1977, S. 314. Ebd., S. 315.
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Dilthey, Wilhelm, „Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte“ (1883), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart, Göttingen 1979. Die Hermeneutik betrachtet D. in dem Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften. Dilthey, Wilhelm, „Die Entstehung der Hermeneutik“ (1900), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Misch, Leipzig, Berlin 1924. Diltheys bekannteste Studie zur Geschichtsschreibung der Hermeneutik, die auf seine Untersuchungen zur protestantischen Hermeneutik aufbaut. Dilthey, Wilhelm, „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ (1910), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. v. B. Groethuysen, Stuttgart, Göttingen 1979. In Abgrenzung der Geistes- und Naturwissenschaften sucht D. die Grundlagen der Geisteswissenschaften zu bestimmen. Heidegger, Martin, Der Ursprung des Kunstwerks [1935], Stuttgart 2005. Eine philosophische Erkenntnistheorie, die die Grundlagen für die Einzelwissenschaften ausarbeitet. Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik, 5. Aufl., Zürich 1961. Die 1946 erschienene Studie versteht Poetik als allgemeine Anthropologie. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969. Die 1947 erschienene Schrift fragt nach den Ursprüngen der Barbarei in einer Welt wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Kayser, Wolfgang, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1961. Die 1948 erschienene Arbeit liefert eine Einführung in die Arbeitsweisen der Literaturwissenschaft, sofern sie Stilanalyse, Strukturforschung und Interpretation betreibt. Ebeling, Gerhard, „Artikel ‚Hermeneutik‘“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 3. Bd., Tübingen 1959, Spalte 242–262. E. beschreibt in klarer Diktion die Grundaspekte hermeneutischer Textdeutung.
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Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 1972. Die Studie von 1960, sein bedeutendstes Werk, entwickelt eine systematische Theorie des Verstehens, die im Horizont von Heideggers Philosophie entstand und zugleich eine Art Gegenentwurf bildet. Sie führt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus, diese bestimmt seine Konzeption einer philosophischen Hermeneutik, die bis heute die kritische Diskussion über Fragen der Hermeneutik leitet. Topitsch, Ernst, Das Verhältnis zwischen Sozial-und Naturwissenschaften. Eine methodologisch-ideologische Untersuchung, Köln, Berlin 1966. Eine Studie im Sinne des kritischen Rationalismus, der ein Wissenschaftsmodell vertritt, das zwischen wissenschaftlicher Forschung und gesellschaftlicher Praxis strikt trennt. Jauß, Hans-Robert, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1970. J. zeigt hier u. a. am Beispiel der „Querelle des Anciens et des Modernes“ die Wende zum historischen Bewusstsein. Hauff, Jürgen / Heller, Albert / Hüppauf, Bernd / Köhn, Lothar / Philippi, Klaus Peter, Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft, Bd. 2: Hermeneutik. Marxismus, Frankfurt a. M. 1972. Das Autorenquintett stellt im zweiten Band Basistexte der Hermeneutik und des Marxismus vor, kommentiert sie und bereitet sie didaktisch zum Selbststudium (mit Kontrollfragen) auf. Ricœur, Paul, „Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen“, in: Verstehende Soziologie. Grundlage und Entwicklungstendenzen, hrsg. v. W. L. Bühl, München 1972. (Wiederabdruck bei H. U. Lessing) Ricoeur akzentuiert gegenüber Gadamers Konzept der zeitlichen Horizontverschmelzung den Aspekt der Entdeckung von Welt, gleichsam der Selbsterfahrung in Texterfahrung. Apel, Karl-Otto, „Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht“ in: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973. Bibliographisch orientierter Abriss der Hermeneutik. Die Fragment gebliebene Studie sollte ein „wichtiges Verbindungsglied zwischen der Philosophie und den geschichtlichen Wissenschaften“ herstellen.
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Gadamer, Hans-Georg / Boehm, Gottfried, Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1979. G. erläutert die Vorgeschichte der Hermeneutik, die romantische Hermeneutik, setzt sich mit Dilthey und der Dilthey-Schule auseinander und mit der philosophischen Hermeneutik eines Heidegger. Die „Gegenwart der Griechen“ (S. 324), Kant und Hegel bestimmen das philosophische Gespräch der Gegenwart. Lyotard, Jean-François, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1999. Die 1979 unter dem Titel La condition postmoderne erschienene Schrift bildet einen Ausgangspunkt der weltweiten Diskussion um die Postmoderne, die ihrerseits mit den ‚Meta-Erzählungen‘, dem Diskurs der Aufklärung und der Geschichtsphilosophie Hegels, bricht, wichtigen Voraussetzungen klassischen hermeneutischen Denkens. Frank, Manfred, Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankfurt a. M. 1980. Frank geht in den vier Essays, die sich mit Schleiermachers Sprachtheorie, Sartres Flaubert-Studie, mit Jacques Lacans und Jacques Derridas Hermeneutik-Konzepten beschäftigen, der Frage nach einem „Kontinuum zwischen der Ebene der universellen Bedeutungen einer Sprache und der individuellen Sinngebung des gesprochenen Worts“ nach. Sloterdijk, Peter, „Aufklärung als Gespräch – Ideologiekritik als Fortsetzung des gescheiterten mit anderen Mitteln“, in: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983. Untersuchungen zum modernen unglücklichen Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Koselleck, Reinhart, Hans Georg Gadamer: ‚Hermeneutik und Historik‘, Heidelberg 1987. K. setzt die Gültigkeit einer transzendenten Kategorienlehre voraus. Gadamers Antwort: „Historik und Sprache“. Frank, Manfred, Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas. Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt a. M. 1988. Die Schrift versteht sich als eine Streitschrift zur Verteidigung von Jürgen Habermas’ Diskursethik.
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Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988. H. sucht der Philosophie des Abschieds von der Moderne, der von Heidegger, Bataille bis zu Derrida und Foucault destruierten ästhetischen Avantgarde, ein Gegenmodell aufzuzeigen, er will im Blick auf die neostrukturalistische Vernunftkritik den philosophischen Diskurs der Moderne rekonstruieren. Ineichen, Hans, Philosophische Hermeneutik, Freiburg, München 1991. I. setzt sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnistheorie, geschichtlich-gesellschaftlicher Welt und Hermeneutik auseinander. Habermas, Jürgen, Erkenntnis und Interesse, mit einem neuen Nachwort, Frankfurt a. M. 1992. Die Studie von 1968 setzt sich mit der Krise der Erkenntniskritik auseinander, mit der Selbstreflexion der Natur- und Geisteswissenschaften, mit Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie, und sie stellt das erkenntnisleitende Interesse, die Selbstreflexion des Interpreten, ins Zentrum der Analyse. Seiffert, H., Einführung in die Hermeneutik, München 1992. Eine relativ knapp gehaltene, übersichtliche Einführung mit Schwerpunkt auf klassischen Bereichen angewandter Texthermeneutik: Theologie, Jura, Pädagogik. Albert, Hans, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994. Albert sucht eine Wissenschaftsphilosophie zu entwerfen, die die drei derzeit konkurrierenden theoretischen Positionen vermitteln soll. Hörisch, Jochen, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a. M., erweiterte Neuauflage 1998. Ein polemischer, mit Pauschalurteilen nicht geizender Essay zur Kritik der Hermeneutik, der ihren Erkenntnisanspruch infragestellt. Lessing, Hans Ulrich (Hrsg.), Philosophische Hermeneutik, Freiburg (Breisgau), München 1999. Der Band bietet eine sinnvolle Auswahl an Texten von Dilthey bis Ricœur und eine gute Bibliographie weiterführender Literatur zum Thema.
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Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik, hrsg. u. eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1999. Sch. entwickelte seine „Kunstlehre des Verstehens“ als eine psychologische Hermeneutik, er bricht mit der theologischen und philologischen Tradition hermeneutischen Denkens, und er verlagert die hermeneutische Reflexion vom Feld der Textphilologie auf das der Psychologie des Autors. Grondin, Jean, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 2. überarb. Aufl., Darmstadt 2001. Ein guter und konzentrierter historischer Gesamtüberblick aus französischer Sicht. Jung, Matthias, Hermeneutik zur Einführung, Hamburg 2001. Eine knappe systematische Einführung, die auf neuere philosophische Fragestellungen eingeht, sich jedoch vor allem mit Gadamers Hermeneutik beschäftigt. Kurt, Ronald, Hermeneutik – Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Stuttgart 2004. K. liefert eine didaktisch orientierte sozialwissenschaftliche Einführung in die Hermeneutik. Figal, Günter (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2007. Der Band enthält dreizehn Essays internationaler Wissenschaftler zu verschiedenen Aspekten der Schrift Gadamers. Vetter, Helmuth, Philosophische Hermeneutik. Unterwegs zu Heidegger und Gadamer, Frankfurt a. M. 2007 (Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie; Band 13).
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1./2. Definition/Beschreibung Die Intermedialitätsforschung befasst sich mit den gleich- und gegensinnigen Korrespondenzen zwischen einzelnen Medien. Seit etwa Mitte der 1990er-Jahre findet der Begriff Anwendung, wenn ansonsten verschieden wahrgenommene Medien in einer neuartigen Konfiguration auftreten; dieser Zusammenhang wird zugleich auf die Geschichte der Medien zurück übertragen. Im Kontext dieses Prozesses bildet sich ein ganzes Bedeutungsfeld ähnlicher Beziehungen aus. In einer strukturalistischen Perspektive lässt sich zunächst eine ‚Transmedialität‘ von der ‚Intermedialität‘ abgrenzen, wenn ein Stoff unabhängig von einem spezifischen in verschiedenen Medien behandelt wird. Dagegen spricht man von ‚Intramedialität‘, die auch ‚Intertextualität‘ umfasst, wenn es um Bezüge eines Mediums in demselben (Bild im Bild, Buch im Buch etc.) geht. In der Intermedialität im engeren Sinne wird nach diesem Ansatz zwischen ‚Medienkombination‘, ‚Medienwechsel‘ und ‚intermedialen Bezügen‘ unterschieden. Eine ‚Medienkombination‘ bezeichnet hier die Verbindung von mindestens zwei beteiligten Einzelmedien: als Mischung von Text und Bild wie im Emblem, im Comic oder im Photoroman, als eine von Text, Bild, Ton und Musik wie etwa im Film oder von Theater, Text und Musik wie beispielsweise in der Oper. Dabei können die einzelnen Elemente komplementär, gleichrangig oder hierarchisch angeordnet sein (im Film ist die Schrift in der Regel dem Bild untergeordnet, das einzelne Bild aber wiederum der Filmerzählung).1 Von ‚Medienwechsel‘ (‚Medientransfer‘ oder ‚Medientransformation‘) spricht man bei der Übertragung des glei1
Lyotard, Jean-François, „Idee des souveränen Films“, in: Elsaesser, Thomas / Lyotard, Jean-François / Reitz, Edgar, Der zweite Atem des Kinos, hrsg. von Andreas Rost, Frankfurt a. M. 1996, S. 19–52; Bock, Wolfgang, Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II, Bielefeld 2006.
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chen Stoffes von einem in ein anderes Medium wie in einer Literaturoder Theaterverfilmung; dabei geht der ursprüngliche Zusammenhang weitgehend verloren und wird durch den neuen ersetzt. In ‚intermedialen Bezügen‘ schließlich kommt es ebenfalls zu einer Transformation des Stoffs, bei der aber in der neuen Form tragende Momente des älteren Zusammenhanges im neuen beibehalten und weitergeführt werden: so wie in der filmischen oder musikalischen Schreibweise in der Literatur oder narrativen Formen in filmischen Erzählungen. Diese Übergänge sind die eigentlich interessanten und die Spannungen zwischen ihnen und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse rechtfertigen den übrigen terminologischen Aufwand.2 In einer anderen Systematik spricht Jan Siebert von einer „primären Intermedialität“ als Verschmelzung verschiedener Medien, von „sekundärer Intermedialität“ als Medienwechsel und von „tertiärer“ oder „figurativer Intermedialität“, wenn es um die Interaktion zwischen Medien geht.3 Irina Rajewsky betont darüber hinaus das historische Moment der jeweiligen Medienerfahrung, eine deutliche Nachweisbarkeit gegenüber einer weitergefassten Einflussforschung und die Imitation des einen Mediums im anderen („Als-Ob-Charakter“) zur Überwindung des so genannten „intermedial gap“ als unüberbrückbarer Grenze zwischen den einzelnen Medien.4 Rajewsky nimmt ihre Untersuchungen an italienischen Texten der 1990er-Jahre vor, in denen Film-, Fernseh- und Videoästhetik eine besondere Rolle spielen. In Deutschland beziehen sich so unterschiedliche Autoren wie Thomas Hettche, Alexander Kluge oder W. G. Sebald auf eine intermediäre Schreibweise; die Verfahrensweisen sind aber beispielsweise auch von Thomas Mann, Günter Grass und anderen bekannt, wenn sie Postkarten, Photographie und andere Bilder nicht allein beschreiben, sondern mit den Ausdrucksmitteln der Sprache in eine zwi2
3 4
Rajewsky, Irina O., Intermedialität, Tübingen 2002; Cheon, Hyun Soon, Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Zur Korrespondenz von Früher Neuzeit und Moderne, Würzburg 2007; Paech, Joachim, „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen“, in: Helbig, Jörg (Hrsg.), Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, S. 14–30; Paech, Joachim / Schröter, Jens (Hrsg.), Intermedialität – Analog / Digital. Theorien, Methoden, Ansätze, München 2007. Siebert, Jan, Flexible Figuren, Bielefeld 2005. Vgl. Rajewsky, Intermedialität; Iser, Wolfgang, „Akte des Fingierens“, in: Henrich, Dieter / Iser, Wolfgang (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 121–151.
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schen beiden Medien korrespondierende Beziehung setzen.5 In der Kunst- und Mediengeschichte lassen sich Einflüsse ‚photographischer‘ Verfahren möglicherweise bereits bei Malern des 15. Jahrhunderts nachweisen; solche Bezüge können dann deutlich in den Malweisen der französischen und englischen Impressionisten aufgezeigt werden.6 Verwandte Begriffe sind ‚Multimedialität‘, ‚Medientheorie‘, ‚Mediengeschichte‘, ‚Szenographie‘.
3./4. Institutionsgeschichtliches/Publikationen Intermedialität setzt zunächst Medialität voraus, das heißt unterschiedliche technische und ästhetische Verfahren zur Herstellung von Stoffen in verschiedenen einzelnen Medien. In der Ästhetik wird danach gefragt, welcher Gegenstand sich besser für welche Form – also etwa für eine malerische Darstellung oder für ein Sonett – eignet, worüber man vorzugsweise eine Oper schreiben sollte und welcher ein Kunstlied erforderte.7 In diesem Sinne besitzt jedes Medium ein bestimmtes Ausdrucksverfahren, das Effekte und Formen hervorbringt, die nur ihm eigen sind. Wenn Siegfried Kracauer danach fragt, was das Filmische am Film ausmacht, dann fasst er dieses Moment ins Auge, das den produktionsund rezeptionsästhetischen Unterschied des Films zur Photographie und zum Theater ausmacht: die Herstellung von bewegten Bildern und zugleich die Darstellung des Flusses des Lebens oder des Lebens der Straße. Kracauer will Ende der 1940er-Jahre den Film und seine Möglichkeiten der Kadrage, Montage und Collage deutlich vom Theater und vom Roman unterschieden wissen.8 Im Zeitalter der digitalen Bilder aber 5
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Rajewsky, Irina O., Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne: von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre, Tübingen 2003; Hettche, Thomas, Animationen, Köln 1999; Kluge, Alexander, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt a. M. 2006; Sebald, Winfried G., Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt a. M. 1997; Cheon, Hyun Soon, Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Zur Korrespondenz von Früher Neuzeit und Moderne, Würzburg 2007. Hockney, David, Geheimes Wissen. Verlorene Techniken der Alten Meister, München 2001; Bock, Wolfgang, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen, Bielefeld 2002. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Frankfurt a. M. 1988; Adorno, Theodor W. / Eisler, Hanns, „Komposition für den Film“ [1944], in: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–156. Kracauer, Siegfried, Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1985.
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treten nun umgekehrt auch wiederum die verbindenden Elemente zwischen den zuvor ausgeschlossenen Medien stärker in den Vordergrund.9 In der Verbindung verschiedener Medien wie Literatur und Film, insbesondere aber im Zuge der digitalen Vereinheitlichung der Produktions-, Rezeptions- und Speicherformen erscheinen die einzelnen ästhetischen Formen damit deutlicher als Medien mit unterschiedlichem, aber verwandtem Anspruch auf Darstellung und Wirklichkeit. Zugleich zeigt sich, dass sich diese einzelnen Medien aus Elementen zusammensetzen, die in ihren historischen und aktuellen Formen jeweils neu kombiniert werden. Als solche einzelnen Bausteine können das Bild, der Ton, der Buchstabe und auch die Ziffern einschließlich der Null als binärer Code angesehen werden. Die Mediengeschichte erscheint in einer solchen Perspektive dann in einem Bogen von den polychromen Höhlenzeichnungen bis zu den digitalen bewegten Bildern als unterschiedlicher Zusammenhang dieser Elemente auf dem jeweils neuen technischen und formalästhetischen Niveau der Epoche.10 Im Sinne der Medienkombination kann man von der Darstellung und gegenseitigen Repräsentanz eines Mediums oder seines besonderen Inhaltes in einem anderen sprechen. Das ist der Fall, wenn beispielsweise in Mozarts Zauberflöte in einem Libretto ein Gemälde beschrieben, in Charles Laughtons Film Nachtjäger aus einem Buch vorgelesen wird oder in Jonathan Demmes Film Das Schweigen der Lämmer der Rhythmus einer filmischen Sequenz sich an die Zeitstruktur von Bachs Goldbergvariationen anlehnt. Die Repräsentanz muss sich also nicht auf eine einfache Adaption oder ein bloßes Vorkommen beschränken, sondern vermag sich im Rahmen intermedialer Bezüge an die jeweilige Produktions- und Darstellungsweise des anderen Mediums anzugleichen. Das ist auch der Fall, wenn wie in Döblins Berlin Alexanderplatz, Dos Passos’ Manhattan Transfer oder Burroughs’ Dutch Schultz ein Roman eine formale Collagen- und Montagetechnik verwendet, deren Effekt aus der Filmproduktion bekannt ist, oder wenn ein essayistischer Text wie das Drehbuch einer Fernsehserie geschrieben wird.11 9 10 11
Zielinski, Siegfried, Archäologie der Medien, Reinbek 2002; Bock, Medienpassagen. Bredekamp, Horst / Krämer, Sibylle (Hrsg.), Bild – Schrift – Zahl (Kulturtechnik), München 2003; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [1936], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 471–508; Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974; Rajewsky, Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne: von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre.
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Betrachtet man diesen Zusammenhang in einer fortschreitenden Entwicklungslinie, dann können sich daraus Formen ergeben, die erst später deutlicher werdende Effekte des neuen Mediums im älteren vorweg nehmen.12 Eine solche neue Medienkonstellation liegt beispielsweise beim Film vor, wenn dieser die Formen des Einbruchs äußerer Wirklichkeit in ein Gemälde, das die Dadaisten noch mit aufgeklebten Billets und Gegenständen versehen, nun in sich durch das Verfahren des Einschlusses der photographierten äußeren Welt und der Montage herstellt.13 Sie liegt auch in den digitalen Medien vor, wenn in ihnen Texte, Bilder und Töne, die zuvor einer jeweiligen analogen Reproduktion unterworfen waren, auf der gleichen technischen Grundlage kodifiziert werden und auf diese Weise bildliche Verfahren wie der ‚Hypertext‘ die bekannten Leseformen neu beeinflussen und verändern. In diesem Sinne gibt es kein reines Medium, sondern die Rezipienten und Produzenten leben immer in einer besonderen Medienkonstellation, in welcher die jeweiligen Einzelmedien latent oder manifest repräsentiert oder bereits virtuell vorhanden sind und ihre Eigenheiten unter diesen Bedingungen neu zum Ausdruck bringen. Deutlich ist damit, dass die Fragestellungen der Theorien der Intermedialität eng an die Entwicklung der Medientheorien geknüpft sind und deren Voraussetzungen weitgehend übernehmen. Sie reagieren damit auf die zunehmende Angleichung der Produktions- und Darstellungsbedingungen der Medien im Übergang von der analogen zur digitalen Form. Allerdings lassen sich die verschiedenen Medienkonstellationen nur bedingt allein unter der Vorstellung eines technischen Fortschritts verstehen, da unter ästhetischen Gesichtspunkten auch frühere qualitativ hochwertige Medienformen wie der Stummfilm, die Schallplatte oder die analoge Photographie in einem eindimensional gefassten Entwicklungsprozess verloren gehen. Eine historische Betrachtung der einzelnen Medienelemente zeigt dagegen, dass bestimmte Formen wie die Emblematik in anderen Epochen wiederzukehren vermögen und die Idee eines linearen Fortschreitens, wie sie nach herkömmlicher Lesart beispielsweise László Moholy-Nagy in seinem programmatischen Buch Malerei, Fotografie, Film entwickelt, auch gegenläufig interpretierbar er12
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Koyré, Alexandre, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 2007; Schivelbusch, Wolfgang, Lichtblicke, Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“; Bürger, Theorie der Avantgarde.
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scheint: dann nämlich, wenn die digitalen Formen auf emblematische Momente rückbezogen werden.14 Darüber hinaus versteht ein erweiterter Medienbegriff nicht allein die technisch-apparativen Vermittlungsagenturen und die ästhetischen Verfahren als Medien, sondern alle Äußerungen der menschlichen Kulturproduktion wie Bild, Schrift, Sprache, Gestik und vom Menschen geschaffene Gegenstandswelten wie auch diejenigen der Natur. Für die Intermedialität bedeutet das, dass sich alle menschlichen und natürlichen Äußerungen als Ausdruck verschiedener Sprachen verstehen lassen, deren Summe kein Ganzes bildet. Kommunikation und Übersetzung sind in diesem Sinne a priori intermediäre Prozesse, indem Äußerungen aus der Sphäre einer Sprache in diejenige einer anderen übertragen werden, ohne vollständig ineinander aufzugehen. Man kann in dieser Perspektive nicht allein unterschiedliche nationale Kultursprachen oder eine Frauen- von einer Männersprache, von einer Sprache der Musik, des Films oder einer solchen des Textes absetzen, sondern ebenso von einer Sprache der Architektur, der Justiz oder einer solchen des Verkehrs reden. Diese schließt ihre eigenen Regeln ebenso ein wie eine Sprache der Pflanzen oder der Tierformen, die nichts mit einer Botanik oder Zoologie zu tun haben und jeweils unübertragbare Reste als Abgründe zwischen den einzelnen Trägern bilden. Mit solchen Übertragungen bewegt man sich nicht allein in Designdiskursen und solchen des Kunst- und Naturschönen, sondern ebenso im Bereich formaler Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, wie sie im Bereich der Kybernetik üblich geworden ist.15 Eine Intermedialität beschränkte sich dann auf die besonderen Bedingungen des jeweiligen medialen Ausdrucks, der sich nicht im anderen Medium auflösen ließe. Die Sprache der Malerei wäre auch dann eine andere als diejenige eines rhetorisch argumentierenden Textes, wenn beide auf der Festplatte eines Computers in demselben binären Code gespeichert 14
15
Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, Mainz 1967; Bock, Medienpassagen; Cheon, Hyun Soon, Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Zur Korrespondenz von Früher Neuzeit und Moderne, Würzburg 2007. Pasolini, Pier Paolo, „Schule des Widerstands: Genariello“, in: ders., Das Herz der Vernunft, Berlin 1986; Benjamin, Walter, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ [1916], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 140–156; Benjamin, Walter, „Über das mimetische Vermögen“ [1933], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 210–213; Chomsky, Noam, Regeln und Repräsentationen, Frankfurt a. M 1981.
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werden könnten. In dieser Perspektive ist die Ebene der Darstellung von derjenigen der Produktion oder der Speicherung abzutrennen. Man unterscheidet unter diesen Gesichtspunkten daher sinnvoll eine technische Ebene der Herstellung und Speicherung von einer ästhetischen der Produktion und Reproduktion, die jeweils anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die sich aber auch gegenseitig beeinflussen können, wie das Beispiel des Hypertexts zeigt. Hier ist nicht allein auf einer Unterschiedlichkeit der jeweiligen Medien zu beharren, sondern ebenso auf einer Trennschärfe der jeweils dazugehörigen Untersuchungsmethoden. In einem historischen Sinne treten die einzelnen Medienformen in Konstellationen auf. Zwar gibt es unterschiedliche Darstellungsverfahren, aber innerhalb eines einzelnen Mediums finden sich vermittelt auch immer bereits andere Formen auf unterschiedlichem technischem Niveau wieder. So unterscheidet beispielsweise die Hermeneutik verschiedene Sinnstufen des Lesens in einem Text, indem sie sich auf wörtliche, bildliche oder auf eine moralische und anagogische Leseweise bezieht.16 Das metaphorische Darstellungsvermögen eines Textes, das auf dem verständigen Umgang mit rhetorischen Mitteln beruht, verbindet eine textliche Darstellung von Bildern mit dem Vermögen eines Sprechers oder Schreibers, solche Bilder so im Rezipienten zu entzünden, als sei er selbst bei den beschriebenen Ereignissen als Augenzeuge dabei gewesen.17 Diese Bildrhetorik auf Seiten des Textes entwickelt sich im antiken Griechenland bei Platon zunächst im Gegensatz zur Darstellung von Bildern oder Statuen; mit Aristoteles beginnt die Hochschätzung der bildenden Künstler und führt zu einer Parallelentwicklung beider Sphären in Athen und Rom. Die christliche Entwicklung nimmt durch den pointiert bilderfeindlichen Ausdruck, den das frühe Christentum mit dem Islam und dem Judentum teilt, die äußere Bildlichkeit wieder zurück und es dauert fast tausend Jahre, bis in der Renaissance im Westen die äußerliche Darstellung der Bildlichkeit außerhalb des geschriebenen Textes wieder in erweiterter Form aufgenommen wird.18 In der Frühen Neuzeit kommt es dann insbesondere durch die Erfindung des
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Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Tübingen 1994; Gadamer, Hans Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990. Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1982; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen. Panofsky, Erwin, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie [1924], Berlin 1993; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen.
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Buchdrucks zu einer neuen Möglichkeit der Darstellung von Bildern und Texten, die in der Folge zu den Massenmedien des 19. und 20. Jahrhunderts weiterentwickelt werden.19 Dieser Zusammenhang befördert zugleich die intermediale Idee der Bilderschriften. Bereits die frühen Alphabete weisen bildliche, semiotische und lautliche Zeichen auf, die in der jeweiligen Lesart miteinander verknüpft werden. Die ägyptischen Bilderschriften weisen neben ihren ikonologischen Anteilen ebenfalls lautliche und semiologische Spezifität auf. Ähnliches gilt für die hebräischen und arabischen Schreibformen, die keine Vokale kennen, sondern den Leser diese im Vortrag jeweils einsetzen lassen. Schließlich weisen die griechischen und lateinischen Schriften Zeichen für Selbstlaute auf, lassen den Leser aber noch eigenständig die Worttrennung vornehmen usf.20 Die Bilderschriften der Renaissance und des Barock knüpfen an diese Darstellungsformen an und entwickeln sich darüber hinaus in besonderen Bereichen weiter: Sie verknüpfen in den Impresen die beiden Momente von Bild und Schrift miteinander oder weisen wie dann in der entwickelten Barockemblematik mit der bildlichen pictura, der inscripto und der subscriptio als Bild, Inschrift und Motto drei solche intermediale Elemente auf, die durch ein viertes Moment des Rahmens ergänzt werden.21 Diese Art von Medienkombination verweist in ihrem Bildteil zunächst vorwärts auf die Photographie, in ihrer Mischung dann auch bereits auf das gedruckte Bild mit Unterschrift auf eine Literarisierung der Medien in der Zeitung. Zugleich enthält sie mit typografischen Titeln den Stummfilm und mit der als Unterschrift anzusehenden Tonspur den Tonfilm virtuell bereits in sich. Ebenfalls in der Frühen Neuzeit entsteht die Idee des Gesamtkunstwerks, wenn theatrale Elemente aus Komödie und Tragödie mit religiösen und juristischen Formen zu Opern und Singspielen verbunden werden. Die Szenographie untersucht die einzelnen Elemente solcher Gesamtkunstwerke im Hinblick auf Zusammenwirken und Performanz.22 19
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Schivelbusch, Lichtblicke, Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert; Paech/Schröter, Intermedialität – Analog / Digital. Theorien, Methoden, Ansätze. Illich, Ivan, ABC – Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988; ders., Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalicon“, Frankfurt a. M. 1991. Volkmann, Ludwig, Bilder Schriften der Renaissance, Leipzig 1923, Nachdruck 1962; Schöne, Albrecht, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1993. Panofsky, Erwin, Was ist Barock? Hamburg 2005; Bohn, Ralf / Wilharm, Heiner (Hrsg.), Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenographie, Bielefeld 2009.
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5. Fachgeschichte Die digitalen Medien kombinieren in ihrem Speicherungsformat alle drei unterschiedlichen Formen von Bild, Ton und Schrift, ohne sie vollständig zu vereinheitlichen. Aus dieser Kombination resultieren neuartige digitale Produktions- und Reproduktionsverfahren, die dann eine neue Form der Distribution als CD oder DVD und deren Nachfolgeprodukte ermöglichen. Zugleich bleibt die Logik der Rezeption auch als intermediäre nach wie vor an bestimmte Vorgaben geknüpft. So kann ein lineares Erzählen nur bedingt durch deskriptive Verfahren ergänzt werden; vielmehr zeigt gerade die neue technische Entwicklung, dass beide Momente aufeinander angewiesen sind, sich gegenseitig voraussetzen und auf verschiedenen Stufen ineinander umschlagen: Textbilder und Bilderschriften gelangen gerade im Zusammenhang der neuen Medien zu erneuter Aktualität.23 Für die Zukunft ist daher zu erwarten, dass die Verbindung intermedialer Aspekte zunehmen wird, da sich die technische Seite der einzelnen Medienverfahren weiterentwickelt und eine Theorie diese Zusammenhänge kritisch zu erläutern hat. Davon wird auch die Perspektive auf die einzelnen Medien und ihre Kombination betroffen sein. Dem wird die Notwendigkeit einer sinnvollen ästhetischen Bestimmung der intermedialen Möglichkeiten gegenüberstehen, die auch nach anderen Gesichtspunkten als einer technischen Machbarkeit fragt, ohne diese allerdings zu unterschätzen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Aristoteles, Poetik, Stuttgart 1982. Frühe Bestimmung der ästhetischen Theorie. Lessing, Gotthold Ephraim, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Frankfurt a. M. 1988. Erstmalig 1766 erschienene Studie über die Unterschiede zwischen bildender Kunst und Literatur. Benjamin, Walter, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ [1916], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Her23
Zielinski, Archäologie der Medien; Bock, Medienpassagen.
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mann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 140–156. Theorie der Sprache als eines universellen Mediums. Volkmann, Ludwig, Bilder Schriften der Renaissance, Leipzig 1923, Nachdruck 1962. Darstellung der verschiedenen Formen von italienischen und französischen Bilderschriften in Renaissance und Barock. Panofsky, Erwin, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie [1924], Berlin 1993. Klassische Studie zur Wandlung des Kunstbegriffs von der Antike zur Renaissance. Dos Passos, John, Manhattan Transfer [1925], Reinbek 2000. Roman in cut-up-Technik. Benjamin, Walter, „Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz“ [1930], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, S. 230–236. Studie zur Intermedialität von Bild, Text, Malerei und Film. Benjamin, Walter, „Über das mimetische Vermögen“ [1933], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 210–213. Spekulative Untersuchung über die Ähnlichkeitsbeziehung in verschiedenen Ebenen der Sprache. Panofsky, Erwin, Was ist Barock? Hamburg 2005. Erster Vortrag von Panofsky im amerikanischen Exil 1934 zur Barockepoche als übergreifendes Stilprinzip. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [1936], in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 471–508. Untersuchung zum Übergang von der Photographie zum Film und zu der Auswirkung auf eine neue Ästhetik.
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Adorno, Theodor W. / Eisler, Hanns, „Komposition für den Film“ [1944], in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–156. Studie über das Verhältnis von Film, Musik und gesellschaftlicher Repräsentation im Medium. Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Tübingen 1994. Darstellung der unterschiedlichen Rhetoriken in verschiedenen literaturhistorischen Epochen. Gadamer, Hans Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990. Studie zur Hermeneutik des Heidegger-Schülers, die 1961 das erste Mal erschien. Kracauer, Siegfried, Theorie des Films [1964], Frankfurt a. M. 1985. Umfassende Filmtheorie, die auch der Frage der Rettung der äußeren Wirklichkeit durch ihre Abbildung nachgeht. Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, Mainz 1967. Studie über Medienübergänge vom Pigment- zum Lichtbild. Burroughs, William S., The Last Words of Dutch Schultz, New York 1970. Roman in cut-up-Technik. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974. Studie zum Verhältnis von Leben und Kunst, Montage und Allegorie, Tradition und Avantgarde. Chomsky, Noam, Regeln und Repräsentationen, Frankfurt a. M 1981. Linguistische Darstellung der Forschungen zur generativen formalen Grammatik. Iser, Wolfgang, „Akte des Fingierens“, in: Henrich, Dietrich / Iser, Wolfgang (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 121–151. Wichtiger Beitrag über den Unterschied in der Medienzitation. Schivelbusch, Wolfgang, Lichtblicke, Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983.
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Kulturwissenschaftliche Untersuchung zum elektrischen Licht und der Entwicklung der Medien im 19. Jahrhundert. Pasolini, Pier Paolo, „Schule des Widerstands: Genariello“, in: ders., Das Herz der Vernunft, Berlin 1986. Untersuchungen zur Filmsprache und der Sprache der Dinge in unterschiedlichen historischen Epochen. Illich, Ivan, ABC – Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988. Historische Untersuchung über das Buch als Medium und die verschiedenen Formen von Verschriftlichung. Prümm, Karl, Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder, in: Bohn, Rainer / Müller, Eggo / Ruppert, Rainer (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft, Berlin 1988. Überblicksstudie zum Thema. Illich, Ivan, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalicon“, Frankfurt a. M. 1991. Materialreiche und eigenwillige Studie zum Übergang der Schriftkultur vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Schöne, Albrecht, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1993. Klassische Studie zum Verhältnis von Bild und Text im Barock. Eicher, Thomas / Bleckmann, Ulf (Hrsg.), Intermedialität. Vom Bild zum Text, Bielefeld 1994. Früher Sammelband zum Thema Intermedialität. Lyotard, Jean-François, „Idee des souveränen Films“, in: Elsaesser, Thomas / Lyotard, Jean-François / Reitz, Edgar, Der zweite Atem des Kinos, hrsg. von Andreas Rost, Frankfurt a. M. 1996, S. 19–52. Filmtheorie Lyotards, die an Batailles Souveränität und Deleuzes Theorie des Zeit-Bildes anschließt. Sebald, Winfried G., Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt a. M. 1997. Erzählerisches Werk mit zentralen fiktiven und intermedialen Anteilen.
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Helbig, Jörg (Hrsg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin 1998. Sammelband mit wichtigen Texten zum Thema. Paech, Joachim, „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen“, in: Helbig, Jörg (Hrsg.), Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, S. 14–30. Wichtige Studie zur Medientransformation. Hettche, Thomas, Animationen, Köln 1999. Experimentelle Erzähltechniken im Übergang von Wort- zum Bildmedium, auch als Sozialgeschichte der Moderne und ihrer Anfänge in Venedig; klug erzählt im Zwischenraum von Medienwissenschaft und Literatur. Belting, Hans, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2000. Materialreiche Erläuterung der These vom Ende der Kunstgeschichte: Verkennung des Bildcharakters durch die Religion und durch die anschließende ästhetische Betrachtung. Hockney, David, Geheimes Wissen. Verlorene Techniken der Alten Meister, München 2001. Der Maler versucht zu zeigen, dass die Renaissancemaler bereits frühzeitig Spiegel- und Linsensysteme verwendeten. Bock, Wolfgang, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen, Bielefeld 2002. Kritische Mediengeschichte als emblematisches Verhältnis von Bild, Text und Rahmung; erster Teil: Von der Bilderschrift zur Photographie. Rajewsky, Irina O., Intermedialität, Tübingen 2002. Systemtheoretische Bestimmung des Begriffs. Zielinski, Siegfried, Archäologie der Medien, Reinbek 2002. Elemente einer Medien-An-Archäologie, die die jeweils vergessenen bildkonstituierenden Momente in den Blick zu nehmen versucht. Bredekamp, Horst / Krämer, Sibylle (Hrsg.), Bild – Schrift – Zahl (Kulturtechnik), München 2003. Sammelband zu Übergängen zwischen den Medien aus kunsthistorischer Sicht.
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Rajewsky, Irina O., Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne: von den giovani scrittori der 80er zum pulp der 90er Jahre, Tübingen 2003. Darstellung verschiedener zeitgenössischer Schreib- und Sehformen in Italien. Rajewsky, Irina O., „Intermedialität ‚light‘? Intermediale Bezüge und die ‚bloße‘ Thematisierung des Altermedialen“, in: Lüdeke, Roger / Greber, Erika (Hrsg.), Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen 2004. Überblick und Literaturzusammenstellung. Siebert, Jan, Flexible Figuren, Bielefeld 2005. Systematische Bestimmung des Begriffs. Bock, Wolfgang, Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II, Bielefeld 2006. Film als ästhetische Form im Übergang von der analogen zur digitalen Technik. Kluge, Alexander, Tür an Tür mit einem anderen Leben, Frankfurt a. M. 2006. Erzählende Literatur mit engem Bildbezug. Cheon, Hyun Soon, Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Zur Korrespondenz von Früher Neuzeit und Moderne, Würzburg 2007. Vergleich von bildlichem und textbezogenem Denken, Film und Emblematik. Koyré, Alexandre, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 2007. Studien zum modernen Weltbild und seinen projektiven Voraussetzungen. Paech, Joachim / Schröter, Jens (Hrsg.), Intermedialität – Analog / Digital. Theorien, Methoden, Ansätze, München 2007. Mit 800 Seiten umfangreiches Sammelwerk zum Thema. Bohn, Ralf / Wilharm, Heiner (Hrsg.), Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenographie. Bielefeld 2009. Aktueller Sammelband zu den Möglichkeiten der Szenographie.
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Intertextualitätsforschung von U WE L INDEMANN
1. Definition Im Rahmen der Literaturwissenschaft befasst sich die Intertextualitätsforschung mit textuellen Bezügen, die in Form von Zitaten, Anspielungen, Reminiszenzen, Parodien usw. über den literarischen Einzeltext hinausgehen. Je nachdem, wie weit der Begriff ‚Intertextualität‘ gefasst wird, kann sich die Analyse der textuellen Bezüge entweder nur auf literarische Texte im engeren Sinne beschränken oder aber alle zeichenhaften Bezüge eines Textes zu anderen kulturellen Zeichensystemen einschließen. Der Begriff ‚Intertextualität‘ selbst bezeichnet die Beziehung der Texte bzw. Kodes untereinander.
2. Beschreibung Kaum ein anderer Begriff hat in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten ähnlich Karriere gemacht wie der Begriff ‚Intertextualität‘. Literaturwissenschaftliche Studien, die ihn im Titel führen, sind nicht mehr zu zählen. Auch konnten Phänomene, die sich als Intertextualität beschreiben lassen, für alle Phasen der Literatur seit ihrer Frühzeit aufgezeigt werden. Mehr noch: Ausgehend von einem Grundpostulat der Intertextualitätstheorie, dass sich alle Texte über ihre verschiedenen Bezüge untereinander letztlich als ein umfassender ‚texte général‘ beschreiben lassen, kann gesagt werden, dass Intertextualität zu den zentralen strukturellen Bedingungen für die Produktion und Rezeption von Literatur gezählt werden muss. Dass der Begriff ‚Intertextualität‘ und die an ihn geknüpften methodischen und theoretischen Überlegungen derart Karriere machen konnten, liegt nicht zuletzt an der Polyvalenz des Begriffes selbst. Seit seiner ersten Formulierung Ende der 1960er-Jahre hat er nicht nur vielfältige theoretische Modellierungen erhalten, sondern auch in der konkreten
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analytischen Arbeit an Texten viele Modifikationen erfahren. Dies liegt zum einen an den disziplinären Kontexten, in denen intertextuelle Analysen betrieben werden, etwa in der Rhetorik, in den philologischen Einzeldisziplinen, in der Religionswissenschaft, im Rahmen feministischer Studien oder postkolonialer Forschungen.1 Zum anderen hängt es mit einem jeweils unterschiedlich gefassten Textbegriff zusammen, der den einzelnen theoretischen Modellen zugrunde liegt.2 Generell lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden. Auf der einen Seite wird ein Textbegriff vorausgesetzt, der im Sinne eines kultursemiotisch erweiterten Textverständnisses den Einzeltext als Geflecht von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kodes auffasst, in dem die Bezüge zu anderen literarischen und nicht-literarischen Texten nur ein Aspekt unter vielen sind (Kristeva, Barthes u. a.). Im Rahmen dieses Textbegriffes werden auch Geschichte und Gesellschaft zu Phänomenen, die gelesen werden müssen. Dieser Textbegriff wird von der Sprache abgelöst: Text ist nicht nur die Aktualisierung eines Zeichensystems, sondern das Zeichensystem selbst, d. h. jede Praxis, die Sinn produziert.3 In anderen Modellen wird dagegen ein Textbegriff favorisiert, der den Text gerade nicht als semiotisch überkodierten Kreuzpunkt verschiedener Texte und Kodes auffasst, sondern den Einzeltext als strukturelle Einheit (‚Werk‘) versteht, deren einzelne Elemente sich in sorgsamer Lektüre entziffern und zuordnen lassen (Genette, Riffaterre, Broich, Pfister u. a.). Während der erste Textbegriff im Sinne poststrukturalistischer Analyseverfahren eine Entgrenzung, Dezentrierung und Pluralisierung der Sinndimensionen von Texten anvisiert, versucht der zweite, diese Entgrenzung, Dezentrierung und Pluralisierung einzudämmen, wenn nicht zu beherrschen. Beide Textbegriffe sind in verschiedener Hinsicht unbefriedigend. Der kultursemiotisch erweiterte Textbegriff führt zu einem Intertextualitätskonzept, in dem die Komplexität der sich in einem Text überschneidenden, teilweise widerstreitenden Kodes und Intertexte zu einer unüberschaubaren, teilweise inkommensurablen Vielfalt an Deutungs1
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Einen Überblick zur Rezeption der Intertextualitätstheorie in neueren Forschungskontexten bietet Allen, Graham, Intertextuality, London, New York 2000, S. 133 f. Zu den verschiedenen Textbegriffen vgl. Weimann, Robert, „Textual Identity and Relationship. A Metacritical Excursion into History“, in: Mario J. Valdès / Owen Miller (Hrsg.), Identity of the Literary Text, Toronto 1985, S. 274–293. Vgl. Brütting, Richard, ‚écriture‘ und ‚texte‘, Die französische Literaturtheorie ‚nach dem Strukturalismus‘, Bonn 1976, S. 120.
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möglichkeiten führt. Dem gegenüber versucht die zweite Richtung der Intertextualitätstheorie, die zentralen Kodes und Intertexte eines Textes nicht allein zu identifizieren, sondern auch zu ihrer interpretatorischen Ausdeutung zu gelangen. Was im Rahmen eines auf einem kultursemiotisch erweiterten Textbegriff beruhenden Intertextualitätskonzeptes in letzter Konsequenz zur Unmöglichkeit der Interpretation eines Textes führt, wird von der zweiten Richtung der Intertextualitätstheorie auf eine textanalytische Praktikabilität hin operationalisiert, wobei die jeweiligen intertextuellen Bezüge auf den Status ihrer Präsenz im Text (vom markierten Zitat bis zur versteckten Anspielung) qualitativ erfasst werden. Problematisch wird dieser zweite analytische Zugriff auf Texte in dem Moment, wo die Intertexte selbst in ihrer textuellen Präsenz entweder nur schwach ausgeprägt oder aber die Intertexte nicht mehr aktualisierbar sind, weil sie aus dem kulturellen Wissen verschwunden sind. Dies führt zu zwei grundlegenden Fragen, welche die Intertextualitätstheorie bis heute nicht hinreichend beantwortet hat. Erstens: Wo sind die Grenzen, an denen die Präsenz eines Intertextes in einem Text tatsächlich manifest wird, d. h. seine strukturelle Latenz in interpretatorische Valenz umschlägt? Und zweitens: Wie weit muss der intertextuelle Horizont eines Textes in Bezug zum ‚texte général‘ gefasst werden? Letzteres betrifft insbesondere das Problemfeld, inwiefern Intertextualität selbst eine historische Dimension besitzt bzw. diese historische Dimension in den einzelnen Texten, die analysiert werden, sichtbar wird. Kann etwa ein Text, der im Zeichen einer poetologischen Programmatik von ‚imitatio‘ und ‚aemulatio‘ oder im Rahmen rhetorischer Verfahren zur Textproduktion verfasst wurde, mit demselben Intertextualitätsbegriff analysiert werden wie ein moderner Text?4 Öffnet also die intertextuelle Analyse einen Text zur Geschichte hin oder lediglich zur Textualität bzw. Intertextualität anderer Texte? Im Zusammenhang mit diesen Fragen wurden zwei weitere Aspekte kontrovers diskutiert: Welche Rolle spielt der Autor bzw. Autorschaft im Rahmen von Intertextualität? Und welche Funktion bzw. Aufgabe kann dem Leser im Verhältnis zum Text und seinen Intertexten zugesprochen werden? Beide Aspekte betreffen grundsätzliche Parameter der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Intertextualität. Während Intertextualitätsmodelle mit einem kultursemiotisch erweiterten Textbegriff die Einheit des Werkes und damit die Einheit des schreibenden Subjekts 4
Zu dieser Problematik vgl. Mai, Hans-Peter, „Bypassing Intertextuality“, in: Heinrich Plett (Hrsg.), Intertextuality, Berlin, New York 1991, hier S. 32 f.
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radikal in Frage stellen, nehmen strukturalistisch orientierte Intertextualitätsmodelle eine zumindest partiell bestehende Einheit des Werkes an. Damit wird zugleich die Rolle des Lesers anders gefasst. So hat Roland Barthes als paradigmatischer Vertreter der ersten Richtung der Intertextualitätstheorie gänzlich bestritten, dass man in einem Text noch die Instanz des Autors, geschweige denn die Einheit eines Werkes ausmachen könne: „Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen. Es gibt aber einen Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft und dieser Ort ist nicht der Autor […], sondern der Leser“.5 Lesen wird im Rahmen der kultursemiotisch erweiterten Intertextualitätstheorie als aktiver, bisweilen aggressiver Prozess der Aneignung verstanden, der damit zwangsläufig selbst zur Dezentrierung bzw. Pluralisierung der Sinndimensionen eines Textes und seiner Intertexte beiträgt. Dem gegenüber steht in strukturalistisch orientierten Intertextualitätsmodellen das Werk im Mittelpunkt, das über seine intertextuellen Bezüge einen Zugewinn an Bedeutung und/oder Struktur gewinnt. Hierfür ist es nötig (und zwar paradoxerweise im Widerspruch zum zugrundeliegenden strukturalen Textbegriff), weiterhin eine Intentionalität des realen Autors anzunehmen, der die intertextuellen Bezüge auf primärer Ebene organisiert, damit sie an die Oberfläche des Textes gelangen können und damit für einen Leser rezipierbar werden. Der Leser wird hier als eine Art Detektiv verstanden, der die intertextuellen Spuren in einem Text aufzuspüren und zu deuten versucht, um letztlich in einen hermeneutischen Verstehensprozess eintreten zu können.
3. Institutionsgeschichtliches Die Intertextualitätstheorie entsteht Ende der 1960er-Jahre in Frankreich in einem Klima, das von einer umfassenden Neuorientierung gekennzeichnet ist. Zunächst hatte der Strukturalismus Anfang bis Mitte der 1960er-Jahre im Anschluss an die Saussure’sche Linguistik und den russischen Formalismus zahlreiche etablierte Positionen in Philosophie, Poli5
Barthes, Roland, „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193, hier S. 190 f.
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tikwissenschaft und psychoanalytischer Theorie in Frage gestellt. Wenig später wurde der Strukturalismus selbst zur Zielscheibe der Kritik, indem einige seiner Grundannahmen in Zweifel gezogen wurden. Eine maßgebliche Rolle im Rahmen der Kritik am Strukturalismus spielte die Tel-QuelGruppe, die sich zur Aufgabe gestellt hatte, die Relationen zwischen Literatur und politischer sowie philosophischer Theorie zu untersuchen. Obwohl es nicht möglich ist, Theoretiker wie Jacques Derrida, Roland Barthes, Jean Ricardou, Philippe Sollers oder Michel Foucault auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, leiteten sie im Rahmen der Tel-QuelGruppe jenen Theorieumschwung ein, der unter dem Etikett Poststrukturalismus in die moderne Theoriegeschichte eingehen sollte.6 Auch die bulgarische Immigrantin Julia Kristeva (*1941) gehörte der Gruppe an. Als 26-Jährige prägte sie in ihrem Aufsatz Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman (1967) den Begriff ‚Intertextualität‘ und lieferte damit einen der folgenreichsten Neuansätze, den die jüngere Theoriegeschichte kennt. Dem Aufsatz vorausgegangen waren mehrere Artikel Kristevas, in denen sie sich darum bemüht hatte, die Sprach- und Literaturtheorie des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin, der im Westen zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt war, einem französischsprachigen Wissenschaftspublikum zugänglich zu machen.7 Gemeinsam mit Volosinov hatte Bachtin schon in den 1920er-Jahren aus einer Kritik am Saussure’schen Sprachmodell heraus versucht, das Verhältnis von Sprache und den sozialen bzw. gesellschaftlichen Kontexten neu zu beschreiben. Während Saussure Sprache als zeitenthobenes System auffasste, ging es Bachtin/Volosinov darum, auch die historischen Bedingungen der Sprachverwendung zu berücksichtigen. Sie waren der Auffassung, dass Sprache je nach sozialem Kontext, in dem sie verwendet wird, eine bestimmte Wertung besitzt, dass es also keine Äußerung gibt, die neutral sein kann. Bachtin/Volosinov entwickelten daraus die Idee, dass sich an der Sprachverwendung nicht nur der historische Wandel von sozialen Werten ablesen ließe, sondern dass man stets die sozialen bzw. gesellschaftlichen Kontexte kennen müsse, um eine einzelne sprachliche Äußerung adäquat verstehen zu können. Jede Äußerung ist damit ‚dialogisch‘ auf andere Äußerungen bezogen. 6
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Zu den externen und internen Auseinandersetzungen der Tel-Quel-Gruppe und insbesondere zu deren kulturrevolutionärem Selbstverständnis vgl. Brütting, ‚écriture‘ und ‚texte‘, hier S. 115 ff. Ein Teil der frühen Aufsätze findet sich abgedruckt in: Kristeva, Julia, Sèméiôtikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969.
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Diese Grundüberlegungen bezog Bachtin später auf die Literatur.8 Einerseits entwickelte er daraus den Gedanken der ‚Polyphonie‘ von literarischen Texten, insbesondere des Romans. Zum anderen versuchte er die ideologischen Kämpfe beschreiben, die sich über die dialogische Struktur von Sprache im Rahmen der Literatur abspielen, und zwar als synchrone Beziehung zwischen fremder und eigener Rede in literarischen Texten.9 Darüber hinaus waren zwei weitere Konzepte Bachtins für die Entwicklung der Intertextualitätstheorie von größter Bedeutung: zum einen das Konzept der monologischen und dialogischen Sprachverwendung in Literatur, zum anderen das Konzept des ‚zweistimmigen Wortes‘, dem die Dialogizität der Sprache selbst inhärent ist.10 Kristeva knüpft mit ihrem Artikel unmittelbar an Bachtins Überlegungen an, nicht nur was inhaltliche Aspekte angeht, nämlich Sprache bzw. Literatur und Gesellschaft als Einheit zu denken, sondern auch im Hinblick auf die Frontstellung, welche die Tel-Quel-Gruppe zum Strukturalismus einnahm.11 Einerseits leitet sie in theoretischer Hinsicht vom dialogischen Wort Bachtins zum dialogischen Text über und überträgt dessen synchron gedachtes Dialogizitätsmodell in diachroner Hinsicht auf den textuellen Status von Literatur, ja von Kultur im Ganzen: „[J]eder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen“.12 Zum anderen weist Kristeva dezidiert den Textbegriff der Strukturalisten zurück: Strukturen und Texte werden von ihr nicht als feste Entitäten gedacht, sondern prozessual. Auf diese Weise stellt sie sich nicht 8
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Vgl. Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971; ders., Rabelais und seine Welt, Frankfurt a. M. 1988; ders., Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Grübel, Rainer, „Die Geburt des Textes aus dem Tod der Texte“, in: Wolf Schmid / Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983, S. 205–271. Vgl. Pfister, Manfred, „Konzepte der Intertextualität“, in: Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hrsg.), Intertextualität. Formen. Funktionen. Anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1–30, hier S. 5. Zum Verhältnis Bachtin/Kristeva vgl. auch Pechey, Graham, „Bakhtin, Marxism, and Post-Structuralism“, in: The Politics of Theory. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, July 1982, Colchester 1982, S. 234–247. Kristeva, Julia, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a. M. 1972, S. 348.
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zuletzt gegen den wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch, den die Strukturalisten für sich propagierten. Kristevas Ansatz wird von einem kulturrevolutionären Pathos grundiert. Es geht ihr nicht allein um eine Reformulierung Bachtin’scher Ideen und Konzepte, sondern auch um eine Subversion der damals dominierenden gesellschaftlichen Kräfte. Im Zentrum der Analysen steht neben der Kritik am Strukturalismus zugleich die Dekonstruktion eines bürgerlichen Subjektbegriffs, der bei ihr ins Spiel der Texte bzw. Intertexte eingespeist wird. Es war sicherlich auch diese provokative Geste, die mit verantwortlich dafür war, dass Kristevas in hohem Maße anspielungsreicher, bisweilen schwer lesbarer13 Text jene Geltung gewinnen konnte, den er noch heute im Rahmen der Intertextualitätstheorie besitzt.14 Neben Kristeva ist es vor allem Roland Barthes (1915–1980), der Ende der 1960er-Jahre für die wissenschaftspolitische und institutionelle Durchsetzung des Intertextualitätskonzeptes in Frankreich und im gesamten europäischen und angloamerikanischen Raum sorgt. Barthes schließt mit seinen Überlegungen eng an Kristeva an, spitzt ihre Ausführungen aber in vielerlei Hinsicht zu. Bei Barthes, der schon Ende der 1950er-Jahre internationale Berühmtheit erlangte und bei dem Kristeva zunächst studiert hatte, lässt sich paradigmatisch die Wende vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus nachvollziehen. Als Strukturalist Ende der 1950er-Jahre noch ganz auf die Analyse von semiotischen Kodes in kulturellen Zeichensystemen konzentriert,15 verändert er seine Analysemethodik gegen Ende der 1960er-Jahre vom Fokus auf die Textproduktionsebene hin zu einer den ‚Text‘ erst in der Lektüre produzierenden Rezeption. Laut Barthes kann ein Text nicht auf einen oder einige wenige Sinngehalte reduziert werden, da er im Rahmen einer schier unendlichen Zahl von intertextuellen Verflechtungen mit anderen 13
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Neben Bachtin hatten auch andere Denker bedeutenden Einfluss auf Kristevas frühe theoretische Versuche: Husserl/Derrida (in philosophischer Hinsicht), Marx/Althusser (in politischer Hinsicht), Freud/Lacan (in psychologischer bzw. psychoanalytischer Hinsicht) und Chomsky (in linguistischer Hinsicht). Vgl. Mai, „Bypassing Intertextuality“. Eine detailliertere Diskussion dieser Einflüsse findet sich bei Allen, Intertextuality, S. 35 ff. Schon Mitte der 1970er-Jahre sieht Kristeva den Begriff ‚Intertextualität‘ zu sehr auf die Textarbeit eingeschränkt. Daher wird sie ihn in La révolution du langage poétique (1974) aufgeben und durch den psychoanalytisch grundierten Begriff der „Transposition“ ersetzen. Vgl. etwa Barthes, Roland, Mythologies, Paris 1957.
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Texten, Kodes und Zeichen steht. Dies hat nicht nur eine enorme Aufwertung des Lesers bzw. Rezeptionsprozesses zur Folge, sondern der Autor büßt auch seine zentrale Stellung in Bezug auf die Welt der Texte ein. Das Schlagwort, das Barthes in diesem Zusammenhang prägt, ist die später vielfach missverstandene Formel vom ‚Tod des Autors‘. Dabei bestreitet Barthes keineswegs die reale Existenz von Autoren, sondern es geht ihm – ähnlich wie Michel Foucault in Qu’est-ce qu’un auteur? (1969) – darum, den Autor im Hinblick auf seinen funktionalen Status in Texten zu beschreiben. Dem entsprechend verändert sich die Lektüre von Texten: „Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text ‚entziffern‘ zu wollen. Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten. […] Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen.“16 Die Sinnkonstitution in Texten kann also niemals still gestellt oder auf bestimmte strukturelle Merkmale reduziert werden. In diesem Sinne ist laut Barthes jeder Text unendlich und bedarf letztlich auch einer unendlichen Lektüre. Nach den frühen Modellierungen der Intertextualitätstheorie durch Kristeva und Barthes wird versucht, deren grundlegende Postulate auch in anderen theoretischen und methodischen Zusammenhängen fruchtbar zu machen. Dass dies gelingen konnte, hängt einerseits damit zusammen, dass bestimmte Fragen und Problemstellungen, welche die frühe Intertextualitätstheorie bezüglich des Verhältnisses von Autor, Text und Leser aufgeworfen hatte, nicht mehr von der Hand zu weisen waren. Zum anderen liegt es daran, dass der Strukturalismus selbst in einer Krise war, da ihm sein ahistorischer Formalismus zunehmend zum Vorwurf gemacht wurde. Gerade die Intertextualitätstheorie schien die Möglichkeit zu bieten, die strukturale Methodik, auch und gerade in literaturhistorischer Perspektive, zu dynamisieren. Dies hatte allerdings zur Folge, dass bestimmte Postulate der frühen Intertextualitätstheorie modifiziert werden mussten. Insbesondere musste der kultursemiotisch erweiterte Textbegriff eingeschränkt werden, da er zentralen Prämissen einer strukturalen Textanalytik widersprach.
16
Barthes, „Der Tod des Autors“, hier S. S. 191. Andere wichtige Publikationen zur Intertextualitätstheorie von Barthes sind: „De l’œuvre au texte“, in: Revue d’Ésthétique, 24/1971, S. 225–232; „Texte (Théorie du)“, in: Encyclopaedia Universalis, Bd. 15, Paris 1973, S. 31–47.
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Besonders wirkungsträchtig werden in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Gérard Genette (*1930), die maßgeblich dazu beigetragen haben, die Intertextualitätstheorie unter strukturalen Vorzeichen international zu popularisieren. Genette, einer der führenden Köpfe der ‚nouvelle critique‘, kommt das Verdienst zu, in mehreren Publikationen systematisch die verschiedenen intertextuellen Bezugnahmen von Texten aufgearbeitet und auf der Basis eines neuen Ansatzes zur formalen Textanalyse ein umfassendes Konzept zur Intertextualität vorgelegt zu haben. Dabei überführt Genette verschiedene strukturalistische Ansätze zur Poetik in eine kohärente Theorie der Inter- bzw., wie er es selbst nennt, ‚Transtextualität‘. Vor allem in Palimpsestes. La Littérature au second degré (1982) versucht Genette, das Intertextualitätskonzept den Postulaten einer strukturalen Poetik anzupassen und zugleich eine taxonomisch orientierte Systematisierung des Forschungsfeldes zu liefern. Genette unterscheidet fünf Typen ‚transtextueller‘ Beziehungen: 1. die ‚Intertextualität‘, die er in deutlicher Abgrenzung zu Kristeva als „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen“17 in Form von Zitaten, Plagiaten oder Allusionen bezeichnet; 2. die ‚Paratextualität‘, mit der Genette alles bezeichnet, was einen Text in funktionaler Weise ‚einrahmt‘: Titel, Untertitel, Vorworte, Nachworte, Fußnoten usw.; 3. die ‚Metatextualität‘, die laut Genette alle Texte umfasst, die wesentlich kritischer Natur sind, vor allem im Hinblick auf das Gebiet der Literaturkritik; 4. die ‚Architextualität‘, die eng mit der Paratextualität korreliert ist und alles einschließt, was der generischen Beschreibung von Texten dient; 5. die ‚Hypertextualität‘, mit der Genette eine Weise der Überlagerung von Texten bezeichnet, „die nicht die des Kommentars ist“,18 sondern das Verhältnis von früheren zu späteren Texten als transformativen oder imitativen Bezug beschreibt. Den Formen und Funktionen der Hypertextualität ist ein Großteil von Palimpsestes gewidmet. Genette führt die Hypertextualität in all ihren Verzweigungen vor und hebt ihre literaturgeschichtliche Bedeutung hinsichtlich der Produktion und Tradierung von Literatur hervor. So kann er, zumindest in Ansätzen, zeigen, wie eine strukturale Poetik auch historisch agieren könnte. Im Spannungsfeld von Strukturalismus und Poststrukturalismus stehen auch zwei weitere Theoretiker, deren Arbeiten im Zusammenhang mit der fachlichen und institutionellen Durchsetzung der Intertextuali17 18
Genette, Gérard, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, S. 10. Genette, Palimpseste, S. 15.
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tätstheorie erhebliche Bedeutung haben: zum einen der Amerikaner Harold Bloom (*1930), der in den 1970er-Jahren mit der dekonstruktivistischen Theorie der Yale-School in Verbindung stand,19 und zum anderen der nach Amerika ausgewanderte Franzose Michael Riffaterre (1924–2006), dessen Werk wie das von Genette aus einer Kritik der frühen strukturalistischen Theorie wesentliche Impulse bezieht. 1973 veröffentlichte Bloom mit The Anxiety of Influence ein Buch,20 in dem er auf produktionsästhetischer Ebene das Verhältnis von Texten über ihre Einflusslinien zu erläutern versucht. Auf Basis eines psychoanalytisch inspirierten Konzeptes, das Bloom mit rezeptionsästhetischen Überlegungen verbindet, wird ‚Einflussforschung‘ nicht als Quellenrecherche oder Filiationsforschung aufgefasst, sondern im Sinne der Rekonstruktion eines agonalen Verhältnisses zwischen früheren und späteren Dichtern, die systematisch ‚Fehllektüren‘ ihrer Vorgänger vornehmen. Die Beziehung der Texte untereinander wird als Vater-SohnVerhältnis charakterisiert, d. h. die nachgeborenen Dichter bewältigen mit Hilfe verschiedener Verfahren (Ergänzung, Korrektur, Sublimierung, Dämonisierung usw.)21 die schriftstellerischen Leistungen ihrer Vorgänger, um selbst zu ‚starken‘ Dichtern werden zu können. Grundiert werden Blooms Ausführungen von einer literaturgeschichtlichen These: Einflussangst werde verstärkt erst in der Literatur der Romantik sichtbar und sei begründet im zeitgleichen Entstehen moderner Autorschaftskonzeptionen. Dadurch würden Schriftsteller zu permanenter Originalität gezwungen. Während die meisten anderen Intertextualitätstheorien ihren Hauptakzent auf die Texte bzw. den Leser lenken, versucht Bloom die psychologischen Mechanismen sichtbar zu machen, die Autoren veranlasst haben, sich mit ihren Texten in den Kosmos der früheren Literatur einzuschreiben bzw. – genauer – herauszuschreiben. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer „negierten Intertextualität“22 sprechen. In Map of Misreading (1975) spitzt Bloom in Reak19
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Allgemein zu den theoretischen Verbindungen zwischen Intertextualitätstheorie und Dekonstruktion v. a. im angloamerikanischen Raum vgl. Leitch, Vincent B., Deconstructive Criticism. An Advanced Introduction, New York 1983. Blooms Buch wird im Rahmen der Diskussionen um Intertextualitätsphänomene immer wieder selbstverständlich genannt, obwohl der Begriff selbst an keiner Stelle fällt! Bloom schafft hierfür eine eigene Terminologie, vgl. Bloom, Harold, Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung, Basel, Frankfurt a. M. 1995, S. 16–18. Vgl. den Beitrag von Lerner, Laurence, „Romantik, Realismus und negierte Intertextualität“, in: Pfister / Broich (Hrsg.), Intertextualität, S 278–296.
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tion auf die teilweise massive Kritik an The Anxiety of Influence seine Thesen nochmals zu und erläutert sie in weitläufigen Textanalysen zu ‚starken‘ Dichtern und deren Nachfolgern, ohne dass grundlegende methodische und theoretische Probleme aus dem ersten Buch gelöst würden. Riffaterres Beitrag zur Intertextualitätstheorie besteht in einer deutlichen Aufwertung des Lesers. Im Gegensatz zu den Intertextualitätskonzepten Kristevas und Barthes postuliert Riffaterre im Rahmen seiner Stiltheorie allerdings eine Art ‚Über-Leser‘, dem es dank seiner umfassenden literaturwissenschaftlichen Kompetenz möglich ist, die impliziten Bedeutungsmuster eines Textes objektiv zu entschlüsseln. Dabei geht er von einem Textbegriff aus, der Texte vor allem in ihrer amimetischen Dimension zu erfassen sucht: Texte sind laut Riffaterre nicht auf eine außertextliche Realität referenzialisiert, sondern im Hinblick auf andere Texte und semiotische Kodes. In Semiotics of Poetry (1978) entwickelt Riffaterre das Konzept einer ‚Matrix‘, die jedem Text als inhärentes Bedeutungsmuster eingeschrieben sei und durch die Analyse intertextueller Referenzen, Klischees, grammatikalischer, stilistischer oder rhetorischer Auffälligkeiten im Prozess der Lektüre auf eindeutige Weise entzifferbar wäre. Diese ‚Matrix‘ kann im Extremfall nur aus einem Wort oder einem kurzen Satz bestehen. Was bei Barthes und Kristeva in einer Multiplikation von Bedeutungs- und Sinnstrukturen eines Textes einmündet, versucht Riffaterre in einer Art hermeutischem Verstehensprozess wiederum auf eine feststehende Bedeutung zu reduzieren. Er versucht damit gerade das auszuschließen, was sein im Grunde kultursemiotischer Textbegriff postuliert, nämlich eine Ambiguität und Polyvalenz von Texten in ihren intertextuellen Bezugnahmen.23
4. Publikationen (im Hinblick auf die deutschsprachige Rezeption) Ende der 1970er-Jahre ist die Konstitutionsphase der Intertextualitätstheorie abgeschlossen. Wesentliche Positionen sind formuliert und in die wissenschaftliche Diskussion eingetreten, zunächst im frankophonen 23
Kritisch zu Riffaterre schon früh: Grivel, Charles, „Serien textueller Perzeption“, in: Schmid / Stempel (Hrsg.), Dialog der Texte, hier S. 57 ff., bes. S. 62; Stempel, Wolf-Dieter, „Intertextualität und Rezeption“, in: Schmid / Stempel (Hrsg.), Dialog der Texte, hier S. 88 ff. Eine andere wichtige Publikation Riffaterres zur Intertextualitätstheorie ist La production du texte, Paris 1979.
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und im angloamerikanischen Raum,24 ab den frühen 1980er-Jahren auch in Deutschland. Wichtige Impulse für die Vermittlung der Überlegungen Kristevas in den deutschsprachigen Raum gehen von der Konstanzer Slawistin Renate Lachmann aus. Vor allem der von ihr herausgegebene Sammelband Dialogizität (1982), der aus einem 1980 an der Universität Konstanz abgehaltenen, interdisziplinären Symposium hervorgeht, wird zu einem Markstein auf dem Weg zu einer breiteren deutschen Rezeption der Intertextualitätstheorie. Beiträger zu dem Band sind neben Lachmann u. a. Hans Robert Jauß, Wolfgang Preisendanz, Zoran Konstantinovi´c, Jean Starobinski und Charles Grivel. Diskutiert wird neben Bachtins Dialogizitätskonzept ausführlich auch Kristevas Intertextualitätsansatz. Trotz kritischer Anmerkungen zu Kristeva25 werden zugleich aber die methodischen Perspektiven angedeutet, die ihre Ideen fortführen können. Ein weiterer wichtiger Impuls für die deutschsprachige Rezeption der Intertextualitätstheorie geht von einem 1982 an der Universität Hamburg veranstalteten interdisziplinären Kolloquium aus, dessen Beiträge 1983 in einem Sammelband mit dem wiederum auf Bachtin anspielenden Titel Dialog der Texte veröffentlicht werden. Als Herausgeber fungieren der Slawist Wolf Schmid und der Romanist Wolf-Dieter Stempel. Die Kritik an Kristeva wird hier noch deutlicher formuliert, und es zeichnet sich eine Tendenz ab, die viele deutschsprachige Publikationen der nächsten Jahre prägen wird: Gegenüber der poststrukturalistisch akzentuierten Intertextualitätstheorie favorisiert die deutsche Rezeption ein Intertextualitätskonzept, das stark von hermeneutischen bzw. posthermeneutischen Methodenansätzen geprägt ist.26 Auch in Das Gespräch (1984), dem elften Band der renommierten Reihe Poetik und Hermeneutik wird Intertextualität zum Thema. Erneut meldet sich Renate Lachmann zu Wort, die darum bemüht ist, die „Ebenen des 24
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Vgl. das dem Thema Intertextualität gewidmete Sonderheft der von G. Genette und T. Todorov herausgegebenen Zeitschrift Poétique, 27/1976 sowie den von J. Praisier-Plottel und H. Charney herausgegebenen Band Intertextuality. New Perspectives in Criticism des New York Literary Forum, 2/1978. Etwas später, wiederum wichtige Theoretiker der frühen Intertextualitätstheorie versammelnd: Texte. Revue de critique et de théorie littéraire, 2/1983. Vgl. Preisendanz, Wolfgang, „Zum Beitrag von R. Lachmann ‚Dialogizität und poetische Sprache‘“, in: Lachmann, Renate (Hrsg.), Dialogizität, München 1982, S. 28. Beispielhaft hierfür ist der Beitrag von Karlheinz Stierle „Werk und Intertextualität“ im gleichen Band.
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Intertextualitätsbegriffs“ zu klären. Obwohl der Begriff „vorerst nicht disziplinierbar“ und „seine Polyvalenz irreduzibel“27 erscheint, versucht sie in einer Zusammenschau der verschiedenen theoretischen Ansätze sowohl die texttheoretischen, textdeskriptiven als auch die literatur- bzw. kulturkritischen Implikationen der Intertextualitätstheorie zu systematisieren. Lachmann erweist sich auch hier als Theoretikerin, welche die poststrukturalistischen Implikationen der Intertextualitätstheorie ernstnimmt und sich ausdrücklich gegen eine ‚Reakademisierung‘ des Intertextualitätsbegriffes stellt.28 Aus einem 1984 an der Universität München veranstalteten Symposium geht dann der dritte bedeutende Sammelband zur Intertextualität im deutschsprachigen Raum der ersten Hälfte der 1980er-Jahre hervor: der von den Anglisten Ulrich Broich und Manfred Pfister herausgegebene Band Intertextualität. Formen, Funktion, anglistische Fallstudien (1985). Die in diesem Sammelband zusammengefassten Beiträge versuchen im Gegensatz zu den früheren Tagungsbänden das Forschungsfeld umfassend systematisch zu bestimmen.29 In profunder Kenntnis der strukturalistischen wie der poststrukturalistischen Theorieansätze bietet der Band nicht nur einen umfangreichen Überblick über den damaligen Forschungsstand, sondern es wird darüber hinaus versucht, die von Lachmann kritisch beäugte ‚Reakademisierung‘ der Intertextualitätsforschung in operationaler Hinsicht voranzutreiben. Der Band von Pfister und Broich stellt einen zentralen Beitrag zur Intertextualitätsdebatte dar. Mitte der 1980er-Jahre führt er die deutschsprachige Diskussion auf ein wissenschaftliches Niveau, das im Rahmen einer deutlich über Genette 27 28
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Lachmann, Renate, „Ebenen des Intertextualitätsbegriffs“, in: Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hrsg.), Das Gespräch, München 1984, S. 134. Dazu Lachmann, ebd., hier S. 138: „Die Entwicklung einer Metasprache der Intertextualität zeigt das Aufbegehren des Strukturalismus gegen ein die Struktur (des Einzeltextes) überschreitendes poststrukturales Denken an“. Es geht im Theorieteil des Bandes um „markierte und nicht-markierte Intertextualität“ (Broich), „Einzeltextreferenz“ und „Systemreferenz“ (Broich, Pfister und ausführlich Karrer), „Intertextualität und Gattung“ (Suerbaum), Fragen einer „intertextuellen Poetik“ (Plett) sowie „Integrationsformen der Intertextualität“ (M. Lindner). Auch werden Fragen von Intertextualität in Bezug auf Übersetzungen (v. Koppenfels), auf Gattungswechsel (Lenz), auf Medienwechsel (Zander) und hinsichtlich der feministischen Literaturwissenschaft (Ecker) thematisiert. Im letzten Beitrag des theoretischen Teils werden in dezidierter Abgrenzung zur poststrukturalistischen Intertextualitätstheorie die „Funktionen intertextueller Textkonstitution“ dargestellt (Schulte-Middelich). Vgl. die scharfe Kritik am Sammelband bei Mai, „Bypassing Intertextuality“, hier S. 45.
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hinausgehenden terminologischen Spezifizierung eine strukturanalytisch gerechtfertigte Anwendungsperspektive skizziert. Mit Manfred Geiers Die Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität erscheint 1985 schließlich eine erste monografische Arbeit zur Intertextualität in deutscher Sprache, die allerdings nicht das theoretische Niveau der Sammelbände einholen kann, da sich die Ausführungen zur Intertextualitätstheorie fast ausschließlich auf das erste Kapitel beschränken und der Begriff selbst in den folgenden Analysen zu Celan/Hölderlin, Schreber, Hamann und Müntzer kaum mehr eine Rolle spielt. Mit Geiers Buch zeigt sich eine zweite Tendenz der Intertextualitätsforschung Mitte der 1980er-Jahre, die sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird: Die theoretische Reflexion der Intertextualitätstheorie tritt zurück hinter konkrete Analysearbeit an Texten. Dies ist ebenfalls in Ingeborg Hoestereys 1988 publizierter Monografie Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne der Fall, wo die Analyse von intertextuellen Bezügen im Mittelpunkt von Einzelfallstudien vornehmlich deutscher Literatur nach 1945 steht. In Hoestereys Buch wird zudem der Konnex von Intertextualität und Postmoderne profiliert,30 der Anfang der 1990er-Jahre für die Diskussionen um die Poetologie und Ästhetik der westlichen Gegenwartsliteraturen bestimmend wird. Während bis Mitte der 1970er-Jahre die poststrukturalistische Theoriebildung bei Intertextualitätskonzepten vorherrschend war und man von Mitte der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre die Intertextualitätstheorie im Rahmen strukturalistischer oder (post-)hermeneutischer Analysetechniken ‚reakademisiert‘ hat, wird sie um 1990 herum mit der Postmodernediskussion kurz geschlossen. Ein offensiver und offener Umgang mit intertextuellen Verweisen wird zum Markenzeichen postmoderner Literatur und Kunst deklariert, die sich selbst als Literatur und Kunst nach deren Ende versteht. Die Intertextualitätstheorie scheint zur Analyse dieses neuen Paradigmas nicht allein methodisch geeignet, sondern in wesentlichen Punkten auch dem postmodernen Selbstverständnis zu entsprechen. Schon die damalige Diskussion übersieht allerdings, 30
Vgl. Hoesterey, Ingeborg, Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne, Frankfurt a. M. 1988, S. 130–163, wo sich Hoesterey ausführlich dem Thema Intertextualität und Postmoderne widmet und es in unterschiedlichen disziplinären Kontexten (Amerikanistik/Anglistik vs. Germanistik) kritisch beleuchtet; vgl. auch Pfister, Manfred, „How Postmodern is Intertextuality?“, in: Plett (Hrsg.), Intertextuality, S. 207–224; Bernardelli, Andrea, „Introduction. The Concept of Intertextuality Thirty Years On: 1967–1997“, in: Versus. Quaderni di studi semiotici, 77–78/1997, S. 12–15.
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dass zentrale Aspekte der postmodernen Programmatik dem von Kristeva Ende der 1960er entworfenen Intertextualitätsmodell nicht ferner stehen könnten. Was bei Kristeva letztlich eine subversive, antibürgerliche Taktik ist, wird im Rahmen des postmodernen Selbstverständnisses zum ‚anything goes‘ einer rekombinativen Zitatkultur umdeklariert, in der eine Ästhetik des Pastiche vorherrschend ist.31 Auch wenn es Berührungspunkte zwischen Intertextualitäts- und Postmodernediskussion gibt, konnte sie in methodischer Hinsicht jedoch nichts wirklich Neues zur Intertextualitätstheorie beitragen. Mitte der 1990er-Jahre beginnt mit Nathalie Piégay-Gros’ Introduction à l’intertextualité (1996) die Zeit der resümierenden Einführungen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat sich die Intertextualität im wissenschaftlichen Diskurs etabliert: ihre ‚Reakademisierung‘ ist vollzogen. Auch die theoretische Arbeit an den vor fast dreißig Jahren formulierten Positionen ist weitgehend abgeschlossen, da die inhärenten Widersprüche der Intertextualitätstheorie offenbar nicht zu lösen sind.32 Verfeinerungen intertextueller Frage- und Problemstellungen werden noch vorgenommen (z.B. bei Holthuis, Klein / Fix, Stocker oder Böhn)33 oder es wird versucht, im Rahmen anderer theoretischer Modelle die Intertextualitätstheorie fruchtbar zu machen (etwa hinsichtlich Diskursanalyse bei Bruce und Fairclough34 oder hinsichtlich der Forschungen zum kulturellen Ge-
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Beliebte Studienobjekte für intertextuelle Analysen sind im englischsprachigen Raum etwa die Texte von John Barth, Thomas Pynchon oder Paul Auster und im westeuropäischen Kulturraum Umberto Ecos Il nome della rosa (1980).Vgl. z. B. Lauretis, Teresa de, „Das Rätsel der Lösung – Umberto Ecos Der Name der Rose als postmoderner Roman“, in: Andreas Huyssen / Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, S. 251–269. Vgl. den von Heinrich Plett herausgegebenen Sammelband Intertextuality (1991), in dem die kritischen Punkte der strukturalistischen Intertextualitätstheorie deutlich benannt werden, ohne dass die poststrukturalistische Variante als Lösungsmöglichkeit propagiert wird (siehe v.a. den Artikel von Mai, „Bypassing Intertextuality“ im Band). Vgl. Holthuis, Susanne, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993; Klein, Josef / Fix, Ulla (Hrsg.), Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen 1997; Stocker, Peter, Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn, München u. a. 1998; Böhn, Andreas, Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001. Vgl. Bruce, Donald, De l’Intertextualité à l’interdiscursivité. Histoire d’une double émergence, Toronto 1995; Fairclough, Norman, „Linguistic and intertextual Analysis within discourse analysis“, in: Adam Jaworski / Nikolas Coupland (Hrsg.), The Discourse Reader, London, New York 1999, S. 183–209.
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dächtnis bei Lachmann).35 Gänzlich neue Positionen sind aber, abgesehen vom Transfer der Theorie in andere disziplinäre Kontexte, nicht auszumachen, lediglich eine von Zeit zu Zeit zu beobachtende Besinnung auf die frühen kulturkritischen Implikationen der Theorie.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Neben Diskursanalyse und Dekonstruktion muss das Intertextualitätskonzept zu den wesentlichen Innovationen im Bereich der westlichen Literatur- und Kulturtheorie der 1970er-Jahre gerechnet werden. Es stellte nicht nur zentrale Kategorien der damaligen Literaturtheorie, etwa die Einheit des Werkes oder die Bedeutung des Autors, in Frage, sondern war auch eine der wichtigsten methodischen Herausforderungen für Hermeneutik, Strukturalismus und New Criticism. In Bezug auf die Germanistik im engeren Sinne ist jedoch zu konstatieren, dass das Intertextualitätskonzept, sei es in der poststrukturalistischen, sei es in der strukturalistischen Variante, bis heute kaum Fuß gefasst hat,36 während es in den meisten anderen philologischen Disziplinen (allen voran in Slawistik, Romanistik, Anglistik und Komparatistik) heute zum festen Bestandteil des Methodeninventars gehört. Ein zentrales Defizit der Intertextualitätstheorie besteht bis heute in dem je anders interpretierten Textbegriff. Auf der einen Seite führt er zu einer radikalen Unlesbarkeit von Texten. Auf der anderen Seite muss er in der strukturalistisch eingeschränkten Version auf Kategorien rekurrieren, welche die frühe Intertextualitätstheorie hinter sich zu lassen versuchte.37 Diese der Intertextualitätstheorie inhärente Widersprüchlichkeit scheint ebenso unvermeidbar wie unauflösbar zu sein.
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Vgl. Lachmann, Renate, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990; dies., „Intertextualität“, in: Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (Hrsg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hamburg 2001, S. 286–288; sowie die Einführung von Tiphaine Samoyault, wo der Gedächtnis-Aspekt, freilich unter einer anderen Perspektive als bei Lachmann, in den Mittelpunkt gestellt wird: Samoyault, Tiphaine, L’intertextualité. Mémoire de la littérature, Paris 2001 (bes. Teil 2 des Bandes). Vgl. die Einschätzung von Holthuis, Intertextualität, S. 22 ff. Seit 1993 hat sich bis heute im Grunde nichts verändert. Hier nähert sich die Intertextualitätstheorie nicht selten der traditionellen Stoff-, Motiv- und Toposforschung an und deren Betonung der Kategorie des Einflusses.
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6. Kommentierte Auswahlbibliographie Kristeva, Julia, „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“, in: Critique, 23/1967, S. 438–65 (dt. „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375). Siehe Ausführungen im Fließtext. Kristeva, Julia, Sèméiôtikè. Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969. Sammlung früher Artikel von K. zu Bachtin, zur Semiotik und zur Intertextualität. Barthes, Roland, „La mort de l’auteur“, in: Manteia, 5/1968, S. 12–17 (dt. „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193). Siehe Ausführungen im Fließtext. Bloom, Harold, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973 (dt. Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung, übers. v. Angelika Schweikhart, Basel, Frankfurt a. M. 1995). Siehe Ausführungen im Fließtext. Bloom, Harold, Map of Misreading, New York 1975. (dt. Eine Topographie des Fehllesens, übers. v. Isabella Mayr, Frankfurt a. M. 1997). Siehe Ausführungen im Fließtext. Genette, Gérard, Introduction à l’architexte, Paris 1979 (dt. Einführung in den Architext, übers. J.-P. Dubost / G. Febel / H.-Ch. Hobohm/ U. Pfau, Stuttgart 1990). Überblick über die Geschichte der Poetik seit Platon und Aristoteles. These: seit Platon und Aristoteles sei es zu erheblichen Konfusionen in der poetologischen Theorie gekommen, da die Theoretiker nicht ausreichend zwischen den verschiedenen Aussagetypen differenziert haben. Der gattungstheoretischen Reflexion sei daher bis heute ein fortwährendes Moment der Instabilität und Inkongruenz eingeschrieben. Riffaterre, Michael, Semiotics of Poetry, London 1980. Siehe Ausführungen im Fließtext.
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Genette, Gérard, Palimpsestes, La Littérature au second degré, Paris 1982 (dt. Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. v. Wolfram Beyer / Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993). Siehe Ausführungen im Fließtext. Lachmann, Renate (Hrsg.), Dialogizität, München 1982. Siehe Ausführungen im Fließtext. Bruce, Don, „Bibliographie annotée. Écrits sur l’intertextualité“, in: Texte, 2/1983, S. 217–255. Kommentierte und thematisch geordnete Bibliografie zur frühen Intertextualitätstheorie. Schmid, Wolf / Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.), Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983. Siehe Ausführungen im Fließtext. Broich, Ulrich / Pfister, Manfred (Hrsg.), Intertextualität. Formen. Funktionen. Anglistische Fallstudien, Tübingen 1985. Siehe Ausführungen im Fließtext. Ette, Ottmar, „Intertextualität. Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen“, in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 9/1985, S. 497–519. Bestandsaufnahme der Forschung bis Anfang der 1980er-Jahre. Genette, Gérard, Seuils, Paris 1987 (dt. Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M., New York 1992). Der in Palimpseste nur skizzierte konzeptuelle Rahmen der Paratextualität wird mit zahlreichen Beispielen illustriert und dabei eine umfassende Typologie entwickelt. G. versucht, das Einzelwerk bzw. den Einzeltext selbst in seinen Grenzen zu fassen, um damit im Sinne seines strukturalistischen Projektes jenen Bereich zu fixieren, in denen transtextuelle Phänomene überhaupt erscheinen können. Hoesterey, Ingeborg, Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne/Postmoderne, Frankfurt a. M. 1988. Siehe Ausführungen im Fließtext.
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Hebel, Udo J., Intertextuality, Allusion and Quotation. An international bibliography of critical studies, New York, London 1989. Umfassende Bibliografie zur Intertextualität in Theorie und Praxis (bis 1986), mehr als 2000 Studien werden aufgelistet. Mai, Hans-Peter, „Intertextual Theory. A Bibliography“, in: Heinrich Plett (Hrsg.), Intertextuality, Berlin, New York 1991, S. 236–250. Unkommentierte Bibliografie zur Intertextualitätstheorie bis 1990. Plett, Heinrich (Hrsg.), Intertextuality, Berlin, New York 1991. Siehe Ausführungen im Fließtext. Holthuis, Susanne, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993. Im Gegensatz zu anderen Publikationen zur strukturalistisch orientierten Intertextualitätstheorie versucht H. stärker den Rezeptionsprozess zu berücksichtigen. Auch diese Studie ist stark taxonomisch angelegt, indem sie eine „Typologie intertextueller Relationen“ anstrebt, die Genettes Differenzierungsversuche bei weitem überbietet. Zudem werden deutlich die methodischen Probleme benannt, die eine Intertextualitätstheorie mit engerem Textbegriff besitzt, ohne dass aussichtsreiche Lösungsansätze für diese Probleme angeboten werden. Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn, München u. a. 1998. Versuch einer Fortführung des Genette’schen Projektes einer taxonomisch ausgerichteten Typologisierung intertextueller Relationen; stark produktionsästhetisch orientiert. Allen, Graham, Intertextuality, London, New York 2000. Differenzierte und kritische Einführung ins Thema. Böhn, Andreas, Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualitätsforschung und Gattungstheorie, Berlin 2001. Versuch einer Nutzbarmachung des Intertextualitätskonzeptes zur historischen Gattungsanalyse.
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Kulturwissenschaften von B ETTINA G RUBER
1. Definition Die Bestimmung dessen, was kulturwissenschaftliche Germanistik ist, hängt vom jeweils implizierten Kulturbegriff ab. Dieser wird in den meisten Fällen so vage gebraucht, dass nahezu alles, was nicht mit dem Etikett ‚immanenter‘ Literaturwissenschaft versehen wird, darin Raum findet. Der klassische Kulturbegriff im Sinne der ‚Pflege von etwas‘ leistet diesen inklusorischen Tendenzen Vorschub, denn im Sinne einer Praxis ‚gepflegt werden‘ kann von der Kreuzstickerei bis zum Ritualmord so gut wie alles. Auch neuere Konzepte, wie die systemtheoretisch inspirierte Auffassung, der zufolge der Kulturbegriff selbst durch die Möglichkeit des historischen und ethnischen Vergleichs entsteht, engen das Feld nicht ein. In diesem Sinn lassen sich dann auch literatursoziologische und literaturpsychologische Versuche nicht mehr von kulturwissenschaftlichen differenzieren, sondern gehen in ihnen auf. Zudem steht der Begriff ‚Kulturwissenschaften‘ in einem engen (Konkurrenz-) Verhältnis zu dem älteren Begriff der ‚Geisteswissenschaften‘ sowie dem der ‚Humanwissenschaften‘ (‚humanities‘), wie er vorwiegend im französischen und anglo-amerikanischen Sprachraum verwendet wird.
2. Beschreibung Kulturwissenschaftliche Germanistik ist darauf ausgelegt, die Betrachtung von Literatur als ‚autonomem‘ System zu transzendieren, und ist an ihrer ‚Literarizität‘ daher überwiegend uninteressiert. In genauem Gegenzug zu ‚autonomen‘ oder ‚immanenten‘ Interpretationsmethoden rückt hier alles, was den ‚Kontext‘ des literarischen Textes ausmacht, in den Blick. Dieser wird in seiner Bestimmtheit durch das kulturelle Umfeld (und ggf. auch in Hinblick auf den Einfluss, den er seinerseits auf
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dieses Umfeld nimmt) ins Visier genommen. Diese Blickrichtung kann erweitert werden auf die spezifische kulturelle Bestimmtheit des Phänomens ‚Literatur‘ überhaupt, das in seiner ausdifferenzierten Form als an die historischen und eben ‚kulturellen‘ Bedingungen der europäischen Neuzeit geknüpft erscheint. Die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Inputs in die Germanistik lassen sich nach dem zugrunde liegenden Kulturbegriff und/ oder nach der Disziplin, von der sie jeweils ausgehen (Ethnologie, Soziologie, Gender Studies, Psychoanalyse, Kunstgeschichte usw.), unterscheiden. Das klassische Kulturverständnis leitet sich aus der Etymologie her – ‚colere‘ in den Bedeutungen von anbauen, bebauen, bearbeiten, pflegen, schmücken, putzen, hochhalten, pflegen und schließlich heilig halten, feiern. Auf den ersten Blick scheinen die beiden hauptsächlichen Bedeutungsvarianten ‚pflegen, bebauen‘ und ‚anbeten, feiern, verehren‘ ganz Verschiedenes zu implizieren, aber sie hängen durchaus zusammen: Die Anbetung, der ‚Cultus‘, ist nichts anderes als die Pflege unberechenbarer göttlicher Instanzen, die mindestens genauso sorgfältig gewartet werden wollen wie ein Acker, sollen sie irgendwelche Früchte für die Sterblichen abwerfen. Diese Bedeutung des Pflegens und Bearbeitens mit ihrem stark durativen Aspekt ist in den beiden Hauptbedeutungen, die dem Wort ‚Kultur‘ beigelegt werden, aufgehoben. Die erste Variante (A1) ist immer noch die gängigste und sie setzt ‚Kultur‘ sehr weitgehend mit ‚Kunst‘ und hier insbesondere mit sog. Höhenkammkunst gleich. Alle klassischen Kunstsparten – wozu längst der Film und seit sehr viel kürzerer Zeit auch Erzeugnisse in den Neuen Medien zählen – machen in diesem Verständnis Kultur aus, und zwar sowohl auf der Seite des Produzenten als auf der des Rezipienten. Allerdings erscheint letztere betont: Ist für den Kulturproduzenten im Allgemeinen die Bezeichnung ‚Künstler‘ reserviert, mit der wir seit der Renaissance und vermehrt seit dem 18. Jahrhundert die Qualität der Innovation verbinden, so ist der Rezipient, der eifrige Museumsgänger, Theaterbesucher und Leser, vorrangig derjenige, den man im Sinne dieser ersten Bedeutung als ‚kultiviert‘ anspricht. Für einen Künstler erscheint die Vokabel unangemessen, was darauf hinweist, dass im herkömmlichen Kulturbegriff der durative Aspekt den innovativen bei weitem überwiegt. „Kultur ist also das, was im Gebrauch steht, bräuchlich ist: das gut Gefestigte von Handlungen und Haltungen (Praxis und Hexis), die ge-
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wahrten Lebensformen, das Habituelle, die Riten – immer ist daran das Moment der Kontinuitätsherstellung entscheidend“.1 Dieser durative Aspekt ist in besonderem Maße für den wertenden Kulturbegriff charakteristisch, und es ist auch einsichtig, warum: Die Betonung des Dauerhaften impliziert bereits den Aspekt der Wertung, denn wiederholt, gepflegt, gefestigt usw. wird nur etwas, das von einem Kollektiv mit spezifischen Bildungsvoraussetzungen geschätzt und als erhaltenswert validiert wird. Der angesprochene Kulturbegriff umfasst also keineswegs alle Praxisformen einer Gesellschaft. Von bestimmten Positionen aus ist damit die Oper Kultur, das Musical aber nicht. Er eignet sich für wissenschaftliche Beschreibungen daher nur bedingt, bzw. insofern dieses Vorverständnis mitreflektiert wird. Ihn als tendenziös abzuwerten, ist trotzdem nicht angebracht: Von unvermeidlichen ideologischen Ingredienzien abgesehen, besitzt er sehr wohl ein Orientierungskriterium, das freilich nicht konsequent zur Anwendung kommt, nämlich das der Komplexität. Im Allgemeinen verfügen als Kultur im Sinne der Hochkultur anerkannte Produkte über eine gewisse Komplexität, die entweder im Produkt selbst liegt oder aber in dessen Bezug auf seinen Kontext gefunden werden kann, d. h. auf die ihm vorangegangenen Werke, den gesamten aktuellen Stand seiner Kunstsparte und ggf. eine vorausliegende kunsttheoretische oder kunstphilosophische Debatte (als Beispiel können hier die scheinbar einfachen Gedichte Eichendorffs oder volksliedhaft sich gebende Lieder Franz Schuberts dienen, deren vermeintliche Simplizität in beiden Fällen Resultat der ästhetisch hochkomplexen Präferenzen der Romantik ist. Es handelt sich hier um eine ‚sekundäre‘ Simplizität). Werke oder Techniken, die über eine solche Komplexität verfügen, werden in unserer Gesellschaft relativ mühelos in den Bestand von ‚Kultur‘ in diesem Sinne integriert und erfüllen eine wichtige Funktion in Hinblick auf Identitätsbildung und Kontinuitätserzeugung. Die zweite Variante (A 2) versteht unter ‚Kultur‘ alle, und zwar wirklich alle Praxisformen – Gebräuche, Gewohnheiten, Institutionen, Produktionsweisen, Erzeugungstechniken – welche a) die Geschichte bzw. der Mensch oder b) (und hier beißt sich die definitorische Katze in den Schwanz) eine bestimmte Kultur hervorgebracht hat. Beide Auffassungen bergen Probleme. Der ersten zufolge ist Kultur alles, was nicht Natur 1
Böhme, Hartmut, „Vom Cultus zur Kulturwissenschaft. Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs“, in: Renate Glaser / Matthias Luserke, Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 46–68, hier S. 53.
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ist – damit aber hat sich die Definitionsproblematik bloß verdoppelt, denn jetzt muss auch noch die Frage ‚Was ist Natur?‘ bearbeitet werden. Auffassung b) dagegen operiert mit einer Tautologie. Sie impliziert nämlich, dass die im Sinne von a) definierte Kultur in verschiedene Kulturen zerfällt. Damit stellt sich eine Abgrenzungsproblematik ein, denn die Rede von verschiedenen Kulturen setzt voraus, dass ich imstande bin, diese gegeneinander zu profilieren. Das ist einfach, solange es sich um Einheiten handelt, die durch räumliche Distanz und/oder durch radikale Ungleichzeitigkeit deutlich voneinander abgehoben sind. Schwierig wird die Frage nach der Abgrenzbarkeit von Kulturen gegeneinander vor allem bei solchen, die sich nahe stehen: Gibt es eine italienische und eine deutsche Kultur, oder eine germanische bzw. romanische, oder gibt es nur eine europäische? Und da die amerikanische ein historischer Ableger der europäischen Kultur ist, kann, bei allen Differenzen, von einer euroamerikanischen Kultur gesprochen werden? Diese Fragen sind unbeantwortbar, insofern ihre Beantwortung von den Differenzen abhängt, die man einführen möchte, also von dem Arbeitsinteresse, das man an einer solchen Fragestellung hat. Natürlich verfügen die amerikanische und die europäische Kultur über so viele Gemeinsamkeiten, dass man sie als einen ‚Block‘ beschreiben kann, und natürlich über eine ausreichende Zahl von Differenzen, um ihre Verschiedenheit herauszustreichen. Die beiden Bedeutungsvarianten A 2a und A 2b fordern nun jeweils Anschlussfragen heraus. Im ersten Fall drängt sich nicht nur die notorisch zum Streitpunkt prädestinierte Frage nach der Abgrenzung von Natur und Kultur auf, sondern damit auch, ob es sich um zwei methodisch gänzlich zu trennende Bereiche handelt oder ob Mechanismen der Natur im kulturellen Bereich weiterwirken. Im zweiten Fall, bei dem es um Abgrenzung von Kulturen voneinander geht, wird außer der Abgrenzungsfrage die Frage nach den Verständigungsmöglichkeiten von Kulturen untereinander unabweisbar. Für die Literaturwissenschaft ergeben sich daraus unterschiedliche Konsequenzen: Wird der klassische Kulturbegriff (A 1) auf Basis eines etymologischen Verständnisses zugrunde gelegt, so ergibt sich daraus eine wertungsorientierte (und daher bewusst selektive) literarhistorische Erbepflege und Erbekonstruktion in Gestalt von Editionen, Interpretationstätigkeit usw., wie sie bis in die Germanistik der 1960er-Jahre hinein dominiert. Literarische Vereine, Archive, Gesamtausgaben und alles, was der Pflege des ‚literarischen Erbes‘ dient, sind einem solchen Begriff von Kultur verpflichtet, der die Entstehung des Faches Germanistik (wie die der anderen Nationalphilologien) historisch ermöglicht hat. Gegen kul-
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turrevolutionäre Erschütterungen hat er sich als vergleichsweise stabil erwiesen. Zwar hat der Kanon der deutschen Literaturwissenschaft einige Wandlungen erfahren und sich insgesamt erheblich flexibilisiert, aber die zeitweilig von manchen Fachvertretern im Gefolge der 68er-Bewegung angestrebte Zerschlagung hat nicht stattgefunden. Das ist nicht überraschend, denn es sind zwar an den jeweiligen historischen Bedürfnissen orientierte ‚Gegenkanones‘ möglich, ein gänzlicher Verzicht auf Selektivität ist aber schlicht nicht funktionsfähig (Dies wird gerade auch an Jugend- und Populärkulturen sichtbar, die sich durch ausgeprägte Kanonisierungsprozesse mit radikalen Ausschlussmechanismen von ihrer Umgebung abgrenzen.) Darüber hinaus wäre er auch kaum wünschenswert, da das Fach damit auf jede innerfachliche und wissenspolitische Gestaltungsmöglichkeit verzichtet würde. Es scheint, dass sich die jüngere Forschung von dieser Utopie stillschweigend verabschiedet hat. Variante (A 2a) hat für die Literaturwissenschaft so gut wie keine Relevanz, da das, womit sie es zu tun hat, immer schon Kultur ist (eine Abgrenzung ‚Literatur‘ gegen ‚Natur‘ wäre absurd), was allenfalls die biologistisch inspirierten Versuche der Nationalsozialisten anders gesehen haben. Variante (A 2b) („alle Praxisformen, die eine bestimmte Kultur hervorgebracht hat“) schließlich ist für die jüngste, sich schwerpunktmäßig als Kulturwissenschaft begreifende Literaturwissenschaft von größter Bedeutung geworden.
3./4. Institutionsgeschichte und Publikationen Der Boom kulturwissenschaftlicher Methoden (in der Germanistik etwa seit den späten 1980er-Jahren) reagiert fachgeschichtlich auf drei gleichermaßen als einseitig empfundene Festschreibungen: einmal auf die klassische Konzentration auf die Achse Text-Autor, dann auf die literatursoziologische Vogue im Gefolge der 68er, die Literatur häufig einseitig im Sinne eines materialistischen Determinismus interpretierte; und schließlich auf die sprachphilosophische Fixierung, die mit dekonstruktivistischen und anderen postmodernen Modellen Einzug hielt und die Welt auf ein endloses Spiel von Verweisen reduzierte. Demgegenüber wurde nach einer umfassenderen Wahrnehmung des Phänomens Literatur verlangt. Die enge Verbindung zwischen der Literaturwissenschaft und anderen humanwissenschaftlichen Fächern ist wissenschaftsgeschichtlich aber nicht neu. Sie fand ihre Vorgängerpraxis in der „Geistesgeschichte“,
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ein Begriff, der ähnlich vage ist wie der der Kultur und genau deshalb eine ähnlich hohe Anschlussfähigkeit bewies. Eine Reihe neuerer Arbeiten belegt ein Wiederaufleben des Begriffs.2 „Ich gehe von dem umfassenden Tatbestand aus, welcher die feste Grundlage jedes Räsonnements über die Geisteswissenschaften bildet. Neben den Naturwissenschaften hat sich eine Gruppe von Erkenntnissen entwickelt […], welche durch die Gemeinsamkeit des Gegenstandes miteinander verbunden sind. Solche Wissenschaften sind Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen, endlich die Psychologie. Alle diese Wissenschaften beziehen sich auf dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht. Sie beschreiben und erzählen, urteilen und bilden Begriffe und Theorien in Beziehung auf diese Tatsache. Was man als Physisches und Psychisches zu trennen pflegt, ist in dieser Tatsache ungesondert“.3 Das Zitat von Wilhelm Dilthey (1833–1911) zeigt, dass die Kulturwissenschaften, wiewohl unter diesem Label meist als ganz rezente Entwicklung begriffen, auf Vorläuferkonstruktionen zurückblicken können. Tatsächlich ist das Feld, das Dilthey hier für seine „Geisteswissenschaften“ reklamiert, von dem der heutigen Kulturwissenschaften kaum unterscheidbar. Suggeriert zunächst der Kulturbegriff eine größere Materialität als der idealistisch konnotierte des Geistes, so zeigt sich anhand von Diltheys Begriffsbestimmung, dass dieser Eindruck nicht haltbar ist. Den Begriff des Geistes dehnt er nämlich auf all das aus, was heute in das Feld der Kulturwissenschaften fällt, und verleiht ihm durch die Referenz auf das „Physische“ eine durchaus materielle Basis. Auch der anthropologische Rückbezug („dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht“) ist den neueren Kulturwissenschaften erhalten geblieben und im Begriff der ‚humanities‘ oder ‚sciences humaines‘ sogar titelgebend geworden, obwohl anthropologische Annahmen meist implizit bleiben. Was sich allerdings seit Dilthey entschieden geändert hat, ist die Reichweite der jeweiligen Fächer, im Falle der Lite-
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Vgl. Raphael, Lutz (Hrsg.), Idee als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006; zum historischen Begriff: König, Christoph / Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a. M. 1993. Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel [1970], 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 89.
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raturwissenschaften die Integration populärkultureller Phänomene, die für Dilthey unter „Literatur und Dichtung“ noch nicht befasst waren. Diltheys einflussreiche Konzeption der Geisteswissenschaften (Hauptwirkung seit 1914 mit der Herausgabe seiner gesammelten Schriften und zwischen den beiden Weltkriegen) ist ihrerseits nicht denkbar ohne das von den Romantikern entwickelte Bewusstsein der Geschichtlichkeit von Lebenswelten. Wichtigster Vorläufer ist hier Giambattista Vico (1668–1744) mit seinen Principii di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni (1725). Vico ist so bemerkenswert, weil er die historische Gewordenheit kultureller Welten hervorhebt und damit gegen monistische cartesianische Erkenntniskonzepte Position bezieht, die nicht geeignet sind, diese zu erfassen. Gegenüber den charakteristischen barocken Vorstellungen einer auf alles anwendbaren ‚mathesis universalis‘ wird hier die Eigenständigkeit des Kulturell-Historischen betont ebenso wie der universelle (also: anthropologische) Charakter dieser historischen Gewordenheit; es geht Vico also noch nicht (wie später der Romantik) um die Differenz von Einzelkulturen, sondern um ihre Gemeinsamkeiten. Seit ihrer Entstehung aus dem Geist der Romantik ist die Germanistik eine Disziplin, die in hohem Maße vom Input anderer Fächer gelebt hat. Für ihre Begründung durch die Brüder Grimm und andere ist das konstitutiv: Das Interesse an Geschichte, Rechts- und Religionsgeschichte geht dem im heutigen Sinn ‚literaturwissenschaftlichen‘ voraus. Die Germanistik war also in ihren Anfängen schon einmal eine Kulturwissenschaft, bevor sie in eine reine Philologie überführt wurde. Und diese Überführung blieb immer nur partiell: Schon der Positivismus mit seinem Dogma von „race, milieu, moment“,4 das bei dem Germanisten Wilhelm Scherer zum „Erlebten, Ererbten, Erlernten“ wurde, praktizierte durchaus eine Kulturwissenschaft ‚ante datum‘, wenn auch weder die Idee eines ‚Ererbten‘ noch die einer durchgehenden Determiniertheit kultureller Äußerungen unserer Auffassung entspricht. (Was die Determiniertheit betrifft, finden sich allerdings aktuelle Anschlüsse in der durch Pierre Bourdieu weiterentwickelten marxistischen Debatte.) Mehr oder weniger zeitgleich wird der Begriff „science of culture“ bei dem englischen Ethnologen Edward Tyler wohl erstmals verwendet. Die Zeit um 1900 ist eine Hochphase kulturwissenschaftlicher Aktivität, auch wenn diese (meist) nicht unter diesem Titel läuft. Wilhelm Dilthey, Georg Sim-
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Taine, Hippolyte, Histoire de la littérature anglaise, 1864, Einleitung.
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mel, Ernst Cassirer, Max Weber, Sigmund Freud und andere leisten entscheidende Beiträge. Allerdings fällt deren Integration in die Germanistik zeitlich und quantitativ ganz unterschiedlich aus. Gelingt es Dilthey u. a. mit Das Erlebnis und die Dichtung (ersch. 1906), einer Studie, in der er produktionsästhetisch die Kategorie der „Lebenserfahrung“ in den Mittelpunkt stellt, prägenden Einfluss zu entfalten, und finden Freuds Ideen relativ früh literaturwissenschaftliche Anwendung, so gibt es bis heute kaum systematische literaturwissenschaftliche Applikationen der Weber’schen Theorie.5 Ähnlich verhält es sich mit Georg Simmel, dessen originelle lebensphilosophisch inspirierte Thesen weitgehend ohne innergermanistischen Anschluss geblieben sind. Die Lebensphilosophie als das beherrschende Paradigma jener Phase wirkte allerdings an unerwarteter Stelle nach, nämlich in der französischen Dekonstruktion, deren Abneigung gegen systematisches „logozentristisches“ Denken und deren Vorliebe für das (als progressiv eingestufte) „freie Flottieren“ auf die Metaphorik der Lebensphilosophie zurückgeht, deren rationalitätskritischen Impuls sie erbt.6 Auf dem Umweg über Dekonstruktion/ Postmoderne kehrt diese so wirkmächtig in die Germanistik zurück. Am deutlichsten wird dies an Friedrich Nietzsche, der für die Neukonstitution der Kulturwissenschaft seit den 1980er-Jahren die überragende Figur darstellt. Nietzsches Werk mit seinen widersprüchlichen Phasen fand dabei eine sehr selektive Verwendung. Es lieferte hauptsächlich zwei Denkfiguren, die allerdings beherrschenden Stellenwert gewinnen konnten: einmal die der Genealogie, dann die der Subjektkritik. Die Genealogie geht von der Annahme aus, der Trieb nach Macht sei die beherrschende Kraft hinter allen Handlungen; Nietzsches Subjektkritik dagegen stützt sich auf eine sprachphilosophische Überlegung und bestimmt das ‚Ich‘ als eine bloße Funktion der Grammatik. Beide Gedanken koppeln sich im Werk Michel Foucaults, das einen nachhaltigen Einfluss auf die Literaturwissenschaften gewann. Sie spiegeln eine negative Anthropologie (ähnlich wie bei Freud), die das Interesse an der Einzelperson (sei es als Autor oder Leser) aus der Literaturwissenschaft verschwinden ließ. Die Vorstellung selbstbestimmten Handelns erscheint als bloßer ‚Subjekteffekt‘, als eine sprachlich induzierte Täuschung. Fou5
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Vgl. Weiller, Edith, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart 1994. Vgl. Preusser, Heinz-Peter, „Logozentrismus und Sinn. Indikatoren eines Paradigmenwechsels. Ludwig Klages-Jacques Derrida-Georges Steiner“, in: Weimarer Beiträge, 45/1999, 2, S. 199–217.
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caults zentrale Innovation über Nietzsche hinaus ist jedoch der Begriff des ‚Diskurses‘. Foucaults Grundannahmen, die eine Art von ‚Diskursdeterminismus‘ einführen, sind nichtsdestoweniger in ihren Ergebnissen gerade aus einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft nicht wegzudenken. Auch die von Oskar Walzel propagierte „wechselseitige Erhellung der Künste“ gehört in diesen Zusammenhang einer Vorgeschichte der Kulturwissenschaften als Versuch disziplinärer Integration. Mit dem Werk Aby Warburgs leistet die Kunstgeschichte eine elementare Vorarbeit für den späteren sog. Iconic Turn. Gustav René Hockes in Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der Europäischen Kunst (1957–59) entwickelter umstrittener ‚Manierismus‘-Begriff zielt auf eine Integration des Literarischen und Ikonischen ab.7 Diese Ansätze wurden im Begriff der ‚Intermedialität‘ weiterentwickelt, der schon als solcher auf die vorherrschende fächerintegrative Tendenz hinweist. Mit dem Strukturalismus des französischen Ethnologen Claude LéviStrauss’ lässt sich vom Einsetzen einer regelrechten ‚Ethnologisierung der Literaturwissenschaften‘ sprechen, die in zwei Phasen verläuft: auf eine strukturalistische Phase, in Deutschland seit den 1960er-Jahren, folgt eine konstruktivistische im Gefolge von Clifford Geertz. Von Anfang an bildet die Ethnologie eine Meisterdisziplin für die Entstehung der Kulturwissenschaften und bleibt auch nach deren Etablierung eine Folie für Referenzen. Es ist kein Zufall, dass Edward B. Tyler in Primitive Culture (1871) den Begriff als ‚science of culture‘ verwendet, dass dieser also aus der Ethnologie heraus geboren wird. Der beliebte und meist im Sinne einer Immunisierungsstrategie eingesetzte Ethnozentrismusvorwurf wird schon durch diese Genese zweifelhaft. Kulturwissenschaften konstituieren sich ‚ab ovo‘ aus dem Vergleich mit anderen Kulturen (Luhmann) und dass sie diesen Vergleich mit eigenen Kategorien und nicht mit denen der untersuchten Ethnien anstellen, liegt in der Natur der Sache: Wissenschaft übernimmt nicht die Selbstbeschreibungen ihrer Gegenstände, sonst wäre sie keine. Kulturwissenschaften sind also, im Gegensatz zu einer verbreiteten Auffassung, auch und gerade als Errungenschaft der Offenheit euroamerikanischer Kultur und deren Fähigkeit, das Fremde thematisch zu machen, zu begreifen. 7
Vgl. Hocke, Gustav René, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst (Bd. 1), Manierismus in der Literatur (Bd. 2), Reinbek b. Hamburg 1957 u. 1959. Illustrierte Studienausgabe unter dem Titel Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Reinbek b. Hamburg 1991.
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Lévi-Strauss ist als ein wichtiger Vorgänger und Zeuge des heutigen Paradigmas Kulturwissenschaften zu verstehen. Indem sich der ethnologische Strukturalismus an der Linguistik orientierte und ihr seine wesentlichen Verfahrensweisen entnahm, machte er jene Nutzung fremder Fächer als Medium vor, die für die heutigen Kulturwissenschaften so kennzeichnend ist. Die Literaturwissenschaft adaptierte dann wiederum Strauss. Das Operieren mit vielfältigen Oppositionspaaren ermöglichte saubere Textanalysen und kam dem Bedürfnis der Zeit nach einem gegenüber der unmittelbaren Nachkriegsgermanistik präziseren Vorgehen entgegen. In die Germanistik hinein wirkte wohl am einflussreichsten der von Helga Gallas herausgegebene Band Strukturalismus als interpretatives Verfahren,8 der eine Reihe längst klassischer Artikel von Lévi-Strauss, Barthes, Kristeva, Greimas, Lacan und anderen versammelte. Ein Beispiel für die Wirkung der Strauss’schen Methode auf die deutsche Diskursanalyse, wie sie in der Link-Schule entwickelt wurde, bietet auch Rolf Parrs Studie zu Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks.9 Aber das Interesse, auf das Strauss traf, speiste sich nicht nur aus den Analysekategorien, die der Strukturalismus bereitstellte. Sein Hauptwerk, die Mythologica I–V, wurde und wird eher wenig zitiert. Traurige Tropen (Tristes Tropiques, 1955) dagegen avancierte zum ‚Kultbuch‘, weil sich darin Literatur, Ethnologie, philosophische Elemente und kulturkritische Reflexion auf komplexe Weise verschränken. Die sich daraus ergebende Faszination richtet sich nicht so sehr auf das Fremde als solches als vielmehr auf das Verhältnis des Fremden zum Eigenen. Lévi-Strauss’ furios vorgetragener Rousseauismus und seine skeptische Wendung gegen die als zerstörerisch erlebte eigene Kultur sind charakteristisch auch für den Impuls der eigentlichen Cultural Studies, die sich überwiegend aus kritischen Projekten heraus entwickelt haben. Die auffallende ‚Ethnologisierung/Ethnographisierung‘ der Kulturwissenschaften setzt sich fort mit Clifford Geertz’ Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Der Titelaufsatz des gleichnamigen Bandes greift mit dem Begriff des ‚Verstehens‘ über den sich szientifisch gebenden Strukturalismus auf einen hermeneutischen Horizont und über die taxonomiefeindliche Dekonstruktion auf den Begriff des ‚Systems‘ zurück. Er verschmelzt damit zwei unterschiedliche Zugangs8
9
Gallas, Helga (Hrsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt, Neuwied 1972. Vgl. Parr, Rolf, ‚Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.‘ Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks, München 1992.
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formen, nämlich eine subjektbezogene, die auf die reflektiv kontrollierte Erfahrung des Interpreten setzt (kontrollierte Subjektivität), mit einem objektivierenden Blick, der kulturelle Manifestationen als Teil eines ‚Systems‘ begreift. „Ethnographie betreiben, gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln‘), das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist“.10 Geertz lehnt ausdrücklich die Vorstellung, es handle sich dabei um ein „Dechiffrieren“ vorgegebener „Codes“,11 ab und stellt der „Arbeit des Dechiffrierers“ die des „Literaturwissenschaftlers“, mit dem er den Ethnologen vergleicht, entgegen. Seine Auffassung beider Tätigkeiten rückt also die Tätigkeit des Interpretierens ins Zentrum und weist dadurch jede kulturwissenschaftliche Aktivität als eine letztlich hermeneutische aus. Diese Unvermeidlichkeit des Interpretierens rehabilitiert die Hermeneutik, die durch Szientismus (die Vorstellung, Literaturwissenschaft könne ihre Gegenstände nach dem Muster der Naturwissenschaften bearbeiten) einerseits und einen Dekonstruktivismus, der den Interpretationsbegriff ablehnte, andererseits in den Ruf des Veralteten geraten war. Dichte Beschreibung untergräbt damit die Möglichkeit pseudo-objektiver Strategien ebenso wie die Legitimität reiner assoziierender Beliebigkeit. Allerdings sind die Forderungen der Aufmerksamkeit, Selbstkontrolle usw., die für den Interpreten erhoben werden, genauso wenig systematisierbar wie die alte Hermeneutik – Geertz’ Aufsatz bleibt damit eine Programmatik der Programmlosigkeit und die Tätigkeit des Kultur(alias Literatur-)wissenschaftlers eher Handwerk oder Kunst als eine Wissenschaft im strengen Sinn. Einen Sonderbereich der Kulturwissenschaften bilden die an die Ethnologie wie an die dekonstruktivistische Sprachphilosophie eng anschließenden Postcolonial Studies. Mit weiten Bereichen der Gender Studies haben sie gemeinsam, dass der normalerweise in den Kultur- und Geisteswissenschaften befolgte Grundsatz einer ‚Latenthaltung des Politischen‘ hier schon bei der Konstituierung des Feldes durchbrochen wird. Die Postcolonial Studies widmen sich der Lage entkolonialisierter Länder und 10 11
Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1997. Ebd., S. 15.
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Gebiete und adoptieren dabei identifikatorisch den (oft nur unterstellten) Blickwinkel der Entkolonialisierten. Schon aus dieser Ausgangsposition erhellt die grundlegende Problematik des ganzen Paradigmas: Meist sprechen diese nicht für sich selbst, sondern Intellektuelle mit ‚westlicher‘ Ausbildung sprechen für sie. Das zweite methodische Problem liegt in der Konstruktion von Groß-Subjekten, die gegeneinander in Stellung gebracht werden: die Generalisierung von Kolonisatoren hier und Kolonisierten dort verdeckt massive Unterschiede zwischen letzteren. Sie verdeckt auch, dass die z.B. bei den Gründerfiguren Frantz Fanon und Edward Said artikulierten Anschauungen und Forderungen gerade nicht Ergebnis autochthoner Traditionen, sondern europäisierter Sozialisation sind. Im Wesentlichen stehen die Postcolonial Studies damit in einer nicht zulänglich reflektierten rousseauistisch-romantischen Tradition. Doch nicht nur Nachbardisziplinen haben einen Beitrag zur Bestimmung des Kulturbegriffs geleistet: Mit der Auffassung von ‚Kultur als Text‘ hat die Literaturwissenschaft den Versuch unternommen, sich selbst ins Zentrum der Kulturwissenschaften zu begeben. Es ist allerdings auffallend, dass sie das ‚Angebot‘ selbst dazu aus der Ethnologie erhält: Geertz’ metaphorische Redeweise von Buch und Palimpsest behauptet das Lesen als zentrale Kulturtechnik, indem es kulturelles Verstehen am Modell des Lesens orientiert. Nahe liegend wäre es gewesen, dass ein solches Modell in den Literaturwissenschaften selbst entwickelt und von ihnen propagiert worden wäre. Dies ist aber nicht der Fall. Wissenschaftshistorisch erstaunt der defensive Charakter des literaturwissenschaftlichen Engagements, der entscheidende Neuerungen bevorzugt als Import aus anderen Disziplinen zu akzeptieren vermag. Die Wahrnehmung des Kontextes (also der ‚Umgebung‘ von Texten) als ‚Text‘ erlaubt die Präparierung von Sinnzusammenhängen, tilgt aber Materialität und Ereignishaftigkeit dessen, was eben nicht im Grundsinn des Wortes Text ist. Dies ist besonders kritisch in Hinblick auf den Körper, der sich dagegen sperrt, im Prozess der Semiose aufzugehen. Auf dieses Manko antwortet dann das Paradigma von Kultur als Performanz, das die Ereignis- und Prozesshaftigkeit aller kulturellen Äußerungen in den Mittelpunkt stellt. Das Modell der Textualität von Kultur ist für den Literaturwissenschaftler besonders verlockend, denn es bietet ihm die scheinbare Chance, seine Verfahren auf das gesamte Feld der Kultur auszudehnen und damit unter den Kulturwissenschaften ein Alleinstellungsmerkmal zu erlangen. Diese Vorstellung, die die Literaturwissenschaft in den Rang eines Meisterdiskurses erhebt, läuft jedoch Gefahr, die Eigengesetzlichkeit anderer Materialien und Felder in hybrider Weise zu ignorieren. Kul-
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tur lässt sich als Text denken, allerdings setzt dies einen anderen Textbegriff voraus als den herkömmlichen. Ein solches Unternehmen rückt wieder in die Nähe einer allgemeinen Semiotik, wie sie vor allem von Umberto Eco konzipiert worden ist. Ein geschärftes Bewusstsein dafür, dass man hier lediglich mit einer Metapher operiert, die dem Literaturwissenschaftler strategisch besonders gute Karten verschafft, ist zudem unerlässlich. Letztlich wäre es sinnvoll, beide Modelle, Textualität und Performativität, als alternative Beschreibungsweisen bestehen zu lassen und durch eine bislang ausstehende Theorie der Materialität zu ergänzen. Zwei weitere für die Literaturwissenschaft relevante neuere Ansätze müssen noch genannt werden: die Auffassung von Kultur als Gedächtnis bzw. als Serie von Erinnerungsakten (sog. Memoria-Theorien) sowie das Paradigma des Vergleichens. „Werden in der Kognitionswissenschaft, der Neurobiologie und der Psychologie eher die neuronalen Prozesse in Verbindung mit Bewusstseinsstrukturen untersucht, so stehen in den kulturwissenschaftlichen Memoria-Theorien soziale wie ästhetische Aspekte im Vordergrund, und anders als in den konstruktivistischen Modellen, an die sie anzuschließen scheinen, werden eher hermeneutische Verfahren aufgegriffen“.12 Dass das Aufgreifen hermeneutischer (hier im weitesten Sinn verstanden, also auch semiotischer) Verfahren in den Kulturwissenschaften unhintergehbar ist und diese daher durch das Problem der Interpretation auf das Engste mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen verbunden sind, hat Clifford Geertz (s.u.) dargelegt. Erinnerung und Gedächtnis dagegen sind in doppelter Weise mit dem Phänomen Literatur und seiner wissenschaftlichen Bearbeitung verbunden. Erstens gilt jegliche Erinnerung als fiktiv (A. Assmann) und steht dadurch in einer unmittelbaren Parallele zur dichterischen Tätigkeit; zweitens trifft die grundsätzliche Bestimmung als Erinnerungsspeicher und damit als Identitätssicherung, welche Assmann der Kultur zuschreibt, eben auch in eminentem Ausmaß auf Literatur zu. Außer dem Komplex Gedächtnis/Erinnerung kommt einer weiteren Größe fundamentale Bedeutung zu, nämlich der Figur des Vergleichs. Der Systemtheoretiker Dirk Baecker, ein Schüler Niklas Luhmanns, hat sie in den Mittelpunkt seines Kulturverständnisses gerückt: „Erst in der Neuzeit machen es die Erfindungen des Kulturbegriffs und parallel dazu, des Begriffs des ‚Menschen‘ erforderlich, sich selbst 12
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mit anderen zu vergleichen. Denn die anderen leben zwar anders, aber das liegt nicht daran, daß sie keine Menschen sind. Sondern es liegt daran, daß sie eine andere Kultur haben. Das ist das wichtigste Moment des modernen Kulturbegriffs: der Vergleich der Lebensumstände zwischen den Menschen, und dies in regionaler und historischer Hinsicht. Erst jetzt, essayistisch auf den Punkt gebracht von Montaigne und ausgearbeitet von Vico, Herder und vielen anderen, entstehen Historiographie, Anthropologie und Ethnologie im modernen Wortsinn. Die Kultur ist jetzt nicht mehr eine Frage der Verehrung wie in der Antike. Sie wird zu einer Frage des Vergleichs“.13 Zwar liegt es nahe, die Wichtigkeit des Vergleichs für den modernen Kulturbegriff eher auf die verstärkten Kontakte mit Fremdkulturen zurückzuführen als auf die ‚Erfindung‘ des Menschen (die implizieren würde, die Antike hätte keine Anthropologie gehabt), aber das Argument ist nachvollziehbar. Auch der Begriff der ‚Religion‘ ist ein solcher Vergleichsbegriff, während vorher eher von Glauben (fides) die Rede war. Da „die materielle Basis des Vergleichs“14 die Schrift ist, ist schon deshalb die Literatur involviert, die ein zentraler Schauplatz dieser nunmehr unabwendbaren Praxis des Dauervergleichs wird. Einen wichtigen neuen Beitrag zum Verhältnis von Kultur und Texten/Textualität leistet Moritz Baßlers 2005 erschienene Studie Die kulturpolitische Funktion und das Archiv, die ankündigt, eine „Theorie der Textualität […], die Text und kulturellen Kontext zugleich beschreibt“, zu bieten. Die Theoriebildung zielt also kühn auf nicht weniger als die Überwindung der Spaltung zwischen immanenten und nicht-immanenten Methoden ab. Sie nimmt dabei Rekurs auf „die literaturwissenschaftliche Praxis des New Historicism“ sowie auf „den strukturalistischen Text- und den poststrukturalistischen Intertextualitätsbegriff“. „Weil Texte per definitionem nicht nur lesbar, sondern immer wieder lesbar sind, ist es möglich, sie immer neu zu kontextualisieren, das heißt: sie mit anderen Texten zu vergleichen, die ebenfalls immer wieder lesbar sind. Die Archivanalyse, in die man damit eintritt, ist keine Erweiterung der Lektüre, sie macht nur explizit, was immer schon Bedingung der Lektüre war und ist“.15 13 14 15
Baecker, Dirk, Wozu Kultur?, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 66. Ebd., S. 68. Baßler, Moritz, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 363.
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Baßler selbst bezeichnet diesen Ansatz als „archivimmanenten Strukturalismus“. Bedeutsam für die Literaturwissenschaft an sich ist dabei nicht nur eine Perspektive, die kulturalistische und immanente Ansätze eher nach Art eines Vexierbildes begreift denn als feindselige Gegensätze, sondern auch der Rückgriff auf strukturalistische Denkmuster, deren hohes Analysepotential erneut sichtbar wird.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Niklas Luhmann bemerkte einmal sarkastisch in Hinblick auf Thomas S. Kuhns berühmten Begriff des ‚Paradigmas‘, niemand habe jemals herausgefunden, wie dieser genau zu verstehen sei. Diese ‚Ungenauigkeit‘ oder Vielschichtigkeit von wissenschaftlichen Leitkonzepten ist jedoch nicht einfach ein Mangel, sondern sie ist konstitutiv für sog. Paradigmen. Eben ihre Unschärfe ermöglicht, unter ihnen Disparates zu versammeln, wodurch sie erst zu Leitkonzepten aufsteigen können. Sie ermöglicht also Anschließbarkeit auch über die Einzeldisziplin hinaus, während ‚scharf‘ definierte Konzepte meist sogar auf eine Schule innerhalb einer Disziplin beschränkt bleiben. Als Beispiel kann hier Luhmanns eigener Begriff des ‚Systems‘ gelten, der seinen Siegeszug nur antreten konnte, indem er der sehr präzisen Begriffsbestimmung innerhalb der soziologischen Systemtheorie entkleidet wurde. Ähnliches gilt für den Begriff des ‚Diskurses‘, der an Inhalt je mehr verlor, je präsenter er in der interdisziplinären Debatte wurde. Präzise und handhabbare Diskurskonzepte, wie das von Jürgen Link und Ulla Link-Heer entwickelte, sind meist nicht gemeint, wenn der Diskursbegriff in der Debatte auftritt. Man findet sie eher in spezialisierten Studien, wo der Zwang, benutzte Termini zu belegen, zu definitorisch präziserer und konsequenterer Begriffsverwendung führt. Die sowohl innerfachliche als auch interdisziplinäre Debatte neigt dazu, Paradigmen in einem Prozeß des ständigen Verlusts an Inhalten zu verschleißen und dann durch neue Kandidaten zu ersetzen. In beiden Fällen ist dies der Forderung nach Anschließbarkeit geschuldet, ohne welche die Disziplinen in abgeschlossenen Kompartimenten (buchstäblich in ‚Fächern‘) operieren würden. Statt diesen Vorgang als ‚Oberflächlichkeit‘ zu beklagen, muss man sich klar machen, dass hier eine epistemologische Gesetzmäßigkeit vorliegt. Wissenschaften benötigen zur Verständigung untereinander und mit der interessierten Umwelt eine ‚Koiné‘, eine Gemeinsprache, die Verständigung überhaupt möglich macht. Zugleich ist kritisch festzustellen, dass ein mit erhöhter Ge-
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schwindigkeit verlaufender Paradigmenwechsel, wie er in den Kulturwissenschaften der letzten Jahre zu beobachten war, auf strukturelle Probleme hinweisen kann. Die sich mit verblüffender Geschwindigkeit ablösenden ‚turns‘ nur als einen Hinweis auf eine wissenschaftsgeschichtliche Periode besonderer intellektueller Produktivität begreifen zu wollen, wäre unzureichend. Diese Entwicklung ist zunächst der Tendenz zu rapide evolvierenden medialen Verbundphänomenen (Film, Neue Medien) geschuldet, die für Literatur inhaltlich und strukturell eine steigende Rolle spielen. Die Faktoren Unschärfe und mediale Einbindung erklären den Siegeszug der Kulturwissenschaften, allerdings nicht alleine. Stattdessen ist dieser das Ergebnis eines massiv gestiegenen Drucks, den wirtschafts- und wissenschaftspolitische Verschiebungen auf die Wissenschaftler ausüben. Einzelfächer werden aus Kostengründen zu kulturwissenschaftlichen Instituten umgeschmolzen, und die universitäre Überproduktion an Kulturwissenschaftlern verschärft die Konkurrenz und steigert damit die Innovationsgeschwindigkeit. Da theoretische Innovationen in den Kulturwissenschaften vornehmlich an ihrer inneren Kohärenz gemessen werden und anders als in den meisten naturwissenschaftlichen und allen technischen Fächern keiner Realitätsprüfung unterliegen, ist dies nicht immer ein Gewinn. In dieser Situation besteht die Gefahr eines Verlusts an fachspezifischer Kompetenz. Die Spezialisierung in den Geistes-/Humanwissenschaften ist eben keine beliebige Entwicklung, die schadlos wieder abgeschafft werden könnte, sondern dem realen Reichtum kulturellen Materials geschuldet, das durch die Bildung von Disziplinen strukturiert, aber (entgegen radikalkonstruktivistischen Positionen) eben nicht hervorgebracht wird. Defizite liegen weiters in der Tendenz, innerhalb der Literaturwissenschaften kulturelle Phänomene abzuhandeln, die schwer in einen erkennbaren Zusammenhang mit Literatur gebracht werden können. Der Literaturwissenschaftler erledigt so die Arbeit anderer Disziplinen und betätigt sich als eine Art ‚Universalspezialist‘, wobei mitunter Kompetenzen arg überdehnt werden. Rudolf Helmstetter und Michael Makropoulos bezeichnen „Distanzierung von den kulturellen Selbstverständlichkeiten“ als Leistung der Kulturwissenschaften. Die eigene Kultur könne nur verstanden werden aus ihrer Geschichte einerseits und dem Vergleich mit anderen Kulturen andererseits. „Was Kunst im Modus der Fiktionalität tut, das tun die Kulturwissenschaften im Modus der Historizität und des Blicks über die Grenzen des allzu vertraut Scheinenden. Den Kulturwissenschaften kommt in modernen Gesellschaften die Funktion des Gedächtnisses zu,
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und zwar als spezifischer Instanz, die die Selbstverständlichkeiten und Transzendentalien einer Gesellschaft einer beständigen Konfrontation mit anderen Möglichkeiten aussetzt. […] sie haben es deshalb bewusst nicht in erster Linie mit Aktualität zu tun, sondern mit der Geschichte der Gegenwart, mit ihrer Entstehung, ihren Potentialitäten und am Ende eben auch mit ihren nicht verwirklichten Möglichkeiten. Nicht in der Orientierung an Aktualität besteht die Aufgabe der Kulturwissenschaften, sondern in der Organisierung der Latenz – der Latenz der Gesellschaft wohlgemerkt. Diese Latenz objektiviert sich in sozialen Möglichkeitshorizonten. Sie bilden den allgemeinen analytischen Gegenstand der Kulturwissenschaften, weil sie das permanent veränderliche Archiv des gesellschaftlichen Selbstverständnisses sind […]“.16 Dass diese „Distanzierung von den kulturellen Selbstverständlichkeiten“ in Form von der Reflexion auf sie in einer globalisierten Welt unabweisbar ist, ist offensichtlich – nicht zufällig entstehen und ‚boomen‘ die Kulturwissenschaften in einem bestimmten historischen Augenblick; ebenso offensichtlich sind leider jedoch auch die Folgeprobleme, die sich aus dieser Distanzierung ergeben, da Kulturen/Gesellschaften ohne einen Mindestbestand an „Selbstverständlichkeiten und Transzendentalien“ (sowie sich auf diese stützenden Routinen im Luhmann’schen Sinn) nicht operations- und daher nicht existenzfähig sind. Es ist ein notorisches Problem der Kulturwissenschaften, die Distanzierung als solche bereits für eine Lösung durch Identifikation entstandener Probleme anzusehen. Vorgänge, die Reaktionen auf diese Distanzierungsprozesse darstellen (für die die Kulturwissenschaften ja lediglich symptomatisch stehen) wie z.B. die massive Zunahme fundamentalistischer Bewegungen, können aus dieser Perspektive kaum adäquat beschrieben werden, weil sie gar nicht vorgesehen sind. Dies gilt auch für die Literaturwissenschaft, die didaktisch durchaus nicht in allen Fällen nur Distanzierung, sondern mitunter (in Hinblick auf unhintergehbare Kanonisierungsprozesse, s.o.) auch sekundäre Re-Identifikation hervorbringen muss, wenn sie mehr sein will als eine Maschinerie zur Produktion desorientierter Subjekte. Die wichtigste und bleibende Leistung kulturwissenschaftlicher Modelle für die Germanistik wie für die allgemeine Literaturwissenschaft liegt in dem Erkenntnisgewinn, den sie in Hinblick auf die enorme Be16
Helmstetter, Rudolf / Makropoulos, Michael, „Kulturwissenschaft und soziales Wissensregime“, in: Ludger Heidbrink / Harald Welzer (Hrsg.), Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften, München 2007, S. 42–50.
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ziehungsvielfalt zwischen Literatur und ihrem Umfeld gebracht haben, und damit auch im Unterlaufen der einseitigen Opposition von immanenten und soziologisch interessierten Verfahren durch ein Drittes. Ästhetizistische Einschränkung einerseits und die Tendenz zu marxistischem Determinismus (im Sinne einer eindeutig kausalen Basis-ÜberbauVerbindung) andererseits, wie sie die Literatursoziologie vor Auftreten der Kulturwissenschaften zu prägen pflegte, sind durch einen offenen Blick abgelöst worden. Die notorische Vagheit des Kulturbegriffs ermöglicht, nahezu sämtliche Phänomene, die in einen Konnex mit Literatur zu treten vermögen, zu thematisieren, und bleibt dadurch für Anschlüsse an historisch neue Erscheinungen offen. Die Unschärfe des Kulturbegriffs ist damit ein Mittel für das Wissenschaftssystem, die Entwicklungen einer sich rapide wandelnden Gesellschaft zu thematisieren.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Dilthey, Wilhem, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel [1970], 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1990. Für ein Verständnis unserer Fachgeschichte unerlässliches Standardwerk, das die Genese aktueller Problemlagen an vielen Stellen vorwegnimmt und das Neuaufleben der Kulturwissenschaften Ende des 20. Jhds. historisch perspektiviert. Glaser, Renate / Luserke, Mattias (Hrsg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996. Immer noch instruktiver Band mit einigen grundlegenden Beiträgen zur Bestimmung der Begriffe ‚Literatur‘, ‚Kultur‘ und ‚Medien‘. Kritische Überlegung zur ‚Interpretationsfigur‘ ‚Kultur als Text‘ im Beitrag von Carsten Lenk. Hansen, Klaus P., Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung, 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl., Tübingen, Basel 2000. Gut lesbare, kritische und originelle Darstellung, die sich mit dem Kulturbegriff selbst auseinandersetzt sowie mit Standardisierungen als Grundelementen der Kultur und dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Interkulturalität und Fremdverstehen ist ein ausführliches Kapitel gewidmet. Den Bezug zur Literaturwissenschaft stellt der Abschnitt „Der Kulturbegriff und die wissenschaftlichen Felder“ her.
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Benthien, Claudia / Velten, Hans Rudolf (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002. Besonderes Verdienst dieser Einführung ist es, sämtliche Themenfelder sowohl für die Ältere als auch für die Neuere deutsche Literatur zu behandeln, was die strikte Trennung von ‚neuem‘ und ‚altem‘ Fach unterläuft und einen notwendigen Brückenschlag leistet. Traktiert werden (unter jeweils diesem Etikett) Historische Anthropologie, Ordnungen des Wissens, Medien- und Kommunikationstheorie, Textkritik, Performativität, Gender-Theorien und Alterität/Interkulturalität. Durch die direkte Bezugnahme auf das Auftauchen dieser Kategorien im Fach selbst wird das Auseinanderklaffen von Kulturtheorie hier und Germanistik da erfolgreich vermieden. Baßler, Moritz, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. Zentrale These s. Abschnitt 3 und 4; auch Baßlers Vorarbeiten, ‚Science of the Particular?‘ Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Texttheorie der Kultur, in: Burtscher-Bechter, Beate / Sexl, Martin (Hrsg.), Theory Studies? Konturen komparatistischer Theoriebildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Innsbruck, Wien, München 2001, sowie Forum: Kultur als Text, in: Kultur/Poetik 2.1/2000, S. 102–113, sind lesenswert. Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. Umfassend informierte Darstellung sämtlicher Haken, die die Fachgeschichte in den letzten Jahrzehnten geschlagen hat. Als handbuchartiger Überblick, von dem aus weiter geforscht werden kann, geeignet. Schößler, Franziska, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, unter Mitarbeit von Christine Bähr, Tübingen, Basel 2006. Bietet Überblick über die Kulturtheorien um 1900 anhand von Heinrich Rickert, Georg Simmel, Ernst Cassirer, Max Weber und Sigmund Freud, im Anschluss über aktuelle Debatten von Foucault, Bourdieu, Luhmann über die Gender Studies, Postcolonial Studies, Ethnologie und Erinnerungstheorien. Der Bezug zur Literaturwissenschaft ist streckenweise nicht erkennbar, so dass gerade deutlich wird, wo Kultur- und Literaturwissenschaft nicht zur Deckung gelangen.
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Helmstetter, Rudolf / Makropoulos, Michael, „Kulturwissenschaft und soziales Wissensregime“, in: Ludger Heidbrink / Harald Welzer (Hrsg.), Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften, München 2007, S. 42–50. Zentrale These s. Abschnitt 5
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Leseforschung von J AN B OELMANN
1. Definition Unter ‚Leseforschung‘ wird ein interdisziplinärer Forschungsbereich verstanden, der sich mit verschiedenen Facetten des Lesens beschäftigt. Dennoch umschreibt ‚Leseforschung‘ keine einheitliche Forschungsdisziplin, sondern dient als Sammelbegriff für verschiedene Forschungsrichtungen. Hierbei wird nicht nur Lesen im engeren Sinne, also die Decodierung von Graphemsequenzen, untersucht, sondern auch Literaturrezeption als Teil der Kultur und die hiermit verbundenen äußeren Umstände des Lesens betrachtet. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich zahlreiche Richtungen der Leseforschung herausgebildet, von denen die psychologische Leseforschung, die Literatursoziologie, die Rezeptions- und Produktionsforschung, die empirische Leseforschung, die neurobiologische Leseforschung, die Literaturwissenschaft und die Literaturdidaktik als die einflussreichsten angesehen werden können.
2. Beschreibung Dem heterogenen Charakter der Leseforschung gemäß lassen sich klare Tendenzen innerhalb der Leseforschung nur schwer identifizieren. Graf formuliert hierzu überspitzt: „Da jede wissenschaftliche Community mehr oder weniger exakt oder sachhaltig den Gegenstand Lesen in ihrem Sinn definiert, resultieren aus den Unterschieden im Zugriff unvergleichbare oder unvereinbare Befunde“.1 Dennoch lassen sich zentrale Forschungsfelder benennen, die größtenteils interdisziplinär bearbeitet werden: Die leitenden Fragestellun-
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Graf, Werner, Der Sinn des Lesens, Münster 2004, S. 7.
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gen betreffen die Alphabetisierung, die Buchmarkt- und Bibliotheksforschung, die Lesesozialisation und das Mediennutzungsverhalten sowie die Lesekompetenz und die historische Leseforschung. Alphabetisierung wird in der Leseforschung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: Einerseits wird der eigentliche Akt des Lesens untersucht (Neurowissenschaft und Psychologische Leseforschung), andererseits werden auch die (historischen) kulturellen Bedingungen des Schrifterwerbs erforscht (Literatursoziologie). Der Prozess des Lesens gliedert sich in mehrere Phasen der Reizaufnahme und der Verarbeitung. Beim gelingenden Leseprozess werden über die Augen in spezifischen Bewegungen und Sakkaden (Sprüngen)2 Graphemsequenzen wahrgenommen, die durch ein Wechselspiel der M- und P-Zellen im Auge in das Gehirn weitergeleitet und dort unter Aktivierung verschiedener Gehirnareale verarbeitet werden. Es kommt zu einer gefühlsmäßigen Bewertung des Gelesenen und zum Aufbau neuen Wissens. Während die Reizaufnahme durch die Augenbewegungen als weitgehend erforscht gilt, ist die neurologische Bestimmung der Textweiterverarbeitung eine vergleichsweise junge Disziplin. Als gesichert gilt die Annahme, dass für das Verständnis von Sprache verschiedene, über das Großhirn verteilte Areale aktiv sind. In diesen Arealen sind lexikalische, semantische, syntaktische, sprachlautliche und prosodische Kompetenzen verankert.3 Erst ein Zusammenspiel dieser Kompetenzen ermöglicht das Lesen.4 Die an diese Befunde anknüpfende Psychologische Leseforschung befasst sich mit der Konstruktivität des Leseprozesses während der Textrezeption, demzufolge mit der Frage, wie graphische Informationen zu Sinn verarbeitet werden. Hierbei ist es relevant, dass der Leser nicht nur aus Buchstaben, Worten und Sätzen Sinn konstruiert, sondern auch die im Text enthaltenen Informationen mit Vorwissen, Emotionen und vorhandenen Konzepten von Wirklichkeit abgleicht.5 2
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Inhoff, Albrech / Rayner, Keith, „Das Blickverhalten beim Lesen“, in: Hartmut Günter / Otto Ludwig (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research, 2. Halbband, Berlin, New York 1996, S. 942–957. Damasio, Antonio / Damasio, Hanna, „Sprache und Gehirn“, in: Spektrum der Wissenschaften, Bd. 1, Heidelberg 1992, S. 80–92. Vgl. Wittmann, Marc / Pöppel, Ernst, „Neurobiologie des Lesens“, in: Bodo Franzmann u. a. (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 224–239. Vgl. Groeben, Norbert, Leserpsychologie: Textverständnis – Textverständlichkeit, Münster 1988.
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Die Effekte des Lesens untersucht die Textwirkungsforschung. Sie sind stark an die Funktion des Textes, wie die Überzeugungsfunktion bei pragmatischen Texten oder die Informationsvermittlungsfunktion bei Sachtexten, gekoppelt und finden unmittelbar im Anschluss an die Rezeption statt.6 Eine Untergattung der psychologischen Leseforschung ist die auf den Rezipienten von Literatur fokussierte Leserpsychologie. Zu ihrem Arbeitsfeld gehören „Lesealter, Lesertypologien, Leseinteressen und Lesemotivation, Textverständnis und Textverständlichkeit sowie die Wirkung von (fiktionalen und nichtfiktionalen) Texten“.7 Die Buchmarkt- und Bibliotheksforschung hat in Deutschland zwar keinen starken institutionalisierten Hintergrund und auch keine einheitliche Terminologie und Methodologie, im historischen Rückblick lässt sich jedoch eine Tradition der Buchlese(r)forschung feststellen. In regelmäßigen Abständen werden seit 1958 durch den Börsenverein des deutschen Buchhandels, das Allensbacher Institut und die Bertelsmann Stiftung Studien zum Leseverhalten der Deutschen in Auftrag gegeben. Erfragt werden Informationen zum Mediennutzungsverhalten, der Literalität, den Voraussetzungen des Lesens und den Konsequenzen der Lektüre.8 Die Ergebnisse dieser Befragungen dienen in erster Linie der Markt- und Konsumforschung, werden aber darüber hinaus in der Lesesozialisationsforschung und der hiermit verbundenen Erforschung des Mediennutzungsverhaltens verwendet. Nach Rosebrock entstanden die Begriffe ‚Lesesozialisation‘ oder ‚literarische Sozialisation‘ vor dem Horizont der aktuellen kulturellen Umwälzungen der Wahrnehmungs- und Lektüreformen; sie beschreiben nicht nur das Phänomen, sondern zugleich bereits partiell das skizzierte Verständnis von und die Reaktionsrichtung auf diese Umwälzung“.9 Da das Buch durch veränderte Mediennutzungsgewohnheiten im ausgehenden 20. Jahrhundert die Rolle des Leitmediums verloren hat, stellt sich die Lesesozialisationsforschung der Frage, wie Menschen zu Lesern werden und wie das Lesen gefördert werden kann. 6 7 8
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Vgl. Groeben, Norbert / Vorderer, Peter, Leserpsychologie II: Lesemotivation – Lektürewirkung, Münster 1988. Groeben, Leserpsychologie, S. 2. Bonfadelli, Heinz, „Leser und Leseverhalten heute“, in: Bodo Franzmann u. a. (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 86–144, hier S. 99. Rosebrock, Cornelia, „Literarische Sozialisation im Medienzeitalter. Ein Systematisierungsversuch zur Einleitung“, in: hrsg. v. ders., Lesen im Medienzeitalter, Weinheim 1995, S. 9–30, hier S. 13.
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Während der Begriff ‚Lesesozialisation‘ auf den „Prozeß der Aneignung und Vermittlung von Kompetenzen zur Rezeption und Verarbeitung von Texten aller Art“10 abzielt, ist ‚literarische Sozialisation‘ enger gefasst und bezieht sich auf literarische Medien.11 Für beide Forschungsgebiete sind die Sozialisationsinstanzen Familie, Umfeld (Peers) und Schule von äußerster Wichtigkeit, wobei die soziale Schicht, das Geschlecht und die Bildungsbeteiligung der Eltern als wichtigste Indikatoren für den späteren Leseerfolg gelten.12 Während der Begriff der ‚Lesekompetenz‘ durch die PISA-Studie im Jahr 2000 einem breiten Publikum bekannt wurde, haben sich bereits in den 1990er-Jahren zwei Schulen der Lesekompetenzforschung herausgebildet: Hurrelmann und Groeben verfolgen einen durch das Kompetenzkonzept von Chomsky geleiteten Ansatz, in dem unter Kompetenz „ein individuelles Potenzial dessen, was eine Person unter idealen Umständen zu leisten im Stande ist“,13 verstanden wird. Der später in PISA verwendete konstruktivistische Ansatz von Weinert folgt dem angloamerikanischen Reading-Literacy-Konzept und sieht Lesekompetenz als die Fähigkeit zur sozialen Teilhabe durch Lesen.14 Neuere Schulleistungsstudien wie PISA und IGLU zeigen zudem einen Paradigmenwechsel in der Leseforschung: Mit der Jahrtausendwende wurde die Vormachtstellung der qualitativen Verfahren durch empirisch valide quantitative Verfahren abgelöst. Gleichzeitig steht die empirische Leseforschung für einen klar interdisziplinären Weg, der von Lese-Psychologen, Fachdidaktikern und Fachwissenschaftlern gleichermaßen begangen wird. Die Historische Leseforschung ist eine Forschungsrichtung, die sich quer zu den bereits vorgestellten Forschungsfeldern bewegt. Sie versteht sich als „kultursoziologische und funktionsanalytische Kommunikations10
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Payrhuber, Franz-Josef u. a., „Lesesozialisation, Literaturunterricht und Leseförderung in der Schule“, in: Franzmann u. a. (Hrsg.), Handbuch Lesen, S. 568–637, hier S. 568. Vgl. Eggert, Hartmut / Garbe, Christine, Literarische Sozialisation, Stuttgart, Weimar 1995. Vgl. Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Lesesozialisation in der Mediengesellschaft, Weinheim, 2004. Groeben, Norbert, „Zur konzeptuellen Struktur des Konstrukts ‚Lesekompetenz‘“, in: Norbert Groeben / Bettina Hurrelmann (Hrsg.), Lesekompetenz, Weinheim 2006, S. 11–24, hier S. 13. Vgl. Baumert, Jürgen, Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen, 2001.
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geschichte“,15 die sich einerseits der Frage nach der Kultur des Lesens, andererseits aber auch der Kultivierung durch Lektüre widmet. Lag in der Frühphase der historischen Leseforschung der Schwerpunkt noch auf der Hochliteratur und der Kanonforschung, weitete sich das Forschungsfeld in der Folge durch die Mitberücksichtigung der Trivialliteratur und anderer populärer Lesestoffe stark aus.
3. Institutionsgeschichtliches Während die Literaturwissenschaft, die sich mit dem Gegenstand des Lesens beschäftigt, eine vergleichsweise lange Tradition hat, ist die Leseforschung eine junge Disziplin. Einen ausführlichen Einblick in die Entwicklungsgeschichte der verschiedenen Teildisziplinen kann dieser Artikel nicht bieten, allerdings sollen im Folgenden kurz Leitlinien der Leseforschungsentwicklung skizziert werden. Erste Vorläufer einer systematischen Leseforschung finden sich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wegweisend ist das von den Philosophen und Psychologen Erdmann und Dodge im Jahr 1898 verfasste Werk Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage,16 das in der Einleitung den aktuellen Forschungsstand seiner Zeit darlegt und in der Folge erste Forschungsergebnisse zu Augenbewegungen während des Lesens formuliert. 1923 publizierte Levin Ludwig Schücking seine damals viel diskutierte Soziologie der Literarischen Geschmacksbildung, die jedoch bald in Vergessenheit geriet. In der psychologischen Legasthenie-Forschung der 1950erund 1960er-Jahre wurden zunächst die Erkenntnisse von Dodge und Ermann aufgegriffen und weitere Forschungen angestellt.17 Auch wenn die herausragenden Veröffentlichungen dieser Zeit noch im angloamerikanischen Sprachraum publiziert werden, bildet sich ab diesem Zeitpunkt auch in Deutschland eine Leseforschungsgemeinschaft heraus.
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Schneider, Jost, Sozialgeschichte des Lesens, Berlin, New York 2004, S. 18. Erdmann, Benno / Dodge, Raymond, Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage, Halle 1898. Einen Überblick geben: Valtin, Renate, Legasthenie – Theopien und Untersuchungen, Weinheim 1970; Angermaier, Michael, Legasthenie – Verursachungsmomente einer Lernstörung, Weinheim 1970.
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Ab den 1960er-Jahren wird Lesen im Rahmen der Kognitiven Psychologie (Neisser18) erforscht und in den 1970er-Jahren erreicht das Lesen eine breite Beachtung als Forschungsgegenstand: Sowohl die experimentelle Leseforschung (Gibson und Levin19), wie auch die historische Leseforschung (Schenda20) und die Rezeptions- und Produktionsforschung befassen sich intensiv mit dem Lesen. Ein großer Schritt für die Institutionalisierung des Lesens bedeutete die Gründung der Deutschen Lesegesellschaft 1977. Ihr Ziel war es, systematisch das Lesen, besonders bei Kindern und Jugendlichen, zu fördern. Hierzu wurden unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der Leseforschung zielgruppenspezifische Förderprogramme entwickelt und mit den Förderpartnern, zumeist Schulen und Bibliotheken, realisiert. Die Nachfolgeorganisation der Deutschen Lesegesellschaft ist seit 1988 die Stiftung Lesen. Diese behält den Förderanspruch bei, initiiert Mediennutzungsstudien, dokumentiert veränderte Lesegewohnheiten und fungiert als Multiplikator für die Ergebnisse aktueller Leseforschung. Durch die veränderte Medienlandschaft in den 1980er-Jahren rückt die Lesesozialisationsforschung stärker in den Fokus der Leseforschung. Es werden zahlreiche Forschungsprogramme aufgelegt, von denen die Lesesozialisations-Studien der Bertelsmann Stiftung 1993 (Hurrelmann, Bonfadelli und Saxer21) und das DFG-Schwerpunktprogramm Lesesozialisation in der Mediengesellschaft 1998 (Groeben, Hurrelmann22) als die einflussreichsten gesehen werden können. Einen regelrechten Boom erlebt die Leseforschung in der Zeit seit der Jahrtausendwende: Durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA23 und bedingt durch das schlechte Abschneiden deutscher Schüler rückt Lesen in das öffentliche Interesse. Die Erkenntnis, dass Lesen einerseits als Schlüsselkompetenz in der Mediengesellschaft gilt (Groeben und Hurrelmann) und andererseits 18 19 20
21
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Neisser, Ulric, Cognitive psychology, Englewood Cliffs 1967. Gibson, Eleanor J. / Levin, Harry, The psychology of reading, Cambridge 1975. Schenda, Rudolf, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1970. Hurrelmann, Bettina u.a., „Leseklima in der Familie“, in: dies., Lesesozialisation Bd. I. Studien der Bertelsmannstiftung, Gütersloh 1993; Bonfadelli, Heinz u.a., „Lesen im Alltag von Jugendlichen“, in: dies., Lesesozialisation Bd. II. Studien der Bertelsmannstiftung, Gütersloh 1993; Saxer, Ullrich, „Lesesozialisation“, in: Heinz Bonfadelli u.a., Lesesozialisation Bd. II. Studien der Bertelsmannstiftung, Gütersloh 1993. S. 311–374. Vgl. Groeben / Hurrelmann, Lesesozialisation. Vgl. Baumert, Basiskompetenzen.
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als Grundvoraussetzung für die gelingende gesellschaftliche Teilhabe (PISA) verstanden werden muss, hat zu einer Veränderung der schulischen Leseausbildung geführt. Die Veränderung hin zur Output-Orientierung der Curricula sowie einer klaren Lesekompetenzorientierung der schulischen Ausbildung wurde vor allem mit Blick auf das Konzept des Lesens als Informations- und Sinnentnahme und die mangelnde Berücksichtigung der ästhetischen Qualität von Literatur kritisiert (Spinner). Flankiert werden die curricularen Veränderungen von zahlreichen Mediennutzungsstudien wie der KIM- und JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest, die seit 1998 im jährlichen Rhythmus durchgeführt werden.24
4. Publikationen Chartier, Roger, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, aus d. Französ. v. Brita Schleinitz u. Ruthard Stäblein, Frankfurt a. M., New York, Paris 1990. Das Buch des französischen Leseforschers Chartier besteht aus fünf Texten, die im Zeitraum von 1982–1990 entstanden, und verfolgt das Ziel, den Fokus der historischen Leseforschung neu auszurichten. Hierzu betrachtet Chartier die sozialen und kulturellen Bedingungen des Zeitraums von 1530 bis 1780, differenziert den Begriff des ‚Sozialen‘ weiter aus, untersucht die materiellen Bedingungen der Buchproduktion und beschreibt die zeitgeschichtlichen Leseweisen und Leseumstände. Eggert, Hartmut / Garbe, Christine, Literarische Sozialisation, Stuttgart 1995. In dem 1995 erschienenen und 2003 um ein Kapitel zur Literarischen Sozialisation und Lesekompetenz ergänzten Buch befassen sich Eggert und Garbe ausführlich mit dem gesamten Spektrum des literarischen Lernens. Nach einer Rückschau auf historische Modelle und einem Überblick über aktuelle Forschungsrichtungen zur literarischen Sozialisation entwerfen sie ein Konzept der literarischen Sozialisation im Kindes- und Jugendalter.
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‚KIM‘ steht für ‚Kinder + Medien‘; vgl. http://www.mpfs.de/index.php?id=10. ‚JIM‘ ist die Abkürzung für ‚Jugend, Information, (Multi-) Media‘; vgl. http://www.mpfs.de/index.php?id=11.
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Franzmann, Bodo u. a. (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999. Das im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz herausgegebene Handbuch Lesen gilt als das Standardwerk zur Leseforschung. In 17 Überblicksartikeln wird das gesamte Spektrum der Leseforschung ausführlich behandelt und die wichtigsten Strömungen der einzelnen Disziplinen zusammengetragen. Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen, Weinheim 2006. Der Sammelband entstand im Rahmen des DFG-Schwerpunkt-Programms Lesesozialisation in der Mediengesellschaft und arbeitet den nationalen und internationalen Forschungsstand zum Thema Lesekompetenz auf. Dieser wird in einzelnen Artikeln mit dem Schwerpunkt auf der Beschreibung und Erhebung von Lesekompetenz sowie auf der Betrachtung der Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren auf konkrete Projekte bezogen. Abschließend werden die Ergebnisse in einem Konzept der prototypischen Merkmale von Lesekompetenz zusammengeführt. Groeben, Norbert, Leserpsychologie: Textverständnis – Textverständlichkeit, Münster 1988. Auf bekannten Konzepten der Leseforschung aufbauend, entwirft Groeben ein umfassendes Konzept des Textverstehens. Mit dem Ziel, das Textverstehen zu verbessern, betrachtet er einerseits im Rahmen des Textverständnisses den Leser und die kognitiven Prozesse des Lesens. Andererseits analysiert er im Bereich Textverständlichkeit mit Informations- und literarischen Texten den Gegenstand des Lesens. Einen Schwerpunkt nehmen die Kapitel zur Verbesserung des Textverstehens ein, wobei auch hier sowohl auf Seiten des Lesers wie auf Seiten des Textes angesetzt wird. Günther, Hartmut / Ludwig, Otto (Hrsg.), Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research, 1. Halbband, Berlin, New York 1994. Das zweisprachige Handbuch entfaltet in 75 interdisziplinären Artikeln das Spektrum der aktuellen Forschung. Hierbei betrachtet der erste Halbband die allgemeinen, formalen und materialen Aspekten von Schrift, Schriftlichkeit und Schriftkultur. Der zweite Halbband erweitert die Betrachtung um psychologische
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Aspekte, den Erwerb von Schriftlichkeit sowie sprachliche Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit. Martino, Alberto, Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914), mit einem zusammen mit Georg Jäger erstellten Verzeichnis der erhaltenen Leihbibliothekskataloge, Wiesbaden 1990. Anhand von Leihbibliothekskatalogen entwirft Martino eine Geschichte der deutschen Leihbibliothek von der Leserevolution der 1750er-Jahre bis hin in die Zeiten des Massenbuchmarktes Anfang des 20. Jahrhunderts. Ausführlich werden die gesellschaftliche Funktion, aber auch die verschiedenen Krisen des Leihbibliothekswesens betrachtet. Eine umfassende Bibliographie schließt das Werk ab. Schneider, Jost, Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin, New York 2004. Das Werk bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der literarischen Kommunikation. Beginnend im vierten vorchristlichen Jahrhundert arbeitet Schneider die Lebensumstände der verschiedenen sozialen Schichten und ihr jeweiliges Mediennutzungsverhalten bis in die Gegenwart heraus und führt seine Beobachtungen in der Beschreibung von vier Hauptformen der literarischen Kommunikation zusammen. Schön, Erich, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987. Die veränderten Rezeptionsbedingungen des Lesens und die Rolle des Rezipienten im 18. Jahrhundert stellt Schön in seinem Buch in den Mittelpunkt. Hierbei legt er seinen Schwerpunkt auf den sich wandelnden Leseakt und analysiert die Veränderungen vom lauten zum leisen und vom gemeinsamen zum einsamen Lesen. Stein, Peter, Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens, Darmstadt 2006. Die Betrachtung der Geschichte des Lesens und Schreibens von den Anfängen der Kultur durch die Erfindung der Schrift bis hin zur Bedeutung der Schrift- und Lesekultur im Kontext der Medienkonkurrenz zeichnet Steins Werk aus. Hierbei beschränkt er seine Beobachtungen nicht auf den deutschsprachigen Raum, sondern fokussiert in seinen Beobachtungen die jeweiligen Hochkulturen und betrachtet den Einfluss weiterer
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Aspekte, wie z. B. die Rolle der Religion, auf die Entwicklung der Schriftkultur. Wittmann, Reinhard, Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991. Wittmann betrachtet in seinem Werk einen Unterbereich der Buchgeschichte und beleuchtet mit dem Buchhandel eine zentrale Instanz der literarischen Kulturgeschichte: Auch wenn der Buchhandel in der Forschung oftmals übersehen wird, nimmt er doch die Mittlerrolle zwischen Autoren und Rezipienten ein und trifft somit wichtige Selektionsentscheidungen für die literarische Kultur. Wittmann stellt die Stellung und Funktionen des Buchhandels in der Zeit nach Gutenberg dar und endet in der Moderne.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Als wichtigste Leistung der Leseforschung kann die systematische Erforschung der Bedeutung des Lesens für die Kultur genannt werden. Dies beschränkt sich nicht nur auf die historische Rückschau, sondern findet seine Fortsetzung in der Betrachtung aktueller Probleme und hilft Antworten auf die Fragen der sich wandelnden Mediengesellschaft zu geben. Gleichzeitig steht neben der kulturellen Entwicklung auch der Mensch als Individuum im Fokus der Forschung, wodurch Aussagen mit gesamtgesellschaftlichem Bezug erarbeitet werden können. Auch wenn die Leseforschung die Rolle des Lesens als Schlüsselkompetenz in der Mediengesellschaft herausstellen konnte, müssen eine empirisch fundierte Theorie der Entwicklung des Lesens und Verstehens sowie eine Analyse des Zusammenspiels der neurologischen Prozesse beim Lesen als Desiderat gekennzeichnet werden. Zudem fehlen valide Untersuchungen über die Bedeutung des Strategieeinsatzes und des Vorwissens für den literarischen Verstehensprozess. Die Leseforschung sieht sich allerdings dem Vorwurf ausgesetzt, ihre durch die interdisziplinäre Forschung gegebenen Potentiale nicht voll auszuschöpfen. Dass eine produktive Zusammenarbeit über Fächergrenzen hinweg nur partiell stattfindet, zeigt sich in den zahlreichen Definitionen von Lesen besonders deutlich. Zwar haben die interdisziplinären Forschungen der letzten Jahre beachtliche Ergebnisse erzielt, dennoch bleiben interdisziplinäre Forschergruppen eine Ausnahme in der Leseforschung.
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6. Auswahlbibliographie Prutz, Robert, „Die deutsche Belletristik und das Publicum“, in: ders., Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848 bis 1858, Bd. 2, Leipzig 1859, S. 69–89. Erdmann, Benno / Dodge, Raymond, Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage, Halle 1898. Neisser, Ulric, Cognitive psychology, Englewood Cliffs 1967. Angermaier, Michael, Legasthenie – Verursachungsmomente einer Lernstörung, Weinheim 1970. Schenda, Rudolf, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1970. Valtin, Renate, Legasthenie – Theopien und Untersuchungen, Weinheim 1970. Gibson, Eleanor J. / Levin, Harry, The psychology of reading, Cambridge 1975. Kiesel, Helmuth / Münch, Paul, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland, München 1977. Gruenter, Rainer (Hrsg.), Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle Achtzehntes Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Schloß Lüntenbeck 24.–26, Oktober 1975, Heidelberg 1977. Bruckner, Wolfgang / Blickle, Peter / Breuer, Dieter (Hrsg.), Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Teil II, Wiesbaden 1985. Hanebutt-Benz, Eva-Maria, Die Kunst des Lesens. Lesemöbel und Leseverhalten vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1985. Winckler, Lutz, Autor – Markt – Publikum. Zur Geschichte der Literaturproduktion in Deutschland, Berlin 1986. Groeben, Norbert / Vorderer, Peter, Leserpsychologie II: Lesemotivation – Lektürewirkung, Münster 1988.
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Leseforschung
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Linguistische Poetik
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Linguistische Poetik von U LRICH S CHMID
1. Definition Die linguistische Poetik war in den 1960er-Jahren einer der produktivsten Versuche, alte philologische Konzepte durch eine interdisziplinäre Annäherung von Literaturwissenschaft und Linguistik zu überwinden. Literarische Texte wurden mit linguistischen Kategorien analysiert; eine wichtige Rolle spielte überdies die kybernetische Informationstheorie, die auch auf stilistische und ästhetische Phänomene angewandt wurde.
2. Beschreibung Der Siegeszug der strukturalistischen Linguistik als geisteswissenschaftlicher Leitdisziplin in der Mitte des 20. Jahrhunderts schlug sich auch in Versuchen zur methodischen Neubegründung der Literaturwissenschaft nieder. Man wollte die Analyse literarischer Texte nach den Prinzipien der exakten Wissenschaften ausrichten.1 Eine wichtige Rolle spielten dabei formalisierte Notierungen, die vor allem aus der Logik und der Semantik übernommen wurden. In diesem Sinne wollte die linguistische Poetik die Literaturwissenschaft als Teilbereich einer linguistischen Textwissenschaft verstehen. Programmatisch formulierte Roman Jakobson 1960: „Denn wir alle begreifen jetzt, dass ein Linguist, der sich gegenüber der poetischen Funktion der Sprache verschließt, und ein Literaturwissenschaftler, der sich über linguistische Fragen und Methoden hinwegsetzt, gleicherweise krasse Anachronismen sind“.2 Literarische Kunstwerke wären in diesem Sinne als Spezialfall einer sprachlichen Äußerung beschreibbar. Die differentia specifica der künst1 2
Vgl. etwa Moles, Abraham, Théorie de l’information et perception scientifique, Paris 1957; Jakobson, Roman, „Linguistik und Poetik“ in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, S. 83–121, hier S. 119.
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lerischen Textverwendung wird in der linguistischen Poetik terminologisch unterschiedlich gefasst, baut aber in jedem Fall auf dem Verfremdungsbegriff des russischen Formalismus auf. Viktor Sˇklovskij hatte den wesentlichen Unterschied zwischen dem ästhetischen und dem alltäglichen Sprachgebrauch in der Deautomatisierung der menschlichen Wahrnehmung erblickt: In der Kunst wird Selbstverständliches verfremdet und dadurch problematisiert. Die linguistische Poetik versucht, diesen kategorialen Unterschied durch Termini wie „poetische Funktion“ (Roman Jakobson) oder „Entfunktionalisierung“ (Siegfried Schmidt) in den Griff zu bekommen.3 Im künstlerischen Gebrauch wird die einzelne Äußerung aus dem pragmatischen Deutungszusammenhang einer konkreten Situation herausgehoben („entfunktionalisiert“) und einer neuen „poetischen“ Verwendungsweise zugeführt, in der nicht mehr der Wirklichkeitsbezug, sondern die Selbstreferentialität der sprachlichen Äußerung im Vordergrund steht. Im Wesentlichen beschäftigt sich die linguistische Poetik mit einer grammatikalischen Analyse der spezifischen Regeln, die den ästhetischen Gehalt eines literarischen Kunstwerks konstituieren. Besonders wird die Tatsache unterstrichen, dass literarische Texte nicht aus Ideologien, Bildern oder Inhalten bestehen, sondern als Sprachkunstwerke verfasst sind. Eine Analyse müsse sich deshalb zuerst mit dem eigentlichen Material des Kunstwerks, nämlich der Sprache und ihrer konkreten poetischen Gestaltung, beschäftigen. Auch in dieser grundlegenden Einsicht weiß sich die linguistische Poetik dem russischen Formalismus verpflichtet. Allerdings erweitert die linguistische Poetik dieses Programm auf entscheidende Weise: Die sprachliche Verfasstheit des literarischen Kunstwerks soll nicht nur hinsichtlich Komposition und Stilistik, sondern auch im konkreten Kommunikationszusammenhang untersucht werden. Besonderes Augenmerk legt die linguistische Poetik auf neuere sozialwissenschaftliche, mathematische und kulturtheoretische Methoden: Dazu gehören etwa empirische Erhebungen, informationstheoretische Ansätze, diskursanalytische Beschreibungen oder Verfahren der kognitiven Psychologie. Diese dezidiert interdisziplinäre Ausrichtung weist die linguistische Poetik als vielfältig anschlussfähige Forschungsrichtung aus, die jedoch bisweilen einem Szientismus huldigt.
3
Vgl. Barsch, Achim, Die logische Struktur linguistischer Poetiken. Vergleichende Untersuchungen auf dem Grenzgebiet zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, Berlin 1981, S. 192.
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Eine zentrale Prämisse der linguistischen Poetik liegt in ihrem radikalen Konstruktivismus. Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben in ihrem mittlerweile zum Klassiker der Wissenssoziologie gewordenen Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1969) den Realitätsbegriff in eine subjektive und eine objektive Komponente aufgelöst. Wirklichkeit ist aus konstruktivistischer Sicht keine konstante, gegebene Größe, sondern ist gesellschaftlich determiniert: objektiv durch sinnstützende Institutionen, subjektiv durch die Sozialisation der Individuen. Ähnlich argumentiert die linguistische Poetik: Das literarische Kunstwerk wird objektiv durch die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten in einem gegebenen kulturellen Kontext und subjektiv durch die individuelle Stilisierung bestimmt. Das Anliegen der linguistischen Poetik, die relevanten Größen des literarischen Textes zu isolieren und zu beschreiben, ist durchaus legitim und wird auch den Anforderungen einer strikten Wissenschaftlichkeit gerecht. Allerdings birgt die Konzentration auf Konstruktivismus, Empirie und Formalisierung die Gefahr, das Kunstwerk auf ein mechanisches Räderwerk zu reduzieren. Wenn das rechte Augenmaß gewahrt wird, dann erfasst die linguistische Poetik erfolgreich die semantischen Strukturen, die in literarischen Texten sinnkonstitutiv wirken. In diesem Fall gelingt es ihr, die Wechselwirkungen zwischen Lautgestalt, Wortwahl, Syntaxform und Stilregister herauszuarbeiten. Dadurch erhält die literaturwissenschaftliche Interpretation einen deutlichen linguistischen Mehrwert. Die linguistische Poetik verzichtet in ihren Textanalysen indes weitgehend auf die Untersuchung ideologischer Aspekte. Das Kunstwerk ist für sie in erster Linie eine sprachliche Struktur, deren spezifisches Funktionieren beschrieben werden muss. Ideelle Aussagen treten erst dann in die Betrachtung ein, wenn sie eine beschreibbare linguistische Organisation aufweisen oder mit der sprachlichen Verfasstheit des Textes korrespondieren. Ein weiterer blinder Fleck der linguistischen Poetik liegt in der Vernachlässigung diachroner Aspekte. Der einzelne Text wird bevorzugt aus einer synchronen Perspektive analysiert; kulturhistorische Überlegungen geraten nur am Rand in den Blick. Diese Eigenheit der linguistischen Poetik liegt wahrscheinlich nicht in einem mangelndem Erkenntnisinteresse, sondern in einem Komplexitätsproblem begründet: Bereits die Rekonstruktion der semantischen Tiefenstruktur eines kurzen lyrischen Texts weist so viele Verästelungen auf, dass die Bestimmung eines ‚tertium comparationis‘ für ein literarhistorisches Vergleichsobjekt zu einem Ding der Unmöglichkeit wird.
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Es mag diesen Umständen geschuldet sein, dass die linguistische Poetik sich als Methode konstituiert hat, die vor allem einen theoretischen Anspruch vertritt und die Interpretationspraxis oft nur als Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der Theorie einsetzt. So ist auch zu erklären, dass sich die meisten gewichtigen Publikationen aus dem Umkreis der linguistischen Poetik mit der Kritik der traditionellen Literaturwissenschaft, mit der Formulierung der eigenen Prämissen und der Explikation des methodischen Vorgehens beschäftigten. Die Arbeit am konkreten Text blieb dabei nicht selten im Hintergrund. Die Vertreter der linguistischen Poetik sahen sich als Vorreiter einer neuen akademischen Disziplin, in der viele bisher isoliert betriebene Wissenschaften sich zu einem organischen Ganzen verbinden sollten.
3. Institutionsgeschichtliches Die linguistische Poetik kann sich auf eine Reihe von Vorarbeiten stützen. Ihrem Erkenntnisinteresse liegt die Vorgehensweise des russischen Formalismus besonders nahe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die formale Schule in zwei Zentren gebildet, im Moskauer linguistischen Zirkel und in der Petersburger Gesellschaft der poetischen Sprache (Opojaz). Die Verbindung von Linguistik und Literaturwissenschaft war mithin bereits durch diese doppelte Ausrichtung gegeben. Die programmatische Beschränkung des Erkenntnisinteresses auf die ‚Literarizität‘ eines Textes steigerte die Aufmerksamkeit für formalisierte Beschreibungsverfahren, wie sie von der Sprachwissenschaft bereit gestellt wurden. Gleichzeitig profitierte die lingistische Poetik aber auch von Weiterentwicklungen, die auf dem russischen Formalismus aufruhen, wie dem Prager Strukturalismus und der Moskau-Tartuer semiotischen Schule. Eine persönliche Verbindung wurde hergestellt durch Roman Jakobson, der als junger Mann Mitglied des Moskauer linguistischen Zirkels war, später den Prager Kreis mitbegründete und 1966 an Jurij Lotmans Sommerschule in Tartu teilnahm. Bereits 1964 verfasste Lotman seine Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, in der er die literaturwissenschaftliche Analyse des Kunstwerks neu begründete. Für Lotman ist die Kunst ein modellbildendes System, das die menschliche Vorstellung von der Wirklichkeit prägt. Die Aufschlüsselung der Struktur des poetischen Wirklichkeitsverständnisses, das einem künstlerischen Text zugrunde liegt, ist aus seiner Sicht die erste Aufgabe der Literaturwissenschaft. Dabei richtet Lotman seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Wiederholung bestimmter
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sprachlicher Gestaltungselemente auf verschiedenen Ebenen (Phonem, Morphem, Syntax, Prosodie usw.). Eine wichtige Etappe in der Entwicklung der linguistischen Poetik markierte der Warschauer Poetik-Kongress von 1960. Hier präsentierte Roman Jakobson seinen Vortrag Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie, in dem er den Parallelismus zwischen der grammatischen Gestalt und dem Sinngehalt in lyrischen Texten untersuchte. Andere Beiträge beschäftigten sich mit Verstheorie, dem Verhältnis zwischen Prosa und Poesie, der linguistischen Beschreibung von Stilepochen und der mathematischen Analyse von literarischen Stilphänomenen. Allerdings gab es auf diesem Kongress auch skeptische Stimmen, die das gemeinsame Arbeitsfeld von Linguistik und Poetik stark einschränken wollten. So wies etwa Roman Ingarden darauf hin, dass von einem „vollen, sinnvollen und wertreichen Kunstwerk“ nur ein unverständlicher Rumpf übrigbleibe, wenn sich die Poetik von der Sprachwissenschaft einreden lasse, das literarische Kunstwerk sei nichts weiter als eine „besonders organisierte Sprache“.4 Prominente Gegenrede gegen diese Position erhob Seymour Chatman in seiner Theory of Meter aus dem Jahr 1964. Chatman unternimmt hier einen methodischen Brückenschlag zwischen strukturaler Linguistik, experimenteller Psychologie und Verstheorie. Er versteht den Rhythmus eines Textes als Grundlage für die Metrik und analysiert in einem zweiten Schritt die Organisationsregeln der rhythmisch strukturierten Sprache. Bei seinen Analysen setzt er Tabellen und Oszillogramme ein, die die phonetische Realisierung eines poetischen Textes dokumentieren. Programmatisch beendet Chatman sein Buch mit einer methodisch optimistischen Feststellung: „Das Versmaß ist ein Merkmal für die Verfügungsmacht des Dichters; es zeigt die Angemessenheit der Formalisierung und Genrespezifizierung an. Und seine Ressourcen sind in ihrem eigenen kleinen Maßstab dazu da, semantische Bewegungen und Einzelteile oder das Ganze hervorzuheben. Auch ohne einige der schicken Eigenschaften, die man ihm zugeschrieben hat, operiert das Versmaß mit einer beindruckenden Vielfalt von Möglichkeiten, und die Analyseprobleme, die sich damit verbinden, sind ebenso interessant wie alle anderen in der Literaturwissenschaft“.5
4 5
Ingarden, Roman, „Poetik und Sprachwissenschaft“, in: Donald Davie (Hrsg.) Poetics, Poetyka, Po˙etika, Warszawa, ’s-Gravenhage 1961, S. 3–10. Chatman, Seymour, A Theory of Meter, London, The Hague, Paris 1964, S. 224.
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Ein weiterer Ansatz, der für die linguistische Poetik wichtig wurde, stammte aus Dänemark. Die Kopenhagener Schule erhob die Sprache der Kunst gegenüber der normalen Sprache in eine Metaposition: Die Kunstsprache verfüge über einen ästhetischen Inhalt, der nicht sprachlich verfasst sei, und einen Ausdruck, der seinerseits eine normalsprachliche Inhalts- und Ausdrucksseite aufweise.6 Damit griff die Kopenhagener Schule den Begriff des ‚ästhetischen Objekts‘ auf, den Broder Christiansen bereits 1909 in seiner wegweisenden Studie Die Philosophie der Kunst geprägt hatte. Das ‚ästhetische Objekt‘ ist für Christiansen jenes nichtmaterielle Korrelat des Kunstwerks, das den eigentlichen Gegenstand der ästhetischen Erfahrung bildet. Die Kopenhagener Konzeption wirkt aus heutiger Sicht allerdings ambivalent: Der Vorteil besteht darin, dass mit der verdoppelten Bedeutungsstruktur ein eindeutiges Unterscheidungskriterium zwischen künstlerischer und alltäglicher Sprachverwendung vorliegt; der Nachteil liegt allerdings in der Preisgabe der Einheit des Kunstwerks. Eine enorme Strahlkraft auf die linguistische Poetik ging von der generativen Transformationsgrammatik aus.7 1957 hatte Noam Chomsky in seinem Buch Syntactic Structures das linguistische Sprachverständnis revolutioniert. Für Chomsky ist das strukturalistische langue-parole-Paradigma zu statisch, weil es nur bestehende, nicht aber mögliche sprachliche Äußerungen erfassen kann. Chomsky seinerseits versteht die Sprache als ein generatives Prinzip und ersetzt die Opposition langueparole durch die Opposition Kompetenz-Performanz.8 Die Sprache beruht auf einem Regelsystem, das von jedem Sprecher beherrscht wird. Die Kenntnis einer begrenzten Anzahl von Regeln befähigt den Sprechenden, eine unendliche Anzahl von sprachlichen Äußerungen hervorzubringen. Die Aufgabe der generativen Transformationsgrammatik besteht darin, die Generationsregeln einer Sprache zu beschreiben und in Kenntnis dieser Regeln die Tiefenstruktur einer Äußerung zu analysieren. Chomskys Neukonzeptualisierung war für die linguistische Poetik interessant, weil hier die rein statische Strukturbeschreibung einem umfassenden dynamischen Sprachverständnis gewichen war. Chomsky hat 6
7 8
Vgl. Stender-Petersen, Adolf, „Zur Möglichkeit einer Wortkunst-Theorie“, in: Orbis Litterarum, 2/1958, S. 136–152, hier S. 148. Vgl. Ihwe, Jens, Linguistik in der Literaturwissenschaft. Zur Entwicklung einer modernen Theorie der Literaturwissenschaft, München 1972, S. 115 ff., 202 ff., 301 ff., 376 ff. Vgl. Chomsky, Noam, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 14.
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seine Theorie nicht selbst auf die Ästhetik angewandt, möglicherweise weil die Transformationsgrammatik bereits für die Beschreibung normalsprachlicher Phänomene einen sehr hohen Komplexitätsgrad aufweist. Letztlich sind auch die deutschen Vordenker der linguistischen Poetik bei der Einführung der generativen Transformationsgrammatik in den Bereich der Literaturwissenschaft gescheitert, weil sie nicht mehr die Theorie an die zu beschreibenden Phänomene anpassten, sondern umgekehrt. Bezeichnend ist indes der unterschiedliche Akzent, der bei diesen Versuchen im geteilten Deutschland gesetzt wurde: Im Osten überwog der Glaube an den neuen Menschen, der über eine ideale, lernbare Sprachkompetenz verfügt, im Westen tauchte die utopische Vision einer technischen Beschreibbarkeit aller literarischen Kunstwerke auf. In der DDR versuchte Manfred Bierwisch im Rückgriff auf Chomsky den analogen Terminus einer ‚literarischen Kompetenz‘ einzuführen, die beim Rezipienten für ein adäquates Verstehen von literarischen Texten vorauszusetzen sei.9 Eine solche Konzeption weist allerdings stark normative Züge auf und führt in eine hermeneutische Sackgasse: Sie unterstellt nämlich, dass die Bedeutung eines literarischen Textes nur mit Expertenwissen ‚richtig‘ entschlüsselt werden könne. Eine unmittelbare ästhetische Erfahrung wäre damit ausgeschlossen; die Anverwandlung des Kunstwerks müsste der wissenschaftlichen Explikation weichen. In der Bundesrepublik ließ sich auch Jens Ihwe von seiner Begeisterung für die Transformationsgrammatik davontragen. Er glaubte, eine generative Poetik mit einem endlichen Regelapparat formulieren zu können, die „nicht nur die tatsächlich gegebenen SKW (sprachlichen Kunstwerke, U.S.) einer Epoche umfasst, sondern auch die Form der möglichen SKW dieser Epoche“10 festlegt. Dieser überzogene Anspruch ist bezeichnend für den in den 1970er-Jahren weit verbreiteten Glauben an die Allmacht kybernetischer Systeme. Ihwe gebührt allerdings das Verdienst, exakte linguistische Termini in die literaturwissenschaftliche Methodendiskussion eingeführt zu haben. Besonders stark schlug sich der deutsche Versuch, die philologischen Unterdisziplinen einander anzunähern, in der institutionellen Zusammenlegung von Linguistik und Literaturwissenschaft in den neu gegrün-
9 10
Barsch, Die logische Struktur linguistischer Poetiken, S. 98. Ihwe, Linguistik in der Literaturwissenschaft, S. 373.
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deten Reformuniversitäten Konstanz (1966) und Bielefeld (1969) nieder. Allerdings muss dieses mutige Modell mittlerweile als gescheitert gelten; Linguistik und Literaturwissenschaft sind auch an diesen beiden Universitäten wieder in eigene Fachdiskurse eingetreten.11 In die 1960er-Jahre fallen bezeichnenderweise auch die Gründungen zweier deutscher Zeitschriften, die sich um eine verstärkte Vermittlung zwischen Sprach- und Literaturwissenschaften bemühten. 1967 erschien die erste Nummer der Poetica, die unter der Leitung von Forschern der Ruhr-Universität Bochum stand (Karl Maurer, Hellmut Flashar, Ingrid Strohschneider-Kohrs, Ulrich Suerbaum). Der federführende Herausgeber berief sich in seinem Gründungseditorial auf die Tradition der russischen Formalisten, aber auch auf deutsche Philologen wie Oskar Walzel, Karl Vossler und Leo Spitzer.12 Kurz darauf begründeten Helmut Kreuzer, Wolfgang Klein, Rul Gunzenhäuser und Wolfgang Haubrichs die Siegener Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, die oft nur unter ihrem Kürzel LiLi figuriert. Noch konsequenter als die Poetica wollte die LiLi die Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen überwinden. Dabei stand zwar die Kooperation zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik im Vordergrund; allerdings ließ sich bei den Herausgebern von Anfang an ein deutliches Interesse für die Verbindung zwischen Mathematik und Ästhetik beobachten. Das weitgespannte Spektrum der Themen spiegelt sich in den Titeln der einzelnen Hefte wie z. B. Textlinguistik, Trivialliteratur und Medienkunde, Literaturpsychologie, Argumentation.13 Im selben Jahr wie LiLi wurde in den Niederlanden die Zeitschrift Poetics gegründet. Auch hier stand die methodische Horizonterweiterung der Literaturwissenschaft im Zentrum des Interesses, allerdings mehr in Richtung Soziologie und Kulturgeschichte. Im ersten Editorial heißt es programmatisch: „Poetics will not be limited to these formal aspects of texts, for full understanding of literary phenomena requires examination of the historical and psycho-social conditions underlying the production
11
12 13
Vgl. Kasten, Ingrid / Neuland, Eva / Schönert, Jörg: „Literaturwissenschaft und Linguistik: Konsequenzen aus Kooperationen und Konfrontationen seit den 60er Jahren?“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 44/1997, 3, S. 4–10. Vgl. Maurer, Karl, „Zu dieser Zeitschrift“, in: Poetica, 1/1967, o. S. Vgl. Geisenhanslüke, Achim / Müller, Oliver, „Linguistik als Gegendiskurs? Die Siegener ‚Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik‘“, in: Ulrike Hass / Christoph König (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, Göttingen 2003, S. 87–106.
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and reception of literary texts, as well as the cultural, aesthetic and ideological function of literature in society“.14 In Frankreich engagierte sich vor allem der gebürtige Bulgare Tsvetan Todorov für die Anliegen der linguistischen Poetik. 1965 hatte er auf Anregung von Gérard Genette eine übersetzte Anthologie von Schlüsseltexten der russischen Formalisten herausgegeben. 1968 verfasste er den Artikel Poetik im programmatischen Sammelwerk Was ist der Strukturalismus?. 1970 gründete er mit Genette die Zeitschrift Poétique und leitete sie bis 1978. Todorov verfocht in diesen frühen Arbeiten das formalistische Prinzip der Literarizität und versuchte die Poetik als autonome Wissenschaft zu begründen, die ihren literarischen Gegenstand im Gegensatz zu psychologischen, soziologischen, ethnologischen oder ideengeschichtlichen Ansätzen aus sich selbst heraus beschreiben will. Deswegen gilt Todorovs Interesse auch nicht in erster Linie dem Einzeltext, sondern dem literarischen Diskurs, der das Entstehen bestimmter Werke erst möglich macht. 1975 wurde an der Universität Tel Aviv das Institut für Poetik und Semiotik gegründet. Roman Jakobson hielt eine Inaugurationsvorlesung mit dem Titel Language, Sign, Poetry. Seit 1979 veröffentlicht dieses Institut die Zeitschrift Poetics Today, die ihrerseits die kurzlebige Amsterdamer Zeitschrift PTL (Poetics and Theory of Literature) (1976–1979) fortführt. Spezialnummern von Poetics Today waren u. a. folgenden literaturtheoretischen Themen gewidmet: die Konstruktion von Wirklichkeit in fiktionalen Werken, Repräsentation in der modernen Literatur, Aspekte des Metaphernverständnisses. Daneben zeichnet sich Poetics Today aber auch durch ein eminentes kulturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse aus und untersucht etwa die kulturellen Prozesse in arabischen Gesellschaften oder die Kulturpoetik des Purimfestes. 1982 wurde – erneut in Siegen – die Zeitschrift SPIEL (Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft) ins Leben gerufen. Die Herausgeber Siegfried J. Schmidt und Reinhold Viehoff verabschiedeten sich im Editorial zur ersten Nummer von der traditionellen Konzentration der Literaturwissenschaft auf das Kunstwerk: „Wir sehen im literarischen Werk nicht den einzig wichtigen Gegenstand der Literaturwissenschaft. Wir beschreiben mit dem Begriff ‚Literatur‘ vielmehr den Kristallisationspunkt einer Reihe unterschiedlicher sozialer Hand-
14
Van Dijk, Teun, „Poetics: An Introduction“, in: Poetics. International Review for the Theory of Literature, 1/1971, S. 5–7, hier S. 6.
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lungen, die theoretisch und empirisch erforscht werden können und sollen“.15 Die linguistische Poetik wird hier programmatisch in Richtung Pragmatik weiterentwickelt: Nicht nur Textstrukturen sollen untersucht werden, sondern auch die soziale Situation, in die ein bestimmtes literarisches Phänomen eingebunden ist. Diese Neuausrichtung ist durchaus symptomatisch für den Stellenwert der linguistischen Poetik in der heutigen Theoriediskussion. Die strenge Beschränkung der Beschreibung des Sprachkunstwerks auf ein textlinguistisches Instrumentarium wurde fallen gelassen; gleichzeitig bewegt sich die linguistische Poetik in dieselbe Richtung wie die kulturwissenschaftliche Analyse literarischer Texte.
4. Publikationen Von kaum zu überschätzender Wichtigkeit ist Roman Jakobsons Aufsatz Linguistik und Poetik aus dem Jahr 1960. Für Jakobson steht die Frage nach der Differenzqualität eines literarischen Kunstwerks im Vordergrund. Voraussetzung für dieses Erkenntnisinteresse ist eine weite Auffassung des Gegenstandes der Linguistik: Keinesfalls dürfe sich die Linguistik auf den Satz als größte Analyseeinheit beschränken; ebensowenig sei eine Verabsolutierung der Grammatik als des einzigen Beschreibungsmodells zulässig. Jakobson ordnet den literarischen Text in ein Kommunikationsmodell ein, bei dem der Text als Botschaft zwischen Sender und Empfänger verschiedene Funktionen ausüben kann. Dabei unterscheidet er sechs verschiedene Spielarten: Die referentielle, die emotive, die konative, die phatische, die metasprachliche und schließlich die poetische Funktion. Es ist nun genau die poetische Funktion, die das Spezifische der Literatur ausmacht. In der poetischen Funktion äußert sich die Einstellung der Botschaft auf ihre eigene sprachliche Verfasstheit. Zu nennen sind hier Phänomene wie Lautmalerei, rhetorische Gestaltung oder Rhythmisierung der Sprache. Jakobson hält programmatisch fest: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“.16 Im alltäglichen, nichtliterarischen Sprachgebrauch wählt der Sprecher aus verschiedenen äquivalenten Wörtern einen bestimmten Ausdruck, der zusammen mit 15 16
Schmidt, Siegfried J. / Viehoff, Reinhold, „Editorial“, in: SPIEL, 1/1982, 3f, S. 3. Jakobson, „Linguistik und Poetik“, S. 94.
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weiteren Wörtern eine syntaktische Einheit bildet. Die hierbei eine Rolle spielenden Relationen nennt Jakobson ‚Similarität‘ (ein Wort kann durch ein anderes ersetzt werden) und ‚Kontiguität‘ (ein Wort kann mit einem anderen Wort kombiniert werden). Im literarischen Sprachgebrauch werden nun Syntagmen gebildet, in denen die einzelnen Elemente äquivalent sind. Dabei gibt es unterschiedliche Aspekte: Die Wörter können die gleiche Silbenzahl, eine ähnliche Lautstruktur (Alliteration, Assonanz, Reim) oder dieselbe Metaphorik aufweisen. Als Beispiel für ein äquivalentes Kombinationsprinzip führt Jakobson etwa Cäsars Diktum ‚Veni, vidi, vici‘ an, dessen einzelne Elemente bei minimaler Varianz über eine maximale lautliche Ähnlichkeit verfügen. Exemplarisch hat Jakobson seine Thesen ein Jahr später im Aufsatz Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie anhand einer Analyse eines Puˇskin-Gedichts durchgeführt. Jakobson zeigt hier, dass Puˇskin ohne Bilder auskommt und den Effekt seines lyrischen Textes ganz auf dem Spiel mit grammatikalischen Kategorien aufbaut. Dazu gehört das Verhältnis von Adjektiven und Adverbien, der Wechsel zwischen Aktiv- und Passivformen des Verbes ‚lieben‘ und die stark ausgebaute Deklination des Personalpronomens.17 1962 legte Jakobson gemeinsam mit Claude Lévi-Strauss eine Interpretation von Baudelaires Gedicht Les chats vor und demonstrierte dadurch die Leistungsfähigkeit seines Ansatzes. Die Autoren stellen in dem Gedicht weitgehende Parallelen und Übereinstimmungen zwischen der inhaltlichen Gliederung, der Metaphorik, der Reimstruktur und der Phonetik fest. Die ästhetische Wirkung von Baudelaires Les chats beruht laut Jakobson und Lévi-Strauss auf einem komplexen Geflecht von Ähnlichkeits- und Kontrastverhältnissen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen.18 Diese Musteranalyse hat in der strukturalistischen Literaturwissenschaft eine lange Debatte hervorgerufen, deren einzelne Wortmeldungen in zwei Sammelbänden dokumentiert sind.19
17
18
19
Vgl. Jakobson, Roman, „Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie“, in: ders., Poetik, S. 233–263, hier S. 245. Vgl. Jakobson, Roman / Lévi-Strauss, Claude: „‚Die Katzen‘ von Charles Baudelaire“, in: ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt a. M. 1992, S. 206–232. Vgl. Delcroix, Maurice / Geerts, Walter (Hrsg.), ‚Les Chats‘ de Baudelaire. Une confrontation de méthodes. Namur, Paris 1980. – Vidal-Beneyto, José (Hrsg.), Posibilidades y límites del análisis estructural. Una investigación concreta en torno a lenguaje y poesía, Madrid 1981.
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5. Fachgeschichtliche Einordnung Die linguistische Poetik spielt in der aktuellen Literaturtheorie nur noch eine untergeordnete Rolle. Dies ist vor allem auf die sich immer weiter öffnende epistemologische Schere zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft zurückzuführen. Das Erkenntnisinteresse der Linguistik hat sich im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert stark ausdifferenziert und beschäftigt sich kaum mehr mit der Deutung literarischer Texte. Zu konstatieren ist einerseits eine intensive Entwicklung von Grammatiktheorien und andererseits eine verstärkte Auseinandersetzung mit soziologischen und interkulturellen Fragestellungen. Aber auch die Literaturwissenschaft hat sich von der Konzentration auf die sprachliche Verfasstheit ihres Untersuchungsgegenstandes entfernt. Programmatisch wurde eine kulturwissenschaftliche Wende in den Geisteswissenschaften ausgerufen, die mittlerweile die Forschungsagenda maßgeblich bestimmt. Ende der 1980er-Jahre setzten der Wissenschaftsrat und die Westdeutsche Rektorenkonferenz eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe prominenter Experten ein, die sich zur Zukunft der Geisteswissenschaften äußern sollte. Dazu gehörten der Germanist Wolfgang Frühwald, der Romanist Hans Robert Jauß, der Philosoph Jürgen Mittelstraß und der Historiker Reinhart Koselleck. In ihrer Denkschrift Geisteswissenschaften heute (1991) stellten die Autoren ernüchtert fest, dass die alte Einheit der philosophischen Fakultät nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Die verlorenen interdisziplinären Verbindungen seien nur noch durch übergreifende kulturwissenschaftliche Fragestellungen kompensierbar. Ein fruchtbares Anwendungsfeld fand die linguistische Poetik in den 1970er- und -80er-Jahren in der computergestützen Stilanalyse. Ein wichtiger Forschungsgegenstand war dabei die Attribuierung von Texten mit umstrittener Autorschaft. So versuchte man etwa die Einheit von Shakespeares Werk durch vergleichende Stilanalysen zu erweisen. Dabei wurden in verschiedenen Texten die Satzlänge, die Frequenz von Relativsätzen, die Spezifika der Wortbildung und der Einsatz von determinierenden Partikeln verglichen.20 In ähnlicher Weise wurde der Roman Der stille Don des sowjetischen Nobelpreisträgers Michail Sˇolochov untersucht. Die Forschergruppe konnte aufgrund bestimmter Rekurren-
20
Dolores M. Burton, Shakespeare’s Grammatical Style. A Computer-Assisted Analysis of Richard II and Antony and Cleopatra, Austin, London 1973.
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zen von lexikalischen und syntaktischen Mustern mit hoher Wahrscheinlichkeit die Authentizität des Manuskripts bestätigen.21 In jüngster Zeit lässt sich indes auch wieder ein zunehmendes Forschungsinteresse an der Poetik feststellen. Monika Schmitz-Emans, Manfred Schmeling und Uwe Lindemann haben im Jahr 2009 ein Lexikon der Poetiken herausgegeben, das die Kernthemen poetologischer Reflexionen in den westlichen Literaturen darstellt, sie in ihrer netzwerkartigen Struktur transparent macht und die Geschichte ihrer Entfaltung darlegt. Die raison d’être dieses Nachschlagewerks verdankt sich zu einem guten Teil der konzeptuellen Vorarbeit, die durch die linguistische Poetik geleistet worden ist.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Ihwe, Jens, Linguistik in der Literaturwissenschaft. Zur Entwicklung einer modernen Theorie der Literaturwissenschaft, München 1972. Frühes programmatisches Theoriekompendium, das vom ungebrochenen Glauben an die Möglichkeiten der ‚Linguistierung‘ der Literaturwissenschaft getragen ist. Wirrer, Jan, Literatursoziologie, linguistische Poetik. Zur diskussion anhand zweier texte von W.B. Yeats, München 1975 (Grundfragen der Literaturwissenschaft 9). Diese Tübinger Dissertation wendet die Erkenntnisse der linguistischen Poetik auf ein Sonett und ein Drama von Yeats an und versucht dabei, die Transformation eines Mythos im Gedicht und das zentrale Handlungselement des Tausches im Drama mit strukturalistischen Mitteln zu erläutern. Küper, Christoph, Linguistische Poetik, Stuttgart 1976. Praxisbezogenes Handbuch, das strukturalistisch den Bedeutungsaufbau des literarischen Kunstwerks untersucht und dabei in aufsteigender Folge die graphemische, die phonologische, die morphologische, die syntaktische, die semantische und schließlich die Text-Ebene berücksichtigt.
21
Geir Kjetsaa, The authorship of „The Quiet Don“, Oslo 1984.
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Barsch, Achim, Die logische Struktur linguistischer Poetiken. Vergleichende Unterschungen auf dem Grenzgebiet zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, Berlin 1981. Bilanzierender Überblick über die linguistischen Poetiken von J. Ihwe, T.A. van Dijk, G. Wienold, S.J. Schmidt und J.S. Petöfi. Hoffmann, Michael / Kessler, Christine (Hrsg.), Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 2003 (Sprache. System und Tätigkeit 47). In diesem Sammelband wird zunächst der theoretische Versuch unternommen, zentrale Analysekategorien wie ‚Text‘, ‚erlebte Rede‘ oder ‚Perspektive‘ aus literaturwissenschaftlicher und linguistischer Sicht zu definieren. In einem zweiten Teil wird das so gewonnene Instrumentarium in konkreten Werkanalysen angewendet. Hass, Ulrike / König, Christoph (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute, Göttingen 2003 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 4). Gute kritische Würdigung der linguistischen Poetik, in der auch wissenschaftshistorische und institutionelle Aspekte zur Sprache kommen. Gleichzeitig wird auch das Verhältnis der linguistischen Poetik zu Stilistik, Rhetorik und Diskursanalyse behandelt.
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1. Definition Literatur handelt sehr häufig von Menschen im Einzelnen und Konkreten und dem Menschen im Generellen und Allgemeinen. Sie zeigt ihn in seinen Bedingtheiten und Vermögen, in seinen Leistungen und Grenzen; und sie spricht ihn in der ästhetischen Erfahrung auf eine spezifische Weise an. In Akten des Fingierens und Imaginierens, des Lesens und verstehenden Nachvollzugs tritt Literatur in Produktion und Rezeption mit dem Menschen, seinem Wissen von sich selbst und seinen Vermögen der Weltwahrnehmung und -gestaltung in Verbindung. Literatur als Medium leistet dies in (selbst-)reflektierter und reflektierender Form. Literatur ist so in doppelter Weise anthropologisch bedeutsam: Sie stellt den Menschen dar, thematisiert ihn; und sie gestaltet seine Weltverhältnisse ästhetisch. Dies in der Literarischen Anthropologie zu erfassen, geschieht weniger in einem strengen Sinn von ‚Methode‘, sondern in der Verbindung von literatur- und wissensgeschichtlichen, wissenstheoretischen sowie rezeptionshermeneutischen Herangehensweisen.
2. Beschreibung Literarische Anthropologie trägt bei zum Wissensbestand der Anthropologie im Allgemeinen und einer Kulturanthropologie im Besonderen. Wenn sie diesen Beitrag insbesondere literarisch erbringt, geschieht dies nicht nur im Hinblick auf Bestände, Prozesse und Funktionen des Wissens und der Wissenschaft, sondern auch durch die besondere ästhetische Gestaltung von (menschlichen) Erfahrungen, Rezeptionsformen und Deutungsstrukturen. Literatur in ihrer produktiven ästhetischen Dynamik von Imagination, Mimesis und Performanz macht einerseits etwas mit uns als Menschen; als Menschen gestalten wir andererseits unser
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kulturelles, existenzielles und damit anthropologisches Wissen von uns selbst literarisch, in und als Literatur. In der Literarischen Anthropologie verbinden sich somit zwei verschiedene Argumentationsrichtungen, sofern einerseits eher das Wissen vom Menschen und andererseits dessen literarische Vermittlung und Darstellung stärker in den Blick genommen wird. Weil sich diese beiden Argumentationsrichtungen bisweilen sogar auch widersprechen und – gerade literarisch – in einen produktiven Widerstreit gebracht werden können, schwankt die methodologische bzw. (literatur-)wissenschaftliche Wertschätzung Literarischer Anthropologie durchaus. Genauigkeit verlangt die selbstkritische Reflexion und Offenlegung der implizierten anthropologischen Prämissen und Modelle, die jede literaturanthropologische Untersuchung vornehmen sollte. Denn sie kann sich zum einen auf die Literatur oder die Anthropologie beziehen. Zum anderen kann sie dabei historisch oder überhistorisch bzw. mit einem allgemein-systematischen Anspruch argumentieren. Die Literarische Anthropologie in ihrem doppelten Interesse an literarischer Darstellung und anthropologischer Wissensorientierung ist auch methodengeschichtlich aus zwei verschiedenen Traditionslinien herzuleiten, die die beiden beschriebenen Argumentationsrichtungen erklären. Die eine Traditionslinie lässt sich als eine literaturwissenschaftliche Hinwendung zu Themen, Fragen und Problemen der Anthropologie nachzeichnen. Das Interesse an ihr setzte in den 1980er-Jahren in der Erforschung der Aufklärung und des späteren 18. Jahrhunderts ein. Anthropologie ist hierbei im engeren, philosophiegeschichtlichen Sinn thematisiert worden; sie ging damit also von einer literatur-, philosophiebzw. kulturhistorischen Problemlage aus. „Gemeinsamer Fluchtpunkt […] sind die differenzierten und vielfach ambivalenten Folgen jener Rehabilitation der Sinnlichkeit, die das 18. Jahrhundert prägt und in der Anthropologie der Spätaufklärung ihren Höhepunkt erreicht“1 und um das Problem des ‚ganzen Menschen‘ kreist. Die andere, schon seit den späten 1970er-Jahren sich zeigende Linie in der Forschung lässt sich bestimmen als eine Erweiterung kulturanthropologischer, ethnologischer und kultursoziologischer Überlegungen. Deren Konzepte wurden mehr und mehr auch auf das Korpus literarischer Texte und deren literaturwissenschaftliche, insbesondere diskursgeschichtliche Analyseverfahren ausgedehnt. 1
Barkhoff, Jürgen / Sagarra, Eda, „Vorwort“, in: hrsg. v. dens., Anthropologie und Literatur um 1800, München 1992, S. VI–IX, hier VI.
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Wolfgang Riedel hat beide Linien und Fragerichtungen als Literarische Anthropologie (1) und Literaturanthropologie (2) in einer wichtigen Standortbestimmung strikt voneinander unterschieden.2 Literarische Anthropologie (1) lasse sich von den einzelnen literarischen Texten herleiten. In und mit ihnen zeige und kommentiere sie ‚den‘ Menschen und seine Selbstdarstellung und Selbstreflexion. Dies tut sie auch kritisch, und auf historisch sich wandelnde Weise. Die eher kulturwissenschaftlich argumentierende Literaturanthropologie (2) hingegen formuliert „ein kulturwissenschaftliches Neuverständnis von Literaturwissenschaft als historischer Kulturanthropologie“.3 Sie stellt nach Riedel die Texte allen anderen Äußerungen des Menschen gleich und begreift sie (nur) als Dokumente für den Menschen. Die erste Argumentationsrichtung ist eine stärker literaturwissenschaftlich-interpretative, wie sie Riedel im deutschsprachigen Raum verortet; die zweite eine kulturwissenschaftliche und ethnologisch inspirierte bzw. diskursgeschichtlich verfahrende Argumentationsrichtung, wie sie den ‚cultural studies‘ im Wissenschaftsverständnis des anglo-amerikanischen Raums entspricht. Riedel selbst ordnet seine eigene Position der ersten Argumentationsrichtung zu. Denn die „Festschreibung auf Kulturwissenschaft im engeren Sinne von literary anthropology […] zieht den Rahmen für die Philologien zu eng. Ohne Not unterwirft sie den wissenschaftlichen Umgang mit der schriftlichen Überlieferung der […] Tendenz zur Soziologisierung der Geisteswissenschaften“.4 Mit einer solchen Tendenz, die aber etwas treffender als eine Tendenz zur Ethnologisierung bezeichnet werden müsste, geht das ästhetisch Besondere von Literatur verloren. Dieses bestimmt sich nach Riedels Auffassung gerade darin, dass „die Literatur einen ‚Diskurs vom Menschen‘ [führt]. Dieser Diskurs bewegt sich […] in größtmöglicher Nähe zu Erfahrung und Erleben, zu Aisthesis und Emotion, und ist von daher gekennzeichnet durch eine geradezu spezifische Leibaffinität. Liebe und Tod, Lüste und Schrecken, ‚Traum und Rausch‘, temps perdues und senilità – Literatur und Dichtung kann und will von den ‚physiologischen‘ oder ‚Natur‘-Aspekten der condition humaine, von
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Vgl. Riedel, Wolfgang, „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung“, in: Wolfgang Braungart / Klaus Ridder / Friedmar Apel (Hrsg.), Wahrnehmen und Handeln: Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004, S. 337–366. Riedel, Wolfgang, „Art. ‚Literarische Anthropologie‘“, in: Harald Fricke u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II, Berlin, New York 2000, S. 432–434, hier 433. Riedel, „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung“, hier S. 349 f.
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der Körper- und Triebgebundenheit unseres Daseins, der Sinnlichkeit unserer Wahrnehmungsformen, gar nicht abstrahieren“.5 Literatur wird mit ihrer modernen Ausdifferenzierung als kulturelles und soziales System seit etwa 1750 nicht nur von ihrem Wechselspiel mit der Anthropologie und ihrem Wissen besonders geprägt. Moderne Literatur wird damit zudem – historisch gesehen – in gewisser Weise auch ‚anthropologischer‘ und ‚sinnlicher‘, d. h. sinnlichkeitsnäher. Wie sich also seit dem 18. Jahrhundert Ästhetik und Anthropologie intra- wie interdisziplinär neben- und miteinander in teilweise höchst bedeutsamer Weise entfalten, so etabliert sich auch die Literatur zur selben Zeit und bis ins 20. Jahrhundert hinein in dieser Hinsicht als das kulturelle Leitmedium: In der Perspektive einer Literarischen Anthropologie ist dies kein bloßes Nebeneinander oder gar Zufall, sondern geradezu wechselseitige Bedingung. Denn die Tatsache, dass für den Menschen (als ein sinnbedürftiges Lebewesen) Literatur, Sprache, Schrift oder die Künste als kulturelle Medien immer schon einen anthropologischen Stellenwert haben, erhält mit der Entfaltung der Anthropologie als eines ausdifferenzierten Wissensbereiches eine umfassendere und selbstreferenzielle, meta-reflexive Bedeutung, die Literatur zu dem diskursiven Medium der Sinnlichkeit und Naturhaftigkeit des Menschen werden lässt. In und seit der ‚Sattelzeit‘ erst werde die ‚(schöne) Literatur‘ „von der Entstehung der Anthropologie als Wissenschaft“6 kontextualisiert und Literatur hat dann ihren anthropologischen Stellenwert darin, (selbst-)kritischer Kommentar der kulturellen und geschichtlichen Entwicklung des Menschen zu sein und ihm ein ‚anderes‘ Wissen von sich selbst zu geben. In der Spätaufklärung sind es ein (kultur-)kritischer Naturbegriff und die Physiologie, in der Romantik die Traumwelten des Psychischen und Psycho-Pathologischen, um und nach 1900 dann Soziologie, Biologie oder Psychoanalyse, mit denen sich dieses ‚andere‘ Wissen, literarisch, kritisch und ‚kommentarhaft‘ zum Ausdruck gebracht hat. Die Frageperspektive und das Forschungsprogramm einer so bestimmten Literarischen Anthropologie lassen sich dabei wie folgt charakterisieren: Erstens geht eine Literarische Anthropologie von einer ‚aisthetischen‘ Auffassung literarischer Erfahrung (der ästhetischen Erfahrung von Literatur) aus.7 Zweitens erscheint sie als kritische, kommentarhafte 5 6 7
Ebd., S. 361. Riedel, „Art. ‚Literarische Anthropologie‘“, hier S. 433. Die Ausweitung der philosophischen Ästhetik zu einer umfassenderen Wahrnehmungslehre, einer von der Aisthesis ausgehenden ‚Aisthetik‘ diskutieren: Seel,
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Reflexion in der Perspektive des Wissens (von diesen menschlichen Erfahrungen) und drittens als eine Form moderner Subjektivitätskritik mit ganz verschiedenen Facetten.8 Alle drei Charakterisierungen bzw. Leistungen von Literatur sind so als eine Form reflektierter, kultureller Vermitteltheit zu verstehen, als ein sich kritisch – mit sich selbst als Mensch, in seinen anthropologischen Vermögen und seinen Begrenzungen – in Beziehung Setzen. Diese kulturelle Vermitteltheit des Menschen kommt – als Wissen – in der Literatur und – als Prozess der Wissensvermittlung – eben literarisch zum Ausdruck und zeigt sich dabei, nach der Formulierung Wolfgang Isers, als „ein ständiges Sich-selbst-Überschreiten des Menschen“.9 Diese Dynamik kann eine literarische Kulturanthropologie herausarbeiten, indem sie Literatur z. B. in den Kategorien von Mythos, Mimesis, Ritual, Inszenierung, Spiel oder Performativität betrachtet, wie sie Iser (im Blick auf Inszenierung und Performanz) als einer der Ersten in besonderer Weise literaturanthropologisch systematisiert und profiliert hat. Dabei hat er darauf insistiert: „[…] die Inszenierung der Literatur veranschaulicht die ungeheure Plastizität des Menschen, der gerade deshalb, weil er keine bestimmte Natur zu haben scheint, sich zu einer unvordenklichen Gestaltenfülle seiner kulturellen Prägung zu vervielfältigen vermag“.10
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Martin, „Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung“, in: Birgit Recki / Lambert Wiesing (Hrsg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München 1997, S. 17–38; Welsch, Wolfgang, „Erweiterungen der Ästhetik. Eine Replik“, in: Birgit Recki / Lambert Wiesing (Hrsg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München 1997, S. 39–67. Als systematischen Entwurf ausformuliert hat dieses Programm: Böhme, Gernot, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Die Konsequenzen einer solchen Perspektive für die ästhetische Erfahrung im Umgang mit Literatur diskutiert: Laak, Lothar van, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003, S. 23–48. Vgl. z. B. Spies, Bernhard, Politische Kritik, psychologische Hermeneutik, ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. Iser, Wolfgang, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1993, S. 12. Ebd., S. 481–515, hier 505. Siehe zur Mythenforschung auch den Beitrag von Ralph Köhnen in diesem Band. Der literarischen und literaturanthropologischen Bedeutung des Rituals widmet sich: Braungart, Wolfgang, Ritual und Literatur, Tübingen 1996. Zur Herleitung der Kategorie der Performativität aus der Pragmatik und ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Aktualisierung siehe: Wirth, Uwe (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.
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Von dieser Formulierung aus eröffnen sich letztlich auch die vier Perspektiven literaturanthropologischen Arbeitens, wie es sich derzeit zeigt: Die Literarische Anthropologie bemüht sich (1) darum, die „Plastizität des Menschen“ und die „Gestaltenfülle seiner kulturellen Prägung“ weiter auszudifferenzieren. Die Literaturanthropologie widmet sich (2) eher den soziologischen und kultur-anthropologischen Verfahren der (diskursiven) Prägung dieser literaturanthropologischen Vielfalt des Menschen; ferner diskutiert (3) eine rezeptionshermeneutisch-systematisierende Perspektivierung Literarischer Anthropologie die ästhetischen Verfahren des Inszenierens, des Veranschaulichens und der kulturellen Vervielfältigung, Darstellung und Anreicherung selbst, in denen sich die Dynamik menschlichen Handelns in und mit Literatur entfaltet; und schließlich fragt (4) eine (evolutions-)biologisch argumentierende Literaturanthropologie heute nach den natürlichen Ursachen für die (und den kulturellen Umgang mit den) Eigentümlichkeiten, die sich aus der anthropologischen Bestimmung ergeben, dass der Mensch „keine bestimmte Natur zu haben scheint“.
3. Institutionsgeschichtliches Als Denkansatz bzw. methodologische Argumentationszusammenhänge finden sich Literaturanthropologie (als ‚cultural‘ resp. ‚literary anthropology‘) seit den späten 1970er-, Literarische Anthropologie seit den 1980er-Jahren. Der ertragreiche wissenschaftsgeschichtliche Höhepunkt dieses Denkansatzes lag zweifellos in den 1990er-Jahren. Er erklärt sich aus dem produktiven Zusammenwirken auch widerstreitender Tendenzen, wie sie sich aus der Beschreibung der beiden genannten unterschiedlichen argumentativen Traditionslinien ergeben. Deren gemeinsamer Denkansatz ist dabei das methodologische Bedürfnis einer lebensweltlichen Kontextualisierung von literarischen Texten. Diese werden nicht nur als ästhetisch-autonome Kunstwerke und poetisch von ihrer Literarizität her verstanden, sondern auch sozial situiert und insbesondere mit den (anthropologischen) Wissensbeständen im Allgemeinen (fiktionale 2002. Zu ihrer Entfaltung und Weiterentwickung die Arbeiten von Erika FischerLichte, Sybille z. B.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; Krämer, Sybille (Hrsg.), Performativität und Medialität, München 2004. Siehe zu einer ersten kulturwissenschaflichen Orientierung im Blick auf diese Kategorien auch: Fauser, Markus, Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2006.
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Produktion und rezeptive Wahrnehmbarkeit von Literatur) oder im Historisch-Besonderen (z.B. Einbeziehung medizinischen Wissens für die literarische Gestaltung bei Schiller)11 produktiv in Beziehung gesetzt. Diese lebensweltliche, soziale und wissensbasierte bzw. -bezogene Kontextualisierung lässt sich aus der Hinwendung zum sozialen Ort von Literatur verstehen, wie sie die Gesellschafts- und Literaturwissenschaft der 1970er-Jahre forcierte. Sie partizipierte dann aber auch an der Bewegung des ‚cultural turn‘ in den Geisteswissenschaften, ohne dass man allerdings von einem ‚anthropological turn‘ sprechen könnte.12 Denn die kulturwissenschaftlich geprägte Praxis der Literaturanthropologie im engeren Sinne trug mit ihrer Ausweitung und Entgrenzung der Auffassung von der ‚Kultur als Text‘ in der Tat nicht nur zur Ethnologisierung der Geistes- und Literaturwissenschaft bei. Sie löste letztlich auch die Grenzen zwischen den (anthropologischen) Wissensbeständen und -formen und ihren literarisch verfassten Gegenständen tendenziell auf. Diese zu weit gehende kulturwissenschaftliche Entgrenzung ist insofern auch ein wichtiger Impuls gewesen, die Literarische Anthropologie (1) auch ganz bewusst und kritisch (wieder) von der Literaturanthropologie (2) abzusetzen und die historischen und spezifisch literarischen Qualitäten von Texten als literaturwissenschaftliche Gegenstände hervorzuheben. Literarische Anthropologie ist insofern zum Teil auch als eine stärker hermeneutisch und literaturgeschichtlich argumentierende Gegenströmung zu diskursanalytischen Verfahren anzusehen, die sich in der Literaturwissenschaft ja ebenfalls seit den 1970er-Jahren entfaltet haben und der kulturwissenschaftlich geprägten Literaturanthropologie näher stehen. Die Literarische Anthropologie hat demgegenüber eine Traditionslinie aufgegriffen, die sich bis auf Johann Gottfried Herders Sprach- und Literaturauffassung zurückbeziehen lässt13 und sowohl an die Kategorie des 11
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Vgl. Riedel, Wolfgang, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘, Würzburg 1985. Aufschlussreich sind in dieser Perspektive auch die Beiträge in: Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994. Vgl. zum interdisziplinären bzw. kulturwissenschaftlichen Wandlungskonzept des ‚turns‘ insgesamt und dem Stellenwert (kultur-)anthropologischer und biologischer Aspekte in den aktuellen Debatten: Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 389–395. Vgl. dazu die Studien von: Adler, Hans, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990; Herz, Andreas, Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg 1996.
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Erlebnisses in der lebensphilosophischen Hermeneutik Wilhelm Diltheys14 als auch an das Konzept der ästhetischen Erfahrung in John Deweys Kunstanthropologie anknüpfen kann.15 Die Hermeneutik, z.B. diejenige Gadamers, dynamisiert sie, indem sie die Vollzugshaftigkeit von Literatur und ihrer ästhetischen Erfahrung noch stärker in den Blick rückt. Eine – oben bereits beschriebene – Sonderstellung neben den kulturwissenschaftlichen Arbeiten der Literaturanthropologie und den literaturhistorisch ansetzenden Einzelstudien der Literarischen Anthropologie nehmen die Arbeiten Wolfgang Isers ein (1989, 1991).16 Dessen Literaturanthropologie entwickelt sich aus der Tradition einer phänomenologischen Rezeptionsästhetik und versteht sich selbst als systematischer Entwurf zur Bestimmung des Imaginären durch die Reflexion der Fiktionalität von Literatur. Isers Ansatz ist aber einerseits als am wenigsten schulbildend einzuschätzen, andererseits vielleicht aber auch als noch am wenigsten ausgeschöpft; dies erklärt sich aus seinem relativ abstrakten Charakter. Allerdings hat er Eingang in das Profil des Sonderforschungsbereichs Literatur und Anthropologie gefunden, der in den Jahren von 1996 bis 2002 an der Universität Konstanz eingerichtet gewesen ist. Einen wichtigen neuen Impuls für das Verhältnis von Literatur und Anthropologie haben die Arbeiten von Karl Eibl und Rüdiger Zymner seit Mitte der 1990er-Jahre gegeben. Mit ihrer Aufnahme aktueller evolutionsbiologischer, neuro- und kognitionswissenschaftlicher Forschungen und der Aneignung dieser neuen anthropologisch-naturwissenschaftlichen Wissensbestände für die Literaturwissenschaft lässt sich nicht nur das Forschungsprogramm der Literarischen Anthropologie weiter ausformulieren. Auch wenn bei diesem Ansatz zurzeit das systematische Interesse stark überwiegt und die Verbindung zu den historischen Gegenständen noch zu selten gesucht wird, zeichnen sich interes14
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Siehe zur Erlebniskategorie bei Dilthey allgemein: Sauerland, Karol, Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literarhistorischen Begriffs, Berlin, New York 1972, S. 103 ff.; weiterführend und im Vergleich mit Wilhelm Scherer: Kindt, Tom / Müller, Hans Harald, „Dilthey gegen Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps“, in: DVjs, 74/ 2000, S. 685–709, hier 705. Dewey, John, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M. 1998 [orig. Art as Experience, 1934]; aufgegriffen und weiter entwickelt hat diese Position: Shusterman, Richard, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1994 [orig. Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Art, 1992]. Vgl. Iser, Wolfgang, „Towards a Literary Anthropology“, in: Ralph Cohen (Hrsg.), The Future of Literary Theory, New York, London 1989; ders., Das Fiktive und das Imaginäre.
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sante literaturwissenschaftliche Ergebnisse ab: So lässt sich in dieser Forschungsperspektive für den Menschen fragen, ob er nicht das ‚animal poeta‘ der Natur darstellt, dessen Bedürfnis und Weltverhältnis poetisch bzw. ‚poietisch‘ zu nennen ist. Oder auch: Inwiefern werden Emotionen durch Literatur fassbar, mitgestaltet und moduliert? Und noch eine letzte Frage: Lassen sich ästhetische Situationen und sozial-kommunikative Gelegenheiten von existenzial-anthropologischen Gegebenheiten ableiten und Gattungen somit als ‚poetogene Strukturen‘ auffassen und gattungstheoretisch neu bestimmen? Letztlich entgeht man mit diesem Frage-Ansatz auch der wenig hilfreichen Totalisierung der Auffassung von ‚Kultur als Text‘ einerseits; und andererseits umgeht man damit auch die grundsätzliche Gefahr einer nicht mehr systematisierbaren Partikularisierung historischer Einzelphänomene im Verhältnis von Literatur und anthropologischem Wissen. Der Preis der so gewonnenen Forschungsaktualität, der biologischempirischen Fundierung geisteswissenschaftlicher Argumentationen und der neuen ‚lebenswissenschaftlichen Anschlussfähigkeit‘ dieses literaturanthropologischen Neuansatzes kann aber das Wieder-unhistorisch-Werden einer solchen Argumentation sein. Sie würde sich dann als eine neue Form einer Literaturanthropologie (2) erweisen. Diese müsste zudem sogar in noch stärkerem Maße den prinzipiellen wissenschaftstheoretischen Vorwurf an die Anthropologie generell hinnehmen, nur unhistorisch argumentieren zu können und unhintergehbar – und unkritisierbar – überhistorische Universalien zu postulieren.
4. Publikationen Nach dem frühen programmatischen Versuch Fernando Poyatos’ im Jahr 1977, eine ‚literary anthropology‘ im Sinne von Literaturanthropologie (2) zu proklamieren, sind die Beiträge in den Sammelbänden von Fernando Poyatos (1988), Paul Benson (1993), Doris Bachmann-Medick (1996) und Jürgen Schlaeger (1996) als wichtigste Äußerungen der kulturwissenschaftlichen Literaturanthropologie zu nennen.17 17
Vgl. Poyatos, Fernando (Hrsg.), Literary Anthropology. A New Interdisciplinary Approach to People, Signs and Literature, Amsterdam 1988; Benson, Paul (Hrsg.), Anthropology and literature, Urbana/Illinois 1993; Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996; Schlaeger, Jürgen (Hrsg.), The Anthropological Turn in Literary Studies, Tübingen 1996.
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Forschungsgeschichtlich in der hermeneutisch-literaturgeschichtlichen Tradtionslinie der Literarischen Anthropologie (1) stehen HansJürgen Schings’ Melancholie und Aufklärung (1977) und Wolfgang Riedels Die Anthropologie des jungen Schiller (1985).18 Auch wenn beide Studien anthropologische Wissensbestände in ihrer Wirkung auf die Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts beziehen, treten diese frühen Arbeiten noch nicht so sehr mit dem expliziten Anspruch auf, eine Literarische Anthropologie zu betreiben. Explizit begreifen sich als solche dann die Arbeiten von Helmut Pfotenhauer (1987 und weitere),19 die Beiträge in den Sammelbänden von Jürgen Barkhoff / Eda Sagarra (1992), Rudolf Behrens / Roland Galle (1993) und Hans-Jürgen Schings (1992/94)20 sowie Wolfgang Riedels Studie ‚Homo natura‘. Literarische Anthropologie um 1900 (1997).21 Als wichtige Einzelbeiträge zu zentralen Fragen sind außerdem noch zu nennen: Georg Braungarts Leibhafter Sinn (1995), worin auch eine anti-dekonstruktivistische Stoßrichtung eingenommen wird, Manfred Engels Arbeiten zur Traumtheorie und zu literarischen Träumen in und seit der Romantik sowie Alexander Koˇseninas Anthropologie und Schauspielkunst (1995).22 Gerade die Arbeiten der Würzburger Literaturwissenschaftler Wolfgang Riedel und Helmut Pfotenhauer prägten die konkrete Ausgestal18
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Vgl. Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung, Stuttgart 1977; Riedel, Anthropologie des jungen Schiller. Vgl. Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie, Stuttgart 1987; ders., Um 1800. Konfigurationen der Literatur, Kunstliteratur und Ästhetik, Tübingen 1991; ders. / Riedel, Wolfgang / Schneider, Sabine (Hrsg.), Poetik der Evidenz. Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, Würzburg 2004. Vgl. Barkhoff / Sagarra (Hrsg.), Anthropologie und Literatur um 1800; Behrens, Rudolf / Galle, Robert (Hrsg.), Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Würzburg 1993; Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Vgl. Riedel, Wolfgang, ‚Homo natura‘. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York 1996. Vgl. Braungart, Georg, Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995; Engel, Manfred, „‚Träumen und Nichtträumen zugleich‘. Novalis’ Theorie und Poetik des Traums zwischen Aufklärung und Hochromantik“, in: Herbert Uerlings (Hrsg.), Novalis und die Wissenschaften, Tübingen 1997, S. 143–168; ders., „Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur“, in: Scientia Poetica, 2/1998, S. 97–128; Koˇsenina, Alexander, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. Zuletzt hat diesen literaturgeschichtlichen Zusammenhang von der Aufklärung bis in die Romantik sehr konzise gebündelt: Koˇsenina, Alexander, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008.
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tung des Konzepts einer Literarischen Anthropologie in der deutschen Literaturwissenschaft, und insbesondere Riedel systematisierte in seinen Forschungsberichten immer wieder die zentralen Positionen und bezog in diesen Bestimmungen auch kritisch Stellung.23 Als grundlegende Arbeiten sind außerdem Wolfgang Isers Literaturanthropologie in Das Fiktive und das Imaginäre zu nennen;24 dazu in der neueren Fortführung der Debatte Die Entstehung der Poesie und Animal Poeta von Karl Eibl25 sowie dessen, Rüdiger Zymners u. a. Sammelbände zur Anthropologie der Literatur.26 Im Folgenden werden die Arbeiten von erstens Pfotenhauer und Riedel, zweitens Iser und drittens Eibl und Zymner noch etwas ausführlicher vorgestellt. Für Helmut Pfotenhauer ist Literarische Anthropologie „Ausdruck für einen, vor allem im 18. Jahrhundert denkwürdigen Sachverhalt: die Verbindung von Anthropologie und Literatur als wechselseitige Ermutigung, Reflexion und Kritik“. Diese Verbindung ist spannungsvoll, und in ihr ergibt sich als Bild vom Menschen: „Menschennatur deckt ihre wunde Innenseite auf; sie rundet sich nicht leicht, wie sonst oft in der Literatur, am Ende zum stimmigen Ganzen, und sie ist nicht wie in der bloß szientifischen Anthropologie ein objektivierbarer und affektiv neutraler Sachverhalt […]; sie ist von generellem Interesse als authentische, rückhaltlose, erlebte conditio humana“. Zur conditio humana gehören auch die Nachtseiten von Autobiografien, mit denen er deren Gattungsund Problemgeschichte in seiner Studie Literarische Anthropologie (1987) als „Innenansicht des Anthropologischen“ beschreibt.27 Dabei treten explizite anthropologische Einsichten zutage, aber auch „implizit Anthropologisches“, wie die „Authentizität der Selbstdarstellung […], die formgebende Kraft dieses menschenkundigen Anliegens, […] die Erschließung des Anderen der erwachsenen Vernunft, […] auch de[r] Grenzbereich zwischen Selbsterfahrung und dem, was man anthropolo23
24 25 26
27
Vgl. Riedel, „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung“; ders., „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, in: IASL, 1994, 6. Sonderh., S. 93–159. Vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Eibl, Karl, Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M., Leipzig 1995; ders., Animal poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Paderborn 2004. Vgl. Eibl, Karl / Mellmann, Katja / Zymner, Rüdiger (Hrsg.), Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007; Zymner, Rüdiger / Engel, Manfred (Hrsg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, Paderborn 2004. Alle Zitate: Pfotenhauer, Literarische Anthropologie, S. 1 f.
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gische Mythen nennen könnte“.28 Gegenüber dieser sehr weiten und sichtlich die Verbindung zu vertrauten literaturwissenschaftlichen Fragen und Themen herstellenden Auffassung von Literarischer Anthropologie haben die Arbeiten von Wolfgang Riedel in den Jahren danach sukzessive und literaturhistorisch systematisch den Blick auf weitere anthropologische Wissensbestände gerichtet und auch die geschichtliche Entwicklung seit der spätaufklärerischen Entdeckung und Konjunktur der Anthropologie diskutiert. Höhepunkt und vorläufiger Abschluss ist Riedels Studie ‚Homo natura‘. Sie deutet die Jahrhundertwende 1900 als eine grundlegende Transformation des anthropologischen Wissensbestandes, die von Natur auf Leben umstellt und „die Biologie als neue Episteme der Natur [annimmt …]. Hierbei ist das entscheidende Faktum, daß mit der Biologie als Wissenschaft vom Leben das Phänomen der Zwiegeschlechtlichkeit allen Lebens ins Zentrum des Naturbegriffs rückt. [… Dabei] müssen beide, literarische und psychologische Anthropologie als Parallelerscheinungen gesehen werden, die beide gleichermaßen, und relativ unabhängig voneinander, […] in der biologischen Transformation des Naturbegriffs im neunzehnten Jahrhundert [wurzeln]“.29 Diese literaturanthropologische Transformation in den Wissenschaften lässt nach Riedel die Literatur seit etwa 1900 zu einem Diskurs über Sexualität werden. Wolfgang Iser geht in Das Fiktive und das Imaginäre weniger von den konkreten historischen Einzelgegenständen oder einer spezifischen, historisch situierten Veränderung anthropologischer Konzepte aus, sondern formuliert einen umgreifend systematisierenden Anspruch an eine Literaturanthropologie. Iser konzipierte sie als ein Programm, das erstens die Welt entwerfende Leistung der Fiktion herausarbeiten soll, zweitens mit Hilfe der Literatur die menschliche Fähigkeit genauer bestimmt, wie durch Akte des Fingierens die eigene Lebenswelt erweitert wird, und drittens schließlich den Bereich des ‚Imaginären‘ (mit seinen „Produktprägungen“, die in Wahrnehmung, Vorstellung, Traum oder Halluzination und Wahn als Aspekte des Imaginären in Erscheinung treten)30 als Dimension menschlicher Selbstdarstellung und Selbstauslegung erschließt. Iser zielt damit auf eine – sich aus Überlegungen der (literarischen) Phänomenologie und der Rezeptionsästhetik ableitende – Begründung und Grundlegung möglicher literaturanthropologischer Betrachtungsweisen 28 29 30
Ebd., S. 28. Riedel, ‚Homo Natura‘, S. XIII. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 314 f.
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und auf die kulturelle Verallgemeinerung dieses Anthropologischen. Seine differenzierte Bestimmung der Imagination als Grundvermögen des Menschen und seine allgemein-grundlegenden Kategorisierungen des Fiktiven und des Imaginären stellen wichtige literaturanthropologische Leistungen dar. Sie betrachten Literatur nicht nur als ein Dokument für den Menschen, sondern als seinen Ermöglichungsraum.31 Mit Isers Grundlegungs- und Begründungsargumentation des Anthropologischen an der Literatur ist ein methodologischer Anspruch formuliert, wie ihn danach kein literaturanthropologischer Ansatz mehr unterbieten will. Karl Eibl und Rüdiger Zymner z. B. weisen ebenfalls einen solchen Grundlegungsanspruch auf, verschieben aber ihre Begründungsargumentation in die Biologie selbst (Eibl) bzw. in biologisch modellierte Prämissen (Zymner). So formuliert Karl Eibl in Die Entstehung der Poesie (1995) seine Grundannahme noch eher literaturanthropologisch und historisch situiert.32 Im weiteren Verlauf seiner literaturanthropologischen Arbeiten und insbesondere in seiner Studie Animal Poeta (2004) geht es Eibl dann aber mehr und mehr um die biologische Grundlegung von Literaturanthropologie und Literatur, während Zymner bei seiner Hinwendung zur Biologie und der Empirisierung der Literaturanthropologie prinzipiell noch im Bereich von Literaturwissenschaft und -theorie zu verbleiben sucht. In Eibls Perspektive aber wird „Literatur, Dichtung […] zu einem der Scharniere, mittels derer das Ich sich auf die Gesellschaft einstellt. Die Biologie greift dabei auf doppelte Weise zu: Sie stellt elementare Ablaufschemata als Kohärenzmittel für die Texte 31
32
Vgl. Schlaeger, Jürgen „Art. ‚Literarische Anthropologie‘“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 315–317, hier 317, grenzt Isers Ansatz als „Rekonstruktion der theoretischen Grundlegung für eine Anthropologie der Literatur“ ab von insbesondere Pfotenhauers Ausgestaltung der Literarischen Anthropologie, die „Literatur als eine eigene Form der Anthropologie“ versteht. Ist bei Iser das Anthropologische der Literatur also mehrfach gerahmt und so von der Literatur selbst in ihren konkreten Beispielen weit abgerückt, setzt Pfotenhauer Anthropologie und Literatur zu schnell in eins. Schlaeger sieht bei Pfotenhauer und Iser zwei unterschiedliche Menschenbilder formuliert. Bei Pfotenhauer habe Literarische Anthropologie „ihre Bedeutung als Nachfolgerin eines untergegangenen bürgerlichen Bildungsverständnisses von Literatur. Literatur dient [bei Iser hingegen; L. v. L.] nicht mehr der Bildung des Menschen zu geschlossener Persönlichkeit, sondern der permanenten Selbstaufklärung seiner Wandelbarkeit. Beide Richtungen der Literarischen Anthropologie sind komplementär“. (Ebd., S. 317.) Diese Harmonisierung scheint mir aber etwas zu optimistisch. Vgl. Eibl, Die Entstehung der Poesie, S. 8.
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zur Verfügung und sie hat durch die Offenheit der menschlichen Verhaltensprogramme den Vergegenständlichungs-Bedarf geschaffen, auf den die biographischen Exempelgeschichten antworten“.33 Da dies aber nicht der teleologische Fluchtpunkt in der bisherigen Entwicklung literaturanthropologischer Ansätze ist, kann man sich sicher sein, dass sich die Literaturanthropologie dem bei Eibl vollzogenen biologischen „Zugriff“ auf die Literatur wieder entwinden wird, und sie kann dies gerade im Blick auf die Literatur selbst, von deren Gegenständen, Wissensleistungen und Erfahrungsqualitäten die Literarische Anthropologie forschungsgeschichtlich vor gut 20 Jahren ihren hermeneutischen Anstoß genommen hat.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die Literarische Anthropologie hat ihre fachgeschichtliche Bedeutung darin, die literaturwissenschaftlichen Gegenstände nicht mehr nur in einer spezifischen Literarizität (autonomie-)ästhetischer Kunstwerk bestimmt zu sehen. Vielmehr sind die Relationen, Bedingtheiten und Verwebungen von Literatur und anthropologischem Wissen in den Blick gerückt worden. Damit hat auch die literarische Ästhetik einen volleren Umfang ihrer Fragen, Probleme und Erfahrungen zurückgewonnen, den sie in der paradigmatischen und bis in die Moderne wirksamen Herausbildung einer ästhetischen Erfahrung von und als Literatur im 18. Jahrhundert tendenziell schon einmal zugesprochen bekommen, in den seit Klassik und Romantik vorherrschenden autonomie- und werkästhetischen Auffassungen aber verloren hatte. Dieser systematische Ertrag steht damit in ursächlichem Zusammenhang damit, dass die Literarische Anthropologie gerade von der Erforschung der Aufklärung und deren Nähe zwischen anthropologischem und ästhetischem Diskurs ihre problemgeschichtlichen Anfänge genommen hat.34 In einer nur sozialgeschichtlichen oder nur kulturwissenschaftlichen Betrachtung der Literatur ist dies nicht hinreichend deutlich zu machen (gewesen). Die weitere Durchdringung anthropologischer Wissensbestände in ihrem Verhältnis zur Literatur und die anthropologischen Dimensionen literarischer Texte, insbesondere ihre rezeptionsästhetischen Wirkungen auf uns als lesende, literarisch produktive wie affizierte und deutende Le33 34
Eibl, Animal Poeta, S. 275. Siehe dazu: van Laak, Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit.
Literarische Anthropologie
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bewesen (das ‚animal poeta‘ ließe sich ja auch rezeptionsästhetisch bestimmen!), sind ein weiterhin noch offenes Untersuchungsfeld. Auch in ihrer fiktionalitäts- und imaginationsorientierten Variante bei Iser und ihrem empirischen und biologischen Neuansatz bei Eibl und Zymner erweisen literaturanthropologische Fragen sich immer noch als produktiv und methodologisch überaus aktuell, insofern sie z. B. auch gemeinsame interdisziplinäre Perspektiven mit der naturwissenschaftlichen Erforschung des Bewusstseins oder dem kulturellen und naturhaften Charakter von Emotionen entwickeln können. Die Gefahr einer ‚Ver-Naturwissenschaftlichung‘ scheint geringer als die Erweiterung durch den Zugewinn literaturanthropologischer Erkenntnisse. Die stärker am Historisch-Konkreten orientierte Literarische Anthropologie sollte diese neuen anthropologischen Fragestellungen und Wissensbestände sowohl aufgreifen und nutzen als auch kritisch überprüfen. Allerdings müssten dabei sowohl Iser als auch die Vertreter einer Literarischen Anthropologie ihren Anspruch selbstkritischer betrachten, nahezu ausschließlich von der (gehobenen) Literatur bzw. der literarischen Fiktion her einen anthropologischen Zugang zu gewinnen. K. Ludwig Pfeiffer hat in Das Mediale und das Imaginäre deshalb – zwar im Anschluss an Iser, aber an diesem Punkt weiter zielend – durchaus zu Recht gefordert, Literatur auch als Medium zu verstehen und noch eingehender zu untersuchen, ob nicht ein grundlegender medienanthropologischer Ansatz sinnvoller wäre als die Beschränkung auf eine Literaturanthropologie.35 Damit wird das im engeren Sinn ästhetische Kriterium der Literarizität immer noch fortgeschrieben; es wird aber nicht als ‚aisthetisch‘ oder als medial gefasst, wie z. B. in Oliver Jahraus’ Auffassung der Literatur als Medium.36 In der medientheoretischen Perspektive Marshall McLuhans z. B. lässt sich Isers Bestimmung der Fiktion als eine oder sogar die elementare „extension of man“37 verstehen. Mit ihr gewinnen wir ein (neues) Wissen vom Menschen und auch ein erweitertes anthropologisches Weltverhältnis, weil Literatur immer wieder neu, spielerisch und in ästhetischem Probehandeln, Wissensbestände kombiniert und dadurch erweitert und transformiert. Weil dies aber auch für andere 35
36
37
Vgl. Pfeiffer, K. Ludwig, Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. Jahraus, Oliver, Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003. McLuhan, Marshall, Understanding Media. The Extensions of Man [1964], London, New York 2002.
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Medien wie z. B. den Film gilt, müsste Literarische Anthropologie sich im Vergleich zu anderen Medien und ihrem anthropologischen Wissen selbstkritisch überprüfen, die Medialität überhaupt und die von Literatur reflektieren und sich zu einem umfassenderen Forschungsprogramm einer Literatur- und Medienanthropologie entwickeln.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Pfotenhauer, Helmut, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987. Beispiel für die noch stärker literatur- und problemgeschichtliche Betrachtung der Anthropologie aus einer gattungsbezogenen und von den (literarischen) Texten her argumentierenden Perspektive auf die anthropologischen Themen und ihre Thematisierung durch die Literatur. Iser, Wolfgang, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1993. Theoretische Grundlegung des Anthropologischen an und in Literatur durch die Klärung anthropologischer Kategorien wie z. B. der Mimesis, der Performanz und des Spiels sowie des anthropologischen Gehalts des Vermögens der Fantasie und der Tätigkeiten von Fiktion und Inszenierung. Riedel, Wolfgang, „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, in: IASL, 1994, 6. Sonderh., S. 93–159. Detaillierter und präziser Forschungsüberblick über die Ergebnisse der Literarischen Anthropologie, die sich in dieser Phase noch enger auf die Zeit um 1800 konzentrierte. Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994. Sammelband mit vielen wichtigen Beiträgen zur Literarischen Anthropologie am Beispiel des 18. Jahrhunderts. Riedel, Wolfgang, ‚Homo natura‘. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York 1996. Grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Literatur und Anthropologie um 1900, die die Forschungsperspektive der Literarischen
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Anthropologie systematisch und historisch erweitert und dabei neue Wissensbestände für eine Literarische Anthropologie erschließt. Eibl, Karl, Animal poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Paderborn 2004. Ausformulierter systematischer Entwurf einer umfassenden biologischen Kultur- und Literaturtheorie, die sich als empirische Anthropologie der Literatur versteht. Riedel, Wolfgang, „Literarische Anthropologie. Eine Unterscheidung“, in: Wolfgang Braungart / Klaus Ridder / Friedmar Apel (Hrsg.), Wahrnehmen und Handeln: Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004, S. 337–366. Hilfreicher neuerer Beitrag Riedels zur Binnendifferenzierung der verschiedenen literaturanthropologischen Ansätze und zu deren Einordnung in die aktuellen Wissenschaftsdebatten. Zymner, Rüdiger / Engel, Manfred (Hrsg.), Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, Paderborn 2004. Sammelband, dessen Beiträge sowohl in der älteren, literaturgeschichtlich-hermeneutischen Argumentationslinie der Literarischen Anthropologie stehen als auch die ‚biologische‘ Wendung der Literaturanthropologie dokumentieren. Eibl, Karl / Mellmann, Katja / Zymner, Rüdiger (Hrsg.), Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007. Sammelband, dessen Beiträge auch die ‚biologische‘ und empirische Neufundierung der Literaturanthropologie dokumentieren.
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Literaturpsychologie / Psychoanalytische Literaturwissenschaft von J OACHIM P FEIFFER
1. Definition Die psychoanalytische Literaturwissenschaft versteht sich in erster Linie als interpretatives Verfahren, das – ausgehend von Freuds Traumtheorie – einen ‚Subtext‘, eine latente Bedeutung im literarischen Text zu erkennen versucht. Das psychoanalytische Deutungsverfahren setzt an schwer verständlichen oder erklärungsbedürftigen Textstellen an und geht davon aus, dass sich mit Hilfe psychoanalytischer Erkenntnisse eine Tiefenstruktur des Textes erschließen lässt. Neben der Textinterpretation interessiert sich die psychoanalytische Literaturwissenschaft insbesondere für die Funktionen des Rezeptionsprozesses (psychoanalytische Rezeptionstheorien) und für den literarischen Schaffensprozess (psychoanalytische Kreativitätstheorien). Auch andere tiefenpsychologische Schulen (Jung, Adler) und neuere psychoanalytische Ansätze (M. Klein, Winnicott, Kohut, insbesondere auch Lacan) wurden für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht. Der Begriff der ‚Literaturpsychologie‘ ist weiter und umfasst auch nicht-analytische Richtungen, etwa die empirische Leserpsychologie (Groeben) oder assoziationstheoretische Verfahren (Wolff).
2. Beschreibung Mit Freuds Traumdeutung, die im Jahr 1900 erschien, liegt nicht nur ein Stiftungstext der Psychoanalyse vor, sondern auch ein methodologischer Referenztext der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Wenn es Freud um das Verstehen von Träumen geht (vor allem von unverständlichen oder rätselhaften Traumtexten), dann impliziert dies eine hermeneutische Zugangsweise, die für die Freud’sche Psychoanalyse keineswegs
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selbstverständlich ist. Denn Freud hatte schon früh in seinen Studienjahren den Übergang von einem naturphilosophischen zu einem positivistisch-naturwissenschaftlichen Weltbild vollzogen.1 Auch noch in seinem Spätwerk findet sich der Hinweis auf seine „wissenschaftliche Weltanschauung“,2 die die Überprüfbarkeit des Wissens zum strengen Maßstab erhebt. Im VII. Kapitel seiner Traumdeutung führte er das ‚Unbewusste‘ als psychoanalytischen Grundbegriff ein – mit weit reichenden Folgen. In seiner Theorie ist dieses Unbewusste an dem Schnittpunkt zweier philosophischer Traditionen angesiedelt: einer materialistischen Denktradition einerseits (die ‚mechanistisch‘ mit verschiebbaren Energiequanten rechnet) und einer Philosophie des Psychischen andererseits, die im Grunde geisteswissenschaftlich-hermeneutisch orientiert war. Nach Freuds hermeneutischem Verständnis geht die Subjektivität des Träumenden konstitutiv in den Verstehensprozess mit ein: Durch freie Assoziationen zu den Elementen des „manifesten Trauminhalts“ (d. h. des erinnerten Traums) kann der Weg zu den „latenten Traumgedanken“ gebahnt werden, die durch die „Traumarbeit“ entstellt wurden. Es ist für die Literaturwissenschaft von besonderem Interesse, dass Freud diese Traumarbeit vor allem auf sprachliche Prozesse zurückführte: die der Verdichtung und Verschiebung, der Metaphorisierung und Metonymisierung, der Rücksicht auf Darstellbarkeit, der sekundären Bearbeitung. Im VII. Kapitel der Traumdeutung (Zur Psychologie der Traumvorgänge) schreibt Freud: „Die gleiche Würdigung haben wir bei der Traumdeutung jeder Nuance des sprachlichen Ausdrucks geschenkt, in welchem der Traum uns vorlag; ja, wenn uns ein unsinniger oder unzureichender Wortlaut vorgelegt wurde, als ob es der Anstrengung nicht gelungen wäre, den Traum in die richtige Fassung zu übersetzen, haben wir auch diese Mängel des Ausdrucks respektiert. Kurz, was nach der Meinung der Autoren eine willkürliche, in der Verlegenheit eilig zusammengebraute Improvisation sein soll, das haben wir behandelt wie einen heiligen Text“.3 Die scheinbaren „Mängel des Ausdrucks“, die willkürlich „zusammengebraute Improvisation“ wie einen heiligen Text behandeln: Das Interesse für das scheinbar Sinnlose bildet offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für Freuds Verstehenslehre. Auch in seiner Ab1
2 3
Vgl. Gödde, Günter, „Philosophischer Kontext“, in: Hans-Martin Lohmann / Joachim Pfeiffer (Hrsg.), Freud-Handbuch, Stuttgart, Weimar 2006, S. 10–25. Sigmund Freud, Gesammelte Werke (= GW), Bd. XV, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Anna Freud u. a. (Hrsg.), London, Frankfurt a. M. 1940 ff., S. 171 ff. GW II/III, S. 518.
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handlung Das Unbewußte (1915) verteidigt und rechtfertigt er den Begriff des ‚Unbewussten‘ – und seinen Versuch, das Sinnlose verständlich zu machen: „Gewinn an Sinn und Zusammenhang ist aber ein vollberechtigtes Motiv, das uns über die unmittelbare Erfahrung hinaus führen darf“.4 Allerdings führt dieser hermeneutische Ansatz zugleich zu einer Dezentrierung des Sinns und einer Entmächtigung des Bewusstseins, da nun der Ort des Sinns sich vom Bewusstsein zum Unbewussten hin verlagert.5 Die Gedanken Freuds machen auf ihre Weise deutlich, dass der Sinn eines Textes nicht mit der Autorintention zusammenfällt. Freud hat den modellhaften Entwurf einer Dichotomie von Bewusstem und Unbewusstem auch in seinem späteren Werk nicht aufgehoben, auch wenn er ihn mit einem zweiten Modell (Es, Ich, Über-Ich) überlagert. Die Annahme eines Unbewussten (wie immer es strukturiert sein mag) gehört zu den grundlegenden Prämissen einer psychoanalytisch orientierten Literaturinterpretation. Freud selbst ging davon aus, dass sich das Literaturmodell am Traummodell orientieren lasse, dass Traum und Dichtung den selben Mechanismen folgten und dass beide eine Art Kompromissbildung zwischen Wunsch und den ihn modifizierenden Abwehrmechanismen darstellten. Diese Analogie ist von grundlegender Bedeutung, impliziert sie doch, dass im Kunstwerk die unbefriedigende Wirklichkeit einer Kritik (und damit einer Korrektur) unterzogen und somit den unbewussten Wünschen des Rezipienten zum Durchbruch verholfen werden kann. Das literarische Werk stellt somit keine Anpassungsleistung dar, keine Flucht vor der Realität, sondern einen Widerstand gegen ihre Zwänge – wenn auch über die Umwege sprachlicher Verdichtungs- und Verschiebungsmechanismen. Wie die Traumdeutung die „Traumarbeit“ rekonstruiert, so ist die Aufgabe der psychoanalytischen Textinterpretation die Rekonstruktion der Kunstarbeit. Dabei sind jedoch zwei wichtige Unterschiede festzuhalten: Die Traumdeutung ist nicht ablösbar vom Träumenden und steht im Dienst eines besseren Verständnisses seiner Persönlichkeit, letzten Endes der Erschließung verdrängter Anteile seines Bewusstseins. Die psychoanalytische Textinterpretation versteht sich dagegen nicht in erster Linie als psychobiographische, autororientierte Methode, auch wenn in der Frühzeit der Psychoanalyse das biographistische Interesse oft im Vordergrund stand (hierin lag auch immer wieder ein Kernpunkt der 4 5
GW X, S. 266. Vgl. Ricœur, Paul, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1974, S. 433.
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Kritik an psychoanalytischen Interpretationsverfahren); vielmehr geht es ihr darum, die Phantasiestruktur des Werks – unabhängig von der Psychobiographie des Autors – zu erschließen. Ein zweiter Unterschied: Das Ausmaß sekundärer Bearbeitung ist im literarischen Text ungleich größer als im Traum, der nur auf sich selbst bezogen ist. Der literarische Text ist wesentlich stärker auf Kommunizierbarkeit und Mitteilbarkeit ausgerichtet, die Realität (etwa in Form von künstlerischen Formtraditionen, von gesellschaftlichen Normen) ragt stärker in das literarische Werk, das einem bewussten Bearbeitungsprozess unterliegt: „Mit jeder weiteren Begrenzung vom unbewussten Bedürfnis hin zur äußeren Realität nehmen die Ichleistungen und damit das Realitätsbewußtsein zu“.6 Der Zwang zur Mitteilbarkeit verändert die Kunstarbeit und verstärkt ihren differentiellen Charakter gegenüber der Traumarbeit. Der Prozess der Verschiebung darf z. B. im Kunstwerk nicht bis zur Unverständlichkeit getrieben werden; der Bezug zur Realität ist implizit immer mitgedacht, selbst da, wo sich der Text subversiv gegen die gesellschaftliche Realität wendet und seine Unverständlichkeit gegen die Verständlichkeit des ‚Normalen‘ ausspielt (z. B. im hermetischen Gedicht). Da Bedürfnisse und gesellschaftliche Verhältnisse nicht als geschichtslose zu denken sind, kann der Vermittlungsprozess zwischen ihnen nur unter Einbeziehung sozialhistorischer Überlegungen analysiert werden – nur so kann die Ungeschichtlichkeit der Freud’schen Begriffe überwunden und ihre historische Veränderbarkeit neu verstanden werden.7 Um dem immer wieder begegnenden Missverständnis vorzubeugen, der psychoanalytischen Literaturinterpretation gehe es um die Psyche des Autors, führte Peter von Matt den Begriff des ‚psychodramatischen Substrats‘ ein.8 Darunter versteht er eine überindividuelle Werkstruktur, die als „abstrakte Statik“ des Werks fungiert und in der Interpretationsarbeit als verborgene Substruktur des Textes erschlossen werden kann. Von Matt erläutert diesen Ausdruck am Beispiel von Schillers Wilhelm Tell: Er setzt bei der offenbaren (aber kaum beachteten) Widersprüchlichkeit des Dramas an, der betonten „Zusammenhanglosigkeit zwischen Tells Einzelaktion, dem Mord an Gessler, und der Kollektivaktion der 6
7 8
Pietzcker, Carl, „Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk“, in: Johannes Cremerius (Hrsg.), Psychoanalytische Textinterpretation, Hamburg 1974, S. 57–68, hier S. 63. Vgl. hierzu Pietzcker, Carl, Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks am Beispiel von Jean Pauls ‚Rede des toten Christus‘, Würzburg 1983. Vgl. Matt, Peter von, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, Stuttgart 2001, S. 68.
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Staatsgründung auf dem Rütli“.9 Dieser Widerspruch ist umso auffälliger, als Schiller die Abwesenheit Tells beim Brüderschwur gegen die von ihm benutzten Quellen gestaltet hat. Diese Zusammenhanglosigkeit wird am Ende jedoch wieder verwischt, wenn das Volk Tell als den großen Helden feiert. In seiner Deutung greift Peter von Matt auf Freuds Abhandlung Totem und Tabu (1912/13) zurück: Darin leitet Freud seine Theorie von der Entstehung der Kultur und dem Ursprung der Sittlichkeit aus dem Schuldbewusstsein her, das die Brüderhorde nach dem Urmord am übermächtigen Vater befällt – wobei es sich weniger um historische Realität als um eine (kollektive) Phantasie handelt. In Schillers Drama wird die ‚Brüderhorde‘ in doppelter Weise entlastet: zunächst durch die Umlenkung des Schuldbewusstseins auf Tell, dann von Tell auf die Figur des Parricida. Diese zweifache Verschiebung lässt sich als literarische Bewältigung kollektiver Schuldgefühle verstehen, gewissermaßen als entscheidende Voraussetzung für das triumphale Ende: In genauer Ökonomie wird hier, so Peter von Matt, „das Potential von Schuld und Angst, das aus dem Ödipuskomplex phylogenetisch wie ontogenetisch entsteht, zuletzt abgeleitet“.10 Dabei geht es nicht um Schillers Psychobiographie (etwa um seine konflikthafte Vaterbeziehung, die in der Beziehung zum Herzog auf der Karlsschule reaktiviert wird). Das psychodramatische Substrat des Stückes stellt vielmehr „das Urdrama der seelischen Entwicklung“11 in einer exemplarischen Weise vor, vergleichbar den großen Dramen um Ödipus oder Hamlet. Die neuere literaturpsychologische Forschung widmet sich verstärkt einem Gegenstandsbereich, der lange Zeit vernachlässigt wurde: der Erforschung literarischer Formen und Strukturen und der Frage nach deren Funktionen. Schon Freud hatte in der Form eine „Vorlustfunktion“ gesehen, einen „ästhetischen Lustgewinn“,12 der den Leser zur Rezeption verbotener Wunschphantasien verlockt. Diese triebpsychologische Betrachtungsweise wurde später durch die Theorie von der Über-IchFunktion der Form ergänzt, wonach die Form Kontrolle, Ordnung und Sicherheit garantiere und dadurch Angst und Schuldgefühle besänftige – um auf diese Weise doch wieder Vergnügen zu bereiten.13 Am Beispiel 9 10 11 12 13
Ebd. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Freud, „Der Dichter und das Phantasieren“, in: GW VII, 211–223. Vgl. z. B. bei dem Ich-Psychologen Lesser, Simon O., „Die Funktionen der Form“, in: Wolfgang Beutin (Hrsg.), Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Textinterpretation, München 1972, S. 277–299.
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der „Psychoanalyse literarischer Form(en)“14 wird deutlich, wie sehr unterschiedliche psychoanalytische Paradigmen zu verschiedenen Theoremen führen und verschiedene Positionen besetzen, die sich widersprechen, aber auch wechselseitig ergänzen können. Selbstpsychologen etwa betonen die narzisstische Funktion der Form: deren Integrationsleistung, die sich in Formkriterien wie Einheit, Schönheit, Harmonie niederschlage und die Integrität des (immer bedrohten) Selbst garantiere.15 Dabei werden jedoch die Fragmentierungstendenzen oder die Ästhetik des Hässlichen zu wenig beachtet, die häufig ein Merkmal der literarischen Moderne sind (solche Tendenzen finden sich aber auch schon in Texten wie Kleists Penthesilea). Erklärungsversuche hierzu liefert die bisher einzige Monographie, die ganz der Form gewidmet ist – sie ist zugleich die umfangreichste psychoanalytische Studie zu diesem Thema: The Power of Form (1980) von Gilbert J. Rose.16 Für Rose besteht die künstlerische Formgebung in einem Wechselspiel zwischen Auflösung (Primärprozess) und Restitution (Sekundärprozess), zwischen der Aufweichung der Grenzen von Selbst und Objekt und einer neuen Selbstkonstitution, die durch die Form vermittelt ist. In der formalen Strukturierung des Werks können die Grenzen zwischen Selbst und Welt verschoben und – je nach Strukturierungsgrad – als mehr der äußeren Realität oder dem Selbst zugehörig empfunden werden. Dabei spielt das Konzept des ‚Übergangsobjekts‘ (ein Begriff Winnicotts17) eine zentrale Rolle: Das Übergangsobjekt (damit ist in diesem Fall der Text gemeint) gehört sowohl dem Selbst als auch der äußeren Realität an und bezeichnet einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Subjekt-Objekt-Differenzierung. Mit solchen Theorien wird nicht nur der Produktionsprozess, sondern auch die Funktionsweise literarischer Rezeption beschrieben – diesem Ziel widmen sich unterschiedliche psychoanalytische Rezeptionstheorien. Norman N. Holland hat die empirische Rezeptionsforschung vorangetrieben, indem er die Reaktionsweisen verschiedener Leser auf denselben Text untersuchte und die Reaktionsmuster zur Grundlage 14
15
16 17
Vgl. hierzu Pietzcker Carl / Gesing, Fritz / Schönau, Walter (Hrsg.), Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 9: Psychoanalyse der literarischen Form(en), Würzburg 1990. Vgl. Noy, Pinchas, „An Ego-psychological approach to creativity“, in: Psychoanalytic Quarterly, 48/1979, S. 229–256. Rose, Gilbert J., The power of form. A psychoanalytic approach to aesthetic form [1980], New York 1986. Winnicott, Donald W., Vom Spiel zur Kreativität [1973], Stuttgart 1993.
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einer Persönlichkeitsanalyse machte. So führte er zahlreiche Interviews durch, in denen unterschiedliche Leser/innen ihre spontanen (nicht wissenschaftlich reflektierten) Reaktionen auf literarische Texte zum Ausdruck brachten. Dabei konnte er die Ausgangsthese verifizieren, dass jeder Leser im Leseakt das Werk neu schafft, indem er es seinen (unbewussten) Strukturen, seinem ‚identity theme‘ (den Strategien der Selbstund Fremddeutung) anpasst und in der Begegnung mit dem Text seine eigenen Anpassungs- und Abwehrmechanismen rekonstruiert.18 Holland wies nach, wie sehr die individuellen Rezeptionsweisen divergieren und von dem ‚identity theme‘ des Lesers beeinflusst werden – bis hin zu dessen Bereitschaft, den Textsinn so lange zu verzerren, bis er mit dem ‚Identitätsthema‘ übereinstimmt. Holland gelangt mit seinen Untersuchungen zu einer radikal individualisierten Auffassung der Leserreaktion, die keinerlei überindividuelle Verbindlichkeit mehr beanspruchen kann. Die Wende vom Text zum Leser, die sich literaturwissenschaftlich in der Rezeptionsästhetik niederschlug, kommt in der psychoanalytischen Literaturwissenschaft in einem Paradigmenwechsel zum Ausdruck, der mit dem Begriff der ‚Gegenübertragungsanalyse‘ bezeichnet wird. Während Holland die Rezeptionsprozesse an unterschiedlichen Lesern erforschte und sich für die fast unbegrenzte Vielfalt der Lektüreweisen interessierte, zielt die Gegenübertragungsanalyse auf eine Art Selbsterforschung bei der Lektüre, die einerseits das Wirkungspotential des Textes erschließen, andererseits den Leseakt vor verfälschenden Übertragungen bewahren will. Dabei wird der Leseakt in seiner kommunikativen Struktur – analog zum psychoanalytischen Setting – zum Forschungsgegenstand: Der Leser „überträgt“ Erfahrungen, Einstellungen und Emotionen aus früheren Kommunikationssituationen auf den Text (so kann z. B. die Lektüre des Hamlet Schuldgefühle oder Tötungswünsche aktivieren, die sich auf vorausgehende Erfahrungen beziehen). Solche Übertragungsvorgänge laufen in der Regel in allen Kommunikationsprozessen ab. ‚Gegenübertragungsanalyse‘ bedeutet, dass sich die Interpretierenden ihrer Faszination oder Abwehr gegenüber dem Text bewusst werden – nicht um die Gegenübertragung auszuschalten, sondern um sie als Erkenntnisinstrument zu nutzen.19 18
19
Vgl. Holland, Norman N., Poems in persons. An introduction to the psychoanalysis of literature, New York 1973. Vgl. Pietzcker, Carl, Lesend interpretieren. Zur psychoanalytischen Deutung literarischer Texte, Würzburg 1992.
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Zu den fruchtbarsten und folgenreichsten Neulektüren der Freud’schen Psychoanalyse gehört zweifellos das Werk Jacques Lacans, des Begründers der Pariser Ecole Freudienne. Lacans „wirkungsgeschichtlicher Geniestreich“20 besteht in der Umkehrung von Saussures Zeichenschema, nach dem das Signifikat über dem Signifikanten thront. Lacan kippt das Schema um und gibt dem Signifikanten die Priorität – die feste Verbindung von Signifikat und Signifikant, die für Saussures Zeichentheorie konstitutiv war, löst sich bei Lacan auf, das Signifikat wird zum „Effekt des Signifikanten“.21 Dies bedeutet, dass nicht mehr der Sinn, sondern die Bezeichnung den Diskurs kommandiert.22 Dem endlosen Verweisungsvorgang der Zeichen kommt zugleich eine psychoanalytische Bedeutung zu: Der Signifikationsprozess gleicht der Struktur des Begehrens, Bezeichnen und Begehren (‚désir‘) gehorchen ein und derselben Dynamik, die Lacan in Anlehnung an Freud als ‚Verdichten‘ und ‚Verschieben‘ bezeichnet. Der psychoanalytische Hintergrund dieses linguistischen Paradigmenwechsels ist ein Verdrängungsvorgang, der Bestandteil der menschlichen Entwicklung ist: Durch das Verbot des Vaters – das Inzestverbot – wird die ursprüngliche Liebe zur Mutter verboten, das mütterliche Objekt des Begehrens gilt von da an als verloren und muss durch andere Objekte substituiert werden. Dadurch wird ein endloser Substitutionsprozess in Gang gesetzt – das Begehren bleibt unstillbar. Der metonymische Prozess der Verschiebung verweist stets auf andere Signifikanten und damit auf die Unmöglichkeit eines stabilen Sinns. Die Analogie von (unbewussten) psychischen und sprachlich-linguistischen Prozessen ist eine wichtige Prämisse der Lacan’schen Theorie: Das Unbewusste ist nach Lacan wie eine Sprache („comme un langage“) strukturiert; das Begehren hat eine Geschichte, „die in den unbewussten Operationen der Sprache gespeichert ist“.23 Helga Gallas hat als eine der ersten diese Lacansche Theorie der Psychoanalyse auf literarische Texte angewandt, insbesondere in ihrer Studie über Kleists Michael Kohlhaas. Der Mangel ist auch vom Kindesalter an durch die Erfahrung fehlender Einheit des Subjekts bedingt: Im „Spiegelstadium“24 findet, vermit20 21 22 23 24
Bossinade, Johanna, Poststrukturalistische Literaturtheorie, Stuttgart, Weimar 2000, S. 32. Lacan, Jacques, Schriften, Bd. 2, ausgew. und hrsg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg 1975, S. 22. Vgl. Bossinade, Poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 42. Ebd., S. 57. Vgl. Lacans häufig zitierte Arbeit „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: Lacan, Jacques, Schriften, Bd. 1, ausgew. und hrsg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg 1973, S. 61–70.
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telt durch das Erblicken des eigenen Spiegelbildes, eine erste Konstitution des Ich statt, die aber aus einer imaginären Wahrnehmung heraus entsteht: aus der Identifizierung mit einem vermeintlich ganzen Objekt. Insofern ist sowohl die präverbale (imaginäre) als auch die verbale – mit dem Eintritt in die Sprache verbundene – Subjektkonstitution von Instabilität gekennzeichnet. Das endlose Verweisungssystem bedeutet für Lacan jedoch kein Versinken im Chaos, da es einen privilegierten Signifikanten gibt: den ‚Phallus‘, die symbolische Repräsentation des Penis, der die Unabschließbarkeit der Sinn- und Bedeutungsgenerierung repräsentiert und zugleich als Signifikant des Mangels bzw. der Differenz fungiert. Das Axiom des ‚Phallus‘ leitet sich von Freuds Konzept des ‚Kastrationskomplexes‘ her und gilt heute im Rahmen neuerer Gendertheorien als höchst problematisch. Der Gewinn besteht jedoch darin, dass damit der traditionelle Geschlechtsbiologismus durch eine Sprachsymbolik ersetzt wird. Die Rückführung des Geschlechts auf eine Sprachfunktion ließ den Lacan’schen Ansatz im Bereich der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies produktiv werden. Da die 1970er-Jahre im Bereich der Geschlechterforschung zunächst durch ein Theoriedefizit gekennzeichnet waren, boten Lacans Konzepte der feministischen Literaturwissenschaft einen theoretischen Rahmen, in dem sich neue poststrukturalistische Ansätze entwickeln konnten. Für Autorinnen wie Hélène Cixous, Luce Irigaray oder Julia Kristeva ist das Weibliche immer in sprachlichen Strukturen zu denken – ihr Ziel ist die Dekonstruktion des abendländischen Logozentrismus und die Befreiung der Sprache aus männlich definierten Bedeutungszusammenhängen. Deswegen muss die écriture féminine (die keineswegs auf das weibliche Geschlecht beschränkt ist) eine Subversion der patriarchalischen Aneignung von Sprache und damit der symbolischen Ordnung betreiben. Julia Kristeva, die wohl den nachhaltigsten Einfluss auf die feministische Literaturwissenschaft ausübte, modifziert und ergänzt die Kategorien Lacans (das Imaginäre und das Symbolische) durch den Begriff des „Semiotischen“:25 Während das Symbolische auf die herrschende sprachliche Ordnung und auf das Gesetz des Vaters bezogen ist, ordnet sie das Semiotische dem Präödipalen, der frühen Mutter-Kind-Dyade zu; deswegen kann es sich den Strukturgesetzen der Sprache entziehen und zur Subversion der symbolischen Ordnung beitragen. Das Semiotische findet Kristeva z. B. in avantgardis-
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Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978 (frz. 1974).
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tischen Texten des Symbolismus oder Surrealismus (Mallarmé, Lautréamont), die mit ihrer amimetischen Dominanz des Klanglichen und Rhythmischen das Symbolische und dessen Sinnsetzungen unterlaufen.
3. Institutionsgeschichtliches Die herausragende Bedeutung Freuds für die Geisteswissenschaften und die Kulturtheorie steht außer Zweifel, auch wenn die Psychoanalyse vom ersten Tag an mit Kritik und grundlegender Gegnerschaft zu kämpfen hatte – im universitären Bereich ist sie bis heute umstritten. Für Paul Ricœur ist die Psychoanalyse nichts weniger als eine „Deutung der Kultur“ überhaupt, ein Text, „in welchem diese Kultur zum Ausdruck kommt und sich begreift“.26 Die Absicht Freuds sei es gewesen, „die Totalität der psychischen Produktionen, die der Kultur zugehören, neu zu interpretieren, vom Traum über Kunst und Moral bis zur Religion“.27 Die Deutung der gesamten Kultur ist für Ricœur das Ziel der Psychoanalyse – die Psychoanalyse sei „durch und durch Interpretation“.28 Wenn man von dieser exegetischen Emphase der Psychoanalyse ausgeht, verwundert es, dass die Geisteswissenschaften und besonders die Germanistik zunächst ablehnend auf Freuds Theorie reagierten.29 Und dies, obwohl Wilhelm Dilthey, der die Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaften reflexiv begründete, dem Freud’schen Ansatz zunächst nahe schien: Er wählte die Biographie – also die Rekonstruktion eines lebensgeschichtlichen Zusammenhangs – zum Ausgangspunkt seiner Verstehenslehre.30 Ein Unterschied zur Psychoanalyse bestand allerdings von Anfang an darin, dass Freud sich vor allem für die Entstellungen der Erinnerungen oder Traumtexte interessierte, während der korrupte Text für Dilthey allenfalls als fehlerhafte Überlieferung eine Rolle spielte. Es gibt aber noch eine weitere Differenz, die in einer wissenschaftsgeschichtlichen Ungleichzeitigkeit begründet ist: Als Freud die Grundlagen seines Theoriegebäudes legte, war Dilthey gerade bemüht, die Geisteswissenschaften vom Anspruch naturwissenschaftlicher Objektivität zu befreien. 26 27 28 29 30
Ricœur, Die Interpretation, S. 9 f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 80. Näheres hierzu bei Schrey, Gisela, Literaturästhetik der Psychoanalyse und ihre Rezeption in der deutschen Germanistik vor 1933, Frankfurt a. M. 1975. Vgl. Habermas, Jürgen, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 263.
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Für Dilthey gab es eine unüberbrückbare Differenz zwischen Geistesund Naturwissenschaften, und diese Unterscheidung wurde von der Literaturwissenschaft begierig aufgegriffen, ermöglichte sie doch die Betonung ihrer Eigenständigkeit. Der Einfluss Diltheys führte zu einer Abkehr der Germanistik von der positivistischen Schule Wilhelm Scherers, der in Anlehnung an die naturwissenschaftliche Methodik eine Beschränkung literaturwissenschaftlicher Forschung auf Kausalzusammenhänge (Biographismus, Quellen- und Editionsforschung, Einflussforschung) gefordert hatte. Die Ablehnung Freuds durch die Germanistik hat u. a. mit seinem Beharren auf einem objektivierenden, szientistischen Wissenschaftsbegriff zu tun, der die hermeneutischen Aspekte seiner Theorie verdeckte. Gerade zu dem Zeitpunkt, da Freud die Grundlagen seines Theoriegebäudes legte, befreite sich die Literaturwissenschaft vom Anspruch des Positivismus. Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob der szientistische und der hermeneutische Ansatz bei Freud ein unauflösbares Dilemma darstellen, ob der naturwissenschaftliche Anspruch seine Theorie dominiert31 oder ob es ihm gelang, beide Ansätze zu vereinen. Ricœur war der Meinung, dass Freud eine Integration des Erklärens psychischer Phänomene durch Kräftekonflikte (als Energetik) und des Deutens (des manifesten durch den latenten Sinn) geleistet habe.32 Wichtiger für die Literaturwissenschaft ist die Tatsache, dass Freud bereits in seinem Gründungstext, der Traumdeutung (1900), für seine Argumentation immer wieder literarische Texte heranzieht, die er in einen psychoanalytischen Deutungszusammenhang stellt. Literarische und mythologische Texte haben bei Freud nicht nur illustrierende, sondern auch heuristische Funktion: Literatur ist für ihn eine wichtige Quelle psychoanalytischer Erkenntnisse. So liefert ihm der Ödipus-Mythos, besonders in der dramatischen Version des Sophokles, die Grundlage für das Basistheorem der ödipalen Strukturierung menschlicher Psyche: Der Ödipuskomplex ist für ihn das Nadelöhr menschlicher Sozialisation und der Ausgangspunkt der Kulturentstehung. Auf dieser Grundlage interpretiert er auch Shakespeares Hamlet und erklärt dessen Zögern, den Mörder seines Vaters zu töten, mit dem unbewussten Tötungswunsch 31
32
Vgl. Grünbaum, Adolf, Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik, Stuttgart 1988; hierzu auch Pohl, Stephan, Wissenschaftstheoretische und methodologische Probleme der Psychoanalyse. Eine Auseinandersetzung mit Grünbaums Psychoanalysekritik, Würzburg 1991. Ricœur, Die Interpretation, S. 80 f.
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gegenüber dem Vater.33 Hamlet ist ein Zauderer, weil er in sich dieselben Impulse entdeckt wie in dem Mörder, an dem er sich rächen will. In der Literatur findet Freud also Modelle für die Struktur der menschlichen Psyche, für ihre Entwicklungsdynamik und ihre Triebschicksale. Die Verwendung von literarischen Beispielen parallel zu vielen Traumtexten liefert schon in dem frühen Werk eine Grundlage für die ‚Traumanalogie‘, die einen Ausgangspunkt der psychoanalytischen Textinterpretation darstellen wird. Bezeichnenderweise operiert Freud in seiner HamletDeutung mit Phantasiestrukturen; es geht ihm nicht um Rückschlüsse auf die Autorpsyche. Leider sind pathographische Studien in der Frühphase psychoanalytischer Beschäftigung mit Literatur relativ häufig. Freud selbst verhält sich hierzu jedoch von Anfang an distanziert und versucht, sich von der Pathographik des 19. Jahrhunderts abzugrenzen. In seiner LeonardoArbeit lehnt er am Ende sogar jeden Kausalzusammenhang im Psychischen als Erklärungsmodell ab: „Aber selbst bei ausgiebigster Verfügung über das historische Material und bei gesichertster Handhabung der psychischen Mechanismen würde eine psychoanalytische Untersuchung an zwei bedeutsamen Stellen die Einsicht in die Notwendigkeit nicht ergeben können, daß das Individuum nur so und nicht anders werden konnte. […] Wir müssen hier einen Grad von Freiheit anerkennen, der psychoanalytisch nicht mehr aufzulösen ist“.34 Am Ende räumt er ein, „daß auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist“.35 Für Freud bleibt die Literatur ein stetiger Referenzpunkt, z.B. in seiner Studie zu Wilhelm Jensens Gradiva (1907), wo er verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Romantext und der psychoanalytischen Methode entdeckt, aber auch in seinem grundlegenden Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908), in der Goethe gewidmeten Untersuchung Eine Kindheitserinnerung aus ‚Dichtung und Wahrheit‘ (1917), in dem wichtigen Aufsatz über das Unheimliche (1919), in dem er auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann zurückgreift, oder in dem späten Versuch Psychopathische Personen auf der Bühne (1942), in dem er über Wirkungsstrategien der Tragödie und die Bühnentauglichkeit psychopathischer Personen nachdenkt. Ein literaturwissenschaftlich bedeutsamer Text ist auch die Abhandlung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905), die darlegt, 33 34 35
GW II/III, S. 271 f. GW VIII, S. 208 f. Ebd., S. 209.
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wie sich der Witz – vor allem vermittelt über die Sprachform – über Verbote und Zwänge der Realität hinwegsetzen kann. Dennoch verhielt sich die Germanistik lange Zeit ablehnend gegenüber psychoanalytischen Ansätzen. Es sind immer wieder geisteswissenschaftlich ausgebildete Psychoanalytiker wie Hanns Sachs, die sich dem Grenzgebiet von Literatur und Psychoanalyse zuwenden. So veröffentlichte Hanns Sachs 1924 den Aufsatz Gemeinsame Tagträume, in dem er – in Weiterführung einer Überlegung Freuds – literarische Texte mit gemeinsamen Tagträumen Jugendlicher vergleicht; für Sachs ist ausschlaggebend, dass im Kunstwerk ‚asoziale‘ Tagträume sozial vermittelt und durch bewusste Formgebung kommunizierbar werden. Hanns Sachs gab zusammen mit Otto Rank die Imago heraus, eine Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Im Vorwort des ersten Heftes (1902) betonen die Herausgeber die elementare Bedeutung der Freud’schen Kategorie des ‚Unbewussten‘ für alle Kulturphänomene: „Da das Unbewußte an der Entstehung aller psychischen und Kulturgebilde, an Religion und Sitte, an Sprache und Recht mitgearbeitet hat, ist ihre völlige Durchleuchtung ohne Kenntnis der Arbeit des Unbewußten unmöglich. […] Eine wirkliche Seelenkunde, die den aus den Tiefen des Unbewußten immer neu hervorsprudelnden Phantasien den ihnen gebührenden weiten Geltungsbereich zuweist und sie durch alle ihre Schichtungen und Bedeutungswandlungen hindurch auf ihre eigentlichen Wurzeln zurückzuführen vermag, muß deshalb alle Geisteswissenschaften befruchten und ihnen neue Probleme und neue Lösungen bringen.“36 Dieses Vorwort untermauert den selbstbewussten kulturwissenschaftlichen Anspruch der Psychoanalyse. Bei der ablehnenden Haltung der Germanistik war es ein historisches Ereignis, als der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg 1930 in seiner Antrittsvorlesung forderte, die Literaturwissenschaft müsse sich endlich mit der Psychoanalyse auseinandersetzen.37 Dabei weist er auf viele Schriftsteller hin, die diese Auseinandersetzung längst geleistet und aus der Psychoanalyse Anstöße für ihr Schreiben gewonnen hätten. Er geht dann besonders auf die These Freuds von den Tagträumen als 36
37
Zit. nach Fischer, Jens Malte (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus ‚Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften‘ (1912–1937), Tübingen 1980, S. 9. Die Vorlesung wurde 1930 unter dem Titel Literaturwissenschaft und Psychoanalyse publiziert. Sie ist abgedruckt in Urban, Bernd (Hrsg.), Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen, Tübingen 1973, S. 153–177.
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Ersatz des kindlichen Spiels und als Vorstufe der dichterischen Arbeit ein.38 Der Nationalismus unterbricht all diese Forschungsbemühungen für lange Zeit; viele Psychoanalytiker verlassen Deutschland, die psychoanalytischen Schriften werden auf den Scheiterhaufen der Nazis verbrannt. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft verharrt in Deutschland bis zu den 1960er-Jahren in einem Moratorium, aus dem sie nur die Arbeiten einiger Psychiater und Psychoanalytiker zeitweise befreien (z.B. Simenauer 1953 mit einer Studie über Rilke39). In Frankreich verfasst die Psychoanalytikerin und Freud-Schülerin Marie Bonaparte eine dreibändige psychoanalytische Studie über Poe (1933), die im zweiten und dritten Band eine umfangreiche Werkanalyse liefert. Bonaparte verschränkt hier Leben und Werk des Autors, ohne jedoch zu sehr in pathographische Analysen zu verfallen. In einem Vorwort betont Freud erneut, dass es keine kausalen Erklärungen für die kreativen Leistungen von Dichtern gebe: „Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie des Dichters erklären“.40 Einen anderen Weg schlug Carl Gustav Jung ein, der sich von Freud trennte und seine Analytische Psychologie in bewusster Abgrenzung zu Freud entwickelte. Seine literaturpsychologischen Ansätze wurden vor allem in den USA literaturwissenschaftlich weiterentwickelt, wo sie sich in den breiteren Rahmen des ‚Myth Criticism‘ einfügten: In Anlehnung an Jungs Abhandlung Wandlungen und Symbole der Libido (1912) werden mythische Elemente oder archetypische Bilder in literarischen Texten aufgesucht, die einem kollektiven Unbewussten entstammen.41 In Deutschland wurden Jung’sche Ansätze vor allem zur Interpretation von Märchen verwendet.42 Möglicherweise bewirkte Jungs zeitweiliges Sympathisieren mit dem Faschismus, dass die europäischen Intellektuellen auf Distanz zu seiner Theorie gingen. Seine Archetypenlehre (bzw. der Nachweis latenter mythischer Strukturen in literarischen Texten) scheint von ahistorischen Grundkonzepten auszugehen, die der geschichtlichen Veränderung psychischer Strukturen und soziokultureller Gegebenheiten zu wenig gerecht werden. 38 39 40
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Vgl. ebd., S. 168. Vgl. Simenauer, Erich, Rainer Maria Rilke. Legende und Mythos, Frankfurt a. M. 1953. Bonaparte, Marie, Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie [1934], Bd. 1, Vorwort, Frankfurt a. M. 1981 (frz. 1933). Vgl. Schönau, Walter / Pfeiffer, Joachim, Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft [1991], 2., akt. und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2003, S. 193. Vgl. z. B. Kast, Verena, Wege aus Angst und Symbiose. Märchen psychologisch gedeutet [1982], 8. Aufl., Olten, Freiburg 1986.
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Einen wirklichen Durchbruch erlebte die psychoanalytische Literaturwissenschaft erst nach 1968. Die Studentenrevolte brachte Bewegung in das Methodenspektrum der Germanistik, das in der Nachkriegszeit von der werkimmanenten Methode dominiert war. Mit der verstärkt gesellschaftstheoretischen Ausrichtung des Faches erhielt auch die Psychoanalyse neue Beachtung in den Geisteswissenschaften (die jetzt als Gesellschaftswissenschaften bezeichnet wurden). Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Habermas), die auf die Germanistik großen Einfluss ausübte, versuchte die Marx’sche Gesellschaftstheorie mit der Psychoanalyse zu versöhnen. Jürgen Habermas setzte sich in seiner oft zitierten Schrift Erkenntnis und Interesse (1968) mit Freuds Theorieansätzen (besonders auch mit dem angeblichen „szientistischen Missverständnis“43 der Psychoanalyse) auseinander und bestimmte damit nachhaltig die Diskussion in den Geisteswissenschaften. Die 1970er-Jahre können als Blütezeit der psychoanalytischen Literaturwissenschaft bezeichnet werden. Zahllose Studien erscheinen und bereichern die wissenschaftliche Diskussion, z. B. Jean Starobinskis kulturhistorische Untersuchung L’œil vivant (1970),44 die sich an vielfältigen Beispielen (u. a. Corneille, Racine, Rousseau, Stendhal) der Affinität von Literatur und Psychoanalyse zuwendet. Peter von Matts Psychoanalyse und Literaturwissenschaft erscheint 1972; Carl Pietzcker veröffentlicht 1974 seine Antrittsvorlesung unter dem Titel „Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk“,45 in der literaturpsychologische Ansätze Freuds kritisch reflektiert und weitergeführt werden. Wichtige Sammelbände werden publiziert, herausgegeben u. a. von Wolfgang Beutin,46 Bernd Urban,47 Johannes Cremerius,48 Reinhold Wolff.49 Die Publikationsvielfalt setzt sich auch in den 1980er-Jahren fort, jetzt immer mehr 43 44 45
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48
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Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 262 ff. Vgl. Starobinski, Jean, L’œil vivant, 2 Bde., Paris 1961/1970. Auszugsweise dt. Übersetzung unter dem Titel Psychoanalyse und Literatur, Frankfurt a. M. 1973. Vgl. Pietzcker, Carl, „Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk“, in: Cremerius, Johannes (Hrsg.), Psychoanalytische Textinterpretation, Hamburg 1974, S. 57–69. Vgl. Beutin, Wolfgang (Hrsg.), Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Textinterpretation, München 1972. Vgl. Urban, Bernd (Hrsg.), Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen, Tübingen 1973. Vgl. Cremerius, Johannes (Hrsg.), Psychoanalytische Textinterpretation, Hamburg 1974. Vgl. Wolff, Reinhold (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturkritik, mit Nachw. und Bibl., München 1975.
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angereichert durch Arbeiten, die sich an der Lacan’schen Psychoanalyse orientieren: so z. B. in dem Sammelband Eingebildete Texte (1981), in dem Elizabeth Wright „Klassische und strukturalistische Ansätze der psychoanalytischen Literaturforschung“ nebeneinander stellt.50 In Freiburg wird 1975 der Arbeitskreis für Literatur und Psychoanalyse gegründet, der seither regelmäßige Tagungen veranstaltet und die Freiburger literaturpsychologischen Gespräche (seit 1998 Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse) herausgibt. In einem Erinnerungsband, der von Mitgliedern des Arbeitskreises herausgegeben wurde, berichten zwölf Wissenschaftler der ‚ersten Stunde‘, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg zur interdisziplinären Zusammenarbeit von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse kam.51 An der Universität Kassel entsteht 1980 ein Wissenschaftliches Zentrum, das von 1981 bis 1994 die Zeitschrift fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse publiziert (mit stärkerer Akzentuierung der Lacan’schen Psychoanalyse und kultursemiotischer, medientheoretischer und philosophischer Orientierung). In Frankfurt a. M. erscheint von 1989 bis 1991 die Zeitschrift für Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie, die sich an den Ansätzen Alfred Lorenzers orientiert. Lorenzer zieht eine Parallele zwischen den psychoanalytischen Interaktionsformen und der literarischen Kommunikation: Der Leser trete in Interaktion (in eine „Szene“) mit den Figuren des Textes; dabei geht es Lorenzer weniger darum, latente Sinnzusammenhänge zu erschließen, er will vielmehr die Dynamik der Beziehung zwischen Text und Interpret erfassen und die unbewussten Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten lebenspraktisch erweitern. Eine Festschrift für Lorenzer (1987) ist der Frage „szenischen Verstehens“52 gewidmet. Seit den 1990er-Jahren geht das Interesse an psychoanalytischer Literaturwissenschaft zurück zugunsten poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze, deren anti-hermeneutisches Grundverständnis schwer mit der Freud’schen Psychoanalyse vereinbar ist. Die Lacan’sche Theorie dagegen, die sich den poststrukturalistischen Paradigmenwechsel zu eigen machte, wird gerade im letzten Jahrzehnt des 50
51
52
Vgl. Wright, Elizabeth, „Klassische und strukturalistische Ansätze der psychoanalytischen Literaturforschung“, in: Hörisch, Jochen / Tholen, Georg Christoph, Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 26–48. Vgl. Mauser, Wolfram / Pietzcker, Carl (Hrsg.), Literatur und Psychoanalyse. Erinnerungen als Bausteine einer Wissenschaftsgeschichte, Würzburg 2008. Belgrad, Jürgen (Hrsg.), Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1987.
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20. Jahrhunderts literaturwissenschaftlich produktiv. In den neueren Forschungsbereichen der Gender Studies und der Filmtheorie sind psychoanalytische Fragestellungen und Methoden in besonderer Weise präsent. Auch wenn sich die Psychoanalyse aus dem akademischen Bereich etwas zurückgezogen hat (sie war dort ja nie selbstverständlich beheimatet), stößt sie doch bei Studierenden nach wie vor auf großes Interesse, da sie relevante Fragen nach der subjektiven und sozialen Bedeutung von Literatur besser beantworten kann als die zur Ahistorizität neigenden poststrukturalistischen Ansätze.
4. Publikationen Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren (1908) Einer der frühesten Basistexte psychoanalytischer Literaturinterpretation ist – neben Freuds Traumdeutung – der Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren“,53 den Freud 1908 in der literarischen Zeitschrift Neue Revue veröffentlichte. Die Abhandlung versucht produktionsästhetisch den dichterischen Schaffensprozess zu erklären und wirkungsästhetisch den Rezeptionsvorgang zu analysieren; dabei gelangt Freud zu den ersten Ansätzen einer ästhetischen Theorie. Sein Ausgangspunkt ist die Analogie von Dichtung und kindlichem Spiel: „Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt“.54 Wenn Freud die Verwandtschaft von Spiel und Dichtung konstatiert, dann stellt er sich in eine Reihe mit prominenten Autoren wie Kant oder Schiller. An die Stelle des kindlichen Spiels tritt beim Erwachsenen, so Freud, der Humor – und vor allem der Tagtraum. Wie der Traum stellen auch der Tagtraum und das Phantasieren eine Wunscherfüllung dar: „Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit“.55 In einem weiteren Schritt gelangt Freud dann über den Tagtraum zur Dichtung; somit gilt auch für den literarischen Text, dass er die „unbefriedigende Wirklichkeit“ korrigiert und von Erinnerungen an das Spiel der Kindheit gespeist wird. Im Rückbezug auf das Glück der Kindheit liegt 53 54 55
GW VII, S. 211–223. Ebd. S. 214. Ebd., S. 216.
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die wichtigste Triebquelle der dichterischen Tätigkeit, und in der sekundären Bearbeitung des Phantasiematerials besteht die List, den (verbotenen) Wünschen doch noch zur Erfüllung zu verhelfen: „Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft“.56 Dichten bedeutet für Freud also auch immer ein Beharren auf den Glücksansprüchen der Kindheit und eine Wirklichkeitskorrektur – nicht nur ein Wirklichkeitssurrogat und eine Illusion, wie er an anderer Stelle schreibt.57 Bei der Ableitung der Dichtung aus dem Tagtraum übersieht Freud jedoch nicht die Unterschiede, die beide voneinander trennen: Während der Tagträumer seine Phantasien vor den Anderen in der Regel verbirgt, macht der Dichter seine literarischen Phantasien kommunizierbar und verhilft den Rezipienten zu beträchtlichem Lustgewinn. Dieser Lustgewinn, den Freud auch als „Verlockungsprämie“ oder „Vorlust“ bezeichnet,58 findet seinen Grund in der ästhetischen Gestaltung, in der Ars poetica, die das Verbotene einerseits verhüllt, andererseits die „Befreiung von Spannungen in unserer Seele“ doch ermöglicht.59 Alle ästhetische Lust trägt, so Freud, den Charakter solcher Vorlust. Diese frühe Abhandlung enthält eine Literaturtheorie in Keimform und liefert insbesondere eine Erklärung für die Funktion des Ästhetischen. Die Qualität des Ästhetischen wird hier jedoch nur unzureichend bestimmt, die Form ist für Freud nur Vorlustlieferant, sie verlockt uns zur Wunschbefriedigung und „versüßt“ Verbotenes. In seinem Aufsatz Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk greift Carl Pietzcker Freuds Kunsttheorie auf und führt sie kritisch weiter. Er akzentuiert den Unterschied zwischen (Tag-)Traum und Kunstwerk, wenn er darauf hinweist, dass das literarische Werk in stärkerem Maß den Forderungen nach Kommunizierbarkeit und Verständlichkeit unterliege. Die Rekonstruktion der Kunstarbeit – Aufgabe der psychoanalytischen Literaturwissenschaft – muss historische und sozialpsychologische Aspekte mit einbeziehen: Wenn Bedürfnisse und Realität nicht geschichtslos verstanden werden, kann auch deren Vermittlungsarbeit (die Kunstarbeit) nur unter Einbeziehung sozialhistorischer Überlegungen analysiert werden. 56 57
58 59
Ebd., S. 221. „Die Kunst ist fast immer harmlos und wohltätig, sie will nichts anderes sein als Illusion“. („Über eine Weltanschauung“, GW XV, S. 173). GW VII, S. 223. Ebd.
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Trotz des wichtigen Aufsatzes von Freud wurde der Theorie des Ästhetischen in der Folgezeit wenig Beachtung geschenkt. Erst 1990 versucht ein Band der Freiburger literaturpsychologischen Gespräche – im Anschluss an eine Tagung zur Psychoanalyse der literarischen Form(en) – einen Überblick über den Forschungsstand zu geben60 und neue Ansätze vorzustellen. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) In mancher Hinsicht ist Freuds Traktat über den Witz61 literaturtheoretisch aufschlussreicher als seine Arbeiten, die sich direkt auf Literatur beziehen.62 In diesem Text werden, wie schon in der Traumdeutung, die Prozesse analysiert, die der Herrschaft des Subjekts entzogen sind: Verfahren der Verschiebung und Verdichtung, Mehrdeutigkeiten (Polysemien), Symbolisierung. Freud expliziert seine Theorie an einer Fülle von Witzen, etwa dem folgenden: Zwei Juden treffen sich in der Nähe eines Badehauses. Da fragt der eine: „Hast du genommen ein Bad?“ Worauf der andere die Gegenfrage stellt: „Wieso? Fehlt eins?“63 Freud macht deutlich, wie sehr der Witz am Ausdruck haftet: hier an der Doppelbedeutung des Wortes „nehmen“. Wenn wir den Ausdruck „ein Bad genommen“ durch „gebadet“ ersetzen, verschwindet die witzige Wirkung. Die rhetorischen und ästhetischen Techniken des Witzes scheinen mehr mit der Poesie verwandt zu sein als der Traum, schon deswegen, weil der Witz auf Mitteilbarkeit und Darstellbarkeit zielt. Vor allem durch sprachliche Verfahren ermöglicht der Witz die Aufhebung von Hemmungen und Verboten, das Aussprechen von tabuisierten sexuellen oder aggressiven Inhalten. Die Ars poetica des Witzes bedient sich dabei relativ bewusstseinsnaher Entstellungen, die aber trotzdem das Durchbrechen der Zensur ermöglichen und auf diese Weise zur „Aufwandsersparnis“ beitragen: Der Witzproduzent erspart sich jenen Hemmungsaufwand, der zur Unterdrückung bestimmter aggressiver oder sexueller Tendenzen nötig wäre – und diese „Ersparnis“ vermittelt er auch dem Rezipienten, der die ersparte Energie mit Lustgewinn „ablachen“ kann.
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Pietzcker, Carl, „Überblick über die psychoanalytische Forschung zur literarischen Form“, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 9/1990, S. 9–32. Vgl. „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“, GW VI. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Hiebel, Hans, „Witz und Metapher in der psychoanalytischen Wirkungsästhetik“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 28/1978, S. 129–154. GW VI, S. 50.
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So gelingt dem Witz eine ähnliche Überlistung der Zensur wie dem Traum, er verwendet jedoch bewusstseinsnähere sprachliche Verfahren der sekundären Bearbeitung – und ist deshalb der Ars poetica literarischer Texte verwandter. Der Witz kann die Hemmung durch Verschiebung, Entstellung, Vieldeutigkeit und Lust am Sprachspiel aufheben – Verfahren, die wir in der Literatur insgesamt antreffen. Diese Verwandtschaft wird noch unterstrichen durch Freuds Feststellung, dass auch die „unsinnigen“ Witze und die Wortspiele (mit ihren Klangassoziationen, die sich von der Bedeutung ablösen) Lust hervorrufen und zu einer Entlastung von der „ernsthaften Verwendung der Worte“ und ihrer „Anstrengung“64 führen – eine implizite Rehabilitation jener Unsinnspoesie und symbolistischen oder surrealistischen Wortspielerei findet hier statt, die für Kristeva die Revolution der poetischen Sprache ausmachen. Freud verteidigt damit die Kraft des „Semiotischen“ (Kristeva), jene präverbale Sprachanarchie, die zur Befreiung von der Macht der Diskurse befähigt. Hanns Sachs: Gemeinsame Tagträume (1924) Diese Studie65 stammt von einem Freud-Schüler, der sich der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition verpflichtet weiß. Der „gemeinsame Tagtraum“ bildet für Hanns Sachs das missing link in der von Freud entwickelten Reihe Kinderspiel – Tagtraum – Dichtung. Entscheidend ist dabei der soziale Aspekt, der sich der privaten Phantasie zugesellt: „Das Kunstwerk ist eine große soziale Leistung, als solche dem Mythus und der Religion, ja auch dem Gesetze und der Wissenschaft eng verschwistert, der Tagtraum ist asozial. Die Stelle aufzufinden, wo sich der Übergang vom Asozialen zum Sozialen vollzogen hat, soll unsere eigentliche Aufgabe sein“.66 Der gemeinsame Tagtraum Jugendlicher wird zum Modell für das Gegenüber von Autor und Publikum: Diese ‚Gemeinsamkeit‘ ist eine Art Vorform der komplexen Autor-Leser-Beziehung und steht für die Möglichkeit, den Tagtraum kommunizierbar zu machen. Im übrigen entlastet die gemeinsame Phantasiearbeit auch von den Schuldgefühlen, die bei der Umgestaltung verbotener Phantasien entstehen; im Schaffensakt antizipiert der Dichter die Bereitwilligkeit 64 65
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GW VI, S. 134. Sachs, Hanns, Gemeinsame Tagträume [1924], auszugsweise in: Wolfgang Beutin, (Hrsg.), Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Interpretation, München 1972, S. 65–77. Sachs, Gemeinsame Tagträume, S. 67.
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des Publikums, seine Phantasien und die sie begleitende Schuld zu teilen. Dafür bietet er den Lesern das Werk zum kathartischen Mitphantasieren an. Die ‚Schönheit‘ des Werks beweist ferner, dass der Autor „den Narzißmus von der eigenen Person ablösen und auf das Werk verschieben“67 konnte. Bei Sachs fehlt noch ein weiter entwickeltes Konzept des Narzissmus, welches das grundlegende Streben des Menschen nach einer Integration des Selbst erklären könnte; diese Integration kann in der externalisierten Form des „Selbstobjekts“ (Winnicott) – im Kunstwerk – seinen Ausdruck finden. Dies ändert jedoch nichts an dem Verdienst von Sachs’ Studie; sie wurde als „die wohl bemerkenswerteste theoretische Fortschreibung und Modifizierung von Freuds Analogiebildung zwischen Dichter und Tagträumer“68 bezeichnet. Kurt Robert Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775–1786 (1983/85) Eine der bedeutendsten psychoanalytischen Autorenbiographien ist ohne Zweifel die umfangreiche Studie Kurt Robert Eisslers über das Leben und Werk Goethes69 – eine epochale Leistung, die trotz gewisser Schwächen70 einen Meilenstein in der psychoanalytischen Goetheforschung darstellt. Die beiden Bände umfassen Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt, also einen relativ kleinen Ausschnitt aus dem Leben des Dichters. Lange Zeit blieb Eisslers Biographie, die 1963 in den USA erschienen ist, von der Goethe-Forschung unbeachtet; erst 20 Jahre später wurde durch die deutsche Übersetzung das Augenmerk auf sie gelenkt. In zahllosen Detailanalysen, die weit zurück in Goethes Kindheit und Jugend reichen, in minutiöser Textarbeit – immer wieder gestützt auf seine Werke, Tagebücher und Briefe – zeichnet Eissler Goethes innere Entwicklung nach. Ein Hauptinteresse gilt dabei der inzestuösen Fixierung an seine Schwester Cornelia und deren analyseähnlicher Aufarbeitung in der Beziehung zu Charlotte von Stein. Auch wenn hier unverkennbar ein Psychoanalytiker am Werk ist, gerät Eissler doch nie in die Nähe pathographischer Spurensuche; vielmehr werden die unbewussten
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Ebd., S. 77. Marx, Reiner / Wild, Reiner, „Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Skizze einer komplizierten Beziehungsgeschichte“, in: LiLi, 14/1984, 53f., 166–193. Vgl. Eissler, Kurt Robert, Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775–1786, 2 Bde, Basel, Frankfurt a. M. 1983/85 (engl. 1963). Näheres hierzu in der ausführlichen Rezension von Carl Pietzcker, in: Psyche 39/1985, S. 379–383.
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Voraussetzungen der Entstehung eines Werks untersucht, das sich aus Widersprüchen, inneren Katastrophen und subjektiver Zerrissenheit entwickelt hat. Goethes Biographie wird nicht pathologisiert, seine kreativen Leistungen werden aus persönlichen Konflikten und Leiden heraus erklärt. Manches erscheint fragwürdig (so Eisslers Idealisierung des Geniebegriffs, die Stilisierung Charlotte von Steins zur Analytikerin) – trotz mancher Fehlschlüsse bietet diese psychoanalytische Studie jedoch eine Fülle von neuen Einblicken in Goethes Leben und Werk, die zu einer biographischen Umwertung Anlass geben. Jacques Lacan: Das Seminar über E. A. Poes ‚Der entwendete Brief‘ (1973, frz. 1956) Dieses Seminar ist die einzige systematische Studie Lacans über Literatur.71 Der französische Psychoanalytiker wendet darin seine Theorie von der Dominanz des Signifikanten über das Signifikat (und der mit der Sprachstruktur verbundenen Unstillbarkeit des Begehrens) auf E.A. Poes Novelle Der entwendete Brief an. In Poes Text erhält die Königin von Frankreich einen kompromittierenden Brief, der von einem findigen Minister in ihrer Anwesenheit entwendet und durch ein Imitat ersetzt wird. Nach vergeblichen Recherchen der Polizei gelingt es schließlich dem Detektiv Dupin, den gestohlenen Brief in der Residenz des Ministers ausfindig zu machen und ihn wiederum durch einen gefälschten zu ersetzen – um das Original der Empfängerin zurückzugeben. In der Geschichte wird also ein wiederholter Substitutionsvorgang geschildert: Der Brief (la lettre) nimmt für Lacan den Ort des privilegierten Signifikanten ein, der die Bahn des Begehrens und seine Wende hin zum Ort des Anderen als Ort der Sprache beschreibt.72 Der Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache ist es, der die Abkehr vom Symbiosewunsch, die Hinwendung zum Anderen und damit den Eintritt in die unendliche Zirkulation des Begehrens ermöglicht. Lacans Poe-Studie hat eine heftige Debatte ausgelöst, die zu einer produktiven Belebung der poststrukturalistisch-psychoanalytischen Literaturdiskussion führte.73
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Lacan, Jacques, „Das Seminar über E. A. Poes ‚Der entwendete Brief‘“, in: ders.: Schriften, Bd. 1, S. 7–60. Vgl. Bossinade, Poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 60. Näheres hierzu ebd., S. 61 f.
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Helga Gallas: Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur (1981) Eine paradigmatische Textlektüre lieferte Helga Gallas mit ihrer Studie über Kleists Michael Kohlhaas.74 Es handelt sich um eine der ersten ausführlichen Literaturinterpretationen im deutschsprachigen Raum, die an Lacan ausgerichtet ist; sie wurde zu einer Art Referenzlektüre für poststrukturalistisch-psychoanalytische Literaturdeutung. Schon im Titel („Textbegehren“) kommt der Grundgedanke Lacans zum Ausdruck, dass das Begehren die Struktur eines unendlichen und unabschließbaren Signifikationsprozesses hat: dass das (unbewusste) Begehren wie eine Sprache strukturiert ist. In der Deutung von Helga Gallas erscheinen die Pferde als Phallussubstitute, d.h. als Ersatz dessen, was zur Vollständigkeit fehlt, als Signifikanten der imaginären Ganzheit des Ichs. Immer wieder neue Signifikanten führt der Text ein, die eine unendliche Kette von Substituten bilden: neben den Pferden das Recht, das Gesetz, das Vernichten des Junkers, des Kurfürsten, die Flucht, das Quälen, die Kapsel mit dem Zettel.75 Das eigentliche Objekt des Begehrens ist immer abwesend und wird durch eine Kette von Phallusmetaphern ersetzt – da sich das Begehren auf etwas richtet, was es nie gegeben hat (den Phallus der Mutter): „Der Sinn der Kette, der sich an einem Punkt der Kette einstellen mag, wird immer wieder aufgeschoben, verschoben auf den nächsten Signifikanten. Deshalb spricht Lacan vom ständigen Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten“.76 Das große Verdienst dieser Arbeit besteht in der akribischen Analyse von Textstellen, die unter den Vorgaben Lacan’scher Theorie in einem neuen Licht und neuen Zusammenhängen erscheinen. Etwas zu rigoros verwirft die Autorin jedoch mit der marxistischen Literaturtheorie auch die historische Methode77 – was tendenziell eine ahistorische Betrachtung des Textes nach sich zieht. Dass das „sprechende“ Subjekt des Textes nicht der Autor, sondern der Text selbst mit seiner Verschlungenheit, seinen gleitenden Signifikanten ist, will man gerne zugestehen; wenn das Subjekt sich im Textgewebe auflöst wie eine „Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes“78 aufgeht (Barthes), so muss 74
75 76 77 78
Vgl. Gallas, Helga, Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewußten und der Sinn der Literatur, Reinbek 1981. Vgl. ebd., S. 87. Ebd. Vgl. ebd., S. 8 f. Ebd., S. 114.
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dies nicht zwangsläufig die Ablehnung historischer Analysen zur Folge haben – wie das Werk Foucaults in vielfältiger Hinsicht gezeigt hat. Gilles Deleuze / Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur (1976, frz. 1975) Die eigenwillige Kafka-Lektüre79 entstand in der Auseinandersetzung mit Freud, Lacan und Foucault, wobei die Psychoanalyse gewissermaßen auf den Kopf gestellt wird. Die beiden Autoren Deleuze (der Philosoph) und Guattari (der Psychiater) gehen in ihrer Studie von den provozierenden Thesen ihres Buches Anti-Ödipus80 aus: Der Anti-Ödipus (der „Schizo“) kämpft gegen Freuds Ödipus, indem er dessen kulturelle Strukturierungsvorgaben (für Freud ist der Ödipuskomplex das Nadelöhr menschlicher und kultureller Sozialisation und Ursprung der Über-Ich-Bildung) in Frage stellt und dem Wahn seine Unschuld zurückgibt. Deleuze und Guattari sehen Kafkas Werk in entschiedener Antithese zur Psychoanalyse Freuds und Lacans: Sie finden in seinen Texten nicht den klassischen Ödipus, sondern beständige Versuche, sich über die Sprache dem ‚Halseisen‘ des Ödipus, dem patriarchalischen System der Unterdrückung zu entziehen. Das sprachliche Verfahren hierzu besteht in der Aufblähung des Ödipalen, in seiner Vergrößerung und Verzerrung ins Komische und Absurde (besonders deutlich im Brief an den Vater). Dieses „Vergrößern, Aufblähen, Erweitern des Ödipus, also sein perverser oder paranoischer Gebrauch“ stellt einen Ausweg aus der Unterdrückung dar, „ein Aufrichten des Kopfes, ein[en] Blick über die Schulter des Vaters“:81 ein Öffnen der Sackgasse, ein Brechen der Blockade, eine Deterritorialisierung des Ödipus in die Welt (statt einer ‚Reterritorialisierung‘ auf sich selbst und die Familie).82 Darin bestehe der Fehler der Psychoanalyse, dass sie sich von der ödipalen Szenerie einfangen lasse, anstatt die Deterritorialisierungsbewegung in der komödiantischen Übertreibung zu erkennen. Es ist ein zweifelloses Verdienst der Autoren, die komischen und komödiantischen Anteile an Kafkas Werk erkannt und ins Licht gesetzt zu haben. Auch das häufige Tier-Werden in Kafkas Werk sehen sie als schöpferische Fluchtlinie: als Versuch, dem ödipalen Dreieck und all den anderen Dreiecken der Unterdrückung (der Bürokratie, des Geschäfts) zu 79
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Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M. 1976. Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, Anti-Ödipus, Frankfurt a. M. 1974 (frz. 1972). Deleuze / Guattari, Kafka, S. 16. Vgl. ebd., S. 17.
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entgehen. Kafkas Sprache wird eine subversive Kraft zugesprochen: Sie unterlaufe den Bannkreis der Redeordnungen von innen her und löse sie auf. Dazu sei sie in der Lage, weil sie Ausdruck jener „kleinen Literatur“ sei, derer sich besonders soziale Minderheiten bedienen: ein „Rhizom“, ein Wurzelgeflecht, das sich der Herrschaftslogik des Signifikanten und des Symbolischen entziehe. Die „kleine Literatur“ von Minderheiten ist nicht an große Vorbilder gebunden und missachtet Autoritäten, bezieht aber gerade aus diesem Mangel ihre schöpferische Kraft. So anregend diese provozierende Kafka-Lektüre ist, so problematisch erscheint die These, Kafkas Werk könne die Ordnungen des Diskurses in anti-ödipaler Emphase von innen her auflösen: so, als gäbe es ein ungezähmtes ursprüngliches Begehren, das erst nachträglich in die Zwangsmechanismen der symbolischen Ordnung gerate.83
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die wichtigste Leistung der Psychoanalyse bleibt die systematische Erforschung des Unbewussten und die von ihr abgeleitete kritische Theorie des Subjekts. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Literatur- und Kulturwissenschaften erklärt sich aus diesem Begründungszusammenhang: Das Unbewusste beeinflusst alle Kulturphänomene, insbesondere auch die Produktion und Rezeption von Literatur und Kunst. Freuds Werk ist nicht nur ein Text, „in welchem diese Kultur zum Ausdruck kommt und sich begreift“,84 die Psychoanalyse weist auch Wege zum Verständnis literarischer Texte gerade da, wo sie unverständlich oder sinnlos erscheinen. Mit der Annahme eines Unbewussten steht und fällt die psychoanalytische Literaturwissenschaft, gleich, ob man ihr einen objektivistischen oder konstruktivistischen Wahrheitsbegriff zuerkennt.85 Mit der Orientierung am Sinnverstehen und ihrem Bestreben, das Sinnlose aus den Zusammenhängen der Phantasiestruktur eines Textes zu verstehen, erhebt sie einen hermeneutischen Anspruch, der mit der szientistischen 83
84 85
Vgl. hierzu auch Bossinade, Poststrukturalistische Literaturtheorie, S. 55 f. (auch die hier aufgeführte Kritik Manfred Franks). Ricœur, Die Interpretation, S. 9. Vgl. hierzu Reiche, Reimut, „Von innen nach außen? Sackgassen im Diskurs über Psychoanalyse und Gesellschaft“, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, 14/1995, S. 37–64.
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Ausrichtung Freuds zu kollidieren scheint. Sie muss auf dem hermeneutischen Status des Freud’schen Denkens bestehen und sich gegen entsprechende Angriffe86 verteidigen – auch gegen neuere anti-hermeneutische Richtungen. Lange Zeit wurde der psychoanalytischen Interpretation vorgeworfen, sie lege die Autorinnen und Autoren auf die Couch – ein Vorwurf, der sich aus den Frühzeiten der Psychoanalyse herleitet und sich von dort legitimieren konnte. Literarische Werke dienten häufig als Fallbeispiele für psychopathologische Theorien – bis hin zu der These Stekels, Dichtung und Neurose seien miteinander verwandt.87 Freud wandte sich von Anfang an gegen solche Vereinfachungen, die jedoch lange Zeit Grund vielfältiger Anfeindungen waren. Problematisch war im Übrigen, dass sich die frühen psychoanalytischen Textinterpretationen um den literarischen Wert der Texte wenig kümmerten – an Trivialtexten ließen sich psychische Phänomene oft besser aufzeigen als an den anerkannten Werken der Weltliteratur. Freud selbst schrieb eine Abhandlung über Jensens Novelle Gradiva, einen eher anspruchslosen Text, in dem er verblüffende Ähnlichkeiten mit der psychoanalytischen Methode zu entdecken glaubte. Eine ästhetische Theorie, die bei Freud bereits in Ansätzen vorhanden war, und eine Methode psychoanalytischer Textinterpretation konnten sich erst in dem Maß entwickeln, wie sich Literaturwissenschaftler der Psychoanalyse bedienten und sie in ihr Systemgebäude integrierten. Mit dem Begriff der ‚Phantasiestruktur‘ oder des ‚psychodramatischen Substrats‘ ließen sich biographistische Interpretationen und Deutungsversuche vermeiden, die die Interpretation auf reine Figurenpsychologie reduzierten. Die universitäre Germanistik ist heute von Zurückhaltung gegenüber der psychoanalytischen Literaturwissenschaft geprägt; in den Gender Studies und der Filmtheorie kommt der Psychoanalyse jedoch eine unverminderte Bedeutung zu. Die Geschlechtertheorien bedienen sich häufig der Terminologie Jacques Lacans, in der biologische Geschlechterkategorien konsequent durch sprachsymbolische ersetzt werden. In den Filmtheorien macht sich eine besondere Affinität zur Psychoanalyse bemerkbar,88 die nicht zuletzt in den frühen Wechselbeziehungen zwi86
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Vgl. z. B. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik (s. Fußnote 31). Vgl. Stekel, Wilhelm, Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes, Wiesbaden 1909. Vgl. Zeul, Mechtild, „Film und Kinotheorie“, in: Lohmann, Hans-Martin / Pfeiffer, Joachim (Hrsg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2006, S. 402–411.
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schen Film und Psychoanalyse begründet ist. Die Traumlogik der filmischen Bilder, die Nähe von Traum und Film legen psychoanalytische Deutungsversuche nahe; manche Filme (wie die Hitchcocks) sind ohne Psychoanalyse nicht zu verstehen. Will man die Gesellschaft, den Menschen und seine kulturellen Produktionen historisch angemessen begreifen, so wird man auch weiterhin von der Komplexität, der Widersprüchlichkeit und den Abgründigkeiten seiner psychischen Dispositionen ausgehen müssen. Auf das Verständnis unbewusster Strukturen – die in den literarischen Texten ihren spezifischen Ausdruck finden – wird man dabei kaum verzichten können.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Freuds Werke werden nach folgender Ausgabe zitiert: Sigmund Freud, Gesammelte Werke (= GW), unter Mitwirkung von Marie Bonaparte hrsg. von Anna Freud u. a., London, Frankfurt a. M. 1940 ff. Freud, Sigmund, „Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘“ (1907), in: GW VII, S. 29–125. Freud analysiert die 1903 von Wilhelm Jensen veröffentlichte Novelle Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück und entdeckt große Ähnlichkeiten zwischen der psychoanalytischen Methode und dem Erzähltext (etwa die Bedeutung der Träume). Freud, Sigmund, „Eine Kindheitserinnerung aus ‚Dichtung und Wahrheit‘“ (1917), in: GW XII, S. 13–26. Eine Episode, die zu Beginn von Dichtung und Wahrheit erzählt wird (das Hinauswerfen des Geschirrs durch den Knaben), deutet Freud als ‚Deckerinnerung‘, als magische Handlung, die gegen die Ankunft eines Geschwisters gerichtet sei. Freud, Sigmund, „Das Unheimliche“ (1919), in: GW XII, S. 227–268. Am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann untersucht Freud die psychische Funktion des Unheimlichen als Wiederkehr von verdrängten Inhalten, von Altvertrautem, das unter bestimmten Bedingungen unheimlich und schrecklich geworden ist.
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Freud, Sigmund, „Psychopathische Personen auf der Bühne“, in: GW Nachtragsband, S. 655–661. Freud fragt hier nach der Bühnentauglichkeit psychopathischer Personen und den Voraussetzungen für die Identifizierung der Zuschauer mit ihnen. Beutin, Wolfgang (Hrsg.), Literatur und Psychoanalyse. Ansätze zu einer psychoanalytischen Textinterpretation, München 1972. Der Sammelband enthält wichtige historische Texte von Rank über Jung bis zu Simon O. Lesser. Groeben, Norbert, Literaturpsychologie. Literaturwissenschaft zwischen Hermeneutik und Empirie, Stuttgart 1972. Modellentwurf einer empirischen Literaturpsychologie, der auch hermeneutische Zugangsweisen integriert. Urban, Bernd (Hrsg.), Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen, Tübingen 1973. Texte aus der Gründerzeit der Psychoanalyse (Stekel, Reik, Rank, Jung) und der 1930er-Jahre (Grolmann, W. Muschg, Pongs). Cremerius, Johannes (Hrsg.), Psychoanalytische Textinterpretation; Hamburg 1974. Der Sammelband enthält repräsentative Texte der 1970er-Jahre, der ‚Blütezeit‘ der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Wolff, Reinhold, Strukturalismus und Assoziationspsychologie. Empirisch-pragmatische Literaturwissenschaft im Experiment: Baudelaires ‚Les chats‘, Tübingen 1977. Vergleich „textobjektiver“ (Jakobson, Lévi-Strauss, Riffaterre) und empirisch-psychologischer Verfahren. Fischer, Jens Malte (Hrsg.), Psychoanalytische Literaturinterpretation. Aufsätze aus ‚Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften‘ (1912–1973), Tübingen 1980. Der Sammelband gibt einen Einblick in die Frühgeschichte psychoanalytischer Literaturinterpretation; er enthält Texte, die sonst schwer zugänglich sind.
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Lorenzer, Alfred, „Zum Beispiel Der Malteser Falke. Analyse der psychoanalytischen Untersuchung literarischer Texte“, in: Bernd Urban / Winfried Kudszus (Hrsg.), Psychoanalytische und psychopathologische Literaturinterpretation, Darmstadt 1981, S. 23–47. Lorenzer untersucht an Hammetts Text die literarische Kommunikationsstruktur (die ‚Interaktionsformen‘). Pietzcker, Carl, Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks am Beispiel von Jean Pauls ‚Rede des toten Christus‘ [1983], 2. durchges. Aufl., Würzburg 1985. Hier wird das Kunstwerk als Phantasieprodukt psychoanalytisch interpretiert und insbesondere die Kunstarbeit Jean Pauls verfolgt; dabei kommt der gesellschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion eine wichtige Bedeutung zu: Der literarische Text wird als individuelle Einheit gesellschaftlicher Widersprüche verstanden. Hagestedt, Jens, Die Entzifferung des Unbewußten. Zur Hermeneutik psychoanalytischer Textinterpretation, Frankfurt a. M. 1988. Hagestedt versucht die ‚Rekonstruktion der Psychoanalyse‘ durch Lacan nachzuzeichnen und fragt nach Möglichkeiten der psychoanalytischen Textbetrachtung – wobei er sich gegen den Anspruch von Lacan-Anhängern wendet, die hermeneutischen Probleme der Freud’schen Tradition lösen zu können. Reh, Albert M., „Literatur und Psychologie (II): Die Analytische Psychologie C.G. Jungs“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 20/1988, 2, S. 58–71. Einführung in die tiefenpsychologische Literaturinterpretation auf der Grundlage von C.G. Jung. Pfeiffer, Joachim, Literaturpsychologie. Eine systematische, annotierte Bibliographie, hrsg. in Verbindung mit Wolfram Mauser und Bernd Urban, Würzburg 1989. Die Bibliographie berücksichtigt vor allem deutschsprachige Publikationen zur Literaturpsychologie (auch Übersetzungen ins Deutsche), wobei alle Richtungen der Psychoanalyse und der Psychologie vertreten sind. Die Titel enthalten stichwortartige Anmerkungen, die über Ansätze und Inhalt orientieren. Verfasser- und Schlagwortregister im Anhang. Fortsetzungen und Nachträge in den Freiburger literaturpsychologischen Gesprächen 1991, 1994, 1998 und 2001.
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Bossinade, Johanna, Poststrukturalistische Literaturtheorie, Stuttgart, Weimar 2000. Die Arbeit geht davon aus, dass in den Theorien des Poststrukturalismus die Literatur als Gedächtnis für das Verdrängte der Sprache fungiert. Am Leitfaden der Reaktivierung verdrängter Sprachprozesse werden grundlegende Orientierungen zum Verständnis des poststrukturalistischen Literaturmodells vermittelt (Lacan, Kristeva, Irigaray, Derrida, Foucault, de Man). Matt, Peter von, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse [1972], überarb. Aufl., Stuttgart 2001. Der Text ist die erweiterte Fassung einer Vorlesung aus den 1970er-Jahren. Von Matt entwickelt darin, ausgehend von Freuds Traumbegriff, das Konzept des ‚psychodramatischen Substrats‘ und ergänzt seine Überlegungen durch ein Nachwort über die Wirkung Freuds im 20. Jahrhundert. Schönau, Walter / Pfeiffer, Joachim, Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft, 2., aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2003. Die Einführung erläutert in einem systematischen Teil Konzepte des literarischen Schaffensprozesses, Ansätze der psychoanalytischen Rezeptionstheorie und Theorien der psychoanalytischen Literaturinterpretation. Ein historischer Teil gibt einen Überblick über die Entwicklung der literaturpsychologischen Forschung in verschiedenen Ländern.
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1. Definition Unter Literatursoziologie versteht man ihrer langjährigen Praxis entsprechend eine ‚externe‘ Analyse, die sich den nicht-literarischen Aspekten der Literatur widmet, das heißt den Bezügen zu Gesellschaft, Ökonomie und Politik, im Gegensatz zu ‚immanenten‘ Ansätzen, die den literarischen Text unter ästhetischen Gesichtspunkten beobachten.1 Diese Arbeitsteilung außer Kraft gesetzt, das Soziale im Zentrum der literarischen Produktion verortet und dadurch die Literatursoziologie neu ausgerichtet hat Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes. Sie geht davon aus, dass gerade die ästhetische Besonderheit eines literarischen Textes einen sozialen Akt darstellt, mit dem sich der jeweilige Autor primär zu einer Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft verhält, zu der der Autoren. Diese Gesellschaft bezeichnet der Pariser Kultursoziologe eingedenk der polaren Spannung zwischen herrschenden und beherrschten Autoren als ‚literarisches Feld‘. Die Geschichte des literarischen Feldes beschreibt er als zunehmende Autonomisierung gegenüber literaturfremden Mächten und Einflüssen samt Ausbildung eigener Produktions- und Rezeptionsnormen, sodass das, was in diesem Feld produziert wird, immer weniger aus dem Stand der Ökonomie, der Politik oder dem Interesse sozialer Klassen ableitbar ist.2
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2
In Anlehnung an Kuzmics, Helmut / Mozetiˇc, Gerald, Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz 2003, S. 51, die hier eine schablonenhafte, aber nicht unbegründete Wahrnehmung in der Germanistik ansprechen. Vgl. Bourdieu, Pierre, „Einführung in eine Soziologie des Kunstwerks“, in: ders., Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S. 120.
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2. Beschreibung Seit der literatursoziologischen Hausse der 1970er-Jahre bestreitet niemand mehr, dass zwischen Literatur und Gesellschaft ein wie auch immer gearteter Zusammenhang besteht. Dennoch ist ein Geltungsverlust des Kontextualisierens unabweisbar, eine Gemengelage von Ursachen angebbar. Die außerdisziplinäre ‚Großwetterlage‘ hat sich zu Ungunsten der Literatursoziologie verändert: Die Abwertung neomarxistischer und allgemein sozialwissenschaftlicher Modelle gesellschaftlicher Selbstbeschreibung sowie der damit verbundenen oder auch nur assoziierten Ideologiekritik ist mittlerweile ein Gemeinplatz.3 In dem Maß, in dem sich die Germanistik in den 1970er-Jahren als materialistische Wissenschaft respektive spezialisierte Gesellschaftswissenschaft zu begründen versuchte,4 also an den genannten Modellen partizipierte, wurde sie von deren Entwertung seit den 1980er-Jahren in Mitleidenschaft gezogen. Gegenüber der noch ganz auf Dichtungsfrömmigkeit gestimmten Nachkriegsphilologie – „Wir wollen begreifen, was uns ergreift“ (Emil Staiger) – und ihrer seit den späten 1960er-Jahren als allzu besinnlich empfundenen ‚Interpretationskunst‘ hatte die sozialgeschichtliche Ausrichtung zwar Vorzüge. So verdankt ihr die Germanistik eine Erweiterung des Literaturbegriffs auf vordem nicht kanonisierte Literatur und generell eine Sensibilisierung für Prozesse der Kanonisierung.5 Doch drängt sich einigen Fachvertretern der Eindruck auf, dass dieses Projekt ausgereizt ist, nachdem es eine bestimmte Aufgabe erfüllt hat, nämlich den Anschluss an die westliche Welt der Wissenschaft herzustellen.6 Überdies mehren sich seit Mitte der 1990er-Jahre Stimmen,
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Vgl. Huber, Martin / Lauer, Gerhard, „Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft – zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft“, in: hrsg. v. dens., Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 1–11, hier S. 1. So etwa das Ansinnen von Mattenklott, Gert / Scherpe, Klaus R., Editorial, in: hrsg. v. dens., Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert, Kronberg/Ts. 1974, S. VIf. Vgl. Jannidis, Fotis, „Sozialgeschichtliche Ansätze“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 1998, S. 492–494. So Huber / Lauer, Neue Sozialgeschichte?, S. 3.
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sich auf Kanonbildung als zentrale Aufgabe der Germanistik rückzubesinnen.7 Eine erhebliche Schwäche ließ die Sozialgeschichte auf der Ebene literaturgeschichtlicher Epochenbildungen erkennen. Dass die Literaturgeschichtsschreibung allzu oft nur als Teil einer übergeordneten allgemeinen Historiografie verstanden wurde, verrieten schon Ordnungsmarken wie ‚Vormärz‘, ‚Wilhelminismus‘ oder ‚Literatur im Nationalsozialismus‘, ausgerichtet an politischen Etappen, nicht am Phänomen der Literatur. Auch war eine gewisse Unverbundenheit zwischen durchaus nicht-reduktiven Textanalysen und ‚sozioökonomischem Hintergrund‘ bisweilen unübersehbar. Zu einer der am umfassendsten angelegten Sozialgeschichten der deutschen Literatur bemerkte 1995 ein skeptischer Leser, es finde sich dort der Hinweis, „dass um 1800 ‚30000 Bauernhöfe und 70000 bis 80000 nicht spannfähige Besitzstellen […] allein in den ostelbischen Provinzen Preußens zum Verkauf‘ gelangten. Das ist beeindruckend. Was an dieser Information nicht für Agrarhistoriker, sondern für die Literaturgeschichte relevant ist, erfährt man jedoch nicht“. Eine Kritik, die nicht die Irrelevanz ökonomischer Daten für die Literatur behauptete, sondern auf das Problem hinwies, „dass unter dem Label ‚Sozialgeschichte‘ die Selektionskriterien für den Import literaturexterner Daten nicht allzu streng und das Interesse an deren Relationierung mit literaturinternen Sachverhalten nicht allzu groß ist“.8 In der Hauptsache freilich hat sich die Literatursoziologie durch eine bestimmte Form der Werkanalyse in Verruf gebracht. Zumindest die beiden bekanntesten marxistischen Varianten leisteten sich einen „Kurzschluß-Effekt“,9 wenn sie eine unmittelbare Beziehung zwischen sozialer Realität und Romaninhalten behaupteten.10 Georg Lukács hielt es in seinem mittleren und späten Werk für ein Kriterium großer Kunst, dass sie Wesen und historische Tendenz ihrer 7
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Vgl. Erhart, Walter, „Kanonisierungsbedarf und Kanonisierung in der deutschen Literaturwissenschaft (1945–1990)“, in: Renate von Heydebrand (Hrsg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart, Weimar 1998, S. 97–121. Werber, Niels, „Evolution literarischer Kommunikation statt Sozialgeschichte der Literatur“, in: Weimarer Beiträge, 41/1995, S. 428. Bourdieu, „Einführung“, hier S. 110. Vgl. zu den beiden Hauptverursachern der selbstverschuldeten Misere Schön, Erich, „Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft“, in: Helmut Brackert / Jörn Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 606.
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jeweiligen Epoche korrekt widerspiegelt. Er operierte zum einen mit einem antiquierten Mimesis-Verständnis, zum anderen setzte er voraus, dass Marxisten und nur sie „die wirkliche Bahn der Geschichtskurve [sehen]“.11 Auf dieser Grundlage glaubte er Autoren auf- bzw. abwerten zu können. Wahrhaft realistische Erzähler verstehen es demnach, kraft typischer Protagonisten in typischen Situationen die wesentlichen Widersprüche zeitgenössischer Gesellschaft einzufangen, ihr Wesen statt nur die Oberflächenerscheinungen, ihre Totalität statt nur Ausschnitte, und zuvorderst ihre gesetzmäßige Bewegung statt nur Statisches, Seelenzustände oder Stilleben.12 In dieser Sicht gibt der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur die Inhalte der Romane vor, er determiniert auch den Grad ihres Gelingens, denn nicht zufällig werden die Positivwerte den Autoren einer dynamischen Übergangsperiode zwischen Feudalsystem und bürgerlicher Gesellschaft zugeschrieben, die Negativwerte aber Flaubert und Zola, vorgestellt als nur beobachtende Beschreiber, die als Autoren des bereits etablierten Kapitalismus, einer Stagnationsperiode, nicht anders könnten. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Romanstruktur postulierte der genetische Strukturalismus. Lucien Goldmann betonte mit Marx, dass im Kapitalismus eine authentische Wertbeziehung zwischen Menschen und Gütern, in der es den Menschen noch auf den Gebrauchswert der Güter ankommt, von abstrakten Tauschwertbeziehungen abgelöst wird. Dem entspreche die Eigenheit des modernen Romans, in dem „die authentischen Werte auf das Niveau des Impliziten zurückgedrängt und als unmittelbar wahrnehmbare Gegebenheiten oder Äußerungen verschwunden sind; es kann also in der Welt dieser Romane keinen positiven Helden geben“.13 Drei Stadien der Literaturgeschichte – das Erscheinen problematischer Helden, die vergeblich nach authentischen Werten suchen, das Verschwinden individueller Helden und schließlich das Auftreten eines Universums autonomer Objekte im Nouveau Roman – sollen drei Phasen der Wirtschaftsgeschichte reflektieren: die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform, den Imperialismus und zuletzt, nach 1945, den Organisationskapitalismus. 11
12 13
Lukács, Georg, „Vorwort zu ‚Balzac und der französische Realismus‘“ [1951], in: ders., Schriften zur Literatursoziologie, Neuwied, Berlin 1961, S. 243. Vgl. ders., „Erzählen oder Beschreiben?“ [1936], in: ders., Essays über Realismus, Neuwied, Berlin 1971. Goldmann, Lucien, Soziologie des Romans, Darmstadt, Neuwied 1970, S. 25.
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Goldmann ging zudem von einer Homologie zwischen Werk und sozialer Trägergruppe aus. Als Exempel dienten ihm die Tragödien Jean Racines im 17. Jahrhundert, deren Aufbau und Wertungssteuerungen er mit der Ideologie des Jansenismus übereinstimmen sah, einer religiösen Reformbewegung mit strengen Moralvorstellungen, die sich vor allem aus dem Amtsadel rekrutierte.14 Auch Lukács betrachtete solche Homologien als den Regelfall, betonte aber, dass große Autoren dem Realismus den Vorzug geben, wenn sie sich zwischen ihm und ihren herkunftsbedingten Präferenzen entscheiden müssen.15 Als Paradebeispiel führte er den Aristokraten Balzac an, dessen Herz am Feudalsystem hing und der doch von der Unaufhaltsamkeit des Bürgertums handelte. Erwähnenswert ist die Binnendifferenz der Marxisten, weil Bourdieu etwas vergröbert, wenn er beiden bescheinigt, die Werke auf die Weltsicht sozialer Klassen zurückzuführen.16 Doch die Vereinfachung im Nachhinein ist vertretbar, denn letztlich handelt es sich um Bagatellvariationen. Ob man den literarischen Text nun von der ökonomischen Entwicklung oder von der sozialen Herkunft des Autors bestimmt sieht, in beiden Fällen wird eine Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Werk ignoriert, „jene Gesellschaft in der Gesellschaft, die die Gesellschaft der Autoren oder Urheber ist und die die traditionelle Kunstgeschichte nie als solche, in ihren Funktionsgesetzen, ihren Erfolgs- und Karrieregesetzen, ihren spezifischen Zwängen, untersucht hat“.17 Auf die Defizite von Literatursoziologie hat die Theorie des literarischen Feldes in mehrfacher Hinsicht geantwortet. Sie kennt keine geschichtsphilosophische Hybris, vermeidet eine unvermittelte Gegenüberstellung von Gesellschaft als determinierendem Kontext und dem davon bestimmten Text, befasst sich mit dem sozioökonomischen Umfeld der literarischen Werke wie mit dem Allerheiligsten selbst und liefert ihrerseits – wenn auch nur indirekt – Kriterien für Kanonbildung. Aus dem Gesamt der Vorzüge erklärt sich ihre Konjunktur in der Germanistik seit den späten 1990er-Jahren (s. u. 4.). Umstritten in der Disziplin ist sie in erster Linie, weil sie die Autonomie literarischer Produktion anders begründet als die Systemtheorie, die in der Germanistik noch Mitte der 1990er-Jahre als tragfähigste Alternative zu traditioneller Literatursozio14 15 16 17
Vgl. ders., Der verborgene Gott, Darmstad, Neuwied 1973. Vgl. Lukács, „Vorwort“, hier S. 249. Vgl. Bourdieu, „Einführung“, hier S. 109. Bourdieu, Pierre, Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Berlin 1989, S. 20.
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logie galt (s.u. 3.). Die Stärken des französischen Ansatzes liegen in der Analyse der Produktionsseite von Literatur, die Überlegungen zur Rezeptionsseite hingegen sind ergänzungsbedürftig. Die Grenzen aufgezeigt haben zwei jüngere Studien aus der Leseforschung, die zur Erklärung der sozialen Differenzierung von Lektüregewohnheiten auch Kategorien Bourdieus heranziehen, jedoch nicht ohne Vorbehalte (s.u. 3., 5.).18 Die Theorie des literarischen Feldes ist eingebettet in eine Topographie des sozialen Raums, der hauptsächlich in den Begriffen ‚Klasse‘, ‚Kapital‘, ‚Feld‘ und ‚Habitus‘ beschrieben wird. Die beiden erstgenannten verweisen auf die Methode, geeignete Elemente der politischen Ökonomie aus der Marx’schen Reduktion auf die ökonomische Sphäre (im engeren Wortsinn) zu lösen. Abgesehen davon, dass Bourdieu ‚Klasse‘ als analytische Konstruktion, nicht etwa als mobilisierbares Kollektiv verstanden wissen will, erweitert er den Klassenbegriff durch die an Max Weber angelehnte Unterscheidung zwischen der Klassenlage als dem Ergebnis allein der wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Individuen/Gruppen leben, und der Klassenstellung, die aus einem ganzen Komplex relationaler Merkmale resultiert.19 Die Klassenstellung ist als Konstellation dreier Kapitalsorten zu begreifen: des ökonomischen (Geld, Produktionsmittel, Grundbesitz), des sozialen (Verwandtschaft, Freundschaft, Beziehungen) und des kulturellen Kapitals (Sprachkompetenz, Bildungsgrad, Titel, Manieren). Hinzu kommt symbolisches Kapital als kollektiv wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der vorgenannten Kapitalien, bekannt als Prestige, Renommee usw.20 Das am anschaulichsten in Die feinen Unterschiede (frz. 1979, dt. 1982) entworfene Gesellschaftsmodell kennt ein Unten und Oben, die vertraute Trias von Proletariat, Klein- und Großbürgertum, doch auch – dies der zweite grundlegende Unterschied zu marxistischer Denkgewohnheit – eine waagrechte Achse. Während die Summe des zur Verfügung stehenden ökonomischen und kulturellen Kapitals die vertikale Positionierung sozialer Gruppen regelt, sorgt die chiastische Zusammensetzung von kulturellem und ökonomischem Kapital für eine horizontale Fraktionie-
18
19 20
Kämper-van den Boogaart, Michael, Schönes schweres Lesen. Legitimität literarischer Lektüre aus kultursoziologischer Sicht, Wiesbaden 1997; Schneider, Jost, Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland, Berlin, New York 2004. Vgl. Bourdieu, Pierre, Klassenstellung und Klassenlage, in: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1974, S. 42–75, bes. S. 59 f. Vgl. ders., Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 10 f.
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rung bei gleicher Kapitalsumme.21 So besetzen Inhaber sehr hohen kulturellen bzw. ökonomischen Kapitals die horizontalen Pole der herrschenden Klasse. Wer in der Terminologie von ‚dominierter‘ und ‚dominanter Fraktion‘ die in Deutschland geläufigere Unterscheidung zwischen Bildungs- und Besitzbürgertum reformuliert sieht, liegt nicht falsch. Allerdings akzentuiert das von Bourdieu bevorzugte Begriffspaar den permanenten Kampf beider Gruppen um gesellschaftliche Definitionsmacht, während der Marxismus auf beider Zusammenhalt abhob, die (gewöhnlichen) Angehörigen der literarischen und wissenschaftlichen Intelligenz zu konzeptiven Ideologen des Bürgertums degradierte. Die in modernen Gesellschaften ausdifferenzierten Handlungsbereiche wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Literatur versteht Bourdieu als relativ selbständige, wenn auch nicht völlig gegeneinander abgeschottete Felder, deren Akteure sich durch die Art ihrer Praxis aufeinander beziehen. „Alle, die sich in einem Feld betätigen, haben bestimmte Grundinteressen gemeinsam, nämlich alles, was die Existenz des Feldes selbst betrifft“.22 Große Macht auf einem Feld begünstigt den Einfluß auf einem anderen, garantiert ihn jedoch nicht, da die Legitimationskriterien je nach Feld differieren. So kennt das literarische zwei als Objektivierung verschiedener Kapitalsorten verstehbare Pole: hier die ‚Massen‘-Literatur mit dem kommerziellen Erfolg als primärem Legitimationskriterium, dort die eingeschränkte Produktion für literarische Insider (‚production restreinte‘), die die Normen selbst festlegt und sich nicht vom Markt diktieren läßt, beschreibbar als ein Ort des Kampfes um eine ‚reine‘ Form der Anerkennung, das heißt um symbolisches Kapital bei anderen Produzenten (tatsächlichen oder potentiellen).23 Folgt man dem ersten historisierenden Abriss (Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, frz. 1966, dt. 1974), so hat sich das literarische Feld im 18. und frühen 19. Jahrhundert unterm Anspruch konstituiert, autonom zu sein von Instanzen, „die im Namen einer selbst nicht spezifisch geistigen Macht oder Autorität den Anspruch auf gesetzgebende Gewalt in kulturellen Dingen erheben“.24 Die seitdem sich herausbildenden Instanzen der 21 22
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Vgl. ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 212 f. und 405 ff. Ders., „Über einige Eigenschaften von Feldern“, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993, S. 107–114, hier S. 109. Vgl. ders., „Le champ littéraire. Préalables critiques et principes de méthode“, in: lendemains, 9/1984, 36, S. 5–20, hier S. 10. Ders., „Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld“, in: ders., Zur Soziologie, S. 75–124, hier S. 77.
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Verbreitung und Auslese: Verlagshäuser, Theater, künstlerische und wissenschaftliche Vereinigungen, lösen die Literaten aus der ästhetischen und normativen Vormundschaft des Adels und des Klerus. In Erscheinung tritt der heute eingeschliffene, doch von seinen historischen Voraussetzungen untrennbare Habitus des auf höhere, visionäre Wirklichkeit der Kunst und damit seiner selbst pochenden Künstlers. Gefördert wird der Kollektivhabitus der ‚Einzigartigen‘ zuvorderst durch den Buchmarkt, der die anonyme Masse der Leser an die Stelle des bei Hofe und in den Salonzirkeln noch persönlichen Kontakts zum Publikum treten lässt, womit Instanzen unmittelbaren Rats und Einspruchs ausfallen. Die Abtrennung erlaubt zweierlei Autonomiegesten: zum einen die proklamierte Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikumsgeschmack, als deren Extrem Theorien des L’art pour l’art gelten können, zum anderen die auf der Lesernachfrage, mithin auf ökonomischer Macht beruhende Unabhängigkeit von den Stätten literarischer Weihe („Konsekrationsinstanzen“), etwa von der Literaturkritik oder von Akademien. Schriftsteller zählt Bourdieu zur dominierten Fraktion der herrschenden Klasse, da sie im Verhältnis zur dominanten über mehr kulturelles, doch weniger ökonomisches Kapital verfügen. Dass sie Letzteres als das im Feld der Macht zumeist ausschlaggebende erfahren, ist für sie inakzeptabel, wenn sie denn auf eine universalistische Geltung ihrer feldinternen Werte pochen („moralische Kraft, Interesselosigkeit, Uneigennützigkeit, Kompetenz“).25 Im Außenverhältnis, sprich demjenigen zur dominanten Fraktion, bilden Bruch und Legitimation die Pole, zwischen denen sich die Autoren bewegen. Als dritte Größe kommen die Spielarten des L’art pour l’art ins Spiel, der als ambivalente Position eine soziale Funktion von Kunst überhaupt ablehnt und in dessen Kult des Stils um des Stils willen sich das ästhetische Äquivalent einer politischen Indifferenz äußert. Dem Innenverhältnis nach bildet das literarische Feld „nach Art eines magnetischen Feldes ein System von Kraftlinien“,26 bestehend aus den Macht- und Einflussbeziehungen der über symbolisches Kapital verfügenden Personen. Die Äußerungen eines Autors sind als instinktiv kompetitives Streben nach Distinktionsgewinn zu verstehen. Wie jeder andere Akteur im sozialen Raum entwickelt auch ein Schriftsteller einen „sense of one’s place“ (Erving Goffman), ein Gespür für die von ihm eingenommene respektive ihm von anderen Teilnehmern zugeschriebene 25 26
Ders., Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S. 41–65, hier S. 42. Ders., „Künstlerische Konzeption“, hier S. 76.
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Position. Literatur stellt eines von vielen Feldern der Distinktion dar; von anderen Feldern hebt sich das literarische (und allgemeiner das künstlerische) jedoch ab, weil es das Sich-Unterscheiden am höchsten prämiert, ja geradezu diktiert. Es handelt sich um einen sozialen Kosmos, in dem nur das Unverwechselbare zählt.27 Indes konturiert Distinktion, die nicht strategischem Kalkül entspringen muss, dem Autor vielmehr als natürliche Positionsfindung erscheint („innere Notwendigkeit“), erst auf der Folie einer kulturellen Mitgift. An ihr hat der Einzelne Anteil, indem er an das je vorherrschende System von Themen, Problemen und Fragen anknüpft, in denen und kraft derer er denkt, so dass sich die Anwesenheit anderer Werke im eigenen nicht nur auf ausdrücklich erwähnte oder auch nur angespielte beschränkt. Was sich im Bewusstsein der Beteiligten als Geschichte unaufhörlicher Innovation und Sezession ausnimmt, bestätigt die logische Integration des Feldes, da Antipoden sich auf einen Bestand von Fragen beziehen, von denen sie wie selbstverständlich annehmen, dass um sie zu streiten lohnt. Bourdieu zufolge bleibt den Teilnehmern „die verschwiegene Komplizität in ihren Voraussetzungen“28 verborgen, als kulturell Unbewusstes einer Epoche oder Generation, das sich am ehesten retrospektiv erschließt. Das Verhältnis von individueller Einstellung und im Feld eingenommener Position erklärt sich aus der Beziehung zwischen Feld und Habitus. Bei diesem handelt es sich um die verinnerlichte Kapitalsumme, über die ein Akteur disponiert, um ein individuell verankertes und beobachtbares, jedoch klassenspezifisch erworbenes Erzeugungsprinzip „klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen“.29 Eine Matrix von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern, die dafür sorgt, dass Praktiken und Geschmacksäußerungen in den unterschiedlichsten Handlungsbereichen kongruieren. So lässt der Modus operandi eines literarischen Textes auf das Verhalten des Autors in biographisch-praktischen Angelegenheiten schließen. Der Habitusbegriff ist nicht so eng zu verstehen, dass sich mit seiner Hilfe die Handlungen eines Schriftstellers prognostizieren ließen,30 wohl aber lassen sich durch ihn die Grenzen ausmachen, der Spielraum, innerhalb dessen sich schöpferisch agieren lässt. 27 28 29 30
Vgl. ders., Die feinen Unterschiede, S. 650. Ders., „Künstlerische Konzeption“, S. 123. Ders., Die feinen Unterschiede, S. 278. Vgl. ders., Satz und Gegensatz, S. 26 f.
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Zum jeweiligen Feld, in dem sich der Einzelne bewegt, verhält sich der Habitus nicht äußerlich, vielmehr besteht „das Prinzip historischen Handelns […] in der Relation zweier Zustände des Sozialen, nämlich der in Sachen, in Gestalt von Institutionen objektivierten Geschichte auf der einen, der in Gestalt jenes Systems von dauerhaften Dispositionen, das ich Habitus nenne, leibhaft erworbenen Geschichte auf der anderen Seite“.31 Bezogen auf die Literatur heißt Relation, dass die Handlungen eines Autors verstehbar sind als ein Zusammentreffen von situativen Feldbedingungen und Habitus. Letzterer vermag einzig im „Raum der Möglichkeiten, der das Produkt der eigenen Geschichte des Feldes ist“,32 in Erscheinung zu treten, im Modus der signifikanten Unterscheidung. Die Eigenlogik des literarischen Feldes ist daran erkennbar, dass es die herkunftsbedingten Einstellungen überlagert („Brechungseffekt“), ohne sie freilich völlig zu neutralisieren. Die dem Feld vorgängigen Dispositionen äußern sich in „strukturell geprägten Praktiken, wobei dieselben Dispositionen zu ästhetisch und politisch entgegengesetzten Positionen führen können, entsprechend dem Zustand des Feldes, in bezug auf den sie sich determinieren müssen“.33 Wie aber hat man sich das Zusammenspiel von Habitus und Feld konkret vorzustellen? Das theoretisch Behauptete exemplifiziert und damit erst den Schritt von der Theorie zur Methode vollzogen zu haben, ist ein Vorzug der Regeln der Kunst (frz. 1992, dt.1999). Zu den Zentralbegriffen der Summa von Bourdieus kunstsoziologischen Studien zählt der ‚doppelte Bruch‘. Mit ihm ist die Abgrenzung des L’art pour l’art von der ‚bürgerlichen‘ wie von der ‚sozialen‘ Kunst im Allgemeinen, ein Verfahren Flauberts im Besonderen gemeint. Dem Schöpfer der Madame Bovary (1857) missfällt demnach am sozialen Realismus, der überwiegend von Kleinbürgersöhnen bevorzugten Richtung, dass er das Wünschenswerte, die Wahl alltäglicher Themen, mit hausbackener Sprache und moralisierender Figurenzeichnung verbindet. Der mehrheitlich von Großbürgersöhnen betriebene Kult der Form wiederum ächtet populäre Sujets wie den Ehebruch als trivial. Flaubert, der Sohn eines Chefarztes, ist eher dem Großbürgertum zuzurechnen und jedwedem Moralisieren abgeneigt, und doch unterscheidet er sich von beiden Lagern, indem er ihre konträren Vorzüge, Lebensnähe und guten Stil, synthetisiert. „Das Mittelmäßige gut beschreiben“, „die Lyrik und 31 32 33
Ders., Sozialer Raum und Klassen, S. 69. Ders., „Einführung“, hier S. 101. Ders., „Le champ“, hier S. 7.
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das Vulgäre verschmelzen“: Ein oxymoral formuliertes Programm, da es scheinbar Unmögliches leistet, das heißt Ansprüche vereinbart, die von der literarischen Mitwelt als Widerspruch in sich betrachtet werden. Die doppelte Abgrenzung ruft folglich eine Zangenbewegung der Kritik hervor: Während das bürgerliche Lager beklagt, dass Flaubert einem ‚platten‘ Thema wie dem Ehebruch literarische Weihen verleiht, halten die Realisten ihm eine kaltherzige Distanznahme von seinen Protagonisten vor. Er macht es keinem recht, genau darin sieht Bourdieu sein Verdienst.34 Dem Habitus Flauberts schreiben die Regeln einiges Gewicht zu. Zum einen ist er einer Geschmackspräferenz ablesbar (‚Moralinfreiheit‘), zum anderen verschafft das ökonomische Kapital des Rentiers dem Schriftsteller eine dispositionelle Selbstsicherheit, die eine riskante, die meisten Zeitgenossen überfordernde Positionsnahme in aestheticis erleichtert.35 Es verhält sich jedoch nicht so, dass ein Habitus A mechanisch zur Stilpräferenz B führt, denn wie wäre dann die Differenz zu den ‚Klassenkameraden‘ erklärbar? Welchen Stil, welche Themen ein Autor wählt, hängt zugleich von der aktuellen Situation im literarischen Feld ab, was klassenzentrierte Perspektiven ignorieren. Dass es die je vorherrschende Position, besser noch die je vorherrschende Alternative in der Literatur ist, zu der sich ein Autor querstellen sollte, wenn er nachgeborene Leser interessieren will, hebt Bourdieu allerdings nicht nur gegenüber den marxistischen, sondern auch gegenüber den rein immanenten Lektüren literarischer Texte hervor. Diese übergehen die Rolle der Gesellschaft in der Gesellschaft auf ihre Weise. Folgt man der Feldtheorie, so wird die ästhetische Souveränität zumindest bedeutender Schriftsteller durch die Rekonstruktion dessen, wovon ein Werk Abstand genommen hat, erst ermessbar. Zu achten ist auf das Mischungsverhältnis zwischen der vom Autor noch in der heftigsten Verneinung inkorporierten Tradition und ihrer Überschreitung. Auch wenn Bourdieu mit der unter Schriftstellern gängigen und von der immanenten Lektürenorm verstärkten Vorstellung ‚ungeschaffener Schöpfer‘ bricht, wenn er betont, dass die Kreativität des Einzelnen vom Feld mitgeschaffen wird: Es geht ihm weniger um die Entzauberung von Autoren als um Kanonisierungen zweiten Grades. Immanente Lektüren dagegen, Kanonisierungen ersten Grades, meinen, Kunstwerke ohne Bezug auf ihr Umfeld, rein aus sich selbst heraus erklären und auszeichnen zu können. 34 35
Vgl. ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999, S. 150 ff. Vgl. ebd., S. 139.
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Dass sich der doppelte Bruch à la Flaubert als Kriterium literatursoziologischer Wertzuweisungen eignet, wird allerdings allein an der Gattung Gesellschaftsroman nachgewiesen, man wünschte sich vergleichbare Beispiele aus Lyrik oder Drama. Auch ist das relationierende Verfahren natürlich dann am leichtesten anwendbar, wenn der verhandelte Autor im Begleitdiskurs zum Werk (Briefe, Essays, Programme etc.) selbst eine zweiseitige Abgrenzung anspricht.36
3. Institutionsgeschichtliches Vom antizyklischen Verhalten Bourdieus zeugt, dass der Grundstock seiner literatur- und kunstsoziologischen Studien bereits zwischen 1966 und 1977 entstand.37 Auf Distanz zu Lukács und Goldmann ging er zu einer Zeit, da dies- wie jenseits des Rheins eine tendenzielle Gleichsetzung von Literatursoziologie mit marxistischen Ansätzen üblich war.38 Der Vorschlag, das Interesse an den Interessenbindungen literarischer Produktion beizubehalten, aber von einer klassenzentrierten Perspektive zu entkoppeln, fand in Deutschland erstmals in den 1980er-Jahren vereinzelt Aufmerksamkeit. Die Phase der Einführungen in die Feldtheorie sollte sich dann über eineinhalb Jahrzehnte, von 1981 bis 1997 erstrecken, was mit der anhaltenden Notwendigkeit zusammenhing, eine halbierte Bourdieu-Rezeption zu korrigieren. Die meisten Literaturwissenschaftler hierzulande registrierten lange Zeit nur Die feinen Unterschiede. Deren Erkenntnisinteresse nun galt nicht der Literatur an sich, sondern den Lebensstilen der Klassenfraktionen und der jeweiligen Instrumentalisierung von Literatur als einem von vielen Mitteln gesellschaftlicher Dis36
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Vgl. das Flaubert-Zitat ebd., S. 112: „Man glaubt, dass ich in die Wirklichkeit vernarrt bin, während ich sie doch verabscheue, denn ich habe diesen Roman [Madame Bovary, M.J.] aus Haß gegen den Realismus unternommen. Aber ich hasse nicht minder die falsche Idealität, mit der wir in der heutigen Zeit verhöhnt werden.“ Vgl. Bourdieu, Pierre, „Champ intellectuel et projet créateur“, in: Les Temps modernes, 246/1966, S. 865–906; ders., „Disposition esthétique et compétence artistique“, in: Les temps modernes, 295/1971, S. 1345–1378; ders., „Le marché des biens symboliques“, in: L’année sociologique, 22/1971, S. 49–126; ders., „L’Invention de la vie d’artiste“, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 2/1975, 3, S. 68–93; ders. „Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe“, in: Scolies, 1/1977, S. 7–26.; ders., „La production de la croyance: contribution à une économie des biens symboliques“, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 13/1977, 2, S. 4–43. Vgl. als Beispiel aus der deutschen Germanistik Hauff, Jürgen u. a. (Hrsg.), Methodendiskussion. Ein Arbeitsbuch, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1971, S. 83 ff.
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tinktion. Les règles de l’art, das andere der beiden Hauptwerke, das mit der Produktionsseite das Spezifische der Literatur in den Vordergrund rückte, war zwar 1992 erschienen, wurde aber erst mit siebenjähriger Verspätung ins Deutsche übertragen. Daher konnte noch Mitte der 1990er-Jahre das Gerücht kursieren, Bourdieu interessiere sich allein für den Kunstkonsum und betrachte Literatur als „Funktionsäquivalent von Cabrios und Clubmitgliedschaften“.39 Derlei absichtsvollen Missverständnissen wirkten die frühen Vermittler entgegen, die sich entweder auf die französische Originalversion der Regeln oder auf deren Vorstufen40 bezogen. Die wichtigsten Förderer des französisch-deutschen Transfers waren in der Romanistik Joseph Jurt (Freiburg), in der Germanistik Ludwig Fischer, Klaas Jarchow und Hans-Gerd Winter, die Hamburger Schule. Dass die beiden ersten Einführungen des Romanisten früher erschienen (1981/84) als diejenigen der Germanisten (1987/93), dürfte eine der Ursachen dafür sein, dass auch in der nachfolgenden, der ersten Welle feldtheoretisch orientierter Dissertationen und Aufsätze die Romanisten knapp vorn lagen.41 Wirkungsgeschichtlich relevanter war indes ein anderer Punkt. Bei naturgemäß zahlreichen Übereinstimmungen – von denen im Folgenden abgesehen wird – setzten die Einführungen einige unterschiedliche Akzente, die zum Etablieren der Theorie in der scientific community beitrugen, weil so frühzeitig klar wurde, dass die Feldtheorie sich nicht allein von den Ansätzen abhebt, die Bourdieu selbst rituell als Kontrastfolien anführte. Jurt, dessen Arbeit in die Germanistik ausstrahlte, betonte stets, dass bei Bourdieu dem Autonomiebegriff eine andere Bedeutung zukommt als in Peter Bürgers Konzept der ‚Institution Literatur‘. Um den Unter-
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Plumpe, Gerhard / Werber, Niels, „Herr Meier wird Schriftsteller“, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 173–208, hier S. 184. Vgl. Anm. 23 und 24. Vgl. Einfalt, Michael, Zur Autonomie der Poesie. Literarische Debatten und Dichterstrategien in der ersten Hälfte des Second Empire, Tübingen 1992; Rahner, Mechthild, ‚Tout est neuf ici, tout est à recommencer‘. Die Rezeption des französischen Existenzialismus im kulturellen Feld Westdeutschlands, Würzburg 1993; Joch, Markus, „Gaining Positions of Distinction. On Enzensberger’s Provocations“, in: Gerhard Fischer (Hrsg.), Debating Enzensberger. Great Migration and Civil War, Tübingen 1996, S. 13–29; Marquardt, Katrin, Zur sozialen Logik literarischer Produktion. Die Bildungskritik im Frühwerk von Thomas Mann, Heinrich Mann und Herman Hesse als Kampf um symbolische Macht, Würzburg 1997.
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schied zu veranschaulichen, lenkte der Freiburger die Aufmerksamkeit darauf, dass die Bourdieu-Schule42 den realen Autonomisierungsprozess des literarischen Feldes durch eine Reihe historischer Fallstudien zum Schauplatz Paris nachgezeichnet hat.43 Den französischen Schriftstellern garantiert Mitte des 19. Jahrhunderts das rapide Anwachsen eines virtuellen Publikums die ökonomische Unabhängigkeit von den alten Mächten Adel und Kirche. Mit der neuen Freiheit gehen sie jedoch sehr unterschiedlich um. Die meisten suchen ihr Heil darin, die steigende Nachfrage der Bourgeoisie zu befriedigen, etwa mit Arbeiten für die im Zweiten Kaiserreich expandierende Presse oder mit Theaterstücken erbaulichen Inhalts. Damit akzeptiert man auch in der Literatur die Spielregel der Kundschaft, die Logik der Nachfrage und des ökonomischen Erfolgs, als oberstes Legitimationskriterium. Anders Autoren wie Flaubert, die innerhalb der bürgerlichen Welt eine Gegenwelt aufbauen, in der die Anerkennung des seinen eigenen Gesetzen folgenden Werks durch andere Künstler mehr wiegt als der schnelle Verkaufserfolg; eine Gegenwelt, in der eine Logik nicht der Nachfrage, sondern des Angebots herrscht, und darüber hinaus eine Welt, deren Grundgesetz einer verkehrten Ökonomie gleicht: „Auf symbolischem Terrain vermag der Künstler nur zu gewinnen, wenn er auf wirtschaftlichem Terrain verliert (zumindest kurzfristig), und umgekehrt (zumindest langfristig)“.44 In der ‚heroischen Periode‘ um 1860 beruht die anti-ökonomische Ökonomie noch auf den Handlungen und Dispositionen von einzelnen Akteuren, zumeist von Rentiers, die sich als Bürgerkinder eine anti-bourgeoise Indifferenz gegenüber kurzfristiger Nachfrage am ehesten leisten können. Seit den 1880er-Jahren beginnt sich die Selbstgesetzgebung (‚auto-nomos‘) des literarischen Feldes dann zu stabilisieren. Die Rangfolge der Gattungen, die sich aus den Urteilskriterien der literarischen Insider ergibt, ist derjenigen entgegengesetzt, 42
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Zu ihr zählten in der Konstitutionsphase der 1970er- und -80er-Jahre Christoph Charle, Rémy Ponton und Alain Viala. Vgl. Jurt, Joseph, „Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule“, in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 5/1981, S. 454–479; lendemains 9/1984, 36, Sonderh.: Das literarische Feld. Eine literatursoziologische Kategorie in Theorie und Praxis; ders., Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995; ders., „Bourdieus Analyse des literarischen Feldes oder der Universalitätsanspruch des sozialwissenschaftlichen Ansatzes“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 22/1997, 2, S. 152–180. Bourdieu, Die Regeln, S. 136.
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die aus kommerziellem Erfolg resultiert. Rangiert hier das Theater ganz oben, die Lyrik unten, verhält es sich dort genau umgekehrt. Flankiert wird die Autonomisierung durch die rechtliche Liberalisierung. Ende des 19. Jahrhunderts ist in Frankreich die Zensur (außer im Bereich des Theaters) abgeschafft, während die Vorreiter Flaubert und Baudelaire sich für ihre ‚unmoralischen‘ Schriften noch vor Gericht verantworten mussten. Jurt stellte eine neuartige Sozialgeschichte vor, deren Periodisierungen sich nicht an politischen Einschnitten orientieren (etwa: Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs 1871), sondern an den Autonomisierungsetappen der Literatur. Die eigentliche Pointe besteht darin, der Autonomisierung auch einen politischen Effekt zuzuschreiben. Sie musste weitgehend abgeschlossen sein, bevor sich das für ‚les intellectuels‘ konstitutive Bewusstsein durchsetzen konnte, dass Autonomie nicht gleichbedeutend ist mit der Ablehnung von Politik (wie der L’art pour l’art noch glaubte). Vielmehr bildet sie die Grundlage eines legitimen, da parteiunabhängigen Engagements im Feld der Macht. Angeführt von Zola, intervenieren 1898 Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler als solche zugunsten des zu Unrecht des Landesverrats angeklagten jüdischen Militärs Dreyfus, und das Gewicht ihrer Stimme verdankt sich der Spezifik ihres symbolischen Kapitals, dem mit der Unabhängigkeit ihrer Felder verknüpften Wert der Uneigennützigkeit.45 Unter Berufung auf die Genese des Intellektuellentypus versteht (der späte) Bourdieu Autonomie als eine Voraussetzung für wirksame politische Einmischungen. Bürger dagegen betrachtete das Zauberwort noch als Synonym für Wirkungslosigkeit. Der Theorie der Avantgarde zufolge (1974) hat das Bürgertum der Literatur zwar das Recht eingeräumt, Werte zu artikulieren, die von der utilitaristischen Ausrichtung der Gesellschaft abweichen, doch wurde die Institutionalisierung eines unabhängigen Bereichs mit zunehmender, vom Bürgertum allemal erwünschter Depotenzierung erkauft. Darauf, so Bürger, reagierten im 20. Jahrhundert die Avantgarden (Futurismus, Dadaismus, Surrealismus) mit dem Projekt, die Kluft zwischen Kunst und Lebenspraxis aufzuheben. Auf den Unterschied zwischen positiver und tendenziell negativer Besetzung des Autonomiebegriffs machte Jurt allein aufmerksam, nicht etwa Bourdieu selbst. Dieser brachte gegen jegliche Rede von einer ‚Institution‘ Literatur vor, dass damit ein tatsächlich geringer Institutionali-
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Vgl. ders., „Der Korporativismus“, S. 41.
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sierungsgrad verkannt wird.46 So kennt das literarische Feld keine kodifizierte Positionsverteilung. Während in der Wissenschaft der „Titel […] seinen Träger dem symbolischen Kampf aller gegen alle entreißt, indem er den sozialen Akteuren die von allen anerkannte, autorisierte, universelle Perspektive vorgibt“,47 unterliegen die Akteure des literarischen Feldes stärker den Wechselfällen gegenseitiger Be- und Mißachtung; der einmal eingenommene Rang bedarf wiederholter Bestätigung. Zudem tobt in diesem Handlungsbereich der Kampf zwischen den Priestern, den etablierten Akteuren, und den Propheten, den temporär machtlosen Newcomern, in besonderer Schärfe. (Die binäre Typologie entstammt Max Webers Religionssoziologie.) Gegen die Macht arrivierter Schriftsteller, die auf der Anerkennung durch Institutionen wie Akademien, Schule und Universität beruht, können die Propheten die „Autorität der Persönlichkeit“48 geltend machen, eine Aura des Jugendlichen, Nicht-Amtlichen, Unorthodoxen, die im literarischen Feld höher im Kurs steht als in allen anderen. Dass die Feldtheorie die Antinomie zwischen Orthodoxie und Häresie zum Motor ästhetischer Veränderungen erklärt, hob die Hamburger Schule hervor. Dies in einem Aufsatz von 1993, der, weil in einem Suhrkamp-Band erschienen,49 die Popularisierung der Feldtheorie in der Germanistik beschleunigte. An gleicher Stelle erhellten Jarchow und Winter das Verhältnis Bourdieu-Adorno: Der Wortführer der Frankfurter Schule sah das Gesellschaftliche der (hohen) Literatur in ihrer gesellschaftlichen Funktionslosigkeit, der Intention, sich jeglicher Verwertbarkeit zu entziehen; das literarische Kunstwerk fasste er als eine der „verwalteten Welt“ abgerungene Einzigartigkeit. In Bourdieus Sicht hingegen ist ästhetische Besonderheit weniger einem Außen der Literatur abgetrotzt als den je aktuellen Standards der Gesellschaft der Literaten.50 Ein besonderes Augenmerk der Hamburger Rezipienten galt Bourdieus Untersuchung der Éducation sentimentale, dem Testfall narratologischer Anschlussfähigkeit. Fischer und Jarchow druckten 1987 in Sprache im technischen Zeitalter eine erste Fassung der Sozioanalyse ab, die schon 46 47 48 49
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Vgl. ders, „Le champ“, S. 17. Ders., Sozialer Raum, S. 24. Ders., „Künstlerische Konzeption“, S. 112. Vgl. Jarchow, Klaas / Winter, Hans-Gerd, „Pierre Bourdieus Kultursoziologie als Herausforderung der Literaturwissenschaft“, in: Gunter Gebauer / Christoph Wulf (Hrsg.), Praxis und Ästhetik, Frankfurt a. M. 1993, S. 93–134, zum Gegensatz von Priestern und Propheten S. 114f Vgl. ebd., S. 109.
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deshalb beträchtliche Resonanz bei Literatursoziologen fand, weil sie bis 1999 die einzige Übersetzung der soziologischen Hermeneutik ins Deutsche blieb. Im Begleitkommentar annoncierten die Vermittler eine Interpretation, die die Ideologiekritik endlich verabschiedet, Autoren nicht an ihrer politischen Gesinnung misst und unter der gelungenen Repräsentation sozialer Welt die Wahl sozialer Symbole versteht, nicht einfach eine ‚Abbildung‘.51 Die Abgrenzung vom marxistischen Lager der Germanistik kam nicht von ungefähr, auch wenn festzuhalten ist, dass sich dessen avanciertester Sprecher zu diesem Zeitpunkt bereits selbst von einigen Vorgaben Lukács’ gelöst hatte. Klaus R. Scherpe (seinerzeit FU Berlin) schlug 1984 mit Louis Althusser vor, Ideologien nicht als falsches Bewusstsein zu begreifen, sondern als komplexe Formationen von Vorstellungen, Bildern und Verhaltensweisen, die individuelles und kollektives Handeln teils bewusst, teils unbewusst leiten. In einer terminologisch von Pierre Macherey inspirierten Analyse zeigte er sodann, dass Wolfgang Koeppen als Erzähler die deutschen Nachkriegsmentalitäten auf drei Bedeutungsebenen verhandelt, mitnichten nur ‚widergespiegelt‘ hat.52 Das ideologische Projekt in Tauben im Gras bringt zeittypische Einstellungen zur Sprache, insoweit handelt es sich bei der literarischen Fiktion durchaus um ‚dargestellte Wirklichkeit‘. Auf der Ebene des imaginären Projekts jedoch wird die dargestellte ideologische Ordnung verschoben und umgeschichtet, angereichert mit Materialien des Unbewussten, des Mythos und des Märchens. Auf der Ebene der Allusion geht es um die Latenzstrukturen des Romans, das nicht Gesagte und Sagbare, um Anspielungen auf unlösbare Widersprüche und Mängel einer ideologischen verfassten Realität, hier: auf die Verdrängungen und Deformationen postfaschistischer Gesellschaft. Scherpe also zeigte sich gegen eine Fixierung auf Abbildrealismus gefeit. Allein, selbst seine Arbeiten waren nicht frei von Restgewohnheiten des Historischen Materialismus. Abgesehen davon, dass der Ideologiebegriff nur erweitert, nicht fallengelassen wurde: Dem Stürmer und Dränger Lenz zu bescheinigen, er habe „durch sein konkretes Sicheinlassen auf die Wirklichkeit die Erfahrung gemacht, dass vollkommenere, bessere und glücklichere Men51
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Vgl. Fischer, Ludwig / Jarchow, Klaas, „Die soziale Logik der Felder und das Feld der Literatur“, in: Sprache im technischen Zeitalter 25/1987, S. 164–172, hier S. 165, 169. Vgl. Scherpe, Klaus R., „Die Realität eines nicht-realistischen Romans. Wolfgang Koeppens Imaginationen des Nachkriegsalltags [1984]“, in: ders., Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945, S. 159–188.
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schen in ihr noch nicht gedeihen können [Herv. M.J.]“,53 zeugte von einem nach wie vor zukunftsgewissen, letztlich spekulativen Geschichtsbild. Fragwürdig auch, Heinrich Manns Plädoyer von 1919 für eine verallgemeinerte Mittelstandsgesellschaft ohne ganz Arme und ganz Reiche als „kleinbürgerlichen Demokratismus“ abzutun.54 Das hieß, vom temporär sicheren Klassenstandpunkt aus ein falsches Bewusstsein zu beanstanden, das heute nicht unvernünftig wirkt, und war schon angesichts der patrizischen Herkunft Manns problematisch. Dass politisch motivierte Wertungen und ein fortschrittsvertrauliches Geschichtsverständnis in der Sozioanalyse keine Rolle mehr spielen, machte bereits Mitte der 1980er-Jahre ihre spürbare Differenzqualität aus. Bourdieu widmet sich demonstrativ einem Autor, dem politische ‚Progressivität‘ gleichgültig war. Ausgezeichnet wird der zweite Gesellschaftsroman Flauberts unter anderem dafür, dass er wie nebenbei Informationen liefert, die die soziale Welt erkennen lassen, in der sich der Autor bewegte, Informationen, die die Handlungen der Protagonisten erzähllogisch motivieren. Die Verhaltensmuster etwa von Frédéric Moreau, einem Pendler zwischen Bohème und Bourgeoisie, oder des erfolglosen Literaten Hussonnet beschreibt die Sozioanalyse als Einsatz dessen, was erst eine soziologische Relektüre sichtbar macht: des kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals, das den Akteuren mehr oder sehr viel weniger zur Verfügung steht. Diese Form der Untersuchung, die den Prolog der Regeln der Kunst bilden sollte, fand nach deren Erscheinen ein aufschlussreiches Echo in der deutschen Literaturwissenschaft. Karlheinz Stierle, der Konstanzer Exponent der Rezeptionstheorie, glaubte 1999 das „Elend“ aller Kunstsoziologie zu erkennen, die Abstraktion vom literarischen Text. Bourdieu lese die Éducation sentimentale nur als Informatorium zum französischen Kunstbetrieb der 1850erJahre respektive zur Stellung Flauberts im selben; er verkleinere einen Künstler zum Proto-Soziologen, um die Virtuosität eines großen Romans übergehen zu können.55 Auf die freilich hatte die Sozioanalyse ex53
54
55
Ders., „Dichterische Erkenntnis und ‚Projektemacherei‘. Widersprüche im Werk von J. M. R. Lenz“, in: Manfred Wacker (Hrsg.), Sturm und Drang. Eine Begriffsbestimmung, Darmstadt 1985, S. 279–314, hier S. 293. Ders., „Poesie der Demokratie“. Henrich Manns Roman „Die Armen“ als bürgerliche Fiktion einer proletarischen Emanzipation, in: Ders., Poesie der Demokratie. Literarische Widersprüche zur deutschen Wirklichkeit vom 18. zum 20. Jahrhundert. Köln 1980, S. 268–298, hier S. 292. Vgl. Karlheinz Stierle, „Glanz und Elend der Kunstsoziologie“, in: Die Zeit, 19, August 1999.
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plizit abgehoben: Gerade weil Flaubert das geschilderte Milieu der in der ‚großen Welt‘ gescheiterten Künstler nur zu vertraut ist, versucht er, sich auf Abstand zu ihm zu bringen. Beachtenswert sind die Techniken der Distanzierung, etwa „die versierte Verzahnung von direktem, indirektem und freiem indirektem Stil“.56 Bourdieus Aufmerksamkeit für den souveränen Umgang eines Künstlers mit seinesgleichen entging Stierle, Winter dagegen hatte sie gewürdigt.57 Insoweit brachte die Rezeption der Sozioanalyse nur ans Licht, dass die Voreinstellungen eines Verächters der Literatursoziologie und eines Interessenten ihrer Erneuerung um Welten von einander getrennt sind. Eine Konfliktlinie innerhalb der Literatursoziologie hingegen lässt die IASL-Besprechung von 2001 erkennen. Hans-Edwin Friedrich, ein Rezensent aus der Germanistik der Ludwig-Maximilian-Universität München – in den 1990er-Jahren eine Hochburg der Systemtheorie –, monierte im Namen Niklas Luhmanns, dass die Feldtheorie die Literatur zwar als eigenständigen Handlungsbereich begreift, für ihn aber keinen unverwechselbaren Code vorsieht, also etwa schön/hässlich als kommunikative Leitdifferenz statt realistisch/unrealistisch. Folgerichtig bilde das Ästhetische den blinden Fleck der Sozioanalyse. Sie verstehe die Éducation sentimentale lediglich als intensivierte Darstellung des Realen, es fehlten ihr Kategorien für Poetizität, sie betrachte Fiktionalität als störende Verschleierung der dem Roman zugrunde liegenden Sozialstruktur.58 Nun sieht Bourdieu tatsächlich in literarischen Figuren bestimmte soziale Positionen verdichtet; auch beabsichtigt er erklärtermaßen, den Realitätsgrund einer literarisch entwirklichten Repräsentation von Wirklichkeit offen zu legen.59 Friedrich blendete jedoch aus, dass der Gescholtene gleich drei distinkte Vorzüge der Romanform hervorhebt. Erstens ist sie anders als die Soziologie in der Lage, Merkmale einer bestimmten sozialen Position plastisch zu evozieren, sie „sehen und empfinden“60 zu lassen. Zweitens ermöglicht nur die Literatur eine indirekte Selbstobjektivierung. Die fiktionale Figur des Frédéric erlaubt es dem
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Bourdieu, Die Regeln, S. 64. Vgl. Jarchow / Winter, „Pierre Bourdieus Kultursoziologie“, hier S. 112 f. Vgl. Hans-Edwin Friedrich, „Vom Überleben im Dschungel des literarischen Feldes“, in: IASL online, 08. 05. 2001, http://www.iaslonline.lmu/de/index.php? vorgang_id=2070 (Stand 20. 11. 2007) Vgl. Bourdieu, Die Regeln, S. 53, 67. Ebd., S. 66
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Romancier Flaubert, auszusprechen, was im eigenen Namen auszusprechen er nie gewagt hat: dass die dem Autor und dem Protagonisten gemeinsame Verachtung bürgerlichen (kommerziellen) Erfolgs vielleicht auch die Unfähigkeit sublimiert, solchen zu erzielen. Drittens verkörpert Frédéric eine „überwundene und bewahrte Möglichkeit“61 seines Autors. Flaubert teilt mit seinem Helden den Wunsch nach weltanschaulicher Neutralität, gleichbedeutend mit sozialer Allgegenwart. Doch während Frédéric zur inaktiven Form der Neutralität verurteilt bleibt, sich zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital, Literatur und Geschäft, nicht zu entscheiden vermag, gewinnt sein Autor durch den Akt des Schreibens Abstand zur Passivität. Flaubert erzählt eine Geschichte, die die seine hätte sein können, hätte er sie nicht geschrieben: Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet Bourdieu, wenn er diese Pointe des Romans herausmeißelt, eine Leistung konkretisiert, die Luhmann als kunstkonstitutiv betrachtet, nämlich im Bereich des Möglichen Form zu gewinnen.62 Der Feldtheorie eine Vernachlässigung ästhetischer Eigenlogik zu unterstellen, kontrafaktisch, scheint zu den systemtheoretischen ‚musts‘ zu zählen. Dabei fiel Friedrichs Kritik noch sachlich aus, gemessen am Vorgehen von Gerhard Plumpe und Niels Werber (Ruhr-Universität Bochum), die 1996, immerhin vier Jahre nach Les règles de l’art, in einer Satire auf Bourdieu dessen autonomiezentrierte Studien zum literarischen Feld kurzerhand übergingen. Um behaupten zu können, sein „einfältiger Soziologismus“63 sei auf die Leistungen der Literatur für bestimmte Milieus fixiert (Lieferung von Distinktionsattributen), befassten sie sich allein mit den Feinen Unterschieden. Deren Perspektive wiederum gaben sie schief wieder, da sie insinuierten, dass Bourdieu die Beziehung eines Autors zu seiner Klientel als eine Art Auftragsgesinnung versteht.64 Genau die hat der Geschmackssoziologe bestritten, in klarer Absetzung von ‚linkem‘ Überführungseifer. Die Rede war vielmehr von einer prästabilierten, sozialisationsbedingten Harmonie, die keines kalkulierenden Autors bedarf.65
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Ebd., S. 59. Vgl. Luhmann, Niklas „Weltkunst“, in: ders. et al. (Hrsg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7–45, hier S. 39. Plumpe / Werber, „Herr Meier wird Schriftsteller“, S. 187 Vgl. ebd., S. 184, 187. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 371.
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Warum die Verzeichnungen? Ihr polemischer Zug verdankt sich wohl der Konkurrenz benachbarter Theoriebildungen, die beide beanspruchen, geeignete soziologische Begriffe für literarische Autonomisierung anzubieten. Mehr noch, beide stellen darauf ab, dass Kunst und Literatur sich von ihren Umwelten/anderen Feldern durch ein verschärftes Innovationsgebot abheben. Als Sondercode der Kunst favorisiert der späte Luhmann eine Kombination der Leitdifferenzen schön/hässlich, stimmig/unstimmig, gelungen/misslungen, schließlich aber: alt/neu.66 Auch die Alternativvorschläge von Plumpe: interessant/langweilig bzw. faszinierend/banal,67 machen, besonders durch die Negativwerte, den Innovationsaspekt stark. Die systemtheoretische Direktive an die Beobachter zweiter Ordnung, sich daher auf das Prozessieren der Unterschiede zwischen den Werken zu konzentrieren, ist ‚bourdieusiens‘ nur zu geläufig: „[…] die Wahrnehmung, die das gemäß eines hoch autonomen Feldes produzierte Werk verlangt, ist eine differentielle, distinktive, auf die Abweichungen von den anderen […] Werken achtende Wahrnehmung“.68 Umso schwerer wiegt der Unterschied in der Ähnlichkeit. Die Systemtheorie bagatellisiert mit sozialen Hierarchien und Konflikten zwei Größen, denen die Feldtheorie auch in Literatur und Kunst erhebliche Bedeutung beimisst. In der deutschen Literatursoziologie um 2000 stößt die Bagatellisierung zunehmend auf Skepsis; selbst an zunächst systemtheoretisch dominierten Orten öffnet sich die Forschung zur literarischen Rezeption und Produktion für Bourdieus Anregungen. Dafür zwei Beispiele: Luhmann und seine literaturwissenschaftlichen Adepten gehen davon aus, dass die stratifikatorische (schichtenbezogene) Differenzierung der Kunst seit der Renaissance von einer funktionalen Differenzierung abgelöst wird. Demnach verbreitet sich unter den Beobachtern erster und zweiter Ordnung eine Wahrnehmung, wonach jeder Gegenstand, auch noch der niedrigste, sujetfähig und die Kompetenz, das Neue, Stimmige, Gelungene zu erfassen, keine Frage der Herkunft mehr ist. Es entwickelt sich ein eigenständiger Sinn für Formenkomplexität, während die stratifikatorische (oder auch politische, religiöse) Bedeutung der Objekte zunehmend als unwesentlich erachtet wird. Die Kunst wird zu einem Subsystem sui generis, da sie eine spezifische Funktion erfüllt: „Nie66 67 68
Vgl. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 301–327. Vgl. Plumpe, Gerhard, Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 52 f. Bourdieu, „Einführung“, S. 120.
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mand sonst macht das, was sie macht“.69 Zu einer ähnlichen Diagnose kommt vorderhand Bourdieu: Seit dem 14. Jahrhundert bildet sich ein reiner, das heißt rein formenbezogener Blick auf die Kunst heraus; eine Erfindung, die sich in der Entwicklung der künstlerischen Felder hin zur Autonomie vollendet. Moderne Künstler tendieren auch und gerade in der Literatur zu einem Primat der Darstellungsweise über das Dargestellte, der sein Korrelat rezeptionsseitig in der ‚reinen Lektüre‘ findet, einer Norm unter gebildeten Lesern.70 Nur: Wie Die feinen Unterschiede auf breiter Datenbasis nachweisen, besteht ein schichtenspezifischer Umgang mit Kunst selbst noch in entwickelten Industriegesellschaften fort. Die Fähigkeit, die Darstellungsweise eines literarischen Werkes wichtiger zu nehmen als das Sujet, erweist sich als Privileg der Inhaber großen kulturellen Kapitals – während die Masse der Leser den Genuss an der Literatur aus dem Dargestellten bezieht. Davor, die schichtenspezifische Differenzierung von Lektüregewohnheiten zu unterschätzen, warnt auch die von Jost Schneider verfasste, 2004 erschienene Sozialgeschichte des Lesens. Schneider, wie Plumpe und Werber an der Ruhr-Universität Bochum tätig, hat die Befunde der Feinen Unterschiede zwar nicht en bloc übernommen. Seine Beobachtung, dass die Kulturinstitutionen in der Bundesrepublik im Prinzip allen offen stehen, Philologiestudenten etwa so günstige Arbeitsvoraussetzungen vorfinden (ausführliche Werkkommentare etc.), dass es ihnen in kurzer Zeit möglich ist, anspruchsvollste Texte zu verstehen,71 relativiert implizit die These Bourdieus, wonach kulturelles Kapital auch deshalb ungleich verteilt ist, weil seine Aneignung viel Zeit kostet. Gleichwohl betont Schneider im Anschluss an Bourdieu, dass es in puncto Kulturteilhabe nach wie vor gravierende Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten gibt. So bilden der „Ekel vor dem ‚Leichten‘“72 und die komplementäre Vorliebe für eine Literatur, die die eigenen Stilmittel herausstellt, auch in Deutschland eine historische Konstante. Sie kennzeichnet den distinguierenden Geschmack der neuen Oberschicht („technokratisch-liberales Milieu“) wie schon den des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert.73 Das Bedürfnis nach Abgrenzung von Triviallektüre zeigt eine ‚longue
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Vgl. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 218, (Zitat) 232. Vgl. Bourdieu, Die Regeln, S. 215, 463 ff. Vgl. Schneider, Sozialgeschichte des Lesens, S. 8, 452. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 757. Vgl. Schneider, Sozialgeschichte des Lesens, S. 358.
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durée‘, die die Umstellungen des politischen Systems vom Autoritarismus zur Demokratie überstanden hat. Was die literarische Produktionsseite betrifft, so gelten die feldtheoretischen Vorbehalte vor allem Luhmanns Annahme, dass Konflikten in sozialen Systemen nur eine „parasitäre Existenz“74 zukomme. Zweifel daran hat als erster Germanist York-Gothart Mix angemeldet, der heute in Marburg lehrt, in den 1990er-Jahren aber noch wie Friedrich zum Kreis der Münchner Buchwissenschaftler zählte. Im Jahr 2000 gab Mix seinem Umfeld zu bedenken, dass die Autonomisierung des literarischen Feldes nicht nur mit wachsender Selbstreflexität einhergeht – wie die Systemtheorie ihrerseits mit dem Zentralbegriff der ‚Selbstreferentialität‘ erfasst. Zu konstatieren ist auch eine Tendenz der Autoren zur wechselseitigen Negation ästhetischer Positionen, nicht etwa nur zu einem Diskontinuieren konfliktfreier Art. Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert sind die Fälle Legion, in denen deutsche Schriftsteller die Erzeugnisse konkurrierender Kollegen als banal und/oder allzu populär verwerfen, um ihnen die Zugehörigkeit zur geheiligten Sphäre der eingeschränkten Produktion abzusprechen. Mit der Feststellung, dass die literarischen Traditionen nirgends so präsent sind wie in den Schriften der jeweiligen Avantgarde, nämlich als Negativfolie; dass Selbstbezüglichkeit und Agonalität im literarischen Feld untrennbar zusammenhängen,75 hielt Mix eine (auch) systemtheoretische Einsicht in Ehren, ergänzte sie aber nachdrücklich um eine feldtheoretische. Das vom Doyen der Münchner Forschergruppe, Georg Jäger, 1976 gegründete Internationale Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur bietet seit einer Dekade auch der Feldtheorie eine institutionelle Plattform. Hervorzuheben ist ein einschlägiges Schwerpunkt-Heft von 1997, in dem Markus Schwingel verdeutlichte, dass Bourdieu es explizit ablehnt, die Grenzen des literarischen Feldes nach Art der Systemtheorie durch die Setzung einer bestimmten kommunikativen Leitdifferenz zu präjudizieren. Die relative Autonomie eines von außerästhetischen Einflussnahmen befreiten Feldes ändert nichts daran, dass die Bestimmung der Grenze zwischen Literatur und Nicht-Literatur (und allgemeiner Kunst und Nicht-Kunst) selbst Gegenstand von Auseinandersetzungen 74
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Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 533. Vgl. Mix, York-Gothart „Soll die Literaturwissenschaft etwas anderes sein als sie selbst? Plädoyer für ein relationales Selbstverständnis der Disziplin“, in: Huber / Lauer, Nach der Sozialgeschichte, S. 155–173, hier S. 161 f.
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zwischen den Akteuren inner- und außerhalb des Feldes ist.76 In einem Sonderheft von 2004 zur Soziologie der literarischen Übersetzung unterstrichen die Herausgeber Norbert Bachleitner und Michaela Wolf, dass das europäische (wie das globale) literarische Feld wenn auch polyzentrisch so doch hierarchisch strukturiert ist. So besteht ein Gefälle zwischen dominanten Sprachen, aus denen viel übersetzt wird, die sich aber gegen Import abschotten, und dominierten Sprachräumen, aus denen wenig übersetzt wird, die aber selbst relativ offen für Übersetzungen sind. In der dem IASL assoziierten Reihe Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur erschien schließlich im Jahr 2005 der von Markus Joch und Norbert Christian Wolf (HU / FU Berlin) edierte Sammelband Text und Feld, in dem AutorInnen aus fünf europäischen Ländern die Einsatzmöglichkeiten der Feldtheorie an Beispielen der Literatur und des literarischen Lebens vom 17. bis zum 20. Jahrhundert erkundeten.
4. Publikationen Bis Ende der 1990er-Jahre bezogen sich bourdieu-orientierte Germanisten zumeist auf Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, das heißt den dritten Abschnitt des 1974 bei Suhrkamp erschienenen Bandes Zur Soziologie der symbolischen Formen, oder aber auf die oben genannten Einführungen. Seit der Milleniumswende stellen Die Regeln der Kunst den zentralen Bezugstext dar, gefolgt von Das literarische Feld. Drei Vorgehensweisen, einem längeren, das Hauptwerk kondensierenden Aufsatz, den Bourdieu zunächst 1991 in den von ihm 1975 gegründeten Actes de la recherches en sciences sociales veröffentlichte. Die deutsche Übersetzung erschien 1997 als Auftakt einer von Louis Pinto und Franz Schultheis herausgegebenen Auswahl neuerer französischer Beiträge zur Literatursoziologie (Streifzüge durch das literarische Feld). Eine andere Lektürebahn hat die einschlägige Leseforschung eingeschlagen: Da sie sich für die Distinktion zwischen einer ‚reinen‘ – formenorientierten – und einer ‚barbarischen‘ – inhaltsfixierten – Rezeptionshaltung interessiert, rekurriert sie vornehmlich auf den ersten Teil und die Nachschrift der Feinen Unterschiede, ferner auf Elemente einer soziologischen Theorie der Kunstwahrneh76
Vgl. Markus Schwingel, „Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie Pierre Bourdieus in ihrem Verhältnis zur Erkenntnisund Kultursoziologie“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 22/2, 1997, S. 109–151, hier S. 122 f.
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mung, den letzten Abschnitt der Soziologie der symbolischen Formen. Der Output an feldtheoretisch orientierten Studien in der Germanistik hat sich seit Erscheinen der Regeln verdoppelt. Wichtiger als der quantitative Schub ist die Bandbreite an Anwendungen, die hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit umrissen sei. Der Feldbegriff fand eine erste Applikation in der Dissertation von Michael Stark, die 1982 die Binnen- und Außenkonflikte des Expressionismus nachzeichnete und dabei auf eine begriffliche Unschärfe bei(m frühen) Bourdieu aufmerksam machte: So sehr es mit Blick auf die deutsche Avantgarde um 1910 einleuchtet, von einer spezifisch intellektuellen Ordnung zu sprechen, deren Anspruch auf Autonomie in der Opposition zur ökonomischen, politischen und religiösen Macht zum Ausdruck kommt, so problematisch ist Bourdieus synonyme Verwendung von ‚literarischem‘ und ‚intellektuellem‘ Feld und die damit einhergehende Rückprojektion des Terminus ‚Intellektuelle‘ auf den L’art pour l’art. In Deutschland kam das Schlagwort vom Intellektuellen erst nach 1900 auf; angewandt wurde es auf Schriftsteller, deren Versuch, eine Öffentlichkeit gesellschaftskritisch räsonierender Zeitgenossen herzustellen und – besonders umstritten – den Literaten eine Präzeptorenrolle zuzuweisen, ja gerade eine Abkehr von jenem Typus bedeutete, den Künstlerische Konzeption im Auge hat, also vom Intellektuellen als gesellschaftsabgewandten Vertreter einer Minorität von Produzenten und Kennern exklusiver Literatur. Als heuristischer Vorteil hat sich erwiesen, dass Bourdieu und seine Mitarbeiter sich bei ihren Studien zur Genese des literarischen Feldes auf den Schauplatz Paris konzentrierten. Damit liegt eine historische Folie vor, auf der die abweichenden Verläufe außerhalb Frankreichs umso markanter hervortreten. Veranschaulicht hat das etwa Norbert Christian Wolf an den Zuständen in der größten deutschsprachigen Metropole des 18. Jahrhunderts. Das Wiener literarische Leben war seinerzeit noch durch massive Zensur, durch fehlendes Mäzenatentum, durch fehlende Foren des intellektuellen Austauschs und der Konsekration sowie durch die problematische rechtliche Lage der Autoren ungleich heteronomer strukturiert – nicht nur im Vergleich zur französischen, sondern auch zur mittel- und norddeutschen Entwicklung.77 Generell erleichtert es der 77
Vgl. Wolf, Norbert Christian, „Der Raum der Literatur im Feld der Macht. Strukturwandel im theresianischen und josephinischen Zeitalter“, in: Franz M. Eybl (Hrsg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters, Wien 2002, S. 45–70.
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Feldbegriff, regionale Variationen zu erfassen, da er als konstruktiver seiner räumlichen Reichweite nach variabel ist. Die Einheit eines literarischen Feldes bemisst sich an den konkret nachweisbaren Macht- und Einflussbeziehungen, daher sind lokale, regionale, territoriale, nationale und übernationale Perspektiven gleichermaßen möglich. Mit Hilfe des Feldbegriffs hat man etwa ein engmaschiges Beziehungsnetz wie das des literarischen Lebens in Hamburg nach 1945 rekonstruiert.78 Die lokale Perspektive ist hier plausibel, da es in der alten Bundesrepublik eine literarische Kapitale mit ähnlicher ‚Magnetwirkung‘ wie Paris nicht gab. Die fast zeitgleiche Aufstiegsgeschichte der Gruppe 47 dagegen, die Sabine Cofalla beschrieben hat, spielte sich auf nationaler Ebene ab (doppelte Abgrenzung von ‚innerer Emigration‘ und Remigration) und wies überdies transnationale Bezüge auf (Orientierung am Engagement-Modell Sartres).79 Katrin Marquardt stellte 1997 dar, wie Thomas und Heinrich Mann sowie Hermann Hesse in ihren frühen Erzähltexten der staatlichen Definition kulturellen Kapitals opponieren. Als Akteure, die die offiziellen Bildungsstätten des Kaiserreichs ohne Titel verlassen haben, stellen sie sich in Übereinstimmung mit ihren jugendlichen Protagonisten gegen verbeamteten Geist, Karrierismus und Spezialistentum, die Unterordnung unter einen verordneten Bildungskanon. Das alternative Ideal eines privat-selbstbestimmten Bildungsgangs verweist auf zutiefst entgegengesetzte Prinzipien: dort die Schule als Stätte institutionalisierter kultureller Bewahrung, hier die freien, genialisch angelegten Persönlichkeiten, die schöpferischen Propheten, die im literarischen Werk die nur Lehrenden, die Priester, symbolisch entmachten. Besonders die Logik der Legitimationskämpfe innerhalb des literarischen Feldes lässt sich mit Hilfe der Typologie von Propheten und Priestern besser begreifen als ohne sie, wie zwei Dissertationen von 2001 und 2003 zum Sturm und Drang belegen.80 Dass Lenz und Goethe in ihren 78
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Vgl. ein von Ludwig Fischer, Klaas Jarchow, Horst Ohde und Hans-Gerd Winter ediertes Kompendium, Ergebnis eines bereits 1988 begonnenen Forschungsprojekts: ‚Dann waren die Sieger da.‘ Studien zur literarischen Kultur in Hamburg 1945–1950, Hamburg 1999. Vgl. Cofalla, Sabine, „Die Gruppe 47: Dominante soziale Praktiken im literarischen Feld der Bundesrepublik Deutschland“, in: Markus Joch / Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 323–333. Vgl. Christian Wolf, Norbert, Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789, Tübingen 2001; Tommek, Heribert, J. M. R. Lenz. Sozioanalyse einer literarischen Laufbahn, Heidelberg 2003.
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Jugendjahren einen gegen die französische Regelpoetik gerichteten Genie-Diskurs fast zeitgleich und unabhängig voneinander eröffneten, verweist auf ihre gemeinsame Stellung – die der zum Bruch mit der ästhetischen Orthodoxie geneigten Newcomer. Ein Erklärungsansatz, der die detektivische Suche nach wechselseitiger Beeinflussung obsolet macht. Typisch für Propheten war auch das Verhalten gegenüber einem älteren, Anfang der 1770er-Jahre im Zenit seines Ruhms stehenden Autor: Lenz wollte in Wieland einen hofkompatiblen Schönredner sehen, drängte ihn förmlich in die Rolle des korrumpierten Priesters. Goethe geißelte Wielands leicht geglättete Shakespeare-Übersetzung, obwohl doch realiter eine gemeinsame Vorliebe für die ‚natürlichen‘ statt schematisch-planmäßigen Handlungsführungen des Engländers bestand. Die eher geringfügigen Unterschiede in den ästhetischen Konzeptionen hoch-, die Übereinstimmungen aber herunterzuspielen, liegt im Interesse von Jungautoren, die nur, indem sie die Novität des eigenen Standpunkts betonen, ihr ursprüngliches symbolisches Kapital erwerben können. Mit der Entwertung literarischer Tradition in der jüngsten deutschen Literatur hat sich 2006 Heribert Tommek befasst. Er hebt hervor, dass literarische Wachablösungen unabhängig von politischen Einschnitten verlaufen: Für die periodischen Aufstände der Pop- gegen die engagierte Literatur war die politische Epochenzäsur von 1989 von untergeordneter Bedeutung.81 Zudem zeigt das nationale literarische Feld einen schnelleren Zeitrhythmus als das internationale, was sich daran ablesen lässt, dass Günter Grass den Nobelpreis 1999 erhielt, zu einem Zeitpunkt, als der Inbegriff des arrivierten Gesinnungsästheten in seinem Heimatland von nachrückenden Jungautoren längst in die Geschichte verabschiedet worden war. Andreas Dörner und Ludgera Vogt, die man auch zu den Vermittlern der Feldtheorie zählen kann, da sie zu den 1990 von Klaus-Michael Bogdal herausgegebenen Neuen Literaturtheorien eine Kurzeinführung in Bourdieus Terminologie beisteuerten, haben sich dessen ungeachtet vor allem als Anwender hervorgetan. Bis heute sind sie die einzigen, die die These der Feldtheorie, dass das öffentliche Bild von Werken sich weniger immanenten Eigenschaften verdankt als der Bedeutungszuweisung 81
Vgl. Tommek, Heribert, „Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich? Skizzen einer strukturellen Entwicklung, in das Beispiel der (westdeutschen) ‚Tristesse-Royale‘-Popliteraten mündend“, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 397–430.
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durch die im literarischen Feld tonangebenden Geschmacksträger, an einem deutschen Beispiel plausibilisiert haben:82 Das Großfeuilleton, das Johannes Mario Simmel jahrzehntelang als Vielschreiber und Kitschlieferanten einer anspruchslosen Kundschaft stigmatisierte, wertete den gleichen Autor 1987 überraschend zum sensiblen Sozialliteraten in der Nachfolge der großen Realisten auf. Ab- wie Aufwertung zeugen von Benennungsmacht: Mit der ästhetischen Diskriminierung stilisierte sich die Literaturkritik zur unbestechlichen Hüterin von Qualitätsstandards, der der Zuspruch eines Massenpublikum suspekt ist. Mit der späten Rehabilitierung eines belächelten Autors demonstrierte man, die Grenze zwischen Legitimem und Illegitimem nach Belieben verschieben zu können. Umwertungen sind in der Literaturkritik an der Tagesordnung, da sie denjenigen, die sie als erste vornehmen, einen beträchtlichen Distinktionsgewinn versprechen. Welche Prägekraft ein klassenspezifischer Habitus besitzt und dass er gleichwohl beträchtliche Bewegungsspielräume lässt, verdeutlichte eine Berliner Dissertation von 2000 (unter anderem) zur Auseinandersetzung zwischen Heinrich und Thomas Mann:83 Von Haus aus mit der gleichen Summe ökonomischen und kulturellen Kapitals ausgestattet, entwickeln sich die Brüder um 1914 zu erbitterten Gegenspielern. Der Ältere klagt qua Literatur die überfällige Demokratisierung Deutschlands ein, der Jüngere verwahrt sich gegen eine Überlastung von Literatur durch Politmoral. Und doch besteht ein Konsens im Dissens, der sich der gemeinsamen Herkunft verdankt. Als Patriziersöhne haben beide Manns eine tiefe Abneigung gegen die skrupellos geschäftstüchtigen Parvenüs der Gründerzeit verinnerlicht, eine Disposition, die 1914 literarpolitisch entgegengesetzt reformuliert wird. Wenn Heinrich in der Kriegsbegeisterung des Bruders die Absicht sieht, der politischen Elite des Wilhelminismus nach dem Mund zu schreiben, unterstellt er ihm eine literarische Form der Geschäftemacherei. Thomas sagt der Demokratieemphase des so genannten Zivilisationsliteraten nach, eine anti-bürgerliche Stimmung unter den Expressionisten schwunghaft zu bedienen. Bei aller politischen Kluft führt die familiäre Prägung zu unbewusster Symmetrie: Der symbolische Profiteur, das ist immer der andere. 82
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Vgl. Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera, Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen 1994, S. 204–211; dies, Literatur in der Gesellschaft. Systemtheorie und Theorie des literarischen Feldes, Essen o.J. [1996], S. 56–69. Vgl. Joch, Markus, Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger, Heidelberg 2000, S. 254ff.
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Die Figur des doppelten Bruchs als Kriterium literarischer Innovation wurde von Thomas Becker und Markus Joch aufgegriffen. Anders als Bourdieu zeichnet Becker nicht die Gesellschaftsromane Flauberts, sondern die ungleich abstraktere Lyrik Baudelaires als eindrucksvollste Markierung literarischer Autonomie aus, da sie sich sowohl vom Massenmarkt als auch von dessen vermeintlich homogener Gegenposition abhebe, dem L’art pour l’art. Baudelaire löst sich demnach von künstlerischer Subjektivität wie auch von wissenschaftlicher Objektivität und hat mit seiner Konzeption vielstimmiger Autorschaft eine Vorreiterrolle für die literarische Moderne inne.84 Joch zufolge ist der Bruch mit bürgerlichen wie proletarischen Geschmäckern keine Erfindung Flauberts; vorweggenommen hat ihn Heinrich Heine mit seiner halsbrecherischen Liebeslyrik der 1830er-Jahre. Überdies erfülle Heine, da er auf künstlerische Selbstbestimmung und politische Intervention gleichermaßen Wert legte, geraume Zeit vor Zola die Merkmale eines autonomen Linksintellektuellen im Sinne Bourdieus.85 Wie erwähnt, wird die Erfindung einer ‚production restreinte‘ von den Regeln der Kunst auf die 1850er-Jahre datiert. Mix weist nach, dass solch ein Ideal in Deutschland lange vor der Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert war. Wesentliche Konkurrenzkämpfe unter den deutschen Dichtern zwischen 1760 und 1810 kreisten um die Gretchenfrage, wie man es mit der kommerziellen Interesselosigkeit zu halten hat. Zuvorderst die sich in den 1770er-Jahren entwickelnde Almanachkultur, die zur Popularisierung von Lyrik beitrug, stimulierte Debatten um die Notwendigkeit einer eingeschränkten Produktion.86 Als frühes Beispiel für eine anti-ökonomische Ökonomie führt Wolf Goethe an, der bei der Verlagsauswahl für die Werkausgabe letzter Hand nicht etwa für das lukrativste Angebot optierte, sondern für das Haus Cotta, das die beste Gewähr für eine solide Produktion, eine ansprechende Ausstattung und einen langfristig funktionierenden Vertrieb bot. Eine paradoxe Ökonomie, in der Prestige und Dauer, nicht schnelles Geld die bevorzugte Währung bilden, muss man sich allerdings leisten können. Wolf betont, 84
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Vgl. Becker, Thomas, Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires, in: Joch / Wolf (Hrsg.), Text und Feld, S. 159–175. Vgl. Joch, Markus, „Ein unmöglicher Habitus. Heines erstes Pariser Jahrzehnt“, in: ebd., S. 137–158. Vgl. Mix, York-Gothart, „Wahre Dichtung und Ware Literatur. Lyrik, Lohn, Kunstreligion und Konkurrenz auf dem literarischen Markt 1760–1810“, in: ebd., S. 109–135.
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dass Goethes generelle Kompromisslosigkeit in ästhetischen Fragen durch ein materielles Fundament, die üppige familiäre Kapitalausstattung, begünstigt wurde, wie zum Beweis, dass Bourdieus Kernsatz, wonach das geerbte Geld immer noch am besten die Freiheit vom Geld sichert, nicht erst für Flaubert gilt.87 Die Hinweise aus der Germanistik auf deutsche Vorläufer der von der Feldtheorie ausgezeichneten ‚Heroen‘ Flaubert und Zola berühren die grundsätzlichere Frage, ab wann sich von einem literarischen Feld in Deutschland sprechen lässt. Wie heikel es ist, einen bestimmten Punkt auf dem Zeitstrahl zu privilegieren, zeigt die Dissertation von Christine Magerski (2004), die als Konstitutionsphase die Zeit nach 1871 vorschlägt und sich dabei auf die scharfe Trennung der Naturalisten zwischen avantgardistischem und kommerziellem Sektor beruft.88 Der antibourgeoise Impuls findet sich indes schon, um nur ein Beispiel zu nennen, bei Heine („meine Gedichte sind kein Futter für die rohe Menge“). Eine faktische Spaltung des Literaturmarkts in „Groß- und Elitenproduktion“ (Dörner/Vogt) lässt sich bereits auf die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert datieren.89 Dass der politischen Zäsur der Reichsgründung ein Autonomisierungsschub der Literatur folgte, ist besonders hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen fraglich. Die Vorzensur wurde bereits 1848 aufgehoben, die Lex Heinze von 1900 wiederum stellte eine empfindliche Beschneidung literarischer Meinungsfreiheit dar. Für Magerskis Sicht spricht, dass es den Naturalisten eher als vorangegangenen Einzelkämpfern gelang, eine nichtkommerzielle Infrastruktur aufzubauen, und dass ein Netzwerk, in dem Schriftsteller, Kritiker und Literaturhistoriker um die Definitionshoheit kämpften, sich im Berlin der 1880er- und -90er-Jahre verdichtete. Wenig überzeugend mutet ein Sammelband von 2005 an, der die DDR-Literatur umstandslos als literarisches Feld klassifiziert, mit der Begründung, Bourdieu habe den Begriff lediglich an relative Autonomie gebunden.90 Ein literarisches Feld kennt unabhängige Konsekrationsinstanzen und den Markt, was auf die staatlich ausgezeichnete (Natio87
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Vgl. Wolf, Norbert Christian , „Gegen den Markt: Goethes Etablierung der ‚doppelten Ökonomie‘“, in: Thomas Wegmann (Hrsg.), Markt literarisch, Bern 2005, S. 59–74. Vgl. Magerski, Christine, Die Konstituierung des literarischen Feldes nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie, Tübingen 2004. Vgl. Dörner / Vogt, Literatursoziologie, S. 225. Vgl. Wölfel, Ute, „Einleitung“, in: hrsg. v. ders., Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR, Würzburg 2005, S. 5–10, hier S. 6.
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nalpreis) und distribuierte Literatur der DDR nicht zutraf. Auf die Freiheit des Bücherverkaufs als Bedingung relativer Autonomisierung hat Bourdieu abgehoben, um die in Frankreich im 19. Jahrhundert einsetzende Ablösung staatlicher Sanktionen durch die des Marktes zu betonen. Die relative, das heißt durch Marktzwänge eingeschränkte Autonomie markiert für die Feldtheorie eine historische Errungenschaft gegenüber staatlicher Reglementierung, da erst die Existenz des Marktes einen Produktionstyp erzeugt, der sich sowohl von kommerziellen Normen als auch von staatlicher Fremdbestimmung löst. Die repressiven Produktions bedingungen im Realsozialismus (Vorzensur im Gewand der „Druckgenehmigung“) stellten für Bourdieu einen historischen Rückschritt dar, entsprechend harsch beurteilte er die restloyale Schriftsteller-Elite des Ostblocks („korrumpierte Priester“). Nicht in seinem Sinn war ein diffuser Umgang mit dem Begriff ‚relativer Autonomie‘, der die unterschiedlichen Produktionsbedingungen in West und Ost verwischt.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Eine relevante Leistung der Feldtheorie in der Germanistik besteht im Nachweis, dass es sich bei der literarischen Produktion um einen Ort von Kräfte- und nicht nur von Sinnverhältnissen handelt – was durch eine einseitige Festlegung auf systemtheoretische Konzepte vorübergehend in Vergessenheit zu geraten drohte. Da ‚bourdieusiens‘ unter literarischer Macht die Fähigkeit zumindest maßstabsetzender Werke verstehen, neue Sichten der sozialen Welt als legitime durchzusetzen und damit zugleich die objektive Struktur des literarischen Feldes zu verändern, haben sie auf ihre Weise Anteil an der in der Germanistik Ende der 1990er-Jahre ausgerufenen Wiederaufwertung des Autorsubjekts.91 Ein weiteres Verdienst liegt darin, vorwiegend an der Literatur zu veranschaulichen, was kulturökonomische Diagnosen seit Mitte der 1990erJahre spartenübergreifend hervorheben: Der Wert künstlerischer Produktionen bemisst sich weniger an einer ‚authentischen‘ Repräsentation außerkünstlerischer Wirklichkeit als einer valorisierbaren Distanz zum vorgefundenen Status quo der Darstellungsmittel (vgl. gleichsinnig Boris Groys, Über das Neue, 1993). Unter den Kunstproduzenten und mehr 91
Dazu ausführlich: Jannidis, Fotis et al. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999.
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noch unter ihren professionellen Beobachtern standardisiert sich das Bewusstsein, dass die tradierte Unterscheidung in der Doppelcodierung künstlerischer Produkte – Bedeutung und Ware – an Trennschärfe verliert. Bedeutung ergibt sich primär aus dem Abstand zum Bekannten, der Abstand wiederum stellt einen Warenwert dar, der sich nicht direkt in Geldwert übersetzen lässt, sondern in Währungen eigener Art notiert: symbolischem Kapital (Bourdieu) bzw. Aufmerksamkeit (Georg Franck). Aus guten Gründen bezweifelt wird von Germanisten und anderen Kulturwissenschaftlern, dass die Grenze zwischen relativ marktunabhängiger und auf kommerziellen Erfolg angelegter Literatur, Long- und Bestsellern, feldinterner Konsekration und massenmedialer Literaturverarbeitung (Kulturjournalismus) sich in der Postmoderne noch so rigide ziehen lässt wie bei Bourdieu. Autonomie, so eine jüngst von Georg Franck geltend gemachte Gegenposition, hängt zwar davon ab, dass ein interner Markt der Beachtlichkeit besteht. Zumindest im avantgardistischen Sektor müssen nach wie vor erst die Mitproduzenten und die professionellen Meinungsbildner überzeugt werden, bevor man den Weg zum breiteren Publikum nehmen kann. Ein vehementer Widerstand gegen den Sog des massenmedialen Marktes aber negiere „die Chance, an der Mengenexpansion der zahlenden Aufmerksamkeit zu partizipieren. Das Risiko, auf das man sich einlässt, ist die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens“.92 Empirisch wird Bourdieu mit Klaus-Michael Bogdal entgegenhalten, dass die (bundesdeutsche) Literatur seit den 1970er-Jahren zunehmend milieuförmig geschrieben und rezipiert wird. Erfolgsbücher so genannter Kultautoren befinden sich mit 30–80 000 Käufern zwischen dem schmalen Markt nur für potentielle Produzenten und der Bestsellerkategorie.93 Der Übergangsbereich bleibt im bi-polaren Modell der Feldtheorie zweifellos unterbelichtet, seine Objektivierung ein Desiderat der einschlägigen Literaturwissenschaft. Was die Leseforschung anbelangt, so pflichten Jost Schneider und Michael Kämper-van den Boogaart Bourdieu in einem Punkt energisch bei: Eine Rezeptionshaltung, die vom Kunstwerk erwartet, qua virtuo92
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Franck, Georg, Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, Müchen, Wien 2005, S. 164. Vgl. Bogdal, Klaus-Michael, „Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur“, in: Andreas Erb (Hrsg.), Baustelle Gegenwartsliteratur, Opladen 1998, S. 9–31.
Literatursoziologie / Feldtheorie
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ser Formgebung Distanz zum Dargestellten zu halten und so dem kultivierten Leser ein interesseloses Wohlgefallen zu ermöglichen, korreliert auch in Deutschland mit der Höhe des vom Leser inkorporierten Bildungskapitals. Als nicht anschlussfähig hat sich hingegen die Prämisse erwiesen, dass das Kleinbürgertum eine Überlegenheit der Hochkultur verschämt anerkenne, zur hilflosen Nachahmung tendiere, die „‚Durchschnittskunst‘ dem Zwang unterworfen [ist], sich immer in bezug auf die legitime Kultur definieren zu müssen“.94 Das Selbstbewusstsein der Mittelschichten zu unterschätzen, ist das größte Defizit von Bourdieus Kulturtheorie, was man ihrer Herkunft aus der steiler hierarchisierten Gesellschaft Frankreichs zuschreiben mag. Schneider jedenfalls geht von einer wenig kompetitiven Koexistenz der Geschmackskulturen aus, bescheinigt dem deutschen Mittelstand sogar einen historisch stabilen Anspruch auf Normfestsetzung und sieht in der mittleren eine ‚gepflegte Unterhaltungskultur‘, die sich nicht nur nach unten abschottet: „auch das ‚höhere Geistige‘, das als ‚reine Theorie‘ oder ‚weltfremdes Gerede‘ abqualifiziert wird, stößt hier nicht auf Interesse“.95 Kämper-van den Boogaart kritisiert ausdrücklich, dass für Bourdieu eine mittlere Kultur, die sich um Anerkennung ‚von oben‘ unbekümmert zeigt, undenkbar ist, und plädiert darüber hinaus für eine Aktualisierung des Distinktionsmodells: Jüngere Erhebungen zu den Leseansprüchen der Deutschen sprechen dafür, dass es nicht mehr so sehr die Präferenz für die Form bzw. der Degout am inhaltsfixierten Sinnengeschmack ist, der Inhaber hohen Bildungskapitals abhebt. Die Höhergebildeten teilen die schichtenübergreifende Leitdifferenz unterhaltsam/ langweilig, unterscheiden sich jedoch dadurch, dass sich ihre Unterhaltungserwartung eher an die Literatur als an die audiovisuellen Medien richtet.96 Ins Auge fallen zwei unausgeschöpfte Potentiale der Theorie des literarischen Feldes. Das Gros ihrer germanistischen Rezipienten beobachtet distinktive Positionsnahmen von Autoren allein auf der Ebene der programmatischen Verlautbarungen, an die Sozioanalyse von Erzähltexten wagt man sich vergleichsweise selten. Beobachtungen zum Einsatz der
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Bourdieu, Pierre, „Die Wechselbeziehungen von eingeschränkter und Großproduktion“, in: Christa Bürger et al. (Hrsg.), Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt a. M. 1982, S. 40–61, hier S. 40–61, hier S. 46. Schneider, Sozialgeschichte des Lesens, S. 445. Vgl. Kämper-van den Boogart, Schönes schweres Lesen, S. 159 f., S. 201–205.
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Kapitalsorten bei einem Protagonisten Balzacs97 oder zur indirekten Selbstobjektivierung in Romanen von Robert Musil und Heinrich Mann98 bilden Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Zu vermuten ist, dass die Feldtheorie in der Germanistik nur begrenzt nachwirken wird, wenn sie diese Lücke nicht schließt. Dass Literatursoziologie zum Allerheiligsten, dem Kunstwerk, weniger zu sagen hat als zu seinem Umfeld, ist schließlich ein robustes Vorurteil; die neue Literatursoziologie müsste es umfassender als bislang widerlegen. Auch der Machtfaktor Medien wird viel zu selten thematisiert. So gibt es nur einen einzigen Anschluss an Ludgera Vogts Analyse von 1995 zur problematischen, weil mit inkohärenten Wertungsmustern verbundenen Benennungsmacht des Literarischen Quartetts.99 Wo bleibt eine Studie zu, sagen wir, Alexander Kluge und Roger Willemsen, die als Schriftsteller und Fernsehjournalisten symbolisches Kapital anhäufen? Will die Feldtheorie in einer Germanistik als Medienwissenschaft mitmischen, wird sie ihren Medienkonservativismus ablegen müssen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Dörner, Andreas / Ludgera Vogt, Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen 1994. Ein leicht verständliches Standardwerk, dem es ohne sinnentstellende Verkürzungen gelingt, sämtliche nennenswerten Theorien des 20. Jahrhunderts zur Soziologie von Produktion, Text, Rezeption und literarischem Feld kritisch Revue passieren zu lassen. Ein Schwerpunkt liegt auf System- und Feldtheorie, darüber hinaus wird Literatur als Instrument wie Stütze von politischer Kultur thematisiert und das Problem literarischer Wertung diskutiert. Den Clou bildet eine abschließende Fallstudie zu Kleists Hermannsschlacht, die die punktuellen Einsatzmöglichkeiten 97 98
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Vgl. Dörner / Vogt, Literatursoziologie, S. 70–74. Vgl. Wolf, Norbert Christian, „Robert Musil als Analytiker Robert Musils“, in: Joch / Wolf (Hrsg.), Text und Feld, S. 207–229; Joch, Markus, „Ein passiver Habitus. Überlegungen zu einem Motiv bei Flaubert und Heinrich Mann“, in: GermanischRomanische Monatsschrift, 51/2001,1, S. 55–71. Vgl. Vogt, Ludgera, „Die Hüter der Differenz. Über televisionäre Literaturkritik“, in: Merkur 49/1995, S. 942–949; Markus Joch, „Jurek Beckers Amanda herzlos im Literarischen Quartett “, in : Gansel, Carsten (Hrsg.), Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus, Göttingen 2009. S. 343–368.
Literatursoziologie / Feldtheorie
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und das zwanglose Kombinieren der heterogenen Ansätze vorführt – von Widerspiegelung und Parteilichkeit bis hin zur Generativen Diskursanalyse. Jurt, Joseph, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995. Jurt macht die Genese der Theorie des literarischen Feldes nachvollziehbar, da er sie in den Kontext vorangegangener literatursoziologischer Ansätze in Deutschland und Frankreich stellt. Auf eine Vorstellung der Theoriebausteine im zweiten Teil folgt schließlich ein ausführliches Referat feldtheoretischer Arbeiten in und zu Frankreich. Deren Ergebnisse summieren sich zu einer Revision der französischen Literatur vom 17. Jahrhundert bis 1980 und schließen so die chronologischen Lücken, die vor und zwischen den in den Regeln der Kunst gewählten Längsschnitten (1840–1860, 1880–1900, 1970er-Jahre) bestehen. Holler, Verena, Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse, Frankfurt a. M. 2003. Wie der Titel schon andeutet, geht die Autorin davon aus, dass neben dem deutschen ein eigenständiges österreichisches Feld besteht. Wichtigste Begründung: Die in Deutschland tonangebende Konsekrationsinstanz, die Literaturkritik, neigt zunehmend zu heteronomen Wertungsmustern (Forderungen nach ‚lesbarer‘, nicht-avantgardistischer Literatur), während in Österreich eine Allianz von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern dafür sorgt, dass der autonome Pol die Definitionsmacht nach wie vor für sich beanspruchen kann. Menasse wird als ein vom österreichischen Feld „erschaffener“ Autor vorgestellt, der die in den 1970erJahren am autonomen Pol konfligierenden Strömungen zu synthetisieren wusste. Joch, Markus / Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005. Der Band versammelt Aufsätze von Beiträgern aus dem deutschsprachigen und frankophonen Raum. Kenntlich werden die Bandbreite feldtheoretischer Applikationen (von der Gattungspoetik über die Erzähltext-Analyse bis zur Verlagsgeschichte), das prozesshafte Moment der Autonomisierung, das bei Bourdieu („Die Eroberung der Autonomie“) zu kurz kam, wie auch die Notwendigkeit terminologischer Erweiterungen (Selbstdarstellung von Autoren als ‚posture‘).
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Joch, Markus / Mix, York-Gothart / Wolf, Norbert Christian (Hrsg.), Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen 2009. Der auf deutsche und österreichische Akteure zentrierte Band analysiert neben der Logik der feldinternen Vergabe symbolischen Kapitals, wie sich Positionskämpfe zum massenmedialen Umfeld verhalten.
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1./2. Definition/Beschreibung Unter einer ‚Medientheorie‘ wird ein Denkansatz verstanden, der sich mit den Mitteln und Möglichkeiten eines ästhetischen oder kommunikativen Darstellungsverfahrens beschäftigt. So gibt es zunächst im engeren Sinne Theorien des Theaters, der Malerei, der Photographie, des Filmes und der digitalen Übertragungs- und Repräsentationsmedien. Ihnen gemeinsam ist ein jeweils besonderer Bereich, der sich allein durch dieses Medium oder seine neuartige Konstellation mit anderen ausdrücken lässt. Was ist in diesem Sinne das Filmische am Film, welche Besonderheiten prägen das digitale Bild gegenüber dem analogen oder den Hypertext im Unterschied zum gedruckten? Befragt man die Medien auf diese Weise danach, welcher Veränderung zunächst die materielle oder technische Seite ihrer Darstellung unterliegt, so ist damit zugleich auch ein allgemeiner Anspruch auf die Vermittlung des kulturellen menschlichen Ausdrucks und der Verständigung verbunden. Denn ein erweiterter Begriff des ‚Mediums‘ bezieht sich nicht allein auf die Kunst- und Kommunikationssphäre, sondern ebenso auf die des Gebrauchs und der kulturellen Produktion insgesamt. In der Moderne fallen die traditionell noch deutlich voneinander getrennt vorliegenden Sphären der Technik, der Kunst, der Arbeit und des Gebrauchs zunehmend zusammen und verlieren ihre Unterschiedlichkeit; die Medientheorie reflektiert diese Engführung. Im Zusammenhang der Germanistik versteht man primär den Text als ein Medium, den man vom akustischen Feld oder demjenigen des stehenden oder bewegten Bildes unterscheiden kann. Innerhalb eines Textes gibt es wiederum Repräsentationen des Bildlichen, der Moral, der Theologie usf. als verschiedene Sinnstufen des Lesens, die in der Hermeneutik bestimmt werden.1 Verwandte Begriffe sind ‚Mediengeschichte‘, 1
Rheinfelder, Hans, Nachwort zu Dantes Göttliche Komödie, München 1987, S. 461–477; Gadamer, Hans Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990.
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‚Medienkultur‘, ‚Medienphilosophie‘, ‚Medienpsychologie‘, ‚Medienkritik‘, ‚Intermedialität‘ und ‚Medienkunde‘. Je nach Ausrichtung, Herkunft und Erkenntnisinteresse fallen die einzelnen medientheoretischen Entwürfe unterschiedlich aus. In der Regel enthalten sie latent oder manifest formulierte Ansprüche auf die gesamte Sphäre der Ästhetik und Kulturentwicklung. Man unterscheidet die einzelnen Theorien nach ihren Ausgangsfragen: Theorien, die von einem Medium wie dem Buch, der Photographie, dem Film, dem Fernsehen, dem Radio, dem Computer ausgehen und seine Bedingungen, Möglichkeiten und Entwicklungstendenzen beschreiben.2 Dann solche, die deutlicher die ‚Medialität‘ selbst zum Gegenstand haben.3 Ferner solche, die wesentlich von Fragen nach ‚technischen Momenten‘ geleitet sind,4 und schließlich solche, die eine ‚Institutionstheorie‘ zum Gegenstand haben.5 ‚Ästhetisch geprägte‘ Theorien, die von einem Interesse am ‚Text‘ ausgehen,6 stellen andere Fragen als diejenigen, die das ‚Bild‘ betrachten7 2
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Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936), in: Gesammelte Schriften in sieben Bänden, hrsg. v. Schweppenhäuser und Tiedemann, Frankfurt a. M. 1989, GS I, 2, S. 471–508; Weizenbaum, Joseph, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a. M. 1978; Kreimeier, Klaus, Lob des Fernsehens, München 1995; Wentscher, Herbert, Vor dem Schirm, Freiburg 2002; Spielmann, Yvonne, Video. Das reflektive Medium, Frankfurt a. M. 2005. McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. Understanding Media [1964], Basel 1995; Engell, Lorenz, Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt a. M., New York 1992; Vattimo, Gianni / Welsch, Wolfgang (Hrsg.), Medien-Welten. Wirklichkeiten, München 1998. Kittler, Friedrich A., Aufschreibsysteme 1800–1900, München 1995; Flusser, Kommunikologie, Schriften, Bd. 4., hrsg. v. Stefan Bollmann u. Edith Flusser, Mannheim 1996. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., „Dialektik der Aufklärung“, in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1987, Bd. 5; Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen 1996. Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1983; Illich, Ivan, ABC – Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988; ders., Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalicon“, Frankfurt a. M. 1991; Türcke, Christoph, „Hypertext. Philosophische Kolumne“, in: Merkur, Heft 658, Februar 2004, S. 144–149; ders., Vom Kainszeichen zum genetischen Code, München 2005. Panofsky, Erwin, „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“, in: ders., Sinn und Deutung in der modernen Kunst, Köln 1975, S. 36–67; Belting, Hans / Haustein, Lydia (Hrsg.), Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München 1998, Wiesing, Lambert, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek 1997; Boehm, Gottfried (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 2001.
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oder sich ‚zeichentheoretisch‘ verstehen;8 ‚kommunikationssoziologisch‘ wird wiederum anders gefragt,9 und eine ‚kybernetisch-technisch‘ inspirierte Kommunikation10 enthält wieder andere Ausrichtungen als Theorien, die primär ‚politisch‘ argumentieren.11 ‚Historische Darstellungen‘ gehen in der Regel entweder von einer ‚Geschichte der Medienentwicklung‘ aus12 oder von der Entwicklung eines besonderen ‚Sinnen-, Bewegungs- oder Aufmerksamkeitsvermögens‘ wie des Hörens, des Blickens, des Lesens oder des Tanzens;13 in allen Fällen geht es um das Zusammenwirken von inneren und äußeren Techniken und Disziplinen. Eine ‚kritische Medientheorie‘ beschreibt die Entwicklung der Medien nicht allein, sondern geht ebenso der Frage nach, warum und zu welchem Zweck gerade in einer bestimmten historischen Periode ein Medium auftaucht. In diesem Sinne wird von dem ‚Leitmedium‘ einer Epoche gesprochen, in dem sich die technischen und gesellschaftlichen Bedingungen eines neuartigen Medienprozesses als Verbindung von Produktionsmitteln und Produktivkräften zeigen (z.B. Film, Fernsehen, Internet). Es wird aber auch nach Medien gefragt, die in diesem Prozess verloren gehen (wie der Stummfilm) oder in anderen Zusammenhängen und Verbindungen in einer neuen ‚Medienkonstellation‘ wieder auftauchen (wie das Hörbuch oder die Schallplatte). Diese Fragestellung ergibt sich insbesondere aus den Möglichkeiten der neueren digitalen Medien, die dazu tendieren, die historisch älteren Medien in ihre Form aufzunehmen und zu verein8
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Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], 2. Aufl., Berlin 1967; Peirce, Charles S., Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a. M. 1998. Flusser, Kommunikologie; Luhmann, Die Realität der Massenmedien. Rheingold, Howard, Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, Reinbek 1992. Ramonet, Ignacio, Die Kommunikationsfalle. Macht und Mythen der Medien, Zürich 1999; Pross, Harry, Der Mensch im Mediennetz. Orientierung in der Vielfalt, München 2000; Chomsky, Noam, Media Control. Wie die Medien uns manipulieren, Hamburg, Wien 2003. Buddemeier, Heinz, Panorama, Diorama, Photographie, München 1970; Zielinski, Siegfried, Archäologie der Medien, Reinbek 2002; Bock, Wolfgang, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen, Bielefeld 2002; ders., Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II, Bielefeld 2006; Faulstich, Werner, Mediengeschichte 1 und 2, Stuttgart 2006. Schivelbusch, Wolfgang, Lichtblicke, Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983; Behrendt, Joachim Ernst, Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Reinbek 1985; Illich, ABC – Das Denken lernt schreiben; ders., Im Weinberg des Textes; Crary, Jonathan, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002; Crary, Jonathan, Techniken des Beobachters, Dresden und Basel 1996.
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heitlichen. Entsprechend haben zahlreiche zeitgenössische Medientheorien das Zusammenspiel von digitaler Technik, formaler ästhetischer Vereinheitlichung und gesellschaftlichen Perspektiven zum Gegenstand.14
3./4. Institutionsgeschichtliches/Publikationen Unter einem Medium wird gemeinhin etwas verstanden, das sich zwischen einem Subjekt und einem Objekt befindet oder beide mit einschließt. In einer bestimmten Lesart handelt es sich um den neutralen Träger einer Botschaft, der selbst nicht auf den Inhalt einwirken soll. Die Kommunikationswissenschaftler Claude Shannon und Warren Weaver entwickeln in den 1940er-Jahren im Zusammenhang ihrer Arbeiten für die US-Armee die dreigliedrige Formel vom Sender, der über den Kanal eine Botschaft an den Empfänger schickt.15 Der Inhalt dieser Botschaft soll vom Medium unberührt stets der gleiche bleiben. Diesem kybernetischen Modell setzt Marshall McLuhan seine aus der Sprachwissenschaft entlehnte Auffassung entgegen, wonach das Medium als Form die alleinige Botschaft sein soll, der gegenüber jeder intendierte Inhalt sekundär bliebe: Dadurch, dass eine Nachricht als Lichtimpuls verschickt werde, lösten sich tendenziell die herkömmlichen Vorstellungen von Raum und Zeit auf: „Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf“, lautet der zentrale Satz des kanadischen Medienwissenschaftlers.16 McLuhan weist darüber hinaus darauf hin, dass die technischen Medien die organischen Sinne des einzelnen Menschen auf einen kollektiven Raum hin fortführen: so erweitert das Telefon das Ohr, das Fernsehen das Auge, das Internet das Nervensystem; einen Grenzfall bildet der Computer, der das Denken selbst ergänzt und erweitert, aber zugleich auf bestimmte Schemata reduziert. Seit den 1940er-Jahren bewegen sich die Mediendebatten zwischen der Auffassung von einer Trägersubstanz, die frei von der Beeinflussung 14
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Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft; Schivelbusch, Lichtblicke, Rötzer, Florian (Hrsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a. M. 1991; Pross, Der Mensch im Mediennetz; Dewitz 2002; Lovink, Geert / Schultz, Pit, Netzkritik. Materialien zur Internetdebatte, Mannheim 2002; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen; ders., Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II. Shannon, Claude / Weaver, Warren, Die mathematischen Grundlagen der Informationstheorie [1964], München, Wien, Oldenbourg 1976. McLuhan, Die magischen Kanäle.
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des Inhalts bleibt, und derjenigen einer bestimmenden Form, die den primären Inhalt des Mediums ausmachen soll. Wenn heute von ‚Medien‘ gesprochen wird, dann meint man zunächst im engeren Sinne die ‚Druckmedien‘ wie Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, die ‚akustischen Medien‘ Radio, Schallplatte, Tonband, CD, DVD und die ‚visuellen Medien‘ Photographie, Film, Fernsehen, Bildschirm. Diese Einteilung richtet sich nach den Produktionsformen oder nach den im Rezipienten angesprochenen Sinnen. Eine andere Systematik will ‚primäre Medien‘, die wie das Theater weitgehend ohne den Einsatz äußerer technischer Mittel auskommen, von den ‚sekundären Medien‘ wie der Zeitung, bei denen eine Technik nur auf der Senderseite vorkommt, und von den ‚tertiären Medien‘ wie dem Telefon, dem Computer im Internet oder der wiederbeschreibbaren CD/DVD absetzen, die Codierung und Decodierung auf beiden Seiten als Interaktivität im selben Medium zulassen.17 Es wird deutlich, dass der Technik im Rahmen dieser Fragestellung eine dominierende Rolle zukommt. Die Medientheorie kann erst im Kontext der Apparate des 19. und 20. Jahrhunderts entstehen, obwohl ihre Gegenstände bereits sehr viel früher behandelt werden.18 Erweitert man den damit zusammenhängenden Medienbegriff auf allgemeine kulturelle Mittel, Werkzeuge und Systeme, dann wird deutlich, dass die Medien eine anthropologische Komponente des kulturellen menschlichen Ausdrucks mit einschließen.19 In dieser eine aktuelle und zukünftige Entwicklung nach rückwärts in die Zeit projizierenden Perspektive fallen auch die älteren Formen der Kunst und der künstlerischen Reproduktion als Darstellungs- und Ausdrucksformen der in der jeweiligen Epoche lebenden Menschen unter den Medienbegriff.20 Insbesondere die Sprache und die Schrift lassen sich im Zwischenspiel von Bildschriften und Lautalphabeten als Medien verstehen. Dazu gehören neben den Bildalphabeten aus Ägypten, China oder Altamerika auch die phönizischen, hebräischen, arabischen, griechischen und lateinischen Silbenschriften.21 17 18
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Pross, Der Mensch im Mediennetz. Crary, Aufmerksamkeit; ders., Techniken des Beobachters; Lippe, Rudolf zur, Neue Betrachtung der Wirklichkeit. Wahnsystem Realität, Hamburg 1997; Dewitz, Bodo von; Nekes, Werner, „Ich sehe was, was Du nicht siehst.“ Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Göttingen 2002. Bolz, Norbert / Kittler, Friedrich / Tholen, Christoph (Hrsg.), Computer als Medium, München 1994; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen. Riegl, Alois, Spätrömische Kunstindustrie [1927], Darmstadt 1973. Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen; Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code.
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Stellt man in der Sphäre der Kommunikation und der Kultur die Frage nach dem Medium, so handelt es sich immer auch um diejenige der Darstellung und des Ausdrucks. Das Medium entsteht aus dem Verhältnis von innerer (z. B. des Geigenspiels) zu äußerer Technik (z. B. der Telegraphie). Unter technischen Aspekten steht die Möglichkeit der Durchführung im Vordergrund; im Zusammenhang der Darstellung wird im ästhetischen Kontext danach gefragt, welches Medium sich besonders für welchen Stoff eignet und umgekehrt. Es ist also nicht allein von Bedeutung, ob man etwas machen kann, sondern ob und warum man es machen sollte; es geht mit anderen Worten in der ästhetischen Sphäre, die auch das Design mit einschließt, um eine bestimmte Praxis. Neben den genannten Zusammenhängen der Technik und des Ästhetischen besitzt der Begriff des ‚Mediums‘ auch einen theologischen, spiritistischen oder phantasmagorischen Beiklang. Das gilt sowohl historisch als auch in aktueller Hinsicht. Die christliche Auffassung wie auch das Judentum und der Islam verstehen unter den Medien traditionell die Engel als Wesen, die den Raum zwischen Gott und der Erde bevölkern, die göttlichen Impulse nach unten weitergeben und vice versa. Etwa um 500 n. Chr. verfasst Dionysos Areopagita seine Systematik der Engel, auf welcher die mittelalterlichen Lehren von Thomas von Aquin, Dante Alighieri und ihrer humanistischen Nachfolger in der Renaissance wiederum aufbauen.22 Auch in der Moderne, nach dem Rückgang des Einflusses der großen Religionen, zeigt sich in den Medien der Rest eines theologischen Sinns, der sich nun als Heilsversprechen über eine rationale Anwendung hinaus auf die Technik als eine Art Maschinen-Engel überträgt. Etwas von solchen übersinnlichen Momenten, die der Botschaft aus dem Radio, auf der photographischen Platte oder aus dem Internet etwas Besonderes geben sollen, bleibt in den Medien bis heute bewusst oder unbewusst erhalten. Die spiritistischen und theologischen Diskurse bilden auf diese Weise eine andere Geschichte der Medien, die den rationalen Diskurs mit heterogenen Motiven auflädt.23 Die heutigen Debatten um die neueren Medientheorien werden allerdings offiziell überwiegend von anderen Theorierichtungen bestimmt. Zunächst sind hier sprachwissenschaftlich-semiotische Theorien zu 22
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Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz, Saturn und Melancholie, Frankfurt a. M. 1990. Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft; Ramonet, Die Kommunikationsfalle; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen; Wentscher, Vor dem Schirm.
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nennen, die synchronisch die Wirkweise des Films als Text oder als Zeichensystem begreifen.24 Dem angeschlossen ist die Gruppe technischsemiotischer Theorien, die von Kommunikations-, Nachrichten- oder Signaltheorie sprechen, sich auf eine Kybernetik stützen und sich oft affirmativ auf eine Technik beziehen.25 Dem stehen hermeneutische Theorien gegenüber, die auch in den Kunstwissenschaften einen fruchtbaren Ansatz besitzen, wenn es wie in der Ikonologie um das Lesen eines Bildes geht.26 Diese Theorien verstehen sich oft als kulturkonservativ; sie sind tendenziell stärker dem Buch und dem Text zugewandt, und wenn sie positiv vom Bild Kenntnis nehmen, dann in der Regel vom gemalten Tafelbild. Eine weitere Frage ist diejenige nach dem medialen Charakter innerer und ihrem Übergang zu apparativ bestimmten Bildern. Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty betonen im Anschluss an Husserl und die Phänomenologie die Bedeutung mentaler Bilder.27 Verschiedene andere Autoren widmen sich der Frage, ob diese wie Photos funktionieren oder ob sie als Schemata organisiert und nur quasi bildlich ausgerichtet sind. In der so genannten ‚linguistischen Wende‘ in den Sprachwissenschaften (‚linguistic turn‘) bildet sich um die Mitte der 1960er-Jahre deutlich die Tendenz zur Betonung der selbstreferenziellen Logik der Sprach- und Medientheorien ab.28 Im weiteren Zusammenhang von semiotischen und neurophysiologischen Theorien kommt es 1992 analog dazu auch in den Bildwissenschaften zum so genannten ‚pictorial turn‘.29 Nach dem Chicagoer Kunsthistoriker William J. Thomas Mitchell spricht dann 1994 angesichts der Zunahme der digital produzierten Bilder auch der Münchner Kunsthistoriker Gottfried Boehm in ähnlicher Weise vom ‚iconic turn‘.30 Fragen stellen sich insbesondere nach der visuellen Repräsentanz von Artefakten als Randbereichen der Bilder und nach Bildrepräsentation im Kontext der digitalen Speichermedien.31 An der Grenze 24
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Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft; Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen. Bolz / Kittler / Tholen (Hrsg.) Computer als Medium; Kittler, Aufschreibsysteme. Mitchell, William J. Thomas, Picture Theorie, Chicago 1994; Boehm, Was ist ein Bild?, Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, München 1976; Sartre, Jean-Paul, Das Imaginäre, Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, 2, Reinbek 1994, S. 36–90. Rorty, Richard, The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago 1967. Mitchell, Picture Theorie. Boehm, Was ist ein Bild?, Lambert, Die Sichtbarkeit des Bildes; Zielinski, Archäologie der Medien.
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der einzelnen Disziplinen wie der Kunstgeschichte, der Semiotik und der Bildwissenschaft führt dieser Zusammenhang auf den generellen Betrachtungszusammenhang der Bilder in der abendländischen und ihrem Verhältnis zu anderen Kulturen. Jan und Aleida Assmann fragen im ägyptologischen Kontext von Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Kultur nach dem Verhältnis von Monotheismus, Schrift, Monument, Erinnerung und kulturellem und kollektivem Gedächtnis.32 Aby Warburg hatte bereits frühzeitig die Vorstellung einer Reise des kollektiven Bildgedächtnisses der asiatischen, afrikanischen und europäischen Menschheit formuliert; seine Theorie geht in die Ikonologie und Ikonographie ein33 und wird heute wieder vielfach diskutiert. Der Münchner Kunsthistoriker Hans Belting proklamiert Anfang der 1990er-Jahre das Ende der Kunstgeschichte, wenn er argumentiert, dass die Rechte der Bilder bis zum 15. Jahrhundert zunächst religiös bestimmt worden seien, um sie anschließend in der Renaissance durch die Kunstwissenschaft in die Pflicht zu nehmen; die spezifische Qualität des Bildlichen sei dabei jeweils verkannt worden.34 Die durch die Digitalisierung Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt auftretenden Gebrauchsbilder in den Massenmedien, der Werbung und im Design besäßen dagegen eine produktive Verbindung zu frühen archäologischen oder heutigen postkolonialen Bild-Anthropologien.35 Die Medien produzieren Bilder, die in einem Zwischenbereich von Dokumentation und fiktionalen Spiel angelegt sind. Die Form des Bildes gibt dieser Art der Mitteilung etwas, das von dem Betrachter tendenziell unmittelbar mit einer evidenten Wahrheit gleichgesetzt wird. Das Verhältnis zum Bild wandelt sich vom Mittelalter zur Neuzeit durch die Renaissance- und Barockmalerei. Im 19. Jahrhundert wird mit dem Aufkommen der Photographie eine weitere Wasserscheide dieser Entwicklung erreicht. Aus einer gegenüber der Malerei zunächst als uneigentlich empfundenen apparativen Abbildung wird rasch der neue Maßstab für die Bildherstellung und Betrachtung überhaupt. Die frühen Photogra32
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Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999; Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003. Klibansky / Panofsky / Saxl (Hrsg.), Saturn und Melancholie; Warburg, Aby M., „Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara“, in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 1992, S. 173–199. Belting, Das Erbe der Bilder. Konersmann, Ralf, Kritik des Sehens, Leipzig 1997; Belting, Hans, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2000.
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phen hatten allein durch ihre neuartige genaue Darstellung einen Effekt beim Zuschauer bewirkt.36 Auch die Anziehungskraft der ersten Filme liegt nicht in besonderen Retuschen oder Manipulationen der Bilder, sondern im dokumentarischen Moment, das man von Photos her kannte und das nun in Bewegung gesetzt wird. Im Unterschied dazu lässt sich das gemalte Tafelbild anhand der Pinselspuren deutlich als eine Übertragung der Wirklichkeit in den Kosmos des Malers identifizieren.37 Auch ein Text repräsentiert die Wirklichkeit im Medium der Schrift, er ist nicht mit dieser wie im Medium des Bildes isomorph gleichzusetzen. Ebenso bleibt das Theaterstück bis auf wenige Ausnahmen prinzipiell als eine szenographische Fiktion erkennbar. Mit der Erfindung der Photographie Anfang des 19. Jahrhunderts wird die Grenze zwischen Kunstwerk und Realität von der Seite der Technik her tendenziell aufgehoben. Die immer besser werdenden Photos zeigen die Welt zwar im Ausschnitt; soweit aber das Auge dem Kameraobjektiv gleicht, kann es das Bild als Wirklichkeit erkennen. Damit ist ein erster Schritt hin zu einer „wirklicheren“ technisch-medialen Wirklichkeit getan und der Film fügt dem nur noch die Bewegung hinzu, die im Einzelbild bereits virtuell angelegt ist. Mit der Photographie wird zugleich die handwerkliche Produktion des Mediums verbessert und an die industrielle Fertigung angeschlossen. Die Filmproduktion entwickelt dann ihre eigenen industriellen Fertigungsmethoden. Durch solchen Fortschritt tritt ein Qualitätssprung in der Darstellung auf, dessen Ausmaß erst gegen Ende des Jahrhunderts durch die Entwicklung des Fernsehens, der Videotechnik und des Computers deutlich wird.38 Allerdings führt keine direkte Linie wie von der Photographie zum Film von diesem und vom Fernsehen und Video zur digitalen Technik; es handelt sich um jeweils drei unterschiedliche technische Formate, die eigenen Gesetzen folgen.39 Ein Text wirkt gegenüber der tendenziell isomorphen Form der bildlichen Abbildung indirekt. Ihm ist die Vermittlung prinzipiell anzusehen. Seine Bezüge zur Wirklichkeit sind offen repräsentativ und diskursiv, während ein Bild deskriptiv und unmittelbar wirken kann; es verbirgt seine Vermittlung in der vermeintlichen Unmittelbarkeit der Darstellung.40 Synthetisierende 36 37 38 39 40
Freund, Gisèle, Photographie und Gesellschaft, Reinbek 1979. Moholy-Nagy, László, Malerei, Fotografie, Film [1925], Mainz, Berlin 1978. Kittler, Aufschreibsysteme. Bock, Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Derrida, Grammatologie; Illich, ABC – Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988; ders., Im Weinberg.
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Formen von Bilderschriften wie die zweigliedrigen Barockimpresen oder die dreigliedrigen Embleme mit den Elementen ‚Pictura‘, ‚Inscriptio‘ und ‚Subscriptio‘ finden in den neueren Medien ihre Fortsetzung als Titel und Zeilen in Photographien oder im Verhältnis von Bild, Schrift und gesprochenem Ton im Film.41 Der digitale Hypertext erlaubt eine deskriptive, am Bild ausgerichtete Form der Rezeption, ohne allerdings eine narrative Form des Lesens auszuschließen. Beide Formen besitzen nicht allein technische Grenzen, sondern folgen vor allem auch inneren formalen Logiken. Danach wirkt ein zu häufiges Springen im Leseprozess zerstreuend und zerstörend auf die Erfassung eines weitergespannten Sinnzusammenhangs.42 Hier muss in der zukünftigen Form des Lesens elektronischer Bücher am Bildschirm oder als so genanntes ‚e-paper‘ eine Balance zwischen den technischen Möglichkeiten und den sinnvollen Realisierungen erst noch gefunden werden. Die photographische Abbildung liefert eine fragmentierte Perspektive: Das Photo hält einen Ausschnitt der Welt fest und zeigt damit nicht wie tendenziell noch das Gemälde das ganze Bild im übertragenen Sinne. Dieser eingeschränkte cadrierte Blickwinkel, wie ihn die Photographie und der Film voraussetzen und erzeugen, ist nun allerdings keine Schwäche, sondern gerade die Stärke dieses Abbildungsverfahrens. Denn im Ausschnitt enthalten sie einen wahren Kern: In der Moderne wird deutlich, dass es keinen universellen Standort gibt, sondern jeder noch so breit angelegte systematische Entwurf des Denkens notgedrungen subjektiv und beschränkt bleibt.43 Insofern liefert der segmentierende Blick der Kamera ein individuelles Abbild der Welt, so wie der jeweilige Photograph sie durch die Linse sieht. Aber das Bild ist nicht nur subjektivistisch; objektivierende Momente gehen einerseits durch gesellschaftlich und kulturell bestimmte Sehweisen, andererseits durch den Apparat der Kamera, sozusagen durch die Wahrheit der Gesetze, nach denen ihre Mechanik funktioniert, in das Bild der Kamera ein. Dieser zweite Vorgang lädt die photographischen Bilder gewissermaßen durch die Wahrheit der Naturgesetze auf und trägt zugleich zu ihrer formalen und inhaltlichen 41
42 43
Volkmann, Ludwig, Bilder Schriften der Renaissance, Leipzig 1923, Nachdruck 1962; Henkel, Arthur / Schöne, Albrecht, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Taschenausgabe Stuttgart und Weimar 1967/1996; Bock, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen; ders., Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II. Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“; Kracauer, Siegfried, Theorie des Films, Frankfurt a. M. 1985.
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Objektivität bei. So enthält das von der Kamera erstellte Bild beides – Subjektives durch den jeweils einschränkenden Blickwinkel des Photographen, Objektives durch die Mechanik der Apparatur und der Optik.44 Dieser Vorgang besitzt zugleich politische Implikationen. Denn die Medien entwickeln eine avancierte Technik, um anschließend inhaltlich eine Welt zu präsentieren, die auf institutionspolitischen Vorstellungen aus dem frühen 19. Jahrhundert beruht. Der freie Bürger soll mit ihrer Hilfe zu einem Urteil über die Welt gelangen: Da sich nicht jeder in jedem Bereich kundig machen kann, bilden sich arbeitsteilige Institutionen aus. Die Institution zur Orientierung über die äußere Wirklichkeit stellen die Medien dar; sie bilden aufgrund der großen Bedeutung der Pressefreiheit im demokratischen Staat neben dem Parlament, der Justiz und der Exekutive die so genannte ‚vierte Gewalt‘.45 Zugleich löst sich die vorgeblich wertfreie Information formal aus dem traditionellen Kontext der Übermittlung und gewinnt im Zusammenhang mit der Medienstruktur eine Tendenz zur Verselbständigung.46 Die politische Medientheorie zeigt auf, dass diese Informationen häufig nur noch sehr vermittelt etwas mit der äußerlichen Realität zu tun haben, die es vorgeblich zu erfassen gilt; zunehmend bilden die Medien in einem Zirkel der Selbstreferenz sich und ihre Bedingungen ab.47 Das ist unter ästhetischen Gesichtspunkten unausweichlich, aber unter solchen einer politischen Orientierung ist immer auch deutlich zu betonen, dass es keine reinen Informationen ohne ihre zugleich mitgelieferte formale Rahmung und die damit verbundene Interpretation gibt. Jean Baudrillard spricht dort, wo diese Bedingung nicht mitreflektiert wird, von einer verdeckenden Simulationstendenz der Massenmedien im Unterschied zur offenen Illusion etwa des Theaters. Er lehnt sich dabei an Guy Debord an, der in seiner früheren Konstruktion ebenfalls kritisch von den „Bedingungen des Spektakels“ ausgeht.48 44 45 46
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Kracauer, Theorie des Films; Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1998. Pross, Der Mensch im Mediennetz. Benjamin, Walter, „Über einige Motive bei Baudelaire“ [1939], GS I, 2, S. 605–654; Sennett, Richard, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1998. Virilio, Paul, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, München, Wien 1986; ders., Rasender Stillstand, Frankfurt a. M. 1997; Baudrillard, Jean, Die Illusion und die Virtualität, Wabern-Bern 1994; Ramonet, Die Kommunikationsfalle; Rancière, Jacques, Das Unvernehmen, Frankfurt a. M. 2002; Chomsky, Media Control. Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982; Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels, München 1996.
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Die Medien sind in dieser Hinsicht nur begrenzt als passive Transportformen für Inhalte zu verstehen. Sie tragen durch die Art und Weise ihrer jeweiligen Darstellung immer auch aktiv dazu bei, dass die Empirie, die sie wiedergeben wollen, erst durch sie selbst zu einer einheitlichen Form wird. Aus diesem Grunde erscheint es sinnlos, eine empirische Wirklichkeit als ursprüngliche oder natürliche Ordnung gegen eine zweite, künstlich im Medium hergestellte verteidigen zu wollen. Beide Arten von Wirklichkeit sind wesentlich konstruiert und es kommt darauf an, die historischen und formalen Grundlagen dieser Konstruktion zu verstehen, um sie produktiv zu nutzen.49 Einer bildlichen Darstellung kommt über das Moment der reinen Abbildung hinaus traditionell etwas eigenständig Würdevolles zu. Bereits der frühen Kunstproduktion in den Höhlen von Altamira oder Lascaux, die Gegenstände, abstrakte Zeichen oder Lebewesen darstellt und das Abgebildete von einem natürlichen Zusammenhang in einen künstlichen überführt, eignet jene Würde, die mit dieser Form zusammenhängt. Das liegt an der gestaltbildenden Verdoppelung des Schöpfungsaktes durch den Künstler, aber auch an den gegenüber der empirischen Welt veränderten Bedingungen seiner Existenz. Das Kunstwerk schafft eine eigene Welt, die gegenüber derjenigen, aus der es seine Stoffe nimmt, durch solche Neuzusammensetzung amalgamiert wird. Aus einer flüchtigen Erscheinung entsteht etwas, das bleibt. Man kann es als Gebäude betreten, als harte Münze darauf kauen, es als Bild oder Fresko an der Wand bewundern oder als Text lesen.50 Die Ablösung der Kunst von der Religion setzt im Abendland im großen Stil in der italienischen Renaissance ein. Der schöne Schein der entstehenden autonomen Kunst säkularisiert den religiösen Kultwert in einer Sphäre, die sich von außen mit der Unabhängigkeit des Bürgertums von den Adeligen und dem Klerus bildet und von innen die von der Kirche kodifizierten Formen der Darstellung überwindet.51 Je stärker der Ausbruch der Kunst aus den traditionellen Vorgaben erfolgt, umso menschlicher und individueller werden die Ausdrucksweisen der Künstler und damit die dargestellten Gestalten. Es ist der Zusammenhang des frühen Humanismus, dessen ästhetische Anschauung den 49 50
51
Lippe, Neue Betrachtung der Wirklichkeit. Panofsky, „Ikonographie und Ikonologie“, Illich, ABC – Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988; ders., Im Weinberg. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.
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Fokus bildet, in dem Religionsfreiheit, Philosophie, wissenschaftliche und ökonomische Entwicklung ihren vorgeschobensten Ausdruck finden. Der Übergang des Kultwertes in den säkularen Anteil des Kunstwerkes schafft zugleich einen neuen nüchternen Kult des Menschen, der sich an der Antike orientiert, um zu eigenständigen Formen zu gelangen.52 Die Betrachtung der religiösen Kultgegenstände des Mittelalters war nur wenigen auserwählten Personen erlaubt; mit dem Aufkommen der autonomen Kunst entsteht hier eine radikale Wendung zum Sichtbaren.53 Von nun an lebt die Kunst davon, dass sie betrachtet wird. Zum einen verschwindet damit das Geheimnis als ästhetische Kategorie, indem es in weltliche und allgemein zugängliche Formen übergeht: Autonome Kunst lebt gerade von der Transformation religiöser oder kultischer Momente in säkulare technische, ästhetische und utopische; andererseits erhält sich etwas nüchtern Metaphysisches im Sichtbaren. Tritt auf einem Gemälde wie Botticellis Frühling eine menschliche Figurengruppe auf, ist diese Ausdruck einer Metaphysik des Humanismus als Vorschein eines neuen Menschen, der sich auf die Antike bezieht: Sie steht zugleich auch für eine in diesem Rahmen sich ankündigende Subjektwerdung. Denn Darstellung wird Ausdruck der neuen Möglichkeiten, die sich auch aus dem ungeheuren Reichtum ergeben haben, den die Überseemärkte den Kaufleuten Oberitaliens und Iberias eröffnen.54 Man kann hier eine strategische Funktion der Medien von einer kompensatorischen und einer utopischen abtrennen. Die mediale Ästhetik wird zu einem Übungsfeld zur Vorwegnahme anderer Entwicklungen wie beispielsweise der Exaktheit einer Betrachtung, der Trennung von Objekt und Betrachter oder des Anlegens einer Ebene senkrecht zu der des Betrachters – Momente, die in der Wissenschaft der Neuzeit bedeutend werden.55 Das, was man das heterogene Wesen der Medien nennen könnte, besteht in einer Reihe von bestimmbaren, aber nicht vollständig fixierbaren Phänomenen.56 Es ist an die historische Zeit der Entstehung des Kunstwerks gebunden, geht darin aber nicht auf.57 So enthält die
52 53 54 55
56 57
Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974. Wind, Edgar, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 1987. Cassirer, Ernst, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1926], Darmstadt 1963. Groys, Boris, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000. Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“.
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Institution Kunst Momente davon im Zirkulieren der Kunstwerke als Ware zwischen Maler, Markt, Galerie, Börse, Museum und Sammler.58 Die Medientheorie entsteht historisch in der Sphäre der Kunst, ihren heutigen Stellenwert aber gewinnt sie im Zusammenhang der technischen Kommunikation und als Design. Sie ist durch den Wandel von ästhetischen zu kommunikativen Aspekten gekennzeichnet. Daraus entwickelt sich ein medialer Schein.59 Im ästhetischen Schein drückt sich allgemein die Perspektive eines besseren Lebens aus, das zunächst in kultischen und religiös-kanonischen Zusammenhängen gebunden ist. Zum Ausgang des Mittelalters beginnt sich diese Hoffnung zu säkularisieren, gewinnt dabei eine gewisse Freiheit und geht in der Renaissance auf Formen der bürgerlichen Institutionen über. Der heutige Schein des Sichtbaren findet sich in der Technik.60 Die Technik zieht in ihrer heute vorherrschenden Form zugleich alle soziale und politische Phantasie an sich, das heisst, sie droht jede andere Möglichkeit des Utopischen in eine technische Utopie zu verwandeln. Dieser Zusammenhang bildet den Kern von Baudrillards Kritik der Welt der Medien als Simulation, die ihre ästhetischen Mittel als naturalistische ausgeben.61 Die Reduktion der Welt auf das durch die Medien sichtbar Gemachte bedeutet zugleich das vorschnelle Einlösen der materialistischen, positivistischen und futuristischen Utopie, die Bereiche der Religion, der Kunst und der Theorie fänden in der Technik eine Form, die im „Weltbild“ die beste aller Welten erzeugte.62 Die Neuen Medien bringen damit etwas zu Ende, das dem Schein schon immer innewohnte. Schein ist eine zweiseitige Kategorie, die sowohl das bewunderte Objekt als auch den Bewunderer in einer Figur zusammenfasst. Das Sichtbare wandelt sich im Rahmen dieser Entwicklung von einer utopischen Kategorie des Vorscheins hin zu einer normativen. Mit der Abkehr von der analogen Form der Abbildung, die einen dargestellten Gegenstand von einem Medium in ein anderes übersetzt und dabei mit dem Effekt der Verfremdung und des Wandels der äußeren und inneren Form spielt, geht auch zugleich ein ebenfalls äußerlicher 58 59 60 61 62
Bürger, Theorie der Avantgarde. Rötzer, Digitaler Schein. Hettche, Thomas, Animationen, Köln 1999. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod. Heidegger, Martin, „Die Zeit des Weltbildes“ [1938], in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1994, S. 69–104.
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und innerlicher Prozess der Zusammenfassung und Vereinheitlichung der einzelnen Kunstformen einher. Diese Tendenz der Vereinheitlichung wird vor dem Hintergrund der Digitalisierung deutlich. Die herkömmliche Aufteilung in analog und digital ist allerdings an einer technischen Übertragung orientiert und in Bezug auf eine ästhetische Betrachtung der Medien problematisch. Sie verdeckt das wichtige intermediale Moment der digitalen Abbildung als Übertragung von einem Medium in ein anderes. Stillschweigend wird vorausgesetzt, die Welt dieser Art von Abbildung, die in sich digital verbunden ist, sei es auch mit der anderen Welt. Der wesentliche Prozess, den die Digitalisierung damit fortführt, ist derjenige der Vereinheitlichung im eigenen Medium. Antworten auf in einem Medium gestellte Fragen und Appelle aber lassen sich oft sinnvoll nur in anderen Medien geben; so ist der Applaus des Theater- und Opernpublikums ein sinnvollerer Gradmesser der gezeigten Leistung, als wenn man von den Zuschauern erwartete, sie sollten ihre Reaktionen auf der Bühne selbst artikulieren. An der Konzeption des Gesamtkunstwerks als Oper, die im 17. Jahrhundert entsteht, beginnt nicht zufällig 200 Jahre später mit Wagner neben dem erweiterten Kunstgenuss auch eine bedrohliche Seite solcher Totalität wieder aufzuleben, wenn tendenziell alle einzelnen Komponenten mit dem Strich gebürstet werden. Auch der Film enthält mit seinem schrittweisen Vorrücken vom Stummfilm zum Tonfilm und von dort zum Farbfilm starke Elemente der Vereinheitlichung der filmischen Form von Realität.63
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die Digitalisierung im Bereich der Medien ist nur ein kleines Segment dessen, was heute als mikroelektronische Revolution im Prozess zwischen Mensch und Natur deutlich wird. Die neuen Geräte, die nicht mehr nur menschliche Muskelkraft, sondern auch zuvor für originär menschlich gehaltene Bereiche wie Tasten, Fühlen und Denken ausbilden, erlauben eine Verringerung der herkömmlichen Kosten im Bereich der Produktion, der Warendistribution und des Datentransfers. Sie erreichen alle gesellschaftlichen Sektoren und verändern sie. Zugleich entstehen neue Problemfelder. Auch die neuen intelligenten Geräte der Informationsgesellschaft arbeiten mit elektrischem Strom. Die Folgen solcher
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Bock, Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II.
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Produktion aus Atomreaktoren, Heizkraftwerken oder Wasser- und Windkraftanlagen sind hinlänglich bekannt. Wenn auch die Mikrotechnologie weniger Energie verbraucht, so steigt nun der Pegel durch die Aufsummierung der vielen einzelnen Geräte.64 Als weiteres Moment der digitalen Kommunikation tritt eine beinahe universelle technische Überprüfbarkeit und Kontrolle durch Sammlung und Zusammenführung unterschiedlicher Bereiche und Datenspuren hinzu, die oft auf erschreckende Weise tagespolitischen Erwägungen unterliegt.65 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Fragen nach der Qualität der medialen Wirklichkeiten, nach den sozialen und ökologischen Kosten und nach dem Ausbau der Kontrollgesellschaft (Deleuze) in der Regel gegenüber den phantasmagorischen Seiten der Neuen Medien noch unterbewertet werden; sie treten gleichwohl zunehmend deutlicher zutage.66 Es ist zu erwarten, dass durch die fortschreitende technische Entwicklung die Bedeutung medialer Theorien als Interpretation dieses Geschehens weiter zunehmen wird; zugleich werden sich theoretische Differenzen und Trennschärfen durchsetzen, die die Reichweite der einzelnen Theorien eingrenzen und beschränken.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Peirce, Charles S., Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt a. M. 1998. Klassische Untersuchungen zum Zeichenbegriff. Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis (1896), Hamburg 1991. Theorie der inneren Bilder; Vorbild u. a. für Proust und für Deleuzes Filmarbeiten. Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt a. M. 1978, 13 Bände. Romanfragment unter der Fragestellung einer ästhetischen Konstruktion von inneren und äußeren Bildern. 64
65
66
Lovink / Schultz, Netzkritik. Materialien zur Internetdebatte; Bock Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen. Schaar, Peter, Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft, München 2007. Vgl. Deleuze, Gilles, Das elektronische Halsband; Agamben, Giorgio, Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin 2008.
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Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], 2. Aufl., Berlin 1967. Studie zu den Grundlagen moderner Sprachwissenschaft. Volkmann, Ludwig, Bilder Schriften der Renaissance, Leipzig 1923, Nachdruck 1962. Darstellung der verschiedenen Formen von italienischen und französischen Bilderschriften in Renaissance und Barock. Moholy-Nagy, László, Malerei, Fotografie, Film (1925), Mainz und Berlin 1978. Pointierte formale Analyse der historischen Entwicklungslinien der Medien des ungarischen Malers und Bauhauslehrers. Cassirer, Ernst, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1926], Darmstadt 1963. Profunder Überblick über die philosophischen und kulturellen Entwicklungen in der italienischen Renaissance. Riegl, Alois, Spätrömische Kunstindustrie [1927], Darmstadt 1973. Untersuchung zu den traditionell ausgeblendeten Phasen der kunsthistorischen Entwicklung. Benjamin, Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936), in: Gesammelte Schriften in sieben Bänden, hrsg. v. Schweppenhäuser und Tiedemann, Frankfurt a. M. 1989, GS I, 2, S. 471–508. Untersuchung zum Übergang von der Photographie zum Film und der Auswirkung auf eine neue Ästhetik. Sartre, Jean-Paul, Das Imaginäre [1936], Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I, 2, Reinbek 1994, S. 36–90. Sartres phänomenologisches Frühwerk. Heidegger, Martin, „Die Zeit des Weltbildes“ [1938], in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1994, S. 69–104. Untersuchung über das Aufkommen der Vorstellung der Welt als Bild. Benjamin, Walter, „Über einige Motive bei Baudelaire“ [1939], GS I, 2, S. 605–654.
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Untersuchung über die Möglichkeiten der ästhetischen Produktion unter den Bedingungen der zerstreuenden Medien. Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], München 1976. Hauptwerk des Philosophen als Grundlage leiblicher phänomenologischer Wahrnehmung. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung [1947], in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1987, Band 5. Frühe Untersuchung zu den Tendenzen der Kulturindustrie. Gadamer, Hans Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990. Klassische Studie zur Hermeneutik des Heidegger-Schülers, die 1960 das erste Mal erschien. Kracauer, Siegfried, Theorie des Films [1964], Frankfurt a. M. 1985. Filmtheorie, die von dem formalen Primat einer realistischen Darstellung ausgeht, um die Repräsentation der äußeren Wirklichkeit im Bilde zu retten. Shannon, Claude / Weaver, Warren, Die mathematischen Grundlagen der Informationstheorie [1964], München, Wien, Oldenbourg 1976. Grundlagenwerk zur mathematischen Formalisierung von Informationen. McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. Understanding Media [1964], Basel 1995. Eine Sammlung von Aufsätzen, die mediale Interferenzen zum Gegenstand haben und von der Form ausgehen. Henkel, Arthur / Schöne, Albrecht, Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Taschenausgabe Stuttgart und Weimar 1967/1996. Standardwerk der traditionellen Barockemblematik als medialer Verbindung von Motiv, Bild, Moral und Rahmung. Rorty, Richard, The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago 1967. Beschreibung der sprachlogischen Entwicklungslinien.
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Buddemeier, Heinz, Panorama, Diorama, Photographie, München 1970. Sozialgeschichtliche Studie zu den Anfängen der Photographie und Frühformen des Films; Interpretation von Quellentexten. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974. Studie zum Verhältnis von Leben und Kunst, Montage und Allegorie, Tradition und Avantgarde. Panofsky, Erwin, „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“, in: Ders., Sinn und Deutung in der modernen Kunst, Köln 1975, S. 36–67. Darstellung von Panofskys Interpretation der Methode Warburgs. Weizenbaum, Joseph, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a. M. 1978. Kritik der Phantasmagorien, die mit dem Computer verbunden sind, aus der Sicht eines seiner Entwickler. Freund, Gisèle, Photographie und Gesellschaft, Reinbek 1979. Wichtiges Werk der Soziologin und Photographin, die Deutschland während der Nazizeit aus politischen Gründen verlassen musste. Barthes, Roland, Die helle Kammer [1980], Frankfurt a. M. 1998. Semiologische Theorie zur Photographie mit Hang zur Betonung des Signifikats. Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. Baudrillards situationistisches Hauptwerk, das er in seinen späteren Schriften weiter variiert. Derrida, Jacques, Grammatologie, Frankfurt a. M.1983. Sprachphilosophische Texte zur Erläuterung des Konzeptes der Dekonstruktion. Schivelbusch, Wolfgang, Lichtblicke, Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983. Kulturwissenschaftliche Untersuchung zum elektrischen Licht im 19. Jahrhundert.
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Barthes, Roland, Rhetorik des Bildes, in: Schiwy, Günther, Der französische Strukturalismus, Reinbek 1984, S. 162–170. Erläuterung der Bildrhetorik mit Hang zur Betonung des Signifikanten. Behrendt, Joachim Ernst, Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Reinbek 1985. Studie über die Hintergründe einer Weltschöpfung aus Klang und Musik in den klassischen Kulturen Asiens. Virilio, Paul, Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, München, Wien 1986. Verbindung von Logistik und Wahrnehmung unter strategischen Gesichtspunkten. Rheinfelder, Hans, Nachwort zu Dantes Göttliche Komödie, München 1987, S. 461–477. Darstellung der verschiedenen Sinnstufen in Dante Alighieris mittelalterlichem Text. Wind, Edgar, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt a. M. 1987. Darstellungsmodi des Bild- und Schriftmediums in der frühen Neuzeit. Illich, Ivan, ABC – Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988. Historische Untersuchung über das Buch als Medium und die verschiedenen Stadien von Verschriftlichung. Deleuze, Gilles, Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a. M. 1989. Erster Teil einer Kino-Taxonomie, die das sogenannte ‚Bewegungs-Bild‘ zum Gegenstand hat, das als Abbild einer äußeren Bewegung fungiert. Deleuze, Gilles, „Das elektronische Halsband. Innenansicht der kontrollierten Gesellschaft“ (1990), Neue Rundschau 3/1990, Frankfurt a. M., S. 5–13. An Formen orientierter kritischer Vorschlag zur Struktur der neuartigen Kontrollmechanismen des Digitalen als Entwicklungsform der von Michel Foucault bestimmten Disziplinargesellschaften.
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Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz, Saturn und Melancholie, Frankfurt a. M. 1990. Umfassende ikonologische Studie über die Entwicklung des Temperamentenschemas in der Physik, der Medizin und der Philosophie als Vorgeschichte von Dürers Melencholia I. Deleuze, Gilles, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1991. Zweiter Teil der Kinotheorie Deleuzes, in der er die virtuellen und freiheitlichen Möglichkeiten der miteinander kommunizierenden Bilder im Gegensatz zum Bezug zur Außenwelt und ihrer Bewegung beschreibt. Flusser, Vilém, Digitaler Schein, in: Rötzer, Florian (Hrsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a. M. 1991, S. 147–159. Versuch, eine Geschichte des digitalen Scheins zu schreiben. Illich, Ivan, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos „Didascalicon“, Frankfurt a. M. 1991. Materialreiche Studie zum Übergang der Schriftkultur vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Rötzer, Florian (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a. M. 1991. Anthologie mit wichtigen Texten zur Ästhetik des digitalen Mediums. Bürger, Peter, Prosa der Moderne, Frankfurt a. M. 1992. Grundlegende Untersuchung über die Bedingungen des Schreibens in der Moderne. Engell, Lorenz, Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt a. M., New York 1992. Materialreiche, an Luhmann orientierte Einführung in die Geschichte des Films. Rheingold, Howard, Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, Reinbek 1992. Ausführliche Beschreibung der technischen Möglichkeiten des Cyberspace.
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Warburg, Aby M., „Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara“, in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 1992, S. 173–199. Kulturwissenschaftliche Fassung der Theorie eines wandernden Bildgedächtnisses. Baudrillard, Jean, Die Illusion und die Virtualität, Wabern-Bern 1994. Erläuterung der Theorie der Simulation im Verhältnis zur Illusion. Bolz, Norbert / Kittler, Friedrich / Tholen, Christoph (Hrsg.), Computer als Medium, München 1994. Frühe Studie über Computer und Mediatisierung. Mitchel, William J. Thomas, Picture Theorie, Chicago 1994. Versuch, analog zum liguistic turn in der Sprachwissenschaft eine ähnliche Wende für die Bildwissenschaften einzuleiten. Kittler, Friedrich A., Aufschreibsysteme 1800–1900, München 1995. Technologisch orientierte Medientheorie, die die Entwicklung vom Buch zu den Medienverbünden des frühen 20. und denjenigen des digitalen Zeitalters beschreibt. Kreimeier, Klaus, Lob des Fernsehens, München 1995. Differenzierte Texte zu den Möglichkeiten des Fernsehens. Crary, Jonathan, Techniken des Beobachters, Dresden und Basel 1996. Studie zum Verlust des Verhältnisses von Subjekt und Objekt in den artifiziellen Beobachtungstechniken um 1830. Debord, Guy, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996. Situationistische Programmschrift zur szenographischen Tendenz des modernen Kapitalismus. Flusser, Vilém, Kommunikologie, Schriften, Bd. 4, hrsg. v. Stefan Bollmann u. Edith Flusser, Mannheim 1996. Flusser analysiert die menschliche Kommunikation vom Amphitheater bis zu heutigen Formen der Massenmedien und des Alltags; besonders interessieren ihn Phänomene der Telematik.
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Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen 1996. Systemtheoretische Beschreibung der Möglichkeiten und Grenzen der Medien. Virilio, Paul, Rasender Stillstand, Frankfurt a. M. 1997. Kritik der Beschleunigungstendenzen der Medien. Konersmann, Ralf, Kritik des Sehens, Leipzig 1997. Kommentierte Textsammlung mit Materialien zur Geschichte des Sehens von Platon bis zur Gegenwart. Lippe, Rudolf zur, Neue Betrachtung der Wirklichkeit. Wahnsystem Realität, Hamburg 1997. Kritik der Dichotomie von Realität und Virtualität. Wiesing, Lambert, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek 1997. Phänomenologische Untersuchung zum Widerspruch von Präsenz und Absenz im Bild. Belting, Hans / Haustein, Lydia (Hg.), Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München 1998. Anthropologischer und postkolonialer Zugang zum Bild nach dem verkündeten Ende der eurozentrischen Kunstgeschichte. Vattimo, Gianni / Welsch, Wolfgang (Hrsg.), Medien-Welten. Wirklichkeiten, München 1998. Textsammlung zu den Grenzen und Möglichkeiten der Medienrealitäten. Sennett, Richard, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1998. Bedingungen bürgerlicher Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999. Mediale Gedächtnistheorie aus der Perspektive eines systemtheoretischen Ägyptologen. Nach Erläuterung der Methode im zweiten Teil Fallstudien aus dem alten Ägypten, Israel und Griechenland.
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Wolfgang Bock
Hettche, Thomas, Animationen, Köln 1999. Experimentelle Erzähltechniken im Übergang vom Wort- zum Bildmedium, auch als Sozialgeschichte der Moderne und ihrer Anfänge in Venedig; klug erzählt im Zwischenraum von Medienwissenschaft und Literatur. Pias, Claus / Vogl, Joseph / Engell, Lorenz, Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999. Anthologie wichtiger Texte zur Medientheorie. Ramonet, Ignacio, Die Kommunikationsfalle. Macht und Mythen der Medien, Zürich 1999. Untersuchung über die Einflussnahme der Nachrichtenproduktion auf die Informationsstruktur. Belting, Hans, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2000. Materialreiche Erläuterung der These vom Ende der Kunstgeschichte: Verkennung des Bildcharakters durch die Religion und durch die historisch sich anschließende ästhetische Betrachtung. Groys, Boris, Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000. Eine Verortung der Medien im Zusammenhang von Georges Batailles und Marcel Mauss’ Theorien über Verschwendung und Gabe. Pross, Harry, Der Mensch im Mediennetz. Orientierung in der Vielfalt, München 2000. Ausblick auf politische und technische Entwicklungen der Medien vom ehemaligen Chefredakteur von Radio Bremen. Kohrt, Manfred / Kucharczik, Kerstin, „Die Wurzeln des Strukturalismus in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts“, Auroux, Sylvain / Koerner, Konrad / Niederehe, Hans-Josef / Versteegh, Kees (Hrsg.), History of the language Sciences, Bd. 2, Berlin, New York 2001, S. 1719–1735. Boehm, Gottfried (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 2001. Textsammlung zur ikonologischen Wende (iconic turn) in den Bildwissenschaften.
Medientheorie
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Bock, Wolfgang, Bild Schrift Cyberspace. Grundkurs Medienwissen, Bielefeld 2002. Kritische Mediengeschichte als emblematisches Verhältnis von Bild, Text und Rahmung; erster Teil: Von der Bilderschrift zur Photographie. Crary, Jonathan, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002. Untersuchung des allgemeinen Aufmerksamkeitsdispositivs in der Physiologie und der Kunst um 1875. Dewitz, Bodo von / Nekes, Werner, „Ich sehe was, was Du nicht siehst.“ Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Göttingen 2002. Umfassender Ausstellungskatalog zur Vorgeschichte digitaler Medien in analoger Technik. Lovink, Geert / Schultz, Pit, Netzkritik. Materialien zur Internetdebatte, Mannheim 2002. Kritische Texte zur Einschätzung des Mediums Internet. Rancière, Jacques, Das Unvernehmen, Frankfurt a. M. 2002. Kritische Darstellung der Medienverhältnisse in der ‚konsensualen Demokratie‘. Zielinski, Siegfried, Archäologie der Medien, Reinbek 2002. Elemente einer Medien-An-Archäologie, die jeweils die vergessenen bildkonstituierenden Momente in den Blick zu nehmen versucht. Wentscher, Herbert, Vor dem Schirm, Freiburg 2002. Materialreiche Geschichte des Fernsehschirms und seiner frühen Formen, die auch gestalterisch überzeugt. Chomsky, Noam, Media Control. Wie die Medien uns manipulieren, Hamburg, Wien 2003. Der US-amerikanische Linguist formuliert eine radikale politische Kritik der Medienstruktur. Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003. Studie über die Beziehung von Erinnerungstechniken und Medien in Literatur und Kunst.
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Wolfgang Bock
Türcke, Christoph, „Hypertext. Philosophische Kolumne“, in: Merkur, Heft 658, Februar 2004, S. 144–149. Kritik einer Dichotomisierung von diskursiven und deskriptiven Möglichkeiten der Lektüre. Türcke, Christoph, Vom Kainszeichen zum genetischen Code, München 2005. Geschichte der Schriftentwicklung von der Antike bis heute mit aktualisierendem Gestus. Spielmann, Yvonne, Video. Das reflektive Medium, Frankfurt a. M. 2005. Grundlegende Darstellung der Möglichkeiten des Mediums Video. Bock, Wolfgang, Medienpassagen. Der Film im Übergang in eine neue Medienkonstellation. Bild – Schrift – Cyberspace II, Bielefeld 2006. Faulstich, Werner, Mediengeschichte 1 und 2, Stuttgart 2006. Medienhistorischer Überblick. Schaar, Peter, Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in die Überwachungsgesellschaft, München 2007. Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung verfasst eine nüchterne Bilanz der aktuellen Entwicklung zum Überwachungsstaat. Agamben, Giorgio, Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin 2008. Film als ästhetische Form im Übergang von der analogen zur digitalen Technik.
Mentalitätengeschichte
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Mentalitätengeschichte von B IRGIT N ÜBEL
1. Definition Mentalitätengeschichte ist ein Konzept der französischen Historiographie, das auf die von Lucien Febvre und Marc Bloch 1929 gegründete Zeitschrift Annales zurückgeht. Das interdisziplinär angelegte Forschungsprogramm stellt in Abwendung von a) der traditionellen Ereignisgeschichte, b) der Ideen- bzw. Geistesgeschichte sowie c) dem Basis-Überbau-Theorem des historischen Materialismus die Menschen als Kollektive in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen in den Mittelpunkt. Diese werden nicht (ausschließlich) als politisch Handelnde (im Sinne der Politikgeschichte) oder Denkende (im Sinne der Ideengeschichte), sondern vielmehr als Denkende, Fühlende, Meinende und Vorstellende in langfristigen Strukturen bzw. Beobachtungsperspektiven beschrieben. Das Mentalitäts-Konzept wird auf einer ‚dritten Ebene‘ zwischen der Ebene der historischen Faktizität vergangener Kulturen (Epochen, Gesellschaften bzw. Gemeinschaften und Gruppen) einerseits und der Ebene der kognitiven und emotionalen Strukturen, den kollektiven Vorstellungen und dem Verhalten der Menschen andererseits verortet.
2. Beschreibung 2.1 Zentrale Fragestellungen, Prämissen und Termini Über nichts herrscht in Bezug auf die Mentalitäts- bzw. Mentalitätengeschichte so viel Einmütigkeit wie hinsichtlich der Feststellung, dass deren Gegenstand, also die ‚Mentalität(en)‘, sich bislang einer allgemein akzeptierten definitorischen Bestimmung entzogen habe.1 Der 1982 er1
Vgl. Tellenbach, Gerd, „Mentalität“, in: Erich Hassinger / J. Heinz Müller (Hrsg.), Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag, Ber-
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Birgit Nübel
schienene dritte Band des Wörterbuchs Geschichtliche Grundbegriffe enthält kein entsprechendes Lemma.2 Im Deutschen ist das Wort ‚Mentalität‘, das in der Alltagssprache vielfach Verwendung findet, als Entlehnung aus dem Französischen kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges nachzuweisen.3 Das Adjektiv ‚mental‘, um die Mitte des 14. Jahrhunderts ins Französische übernommen, wird um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Ausdruck der französischen Umgangssprache, der – im Unterschied zum Englischen – mehr affektive als kognitive oder intellektuelle Konnotationen besitzt. Das Substantiv ‚mentalité‘ leitet sich allerdings nicht unmittelbar von lateinisch ‚mens‘ bzw. ‚mentis‘ (Sinnesart, Denkart, Gemütsart) ab, sondern kommt aus der englischen Philosophie des 17. Jahrhunderts. Ende des 19. Jahrhunderts wird ‚mentalité‘ im Kontext der Dreyfus-Affäre zu einem Kampfbegriff der beiden politisch-intellektuellen Lager und von dort ins Deutsche übernommen. Parallel hierzu findet um 1900 ‚mentalité‘ auch als wissenschaft-
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lin 1974, S. 11–30; Sellin, Volker, „Mentalität und Mentalitätsgeschichte“, in: Historische Zeitschrift, 241/1985, 1, S. 555–598; Raulff, Ulrich, „Mentalitäten-Geschichte“, in: hrsg. v. dems., Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 7–17; Riecks, Annette, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht, Altenberge 1989. Vgl. Brunner, Otto / Conze, Werner / Kosselleck, Reinhart (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997; Dinzelbacher, Peter, „Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte“, in: hrsg. v. dems., Europäische Mentalitätengeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. XV–XXXVII, hier S. XVII. Vgl. Tellenbach, „Mentalität“; Sellin, „Mentalität und Mentalitätsgeschichte“; ders., „Mentalitäten in der Sozialgeschichte“, in: Wolfgang Schieder / Volker Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 3: Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, Göttingen 1987; Theel, Robert, „‚Die Maschine hat den Helden getötet‘. Beobachtungen zu direkten und indirekten Verwendungen des Mentalitätsbegriffs in fiktionalen und essayistischen Texten vor und während des 1. Weltkrieges im Hinblick auf den Heroismusbegriff (Nowak, Soyka, Kraus, Unruh, Marinetti, Rilke)“, in: Krieg und Literatur, 5/1993, S. 97–118; zum Folgenden auch Le Goff, Jacqes, „Eine mehrdeutige Geschichte“, in: Raulff, Mentalitäten-Geschichte, S. 18–32, hier S. 23 f.; Raulff, Ulrich, „Mentalitäten-Geschichte“, S. 9; ders., „Die Geburt eines Begriffs. Reden von ‚Mentalität‘ zur Zeit der Affäre Dreyfus“, in: hrsg. v. dems. Mentalitäten-Geschichte, S. 50–68, hier S. 59; Jöckel, Sabine, „Die ‚histoire des mentalités‘: Baustein einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 11/1987, S. 146–173; Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 82. u. 101; Oexle, Otto Gerhard, Art „Mentalitätsgeschichte“, in: Harald Fricke u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 566–569.
Mentalitätengeschichte
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licher Begriff in der Soziologie Émile Durkheims Verwendung. In Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1920/21) wird ‚mentalité‘ als zeitgenössisches Modewort thematisiert, als „un mot nouveau pour exprimer un tel ‚genre d’esprit‘“, als „le fin du fin et comme on dit, le ‚dernier cri‘“.4 Die Spannung zwischen der Alltagsbedeutung des komplexen laientheoretischen Konzeptes5 ‚mentalité‘/Mentalität6 und seinem wissenschaftlichen Gebrauch7 besteht bis heute fort und trägt mit zu den Schwierigkeiten der begrifflichen Klärung des Gegenstandes der Mentalitätengeschichte bei. In Bezug auf den Terminus ‚Mentalitätengeschichte‘ (im Deutschen meist im Singular ‚Mentalitätsgeschichte‘) von französisch ‚histoire des mentalités‘ (im Plural) fehlt eine anerkannte Definition.8 Nach einem programmatischen Lexikonartikel Robert Mandrous setzt sich „[d]ie Mentalitätsgeschichte […] die Rekonstituierung der Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und Arten des Schwei4
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Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu. Texte établi et presenté par Pierre Clarac et André Ferré. II: Le côté de Guermantes, Paris: Gallimard 1954, S. 237. Vgl. Werlen, Erika, Sprache, Kommunikationskultur und Mentalität. Zur sozio- und kontaktlinguistischen Theoriebildung und Methodologie, Tübingen 1998, S. 79; Sellin, „Mentalität in der Sozialgeschichte“, S. 559; Graus, Frantiˇsek, „Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, in: hrsg. v. dems., Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S. 9–48, hier S. 10. Vgl. zur semantischen Differenz von franz. ‚mentalité‘ und dt. ‚Mentalität‘ Hermanns, Fritz, „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik“, in: Andreas Gardt / Klaus J. Mattheier / Oskar Reichmann (Hrsg.), Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen 1995, S. 69–101, hier S. 73–75. Vgl. Sellin, „Mentalität in der Sozialgeschichte“, S. 558. Der in übersetzerischer wie inhaltlicher Hinsicht sinnvolle Plural hat sich im Deutschen bislang nicht durchsetzen können; vgl. jedoch Raulff, Ulrich (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987; Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera, „Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 131–153; Raphael, Lutz, Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994; Wunder, Heide, „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a. M. 1995, S. 65–86; Daniel, Ute, „Die Annales, Mentalitätengeschichte“, in: dies., Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4. verb. und erg. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 221–233; Nünning, Ansgar, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis. Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft“, in: hrsg. v. dems. u. a., Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, 4., erw. Aufl., Trier 2004, S. 173–198.
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gens zum Ziel, in denen sich die Weltanschauungen und kollektiven Sensibilitäten niederschlagen; Grundelemente dieser Forschungen sind Vorstellungen und Bilder, Mythen und Werte, die von Gruppen oder der Gesamtgesellschaft anerkannt und ertragen werden und die Inhalte der kollektiven Psychologien bilden.“9 Jacques Le Goff beginnt seine „Ursprungslegende“10 Les mentalités. Une histoire ambigue (1974) mit den folgenden Überlegungen: „Für den heutigen Historiker ist der Begriff der Mentalität noch neu und schon abgegriffen. Man spricht viel von der Geschichte der Mentalitäten und hat doch wenig überzeugende Beispiele dafür erbracht.“ Ausgehend von der Frage, „ob der Ausdruck überhaupt eine wissenschaftliche Realität abdeckt, ob er begrifflich kohärent und epistemologisch tauglich ist“, sieht Le Goff den „Reiz“ der Mentalitätengeschichte gerade in ihrer „Unschärfe“11 und ihre Innovationskraft in der „radikale[n] Wendung des Blicks“.12 Die ‚histoire des mentalités‘ wird übereinstimmend als ‚Erfolgsgeschichte‘ gelesen, wobei dieser Erfolg nicht zuletzt auf der Offenheit, ja Vagheit dessen, was Mentalität meint, zu beruhen scheint.13 Als kleinster gemeinsamer Nenner ist der folgende Merkmalskatalog auszumachen:14 Träger von Mentalitäten sind Kollektive (‚Kollektivität‘). Mentalitäten haben kognitive, affektive und ethische Dimensionen (‚Immaterialität‘). Mentalitäten haben handlungsleitende Komponenten, die implizit bzw. prä-reflexiv sind (‚Prä-Reflexivität‘). Mentalitäten sind lang- und überdauernde geistig-seelische Haltungen (‚Perseveranz‘). Mentalitäten sind zwischen gesellschaftlichen, historisch sich wandelnden Strukturen zu verorten (‚3. Ebene‘). 9
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Mandrou, Robert, Art. „Histoire/l’histoire des mentalités“, in: Encyclopedia Universalis, 9/1971, S. 436–438, hier S. 436; zit. nach Schöttler, Peter, „Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der ‚dritten Ebene‘“, in: Alf Lüdtke (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M., New York 1989, S. 85–136, hier S. 87 f. Raulff, „Die Geburt eines Begriffs“, S. 50, Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 9. Le Goff, „Eine mehrdeutige Geschichte“, S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. Raulff, Ulrich, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie, Heidelberg 1986, S. 145–166, hier S. 147. Vgl. Werlen, Sprache, Kommunikationskultur und Mentalität, S. 76.
Mentalitätengeschichte
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Allerdings bleibt nicht nur das Verhältnis der Mentalität(en) zu den Gefühlen, Gedanken und Träumen der Menschen weitgehend unbestimmt. Auch das Verhältnis der Mentalität(en) als „dritte[r] Ebene“ (Ernest Labrousse)15 zwischen den ‚objektiven‘ soziohistorischen Gegebenheiten einerseits und dem konkreten Verhalten der Menschen andererseits ist strittig.16 Ulrich Raulffs Bestimmung von ‚Mentalitäten‘ ist in diesem Kontext zentral: „Mentalitäten sind […] nicht nur Vorstellungen, Einstellungen und evtl. Regeln, sie sind zuletzt auch gefühlsmäßig getönte Orientierungen; zugleich sind sie die Matrices, die das Gefühl erst in seine (erkennbaren, benennbaren) Bahnen lenken. Mentalitäten umschreiben kognitive, ethische und affektive Dispositionen“.17 ‚Mentalität‘ wird hier nicht inhaltlich, sondern strukturell, als Matrix bzw. Disposition konzeptualisiert. Ansgar Nünning hat auf dieser Grundlage das Forschungspotential der Mentalitätengeschichte in die Literatur- und Kulturwissenschaft überführt. Mentalitätengeschichte untersucht demnach: „Prozesse kultureller Sinngebung, Selbst- und Weltbilder vergangener Epochen und die historische Variabilität von Einstellungen, Denkweisen, Kollektivvorstellungen und Gefühlen. Das Hauptaugenmerk der Mentalitätengeschichte gilt der kollektiven Wirklichkeitserfahrung von Menschen, der Sicht, die die historisch Handelnden von sich und der Welt hatten, dem jeweiligen Wissenstand einer Epoche, den handlungsbegleitenden Werten und Normen sowie den nicht 15 16
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Vgl. Schöttler, „Mentalitäten, Ideologien, Diskurse“, S. 85. Vgl. Dinzelbacher, Peter, Art. „Mentalität“, in: hrsg. v. dems., Sachwörterbuch der Mediävistik, Stuttgart 1992, S. 521–524, hier S. 521, Dinzelbacher fasst unter ‚Mentalität‘ das „Ensemble der Denk-, Empfindungs- u. Verhaltensweisen sowie der Denku. Vorstellungsinhalte einer Gruppe zu einem best. Zeitpunkt“ (Hervorhebung v. BN); Sellin („Mentalitäten in der Sozialgeschichte“, S. 103) spricht von Mentalitäten als „Verhaltensdispositionen“; nach Ingrid Gilcher Holthey („Plädoyer für eine dynamische Mentalitätengeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 3/1988, 24, S. 476–497, hier S. 488) strukturieren Mentalitäten „Handeln, aber sie determinieren es nicht“; vgl. auch Kuhlemann, FrankMichael, „Mentalitätsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der Religion im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrisch Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 182–211, hier S. 208. Raulff, „Mentalitäten-Geschichte“, S. 10 (Hervorhebungen v. BN); vgl. schon Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932, S. 77; zit. nach Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 329.
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explizit formulierten und reflektierten Denk- und Gefühlsstrukturen.“18 Die Selbstbezeichnung ‚Mentalitätengeschichte‘ haben Lucien Febvre und Marc Bloch, die als Begründer des neuen Forschungsparadigmas gelten, selbst nicht verwendet.19 Die Bezeichnung ‚histoire des mentalités‘ geht vielmehr auf den gleichnamigen Aufsatz Georges Dubys aus dem Jahr 1961 zurück.20 Seit den 1970er-Jahren bevorzugte dieser allerdings den Ausdruck ‚histoire des idéologies‘ (‚Geschichte der Ideologien‘) gegenüber dem der ‚histoire des mentalités‘, gab aber auch diesen Terminus wieder auf zugunsten des Ausdrucks ‚histoire de l’imaginaire‘ (‚Geschichte des Imaginären‘).21 Jacques Le Goff konstatierte 1979 die „Entwicklung der histoire française des mentalités in Richtung auf eine histoire de l’idéologique, de l’imaginaire ou du symbolique“,22 wobei aber das Verhältnis von Mentalität und Ideologie problematisch bleibt.23 Die Bezeichnung ‚histoire de l’imaginaire‘ bringt zum Ausdruck, dass die Menschen „ihr Verhalten nicht nach den realen Gegebenheiten aus[richten], sondern nach dem Bild, das sie sich von ihnen machen.“24 Gegenstand der Mentalitätengeschichte im Sinne einer ‚histoire imaginaire‘ ist demnach „das Bild, das eine Gesellschaft von sich selbst besitzt und das ihr als gesellschaftliche Realität
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Nünning, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis“, S. 183. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 103. Vgl. Duby, Georges, „L’histoire des mentalités“, in: Charles Samarand (Hrsg.), L’histoire et ses méthodes, Paris 1961, S. 927–966; Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 340. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 86. Vgl. Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 152. Vgl. Dauer, Holger, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller. Eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Interpretation populärdramatischer Texte, Tübingen 1998, S. 125. Die französische Mentalitätengeschichte habe es, so Raulffs („Mentalitäten-Geschichte“, S. 12), „nie konsequent unternommen, ihren begriffslogischen Ort zwischen politischnoologischen (‚Ideologie‘) und sozialpsychologischen Begriffen (‚kollektives Unbewußtes‘) zu klären“. Kontrovers diskutiert worden ist vor allem die Frage, ob der Mentalitätsbegriff den der Ideologie inkludiere (vgl. Michel Vovelle: Idéologies et mentalités, Paris 1982, S. 13 f.; Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 86 f.) oder umgekehrt (vgl. Lenk, Kurt, Art. „Mentalität“, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2, neu bearbeitete u. erw. Ausg., Stuttgart 1969, S. 689–691, hier S. 690 f.). Vgl. Röcke, Werner, „Mentalitätengeschichte – ‚New Historicism‘. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik“, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 31/1996, 2, S. 21–37, hier S. 26.
Mentalitätengeschichte
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gilt“.25 Le Goffs Programm einer Geschichte des Imaginären und Roger Chartiers ‚Geschichte der Repräsentationen‘26 erweisen sich für eine kultur- bzw. mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Literaturwissenschaft als methodisch weiterführender als das Programm der Sozialgeschichte, als deren Fortsetzung bzw. Erweiterung die Mentalitätengeschichte in der deutschen Geschichts- wie Literaturwissenschaft zunächst rezipiert worden ist.27 2.2 Analyseverfahren und Anwendungsbereiche Hagen Schulze zufolge konstituiert sich die „Einheit der französischen Mentalitätshistoriographie“ weniger über die Definition ihres Gegenstandes als über einen „Diskurs über die Methoden“.28 Den Mentalitätenhistorikern, denen „bis heute eine zusammenhängende Behandlung ihrer Methodik und eine Definition ihrer Geschichtstheorie(n)“29 fehle, gelte „Methodenpluralismus als methodisches Prinzip“.30 Die Einschätzung, dass es ausschließlich materiale Arbeiten und Fallstudien gebe,31 wird allerdings von Schöttler revidiert: Febvre und Bloch hätten „in ihrem umfangreichen methodologischen Œuvre das (damals) Nötige gesagt: problemorientierte Geschichtsschreibung ja, aber keine Methodendebatten à l’allemande“.32 Kennzeichnend für die Mentalitätengeschichte französischer Provenienz ist eine „Orientierung auf konkrete Forschung“33 und damit ver25
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Schulze, Hagen, „Mentalitätsgeschichte – Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 12/1985, 36, S. 247–270, hier S. 259. Oexle, „Mentalitätsgeschichte“, S. 568; vgl. Chartier, Roger, „Die Welt als Repräsentation“ (1989), in: Matthias Middell / Steffen Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 320–347. Vgl. Röcke, Werner, „Literaturgeschichte – Mentalitätengeschichte“, in: Helmut Brackert / Jörn Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1992, S. 639–649. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 261. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 59. Ebd., S. 36. Vgl. Raulff, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, S. 147. Schöttler, Peter, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, in: Middell / Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte, S. 40–61, hier S. 51. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 59.
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bunden die Ablehnung von Theoriediskussionen. Grundlage der angewandten und das heißt vor allem impliziten und nicht expliziten Methodologie der Mentalitätengeschichte ist das Prinzip der Interdisziplinarität. Le Goff spricht 1974 von einer „Kreuzungsgeschichte“ (‚concept carrefour‘) der ‚histoire des mentalités‘ im „Austausch mit anderen Humanwissenschaften“.34 Die angestrebte Erneuerung der Geschichtswie Sozialwissenschaft als ‚nouvelle histoire‘ zielte auf eine ‚histoire totale‘, die mittels einer Synthese verschiedenster Wissenschaftsgebiete gelingen sollte: Geschichtswissenschaft und Soziologie, Linguistik und Anthropologie, Ethnologie und Psychologie, Geographie und Medizin – diese und andere Bereiche vermögen nach Bloch in ihrer Gesamtheit die spezifische mentale Atmosphäre einer Epoche, kollektiv wirkende Anschauungen und emotionale Grundmuster zu rekonstruieren. Der für die Mentalitätengeschichte konstitutive Begriff der ‚histoire totale‘ meint daher nicht notwendig den Anspruch auf die Rekonstruktion einer ‚allumfassenden‘ Totalität geschichtlichen Lebens auf der Objektebene, sondern den interdisziplinären Ansatz: „kein Aspekt menschlichen Denkens, Sprechens und Handelns [wird] von den anderen isoliert, sondern im Gegenteil auf sie bezogen“.35 Methodologisch grundlegend ist weiterhin das gegen die ‚histoire événementielle‘ (‚Ereignisgeschichte‘), ‚histoire positiviste‘ (‚positivistische Geschichte‘) sowie ‚histoire historisante‘ (historisierende Geschichte) gerichtete Konzept einer ‚histoire-problème‘ (‚Problem-Geschichte‘).36 Febvre entwirft in Face au vent (1930) ein Bild vom Historiker als Lumpen- bzw. Faktensammler, der jedoch nicht „auf gut Glück“, sondern „mit einer guten Hypothese im Kopf“ vorzugehen habe: „Sie mögen uns eine Geschichte geben, die […] problemorientiert ist.“37 Doch es bleibt bei dem Befund: Es gibt keine verbindliche Methode der Mentalitätengeschichte, sondern sowohl einen Wechsel der Metho34
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Le Goff, „Eine mehrdeutige Geschichte“, S. 18 f.; vgl. Röcke, „Mentalitätengeschichte – ‚New Historicism‘“, S. 22; Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 153. Vgl. Dinzelbacher, „Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte“, S. XVIII; sowie kritisch Röcke, Werner, „Mentalitäten-Geschichte und ‚histoire totale‘“. Zu Peter Dinzelbachers ‚Europäische Mentalitätengeschichte‘“, in: Zeitschrift für Germanistik, 5/1995, S. 117–122, hier S. 118; ders., „Mentalitätengeschichte – ‚New Historicism‘“, S. 27; Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 156. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 11 u. 66. Febvre, Lucien, „Face au vent. Manifeste des Annales nouvelles“, in: A.E.S.C, 1/1946, 1, S. 1–8 in: Middell / Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte, S. 69–82, hier S. 80.
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den – von der seriellen Methode Vovelles und Chaunus zur qualitativen Analyse Ariès’, Delumeaus, Dubys und Le Goffs – als auch eine Koexistenz derselben.38 Michel Vovelle, dessen beide Bücher über Sterberiten und Todesvorstellungen von Ulrich Raulff als „Paradebeispiele“ der ‚histoire serielle‘ angeführt werden,39 wollte Veränderungen im Denken und Fühlen messen:40 „Dem Mangel an schriftlichen Quellen, der sich einstellt, sobald der Historiker die Ebene der schreibenden und beschriebenen Eliten verläßt, um sich den Massen, den Unmündigen und den Schriftlosen zuzuwenden, wird durch „Mittel der Statistik und der historischen Demographie“ begegnet.41 Doch auch wenn es selbst in der Hochphase der Quantifizierung mit Mandrou, Le Goff und Duby „eine mächtige ‚qualitative‘ Gegenströmung“ gegeben haben mag,42 so bedeutet ein Vierteljahrhundert lang „das Signum Annales“ in erster Linie ‚un modèle d’histoire quantitative‘.43 Die quantitativen Verfahren der ‚histoire sérielle au troisième niveau‘ wurden zunächst im Bereich der Wirtschaftsgeschichte, der Sozialgeschichte und Bevölkerungsentwicklung, ab den 1960er-Jahren auch in dem der Kultur-, Religions- und Mentalitätengeschichte angewandt.44 „Mit den Pfarr-Registern, die oft seit dem 16. Jahrhundert alle örtlichen Eheschließungen, Geburten und Beerdigungen namentlich verzeichnen“, hat die ‚histoire serielle‘ „die sozial wohl repräsentativste Primärquelle Alteuropas gefunden; mit Hilfe der Methode der Familienrekonstitution konnte sie die durchschnittliche Entwicklung von Heiratsalter, Fertilität, Kindersterblichkeit, Geburtenabständen, Lebenserwartungen über Jahrhunderte hinweg […] verfolgen.“45 38 39 40 41 42
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Vgl. Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 156. Vgl. Raulff, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, S. 160. Vgl. Burke, Peter, Offene Geschichte. Die Schule der ‚Annales‘, aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Berlin 1991, S. 79. Raulff, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, S. 155. Vgl. Honegger, Claudia, „Geschichte im Entstehen. Notizen zum Werdegang der ‚Annales‘“, in: hrsg. v. ders., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977, S. 7–44, hier S. 31. Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 249. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 57. Reichardt, Rolf, „‚Histoire des Mentalités‘. Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 3/1978, S. 130–166, hier S. 138; ebd., S. 151; Wunder, „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“, S. 76.
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Weiterhin umfassen die Quellenserien der französischen Mentalitätshistoriker Messkataloge, Inventarslisten, Marktberichte, Handelsverträge, Notariatsakten, Leichenpredigten, Visitationsprotokolle, Gebrauchsgegenstände, Zeugnisse der Architektur und der Bildenden Künste etc.46 Dabei konzentriert sich das Interesse auf die Verhörprotokolle der Inquisitionsverhandlungen und Hexenprozesse, Traumberichte, hagiographische Texte etc. Der Ausrichtung auf die tiefliegenden ‚structures mentales‘ (mentale Tiefenstrukturen) einer Gesellschaft entspricht ein zunehmendes Interesse für die Geschichte der Unterdrückten: der Frauen, der Jugend etc.47 Georges Duby verkündet schließlich Mitte der 1980er-Jahre im Hinblick auf die großen Erfolge der seriellen Historiographie: „Wir wissen jetzt, daß nicht alles quantifizierbar ist und daß eine Überfülle von zahlenmäßigen Präzisierungen täuschen kann.“48 Als allgemeine Übereinkunft innerhalb der Mentalitätengeschichte gilt jedoch, dass keine Quellengattung, mag sie auch noch so abwegig erscheinen, aus der historischen Betrachtung auszuschließen ist: „Alle Quellen sind repräsentativ“.49 Dabei stellen die literarischen und künstlerischen Zeugnisse laut Le Goff, der diese als Teil des Imaginären einer gesellschaftlichen Gruppe liest, die bevorzugte Quellenkategorie für die Mentalitätengeschichte dar.50 Ursula Peters weist allerdings darauf hin, 46
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Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 262; Simonis, Annette, Art. „Mentalität“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 2. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2001, S. 440 f., hier S. 440; Fauser, Markus, „Literarische Anthropologie“, in: ders., Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2006, S. 41–65, hier S. 43 u. a. Vgl. Peters, Ursula, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung“, in: Georg Stötzel (Hrsg.), Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, Teil II, Berlin 1985, S. 179–198, hier S. 182; Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 364. Duby, Georges, „Über einige Grundtendenzen der modernen französischen Geschichtswissenschaft“, aus dem Engl. v. Eva und Theodor Schieder, in: Historische Zeitschrift, 241/1985, S. 552; zit. nach Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 114. Duby, Georges / Lardreau, Guy, Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge, aus dem Franz. v. Wolfram Bayer, Frankfurt a. M. 1982, S. 65; zit. nach Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 115; vgl. Le Goff „Eine mehrdeutige Geschichte“, S. 26: „Mentalitätengeschichte zu treiben, heißt zunächst, ein beliebiges Dokument einer bestimmten Lektüre zu unterziehen. Für den Mentalitätenhistoriker ist alles Quelle.“ Vgl. ebd., S. 21; Dörner/Vogt, „Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, S. 138; Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 138.
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dass fiktionale Texte als Quellen, „die als besonders aussagekräftige Imaginationen des Verdrängten und […] Muster eines spontan-unkonventionellen Verhaltens herangezogen werden,“ eine durchaus „ambivalente Rolle“ spielen.51 Auch Jan-Dirk Müller äußert starke Bedenken gegenüber der Verwendung literarischer Quellen durch Sozialhistoriker, welche „der realgeschichtlichen Information zuliebe die literarischen Verfahren und fiktionalen Stilisierungen“ unberücksichtigt lassen,52 Literatur positivistisch an der ‚objektiven‘ Realität messen und auf ein „inhaltliches Substrat“ hin befragen.53 Der Status literarischer Fiktionen ist nicht als „Fehlerquelle“ auszuschalten, sondern vielmehr „epochenspezifisch zu den übrigen Ordnungen des Wissens zu bestimmen“.54 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive sind literarische Texte weder als unmittelbare Belege für Reales (historische Wirklichkeit) noch als ‚Abbilder‘ von Mentalitäten zu lesen.55 Fiktionale Texte können nicht „auf den Status bloßer Realitätsvermittlung“ reduziert werden, weder sind sie „als individualisierte[r] Ausdruck ‚objektiver‘ historischer Wirklichkeit zu sehen“,56 noch treten in literarischen Texten die Mentalitäten unmittelbar zu Tage. Für Werner Röcke sind Mentalitäten vielmehr über die „unterschiedlichsten Textfunktionen“ erkennbar: „z. B. in den Handlungsmöglichkeiten der literarischen Figuren, in den Erzählerkommentaren sowie in den Stilisierungen der dargestellten Wirklichkeit“.57 Roger
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Peters, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?“, S. 182. Vgl. Müller, Jan-Dirk, „Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur. Zu einigen neueren Forschungsansätzen“, in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Kontroversen, alte und neue Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 11: Wilhelm Vosskamp / Eberhard Lämmert (Hrsg.), Historische und aktuelle Konzepte der Literaturwissenschaft. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, Tübingen 1986, S. 56–66, hier S. 57; Oexle, „Mentalitätsgeschichte“, S. 568 f. Müller, „Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur“, S. 63. Ebd., S. 64 f. Vgl. Fauser, „Literarische Anthropologie“, S. 46. Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 135; vgl. Peters, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?“; Müller, „Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur“, S. 62 ff.; Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 172; Dörner/Vogt, „Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, S. 138. Röcke, „Literaturgeschichte – Mentalitätengeschichte“, S. 644; vgl. dagegen Graus („Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, S. 47 f.), der die „eigentliche Aufgabe der Mentalitätsforschung“ darin
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Chartier sei es zu verdanken, dass literarische Texte des Mittelalters „nicht mehr nur als Belege für Mentalitäten, die Geschichte des Körpers und der Affekte“ gelesen werden, „sondern als – in der Regel auch höchst widersprüchliche – ästhetische Konstrukte sui generis, die bestimmte Perspektiven auf historische Wandlungsprozesse ermöglichen, diese aber selbst nicht schlicht reproduzieren“.58 Für Ansgar Nünning stellt sich „die Frage, wie die Analyse des Zusammenhangs zwischen den medialen Formen, in denen sich Kultur manifestiert und beobachten lässt“ (also u. a. Literatur), „und dem Bündel von Wirklichkeitsvorstellungen und sozialen Praktiken, die unter dem Begriff ‚Mentalität‘ und ‚kulturelles Gedächtnis‘ subsumiert werden, methodisch zu bewerkstelligen ist.“59 Er stellt heraus, dass die „Konvergenzpunkte“ zwischen Kulturwissenschaft und Mentalitätengeschichte „nicht nur den Gegenstand, sondern auch den methodischen Zugang zu Quellen“ betreffen. In beiden Fällen gelte das Interesse weniger dem Aussagewert als vielmehr „der Frage, inwiefern kulturelle Dokumente Aufschluß über Einstellungen, Denkmuster, Wahrnehmungsstereotypen und kollektive psychische Dispositionen der jeweiligen Epoche geben.“60 Der kulturwissenschaftliche Ansatz stelle, so Nünning, einen geeigneten Rahmen bereit, um einerseits „literaturwissenschaftliche Methoden bei der Analyse von nicht-fiktionalen Textsorten bzw. Texten anzuwenden, die im Grenzbereich von Fiktion und Nicht-Fiktion angesiedelt sind“, und um andererseits Literatur „aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht zu analysieren“.61 Ziel einer solchen kulturwissenschaftlichen Textanalyse (Bildfeldforschung, Metaphorologie, Toposforschung, Narratologie) sei es, „über die Untersuchung der Poetik von Texten Einsicht in jene Konstruktionsmechanismen historischer Wirklichkeitsmodelle“ – also Mentalitäten – zu gewinnen.62
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sieht, von den literarisch stilisierten Zeugnissen aus „hinter die Fassade der Stilisierungen“ vorzudringen. Röcke, „Mentalitätengeschichte – ‚New Historicism‘“, S. 23; vgl. Chartier, Roger, „Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten“ (1982/86), in: Raulff (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte, S. 69–96, bes. 91 f. Nünning, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis“, S. 188. Ebd., S. 184. Ebd., S. 185 f. Ebd., S. 188, Hervorhebung v. B.N.
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3./4. Institutionsgeschichtliches/Publikationen Entstehungszeit und -kontext Die Mentalitätengeschichte, die in den 1970er-Jahren zu einer „Innovationsdomäne“63 und einem vorherrschenden Paradigma der französischen Historiographie wird, ist zwar nicht mit der Annales-Schule identisch, doch sind zum einen viele Vertreter der ‚histoire des mentalités‘ im Umkreis der Zeitschrift Annales anzusiedeln und zum anderen gehen wichtige Impulse, die in der Mentalitätengeschichtsschreibung der 1970er-Jahre wieder aufgenommen werden, auf die beiden Begründer und Herausgeber der Zeitschrift zurück. Vor 1929 und parallel zu den Forschungsprogrammen Febvres und Blochs kann von einer Mentalitätengeschichte ‚avant la lettre‘ gesprochen werden. Hierzu ist im 18. Jahrhundert neben Montesquieu und Vico64 nicht zuletzt auch Herder65 mit seinem Projekt einer Universalgeschichte der Menschheit zu zählen. Die Gründung der Zeitschrift Annales ist „im Ausgang der methodischen Kontroverse nach 1900 [anzusiedeln], in deren Verlauf um eine Neubestimmung der Geschichtswissenschaft, ihrer Methoden, Gegenstände, Ansprüche und ihrer Stellung im Gefüge der Sozialwissenschaft gestritten wurde.“66 Bereits Johan Huizingas Herbst des Mittelalters (1919) befasste sich mit kollektiven Einstellungen, der Geschichte der Gefühle, des Körpergefühls, der Träume und Visionen und ‚Denkformen‘.67 Max Webers Untersuchung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) wird von Sellin als „das berühmteste […] Beispiel […] deutscher Mentalitätsgeschichtsschreibung“ angeführt,68 und Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen (1919) enthält in Anknüpfung an Max Weber eine Theorie der Mentalitätengeschichte.69 Auch die Wissenssoziologie der 1920er63 64
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Middell, Matthias, „Die unendliche Geschichte“, in: Middell / Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte, S. 28. Burke, Peter, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, in: Raulff (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte, S. 127–145, hier S. 127. Raulff, „Mentalitäten-Geschichte“, S. 9. Middel, „Die unendliche Geschichte“, S. 7. Vgl. Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 128; Deutsch, Robert, „‚La Nouvelle Histoire‘ – Die Geschichte eines Erfolges“, in: Historische Zeitschrift, 233/1981, S. 107–129, hier S. 123. Sellin, „Mentalität und Mentalitätsgeschichte“, S. 597; vgl. auch Raulff, „Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, S. 158. Oexle, „Mentalitätsgeschichte“, S. 567.
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Jahre, vor allem die Arbeiten Karl Mannheims, weist viele Übereinstimmungen mit der Mentalitätengeschichte Blochs auf.70 Lucien Lévy-Bruhl schließlich war es, der in den 1920er-Jahren den Ausdruck ‚mentalité‘ populär machte, auch wenn Durkheim ihn schon vorher benutzt hatte. 1922 erschien La mentalité primitive. Lévy-Bruhl, der zwischen logischer und prälogischer Mentalität unterscheidet, gibt im Vorwort an, dass schon sein zwölf Jahre zuvor erschienenes Buch Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures unter diesem Titel erscheinen sollte.71 Zu nennen ist weiterhin die Kinderpsychologie Henri Wallons, der in La mentalité primitive et celle de l’enfant (1928) das kindliche Seelenleben in Analogie zu dem der Primitiven setzt.72 Zur sozialwissenschaftlichen Kategorie hat schließlich Theodor Geiger den Begriff Mentalität im Jahr 1932 erhoben. Seine Bestimmung von Mentalitäten als geistig-seelischen Dispositionen und seine Umschreibung von Ideologie (Kleidung) im Verhältnis zur Mentalität (Haut) findet sich auch heute noch in jedem deutschsprachigen Forschungsbeitrag zur Mentalitätengeschichte.73 Weiterhin wird Georges Lefebvres Studie zur Französischen Revolution La grande peur de 1789 (1932) zur Vorgeschichte der Mentalitätengeschichte gezählt, obwohl dieser selbst nicht zum Umkreis der Annales-Historiker gehörte.74 Diese kurze Skizzierung eines Traditions- bzw. zeitgenössischen Diskussionszusammenhangs zeigt die Eingebundenheit der beiden AnnalesHerausgeber in den wissenschaftlichen Diskurs ihrer Zeit. Der Paradigmenwechsel, den diese innerhalb der französischen Historiographie bewirkt haben, wird von Robert Deutsch auf die relative Autonomie zurückgeführt, die Febvre und Bloch gegenüber fachlichen Autoritäten und institutionellen Bindungen bewahrten.75 Während sich die AnnalesGründung als Alternativprogramm zur stark vom deutschen Historismus geprägten politischen Geschichtsschreibung der Sorbonne-Professoren verstand,76 verschwand in der deutschen Geschichtswissenschaft 70 71
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Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 141, Fn. 2. Vgl. Raulff, „Die Geburt eines Begriffs“, S. 60; Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 130; Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 122; Schöttler, „Mentalitäten, Ideologien, Diskurse“, S. 89. Vgl. Raulff, „Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, S. 145; Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 102. Vgl. Sellin, „Mentalitäten in der Sozialgeschichte“, S. 101; Werlen, Sprache, Kommunikationskultur und Mentalität, S. 76, Fn. 17. Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 250. Vgl. Deutsch, „‚La Nouvelle Histoire‘ – Die Geschichte eines Erfolges“, S. 119. Vgl. Honegger, „Geschichte im Entstehen“.
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nach dem ‚Lamprecht-Streit‘ (1893–1898)77 die Kulturgeschichte aus der institutionalisierten Fachgeschichte, und die Ansätze der historischen Kulturwissenschaft um 1900 stießen auf Ablehnung.78 Febvre und Bloch setzten sich auch in der antideutschen Abgrenzungsperiode der Annales mit der deutschen Geschichtswissenschaft auseinander, wobei die Abwendung vom etablierten deutschen Erbe die Rezeption der Außenseiter der etablierten Historiographie gerade nicht ausschloss.79 Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die deutschen Historiker, die durch den Zerfall des Wilhelminischen Reiches und der Weimarer Republik sowie den Untergang des Dritten Reiches verunsichert waren und auf den Dogmen des Historismus beharrten, einer „Mentalität der Résistance“ gegenüber.80 So führt Peter Schöttler die jahrzehntelang abwehrende Rezeption der Annales-Historiographie auf drei nicht aufgearbeitete Erfahrungen zurück: „1. den Lamprecht-Streit, 2. die Auseinandersetzung mit dem Marxismus und 3. die Nichtauseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.“81 Umstände der Etablierung und Durchsetzung: Repräsentanten und Schulen Die Mentalitätengeschichte läuft über Strecken mit der Geschichte der Annales parallel, ohne jedoch ausschließlich aus dieser hervorzugehen. Claudia Honegger stellt im Vorwort der von ihr herausgegebenen ersten deutschen Auswahlsammlung wichtiger Texte der Annales fest, dass es weder die französische Mentalitätengeschichte noch eine einheitliche Schule der Annales gibt. Einigkeit herrsche, so Honegger, allein in Bezug auf die Gründungsväter.82 Peter Burke bestätigt zwölf Jahre später diese 77
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Vgl. Honegger, „Geschichte im Entstehen“, S. 9; Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 47 f.; Schöttler, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, S. 44; Wunder, „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“, S. 70 f. Vgl. Oexle, „Mentalitätsgeschichte“, S. 568. Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 265; Schöttler, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, S. 49 f.; Deutsch, „‚La Nouvelle Histoire‘ – Die Geschichte eines Erfolges“, S. 119. Ebd., S. 120 f.; Bloch wurde als Jude und Widerstandskämpfer von den Deutschen ermordet, Maurice Halbwachs kam in Buchenwald um, Johan Huizinga starb an den Folgen seiner Geiselhaft im Jahr 1945 in Holland, Fernand Braudel war fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft. Schöttler, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, S. 52. Vgl. Honegger, „Geschichte im Entstehen“, S. 34; vgl. die Auflistung der ‚klassischen‘ bzw. prototypischen Werke der Mentalitätengeschichte bei Hermanns, „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“, S. 79; Schöttler, „Mentalitäten, Ideologien, Diskurse“, S. 120 f.
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Einschätzung: „Außenstehende bezeichnen diese Gruppe im allgemeinen als ‚ Annales-Schule‘ und betonen die Gemeinsamkeiten, während Insider die Existenz einer solchen Schule oft bestreiten und auf die individuellen Arbeitsweisen innerhalb dieser Gruppe hinweisen.“ Burke entwirft ein Bild von Zentrum und Peripherie: „Im Zentrum dieser Gruppe stehen Lucien Febvre, Marc Bloch, Fernand Braudel, Georges Duby, Jacques Le Goff und Emmanuel Le Roy Ladurie. Mehr am Rand stehen Ernest Labrousse, Pierre Vilar, Maurice Agulhon und Michel Vovelle, vier prominente Historiker, die sich wegen ihrer marxistischen Geschichtsauffassung – besonders ausgeprägt bei Vilar – außerhalb des inneren Kreises befinden. Ganz am Rande stehen Roland Mousnier und Michel Foucault“.83 Philippe Ariès, der in den 1960er-Jahren gemeinsam mit Robert Mandrou die Reihe Zivilisationen und Mentalitäten herausgab,84 der ‚Sonntagshistoriker‘ (‚histoiren de dimanche‘), der nach eigener Angabe zunächst überhaupt nichts mit der Annales-Bewegung zu tun hatte,85 bleibt hier ungenannt, obgleich mit der Übersetzung seiner Arbeiten über die Geschichte der Kindheit und des Todes86 die breitere Rezeption der Mentalitätengeschichte in Deutschland eingesetzt hat. Je nachdem, ob die ‚Vorgeschichte‘ mitgezählt wird oder nicht, wird die Geschichte der Annales-Bewegung in drei oder vier Phasen bzw. Generationen eingeteilt.87 1.) Die erste Generation (Febvre und Bloch): die Phase der Gründung: Die erste Phase von der Gründung der Annales 1929 bis zum Tod Marc Blochs im Jahr 1944 ist „die Zeit der ‚Gründerväter‘ mit der Zeitschrift als einziger Form der Institutionalisierung“.88 Nach der gemeinsamen Zeit von insgesamt 13 Jahren verließ Febvre 1933 Straßburg, um eine Professur am renommierten Collège de France anzutreten, während Bloch 1936 nach Paris ging, um den Lehrstuhl für Wirt83 84 85
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Burke, Offene Geschichte, S. 7. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. Ariès, Philippe, Un historien de dimanche, Paris 1980; Graus, „Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, S. 110, Fn. 7; Burke, Offene Geschichte, S. 71; Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 381. Vgl. Ariès, Philippe, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1961; ders., L’homme devant la mort, Paris 1977. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 33 f.; Middell, „Die unendliche Geschichte“, S. 17; Burke, Offene Geschichte, S. 8. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 34.
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schaftsgeschichte an der Sorbonne zu übernehmen.89 Diese Umzüge von der Peripherie Straßburg in das Zentrum Paris signalisieren nach Burke bereits den Erfolg der Annales-Bewegung. Febvre wird zum Präsidenten des Herausgebergremiums der interdisziplinären Encyclopédie française und die Zeitschrift Annales „allmählich der Mittelpunkt einer Historikerschule“.90 Nach dem Krieg wird Febvre eingeladen, an der École Pratique des Hautes Études mitzuwirken, er wird Präsident der Sixième Section sowie Direktor des Centre des Recherches Historiques. Febvre bringt seine Schüler und Freunde (Fernand Braudel, Charles Marazé, Robert Mandrou) in Schlüsselpositionen des Instituts,91 das „zu einer der einflussreichsten und finanzkräftigsten Institutionen des Pariser Wissenschaftsbetriebs“92 und zu „einem Zentrum der Geschichtsforschung in Frankreich“ wird.93 „Der Tod Blochs und der Ausgang des Zweiten Weltkriegs markieren“, so Honegger, einen Wendepunkt in der Geschichte der Annales. Eigentlich kann erst von dieser Zeit an von einer Art ‚Schulenbildung‘ gesprochen werden“.94 Als exemplarische Studien für die Mentalitätengeschichte dieser ersten Generation der Annales gelten Blochs Untersuchung Les rois thaumaturges (1924) und Febvres Rabelais-Studie zum Problem des Unglaubens im 16. Jahrhunderts Le problème de l’incroyance au XVIième siècle (1942). Bekannt wurde Bloch schließlich 1939 mit seiner zweibändigen Studie La société féodale. Bloch unternimmt in Die Feudalgesellschaft 95 den Versuch, das umfassende soziale Klima mittelalterlicher Gesellschaften zu rekonstruieren. Zugleich bemüht er sich um Klärung des Begriffs Feudalismus und befasst sich mit historischer Psychologie, „mit dem, was der Autor die ‚Formen des Fühlens und Denkens‘ nannte (façons de sentir et de penser).“96 Während des Zweiten Weltkrieges schreibt Febvre eine Reihe von Büchern und Aufsätzen über die Französische Revolution und die Reformation. Einige Studien, wie das 1928 erschienene Buch über Luther, 89
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Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 10; Burke, Offene Geschichte, S. 30. Ebd. Vgl. Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 35. Honegger, „Geschichte im Entstehen“, S. 7. Ebd., S. 20. Ebd., S. 18. Bloch, Marc, Die Feudalgesellschaft, aus dem Franz. übers. v. Eberhard Blohm, durchges. Neuausgabe, Stuttgart 1999. Burke, Offene Geschichte, S. 29.
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entwickeln „eine neue Form von Biographie und Ideengeschichte“,97 welche im Porträt des Individuums das Porträt einer ganzen Epoche zeichnet. 1941 entwirft Febvre in seinem Aufsatz über La sensibilité et l’histoire98 eine historische „Hierarchie der Sinne“.99 Er fordert Forschungen über die Geschichte der Gefühle.100 Die Erforschung des affektiven Lebens (‚vie affective‘) einer Epoche soll im Sinne der ‚histoire totale‘ zu der Analyse des Gefüges von sozialen Institutionen in ihrem Gesamtkontext führen.101 In Le problème de l’incroyance au XVIième siècle: la religion de Rabelais (1942) argumentierte Febvre auf der Grundlage philologischer Analysen und wortgeschichtlicher Beobachtungen,102 dass das ‚outillage mental‘ (‚geistige Handwerkszeug‘) dieser Epoche, die „geistigkulturelle Infrastruktur einer Zeit“103 („Vokabular, Syntax, stehende Redensarten, Raum- und Zeitkonzeptionen, logische Bezüge“),104 es nicht zuließen, die Existenz Gottes in Frage zu stellen.105 2.) Die zweite Generation (Fernand Braudel): die Phase der Etablierung: Die zweite Phase beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg und kann bis zum Ende der 1960er-Jahre als eine durch die Zeitschrift Annales, die VIe Section sowie Person und Werk Braudels gekennzeichnete Periode beschrieben werden. 1949 wurde Braudel Professor am Collège de France und neben Febvre der zweite Direktor des Centre des Recherches Historiques an der École des Hautes Études.106 Nach Febvres Tod im Jahr 1956 übernahm Braudel das Amt des Herausgebers der Annales und holte jüngere Historiker an die Zeitschrift, unter ihnen 97 98
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Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 13. Febvre, Lucien, „La sensibilité et l’histoire. Comment reconstituer la vie affective d’autrefois?“, in: Annales d’histoire sociale, 3/1941, S. 5–20; abgedr. in: Honegger, „Geschichte im Entstehen“, S. 313–335. Ebd., S. 14. Vgl. Febvre, Lucien, „Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen“ (1941), in: Honegger, „Geschichte im Entstehen“, S. 313–334, bes. 330 f. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 96. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 32 f. Reichardt, „‚Histoire des Mentalités‘“, S. 131. Le Goff, „Eine mehrdeutige Geschichte“, S. 28; Dörner/Vogt („Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, S 136) bezeichnen als outillage mentale die „im wesentlichen zeichenkonstituierte geistige Infrastruktur, in deren Rahmen sich Mentalitäten entwickeln (Sprache, Denkbilder, Symbole, Mythen etc.)“. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 32. Vgl. ebd., S. 47.
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Jacques Le Goff,107 der 1972 Präsident der Sixième Section und 1975 auch Präsident der neuen École des Hautes Études en Sciences Sociales wurde.108 Braudel unterscheidet in La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (1949), in deren Mittelpunkt nicht Einzelpersönlichkeiten oder Menschengruppen, sondern der Mittelmeerraum steht,109 drei Zeitrhythmen. 1.) Strukturebene (lange Dauer): Die ‚histoire de longue et très longue durée‘, d. i. die „quasi unbewegliche Geschichte, beinahe außerhalb der Zeit“,110 welche die Infrastruktur der Geschichte bildet (‚géohistorie‘). 2.) Konjunkturebene (Zeiten mittlerer Reichweite): Die ‚histoire lentement rythmée‘111 umfasst die Zeiten mittlerer Reichweite als die sich allmählich verändernde Geschichte der ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen im Rhythmus von Generationen und Jahrhunderten (‚soziale‘ Zeit).112 3.) Ereignisebene (kurze Zeit): Die ‚durée courte‘ bezeichnet die rasch verlaufende ‚histoire événementielle‘ (Ereignisgeschichte).113 Auch wenn es sich beim grundlegenden Beitrag Braudels zur ‚histoire structurale‘ (‚Strukturgeschichte‘) nicht um eine Mentalitätengeschichte im engeren Sinn handelt, so hat seine Darstellung eine Reihe von weiteren geohistorischen und regionalgeschichtlichen Untersuchungen initiiert. Nur hinsichtlich dieser zweiten Phase kann laut Burke im eigentlichen Sinn von einer Annales-Schule mit eigenen Begriffen (vor allem ‚structure‘ und ‚conjuncture‘) und eigenen Methoden (vor allem der seriellen Geschichte über lange Zeiträume) gesprochen werden. Lutz Raphael verlegt sogar die „Geburtsstunde der Mentalitätengeschichte“ auf „Braudels Strukturgeschichte der großen Zivilisations- und Wirtschaftsräume“.114 3.) Die dritte Generation (Jacques Le Goff, Georges Duby et al.): die Phase der ‚Zersplitterung‘: Erst Ende der sechziger, Anfang 107 108 109 110 111 112 113 114
Vgl. ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 69. Vgl. Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 110. Braudel, Vorwort zur ersten Auflage der Méditerranée; zit. nach Honegger „Geschichte im Entstehen“, S. 41. Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 111. Daniel, „Die Annales, Mentalitätengeschichte“, S. 223. Vgl. Peters, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte“, S. 180; Burke, Offene Geschichte, S. 40 f. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 355.
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der 1970er-Jahre entdeckten die Annales neuerlich die Mentalitäts-Thematik.115 ‚Mentalität‘ wird jetzt zum Leitbegriff.116 Die dritte Generation der Annales-Bewegung ist gekennzeichnet durch a) Polyzentrismus, b) die Wiederentdeckung der Mentalitätengeschichte bzw. die Ausweitung von Febvres Projekt zu den Themen Kindheit, Träume, Körper und Gerüche, c) eine Rückkehr zur Politik- und Ereignisgeschichte, d) die Weiterführung der quantitativen Methode (‚histoire serielle et quantitative‘) sowie e) die Abwendung von dieser.117 Themenfelder sind: Individuum, Familie, Sexualität, Liebe, Wahnsinn, Geschlecht, Geburt, Religiosität, Körper, Seele, Krankheit, Tod, Lebensalter, Ängste, Hoffnungen, Arbeit, Fest, Nahrungsmittel, Raum, Zeit, Geschichte und Natur.118 Vor allem die Arbeiten Jacques Le Goffs, Georges Dubys und Philippe Ariès’ stehen für die zentralen Themen der Mentalitätengeschichte und sind auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Hierzu trägt in115
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Vgl. Graus, „Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, S. 10, Fn. 7. Vgl. Daniel, „Die Annales, Mentalitätengeschichte“, S. 224. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 69. Vgl. Fauser, „Literarische Anthropologie“, S. 43; Deutsch, „‚La Nouvelle Histoire‘ – Die Geschichte eines Erfolges“, S. 125; Schöttler („Mentalitäten, Ideologien, Diskurse“, S. 120 f.) führt die folgenden Beispiele für mentalitätengeschichtliche Forschung an: Bloch, Marc, Les rois thaumaturges. Étude sur le charactère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre (1924), La société féodale (1939–40; dt. 1980); G. Lefebvre, La Grande Peur de Paris 1789 (1932); Febvre, Lucien, Le problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais (1942); Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit (1960; dt. 1975), Geschichte des Todes (1977; dt. 1980); Duby, Georges, Krieger und Bauern (1973; dt 1977), Der Sonntag von Bouvines (1973; dt. 1988), Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus (1978, dt. 1981); Le Goff, Jacques, Die Intellektuellen im Mittelalter (1957; dt. 1986), Für ein anderes Mittelalter (1977; dt. 1984), Die Geburt des Fegefeuers (1981; dt. 1984); Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisator 1294 bis 1324 (1975; dt. 1980), Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579–1580 (1978; dt. 1982); Delumeau, Jean, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts (1978; dt. 1989); Vovelle, Michel, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle (1973), Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten (1979, dt. 1982); Corbins, Alain, Pesthauch und Blütenduft. Kulturgeschichte des Geruchs (1982; dt. 1984); die fünfbändige, von Philippe Ariès und Georges Duby herausgegebene Geschichte des privaten Lebens (1985–1987, dt. 89–93) sowie die von Duby und Michelle Perrot herausgegebene Geschichte der Frauen (1993–1995); Raphael (Die Erben von Bloch und Febvre, S. 379) hält dagegen die Beiträge von Duby und Le Roy Ladurie, also die verlegerisch erfolgreichsten und publikumswirksamsten Veröffentlichungen der französischen Mentalitätengeschichte, nicht für typisch für die ‚nouvelle histoire‘.
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nerhalb Frankreichs nicht zuletzt die starke Medienpräsenz der Mentalitätshistoriker bei,119 denen es gelingt, auch ein Publikum außerhalb der Hörsäle zu erreichen. Patrick Hutton zufolge entsprach der „Kühnheit im Bereich der Praxis“ allerdings eine „vorsichtige Zurückhaltung im Bereich der Theorie“, denn keiner der Mentalitätshistoriker habe versucht, „von Febvres Programm ausgehend zu einer allgemeinen Kulturtheorie vorzustoßen“.120 War die Geschichte der Annales bislang vor allem eine „Geschichte der Männer“,121 so sind in der dritten Generation auch eine Reihe von Frauen zu nennen: Christiane Klapisch, Arlette Farge, Mona Ozouf und Michèle Perrot, die mit Georges Duby eine mehrbändige Geschichte der Frauen herausgegeben hat.122 Die Zeit der Mentalitätengeschichte im engeren Sinn geht mit einer Annäherung an die amerikanische Forschung einher, dies gilt für den Bereich der Psychohistorie,123 aber auch der Ethnologie und Anthropologie.124 Wissenschaftsinterne und -externe Förderer (Kritiker, Verlage, Zeitschriften etc.) Die Annales-Zeitschrift gab der Annales-Schule den Namen, „die ab 1947 an der École Pratique des Hautes Études in Paris auch einen institutionellen Rahmen fand“.125 Die beiden Herausgeber Marc Bloch und Lucien Febvre setzen ihrer Zeitschrift folgende Ziele:126 eine sektoriell nicht abgekapselte Wirtschafts- und Sozialgeschichte, keine Theorieund Methodendiskussion, sondern Vorlage der Ergebnisse empirischer Forschung sowie interdisziplinäre Zusammenarbeit. Bis Kriegsbeginn entwickeln sich die Annales zu „einer der bedeutendsten französischen und internationalen historischen Fachzeitschriften. Der Krieg zwingt
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Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 95; Brinker-von der Heyde, Claudia, „Mentalität, historische Anthropologie und Literatur. Zu Möglichkeiten und Grenzen der Interdisziplinarität in der Mediävistik“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, 12/2000, S. 65–81, hier S. 66. Hutton, Patrick H., „Die Geschichte der Mentalitäten. Eine andere Landkarte der Kulturgeschichte“, in: Ulrich Raulff (Hrsg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986, S. 103–131, hier S. 110. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 56. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 69. Vgl. Raulff, „Mentalitäten-Geschichte“, S. 13. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 70. Fauser, „Literarische Anthropologie“, S. 42. Vgl. Febvre, Lucien, „Vingt ans après“ (1949), in: Middell/Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte, S. 83.
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zu Titeländerungen und zur Einschränkung der Seitenzahl.“127 Ab 1946 nennt sich die Zeitschrift Annales. Economies. Sociétés. Civilisations (A.E.S.C.). Der Begriff ‚civilisation‘ bzw. ‚Kultur‘, der auch als Oberbegriff für den Gegenstandsbereich der Mentalitätengeschichte verstanden werden kann,128 sollte nach Duby das dritte Glied im Untertitel der Annales präzisieren.129 Auch wenn seit Gründung der Zeitschrift von den jeweiligen Herausgebern eine klare Internationalisierungs- und somit auch Expansionsstrategie verfolgt wurde, finden erst in den 1970er- und 1980er-Jahren, nachdem sich die Mentalitätengeschichte als ‚histoire au troisième niveau‘ innerhalb der Annales durchgesetzt hat, eine große Anzahl von internationalen Kongressen statt.130 Der 60. Geburtstag der Annales erlangt internationale Aufmerksamkeit.131 Neben den Schriftenreihen Histoires des mentalités und Civilisations et Mentalités erscheint seit 1982 die Zeitschrift Mentalities – mentalités (Hamilton/New Zealand).132 Die Historische Zeitschrift, das repräsentative Organ der deutschen Geschichtswissenschaft, verfügt seit 1980 über die Rubrik „Religions- und Kulturgeschichte, Mentalitäten.“133 In Deutschland verlagert sich das Interesse erst in den 1970er-Jahren auf die Alltags- und Mentalitätengeschichte. Mitte der 1980er-Jahre setzt eine verstärkte Rezeption des mentalitätsgeschichtlichen Forschungsansatzes134 mit stark mediävistischer und frühneuzeitlicher Akzentuierung ein.135 Eine Institutionalisierung der Mentalitätengeschichte hat sich allerdings bis heute nicht durchsetzen können.136 Umstände des ‚Niedergangs‘ und der ‚Ablösung‘ Während Annette Riecks in ihrem Forschungsbericht zur Annales-Bewegung davon ausgeht, „daß die Mentalitätsgeschichte noch im Entste127 128 129 130 131 132 133 134 135 136
Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 14. Vgl. Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 158, Fn. 56. Vgl. Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 104. Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 250. Vgl. Middell, „Die unendliche Geschichte“, S. 26. Vgl. Reichardt, „‚Histoire des Mentalités‘“, S. 136. Vgl. Sellin, „Mentalität und Mentalitätsgeschichte“, S. 557. Vgl. Peters, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?“. Vgl. Oexle, „Mentalitätsgeschichte“, S. 568. Vgl. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 353f.; nach Raphael haben „Medienglanz und internationale Ausstrahlung der Mentalitätenforschung“ der 1970erund -80er-Jahre „die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, daß eine breite wissenschaftliche Verankerung – gemessen an Lehrstühlen, Forschungsinstituten, Forschungsprojekten und Nachwuchs –“ auch in Frankreich nach wie vor fehle.
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hen begriffen ist“,137 konstatiert Peter Burke in seiner zwei Jahre später erschienenen Offenen Schule der ‚Annales‘ nach der Phase der ‚Zersplitterung‘ bereits das Ende der Annales-Bewegung: Einerseits entdecken die Mentalitätenhistoriker die Politik und Ereignisgeschichte wieder,138 andererseits gibt es viele Außenstehende, die von der Bewegung inspiriert wurden: „Die Bewegung löst sich auf, auch aufgrund ihres eigenen Erfolges.“139 Nach Peter Schöttler lässt sich der historiographische Standort der Annales seit den 1980er-Jahren kaum noch definieren.140 Diese Einschätzung korreliert mit der durch Le Goff und Duby um 1985 angeregten Verschiebung von einer ‚histoire des mentalités‘ zu einer ‚histoire de l’imaginaire‘ und Chartiers ‚Geschichte der Repräsentationen‘.141 Die Auseinandersetzung mit der Ethnologie, Kulturanthropologie wie der historischen Anthropologie durch die Annales-Historiker hat in der Rezeption durch die germanistische Literaturwissenschaft dazu geführt, die Mentalitätsforschung französischer Provenienz weitgehend mit historischer Anthropologieforschung gleichzusetzen.142 Die historische Anthropologie, die mittlerweile auch im deutschen Wissenschaftsbetrieb institutionell verankert ist,143 geht wiederum auf die französische Mentalitätengeschichte, die angelsächsische Kulturanthropologie und die philosophische Anthropologie deutscher Tradition sowie die in den 1980er-Jahren stark diskutierte Alltagsgeschichte zurück. Diese stellt laut Richard van Dülmen „den konkreten Menschen mit seinem Han137 138 139 140 141 142
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Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 123 f. Vgl. Burke, Offene Geschichte, S. 109; vgl. hierzu auch Raulff, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, 160. Burke, Offene Geschichte, S. 109. Schöttler, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, S. 48. Vgl. Oexle, „Mentalitätsgeschichte“, S. 568. Vgl. Deutsch, „‚La Nouvelle Histoire‘ – Die Geschichte eines Erfolges“, S. 125; Raulff, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, 159; ders., „Mentalitäten-Geschichte“, S. 8; Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 336; Brinker-von der Heyde, „Mentalität, historische Anthropologie und Literatur“, S. 72 u. 78; Jöckel („Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 152 f.) gibt zu bedenken, dass der Begriff ‚historische Anthropologie‘ „den Blick auf Ideen, Ideologien und ähnliche Gegenstände einer Mentalitätsgeschichte“ verstelle. Vgl. das Interdisziplinäre Zentrum für Historische Anthropologie an der FU Berlin, die Historische Anthropologie und Humanökologie an der Universität Göttingen, die Arbeitsstelle Historische Anthropologie an der Universität Erfurt, das Zentrum für Anthropologie und Gender Studies an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau sowie die Zeitschrift Historische Anthropologie u. a.
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deln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt“.144 Auch sie versteht sich als ‚Menschenwissenschaft‘ (‚science de l’homme‘) und ‚sinnliche Geschichte‘ (‚histoire des sensibilités‘). Die historische Anthropologie setzt wie die Mentalitätengeschichte auf Mikrogeschichte, bevorzugt Mittelalter und Frühe Neuzeit und besitzt kein definiertes Methodenspektrum. Und sie denkt wie diese in zeitlichen Strukturen längerer bis mittlerer Dauer. Ihr Fokus liegt jedoch nicht auf den kollektiven (Bewusstseins-)Strukturen, die ein historisches Fühlen, Denken und Wissen ‚disponieren‘, sondern vielmehr auf dem Einzelmenschen, dem historischen Akteur. Die historische Anthropologie kann daher allenfalls als Ergänzung, nicht jedoch als Ablösung der Mentalitätengeschichte gelten. Bei der deutlichen Präferenz der historischen Anthropologie gegenüber der Mentalitätengeschichte in der Rezeption durch die germanistische Literaturwissenschaft kommt einmal mehr die unterschiedliche Wissenschaftstradition der beiden Länder Frankreich und Deutschland zum Ausdruck.145 Während eine Überführung des mentalitätsgeschichtlichen Paradigmas in das der historischen Anthropologie nur teilweise aufgeht, bietet die Kulturwissenschaft ein geeignetes begriffliches und forschungsstrategisches Fundament, um beide Richtungen zu integrieren. Diese kann auf der einen Seite an die symbolische Kulturwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Simmel, Weber und Cassirer) sowie auf der anderen Seite an die französische Mentalitätengeschichte anschließen.146 Kultur als Oberbegriff umfasst diesem Verständnis zufolge „den von Menschen erzeugte[n] Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen“, also mentale Dispositionen, die sich „in Symbolsystemen materialisier[en].“147
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van Dülmen, Richard, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln u. a. 2000, S. 32. Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 264, und Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 147. Vgl. Fauser, „Literarische Anthropologie“, S. 41. Nünning, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis“, S. 179.
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5. Fachgeschichtliche Einordnung 5.1 Leistung und Defizite: offene Fragen und ungelöste Probleme Ansgar Nünning sieht den Beitrag der Mentalitätengeschichte zur Literatur- und Kulturgeschichte darin, dass diese Denkstrukturen, Einstellungen und Wahrnehmungen der Menschen vergangener Zeiten als historischen Forschungsgegenstand zu etablieren verhalf.148 Die Mentalitätengeschichte umfasst die Ideengeschichte ebenso wie die Kulturgeschichte: Kultur ist nicht allein ein imaginärer Bereich des Geistes, sondern auch materielle Kultur, Alltagskultur ist nicht nur Elite(n)kultur, sondern auch ‚culture populaire‘.149 Somit hat die Mentalitätenforschung sowohl in Bezug auf ihr Erkenntnisinteresse, ihren Gegenstand und ihre Methoden als auch in Bezug auf die eigenen disziplinären Grenzen die „Topographie der historischen Forschung“ neu geordnet und der Kulturgeschichte neue Fragestellungen geliefert.150 Nach Silvio Vietta schließlich besteht die größte Leistung der Mentalitätengeschichte darin, die moderne Kulturgeschichte „auch als eine Geschichte der ‚Sensibilitäten‘ und Emotionen begreifen zu können“.151 Es ist nicht zuletzt die Geschichte einer anderen Moderne, der ‚Irrationalitäten‘ im Prozess zunehmender Rationalisierungen, die den Wandel von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen ‚Mentalität‘ als fortzuschreibendes Projekt erscheinen lässt. Bei der Erforschung der Historizität von Emotionen auf der Basis literarischer Texte handelt es sich nach wie vor um ein Forschungsdesiderat.152 Als wichtiger Einwand gegen die Mentalitätengeschichte wird seitens der deutschen Geschichts- und Literaturwissenschaft immer wieder die Summierung empirischer Forschung ohne theoretisch-methodologisch einheitlichen Rahmen vorgebracht. Die Annales-Gruppe selbst weist diesen Anspruch allerdings ausdrücklich, wenn nicht geradezu programmatisch zurück. Anders sieht es mit dem Problem der Abgrenzung sozialer Gruppen als Träger von ‚kollektiven Mentalitäten‘ sowie dem Elitarismus-Vorwurf hinsichtlich der erfassten Quellen bzw. sozialen Gruppen aus. So stellt sich die Frage, ob es tatsächlich möglich ist, „die Mentalität 148 149 150 151 152
Vgl. ebd., 183. Vgl. Jöckel, Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 158 f. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 388. Vietta, Silvio, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München 2005. S. 55. Vgl. Nünning, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis“, S. 183.
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einer ganzen Gesellschaft oder einer Epoche festzustellen.“153 Le Goff geht dezidiert von der „Koexistenz mehrerer Mentalitäten“154 in Zeiten beschleunigten Wandels aus. Frantiˇsek Graus wendet sich eindeutig gegen die Annahme einer nationalen Mentalität, Adelsmentalität, Bauernmentalität etc.; auch das mittelalterliche Dorf sei nicht homogen, vielmehr gehe es darum, gemäß dem Prinzip der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Gemeinsamkeiten von Mentalitäten in Raum und Zeit festzustellen.155 Während in Febvres ‚totaler Geschichte‘ (‚histoire totale‘) die untersten Volksschichten fehlten, initiierte Ginzburgs mikrohistorische Studie Der Käse und die Würmer (1976) eine verstärkte Hinwendung der ‚histoire des mentalités‘ zu einer ‚Geschichte von unten‘. Nach Foucault ist der Begriff ‚Mentalität‘ ebenso aufzulösen wie die Begriffe ‚Tradition‘, ‚Einfluss‘, ‚Entwicklung‘, ‚Evolution‘ und ‚Geist‘. Er wendet sich in seiner Archäologie des Wissens156 „gegen jeden Versuch, den Geist einer Epoche, das Gesicht einer Kultur in seiner Totalität, eine Mentalität insgesamt zu beschreiben“. Für Jöckel erscheint „die scheinbare Auflösung der ‚histoire des mentalités‘ in eine Vielzahl von Einzelthemen und Forschungsgegenständen nicht als Mangel, sondern als notwendige Folgerung aus dem Verzicht auf das illusorische Unterfangen, etwa Mentalität in toto zusammensetzen zu wollen“.157 Kontrovers wird in der Forschungsliteratur auch der Aspekt der Alterität vergangener Epochen diskutiert.158 Während die Mentalitätenge-
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Riecks, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte, S. 130. Le Goff, „Eine mehrdeutige Geschichte“, S. 29. Vgl. Graus, „Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, 33; vgl. dagegen Dinzelbacher, „Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte“, S. XXXIf.: „Es gibt Mentalitäten, die, jeweils in einer bestimmten Epoche, für bestimmte Gruppen typisch sind, z. B. für die Krieger oder die Religiösen […], es gibt aber auch Mentalitäten, die charakteristisch sind für die Menschen einer ganzen Epoche“; Kuhlemann („Mentalitätsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen“, S. 193) unterscheidet zwischen Makround Mikromentalität. Vgl. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens (1969), übers. v. Ulrich Köppen, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 33. Nach Jöckel („Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 155) stellt die „Gegenüberstellung von imaginär und concret, die Trennung der ‚objektiven‘ Erforschung des menschlichen Verhaltens von der der symbolischen Systeme […] das theoretisch nicht zu lösende Hauptproblem der Mentalitätengeschichte“ dar. Vgl. hierzu u. a. die Positionen von Graus, „Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, S. 36; Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 132; Dörner/Vogt, „Kultursoziologie (Bour-
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schichte laut Hagen Schulze die Fremdheit des Vergangenen lehre,159 stellt Dauer unter Bezugnahme auf Geertz die „verstehende, zumindest partielle Überwindung von Fremdheit“ heraus.160 Nach Heide Wunder handelt es sich um eine zentrale Erkenntnis der Mentalitätengeschichte, „daß das europäische Mittelalter und die Frühe Neuzeit zwar in einem Wirkungszusammenhang mit der Gegenwart stehen, aber durchaus eigene Kulturen darstellen, die in ihrer Eigenart und Fremdart zu analysieren sind.“161 In Bezug auf den Untersuchungsradius mentalitätengeschichtlicher Forschung ist eine weitgehende Beschränkung auf Frankreich und die Konzentration auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit (1500–1800), hier wiederum in besonderer Weise auf das Ancien Régime in Frankreich von ca. 1600 bis 1789, beanstandet worden.162 Der Vorwurf, dass die Geschichte der außereuropäischen Welt praktisch unberücksichtigt geblieben sei und nur wenige Untersuchungen zum 19. und 20. Jahrhundert vorlägen,163 kann jedoch mittlerweile als entkräftet gelten: Immerhin bezieht sich nach Schöttler „mehr als ein Drittel aller Aufsätze und Rezensionen“ der Zeitschrift Annales auf den Zeitraum nach 1800.164 Dagegen ist das Phänomen geschichtlichen Wandels aufgrund der Strukturannahme der ‚histoire de longue durée‘ innerhalb des mentalitätsgeschicht-
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dieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, S. 145; Brinker-von der Heyde, „Mentalität, historische Anthropologie und Literatur“, S. 75 u. a. Vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, hier S. 255; als Beispiel für Alterität s. Dinzelbacher, „Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte“, S. XXXII–XXXIV, über Prozesse gegen Mäuse. Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 134. Wunder, „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“, S. 75. Vgl. Burke, Offene Geschichte, 110. Vgl. ebd., S. 101; vgl. schon Honegger, „Geschichte im Entstehen“, S. 30; Raulff, „Mentalitäten-Geschichte“, S. 11; Gilcher-Holthey („Plädoyer für eine dynamische Mentalitätengeschichte“, S. 476) entwickelt ihr Programm einer dynamischen Mentalitätengeschichte im Rückgriff auf Adornos methodologische Einleitung zu den Studien zum autoritären Charakter (1950/73). Von den Historikern sei der Beitrag der Kritischen Theorie zum Antisemitismus in der Verbindung von soziologischen und psychologischen Fragestellungen und Ansätzen zur Erklärung kollektiver Mentalitäten bis heute nicht systematisch rezipiert und in Forschung überführt worden. Dieses Versäumnis habe möglicherweise „die Übertragung der bislang vorwiegend auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit angewandten Konzeption der Mentalitätsgeschichte auf das 19. und 20. Jahrhundert“ (dies., S. 478) verzögert. Vgl. Schöttler, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, S. 50.
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lichen Paradigmas kaum plausibel zu erklären.165 Die Schwierigkeit, die soziohistorischen und mentalen Veränderungen in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu erfassen, verweist wie das Fehlen eines Erklärungsmodells bzw. eines theoretischen Rahmens für das Verhältnis zwischen Mentalitäten und gesellschaftlich-geschichtlicher Realität auf ein ungelöstes Forschungsproblem. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wird zudem das ungeklärte Verhältnis zwischen Realität, literarischer Fiktion und der Dimension des Imaginären kritisiert. Auch wenn die von Ursula Peters konstatierte „Kluft zwischen den gesellschaftlichen Fakten und der literarischen Textreihe“166 nach der Abkehr vom sozialgeschichtlichen Paradigma (älteren Typs) mittlerweile innerhalb der Literaturwissenschaft selbst zur Debatte steht, so bleibt doch die berechtigte Forderung, dass sich die Mentalitätengeschichte stärker mit Interessen- bzw. Ideologiekritik,167 mit mentalen und perzeptiven Kategorien sowie mit Metaphern168 und mit den spezifischen Formen und Funktionen von Literatur als Symbolisierung von Mentalitäten zu beschäftigen habe. 5.2 Nachwirkungen und unausgeschöpfte Potenziale Die Sprache steht im Mittelpunkt von Mentalitätengeschichte, Literaturund Sprachwissenschaft.169 Sie ist selbst konstitutives Element der kollektiven Mentalitäten und bringt zugleich mentalitätshistorische Prozesse zum Ausdruck. Im Bereich der historischen Sprachwissenschaft gibt es zwei Traditionslinien der semantischen Analyse kollektiven Denkens: Auf der einen Seite die Arbeiten Humboldts, aber auch Sapir und Whorfs und auf der anderen Seite Begriffsgeschichte und historische Semantik. Den Arbeiten von Reinhart Koselleck, Otto Brunner und 165
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Vgl. Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 134; Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 115 f.; Le Goff, „Eine mehrdeutige Geschichte“, S. 23 u. 31. Le Goff hat die Mentalitätengeschichte als „Geschichte der Langsamkeit in der Geschichte“ und der Veränderungen neu akzentuiert und Michel Vovelle den ‚Trägheitsmomenten‘ der unbewegten Geschichte und der langen Dauer das Konzept vom revolutionären Umbruch und die Idee einer histoire de mouvement entgegengesetzt; vgl. Schulze, „Mentalitätsgeschichte“, S. 257; Middell, „Die unendliche Geschichte“, S. 28. Peters, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte?“, S. 183 u. 185. Vgl. schon Honegger, „Geschichte im Entstehen“, hier S. 37. Vgl. Burke, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, S. 137–140. Vgl. Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 172.
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Werner Conze sowie dem von diesen herausgegebenen Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe (1972–1997) kommt dabei Modell- bzw. Beispielcharakter zu.170 Bereits Lucien Febvre hat auch die Philologie in den Handwerkskoffer des Mentalitätenhistorikers gepackt: „Die historische, die philologische, die kritische Methode sind nützliche Präzisionswerkzeuge“.171 Duby führt in L’histoire des mentalités (1961) für die Analyse des begrifflichen Werkzeugs (‚outillage mental‘) einer Epoche bzw. Kultur auch die Mittel der „historischen Sprachforschung (Begriffsgeschichte, Wortschatzforschung, historische Grammatik)“ an.172 An diese Traditionen schließt Fritz Hermanns 1995 mit seinem programmatischen Aufsatz Sprachgeschichte als Mentalitätengeschichte an.173 Auch das Programm einer mentalitätsgeschichtlich orientierten Kulturwissenschaft orientiert sich an der „Methodologie der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik“. Der Wandel von Bedeutungen gibt, so Nünning, „Aufschluß […] über Veränderungen in der Art und Weise, wie Wirklichkeit wahrgenommen und erlebt wurde.“174 Zu fragen ist, wie das Verhältnis von Mentalität und Literatur, von Mentalitätsgeschichte und Literaturwissenschaft bestimmt werden kann.175 Was die Literaturgeschichte zur Untersuchung der ‚Mentalität‘ mittelalterlicher Epochen oder aber die Mentalitätengeschichte zum historischen Verständnis mittelalterlicher Literatur beitragen kann, ist bislang noch weitgehend ungeklärt. Die Gründe liegen zum einen darin, dass die Mentalitätengeschichte bisher die Fiktionalität vieler literarischer Quellen nicht ausreichend berücksichtigt hat. Zum anderen hat „die begriffliche Unschärfe der Arbeitstitel histoire des mentalités, de l’imaginaire oder auch ideologie“ offensichtlich die Rezeption ebenso behindert wie der nicht klar abgegrenzte Gegenstandsbereich.176 Für die Mentalitätengeschichte ist,
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Vgl. Sellin, „Mentalität und Mentalitätsgeschichte“, S. 576; ders., „Mentalitäten in der Sozialgeschichte“, S. 117. Febvre, „Face au vent. Manifeste des Annales nouvelles“, in: A.E.S.C, 1/1946, 1, S. 1–8 in: Middell/Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte, S. 69–82. Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre, S. 340. Hermanns, „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“, S. 71. Nünning, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis“, S. 189. Vgl. Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 171. Vgl. Röcke, Werner, „Mentalitätengeschichte und Literarisierung historischer Erfahrung im antiken und mittelalterlichen Apollonius-Roman“, in: Eggert, Hartmut / Profitlich, Ulrich / Scherpe, Klaus R. (Hrsg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 91–103, hier S. 91 f.
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so Röcke, „ähnlich wie für die moderne Mittelalter-Forschung insgesamt, die Integration unterschiedlicher Disziplinen, wie der Ethnologie und Soziologie, der historischen Psychologie und Anthropologie, inzwischen auch der Literaturgeschichte und der Linguistik unter dem Dach einer ‚histoire totale‘ kennzeichnend“. Die Altgermanistik hat sich zwar mittlerweile „als Mediävistik etabliert, bleibt also keineswegs auf die deutsche Sprache und Literatur beschränkt“. Doch obgleich „mentalitätsgeschichtliche Forschungen bislang vor allem für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit vorliegen“, gehört die ‚histoire des mentalités‘ nicht zu ihren bevorzugten Paradigmen.177 Die Einschätzung des Historikers Peter Dinzelbacher, dass sich „[l]angsam […] auch Nachbardisziplinen wie die Literaturwissenschaft für mentalitätshistorische Fragestellungen zu interessieren“ beginnen,178 ist allerdings zu pessimistisch formuliert. Denn es liegen durchaus Untersuchungen aus der Literatur- und Sprachwissenschaft vor, die mit einem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz arbeiten und als beispielhaft für die mentalitätshistorische Forschungsrichtung herangezogen werden können. Jöckel verweist auf die Arbeit über Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts (1983) von Hans-Jürgen Lüsebrink, der allerdings den Begriff Mentalität durch den des Wissens ersetzt, als „[e]in sehr gelungenes Beispiel für die Einbeziehung der Mentalitätsgeschichte in die Literaturwissenschaft“.179 Im Bereich der Sprachwissenschaft versucht Erika Werlen, Mentalität im Hinblick auf kontaktund soziolinguistische Zusammenhänge durch empirische Fallstudien zu erschließen.180 Ein weiteres Beispiel für eine produktive Rezeption der Mentalitätengeschichte im Bereich der Literaturwissenschaft ist Holger Dauers Studie zu Ludwig Fulda. Ihm erscheint die unterhaltendpopuläre Trivialliteratur besonders geeignet, um Aufschlüsse über sozialhistorische und -psychologische Gegebenheiten, mithin mentale und ideologische Dispositionen zu liefern, da diese „eher zeitgültige Denkmuster, Sozialnormen, Verhaltensstandards und Bewusstseinsformen“ 177 178
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Vgl. ebd., S. 91. Dinzelbacher, Peter, „Vorwort“, in: hrsg. v. dems., Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. IX–XIII, hier S. XII. Jöckel, „Die ‚histoire des mentalités‘“, S. 158 f. Werlen, Sprache, Kommunikationskultur und Mentalität, S. 33; vgl. dies., S. 76 f.: „‚Mentalität‘ ist ein notwendiges Konzept, um interpersonale und intergruppale sprachlich-kommunikative Interaktionen, um Kontaktkommunikationen und kommunikationskulturelle Spezifitäten wissenschaftlich zu beschreiben und zu erklären.“
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transportiere als die ‚Höhenkammliteratur‘.181 Für eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft erweist sich eine Erweiterung des traditionellen Textkanons somit als unabdingbar. Dies betrifft die sogenannten ‚minores‘ ebenso wie die Textformen Tagebuch, Autobiographie, Manierenbuch, Leichenpredigt etc., „die oftmals mehr Rückschlüsse auf literarische und (mentale) Normalität zulassen als die ‚Höhenkammliteratur‘“.182 Der Mediävist Werner Röcke schlägt daher vor, „Literaturgeschichte stärker im Kontext einer allgemeinen Kulturgeschichte zu verorten, welche neben den sozialen und politischen, den rechtlichen, theologischen und künstlerischen Praxisbereichen […] auch die Mentalitäten einer Epoche umfaßt, also die Glaubensvorstellungen und Wissensformen, die Wertsysteme und Deutungsschemata von Wirklichkeit, […] kurz: all das, was in der Gesellschaft“ – im Sinne Berger/Luckmanns – „als ‚Wissen‘ gilt“.183 Auch Ansgar Nünning fordert die Erweiterung der Literaturwissenschaft um kulturwissenschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen. Ein wichtiges Ziel einer konstruktivistisch und mentalitätsgeschichtlich orientierten Kulturwissenschaft, „die vom Poiesis-Charakter fiktionaler und nicht-fiktionaler Texte ausgeht, besteht somit darin, durch die Analyse der ‚Weisen der Welterzeugung‘“, das heißt der „formalen Besonderheiten sprachlicher Realitätskonstruktion“,184 Aufschluss zu gewinnen über Kollektivvorstellungen, Wahrnehmungsmuster, Denkstrukturen, Gefühle und Weltbilder vergangener Epochen, „die die mentale Seite der Kultur konstituieren und unter dem Begriff ‚Mentalität‘ subsumiert werden.“185 Kulturwissenschaft geht damit über Mentalitätengeschichte hinaus, da sie sich nicht auf die „Rekonstruktion der mentalen Dimension von Kultur“ beschränkt, sondern sich auch auf „soziale und materielle Aspekte [erstreckt], d. h. auf die Institutionen der kulturellen Überlieferung und die literarischen Ausdrucksformen.“186 Die Kategorien Literatur, Mentalität und kulturelles Gedächtnis konstituieren, so Nünning, „zusammen den Gegenstandsbereich einer Kulturwis-
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Dauer, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller, S. 269. Dörner/Vogt, „Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, S. 138. Röcke, „Literaturgeschichte – Mentalitätengeschichte“, S. 647. Nünning, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis“, S. 179. Ebd., S. 183. Ebd., S. 184.
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senschaft“ und können als „Leitbegriffe der Theoriebildung und Analyse dienen“. Literatur stellt in diesem Kontext einen zentralen Aspekt der ‚materialen‘ bzw. medialen Kultur dar. „Der Begriff der Mentalität bezeichnet dagegen ein Ensemble von kollektiven Denkweisen, Überzeugungen, Vorstellungen und Wissensformen, mithin die immaterielle Dimension von Kultur.“187 Dieser Ansatz, der mit der Unterscheidung zwischen ‚mentaler‘ und ‚materieller‘ Kultur ebenso an die Tradition der Mentalitätengeschichte anschließt, wie er deren Defizit in Bezug auf das Verhältnis der ‚drei Ebenen‘ konstruktiv löst oder vielmehr konstruktivistisch auflöst, wäre auch für die germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft weiterzuverfolgen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Lenk, Kurt, Art. „Mentalität“, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2., neubearbeitete u. erw. Ausg., Stuttgart 1969, S. 689–691. Tellenbach, Gerd, „Mentalität“, in: Erich Hassinger / J. Heinz Müller / Hugo Ott (Hrsg.), Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 75. Geburtstag, Berlin 1974, S. 11–30. Honegger, Claudia (Hrsg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977. Erste deutschsprachige Anthologie mit Texten von Vertretern der Mentalitätengeschichte sowie einer programmatischen Einleitung von Claudia Honneger. Honegger, Claudia, „Geschichte im Entstehen. Notizen zum Werdegang der ‚Annales‘“, in: hrsg. v. ders., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977, S. 7–44. Reichardt, Rolf, „‚Histoire des Mentalités‘. Eine neue Dimension der Sozialgeschichte am Beispiel des französischen Ancien Régime“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 3/1978, S. 130–166.
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Deutsch, Robert, „‚La Nouvelle Histoire‘ – Die Geschichte eines Erfolges“, in: Historische Zeitschrift, 233/1981, S. 107–129. Rezension zum Lexikon der Annales, zugleich Darstellung der ‚Erfolgsgeschichte‘ der Annales unter institutionen- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten, die selbst wiederum auf wissenssoziologischer bzw. mentalitätsgeschichtlicher Grundlage arbeitet. Peters, Ursula, „Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegungen zur Problematik einer neueren Forschungsrichtung“, in: Georg Stötzel (Hrsg.), Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, Teil II, Berlin 1985, S. 179–198. Früher, grundlegender Beitrag zur Rezeption der Mentalitätengeschichte in der mediävistischen Literaturwissenschaft. Schulze, Hagen, „Mentalitätsgeschichte – Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 12/1985, 36, S. 247–270. Sellin, Volker, „Mentalität und Mentalitätsgeschichte“, in: Historische Zeitschrift, 241/1985, 1, S. 555–598. Hutton, Patrick H., „Die Geschichte der Mentalitäten. Eine andere Landkarte der Kulturgeschichte“, in: Ulrich Raulff (Hrsg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986, S. 103–131. Müller, Jan-Dirk, „Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur. Zu einigen neueren Forschungsansätzen“, in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 11: Wilhelm Vosskamp / Eberhard Lämmert (Hrsg.), Historische und aktuelle Konzepte der Literaturwissenschaft. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft, Tübingen 1986, S. 56–66, bes. S. 62 ff. Ältere, aber immer noch grundlegende Stellungnahme, die sich unmittelbar auf Peters bezieht und die sich aus literaturwissenschaftlicher, konkret mediävistischer Perspektive zum Quellenstatus von Literatur äußert. Raulff, Ulrich, „Die Annales E. S. C. und die Geschichte der Mentalitäten“, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie, Heidelberg 1986, S. 145–166.
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Burke, Peter, „Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte“, in: Ulrich Raulff (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 127–145. Le Goff, Jacques, „Eine mehrdeutige Geschichte“ (1974), in: Ulrich Raulff (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 18–32 Gut lesbare Darstellung des ‚Insiders‘ Le Goff zum Begriff ‚Mentalitätengeschichte‘ sowie zum Status ihrer Quellen (‚Imaginäres‘). Graus, Frantiˇsek, „Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung“, in: hrsg. v. dems., Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S. 9–48. Jöckel, Sabine, „Die ‚histoire des mentalités‘: Baustein einer historischsoziologischen Literaturwissenschaft“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 11/1987, S. 146–173. Übersichtliche Darstellung zur Mentalitätengeschichte aus literaturwissenschaftlicher, konkret romanistischer Perspektive, die u. a. Bezüge zu Bourdieus Habitus-Konzept herstellt. Raulff, Ulrich (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987. Dieser Sammelband enthält wichtige Beiträge von Raulff, Le Goff, Burke u. a. sowie eine programmatische Einleitung von Raulff. Raulff, Ulrich, „Mentalitäten-Geschichte“, in: hrsg. v. dems., MentalitätenGeschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 7–17. Raulff, Ulrich, „Die Geburt eines Begriffs. Reden von ‚Mentalität‘ zur Zeit der Affäre Dreyfus“, in: hrsg. v. dems., Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 50–68. Sellin, Volker, „Mentalitäten in der Sozialgeschichte“, in: Wolfgang Schieder / Volker Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang. Band III: Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 101–121.
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Gilcher-Holthey, Ingrid, „Plädoyer für eine dynamische Mentalitätengeschichte“, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 3/1988, 24, S. 476–497. Riecks, Annette, Französische Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht, Altenberge 1989. Ausführlicher Forschungsbericht zur Mentalitätengeschichte aus romanistischer Perspektive, der ergänzend zu Burke (1991) herangezogen werden kann. Schöttler, Peter, „Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der ‚dritten Ebene‘“, in: Alf Lüdtke (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M., New York 1989, S. 85–136, bes. S. 85–94. Dörner, Andreas / Vogt, Ludgera, „Kultursoziologie (Bourdieu – Mentalitätengeschichte – Zivilisationstheorie)“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 131–153. Grundlegender Beitrag zum Verhältnis von Kultursoziologie, Mentalitätengeschichte und Zivilisationstheorie, der Norbert Elias allerdings nur am Rande behandelt. Röcke, Werner, „Mentalitätengeschichte und Literarisierung historischer Erfahrung im antiken und mittelalterlichen Apollonius-Roman“, in: Eggert, Hartmut / Profitlich, Ulrich / Scherpe, Klaus R. (Hrsg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 91–103. Burke, Peter, Offene Geschichte. Die Schule der ‚Annales‘, aus dem Englischen von Matthias Fienbork, Berlin 1991. Gut lesbare und übersichtliche Geschichte der Schule der Annales. Dinzelbacher, Peter, Art. „Mentalität“, in: hrsg. v. dems., Sachwörterbuch der Mediävistik, Stuttgart 1992, S. 521–524. Röcke, Werner, „Literaturgeschichte – Mentalitätengeschichte“, in: Helmut Brackert / Jörn Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 639–649. Überblicksartige Einführung in das Verhältnis von Literatur- und Mentalitätengeschichte aus sozialgeschichtlicher Perspektive.
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Dinzelbacher, Peter, „Vorwort“, in: hrsg. v. dems., Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. IX–XIII. Dinzelbacher, Peter, „Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte“, in: hrsg. v. dems., Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. XV–XXXVII. Theel, Robert, „‚Die Maschine hat den Helden getötet‘. Beobachtungen zu direkten und indirekten Verwendungen des Mentalitätsbegriffs in fiktionalen und essayistischen Texten vor und während des 1. Weltkrieges im Hinblick auf den Heroismusbegriff (Nowak, Soyka, Kraus, Unruh, Marinetti, Rilke)“, in: Krieg und Literatur, 5/1993, S. 97–118. Middell, Matthias / Sammler, Steffen (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994. Zusammenstellung von Texten aus der Geschichte der Annales, die von der Herausgebern mit einer ausführlichen Einleitung versehen worden ist. Middell, Matthias, „Die unendliche Geschichte“, in: Matthias Middell / Steffen Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 7–40. Middell, Matthias / Sammler, Steffen (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994. Raphael, Lutz, Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994. Sehr ausführliche, von einem ‚Außenseiter‘ verfasste Darstellung (Habilitation) der Geschichte der Annales. Schöttler, Peter, „Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West)“, in: Matthias Middell / Steffen Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 40–61. Grundlegender Aufsatz zur Rezeptionsgeschichte der Annales. Hermanns, Fritz, „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte. Überlegungen zu Sinn und Form und Gegenstand historischer Semantik“, in: Andreas Gardt / Klaus J. Mattheier / Oskar Reichmann (Hrsg.), Sprach-
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geschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien, Tübingen 1995, S. 69–101. Grundlegende Darstellung zur Mentalitätengeschichte aus sprachgeschichtlicher Perspektive, die einen Zusammenhang zwischen Mentalitätengeschichte und Diskursgeschichte aufzeigt und Beispiele für Untersuchungen im Bereich der linguistischen Mentalitätsgeschichte benennt. Röcke, Werner, „Mentalitäten-Geschichte und ‚histoire totale‘. Zu Peter Dinzelbachers „Europäische Mentalitätengeschichte“, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F., 5/1995, S. 117–122. Wunder, Heide, „Kulturgeschichte, Mentalitätengeschichte, Historische Anthropologie“, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a. M. 1995, S. 65–86. Gilcher-Holthey, Ingrid / Hardtwig, Wolfgang / Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.), „Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu“, in: Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 111–130. Kuhlemann, Frank-Michael, „Mentalitätsgeschichte. Theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der Religion im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 182–211. Röcke, Werner, „Mentalitätengeschichte – ‚New Historicism‘. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik“, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 31/1996, 2, S. 21–37. Grundlegende Darstellung zum Verhältnis von Mentalitätengeschichte und New Historism aus mediävistischer Perspektive, die sich u. a. auch auf den Aspekt der ‚dritten Ebene‘ sowie den Quellenstatus bezieht. Dauer, Holger, Ludwig Fulda, Erfolgsschriftsteller. Eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Interpretation populärdramatischer Texte, Tübingen 1998, S. 105–140. Studie (Dissertation) zum Popularschriftsteller Ludwig Fulda auf der methodischen Grundlage von Mentalitätengeschichte (Sellin) und Kulturanthropologie (Geertz). Werlen, Erika, Sprache, Kommunikationskultur und Mentalität. Zur sozio- und kontaktlinguistischen Theoriebildung und Methodologie, Tübingen 1998.
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Brinker-von der Heyde, Claudia, „Mentalität, historische Anthropologie und Literatur. Zu Möglichkeiten und Grenzen der Interdisziplinarität in der Mediävistik“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, 12/2000, S. 65–81. Oexle, Otto Gerhard, Art. „Mentalitätsgeschichte“, in: Harald Fricke [u. a.] (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin, New York 2000, Bd. II, S. 566–569. Lexikonartikel aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Simonis, Annette, Art. „Mentalität“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 2. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2001, S. 440 f. Lexikonartikel Simonis, Annette, Art. „Mentalitätsgeschichte“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 2. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2001, S. 441–443. Lexikonartikel Daniel, Ute: „Die Annales, Mentalitätengeschichte“, in: hrsg. v. ders., Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4. verb. u. erg. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 221–233. Nünning, Ansgar, „Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis. Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft“, in: Ansgar Nünning [u. a.] (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, 4., erw. Auflage, Trier 2004, S. 173–198. Begrifflich klare und perspektivisch aufschlussreiche Überblicksdarstellung, welche die Mentalitätengeschichte aus anglistischer Perspektive im Kontext der Kulturwissenschaften verortet. Vietta, Silvio, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München 2005. Fauser, Markus, „Literarische Anthropologie“, in: ders., Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt, 3. Aufl. 2006, S. 41–65. Vergleich zwischen Cassirer, Geertz und der Mentalitätsgeschichte, wobei letztere in der übergeordneten Perspektive der historischen Anthropologie bzw. des New Historicism als Teil bzw. Ergänzung der Kulturwissenschaft verstanden wird.
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1. Definition Mythenanalysen beziehen sich in einem sehr allgemeinen Sinne auf das, was Aristoteles in seiner Poetik als ‚Mythos‘ bezeichnete, nämlich die Wiedergabe bzw. Nachahmung einer Handlung (Fabel) zwischen hochrangigen Figuren. Auch wenn die Wörter ‚Mythos‘ und ‚Logos‘ ursprünglich gleichermaßen eine tatsächlich vorhandene Sache bezeichnen sollten, sprach man dem Mythos schon seit Sokrates in Abgrenzung zum vernünftigen, kritischen Logos etwas Scheinhaftes oder Erfundenes zu, wodurch sich ein Potenzial für ‚dichterische‘ Mythenbildung und -verarbeitung eröffnete. ‚Mythologie‘ bezeichnet einerseits die Gesamtheit der Mythen, andererseits die Lehre von ihren Funktionsweisen. Dabei hat die Mythenanalyse keine spezifische Methode oder Methodologie, sondern eine Vielzahl von Perspektiven in Fächern der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften hervorgebracht.
2. Beschreibung Das Gegenstandsfeld ist mittlerweile erweitert, insofern sich etliche metaphorische Bedeutungen des Mythosbegriffes durchgesetzt haben, die sich sowohl auf die Semantik des Bedeutsamen als auch auf die des Scheinhaften in der Gegenwartskultur erstrecken. Dadurch wurden prominente Personen und Figuren unterschiedlichster Provenienz ‚mythenfähig‘ (Leistungssportler, Politiker, Popkünstler usw. als mythische Figuren), und außerdem konnten private bzw. individuelle Mythen jedweder Couleur zum Gegenstand mythenanalytischer Betrachtungen erhoben werden. Ferner werden heute Vorgänge als ‚Mythen‘ bezeichnet, denen man geschichtsträchtige Wirkung zuspricht, sowie Ideenkomplexe, deren Konstruiertheit ausgewiesen werden soll, um sie dann als wirkungs-
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mächtige Phantasmen zu entlarven (der Mythos ‚1968‘, der Mythos vom ‚Goldenen Westen‘ etc.). Mythenanalysen, die sich – entstehungsgeschichtlich betrachtet – bereits im Gefolge von Homers Schriften finden lassen, haben zwei prinzipielle Verfahrenslinien vorgebildet, indem sie als grammatisch-rhetorische bzw. textkritische sich direkt auf die Figuren- bzw. Textkonstitution bezogen haben oder indem sie als Allegoresen praktiziert wurden, die die bildliche Sinnschicht der Mythen auf eine andere Bedeutung, z. B. eine kosmologische, naturelementar-physiologische, moralische oder politische Ebene bezogen. Betrachtungen zur Genese des Mythos gibt es spätestens seit der Aufklärung, und nicht von ungefähr haben die verschiedenen Theorien fast immer ästhetisch-poetologische Aspekte. Dies lässt sich z. B. an der funktionalistischen Erklärung sehen, in welcher man Mythen die Fähigkeit zur Angstbewältigung und Weltaneignung zuspricht, ebenso an der symbolphilosophischen Theorie der ästhetischen Weltgestaltung durch Mythen sowie in der kulturgeschichtlich kontroversen Frage, inwiefern diese als Dokumente der Menschheitsentwicklung gelesen werden können. Auch die sozialpsychologische Theorie des Identitätsgewinns durch Narrationen, Bilder etc. weist in die Richtung einer Kunstbestimmung. Einen Blick auf Mythen als ontologische, der menschlichen Erfahrung vorgängige Wahrheiten haben Religionswissenschaftler wie Mircea Eliade in zum Teil verabsolutierender Weise und in Form eines teilnehmenden Erklärens gerichtet, um den durch Mythen eröffneten Erfahrungshorizont mitzuvollziehen – im günstigen Falle werden dabei mythenkomparatistische Betrachtungen angestellt und entwicklungsgeschichtliche Varianten einbezogen. Ein Teil der psychoanalytischen Mythostheorien (insbesondere die von C.G. Jung) hat ähnlich generalistisch argumentiert und Mythen als Fundamentalkonstanten beschrieben oder gar als Therapiemedium empfohlen. Davon ist Freud abzugrenzen mit seinem zunächst individuellen und dann gesellschaftlichen Aufklärungsinteresse, das durch eine rationale Analyse ermöglicht werden soll. Ein ganz ähnlich gelagertes Interesse am Mythos resultiert auf philosophischer Seite daraus, dass Auskünfte über das Wirken von Rationalität sowie allgemein zur Kulturgeschichte und zum Standort der Moderne gewonnen werden sollen. Dass Mythen dabei nicht statisch, sondern immer in Rezeption begriffen sind und dass sie zur produktiven Neubearbeitung aufrufen, haben mittlerweile viele geistesgeschichtliche sowie komparatistische Studien gezeigt (wegweisend dabei: Hans Blumenberg).
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Weitergehende Perspektiven hat eine politisch-soziologische Mythenforschung mit Fragen nach Hierarchiebildungen, gruppendynamischen, Macht- und anderen sozialen Prozessen in vergleichender und diachroner Sicht entworfen. In diesem Rahmen sind die ideologiekritischen Ansätze zu sehen, die Mythen als Ausdruck oder Katalysatoren von gesellschaftlichen Zielsetzungen sowie als Verblendungszusammenhang interpretiert haben, um dies entweder geschichtlich (an der Entwicklung von Aufklärung und Moderne) oder in Analysen der Gegenwartskultur und ihrer Alltagsmythen zu zeigen (Horkheimer/Adorno, Barthes, Habermas). Aus all diesen Kontexten haben die philologischen Fächer Anregungen bezogen, um schriftlich überlieferte Mythen zu analysieren, sei es, um ausgehend von den Motiven und Figurationen ideengeschichtliche Betrachtungen anzustellen, sei es, um Textstrukturen zu analysieren, den narrativen Bau der Mythen kenntlich zu machen und sie als kulturgeschichtliche Elemente darzustellen. Beide antiken Deutungstraditionen haben ihre Spuren in spätmittelalterlichen, frühneuzeitlich-humanistischen und modernen Interpretationen des Mythos hinterlassen. Im späten 18. Jahrhundert wurden Mythen vor allem als poetische Anregung verstanden, aber auch als Inbilder eines kulturellen Selbstverständnisses. Darin wäre eine Fortwirkung der allegorischen Deutungslinie zu sehen, die die Romantik radikalisiert, indem sie ihrerseits mythologische Vorlagen als weltbildende, konstruktive, also im weitesten Sinne poetische Kraft herausstellt, um mit dieser Mythopoesis vor allem ästhetisches Potenzial zu gewinnen und letztlich eine Lebensform zu begründen: Dionysos wurde als der kommende Gott gepriesen und Christus an die Seite gestellt. Diese Auffassung, den Mythos an eine Lebenswirklichkeit zu knüpfen, führt über kulturgeschichtliche Darstellungen etwa des Mutterrechts (Bachofen) und über die ästhetische Perspektive von Nietzsches Dionysoskonzept bis zu jenen zivilisationskritischen Bildern, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Regression in Mythen nahe legen, um den rationalen und technischen Anforderungen der Moderne zu begegnen. Der hier offenkundige Affekt macht sich anders als noch in der romantischen Weltflucht nun mit deutlicheren politischen Implikationen geltend, vor allem in der Mythenberauschung auf Seiten der Rechtskonservativen bzw. der selbsternannten Kulturphilosophen Ludwig Klages, Oswald Spengler, Alfred Rosenberg oder C.G. Jung. Das Tendenziöse solcher ‚Analysen‘ ist deutlich: Mit zyklischen Geschichtsbildern will man die Moderne zurückrufen, wobei von einer Methode im systematischen oder histori-
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schen Sinn nicht zu sprechen ist, eher von unreflektierten Ästhetisierungen der Welt in Traum- und Rauschzuständen. Nachdrücklich dagegen zu halten ist Thomas Manns Forderung anlässlich seiner Josephs-Tetralogie (1933–42), man müsse „dem intellektuellen Faszismus den Mythos wegnehmen und ihn ins Humane umfunktionieren“,1 ihn also als Möglichkeit begreifen, sich mit Denk- und Symboltraditionen auseinanderzusetzen. Es formiert sich nach 1800 aber auch zunehmend eine textkritischanalytische Ausrichtung, die sich von der poetischen Praxis abkoppelt, um ihren Gegenstand mit Distanz zu behandeln. Dies führt zur Praxis einer philologisch orientierten Forschung, die Herkunft und Formen der Mythen untersuchte. Der Vorwurf des Antiakademismus, den Wilamowitz-Moellendorff gegen Nietzsches Geburt der Tragödie erhob, ist hierfür bezeichnend: Man suchte nach textkritisch-positivistischen Methoden, was parallel zu Bestrebungen der Germanistik zu sehen ist, die seit den 1880er-Jahren v. a. in Person Wilhelm Scherers an der detaillierten Aufbereitung aller verfügbaren Textmaterialien oder auch Realien arbeitete. Jenseits einer analytischen Verfeinerung, zu deren Technik auch Freud mit seinem philologischen Hintergrund einiges beigetragen hatte, ist dann eine Präzisierung des Methodenrepertoires wie auch des Gegenstandsbereiches vor allem beim französischen Strukturalismus zu erkennen, der den Mythos mit seiner konkreten Bildlichkeit als vollgültige Erkenntnisstruktur auch interkulturell ernstnahm. Während LéviStrauss Mythen der Naturvölker mit semiologischem Blick analysierte, um über die Beschaffenheit des mythischen Denkens Aufschluss zu gewinnen, richtete Roland Barthes den Fokus auf die Gegenwart bzw. auf Alltagsphänomene, um dort die mythisch-politische Aufladung des Sprach- oder Bildzeichens zu untersuchen. Mythenanalyse ist nach 1945 kaum mehr affirmativ aufgetreten, sondern hat sich in vielen Feldern der Ideologiekritik oder Entlarvung von Alltagsphänomenen profiliert, ausgehend in Deutschland v. a. von Horkheimer und Adorno. Im strukturalistischen Horizont, der etwas später Wirkung zeigte, heißt Analyse von Mythen dann vor allem, diese nicht mehr als unabänderliche Wahrheiten zu nehmen, sondern ihren Überhöhungen und Verfestigungen in alltagsgängigen Machtbildern zu begegnen, was sich gegenwärtig in der Interdiskursanalyse oder in ähnlichen Einzelforschungen erkennen lässt. 1
Mann, Thomas, Brief an Karl Kerényi vom 7. 9. 1941, in: Wysling, Hans (Hrsg.), Dichter über ihre Dichtungen, Bd. II, Frankfurt a. M. 1979, S. 242.
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Dass die Diskussionen in den mythenfreundlichen Zeiten der postmodernen Gegenwart wieder schärfer geworden sind, hat einen ethischen Anlass in pragmatischen Fragen des Lebensvollzugs. Wenn einerseits Odo Marquard Polymythien als Ablösung von allgemein verpflichtenden Lebenshaltungen empfiehlt und gegen den einen Weltfahrplan, gegen den einen Verlauf der Geschichte vielmehr auf die Pluralisierung der Vernunft setzt, haben andere gegen die daraus erwachsende Unübersichtlichkeit auf die Gefahren eines Relativismus hingewiesen, um die ideologiekritische Klage gegen den Mythofetischismus zu erneuern und auf ihren politischen Einfluss hinzuweisen. Zwischen einer hermeneutischen Stoff- und Motivanalyse mit philosophischen Implikationen, aber auch der psychoanalytischen Anwendung oder der feministischen Theorie, ferner den Kulturwissenschaften und der Sozialforschung zeichnen sich in der Germanistik nunmehr zwei Leitperspektiven ab: Zum einen die philologisch-geschichtliche Erschließungsarbeit, die um die Analyse von Textstrategien, narratologischen oder formalen Aspekten erweitert worden ist, sodann politischideologiekritische Fragestellungen, die die Wirkweise von Mythen als angemaßten Wahrheiten auf sozialen und kulturellen Feldern zeigen.
3. Institutionsgeschichtliches Die Entwicklung der Mythenanalyse lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen und kann in sehr unterschiedlichen Institutionen beobachtet werden: Gelehrtentum und Geistlichkeit, akademisches oder vorakademisches Milieu, freie Autorenschaft, Schul- und Hochschul- oder Feuilletondebatten geben den Rahmen für Leitperspektiven, die sich in Philologie, Kulturwissenschaften, Philosophie, Theologie, Geschichte und Sozialwissenschaften zerstreuen, aber auch gewisse Kontinuitäten erkennen lassen. Vertreter der allegorischen Interpretation (besonders die Stoiker des 3. und 4. Jh. v. Chr.) wiesen etwa die Götterfiguren den Naturordnungen und elementaren Zuständen zu und deuteten sie als deren Figurationen. Sie wandten Mythen auf kosmische Vorstellungen sowie moralische Lebensfragen an oder dachten sie in astronomischen und mathematischen Zusammenhängen weiter. Die alexandrinische Schule verfolgte im 2. und 3. Jh. v. Chr. mit ihrer Bibliotheksleitung (Aristarchos von Samothrake, Eratosthenes) hingegen v. a. textkritische Methoden bzw. eine grammatisch-historische Auslegung und arbeitete philologisch mit Textverglei-
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chen. Mit den Kulturstudien des vorderasiatischen Historiografen und Völkerkundlers Herodot finden sich bereits im 5. Jh. v. Chr. vergleichende Untersuchungen von kultischen Praktiken und ihrer Verbreitung sowie etymologische Erklärungsansätze. Das frühe Christentum hat die Konkurrenz von biblischen und profanen bzw. paganen Allegorien deutlich wahrgenommen – in der Patristik ist man an Mythen deswegen interessiert, weil man ihr Scheinhaftes entlarven will, z.B. in der euhemeristischen Deutung, die in den Götterfiguren realhistorische menschliche Vorbilder erkennt. Im Maße der Etablierung des Christentums wurden jedoch Mythen im Hochmittelalter zunehmend toleriert und gelegentlich auch zur Kommentierung von Bibelstellen herangezogen oder einfach als Bildungsgegenstand tradiert – eine Linie, die sich literarisch bei Boccaccio und Dante wiederfindet. Mythen spielen in Renaissance und Humanismus eine zunehmende Rolle bei den vergleichenden Sprachforschungen sowie etwas später bei der historisch-geografischen Erforschung von Mythenmotiven der Antike. Seit dem 18. Jh. wirken Mythen in den sich entwickelnden Kunst-, sodann in den Geisteswissenschaften als motivischer und methodischer Impulsgeber. Folgenreich bis ins 20. Jh. hinein ist die Perspektive Giambattista Vicos, der in seinen Principii di una Scienza Nuova (1725/30) Mythologie als Quellenkunde einer zyklischen Geschichtsentwicklung auffasst, d. h. als Zeichen für ein früheres Stadium der Menschheit, in dem man mit einer ‚logica poetica‘ auf Unerklärliches oder Angstquellen reagierte. Im Versuch, Geschichte als Produkt nicht nur von Naturgesetzen, sondern von Kulturen zu erkennen, artikuliert sich eine akademische Gegenposition zum vorherrschenden Descartes’schen Rationalismus bzw. zum frühaufklärerischen Vernunftbegriff. Am Mythosthema vollzieht sich so der Aufbau einer neuen Sozial- und Kulturwissenschaft mit Folgen bis ins 20. Jahrhundert. Obwohl die Aufklärer den Mythen gegenüber skeptisch eingestellt waren und den Versuch unternahmen, diese nicht nur als abwegige Form der eigentlichen Religion, sondern als Irrtum oder gar Betrug auszuweisen (Fontenelle, d’Holbach), finden Mythen zunehmend Platz in den sich neu formierenden Wissenschaften, z. B. im Rahmen der Anthropologie. In der damals jungen Disziplin der Kunstgeschichte entwickelt Winckelmann an der Laokoon-Skulpturengruppe wichtige formale Aspekte der mythischen Affektgestaltung, nämlich die bekannten Kategorien ‚edle Einfalt‘ und ‚stille Größe‘.2 2
Winckelmann, Johann Joachim, „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauer-Kunst“ [1755], in: Pfotenhauer, Hel-
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Herders Mythenforschungen, ebenfalls von Vico beeinflusst, stellen ihrerseits einen Affront gegen die akademische und auch gegen die orthodox-theologische Welt dar. Herder bezieht sich nicht nur auf griechische, sondern auch auf nordische Mythen, aus denen er ein nationalkulturelles Selbstverständnis, aber auch moralische Lebensbilder und nicht zuletzt Anleitungen zum Dichten gewinnen will – Mythen sind dann eine „poetische Heuristik“ für werdende „Erfinder“ oder „Genies“.3 Kurz darauf gibt Karl Philipp Moritz als Gymnasiallehrer und späterer Professor der Theorie der schönen Künste Impulse aus Sicht der Bildung und der wissenschaftlichen Ästhetik. In seiner Götterlehre (1791) liefert er sowohl Bild- als auch Motivanalysen, vor allem aber kongeniale Erzählungen, die Erziehung und Anleitung für Leser darstellen. Indem er den Mythen einen eigenständigen Phantasiewert zuweist, befördert er entscheidend die Autonomiediskussionen um das Kunstschöne. In der Frühromantik ist die Mythenanalyse kaum geschichtlich-systematisch orientiert, Mythen werden vielmehr eklektizistisch als Vorbilder einer poetischen Einbildungskraft, eines ganzen Menschen und einer versöhnten Gesellschaft und insofern als eine Lebenform beschworen. F. und A.W. Schlegel sowie Schelling aus akademischer Position, Novalis und Hölderlin als Autoren sprechen ihnen poetische und auch politische, Gemeinschaft bildende Kraft zu. Mit dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796), auch mit F. Schlegels Rede über die Mythologie wird diese Wendung zum mythopoetischen Konzept ausgearbeitet und z. B. in der von den Schlegel-Brüdern herausgegebenen Athenäums-Zeitschrift für eine relativ breite Leserschaft publiziert. Die poetische Praxis der Selbstbesinnung, vor allem aber das Geschichtsbewusstsein der Mythenforschung waren zwei Faktoren, die Einfluss auf die Gründung des Universitätsfaches Germanistik als ‚Deutsche Alterthums-Wissenschaft‘ 1810 in Berlin hatten. Als eigenständige Universitätsdisziplin gab es die Mythologie indessen nicht. Voß, Müller sowie der Heidelberger Altphilologe und Archäologe Creuzer (Symbolik und Mythologie der alten Völker, 1810) forschten auf Lehrstühlen, die anders benannt waren, prägten aber dabei etymologische, vergleichende und historische Mythenforschungen. Die geschichtlichen Aspekte münden z. T.
3
mut u. a. (Hrsg.), Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, Frankfurt a. M. 1995, S. 11–50. G. Herder, Johann, „Fragmente“, in: Sämmtliche Werke, Bd. I, hrsg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877, S. 444.
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in soziologische Fragestellungen, die später vom Baseler Rechtsgeschichtler Bachofen aufgegriffen werden, der in Das Mutterrecht (1861) mythische Themen auf Gesellschaftsstrukturen anwendet und die Entwicklung vom Matriarchat zum Patriarchat in stark schematisierten Geschlechtermustern zeigt. Auch als sich um 1830 die philologisch arbeitende Altertumsforschung ausdifferenzierte in Ältere Geschichte, Altphilologie, Religionswissenschaften, Archäologie und Kunstwissenschaften, gab es für Lehrstuhlbewerber mit Hauptinteresse an mythologischen Stoffen keinen Platz – solche Kenntnisse wurden in den genannten Disziplinen vorausgesetzt, wenn auch nicht in spezialisierter Form. Die Zerstreuung in die Disziplinen behinderte die Mythenforschung indessen kaum. Dass sich an Mythendiskussionen grundlegende akademische Konflikte entzünden können, zeigte sich erneut an der Debatte um Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), welche er als das dionysisch-irrationale Element gegen den euripideischen Geist der Rationalität und Logik pointiert hatte. Der Kollege WilamowitzMoellendorff konterte Nietzsches Attacken gegen die etablierte klassizistisch-historistische Philologie mit Vorwürfen gegen seinen intuitiven Stil, der nicht wissenschaftsfähig sei. Die fortgesetzte Diskussion macht deutlich, dass Nietzsches emphatische, in der Tradition der romantischen Mythopoetik stehende Lesart von der textstrengen Philologie nicht toleriert werden konnte, weswegen er sich letztlich auch von seinem Fach distanzierte. Daran wird einmal mehr die Opposition von allegorischen und grammatisch-rhetorischen Interpretationen deutlich: WilamowitzMoellendorff behandelte den Mythos als Textprodukt eines Dichters im philologisch-historistischen Stil, was etwa an seiner Habilitation über Euripides (1875) deutlich wird, mit der er schließlich seine Universitätskarriere begründete. Dies passte in die akademische Landschaft der Germanistik, die mittels Quellenforschung, Textkritik und Biografieforschung ein positivistisches Selbstverständnis zu begründen suchte. Um 1900 fächerten sich die Disziplinen der Mythenforschung noch einmal auf. Wilhelm Wundt stellte in seinen ab 1905 erschienenen Bänden zur Völkerpsychologie Perspektiven der Mythenforschung des 19. Jahrhunderts zusammen. Der Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl wies den Mythen in Unterscheidung zur Wissenschaft eine prälogische Geistesart zu, die sich in mystischer Partizipation eines entgrenzten, entindividuierten Bewusstseins auswirke. Der Begriff des ‚Lebens‘ – selbst Gegenstand einer Mythisierung in den Natur- und Geisteswissenschaften dieser Zeit – beeinflusste vorher schon Wilhelm Dilthey, der in Abgrenzung
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des geisteswissenschaftlichen Verstehens vom naturwissenschaftlichpositivistischen Erklärungsbestreben um 1900 ein Einfühlungskonzept stark machte. Dies mag auch Folgen in der Germanistik gehabt haben mit Blick auf nationale Mythisierungen, die z. B. in Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912–1928) zu erkennen sind. In dieser Linie vertraten Ludwig Klages oder Alfred Schuler im esoterischen Münchner ‚Kosmiker‘-Kreis ihre Lehren und verbreiteten ein zivilisationskritisches und regressives Interesse am Mythos, was sich in Extremform beim Aktivisten Alfred Rosenberg bemerkbar machte, der mit seiner antisemitischen Blut- und Bodenreligion im Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) bei den Nationalsozialisten zum Chefideologen avancierte. Gegen den sich abzeichnenden Mystizismus der 1920er-Jahre hatte Ernst Cassirer als Philosophieprofessor in Hamburg mit seiner wirkungsreichen Philosophie der symbolischen Formen (1923–29) eine Geistesbzw. Kulturgeschichte gesetzt, die so luzide wie liberal mythische Formen als Teil von konstruktiven Denkleistungen untersuchte. Die Zusammenarbeit mit dem Kunsthistoriker Aby Warburg, dem Gründer der Hamburger Kulturhistorischen Bibliothek, fundierte den kulturwissenschaftlichen Anspruch seiner Studien mit ikonografischem Wissen. Erste Einflüsse auf die Germanistik sind bei Clemens Lugowski (1932) zu erkennen, der Romanformen als Gewinn eines geschichtlichen Individualitätsverständnisses analysiert. Dass Cassirer die Unparteilichkeit des Kulturwissenschaftlers später aufgibt, hat politische Gründe: 1933 seines Rektoramtes enthoben und in die Emigration gezwungen, analysiert er die Mythenbildungen des Nationalsozialismus mit deutlichen macht- und politikkritischen Warnungen (Der Mythus des Staates, posthum, 1946). Die ideologiekritische Sicht nach 1945, die vor allem von Exilautoren angebahnt wird, prägt dann eine wichtige Linie der universitären Beschäftigung mit Mythen – auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben ihre modernekritische Dialektik der Aufklärung (1944/47) in Amerika. Der Zusammenhang von Mythos und Aufklärung bzw. Moderne findet sich in der Folge bei zahlreichen kritischen Autoren nach 1945, zunächst vor allem in Frankreich mit Gegenwartsanalysen etwa von Roland Barthes, der als Professor an der Pariser École Pratique des Hautes Ètudes die Mythen des Alltags (1957) untersucht, dann bei Vertretern der Frankfurter Schule (insbesondere Jürgen Habermas) und in der Interdiskursanalyse Jürgen Links und Rolf Parrs. Die Perspektiven der Kritischen Theorie werden in dem von Bohrer heraus-
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gegebenen interdisziplinären Band Mythos und Moderne (1983) geistesgeschichtlich und philologisch noch einmal gestärkt, teilweise, um sich gegen die Konjunktur des Französischen Poststrukturalismus zu richten, und generell gegen eine auch in den Feuilletondebatten erkennbare Tendenz, Mythen als Begründungszusammenhänge zu nutzen und polemisch gegen die Moderne zu richten. Die soziologische Perspektive ist dann spätestens mit dem interdisziplinären Band Terror und Spiel (1971) philologisch vertieft worden; beide Seiten bilden den Hintergrund zahlreicher jüngerer Forschungsprojekte an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik.
4. Publikationen Aus der Vielzahl der einschlägigen Publikationen allein im 20. Jahrhundert, die auf die Germanistik eingewirkt haben, lassen sich die für die Germanistik einflussreichsten und aktuellsten in drei Perspektiven bündeln, nämlich in einer anthropologisch-kulturwissenschaftlichen, einer politisch-ideologiekritischen und einer textwissenschaftlichen. Friedrich Nietzsche entwickelt in seiner Geburt der Tragödie (1872) in antiakademischer Manier an zwei Leitfiguren der Mythologie seine Dramen- und Kunstphilosophie: Zwischen dionysisch-rauschhaftem Modell und apollinisch-geistigem Prinzip wird ein Ausgleich angestrebt, der aufgrund der rationalen Überlast des Dramas seit Euripides nur durch Restauration des Dionysischen zu erreichen sei. Zur Leitthese des l’art pour l’art wird seine These, dass die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei, die er später mythopoetisch im Zarathustra (1883/85) kultiviert. Reichhaltige Wirkung hat Freuds Traumdeutung (1900) hinterlassen, worin der Mythos mit seinen übersubjektiven Bildern parallel gesetzt wird zu den privat-subjektiven Traumbildern und deren Logik u. a. nach manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken, also einer Beziehung von Ausdruck und Bedeutung, durchforscht wird. Auch wenn Freud an manchen Stellen verallgemeinert (etwa mit dem Ödipus-Mythos als berüchtigter Deutungskonstruktion), betont er doch, dass die Mythenbedeutung am Einzelfall zu prüfen und als text- und bildhermeneutisches Verfahren nur in Beziehung zum Symbolsystem des Patienten als ein individueller Textzusammenhang zu interpretieren ist. Nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in der Methodologie ist diese Studie ebenso folgenreich geworden wie Freuds spätere kulturtheoretische Schriften
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( Jenseits des Lustprinzips, 1919), in denen er mit Eros und Thanatos Mythenfiguren als Geschichtsbilder der Selbstverständigung darstellt, um den modernen Menschen über seine Konstruktionen und Kulturkrisen aufzuklären. Freuds vormaliger Schüler C.G. Jung hat dagegen in Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten (1928) eine Archetypenlehre begründet, die sich auf die Gesamtheit der Mythen als menschheitliches Reservoir eines kollektiven Unbewussten stützt. Krankheitssymptome des modernen Menschen will Jung mythologisch erklären und mit Einstimmung auf antizivilisatorische Wahrnehmungsformen, Traum- und Rauschzustände auch therapieren – ein Unternehmen, das Mythen auf Fundamentalkonstanten reduziert und dem eine sozialhistorische oder individuelle Abstimmung fehlt. Ernst Cassirer hat im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923–29/1925) Mythen neben Künsten und Wissenschaften als spezifisch menschliche Erkenntnisprodukte, weitergehend noch als Ausdrucksphänomene untersucht. Mythen konstruieren Sichtweisen, Weltbilder und Kulturen, sie prägen Lebensformen und können insofern in ihrer „eigentümlichen bildenden Bearbeitung und Darstellung“ gezeigt werden.4 Cassirer sieht Mythen als Vorstufe zu Religionen insofern, als diese dann ein Bewusstsein über ihre symbolischen Zeichentransformationen entwickeln und dort ein neuer Akzent auf das Innere gelegt wird. Damit rückt die Symbolform vom Erfahrungsmaterial weiter weg – eine semiotische Entwicklung, die sich in der Renaissance steigert und in der Ästhetik weitergeführt wird, welche sich dann der Wahrheitsfragen entledigt. Gerade Cassirers geistesgeschichtlich fundierte Parallelisierung von Kunstformen und Erkenntnistätigkeiten ist in den Kulturwissenschaften wichtig geworden. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus hat Cassirer im Mythus des Staates (1946) später die Machtbedingungen der Mythen bzw. ihre Durchsetzung und ihren politischen Gehalt thematisiert. Der Mythos setzt dann Rationalität und Vernunft außer Kraft und steht dem modernen Entwicklungsdenken gegenüber, weswegen Cassirer aus aktuellem politischem Anlass die dringende Maxime ausgibt, die Entstehung und die „Technik der politischen Mythen sorgfältig [zu] studieren.“5 Ähnlich 4
5
Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II: Das mythische Denken [1925], Darmstadt 1952 u. ö., S. 31. Cassirer, Ernst, Mythus des Staates. Philosophische Grundlage politischen Verhaltens [1946], Hamburg 2002, S. 388.
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ideologiekritisch haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung die Verschlingung von Aufklärung und Mythos analysiert und als Kernfigur Odysseus benannt, der im Mythos schon durch List und Naturbeherrschung einen ersten Schritt in den Logos tut. Grundsätzlich erklären Mythen bereits die Welt und halten etwas fest; dieses Definitorische führe die Aufklärung fort, wodurch sie einerseits Befreiung erzielt habe, andererseits aber totalitär verfahren sei. Denn ihr Vernunftgebrauch sei durch ein zweckinstrumentelles Denken geprägt, das zum Ausschluss des Fremden oder Anderen geführt habe. Insofern sie sich und die Weltimmanenz zum einzigen Ziel setze, überhöht die Aufklärung alles Faktische zum Mythischen und ersetzt Qualitäten durch Normen der Gestaltung und Anpassung, die ihrerseits zwanghaft und bedrohlich werden – dies vor allem in einer nur noch rechnenden industriellen Herrschaft, die auch Subjektivität nivelliert und eine vereinheitlichte Kulturindustrie schafft. Die soziologische und historische Analyse dieses Verblendungszusammenhangs ist für die Frankfurter Schule und teilweise für die Diskursanalyse leitend geworden. Mit machtkritischen Perspektiven hat auch Roland Barthes gearbeitet und in seinen Mythen des Alltags (1957) westeuropäische Alltagsphänomene der Gegenwart dargestellt. Deren rhetorische Beschaffenheit hat er semiologisch analysiert als Zusammenspiel einer intuitiv erfassbaren Bedeutung sowie einer sekundär überformten Ebene, die daran angelagert wird, um einen neuen semantischen Komplex aufzubauen – ein Vorgang, den Barthes an Texten, Bildern, Modeprodukten, politischen Botschaften oder Werbeanzeigen zeigt. Analysiert wird, wie sich an den losen Verbund von Signifikant und Signifikat neue Vorstellungen anlagern und Konnotationen bilden, die wiederum einen neuen, verschobenen Signifikaten hervorbringen. Diese Manipulationen lassen sich wiederholen und schließlich verfestigen, wodurch mythoide Gebilde entstehen. Barthes führt dies etwa an Werbeanzeigen vor, z. B. einer Schönheitscreme, bei der die Oppositionen ‚alt/jung‘ und ‚trocken/flüssig‘ auf die passende Weise verbunden werden – das vorher nur Flüssige wird nun mit Jugend, Schönheit, Frische assoziiert. Dieselbe Funktion lässt sich beim Aufbau politischer Mythen erkennen: Ein Foto, das einen jungen Farbigen in Uniform zeigt, der eine französische Flagge grüßt, soll Unterordnung und Einverständnis suggerieren – eine Zeichenmontage, deren Semantik eingehend analysiert wird, um allgemein auf Mythisierungsprozesse in Politik, religiöser Praxis, Leitbildern und Verschleierungsstrategien als Täuschungen hinzuweisen.
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Die strukturalistisch-semiologische Praxis der Mythenanalyse hatte kurz vorher Claude Lévi-Strauss angebahnt, dessen empirisches Feld allerdings mythische Erzählungen und kultische Praktiken von polynesischen und südamerikanischen Völkern umfasst (Traurige Tropen, 1955). Dem mythischen Denken weist auch er eine konstruktive, den Wissenschaften vergleichbare, allerdings differente Logik der Denkoperationen zu. Lévi-Strauss stellt Beobachtungen über die raum-zeitlichen Wahrnehmungsformen jenseits der rationalen Kategorien an und analysiert rhetorische Figuren bzw. mythische Tropen und Bilder. Grundsätzliche Arbeitsperspektiven sind in Die Struktur der Mythen (1955) formuliert und in Mythologica I–IV (1964–71) umfangreich angewandt. Analog zum Phonem, Morphem oder Semantem werden sog. Mytheme herausgearbeitet, die als Aussagesätze einen Mythos formen; diese Einzelsätze bzw. Grundelemente (z. B. ‚Ödipus erschlug seinen Vater‘) sind auf Karten zu schreiben, um dann ihre Position anzugeben. Ausgehend von der Beobachtung, dass das mythische Denken Gegensätze bewusst macht und ihre Angleichung ermöglicht, werden Mytheme, die in einem semantischen Feld kombiniert sind, vor allem in Oppositionsbündeln analysiert (z. B. das Rohe und das Gekochte). Aus dem diachronen Prinzip der Mythenbeobachtung geht hervor, dass jeder Mythos in einer Art Blätterstruktur beschrieben werden kann, dessen gleichberechtigte Varianten an der Oberfläche durchscheinen: Freuds Ödipus ist gleichrangig mit Sophokles’ Ödipus zu behandeln. Lévi-Strauss arbeitet zwar im Ansatz mentalistisch, zeigt aber die mythischen Strukturen als übersubjektives Ereignis bzw. als soziale Praxis. Darin liegen letztlich auch politische Implikationen, die über Barthes und Foucault in die Interdiskursanalyse Jürgen Links und seiner Schüler münden, welche das Netzwerk von gesellschaftlich formierten Bildern, Sinn- und Vorstellungskomplexen und Kollektivsymbolen auf semantische Oppositionen hin untersuchen. Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr zeigen entsprechend in Historische Mythologie der Deutschen (1991), wie Alltagsdenkweisen in Bildern, Briefen, Karten oder literarischen Texten semantisch aufgeladen und zu politisch-nationalen Mythen überhöht werden können. Klaus Theweleit hat mit seiner Serie des Buchs der Könige (1988–1994) eine umfangreiche psycho-diskursanalytische Studie vorgelegt, die das Verhältnis von Autoren zur Macht untersucht – Orpheus wird in dieser Archäologie der Gegenwart als Zentralmythos vieler Autoren (z. B. Dante, Rilke, Benn, Pound) erkannt, während Eurydike durch ihren Tod von den patriarchalen Kunstproduktionsstrukturen ausgeschlossen
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wird. Die Art der Darstellung ist selbst mythopraktisch: Assoziationen wechseln mit diskursiv-analytischen Darstellungen, Bildern, Fallberichten und Lebenserzählungen – jedoch in einer Weise, die noch die Mythografie selbst dekonstruiert und ihre Bruchstellen öffnet. Etwas andere Perspektiven im Sinne der Kritischen Frauenforschung hat Heide Abendroth-Göttner in Die Göttin und ihr Heros (1980) eröffnet, die im mythischen Paar nicht die Opposition, sondern die integrative Kraft der Göttin herausarbeitet. Dabei werden an Einzelmythen Bildformen und Semantiken des Weiblichen und des Männlichen herausgearbeitet und Rollenmerkmale in Stufenaufbau, Handlungskernen und deren Transformationen gezeigt. Hierin der Diskurskritik des Normalismus nahe stehend, werden kritische Aspekte dort artikuliert, wo ein stereotypes Umfeld verfestigend wirkt. In seinen Düsseldorfer Jahrbüchern Mythologica (1991–2002) und dem Nachfolgeorgan Mythos (Fächerübergreifendes Forum für Mythosforschung, seit 2004) hat Peter Tepe ein interdisziplinäres Arbeitsfeld im methodischen Dreischritt einer ‚kognitiven Hermeneutik‘ erarbeitet: Zunächst erfolgt eine textwissenschaftliche Analyse (Handlung, Themen, Motive, Stilistika, Erzählperspektive o. a. Formen der jeweiligen Kunstdisziplin), sodann werden Erklärungsvermutungen zu den gefundenen Weltbildannahmen gegeben und schließlich Fragen nach einem Textkonzept bzw. der Autorposition gestellt. Mit der Untersuchung von Helden, ihrer Karrieren, Einsetzungsrituale und Verehrungsprozesse wird auf die Analyse von politischen Mythen eine allgemeine Ideologie- und Illusionsforschung gesetzt. Die neuere textwissenschaftliche Interpretationslinie ist aber auch aus den anthropologischen Fragen von Freud und Cassirer hervorgegangen, wobei Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos (1979) eine Schlüsselposition innehat. Auch er weist dem Mythos eine Strategie der Sublimierung und des Aufschubs zu, ja schließlich der Freiheit, eine Erfahrung gestalten zu können und den „Absolutismus der Wirklichkeit“6 im Spiel zu überwinden. Die poetische (wie auch wissenschaftliche) Arbeit am Mythos zielt dabei nicht auf Wiederherstellung mythischer Zustände, sondern weist in Richtung einer konstruktiv-spielerischen Ästhetik. Auch wenn sich im Laufe der Zeit ein erratischer Bedeutungskern herausschält, würde die Suche nach der Urfassung von Mythen im Nichts enden; sie existieren nur in den verschiedenen Varianten ihrer Überliefe-
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Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos [1979], Frankfurt a. M. 1996, S. 133.
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rung, die ohne Rangfolge zu betrachten sind (wie etwa am PrometheusMythos von Aischylos bis Kafka gezeigt wird). Problematisch bleibt die teleologische Annahme eines Bestrebens, den Mythos zu Ende zu bringen bzw. sein Potenzial auszuschöpfen. Die themen-, sujet- und motivgeschichtliche Ausrichtung Blumenbergs hat geistesgeschichtlich reiches Belegmaterial erbracht; gattungs- oder formale Aspekte sowie Fragen der Textkonstitution werden hingegen weniger berührt. In den literaturwissenschaftlichen Anwendungen hat es insbesondere auf komparatistischem Gebiet Anstrengungen gegeben, das Mythische als Semantik und Struktur prägendes Element aufzuweisen. Dafür gibt es zumindest zwei Vorläufer. In der geistesgeschichtlichen Tradition wäre Walter Rehms Orpheus. Der Dichter und die Toten (1950) zu nennen, der die antike Vorlage mit Variationen des ‚poeta vates‘ bei Hölderlin, Novalis und Rilke zeigt, und zwar als Ausbildung einer modernen, autonomen Poetik, bei der die programmatische und die dichterische Ebene verschlungen sind. Deutlich steht diese Veröffentlichung in einer Phase der Neukonstitution der Germanistik mit Blick auf werkimmanente Aspekte der Dichtung und programmatische Selbstverständigungen. Clemens Lugowski dagegen hatte vorher an Cassirer angeknüpft und die Studie Die Form der Individualität im Roman (1932) vorgelegt. So untersucht er im Begriff des ‚formalen Mythos‘ das Fortleben der mythischen Energien und Wahrnehmungsweisen eben nicht in den überlieferten Inhalten, sondern auf Ebene der literarischen Konstruktion. Dort findet sich ein ‚mythisches Analogon‘ in Sprachform, Syntax, Stilistik, Zeitgestaltung, sodann beim narrativen Handlungs- oder Spannungsaufbau und bei Fragen der (Selbst)wahrnehmung, die im Zusammenhang mit der Identitätskonzeption im frühneuzeitlichen Roman behandelt werden. Dieser Ansatz ist in Deutschland in jüngster Zeit mehrfach aufgegriffen worden, z. B. in den Beiträgen, die Matias Martinez im Sinne Lugowskis unter dem Titel Formaler Mythos (1996) herausgegeben hat, um in dessen Perspektive an unterschiedlichen Gegenständen und Gattungen zu zeigen, wie mythische Denkformen in Strukturen von Erzählung und Lyrik sublimiert werden. Dabei wird hier stärker auf die historische Variabilität verwiesen und gezeigt, dass Mythen auch in der Gegenwartsliteratur deren Wirkung insbesondere durch die Form befördern und dass sie sich als mythische Analoga in wechselnden historischen Umgebungen ihrerseits wandeln. Pierre Brunels Mythocritique (1992), die die Verzweigung archaischer Mythenelemente in verschiedenen Literaturen (v. a. der französischen)
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verfolgt, umfasst drei Tätigkeiten: Erstens das Aufspüren von Mythenindikatoren (‚émergence‘), zweitens das Beleuchten von dunklen, rätselhaften Semantiken jenseits des konventionellen Ausdrucks im Zusammenhang mit Gattungsfragen (die vieldeutige ‚flexibilité‘ des Textes) und schließlich die Textgesamtanalyse als Vergleich von Ursprungsmythos und Textvariationen. Wiederum steht hier Orpheus prominent für Metamorphosen der Poetenfigur, die die mythische Lebensweise als kreatives Verfahren insgesamt verkörpert. Der Aufsatzband Komparatistik als Arbeit am Mythos (hg. v. Monika Schmitz-Emans und Uwe Lindemann; 2004) erinnert nicht nur im Titel an Blumenberg, sondern zeigt an Einzelbeispielen der Moderne, dass Mythen immer in Rezeption befindlich sind. Auch hier werden die Mythisierungsprozesse bis in die europäische Gegenwartsliteratur verfolgt, wobei nach narratologischen Aspekten der Strukturbildung und Bedeutungsgenerierung gefragt wird, ebenso nach Formen poetischer Selbstreferenz. Intertextualität kann dann selbst als mythologische Struktur gesehen werden, die als literarische Arbeit ausgewiesen und mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven auch in den gesellschaftlichen Bereich hinein verlängert wird. Radikalisiert wird das Variationsprinzip eines stabilen Mythenkerns in dem von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler herausgegebenen Band Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption (2005), der angelehnt an Brechts Praxis der ‚Mythenberichtigung‘ zeigt, wie Mythen Extremerfahrungen und Zivilisationsgeschichte manifestieren und daher einen tradierten Bestand aufweisen, aber durch neue Geschichtsbilder geändert werden. An einem äußerst weiten Themenspektrum von antiker bis zu Gegenwartsliteratur wird ein markanter Fall der Variation, nämlich die strikte Negation semantischer Kernmytheme gezeigt (‚die Sirenen singen nicht‘). Diese treten als paradoxale Strukturen auf und sind so als Neukombination von Mythemen in Montagen, Collagen und Bricolagen zu analysieren.
5. Fachgeschichtliche Einordnung In der Geschichte der Mythenanalyse lassen sich viele fachgeschichtliche Perspektiven der Germanistik wiederfinden, ausgehend von den Traditionen der allegorischen und der textkritischen Deutung über hermeneutische, (kultur-) philosophische und politische Fragestellungen bis zum Analyseverfahren des Strukturalismus und neueren Fragen der (In-
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ter-)Textkonstitution. Deutlich wird dabei, dass kulturgeschichtliche Analysen vor allem etwas über das kulturelle Selbstverständnis der Epoche aussagen, in der sie entstanden sind – Mythen und ihre Lehren sind immer auch Projektionsflächen für Interpretationsmuster gewesen. Zwei Anregungen bleiben: Materialfragen der Diskursanalyse, die stärker auf Institutionen-, Macht- und auch Medienaspekte zwischen Oralität und Literalität, also letztlich auf gesellschaftliche Praxis zielen, müssten ebenso wie pragmatische Fragen der Ethnografie und der Kulturanthropologie berücksichtigt werden und die Geistesgeschichte noch deutlicher ergänzen. Dies könnte sodann im Rahmen interkultureller Kommunikation fruchtbar gemacht werden. An Mythen und ihren kulturellen Varianten ließen sich Grundeinstellungen und Denkhaltungen auf synchroner und diachroner Ebene erkennen, womit Perspektiven für eine intrakulturelle Selbstverständigung und einen interkulturellen Dialog gewonnen werden könnten. Vergleichende Mythenanalyse könnte in mythischen Erzählungen Modelle der Fremdheit erkennen und ihre relativen Geltungsund Wahrheitsansprüche sowie Differenzen in die Schwebe bringen, sie also nicht nur als Ausdrucksformen im Sinne fester Behauptungen zeigen, sondern als Spielfeld der Kommunikation eröffnen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Kerenyi, Karl (Hrsg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch, Darmstadt 1967. Die umfangreiche Textsammlung zu Mythentheorien geht bis Vico zurück und bezieht sich dann vor allem auf das 19. Jahrhundert. Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1983. Standardwerk zur politisch-philosophischen Debatte um die Rolle des Mythos in Moderne und Postmoderne mit Bezug auf Autoren unterschiedlicher Gebiete des 19. und 20. Jahrhunderts. Jamme, Christoph, Gott an hat ein Gewand. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart [1991], Frankfurt a. M. 1999. Ein umfassender und gut diskutierter Überblick über Mythentheorien mit vorrangig philosophischer Perspektive, der aber auch andere Ausrichtungen streift.
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Barner, Wilfried / Detken, Anke / Wesche, Jörg (Hrsg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2003. Ein Reader mit kanonischen Beispieltexten des 20. Jhs., den Nachteil von gelegentlichen Kürzungen in Kauf nehmend, aber mit jeweils instruktiven Einführungen versehen. Segal, Robert A., Mythos. Eine Einführung [amerik. 2004], Stuttgart 2007. Gibt einen thematisch organisierten Überblick zu Theorieströmungen des 19. und 20. Jhs., der allerdings stark personalisiert dargeboten wird. Sonstige zitierte und allgemeine Literatur Moritz, Karl Philipp, „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ [1788], in: Werke, Bd. 2, Günther, Horst (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1981, S. 549–578. Moritz, Karl Philipp, „Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten“ [1791], in: Werke, Bd. 2, Günther, Horst (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1981, S. 608–842. Freud, Sigmund, „Die Traumdeutung“ [1900], Studienausgabe, Bd. II, hrsg. v. Alexander Mitscherlich / Angela Richards / James Strachey, Frankfurt a. M. 2000. Lévy-Bruhl, Lucien, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieurs, Paris 1910. Freud, Sigmund, „Jenseits des Lustprinzips“ (1920), in: Studienausgabe Bd. III, hrsg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a. M. 2000, S. 211–272. Klages, Ludwig, Vom kosmogonischen Eros, München 1922. Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II: Das mythische Denken [1925], Darmstadt 1952 u. ö. Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes, München 1927.
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Jung, Carl Gustav, Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Darmstadt 1928. Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman [1932], Frankfurt a. M. 1994. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944/47], Frankfurt a. M. 1969 u. ö. Cassirer, Ernst, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens [1946], Hamburg 2002. Eliade, Mircea, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen [frz. 1948], E. Moldenhauer (Übs.), Frankfurt a. M. 1998. Rehm, Walter, Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis – Hölderlin – Rilke, Düsseldorf 1950. Lévi-Strauss, Claude, „Die Struktur der Mythen“ (1955), in: Strukturale Anthropologie [frz. 1958], Frankfurt a. M. 1967, S. 226–254. von Ranke-Graves, Robert, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung [1955], H. Seinfeld (Übs.), Reinbek 1984 u. ö. Barthes, Roland, Mythen des Alltags [frz. 1957], H. Scheffel (Übs.), Frankfurt a. M. 1964. Lévi-Strauss, Claude, Das wilde Denken [frz. 1962],. H. Naumann (Übs.), Frankfurt a. M. 1973 u. ö. Lévi-Strauss, Claude, Mythologica I–IV [frz. 1964–1971], Frankfurt a. M. 1976. Blumenberg, Hans, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, in: Fuhrmann, Manfred (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11–66. Fuhrmann, Manfred (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971.
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Narratologie von K ARIN K RESS
1. Definition Die Narratologie1 hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts als fester Bestandteil der internationalen Geistes- und Kulturwissenschaften etabliert. Als „Wissenschaft vom Erzählen“2 ist sie nicht auf die Philologien beschränkt, sondern reicht in alle Kunst- und Alltagsbereiche, in denen der gemeinsame Gegenstand ‚Erzählung‘ als Ausdruck menschlicher Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung Bedeutung hat. Ansätze aus historiographischen, kultur- und sozialwissenschaftlichen, pädagogischen und psychologischen bis hin zu erkenntnistheoretischen Beiträgen befruchten sich gegenseitig, während neue Erkenntnisse wiederum in die Einzeldisziplinen zurück getragen werden.3 Jörg Schönert spricht in diesem Zusammenhang von einer „Querschnitt-Disziplin“.4 Die Fragen ‚Was ist ‚Erzählen‘?‘ und ‚Wie lässt es sich wissenschaftlich anschlussfähig beschreiben?‘ gehören dabei nach wie vor zu den zentralen Diskussionsfeldern. In ihrem Spannungsfeld haben sich zahlreiche Modelle zur Charakterisierung und Kategorisierung von Erzählungen zur Diskussion gestellt, wobei der Gegenstandsbereich mündliche und schriftlich fixierte Erzählungen, fiktionale und nicht-fiktionale 1 2 3
4
Im deutschsprachigen Raum ist außerdem der Alternativbegriff ‚Erzähltheorie‘ gebräuchlich, selten auch ‚Narrativik‘. Todorov, Tzvetan, Grammaire du Décameron, Mouton 1969. So wird in einigen Disziplinen bereits vom ‚narrative turn‘ gesprochen: Kreiswirth, Martin, „Trusting the Tale. The Narrativist Turn in the Human Sciences“, New Literary History, 23/1992, S. 629–657; vgl. auch Meuter, Norbert, „Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrative Paradigma in den Kulturwissenschaften“, in: Jäger, Friedrich / Streub, Jürgen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2004, S. 140–155, hier S. 143 f. Schönert, Jörg, „Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie“, in: Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien, hrsg. von Vittoria Borso und Christian Kahn, Köln 2004, S. 130–43, S. 137.
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(faktuale) Erzählungen, sowie Werke aus unterschiedlichen Gattungen (Lyrik, Drama) und Medien (Film, Comic, Ballett, Computerspiel) umfassen kann. Die Narratologie lässt sich als Methode der Germanistik nicht von den sprach- und literaturwissenschaftlichen Arbeiten anderer Philologien im deutschsprachigen Raum abgrenzen. Zentrale Beiträge wurden und werden von Inhabern anglistischer oder slavistischer Lehrstühle geleistet und bedienen sich in besonderem Maße der Impulse aus der französischen strukturalistischen Schule. Nichts desto trotz gehört die Erzähltextanalyse als „angewandte Narratologie“5 in der Germanistik zum Basisrepertoire des Literaturwissenschaftlers. Im internationalen Vergleich zeichnen sich zudem für den deutschsprachigen Raum spezifische Rezeptionswege und -schwerpunkte ab.
2. Beschreibung Für die Narratologie ergeben sich synchrone und diachrone Forschungsschwerpunkte in der Germanistik. Zu den synchronen gehören die Fragen ‚Worin unterscheiden sich Erzählungen von anderen sprachlichen Äußerungen?‘, ‚In welche Bausteine lassen sich Erzählungen zerlegen?‘ bzw. ‚Welche Merkmale können zur Charakterisierung herangezogen werden?‘. Damit eng verbunden ist der Ansatz, Texte nach ihren verschiedenen Erzählstrukturen zu klassifizieren oder zu typologisieren unter der Frage ‚Wie unterscheiden sich Erzähltexte untereinander?‘ Zu den diachronen Untersuchungsthemen gehört die Entwicklung der Erzähltradition im Laufe der Literaturgeschichte, vor allem unter der Frage: ‚Wie schlagen sich gesellschaftshistorische Entwicklungen in veränderten Wirklichkeitswahrnehmungen und ihrer erzähltechnischen Darstellungen nieder?‘ bzw.: ‚Wie verändert sich die Erzählweise bei einzelnen Autorinnen und Autoren im Verlauf ihrer Schaffensphasen?‘. Die Erzähltextanalyse unterscheidet sich von anderen Interpretationsansätzen außer in ihrem spezifischen Gegenstand vor allem durch die Annahme, dass die Analyse des Verhältnisses von Inhalt (‚histoire‘) und Darstellungsweise (‚discours‘)6 einen entscheidenden Schlüssel für die 5 6
Schönert, „Zum Status“, S. 136. Diese Begriffswahl findet sich zuerst bei Todorov, Tzvetan, „Les catégories du récit littéraire“, in: Communications, 8/1966, S. 125–151; dt.: „Die Kategorien der lite-
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Interpretation des gegebenen (meist) epischen Textes liefert. Die konkrete Textanalyse wird wesentlich geprägt durch die Wahl der Beschreibungs- und Kategorisierungsbegrifflichkeiten.7 Es gehört daher zur Erzählanalyse selbst, sich für ein geeignetes Kategoriengerüst zu entscheiden und ggf. Herkunft und Verwendung der gewählten Instrumente zu kommentieren, um sie wissenschaftlich hinterfragbar zu machen.8 In so fern hat jede Erzählanalyse auch Anteil an der Narratologie im weiteren Sinne, da sie die im Angebot stehenden Kategoriensysteme auf ihre Brauchbarkeit im konkreten Fall untersucht und ggf. neu justieren oder anpassen kann. Je nach gewähltem Theoriemodell ergibt sich ein spezifischer Katalog von Fragen, die an den jeweiligen Text gestellt werden. Im Folgenden werden fünf Diskussionszusammenhänge vorgestellt, denen sich diese Fragen zuordnen lassen und die wiederum selbst als Orientierung bei der Textanalyse dienen können. Gibt es eine erkennbare Erzählerfigur? Dreh- und Angelpunkt der Analyse ist die Konkretisierung der Sprechinstanz. Vereinfacht ließe sich sagen: des ‚Erzählers‘, aber schon die Frage, ob für jeden Text eine Erzählerfigur angenommen werden kann, gehört zu den Debatten, die die Entwicklung der Narratologie begleiten. Als Orientierung kann hier in Anlehnung an Stanzels Terminologie zwischen drei Erscheinungsformen unterschieden werden: dem Erzähler als einer vollwertigen Figur, die selbst Teil der fiktiven Welt ist (IchErzähler), einer partiell in Erscheinung tretenden wenig konturierten Figur außerhalb der Welt der Charaktere (auktorialer Erzähler) und drit-
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rarischen Erzählung“, übers. von Irmela Rehbein, in: Heinz Blumesath (Hrsg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln 1972, S. 263–294. Eine gute Übersicht über die unterschiedlichen Weiterentwicklungen der Gegenüberstellung liefert Martinez, Martin / Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, 4. Aufl., München 2003, S. 25 f. Zum Verhältnis von Erzählanalyse und Interpretation vgl. Kindt, Tom/ Müller, Hans-Harald, „Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation“, in: hrsg. v. dens., What is Narratology, Berlin u. a. 2003, S. 205–220. Bezugspunkt für die Reflexion und Neujustierung von Kategoriensystemen in der Germanistik sind nachwievor die Entwürfe von Stanzel, Franz, Theorie des Erzählens [1979], 8. Aufl. 2008, und Genette, Gérard, Die Erzählung, übers. von Andreas Knop, 2. Aufl., München1998 [zuerst „Discours du récit“, in Figures III, Paris 1972 und Nouveau Discours du récit, Paris 1983]. Neuere Arbeiten entwerfen ihr Kategoriensystem auf der Grundlage eines der beiden oder im Vergleich, in Abgrenzung oder in Anlehnung an beide.
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tens der Extrapolation eines Sprechers aus den Aussagen und Leerstellen des Textes beim konkreten Lektüreakt.9 Bei Stanzel entspricht dies der „personalen Erzählsituation“, bei der an die Stelle der vermittelnden Erzählerfigur einer der Protagonisten (oder auch verschiedene Figuren im Wechsel) tritt, der als Reflektor dient. Der Leser erfährt die erzählte Geschichte aus der Sicht dieser Reflektorfigur, hinter die der Erzähler zurück tritt und sich sogar Meinungen und Sprechweise zu eigen macht. „Die Überlagerung der Mittelbarkeit durch die Illusion der Unmittelbarkeit ist demnach das auszeichnende Merkmal der personalen ES“.10 Vor allem Käte Hamburger argumentierte dagegen, dass es sich bei der Idee einer Erzählerfigur (außer im Fall der Ich-Erzählung) um eine Anthropomorphisierung rein grammatischer Spracheffekte handle, und bot als Alternative den Begriff „Erzählfunktion“11 an, konnte sich damit aber nicht nachhaltig durchsetzen.12 Wolf Schmid widmet der Rekonstruktion dieser frühen Auseinandersetzung einigen Raum,13 verteidigt aber letztlich das Konzept der Annahme einer Erzählerfigur für alle Texte und schließt sich der Kategoriebildung an, die in der Tradition von Seymour Chatman14 zwischen einem offen sichtbaren Erzähler (overt narrator) und einem verborge-
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Eine gute Zusammenfassung der Diskussion über die Figur des Erzählers findet sich bei Graevenitz, Gerhart v., „Problemfeld IV, Erzähler“, in: Hans-Werner Ludwig (Hrsg.), Arbeitsbuch Romananalyse, 5. Aufl., Tübingen 1995, S. 81 f. Stanzel, Theorie, S. 16. Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung [1957, 1968], 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1977, S. 123. Abstand vom anthropomorphisierenden Erzählerbegriff nimmt auch Nünning, der Hamburgers Argumentation erweitert durch den Hinweis, dass ein neutralerer Begriff keine Vorentscheidung bzgl. des Geschlechts der erzählenden Figur treffe. Nünning schlägt daher den Begriff der ‚Erzählinstanz‘ vor, der allerdings den Erzählerbegriff auch bei ihm nicht völlig ersetzt. (Nünning, Ansgar, „Die Funktionen von Erzählinstanzen. Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens“, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 30/1998, S. 324, Fn 2.) Vgl. Schmid, Wolf, „Kapitel II.4, Der fiktive Erzähler“, in: ders., Elemente der Narratologie [2005], Berlin u. a. 2008, S. 72 ff. Schmid baut seine Argumentation, die sowohl in Richtung „fiktiver Erzähler“ als auch „abstrakter Autor“ zielt, auf Bühlers Ansatz des „Ausdrucks“ auf, der Annahme, dass jede sprachliche Äußerung ein Bild von ihrem Sprecher mitliefere. (Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934], Frankfurt a. M. 1978.) Vgl. Chatman, Seymour, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, London 1978.
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nen Erzähler (covert narrator) eine Skala mit fließendem Übergang annimmt.15 Wie kann die Erzählinstanz charakterisiert werden? In der erzähltheoretischen Diskussion verbindet sich mit dieser Frage auch direkt die Auseinandersetzung um die Typologie des Erzählens. Gibt es eine identifizierbare Erzählerfigur, kann diese ebenso wie andere fiktive Figuren im Text bzgl. ihrer persönlichen Beziehungen, Neigungen, biographischen Erfahrungen, ihres Kenntnisstandes, moralischen Leumunds und ihrer Intelligenz charakterisiert werden.16 Eine „unreliable narration“17 liegt vor, wenn der Leser auf Widersprüche in den Aussagen der Erzählerfigur stößt. Zum Set der Charakterisierungen der Erzählinstanz gehört die Frage nach ihrem Kenntnisstand, der vor allem unter dem Stichwort „Perspektive“18 (Stanzel) bzw. „Fokalisierung“ (Genette) ins Verhältnis gesetzt wird zum Wissen der Figuren.19 Die Erzählsituation lässt sich außerdem danach charakterisieren, ob der Erzähler selbst Teil der Handlung ist oder von Ereignissen erzählt, an denen er selbst nicht beteiligt war. Genette unterscheidet zwischen homodiegetischer und heterodiegetischer Erzählung. Stanzel siedelt hier eine Reihe von Übergangsformen zwischen seinen drei Idealtypen an. Diese Frage nach dem Grad an Involviertheit in die Handlung (Genette) darf nicht verwechselt werden mit der Diskussion um die Frage, auf welcher fiktions-ontologischen Ebene der Erzähler im Verhältnis zur Welt der Figuren angesiedelt ist. Stanzel spricht von „Identität und Nicht-Identität der Seinsbereiche“, Genette verwendet die Dichotomie extra- bzw. intradiegetischer Erzähler.
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Schmid verhandelt diese Frage unter dem Stichwort „Markiertheit“ (Schmid, Elemente, S. 78), bei Nünning wird der „Grad der Explizität“ bestimmt (Nünning, „Funktionen“, S. 332). Neuere Arbeiten im Zuge der Gender Studies weisen auch der Frage nach dem Geschlecht der Erzählerfigur einen zentralen Stellenwert zu. Vgl. vor allem Nünning, Ansgar / Nünning, Vera, Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart 2004. Nünning, Ansgar, Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischen Erzählliteratur, Trier 1998. Lubbock, Percy, The Craft of Fiction, London 1927; Friedman, Norman, „Point of view in Fiction“, in: Publications of the modern language association of America, 70/1955, S. 1160–1184. Vgl. dazu Nünning über Genette: Nünning, „Funktionen“, S. 326, Fn. 8.
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In welches Verhältnis werden Erzählakt und Fiktionalisierung gesetzt? Die Trennung zwischen Autor und Erzähler wurde bereits als „Binsenweisheit der Literaturwissenschaft“20 bezeichnet. Doch trotz der systematischen Trennung seit Käte Friedemann erscheint die Funktionsverteilung zwischen Erzähler (Hervorbringen des Erzählaktes) und Autor (Erfinden der Geschichte) nur auf den ersten Blick als sauber voneinander getrennt.21 Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen der Erzählakt mit Elementen eines Schöpfungsaktes aufgeladen wird (auch wenn dieser mit dem realen Schöpfungsakt des Autors nicht identisch ist), sei es weil der Erzählakt das fortschreitende Entstehen der Geschichte reflektiert, Entwürfe wieder zurück nimmt und durch neue Varianten weiter führt, sei es durch die Annäherung eines Ich-Erzählers an die richtige Deutung seiner Erlebnisse oder durch das scheinbare Überschreiten der fiktions-ontologischen Grenze von werkexterner und werkinterner Wirklichkeit, wenn der vorgebliche Autor als Figur in die Handlung tritt.22 Im Gros der literarischen Texte erscheint das Erzählte innerhalb der fiktiven Wirklichkeit als reale Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen. Der Erzählakt ist hier entweder werkintern inhaltlich begründet oder nicht weiter thematisiert, sodass beim Leser die Vorstellung bestätigt wird, dass sich alle Elemente der Erzählung sachlogisch erschließen lassen. Ist ein Text aber im Gegenteil darauf angelegt, diese Illusion zu stören, geschieht dies oft durch das Ineinanderfließen der ansonsten klar voneinander getrennten und hierarchisierten Fiktionsebenen. Ansgar Nünning ist die kommunikationstheoretische Erweiterung der Kategoriensysteme von Stanzel und Genette zu verdanken. Er greift die Diskussion um den „implied author“ (Wayne C. Booth) und den „impliziten Leser“ (Wolfgang Iser) auf und kombiniert sie mit einem Modell literarischer Kommunikation, das die Ebenen werkexterner und werkinterner Sender-Empfänger-Relationen von innen nach außen verschachtelt. Die unterste Ebene (Niveau) bilden die Dialoge der fiktiven Figuren (N1), die ebenfalls erzählen können, aber von Nünning streng von der „Ebene des Erzählvorgangs“ (N2) unterschieden werden, auf der die Erzählinstanz angesiedelt ist. Dem fiktiven Erzähler wird ein „fiktiver Adressat“ gegenüber gestellt, der sich aus der expliziten Anrede oder in20
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Jannidis, Fotis, „Zwischen Autor und Erzähler“, in: Heinrich Detering (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart 2002, S. 540–556. Vgl. Schmid, Elemente, S. 82. Genette prägte hierfür den Begriff der ‚Métalepse‘.
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direkt durch Aussagen und Leerstellen des Textes rekonstruieren lässt. Die „Ebene des Werkganzen“ (N3), auf der sich impliziter Autor und impliziter Leser gegenüber stehen und streng genommen Größen für die Textinterpretation darstellen,23 tritt in Nünnings aktualisiertem Entwurf über die „Funktionen von Erzählinstanzen“ in den Hintergrund. Lediglich die textexterne Ebene (N4) mit realem Autor und realem Leser werden in das Schema aufgenommen. Interessant ist Nünnings Arbeit nicht nur, weil er einen plausiblen Interpretationsansatz für Rahmen- und Binnenerzählung und die beliebige Schachtelung von Erzählebenen durch erzählende Figuren liefert. Vor allem die Funktionsunterscheidung der Erzählerrede zwischen denjenigen Aussagen, die die fiktive Wirklichkeit in ihren Gesetzmäßigkeiten konstituieren, und denjenigen, die man als wertende subjektive Kommentare des Erzählers als Figur betrachten kann,24 haben geholfen, sich von inhaltlich aufgeladenen Erklärungen für erzähl- und fiktionstheoretische Strukturmerkmale zu lösen.25 In welchem Verhältnis stehen discours (Erzählung) und histoire (Inhalt)? Vor allem Genette widmet dieser Frage mit der Kategorie ‚Tempus‘ in seinem ersten Teil der ‚Erzählung‘ viel Raum.26 Problematisch an den Versuchen, diese Frage systematisch zu beantworten, bleibt allerdings die Unzugänglichkeit der fiktiven Wirklichkeit jenseits des konkreten Erzählaktes. Alle Aussagen über die hinter der Erzählung liegende fiktive Wirklichkeit müssen naturgemäß Spekulationen bleiben.27 23
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Beide Konzepte sind nach wie vor umstritten in der Literaturwissenschaft. Nünning räumt gemeinsam mit Manfred Jahn ein, dass impliziter Autor und Leser nicht im strengen Sinne als Partner in einem Kommunikationsprozess anzusehen sind. (Vgl. Jahn, Manfred / Nünning, Ansgar, „A Survey of Narratological Models“, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 27/1994, S. 285.) Eine sehr hilfreiche Zuordnung von Interpretationsaussagen für die Ebenen N2–4 findet sich bei Schneider, Jost, Einführung in die Roman-Analyse, 2. Aufl., Darmstadt 2006, S. 53 f. Nünning, „Funktionen“, S. 334. Besonders deutlich wird dies an dem veralteten Beschreibungsmerkmal der „Allwissenheit“ für den auktorialen Erzähler, hinter der sich tatsächlich ein „Bündel von Privilegien“ verberge (Nünning, „Funktionen“, S. 327). Vgl. auch den Ansatz von Lämmert, Eberhard, Bauformen des Erzählens [1955], 8. Aufl., Stuttgart 1993. Vgl. zu der Problematik auch Stanzels Begründung für die Ablehnung der Gegenüberstellung von ‚discours‘ und ‚histoire‘ (Stanzel, Theorie, S. 39).
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Besonders deutlich wird dies an der nach wie vor in Einführungswerken aufgegriffenen Dichotomie von Erzählzeit und erzählter Zeit.28 Gemeint ist das Verhältnis der Dauer des Erzählaktes (gemessen an der Dauer, die der Lektüreakt einnimmt) zu der im Text umfassten Zeitspanne, um auf diese Weise zeitdehnende und -raffende Abschnitte zu identifizieren. Das Manko, dass der reale Lektüreakt keine verlässliche Messung erlaubt, hat jedoch nicht zu einer Verabschiedung des Konzeptes geführt, wenn auch zu einer vorsichtigeren Begriffsverwendung, die auf den eher metaphorischen Charakter der Beschreibungskategorie hinweist.29 Was ist Erzählen? Diese frühe Frage der linguistisch-strukturalistisch geprägten Narratologie ist für die Erzähltextanalyse meist von sekundärer Bedeutung, da man i. d. R. bereits von einem epischen Text ausgeht. Nach wie vor aktuell ist die Frage allerdings, wenn man bedenkt, dass sie das Verbindungsglied zu gattungsvergleichenden und medientheoretischen Arbeiten darstellt.30 Frühe Arbeiten zur Narratologie setzen als genus proximum zur Erzählung die sprachliche Äußerung, woraus die Gegenüberstellung von narrativer und deskriptiver Rede entstand.31 Es wird versucht, die Erzählung über inhaltliche Kriterien zu bestimmen, als Entwicklung zwischen zwei Zuständen, die einem gleichbleibenden Subjekt zugeschrieben werden können.32 Da sich in einer Erzählung aber gleichermaßen erzählende wie beschreibende Passagen abwechseln, reicht diese Unterscheidung nicht zu einer Wesensbestimmung. Wolf Schmid spricht in diesem Zusammenhang schon von einer „Mischkonzeption“, die der Zustandsverän28 29
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Müller, Günther, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1968. Lahn, Silke / Meister, Jan Christoph, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart, Weimar 2008, S. 136. Zur Kritik an der Begrifflichkeit vgl. auch Schneider, Jost, Einführung in die moderne Literaturwissenschaft [1998], 4. Aufl., Bielefeld 2002, S. 159. Ansgar Nünning weist außerdem in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es als Spezifikum der postmodernen Literatur angesehen werden kann, dass Gattungsund Genregrenzen vermischt und ausgelotet werden (Nünning, „Funktionen“, S. 345). Tomasevskij, Boris, Teorija literatury. Poetica, Moskau u. a. 1925, dt.: Theorie der Literatur, Wiesbaden 1985. Füger, Wilhelm, „Mikronarrativik. Zur Syntax und Semantik elementarer Erzählaussagen“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 33/1983, S. 179–198, hier S. 190.
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derung die Mittelbarkeit zur Seite stellt: „Narrativität im engeren Sinne verbindet die Merkmale der strukturalistischen und der klassischen Definition: Die Zustandsveränderung wird von einer Vermittlungsinstanz präsentiert“.33
3. Institutionsgeschichtliches Trotz der Übertragung ihrer Erkenntnisse auf andere Arbeitsfelder ist die Narratologie nach wie vor in erster Linie in der Literaturwissenschaft beheimatet. Seit 1998 besteht die Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg, die 2005 in das Interdisziplinäre Centrum für Narratologie unter der Leitung von Wolf Schmid überging. Der internationale Austausch dieser Gruppe wird unterstützt durch eine Schriftenreihe im Verlag Walter de Gruyter. Neben den Einzelmonographien zur Erzähltheorie fanden die Debatten in mehreren internationalen Zeitschriften statt. Hier sind vor allem hervorzuheben: x
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Germanisch-Romanische Monatsschrift (Universitätsverlag C. Winter, Braunschweig) Literatur in Wissenschaft und Unterricht (Königshausen und Neumann, Würzburg)
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Poetica (Wilhelm Fink Verlag, Berlin)
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Style (Northern Illinois University Press, Dekalb).
Die Narratologie im deutschsprachigen Raum entwickelte sich von einer normativen Regelpoetik hin zu einer wissenschaftlich-deskriptiven Kategorienbildung. In diesem Prozess lassen sich drei Richtungen identifizieren, aus denen sich die verschiedenen Beiträge aufeinander zu bewegen:
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Debatten unter Schriftstellern über jeweils zeitgenössisches Erzählen34 Klassisch-hermeneutische Wissenschaftstradition in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft35 Französisch-strukturalistische Einflüsse mit sprachwissenschaftlich geprägter Herangehensweise Es gibt international einige zunächst parallel laufende Linien, die eng mit der Literaturgeschichte der Moderne und ihrer Weiterführung und Reflexion verbunden sind. Dennoch zeichnet sich für die Debatten in Frankreich, dem anglo-amerikanischen und dem deutschsprachigen Raum eine jeweils spezifische Rezeptionsgeschichte ab. Diese vollzieht sich vor dem Hintergrund literaturästhetischer Konzepte, die in Phasen die Frage bearbeiten, wie eine unvoreingenommene Darstellung von Wirklichkeit möglich sein könne, ohne eine Bevormundung des Lesers durch vorschnelle Deutungen: Zurücktreten eines wertenden und kommentierenden Erzählers zugunsten der personalen Erzählsituation; Bewusstseinsstrom; ‚showing‘ statt ‚telling‘ (Realismus und Naturalismus im 19. Jh. Übergang zur Moderne im Umbruch der Jahrhundertwende) Versuche einer ‚erzählerlosen Erzählung‘ (Nouveau Roman) und Ablehnung von linear-kausalen Erzählungen (1950er- und -60er-Jahre) Erfolge der Dokumentarliteratur als Ort neuer Authentizität (1970erJahre) Wiederkehr des Erzählens in der Postmoderne als bewusste Gestaltung des Vermittlungsaktes bzw. Rückkehr zu artifiziellen Erzählungen; die Vermischung von Genre- und Gattungsgrenzen (1980er- und -90er-Jahre) In Deutschland treffen die Debatten um zeitgenössisches Erzählen auf eine Literaturwissenschaft, die sich nach der ideologischen Indienstnahme der Literatur durch die Germanisten der Nazizeit neu definieren muss, was vor allem über die Schule der werkimmanenten Interpretation x x
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Auch unter den Schriftstellern findet von Anfang an eine breite internationale Diskussion statt. In die deutschsprachige Erzähltheorie münden also auch Entwürfe aus dem französischen, russischen und anglo-amerikanischen Ausland. Wolf Schmid unterscheidet die „klassische Erzähltheorie besonders deutscher Provenienz“ und die „strukturalistische Narratologie“ (Schmid, Elemente, S. 1 f). Dagegen spricht Jörg Schönert von „‚klassischer‘ Narratologie“ in Bezug auf den Strukturalismus (Schönert, „Zum Status“, S. 138). Tatsächlich entwickeln sich beide Stränge zunächst parallel, ohne dass man international von einem VorherNachher sprechen könnte, das den Begriff der „klassischen Erzähltheorie“ rechtfertigen würde.
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im Sinne einer Stilanalyse geschah. Über die Trennung von Autor und Erzähler wurden stärker als etwa im anglo-amerikanischen Raum auktoriale Erzähltexte verteidigt36, der neuen experimentellen Literatur des Nouveau Roman wurde mit Misstrauen begegnet. Franz Stanzel hielt (als Anglist) dagegen mit seiner Typologie der Erzählsituationen in Anknüpfung an die Morphologie Goethes aber auch in Auseinandersetzung mit der frühen anglo-amerikanischen Erzähltheorie ein neutrales Beschreibungsinstrumentarium bereit, das gleichermaßen erzählende wie experimentelle Texte erfassen konnte.37 Wesentliche Impulse erhielt die deutschsprachige Erzähltheorie über die strukturalistisch orientierte Textlinguistik, was zunächst zu teilweise sehr angeheizten Debatten unter dem Stichwort des ‚Poststrukturalismus‘ führte und eng mit Roland Barthes Tod des Autors und der Wendung zur Rezeptionsästhetik verbunden ist. Ende der 1970er-Jahre veröffentlichte Stanzel seinen überarbeiteten Entwurf Theorie des Erzählens, in dem er nicht nur sein eigenes Modell weiter ausbaute, sondern auch strukturalistische Ansätze berücksichtigte, die in Richtung einer ‚Erzählgrammatik‘ liefen. Ab den späten 1980er-Jahren beginnt die Integration der verschiedenen Einflüsse und Konzepte, vor allem aber findet die Begrifflichkeit Genettes eine hohe Verbreitung. Rückblickend lassen sich grob fünf Phasen in der Entwicklung der Narratologie für den deutschsprachigen Raum nachzeichnen: Vorläufer (vor 1910), vor allem als Gattungstheorie des Romans Anfänge (Käte Friedemanns Antwort auf Friedrich Spielhagen 1910) Erste systematische Modellbildungen (ab den 1950er-Jahren) Boomphase der internationalen und interdisziplinären Rezeption im deutschsprachigen Raum (ab Ende der 1970er-Jahre) Integration der verschiedenen Einflüsse und Etablierung (ab Ende der 1980er-Jahre)38 x x x x
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Vgl. dazu stellvertretend Kayser, Wolfgang, „Wer erzählt den Roman?“, in: Volker Klotz (Hrsg.), Zur Poetik des Romans [1957], Darmstadt 1965, S. 197–216. Stanzel greift nicht nur Käte Friedemanns Ansatz wieder auf, sondern auch Schriften von E.M. Forster, Percy Lubbock und Henry James. Lahn und Meister führen seine Typologie sogar als Fortführung der Point-of-View-Theorie an (Lahn/Meister, Einführung, S. 27). Als Entwicklungsschritte einer internationalen Narratologie schlägt Jörg Schönert vier Phasen vor: I. (1910–1965): Bearbeitung der ersten erzähltheoretischen Problemfelder und „‚proto-narratologischer‘ Konzepte“ (inkl. Stanzel); II. (1965–1985) Entwicklung der strukturalistischen Narratologie und „‚Pragmatisierungen‘ dieses Wissenssystems“; III. (1980–1995) Kritik und „Dekonstruktion“,
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Als Vorläufer (1) für die moderne Erzähltheorie können neben der Auseinandersetzung zwischen Platon und Aristoteles über Mimesis und Diegesis39 und der antiken Rhetorik vor allem gattungstheoretische Schriften über den Roman genannt werden.40 Der Nachweis einer erzählerischen Formgestaltung des Romans sollte die Gattung vom Stigma der Trivialliteratur befreien.41 Als Anfangspunkt (2) für die moderne Erzähltheorie wird Käte Friedemanns Auseinandersetzung mit Friedrich Spielhagen mit dem Titel Die Rolle des Erzählers in der Epik gesehen. Die Errungenschaft für die Erzähltheorie durch Käte Friedemann ist die Analogie zwischen der Erzählerfigur und dem erkennenden Subjekt bei Kant. So wenig Wahrnehmung und Erkenntnis unabhängig vom Betrachter möglich sei, so wenig komme die Erzählung ohne eine vermittelnde Instanz aus: „ … ‚der Erzähler‘ ist der Bewertende, der Fühlende, der Schauende. Er symbolisiert die uns seit Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung, daß wir die Welt nicht ergreifen, wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen.“42 Zwischen diese Anfänge und die Phase der ersten systematischen Modellbildung fällt die Unterscheidung von „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ durch Günther Müller43, die von Eberhart Lämmert wieder aufgegriffen wird, der eine Systematisierung der Erzählung nach stilistischen Kriterien vorlegt.44 Mit Stanzels Typische Erzählsituationen im Roman45 wird Mitte der 1950er-Jahre ein erster systematischer Modellentwurf (3) für eine Typisierung der verschiedenen Formen der Mittelbarkeit vorgelegt. Zeit-
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sowie Ausweitung auf „nicht-literarische Bereiche“; IV. (ab Mitte der 1990er Jahre) „‚Renaissance‘ der Narratologie“, Entwicklung neuer Basistheorien und Historisierung (Schönert, „Zum Status“, S. 138 ff.). Platon, Der Staat [370 v. Chr.], übers. von Karl Vretska, Stuttgart 2001; Aristoteles, Poetik [335 v. Chr.], Stuttgart 1982. Vor allem: Blanckenburg, Christian Friedrich von, Versuch über den Roman [1774], Stuttgart 1965; Ludwig, Otto, „Formen in der Erzählung“, in: Adolf Stern (Hrsg.), Epische Studien. Gesammelte Schriften, Bd. 6, Leipzig 1891. Vgl. dazu exempl. Kayser über Gottfried Keller, in: „Wer erzählt den Roman?“. Friedemann, Käte, Die Rolle des Erzählers in der Epik, S. 26. Hervorhebung K.F. Müller, Günther, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1968. Lämmert, Eberhart, Bauformen des Erzählens [1955], 8. Aufl., Stuttgart 1993. Stanzel, Franz, Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an ‚Tom Jones‘, ‚Moby Dick‘, ‚The Ambassadors‘, ‚Ulysses‘ u. a., Wien, Stuttgart 1955.
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gleich versucht Käte Hamburger mit „Die Logik der Dichtung“46 einen textlinguistischen Ansatz zu etablieren, in dem sie die Fiktion über spezifische Erscheinungsformen der Sprache zu begründen sucht. Die 1970er-Jahre sind geprägt von dem Versuch, die deutschsprachige Erzähltheorie für eine Erzähltextanalyse zu systematisieren. Jochen Vogt greift in seinem Werk Aspekte erzählender Prosa47 gleichermaßen Müller, Lämmert, Stanzel und Hamburger auf. Stärkster Kritiker von Stanzels Typologie in den Reihen der Germanistik ist Jürgen Petersen.48 Er bemüht sich um eine Umdeutung und Neustrukturierung der Stanzel’schen Begrifflichkeiten auf der Grundlage der Dichotomie von Ich- und Er-Erzählung, die sich jedoch ebenso wenig durchsetzen kann wie die Neusortierung der Begriffe ‚auktorial‘, ‚personal‘ und ‚neutral‘ als Typen eines Erzählverhaltens. Zur Boomphase der Narratologie führt vielmehr die wechselseitige internationale Auseinandersetzung (4) ab Ende der 1970er-Jahre. 1979 veröffentlicht Stanzel seine Theorie des Erzählens,49 Genettes Discours du récit erscheint 1972, die erweiterte Variante Nouveau Discours du récit, in der er sich auch mit Stanzels Typenkreis auseinander setzt, erst 1983. Die strukturalistische Erzähltheorie entwickelt sich unter Einfluss des russischen Formalismus, der ebenfalls ab den 1920er-Jahren erste Arbeiten zum Wesen der Erzählung beisteuert. In den 1990er-Jahren erreicht die Narratologie in Deutschland einen neuen Grad an Systematik und befreit sich weitestgehend von literaturtheoretischen Grabenkämpfen. Durch die Integration der verschiedenen Konzepte und Modelle auf dem Weg zu einer einheitlichen Begrifflichkeit entstehen mehrere Einführungswerke bzw. wurde die Erzähltextanalyse zum wesentlichen Bestandteil der Einführungen in die Literaturwissenschaft. Neuerungen entstanden vor allem durch die Übertragung erzähltheoretischer Analysekategorien auf andere Gattungen und die Aufarbeitung der Analogien zu anderen Medien.50 Besonders bezeich46
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Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung [1957/ 1968], 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1977. Vogt, Jochen, Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in die Erzähltechnik und Romantheorie [1972], 8. Aufl., Opladen 1998. Petersen, Jürgen, Kategorien epischer Texte, Poetica, 9/1977, S. 167–195. Die gegenseitige Rezeption verlief zunächst über die englischen Übersetzungen (Stanzel 1983), (Genette 1980). Genettes Die Erzählung erschien erst 1994 in deutscher Übersetzung. Nünning, Ansgar / Nünning, Vera, Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002.
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nend für diese Phase und die aktuelle Narratologie ist die Ablösung von dem Totalitätsanspruch, alle Erzählphänomene in einem System erklären zu wollen, von dem noch Stanzel und Genette beseelt waren. An seine Stelle tritt die Pragmatik einer wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit, die die historische Genese der Begrifflichkeiten in die Theorieentwicklung notwendig integriert. Für das Ende der 1990er-Jahre und die aktuelle Narratologie zeichnet sich daher auch eine stärkere Ausrichtung der Narratologie auf ihre wissenschaftshistorische Reflexion ab. Ansätze der Hamburger Forschergruppe Narratologie sind hier zu nennen51, aber auch Arbeiten von Monika Fludernik im Kontext einer internationalen Sicht auf die deutschsprachige Narratologie.52
4. Publikationen Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens Den größten Erfolg in Stanzels Theoriesystem hatte sicherlich sein Konzept der drei typischen Erzählsituationen „auktoriale ES“, „personale ES“ und „Ich-ES“, das bereits den Grundstock seines ersten Entwurfes von 1955 bildete. Bei der Theorie des Erzählens von 1979 [bearb. 1982] handelt es sich um eine stark erweiterte und facettenreiche Überarbeitung des Konzeptes.53 Die drei Erzähltypen bilden dabei so etwas wie Reinformen – Stanzel spricht selbst von „Idealtypen“ – zwischen denen sich auf dem Typenkreis eine Bandbreite an Misch- und Zwischenformen anordnen lässt. Der Typenkreis wird durchzogen von drei Achsen, die bei Stanzel als Oppositionspaare konstituiert sind: Opposition Person: Identität vs. Nichtindentität der Seinsbereiche Opposition Perspektive: Innenperspektive vs. Außenperspektive Opposition Modus: Erzähler vs. Reflektor Die erste Opposition ‚Identität – Nichtidentität der Seinsbereiche‘ bezieht sich auf das Verhältnis des Erzählers zur Welt der Figuren. Der x x x
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Vgl. Cornils, Anja u. a., „Kanonische Texte der Narratologie in deutschsprachigen Kodifikationen“, http://www.narrport.uni-hamburg.de/index.php?option= com_content&task=view&id=48&Itemid=314 (Stand: 18. 12. 08) Vor allem: Fludernik, Monika / Margolin, Uri (Hrsg.), German Narratology, Sonderheft Style, 38/2004, 2–3. Eine Zwischenstation bildet Stanzel, Franz, Typische Formen des Romans, Göttingen 1964.
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Seinsbereich des Ich-Erzählers ist identisch mit dem der Figuren, der auktoriale Erzähler nimmt einen Seinsbereich (als Schachtelung der fiktionalen Ebenen) außerhalb ein. Die zweite Opposition ‚Innenperspektive – Außenperspektive‘ beschreibt den Wissensgrad des Erzählers. Im Typenkreis tauchen auch die englischen Begriffe ‚limited point of view‘ für die Innen- und ‚omniscient‘ für die Außenperspektive auf. Es geht also um die Frage, ob der Erzähler auf dem Kenntnisstand der Figuren erzählt, weniger weiß als diese oder aber einen nahezu allwissenden Überblick über das Erzählte besitzt wie der auktoriale Erzähler. Die dritte Opposition ‚Erzähler – Reflektor‘ markiert, wie stark sich der Erzähler als Figur zu erkennen gibt. Die drei Idealtypen charakterisiert Stanzel als Dominanzverhältnis eines der Oppositionsmerkmale auf dem Typenkreis. Die auktoriale ES ist durch die Dominanz der Außenperspektive bestimmt bei Nichtidentität der Seinsbereiche und Vorherrschen des Erzählermodus. Charakteristikum der Ich-ES ist die Dominanz der Identität der Seinsbereiche zwischen Erzähler und Figuren bei Innenperspektive und Erzählermodus. Stanzel unterscheidet für die Ich-ES zwischen einem „erlebenden“ und einem „erzählenden Ich“. Beide markieren meist unterschiedliche Punkte auf dem imaginären Zeitstrahl der Erzählung. Das erzählende Ich befindet sich z. B. als gealterter Held bereits am Ende seines Lebens und erzählt rückblickend Ereignisse aus seiner Jugend (erlebendes Ich). Wenn man den Kreis von einem Typus zum anderen entlanggeht, ergibt sich ähnlich wie bei einem Farbspektrum das Vor- oder Zurücktreten der jeweiligen Merkmale am Ende der Oppositionspaare. Vom Idealtypus auktoriale ES führt der Weg Richtung Ich-ES bspw. über die Verstärkung der „Leiblichkeit des Erzählers“ über sein Auftreten als Herausgeber oder Chronist und die Sonderform des peripheren Ich-Erzählers, der zwar von anderen erzählt, die Ereignisse aber als Beobachter miterlebt, bis zum Idealtypus Ich-ES. Aus der Richtung der Ich-ES in Richtung auktoriale ES lassen sich diejenigen Romane oder signifikanten Textpassagen anordnen, in denen das erzählende Ich Dominanz über das erlebende Ich aufweist, während auf dem Weg zur personalen ES das erzählende Ich zurück tritt, bis nur noch das Personalpronomen den Eindruck der Ich-ES aufrecht erhält, die „Illusion der Unmittelbarkeit“ jedoch ebenso hoch ist wie im Fall der idealtypischen personalen ES. Der Weg von der auktorialen zur personalen ES verläuft über einen Prozess, den Stanzel als „Ansteckung“ der Erzählersprache bezeichnet. Der
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auktoriale Erzähler macht sich – nicht selten zunächst ironisch gebrochen – in seiner Rede die Sprechweise der erzählten Figuren zu eigen und beschreibt die Ereignisse aus ihrer Perspektive, bis er schließlich in der personalen ES ganz hinter die Figuren zurück tritt. Stanzel schwankt in seinem Modell zwischen einem deduktiven und einem induktiven Vorgehen. Auf der einen Seite leitet er seine Kategorien aus zahlreichen literarischen Beispielen ab, auf der anderen konstatiert er für sein Schema eine Vollständigkeit, die auch diejenigen Erzählformen umfasst, die noch nicht realisiert seien und erst in der Zukunft von Literaten noch gefüllt werden müssten.54 Gérard Genette: Die Erzählung Im Fall des Standardwerkes von Gérard Genette liegt eine erste Version aus der Zeit von 1972 vor und eine Ergänzung und Kommentierung aus dem Jahr 1983. Genette erarbeitet die Kategorien seines Theoriegebäudes im Kern an Prousts „A la recherche du temps perdu“, sucht aber regelmäßig Vergleiche zu anderen Werken. Da er davon ausgeht, dass letztlich allen Erzählungen die gleichen Strukturmerkmale zueigen sind, stellt diese nur eingeschränkte Textgrundlage in seinen Augen keine Schwierigkeit dar.55 Genette entwickelt ein frei kombinierbares Merkmalsystem, das jedoch anders als bei Stanzel keine direkten Übergänge zwischen verschiedenen Polen vorsieht, sondern die Beschreibung von Textpassagen über eine Kombination von signifikanten Merkmalen. Konstitutiv ist für ihn die Unterscheidung von ‚narration‘, ‚discours‘ und ‚histoire‘ als drei unterschiedlichen Bedeutungen des Erzählbegriffs (‚récit‘). Die Opposition ‚discours – histoire‘ übernimmt Genette von Todorov, ergänzt sie aber um den konkreten sprachlichen Akt des Hervorbringens der Erzählung (‚narration‘), die man in Anlehnung an Austin und Searle auch als ‚Sprechakt‘ der Erzählung bezeichnen kann. Zentraler Begriff für Genettes Merkmalsbestimmungen ist jedoch das Attribut ‚diegetisch‘, das Genette von Etienne Souriau aus der Filmtheorie übernimmt.56 Anders als bei Platon, der die Diegese als Vermittlungs54 55 56
Stanzel, Theorie, S. 241. Genette, Erzählung, S. 12. Souriau, Etienne, „La structure de l’universe filmique et la vocabulaire de la filmologie“, in: Revue internationale de Filmologie, 2/1951, S. 231–240, dt.: „Die Struktur des filmischen Universums“, in: montage/av, 2/1997, S. 140–157, http://www. montage-av.de/a_1997_2_6.html (Stand: 18. 12. 08).
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akt in Opposition zur Mimesis versteht, bedeutet ‚diegetisch‘ für Genette „zur fiktionalen (erzählten) Welt gehörig“. Komposita dieses ‚Diegese‘-Begriffs tauchen in mehreren seiner Merkmalsbestimmungen auf, die unter drei Oberkategorien verhandelt werden: ‚Stimme‘ (‚voix‘), ‚Tempus‘ (‚temps‘) und ‚Modus‘ (‚mode‘). Sehr ausführlich analysiert Genette unter der Überschrift ‚Tempus‘ die Umstellung in der Reihenfolge (Ordnung) der erzählten Inhalte, die Raffung und Dehnung und schließlich das Moment der Häufigkeit (Frequenz), mit der Ereignisse wieder aufgegriffen werden. Im Bereich ‚Modus‘ werden zwei Aspekte relevant. Unter dem Stichwort ‚Distanz‘ lotet Genette die Frage aus, wie nah die Darstellung an eine unmittelbare Beschreibung (Mimesis) rückt, wobei die Distanz im Fall der Dialogwiedergabe am geringsten ist und bei der Kommentierung oder Zusammenfassung durch den Erzähler am höchsten.57 Der zweite Aspekt bezieht sich auf den Wissensgrad des Erzählers im Verhältnis zu den Figuren. Hier unterscheidet Genette drei Varianten. Der Erzähler weiß mehr als die Figuren (Null-Fokalisierung), das heißt, er ist an keine der Figurenperspektiven gebunden, kann sie jedoch einnehmen. Der Erzähler weiß ebenso viel wie die Figuren (interne Fokalisierung). Und schließlich: Der Erzähler weiß weniger als die Figuren (externe Fokalisierung), da ihm ihre Innenwelt verschlossen bleibt und nur äußerlich erkennbare Inhalte beschrieben werden können. Bezogen auf die Kategorie ‚Stimme‘ diskutiert Genette drei wesentliche Problemfelder. Unter dem Stichwort ‚Person‘ behandelt er die Frage, ob der Erzähler selbst Teil der Handlung ist (homodiegetisch) oder diese lediglich erzählt (heterodiegetisch). Hier lässt sich die Grenze zwischen der Ich- und der Er/Sie-Erzählung zuordnen. Davon unabhängig findet sich bei Genette außerdem die Frage, auf welcher fiktionalen Ebene der Erzähler und die Figuren angesiedelt sind. Bei einer einfach geschachtelten Rahmen- und Binnenerzählstruktur wäre der Rahmenerzähler extradiegetisch, da er über eine fiktionale Welt erzählt, die von seiner Erzählung abhängig ist. Einen Bericht innerhalb der Binnenerzählung dagegen nennt Genette intradiegetisch, wenn es sich um Ereignisse auf gleicher fiktionaler Ebene handelt. Als dritter Aspekt wird der Zeitpunkt der 57
Monika Fludernik macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die mimetische Darstellung im Grunde auf verbale Äußerungen beschränkt ist. Audiovisuelle sowie haptische Wahrnehmungen und Gefühlsäußerungen unterliegen im Zuge des Medienwechsels immer einer Transformation in der Sprache, die eine Deutung beinhaltet (vgl. Fludernik, Einführung, S. 115).
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Erzählung ins Verhältnis zum Zeitpunkt der Ereignisse gesetzt: rückblickende Erzählung (später), vorausschauende (früher), gleichzeitige Erzählung und schließlich die eingeschobene Erzählung wie z. B. im Briefroman. Vergleich In dieser Gegenüberstellung wird bereits deutlich, dass der größte Unterschied zwischen Genette und Stanzel in der Verteilung von Ober- und Unterkategorien und unterschiedlichen Prioritäten zu finden ist. Die Begrifflichkeiten lassen sich durchaus jeweils ineinander übersetzen, wobei sich zeigt, dass häufig die Schwächen des einen Systems die Stärken des anderen darstellen. So konnte Genette nach der an Stanzel geübten Kritik58 vor allem durch seine Alternative zum Perspektivenbegriff der ‚Fokalisierung‘ überzeugen, der anders als die Gegenüberstellung von Außen- und Innenperspektive zwischen der Frage ‚Wer spricht?‘ und ‚Wer sieht?‘ zu unterscheiden hilft. Auch Stanzels nicht vollständig stringente Kreisanordnung, die keine beliebige Kombination seiner Merkmale erlaubt, erhält in Genettes eher tabellarischer Form größere Freiheiten, wenngleich einige Merkmale nicht wirklich kombinierbar erscheinen.59 Auf der anderen Seite lässt sich Stanzels Entwurf nicht vollständig in Genettes Merkmalsystem aufheben. Seine Idealtypen mit ihren Zwischenformen sind angelegt an realen historischen Textvarianten und können so vor allem diachrone Untersuchungen bereichern.60 Kaum eine Darstellung Genettes kommt ohne die Zuordnung seiner Merkmale zu Stanzels Erzähltypen aus. Kritik an Genette61 wird vor allem an seiner Zuordnung von Ober- und Unterkategorien geübt, sowie an seiner teils irreführenden Begriffsverwendung wie z. B. dem Doppelbezug des ‚Diegese‘-Begriffs auf Platon und Souriau. Beide Autoren trifft gleichermaßen die Kritik, in dem Versuch, ein Komplettmodell des Erzählens liefern zu wollen, innere Widersprüche 58
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Vgl. als Alternative zu Stanzels Typenkreis die Überarbeitung von Dorrit Cohn, die die Achsen auf zwei reduziert (Cohn, Dorrit, „The Encirclement of Narrative“, in: Poetics Today, 2/1981, 2, S. 157–182). Jost Schneider trägt einiges zur Übersichtlichkeit im Vergleich der beiden Konzepte bei, indem er die analogen Kategorien jeweils beide als Tabelle sortiert. Vgl. Schneider, Roman-Analyse, S. 64 und 66. Stanzel spricht selbst von historischen „Prototypen“, zwischen denen sich die Literaturgeschichte entwickelt (Stanzel, Theorie, S. 19). Vgl. vor allem Bal, Mieke, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative [1985], Toronto 1997.
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zugunsten der Gesamtstruktur zu nivellieren. Diese Vorgehensweise ist aus heutiger Sicht dem damaligen Zeitgeist geschuldet,62 hat aber die grundlegende Basis für die Narratologie der Gegenwart geliefert, die mit einem anderen Ansatz vermutlich so nicht entstanden wäre.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die Entwicklung der Narratologie markiert für die Germanistik in erster Linie einen wichtigen Schritt beim Übergang zu einer systematischen Wissenschaft und damit eine Ablösung von einer literaturkritischen Fachausrichtung, die die Durchleuchtung der Lebenswelt der Autorinnen und Autoren als Schlüssel der Interpretation wählte. Mit der Aufarbeitung der Trennung von Autor und Erzähler bot sie das Instrumentarium, um sich von der biographistischen Deutungshoheit zu lösen und auch rezeptionsästhetische Erkenntnisse umzusetzen. Wie kein anderer Gegenstandsbereich stellt die Auseinandersetzung mit den Erzählstrukturen den Ort für einen interdisziplinären, gattungsund medienübergreifenden Austausch der verschiedenen Philologien dar, der die Germanistik nachhaltig befruchtet hat und gleichermaßen Raum für literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeitsfelder bietet. In der sich anbahnenden wissenschaftshistorischen Aufarbeitung der Narratologie spiegelt sich in den Debatten und Modellbildungen in nuce die Entwicklung der Germanistik hin zu einer interdisziplinären Kulturwissenschaft. Die Narratologie begleitet den Entwicklungsprozess der Literaturgeschichte der Moderne und ihrer Weiterentwicklung, wobei die fiktionale Erzählung als pars pro toto einer Wesensäußerung menschlicher Kommunikations- und Sinnbildung verstanden werden kann und somit nicht nur die Brücke zur Fiktionstheorie, sondern gleichermaßen zu erkenntnistheoretischen Beiträgen über den Menschen im Verhältnis zu sich selbst, seinem Gegenüber und seiner Umwelt liefert.
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Wolf Schmid betont ausdrücklich mit seinem Titel Elemente der Narratologie die Unabgeschlossenheit seiner Theorie.
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6. Kommentierte Auswahlbibliographie Friedemann, Käte, Die Rolle des Erzählers in der Epik [1910], Reprint, Darmstadt 1965. Der frühe Initialtext der deutschsprachigen Erzähltheorie betont vor allem die Unterscheidung von Autor und Erzähler und legt den Grundstein für eine systematische Aufarbeitung der Funktionsbeschreibung des fiktiven Erzählers. Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung [1955/ 1968], 3. Aufl., Stuttgart 1977. Die Auseinandersetzung mit Käte Hamburgers textlinguistischer Herangehensweise, die statt der Erzählerfigur den Begriff der ‚Erzählfunktion‘ vorschlägt, gehört wesentlich zur Entwicklung der deutschsprachigen Erzähltheorie. Bekannt geworden ist vor allem ihr – heute als widerlegt geltender – Ansatz, die Fiktion als sprachliches Merkmal am Gebrauch des Präteritums fest zu machen. Lämmert, Eberhard, Bauformen des Erzählens [1955], 8. Aufl., Stuttgart 1993. Lämmert stellt die Anordnung von Erzählsträngen, Varianten von Vorund Rückblicken in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Ein dritter Teil ist den Redeformen gewidmet. Lämmert greift die Unterscheidung von Geschichte und Fabel als Ausgangspunkt auf und knüpft an Müllers Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit an. Aus heutiger Sicht hat das Werk vor allem wissenschaftshistorische Bedeutung. Stanzel, Franz K., Theorie des Erzählens [1979/1983], 8. Aufl., Göttingen 2008. Nach wie vor einer der Basistexte der deutschsprachigen Erzähltheorie. Stanzel kombiniert synchrone und diachrone Betrachtungsweisen und kann nicht zuletzt als Referenz für die zahlreichen internationalen Entwicklungsstränge, zu denen er in seinem Werk Stellung bezieht, gelesen werden. Genette, Gérard, Die Erzählung [1994], übers. von Andreas Knop, 2. Aufl., München 1998, französisches Original: „Discours du récit“, in Figures III, Paris 1972 und Nouveau Discours du récit, Paris 1983. Genettes strukturalistisch geprägter Theorieentwurf wurde zunächst in der englischen Übersetzung von 1984 in der deutschsprachigen Erzähl-
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theorie rezipiert. Inzwischen ist Die Erzählung ein Standardwerk und bietet Ausgangspunkt für zahlreiche Einführungswerke und aktuelle Arbeiten. Petersen, Jürgen, Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte, Stuttgart, Weimar 1993. Jürgen Petersen führt die Stanzel-Kritiker im deutschsprachigen Raum an. Er hält in seinem Entwurf weiterhin den Anspruch auf ein Komplettsystem aufrecht, das jedoch in erster Linie als Neukombination der Stanzel’schen Begrifflichkeiten ausfällt. Jahn, Manfred, Narratologie. Methoden und Modelle der Erzähltheorie, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung [1995], 4. Aufl., Trier 2004, S. 29–50. Jahn vergleicht in seinem Aufsatz neben den Theoriemodellen vor allem auch die verschiedenen Visualisierungen bei Stanzel, Genette, Lanser und Chatman. Nünning, Ansgar, „Die Funktionen von Erzählinstanzen. Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens“, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 30/1998. Der Aufsatz fasst Nünnings Erkenntnisse aus seiner Dissertation („Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots“, Trier 1989) zusammen und erweitert das Theoriemodell Genettes (in Beziehung zu Stanzels typischen Erzählsituationen) um eine kommunikationstheoretische Funktionsbestimmung der Erzählerrede. Martinez, Matias / Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie [1999], 4. Aufl., München 2003. Die Autoren nehmen Genettes Kategoriensystem als Grundlage ihrer Einführung, wählen im Wesentlichen aber eine synchrone Synthesebildung, die in zwei gleichrangigen Kapiteln das ‚Wie‘ als „Darstellung“ und das ‚Was‘ als „Handlung und erzählte Welt“ in ihren Beschreibungsmerkmalen darstellt. Der Band stellt eines der ersten Einführungswerke mit hohem Verbreitungsgrad dar. Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, What is Narratology, Berlin, New York 2003. Der Band vereinigt 14 Beiträge zur Bestimmung der Narratologie in ihrem Kontext der Kulturwissenschaften und der Frage nach ihrem Status als wissenschaftliche Disziplin.
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Schmid, Wolf, Elemente der Narratologie [2005], 2. Aufl., Berlin, New York 2008. Schmid legt einen gleichermaßen synchron wie diachron ausgerichteten Ansatz vor, der auf ein eigenes Theoriegebäude zielt, die verwendeten Begrifflichkeiten jedoch sorgfältig aus ihrem Entstehungskontext (mit Schwerpunkt in der Slavistik) entwickelt. In fünf Kapiteln behandelt Schmid das Verhältnis von Erzählung und Fiktion, das kommunikationstheoretische Instanzenmodell, die Erzählperspektive und schließlich für die Einordnung konkreter Textpassagen die Dichotomie ‚Erzählertext – Figurentext‘. Schmids Theorie in einer kürzeren Variante findet sich unter der Überschrift „Erzähltextanalyse“ im Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 2, hrsg. von Thomas Anz, Stuttgart, Weimar 2004. Fludernik, Monika, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006. Die Autorin trat bereits mit ihrem englischsprachigen Werk Towards a ‚Natural‘ Narratology (London, New York 1996) in Erscheinung. Ihre Einführung bietet eine umfangreiche Stellungnahme zur internationalen Entwicklung der Erzähltheorie, bei der immer wieder der Brückenschlag zur intermedialen und gattungsübergreifenden Ausrichtung der Forschung vollzogen wird. Im Anhang richtet sie sich zusätzlich ausdrücklich an Studienanfänger. Lahn, Silke / Meister, Jan Christoph, Einführung in die Erzähltextanalyse, Stuttgart 2008. Der Band positioniert sich als kompatibel mit den neuen BA-Studiengängen und richtet sich dezidiert als Zusammenfassung und Nachschlagewerk an Studierende der Literaturwissenschaft. Es werden in komprimierter Form die wichtigsten Begrifflichkeiten in ihrer wissenschaftshistorischen Genese dargestellt, durch zahlreiche Schaubilder und Diagramme verdeutlicht und durch Beispielinterpretationen ergänzt.
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1. Definition Bei dem Ausdruck ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ handelt es sich um eine Fremdbenennung, die aus den Veränderungen der politischen Lage resultiert, die sich nach 1945 ergeben haben. In der kommunistischen Kritik wird – dann aber in einem engeren Sinn – eher von einer ‚faschistischen Germanistik‘ bzw. von ‚(prä)faschistischen Tendenzen‘ innerhalb der Germanistik gesprochen. Aufgrund ihrer Heterogenität hat sie selbst zu keiner eigenen Bezeichnung gefunden, denn es handelt sich um keine geschlossene Schule mit institutionellen Verankerungen und einem einheitlichen Repertoire methodischer Verfahren, sondern eher um eine, teilweise allerdings breite Strömung innerhalb der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Sie erklärt die Begriffe ‚Nation‘ und/oder ‚Rasse‘ zu entscheidenden Differenzqualitäten und bemüht sich, an deren Codierung durch allgemein verbindliche Setzungen teilzuhaben. Zu diesem Zweck unterwirft sie Literatur einem national und/oder rassisch formierten In-/Exklusions-Schema, das zugleich mehr oder minder prononciert Werturteile einschließt.
2. Beschreibung Eine ‚nationalistische‘ und eine ‚rassistische Germanistik‘ begrifflich aneinander zu koppeln, lässt sich in erster Linie aus einer spezifischen Situation der Fachgeschichte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rechtfertigen. Eine solche begriffliche Engführung rückt auch ältere Tendenzen innerhalb der Germanistik in ein entsprechendes Licht; sie lassen in dieser Beleuchtung ein charakteristisches Potential erkennen. Die Formel verbindet zwei Bereiche, die ihrem Begriff nach disparat, wenn nicht kontradiktorisch sind, insofern ‚Rasse‘ ein biologischer, ‚Nation‘ aber ein ethnographischer bzw. ein politischer Terminus ist. Es
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bedarf also einer rassischen Fundierung des Begriffs der ‚Nation‘ bzw. des Entwurfs einer politischen Vorstellung von ‚Rasse‘, um einen solchen Begriff bilden zu können. Über die Zeit hin schenkt die so verstandene ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ dem Begriff ‚Nation‘ eine merklich größere Aufmerksamkeit als demjenigen der ‚Rasse‘; auch die Intensität der Verbindung beider Komplexe unterliegt dem historischen Wandel. Für die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ sind durchgehend drei argumentative Verfahrensweisen charakteristisch: Sie organisiert sich (1) über einen binären Einschluss/Ausschluss-Mechanismus, sie favorisiert (2) dezidierte Werturteile, und sie ist (3) bestrebt, die Lektüre auf einen Bezirk zu perspektivieren, der jenseits, wenn nicht gar vor aller Geschichte abgesteckt wird, ohne aber doch normativ zu sein. Ihre Analyseverfahren gründen sich auf einen Schnapp-Effekt über der Opposition ‚national eigen/rassisch‘ vs. ‚national fremd/fremdrassisch‘. Diese Matrix wird historisch jeweils mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt: deutsch, germanisch, arisch, rassisch rein; welsch, französisch, slawisch, jüdisch, rassisch gemischt bzw. degeneriert. Beide Pole finden sich – teils defensiv, meist aggressiv – mit entschiedenen Werturteilen belegt: Der Pol des Eigenen gilt als (extrem) hochwertig, derjenige des Anderen als (extrem) minderwertig. Dieses Herbeischreiben nicht nur einer Differenz, sondern einer Superiorität/Inferiorität soll zur Stiftung einer kollektiven Identität beitragen, die mit Ausdrücken wie ‚Nation‘ oder ‚Rasse‘ belegt wird. Unter systematischem Gesichtspunkt rücken die in der ‚nationalistischen und rassistischen Germanistik‘ präferierten Verfahrensweisen diese in die Nähe jener methodischen Ansätze, welche – wie etwa der soziologische, der geistesgeschichtliche oder der biographische – die Literatur unter die Hegemonie transliterarischer Wissensbereiche und der in ihnen gebräuchlichen Verfahrensweisen stellen: Mit den Begriffen ‚Nation‘ und/oder ‚Rasse‘ wird ein unabdingbarer, primärer Bezugsrahmen postuliert, aus dem die literarischen Phänomene sekundär abgeleitet werden. Die Spannung, die daraus resultiert, dass die Extrapolation eines Allgemeinen (wie ‚des Deutschen‘, ‚des Jüdischen‘) unter die Dominanz von Versuchen gerät, die mit Begriffen wie ‚Nation‘ und ganz besonders ‚Evolution‘ syn- wie diachron gerade ein jeweils Besonderes vor dem Hintergrund eines Universellen bzw. Generellen erfassen sollen, bringt methodische Probleme mit sich, die der Ansatz kaum aufgreift, geschweige denn aufklärt. Im Übrigen entfaltet die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ ihre (methodisch sehr schwach pro-
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filierten) Operationen hauptsächlich im Rahmen der Regularien einer ideengeschichtlich orientierten Hermeneutik. Zudem versteht sie sich entschieden als eine gesellschaftliches Orientierungswissen vermittelnde und damit handlungsanleitende Disziplin. Aufgrund ihrer begrifflichen Unbestimmtheit und wechselnden Füllung lassen sich die Verfahrensweisen der ‚nationalistischen und rassistischen Germanistik‘ kaum hinreichend systematisch beschreiben, was ihre Vertreter aber nicht als Manko empfinden; im Gegenteil: Sie schreiben Forderungen nach ‚Wissenschaftlichkeit‘ oder ‚Rationalität‘ nur zu leicht dem negativen Pol ihres In-/Exklusionsschemas zu, insofern solche Leitbegriffe nicht allein als ‚undeutsch‘ bzw. ‚artfremd‘ deklariert, sondern gegebenenfalls als eine politische Bedrohung der ‚deutschen‘ bzw. ‚germanischen Lebenskräfte‘ eingeschätzt werden. In Hinsicht auf den Begriff der ‚Rasse‘ eliminiert die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ programmatisch die spezifischen disziplinären Leitdifferenzen vor allem zur Biologie, Medizin und Anthropologie; sie minimiert entsprechend die Relevanz innerliterarischer Konstituenten. Da sie über keine Regeln verfügt, um die disziplinfremden Wissensbestände intern zu verarbeiten, lässt sich im eigentlichen Sinn von keiner genuinen, auf den Begriff der ‚Rasse‘ gegründeten Methode, ja noch nicht einmal von einem elaborierten Ansatz reden. Eine entsprechende Transferleistung aus den Leitdisziplinen zu erwarten, verbietet sich aus deren Perspektive schon deswegen, weil der Kompetenzbereich der Germanistik, der im weitesten Sinn kulturelle Sektor, ausdrücklich nicht in den Geltungsbereich der Rasse- und Erblehre fällt, denn erworbene Fähigkeiten (zu denen alle ‚kulturellen‘ Kompetenzen zählen) gelten – zumindest in deren Mainstream – nicht als genetisch bedingt und damit nicht als erblich. Insofern ergibt sich überhaupt nur unter sehr spezifischen Bedingungen die Möglichkeit, eine ‚rassenkundlich‘ fundierte Sprach- und Literaturwissenschaft zu entwickeln, nämlich (1) dort, wo es den Biowissenschaften nicht gelingt, ‚Rassen‘ mit hinreichenden Differenzmerkmalen zu definieren und in Hinsicht auf ‚Modifikation‘, ‚Kombination‘ und ‚Mutation‘ klar und deutlich in einer Weise zu bestimmen, die ihren eigenen methodischen Ansprüchen genügt, so dass ersatzweise zu optischen und literarischen Darstellungsmitteln gegriffen werden muss. (Als klassische Beispiele gelten die Haeckel’schen Bildreihen von der embryonalen Entwicklung des Menschen oder die karikierenden Darstellungen ‚des Juden‘ im Stürmer-Stil.) Diese systematisch wie historisch zu katalogisieren und in die öffentlichen Kommunikationskanäle zu pumpen, begreift die ‚nationalistische und rassistische
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Germanistik‘ als ihre Aufgabe. Eine (2) weitere – historisch bedeutendere und folgenreichere – Existenzmöglichkeit findet die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ dort, wo die naturwissenschaftlich begründeten Wissenschaften von der ‚Natur‘ des Menschen sich popularisieren und als Entscheidungswissenschaften im politischen Feld profilieren, also vor allem im Kontext der Eugenik. Sie bedienen sich zur Darstellung, Plausibilisierung und Propagierung ihrer zentralen Kategorien ‚Degeneration‘ und ‚Züchtung‘ neben bildlichen Medien vorzüglich literarischer Mittel, deren Verbreitung (oder äußerst selten: Kritik) sie sich angelegen sein lässt. Hier lagern sich vor allem ideologiekritische Reflexionen (und damit politische oder ökonomische Diskurse) an. Ein breites und beliebtes Betätigungsfeld findet (3) die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ schließlich dort, wo die Unmöglichkeit, menschliche Rassen mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu konstituieren, dazu verführt, den natürlichen Merkmalen korrelativ psychische und kulturelle hinzuzufügen und ‚Rasse‘ als einen kollektiven KörperGeist-Seele-Komplex aufzufassen und dann etwa von einer ‚Rassenseele‘ zu sprechen. Auch im Hinblick auf den Begriff der ‚Nation‘ minimiert die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ die spezifischen disziplinären Leitdifferenzen, vor allem zur Staatsrechtslehre, Jurisprudenz, Ethnologie oder Volkskunde; die Relevanz innerliterarischer Konstituenten ebnet sie hier aber in geringerem Maße ein als in Hinsicht auf den Komplex ‚Rasse‘, weil Sprache und Literatur – zumindest epochenweise – bei der Ausmalung dessen, was eine (deutsche) ‚Nation‘ ausmache, eine unabdingbare Rolle spielen. In den Bemühungen, den Begriff ‚Nation‘ zu füllen, findet die (ältere) ethnographische Bedeutung ‚Herkunft‘ entschieden mehr Aufmerksamkeit als die (jüngere) staatsrechtlich-politische im Sinne von ‚verfasster Volkskörper‘ als dem Träger der ‚Souveränität‘. Allerdings kommt der an einen nachgerade mystischen ‚Ursprung‘ zurückführenden ‚Herkunft‘ wegen der territorialen Offenheit des deutschen Sprachraums (vor allem in Mittel- und Süd-Osteuropa) angesichts der späten und zudem konfliktreichen Bildung eines deutschen Nationalstaates wie der starken sozialen Schichtung der als ‚deutsch‘ zu qualifizierenden Bevölkerung und schließlich infolge der grassierenden antiaufklärerischen Tendenzen auch eine entschieden politische Relevanz zu. Deswegen wird streckenweise gerne der Begriff ‚Volk‘ dem der ‚Nation‘ vorgezogen (was zumindest zeitweilig zu Eigenbezeichnungen wie ‚völkische Germanistik‘ oder ‚Deutschkunde‘ führt). Überdies eröffnet diese Version ‚kulturkritischen‘ Tendenzen einen effektvollen Spiel-
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raum. Dem Begriff ‚Nation‘ ist in seinen beiden Verwendungsweisen ein agonales Moment zwar nicht inhärent, aber es haftet ihm aufgrund seiner differenzierenden Funktion doch immer leicht an. Es geraten dabei nicht allein fremdnationale Literaturen ins Visier der ‚nationalistischen und rassistischen Germanistik‘ sondern – je nach historischer Lage – auch literarische Zeugnisse solcher innergesellschaftlichen Gruppen, die nicht den Trägerschichten der nationalen Idee zugerechnet werden, wie etwa die literarischen Manifestationen des Hofes, des Pöbels, des Proletariats oder (als Gegner besonders beliebt) des Finanzkapitals, hinter dem gern ein (selbstverständlich) internationales Finanzjudentum entdeckt wird. Wegen der speziellen politischen und territorialen Gegebenheiten kommen transpolitischen Zuschreibungen (wie etwa einer gemeinsamen Sprache oder überhaupt einer gemeinsamen ‚Kultur‘) in den Versuchen, den Begriff ‚Nation‘ zu bestimmen, in Deutschland eine größere Bedeutung zu als im ‚Westen‘ (wiewohl sie auch dort nicht unbekannt sind, etwa in der Frage nach der nationalen Zugehörigkeit des Elsass). Die Deutschen bildeten nach weit verbreiteter Meinung eher eine Kultur- als eine Staatsnation, und in dieser ‚Kultur‘ spielt (neben Musik und Philosophie) Literatur, besser: ‚Dichtung‘, eine zentrale Rolle. Die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ propagiert sie als ein Medium der Homogenisierung und emotionalen Bindung der Bevölkerung jenseits staatlicher Institutionen und ihrer Regularien und strebt in Schule und Universität eine dem entsprechende Institutionalisierung als Identifikations-Agentur an. Sie konstruiert ein – im übrigen denkbar vages – ‚deutsches Wesen‘ und legt dieses mit besonderer Emphase in der ‚Dichtung‘ frei, weil es dort zu seinem ersten Ausdruck finde. Auf diese Weise will sie einen mentalen Hebel anbieten, mit dem sie verspricht, die (durchaus eingestandene) historische Rückständigkeit Deutschlands vor allem, aber nicht allein gegenüber der Romania aufzuheben und sogar zu wenden. Vor diesem Hintergrund fällt auch die Entscheidung über die Gegenstände, denen sich eine so verstandene Germanistik angemessenerweise zu widmen hat; der Bestand ist relativ eng umzirkelt. Das ‚deutsche Wesen‘ wird vor allem in der ‚Volkspoesie‘ (im Herder’schen Sinn) und in der kanonischen ‚Dichtung‘ der klassisch-romantischen Literaturtradition ausgeprägt gefunden, in deren Licht auch die mittelalterliche Literatur rezipiert wird. Auf Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung stoßen im Gegenzug die rhetorisch organisierte, an die Institutionen der höfischen Repräsentation gebundene und an italienischen und französischen Vorbildern geschulte Literatur ‚Alteuropas‘ wie die gelehrte Poesie im Sinne der neulateinischen Schultradition, falls sie nicht zu einer Aus-
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drucks-Kunst umgedeutet oder zu deren historischen Vorboten erklärt werden können. Konsequenterweise verfällt auch die Literatur der Aufklärung dem Verdikt, reines Verstandesprodukt und damit ‚wesensfremd‘ zu sein, während die Literatur der Moderne im Prinzip als dekadent und zersetzend verworfen wird. Die ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ fördert recht eigentlich keine (wie auch immer zu qualifizierenden) genuinen Erkenntnisse zutage, sie arbeitet vielmehr lediglich anderweitig erhobenes Material mit der Mechanik ihres Schemas auf. Da es bislang ein Postulat geblieben ist, den disziplinären Anforderungen zu genügen, menschliche Rassen zu konstituieren, hat sich (besonders in den USA vor allem im Kontext der ‚[post]colonial studies‘ und in Deutschland in der Antisemitismus-Forschung) die Tendenz durchgesetzt, ‚Menschen-Rassen‘ überhaupt als ein diskursives Konstrukt zu betrachten und damit die Versuche, die entsprechenden Vorstellungen politisch operational zu machen, einer de-konstruktivistischen Lektüre zu unterwerfen. Ähnliches gilt für den Terminus ‚Nation‘. Solche Reflexionen fungieren gleichsam als eine Meta-Theorie der Rasse bzw. der Nation und machen eine ‚nationalistische und rassistische Literaturwissenschaft‘ zumindest potentiell anschlussfähig (etwa an Diskurse einer geschichtlichen Anthropologie, der Imperialismus-Forschung, der Ethnologie, der [konstruktivistischen] Diskursanalyse o. ä.).
3./4. Institutionsgeschichtliches / Geschichte des Ansatzes / Publikationen Nicht nur wegen ihrer Irrationalität, sondern vor allem, weil die Vorstellungen von ‚Nation‘ und ‚Rasse‘, die Anschauungen von deren Manifestationen in Literatur sowie die Ideen von Art und Intensität ihrer Verknüpfung erheblichen historischen Veränderungen unterworfen gewesen sind, lässt sich die von den entsprechenden (pseudo)theoretischen Imaginationen inspirierte ‚nationalistische und rassistische Germanistik‘ allein historisch-deskriptiv angemessen darstellen (und fällt damit in den Kompetenzbereich der Wissenschaftsgeschichte). Aufgrund ihrer entschieden funktionalen Anbindung an heterogene Kontexte kann eine solche historische Beschreibung nicht die Form einer ‚Genese‘ annehmen; ihre Historie bleibt kontingent, auch wenn die Versuchung zu linearen, wenn nicht gar teleologischen Konstruktionen groß ist. Die jeweiligen Ausformungen lassen sich als (reproduktive bzw. appellative) Reaktionen auf Impulse aus ihrem disziplinären Umfeld und dessen je-
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weiligen Problemstellungen, vor allem aber aus ihren im weitesten Sinn geschichtlichen Rahmenbedingungen verstehen. Es herrscht kein Konsens darüber, ab wann im wahrsten Wortsinn von einer nationalistischen bzw. rassistischen Orientierung innerhalb der Germanistik gesprochen werden darf. Diejenigen, die die Grenze möglichst eng ziehen wollen, plädieren (meist nicht ohne geschichtspolitische Hintergedanken) dafür, sie erst mit Blick auf die Kaiserzeit in Rechnung zu stellen und im III. Reich kulminieren zu lassen; sie führen dafür vor allem sprachgeschichtliche Argumente ins Feld, denn ‚Rasse‘ (bzw. ‚Race‘) ist im Deutschen in der Tat erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der heutigen Bedeutung aus dem Französischen übernommen worden; vor allem der französische Graf Joseph Arthur de Gobineau und der Engländer Houston Stewart Chamberlain verschafften dem Ausdruck seit der Mitte bzw. dem Ende des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland eine breite Popularität. Da die Einstellung aber auch für vorausliegende Zeiten nachzuweisen ist, spricht man im Hinblick auf diese Zeiträume gern von einem ‚impliziten Rassismus‘. Der Ausdruck ‚Nationalismus‘ ist bereits länger im Gebrauch (z. B. benutzten ihn Herder und Heine); aber auch hier geht die Existenz der Sache der des Wortes zeitlich weit voraus. In jedem Fall ist aber deutlich zu betonen, dass die Ausdrücke in ihrem Gebrauch unscharf sind und in ihrer Bedeutung einem erheblichen Wandel unterliegen, sodass sich der Interpretation ein weiter Raum öffnet. Wenngleich der Begriff ‚Nation‘ und die Vorstellung von ‚Rasse‘ erst seit dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit eine zentrale Bedeutung bekommen haben, datiert die gedankliche Verknüpfung von (kollektiver) Kulturleistung, ethnischer ‚Herkunft‘ und ‚natürlichen‘ Gegebenheiten (wie etwa geistiger Ausstattung, körperlicher Konstitution, Klima) bereits aus der Antike, wo der Komplex vor allem in der Diskussion über die Berechtigung von Sklaverei eine Rolle gespielt hat (etwa bei Heraklit, Herodot, Platon oder vor allem Aristoteles). Auch hier ging es u. a. schon um die Frage, ob die Eigenarten versklavter Existenz in der ‚Natur‘ der Betroffenen angelegt seien. Da es sich aber in erster Linie um eine philosophische und rechtspolitische Auseinandersetzung handelte, gewann der Topos sehr selten (etwa bei Aristoteles oder bei Vitruv) jene bildliche Anschaulichkeit, die für die neuzeitliche Diskussion charakteristisch ist. Dennoch wurde dieser schmale Pool diskursprägend. Die Vorstellung, dass die ‚Germanen‘ einfach, kriegerisch, blond und von massiger Körperlichkeit seien sowie in nebligen Gegenden hausten und dass das auf unbestimmte Art zusammenhänge, machte ganz beson-
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ders seit der Wiederentdeckung der Germania des Tacitus im Jahr 1427 bzw. 1455 Karriere und ist seither nachgerade sprichwörtlich. Seit den Schriften der Humanisten wurde das Bild, das Tacitus – in polemischer Absicht – ausgemalt hatte, zu einem ‚Stereotyp‘ habitualisiert und z. B. in ‚Völkertafeln‘ als Material in der ‚querelle des nations‘ zur allgemeinen Verwendung bereitgehalten. Vor dem Hintergrund des epistemischen Umbaus, in dem die Anschauung ins Wanken geriet, die Antike als den Ort der Präsenz der einen, universalen Norm des Guten, Wahren und Schönen zu denken, musste es darum gehen, sich im Wettstreit der (ständisch geordneten!) ‚Nationen‘ des neuzeitlichen Europas kollektiv nach außen kompetitiv abzugrenzen und nach innen homogen formieren zu können. Die ‚Indigenität‘ der Deutschen und die in sie eingeschriebene Abwehr fremder Ansprüche auf Dominanz wurden zu Topoi humanistischer Historiographie. Noch 1734 begann der die Qualität der deutschen Dichtung durchaus kritisch beurteilende Johann Jakob Bodmer sein umfangreiches Lehrgedicht Character Der Teutschen Gedichte mit dem Trompetenstoß: „Auch Teutsche können sich auf den Parnassus schwingen,| Und nach des Südens Kunst geschickt und feurig singen“.1 Und wenig erregte diesseits des Rheins die Gemüter mehr als die Invektive, die 1671 der französische Jesuitenpater Dominique Bouhours vortrug, als er meinte, wegen des kalten Klimas und der körperlichen Massigkeit lasse sich der ‚bel esprit‘ bei den Deutschen so wenig wie bei den Moscowitern finden,2 denn damit bestritt er nicht nur genau diesen Anspruch, als eine besondere Gruppe, eben als ‚Nation‘, vor der allgemeinen Norm, eben der Antike, bestehen zu können; er verwandelte darüber hinaus dieses Defizit in ein Naturphänomen. Deutsche Literaturkritiker drehten den Spieß entsprechend um und bestritten den Romanen mit nicht minder stereotypen Vorhaltungen wegen ihrer Artung die literarische Kompetenz, so etwa wenn Gottsched von den „geilen Italienern“ bramarbasierte, „die ihrer Feder so wenig, als ihren Begierden, ein Maaß zu setzen wissen […]“3 und sich deswegen in lang gewundenen Ketten ‚schwülstiger‘ Metaphern verlieren. Der Abgrenzung nach außen korrespondierte notwendig das Bemühen, das spezifisch Deut1
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Bodmer, Johann Jakob, „Character Der Teutschen Gedichte“, zit. nach: ders. / Johann Jakob Breitinger, Schriften zur Literatur, hrsg. v. Volker Meid, Stuttgart 1980, S. 48. Bouhours, Dominique, Entretiens D’Aristide et D’Eugene, Paris 1673, S. 269 f. Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst [1751]. Repr. d. 4. Aufl., Darmstadt 1962, S. 111 f.
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sche nach innen zu bestimmen und durchzusetzen. Wo es nicht (wie bei Bodmer) als rein bewahrte Antike erkannt wurde, galt es, eine genuine Qualität zu ergründen, die das Deutsche seit Urzeiten ausmache. 1673 meinte der späthumanistische Grammatiker Justus Georg Schottel in seiner Polemik Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquissimorum: „Teutsches Wasser, Luft und Werke,|Geben recht den Teutschen Sterke:|Teutsche Sprache, Sitten, Wesen,|Lesset Teutschland wolgenesen.| Unteutsch-sein, Frömdgierigkeit| Zeucht uns an ein Sclavenkleid“.4 ‚Sprache‘, ‚Sitte‘, ‚Wesen‘: Das waren und blieben die drei Stichworte, von denen her sich das ‚Deutsche‘ in Akten unvermischter Selbstreproduktion bestimmte. In diesem Sinn ließ der Alamodekritiker Johann Michael Moscherosch den Erzähler im zweiten Teil seiner Wunderlichen vnd Warhafftigen Gesichte Philanders von Sittewald klagend ausrufen: „O Alte Mannheit: O Alte Teutsche Dapfferkeit vnd Redlichkeit, wo bistu hien verflogen?“ und legte dem uralten deutschen Helden, dem König Ariouistus (der als Nothelfer zusammen mit Arminius, Witichindus und dem hürnenen Siegfrid auf Schloss Geroltz Eck im Waßgau [d. h. im Elsass] darauf wartet, den Deutschen in ihrer Bedrängnis durch die Franzosen beizuspringen), eine gewundene Gardinenpredigt in den Mund: „Solche Sprachverkätzerung [wie sie sich der Protagonist des Romans, Philander von Sittewald, zuschulden kommen lässt] ist anzeigung genug der Vntrew, die du [Philander] deinem Vatterland erweisest. […] Wer wolte nicht Vrsach genug haben zu schelten, das du dieses Werck [d. h. die Sprachleistung der Alten] […] also mit allerhand frembden Sprachen (vnd darzu der jenigen Völcker, die euch so listig vnd grausamlich nach ewerer alten Teutschen durch mich vnd ewre Vorfahren erhaltener angeborner Freyheit, stellen vnd trachten) verderbet? […] In dem die Wälsche Sprachen meistentheils jhren Vrsprung von der Lateinischen haben; die vnserige aber von anfang her von unserem Vranherren Thuitscho von sich, als eine wahre Haubt und Helden sprach, selbst bestehet“.5 Mit dieser Schelte mahnte Moscherosch ein umfassendes philologisches und literaturwissenschaftliches Programm an, nämlich dem Deut4
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Schottelius, Justus Georg, Der schreckliche Sprachkrieg, hrsg. v. Friedrich Kittler u. a., Leipzig 1991, S. 55. Moscherosch, Johann Michael, Visiones de Don Quevedo. Wunderliche vnd Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, Anderer Theil, 2. Aufl., Straßburg 1643, S. 101, 119 f., zit. nach Albrecht Schöne (Hrsg.), Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, München 1963, S. 32.
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schen die Qualität einer „Haupt- und Heldensprache“ zuzuschreiben (es also dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen ebenbürtig zu erklären und ihm damit eine Suprematie über die konkurrierenden europäischen, lediglich abgeleiteten Nationalsprachen zu sichern), ihre ‚Kernigkeit‘ (die aus der germanischen naturhaften ‚simplicitas‘ folgen sollte) gegen die Dekadenz der ‚Modernen‘ zu bewahren und schließlich ihren literarischen Manifestationen – trotz der zugestandenermaßen katastrophalen Überlieferungslage – ein hohes Alter, möglichst bis in die Urväterzeit nach der Sintflut, zu attestieren (Thuiskon, der mythische Stammvater der Deutschen, galt gar als einer der Söhne des Japhet, Sohn des Noah!). Dieses Schema erschöpfte sich wegen seiner Enge schnell und zwang zu steter Repetition; es bot lediglich Raum für quantitative Auffüllungen, die es – vor allem unter dem Gesichtspunkt der persuasio – in einer Weise amplifizierten, dass das Material in der Mitte des 18. Jahrhunderts von Einzelforschern nicht mehr in der traditionellen ‚gelehrten‘ Manier zu beherrschen war. Die Impulse, die Mitte des 18. Jahrhunderts zur Intensivierung der Diskussion über einen distinkt abzugrenzenden deutschen Nationalcharakter und dessen natürliche Fundierung führten, waren unterschiedlicher Natur; im Umfeld des Siebenjährigen Krieges etwa entsprangen sie (übrigens durch eine mächtige Kriegspropaganda verstärkt) politischen Konstellationen. Johann Elias Schlegel, Friedrich Nicolai und Lessing favorisierten aufgrund der Beobachtung von – wie sie meinten – vergleichbaren ethnischen und klimatischen Gegebenheiten die Engländer und ganz besonders Shakespeare, um durch deren Lektüre dem spezifisch deutschen (gegen den französischen abgegrenzten) ‚Nationalgeist‘ auf die Spur zu kommen, und stießen damit eine sich über Jahrzehnte hinziehende Diskussion an, die allerdings am Ende zu wenig führte. Erfolg- und folgenreicher waren Impulse, die aus Verschiebungen im Gefüge des Wissens der Epoche resultierten; in Reaktion auf das (historische) Individualisierungsbestreben der Nachaufklärung ergaben sich neue Chancen. Als die Blockaden, welche die (am Ende metaphysisch begründete) enzyklopädische, dann polyhistorische Organisation von Welt-Wissen, und d. h. auch von sozialem (und damit auch literarischem) Wissen dem Blick auf das Besondere auferlegt hatte, angesichts der Kontingenz des Besonderen verschlissen, waren neue Ansätze vonnöten, die es erlaubten, das Besondere zu entziffern, um planendes Handeln überhaupt möglich erscheinen zu lassen. In dem Maße, wie neue, die ‚Natur‘ organisierende Ordnungssysteme in den Bereich der Humaniora einbezogen wurden (besonders über die Anthropologie), gewan-
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nen ‚naturalistische‘ Entwürfe wie Physiognomik, Kraniologie, Phrenologie und schließlich Rassenkunde an Raum, verfeinerten – nach Meinung ihrer Vertreter – die Beobachtung von ethnischen Besonderheiten und boten zugleich (und paradoxerweise) die Möglichkeit, Generalisierungen plausibel zu machen. Allenthalben – wie bei dem Romantheoretiker Friedrich von Blanckenburg – erschallte der Ruf, die Schriftsteller sollten „deutsche Sitten“ darstellen, nämlich „deutsche Biedertreu, deutsche Redlichkeit nach denen Begriffen, die wir aus den Zeiten [vor Augen haben], wo wir noch Deutsche waren“.6 Der Gegner blieb im Übrigen der alte: die ‚Moderne‘. Sie wurde (abhängig von den allgemeinen historischen Konstellationen) personell unterschiedlich repräsentiert gedacht, zunächst durch die Konstruktion ‚die Franzosen‘, dann und besonders nachhaltig durch diejenige ‚der Juden‘. Für die frühe Phase lieferte Herder die entscheidenden Stichworte, später, d. h. nach der Französischen Revolution und mit der napoleonischen Expansion, gab sie Fichte. Beide wirkten entschieden über die Situation hinaus, in der sie agierten, so dass ihre Namen eher den Charakter stereotyper Marker bekamen, als dass ihre Schriften in philologischem Sinn als Quellen behandelt wurden: Fichte, so dekretierte etwa Arthur Moeller van den Bruck, einer der intellektuellen Väter des ‚Neuen Nationalismus‘ der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, habe den Begriff der ‚Rasse‘ zwar noch nicht gekannt, ihn aber geahnt. „Denn was er hier [in den Reden an die deutsche Nation] unter Deutschtum verstand, das war genau das, was wir heute – wenigstens in einer wirklich verinnerlichten Rasseauffassung, für die die äußeren Rassemerkmale immer nur Beleg sein können – unter Germanentum verstehen“.7 In Herders und vor allem in Fichtes Texten begründete sich das, was wir einen ‚Diskurs‘ nennen, d. h. eine Rede- und Argumentationsweise, die (besonders seit den antinapoleonischen Kriegen) über die einzelnen Autoren hinaus die einschlägigen literarischen Werke wie deren disziplinär reflektierte Verarbeitung prägte. Dieser Diskurs, der seine populäre Breite mehr durch poetische Texte (etwa von Klopstock, Lenz, Miller oder den Hainbund-Dichtern) gewann als durch gelehrte Untersuchungen, ebnete – besonders in der antifranzösischen Polemik nach 1800 – alle gedankliche Komplexität ein, mit der während des 18. Jahrhunderts Fragen nach der Einheit der ‚Natur‘ oder nach einer Kongruenz zwischen moralischen und körperlichen 6 7
Blanckenburg, Friedrich von, Versuch über den Roman, Faks.-Nachdruck, hrsg. v. Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 239. Arthur Moeller van den Bruck, Die Deutschen, Bd. 4, Rinteln [1907], S. 231.
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Gegebenheiten diskutiert worden waren. Obschon Herder (vor allem in Von der Entstehung des Menschen und Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit) aufgrund seiner neuhumanistischen Vorstellung von der einen ‚Menschheit‘ die Biologisierung ethnischer Varietäten (wie sie vor allem Johann Friedrich Blumenbach, aber auch Kant betrieben) ausdrücklich und entschieden ablehnte, obschon er sich gegen den Gedanken einer Kongruenz zwischen körperlichen und seelischen Eigenschaften beim Menschen (wie Lavater sie darlegte) aussprach, obschon er sich unüberhörbar gegen das Bild von der Geschichte als einem Wettstreit zwischen den Völkern wandte und deswegen den Terminus ‚Race‘ entschlossen aus seinem Wortschatz ausklammerte und obschon er mit dem Hinweis auf die Vielfalt unter den deutschen Provinzen die Homogenität des ‚Deutschen‘ verwischte, wirkten seine Vorstellungen vom ‚Volk‘ und von ‚Volkstum‘ dennoch nachhaltig auf die Formierung einer ‚nationalistischen und rassistischen Germanistik‘. Das bleibt um so denkwürdiger, als er die überlieferten Grundlinien kaum revidierte und die Unterschiede zwischen den Völkern konventionell mit der besonders in Frankreich gepflegten Klimatheorie erklärte. Wirksam wurde die Vorstellung von einer im ‚Volk‘ manifest werdenden ‚ursprünglichen‘, d. h. von keiner ‚Zivilisation‘ verdorbenen, zwar rauen, aber moralischen ‚simplicitas‘ vor allem dadurch, dass der schmale antike Bildbestand erheblich ausgeweitet wurde. Indem Herder sich intensiv mit Lebensäußerungen dieses ‚Volks‘, besonders mit dessen (angeblicher) Literatur, beschäftigte, die Bildprogramme der ‚idyllischen‘ Literaturtradition nutzte und das anti-klassische Schrifttum, vor allem Shakespeare, den englischen sentimentalen Roman und die deutsche Empfindsamkeit in die Betrachtung einbezog, rückten seine Darlegungen entschieden näher an die zeitgenössische Literaturproduktion heran, so dass sie gerade für nichtgelehrte, nicht-professionelle Leserschichten attraktiv werden konnten. Da er sein Bild vom ‚Volk‘ überdies aus dem Pool der Tableaus von einem idealisierten agrarischen und handwerkerlichen Leben kompilierte und damit an die ‚einfachen Schichten‘ band, eröffnete die in der ‚Empfindsamkeit‘ wie bei den französischen ‚philosophes‘ favorisierte antifeudale Tendenz – vor allem nach 1789 – dem Begriff das Terrain der politischen Auseinandersetzungen, das sich das Bürgertum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachdrücklich und trotz allen Widerständen mit zunehmendem Erfolg erschloss. Entscheidend für die Nachwirkung des Konzepts dürfte vor allem aber der Umstand gewesen sein, dass Herder der seit der Antike tradierten statischen Vorstellung von einem ursprünglichen (germanischen/deutschen) ‚Volk‘ vor dem Hintergrund
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der Rousseau’schen Natur- und Geschichtsphilosophie mit der Idee von einem organologischen, als Prozess der Selbstvervollkommnung gedachten ‚Bildungstrieb‘ eine neue (im übrigen durchaus zeittypische) Dynamik verlieh. Potentiell lag am Grunde dieser Vorstellung der Gedanke an ‚Züchtung‘ und ‚Degeneration‘; er konnte manifest werden, sobald während des 19. Jahrhunderts mit dem Vordringen anti-metaphysischer, materialistischer Konzepte die religiöse Rahmung des Herder’schen Geschichtsbildes wegbrach und der Mensch – in welcher Form auch immer – zum Herrn seines Schicksals aufrückte. Unsere Kenntnis dessen, was dann kam, und das Bewusstsein von der historischen Wirkmacht der um 1800 entwickelten Vorstellungen rücken diese Textlandschaften in ein trübes Licht, das nur zu leicht deren Komplexität undeutlich werden lässt. Jedenfalls hallten die – historisch angebahnte – Umdeutung des Ausdrucks ‚Nation‘ von einem ständischen zu einem republikanischen Begriff, die politische Auseinandersetzung über die Ereignisse jenseits des Rheins, der intellektuelle Widerstand während der napoleonischen Eroberungskriege und schließlich die anwachsende Biologisierung der Anthropologie mit Donnerschall über die deutschen Lande. Nach der preußischen Niederlage 1806 erhitzte sich die nationalistische Debatte und kühlte dann bis zur Jahrhundertmitte auch nicht mehr merklich ab. Weniger unmittelbar als mit zeitlichem Abstand wuchs Fichtes Reden an die deutsche Nation die Bedeutung eines bündelnden Textes zu, der zentrale Motive der national inspirierten Debatten sammelte. Ihr Verfasser stellte seine Landsleute unter die nationalpädagogische Forderung, das zu werden, was sie aufgrund ihrer menschheitsgeschichtlichen Aufgabe und ihrer Art nach seien: das wesensmäßig bestimmte, auf der Grundlage einer ‚höheren Vaterlandsliebe‘ mit sich selbst identische „Urvolk schlechtweg“,8 dem über seine Sprache in unmittelbarer, sinnlicher Wahrnehmung der geistige Zugang zu den Dingen gegeben ist, ohne dass dieser durch irgendeinen Opportunismus gegenüber den herrschenden Machtverhältnissen vernebelt und durch einen beschränkenden Egoismus getrübt wäre; das glänzendste Gefäß dieser Sprache stellt die deutsche Literatur dar (ein Prinzip, nach dem noch die Brüder Grimm ihr Deutsches Wörterbuch einrichten werden). Eine solche allenthalben (z. B. von Ernst Moritz Arndt [Volk und Staat] oder Friedrich Ludwig Jahn [Deutsches Volksthum]) beschworene Vorstellung vom deutschen Nationalcharakter, von der deutschen Mission in 8
Fichte, Johann Gottlieb, „Reden an die deutsche Nation“, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. 5, hrsg. v. Fritz Medicus, Darmstadt 1962, S. 485.
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der Welt, von den charakteristisch deutschen Werten wie Treue, Beseelung oder Biedersinn, von der besonderen Qualität der deutschen Sprache und der deutschen Literatur blieb trotz aller rhetorischen Emphase einigermaßen allgemein und war im übrigen traditionell vorgeprägt, so dass sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein speziell etablierter Zweig der Germanistik, die ‚Deutsche Alterthumskunde‘, mit großem Fleiß daran machte, die Textbestände zu verbreitern und aus der Überlieferung genauere Vorstellungen herauszudestillieren (in welche sich teils ausdrücklich, oft stillschweigend eine prinzipielle und wertende Abgrenzung gegen alles Heteronome, vor allem Französische und Jüdische, einschrieb). Im Blickfeld lagen die alten Sprachzeugnisse, vorzüglich das Nibelungenlied, das, wie 1807 Friedrich von der Hagen in der Widmung seiner Wiederausgabe schrieb, „vollkommenste Denkmal einer so lange verdunkelten Nazionalpoesie“, das „durchaus aus Deutschem Leben und Sinne erwachsen und zur eigenthümlichen Vollendung gediehen“ sei.9 In der Auseinandersetzung mit diesen Quellen erwachte ein neu fundiertes Interesse an der deutschen Sprache, denn, so urteilte Jacob Grimm 1830 in seiner Göttinger Antrittsvorlesung, „linguae usum latinae apud majores nostros desiderio patriae diu obfuisse et quasi callum abduxisse“.10 Die ersten von Jacob und Wilhelm Grimm seit 1852 herausgegebenen Bände des Deutschen Wörterbuchs waren – neben einem Zeugnis für eine Überwältigung durch die lebende Kraft einer Sprache – das Monument eines solchen nationalen Restitutions- und Erziehungsbegehrens. Als drittes Projekt stellte sich schließlich nachhaltig die Aufgabe, den Begriff von einer ‚deutschen Nationalliteratur‘ zu etablieren und ihm Gestalt zu verleihen; in deren Erzählung sollte das ans Licht treten, was im tiefsten Wesen deutsch sei, und zwar nicht allein als narrativ zurückschauende Herleitung aus seinem Urquell und seinen geschichtlichen Manifestationen, sondern zugleich als nationalpädagogisches Ziel aller vaterländischen Bildung. Dass solche Bestrebungen von Gedichten wie Arndts „Der Gott, der Eisen wachsen ließ,| Der wollte keine Knechte“ (1812) bis zu Nikolaus Beckers „Sie sollen ihn nicht haben,| den freien deutschen Rhein“ (1840) patriotisch kräftig untermalt und 9
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Hagen, Friedrich Heinrich von der, „Vorwort zum Nibelungenlied“ [1807], zit. nach: Johannes Janota (Hrsg.), Eine Wissenschaft etabliert sich, Tübingen 1980, S. 63. Jacob Grimm, De desiderio patriae. Antrittsrede an der Göttinger Universität, hrsg. v. Wilhelm Ebel, Kassel 1967, S. 5. (J. Gr. urteilte, „dass der Gebrauch der lateinischen Sprache seit langer Zeit bei unseren Vorfahren der Vaterlandsliebe Abbruch getan und sie gleichsam mit einer Hornhaut überzogen habe.“
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durch Bühnenstücke von Kleists Hermannsschlacht (gedr. 1821) bis Ernst von Wildenbruchs Die Karolinger (1881) anschaulich bebildert wurden, mochte vielen Forschern angesichts einer allseits propagierten Askese der Objektivität zwar unangenehm sein, trug aber dennoch nicht wenig zur Popularisierung ihrer Bemühungen bei. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte die Ausweitung des Betriebs der öffentlichen Sinnstiftung, die zu einem erheblichen Ausbau des Marktes führte, die Lage immer unübersichtlicher, zumal nicht allein die traditionellen Orientierungsinstanzen (wie die Kirche oder das philologisch-literarische Schulwesen) in ihrer hegemonialen Bedeutung zunehmend eingeschränkt wurden, sondern unter dem wachsenden Einfluss der Naturwissenschaften auch neue Standards in der Erzeugung und Validierung von Wissen die Kriterien von Wissenschaftlichkeit zu bestimmen begannen. Dieser Verunsicherung suchte die Germanistik durch – pauschal gesprochen – zwei Strategien zu begegnen: durch eine weitere Forcierung der volkspädagogischen Bestrebungen, die nach 1848 ihrer liberalen Widerborstigkeit beraubt und nach der Gründung des Bismarck-Reichs in den Dienst der Machtpolitik des Zweiten Kaiserreichs gestellt wurden, sowie durch eine formale wie inhaltliche Anlehnung an die Naturwissenschaften. Beides zeitigte zumindest partiell Synergieeffekte. Die Forderung nach szientifischer Wissenschaftlichkeit und der Wille, gesellschaftlichen Nutzen zu stiften, schienen sich in einer Biologisierung der Vorstellung von der Natur historischer Veränderungen die Hand zu reichen. „Herder, Darwin wurden“, so konstatierte Erich Schmidt in seinem Nachruf auf Wilhelm Scherer knapp, „seine Führer […]“. Und im Programm einer „Naturgeschichte der Dichtung“ sei es dem Hingeschiedenen darum gegangen, „Sprachgesetze in innigstem Zusammenhang mit dem Nationalcharakter zu zeigen“. Der Wilhelminische Staat stabilisierte eine solche Tendenz mit einer Flut von Institutsgründungen und Lehrstühlen. Aber so groß die Faszination auch war, die von den induktiven, reduzierenden, auf strikte Immanenz gerichteten und quantifizierenden Methoden der Naturwissenschaften ausging, deren Verfahrensweisen blieben dem Gegenstand der Germanistik doch äußerlich und ließen sich lediglich, wie Schmidt richtig sah, in der „Methode der Analogieschlüsse“11 übertragen oder führten am Ende zu lediglich mechanischen Materialhäufungen, aus denen durch Anmutungen Einsichten synthetisiert werden mussten (wenn etwa in 11
Schmidt, Erich, „Wilhelm Scherer“, zit. nach: Gunter Reiß (Hrsg.), Material zur Ideologiegeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Tübingen 1973, S. 49, 33.
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einem einzigen Satz konstatiert wurde, dass der Deutsche Schiller genial und blond gewesen sei). Im Übrigen standen Termini wie ‚Volk‘/‚Nation‘ bzw. ‚Rasse‘ bereit, um die Funktion zu übernehmen, über quantitativ gehäuftem Datenmaterial zusammenfassend ‚Sinn‘ zu stiften. Die ‚Erfindung‘ einer nationalen, im europäischen Kontext eigenständigen ‚Deutschen Bewegung‘ lag ganz in der Konsequenz dieses Ansatzes. Die Kluft, die in den Versuchen klaffte, naturwissenschaftliche Wissensbestände und Verfahrensweisen für die Analyse literarischer Texte nutzbar zu machen, hatte bereits Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines (1853 u. 55) zu schließen versprochen, insofern er die doppelte Bedeutung von ‚race‘, einerseits als (alte) Bezeichnung für eine Geisteshaltung (und hier dem Adel zugesprochen) und andererseits als (neue) Bezeichnung für biologisch different angesehene Menschengruppen, offenhielt und Korrelationen zwischen beiden herstellte. Nach seiner Meinung bewahrte die ‚arische‘ Rasse den Bestand einer ‚Urmenschheit‘, stand aber in der Gefahr und war ihr auch teilweise erlegen, diese aus der Verbindung zum Ursprung resultierende rassische Hochwertigkeit aufgrund von Degeneration infolge von Vermischung mit als inferior angesehenen Rassen zu verlieren. Mit dieser biologistischen Argumentation frischte er die traditionelle Gedankenfigur, ein ausdifferenziertes ‚Besonderes‘ an naturhafte Gegebenheiten zu binden, welche über Jahrzehnte hinter den nationalpolitischen Tendenzen mehr oder minder verborgen gelegen hatte, wieder auf und machte damit Schule. Chamberlains Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (1899) steigerte noch die historische Dynamik, die in Gobineaus rassistischer Geschichtsinszenierung lag, insofern die germanische ‚Hochrasse‘ nicht allein in der Vergangenheit geortet wurde, sondern (ähnlich wie bei Fichte) als ein Potential galt, das auf die Zukunft gerichtet ist. Wie Gobineau schränkte Chamberlain Rasseeigenschaften nicht auf körperliche Besonderheiten ein (wie auf die allseits beliebten Proportionen des Schädels), sondern verstand sie als biologisch gegebene geistig-seelische Komplexe. Unter dieser Voraussetzung war die fremde Artung eine weltgeschichtliche Negation des Eigenen und bedrohte damit angesichts der eigenen rassischen Hochwertigkeit irreversibel die rassische Substanz der Menschheit. Zugleich verschob sich die Konkretion des Anderen; an die Seite, ja an die Stelle zunächst der Italiener, dann der Franzosen trat das Händlervolk der Briten und dann und vor allem ‚der Jude‘. Nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen Erbgesetze im Jahre 1900 bekam diese Konstruktion endgültig den Charakter eines Naturgesetzes. Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage (ab 1887 in verschiedenen Fassungen) und Adolf Bartels’ nicht
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minder auflagenstarke Geschichte der deutschen Literatur (1901/2) listeten auf, wer voll oder halb, vermutlich, versippt oder seelenverwandt ‚Jude‘ und damit auszusondern sei. Das war ab 1933 von Staats wegen wörtlich zu nehmen, als unter den Germanisten u. a. Richard Alewyn, Walter J. Berendson, Käte Hamburger oder Werner Milch ins Exil gejagt, der ‚jüdisch versippte‘ Karl Viëtor außer Landes gedrängt, Walter Benjamin oder Alfred Kleinberg in den Tod getrieben wurden. Was und auf welche Weise deutsch/germanisch/arisch war, wurde nach körperlichen und seelischen Merkmalen schein-systematisch mit Schädelskizzen, Photos und Charakterskizzen in Ludwig Ferdinand Clauß’ Die nordische Seele (1925), Paul Schultze-Naumburgs Kunst und Rasse (1928), Hans F.K. Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes (1922) und anderen Publikationen vor allem aus dem J. F. Lehmann-Verlag langwierig ausgebreitet. Nach der taciteischen Faustregel kam alles erdenklich Gute ‚dem Deutschen‘ zu, alles Negative neben anderen vor allem ‚dem Juden‘. Da sich so viel Gutes aber schwer auf einen Nenner bringen ließ, musste das Deutsche/Germanische noch in das ‚Nordische‘ (blond, schmal, unruhig, phantasiebegabt) und das ‚Dalische‘, später ‚Fälische‘ (blond, breit, behäbig, realistisch, willensstark) unterteilt werden, was auf einschlägig interessierte Germanisten erheblichen Eindruck machte. Solche Vorstellungen versprachen fachintern zu Synthesen über wachsenden Materialbergen zu führen (zumal sie verfahrenstechnisch vergleichbaren Tendenzen wie Geistesgeschichte oder Heimatkunstbewegung anschließbar waren), und sie verhießen fachextern – und zwar in wachsendem Maße – Anschluss an Strömungen innerhalb der deutschen Gesellschaft, denen die Mehrzahl der Fachvertreter politisch ohnehin gewogen war. So applizierten sie das in der ‚Rassenkunde‘ Vorgedachte auf Autoren wie Werke und gossen – unterschiedlich intensiv und in variierenden Mischungsgraden – die nationalistische und rassistische Mayonnaise über das anderweitig, vor allem von den Positivisten erarbeitete Material. Obwohl sie fachgeschichtlich einigen Erfolg damit gehabt haben, sind unter verfahrenstechnischen Gesichtspunkten darüber somit wenig Worte zu verlieren. Kardinalwerke der ‚nationalistischen und rassistischen Germanistik‘ der ersten Jahrhunderthälfte stellten Josef Nadlers vierbändige, sich über ihre vier Auflagen radikalisierende Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912–1928) und das von der deutschen Fachgruppe innerhalb der DFG organisierte fünfbändige Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (1941) dar.
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5. Fachgeschichtliche Einordnung Kontingent wie die Historie des Ansatzes war auch deren Ende. 1945 war es aus äußerlichen Gründen – zumindest offiziell – abrupt vorbei. Dass die Germanistik in ihrem Mainstream freilich weiterhin als eine Wissenschaft von einer Nationalliteratur betrieben wurde, blieb und bleibt ein weißer Fleck ihres methodologischen Selbstverständnisses. Die in jüngerer Zeit wieder florierenden materialistischen Welterklärungen wie neodarwinistische Evolutionsbiologie, Genetik und Hirnphysiologie finden in der Germanistik zumindest derzeit so gut wie keinen Anschluss.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Baur, Erwin / Fischer, Eugen, / Lenz, Fritz, Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassehygiene, 2 Bde., München 1921 u. ö. [später unter den Titeln Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene bzw. Menschliche Auslese und Rassenhygiene] Das Standardwerk der Eugenik legt die Grundbegriffe der Vererbung, der Volks- und Rassenbildung sowie die anthropologischen und gemeinschaftsbildenden Dimensionen von Vererbung dar. Voegelin, Eric, Rasse und Staat, Tübingen 1933. Bestimmt die Bedeutung von ‚Leibideen‘ (und insbesondere von ‚Rasseideen‘) in einer systematischen Staatslehre auf anthropologischer Grundlage, indem er einerseits die Grenzen der (natur)wissenschaftlich verstandenen Rassetheorien bestimmt und andererseits die Bedeutung von Leib/Rasseideen als „Mit-Erzeuger der Gemeinschaft im gesamten Ideengefüge der Gemeinschaft“ in Form von „‚mythischen‘ Ideen“ (14) fixiert. Blome, Hermann, Der Rassegedanke in der deutschen Romantik und seine Grundlagen im 18. Jahrhundert, Berlin 1943. Stellt die ‚Nürnberger Gesetze‘ in eine ideengeschichtliche Tradition, die in der Nachfolge Kants besonders in der deutschen Romantik (bei Schelling, Steffens, Oken, den Brüdern Schlegel, A. v. Humboldt, Carus, Arndt) ihre zwar historisch begrenzten, nichtsdestoweniger unabdingbaren Voraussetzungen fand.
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Sternberger, Dolf / Storz, Gerhard / Süskind, W.E., „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“, in: Die Sammlung, 1945–1948, Hamburg 1957. Neben Victor Klemperers ‚LTI‘. Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen (1947) die erfolgreichste Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch während des Dritten Reichs. Setzt sich auf populärer sprachpflegerischer Grundlage mit Wörtern wie ‚Anliegen‘, ‚Ausrichtung‘, ‚Betreuung‘ auseinander, die durch ihre Verwendung während der 1930er- und -40er-Jahre kontaminiert seien. Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Beiträge von Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady und Peter v. Polenz, Frankfurt a. M. 1967. Vier Beiträge vom Münchner Germanistentag 1966, der – gegen viele Widerstände und mancherlei Abmilderungen – dem Thema ‚Nationalismus in Germanistik und Dichtung‘ gewidmet war. Die Beiträger fordern eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Fachs seit 1800 als eines Teils der deutschen Geschichte im Prozess der Modernisierung und mit dem Verhalten führender Vertreter während des Dritten Reichs. Das Bändchen initiiert die mühsame institutionelle Auseinandersetzung des Faches mit sich selbst. Mühlen, Patrick von Zur, Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe, Berlin 1977. Untersucht vergleichend und in ideologiegeschichtlicher Perspektive Rassentheorien als restaurative Konstruktionen im Kontext gesellschaftlicher und politischer Konstellationen vom frühen 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Conze, Werner / Sommer, Antje, „Art: Rasse“, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135–178. Zeichnet die („fragwürdige“) Geschichte des Begriffs ‚Rasse‘ in seinen unterschiedlichen Bedeutungsfeldern, Verwendungszusammenhängen und Funktionen, die zu semantischen Verschiebungen geführt haben, vom 16. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit nach. Geulen, Christian, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004. Analysiert im Kontext einer Archäologie des Scheiterns der Weimarer Republik das Dispositiv ‚Biopolitik‘, in dessen Rahmen am Ende des 19. Jahrhunderts die Naturalisierung politischer Konfliktkonstellationen betrieben worden ist. Mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis.
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Schneider, Manfred, „Rassismus und Medien“, in: Oxana Zielke (Hrsg.), Nathan und seine Erben. Beiträge zur Geschichte des Toleranzgedankens in der Literatur, Würzburg 2005, S. 101–124. Verweist auf die zentrale Bedeutung der Medien Bild und Karikatur bei der Konstruktion von Vorstellungen von ‚Rasse‘. Theile, Gert (Hrsg.), Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, München 2005. Versammelt 13 Einzeluntersuchungen, die im Kräftefeld von u. a. Kriminalistik, Literatur und Biologie Bestrebungen darlegen, den Menschen zu vermessen und so auf das Maß des Normalen zu bringen, um signifikante Abweichungen davon zu qualifizieren. Physiognomik, psychiatrische Normierung, Rassenkunde, Phonometrie usw. werden ins Licht einer Vorgeschichte heutiger Gentechnologie gerückt. Brehl, Medardus, Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, München 2007. Führt die Vernichtungspolitik der deutschen Kolonialverwaltung auf vorlaufende Diskurse auf dem Felde der Geschichtswissenschaft, der Politik, des Rechtswesens, der Anthropologie, der Literatur zurück. Fangerau, Heiner, „Wissenschaft im Einsatz – Erwin Baur, Eugen Fischer, Fritz Lenz und ihr ‚Standardwerk‘ zur Menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene 1921–1940“, in: Käte Meyer-Drawe u.a. (Hrsg.), Wissenschaft im Einsatz, München 2007, S. 218–242. Skizziert die Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland und erläutert an Baurs, Fischers und Lenz’ Menschlicher Erblichkeitslehre deren zentrale Problemstellungen. Geulen, Christian, Geschichte des Rassismus, München 2007. Rollt geschichtlich eine funktionale Konstruktion auf: in unübersichtlichen Zeiten ‚natürliche‘ Ordnungsschemata zu liefern, die Unsichtbares sichtbar machen. Dabei geht er von der reconquistà aus, in der die jüdischen ‚conversos‘ unter gesellschaftlichen Generalverdacht gestellt wurden.
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Performativitätsforschung von H ANS R UDOLF V ELTEN
1. Definition Das interdisziplinäre Forschungsfeld des Performativen (performance, Performanz, Performativität, von engl.: to perform)1 bezieht sich generell auf kulturelle Praktiken und bezeichnet die Dimension des Aufführens und Vollziehens: Aufführung von rituellen, theatralen und sozialen Handlungen, Ausführung von Sprache als wirksamer Vollzug, Aufführung von Körperlichkeit, Präsenz und Materialität in Schrift und Bild. Performativität bezeichnet somit den im Semiotischen nicht aufgehenden, körperlich erfahrbaren Prozess zwischen Handeln und Wahrnehmen, der Wirklichkeit konstituiert. In den Literaturwissenschaften zielt die Performativitätsforschung methodisch daher nicht auf die Repräsentations- und Bedeutungsfunktion von Texten (und Sprache), sondern auf ihre Handlungs- und Erzeugungsfunktion, auf Inszenierung und Dramatisierung, auf Medialität und Selbstreferentialität.
2. Beschreibung Die Performativitätsforschung in der Germanistik gehört zu den jüngeren methodisch-theoretischen Zugängen zur deutschsprachigen Literatur. 1
‚Performance‘ wird heute als Prozess der Verkörperung bzw. Ausführung und Wahrnehmung körperlicher Handlungen definiert. Im Deutschen wird ‚performance‘ generell mit ‚Aufführung‘ wiedergegeben oder bleibt in bestimmten Fällen als Fremdwort erhalten (‚Performance-Kunst‘). Demgegenüber bezeichnet das Lehnwort ‚Performanz‘ einen von der Sprachphilosophie her kommenden Handlungscharakter von Sprache (und von Texten). Eine präzise und zuverlässige Unterscheidung zwischen ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ ist im Deutschen heute noch nicht gegeben; während im Englischen ‚performativity‘ vorwiegend auf die Sprechakttheorie zurückgeführt wird, zielt ‚Performativität‘ allgemeiner auf eine Qualität und ein Potential von Aufführungshandlungen, seien sie sprachlicher, körperlicher oder theatraler Herkunft.
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Sie ist aus der kulturwissenschaftlichen Rezeption dreier verschiedener, aus unterschiedlichen Disziplinen stammender und sich überlagernder Theorien entstanden, die die Begrifflichkeit des ‚Performativen‘ jeweils anders verwenden: Dies sind (1) die Sprechakttheorie Austins, die performative Äußerungen (im Gegensatz zu konstativen) als vollziehende und sozial wirksame Akte begreift; (2) die auf de Saussure zurückgehende, von Chomsky eingeführte linguistische Differenz von ‚Performanz‘ und ‚Kompetenz‘ im Sinne der Aktualisierung eines strukturellen Schemas; und (3) das zunächst ethnologische, dann immer stärker auch theaterund sozialwissenschaftliche Konzept von ‚performance‘ als Prozess der Verkörperung bzw. Ausführung und Wahrnehmung körperlicher Handlungen (Turner u.a.). In allen Fällen geht es – zugespitzt und vereinfacht formuliert – darum, die Handlungs-, Gebrauchs- und Aufführungsdimension von Sprache, Ritual, Medien, Kunst und Literatur gegenüber ihrer Bedeutungsdimension zu fokussieren, d.h. um eine Verschiebung von der Semantik zur Pragmatik. Der Vollzug performativer Akte wird dabei als ritualisierte (öffentliche) Aufführung verstanden und bezieht sich insofern auf die theatrale Dimension menschlichen Handelns. Die wichtigsten Fragestellungen betreffen die Dynamik und Prozessualität von Handlungen und Aufführungen, ihre spezifische Materialität (Körperlichkeit, Stimmen, Räumlichkeit), Medialität (Zuschauerbezug, soziale Kontexte) und Ästhetizität (Ereignischarakter, Effekte, Emergenz). Die literaturwissenschaftliche Performativitätsforschung hat von diesen Theoriemodellen zunächst dort Gebrauch machen können, wo literarische Texte in enger Beziehung zu ihrer ‚Aufführung‘ stehen: in der schriftlich überlieferten, doch mündlich geprägten Vortragsdichtung des Mittelalters. Es war der Schweizer Mediävist Paul Zumthor, der – im Rückgriff auf theaterwissenschaftliche, ethnologische und sprachphilosophische Ansätze – seit den 1970er-Jahren den Aufführungscharakter der mittelalterlichen Dichtung erforschte.2 Dazu gehören die physische Kopräsenz von Vortragenden und Zuhörern, die ‚action vocale‘ der Stimme sowie die Artikulation aller sinnlich wahrnehmbaren Aspekte 2
Er griff bereits in seinem Essai de poétique médiévale (1972) auf den Begriff der ‚performance‘ zurück, um damit die ‚Vokalität‘ und die multisensorische Wahrnehmung von Lied- und Epenvorträgen zu beschreiben. Die Germanistik, vor allem die Mediävistik war mit den Fragestellungen des Performativen insofern vertraut, als sie in Drama und Spiel, im Vortragen und Vorlesen, in der rituellen Inszenierung von Dichtung eine wichtige Komponente ihres Gegenstandsbereiches hat. Dennoch bereitete erst der Aufsatz von Hugo Kuhn „Minnesang als Aufführungsform“ (1967) den Weg für ein tieferes Verständnis des Liedvortrags.
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der Aufführung als theatraler Vollzug.3 Zumthor sieht das Potential des performativen Zugangs in der Erarbeitung der Bezüge des Textes auf seine Aufführung, in dem Sinne, dass am Text selbst Spuren für vorangegangene und Hinweise auf künftige Aufführungen gefunden werden können. Performativität erscheint hier als relationale Kategorie, die nur in den Interaktionen mit bzw. in den Übergängen und Bezugnahmen zur Textualität zu fassen ist. Dadurch wird es möglich, textuelle und materielle kulturelle Praktiken, und nicht nur diejenigen der gleichen Kultur, in einem methodischen und systematischen Zusammenhang zu analysieren.4 Performativität erlaubt und fordert somit interdisziplinäre, intermediale und interkulturelle Blicköffnung.5 So wegweisend dieser Ansatz von Zumthor insbesondere für die Erforschung des Aufführungsaspektes mittelalterlicher Dichtung ist, so deutlich treten auch seine Grenzen zutage. Erkennt man wie Zumthor im (überlieferten) Text nur eine Reduktionsform eines durch die Aufführung gekennzeichneten ‚Werkes‘, lässt sich ihm kaum mehr als eine Dokumentations- und Quellenfunktion attestieren. Daher hat sich in den letzten Jahren ein Performativitätsbegriff herauskristallisiert, der die pragmatischen und aisthetischen Inszenierungs- und Vollzugsdimensionen der Texte selbst in den Mittelpunkt stellt. Performativität erscheint so als eine besondere Qualität von Texten, die wie folgt beschreibbar ist: (1) als Manifestation von Präsenzeffekten, (2) als Auslösung affektiver und sozialer Wirkungen und (3) als Zeigen ihrer je besonderen Medialität sowie deren Reflexion. Es geht bei dieser Perspektive jedoch nicht einfach darum, dass in Texten Sprache zur Aufführung gebracht wird oder dass Texte vorführen, wovon sie sprechen. In dem Maße, wie Texte nicht mehr auf etwas Abwesendes verweisen, sondern zu einem Ort der Erfahrbarkeit von Präsenz werden, gewinnen sie Attribute, die nicht mehr ihrem Zeichencharakter geschuldet sind und hermeneutischer Auslegung zuarbeiten, sondern als Teil einer somatisch-sinnlichen Praxis zu betrachten sind. Diese in den Text eingeschriebene und jederzeit wieder erfahrbare äs-
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Vgl. Zumthor, Paul, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994, S. 36–45. Vgl. Maaßen, Irmgard, „Text und / als / in der Performanz in der frühen Neuzeit: Thesen und Überlegungen“, in: Erika Fischer-Lichte / Christoph Wulf (Hrsg.), Theorien des Performativen (=Paragrana 10/2000,1) S. 285–301, hier S. 287. Vgl. Bachmann-Medick, Doris, „Performative Turn“, in: dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 104–143.
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thetische Praxis zu analysieren, steht im Mittelpunkt einer performativen Perspektive auf Literatur. Diese Perspektive lässt sich in zwei komplementären Formen beschreiben: (1) funktionale und (2) strukturelle Performativität.6 Zu (1): Strukturelle Performativität bezieht sich auf Textstrategien, die der Inszenierung von Präsenz, von Mündlichkeit und Körperlichkeit dienen und ‚Aufführungen‘ in den narrativen oder dramatischen Vollzug integrieren. Zu dieser ‚Performanz im Text‘ gehören das Fingieren von mündlicher Kommunikation, das Simulieren von theatralen Bildfolgen und ereignishaften Ausrufen, Effekte der Präsenz und der Sinnlichkeit, Inszenierungen von körperlicher Lebendigkeit und Emotionalität. Solche performativen Textstrukturen weisen jedoch weniger auf vorgängige Aufführungen hin, sondern sie sind bewusst gelegte Strategien der Schrift mit der Aufgabe, den Text selbst als Bühne von Aufführungen zu präsentieren. Indem solche Inszenierungen auf ihren eigenen, fingierten und artifiziellen Charakter zurückverweisen, können sie ein distanzierendes, sogar parodistisches Potential entfalten. Zu (2): Funktionale Performativität meint die Wirkungen und Dynamiken, die ein Text an der Schnittstelle mit seinen Rezipienten entfaltet. Wie Sprechakte können auch Texte Wirklichkeit konstituieren, indem sie etwa Lachen oder Weinen auslösen und damit Gemeinschaft stiften,7 Hass- oder Rachgefühle provozieren oder durch die iterative Verwendung ihrer Inszenierungen Einfluss auf die kulturelle Modellierung von emotionalen Mustern ausüben. Hier ist die Ausarbeitung einer Relationsbeschreibung von textinternem und textexternem Publikum leitend gewesen, damit etwa Lachen oder Gefühle nicht als ‚Ausdrucksverhalten‘ verstanden werden, sondern als im Text und vom Text konstituierte Handlungsanweisungen. Mit dieser theoretisch-methodischen Ausrichtung der Performativitätsforschung werden einige Zentralbegriffe der Literaturanalyse in Frage gestellt. Die Veränderungen zielen auf (1) eine Revision des Textes als eines fixierten, abgeschlossenen und von einem Autor kontrol6
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Ich gebrauche diese Differenzierung nach Maaßen, „Text“, hier S. 287 ff., und beziehe mich sowohl auf Maaßen als auch auf Velten, Hans Rudolf, „Performativität: Ältere deutsche Literatur“, in: Claudia Benthien / Hans Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002, S. 217–242, hier S. 227 ff. Vgl. dazu Röcke, Werner / Velten, Hans Rudolf (Hrsg.), Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin, New York 2005.
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lierten Gebildes, das von Rezipienten ‚verstanden‘ und ‚gedeutet‘ werden will; (2) eine Revision des Literaturbegriffes auf der Basis eines erweiterten Zeichenbegriffes, da nach performativer Auffassung die ‚Handlungen‘ von Literatur nicht mit der Kommunikation von Zeichen erschöpfend beschrieben werden können; (3) eine Revision des Kommunikationsbegriffes, der um die Dimension der Materialität von Text und Schrift erweitert werden muss, um das greifbarer zu machen, was sich hermeneutischem Zugang sperrt; (4) eine Revision des Fiktionsbegriffes, da dem Text als Aufführung eine demonstrativ theatralische Tendenz eingeschrieben ist, die ihn im Zwischenraum von Fiktion und Pragmatik verortet (insbesondere bei Texten der Vormoderne reicht ein solcher Fiktionsbegriff von ritualisierten Überhöhungen des Alltags bis zu theatralen Aufführungen, deren unterschiedliche Grade des Fingierens noch genauerer historischer Ausarbeitung bedürfen); (5) einen veränderten Rezeptionsbegriff, der über die bisherigen Dichotomien von Enkodieren und Dekodieren bzw. von Produktion und Rezeption hinausgeht. Ein performativer Rezeptionsbegriff stellt die Wahrnehmung, die aisthetische Dimension von Literatur in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, um wirklichkeitskonstituierende Effekte erfassen zu können.8 Was die Gegenstände und Anwendungsbereiche der Performativitätsforschung angeht, ergeben sich zwischen älterer und neuerer deutscher Literaturwissenschaft noch starke Differenzen: Lassen sich über den Ansatz des Performativen die mündlichen, schriftlichen und nonverbalen Kommunikationsstrukturen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur, ihr enger Bezug zur sozialen und rituellen Praxis und ihre häufig intermediale Überlieferung besser als bisher erforschen, so liegt für die Literatur nach 1800 der Schwerpunkt auf der Herausarbeitung performativer Funktionen der Schrift (Theatralität, Indexikalität), von Rahmungs- und Iterationskonzepten sowie von Formen der performativen Herstellung von Identität nach Modellen von Austin und Searle, Derrida und Butler.9 Im Mittelpunkt steht dabei jeweils das Spannungs8 9
Nach Jan-Dirk Müller, „Vorbemerkung“, in: hrsg., v. dems., Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, Stuttgart, Weimar 1996, S. XVff. Fiel das Paradigma des Performativen für die Literatur der älteren Epochen auf fruchtbaren Boden, so hat es sich für die Literatur nach 1800 erst mit Verzögerung durchgesetzt. Durch die theoretische Unbestimmtheit des Performanzbegriffes ist in einem gewissen Ausmaß auch eine dekorative oder falsche Verwendung zu beobachten; häufig folgt seinem Gebrauch in Titeln und Überschriften keinerlei methodische Funktion, keine entsprechende Erläuterung oder Definition.
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verhältnis zwischen dem Handlungscharakter von Sprache, Schrift und Text und seinen Bedeutungssetzungen. Dabei ist nicht zu verschweigen, dass schillernde Prägungen wie ‚diskursive Performativität‘ oder ‚narrative Performativität‘ zwar immer wieder auftauchen, jedoch noch theoretisch-begrifflicher und methodischer Aufarbeitung bedürfen. Für die Literatur bis 1600 können zwei Haupttendenzen der Performativitätsforschung unterschieden werden, die tentativ mit den Begriffen ‚Aufführungssituation‘10 und ‚Performativität von Texten‘ überschrieben werden können. Bei der ersten steht die Zumthor’sche Konzeption von Aufführung als multisensorischem Ensemble im Mittelpunkt, mit deren Anwendung zahlreiche Aspekte der Lied- und Vortragsgattungen wie Minnesang,11 Sangspruchdichtung,12 Helden- und Spielmannsepik,13 wie auch die spätmittelalterlichen geistlichen und weltlichen Spielformen14 neu perspektiviert werden können. So konnte beispielsweise die bislang ungeklärte Sequenz der Kürenberg-Strophen (früher Minnesang) auf zwei nach Frauen- und Männerrollen getrennte Aufzeichnungen zurückgeführt werden. Die Aufführungssituation ist in der rollenbezogenen Verschriftung sedimentiert, der Text weist eine hohe Variabilität für Aufführung und Inszenierung auf.15 Das Beispiel zeigt, dass diese Variante der Performativitätsforschung die Interdependenz von situationsgebundener Aufführung und schriftlichem Text, die Einbettung von Literatur in 10
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Vgl. Strohschneider, Peter, „Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung“, in: Johannes Janota (Hrsg.), Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik, Tübingen 1993, S. 56–71. Als Beispiele der zahlreichen Untersuchungen seien genannt: Tervooren, Helmut, „Die ‚Aufführung‘ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik“, in: Müller, Aufführung und Schrift, S. 48–66; Strohschneider, Peter: „‚nu sehent, wie der singet!‘ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang“, in: Müller, Aufführung und Schrift, S. 7–30. Vgl. Egidi, Margreth / Mertens, Volker / Miedema, Nine (Hrsg.), Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategie – Spannungsfelder, Frankfurt a. M. u. a. 2004. Vgl. Fuchs-Jolie, Stephan, „Gewalt – Text – Ritual: Performativität und Literarizität im ‚König Rother‘“, in: Beitr. zur dt. Sprache u. Literatur, 127/2005, S. 183–207. Vgl. Kasten, Ingrid / Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im Geistlichen Spie,. Berlin 2007; Röcke, Werner, „Literarische Gegenwelten zur ideologischen und sozialen Ordnung im Mittelalter: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts“, in: Werner Röcke / Marina Münkler (Hrsg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. I, München 2004, S. 420–445. Vgl. Schilling, Michael, „Sedimentierte Performanz. Die Kürenberg-Strophen in der Heidelberger Liederhandschrift“, in: Euphorion, 98/2004, S. 245–263.
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‚pararituelle‘ Kontexte, die Bindung von Texten an körperliche Interaktionen sowie die intermedialen Zusammenhänge von Text und Bild bzw. Notation herausstellt.16 Sie eignet sich besonders für Gattungen wie Lied und Spruch, für theatrale Aufführungen, gleichermaßen aber auch für die wenig erforschte Performativität von Predigt, Gebet, geistlichem Lied oder Meistersang. Dass die Aufführungskultur nicht isoliert von der Schrift betrachtet werden darf, ist eine der wichtigsten Forderungen der mediävistischen Performativitätsforschung. Dementsprechend ist die zweite Haupttendenz auf das Zusammenspiel funktionaler und struktureller Performativität in der einzelnen Handschrift bzw. im einzelnen Typoskript konzentriert. Hier wurden in den letzten Jahren verschiedene anthropologische Thematiken – etwa Emotionalität (Liebe, Trauer, Zorn), Körperlichkeit, Gewalt, Lachen, Schweigen – oder auch die Strategien der Visualisierung von Räumlichkeit, von Pracht und Glanz innerhalb der höfischen Literatur erschlossen.17 Zentrale Fragestellungen richten sich auf die Formen und Dynamiken der Teilhabe an und Wahrnehmung von Präsenzeffekten in literarischen Texten, die gerade nicht als Skripte für Aufführungen betrachtet werden, sondern selbst als Bühnen der Aufführung fungieren, indem sie Theatralität fingieren und als solche reflektieren, und Bilder, Räume und Bewegungen mit dem ihr innewohnenden imaginativen Potential vor ihrem Publikum ausstellen.18
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Als Beispiel performativer Text-Bild-Untersuchungen vgl. Wenzel, Horst / Lechtermann, Christina (Hrsg.), Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des ‚Welschen Gastes‘ von Thomasin von Zerclaere, Köln 2002. Vgl. etwa Koch, Elke, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 2006; Jaeger, C. Stephen / Kasten, Ingrid, Codierungen von Emotionen im Mittelalter, Berlin 2003; Velten, Hans Rudolf, „Grotesker und komischer Körper. Für ein performatives Körperkonzept“, in: Eva Erdmann (Hrsg.), Der komische Körper. Szenen – Figuren – Formen, Bielefeld 2003, S. 145–153; Röcke, Werner, „Die Gewalt des Narren. Rituale von Gewalt und Gewaltvermeidungen in der Narrenkultur des späten Mittelalters“, in: Christoph Wulf / Jörg Zirfas (Hrsg.), Die Kultur des Rituals – Inszenierungen. Praktiken. Symbole, München 2004, S. 110–128; Schnyder, Mireille, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003; Wenzel, Horst (Hrsg.), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, Berlin 2006; Wandhoff, Haiko, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin 2003. Dazu etwa Kiening, Christian, „Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel“, in: Kasten / FischerLichte, Transformationen des Religiösen, S. 139–168.
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‚Theatralität‘ ist als Leitbegriff der Performativitätsforschung auch für Texte der Neuzeit und der Moderne eingeführt.19 Damit ist zunächst die Dynamik der Pluralisierung von Sinn als implizites Element der sprachlichen Texthandlungen gemeint, welches nach Barthes als „szenisches Geschehen“ (Sprache als Szeno-Graphie) bezeichnet werden kann. Bedeutungen können so als ‚inszenierte‘ betrachtet werden und den Status des Theatralen einnehmen.20 Ästhetische Erfahrung schließt dann das Zeichenhafte und das Nicht-Referentielle mit ein. Die Frage nach der Theatralität von Texten zielt daher auf das ihnen eingeschriebene generative und evokative Element der Sprache, das den Stil von Wahrnehmung, Darstellung und Erkenntnis prägt. In der Literatur der Neuzeit verweist es jedoch weniger auf Teilhabe an einem rituellen Geschehen, sondern auf sich selbst als Iteration einer ästhetischen Zurschaustellung, auf Hypersemantisierung und Kontingenz des performativen Aktes.21 Die Wahrnehmungsdimension narrativer Theatralität liegt dem theoretisch noch nicht gänzlich ausgearbeiteten Schlagwort vom ‚performative reading‘ zugrunde, das sich an der Schnittstelle zwischen älterer und neuerer Literaturwissenschaft etabliert hat.22 Darunter versteht man die Fähigkeit von Narrationen, Bilder, Bewegungen, Rhythmen und Klänge zu evozieren und imaginativem Nachvollzug zu öffnen, bis zu dem Punkt, dass der Leser zum Autor wird und sich aus den Materialien des Textes seinen persönlichen Roman schafft.23 Das performative Lesen hat verschiedene Ebenen: vom lauten Vorlesen bis zur stillen Lektüresituation als Grundstufe der Performance – ‚le degré zero de la performance‘, wie Zumthor sie nennt. Dabei wird nach Zumthor die Sinnproduktion eines Textes an dessen Präsenz in der konkreten Lektüresituation gebunden. Allerdings können die Kontingenzen des (Vor-)Leseakts dazu füh19
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Vgl. Neumann, Gerhard (Hrsg.), Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i. B. 2000; Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.), Diskurse des Theatralen, Tübingen 2005. Vgl. Huber, Martin, Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800, Göttingen 2003. Vgl. z. B. Pape, Walter, „‚Die tiefere Bedeutung des Wurststurzes‘“: zur Hypersemantisierung performativer Akte und des Kontingenten in Nestroys Komödien aus kulturwissenschaftlicher Sicht: ein Projekt für das 21. Jahrhundert“, in: Nestroyana, 25/2005, 1 u. 2, S. 5–12. Vgl. etwa: Birge Vitz, Evelyn u. a. (Hrsg.), Performing Medieval Narrative, Cambridge 2005. So etwa Rätsel- und Labyrinthbücher der Frühen Neuzeit; vgl. Schmitz-Emans, Monika, „Labyrinthbücher als Spielanleitungen“, in: Erika Fischer-Lichte / Gertrud Lehnert (Hrsg.), [(v)er]SPIEL[en]. Felder – Figuren – Regeln (=Paragrana 11/2002, 1), S. 179–207).
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ren, dass es zu performativen Widersprüchen zwischen übertragener Bedeutung und ihrer Aufführung kommt. Auch die Performativitätsforschung in der neuzeitlichen Literatur hat neben der soeben beschriebenen rituell-theatralen eine sprachphilosophische Achse.24 Diese wurde mit der generellen Deklaration des Textes zum Sprechakt inauguriert,25 später aber sowohl in der Anglistik als auch in der Neugermanistik von Theorien der Dekonstruktion (Derrida, De Man) überlagert. Vor diesem Hintergrund wurden nicht vornehmlich Theater- und Bühnentexte, sondern narrative Texte, und hier vor allem ihre Akte des Hervorbringens, ihre kritische Sprachreflexion, ihre Rahmungen, Zitate und Paratexte untersucht (Studien zum Roman und zu Erzählungen des 19. Jahrhunderts, theoretische Schriften der Frühromantik).26 Die wichtigsten Fragestellungen dieser sprechakttheoretisch inspirierten Performativitätsforschung zielen auf die Spannung zwischen propositionalem Gehalt und performativer Kraft, auf das Verhältnis von Sprache und Sprachreflexion, die Zitathaftigkeit von Texten, auf ihre performativen Überschreitungen und Hybridisierungen (wie etwa die Kritik des Textes an seinen eigenen Deskriptionen) sowie auf Präsentation und Inszenierung der Prä- und Kontexte (anstelle ihrer Bestimmung). Hier wurden durch die Begriffe ‚Indexikalität‘ und ‚Indexikalisierung‘ wertvolle neue Instrumente der Literaturanalyse gewonnen, um performative Strategien zu bestimmen, mit denen der Text (bzw. seine sprachlichen Äußerungen) auf seine kontextuellen Bedingungen rekurriert und sie ins ‚Textspiel‘ integriert.27 So erscheinen Reflexionen auf 24
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Die Unterscheidung Kompetenz-Performanz nach Chomsky hat in den Literaturund Kulturwissenschaften nur ein schwaches Echo ausgelöst, vermutlich auf Grund ihrer geringen Kompetenz zur Beleuchtung verschiedener kultur- und sozialwissenschaftlicher Diskurse. Vgl. dazu Culler, Jonathan, „Philosophy and Literature. The Fortunes of the Performative“, in: Poetics Today 21/2000, 3, S. 503–519: „Literary works seem to bring into being ideas, concepts, which they deploy“, S. 507. Vgl. etwa Jaeger, Stephan / Willer, Stefan (Hrsg.), Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg 2000; Huang, Shih Yen, Literatur und Performanz im deutschen Roman um 1800, Frankfurt a. M u.a. 2007, zugl. Diss. Tübingen. Vgl. zur Bedeutung des sprachphilosophischen Indexikalitätsbegriffes im Feld des Performativen Hempfer, Klaus / Traninger, Anita: „Einführung“, in: dies.: (Hrsg.): Dynamiken des Wissens, Freiburg i.Br. 2007, S. 7–21; Häsner, Bernd: Indexikalität und Indexikalisierung. Überlegungen zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines sprachwissenschaftlichen Konzepts“, in: I. Rajewsky / U. Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, S. 67–84.
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das Schreiben und den Text, Zitate und Paratexte als Rahmungs- bzw. Störfaktoren, durch die die Bedeutung der Sprechakte wie in einer Endlosschleife verhandelt und zugleich verschoben wird. Auch hier geht es wiederum um die Unbestimmtheit von Bedeutung und um die Herausarbeitung von sprachlichen Schichten im Text, die das Zeichen ausschließen, damit der Text sich selbst setzen kann.28 Dies ist an Herausgeberfiktionen in Texten der Romantik, am Bildungsroman und Kafkas Schriften untersucht worden.29 Eine dritte, recht junge Achse der Performativitätsforschung bezieht sich auf die literaturwissenschaftliche Rezeption der Theorien Judith Butlers. Hier wird versucht, die diskursive und iterative Konstruktion von Geschlecht auf literarische Figuren und Biographien zu übertragen;30 dabei kommt den Phänomenen der durch performative Akte hergestellten (Geschlechts-)Identität und der Subjektivierung zwischen sozialen Normen und Verfügungsgewalt des Subjekts auch für literarische Codierungen eine Schlüsselrolle zu.
3. Institutionsgeschichtliches Ähnlich heterogen wie das Forschungsfeld des Performativen ist seine Entstehung. Die drei Wurzeln der wissenschaftlichen Begriffsbildung (ethnologische Ritualtheorie, Sprechakttheorie Austins, Linguistik Chomskys) haben sich ungefähr zur gleichen Zeit in den 1950er- und -60er-Jahren des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Zuvor waren ‚performances‘ in der Ethnologie im Sinne von kulturellen oder rituellen Aufführungen textloser Gesellschaften bekannt: Initiations-, Hochzeitsund Begräbnisrituale, Feste, Wettkämpfe, Umzüge usw. Diese Phäno-
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Vgl. dazu Wirth, Uwe, „Performative Rahmung, parergonale Indexikalität. Verknüpfendes Schreiben zwischen Herausgeberschaft und Hypertextualität“, in: hrsg. v. dems., Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 403–433. Neuerdings wird auch in der Mediävistik versucht, Vollzugs-, Iterations-, und Rahmungsaspekte als konstitutiv für die Performativität von Handschriften und Texten zu setzen. Vgl. dazu Herberichs, Cornelia / Kiening, Christian, Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte, Zürich 2008. Vgl. Wirth, „Performative Rahmung“ Sasse, Sylvia: „Performativität. Neuere deutsche Literatur“, in: Benthien / Velten, Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 243–265. Butler führt dies an einem eigenen Beispiel vor: Butler, Judith, Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death, New York 2000.
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mene bezeichnete Milton Singer 1959 als ‚cultural performances‘,31 ein Begriff, der die bisherige, neuzeitliche Trennung zwischen einer ästhetischen und einer anthropologischen Konzeption von ‚Aufführung‘ obsolet machte. Mit ihm verbindet sich die Vorstellung, dass eine Kultur sich in ihren öffentlichen Ritualen und theatralen Praktiken selbst ‚aufführt‘. Diese Ansätze wurden dann in den gemeinsamen Arbeiten des Ritualwissenschaftlers Victor Turner und des Theaterwissenschaftlers Richard Schechner weitergeführt. Turner hatte bereits 1957 in seinem Buch Schism and Continuity das Konzept des ‚social drama‘ als methodisches Instrument für Ethnologen geprägt. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Organisation, Dynamik und dramatischen Ablauf einer Performance. Deren Status charakterisierte er als transitär, als eine liminale (Schwellen- oder Übergangs-)Form zwischen zwei stärker gefestigten Feldern kultureller Aktivität. Dieses Dazwischen (‚in-between-ness‘) der Performance, mit dem nicht nur ihr liminaler Zustand, sondern auch ihre Kontingenz und Flüchtigkeit beschrieben werden kann, wurde von Turner im Laufe der 1960er-Jahre ausgearbeitet und in seiner Studie The Ritual Process (1969) abschließend dargestellt. Es avancierte später zu einem der wichtigsten Begriffe der performativen Ritual-Analyse. In den 1970er-Jahren führte Turner gemeinsam mit Schechner verschiedene Projekte zum Verhältnis von sozialem und ästhetischem Drama durch. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich der Begriff ‚performance‘ zu einem Oberbegriff für Rituale und Spiele, Vorträge und Theateraufführungen, Wettkämpfe und Tänze in Gegenwart und Vergangenheit. Schechners Verdienst ist es wiederum, die Theorie Turners auf das Theater angewandt zu haben; er arbeitete Analogien und Differenzen bei der Übertragung von Turners Vier-Phasen-Modell auf ästhetischtheatrale Formen heraus.32 Daraus entwickelte sich in den Vereinigten Staaten ab Ende der 1970er-Jahre das fächerübergreifende Feld der ‚Performance Studies‘, das sich Inszenierungen, Ritualen, Ereignissen, Akten und Rollenspielen jeder Art, die von einer spezifischen Aufführungsdimension geprägt sind, 31 32
Singer, Milton, Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959. Die beiden wichtigsten Veröffentlichungen Schechners sind: Schechner, Richard, Between Theater and Anthropology, Philadelphia 1985; ders., Performance Theory, London 1988. Mit den Ergebnissen dieser Studien setzte sich dann wiederum Turner ausführlich und kritisch in seinem 1982 erschienenen Buch From Ritual to Theatre auseinander; vgl. auch ders., The Anthropology of Performance, New York 1987.
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widmet.33 Ihre Vertreter gehen davon aus, dass die herrschende Einteilung der Künste und wissenschaftlichen Disziplinen nach ihrem Leitmedium willkürlich ist: „Most of the world’s artistic expression has always synthesized or otherwise integrated movement, sound, speech, narrative and objects.“34 Dies hatte nicht nur die Einsicht zur Folge, dass man mit dem Begriff ‚Performance‘ als wissenschaftlichem Konzept über die Disziplinengrenzen hinaus arbeiten konnte, sondern auch, dass sich das Interesse von einer textzentrierten zu einer handlungszentrierten Betrachtung verschob.35 Nicht mehr der (literarische) Text einer Aufführung sollte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, sondern die Prozessualität der Aufführung selbst. Hier war eine Wende der Forschungsperspektive eingeleitet, die man später auch als ‚performative turn‘ bezeichnet hat und die für die Kulturwissenschaften folgenreich war. Denn damit verband sich die Einsicht, dass Kultur insgesamt (eingeschlossen die europäisch-westliche Kultur) nicht nur in Texten und Monumenten, sondern auch in den fluideren Performances hervorgebracht wird.36 ‚Performative Studies‘ und ‚performative turn‘ wären jedoch ohne die beiden anderen Wurzeln der Performativitätsforschung nicht denkbar. Während Noam Chomsky im Rückgriff auf de Saussure die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ‚Sprache‘ als Struktur und ‚Sprechen‘ als Aktualisierung von Sprache im Gebrauch entwickelte,37 die bis heute in Linguistik und Gesprächsanalyse verwendet wird, hatte der britische Sprachphilosoph John L. Austin in seinen Vorlesungen How to do things with words 1959 eine Umorientierung von der Sprache als Repräsentation auf den Sprechakt als Handeln vorgeschlagen38 (Näheres s. u.). Austins Bemühungen wurden später von John Searle in eine generelle Theorie 33
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Das erste Institut für ‚Performance Studies‘ wurde an der New York University gegründet; heute existieren zahlreiche Institute, von denen die wichtigsten an der NYU, der Northwestern University, Brown und Berkeley angesiedelt sind. In Deutschland gibt es einen M.A. – Studiengang ‚Performance Studies‘ an der Univ. Hamburg. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara, „Performance Studies“, in: Henry Bial (Hrsg.), The Performance Studies Reader, 2. Aufl., New York 2006, S. 33–55, hier S. 32. Dies betont Marvin Carlsson: „The emphasis of such an approach shifts from the text to its function as a performative and communcative act in a particular cultural situation“. Performance. A Critical Introduction, 2. Aufl., New York 2004, S. 16. Vgl. Fischer-Lichte, Erika, „Auf dem Weg zu einer performativen Kultur“, in: hrsg. v. ders., Kulturen des Performativen (=Paragrana 7/1998 1), S. 13–32, hier S. 23. Vgl. Chomsky, Noam, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge 1965. Vgl. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 1998, S. 153 ff.
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der Sprechakte überführt.39 Sie wurden jedoch noch von einer anderen Seite her aufgegriffen, nämlich von Jacques Derrida, der sie in seine postmoderne Theorie der Dekonstruktion eingliederte. Derrida wies in Abgrenzung von Austin in seinem Aufsatz Signatur – Ereignis – Kontext darauf hin, dass der Kontext einer Äußerung prinzipiell unendlich und daher von der Intention des Sprechers nicht beherrschbar sei. Von dort entwickelt Derrida auch sein Konzept der aufgeschobenen Bedeutung (‚différance‘), mit welchem er die grundsätzliche Instabilität semantischer Bezüge aufdeckte und damit deutlich machte, dass nicht nur der Gebrauch der Sprache, sondern auch der von Texten in hohem Maß performativ ist40 (Näheres s. u.). Auch wenn das sprachphilosophische und das theaterwissenschaftliche Verständnis des Performativen dem Anschein nach nicht sehr viel gemeinsam haben – stehen beim ersten die funktionalen Gelingensbedingungen von Sprechakten im Mittelpunkt, so sind es beim zweiten die Aspekte der Aufführung, der Verkörperung und der Wahrnehmung in kulturellen Performances –, ist bei Austins Performativa (Taufe, Gratulation, Hochzeit) gerade das Zusammenfallen von Vollzug und Aufführung konstitutiv. Auch das Verständnis von Performance ist in beiden Theoriebereichen ähnlich von einem doppelten Handlungscharakter bestimmt: dem des inszenierenden Aufführens und dem des mitwirkenden Zuschauens und Zuhörens. Dabei wird die Möglichkeit der semantischen En- und Decodierung eines hinter dem Aufgeführten liegenden Sinnes in Zweifel gezogen, da die Präsenz des Körperlichen durch das referentielle Zeichen nicht hinreichend organisiert werden kann. So gesehen sind die Aufführungen einer Kultur nicht vorrangig als (symbolische) Repräsentationsakte von etwas deutbar, sondern müssen in ihrer Dynamik, Prozesshaftigkeit und Wahrnehmung untersucht werden. Entscheidende Fragestellungen betreffen daher ihren spezifischen Handlungscharakter, ihre Theatralität und Inszenierung, ihre Kontingenz und Emergenz sowie ihre affektiven und transformativen Wirkungen. Die Auffassung von Kultur als Aufführung wurde nicht zuletzt durch die Veränderungen in der (post)modernen Kunst seit den 1960er-Jahren beeinflusst. Das Entstehen einer Performance-Kunst als intermedialer 39
40
Vgl. Searle, John R., „How performatives work“, in: Linguistics and Philosophy 12/1989, S. 535–558. Vgl. Derrida, Jacques, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Limited Inc. Wien 2001, S. 15–45. In erster Fassung erschienen in: Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972; dt. Randgänge der Philosophie, Berlin 1976.
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und theatraler Kunstgattung war mit dem Anspruch verbunden, die geltenden Grenzen der bildenden Kunst zu reflektieren und zu überschreiten. In der ‚body art‘ wurde der eigene Körper zum Material: „Gegen ein Verständnis der Kunst als Repräsentation setzt sie auf die Realerfahrung von Körper, Raum und Zeit. Die in der Performance-Kunst eingesetzten Materialien dienen nicht als Zeichen, mit denen Bedeutungen vermittelt werden sollen, sondern finden in ihrem phänomenalen So-Sein Verwendung“.41 Der jüngste Zweig der Performativitätsforschung schließt in vielfacher Weise an Austin und Derrida an, bezieht aber auch starke Impulse aus der Diskursanalyse Michel Foucaults. Die Rede ist von Judith Butlers in der Gender-Forschung stark rezipiertem Verständnis von Performativität42 (Näheres s. u.). Neben dem Gender-Aspekt erarbeitete Butler auch eine Politik des Performativen: Ihre Analyse von „Hass-Sprache“ (‚excitable speech‘) zielt auf ein Verständnis der Verschränkung von Subjekt und Macht, von Physischem und Diskursivem in der Materialität des Körpers ab.43 Butlers Theorien sind auch in der Literaturwissenschaft (Gender und Queer Studies) stark rezipiert worden. In Deutschland ist die Etablierung der Performativitätsforschung vor allem mit der Gründung des Berliner DFG-Sonderforschungsbereiches ‚Kulturen des Performativen‘ und mit dem Namen seiner Sprecherin Erika Fischer-Lichte verbunden. In der Projektstruktur des SFB verbinden sich die skizzierten theaterwissenschaftlichen, linguistischen und sprachphilosophischen Tendenzen mit der Aufgabe, Theorien und Methoden des Performativen weiterzuführen44 sowie die Ansätze in den beteiligten Fächern, vor allem den Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaften, aber auch in Soziologie und Erziehungswissenschaft, fruchtbar zu machen. An zweiter Stelle ist das DFG-Schwerpunktprogramm ‚Theatralität‘ zu nennen, dessen Mitglieder weitgehend mit denen des 41
42
43 44
Fischer-Lichte, Erika / Roselt, Jens, „Attraktion des Augenblicks. Aufführung, Performance, performativ / Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: Fischer-Lichte / Wulf, Theorien des Performativen, S. 237–254. Vgl. Butler, Judith, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2007 [engl. Orig.: Bodies that matter: on the discursive limits of ‚sex‘, New York 1993]. Butler entwickelt hier ihre Theorie von der performativen Herstellung von Geschlecht entscheidend weiter. Vgl. Butler, Judith, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. Vgl. dazu die Bde. Kulturen des Performativen (=Paragrana 7, 1998) und Theorien des Performativen (=Paragrana 10, 2001); Krämer, Sibylle: Sprache, Sprechakt, Kommmunikation, Frankfurt a. M. 2001.
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SFB identisch sind. Wichtige Publikationsorgane sind die in Berlin erscheinende Zeitschrift Paragrana und die von Gabriele Brandstetter im Rombach-Verlag herausgegebene Reihe scenae. Weitere Verlage, die mit den am SFB beteiligten Projekten nachhaltig zusammenarbeiten, sind der Francke Verlag (Bern), der Verlag De Gruyter (Berlin), der Suhrkamp Verlag (Frankfurt), die Verlage Böhlau (Köln) und Fink (Paderborn). In der Literaturwissenschaft sind es vor allem die mediävistische und die Frühneuzeitforschung im SFB, die das Paradigma des Performativen in den jeweiligen Philologien am stärksten weiterentwickelt haben. Außer von den Publikationen des Berliner SFB ist die Performativitätsforschung von wichtigen Sammelbänden und Einzelstudien geprägt worden: Dazu gehören etwa der 2002 erschienene, von Uwe Wirth herausgegebene Band Performanz (s. u.) oder die Schriften des Potsdamer Medienwissenschaftlers Dieter Mersch.45 Ausgesprochene Gegner der Performativitätsforschung sind bislang nicht auf den Plan getreten, ihre Akzeptanzprobleme teilt sie allerdings mit allen jüngeren, eklektisch-offenen Theoriekonzepten kulturwissenschaftlicher Prägung.46 In der Germanistik ist der Performativitätsforschung in den letzten zehn Jahren eine wachsende Aufmerksamkeit zuteil geworden, vor allem von Seiten derjenigen Fachvertreter, die bislang mit semiotischen, rezeptionsästhetischen und postmodernen Modellen gearbeitet hatten. In vielen Fällen ist auch eine komplementäre Aufnahme des Performativen zu beobachten, dergestalt, dass etwa auf dem Feld der historischen Anthropologie (Lach- und Komikforschung, Emotionalität, Ethik, Bildung), in der Gendertheorie und -geschichte sowie in neueren kognitionswissenschaftlichen Ansätzen (gemeinsamer Fokus der Wahrnehmung)47 mit performativen Konzepten gearbeitet wird bzw. diese in die Diskussionen einfließen. Was den Methodenwettbewerb angeht, stehen die performativen Theorien vor allem im Gegensatz zu denjenigen Ansätzen, welche die 45
46
47
Mersch, Dieter, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002; ders., Was sich zeigt: Materialität – Präsenz – Ereignis, München 2002; hrsg v. dems. mit Jens Kertscher, Performativität und Praxis, München 2003. Vgl. etwa die Haug-Graevenitz-Debatte in der Germanistik um die kulturwissenschaftliche Neuorientierung. Vgl. Benthien / Velten, Germanistik als Kulturwissenschaft, Einl. S. 22–24. Jagow, Bettina von, „Verstehen und Wahrnehmen als Widerspiel von Semiotischem und Performativem: zum ‚cognitive turn‘ in den Literaturwissenschaften am Beispiel von Heinrich von Kleists ‚Der Zweikampf‘ (1811)“, in: Orbis Litterarium, 60/2005, 4, S. 239–259.
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Literatur als Ausdruck historischer geistes- und sozialwissenschaftlicher Konzeptualisierungen begreifen (objektive Strukturen), aber auch zu Methoden, die stark auf die Abbildungs- und Symbolisierungsfunktionen von Texten (subjektive Intentionen) sowie auf die Übermittlung semantischer Bedeutungsgehalte fixiert sind. Dazu gehören klassisch hermeneutische und textanalytische Verfahren, Formalismus und Strukturalismus, aber auch Intertextualitätsforschung und Literatursemiotik. Diese letzte dient jedoch nicht nur als Folie der Abgrenzung, sondern erscheint häufig als wichtige Komplementärmethode des Performativen (semiotisch-performatives Wechselverhältnis). Andererseits richtet die Performativitätsforschung ihr Augenmerk auf Gegenstände und Prozesse, die sich der Untersuchung mit herkömmlichen textanalytischen Zugängen (‚Lesbarkeit‘) widersetzen: Neben auf Aufführung ausgerichteten Texten (Drama, Spiel, ‚poetry slam‘, intermediale Formen) sind dies in erster Linie Phänomene wie Hypertextualität, Paratextualität, anthropologische Rahmungsfaktoren wie Lachen oder Weinen bzw. Empathie oder die Inszenierung und Wahrnehmung von Körperlichkeit/Verkörperung im Text. Es ist die spezifische Selbstreferentialität dieser Phänomene, die mit der Performativitätsforschung effektiver als mit anderen Methoden erarbeitet werden kann.
4. Publikationen Im Folgenden werden die wichtigsten Publikationen zur Performativitätsforschung vorgestellt. Wenn hier genuin literaturwissenschaftliche Ansätze in der Minderheit sind, ist dies auf die wissenschaftsgeschichtliche Herkunft der Theorien des Performativen aus anderen Disziplinen zurückzuführen. In der Germanistik werden diese Theorien zum Teil auch ohne literaturtheoretische Vermittlung angewandt, wenn auch nicht immer mit der angemessenen Distanz und Sorgfältigkeit. Austin, John L.: How to do things with words (1962; dt. 1972 u.d.T. Zur Theorie der Sprechakte): Die 1955 abgehaltenen Vorlesungen Austins sind das Gründungsdokument der sprachphilosophisch orientierten Performativitätsstudien. Austin hatte zunächst zwischen ‚konstativen‘ und ‚performativen‘ Äußerungen unterschieden, also zwischen Äußerungen zur Beschreibung der Welt, die als wahr und falsch klassifiziert werden können, und solchen, die – wenn sie glücken – die konstitutive Handlungen vollziehen („Saying makes it so“). In der achten Vorlesung hob Aus-
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tin diese Unterscheidung zugunsten der Begriffstrias von ‚lokutionären‘, ‚illokutionären‘ und ‚perlokutionären‘ Sprechakten auf. Diese Abschwächung der Performativa und ihr Aufgehen im illokutionären Sprechakt wurde von John Searle (Speech Acts, 1969) noch verschärft, indem er die Perlokution weitgehend marginalisierte. Hatte damit die Sprechakttheorie das Konzept des Performativen erledigt, kam ihm nun größte Resonanz in den Kulturwissenschaften zu. Austins Theorie wurde vor allem von der postmodernen Sprachphilosophie bzw. Dekonstruktion (Derrida, Culler), der Literaturkritik (De Man, Iser) sowie von der Genderforschung (Butler) und der Linguistik aufgenommen, diskutiert und weiterentwickelt. In Deutschland ist sie v. a. von Sibylle Krämer, Ekkehard König und Dieter Mersch rezipiert und analysiert worden.48 Derrida, Jacques: „Signatur Ereignis Kontext“ (1972), in: ders., Limited Inc, 2001; in erster Fassung erschienen in: Marges de la philosophie, 1972; dt. 1976 u. d. T. Randgänge der Philosophie: Diese wichtigste Arbeit Derridas zur Anwendung sprechakttheoretischer Prämissen auf literarische Texte ist eine frühe dekonstruktivistische Kritik an Austin. Derrida zweifelt dessen Unterscheidung zwischen ‚ernsthaften‘ und ‚unernsten‘ Sprechakten an, die bei Austin zu einer Ausgrenzung der Fiktion aus dem Bereich der Performativa geführt hatte. Stattdessen führt Derrida das Regelhafte am Sprachgebrauch auf die ‚Iterabilität‘ sprachlicher Zeichen zurück. Danach ziele Performativität darauf ab, „dass die Wiederholung von Zeichenausdrücken in zeit- und raumversetzten Kontexten (…) zugleich eine Veränderung der Zeichenbedeutung bewirkt“. (S. 16) Hierin liegt der Ausgangspunkt für die spätere Annäherung von Iteration und Transformation. Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory (1988): Mit ihrem Aufsatz führt Butler den Performanzbegriff in die Kulturwissenschaften ein, indem sie ihn auf die Geschlechterdifferenz und hier insbesondere auf körperliche Handlungen anwendet. Geschlechtsidentität wird als „an identity instituted through a stylized repetition of acts“ begriffen. Diese Akte nennt Butler „performative“, „where performative carries the double-meaning of ‚dramatic‘ and ‚non-referential‘“.
48
Vgl. Krämer, Sibylle / König, Ekkehard, Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt a. M. 2002.
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Bei Butler ist das Performative ein Modell, soziale und geschlechtsspezifische Prozesse neu zu denken und zu beschreiben. Dabei werden neue Untersuchungsbereiche von Performativität erschlossen: die Frage nach der Identität und wie sie hergestellt wird; die Frage nach dem Funktionieren sozialer Normen; diejenige nach Handlungsfähigkeit/ Selbstbestimmtheit (‚agency‘) sowie die Frage der Relation zwischen Individuum und sozialem Wandel. Die Gelingensbedingungen von Sprechakten (Glücken vs. Scheitern) spielen für Butler keine Rolle mehr. Wichtig bei ihrem Konzept ist nicht der einzelne Akt, sondern die massive, tägliche Wiederholung konventioneller Prozeduren. Turner, Victor: The Ritual Process, 1969; dt. 1989 u. d. T. Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur; ders., From Ritual to Theatre, 1982; dt. 1989 u.d.T. Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels: Turner gibt hier sein idealtypisches Modell der Verlaufsstruktur von Ritualen wieder, das weit über traditionelle Ritualstudien hinausgeht und mit der Denkfigur des Liminalen, des Schwellenzustands, einen überaus fruchtbaren Ansatzpunkt für die kulturwissenschaftliche Rezeption geschaffen hat. Zwei Aspekte sind hier zu unterstreichen: Performativ ist zum einen die Liminalität von Ritualen, die dadurch transformativ wirken können und sich so vom repräsentativen Charakter von Zeremonien unterscheiden. Zum anderen die Gemeinschaft stiftende Funktion von Ritualen, nicht durch ihre Symbolik, sondern durch ihren Vollzug. Einen starken Widerhall erfuhr die Ritualtheorie Turners in den Geschichtswissenschaften in Deutschland, aber auch in anthropologischen und kultursoziologischen Ansätzen in der Literaturwissenschaft. Turner selbst benutzte zuerst den Begriff des ‚Performativen‘ nicht; er wurde von Stanley Tambiah in Anlehnung an Turner 1979 in die Ritualtheorie eingeführt, um das Wirkungspotential von Ritualen besser zu erläutern. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen (2004): Die Studie fasst die Forschungen Fischer-Lichtes zwischen 1997 und 2003 zu einer theaterwissenschaftlichen Theorie der performativen Ästhetik zusammen. Fischer-Lichte entwickelt die performative Aufführungsanalyse konsequent aus der semiotischen Analyse weiter, nimmt aber eine Gegenposition zum semiotischen Verständnis von (textbasierter) Bedeutungsübermittlung im Theater ein. Dabei geht sie von der Performance-Kunst und dem postdramatischen Theater aus, deren Aufführungen sie als ‚Ereignisse‘ bezeichnet. Hier steht nicht die Übermittlung von Textbedeutung in der Inszenierung im Mittelpunkt, sondern die performative Hervor-
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bringung bzw. Emergenz von Materialität (Körperlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit, Laute und Stimmen), ein Prozess, in welchem allererst Bedeutung erzeugt wird. Prägnante Beispiele sind die ‚performances‘ von Marina Abramovic, die die Selbstverletzung des Leibes betonen, oder auch die Entgrenzung von menschlichen und tierischen Körpern im postmodernen Theater. Das Performative bezeichnet aber nicht das schlechthin Bedeutungslose, sondern die sinnlich wahrgenommene Phänomenalität, die Erfahrung der Präsenz der Akteure und der Aufführungssituation. Fischer-Lichtes Theorie bedeutet eine grundsätzliche Umakzentuierung theaterwissenschaftlicher Forschung und hat jetzt schon beträchtliche Resonanz erfahren. Zumthor, Paul: La poésie et la voix dans la civilisation médiévale, 1984; dt. 1994 u.d.T. Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft: Auch wenn auf Deutsch nur diese Monographie Zumthors zur Performanz im Mittelalter vorliegt, widmen sich zahlreiche andere seiner Bücher und Aufsätze diesem Thema. Als erster Literaturwissenschaftler wandte er aufbauend auf Oralitätsforschung und Anthropologie den Begriff der ‚Performance‘ auf mittelalterliche Dichtung an. Drei wichtige Begriffe hat Zumthor in seinen Studien geprägt: ‚théatralité‘, ‚vocalité‘ und ‚mouvance‘. Sie kennzeichnen ‚aufgeführte Literatur‘ erstens als raumzeitliches Ereignis, bestehend aus multisensorischen, affektiven, intellektuellen Elementen (‚Theatralität‘), zweitens durch die simultane physische Präsenz, die sich um menschliche Körper und ihre Stimmen artikuliert (‚Vokalität‘), und drittens durch Situationalität und Okkasionalität, die sich dann als Beweglichkeit und Veränderlichkeit der Handschriften (‚mouvance‘) ausdrücken. Zumthors Arbeiten haben nicht nur den Performanzbegriff in die Mediävistik eingeführt, sondern auch die Forschungen zur Manuskriptkultur (New Philology) maßgeblich beeinflusst. De Man, Paul: Allegories of Reading, 1979; dt. 1988 u. d. T. Allegorien des Lesens : Im Rückgriff auf Austin und Chomsky untersucht de Man in seinen Arbeiten die Spannung zwischen den performativen und den konstativen Dimensionen von literarischen Texten. Er unterscheidet zwischen dem logischen Anspruch eines Textes – Informations- oder Wissensvermittlung – und dem performativen Anspruch, d. h. seinen rhetorischen Operationen, um zu überzeugen. Beide Ansprüche widersprechen sich bzw. unterlaufen einander, da es durch die rhetorische Inszenierung der Repräsentation zu einer ständigen Verschiebung des Repräsentierten
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kommt. Dieser in enger Beziehung zu Derridas Dekonstruktion entstandene Ansatz bestimmt Performativität als Fähigkeit literarischer Texte, den eigenen epistemologischen Status in ihrer Figuralität zu überschreiten und den sich daraus ergebenden Konflikt auszustellen. Daraus ergeben sich Zweifel an der Möglichkeit ‚sinnvoller‘ Lektüren. Indem ein Text vorführt, dass er keiner eindeutigen Lektüre unterzogen werden kann, wird er selbst eine „Allegorie des Lesens“. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, 1976: In diesem Buch führte Iser den Performanzbegriff ein, um mit seiner Hilfe den entscheidenden Perspektivwechsel des rezeptionstheoretischen Ansatzes zu begründen, d. h. von der Frage nach der Bedeutung des (fiktionalen) Textes zu derjenigen nach seiner Wirkung zu kommen. Das erzeugende Prinzip des Performativen wird bei Iser jedoch niemals zur Textfunktion, sondern charakterisiert die individuelle Lesesituation, in welcher Verstehen immer wieder neu hervorzubringen sei. Als Textfunktionen stehen dagegen das Fiktive und das Imaginäre im Vordergrund, deren Zusammenwirken das Textspiel konstituiert.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Der Begriff des ‚Performativen‘ findet heute in nahezu allen Kultur- und Sozialwissenschaften Verwendung. Seine Innovationskraft für die Literaturwissenschaften liegt darin, dass sich mit ihm Funktionen der Literatur beschreiben lassen, die weder auf objektive Strukturen noch auf subjektive Intentionen rückbeziehbar sind, sondern ihren Ort in der Aktualisierung und Konstituierung von Wahrnehmungsangeboten haben. Performativität bietet sich somit als Methodenbegriff für all diejenigen Phänomene und Prozesse an, die sich in den Kulturwissenschaften der Untersuchung mit herkömmlichen textanalytischen Methoden widersetzen. Dabei spielt der Gebrauch theaterwissenschaftlicher Terminologie (‚Inszenierung‘, ‚Körperlichkeit‘, ‚Wahrnehmung‘ und ‚Aufführung‘/ ‚Performance‘) eine wichtige Rolle, denn mit ihr werden komplexe Probleme der rituellen und theatralen Kontextualisierung, des spezifischen ‚Als-ob‘ im Text, der Imagination und Transformation bei der Übertragung und Synchronisierung von Sinn differenzierter beschreibbar. Der besondere Erkenntniswert der Performativität für die Literaturgeschichte liegt in der Möglichkeit der Analyse der Interaktionen zwischen Ritual bzw. Performance und Text, zwischen verschiedenen Me-
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dien der Repräsentation, den Austauschprozessen und Schnittstellen zwischen ‚Kunstwelten‘ und ‚Wirklichkeitswelten‘. Wie Aufführungen können auch Texte als liminale Felder begriffen werden, die sich im Zustand der permanenten Dynamisierung, des prozessualen Wandels befinden, und die sich als (historisch beschreibbare) Frei- oder Spielräume fassen lassen, an denen Interaktion und Austausch von semiotischen Beziehungen und Bedeutungen oder Selbstreferentialität und Selbstüberschreitungen der Schrift erkennbar sind. Die größte Gefahr für die Performativitätsforschung geht vom Verlust der spezifischen Bedeutung ihrer Begriffe aus, indem sie durch undifferenzierte und oberflächliche Anwendung verwässert werden. Somit wird ‚Performativität‘ auch künftig noch zwischen einem umbrella term, dessen Attraktivität gerade im Fehlen einer widerspruchsfreien Stringenz liegt, und einer bloßen Worthülse oszillieren. Für die Literaturwissenschaft ist es noch zu früh, um Urteile zur fachgeschichtlichen Bedeutung der Performativitätsforschung zu fällen. Als fruchtbarste Gegenstandsund Problembereiche haben sich bisher die Übergangszeit von Mittelalter und Früher Neuzeit sowie Gegenwartsphänomene ergeben; es fehlt noch eine fächerübergreifende methodische Ausarbeitung, die auch die Literatur des 18., des 19. und 20. Jahrhunderts einschließt.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Müller, Jan-Dirk (Hrsg.), ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994, Stuttgart 1996. Enthält zahlreiche Beiträge zum Aufführungsproblem in vormodernen Texten, z. B.: Walter Haug, „Die Verwandlungen des Körpers zwischen Aufführung und Schrift“; Peter Strohschneider, „‚nu sehent, wie der singet!‘ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang“; Gerhard Wolf, „Inszenierte Wirklichkeit und literarisierte Aufführung. Bedingungen und Funktion der ‚performance‘ in Spiel- und Chroniktexten des Spätmittelalters“; grundlegende Einleitung von Jan-Dirk Müller. Fischer-Lichte, Erika / Christoph Wulf (Hrsg.), Theorien des Performativen (=Paragrana 10/2001, 1). Darin wichtige Beiträge von: Ulrike Bohle u. Ekkehard König (Zum Begriff des ‚Performativen‘ in der Sprachwissenschaft); Sybille Krämer u. Marco Stahlhut (Das Performative als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie); Hans-Jürgen Bachorski, Werner Röcke, Hans Rudolf Vel-
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ten u. Frank Wittchow (Performativität und Lachkultur in Mittelalter und Früher Neuzeit); Horst Wenzel u. Christina Lechtermann: Repräsentation und Kinästhetik; Jutta Eming, Ingrid Kasten, Elke Koch u. Andrea Sieber: Emotionalität und Performativität in der Literatur des Mittelalters; Irmgard Maassen (Text und/als/in der Performance in der frühen Neuzeit). Grundlagentexte des SFB 447 ‚Kulturen des Performativen‘. Velten, Hans Rudolf, Performativität. Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek 2002. Überblick über Entstehung und Theorie des Konzepts der Performativität und seine Anwendung in der mediävistischen Literaturwissenschaft. Wirth, Uwe (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002. Darin wichtige Beiträge von John L. Austin, „Zur Theorie der Sprechakte“; Erving Goffman, „Moduln und Modulationen“; Victor Turner, „Dramatisches Ritual, rituelles Theater. Performative und reflexive Ethnologie“; Stanley J. Tambiah, „Eine performative Theorie des Rituals“; Wolfgang Iser, „Mimesis und Performanz“; Erika Fischer-Lichte, „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“; Judith Butler, „Performative Akte und Geschlechterkonstitution“; Eckhard Schumacher, „Performativität und Performance“; Uwe Wirth, „Performative Rahmung, parergonale Indexikalität“. Carlson, Marvin, Performance. A Critical Introduction, 2nd Ed., New York 2004. Führt in die Performance Studies ein und bietet begriffliches und institutionsgeschichtliches Hintergrundwissen. Bial, Henry (Hrsg.), The Performance Studies Reader, 2nd Ed., London, New York 2007. Interdisziplinärer Band mit zahlreichen wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Beiträgen u. a. von Richard Schechner (Performance Studies: the broad spectrum approach); Erving Goffman (Performances: belief in the part one is playing); Clifford Geertz (Blurred Genres: the refiguration of social thought); Marvin Carlson (What is performance?); Victor Turner (Liminality and communitas). Thematische Schwerpunkte
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sind Ritual, Spiel, Performativität (sprechakttheoretisch u. linguistisch), Schauspieltechnik, performative Prozesse, globale und interkulturelle Performances. Loxey, James, Performativity, London, New York 2007. Stellt den jüngsten Überblick über sprachphilosophisch orientierte Performativitätstheorien dar, mit Schwerpunkt auf Austin und Searle, Derrida und De Man sowie Butler.
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Positivismus / Biographismus
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Positivismus / Biographismus von H ANS -M ARTIN K RUCKIS
1. Definition Unter ‚Positivismus‘ versteht man seit dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Auguste Comte (1798–1857) die Auffassung, dass als Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnis nur empirisch und methodengeleitet (bei Comte auf dem Weg von Beobachtung, Vergleich und Experiment) erhobene Fakten maßgeblich sein können. Darauf baut die Aufstellung von Theorien und Gesetzen auf, um vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlich geprägten Exaktheitsideals auch in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften Kausalbeziehungen zwischen Fakten herstellen und beweisen zu können. Der Positivismus setzt sich sowohl von spekulativen Richtungen der Philosophie (im 19. Jahrhundert vor allem Hegels Geschichtsphilosophie) als auch von der Theologie ab. Im literaturwissenschaftlichen Kontext bezeichnet ‚Positivismus‘ die Periode etwa zwischen 1860 und dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und wird als polemische Abgrenzung der Vertreter der nachfolgenden geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft besonders auf die damals dominierende ‚Schule‘ Wilhelm Scherers (1841–1886) bezogen.1 Eng verbunden mit dem ‚Positivismus‘ als negativ belegtem Kampfbegriff2 ist der eben1
2
Zur grundlegenden Kritik an der Verwendung des Begriffs ‚Schule‘ in den Geisteswissenschaften vgl. Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, „Nationalphilologie und ‚Vergleichende Literaturgeschichte‘ zwischen 1890 und 1910. Eine Fallstudie zur Konzeption der Wissenschaftshistoriographie der Germanistik“, in: Danneberg, Lutz / Höppner, Wolfgang / Klausnitzer, Ralf (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin, Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 335–361. „Positivisten sind immer die andern. Als Selbstbezeichnung bei Literaturwissenschaftlern und Philologen findet man den Begriff nur äußerst selten“ (Dainat, Holger, „Zwischen Nationalphilologie und Geistesgeschichte. Der Beitrag der Komparatistik zur Modernisierung der deutschen Literaturwissenschaft“, in: Birus, Hendrik (Hrsg.), Germanistik und Komparatistik, Stuttgart, Weimar 1995, S. 37–53, hier S. 50).
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falls häufig im Sinne eines Vorwurfs benutzte Terminus ‚Biographismus‘. Damit ist gemeint, biographischen Fakten eine überzogene Bedeutung sowohl hinsichtlich der übergreifenden kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, in die ein Autor eingebunden ist, als auch hinsichtlich der Interpretation seiner Werke zuzuschreiben – eine trivialisierende Verzettelung in biographische Einzelheiten ohne die Fähigkeit, große Synthesen herzustellen.3 Phantombegriff ‚Literaturwissenschaftlicher Positivismus‘ Die neuere Wissenschaftsgeschichtsforschung hat inzwischen mehr als deutlich nachgewiesen, dass die Etikettierung Scherers und seiner Schüler als ‚Positivisten‘ irreführend ist, so dass dieses dennoch zumindest in der Bezeichnung einer ‚positivistischen‘ Epoche der Literaturforschung weiterwirkende Etikett im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt wird.4 Zweifellos war Scherer von den Ideen der Positivisten seiner Zeit fasziniert. Das bezog sich sowohl auf Comte als einen der Stammväter der Soziologie wie auf wichtige Anstöße aus den Arbeiten der Historiker Henry Thomas Buckle und Hippolyte Taine und ihrer Suche nach allgemeinen gesellschaftlichen und historischen Gesetzmäßigkeiten auf empirischer Grundlage.5 Der enorme Aufschwung, den die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert nahmen, erschien Scherer als übermächtige Bewegung, der sich die Geisteswissenschaften nicht entziehen konnten. „Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator mit dem Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind“.6 Auch wenn es Scherers Überzeugung war, dass geschichtliche Prozesse bestimmten und aufklärbaren Gesetzen folgten, ging es ihm nicht um eine mechanische Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien auf die Geisteswissenschaften, sondern um deren Modernisierung. Das bedeutete vor allem eine Verwissenschaftlichung von Philologie und Literaturgeschichte über anspruchsvollere theoretische Grundlagen und traf sich mit parallelen Bemühungen 3
4 5
6
Vgl. dazu Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, „Was ist eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung“, in: Detering, Heinrich (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar 2002, S. 355–375. Dies tut übrigens schon Friedrich Neumann (vgl. Neumann, Friedrich, Studien zur Geschichte der deutschen Philologie, Berlin 1971). Wie diffus aber selbst im Zusammenhang mit einem ‚Klassiker‘ wie Buckle der ‚Positivismus‘-Begriff bleibt, zeigt instruktiv Fuchs, Eckard, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994. Scherer, Wilhelm, Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin 1874, S. 412.
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der Philosophen Dilthey, Windelband und Rickert zur eigenständigen Begründung der Geisteswissenschaften.7 Um diesem Ziel näher zu kommen, beschäftigte Scherer sich mit vielen wissenschaftlichen Neuerungen auch außerhalb seines Faches und versuchte, sie in die eigene Theoriebildung aufzunehmen.8 Letztlich ging es Scherer um die Aufklärung des Entstehungsprozesses von Dichtungen „in der Seele des Dichters“, „die höchste Aufgabe einer jeden kunstmäßigen Interpretation“,9 also um psychologische Fragestellungen, für die biographische Fakten von zentraler Bedeutung waren und die er auf die vielzitierte Formel vom Ererbten, Erlebten und Erlernten brachte.10 In diesem Zusammenhang spielt die von Taine entlehnte „Milieutheorie“11 eine wichtige Rolle, die Rekonstruktion des sozialen Umfeldes eines Autors – von den Einflüssen von Elternhaus und Schule über private Beziehungen bis zur Rolle im Literaturbetrieb. Signifikanter Teilbereich der Milieu- ist die Modelltheorie. Ihr geht es um die Suche von realen Vorbildern aus der Biographie des Autors für literarische Figuren, wobei diese durchaus aus unterschiedlichen Zügen mehrerer Persönlichkeiten zusammengesetzt sein können. Ein weiteres wichtiges, von biographischen Bezügen im Wesentlichen freies Feld wird mit den Begriffen ‚Stoff- und Motivgeschichte‘ bezeichnet: Die Philologie verfolgt dabei die Überlieferungsgeschichte von literarischen Stoffen und Motiven über einen langen Zeitraum, oft viele Jahrhunderte, zurück. Eine Besonderheit aus Scherers Wirkungskreis ist die Analogiebildung. Mit dieser Technik sollten rätselhafte Phänomene in einer Dichtung durch die Suche nach Parallelen in anderen Dichtungen und einer gegenseitigen Spiegelung dieser Phänomene erklärt werden. 7
8
9 10 11
Vgl. Dainat, Holger, „Deutsche Literaturwissenschaft zwischen den Weltkriegen“, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 1/1991, S. 600–608, hier S. 601. Sehr viel radikaler und ‚positivistischer‘ war an dieser Stelle sein Freund Richard Heinzel, der Botanik, Zoologie und Statistik methodisch auf die Geisteswissenschaften übertragen wollte, damit aber letztlich wenig Erfolg und Einfluss hatte. Das hing auch mit der Tatsache zusammen, dass er auf abgelegenen Gebieten wie der isländischen Literatur des Mittelalters arbeitete, wo biographisches Quellenmaterial so gut wie keine Rolle spielte. Scherer, Wilhelm, „Goethephilologie“, in: Im neuen Reich, 7/1877, 1, S. 161–178, hier S. 171. Vgl. ebd., S. 169. Vgl. auch Schmidts Interpretation von Taines Begriffstrias „la race, le milieu, le moment“ als „Psychologie eines Individuums, oft die eines Jahrhunderts, manchmal einer ganzen Race“ in: Schmidt, Erich, „Die litterarische Persönlichkeit“ in: Schmidt, Erich, Reden zur Literatur- und Universitätsgeschichte, Berlin 1911, S. 1–20, hier S. 13.
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2. Beschreibung Zentralterminus ‚Wahrheit‘ Trotz der ambitionierten theoretischen Ansätze haben Scherer und seine Schüler keine sehr ausgefeilte Terminologie entwickelt. Dies ist nicht zuletzt auf den frühen Tod Scherers zurückzuführen. Die ‚Scherer-Schule‘ steht daher terminologisch durchaus in der Tradition der Philologie der vorangegangenen Jahrzehnte. Ohnehin ist hier deutlich zwischen Programmatik und philologischer Alltagspraxis zu unterscheiden. In der älteren Generation der Neuphilologen, deren Galionsfigur zweifellos Heinrich Düntzer (1813–1901) war, ist der zentrale Terminus schlicht ‚Wahrheit‘ (und zwar eine – angeblich! – hieb- und stichfest aus den Quellen beweisbare). Mit diesem Terminus wandten sich die Philologen ab etwa 1840 nachdrücklich gegen alle spekulativ-philosophischen Richtungen, und er diente zugleich als unüberbietbarer Kampfbegriff gegen unliebsame Resultate von Kollegen aus den eigenen Reihen. Wahrheit ist danach einfach und liegt für jeden auf der Hand, und das bedeutet letztlich: vor jeder theoretischen Anstrengung. Weitaus reflektierter geht Scherer mit dem Wahrheitsbegriff um und unterstreicht wiederholt, dass es mit der behaupteten „naturwissenschaftlich exakten“ Beweisbarkeit in der Philologie nicht weit her und dass man von Hypothesen und Konstruktionen abhängig sei – allerdings solchen, die empirisch gesichert sind und induktiv gewonnen wurden. Neue Literatur: Ideale Quellenlage für biographische Rekonstruktion Letztlich steht auch die so genannte positivistische Literaturwissenschaft in der Tradition der Klassischen Philologie, alles über Autoren zu sammeln und aufzubereiten, was überhaupt greifbar ist.12 Einem ausufernden kleinteiligen Biographismus stand in der klassischen und später auch der altdeutschen Philologie die schlechte Quellenlage entgegen. Mit der Verlagerung des Interesses auf moderne Autoren schlägt angesichts der Materialfülle bei den Weimarer Klassikern Quantität in neue Qualität um. Nun scheint das Ziel, ein umfassendes und möglichst vollständiges Bild von Leben und Werk der Autoren zu liefern, greifbar nahe. Dabei spielt die Metapher vom Mosaik, dessen einzelne Steinchen die Forscher zusammentragen und einfügen, eine zentrale Rolle. Zumindest unterschwellig suggeriert sie, es handele sich bei dieser Arbeit um 12
Vgl. dazu etwa Karl Lachmanns Bemerkungen in seiner Ausgabe von Hartmann von Aues Iwein, Berlin 1843.
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einen abschließbaren Prozess mit einem dann feststehenden, bestenfalls noch in Nuancen variablen Resultat. Zentrale Idee ist zugleich, die Werke in engen Zusammenhang mit dem Leben der Autoren zu setzen und sie unter diesem Blickwinkel zu interpretieren. Auch die Vorstellung, nicht nur diese Werke, sondern auch das Leben eines Autors sei als Kunstwerk interpretierbar, spielt hier, zumal im Zusammenhang mit Goethe, hinein.13 Zur zentralen Arbeit der Scherer-Schule gehört ganz in der philologischen Tradition die Textphilologie und damit die Erstellung zuverlässiger Klassikerausgaben. Die Verfahren der klassischen Philologie wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst auf die altdeutsche Philologie und von dort dann auch auf moderne Texte übertragen. Eine herausragende Leistung solcher Quellenkritik bedeutet in diesem Zusammenhang die erste Edition eines modernen Klassikers mit der um 1840 erschienenen Lessing-Ausgabe von Lachmann. Mit der von ihm gewohnten textkritischen Strenge hatte er die verschiedenen Drucke und Handschriften von Lessings Werken miteinander verglichen und daraus eine ‚endgültige‘, von Druckfehlern und Irrtümern gereinigte, den (als bekannt vorausgesetzten) Autorintentionen entsprechende Ausgabe geschaffen und damit Maßstäbe bis ins 20. Jahrhunderte gesetzt. 1866 hatte Michael Bernays mit seiner (Programm-) Schrift Kritik und Geschichte des goetheschen Textes vor allem am Werther verdeutlicht, wie unbefriedigend die bisherigen Goethe-Ausgaben waren, und den Weg für eine künftige Goethe-Textphilologie gewiesen. Dabei spielte die Tatsache eine Rolle, dass 1867 das Privileg des Verlegers Cotta für Goethes und Schillers Werke auslief und nun jeder andere Verlag eigene Ausgaben veranstalten konnte. Methode und Charakter Die Öffnung des Goethe-Nachlasses und die Gründung des Weimarer Goethe-Schiller-Archivs in den 1880er-Jahren (beides unter maßgeblicher Beteiligung Scherers und seiner Schüler) ermöglichte auf einer ungleich größeren Materialbasis, als sie Lachmann im Fall Lessing vor allem hinsichtlich Handschriften und Selbstzeugnissen zur Verfügung stand, die Rekonstruktion der Textgeschichte. Damit wurde die von Scherer 13
Zum „philologischen Mosaik“ und der Vorstellung vom Leben als Kunstwerk vgl. Kruckis, Hans-Martin, ‚Ein potenziertes Abbild der Menschheit‘. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf, Heidelberg 1995.
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und einem Herausgebergremium veranstaltete kritische Weimarer Goethe-Gesamtausgabe möglich, deren Edition sich über 30 Jahre hinzog.14 Zuvor hatte bereits Karl Goedeke eine kritische Schiller-Ausgabe vorgelegt und Bernhard Suphan eine Herder-Ausgabe begonnen. Allerdings wurde auch hier deutlich, dass es elaborierte, naturwissenschaftliche Exaktheit erreichende Verfahren auch in der Editionsphilologie nicht wirklich gab, sondern dass sich die philologischen Anstrengungen im Wesentlichen in der Kärrnerarbeit des Entzifferns, Vergleichens und Datierens erschöpften. Dennoch war viel von ‚strenger Methode‘ die Rede. Dies bezog sich großenteils auf sekundäre Tugenden der beteiligten Germanisten wie Fleiß, Treue zum Werk oder Demut gegenüber den großen Texten/Autoren. Aus heutiger Sicht mutet es befremdlich an, mit welcher Vehemenz vor allem in der altdeutschen Philologie wissenschaftliche Kontroversen als Streit um Charaktereigenschaften ausgetragen wurden.15 Weitaus ziviler waren dagegen die neuphilologischen Umgangsformen. Das methodische Dilemma ließ sich jedoch gut verdecken, weil die wertvollen Archivmaterialien (und die dahinterstehende höhere Relevanz eines nationalen Klassikers) Legitimation genug für die eigenen, offensichtlich als alternativlos wahrgenommenen Verfahren waren. Die entsagungsvolle Arbeit über den Handschriften des GoetheArchivs scheint so etwas wie ein Initiationsritus für junge Germanisten gewesen zu sein, dem jeder sich zu unterziehen hatte, der sich für höhere, dann nicht mehr unbedingt an die Schwere des Materials gefesselte Aufgaben empfehlen wollte. Scherer selbst leistete sich durchaus auch auf sehr dünner Materialbasis Hypothesen – etwa über eine Vorform von Goethes Faust in Prosa –, die selbst in seinem Schülerkreis als zu weit gehend empfunden wurden. Mit der Aufarbeitung der Goethe-Archivalien und weiterer Quellen legen Scherer und seine Schüler die Grundlage für große Werkkommentare des 20. Jahrhunderts. Allerdings blieb die Weimarer Ausgabe ohne Kommentar, um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen. Stattdessen erschienen Kommentierungen in Form kleinerer Einzelabhandlungen (oft in populärwissenschaftlichen Zeitschriften) und wurden z. T. später zu 14
15
Allerdings setzte man dabei zuviel Vertrauen in die Zuverlässigkeit der von Goethe selbst veranstalteten Ausgabe letzter Hand von 1831. Vgl. Kolk, Rainer, „Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14/1989, 1, S. 50–73; ders., Berlin oder Leipzig. Eine Studie zur sozialen Organisation im „Nibelungenstreit“, Tübingen 1990.
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Sammelbänden zusammengefasst. Im strengen Sinne ‚originell‘ war das Vorgehen bei der Kommentierung nicht: Für die Aufklärung von Sachverhalten wie Datierungen von Manuskripten und biographischen Zeugnissen, die Genese von literarischen Texten oder Anspielungen und ungewöhnlichen Begriffen in breitem Maße Kontexte in Briefen, Zeitschriften und Arbeiten anderer Autoren zu erschließen, war ebenfalls längst gängiges Verfahren von Vorgängern. Sie standen damit letztlich in der Tradition der deutschen Historischen Schule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrer auf Niebuhr zurückgehenden Quellenkritik. Heinrich Düntzer, ein Inbegriff von Fleiß, weniger von Scharfsinn, hatte es zuvor auf nicht weniger als 86 Bände von Erläuterungen zu den deutschen Klassikern gebracht. Den älteren Neugermanisten fehlte aber die breite empirische Basis des Archivs, und nicht zuletzt: Sie waren ‚Einzelkämpfer‘. Der Erfolg der Scherer-Schule lag sicher auch in den Synergieeffekten beim detektivischen Kombinieren, die sich durch intensive Zusammenarbeit zahlreicher junger Wissenschaftler unter fachkundiger Aufsicht ergaben. Biographie und Philologie Großes Ziel der biographischen Forschung war letztlich immer, die Grundlage für eine wissenschaftlich exakte, umfassende Biographie eines großen Autors zu schaffen, die die sämtlich unzulänglichen Versuche von Vorgängern vergessen machen sollte. Eine biographische Darstellung war auch die Gelegenheit, das ausufernde Material, das die philologische Forschung aufgetürmt hatte, kritisch zu sichten, auszuwählen und in eine zusammenfassende Form zu bringen. Scherer plante im Vorfeld der Archivgründung bereits eine sechsbändige interdisziplinär angelegte, dann jedoch nicht realisierbare Goethe-Biographie. Stattdessen erschien in den 1890er-Jahren eine ganze Reihe von philologischen Goethe-Biographien aus dem Geist der Scherer-Schule, die bedeutendste von Scherers Schüler Richard Moritz Meyer, die erfolgreichste von Albert Bielschowsky,16 die im Zusammenhang mit Goethes Frauenfiguren ausgiebig Gebrauch von der Modellsuche macht. Erich Schmidt legte eine jahrzehntelang erfolgreiche Lessing-Biographie vor, Jakob Minor verfasste eine umfangreiche, jedoch Fragment gebliebene Schiller-Biographie.
16
Bielschowsky, Albert, Goethe. Sein Leben und seine Werke, 2 Bde., München 1895/ 1904.
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Goethe im Zentrum Die primäre Sozialisation des wissenschaftlichen Nachwuchses vollzog sich in der Germanistik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend über die Beschäftigung mit altdeutschen Texten. Scherer bemühte sich zunächst noch, altdeutsche und moderne Literatur parallel zu bearbeiten. In der Generation seiner Schüler ist dann eine fast ausschließliche Konzentration auf neuere Literatur zu verzeichnen. In Qualifikationsaufgaben wie Dissertationen wurden dabei über die Bearbeitung unbedeutenderer und wenig bekannter Autoren zunächst die höheren Weihen für die Beschäftigung mit den großen Klassikern erworben. Modelle für literarische Figuren zu suchen, bietet sich insbesondere für viele Frühwerke Goethes an, in denen er autobiographische Erfahrungen verarbeitet wie im Werther oder sich in satirischer Verschlüsselung mit Kultur und Politik seiner Zeit auseinandersetzt wie im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern und dem Satyros. Dies gilt umso mehr, als Goethe selbst (besonders natürlich in Dichtung und Wahrheit) entsprechende Hinweise gegeben hat. Besonderes Interesse erweckten in der Goethe-Forschung immer schon die zahlreichen Frauen- und Mädchengestalten nicht nur in Goethes Werken, sondern auch und gerade in seiner realen Umgebung. Textgeschichtlich besonders anspruchsvoll war die Bearbeitung von Dichtungen, die über einen sehr langen Zeitraum entstanden waren, wie die Faust- und die Wilhelm Meister-Dichtungen. Scherer und seine Schüler verwendeten ihren Ehrgeiz vor allem bei der Rekonstruktion des sich über 60 Jahre erstreckenden Prozesses der Faust-Entstehung. Dabei wurde am Rande der Quellenarbeit dank einer hohen Sensibilität für die unterschiedlichen stilistischen Mittel auch deutlich, wie wenig die Dichtung aus einem Guss war, welche unterschiedlichen ‚Schichten‘ sie aufweist bzw. welche ‚Nahtstellen‘ zwischen früheren und späteren Textteilen nachweisbar sind.
3. Institutionsgeschichtliches Dichtung, Schule und deutsche Nation Lange Zeit galt die Beschäftigung mit neuerer deutscher Literatur als universitärer Wissenschaft nicht würdig. Literaturgeschichte wurde – wie im Fall von Gervinus – bis weit ins 19. Jahrhundert hinein von Historikern mitbearbeitet. Einzelne literarische Werke waren dagegen eher Gegenstand der philosophischen Ästhetik. Eine genuin philologische Betrachtung der deutschen Klassiker hatte es aber im Gegensatz zur Er-
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forschung der mittelalterlichen Literatur, die sich zu Beginn des 19. Jahrhundert zu etablieren begann, schwer. Heinrich Düntzer wurde es noch in den 1840er-Jahren verwehrt, an der Universität Bonn eine Vorlesung über Goethes Iphigenie zu halten, was kein Geringerer als August Wilhelm Schlegel mit dem (zweifellos zutreffenden) Argument unterstützte, wenn man mit Goethe und Schiller anfange, werde man eines Tages auch Heines und Platens Gedichte an der Universität erklären.17 Ein wichtiger Aspekt bei den Versuchen, nicht mehr allein auf ‚esoterische‘ Gegenstände, sondern auch auf breitere Kreise interessierende Literatur zu setzen, war die Tatsache, dass vor allem Goethe und Schiller so etwas wie die ideelle Einheit der vor 1871 politisch zersplitterten deutschen Nation verkörperten, besonders deutlich sichtbar an den Feiern zu Schillers 100. Geburtstag im Jahr 1859. Durch die nationale Aufladung erhielt Kultur/Literatur einen ungewöhnlich hohen Stellenwert und wurde in diesem Sinn auch in den Schulen behandelt. Die antiken Klassiker wurden damit durch deutsche Klassiker ergänzt. Es ist kein Zufall, dass die frühe neugermanistische Philologie stark von Lehrern wie Heinrich Viehoff und Karl Hoffmeister geprägt wurde. Hinzu kamen Liebhaber, die sich als philologische ‚Dilettanten‘ versuchten und beim Auffinden von Quellenmaterial wie Briefen eine nicht unwichtige Rolle spielten. Mit der Behandlung deutscher Literatur an den Schulen und ihrer Lektüre in bildungsbürgerlichen Haushalten stieg auch das Bedürfnis nach verlässlichen Ausgaben und wissenschaftlich fundierter Sekundärliteratur und vor allem nach einer Deutschlehrerausbildung auf akademischem Niveau. Ein weiterer Anstoß resultierte aus der Expansion des Buchmarktes und aus dem erwähnten Auslaufen des Cotta’schen Privilegs für Goethes und Schillers Werke. Für die Expansion von Lehrstühlen für neuere deutsche Philologie nach 187018 spielen der wissenschaftlich brillante und zugleich äußerst umtriebige Scherer und seine Schüler eine herausragende Rolle. Der Zugriff auf den Goethe-Nachlass, der Aufbau des Goethe-Schiller-Archivs und die Herausgabe der Weimarer Ausgabe machten Scherer bis zu seinem frühen Tod zum bei weitem einflussreichsten Neugermanisten. Dies hatte er auch seiner geschickten Medienarbeit zu verdanken. Ganz bewusst publizierte er nicht nur in Fachorganen, sondern auch in Zeitungen und Zeitschriften für ein breiteres Publikum, was ihm heftige Kritik von 17 18
Vgl. Kruckis, Hans-Martin, „Mikrologische Wahrheit. Die Neugermanistik und Heinrich Düntzer“, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, N. F. 41/1991, S. 270–283. 1874 wurde der erste dieser Lehrstühle in München mit Michael Bernays besetzt.
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Kollegen eintrug. Nicht zuletzt gelang es ihm, die bevorstehende Öffnung des Nachlasses zum kulturellen und nationalen Jahrhundertereignis hochzustilisieren und damit eine öffentliche Aufmerksamkeit für die Neugermanistik zu erzeugen, wie es schwerlich später noch einmal der Fall war. Repräsentanten und Schulen Die einzige wirkliche ‚Schule‘ des literaturwissenschaftlichen Positivismus, der dieses Etikett ex post angeheftet wurde, bildeten Scherer und seine Schüler. Scherers theoretisches Interesse an den französischen und britischen Positivisten scheint dies zu rechtfertigen. Allerdings sollte deren Einfluss auf die philologische ‚Alltagspraxis‘ nicht überschätzt werden. Das bedeutet auch, dass zumindest aus der Rückschau der Abstand der Scherer-Schule zu anderen zeitgenössischen Germanisten nicht so groß war, wie es zu seinen Lebzeiten schien. ‚Scherer-Schule‘ war nicht nur Bezeichnung für eine bestimmte methodische Richtung innerhalb der Germanistik, sondern mindestens ebenso Synonym für einen institutionell besonders erfolgreichen Wissenschaftlerverband. Aus dieser Position der Stärke heraus konnte durchaus die vorangegangene neuphilologische Tradition aus ‚Einzelkämpfern‘ wie den erwähnten Schullehrern oder Außenseiterfiguren wie Heinrich Düntzer der eigenen Vorgeschichte eingegliedert werden. Einflussreichster Vertreter der ersten Generation von Scherer-Schülern war Erich Schmidt,19 der zunächst Direktor des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar wurde, anschließend einen Lehrstuhl in Wien innehatte und nach Scherers Tod dessen Nachfolger in Berlin wurde. Schmidt, oft als Inbegriff des Gentlemans der wilhelminischen Ära beschrieben, wurde gegen Ende einer glänzenden Karriere sowohl Rektor der Berliner Universität als auch Präsident der Goethegesellschaft. Neben Goethe widmete er sich vor allem Lessing, über den er eine erfolgreiche Biographie verfasste, und gab die Werke des damals noch deutlich weniger beachteten Kleist heraus. Schmidts Nachfolger in Wien Jakob Minor wurde außer durch seine Schiller-Biographie auch durch Herausgebertätigkeit bekannt. Dritter bedeutender Vertreter der ersten Schülergeneration ist Richard Moritz Meyer,20 des19
20
Vgl. Höppner, Wolfgang, „Erich Schmidt“, in: König, Christoph / Müller, HansHarald / Röcke, Werner (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin, New York 2000, S. 107–114. Vgl. dazu Müller, Hans-Harald, „‚Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule.‘ Hinweise auf Richard Moritz Meyer“, in: Barner, Wilfried / König, Christoph, Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2001, S. 93–102.
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sen hochgelobte Goethe-Biographie 1894 erschien. Er setzte sich in der Tradition Scherers am intensivsten mit theoretischen und methodischen Fragestellungen auseinander. Die zweite große, allerdings ziemlich heterogene positivistisch-germanistische ‚Schule‘ war der Kreis um den Leipziger Ordinarius Friedrich Zarncke. Zarncke hatte mit Scherers Berliner Lehrer Müllenhoff und dem jungen Scherer den so genannten ‚Nibelungenstreit‘ um grundlegende Fragen vor allem der Lachmann’schen Philologie ausgefochten. Dem übermächtigen Einfluss der Scherer-Schule in der Neuphilologie hatten die ‚Leipziger‘ mit ihrem traditionelleren Philologieverständnis nicht allzu viel entgegenzusetzen. In der Goethephilologie besetzten sie die von ihren Konkurrenten vernachlässigte Ikonographie. Der Leipziger Schule entstammen herausragende Sprachwissenschaftler. Der vielleicht radikalste Vertreter eines tatsächlichen literaturwissenschaftlichen Positivismus (aber jenseits biographischer Forschung) war, wie angedeutet, der Wiener Richard Heinzel. Förderer und Mitstreiter Scherer und seine Schüler empfanden ihre Arbeit auch als eine Art ‚nationale Pädagogik‘. Ihren Bildungsauftrag bezogen sie auf die gesamte Nation, der ihre kulturelle Tradition nachdrücklich vor Augen zu stellen war. Konsequenterweise suchte man daher den Weg in die Öffentlichkeit und publizierte auch in Zeitungen und nichtwissenschaftlichen Zeitschriften. Wichtiges Merkmal der Öffnung nach außen war zudem die Einbeziehung von ‚Dilettanten‘ in die eigene Arbeit. Wichtigster Vertreter dieser Gruppe war Gustav von Loeper, Herausgeber von Goethes Dichtung und Wahrheit und zugleich als hochrangiger preußischer Verwaltungsjurist mit besten Kontakten in die ‚höheren Kreise‘ der für die Wissenschaftsförderung entscheidenden Ministerialbürokratie ausgestattet. Für die von Scherer betriebene Einrichtung des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar war die Unterstützung der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar von entscheidender Bedeutung. Dem Schererkreis entstammten auch bedeutende Journalisten wie der einflussreiche Theaterkritiker und spätere Intendant Otto Brahm. Schriftsteller wie Paul Heyse standen in engem Kontakt mit Scherer und Schmidt, und zugleich genossen beide die Förderung und Freundschaft älterer, z. T. äußerst prominenter Wissenschaftler wie die des Historikers Theodor Mommsen, des Kunsthistorikers Herman Grimm und v. a. des Philosophen Wilhelm Dilthey.
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‚Kleinkariertheit‘ und ‚Feuilletonismus‘ Generell nährt sich die Philologie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem von der Absetzung gegen alle spekulativen, (im schlechten Sinne) ‚philosophischen‘ Richtungen in den Wissenschaften, und das meinte vor allem die Hegel-Tradition. Der stereotype Vorwurf war, die spekulativen Ausleger missbrauchten große Dichtung lediglich als ‚Beweismaterial‘ für ihre eigenen Ideen, ohne sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen. In Gestalt des Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) schlugen ‚die Philosophen‘ auf besonders originelle Weise gegen den ‚geistlosen‘ Philologismus zurück. In Vischers Faust III wird die Kleinkariertheit der Goethephilologie aus dem Geiste Düntzers in wohlgesetzten Versen verspottet.21 Innerhalb der Germanistik selbst war der philologische Positivismus im Grundsätzlichen so unumstritten, dass lange Zeit keine ernsthafte Kritik an seinen Verfahren aufkommen wollte. Umso heftiger war dann aber die interne Diskussion über deren Grenzen, über die Relevanz von Mikrologie und über die Frage, wie weit man bei Verwertung der philologischen Erkenntnisse zur Herstellung größerer Zusammenhänge gehen kann. Insbesondere Scherer zeigte in vielen Äußerungen eine heilige Nüchternheit gegenüber der Reichweite mikrologischer Forschung. Gleichzeitig erlaubte er sich Thesen, die der philologischen Tugend, sich an das streng Beweisbare zu halten, zuwiderliefen. Auch deshalb wurde ihm immer wieder ‚Feuilletonismus‘ vorgeworfen – nicht nur die Neigung, sich auch an die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit zu richten, sondern diese auch noch mit ‚bequem‘ erzeugten Pseudo-Resultaten in die Irre zu führen. Kritik an der Scherer-Schule hatte zugleich immer eine wissenschaftspolitische Note angesichts ihrer Vorherrschaft bei der Übernahme wichtiger Lehrstühle und ihrer publizistischen Präsenz. Das Ende der Scherer-Schule und der Aufstieg der ‚Geistesgeschichte‘ Nach dem frühen Tod Scherers kam es zu einer jahrzehntelangen Dominanz seiner Schüler. Der Tod ihrer drei Hauptvertreter Schmidt, Meyer und Minor zwischen 1912 und 1914 beendete diese Dominanz: Gleichzeitig war die Arbeit an der Weimarer Ausgabe abgeschlossen. Schon zuvor hatte es Kritik an der zu geringen Aufmerksamkeit für Interpretation im Scherer-Umkreis22 und an einer fehlenden geistigen Durchdringung 21
22
„War’s um sechs Uhr oder sieben, wann er diesen Vers geschrieben?“ (Vischer, Friedrich Theodor, Faust. Der Tragödie dritter Teil, Stuttgart 1978, S. 138). Am bekanntesten: Lehmann, Rudolf, „Goethes Lyrik und die Goethe-Philologie“, in: Goethe-Jahrbuch, 26/1905, S. 133–158.
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hinsichtlich geschichtsphilosophischer Probleme gegeben. Ungers polemische Abhandlung Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft von 1908 prägte im Wesentlichen das Bild von den ‚Positivisten‘ der Scherer-Schule.23 Er stellte ihr nicht zuletzt Diltheys 1905 erschienene Essaysammlung Das Erlebnis und die Dichtung entgegen. Allerdings: Es handelte sich hier zum Teil um schon sehr alte Texte, die Dilthey selbst kaum als Kritik an der Arbeit seiner Freunde Scherer und Schmidt verstanden habe dürfte. Gemeinsam war diesen wie Dilthey, wie schon angedeutet, das Streben nach einer Grundlegung der Geisteswissenschaften jenseits (!) der Naturwissenschaften.24 Einerseits bedeutete dies psychologisch-biographisches Interesse, andererseits das an geschichtsphilosophischen/-theoretischen Zusammenhängen im Sinne einer Kulturgeschichte25 und (besonders bei Scherer) einer nationalen Pädagogik. Schon ab etwa 1890 gab es eine intensive interne Diskussion über die literaturwissenschaftliche Methodik. Sie ging aber schwerlich über das hinaus, was in Scherers theoretischen Überlegungen angelegt war. Philologische Kleinarbeit wurde nun deutlicher als zuvor nur noch als Grundlage für darauf aufbauende Überlegungen verstanden. Bevor daraus aber weitreichende Konsequenzen für die eigenen Veröffentlichungen gezogen werden konnten, brach um 1910 mit Arbeiten wie Ungers Hamann und die Aufklärung und Friedrich Gundolfs Shakespeare und der deutsche Geist das Zeitalter der so genannten geistesgeschichtlichen (und strikt ‚antiphilologischen‘) Literaturwissenschaft an. Wie in der idealistischen Tradition in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es nun wieder um große begriffliche Synthesen, um ‚organische‘ Zusammenhänge, in deren Mittelpunkt der Geistbegriff stand.26 Die Philosophie hatte sich ihren Platz als 23
24
25
26
Vgl. Unger, Rudolf, „Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft“, in: ders., Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1929, S. 1–32. „Allen tieferen und schwierigeren Problemen der Literaturwissenschaft gegenüber hat die philologistische Methode im Grunde versagt“, heißt es hier (S. 5) kategorisch. Zum engen Verhältnis zwischen Scherer und Dilthey vgl. Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, „Konstruierte Ahnen. Forschungsprogramme und ihre ‚Vorläufer‘. Dargestellt am Beispiel des Verhältnisses der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft zu Wilhelm Dilthey“, in: Schönert, Jörg (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 150–173. Scherer sah die Geschichtsphilosophie sozusagen empirisch geläutert als Völkerpsychologie (und Erbin der alten Lehre vom Volksgeist) wiederkehren: „Sie steckt in dem Versuche drin, die Geschichte zu einer exacten Wissenschaft zu erheben“ (vgl. Scherer, „Goethephilologie“, hier S. 171). ‚Geistesgeschichte‘ ist allerdings ein diffuser Begriff, unter dem sehr heterogene Wissenschaftsrichtungen zusammengefasst werden (vgl. dazu z. B. König, Chris-
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‚Leitdisziplin‘ für die Literaturwissenschaft zumindest partiell zurückerobert. Radikalster (und damit in gewisser Weise auch schon wieder untypischer, aber außerordentlich erfolgreicher) Vertreter dieser Richtung war der Schmidt-Schüler Friedrich Gundolf, der sich – selbst Mitglied des Kreises um Stefan George – einem Dichterkultus mit aus heutiger Sicht grotesk-pseudoreligösen Zügen verschrieb. Von Dante über Shakespeare, Goethe und Hölderlin bis hin zu George konstruierte er eine Traditionslinie mythisch-autonomer Dichtergestalten, die durch philologische Kontextualisierungen nur trivialisiert werden konnte, und verwischte in seinen Schriften die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst.27 Trotz der geistesgeschichtlichen Wende hat sich die Literaturwissenschaft als Ganze aber nie von ihrem philologischen Erbe verabschiedet.28
4. Publikationen Generell hat aus der ‚positivistisch-biographistischen‘ Tradition wenig an Publikationen überlebt, in erster Linie die auch als Taschenbuch nachgedruckte Weimarer Goethe-Ausgabe. Zu den bedeutendsten Arbeiten zählen sicher Scherers Goethe-Aufsätze, Schmidts große Lessing-Biographie, Meyers Goethe und theoretische Aufsätze sowie Minors Schiller. Zum Selbstverständnis des philologischen Positivismus des 19. Jahrhunderts wie der Philologie versteckt sich vieles in Rezensionen. Von zentraler Bedeutung sind Scherers Poetik und sein Aufsatz Goethephilologie. Paradigmatisch für die Goethephilologie vor Scherer, von der dieser sich absetzt, obwohl er sie zugleich als wichtiges Vorstadium anerkennt, steht Düntzers großer Faustkommentar von 1857. Düntzer setzt ihn vielen vorangegangenen „philosophischen“ Deutungen der Dichtung entgegen und gibt nichts weniger vor, als „zum vollsten Verständnis der ganzen Dichtung“29 durchgedrungen zu sein. Als durchgängige ‚Idee‘ wird die Aussage identifiziert, ein guter Mensch in seinem dunklen
27
28 29
toph / Lämmert, Eberhard (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a. M. 1993). Zu Gundolfs Rolle als Wissenschaftler vgl. Osterkamp, Ernst, „Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis“, in: König/Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, S. 177–198. Vgl. dazu etwa das Sonderheft des Euphorion (1921, 14. Ergänzungsh.), mit dem man auf Gundolfs höchst umstrittenes Buch über Goethe von 1916 reagierte. Düntzer, Heinrich, Goethes Faust, 2. Aufl., Leipzig 1857, S. XII.
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Drange sei sich des rechten Weges wohl bewusst: Dies wird dann in breiter Präsentation von Stoff- und Textgeschichte und in paraphrasierender Darstellung der Einzelszenen auf 800 Seiten entfaltet. In Goethephilologie von 1877 bietet Scherer ein straffes Kompendium der eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen. Dabei wird sehr deutlich, wie weit er von den mechanistischen, auf kurzschlüssige Art und Weise den Naturwissenschaften entlehnten Verfahren entfernt ist, die ihm unterstellt werden. Mit seinem Verstehensbegriff erinnert er im Gegenteil unmittelbar an die Hermeneutik Diltheys: „Alles Verstehen ist Nachschaffen, wir verwandeln uns in das, was wir begreifen … Für jenes Verständnis geistiger Erscheinungen gibt es keine exacte Methode. … Der Philolog hat kein Mikroskop und kein Scalpell; er kann nur analysieren, indem er sich assimiliert“.30 Als „[f]rivol“ charakterisiert er das mikrologische Forschen, als „eine Art von Sport, dem wir uns mit einem gewissen humoristischen Behagen hingeben“. Für die Erkenntnis des Gegenstandes Goethe sei solcher „Sport“ allerdings „ohne den allergeringsten directen Belang“.31 Wichtig sei dagegen, vor allem an Goethe Deutschlehrer zu bilden.32 Zentrales, aber unvollendetes und umstrittenes Werk ist Scherers 1888 posthum veröffentlichte Poetik.33 Sie versucht, den Gegenstand der Literaturwissenschaft systematisch zu definieren. Entsprechend postuliert sie die „vollständige Beschreibung der Formen dichterischer Production“34 und die „Analysis des dichterischen Prozesses“, die „Zusammengesetztes überall auf Einfacheres zurückführen“ müsse. Elemente seien aufzuzeigen, bei denen ein Nacherleben möglich sei. Der dichterische Prozess müsse in solche Elemente aufgelöst werden, an welche das Bewusstsein eines jeden von uns anknüpfen kann. „Im höchsten Sinn kann nur Goethe von Goethe verstanden werden, aber auch die höchsten Hervorbringungen haben gemeinverständliche Elemente“.35 Im Zusammenhang mit den „schaffenden Seelenkräften“ der Dichter hofft Scherer, dass die Aufklärung der körperlichen Dispositionen, auf denen der Wahnsinn beruht, auch dazu führt, solche, auf denen die dichterische Genialität beruht, aufzuklären. Von Bedeutung seien zudem die „Aufklärung des Gedächtnis30 31 32 33 34 35
Scherer, „Goethephilologie“, hier S. 161 f. Ebd., S. 173. Vgl. ebd., S. 166. Scherer, Wilhelm, Poetik, Tübingen 1977. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50.
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ses als Fähigkeit zur Reproduction alter Vorstellungen“36 und der Bezug zum Traum, beides Material des Dichters.37 Besonders modern mutet Scherers Blick auf die Rolle des Publikums als Vorgriff auf die rezeptionsästhetischen Theorien des 20. Jahrhunderts an. Das Publikum nämlich arbeite sehr stark mit. Die „genießenden Seelenkräfte“ der Leser seien als Analogon zu den schaffenden Seelenkräften des Dichters zu verstehen.38 Umso logischer, dass „Poesie ein Haupterziehungsmittel der Nationen“ sei.39 Zweifellos war Scherer im ganzen 19. Jahrhundert der Germanist mit den stärksten interdisziplinären Interessen, was sich besonders in der Poetik niederschlägt. Wissenschaftler anderer Fachrichtungen wie der Psychologe Fechner werden immer wieder gern zitiert und zur Lektüre empfohlen, während Fachkollegen und erst recht die klassischen positivistischen Theoretiker eher sparsam auftauchen.40 Scherers erfolgreichstes Werk ist seine Literaturgeschichte,41 die – besonders weit weg von positivistischen Bestrebungen – eindeutig im Bereich ‚Nationalpädagogik‘ zu verorten ist. Um den Deutschen die Großartigkeit ihrer kulturellen Tradition vorzuführen, konstruiert er hier ‚männliche‘ und ‚weibliche‘ Phasen der literarischen Entwicklung und geht in kühnem literargeschichtlichem Schwung nicht nur von ‚Blütezeiten‘ der deutschen Literatur um 1200 und 1800, sondern, weil es der jeweils 600-jährige Abstand einfach nahezulegen scheint, auch noch um 600 aus.42 Eine große Monographie zur neueren Literatur findet sich bei Scherer nicht. Bemerkenswert ist die Aufsatz-Sammlung zum jungen Goethe, an der seine frühen Schüler beteiligt waren und in der diese fairerweise auch namentlich erwähnt sind.43 Neben Scherer war Erich Schmidt das wichtigste und institutionell erfolgreichste Mitglied der ‚Schule‘. Ihm gelang mit dem Urfaust 1887 der wohl spektakulärste Quellenfund der gesamten Goetheforschung. 36 37 38 39 40 41 42
43
Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. Ebd., S. 127. Ebd., S. 95. Kindt und Müller weisen darauf hin, wie sehr sich die Poetikentwürfe Scherers und Diltheys ähneln (vgl Kindt/Müller, „Konstruierte Ahnen“). Scherer, Wilhelm, Geschichte der deutschen Litteratur, 4. Aufl., Berlin 1887. Vgl. dazu Fohrmann, Jürgen, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Kaiserreich, Stuttgart 1988, S. 220–225. Scherer, Wilhelm, Aus Goethes Frühzeit: Bruchstücke eines Commentares zum jungen Goethe, Strassburg u. a. 1879.
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Schmidts Einleitung zur Erstedition des Textes44 befasst sich neben der Schilderung der Umstände des Fundes vor allem mit der Datierung der einzelnen Szenen. Er vergleicht dazu nicht zuletzt einschlägige Briefstellen Goethes und die seiner Korrespondenzpartner und bemüht sich um eine Analyse der „Stilschichten“ des Faust, um dessen Entstehungsphasen zu rekonstruieren. Zur Analyse von Goethes „Jugendsprache“ bezieht er sich selbstverständlich auch auf parallel entstandene Arbeiten Goethes. Dabei äußert er häufig Kritik an Scherer, der im Schülerkreis offensichtlich alles andere als ein pietätvoll angebetetes Monument ist. Weil Lessings äußerer Lebenslauf wenig spektakulär ist, setzt sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie des Dichters45 um so intensiver mit dessen Werken auseinander, wobei Nathan mit Abstand den größten Raum einnimmt. Für einen Vertreter der Scherer-Schule mit ihrem Interesse an literarhistorischem Kontextwissen bildet Lessing geradezu ein ideales Betätigungsfeld. Lessings Einbindung in den intellektuellen Diskurs als Kritiker und Theoretiker wird ausführlich nachgezeichnet. In der Tradition der Modelltheorie sucht Schmidt nach den historischen Vorbildern der Nathan-Figur und gibt dabei den Hinweis, dass der Bezug zu Moses Mendelssohn nicht übertrieben werden sollte: „So gilt auch in diesem Falle der Satz, dass dem Meister großer dichterischer Gestalten die Urbilder nicht leibhaftig auf der Straße begegnet sind“.46 Charakteristisch für das Scherer-Umfeld ist auch die ausführliche Präsentation der Stoffgeschichte zur Ringparabel. Schließlich geht Schmidt auch auf die Rezeptionsgeschichte des Nathan ein bis hin zu zeitgenössischen Theateraufführungen. Schmidts Urteile gegenüber Lessing sind insgesamt sehr freundlich. Der Dichter kommt Schmidts eigener liberaler Grundhaltung entgegen, und er wagt sogar eine vorsichtige Kritik am Nationalismus.47 R. M. Meyers Goethe von 189448 ist die einzige Goethe-Biographie aus dem unmittelbaren Umkreis Scherers. Intellektuell stellt sie alle zeitgenössischen Goethebiographien in den Schatten. Sie würdigt erstmals mit Nachdruck das Spätwerk Goethes, insbesondere Wilhelm Meisters Wanderjahre und Faust II. Zudem berücksichtigt Meyer auch die naturwissen-
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Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt, nach der Göchhausenschen Abschrift, hrsg. von Erich Schmidt, 3. Abdr., Weimar 1894. Schmidt, Erich, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1909. Ebd., Bd. 2, S. 397. Vgl. ebd. Bd. 2, S. 421. Meyer, Richard Moritz, Goethe, Berlin 1894.
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schaftlichen Schriften weit über das gewohnte Maß hinaus und setzt vor allem deren Grundprinzipien in Beziehung zu den in Goethes Dichtungen identifizierbaren Prinzipien. Schließlich hängt er ein Kapitel zur Methodik der Philologie an. Hier betont er die Notwendigkeit der Einzelforschung mit einer Verve, die er wenige Jahre später nicht mehr aufgebracht hätte. Dass Schiller in der Scherer-Schule nicht zugunsten Goethes völlig vernachlässigt wurde, zeigt Minors Schillerbiographie.49
5. Fachgeschichtliche Einordnung Das grundlegende Verdienst der ‚biographistischen‘ Germanisten um 1900 ist, die wissenschaftliche Behandlung neuer Literatur gegen die mächtige Tradition der mittelalterlichen Philologie unrevidierbar etabliert zu haben. Zugleich setzten sie in ihrer Arbeit ganz bewusst auf eine Öffnung zum außerwissenschaftlichen Publikum. Die starke Betonung des Biographischen in ihrer Methodik hat entscheidend zum Erfolg dieser Tendenz beigetragen, zugleich aber schnell den Vorwurf der trivialisierenden Popularisierung ihrer Gegenstände erzeugt.50 Die so genannte Scherer-Schule hat Standards bei der philologischen Bearbeitung neuer Texte (Textedition und Kommentar) entwickelt, die jahrzehntelang unangefochten blieben. Im Vergleich zu den Vorgängergenerationen bildete sie eine höhere Sensibilität gegenüber dem Darstellungsaspekt in den philologischen Wissenschaften aus. Dabei zeigte sich ein zwiespältiges Verhältnis zu den mikrologischen und dann in grober äußerer Form präsentierten Forschungen der älteren Neuphilologen wie Düntzer. Einerseits wurde die Notwendigkeit der „konsequenten Durchforschung des Einzelnen“ betont, andererseits die damit zusammenhängende Gefahr, sich durch die Beschäftigung mit Nichtigkeiten lächerlich zu machen, durchaus erkannt. Sicher muss man auch einen Unterschied zwischen den methodischen Überlegungen Scherers und der alltäglichen philologischen Arbeit (auch seiner eigenen) machen. Im Vergleich zur avancierten Programmatik blieb vieles der konkreten Ergebnisse letztlich einem traditionellen Verständnis von Philologie verhaftet und damit eine Verfeinerung gröberer Muster der Vorgängergenerationen. 49 50
Minor, Jakob, Schiller. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1890. Vgl. zur Popularisierung Kolk, Rainer, „Gemischtes Publikum“, in: Danneberg/ Höppner/Klausnitzer, Stil, Schule, Disziplin, S. 179–196.
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Das wissenschaftsgeschichtliche Interesse an Scherer und seinem Umkreis gründet in der Tatsache, dass sich damit grundsätzliche Fragestellungen verbinden, die auch für die Gegenwart relevant sind: Was ist eigentlich der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Arbeit? Wo sind die Grenzen der Kontextualisierung? Wie also hat (im umfassendsten Sinne des Wortes) der ‚Kommentar‘ zur Literatur auszusehen? Welchen Stellenwert hat der Bezug zu historischen Quellen in der Interpretation? Ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass diese Fragen niemals endgültig zu beantworten sind, aber zu den Grundlagen methodischer Diskussionen in den Geisteswissenschaften gehören. Offensichtlich wechseln sich stärker von großräumigen Theoriedesigns geprägte Phasen mit solchen eher ‚positivistisch‘ faktenbezogener Arbeit unter immer neuen Labels miteinander ab. So hatte der in den Sozialwissenschaften ausgetragene ‚Positivismus-Streit‘ der 1970er-Jahre zwischen Vertretern der Frankfurter Schule einerseits und vom Kritischen Rationalismus beeinflussten Wissenschaftlern wie Hans Albert andererseits auch Auswirkungen auf die Germanistik. Ähnliches gilt für die materialreichen diskurstheoretischen Arbeiten Michel Foucaults, der sich zum Schrecken vieler seiner Anhänger in einem berühmten Zitat als „glücklichen Positivisten“51 bezeichnete. Ob sich Scherer und seine Schüler in ihrer Arbeit als besonders glücklich empfanden, sei dahin gestellt. Dass sich in Scherers Poetik (und in Aufsätzen von R.M. Meyer) manche Anregungen für die heutige Methodendiskussion finden lassen, dürfte schwer zu bestreiten sein. Ein Kompendium einer besonders ergiebigen Epoche der Germanistik sind sie allemal.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Eine umfassende historische Darstellung des Positivismus in der Literaturwissenschaft fehlt seit langem. In dieser Hinsicht immer noch erstaunlich aktuell ist Rothackers Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1920.52 Erstrangige Quellen zum germanistischen Wissenschaftsbetrieb dieser Zeit sind die Briefwechsel zwischen Scherer und Schmidt53 sowie 51 52
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Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 182. Vgl. Rothacker, Erich, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920; Barsch, Achim, „Positivismus“ in: Bertelsmann Literaturlexikon, Bd. 14, München 1993, S. 225–227. Briefwechsel Wilhelm Scherer-Erich Schmidt, hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963.
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zwischen Schmidt und Konrad Burdach.54 Neue Materialien zu Scherer bieten Nottscheid und Müller.55 Grundlegend zu dessen Einordnung bleibt Sternsdorffs Studie von 1979;56 ebenfalls zum Klischee vom Positivisten Scherer und zu dessen Nähe zu Dilthey (und auch zum ‚Biographismus‘) vgl. die oben genannten anregenden Beiträge von Kindt und Müller. Unverzichtbar zum Wissenschaftsverständnis der Germanistik im 19. Jahrhundert ist Rainer Kolks Studie Berlin oder Leipzig über die Auseinandersetzung der beiden großen germanistischen Schulen in Deutschland. Gleiches gilt für zahlreiche Beiträge von Holger Dainat zur Germanistik um 1900.57 Umfassendere Überblicke bieten Weimar und Fohrmann/Voßkamp.58 Angesichts der Allgegenwart von Biographik (auch in den Geisteswissenschaften) ist die Forschungsliteratur dazu schmal. Einen anregenden Überblick zur allgemeinen Geschichte und Theorie der Biographie bietet Mapping Lives. The Uses of Biography.59 Zur deutschen Biographie-Tradition immer noch am umfassendsten ist Scheuers Arbeit von 1979.60 Zur Rolle 54 55
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Briefwechsel Konrad Burdach-Erich Schmidt, hrsg. von Agnes Ziegengeist, Stuttgart u. a. 1998. Nottscheid, Mirko / Müller, Hans-Harald (Hrsg.), Wilhelm Scherer. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886, Göttingen 2005. Sternsdorff, Jürgen, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer, Frankfurt a. M., Bern, Cirencester 1979. Vgl. etwa Dainat, Holger, „Zwischen Nationalphilologie und Geistesgeschichte“, in: Birus, Germanistik und Komparatistik; ders., „Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14“, in: Fohrmann, Jürgen / Voßkamp, Wilhelm, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 494–537; ders., „Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissenschaft zu sein. Zur Karriere der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften“, in: Brenner, Peter J. (Hrsg.), Geld, Geist und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 66–98; ders., „Gefesselt an den Siegeswagen der Naturwissenschaften. Über die bezeichnende Macht der Geisteswissenschaften“, in: Fohrmann, Jürgen / Kasten, Ingrid / Neuland, Eva, Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien, Bd. 1, Bielefeld 1999, S. 302–318; ders., „Ein Fach in der ‚Krise‘. Die ‚Methodendiskussion‘ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft“, in: Oexle, Otto Gerhard, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, S. 247–272. Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Paderborn 2003; Fohrmann/Voßkamp, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. France, Peter / St Clair, William, Mapping Lives. The Uses of Biography, Oxford, New York 2004. Scheuer, Helmut, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979.
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der Biographie in der Literaturwissenschaft bis zur Geistesgeschichte vgl. den Abriss von Kruckis.61 Lesenswerte allgemeinere Überlegungen zur historischen Biographie hat neuerdings Volker Ulrich angestellt.62 Literaturverzeichnis Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. v. Karl Lachmann, Berlin 1843. Düntzer, Heinrich, Goethes Faust, 2. Aufl., Leipzig 1857. Vischer, Friedrich Theodor, Faust. Der Tragödie dritter Teil [1862], Stuttgart 1978. Scherer, Wilhelm, „Goethephilologie“, in: Im neuen Reich, 7/1877, 1, S. 161–178. Scherer, Wilhelm, Aus Goethes Frühzeit: Bruchstücke eines Commentares zum jungen Goethe, Strassburg u. a. 1879. Scherer, Wilhelm, Geschichte der deutschen Litteratur, 4. Aufl. Berlin 1887. Scherer, Wilhelm, Poetik [1888], Tübingen 1977. Minor, Jakob, Schiller. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1890. Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt, nach der Göchhausen’schen Abschrift, hrsg. von Erich Schmidt, 3. Abdr., Weimar 1894. Meyer, Richard Moritz, Goethe, Berlin 1894. Bielschowsky, Albert, Goethe. Sein Leben und seine Werke, 2 Bde., München 1895/1904. Lehmann, Rudolf, „Goethes Lyrik und die Goethe-Philologie“; in: Goethe-Jahrbuch, 26/1905, S. 133–158. 61
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Kruckis, Hans-Martin, „Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhundert“, in: Fohrmann/Voßkamp, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, S. 550–575. Ulrich, Volker, „Die schwierige Königsdisziplin“, in: DIE ZEIT v. 4. April 2007.
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Schmidt, Erich, Lessing, Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1909. Schmidt, Erich, „Die litterarische Persönlichkeit“ in: Schmidt, Erich, Reden zur Litteratur- und Universitätsgeschichte, Berlin 1911, S. 1–20. Rothacker, Erich, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920. Euphorion, 1921, 14. Ergänzungsheft. Unger, Rudolf, „Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft“, in: ders., Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte, Berlin 1929, S. 1–32. Briefwechsel Wilhelm Scherer-Erich Schmidt, hrsg. von Werner Richter und Eberhard Lämmert, Berlin 1963. Neumann, Friedrich, Studien zur Geschichte der deutschen Philologie, Berlin 1971. Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973. Scheuer, Helmut, Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979. Sternsdorff, Jürgen, Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germanistik bei Wilhelm Scherer, Frankfurt a. M., Bern, Cirencester 1979. Fohrmann, Jürgen, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Kaiserreich, Stuttgart 1988. Kolk, Rainer, „Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 14/1989, 1, S. 50–73. Kolk, Rainer, Berlin oder Leipzig. Eine Studie zur sozialen Organisation im „Nibelungenstreit“, Tübingen 1990.
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Dainat, Holger, „Deutsche Literaturwissenschaft zwischen den Weltkriegen“, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 1/1991, S. 600–608. Kruckis, Hans-Martin, „Mikrologische Wahrheit. Die Neugermanistik und Heinrich Düntzer“, in: Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 41/ 1991, S. 270–283. Barsch, Achim, „Positivismus“ in: Bertelsmann Literaturlexikon Bd. 14, München 1993, S. 225–227. Dainat, Holger, „Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissenschaft zu sein. Zur Karriere der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften“, in: Brenner, Peter J. (Hrsg.), Geld, Geist und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 66–98. König, Christoph / Lämmert, Eberhard, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a. M. 1993. Fohrmann, Jürgen / Voßkamp, Wilhelm, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994. Fuchs, Eckard, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994. Dainat, Holger, „Zwischen Nationalphilologie und Geistesgeschichte. Der Beitrag der Komparatistik zur Modernisierung der deutschen Literaturwissenschaft“, in: Birus, Hendrik (Hrsg.), Germanistik und Komparatistik, Stuttgart, Weimar 1995, S. 37–53. Kruckis, Hans-Martin, „Ein potenziertes Abbild der Menschheit“. Biographischer Diskurs und Etablierung der Neugermanistik in der Goethe-Biographik bis Gundolf, Heidelberg 1995. Briefwechsel Konrad Burdach-Erich Schmidt, hrsg. von Agnes Ziegengeist, Stuttgart u. a. 1998. Dainat, Holger, „Gefesselt an den Siegeswagen der Naturwissenschaften. Über die bezeichnende Macht der Geisteswissenschaften“, in: Fohrmann, Jürgen / Kasten, Ingrid / Neuland, Eva, Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien, Bd. 1, Bielefeld 1999, S. 302–318.
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Hans-Martin Kruckis
Höppner, Wolfgang, „Erich Schmidt“, in: König, Christoph / Müller, Hans-Harald / Röcke, Werner (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin, New York 2000. Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, „Konstruierte Ahnen. Forschungsprogramme und ihre ‚Vorläufer‘. Dargestellt am Beispiel des Verhältnisses der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft zu Wilhelm Dilthey“, in: Schönert, Jörg (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 150–173. Müller, Hans-Harald, „‚Ich habe nie etwa anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule.‘ Hinweise auf Richard Moritz Meyer“, in: Barner, Wilfried / König, Christoph, Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2001. Kindt, Tom / Müller, Hans-Harald, „Was ist eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden? Eine Untersuchung“, in: Detering, Heinrich (Hrsg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar 2002, S. 355–375. Weimar, Klaus, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Paderborn 2003. France, Peter / St Clair, William, Mapping Lives. The Uses of Biography, Oxford, New York 2004. Danneberg, Lutz / Höppner, Wolfgang / Klausnitzer, Ralf (Hrsg.), Stil, Schule, Disziplin, Frankfurt a. M. u. a. 2005. Nottscheid, Mirko / Müller, Hans-Harald (Hrsg.), Wilhelm Scherer. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886, Göttingen 2005. Dainat, Holger, „Ein Fach in der ‚Krise‘. Die ‚Methodendiskussion‘ in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft“, in: Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007. Ulrich, Volker, „Die schwierige Königsdisziplin“, in: DIE ZEIT v. 4. April 2007.
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Rezeptionsästhetik / Rezeptionstheorie von H ANS -E DWIN F RIEDRICH
1. Definition Die Rezeption von Literatur hat unter dem Aspekt ihrer Wirkung schon seit Beginn des Nachdenkens über Poesie Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die ersten vereinzelten wissenschaftlichen Fallstudien entstanden – erinnert sei an Victor Hehn, Goethe und das Publikum (1887) – bereits im 19. Jahrhundert. Eine systematische modellbildende theoretische Reflexion des Rezeptionszusammenhangs wurde jedoch erst in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts zur leitenden Forschungsfrage. Seither haben sich die Konzepte der Rezeptionsästhetik und Rezeptionsforschung bzw. -geschichte1 sowie die Wirkungsästhetik2 und die Wirkungsforschung in unterschiedlicher Intensität ausdifferenziert. Die Rezeptionsästhetik ist von Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser und deren Schülern als hermeneutische Theorie entwickelt worden. Sie wollte aus der Struktur eines Textes die Regeln seiner Rezeption ableiten, die ihrerseits wieder zu neuen Texten führt. Diese Abfolge von Produktion und Rezeption sollte das Modell einer neuen, autonomen Literaturgeschichte liefern. Die Rezeptionsforschung hingegen analysiert stattgehabte Rezeption; sie tut das zum Einen anhand der historisch überlieferten Rezeptionsspuren3 unterschiedlicher Provenienz, zum Anderen analysiert sie historisch rekonstruierbares Lesen oder untersucht zum Dritten anhand experimentell erhobener Daten empirische Rezeptionsprozesse. 1
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Vgl. zur Differenz Link, Hannelore, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976, S. 4. Vgl. Turk, Horst, Wirkungsästhetik. Theorie und Interpretation der literarischen Wirkung, München 1976; Richter, Matthias, „Wirkungsästhetik“, in: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 516–523. Vgl. Barner, Wilfried, „Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der klassischen Philologie“, in: ders., Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1997, S. 329–351.
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Rezeption und Wirkung lassen sich zwar nicht trennscharf voneinander abheben, doch ist im einen Fall der Blickwinkel vom Rezipienten, im anderen vom Werk her auf den Gesamtprozess der Rezeption gerichtet.4
2. Beschreibung Die Rezeptionsästhetik, die öffentlich von Hans Robert Jauß in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung 1966 vorgestellt wurde, markiert den Ausgangspunkt der modernen Rezeptionsforschung. Jauß ging von der Krise der Literaturgeschichtsschreibung aus und fragte, wie „die geschichtliche Folge literarischer Werke als Zusammenhang der Literatur“5 – und nicht als Enumeration von Autoren und Werken – begriffen werden könne. Literaturgeschichte sollte autonom begründet und rekonstruiert werden. Literarische Entwicklung schien sich als dialektische Folge von Kommunikationsprozessen darzubieten. „Geschichte der Literatur ist ein Prozess ästhetischer Rezeption und Produktion, der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den selbst wieder produzierenden Schriftsteller und den reflektierenden Kritiker vollzieht“.6 Im Vordergrund des Konzepts stand also die Rezeption als Fundament des literarhistorischen Prozesses. Sie war damit nicht mehr nur Epiphänomen des Werks, sondern aufgrund der Interaktion von Werk und Leser7 die entscheidende Schnittstelle der Traditionsbildung. Da die Tradition zur Überlieferung und Kanonisierung der bedeutendsten Kunstwerke geführt habe, verspreche dieser Ansatz darüber hinaus, das noch für Gottsched unstrittige, seither aber virulent gebliebene Problem einer Verbindung von Ästhetik und Geschichte bzw. gesellschaftlicher Funktion zu lösen.8 4
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Vgl. Mandelkow, Karl Robert, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente zur empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung, Frankfurt a. M. 1974, S. 82–96; Mandelkow, Karl Robert, „Rezeptionsgeschichte als Erfahrungsgeschichte. Vorüberlegungen zu dem Versuch einer Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland“, in: HansJoachim Mähl / Eberhard Mannack (Hrsg.), Studien zur Goethezeit. Erich Trunz zum 75. Geburtstag, Heidelberg 1981, S. 153–176. Jauß, Hans Robert, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Konstanz 1969, S. 18. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ausführlich die kritische Auseinandersetzung mit Jauß bei Grimm, Gunter, „Einführung in die Rezeptionsforschung“, in: hrsg. v. dems., Literatur und Leser.
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Jauß hatte die kanonischen Texte der Weltliteratur als Korpus der Literaturgeschichtsschreibung vor Augen, er ging von „Qualität und Rang eines literarischen Werks“9 aus. Dessen Wirkungsgeschichte modellierte er als Entfaltung des jeweiligen im Werk angelegten Sinnpotentials,10 verstand also die Rezeption als erfolgreiche Auslegungsgeschichte des Werks. Später, als dieses zentrale Element der Konzeption nicht mehr zu halten war, reformulierte Jauß die Rezeptionsästhetik weicher, aber immer noch programmatisch zu einer „Theorie und Geschichte der ästhetischen Kommunikation im Medium literarischer Texte“.11 In dieser Frage zeigte sich in der gesamtdeutschen Forschungslandschaft eine aufschlussreiche Konvergenz. Mit geringer zeitlicher Verzögerung wurde auch in der DDR eine materialistisch begründete Variante am Institut für Literaturgeschichte von Manfred Naumann, Dieter Schlenstedt und deren Mitarbeitern entwickelt. Sie gingen davon aus, „daß die Literaturrezeption […] einen Vorgang darstellt, in dem der Leser eine Beziehung zu einem spezifischen Gegenstand (dem literarischen Werk) herstellt, der von einem Autor in einem spezifischen Prozess, dem literarischen Produktionsprozess, geschaffen wurde und eine Sphäre der geschichtlich-gesellschaftlichen Zirkulation durchlaufen hat, ehe er in die Hand des Lesers gerät“.12 Unverkennbar ist die literaturpolitische Funktionalisierung des Projekts. Aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen war die Annahme einer Autonomie der Literaturgeschichte als bürgerlich idealistische Konzeption nicht akzep-
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Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke, Stuttgart 1975, S. 11–84, S. 359–378, hier S. 26 ff. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 8. Vgl. dazu Grimm, Gunter, Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie, mit Analysen und Bibliographie, München 1977, S. 13. Kritisch dazu die Analyse der Rezeption des Ulysses von Lobsien, Eckhard, „Die rezeptionsgeschichtliche These von der Entfaltung des Sinnpotentials, am Beispiel der Interpretationsgeschichte von James Joyces ‚Ulysses‘“, in: Heinz-Dieter Weber (Hrsg.), Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik. Konstanzer Beiträge zur Praxis der Literaturgeschichtsschreibung, Stuttgart 1978, S. 11–28; Weber, Heinz-Dieter, „Scheintranszendentalität. Polemische Bemerkungen zu E. Lobsiens Falsifikation des rezeptionsästhetischen Grundtheorems“, in: hrsg. v. dems., Rezeptionsgeschichte oder Wirkungsästhetik, S. 168–171. Jauß in Konstantinovic, Zoran / Naumann, Manfred / Jauß, Hans Robert (Hrsg.), Literary Communication and Reception / Communication littéraire et reception / Literarische Kommunikation und Rezeption, Innsbruck 1980, S. 35. Naumann, Manfred, „Literatur und Probleme ihrer Rezeption“, in: Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, S. 215–237; hier S. 216.
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tabel.13 Ein wichtiger Ausgangspunkt der Forschung war ein Binnenproblem der marxistischen Theorie. Von ihren materialistischen Prämissen her war der Sachverhalt einer kontinuierlichen Rezeption von Literatur aus Sklavenhalter- und Feudalgesellschaften im Sozialismus erklärungsbedürftig. Die Frage, wieso heute noch – mitten in der kapitalistischen Wirtschaftsform – Homers Epen als große Kunstwerke gelten, war bereits von Marx in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie aufgeworfen worden.14 Ging es Naumann und seinen Mitarbeitern darum, das gegebene Rezeptionsgeschehen literaturtheoretisch zu analysieren, mithin um eine Verknüpfung textanalytischer und empirischer Verfahren, war die Konstanzer Rezeptionsästhetik konsequent als hermeneutische Theorie angelegt.15 Jauß hat die Hermeneutik Gadamers, Iser die phänomenologische Ästhetik Ingardens als maßgebliche Rahmentheorien verstanden. Im Gegensatz zu den traditionellen hermeneutischen Konzeptionen formulierte Jauß von dieser Grundlage her eine Absage an einen ontologischen Werkbegriff; das literarische Kunstwerk sei „kein für sich bestehendes Objekt“.16 Diese Prämisse – „daß ein Text überhaupt erst zum Leben erwacht, wenn er gelesen wird“17 – verband die unterschiedlichen Richtungen, die an der Rezeption interessiert waren.18 In seiner Studie zur Rezeption von Racines Iphigénie führte Jauß aus, er setze „im Anschluß an W. Iser einen Begriff des ‚Werkes‘ voraus, der die vorgegebene
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Vgl. Weimann, Robert, „Rezeptionsästhetik“ oder das Ungenügen an der bürgerlichen Bildung. Zur Kritik einer Theorie literarischer Kommunikation“, in: ders., Kunstensemble und Öffentlichkeit. Aneignung – Selbstverständigung – Auseinandersetzung, Halle, Leipzig 1982, S. 85–133; Barck, Karlheinz, „Zur Kritik des Rezeptionsproblems in bürgerlichen Literaturauffassungen“, in: Manfred Naumann/ Dieter Schlenstedt / Karlheinz Barck / Dieter Kliche / Rosemarie Lenzer, Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin, Weimar 1975, S. 99–178, S. 510–527; Naumann, Manfred, „Das Dilemma der ‚Rezeptionsästhetik‘“, in: Weimarer Beiträge 23/1977, 1, S. 5–21; wiederholt in Teorijska Istra ivanja, 1/1980, S. 15–28. Vgl. Naumann, Literatur und Probleme ihrer Rezeption, S. 217 ff. Vgl. Jurt, Joseph, „Les-Arten. Rezeptions- und Lektüreforschung und ihre Folgen für das Literaturverständnis“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 39/1989, S. 249–275. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 29. Iser, Wolfgang, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970, S. 6. Vgl. Hohendahl, Peter Uwe, „Einleitung“, in: hrsg. v. dems., Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, S. 9–48, hier S. 15.
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Struktur des ‚Textes‘ (Zeichencharakter des Artefakts) und seine ‚Aufnahme‘ oder Wahrnehmung durch den Leser/Zuschauer (ästhetisches Objekt als Korrelat im Bewußtsein des oder der Rezipienten) zusammenschließt“.19 Die ersten programmatischen Verlautbarungen zeigen, dass die Rezeptionsästhetik holistisch, quasi als hermeneutisches Passepartout, konzipiert war.20 Diesen Anspruch musste Jauß bereits 1973 mit seinem Bekenntnis zur „Partialität der rezeptionsästhetischen Methode“21 relativieren. Die hermeneutische Fundierung der Rezeptionsästhetik ist schon früh von Link kritisiert worden; das vorgelegte Programm sei mit hermeneutischen Mitteln nicht angemessen durchzuführen.22 In der Folge differenzierte sich neben der Fortführung des rezeptionsästhetischen Ansatzes ein Paradigma historischer und empirischer Rezeptionsforschung aus, dessen Propagator Karl Robert Mandelkow war.23 Methodisch gliedert sich diese Variante wiederum in zwei differente Fragestellungen aus – „einmal die Erkenntnis der literarischen Werke und zum anderen die Erkenntnis des Publikums“.24 Während sich die empirische Rezeptionsforschung – ihrerseits der Hermeneutik gegenüber abstinent – an den Methoden der empirischen Sozialforschung und Psychologie orientiert, versteht sich die historische Rezeptionsforschung – „keine Methode, die formalisierbar und erlernbar wäre“ – als „erkenntnistheoretische 19
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Jauß, Hans Robert, „Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode“, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, 2. Aufl., München 1979, S. 353–400, hier S. 355. Vgl. Naumann, „Literatur und Probleme ihrer Rezeption“, S. 216: „als Ganzes, in seinen Teilen und in der Vermittlung diachronisch eingebettet in den gesamtgeschichtlichen Prozeß und synchronisch in die bestehenden und sich verändernden materiellen und ideologischen Verhältnisse der jeweils gegebenen Gesellschaftsformation“; „In extremem Falle wird Wirkungsgeschichte dann zur allgemeinen Kulturgeschichte überhaupt in der Totalität ihrer Aspekte“. Mandelkow, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, S. 95. Jauß, „Racines und Goethes Iphigenie“. Vgl. Link, Hannelore, „Die Appellstruktur der Texte“ und ein „Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft?“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 17/1973, S. 532–583. Vgl. Kunne-Ibsch, Elrud, „Rezeptionsforschung. Konstanten und Varianten eines literaturwissenschaftlichen Konzepts in Theorie und Praxis“, in: Gerd Labroisse (Hrsg.), Rezeption – Interpretation. Beiträge zur Methodendiskussion, Amsterdam 1974, S. 1–36; Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 21 ff. Stückrath, Jörn, Historische Rezeptionsforschung. Ein kritischer Versuch zu ihrer Geschichte und Theorie, Stuttgart 1979, S. 5.
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Grundeinstellung der historischen Wirklichkeit gegenüber“.25 Faktisch ist die historische Rezeptionsforschung seit den 1970er-Jahren kaum mehr als theoretisch ausgearbeitetes Projekt präsent; die ersten Versuche einer Theoriebildung in den Arbeiten von Grimm, Stückrath, Zimmermann und Mandelkow blieben vereinzelt und haben keine Fortführung gefunden.26 Im Gegensatz dazu ist eine kaum mehr überschaubare Flut von Einzeluntersuchungen zu verzeichnen, die Rezeptionsuntersuchungen als Standardfragestellungen des Faches ausweisen, ohne dass ein einheitliches theoretisches Profil ausgebildet worden wäre. Bereits 1974 konstatierte Hohendahl, eine theoretische Integration sei nicht erreicht.27 Die Rezeptionsästhetik hat einige Schlüsselkonzepte ausgebildet, die theoretisch intensiv diskutiert wurden. Jauß führte im Rückgriff auf Karl Mannheim den Begriff des ‚Erwartungshorizonts‘ ein: „Auch das neu erscheinende Werk […] prädisponiert sein Publikum durch Ankündigungen, offene und versteckte Signale, verbindende Merkmale oder implizite Hinweise für eine ganz bestimmte Weise der Rezeption. Es […] gibt mit alledem einen allgemeinen Horizont des Verstehens vor, auf den bezogen die Frage nach der Subjektivität der Interpretation und des Geschmacks verschiedener Leser allererst gestellt werden kann“.28 Jauß versuchte die historische Perspektive mit ästhetischen Aspekten zu verknüpfen, indem er die künstlerische Qualität eines Werkes mittels der Distanz zwischen Werk und Erwartungshorizont bestimmte. Daraus ergab sich für ihn im Umkehrschluss die Unbrauchbarkeit soziologischempirischer Rezeptionsforschung. Das intuitiv einleuchtende Konzept des Erwartungshorizonts ist jedoch sehr schnell schon als „heuristische Fiktion, die den tatsächlich komplizierten Vorgang der Aufnahme und Rezeption abstrahierend vereinfacht und damit gerade den eigentlichen Sachverhalt verfälscht“,29 kritisiert worden. Praktisch sei es nahezu unbrauchbar. Versuche einer Differenzierung mit Verweis auf den historischen Wandel, der die Annahme mehrerer unterschiedlicher Erwartungshorizonte nahe lege und
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Mandelkow, „Rezeptionsgeschichte als Erfahrungsgeschichte“, S. 168. Vgl. Zimmermann, Bernhard, Literaturrezeption im historischen Prozeß. Zur Theorie einer Rezeptionsgeschichte der Literatur, München 1977; Stückrath, Historische Rezeptionsforschung. Vgl. Hohendahl, „Einleitung“, S. 9. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 33. Mandelkow, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, S. 90; vgl. auch S. 90 ff.
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damit das Konzept zu kaum mehr beherrschbarer Komplexität steigere, aber auch Versuche einer Operationalisierung sind nicht erfolgreich gewesen. Bezweifelt wurde, ob der Erwartungshorizont überhaupt empirisch verifizierbar sei.30 Ein weiterer Einwand war, dass Erwartungshorizonte früherer Epochen in Ermangelung breiten Quellenmaterials kaum mehr rekonstruierbar seien.31 Hinzuweisen ist allerdings auch darauf, dass es keinen Versuch gab, einen Erwartungshorizont historisch zu rekonstruieren. Jauß’ Konzept des Erwartungshorizonts sah sich auch philosophischer Kritik ausgesetzt; er erschien im Kontext der phänomenologischen Tradition als vielleicht einleuchtende, aber kaum valide, weil simplifizierende Metapher für einen hochkomplexen Sachverhalt.32 Das Modell des Erwartungshorizonts ist auf die historische Situation ausgerichtet, von der ein Werk ausgeht und auf die es ausgerichtet ist. In der DDR-Rezeptionsästhetik wurde stärker die Möglichkeit des Werks, Rezeption zu steuern, betont. Es gebe, so fasste Grimm vermittelnd zusammen, ein „Maß, das im Rahmen des Modells vom aktiv selektierenden und verarbeitenden Rezipienten diesem den zur Entfaltung seiner individuellen Codierungskompetenz genügenden Spielraum offen lässt. Der Text wird zum Signalgefüge, zur Appellstruktur oder zur Rezeptionsvorgabe.“33 Die Rezeptionsvorgabe als „Eigenschaft des Werks, die Rezeption zu steuern“, galt als „Kategorie, die ausdrückt, welche Funktion ein Werk potentiell von seiner Beschaffenheit her wahrnehmen kann. Die Qualität einer Rezeptionsvorgabe ist letztlich abhängig von der Gesamtheit der genetischen (geschichtlich-gesellschaftlichen, sprachlich-literarischen, biographisch-individuellen) Voraussetzungen des Werkes“.34 Die Rezeptionsvorgabe ist von Mandelkow auf den Zusammenhang der DDR-Kulturpolitik zurückgeführt worden. Mittels ihrer werde das Ziel verfolgt, „die Mechanismen und die Gesetze einer auf Identifikation gründenden ‚richtigen‘ Wirkung von Kunst zu ergründen, um sie aufgrund dieser Kenntnis besser lenken, beeinflussen 30
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Vgl. Moog-Grünewald, Maria, „Einfluß- und Rezeptionsforschung“, in: Manfred Schmeling (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1981, A. 49–72, hier S. 54 f. Vgl. Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 60 ff. Vgl. Anz, Heinrich, „Erwartungshorizont. Ein Diskussionsbeitrag zu H.R. Jauß’ Begründung einer Rezeptionsästhetik der Literatur“, in: Euphorion, 70/1976, S. 398–408. Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 2. Naumann, „Literatur und Probleme ihrer Rezeption“, S. 224.
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und korrigieren zu können“.35 In der westlichen Rezeptionsästhetik wurde sie von daher als problematisches Konzept kritisiert.36 „Die Freiheit der Leser im Umgang mit den Werken hat in den gegenständlichen Eigenschaften der Werke selbst ihre Grenze“.37 Eine fallorientierte exakte Rekonstruktion einer Rezeptionsvorgabe ist jedoch nicht versucht worden. Das hermeneutische Selbstverständnis bedingte eine spezifische Konzeption des ‚Lesers‘. „Das Werk ist das Konstituiertsein des Textes im Bewusstsein des Lesers“.38 Mit der Instanz des Lesers meinte die Konstanzer Rezeptionsästhetik jedoch gerade nicht den empirischen Leser, sondern ein Bauelement des Textes. Diese Instanz bezeichnete Iser als impliziten Leser; er „meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht eine Typologie möglicher Leser“;39 er „verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen bietet“.40 Damit ist unmissverständlich gesagt, dass sich die Rezeptionsästhetik als Ansatz von der historischen Rezeptionsforschung absetzte und damit Innovationspotential verspielte. Das ist von Warning auch deutlich gesehen und im Sinne der Schule begrüßt worden: „In der Konsequenz einer Unterscheidung von Werksystem und Interpretationssystem stellt sich damit die Frage, ob Rezeptionsästhetik nicht gut beraten wäre, vorliegende Konkretisationen und ihre Subjekte, d. h. den je historischen Leser, als Epiphänomen zu betrachten“.41 35 36
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Mandelkow, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, S. 381. Vgl. Jauß, Hans Robert, „Zur Fortsetzung des Dialogs zwischen ‚bürgerlicher‘ und ‚materialistischer‘ Rezeptionsästhetik“, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, S. 343–352, hier S. 349 ff. Naumann, „Einführung“, S. 18; vgl. Schlenstedt, Dieter, „Das Werk als Rezeptionsvorgabe und Probleme seiner Aneignung“, in: Naumann / Schlenstedt / Barck / Kliche / Lenzer, Gesellschaft – Literatur – Lesen, S. 299–437, S. 551–558. Iser, Wolfgang, „Der Lesevorgang“, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, S. 253–567, hier S. 253. Iser, Wolfgang, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972, S. 8f; vgl. Wolff, Erwin, „Der intendierte Leser. Überlegungen und Beispiele zur Einführung eines literaturwissenschaftlichen Begriffs“, in: Poetica, 4/1971, S. 141–166. Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 60; Kritik: Barnouw, Dagmar, „Is there anything Left to Read for Iser’s reader?“, in: Konstantinovic / Naumann / Jauß, Literary Communication, S. 45–50. Warning, Rainer, „Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik“, in: Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, S. 9–41, hier S. 25.
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Als weitergehende Typologisierung des Lesers – besser gesagt, der Leserposition –, die in der ersten Phase intensiv diskutiert wurde, setzte sich eine Unterscheidung zwischen dem realen Leser,42 dem intentionalen oder imaginierten Leser – dem „Bild[], das sich die Autoren von möglichen Lesern machen“43 – und dem fiktiven, impliziten, konzeptionellen Leser durch.44 Der intendierte Leser sollte vom impliziten Leser unterschieden sein, wobei das bei Iser nicht immer gewährleistet war. Die Betonung des Lesers innerhalb einer hermeneutischen Konzeption ergab sich aus einer Modellierung des Rezeptionsakts, die zwischen dem Text als materiellem Artefakt und seiner immateriellen Aufnahme unterscheidet. Im Rückgriff auf Roman Ingardens Begriff der ‚Konkretisation‘45 folgerte Iser: „Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen“.46 „Das Werk bedürfe der Leser, „um ein wirkliches Werk zu werden“.47 Wie allerdings Text und Leser sich zueinander verhalten, ist kontrovers diskutiert worden. Ob es Regeln für richtige oder falsche Konkretisationen geben könne, ist für das einzelne Wirkungsereignis als irrelevant eingeschätzt worden.48 Tatsächlich weisen die historische wie die empirische Rezeptionsforschung eine kaum zu homogenisierende Bandbreite aus. Hier hätte nun vom Frageinteresse her zwischen einer hermeneutischen auf den Text ausgerichteten und einer auf die Rezeption ausgerichteten Perspektive unterschieden werden können mit je unterschiedlichen Gewichtungen der Frage nach angemessenen oder nicht angemessenen Rezeptionen. Das ist jedoch nicht der Fall gewesen, so dass hier eine konzeptionelle Lücke gegeben war. 42 43 44
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Vgl. Baumgärtner, Alfred Clemens (Hrsg.), Lesen – Ein Handbuch, Hamburg 1973. Naumann, „Literatur und Probleme ihrer Rezeption“, S. 224. Vgl. Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 37 ff.; Naumann, Manfred, „Autor – Adressat – Leser“, in: Manfred Naumann, Blickpuntk Leser. Literaturtheoretische Aufsätze, Leipzig 1984, S. 139–148. Vgl. Ingarden, Roman, Das literarische Kunstwerk, 2., verb. u. erw. Aufl., Tübingen 1960, S. 364 ff. Iser, Appellstruktur, S. 7; vgl. Kern, Peter Christoph, „Wie baut sich im Leser eine fiktive Wirklichkeit auf ? Sieben Thesen und eine Anwendung zur ästhetischen Rezeption“, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 18/1985, S. 137–162. Naumann, Manfred, „Einführung in die theoretischen und methodischen Hauptprobleme“, in: Naumann / Schlenstedt / Barck / Kliche / Lenzer, Gesellschaft – Literatur – Lesen, S. 15–97, S. 498–510, hier S. 84. Vgl. Fieguth, Rolf, „Rezeption contra falsches und richtiges Lesen? Oder Missverständnisse mit Ingarden“, in: Sprache im technischen Zeitalter, 1971, S. 142–159.
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Im Weiteren ergab sich als Anschlussproblem, wie sich Interpretation und Rezeption zueinander verhalten. Die Orientierung an Gadamers philosophischer Hermeneutik wurde als Ursache dafür angesehen, dass Interpretation und Rezeption nicht analytisch unterschieden wurden.49 Die Rezeptionsästhetik, wie sie Jauß konzipiert hatte, implizierte die „Verabschiedung der autoritativen Frage nach der ‚richtigen‘ oder ‚adäquaten‘ Lektüre beziehungsweise Interpretation literarischer Texte“.50 Das wird auch deutlich in der Rekonstruktion des Rezeptionsakts durch Manfred Naumann: „Indem der Leser sich das Werk aneignet, baut er es für sich um; indem er die im Werk ‚schlummernden Potenzen‘ entwickelt (dessen Vorgabe realisiert), unterwirft er sie ‚seiner eigenen Botmäßigkeit‘. Zugleich aber gilt: Indem er das Werk für sich umbildet, verändert er auch sich selbst; indem er im Werk liegende Möglichkeiten für sich entdeckt, erweitert er seine eigenen Möglichkeiten als Subjekt; indem der Leser das Werk rezipiert und dabei auf das Werk einwirkt, wirkt das Werk auf ihn ein“.51 In der Rezeptionsforschung werden der Text und seine Bedeutung dem Rezeptionsakt nachgeordnet, weil das forschungslogisch konsequent aus dem Frageinteresse abzuleiten ist. Rezeptionsforschung zielt auf die Rezeption, nicht auf den Text. Das aber als Begründung dafür zu akzeptieren, dass man nicht im Sinne eines kontrollierten Verfahrens interpretieren könne, ist kurzschlüssig. Diese Behauptung wurde von Seiten der Rezeptionsästhetik auch niemals problematisiert, geschweige denn begründet. Sie hat sich allerdings als Gerücht verbreitet. Das Unbehagen an dieser Folgerung hat die Forschung intensiv beschäftigt. Konkretisation sei noch keine Interpretation: „Für das Gelingen der Kommunikation zwischen Autor und Leser, die im Leseakt als eine Interaktion von Text und Leser verläuft, ist das lesende/interpretierende Subjekt unentbehrlich. Aber seine Freiheit ist nicht unbegrenzt und die Reihe der möglichen Konkretisationen nicht unendlich“.52 49
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Vgl. Steinmetz, Horst, „Rezeption und Interpretation. Versuch einer Abgrenzung“, in: Gerd Labroisse (Hrsg.), Rezeption – Interpretation. Beiträge zur Methodendiskussion, Amsterdam 1974, S. 37–84. Barck, Karlheinz, „Rezeptionsästhetik und soziale Funktion der Literatur“, in: Weimarer Beiträge, 31/1985, S. 1131–1149, hier S. 1135; vgl. Kloepfer, Rolf, „Escape into Reception. The Scientistic and Hermeneutic Schools of German Literary Theory“, in: poetics today, 3/1982, 2, S. 47–75; Buschmann, Matthias, „Multiperspektivität – Alle Macht dem Leser?“, in: Wirkendes Wort, 46/1996, S. 259–275. Naumann, „Literatur und Probleme ihrer Rezeption“, S. 228. Van Ingen, Ferdinand, „Die Revolte der Leser oder Rezeption versus Interpretation. Zu Fragen der Interpretation und der Rezeptionsästhetik“, in: Labroisse
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Wünsch stellte mit Recht fest, dieses Verhältnis sei nie geklärt worden, obwohl die Analyse von Rezeption nahezu zwingend interpretatorische Vorentscheidungen voraussetze.53 In der Weiterführung des Problems der Konkretisation schlug Gumbrecht vor, die „vom jeweiligen Autor intendierte Sinngebung“ 54 als Maßstab heranzuziehen, ohne damit auf Resonanz zu stoßen. Warning wies auf die Unterscheidung zwischen den im Werk codierten Erwartungen und den lebensweltlichen Erwartungshorizonten der Leser hin.55 Die Spannbreite der Konkretisationen, soweit sie dokumentiert waren, erklärte Heuermann mit dem Hinweis auf das kognitionspsychologische Konzept der kognitiven Dissonanz.56 Eine Grenze für die empirische Forschung war, dass der Vorgang der Konkretisation nicht beobachtbar ist, höchstens spekulativ extrapoliert werden könnte.57 In der einschlägigen Diskussion zirkulierten somit viele Mutmaßungen, die nicht problematisiert oder untersucht worden sind. Als weiteres Problem erwies sich, dass die Trennung zwischen Text und Leser nicht scharf vorgenommen werden konnte. Verstehensprozesse könnten nur „in Form einer bindenden Synthese der scheinbar diametralen Extrempositionen reiner Subjektivität – des ‚Sinn setzen‘ – und reiner Objektivität – ‚Sinn erfassen‘ – rekonstruiert werden“.58 Diese Diskussion ist nicht eigentlich weitergeführt worden, wie Richter resü-
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(Hrsg.), Rezeption – Interpretation, S. 83–147, hier S. 113; vgl. Grimm, „Einführung in die Rezeptionsforschung“, S. 53 f. Vgl. Wünsch, Marianne, „Zum Verhältnis von Interpretation und Rezeption. Experimentelle Untersuchungen am Beispiel eines Theodor-Storm-Textes“, in: Helmut Kreuzer/ Reinhold Viehoff (Hrsg.), Literaturwissenschaft und empirische Methoden. Eine Einführung in aktuelle Projekte, Göttingen 1981, S. 197–225; Wünsch, Marianne, „Wirkung und Rezeption“, in: Masser, Masser / Klaus Kanzog (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Bd. Sl-Z, Berlin, New York 1984, S. 894–919, hier S. 913. Gumbrecht, Hans Ulrich, „Konsequenzen der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationssoziologie, in: Poetica 7 (1975), S. 388–413; Zitat S. 392. Vgl. Warning, „Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik“, S. 24 f. Vgl. Heuermann, Hartmut, „Kognitive Dissonanz als Phänomen der literarischen Rezeption: Zur Übertragung und Anwendung einer sozialpsychologischen Theorie auf die Literaturwissenschaft“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 217/1980, S. 134–150. Wünsch, „Wirkung und Rezeption“, S. 899. Vgl. Kriz, Jürgen, „Dimensionen des Verstehens. Verstehensprozesse zwischen Subjektivität und Objektivität“, in: Elrud Ibsch/ Dick H. Schram (Hrsg.), Rezeptionsforschung zwischen Hermeneutik und Empirie, Amsterdam 1987, S. 47–63, hier S. 48
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mierte, und was nach wie vor zu konstatieren ist. „In der Diskussion ist umstritten: (1) ob es einen leserunabhängigen Textsinn überhaupt gibt; (2) wie man sich das Zusammenwirken von Textwirkung und Leseraktivität vorstellen könnte; (3) ob und gegebenenfalls auf welche Weise die im Text beschlossenen und von Lesern erzeugten Anteile in der Rezeption bestimmt werden können; (4) in welchem Sinn von einer adäquaten Rezeption zu sprechen sei“.59 Die Annahme, Interpretation und Rezeption seien nicht unterscheidbar, verbietet streng genommen die Möglichkeit, begründete Aussagen über den Text zu machen. Dem widerspricht schließlich auch die Praxis der Rezeptionsästhetik. Was wären denn Isers und Jauß’ Arbeiten anderes als sehr elaborierte Interpretationen? Iser postulierte Leerstellen im Text, die sich daraus ergeben, dass literarische Texte sich nicht mit der Lebenswelt der Leser verrechnen lassen.60 Sie seien es, die die Bedeutungsvielfalt des Textes erzeugen. „Iser gibt einen ganzen Katalog formaler Bedingungen, die im Text Leerstellen entstehen lassen. Zu ihnen zählen Störungen im Aufbau der intentionalen Satzkorrelate, Schnitt-, Montage- und Segmentiertechniken, Erzählerkommentare, die die erzählte Geschichte perspektivisch auflösen, dem Leser ein breitspektriges Bewertungsangebot offerieren, Überpräzisierungen des Darstellungsrasters, die das Bedürfnis des Lesers nach Konsistenzbildung irritieren, schließlich Verfremdungstechniken im weitesten Sinn“.61 Allerdings legte Iser keine präzise Klärung des Konzepts vor.62 Die Bedeutungsvielfalt von Texten wurde zwar postuliert, ihr Umfang konnte aber nicht präzise bestimmt werden. Die empirisch beobachtbare Heterogenität der Rezeption besteht unabhängig davon, dass Bedeutungszumessungen wohl kaum völlig beliebig vorgenommen werden. Wäre das so, gäbe es keinen Grund, bestimmte Texte zu lesen – jeder andere Text wäre bei beliebiger Bedeutungszumessung genau so gut. Beispiele aus der Rezeptionsgeschichte zeigen auch, dass über richtige oder falsche Rezeption gestritten und immer wieder auch entschieden wird. 59 60 61 62
Richter, „Wirkungsästhetik“, S. 517. Vgl. Iser, Appellstruktur, S. 12; vgl. Kunne-Ibsch, „Rezeptionsforschung“, S. 17 f., Steinmetz, „Rezeption und Interpretation“, S. 41. Warning, „Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik“, S. 31 f. Zur kritischen Diskussion von Isers Konzept der Leerstelle vgl. Simon-Schäfer, Roland, „Die Rezeptionsästhetik und das Wertungsproblem in der Kunst“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 214/1977, S. 1–17, hier S. 8 f.; Richter, „Wirkungsästhetik“, S. 527 ff.
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Die Rezeptionsästhetik ist von ihren Vertretern an zwei prominent gewordenen Beispielen erprobt worden. Einmal von Jauß, neben anderen Arbeiten, anhand der Racine-Rezeption Goethes; von Iser am Beispiel der Entwicklung des modernen englischen Romans.63 Im Gefolge dieser Arbeiten ist eine Reihe von Untersuchungen entstanden, die den rezeptionstheoretischen jedoch zunehmend in einen narratologischen Ansatz überführen. Das ergibt sich folgerichtig aus der hermeneutischen Grundlage. In der Mitte der 1970er-Jahre setzt sich die historische Rezeptionsforschung von der Rezeptionsästhetik ab. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Feststellung, es mangele der Debatte an „konkretem Anschauungsmaterial. Der Blick auf eine bestimmte, gut dokumentierte Erscheinung und ihre mannigfaltigen Auswirkungen könnte daher helfen, die Debatte aus luftleeren Räumen auf die Erde und ihre eigenwilligen Lebensbedingungen zurückzulenken“.64 Mit Mandelkows großangelegter Arbeit zur Goetherezeption setzt eine Etablierung dieses Arbeitsfeldes ein, das vorwiegend an Fallbeispielen pragmatisch und empirisch bearbeitet wird.65
3. Institutionsgeschichtliches Die Entwicklung der Rezeptionsästhetik und der Beginn der Rezeptionsforschung in den 1960er-Jahren wurden schon zeitnah mit der damaligen Legitimationskrise des Faches erklärt. Angesichts des Ungenügens an der weit verbreiteten werkimmanenten Interpretation setzte in 63
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Vgl. Jauß, „Racines und Goethes Iphigenie“; vgl. dazu Kunze, Michael, „Probleme der rezeptionsästhetischen Interpretation, Überlegungen zu Hans Robert Jauss: ‚Racines und Goethes Iphigenie‘“, in: Walther Kindt / Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen, München 1976, S. 133–144; Iser, Der implizite Leser. Schwarz, Egon, „Ein Fall globaler Rezeption: Hermann Hesse im Wandel der Zeiten“, in: Peter Uwe Hohlendahl (Hrsg.), Rezeptionsforschung, Göttingen 1974, S. 50–60. Vgl. Mandelkow, Karl Robert, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, 2 Bde., München 1980, 1989; ders. (Hrsg.), Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, 4 Bde., München 1975–1984. Zu den ersten Arbeiten zählt Thöming, Jürgen C., Zur Rezeption von Musil- und Goethe-Texten. Historizität der ästhetischen Vermittlung von sinnlicher Erkenntnis und Gefühlserlebnissen, München, Salzburg 1974; weitere Arbeiten in den Sammelbänden, beginnend mit Grimm (Hrsg.), Literatur und Leser.
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kurzer Zeit eine intensive Theoretisierung des Faches ein, die die zeittypischen emanzipatorischen und ideologiekritischen Forderungen mit einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung zu verbinden suchte. Alle diese Motive finden sich in den damaligen Rezeptionsuntersuchungen wieder. Die öffentliche Präsentation der Rezeptionsästhetik erfolgte mittels der beiden Antrittsvorlesungen von Jauß und Iser an der Universität Konstanz; sie wurden schon früh als Äußerungen der ‚Konstanzer Schule‘ rubriziert. Beide Vorlesungen stellen zwei unterschiedliche Varianten auf hermeneutischer Grundlage vor. Jauß knüpfte bei Gadamers Hermeneutik an und verband sie mit dem formalistischen Konzept der literarischen Evolution, die er hegelianisch als dialektischen Prozess konzipierte. Er beanspruchte damit eine Synthese von Formalismus und Marxismus unter Ausschluß ihrer problematischen Aspekte. Iser knüpfte an den phänomenologischen Ansatz Roman Ingardens an. Der von Rainer Warnung erstmals 1977 zusammengestellte Sammelband bietet eine autorisierte Präsentation der zentralen Programmschriften der Rezeptionsästhetik und ihrer Tradition dar, eingeleitet durch ein bündiges Vorwort des Herausgebers. Den Ausgangspunkt der historischen Rezeptionsforschung bilden ein perspektivreicher Essay von Harald Weinrich,66 der zwischen empirischem Leser und im Text entworfener Leserrolle differenziert, sowie Mandelkows Ausführungen.67 Jauß kam in dieser Situation die Rolle eines durchsetzungsbewussten Wissenschaftspolitikers zu. Sein zur Lösung der Krise der Literaturgeschichte entworfenes Modell einer dialektischen Abfolge von Produktion und Rezeption als autonome Tradition wollte er im wissenschaftlichen Feld als neues Paradigma der Literaturwissenschaft etablieren. Die Rezeptionsforschung dieser Jahre griff auf die heterogenen Ansätze der Hermeneutik, der Literatursoziologie, des Strukturalismus Prager Provenienz und der Literaturgeschichte zurück.68 Die weitere Entwicklung hat allerdings schon schnell gezeigt, dass der paradigmatische Anspruch der Rezeptionsästhetik nicht aufrecht zu erhalten war. Schon 66
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Weinrich, Harald, „Für eine Literaturgeschichte des Lesers“, in: Harald Weinrich, Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, München 1986, S. 21–36. Mandelkow, „Probleme der Wirkungsgeschichte“. Vgl. Grimm, Rezeptionsgeschichte, S. 10; Bürger, Peter, „Probleme der Rezeptionsforschung“, in: Poetica, 9/1977, S. 446–471.
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früh wurde deren Bedeutung relativiert, wobei Jauß immerhin noch zugestanden wurde, der „Frage überhaupt Geltung“69 verschafft zu haben. Kinder und Weber wiesen ihm vornehmlich die Rolle eines Türöffners zu.70 Als bedeutender und vielversprechender Theorieentwurf galt die Rezeptionsästhetik damals schon nicht mehr. Zwischen programmatischem Anspruch und theoretischer Leistungsfähigkeit bestand ein Hiatus, der nie überbrückt wurde. Mit Beginn der 1970er-Jahre hatte sie sich dennoch vorerst durchgesetzt. Sie bestimmte die Agenda des Germanistentags 1972 und erhielt dort ein Forum, wobei mit Ausnahme der empirischen Rezeptionsforschung bereits alle Facetten des Forschungsfeldes diskutiert wurden.71 Die nachhaltigste Wirkung erzielte die Rezeptionsästhetik in der konkret mit Problemen der Rezeption befassten Didaktik, deren Ausgangspunkt im Beitrag von Eggert, Berg und Rutschky markiert ist. Auf dem Internationalen Germanistentag 1975 war eine ganze Sektion ‚Fragen der Rezeption‘ gewidmet.72 Allerdings zeichnete sich hier bereits eine signifikante Verschiebung ab, indem alle Beiträge sich mit Problemen der historischen Rezeption beschäftigten, während die Rezeptionsästhetik nur mehr am Rande angesprochen und in den einzelnen Beiträgen gewissermaßen der Vollständigkeit halber berührt wurde. Die ersten kritischen Einwände betrafen vor allem die hermeneutische Ausrichtung, die unter dem Stichwort der Textzentriertheit gefasst wurde, die Ausschließung der Rezipienten sowie die Orientierung an der Autonomieästhetik als Maßstab für den Werkbegriff. Diese war sowohl aus der Perspektive 69 70
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Link, „Rezeptionsforschung“, S. 48. Vgl. Kinder, Hermann / Weber, Heinz-Dieter, „Handlungsorientierte Rezeptionsforschung in der Literaturwissenschaft“, in: Dieter Kimpel / Beate Pinkerneil (Hrsg.), Methodische Praxis der Literaturwissenschaft. Modelle der Interpretation, Kronberg 1975, S. 223–258; hier S. 225. Vgl. in Müller-Seidel, Walter in Verb. mit Fromm, Hans / Richter, Karl (Hrsg.), Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München 1974 unter anderen die Beiträge: Eggert, Hartmut / Berg, Hans Christoph / Rutschky, Michael, „Zur notwendigen Revision des Rezeptionsbegriffs“, S. 423–432; Ehrismann, Otfried, „Thesen zur Rezeptionsgeschichtsschreibung“, S. 123–131; Mandelkow, Karl „Robert, Rezeptionsästhetik und marxistische Literaturtheorie“, S. 379–388; Haubrichs, Wolfgang, „Zur Relevanz von Rezeption und Rezeptionshemmung in einem kybernetischen Modell der Literaturgeschichte. Ein Beitrag zum Problem der Periodisierung“, S. 97–121. Vgl. Forster, Leonard / Roloff, Hans-Gert (Hrsg.), Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975, Heft 4, Frankfurt a. M. 1976, S. 8–110.
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der Mediävistik und Barockforschung als auch aus der der Avantgardeforschung unhaltbar. Schließlich ignorierte die Rezeptionsästhetik vollständig nichtkanonische Literatur. Schon nach wenigen Jahren konnte Barck feststellen, die Rezeptionsforschung sei in mehrere methodologisch unterschiedliche Richtungen zerfallen, eine Integration nicht in Sicht.73 Der in der DDR zeitgleich und offenbar unabhängig betriebenen Theoriebildung zur Ausarbeitung eines rezeptionsästhetischen Forschungsprogramms74 waren bibliothekswissenschaftliche Arbeiten und literaturpolitische Initiativen vorausgegangen. Institutioneller Ausgangspunkt war die Einrichtung des Projekts Kultur des Lesens am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL). Im Rückblick sind vier anregende Problemfelder namhaft gemacht worden; „(1) die Leserlenkung um und für den Sozialismus, (2) die entsprechende Ausrichtung der Literaturpolitik, (3) die Aneignung des ‚Erbes‘ unter der Direktive der ‚Parteilichkeit‘, (4) die Auseinandersetzung mit der ‚bürgerlichen‘ Wissenschaft“.75 Neben diesem in der Wahrnehmung dominierenden Projekt lassen sich zwei weitere Zentren ausmachen, die von Dietrich Sommer und Dietrich Löffler verfolgte Literatursoziologie und die von Hans-Georg Werner und Gott73
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Vgl. Barck, Karlheinz, „Zur Kritik des Rezeptionsproblems in bürgerlichen Literaturauffassungen“, in: Naumann / Schlenstedt / Barck / Kliche / Lenzer, Gesellschaft – Literatur – Lesen, S. 99–178, S. 510–527, hier S. 102 f. Vgl. zur wechselseitigen Kritik Mandelkow, „Rezeptionsästhetik und marxistische Literaturtheorie“; Naumann, „Dilemma der ‚Rezeptionsästhetik‘“. Danneberg, Lutz / Schernus, Wilhelm / Schönert, Jörg, „Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR. Wissenschaftswandel unter den Bedingungen des sozialistischen Systems“, in: Gerhard P. Knapp / Gerd Labroisse (Hrsg.), 1945–1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 643–702, hier S. 664; vgl. außerdem Gilli, Yves, „Texte littéraire. Realité sociale et histoire. Une analyse de la critique de la RDA à l’encontre des l’esthétique de la réception“, in: Texte littéraire et histoire. Approche théorique et pratique à la lumière des recentes recherches européennes, Paris 1985, S. 33–41; Adam, Wolfgang / Dainat, Holger / Schandera, Gunter (Hrsg.), Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung?, Heidelberg 2003; Funke, Mandy, Rezeptionstheorie – Rezeptionsästhetik. Betrachtungen eines deutsch-deutschen Diskurses, Bielefeld 2004. Zur Erbeproblematik vgl. Weimann, Robert, „Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte“, in: Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik, S. 238–268; Dahnke, Hans-Dietrich, Erbe und Tradition in der Literatur, Leipzig 1977; Dautel, Klaus, Zur Theorie des literarischen Erbes in der ‚entwickelten sozialistischen Gesellschaft‘ der DDR. Rezeptionsvorgabe und Identitätsangebot, Stuttgart 1980; Kaufmann, Hans, Versuch über das Erbe, Leipzig 1980.
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hard Lerchner konzipierte Wirkungsästhetik.76 Ein wesentlicher Differenzpunkt zur Konstanzer Schule liegt darin, dass die DDR-Rezeptionsästhetik sich nicht als rein hermeneutische Richtung positionierte, sondern stets um empirisch-soziologische Anschlüsse bemüht blieb. In den 1980er-Jahren vollzog sich eine empirische Wende.77 Wie im Westen verblasste auch hier die Ausstrahlung des rezeptionsästhetischen Paradigmas zusehends. Den Zenit ihrer Wirkung hatte die Rezeptionsästhetik Mitte der 1970er-Jahre wohl schon überschritten. Sammelbände kompilierten ihre zentralen Texte; eine Reihe von Fachzeitschriften stellten Einzelhefte zur Diskussion zur Verfügung. In Poetica wurden 1975 rezeptionsästhetische Probleme diskutiert; eher rezeptionsgeschichtlich ausgerichtet waren die Hefte der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Das von Peter Uwe Hohendahl herausgegebene Heft 15 behandelte die Rezeptionsforschung; das von Wolfgang Haubrichs herausgegebene Heft 19/20 ging dem Zusammenhang von Edition und Wirkung nach.78 Einen letzten Höhepunkt markiert der Komparatistentag 1979, der den Protagonisten in Ost und West ein Forum bot. Dort präsentierte Jauß seine Version der Geschichte: „Besondere Beachtung und außer Landes auch das Epitheton ‚Konstanzer Schule‘ erwarb sich dabei die Konstanzer Literaturwissenschaft. Ihre Gründung war die Idee von fünf Professoren der Anglistik, Germanistik, Latinistik, Romanistik und Slavistik, die 1966 die Leitung von Großinstituten aufgegeben hatten, um an der Konstanzer Reform mitzuwirken. Wolfgang Iser, Wolfgang Preisendanz, Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Jurij Striedter konstituierten sich als Gruppe; sie ergrif76
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Vgl. Höhle, Thomas / Sommer, Dietrich (Hrsg.), Probleme der Literatursoziologie und der literarischen Wirkung, Halle 1978; Lerchner, Gotthard, „Zusammenwirken linguistischer, semiotischer und literaturwissenschaftlicher Methoden in der Wirkungsforschung“, in: Weimarer Beiträge, 25/1979, 8, S. 29–46; Sommer, Dietrich, „Gegenstände und Aufgaben der literarischen Wirkungsforschung“, in: Weimarer Beiträge, 25/1979, 8, S. 5–13; Werner, Hans-Georg, „Methodische Probleme wirkungsorientierter Untersuchungen zur Dichtungsgeschichte“, in: Weimarer Beiträge, 25/1979, 8, S. 14–28; vgl. dazu Funke, Rezeptionstheorie – Rezeptionsästhetik, S. 11 ff. Vgl. Sommer, Dietrich / Löffler, Dietrich / Walther, Achim / Scherf, Eva Maria (Hrsg.), Leseerfahrung Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen, Berlin, Weimar 1983; Scherf, Eva Maria, „Motiv- und zielbestimmter Umgang mit Texten. Überlegungen zu einem funktionellen Rezeptionsmodell“, in: Weimarer Beiträge, 35/1989, S. 1980–1995. Weitere Beispiele: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 3/1974; Deutschunterricht, 28/1977, 2; später Teorijska Istraˇzivanja, 1/1980.
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fen die gebotene Chance zur Entwicklung eines neuen Konzepts der Literaturwissenschaft, für die es zu dieser Zeit im Inland wie im Ausland noch kein Vorbild gab. Dieses Konzept zielte darauf, die herkömmlichen Studiengänge nationaler Philologien in die neue, interdisziplinäre Einheit einer Literaturwissenschaft zu überführen, die auf allgemeiner Theoriebildung, also nicht auf bloßer vergleichender Literaturbetrachtung zu begründen war. Theoriebildung erfordert eine Öffnung der philologischhistorischen Praxis auf wissenschaftliche Erfordernisse, die neue Schulrichtungen im Ausland (russischer Formalismus, Prager Strukturalismus, New Criticism in den USA, Nouvelle Critique in Frankreich) schon paradigmatisch aufgenommen hatten, für die Philologischen Seminare im Nachkriegsdeutschland aber ein großer Nachholbedarf geblieben waren. Die Konstanzer Literaturwissenschaftler haben bei der Aufarbeitung dieser methodischen Vorgaben von Anbeginn ein eigenes Konzept, die so genannte ‚Rezeptions- und Wirkungstheorie‘ der Literatur entwickelt, in den folgenden Jahren zur Textwissenschaft weitergeführt und schließlich auf einen Begriff von ‚Kommunikationswissenschaft‘ erweitert, der eine enge Zusammenarbeit mit benachbarten Disziplinen wie Textlinguistik, Soziologie und philosophischer Hermeneutik mit sich brachte.“79 Für den deutschsprachigen Raum lässt sich um 1980 beobachten, dass die Rezeptionsästhetik theoretisch stagniert und nicht mehr weiterentwickelt wird, obwohl insbesondere Jauß programmatisch aktiv bleibt. Im Gegensatz dazu ist die historische Rezeptionsforschung als Forschungsfeld etabliert. In zunehmend unüberschaubarer Menge werden Untersuchungen publiziert, ohne dass theoretische Modellbildungen entwickelt würden. Außerhalb des deutschsprachigen Raums ist eine intensive Rezeption in den Niederlanden zu verzeichnen,80 die zunehmend die Richtung empirischer Forschungen einschlug. In den USA wurde die Rezeptionsästhetik weitgehend ignoriert.81 Weder die Publikation eines Sammelban79
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Jauß in Konstantinovic/Naumann/Jauß (Hrsg.), Literary Communication and Reception, S. 13. Vgl. Steinmetz, Horst, „Assimilation. Zur Aufnahme der Rezeptionsästhetik in den Niederlanden“, in: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990), hrsg. in Zusammenarbeit mit Böhme, Hartmut und Schönert, Jörg, Stuttgart, Weimar 1996, S. 337–345. Vgl. Hohendahl, Peter Uwe, „Beyond Reception Aesthetics“, in: New German Critique, 28/1983, S. 108–146.
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des, der die wichtigsten Protagonisten dem amerikanischen Publikum vorstellte,82 noch die unermüdlichen Bemühungen Robert Holubs, der immer wieder für die Rezeptionsästhetik warb,83 änderten daran etwas, obwohl mit dem ‚reader-response criticism‘ eine vergleichbare Richtung in den USA bereits ausgebildet war.84 Holub war der Auffassung, ihre Attraktivität habe mit der der breit rezipierten poststrukturalistischen Theorien nicht mithalten können. Die Rezeptionsästhetik als paradigmatische Weiterentwicklung der hermeneutischen Tradition hob sich von der werkimmanenten Interpretation kritisch ab. Insbesondere die Auflösung des ontologischen Werkbegriffs markiert eine entscheidende Differenz. Weitere Frontlinien verliefen zum Marxismus, dessen heteronomer Literaturkonzeption Jauß den Entwurf einer autonomen Literaturgeschichte entgegenhielt.85 Diese Frontlinie wurde allerdings später insoweit modifiziert, als Naumann und Jauß die Rezeptionsästhetik als gemeinsames Projekt in politisch divergenten Kontexten vertraten. Das Verhältnis zum Formalismus und zum Prager Strukturalismus wurde als Fortsetzung und zugleich kategoriale Erweiterung um die soziologische Komponente verstanden. Da die Rezeptionsästhetik dezidiert die Rezeption als zentrales Untersuchungsfeld angesehen hatte, ist aus der Distanz gesehen völlig unverständlich, dass sie sich so scharf gegen empirisch-soziologische Methoden abgrenzte.86 Insofern hat sie zwar den Blick auf die Rezeption gerichtet, sie aber letztlich faktisch nicht als Forschungsziel verstanden und als Forschungsproblem ernst genommen. Und das aus der Innensicht konsequent: Geht es um den Text allein, dann stehen Modalitäten tatsächlicher Rezeption nicht zur Debatte, ist tatsächliche Rezeption gerade nicht Forschungsgegenstand.
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Vgl. Suleiman, Susan R. / Crosman, Inge (Hrsg.), The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton 1980. Vgl. Holub, Robert C., „Trends in Literary Theory. The American Reception of Reception Theory“, in: German Quarterly, 55/1982, S. 80–96; Holub, Robert C., Reception Theory. A Critical Introduction, London, New York 1984; Holub, Robert C., „Zur amerikanischen Rezeption der Rezeptionsästhetik“, in: Frank Trommler (Hrsg.), Germanistik in den USA. Neue Entwicklungen und Methoden, Opladen 1989, S. 196–220; Holub, Robert C., Crossing Borders. Reception Theory, Poststructuralism, Deconstruction, Madison 1992, S. 3 ff. Vgl. Tompkins, Jane P. (Hrsg.), Reader-Response Criticism. From Formalist to PostStructuralism, Baltimore, London 1980. Vgl. kritisch Weimann, „Rezeptionsästhetik“. Vgl. Zimmermann, Literaturrezeption.
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4. Publikationen Weder die Konstanzer Schule noch die Gruppe um Manfred Naumann und Dieter Schlenstedt vermochte ihre Programmatik theoretisch konsistent auszuarbeiten und in operationalisierbare Forschungsfragen umzusetzen. Die Erschöpfung der Theoriediskussion um 1980 zeigen die seither zu verzeichnenden historischen Rekapitulationen und Resümees an, die die Rezeptionsästhetik als aufgegebenes, nicht mehr entwicklungsfähiges Projekt zu erkennen geben.87 Jauß hat seinen Ansatz nie präzisiert.88 Schon 1990 hieß es, die Rezeptionsästhetik sei „of merely historical interest“.89 Diesen Eindruck bestätigte später auch Warning, der mit einigen einschlägigen Studien als Protagonist der Konstanzer Schule hervorgetreten war. „Ich sehe hierin den Grund dafür, dass jene Form der ‚Rezeptionsgeschichte‘, auf die hin Jauß die ‚Rezeptionsästhetik‘ so nachdrücklich perspektivierte, nie recht Wirklichkeit werden wollte. Er selbst ist über Versuche in Artikelform nie hinausgelangt; für seinen engeren Schülerkreis gilt dasselbe, und wo man Jaußens Anregungen gründlicher aufnehmen und in eine wirklich neue Form von Literaturgeschichtsschreibungen einbringen wollte, ist man über umfangreiche Dokumentationen nicht hinausgelangt“.90 Die Arbeiten Isers weisen im Blick auf ihre theoretische Grundlegung gravierende Mängel auf, die eine Operationalisierung kaum ermöglicht haben. Seine Terminologie ist schwer zu rekonstruieren, das eklektische Verfahren führt zur Verbindung theoretisch heterogener Konzeptionen, die nicht auf einander abgestimmt sind.91 Die Konstanzer Rezeptionsästhetik hat ihre größte Wirkung im unmittelbaren Anschluss an die beiden Antrittsvorlesungen von Jauß und Iser entfaltet, die als programmatische Gründungsakte gelesen werden können. Manfred Naumann stellte das Konzept seiner Forschergruppe 1970 in den Weimarer Beiträgen vor. Das fünf Jahre später veröffentliche Handbuch Gesellschaft – Literatur – Lesen bildet die detaillierte Ausarbei87
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Vgl. Jauss, Hans Robert, „Die Rezeptionsästhetik“, in: Teorijska Istra ivanja, 1/1980, S. 7–13; Barck, „Rezeptionsästhetik und soziale Funktion“. Vgl. Wünsch, „Wirkung und Rezeption“, S. 904 f. Zutshi, Margot, „Hans Robert Jauss’s Rezeptionsästhetik – Theory and Application“, in: Richard Sheppard (Hrsg.), New Ways in Germanistik, New York, Oxford, München 1990, S. 95–111; hier S. 109. Warning, Rainer, „Rezeptionsforschung. Historischer Rückblick und Perspektiven“, in: Adam/Dainat/Schandera (Hrsg.), Wissenschaft und Systemveränderung, S. 57–68, hier S. 61. Vgl. ausführlich Richter, „Wirkungsästhetik“, S. 521.
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tung eines Rahmenkonzepts, in dem alle wesentlichen Aspekte ausgeführt sind. Dabei ist es geblieben.92 Marianne Wünsch hat seinerzeit Jauß’ Anspruch richtig charakterisiert: „Sein Ansatz schien zugleich imstande, wenigstens partiell die neuen Theorien zu Kommunikation und Semiotik, insbesondere auch strukturalistische Ansätze, einzubeziehen; insofern er den Leser für die Literaturtheorie fruchtbar machen wollte, schien er auch offen für die damals aktuell gewordenen Probleme der „Massen“- und „Trivialliteratur“ […] und für soziologisch oder sozialgeschichtlich orientierte Fragestellungen, wie er denn auch das Thema der sozialen Funktion von Lit. umspielt hat. Das Programm schien zu versprechen, die Bedürfnisse der Vertreter älterer wie neuerer Fragestellungen und methodischer Richtungen gleichermaßen befriedigen zu können: alle alten und neuen Fragen wurden als sinnvoll in eine Einheit hist. Denkens interpretierbar gesetzt, und eine radikale Erneuerung wurde für möglich gehalten, ohne sich doch wesentlich von den wissenschaftstheoretischen Fundamenten einer Hermeneutik des Gadamer’schen Typus entfernen zu müssen; kurz: eine Einheit der Widersprüche geradezu hegelianischen Ausmaßes schien geschaffen […].“93 Aus heutiger Perspektive lässt sich die Rezeptionsästhetik nicht als Paradigmawechsel bewerten; man kann höchstens feststellen, dass Jauß den Versuch unternahm, angesichts des tief greifenden Wandels in den Geisteswissenschaften ein theoretisches Konzept anzubieten. Sein paradigmatischer Anspruch wurde schon früh in Zweifel gezogen.94 Der Versuch, das Feld der Rezeption theoretisch zu monopolisieren, scheiterte an den konzeptionellen Schwächen und der hermeneutischen Ausrichtung. Die verschiedenen Aspekte und Fragestellungen in diesem Feld vermochte die Rezeptionsästhetik schon in ihrer ersten Phase nicht zu integrieren. Insofern lässt sie sich als Katalysator verstehen – sie beschleunigte die Entwicklungen, ohne sie konzeptionell prägen zu können. Mitte der 1970er-Jahre differenzierte sich das Forschungsfeld in die verschiedenen einzelnen Richtungen aus. Mit den Arbeiten von Groeben, Heuermann/Hühn/Röttger und Faulstich setzte die empirische Rezeptionsforschung ein.95 Ein zweiter Strang griff Anregungen von 92 93 94 95
Vgl. Barck, „Rezeptionsästhetik und soziale Funktion“, S. 1141. Wünsch, „Wirkung und Rezeption“, S. 904. Vgl. Link, „Appellstruktur“. Vgl. Groeben, Norbert, „Wissenspsychologische Dimensionen der Rezeptionsforschung. Zur Präzisierung der kommunikationswissenschaftlichen Funktion
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Harald Weinrich auf und initiierte die historische Leserforschung.96 Die nachhaltigsten Folgen hatte die Rezeptionsästhetik für die Didaktik.97 Kaum Auswirkungen hatte sie auf die historische Rezeptionsforschung, die sich als am Einzelfall orientierte (literar-)historische Richtung weitgehend theorielos etablierte, aber den reichhaltigsten Ertrag erzielte.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die Defizite der Rezeptionsästhetik lassen sich klar benennen und sind auch früh schon gesehen worden. Die hermeneutische Orientierung führte zu einer schroffen Rückweisung empirischer Verfahren mit der Folge, dass die tatsächlich auf die Erforschung von Rezeption ausgerichtete Forschung sich nicht nur unabhängig von der Rezeptionsästhetik, sondern geradezu gegen sie positionieren musste.98 Die Rezeptionsästhetik erwies sich als theoretisch unausgegorene Konzeption, die nicht einmal auf ihrem eigenen Feld das dringliche Problem der Differenzierung von Interpretation und Rezeption zu lösen vermochte, so dass vor „hermeneutische[m] Nihilismus“99 gewarnt wurde. Das Konzept einer Literaturgeschichte als fortlaufend dynamischer Prozess war aufgrund der Diskrepanz von Aufwand und Ergebnis völlig dysfunktional entworfen.100 Das eigene Programm konnte nicht einmal ansatzweise realisiert
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einer empirischen Literaturwissenschaft“, in: Peter Uwe Hohlendahl (Hrsg.), Rezeptionsforschung, Göttingen 1974, S. 61–79; Heuermann, Hartmut / Hühn, Peter / Röttger, Brigitte (Hrsg.), Literarische Rezeption. Beiträge zur Theorie des Text-Leser-Verhältnisses und seiner empirischen Erforschung, Paderborn 1975; Faulstich, Werner, Domänen der Rezeptionsanalyse. Probleme – Lösungsstrategien – Ergebnisse, Kronberg 1977; Groeben, Norbert, Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Paradigmadurch Methodendiskussion an Untersuchungsbeispielen, Tübingen 1980. Vgl. Schön, Erich, „Über einige gesellschaftliche Rezeptionsbedingungen von Literatur“, in: Der Deutschunterricht, 29/1977, 2, S. 26–48. Vgl. im Anschluß an Eggert / Berg / Rutschky: Weber, Heinz-Dieter (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Der Deutschunterricht, 29/1977, 2; Flaschka, Horst, „Rezeptionsästhetik im Literaturunterricht. Eine Einführung in die Schwerpunkte der Theorie“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 24/1979, 1, S. 34–44; 24/1979, 2, S. 36–41. Vgl. Wittkowski, Wolfgang, „Unbehagen eines Praktikers an der Theorie. Zur Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß“, in: Colloquia Germanica, 12/1979, S. 1–27. Van Ingen, „Revolte der Leser“, S. 96. Vgl. Moog-Grunewald, „Einfluß- und Rezeptionsforschung“, S. 55. Dort auch Beispiele.
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werden.101 Die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Problemfelder, für die die Rezeptionsästhetik trotz ihres holistischen Anspruchs keine arbeitsfähige Grundlage bereitstellte, führte zum Zerfall des Konzepts. Es ist Ende der 1980er-Jahre faktisch aufgegeben worden; seither finden sich auch nur mehr historisierende Zusammenfassungen des Gesamtkonzepts.102 Folgerichtig ist die Rezeptionsästhetik zum Problem wissenschaftshistorischer Untersuchungen geworden.103
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Jauß, Hans Robert, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1969. Die Konstanzer Antrittsvorlesung von 1967 ist das Manifest der Rezeptionsästhetik. Jauß skizziert hier sein hochambitioniertes Projekt einer Neubegründung der Literaturgeschichte aus dem Prozess der Rezeption. Iser, Wolfgang, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970.
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Vgl. Danneberg/Schernus/Schönert, „Rezeption der Rezeptionsästhetik“, S. 675. Vgl. Solms, Wilhelm/Schöll, Norbert, „Rezeptionsästhetik“, in: Friedrich Nemec/ Wilhelm Solms (Hrsg.), Literaturwissenschaft heute, 7 Kapitel über ihre methodische Praxis, München 1979, S. 154–196; Moog-Grunewald, „Einfluß- und Rezeptionsforschung“; Zutshi, „Jauß’ Rezeptionsästhetik“; Müller, Jürgen E., „Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 176–200; Haefner, Gerhard, „Rezeptionsästhetik“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, Trier 1993, S. 107–118; Fokkema, Douwe/Ibsch, Elrud, Theories of Literature in the Twentieth Century. Structuralism Marxism Aesthetics of Reception Semiotics. With a new extended preface, 2. Aufl., London, New York 1995, S. 95 ff.; Richter, „Wirkungsästhetik“; Schöttker, Detlev, „Theorien der literarischen Rezeption. Rezeptionsästhetik, Rezeptionsforschung, Empirische Literaturwissenschaft“, in: Arnold/Detering (Hg.), Grundzüge, S. 537–554; Kalinowski, Isabelle, „Hans Robert Jauss et l’esthétique de la réception. De ‚L’histoire de la littérature comme provocation pour la science de la littérature‘ (1967) à ‚Expérience esthétique et herméneutique littéraire‘ (1982), in: Michel Espagne/ Jacques Le Rider (Hrsg.), Théorie de la littérature, Paris 1997, S. 151–172. Vgl. Danneberg/Schernus/Schönert, „Rezeption der Rezeptionsästhetik“; Adam/ Dainat/Schandera (Hrsg.), Wissenschaft und Systemveränderung; Funke, Rezeptionstheorie – Rezeptionsästhetik.
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In seiner Konstanzer Antrittsvorlesung stellt Iser erstmals seine Leerstellen- und Leserkonzeption vor. Mandelkow, Karl Robert, „Probleme der Wirkungsgeschichte“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 2/1970, 1, S. 71–84. In diesem paradigmatischen Aufsatz, der im Kontext der groß angelegten Wirkungsgeschichte Goethes steht, stellt Mandelkow sein Konzept der Wirkungsgeschichte vor. Iser, Wolfgang, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972. Am Beispiel der Entwicklung des englischsprachigen Romans der Neuzeit geht Iser dem impliziten Leser nach. Die Analyse ist wesentlich narratologisch; Modellbildung und historische Analyse lassen sich kaum voneinander abheben. Jauß, Hans Robert, „Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode“, in: Neue Hefte für Philosophie, 1973, 4, S. 1–46. Vielzitierte Fallstudie. Eggert, Hartmut / Berg, Hans Christoph / Rutschky, Michael, „Zur notwendigen Revision des Rezeptionsbegriffs“, in: Walter Müller-Seidel in Verb. mit Hans Fromm und Karl Richter (Hg.), Historizität in Sprachund Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München 1974, S. 423–432. Mit diesem Vortrag stellen die Autoren eine auf Probleme der Literaturdidaktik ausgerichtete kritische Diskussion der Rezeptionsästhetik vor. Ehrismann, Otfried, „Thesen zur Rezeptionsgeschichtsschreibung“, in: Walter Müller-Seidel in Verb. mit Hans Fromm und Karl Richter (Hrsg.), Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München 1974, S. 123–131. Ehrismann stellt einen Entwurf zur Differenzierung des Materials seiner später erschienenen umfangreichen Arbeit zur Rezeption des Nibelungenliedes vor. Hohendahl, Peter Uwe (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente zur empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung, Frankfurt a. M. 1974
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Der Sammelband ist primär literatursoziologisch ausgerichtet. Er machte die marxistische Rezeptionsästhetik erstmals außerhalb der DDR bekannt. Labroisse, Gerd (Hrsg.), Rezeption – Interpretation. Beiträge zur Methodendiskussion, Amsterdam 1974 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 3). Mit diesem theoretisch avancierten Sammelband beginnt die Rezeptionsforschung in den Niederlanden. Mandelkow, Karl Robert, „Rezeptionsästhetik und marxistische Literaturtheorie“, in: Walter Müller-Seidel in Verb. mit Hans Fromm und Karl Richter (Hrsg.), Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, München 1974, S. 379–388. Kritische und wohlabgewogene Vorstellung des von Naumann vorgestellten Konzepts. Grimm, Gunther (Hrsg.), Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke, Stuttgart 1975. Der Sammelband enthält ein ausführliches (später überarbeitet in die Monographie aufgenommenes) Vorwort des Herausgebers und stellt gut gewichtet Einzelstudien zu theoretischen Grundfragen sowie Fallstudien zusammen. Gumbrecht, Hans Ulrich, „Konsequenzen der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationssoziologie“, in: Poetica, 7/1975, S. 388–413 Vorschlag, das Problem der Frage nach der richtigen oder falschen Konkretisation im Rückgriff auf die intentio auctoris zu lösen. Hohendahl, Peter Uwe (Hrsg.), Rezeptionsforschung, Göttingen 1975 [LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 15]. Sammelband mit primär rezeptionsgeschichtlich ausgerichteten Beiträgen. Jauß, Hans Robert, „Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur“, in: Poetica, 7/1975, S. 325–344. Plädoyer für eine Literaturgeschichte des Lesers.
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Kinder, Hermann / Weber, Heinz-Dieter, „Handlungsorientierte Rezeptionsforschung in der Literaturwissenschaft“, in: Dieter Kimpel / Beate Pinkerneil (Hrsg.), Methodische Praxis der Literaturwissenschaft. Modelle der Interpretation, Kronberg 1975, S. 223–258. Anz, Heinrich, „Erwartungshorizont. Ein Diskussionsbeitrag zu Hans Robert Jauß’ Begründung einer Rezeptionsästhetik der Literatur“, in: Euphorion, 70/1976, S. 398–408. Versuch einer terminologischen Klärung des „Erwartungshorizonts“ vor dem Hintergrund der Phänomenologie. Naumann, Manfred, „Literatur und Leser“, in: Weimarer Beiträge, 16/1970, 5, S. 92–116. Gründungsmanifest der DDR-Rezeptionsästhetik. Naumann, Manfred, „Autor – Adressat – Leser“, in: Weimarer Beiträge, 17/1971, 11, S. 163–169. Naumann präzisiert in Auseinandersetzung mit Iser seine Vorstellung der ‚Leser‘-Seite im Rezeptionsprozess. Weimann, Robert, „Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte“, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente zur empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung, Frankfurt a. M. 1974, S. 238–268. Auseinandersetzung mit der Theorie des kulturellen Erbes. Ausgangspunkt ist die normative Kraft älterer Dichtung überwundener Gesellschaftsstufen noch im real existierenden Realismus als Binnenproblem der marxistischen Literaturtheorie. Naumann, Manfred / Schlenstedt, Dieter / Barck, Karlheinz / Kliche, Dieter / Lenzer, Rosemarie, Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin, Weimar 1975. Theoretisch ausgefeiltes Standardwerk der DDR-Rezeptionsästhetik. Naumann, Manfred, Zum Problem der ‚Wirkungsästhetik‘ in der Literaturtheorie, Berlin 1975. Die kritische Auseinandersetzung mit der Wirkungsforschung bietet einen Zwischenbericht. Naumann plädiert gegen die Verabsolutierung der Rezeptionsseite.
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Stierle, Karlheinz, „Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten“, in: Poetica, 7/1975, S. 345–387. Iser, Wolfgang, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976. In dieser Arbeit legte Iser seine ausgearbeitete Theorie des Leseaktes im Anschluß an Ingarden vor. Link, Hannelore, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976. Turk, Horst, Wirkungsästhetik. Theorie und Interpretation der literarischen Wirkung, München 1976. Grimm, Gunter, Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie, München 1977. Der seinerzeit vielschichtigste und durchdachteste Versuch einer Konzeption, die Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte miteinander verknüpft und auf zahlreiche Problemfelder eingeht. Naumann, Manfred, „Das Dilemma der ‚Rezeptionsästhetik‘“, in: Weimarer Beiträge, 23/1977, 1, S. 5–21. Marxistische Kritik an der ‚bürgerlichen‘ Rezeptionsästhetik. Weber, Heinz-Dieter (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Der Deutschunterricht, 29/1977, 2. Weber Höhle, Thomas / Sommer, Dietrich (Hrsg.), Probleme der Literatursoziologie und der literarischen Wirkung, Halle 1978. Hoogeveen, Jos, Funktionalistische Rezeptionstheorie. Eine Auseinandersetzung mit rezeptionsästhetischen Positionen in der Literaturwissenschaft, Leiden 1978. Solms, Wilhelm / Schöll, Norbert, Rezeptionsästhetik, in: Friedrich Nemec / Wilhelm Solms (Hrsg.), Literaturwissenschaft heute. 7 Kapitel über ihre methodische Praxis, München 1979, S. 154–196. Sommer, Dietrich, „Gegenstände und Aufgaben der literarischen Wirkungsforschung“, in: Weimarer Beiträge, 25/1979, 8, S. 5–13.
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Stückrath, Jörn, Historische Rezeptionsforschung. Ein kritischer Versuch zu ihrer Geschichte und Theorie, Stuttgart 1979. Exemplarisch vorgehende Analyse der historischen Rezeptionsforschung vor allem des 19. Jahrhunderts. Warning, Rainer (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1979. Der von der Schule selbst ‚autorisierte‘ Sammelband präsentiert die zentralen Texte der Konstanzer Rezeptionsästhetik, stellt in Auszügen die Vorläufer vor und bietet ein klug resümierendes einführendes Vorwort. Wittkowski, Wolfgang, „Unbehagen eines Praktikers an der Theorie. Zur Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß“, in: Colloquia Germanica, 12/1979, S. 1–27. Scharfe und bedenkenswerte Kritik an theoretischen Unzulänglichkeiten, vor allem an der mangelnden Unterscheidung von Rezeption und Interpretation in der Rezeptionsästhetik. Jauß, Hans Robert, „Die Rezeptionsästhetik“, in: Teorijska Istra ivanja, 1/1980, S. 7–13. Weiterführung der Programmatik. Konstantinovic, Zoran / Naumann, Manfred / Jauß, Hans Robert (Hrsg.), Literary Communication and Reception / Communication litteraire et reception / Literarische Kommunikation und Rezeption, Innsbruck 1980. Der umfangreiche Band dokumentiert den Komparatistentag, der ausschließlich Fragen der Rezeption gewidmet war. Neben ausführlichen Zusammenfassungen der Hauptvertreter der Rezeptionsästhetik ist eine Vielzahl von Fallstudien abgedruckt. Reese, Walter, Literarische Rezeption, Stuttgart 1980. Suleiman, Susan R. / Crosman, Inge (Hrsg.), The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton 1980. Tompkins, Jane P. (Hrsg.), Reader-Response Criticism. From Formalist to PostStructuralism, Baltimore, London 1980.
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Mandelkow, Karl Robert, „Rezeptionsgeschichte als Erfahrungsgeschichte. Vorüberlegungen zu dem Versuch einer Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland“, in: Hans-Joachim Mähl / Eberhard Mannack (Hrsg.), Studien zur Goethezeit. Erich Trunz zum 75. Geburtstag, Heidelberg 1981, S. 153–176. Moog-Grünewald, Maria, „Einfluß- und Rezeptionsforschung“, in: Manfred Schmeling (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1981, S. 49–72. Müller, Jürgen E., Literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorien und empirische Rezeptionsforschung. Mit einem Forschungsmodell, erläutert am Paradigma des französischen Populärromans, Frankfurt a. M., Bern 1981. Wenig wahrgenommener Versuch, Rezeptionsästhetik und tatsächliche Rezeption exemplarisch miteinander zu verknüpfen. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982. Der Sammelband bietet die für die Rezeptionsästhetik zentralen Arbeiten. Schober, Rita, „Die Geschichtlichkeit der Literatur als Problem der Literaturgeschichte“, in: dies., Abbild Sinnbild Wertung. Aufsätze zur Theorie und Praxis literarischer Kommunikation, Berlin, Weimar 1982, S. 163–191, S. 398–402. Schober, Rita, „Rezeption und Realismus“, in: Weimarer Beiträge, 28/1982, 1, S. 5–48. Beide Aufsätze von Schober enthalten eine ausführliche Diskussion der Rezeptionsästhetik mit Einbezug der frühen poststrukturalistischen Ansätze (Barthes u. a.). Weimann, Robert, „‚Rezeptionsästhetik‘ oder das Ungenügen an der bürgerlichen Bildung. Zur Kritik einer Theorie literarischer Kommunikation“, in: ders., Kunstensemble und Öffentlichkeit. Aneignung – Selbstverständigung – Auseinandersetzung, Halle, Leipzig 1982, S. 85–133. Ausführliche und vorhersehbare marxistische Kritik an der ‚bürgerlichen‘ Rezeptionsästhetik.
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Holub, Robert C., Reception Theory. A critical introduction, London, New York 1984. Holubs konzise Einführung ist für das amerikanische akademische Publikum verfasst und geht daher ausführlich auf die deutsche Wissenschaftslandschaft der 1960er-Jahre ein. Naumann, Manfred, Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze, Leipzig 1984. Zusammenstellung der wichtigsten Aufsätze. Wünsch, Marianne, „Wirkung und Rezeption“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, begründet von Paul Merker / Wolfgang Stammler, zweite Auflage, Bd. 4, Sl-Z, hrsg. v. Klaus Kanzog / Achim Masser, Berlin, New York 1984, S. 894–919. Konzise und umfassende Darstellung des gesamten Problemfeldes. Aufgearbeitet und systematisiert sind alle vorliegenden Arbeiten unterschiedlicher Provenienz zum Themenfeld von Wirkung und Rezeption. Maßstabsetzend und nach wie vor nicht überholt. Barck, Karlheinz, „Rezeptionsästhetik und soziale Funktion der Literatur“, in: Weimarer Beiträge, 31/1985, S. 1131–1149. Beilfuß, Wilfried, Der literarische Rezeptionsprozeß. Ein Modell, Frankfurt a. M., Bern, New York / Paris 1987. Ibsch, Elrud / Schram, Dick H. (Hrsg.), Rezeptionsforschung zwischen Hermeneutik und Empirie, Amsterdam 1987. Müller, Jürgen E., „Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien“, in: Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 176–200. Lehmann, Günther K., „Die Theorie der literarischen Rezeption aus soziologischer und psychologischer Sicht“, in: Reinhold Viehoff (Hrsg.), Alternative Traditionen. Dokumente zur Entwicklung einer empirischen Literaturwissenschaft, Braunschweig 1991, S. 251–268. Holub, Robert C., Crossing Borders. Reception Theory, Poststructuralism, Deconstruction, Madison 1992.
Rezeptionsästhetik / Rezeptionstheorie
627
Haefner, Gerhard, „Rezeptionsästhetik“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung, Trier 1993, S. 107–118. Danneberg, Lutz / Schernus, Wilhelm / Schönert, Jörg, „Die Rezeption der Rezeptionsästhetik in der DDR. Wissenschaftswandel unter den Bedingungen des sozialistischen Systems“, in: Gerhard P. Knapp / Gerd Labroisse (Hrsg.), 1945–1995. Fünfzig Jahre deutschsprachige Literatur in Aspekten, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 643–702. Der Beitrag bietet die erste fundierte wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Analyse der Rezeptionsästhetik. Fokkema, Douwe / Ibsch, Elrud, Theories of Literature in the Twentieth Century. Structuralism Marxism Aesthetics of Reception Semiotics, with a new extended preface, 2. Auflage, London, New York 1995. Richter, Matthias, „Wirkungsästhetik“, in: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 516–535. Schöttker, Detlev, „Theorien der literarischen Rezeption. Rezeptionsästhetik, Rezeptionsforschung, Empirische Literaturwissenschaft“, in: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 537–554. Kalinowski, Isabelle, „Hans Robert Jauss et l’esthétique de la réception. De ‚L’histoire de la littérature comme provocation pour la science de la littérature‘ (1967) à ‚Expérience esthétique et herméneutique littéraire‘ (1982)“, in: Michel Espagne / Jacques Le Rider (Hrsg.), Théorie de la littérature, Paris 1997, S. 151–172. Machor, James L. / Goldstein, Philip (Hrsg.), Reception Study. From Literary Theory to Cultural Studies, New York, London 2001. Adam, Wolfgang / Dainat, Holger / Schandera, Gunter (Hrsg.), Wissenschaft und Systemveränderung. Rezeptionsforschung in Ost und West – eine konvergente Entwicklung?, Heidelberg 2003. Der Band bietet die Ergebnisse einer wissenschaftsgeschichtlichen Tagung zur Rezeptionsästhetik, an der auch die wichtigen Wortführer teilgenommen haben.
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Hans-Edwin Friedrich
Simon, Tina, Rezeptionstheorie. Einführungs- und Arbeitsbuch, Frankfurt a. M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2003. Gut durchdachte Einführung, die praxisorientiert die vorliegende Forschung aufgearbeitet hat. Funke, Mandy, Rezeptionstheorie – Rezeptionsästhetik. Betrachtungen eines deutsch-deutschen Diskurses, Bielefeld 2004.
Semiotik
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Semiotik von D ORIS M OSBACH
1. Definition Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen. Sie untersucht alle natürlichen und kulturellen Phänomene, an denen Zeichen beteiligt sind, d. h. Zeichensysteme, Zeichenkomplexe und Zeichenprozesse (Semiosen) im Hinblick darauf, wie Zeichen erzeugt und interpretiert und in welcher Weise mit ihnen Informationen übermittelt werden. Die Untersuchungsgegenstände der Semiotik haben keine einheitliche Ontologie und sind nur über den Zeichenbegriff selbst begrenzt (vgl. 2.1). Der Ausdruck ‚Semiotik‘1 leitet sich vom griechischen Wort für ‚Zeichen‘, ‚‘ (‚semeion‘), ab und wird seit der Gründungsphase eines explizit semiotischen Wissenschaftsbetriebs ab den späten 1960er-Jahren als Bezeichnung für eine allgemeine Zeichenwissenschaft benutzt (vgl. 3.3).
2. Beschreibung 2.1 Der Zeichenbegriff Das ‚Zeichen‘ ist der integrative Schlüsselbegriff der Semiotik und lässt sich in sehr allgemeiner Form mit der scholastischen Formel „aliquid stat pro aliquo“ definieren, einer Relation, die später von Peirce be1
Während etwa in den 1970er-Jahren – besonders in den Ländern des romanischen Sprachgebiets – die Bezeichnung ‚Semiologie‘ als alternativer Ausdruck für die allgemeine Zeichentheorie noch sehr verbreitet war, so ist er inzwischen aus dem wissenschaftlichen Diskurs weitgehend verschwunden. Wird er in modernen zeichentheoretischen Arbeiten benutzt, so handelt es sich häufig um eine spezifischere Verwendung, etwa zur terminologischen Kennzeichnung der Zeichentheorien, die in Saussure’scher Tradition stehen. Vgl. Nöth, Winfried, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2000, S. 3.
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schrieben wurde als „something which stands to somebody for something in some respect or capacity“.2 Für den Ablauf eines Zeichenprozesses müssen insofern mindestens folgende Konstituenten angenommen werden: 1. ein ‚Zeichenträger‘,3 der für etwas anderes als sich selbst steht, nämlich 2. ein ‚Bezeichnetes‘ sowie 3. ein ‚Zeichenempfänger‘, der den Zeichenträger als solchen interpretiert. Die zuletzt genannte Konstituente bringt unablösbar eine vierte Konstituente mit sich: einen situativen ‚Kontext‘, in dem das Zeichen interpretiert wird und der den Verlauf und das Ergebnis des Zeichenprozesses beeinflussen kann. Über den genauen theoretischen Status dieser (und weiterer) Konstituenten des Zeichens herrscht jedoch darüber hinaus bis heute innerhalb der Semiotik weder konzeptuelle noch terminologische Einigkeit.4 So werden Zeichentheorien heute meistens zunächst danach unterschieden, ob sie von einem zwei- oder einem dreistelligen Zeichenmodell ausgehen. Dreistellige Modelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Konstituente des Bezeichneten aufgliedern, indem sie das ‚Referenzobjekt‘ des Zeichens von seiner ‚Bedeutung‘ trennen und beide als Teile des Zeichens betrachten (vgl. 3.). Diese triadisch gegliederten Modelle lassen sich in Anlehnung an Ogden & Richards5 als semiotisches Dreieck schematisieren (Abb. 1). Der bekannteste Vertreter eines dreistelligen Modells ist Peirce.6
2
3
4
5 6
Peirce, Charles Sanders, Collected Papers, Bd. 1–6, Hartshorne, C. & P. Weiss (Hrsg.), Bd. 7–8, Burkes, A.W. (Hrsg.), Cambridge, Mass. 1931–58, § 2.228. Für diese Konstituente wird manchmal auch der Terminus ‚Zeichen‘ benutzt (z. B. stellenweise in den Schriften von Peirce, der diese Konstituente als Zeichen im engeren Sinne auffasst, eine Konstituente, die von ihm aber auch an anderer Stelle genauer „representamen“ genannt wird; vgl. Peirce, Collected Papers, § 2.230. Für Saussure hingegen ist das ‚Zeichen‘ (‚signe‘) immer zweiseitig, besteht also erst als Einheit von ‚signifiant‘ (‚Signifikant‘) und ‚signifié‘ (‚Signifikat‘) (Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1967, S. 78 f.); vgl. auch Hjelmslevs Dyade von ‚udtryk‘ (‚Ausdruck‘) und ‚inhold‘ (Inhalt) (Hjelmslev, Louis, Omkring sprogteoriens grundlæggelse, Kopenhagen 1943); Morris spricht vom ‚sign vehicle‘ (‚Zeichenträger‘) als dem ‚Vermittler‘ des Zeichenprozesses (Morris, Charles W., Foundations of the Theory of Signs, Chicago 1938, S. 19). Den verdienstvollen Versuch vergleichender Übersichten zur Zeichenterminologie unternehmen z. B. Eco, Umberto, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 30; Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 136–141. Vgl. Ogden, Charles K. / Richards, Ivor A., The Meaning of Meaning, New York 1923, S. 11. Vgl. Peirce, Collected Papers, u. a. § 1.372 und § 2.308.
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Abb.1: Das semiotische Dreieck in allgemeiner Terminologie7
Zweistellige Modelle sind dadurch verkürzt, dass sie entweder auf den Einbezug des Referenzobjekts (z. B. in der Saussure’schen Tradition) oder der Bedeutungskonstituente (z. B. im Rahmen extensionaler Semantik) verzichten. Zeichentheorien unterscheiden sich jedoch nicht nur durch die Anzahl der angenommenen Konstituenten und die zugehörigen Terminologien ihrer Zeichenmodelle, sondern auch in ihren Annahmen über die Art der Beziehung von Zeichenträger und Bezeichnetem. So kann man grob die Relationen der ‚Repräsentation‘, der ‚Signifikation‘, der ‚Referenz‘ und ‚Kausalität‘ unterscheiden,8 deren jeweilige Auffassungen sowohl Konsequenzen für die Klassifikation von Zeichen als auch für den Umfang des Objektbereichs der Semiotik haben. Zeichentypologien Zeichen sind in der Semiotik immer wieder nach unterschiedlichen Kriterien typologisiert bzw. klassifiziert worden. Eco9 gibt einen Überblick über die vorgenommenen Einteilungen der Zeichen und unterscheidet zehn verschiedene Kriterien, von denen hier nur einige genannt werden können. So können Zeichen z. B. nach der Art ihrer sensorischen Verarbeitung (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch, gustatorisch), ihren Quellen (organisch vs. anorganisch, tierisch vs. menschlich)10 oder der Reproduzierbarkeit der Zeichenträger unterteilt werden. 7 8 9 10
Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 140. Vgl. ebd., S. 138 f. Vgl. Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, S. 37–77. Vgl. Sebeok, Thomas A., Theorie und Geschichte der Semiotik, Reinbek 1979, S. 44 ff.
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Eco11 selbst schlägt statt einer Typologie der Zeichen eine Typologie der Zeichenerzeugung vor, für die er vier verschiedene Modi annimmt (‚Erkennung‘, ‚Ostension‘, ‚Replikation‘ und ‚Erfindung‘). Einen neueren systematischen Versuch einer Einteilung von Zeichenprozessen unternimmt auch Posner,12 der die Begriffe der Semiotik definitorisch auf Begriffe der intensionalen Logik zurückführt und Zeichenprozesse als spezielle Formen kausaler Prozesse auffasst. Er erreicht durch die Annahme von elementaren Zeichentypen in Kombination mit Reflexionsstufen (d. h. Absichten und Annahmen verschiedener Komplexität) eine mehrdimensionale Hierarchie von Zeichentypen, mit denen potentiell alle Zeichenprozesse bis hin zu komplexen Kommunikationsprozessen rekonstruierbar sind. Die weitaus bekannteste Zeichentypologie beruht jedoch auf den drei Zeichentrichotomien, die Peirce13 in seiner Theorie modelliert hat. Peirce entwickelt darin mit Hilfe der drei Kategorien ‚Erstheit‘, ‚Zweitheit‘ und ‚Drittheit‘ Subzeichenklassen, und zwar jeweils drei für den Zeichenträger (‚representamen‘) selbst, für die (zweistellige) Relation von Zeichenträger und Referenzobjekt (‚object‘) sowie die (dreistellige) Zeichenrelation von Zeichenträger, Bedeutung (‚interpretant‘) und Referenzobjekt (vgl. Abb. 2). Dabei nimmt die Semiotizität und Komplexität der Zeichen von den Zeichenklassen der Erstheit in Richtung der Drittheit zu.14 Die (nicht nur) von Peirce selbst am meisten beachtete und von der modernen Semiotik am produktivsten angewandte Trichotomie ist die Gliederung der Objektrelation.15 Sie unterscheidet die Zeichentypen ‚Ikon‘, ‚Index‘ und ‚Symbol‘ abhängig davon, ob der Zeichenträger aufgrund seiner eigenen Eigenschaften (‚Ikon‘), aufgrund einer unmittelbaren, raum-zeitlichen Beziehung (‚Index‘) oder aufgrund von Gesetzmäßigkeit und Gewohnheit (‚Symbol‘) auf ein Objekt verweist. 11 12
13 14
15
Vgl. Eco, Umberto, Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, S. 289 ff. Vgl. Posner, Roland, „Believing, Causing, Intending: the Basis for a Hierarchy of Sign Concepts in the Reconstruction of Communication“, in: René J. Jorna / Barend van Heusden / Roland Posner (Hrsg.), Signs, Search, and Communication: Semiotic Aspects of Artificial Intelligence, Berlin, New York 1993, S. 215–270. Vgl. Peirce, Collected Papers, § 2.243–2.252. Durch Kombination dieser Subzeichen ergeben sich weitere (wenn auch nicht alle mathematisch möglichen) Zeichenklassen, insgesamt spricht Peirce, Collected Papers, § 2.254–2.265, von zehn Hauptzeichenklassen. Vgl. zu den Peirce’schen Zeichenklassen Colapietro, Vincent M. / Olshewsky, Thomas M. (Hrsg.), Peirce’s doctrine of signs, Berlin 1996. Vgl. Peirce Collected Papers, § 2.275.
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Semiotik
Trichotomie
Respräsentamen
Objektrelation
Interpretantenbezug
Erstheit (Möglichkeit)
Qualizeichen
Ikon
Rhema
Zweitheit (Existenz)
Sinzeichen
Index
Dicent
Drittheit (Gesetz)
Legizeichen
Symbol
Argument
Kategorie
Abb. 2: Die Subzeichenklassen nach Peirce,16 schematisiert von Nöth17 16 17
Angewandt auf das Zeichensystem Sprache dominiert der Zeichentyp des Symbols (vgl. Saussures Konzept der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens), doch lassen sich auch ikonische und indexikalische Phänomene der Sprache beschreiben, und zwar nicht nur für den Gebrauch onomatopoetischer Ausdrücke, sondern auch in Bezug auf Morphologie, Syntax und die Textebene. Roman Jakobson etwa entdeckte Peirce’ Zeichentypen auf seiner „Suche nach dem Wesen der Sprache“ (1965) für sich und leitete „dringende Aufgaben und weit reichende Ausblicke für die Sprachwissenschaft“18 daraus ab, die von einer ganzen Reihe von AutorInnen inzwischen in Angriff genommen bzw. erweitert wurden.19 2.2 Dimensionen der Semiotik Die Semiotik umfasst nach Morris20 drei Zweige (vgl. Abb. 3): 1. die ‚Semantik‘, die die „Signifikation von Zeichen erforscht“,21 sich also damit 16 17 18
19
20 21
Vgl. Peirce, Collected Papers, § 2.227 ff. Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 66. Jakobson, Roman, „Suche nach dem Wesen der Sprache“ in: ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt a. M. 1988, S. 77–98, hier S. 96. Vgl. Nöth, Winfried, „The semiotic potential for iconicity in spoken and written language“, in: Kodikas/Code, 10/1990, S. 191–209; Langendonck, Willy van / de Pater, Wim, „Ikonizität in natürlicher Sprache“, in: Kodikas/Code, 15/1992, S. 3–22; Simone, Raffaele (Hrsg.), Iconicity in Language, Amsterdam 1995; Müller, Wolfgang G. / Fischer, Olga (Hrsg.), From Sign to Signing: Iconicity in Language and Literature, Amsterdam, Philadelphia 2003. Vgl. Morris, Charles W., Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973, S. 420 ff. Ebd., S. 421.
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beschäftigt, wofür die Zeichenträger stehen und aufgrund welcher Eigenschaften sie das tun, 2. die ‚Pragmatik‘, die den „Ursprung, die Verwendungen und die Wirkungen von Zeichen erforscht“,22 sich also dem Gebrauch von Zeichenträgern durch Zeichenbenutzer in Zeichensituationen widmet, sowie 3. die ‚Syntaktik‘, die danach fragt, „wie Zeichen verschiedener Klassen kombiniert werden, um zusammengesetzte Zeichen zu bilden“,23 wie also Zeichenträger mit anderen Zeichenträgern verbunden werden.
Abb. 3: Die Dimensionen der Semiotik in allgemeiner Terminologie24
Für jeden semiotischen Untersuchungsgegenstand lassen sich potentiell alle drei Dimensionen geltend machen und untersuchen, auch wenn sich semantische, syntaktische und pragmatische Aspekte durch Interdependenzen nicht immer streng getrennt voneinander behandeln lassen. Morris’ Unterscheidung der Zweige der Semiotik kann zum (ansonsten eher spärlichen) terminologischen Allgemeingut der Semiotik gezählt werden. 22 23 24
Ebd., S. 420. Ebd., S. 423. Vgl. die Schematisierungen in Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 90. sowie in Posner, Roland, „Semiotics and its presentation in this Handbook“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 1–13, hier S. 6.
Semiotik
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2.3 Semiotik als wissenschaftliche Disziplin Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Zeichenprozessen hat in ihrer Ausrichtung entweder ‚theoretischen‘, ‚deskriptiven‘ oder ‚anwendungsorientierten‘ Charakter.25 Im Rahmen ‚theoretischer‘ Semiotik werden auf der Basis von erarbeiteten Grundbegriffen und Axiomen Theoreme entwickelt, die erklären und vorhersagen können, wie die Bedeutung komplexer Zeichen von ihrer Struktur, ihrer Referenz und den Zielen der Zeichenbenutzer abhängen.26 Deskriptive semiotische Arbeiten beschreiben und typisieren Zeichenprozesse und machen sie dadurch Vergleichen zugänglich. Angewandte Semiotik schließlich versucht, die Ergebnisse vor allem der deskriptiven Arbeiten für alltagskulturelle Fragestellungen nutzbar zu machen, sei es z. B. für die Optimierung von Leitsystemen, für die Zeichennormung oder die Entwicklung von Werbemitteln. Darüber hinaus lässt sich die Semiotik als Wissenschaft danach untergliedern, ob sie als (1.) ‚Objektwissenschaft‘ betrieben wird und damit neben die Einzelwissenschaften tritt bzw. innerhalb bereits etablierter zeichenbezogener Disziplinen agiert oder ob sie im Sinne einer (2.) ‚Metawissenschaft‘ die Semiosen (Theorien, Methoden und Darstellungsweisen) der Wissenschaften selbst untersucht. Als solche bezieht sie eine Position, die den Einzelwissenschaften (einschließlich allen Naturwissenschaften) übergeordnet ist. Als (3.) interdisziplinärer Ansatz schließlich bezieht die Semiotik eine vermittelnde Position zwischen den zeichenbezogenen Einzelwissenschaften und versucht, gemeinsame theoretische und terminologische Grundlagen zu schaffen, um komplexe Phänomene mit Hilfe der Fragestellungen der Semiotik besser beschreibbar zu machen. Sie ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit anderen interdisziplinären Ansätzen wie der Hermeneutik oder der Systemtheorie.27 2.3.1 Semiotik als Objektwissenschaft Als Objektwissenschaft beschäftigt sich die Semiotik einerseits (theoretisch, deskriptiv oder anwendungsorientiert) mit Strukturen und Interpretationsweisen von Zeichenkomplexen, die sich entweder nicht eindeutig (z. B. Werbeanzeigen) oder auch gar nicht ohne weiteres einer 25 26 27
Vgl. ebd., S. 1 f. Vgl. ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 2 f.
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Einzelwissenschaft (z. B. Souvenirs) zuordnen lassen. Auf diesem Gebiet ist die Semiotik seit Beginn der expliziten und institutionalisierten Semiotik besonders produktiv gewesen und hat teilweise auch zur Ausbildung neuer Disziplinen mit beigetragen (z. B. Filmwissenschaft). Andererseits widmet sich die objektwissenschaftliche Semiotik aber auch den Zeichenphänomenen, die bereits innerhalb von etablierten Disziplinen untersucht werden (z. B. Kunst als Gegenstand der Semiotik und der Kunstwissenschaft), was teilweise kontroverse Debatten über Zuständigkeitsbereiche der Disziplinen ausgelöst hat. Auch die Linguistik und die Literaturwissenschaften als Disziplinen, die beide Sprache bzw. verbale Texte als Objektbereich haben, überlappen sich insofern erheblich mit der Semiotik und werfen immer wieder die Frage einer Positionierung der Sprach- bzw. Literatursemiotik auf (vgl. 5.1). 2.3.2 Semiotik als Metawissenschaft Als Metawissenschaft untersucht die Semiotik Axiomatisierungen, Formalisierungen sowie die Entdeckungs- und Anwendungsmethoden der Wissenschaften insgesamt.28 Dabei sind nicht nur die Vorgehensweisen und Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen semiotisch relevant, sondern auch schon die Planungen, die zu einer bestimmten Vorgehensweise führen.29 Für den Rahmen der Linguistik sieht Robering30 beispielsweise die Konstruktion von Grammatiken als axiomatische Theorien im Sinne von Lieb31 als ein mögliches Programm einer metawissenschaftlichen Semiotik an. 2.3.3 Semiotik als interdisziplinärer Ansatz Dass der Status der Interdisziplinarität der Semiotik nicht unumstritten ist, liegt nach Posner32 vor allem daran, dass der Gegenstandsbereich der 28 29 30 31
32
Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Robering, Klaus, „Wissenschaftstheorie und Semiotik“, in: Koch, Walter A. (Hrsg.), Semiotik in den Einzelwissenschaften, Bochum 1990, S. 431–453. Vgl. ebd., S. 447. Vgl. Lieb, Hans Heinrich, „Grammars as Theories“, in: Theoretical Linguistics, 1/1974, 1, S. 39–115, hier S. 76. Vgl. Posner, Roland, „The relationship between individual disciplines and interdisciplinary approaches“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok
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Semiotik alles andere als homogen ist, so dass die Semiotik sich nicht etwa zwischen zwei oder drei Disziplinen bewegt, sondern potentiell zwischen allen zeichenbezogenen Disziplinen. Zudem beschäftigt sie sich nicht nur mit sog. „Senderzeichen“, sondern auch mit nicht intentional produzierten „Rezipientenzeichen“, die sich nicht immer ohne weiteres dem Raster der bestehenden Disziplinen zuordnen lassen. Semiotik spielt nach Posner ihre interdisziplinäre Rolle letztlich durch Abstraktion: „It studies everything which can be approached from the perspective of its functioning in sign processes“.33 Sie ist unter dieser Voraussetzung sowohl mit voll ausgebildeten Disziplinen als auch anderen interdisziplinären Ansätzen kombinierbar. 2.4 Methoden der Semiotik Umfangreich stellt sich auch der Methodenkatalog der (objektwissenschaftlichen) Semiotik dar, so dass die Semiotik im Rahmen dieses Bandes keinesfalls als eine Methode der Germanistik aufgefasst werden kann, sondern als eine Disziplin anzusehen ist, die ihrerseits ein großes Spektrum an Methoden aufbietet. Balzer34 unterscheidet nach Entdeckungsund Anwendungsmethoden der Semiotik und stellt fest, dass es – wie allerdings auch in vielen anderen Disziplinen – in der Semiotik keine ausgezeichneten Entdeckungsmethoden für ihre Gegenstandsbereiche gibt. Das hat zum einen den praktischen Grund, dass SemiotikerInnen methodologisch meist ausschließlich innerhalb von Einzeldisziplinen ausgebildet sind, zunächst auch innerhalb dieser Disziplinen forschen und sich ihren Gegenständen erst dann zusätzlich unter semiotischer Perspektive zuwenden. Zum anderen liegt es erneut am außerordentlich inhomogenen Gegenstandsbereich der Semiotik. An die (metawissenschaftliche und interdisziplinäre) Semiotik stellt sich also vordringlich die Aufgabe, die Methoden der einzelnen Disziplinen zu reflektieren und interdisziplinär verfügbar zu machen, soweit sie geeignet sind, Zeichenprozesse zu entdecken, zu erklären und systematisch zu beschreiben.
33 34
(Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 2341–2374, hier S. 2367. Ebd., S. 2368. Vgl. Balzer, Wolfgang, „Methoden der Semiotik“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 592–603.
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Historisch gesehen haben strukturalistische Methoden eine prominente Stellung innerhalb der Semiotik und finden sich in weiter entwickelter Form auch noch in gegenwärtig aktiven Schulen der Semiotik (z. B. in der Pariser Schule, vgl. 3.2). Als eine von semiotischer Seite innovativ beschriebene Entdeckungsmethode kann Peirce’ ‚Abduktion‘ angesehen werden, die er als Schlussverfahren von der Induktion und Deduktion unterscheidet. Wie die Induktion, die letztlich nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage treffen kann, so ist auch die Abduktion kein einwandfreies Beweisverfahren, sondern schließt von beobachteten Ergebnissen mit Hilfe einer hypothetischen Regel auf den Einzelfall. Diese Regel kann dann wiederum durch Deduktionen fortgeführt und an weiteren Beobachtungen überprüft werden. Abduktionen schließen somit auf mögliche beste Erklärungen. Sie finden sich in der Wissenschaft, aber auch als kreatives Schlussverfahren im Alltag. Solche Prozesse werden als Semiotik der Abduktion im Rahmen metawissenschaftlicher Semiotik (vgl. 2.3.2) beschrieben.35
3. Institutionsgeschichtliches Bevor die gegenwärtige Situation der semiotischen Institutionen detaillierter erfasst und charakterisiert wird (vgl. 3.3), soll kurz die historische Entwicklung der Semiotik als Disziplin skizziert werden, die für unseren Zusammenhang hier grob in drei Abschnitte unterteilt werden kann: 1. Die Phase früher Zeichenkonzeptionen (von der Antike bis ins 19. Jh.), die größtenteils unabhängig voneinander vor allem im Rahmen der Philosophie entstanden. Auf diese frühe Phase kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden, so dass nur kurz einige Namen und Eckdaten genannt werden können (vgl. 3.1). Sie verdient jedoch besondere Beachtung in der Historiographie der Semiotik, welche allmählich ihre eurozentrische Perspektive ablegt.36 2. Die Phase, in der die Basistheorien der Semiotik entstanden, die wir heute als „klassisch“ bezeichnen (spätes 19. Jh. bis zur Mitte des 20. Jhs.). Auf der Grundlage der klassischen Theorien bildeten sich (im 35 36
Vgl. Wirth, Uwe (Hrsg.), Die Welt als Zeichen und Hypothese, Frankfurt a. M. 2000. Zu historischen, nicht westlich-europäischen Zeichenkonzeptionen vgl. Posner, Roland u. a. (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 1998, S. XI; einige Beiträge und Hefte der Zeitschrift für Semiotik, z. B. 22/2000, 2.
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Laufe des 20. Jhs.) Schulen der Semiotik aus, deren Vertreter die bestehenden Zeichenmodelle modifizierten bzw. zur Beschreibung von spezifischen Zeichenprozessen nutzbar machten (vgl. 3.2). 3. Schließlich die institutionelle Gründungsphase (ab 1969), in der eine Fülle von semiotischen Institutionen entstanden und rege wissenschaftliche Kommunikation in Gang kam (vgl. 3.3). Der folgende Überblick muss in diesem sprachorientierten Rahmen fragmentarisch bleiben. Einige wichtige Vertreter und Schulen bleiben daher ganz ausgespart, etwa die Stuttgarter Schule um Max Bense oder die Symboltheorie von Nelson Goodman. Ihre einflussreichsten Werke finden sich aber in der Publikationsliste (4.2). 3.1 Frühe Zeichenkonzeptionen Die Beschäftigung mit Zeichen, zum Teil auch schon explizit als „semiotisch“ bezeichnet,37 lässt sich bis in die Frühzeit der Philosophie zurückverfolgen.38 Besonders hervorzuheben sind dabei als Vorläufer der Semiotik neben Aristoteles (384–322 v. Chr.) in der griechischen Antike vor allem Augustinus (354–430) mit seinen zeichentheoretischen Schriften im späten 4. Jahrhundert sowie die mittelalterlichen Scholastiker. Zeichenkonzeptionen finden sich außerdem verstärkt ab dem 17. Jh., etwa bei dem Empiristen John Locke (1632–1704) oder dem Rationalisten Gottfried W. Leibniz (1646–1716), der in grundlegenden Schriften zur Zeichen- und Sprachtheorie Zeichendefinitionen verfasste und bereits Teildisziplinen der Semiotik unterschied. Für die Aufklärung ist vor allem Johann Heinrich Lambert (1728–1777) zu nennen, der sogar ein Werk mit dem Titel „Semiotik“ (1764) veröffentlichte. Im frühen 19. Jh. beschäftigten sich u. a. Bernard Bolzano (1781–1848) und G. W. F. Hegel (1770–1831) in ihrer Philosophie (auch) mit Zeichen.
37
38
Die frühesten Verwendungsweisen der Ausdrücke ‚semeiotisch‘ bzw. ‚Semeiotik‘ stehen in medizinisch-diagnostischem Kontext. Meier-Oeser, Stephan, „Semiotik/Semiologie“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, S. 601–608, hier S. 602; vgl. zur Begriffsgeschichte auch Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 1 f. Vgl. die umfangreichen Darstellungen zu den frühen Zeichenkonzeptionen in den verschiedenen Disziplinen in Posner u. a. (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 1 u. 3; sowie die nach Theoretikern sortierte Darstellung in Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 1–35.
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3.2 Klassische Theorien und die Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert Die Entstehung der modernen Semiotik als Wissenschaft ist maßgeblich an die zeichentheoretischen Entwürfe von Ferdinand de Saussure (1857–1913) einerseits und Charles Sanders Peirce (1839–1914) andererseits geknüpft, die zwar als Zeitgenossen um 1900 arbeiteten, aber doch völlig unabhängig voneinander allgemeine Zeichentheorien vorlegten. Der Schweizer Linguist Saussure gilt als Begründer des linguistischen Strukturalismus und die (ohne seine Autorisierung veröffentlichten) Vorlesungen Cours de linguistique générale (1916) wurden zunächst auch vor allem als linguistische Theorie rezipiert. Saussure grenzte die Linguistik darin als eine modellbildende Wissenschaft von anderen Wissenschaften ab und bettete sie in einen allgemeineren wissenschaftstheoretischen Kontext, die „Semiologie“, ein: Saussures Zeichenbegriff ist zwar primär auf das sprachliche Zeichen bezogen, wird von Saussure aber grundsätzlich allgemeiner aufgefasst: „Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar“.39 Saussures Innovation lag in der Konsequenz seiner Dichotomien von ‚langue‘ (Sprache als System) vs. ‚parole‘ (Sprechen), ‚signifiant‘ (Bezeichnendes) vs. ‚signifié‘ (Bezeichnetes), ‚syntagmatisch‘ vs. ‚assoziativ‘ (‚paradigmatisch‘), ‚Synchronie‘ vs. ‚Diachronie‘, mit deren Hilfe sich die Sprache als komplexes Phänomen prägnant strukturieren ließ.40 Sprache betrachtete Saussure also als ein Relationsgefüge, als ‚System‘, das es in Zukunft vorrangig synchron zu beschreiben gelte. Den ebenfalls zweiseitig konzipierten Zeichenbegriff hob er von jeglichen materiellen Bezügen ab und verstand ihn als ‚kollektives‘ Modell sowohl in Bezug auf den ‚Signifikanten‘ (als kollektives Lautbild) als auch auf das ‚Signifikat‘ (als Begriff).41 „Während die menschliche Rede [parole] in sich verschiedenartig ist, ist die Sprache [langue], wenn man sie so abgrenzt, ihrer Natur nach in sich gleichartig: sie bildet ein System von Zeichen, in dem einzig die Verbindung von Sinn und Lautzeichen wesentlich ist und in dem die beiden Seiten des Zeichens gleichermaßen psychisch sind“.42 39 40
41 42
Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 19. Vgl. Gardt, Andreas, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland, Berlin, New York 1999, S. 290 f. Vgl. Trabant, Jürgen, Elemente der Semiotik, Tübingen, Basel 1996, S. 39 ff. Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 17 f.
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Kritiker des Strukturalismus werfen der Saussure’schen Theorie und ihren Anhängern gleichwohl vor, das Zeichenmodell sei aufgrund der Ausklammerung sowohl des Referenzobjekts als auch des Rezipienten reduktionistisch und statisch, und auch die Synchronie sei als Perspektive ungeeignet, um zum Beispiel Phänomene wie Kodewandel zu erklären. So bleibt der Stellenwert der Saussure’schen Theorie für die Entwicklung der allgemeinen Semiotik heute zwar eher umstritten,43 doch kann die Inspiration, die von seinem semiotischen Ansatz und seinem zeichentheoretischen Basismodell in verschiedene Richtungen ausgegangen ist, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auch wenn sich die Versuche, Saussures Modell etwa auf nicht-sprachliche Zeichensysteme anzuwenden, als nicht oder nur ansatzweise erfolgreich erwiesen haben, so werden bis heute strukturalistische Grundannahmen verarbeitet und weiter entwickelt. Auch gelten diese nicht mehr als grundsätzlich unvereinbar mit anderen Ansätzen.44 Der Amerikaner Charles Sanders Peirce hatte wissenschaftlich einen völlig anderen Hintergrund als Saussure, er begann seine Arbeit als Geodät und Naturwissenschaftler, widmete sich dann aber mehr und mehr der theoretischen Wissenschaft und schuf schließlich ein umfangreiches Werk zu Themen aus mehr als 20 Disziplinen, die wichtigsten darunter zur Philosophie, besonders der Logik und Erkenntnistheorie, sowie zur Wissenschaftsgeschichte und Semiotik.45 Die Phänomenologie, von der Peirce ausgeht, besteht nur aus den drei Universalkategorien ‚Erstheit‘, ‚Zweitheit‘ und ‚Drittheit‘46, denen er auch Zeichentypen zuordnet (vgl. 2.1.3, Abb. 2). Mit seinem Zeichenmodell, bestehend aus ‚representamen‘ (‚Zeichenträger‘), ‚interpretant‘ (‚Bezeichnetes‘), den er u. a. auch als „die Wirkung des Zeichens“47 beschreibt, und ‚object‘ (‚Referenzobjekt‘), dessen Konstituenten wiederum dreistellig zu untergliedern sind, hat er einen elaborierten Be43 44
45
46 47
Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 76 f. Vgl. Larsen, Svend Erik, „Saussure und seine Nachfolger“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 1998, S. 2040–2073, hier S. 2068. Vgl. Pape, Helmut, „Peirce and his followers“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 1998, S. 2016–2040, hier S. 2016. Vgl. Peirce, Collected Papers, § 1.300 ff. Peirce, Collected Papers, § 5.474–5.475.
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griffsapparat zur Verfügung gestellt, der es nicht nur erlaubt, die pragmatischen Komponenten einzubeziehen, sondern auch komplexe Zeichen zu beschreiben. Da Peirce mit seiner Zeichentheorie zudem nicht ein spezielles Zeichensystem beschreiben wollte, sondern die Semiotik als eine Universalwissenschaft ansah, finden sich seine Begriffe in Anwendungen verschiedenster Disziplinen wieder, in den letzten Jahren verstärkt auch in der Literatursemiotik (vgl. 5.1). Peirce’ Theorie ist die bis heute einflussreichste innerhalb der Semiotik.48 Der deutsche Sprachpsychologe Karl Bühler (1879–1963) entwickelte seine Sprachtheorie im Rahmen einer allgemeinen Zeichenwissenschaft, die er ‚Sematologie‘ nannte. Sein pragmatisch ausgerichtetes ‚Organonmodell‘ der Sprachfunktionen ist ein frühes kommunikationstheoretisches Modell, mit dem je nach Dominanz der Kommunikationsfaktoren auch verschiedene Typen von Zeichen (‚Symptom‘, ‚Symbol‘ und ‚Signal‘) unterschieden werden können.49 Charles W. Morris (1901–1979), wie Peirce ein Amerikaner, ist ein etwas jüngerer Semiotiker, dessen allgemeine Zeichentheorie ebenfalls zu den klassischen Ansätzen gezählt werden kann. Er unterschied die Zweige der Semiotik (vgl. 2.2), wobei die Innovationsleistung seines Ansatzes vor allem auf dem Gebiet der Pragmatik liegt, mit der er an Peirce anknüpfte, jedoch seine theoretischen Beschreibungen von Semiosen mit Bezug auf die Verhaltensanalyse von Mead50 behavioristisch fundierte. So sieht er einen Zeichenträger („sign vehicle“) als Stimulus an, der eine Reaktion eines Verhaltenssystems hervorruft. Diese Konzeption öffnet einen weiten theoretischen Rahmen für die empirische Untersuchung von Zeichenprozessen, der im Kontext der Kognitionswissenschaften auch in der gegenwärtigen Semiotik wieder eine größere Rolle spielen könnte.51 Eine Forschungsrichtung, die konzeptionell unmittelbar an Saussures Zeichentheorie anschloss, war die ‚Glossematik‘ bzw. ‚Kopenhagener 48
49 50 51
Das Peirce Edition Project arbeitet seit den 1980er-Jahren an einer 30-bändigen chronologischen Gesamtausgabe von Peirce’ Schriften. Bisher sind 6 Bände erschienen (Peirce 1982ff, hg. von M. Fisch et al.). Zum jeweils neuesten Stand des Editionsprojekts vgl. www.iupui.edu/~peirce/index.htm. Zuvor (1931–58) waren Peirce’ Schriften zu einem großen Teil als 8-bändige Ausgabe Collected Papers erschienen. Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934. Mead, George H., Philosophy of the Act, Chicago, London 1938. Vgl. Posner, Roland, „Research in Pragmatics after Morris“, in: Dedalus, 1/1991, S. 115–156, hier S. 145.
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Schule‘, für die wesentlich der dänische Linguist Louis Hjelmslev (1899– 1965) verantwortlich zeichnete. In seinen zeichentheoretischen Prolegomena zu einer Sprachtheorie52 formalisierte er die Saussure’schen Begriffe und erweiterte Signifikant und Signifikat als Ausdrucks- bzw. Inhaltsebene jeweils um ein geschichtetes Modell von ‚Form‘, ‚Substanz‘ und ‚Materie‘. Während die Materie als das formbare (Inhalts- und Ausdrucks-) Material für ihn noch vor-semiotisch ist, ist die Substanz immer schon ‚geformte‘ Substanz, also zeichenhaft strukturiertes Material. Die Form dagegen ist für Hjelmslev die reine Zeichenstruktur, wie sie auch Saussure für seinen Zeichenbegriff im Rahmen der ‚langue‘ angenommen hatte. Bekannt wurde die Glossematik auch für ihre Spezifizierung der Begriffe der ‚Denotation‘ sowie des ‚Metazeichens‘ und der ‚Konnotation‘ als sekundärer Denotationen. Roland Barthes (1915–1980) war einer der wenigen Autoren, die die strukturalistischen Zeichentheorien, unter anderem auch in der so abstrakt erscheinenden Modellierung der Glossematik, in den 1960er-Jahren auf Zeichenkomplexe verschiedenster Art anzuwenden versuchte. Er scheiterte zwar dabei zunächst weitestgehend sowohl in Bezug auf das Bild53 als auch für die Mode,54 die er nur als sprachlich vermitteltes System untersuchte, doch benutzte er Hjelmslevs Begriffe der Denotation, Konnotation und des Metazeichens unter anderem, um durch sie die Begriffe der ‚Ideologie‘ und des ‚Mythos‘ zu verankern.55 Er baute damit eine wertvolle Brücke von der strukturalistisch-linguistischen Semiotik zur Kultur- und Textsemiotik, mit der er sich später überwiegend als Poststrukturalist weiter beschäftigte. Strukturalistisch-glossematische Wurzeln hat auch die von Algirdas Julien Greimas (1917–1992) begründete ‚Pariser Schule der Semiotik‘. Greimas entwarf eine Strukturale Semantik (1966) als textsemiotische Theorie. In seiner zunächst streng semantischen Theorie, die u. a. von Lévi-Strauss’ strukturaler Anthropologie56 beeinflusst wurde, versuchte er die strukturalistischen Begriffe auf die Beschreibungsebene des Textes zu übertragen. Dabei betrachtete er in Anlehnung an Hjelmslevs Glossematik Seme als Einheiten der Inhaltssubstanz. Mit seinem ‚semio52 53
54 55 56
Vgl. Hjelmslev, Louis, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München 1974. Barthes, Roland, „Rhétorique de l’image“, in: Communications, 4/1964, S. 40–51; vgl. die Kritik in Sonesson, Göran, Pictorial Concepts, Lund 1989, S. 113–132. Vgl. Barthes, Roland, Système de la mode, Paris 1967. Vgl. ders., Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964. Vgl. Lévi-Strauss, Claude, Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M. 1967.
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tischen Quadrat‘ nutzte er die Anordnung von Semen nach ihren logischen Beziehungen (Kontrarität, Komplementarität und Kontradiktion), um semantische Tiefenstrukturen in narrativen Texten aufzuzeigen.57 Mit dem Begriff der ‚Isotopie‘ versuchte er, das Phänomen der Textkohärenz auf der Grundlage semantischer Rekurrenzen fassbar zu machen. Ein ‚generatives Diskursmodell‘ soll darüber hinaus die semantischen und syntaktischen Dimensionen der Textgenerierung aufzeigen.58 Die Begriffe der Pariser Schule werden bis heute als textsemiotisches Instrumentarium eingesetzt.59 In der Sowjetunion formierte sich um Jurij M. Lotman (1922–1993) ab den 1970er-Jahren die kultursemiotisch ausgerichtete ‚Tartuer und Moskauer Schule‘. Lotman beschäftigte sich zunächst mit dem Zeichencharakter ästhetischer Texte, vor allem Literatur und Film.60 Begrifflich erweitert auf jegliche kulturell kodierte Artefakte wurden Texte später als wesentliche Bestandteile im Rahmen von Lotmans Modell der ‚Semiosphären‘ beschrieben, der semiotischen Räume, an deren Übergängen und Schnittstellen sich relevante Zeichenprozesse einer Kultur vollziehen.61 Die theoretischen Schriften des auch als Romancier bekannt gewordenen Autors Umberto Eco (*1921) sind sowohl für die allgemeine Semiotik62 als auch für die Literatursemiotik63 von Belang. In seinen allgemein zeichentheoretischen Werken setzte Eco sich kritisch mit den strukturalistischen Ansätzen der Semiotik sowie mit Peirce auseinander und kam auf dieser Grundlage zu eigenen Modellen. In seiner Theorie des ‚Kodes‘ problematisiert Eco64 den (teilweise) unklaren Kodebegriff der semiotischen Literatur und spaltet ihn terminologisch auf, indem er den ‚S-Kode‘ (= Kode als System) vom eigentlichen Kode (als Kombi57
58 59 60
61 62
63 64
Greimas, Algirdas Julien / Courtés, Joseph, Sémiotique: dictionnaire raisonné de la théorie du langage, 2 Bde., Paris 1979, S. 67. Greimas, / Courtés, Sémiotique: dictionnaire raisonné de la théorie du langage, S. 157–160. Vgl. Ohno, Christine, Die semiotische Theorie der Pariser Schule, 2 Bde, Würzburg 2003. Lotman, Jurij, Struktura chudo zestvennogo teksta, Moskva 1970. Dt.: Die Struktur literarischer Texte, München 1972; ders., Probleme der Kinoästhetik, Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt a.M. 1977. Lotman, Jurij, „Über die Semiosphäre“, in: Zeitschrift für Semiotik, 12/1990, 4, S. 287–305. Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, München 1972; ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987. Vgl. ders., Lector in fabula, Milano 1979; ders., Die Grenzen der Interpretation, München 1992. Vgl. ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, S. 76 ff.
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nationsregel) unterscheidet. Eco hat sich auch immer wieder mit Ästhetik und mit der Semiotik der Populärkultur beschäftigt.65 Strukturalismus und Semiotik waren noch in den 1960er-Jahren so eng verbunden, dass sie als Paradigmen häufig gar nicht sauber getrennt wurden – die Untersuchung von Zeichen wurden gewissermaßen als untrennbar von der Untersuchung zugrunde liegender Relationen und Strukturen angesehen.66 Mit der Abkehr vom Strukturalismus durch den ‚Poststrukturalismus‘ ab den späten 1970er-Jahren sahen daher auch einige Autoren das Ende der Semiotik eingeläutet.67 Doch die Einschätzung, wie radikal sich der Poststrukturalismus vom Strukturalismus tatsächlich entfernt hat oder wie sehr er als neuer wissenschaftlicher Ansatz doch noch auf den Annahmen des Strukturalismus fußt, ist nicht ohne weiteres für alle als poststrukturalistisch etikettierten Ansätze gleichermaßen zu treffen. Gemeinsam ist der poststrukturalistischen Semiotik, dass sie überwiegend textsemiotisch konzipiert ist, wobei der Textbegriff sehr weit zu fassen ist. Wichtigste Vertreterin ist Julia Kristeva (*1941), die in ihrer semiotischen Texttheorie u. a. von Lacans psychoanalytischem Ansatz sowie von Bachtins Literatursemiotik beeinflusst wurde.68 3.3 Semiotische Institutionen Sieht man einmal von äußeren wissenschaftspolitischen und -ökonomischen Faktoren ab, so lassen sich nach Dascal & Dutz69 drei Erfordernisse für den Weg einer Forschungsrichtung zu einer voll ausgebildeten wissenschaftlichen Disziplin benennen: (1.) eine ‚separate Identität‘, die das wissenschaftliche Feld gegen andere abgrenzt, (2.) eine ‚innere Strukturierung‘ des wissenschaftlichen Feldes sowie (3.) eine ‚Institutio65
66
67 68 69
Vgl. Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, S. 145–162, 267–292; ders., Die Geschichte der Hässlichkeit, München 2007. Vgl. Culler, Jonathan, Structuralist Poetics, London 1975, S. 4; vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 47. Vgl. Stewart, John, Language as Articulate Contact: Toward a Post-Semiotic Philosophy of Communication, Albany 1995. Vgl. Kristeva, Julia, Recherches pour une sémanalyse, Paris 1967. Vgl. Dascal, Marcelo / Dutz, Klaus D., „The beginning of scientific semiotics“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 1, Berlin, New York 1997, S. 746–763, hier S. 748.
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nalisierung‘, soweit sie nicht von den zuerst genannten externen Faktoren abhängt. Die ‚separate Identität‘ der Semiotik ist und bleibt – wie schon oben gezeigt – problematisch, so lange es keine einheitliche Terminologie und nur wenig Konsens über Methoden und Grenzen der Disziplin gibt. Zudem bleibt ein großer Teil semiotischer Forschung und Lehre implizit, d.h. ohne semiotische Etikettierung, so dass ihre Konturen in der Wissenschaftslandschaft unschärfer als nötig bleiben. Allerdings erscheint es angesichts des Spektrums der Disziplinen und der am semiotischen Projekt beteiligten WissenschaftlerInnen auch undenkbar und vielleicht auch nicht erstrebenswert, eine wirklich einige semiotische Wissenschaftsgemeinschaft zu etablieren, solange es dennoch gelingt, über die Zeichenproblematik in einen konstruktiven interdiziplinären Dialog zu treten. ‚Innere Strukturierung‘ der Semiotik ist dagegen durchaus gegeben, zum einen durch die grundsätzliche Positionierung der Semiotik in Objekt-, Meta- und interdisziplinäre bzw. angewandte Wissenschaft (vgl. 2.3), zum anderen durch die Ein- und Zuteilung ‚semiotischer Subdisziplinen‘, die jeweils zuständig sind für die semiotischen Aspekte innerhalb der etablierten Einzelwissenschaften (z. B. Literatursemiotik, Sprachsemiotik, Musiksemiotik, Rechtssemiotik) bzw. die Untersuchungsgegenstände, die sich außerhalb von Einzelwissenschaften (z. B. Kleidungssemiotik) oder in verschiedenen Wissenschaften (z. B. Bildsemiotik) befinden. Diese Einteilung in Subdisziplinen spiegelt sich teilweise auch in den semiotischen Institutionen wider. 3.3.1 Semiotische Gesellschaften und Forschergruppen Die Institutionalisierung der Semiotik in Europa erhielt ihren Anstoß Ende der 1960er-Jahre und vollzog sich nahezu „bilderbuchartig“,70 das heißt, sie etablierte sich in rasantem Tempo durch die Gründung und Einrichtung von Gesellschaften, Tagungen, Zeitschriften und Buchreihen zu einem Ansatz mit beachtlichen wissenschaftlichen Aktivitäten, was vor allem der außerordentlichen Inspiration, die von der Zeichentheorie in dieser Phase ausging, zu verdanken war. Bevor die Semiotik in den 1970er-Jahren institutionell Deutschland erreichte, hatte sich bereits 1969 mit der International Association for Semio-
70
Trabant, Elemente der Semiotik, S. 11.
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tic Studies / Association Internationale de Sémiotique (IASS/AIS) eine internationale semiotische Gesellschaft konstituiert, die ab 1974 Kongresse ausrichtete (1974 Mailand, 1979 Wien, 1984 Palermo, 1989 Perpignan, 1994 Berkeley, 1997 Guadalajara, 1999 Dresden, 2004 Lyon, 2007 Helsinki, 2009 La Coruña). Die Akten der Internationalen Kongresse geben einen guten Überblick über das Forschungsspektrum und die Forschungsschwerpunkte der vergangenen vierzig Jahre (vgl. 4.2). In Deutschland trifft sich die Deutsche Gesellschaft für Semiotik (DGS) seit ihrer Gründungsveranstaltung im Rahmen eines Semiotischen Kolloquiums 1975 in Berlin alle drei Jahre zu internationalen Tagungen (1978 Regensburg, 1981 Hamburg, 1984 München, 1987 Essen, 1990 Passau, 1993 Tübingen, 1996 Amsterdam, 1999 Dresden, 2002 Kassel, 2005 Frankfurt/Oder, 2008 Stuttgart). Die Österreichische Gesellschaft für Semiotik (ÖGS) existiert seit 1976 und führt regelmäßig internationale Symposien durch. Die Schweizerische Gesellschaft für Semiotik / Association Suisse de Sémiotique / Associazione Svizzera di Semiotica (SGS/ASS) wurde 1981 gegründet und organisiert seitdem regelmäßig interdiziplinäre Kolloquien und Podiumsgespräche. Zusätzlich zu den nationalen Gesellschaften, in denen sowohl interdisziplinär als auch nach Subdisziplinen spezialisiert gearbeitet wird (vgl. den wissenschaftlichen Beirat der DGS), existieren semiotische Forschergruppen, die sich an verschiedenen Universitäten interdisziplinär über Semiotik verständigen oder sich zu speziellen Fragestellungen überregional zusammenfinden. Da viele Aktivitäten durch Einzelpersonen der semiotischen Gründergeneration initiiert oder die Organisation an übergeordnete Institute gebunden ist, verschwinden oder verlagern sie sich häufig mit dem Weggang von LehrstuhlinhaberInnen. Doch hat es in den letzten Jahren durchaus auch neue Forschungsschwerpunkte und eine Reihe von institutionellen Neugründungen gegeben (z. B. im Bereich der Gestenforschung, visuelle Semiotik). Im Folgenden werden nur die internationalen Organisationen und die wichtigsten semiotischen Institutionen der deutschsprachigen Länder aufgeführt. Die nationalen Gesellschaften und semiotischen Aktivitäten innerhalb der übrigen Länder bleiben ausgeklammert. Eine vollständige Erfassung aller semiotischen Institutionen weltweit findet sich in Withalm.71
71
Vgl. Withalm, Gloria, Semiotic organizations, in: Roland Posner/ Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grund-
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International Association for Semiotic Studies/ Association Internationale de Sémiotique (IASS/AIS) Deutsche Gesellschaft für Semiotik (DGS): Österreichische Gesellschaft für Semiotik (ÖGS) Schweizerische Gesellschaft für Semiotik/ Association Suisse de Sémiotique/Associazione Svizzera di Semiotica (SGS/ASS) Arbeitsstelle für Semiotik, TU Berlin Berliner Arbeitskreis für Kultursemiotik (BAKS) Bochumer Semiotisches Colloquium (BSC) Institut Wiener Kreis Institut für Sozio-Semiotische Studien (ISSS), Wien Lotman-Institut für russische und sowjetische Kultur, Ruhr-Universität Bochum Münsteraner Arbeitskreis für Semiotik (MAkS) Salzburger Gesellschaft für Semiologie (SIGMA) Schweizerische Gesellschaft für Symbolforschung 3.3.2 Zeitschriften und Buchreihen Für die Ausbildung separater und expliziter Identität der Gesamtdisziplin ist das offizielle Organ der IASS, Semiotica, an erster Stelle zu nennen. Die englisch- und französischsprachige Zeitschrift erscheint seit 1969 mit heute fünf Heften pro Jahr bei de Gruyter. Darin werden in der Regel thematisch ungruppierte Artikel publiziert, gelegentlich jedoch auch Themenhefte. Eine etablierte deutschsprachige semiotische Zeitschrift ist die Zeitschrift für Semiotik (seit 1979), die gleichzeitig offizielles Organ der DGS ist. Sie erscheint im Stauffenburg Verlag und veröffentlicht ausschließlich Themenhefte.72 Sie enthält auch institutionelle Informationen. Ebenfalls seit 1979 erscheint die Zeitschrift Kodikas/Code im Tübinger Gunter Narr Verlag. Ihre Artikel werden in Englisch, Deutsch und Französisch akzeptiert. Für die Österreichische Semiotik fungieren die Semiotischen Berichte als Organ der ÖGS. Darüber hinaus gibt es S–European
72
lagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2004, S. 3644–3691; vgl. auch die Homepage der IASS: http://www.arthist.lu.se/kultsem/AIS/IASS/. Vgl. die Übersicht der Themen und Abstracts unter http://www.stauffenburg.de/ asp/books.asp?id=21.
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Journal for Semiotic Studies, das wie die Semiotischen Berichte durch das ISSS in Wien koordiniert wird.73 Wichtige semiotische Buchreihen (und Verlage) sind (oder waren): Advances in Semiotics (Indiana University Press) Angewandte Semiotik (ISSS) Approaches to Semiotics (1969–99) (Mouton de Gruyter) Approaches to Applied Semiotics (Mouton de Gruyter) Bochumer Beiträge zur Semiotik (1985–98) (Brockmeyer) Cognitive Semiotics (Peter Lang) Dresdner Studien zur Semiotik (TUD Press) Foundations of Semiotics (John Benjamins) Grundlagen der Kommunikation und Kognition / Foundations of Communication and Cognition (de Gruyter) Kodikas / Code Supplemente (G. Narr) Probleme der Semiotik (Stauffenburg) S–Addenda (ISSS) S–Labor (ISSS) Studies in Semiotics (John Benjamins) Toronto Studies in Semiotics (Toronto Semiotic Circle) Traveaux du Centre de Recherches Sémiologique (Centre de Recherches Sémiologiques) Ein Meilenstein für die Identität der Disziplin war sicherlich auch die Herausgabe des vierbändigen Handbuchs Semiotik74, das sowohl Grundbegriffe der Zeichentheorie ausführlich erläutert und die Geschichte der Semiotik nachzeichnet als auch die semiotischen Aspekte der Einzelwissenschaften herausarbeiten lässt und dabei nicht nur die semiotische Wissenschaftswelt an einen (virtuellen) gemeinsamen Schreibtisch gebracht hat, sondern auch viele Vertreter anderer Disziplinen zu semioti-
73
74
Über die Vielzahl relevanter internationaler Zeitschriften sowie Zeitschriften, die nicht ausschließlich semiotische Artikel publizieren, informiert Withalm, Gloria, Reference works and periodicals, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2004, S. 3692–3726. Vgl. Posner, Roland / Robering, Klaus / Sebeok, Thomas A. (Hrsg.), Semiotik / Semiotics / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur / A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture, 4 Bde., New York 1997–2004.
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scher Reflexion ihrer einzelwissenschaftlichen Gegenstände aufgefordert hat. Ergänzend (und im Gegensatz zu oben genanntem Werk tatsächlich handlich) gibt es schon seit 1985 ein Handbuch der Semiotik von Winfried Nöth,75 in dem kurze informative Einträge zu Begriffsbestimmungen und zur Geschichte der Zeichenkonzeptionen mit reichhaltigen Querverweisen und bibliographischen Hinweisen zu finden sind. Beide Werke zusammen ermöglichen wertvolle und völlig verschiedenartige Zugriffe auf semiotische Forschungsansätze (vgl. 6.1). 3.3.3 Semiotische Lehre Eine institutionell eigenständige Verankerung der semiotischen Lehre an deutschen Universitäten ist nur vorübergehend gelungen, als in den 1990er-Jahren ein Aufbaustudiengang Semiotik an der TU Berlin angeboten werden konnte, der inzwischen wieder eingestellt wurde. Semiotische Lehre findet somit derzeit überwiegend im Rahmen von geisteswissenschaftlichen Studiengängen statt, so auch wesentlich innerhalb der Germanistik, ist allerdings selten als fester Bestandteil in den Studienordnungen verankert. Implizit gibt es ein großes Angebot semiotischer Fragestellungen im Rahmen der Lehre, über das die Zeitschrift für Semiotik durch Erhebungen regelmäßig informiert. Im internationalen Vergleich76 ist die Semiotik als Disziplin in den Studienprogrammen der deutschen Universitäten unterrepräsentiert und die Tendenz scheint inzwischen eher rückläufig zu sein. Insofern hat die Semiotik noch keine stabile Position im Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen erreicht. 3.4 Trends der gegenwärtigen Semiotik Es stellt sich also die Frage, in welche Richtung sich die Semiotik weiter entwickeln wird, wenn die Forscher-Generation der Gründungsphase allmählich die Bühne verlässt. Es wird maßgeblich darauf ankommen, ob es der Semiotik gelingt, sich neben bzw. innerhalb der Einzelwissenschaften institutionell besser bzw. neu zu etablieren. 75 76
Neu bearbeitet: 2000. Vgl. Mosbach, Doris, „Semiotik zwischen den Lehr-Stühlen: Studienprogramme im internationalen Vergleich“, in: Zeitschrift für Semiotik, 16/1994, 1–2, S. 117–150.
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Inhaltlich lassen sich dennoch beispielhaft drei viel versprechende neue Richtungen für die Semiotik aufzeigen: erstens innerhalb der Literatursemiotik, die sich unter Abkehr von den strukturalistisch bzw. poststrukturalistisch inspirierten Texttheorien einer stärker vom Peirce’schen Ansatz geprägten Literaturtheorie zuzuwenden scheint77 und damit der Literatursemiotik zu neuem Aufschwung verhelfen könnte78, zweitens ein neuer linguistisch-semiotischer Anteil an der multidisziplinären Gestenforschung79 sowie drittens die Hinwendung zur Kognitionswissenschaft. Auch wenn es der Semiotik bislang nur bedingt gelungen ist, sich am interdisziplinären Projekt der Kognitionswissenschaft zu beteiligen, stellt der ‚cognitive turn‘ auch innerhalb der Semiotik eine wichtige Weichenstellung dar. Auch hier deutet die seit Herbst 2007 erscheinende multidisziplinäre Zeitschrift Cognitive Semiotics auf einen Forschungstrend hin.
4. Publikationen 4.1 Wichtige theoretische Schriften Barthes, Roland, „Eléments de sémiologie“, in: Communication, 4/1964, S. 91–141. Dt.: Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M. 1983. Bense, Max, Semiotik, Stuttgart 1967. Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Neudruck der Erstausgabe 1934, Stuttgart, New York 1982. Eco, Umberto, La struttura assente, Mailand 1968. Dt.: Einführung in die Semiotik, München 1972. Eco, Umberto, A Theory of Semiotics, Bloomington 1976. Dt.: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987. 77 78
79
Vgl. Semiotica, 165/2007, 1/4. Vgl. Veivo, Harri, „The new literary semiotics“, in: Semiotica 165, 1/4 2007, S. 41–56. Amian, Katrin, Postmodernism(s). Charles S. Peirce and the Pragmatist Negotiations of Thomas Pynchon, Toni Morrison, and Jonathan Safran Foer, Amsterdam/New York 2008. Vgl. die Zeitschrift Gesture.
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Eco, Umberto, Semiotica e filosofia del linguaggio, Turin 1984. Dt.: Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985. Goodman, Nelson, Languages of Art, Indianapolis 1968. Dt.: Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1973. Goodman, Nelson, Ways of Worldmaking, Indianapolis, Cambridge 1978. Dt.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1991. Greimas, Algirdas Julien, Sémantique structurale, Paris 1966. Dt.: Strukturale Semantik, Braunschweig 1971. Greimas, Algirdas Julien, Du sens, Teil I, Paris 1970. Greimas, Algirdas Julien, Essais Sémiotiques, Teil II, Paris 1983. Greimas, Algirdas Julien / Courtés, Joseph, Sémiotique: dictionnaire raisonné de la théorie du langage, 2 Bde., Paris 1979. Hjelmslev, Louis, Omkring sprogteoriens grundlæggelse, Kopenhagen 1943. Dt.: Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München 1974. Hjelmslev, Louis, Aufsätze zur Sprachwissenschaft, Stuttgart 1974. Jakobson, Roman, Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt a. M. 1988, S. 77–98. Kristeva, Julia, Recherches pour une sémanalyse, Paris 1967. Lotman, Jurij, Struktura chudo zestvennogo teksta, Moskva 1970. Dt.: Die Struktur literarischer Texte, München 1972. Lotman, Jurij, „Über die Semiosphäre“, in: Zeitschrift für Semiotik, 12/1990, 4, S. 287–305. Mead, George H., Philosophy of the Act, Chicago, London 1938. Morris, Charles W., Foundations of the Theory of Signs, Chicago 1938 Dt.: Grundlagen der Zeichentheorie, München 1972.
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Morris, Charles W., Signs, Language and Behavior, New York 1946. Dt.: Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973. Morris, Charles W., Signification & Significance, Cambridge 1964. Ogden, Charles K. / Richards, Ivor A., The Meaning of Meaning, New York 1923. Peirce, Charles Sanders, Collected Papers, Bd. 1–6, Hartshorne, C. & P. Weiss (Hrsg.), Bd. 7–8, Burkes, A.W. (Hrsg.), Cambridge, Mass. 1931–58. Peirce, Charles Sanders, Writings of Charles Sanders Peirce. A Chronological Edition, Fisch u. a. (Hrsg.), 6 Bde., Indianapolis 1982 ff. Posner, Roland, „Believing, Causing, Intending: the Basis for a Hierarchy of Sign Concepts in the Reconstruction of Communication“, in: René J. Jorna / Barend van Heusden / Roland Posner (Hrsg.), Signs, Search, and Communication: Semiotic Aspects of Artificial Intelligence, Berlin, New York 1993, S. 215–270. Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, Lausanne, Paris, 1916. Dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1967. 4.2 Anwendungsbeispiele Die nachfolgende Aufstellung führt exemplarisch wichtige Anwendungsbeispiele auf. Sie beschränkt sich hierbei auf semiotische Arbeiten, die sich mit Sprache bzw. sprachrelevanten Zeichenkomplexen beschäftigen. Barthes, Roland, Mythologies, Paris 1957. Dt.: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964. Barthes, Roland, „Rhétorique de l’image“, in: Communications, 4/1964, S. 40–51. Barthes, Roland, Système de la mode, Paris 1967. Barthes, Roland, S/Z, Paris 1970. Dt.: S/Z, Frankfurt a. M. 1976.
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5. Fachgeschichtliche Einordnung 5.1 Semiotik und Germanistik Die Sprache, nicht nur das zentrale Zeichensystem für die menschliche Kommunikation, sondern auch ein Zeichensystem, in das sich andere Zeichen übersetzen lassen, ist und bleibt einer der wichtigsten Untersuchungsgegenstände der Semiotik. Doch auch unabhängig davon, ob man die Semiotik nun der Linguistik und Literaturwissenschaft unter-, beioder überordnet (vgl. 2.), so lassen sich in jedem Fall besondere semiotische Fragstellungen für die sprachliche Kommunikation isolieren.80 Abgesehen vom heuristischen Nutzen der Semiotik im Hinblick auf die Systematisierung von sprachwissenschaftlichen Fragestellungen, ist sie besonders im Rahmen semantischer und pragmatischer Theorien weiterhin relevant, etwa, wenn es um die Analyse von Metaphorizität, um sprachliche Ikonizität oder um (Grade der) Kodiertheit von Sprache geht, bzw. wenn es gilt, komplexe Kommunikationsprozesse semiotisch/pragmatisch zu rekonstruieren. Dabei ist die Semiotik auch besonders geeignet, die Beziehungen zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Ausdrücken systematisch zu beschreiben, was im Zuge der (zunehmenden) Rezeption multimodaler Texte besonders hohe Relevanz hat. So lassen sich z. B. Werbeanzeigen, Comics, Internetseiten oder Fernsehnachrichten nur als multimodale Zeichenkomplexe beschreiben, für die sich Kohärenz häufig erst TextBild-übergreifend herstellt.81 Weitere Anknüpfungspunkte zwischen Linguistik und Semiotik sind die Beschreibung von non-verbaler Kommunikation, Gebärdensprachen, Parasprache, Schriftsystemen oder Plansprachen.82
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81 82
Vgl. Peters, Jörg, „Semiotische Aspekte der Sprachwissenschaft: Sprachsemiotik“, in: Posner, Roland / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 2999–3027, hier S. 3005; Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 323 ff. Dabei sei an dieser Stelle von der ohnehin parallelen Entwicklung der strukturalistischen Linguistik und Semiotik in der Tradition Saussures, Hjelmslevs und auch Jakobsons abgesehen. Vgl. Stöckl, Hartmut, Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache, Berlin 2004. Vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 323–390; Cobley, Paul (Hrsg.), Semiotics and Linguistics, London, New York 2001.
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Die Literatursemiotik schließlich, die Titzmann83 in einem weiteren Sinne als Teil einer Textsemiotik/Textwissenschaft versteht, deckt einen Teil der Literaturwissenschaft ab, indem sie sich mit dem zeichenhaften Charakter literarischer Texte beschäftigt. Ihre Forschungsaktivitäten starteten in den 1960er-Jahren, entfalteten sich in den 1970ern und „verblassten“ in den 1980er-Jahren wieder.84 Bedeutendste Vertreter sind neben Barthes,85 Kristeva,86 Greimas87 und Eco.88 Die Fragestellungen, die sich an literarische Texte stellen, werden inzwischen zunehmend mit pragmatischen Ansätzen beantwortet, so dass nicht länger Sem-Analysen und Kodierungen im Vordergrund stehen, sondern die (kognitiven) Aktivitäten des Lesers. So stellt sich etwa die Frage, mit welchem (gemeinsamen) Wissen oder welchen Interpretationsmustern dem literarischen Text Informationen über die im Text dargestellte Welt entnommen werden. 5.2 Grenzen der Semiotik Die Frage nach den Grenzen der Semiotik ist stets eine kritische für die Semiotik gewesen. Viele WissenschaftlerInnen scheinen von einem Unbehagen ergriffen zu sein, wenn sie sich die Reichweite des semiotischen Programms vor Augen führen, und setzen sich selbst Grenzen, die für die eigene wissenschaftliche Arbeit zwar durchaus sinnvoll sein mögen, im Hinblick auf den Zentralbegriff, den des Zeichens, aber manchmal inadäquat sein können. Vor der Grenzziehung sollte in jedem Fall der interdisziplinäre Austausch stehen. Insofern ist die Reichweite der Semiotik gleichzeitig ihre Schwäche und Stärke.
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Titzmann, Michael, „Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 3028–3102, S. 3030. Vgl. Veivo, Harri, „The new literary semiotics“, in: Semiotica, 165/2007, 1/4, S. 41–56, hier S. 41. Vgl. Barthes, Roland, S/Z, Paris 1970. Vgl. Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978. Vgl. Greimas, Algirdas Julien, Maupassant. La sémiotique du texte: exercices pratiques, Paris 1976. Vgl. Eco, Lector in fabula.
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6. Auswahlbibliographie Eco, Umberto, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1977. Sebeok, Thomas A., Contributions to the Doctrine of Signs, Bloomington 1976. [Dt.: Theorie und Geschichte der Semiotik. Reinbek 1979.] Krampen, Martin / Oehler, Klaus / Posner, Roland / von Uexküll, Thure (Hrsg.), Die Welt als Zeichen, Klassiker der modernen Semiotik, Berlin 1981. Eschbach, Achim / Trabant, Jürgen (Hrsg.), History of Semiotics, Amsterdam, Philadelphia 1983. Sebeok, Thomas A. (Hrsg.), Encyclopedic Dictionary of Semiotics, 3 Bde., Berlin 1986. Koch, Walter A. (Hrsg.), Semiotik in den Einzelwissenschaften, 2 Bde., Bochum 1990. Robering, Klaus, „Wissenschaftstheorie und Semiotik“, in: Koch, Walter A. (Hrsg.), Semiotik in den Einzelwissenschaften, Bochum 1990, S. 431–453. Posner, Roland, „Research in Pragmatics after Morris“, in: Dedalus, 1/1991, S. 115–156. Nöth, Winfried, „The semiotic potential for iconicity in spoken and written language“, in: Kodikas/Code, 13/1992, S. 191–209. Mosbach, Doris, „Semiotik zwischen den Lehr-Stühlen: Studienprogramme im internationalen Vergleich“, in: Zeitschrift für Semiotik, 16, 1–2/1994, S. 117–150. Meier-Oeser, Stephan, „Semiotik/Semiologie“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, S. 601–608. Trabant, Jürgen, Elemente der Semiotik, Tübingen, Basel 1996.
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Gardt, Andreas, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland, Berlin, New York 1999. Nöth, Winfried, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2000. Cobley, Paul (Hrsg.), Semiotics and Linguistics, London, New York 2001. Johansen, Jørgen Dines / Larsen, Svend Erik, Signs in Use, London, New York 2002. Peters, Jörg, „Semiotische Aspekte der Sprachwissenschaft: Sprachsemiotik“, in: Posner, Roland / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 2999–3027. Posner, Roland, „The relationship between individual disciplines and interdisciplinary approaches“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 2341–2374. Titzmann, Michael, „Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft“, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 3028–3102. Withalm, Gloria, Semiotic organizations, in: Roland Posner/ Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2004, S. 3644–3691. Withalm, Gloria, Reference works and periodicals, in: Roland Posner / Klaus Robering / Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Semiotik / Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 3, Berlin, New York 2004, S. 3692–3726.
Stoff- und Motivanalyse
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Stoff- und Motivanalyse von H ANS -J AKOB W ERLEN
1. Definition Die Langlebigkeit der Stoff- und Motivforschung als einer literaturwissenschaftlichen Methode macht sie zu einem heute bereits drei Jahrhunderte umspannenden Bestandteil der Germanistik. In seiner detaillierten Untersuchung zum Gebrauch des Motivbegriffs kommt Ulrich Mölk zu dem Ergebnis: „Man kann sagen, dass der Fachterminus Motiv in Literatur und Kunst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts fest etabliert ist“.1 Die Doyenne der Disziplin, Elisabeth Frenzel, gibt in ihrer jüngsten Veröffentlichung einen „Rückblick auf zweihundert Jahre literaturwissenschaftliche Motivforschung“.2 Die lange Praxis dieses Forschungsansatzes spiegelt, wie die Gegenstände seiner Untersuchungen, einschneidende geschichtliche, soziokulturelle und ästhetische Veränderungen wider – vom Positivismus des späten neunzehnten Jahrhunderts und der geisteswissenschaftlichen Reorientierung im frühen zwanzigsten Jahrhundert bis zum systemanalytischen Anspruch der 1960er- und -70er-Jahre und den Verbindungen mit dem Strukturalismus und der Textlinguistik.3 Seit ein paar Jahrzehnten soll eine Um-
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Mölk, Ulrich, „Zur europäischen Bedeutungsgeschichte von ‚Motiv‘ vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert“, in: Wolpers, Theodor (Hrsg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000, Göttingen 2002, S. 19. Frenzel, Elisabeth „Rückblick auf zweihundert Jahre literaturwissenschaftliche Motivforschung“ in: Wolpers (Hrsg.), Ergebnisse und Perspektiven, S. 21–39. Vgl. Bisanz, Adam John, „Zwischen Stoffgeschichte und Thematologie. Betrachtungen zu einem literaturtheoretischen Dilemma“, in: DVJS, 47/1973, 1, S. 157–58. Bisanz fasst diesen methodischen Werdegang zusammen als sukzessive Vereinseitigungen der poetischen Trias Stoff, Gehalt, Form und sieht in einem solchen „Methodenmonismus eigener Prägung“ die Wurzeln des kritischen Unbehagens, das alle Perioden der Stoff- und Motivforschung begleitet
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taufung in ‚Thematologie‘ der traditionsreichen Methode ein zeitgemäßeres komparatistisches Kleid und damit neue wissenschaftstheoretische Legitimität verleihen.4 Die dadurch erhoffte Präzisierung der terminologischen Schlüsselbegriffe ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘ wird aber bereits durch die semantische Ambivalenz der neuen Bezeichnung desavouiert. Zwar ist bei ihr das Beziehungsäquivalent zum englischen ‚theme‘ und französischen ‚thème‘ vorgegeben, nicht aber die gewünschte Korrelation zu den deutschen Begriffen ‚Stoff-‘ und ‚Motivgeschichte‘, die als feste Termini eines vorab in Deutschland praktizierten Analyseverfahrens unübersetzt in der ausländischen Komparatistik benutzt werden.5 Die langjährige und bis heute andauernde Suche der Stoff- und Motivanalyse nach klaren Begriffsdefinitionen verfehlt dieses Ziel auf Grund der dualistischen Beschaffenheit ihres Untersuchungsgegenstandes. Dieser präsentiert sich einerseits objektiviert in traditionell festgelegten Sammellisten von Stoffen und Motiven, anderseits aber bloß relational in deren jeweiligen individuellen Textmanifestationen. Dabei reklamiert Stoff als der weitläufigere, handlungsträchtigere Bestandteil des Werkes einen objektiveren Status als das sich a priori immer nur im Einzeltext realisierende kleinere Motivelement. Die Stoff- und Motivforschung beschreibt deshalb Konstanten (Personen und Gruppen, Handlungen und Örtlichkeiten, Gegenstände und Situationen), die durch oft jahrhundertealten Gebrauch und tradierte Konvention fester Bestandteil der (westlichen) Literatur geworden sind, und gleichzeitig – bedingt durch den Zeitwandel und individuellen künstlerischen Schaffensgebrauch – die veränderliche Bedeutung dieser Konstanten. Der Anspruch der Stoff- und Motivanalyse ist, dieser Dualität Rechnung zu tragen. Stoffe und Motive sind demnach „immer wieder Ergebnis und zugleich auch geistiges Movens des politischen und sozialen Lebens ihrer Zeit“.6 Ihre Analyse erlaubt einen diachronen Vergleich verschiedener Literaturepochen wie auch einen synchronen Vergleich der literar4
5
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Vgl. dazu Beller, Manfred, „Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre“, Arcadia, 5/1970, S. 1–38. Vgl. De Grève, Marcel: „La Stoffgeschichte, le terme étant souvent employé tel quel dans d’autres langues que l’allemand. Le seul fait que ce sont surtout les critiques allemands qui se sont consacrés à ce genre d’études explique que le terme allemand ait été repris par les autres langues“, in: Dictionnaire International des Termes Littéraires, http://www.ditl.info/arttest/art23070.php (Stand: 12. 11. 2007). Frenzel, Elisabeth, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 1976, Vorwort S. VIII.
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ästhetischen Aspekte unterschiedlichster Einzelwerke. Darum ist die vergleichende Literaturwissenschaft eine bevorzugte Domäne der Stoffund Motivforschung.7
2. Beschreibung Das von Goethe zu Gunsten der Form entschiedene Spannungsverhältnis der poetologischen Dreiteilung Stoff-Form-Gehalt bleibt auch für die lange Tradition (und wichtiger noch für die kritische Rezeption) der Stoff- und Motivanalyse von Bedeutung, wobei sich der Schwerpunkt je nach methodologischem Ansatz immer wieder zugunsten eines der drei Teilelemente verlagert.8 Die systematischen und ausführlichen Katalogisierungs- und Klassifizierungsarbeiten in den Anfängen der Disziplin – beeinflusst von der positivistischen Vorliebe für schematische Erfassung und dem Sammeleifer für (volksliterarische) Indexerstellung – führten schon bald zu den nicht mehr verstummenden Vorwürfen, Stoff- und Motivarbeiten seien blosse Anhäufung „ausserliterarischer“ Materialien.9 Als Antwort auf diesen Vorwurf gab Paul Merkel in den 20er-Jahren unter dem Einfluss Diltheys der Stoff- und Motivanalyse eine geisteswissenschaftliche Neuausrichtung und damit einen Fokus auf den ideellen Gehalt von Literatur. Eine methodologische Korrektur der geisteswissenschaftlichen Gehaltbetonung geschah erst unter dem verspäteten Einfluss des Strukturalismus (V. Propp), wobei diese Ausrichtung der Stoff- und Motivforschung schon bald als einseitig formalistisch und szientistisch kritisiert wurde. Methodologische Neubesinnungen, die die schwierige Frage nach dem Stellenwert der Einzelkomponenten ‚Stoff-Form-Gehalt‘ zu be7 8
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Vgl. Beller, „Von der Stoffforschung zur Thematologie“, S. 2. „Die Besonnenheit des Dichters bezieht sich eigentlich auf die Form, den Stoff gibt ihm die Welt nur allzufreigiebig, der Gehalt entspringt freiwillig aus der Fülle seines Innern; bewusstlos begegnen beide einander und zuletzt weiß man nicht, wem eigentlich der Reichthum angehöre“. Vgl. die Kontextualisierung dieses oftbenutzten Goethezitates aus den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans bei Beller, S. 35–36, und Bisanz, S. 152–53. Vgl. Wellek, René / Warren, Austin, Theory of Literature, New York 1949, S. 272. René Welleks überspitzte Formulierung von der Stoffgeschichte als der „am wenigsten literarische[n] Geschichte“ hat der Methode ein jahrzehntelanges Stigma zugefügt und wird heute noch, lange nach der Glanzzeit des new criticism, beinahe zwanghaft sowohl von Adepten als auch Kritikern der Stoff- und Motivforschung zitiert.
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antworten trachten, scheitern oft an den theoretischen Präferenzen der Praktiker, mehr noch aber an der intrinsischen Nichtfixierbarkeit der wichtigsten methodenspezifischen Termini: ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘. Die Schuld an der notorischen Unschärfe dieser Begriffe liegt weniger bei den unterschiedlichen Definitionsversuchen als am beinahe aporetischen Charakter der Begriffe selbst, der durch die antithetischen Pole von fundamentaler Strukturenkonstantheit und subjektiver individueller Realisierung konstituiert wird. Um diesen unentwirrbaren Nexus begriffstheoretisch unter Kontrolle zu bringen, behilft sich die Stoff- und Motivanalyse mit zwei verschiedenen Definitionsstrategien – hoher Abstraktionsgrad einerseits und ausufernde Begriffsdetailliertheit anderseits –, die beide die Instabilität der Begriffe arretieren sollen. Eine nähere Betrachtung verschiedener Definitionsversuche, die die wechselseitige Beziehung von Stoff und Motiv erklären, erlaubt Einsicht in die wichtigsten Fragestellungen und Grundgedanken der Methode. In ihrem umfangreichen und grundlegenden Lexikon Stoffe der Weltliteratur greift Elisabeth Frenzel mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit auf die „von der Literaturwissenschaft seit längerem erarbeiteten Begriffe Stoff und Motiv“ zurück, um diese dann noch einmal durch ihre eigenen, bis heute weitgehend akzeptierten Definitionen zu präzisieren.10 Als begriffliche Einheit ist ‚Stoff‘ umfassender als ‚Motiv‘. Dieses quantitative Verhältnis wird von Frenzel einprägsam durch die Musikmetapher formuliert, die Motiv als einen Akkord, Stoff als die ganze Melodie bezeichnet.11 Beiden gemeinsam ist das Element der Bildhaftigkeit, aber erst die kreative Kombination von kleineren Motivkomplexen konstituiert einen Stoff. In den endlosen Kombinationsmöglichkeiten von Motiven lebt der Stoff fort. Diese potentielle Vielgestaltigkeit gibt der Stoffforschung einen literarästhetischen Erkenntnisanspruch, der den Vorwurf blosser 10
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Die unumgängliche Stoffdefinition Frenzels lautet: „Unter Stoff ist nicht das Stoffliche schlechthin als Gegenpol zu dem formalen Strukturelement der Dichtung zu verstehen, also nicht alles, was die Natur der Dichtung als Rohstoff liefert, sondern eine durch Handlungskomponenten verknüpfte, schon außerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel, ein ‚Plot‘, der als Erlebnis, Vision, Bericht, Ereignis, Überlieferung durch Mythos und Religion oder als historische Begebenheit an den Dichter herangetragen wird und ihm einen Anreiz zu künstlerischer Gestaltung bietet“. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, S. V. „Der Stoff bietet eine ganze Melodie, das Motiv schlägt nur einen Akkord an“. Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart, 1976, Vorwort S. VI.
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positivistischer Auflistungsarbeit entkräften soll. Die Betonung des relationalen Charakters von Stoff und Motiv verlegt den Definitionsakzent von objektiver Substanz auf die subjektiv bearbeitete und wahrgenommene künstlerische Erscheinungsform. Dies verhindert aber nicht, dass der Stoff oft als bloß materieller Inhalt der Dichtung betrachtet wird, ein Vorurteil, das sich häufig auch auf das Motiv bezieht, obwohl Motivbeschreibungen noch stärker als Stoffdefinitionen bemüht sind, den Begriff als Denk- und Schaffensprozess zu beschreiben, der sich nur in der Interrelation mit anderen Texteinheiten entfaltet. Der proteische Charakter von ‚Motiv‘ ist der Hauptgrund, dass die verschiedenen Definitionsversuche oft ungenau ausfallen. Frenzel ist sich dieser Grundproblematik der Motivforschung bei der Herausgabe ihres monumentalen Lexikons Motive der Weltliteratur bewusst, wenn sie die dualistische Beschaffenheit des Motivs auf den Nenner bringen will: „Zum Wesen des Motivs gehört, dass es nach zwei Seiten festgelegt ist, nach der formalen und der geistigen“.12 Die funktionale Eigenschaft des Motivs verbindet schematisierte Vorstellungskategorien (Figuren und Ereignisse, Situationen und Örtlichkeiten) mit aktiver Wechselbeziehung zu anderen Textelementen. Horst Daemmrich meint summierend, ‚Motiv‘ „kann eine Grundidee ausdrücken und gleichzeitig einen erweiterten Gedankengang in einer Serie von Bildern entwickeln, die in den Text eingewoben werden“.13 Daemmrichs Bestimmung verweist auf die in der lateinischen Bedeutung von ‚Motiv‘ (movere, bewegen) ausgedrückte kinetische Qualität des Terminus, auf die Oszillation zwischen formaler Begrifflichkeit und subjektiver Ausführung im Text, aber auch auf die seit dem späten Mittelalter geltende Bedeutung des Motivs als Handlungsträger.14 In ihren terminologisch exemplarischen Definitionsversuchen resümiert Natascha Würzbach: „Das Motiv ist eine begriffliche Repräsentation eines Konzeptes, das in verschiedenen Einzeltexten realisiert und damit auch kon-
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Frenzel, Motive der Weltliteratur, S. VI. Frenzel spricht von den Gefahren einer lexikographischen Arbeitsweise, wie sie in der Volksliteraturforschung geübt wird, und warnt, in Anlehnung an eine Kritik von Helmut de Boor (1928), vor „der atomisierenden Betrachtung“ bei der Erarbeitung von Motiven. „It can express a basic idea and simultaneously develop a broader thought in a series of images that are interwoven into the text“. Vgl. Daemmrich, Horst „Themes and Motifs in Literature: Approaches-Trends-Definition“, in: The German Quarterly 58, 4, S. 568–69. Vgl. Mölk, „Zur Europäischen Bedeutungsgeschichte von ‚Motiv‘, S. 11.
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kretisiert wird“.15 In Kontradistinktion zur engeren Spezifizität des Stoffbegriffes und dem viel grösseren Abstraktionsgrad der Themakategorie, zeigt sich das Motiv „als ein komplexes, aber immer noch recht variables literarisches Element, das besonders geeignet ist, um Bezüge zwischen Texten, Gattungen, Epochen sowie innerhalb von Traditionsverläufen herauszuarbeiten“.16 Theodor Wolpers, ein führendes Mitglied der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen und Herausgeber von nicht weniger als acht Bänden, in denen die Resultate der Kommissionsarbeit von 1978–2001 in 85 Beiträgen vorgelegt wurden, unterscheidet zwischen Primärmotiven (archetypische, mythische Motive) und Sekundärmotiven (kulturspezifisch, historisch bedingt), die sich in den Definitionsaspekten „Permanenz“ und „Variabilität“ unterscheiden. Nach Wolpers bestehen Primärmotive aus anthropologischen Konstanten, die sich in Aktionen und Situationen wie „Flucht“, „Verfolgung“, „Reise“, „Gefangenschaft“, „Vater-Sohn-Konflikt“, „Geburt und Tod“ manifestieren, während Sekundärmotive durch kulturspezifische Verarbeitungen gekennzeichnet sind.17 Diese Trennung iteriert noch einmal den dualistischen Charakter des Motivs, wie ihn Goethe in den Maximen und Reflexionen zur Kunst verknappt kennzeichnete. Nach Goethe sind Motive „Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden und die der Dichter nur als historische nachweist“.18 Ein solcher Nachweis komplexer Motivverkettungen verlangt aber nicht nur von Textproduzenten (Autoren), sondern auch von den Textrezipienten (Lesern) einen hohen Grad von komparatistischem Wissen.19 Eine profunde Kenntnis der so unterschiedlich erscheinenden Motivinhalte, die deren Allgemeingültigkeit bestätigen kann, bedingt
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Würzbach, Natascha „Theorie und Praxis des Motiv-Begriffs: Überlegungen bei der Erstellung eines Motiv-Index zum Child-Korpus“, in: Jahrbuch für Volksliedforschung, 38/1993, S. 65. Würzbach, „Theorie und Praxis des Motiv-Begriffs“, S. 70. Vgl. Wolpers, Theodor, „Recognizing and Classifying Literary Motivs“, in: Trommler, Frank (Hrsg.), Thematics Reconsidered. Essays in Honor of Horst. S. Daemmrich, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 40–41. Zitiert nach Frenzel, Motive der Weltliteratur, S. IX. Auf diese notwendigen Vorkenntnisse bezieht sich der pompöse Ausspruch von Ernst Robert Curtius, zum rechtmäßigen Besitz eines „Bürgerrechts“ in der Literatur gehöre sein Erwerb „in allen ihren Epochen von Homer bis Goethe“. Zitiert nach Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid, Wiederholte Spiegelungen. Themen und Motive in der Literatur, Bern 1978, S. 6.
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weit reichende Erfahrung mit literarischen Traditionen. Die Wechselfälle dieser Traditionen syn- und diachronisch zu verstehen, ist eine der Hauptaufgaben der Stoff- und Motivgeschichte, und Frenzels Lexika liefern notwendiges Grundwissen dafür. Die Beschreibung dieser „Dauer im Wechsel“ ist aber nur ein Aspekt von Stoff- und Motivforschung. Gleichzeitig mit dem Erkennen der sich in neuen Bedeutungen wiederholenden inhaltlichen Elemente (Kernmotive) soll Motivanalyse auch Antworten auf die strukturelle Gestaltung von Texten geben.20 Dieser Anspruch rettet sie vor dem Vorwurf, die ästhetisch-formalen Aspekte von Texten zu missachten. Sowohl Frenzel als auch Daemmrich weisen immer wieder darauf hin, dass ihre Forschungsrichtung formalästhetischen, historischen, soziokulturellen und psychologischen Fragen gerecht werden will und kann. Der Kritik an der Stoff- und Motivanalyse tun diese Beteuerungen keinen Abbruch. Kritiker monieren weiterhin die zwei systemischen Schwächen der Disziplin: einerseits die Zuflucht zu einem Abstraktionsniveau, das nur noch generelle Attribute beschreibt, auf der anderen Seite eine Verzettelung in immer engere Kategorisierungen und Sub-Kategorisierungen, die sich beim Versuch einer Anwendung auf individuelle Textbeispiele als unbrauchbar erweisen. Die germanistische Stoff- und Motivforschung als literaturtheoretische Disziplin muss sich aber nicht bloss gegen diese Vorwürfe wehren, sondern auch einen methodischen Eigenweg finden, der sie sowohl von der Volksliteratur (Folkloristik) als auch von der internationalen Komparatistik unterscheidet. Während man letztere gern als Verbündete sieht, ist das Verhältnis zur Erforschung der Volksliteratur bereits seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert ein ambivalentes. Ein Ausdruck dieser Strategie der Absetzung von der Volksdichtung ist das Bestehen auf der ästhetischen Privilegierung der „Kunstliteratur“ (auch als „Hochliteratur“ bezeichnet). Es ist ein positives Zeichen, dass die jüngste Motivforschung die Gegensätzlichkeiten zwischen den beiden Forschungsrichtungen zu überwinden versucht.
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„Ihre Anordnung, Verteilung, Wiederholung und Variierung bildet ein complexes Beziehungssystem, das einen integralen Bestandteil der Textstruktur darstellt“. Daemmrich, „Themes and Motives“, S. 573.
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3./4. Institutionsgeschichtliches/Publikationen Die methodische Begriffsentwicklung der Stoff- und Motivforschung ist lang und widersprüchlich und reicht ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Versuche einer terminologischen Präzisierung finden sich bei so unterschiedlichen Interpreten wie dem Philologen Wilhelm Scherer, bei Wilhelm Dilthey, unter dessen Einfluss die Methode eine geistesgeschichtliche Ausrichtung erfuhr, bei dem großen Vertreter positivistischer Quellenforschung Josef Körner und bei Julius Petersen, dem Dissertationsbetreuer von Elisabeth Frenzel. Scherers Poetik (1888) markiert einen wichtigen Übergang von der literaturgeschichtlichen Methode zur Literaturwissenschaft. Scherer und die Berliner Schule tragen entscheidend zur methodologischen Etablierung der Stoff- und Motivgeschichte bei. In Körners Aufsatz „Erlebnis – Motiv – Stoff“ findet man bereits die seither gültige (und die Begriffsbestimmung so erschwerende) Aufteilung des literarischen Motivs in die Doppelaspekte „subjektiv-aktivistisch“ und „objektiv-formal“.21 Die Arbeiten von Robert Petsch und Julius Petersen bleiben der auf Diltheys Erlebnispsychologie beruhenden geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der Methode verpflichtet, die von Paul Merker eingeleitet wurde. Dieser gab zwischen 1929 und 1937, in Zusammenarbeit mit Gerhard Lüdtke, im Verlag Walter de Gruyter sechzehn Bände von Einzeluntersuchungen zur „Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur“ heraus.22 Merker „richtete den in Misskredit geratenen Forschungszweig geistesgeschichtlich aus, indem er die schöpferische Einzelpersönlichkeit hinter der Profilierung stilgeschichtlicher Epochen zurücktreten ließ“.23 Zusammen mit dieser Neuausrichtung versucht Merker eine methodische Trennung von der Volkskunde, die nur wenige Jahre früher (1925) im erstmals erschienenen Jahrbuch für historische Volkskunde vorbildlich folkloristische Stoffe und Quellenmaterialien geortet und katalogisiert hatte. Neben einer Grundsatzdiskussion der methodischen Konzepte wartete das neue Jahrbuch mit einem bibliographischen Überblick über das Gebiet der vergleichenden Volkskunde auf. Das stoffgeschichtliche Pendant zu dieser Biographie lieferte wenig später (1932) Kurt Bauer21 22
23
Vgl. Frenzel, „Rückblick auf zweihundert Jahre“, S. 29. Typische Titel dieser Reihe sind z. B. Wilhelm Grenzmanns Die Jungfrau von Orleans in der Dichtung (Band 1, 1929) und Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung 1880–1930 von Kurt T. Wais (Band 11, 1930). Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, S. XI.
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horst in seiner Paul Merker zugeeigneten Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur, ein Unterfangen, das Franz Anselm Schmitt in mehreren Ausgaben der Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur weiterführte.24 In den 1960er- und -70er-Jahren ragt Elisabeth Frenzel durch die Veröffentlichung weitumfassender Handbücher und Lexika als die führende Vertreterin der Stoff- und Motivforschung heraus. Besonders ihre zwei monumentalen Kompilationen, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (2005 in zehnter Auflage erschienen) und Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (5. Auflage 1999) zählen zu den meistzitierten und verlässlichsten Nachschlagewerken des Faches. Die im Titel beschriebene chronologische Darstellungsmethode löst den Anspruch ein, Motiv- oder Stofftraditionen verschiedener Zeiten und Kulturen des Westens und ihre dia- und synchronen Verbindungen aufzuzeigen. Die von Frenzel dargestellten Gebrauchs- und Bedeutungsgeschichten von Motiven umspannen die Literatur von der Antike bis zu der neueren europäischen Literatur, besonders der deutschsprachigen. Die Auswahl der Motive beruht auf essentiellen Charakteristika und Funktionen, die nachweisbar eine dauernde Gültigkeit beanspruchen, obwohl die individuellen Texte ihre spezifische Motivdynamik entwickeln. Diese Eigendynamik, die auf der Kreativität einzelner Autoren beruht, hält aber Frenzel nicht davon ab, zwischen „wichtigen“ Motiven, die eine „seelisch-geistige“ Spannung erzeugen können, und weniger erfolgreichen Motiven zu unterschieden, denen sie einen bloß „thematischen Zug“ zuschreibt. Diese Zuschreibungen bergen aber die Gefahr subjektiver Befangenheit.25 In ihren bekannten und weitverbreiteten Lexika erarbeitet Frenzel Definitionen der Begriffe ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘, denen noch heute oftmals Standardwert beigemessen wird. Frenzel treibt die Trennung von 24
25
Vgl. Bauerhorst, Kurt, Stoff – und Motivgeschichte der deutschen Literatur, Berlin, Leipzig 1932; Schmitt, Franz Anselm, Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur, Berlin 1976. So führt Frenzel als Beispiel eines unwichtigen Motivs „die sich von Fausts unterscheidende Wissenschaftsauffassung des Famulus Wagner“ an, ein Motiv, dem sie alle „innere Spannung und motivkonstituierende Qualität abspricht und das sie als bloßes „additives“ Element kennzeichnet, das der bloßen Ausschmückung und Stimmung dient. Gerade aber der in Faust dargestellte Übergang von Wissenschaftssystemen, exemplifiziert an den Figuren Faust/Wagner, hat sich in letzter Zeit als wichtiges Thema etabliert. Vgl. Kittler, Friedrich, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985, Faustkapitel.
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‚Kunstliteratur‘ und ‚Volksliteratur‘ bewusst weiter, indem sie in der Forschungsmethode der Folkloristen die „Gefahr einer atomisierenden Betrachtung des Kunstwerkes und einer mechanistischen Vorstellung von seiner Entstehung“26 sieht. Diese Vorwürfe entsprechen, nicht zufälligerweise, genau den kritischen Einwänden, die auch gegen die literaturwissenschaftliche Stoff- und Motivforschung erhoben wurden. Frenzel ist sich dieser Vorwürfe bewusst und auch der Tatsache, dass ihr Forschungsgebiet schon lange „ein Winkeldasein geführt hatte“.27 Es ist für Frenzel eine freudige Überraschung, wenn in den 1960er-Jahren die internationale Komparatistik in Frankreich, England und den USA, in Arbeiten wie Ulrich Weissteins Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, ihrem Forschungsbereich belebend zu Hilfe eilt.28 Die methodologische Rehabilitierung wird von dem an der Princteon Universität lehrenden Theodore Ziolkowski fortgesetzt, der die Verbindung der beiden Fachbereiche mit der apodiktischen Aussage auf den Punkt bringt, dass das thematische Literaturstudium zwangsläufig mit dem komparatistischen Studium von Literatur zusammenfällt.29 Eine weitere Belebung der Methode kam von der 1972 ins Deutsche übersetzten Morphologie des Märchens des russischen Märchenforschers Vladimir Propp, dessen Analyse der Handlungsfunktionen im Märchen fruchtbare Parallelen zur Motivforschung aufwies. Für Kritiker bedeutete die Adaption von Propps Analyseverfahren durch die Motivforschung eine erneute „Verwissenschaftlichung“ der Methode durch Nachahmung strukturalistischer Verfahrensweisen. Die kritischen Einwände gegen diese Art der Stoff- und Motivforschung sind früheren Vorwürfen nicht unähnlich, die der unter dem Einfluss des Positivismus stehenden Forschung bloße stoffliche Anhäufung und Missachtung der ästhetischen Aspekte des sprachlichen Kunstwerkes vorwarfen. Die reduktive Schematik des Propp’schen Modells wird dann auch sehr bald als unzulänglich für die Komplexität literarischer Texte gesehen – und damit noch einmal die qualitative Trennung von Volksliteratur und Hochliteratur bestätigt. Nach Frenzel stammen wichtige Beiträge in der Weiterführung der Stoff- und Motivforschung von dem in den USA lehrenden Horst S. 26 27 28
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Frenzel, Stoffe S. XII. Frenzel, Stoffe, S. XV. Vgl. Weisstein, Ulrich, Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Stuttgart 1968. „The thematic study of literature inevitably becomes a comparative study of literature“, Ziolkowski, Theodore, Varieties of Literary Thematics, Princeton 1983, S. XI.
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Daemmrich, der, oft in Zusammenarbeit mit Ingrid Daemmrich, besonders darum bemüht ist, Motivforschung als wichtigen Beitrag zur ästhetischen und interkulturellen Literaturanalyse zu präsentieren. Die Autoren von Wiederholte Spiegelungen: Themen und Motive in der Literatur (1978) und Themen und Motive in der Literatur: Ein Handbuch (1987) führen – unter gleichzeitiger Erweiterung Frenzels – vergleichende Motivanalyse im Längsschnitt der westlichen Literatur fort. Der Miteinbezug zeit- und ortsspezifischer Momente soll ein genaueres kulturelles Verständnis von Motiven erlauben, bei gleichzeitiger Analyse ihrer strukturellen Beschaffenheit. Daemmrichs Versuch, Stoff- und Motivanalyse auch weiterhin als relevante literaturtheoretische Disziplin zu bewahren, zeigt sich neben seinen Veröffentlichungen auch in der langjährigen Herausgabe der Reihe Studies on Themes and Motifs in Literature (Peter Lang Verlagsgruppe), die seit 1994 nicht weniger als 83 Bände umfasst und Literatur von der Antike bis zur Gegenwart untersucht. Ziel dieser Reihe ist es, die Verbindung von literarischer Tradition und individuellen Umwandlungen dieser Tradition durch Motivanalyse aufzuzeigen. In dieser Forderung der Reihe verbindet sich noch einmal der ideale methodenspezifische Anspruch der Stoff- und Motivforschung, alle Elemente der poetischen Trias Stoff-Gehalt-Form miteinzubeziehen. In den einzelnen Studien der Reihe wird dieser Anspruch auf verschiedene Weise eingelöst – so durch Verfolgung der Entwicklung von Motiven durch größere Zeiträume, durch die Erklärung der Bedeutung von spezifischen Motiven in der Herausbildung von Epochenstilen und durch die Analyse der einzigartigen strukturellen Funktion von Motiven. Daemmrich kritisiert bei Frenzel einen Mangel an methodologischer Reflexion und wirft ihr terminologische „Abgrenzungsschwächen“30 vor. Diese Kritik drückt aber, ähnlich wie die frühen Einwände gegen diese Forschungsrichtung, ein intrinsisches Problem der ganzen Methode aus, das noch immer der Lösung harrt, nämlich die Kluft zwischen komplexem Klassifikationssystem und konkreter Einzelanwendung am Text. Auch die unterschiedlichen Veröffentlichungen der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Göttinger Akademie der Wissenschaften können diese Kluft nicht schließen. Die verschiedenen, von Theodor Wolpers herausgegebenen Forschungsberichte, die sowohl inhaltstheoretische als auch ordnungssystematische Ergebnisse dieses Akademieprojektes präsentieren, tragen zwar wesentlich dazu bei, 30
Daemmrich, in seiner Rezension von Frenzels Motive der Weltliteratur. The German Quarterly, 511.
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persistierende Probleme der Abgrenzung und Zuordnung zu lösen, aber auch nach der umsichtigen Erstellung von konkreten inhaltlichen Klassen, gedacht als praktisches Anwendungssystem, warnt Wolpers, dass es immer Grenzfälle und Ungenauigkeiten in der Motivzuordnung geben wird. Wichtig ist nicht die Unfehlbarkeit der Kategorien, sondern deren konstante Anwendung in Einzeluntersuchungen.31 Diesem Prinzip folgt auch die aus der Arbeit der Kommission entstandene LiMoST – Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen – die ihre aus weit über 10 000 Titeln bestehende Sammlung als Hilfsmittel für künftige thematologische Forschungsarbeiten betrachtet.32
5. Fachgeschichtliche Einordnung Auch die neueren und neuesten Arbeiten der Forschungsrichtung verfolgen in ihren Untersuchungen traditionelle Zielsetzungen. Im Spannungsfeld von typologischen Konstanten und ständigen Neuerungen versuchen diese Studien, Erkenntnisse über Gattungen und Epochenmerkmale wie auch über poetologische Aspekte von Einzeldichtungen zu gewinnen. Dabei vermeiden sie sowohl verästelnde Kategorienbildung als auch breitgefächerte Auflistungen und benutzen die thematologische Methode, um bestimmte Aspekte eines Textes mit Theorieansätzen zu untersuchen, die nicht notwendigerweise zur Stoff- und Motivanalyse gehören, z.B. aus Frauenforschung (women’s studies), ‚Gender‘-Studien, Postkolonialismus oder ‚cultural studies‘. Diese eklektische Weiterführung einer traditionellen Methode scheint Horst Dammerichs Bemerkung, die Stoffund Motivanalyse sei an keine spezifische literaturwissenschaftliche Theorie gebunden, zu bestätigen. Ideologisch unterschiedlichste Ansätze benutzen die lange Tradition der Stoff- und Motivanalyse zum jeweiligen Eigenzweck. Dabei wird das alte Problem des ungenauen Begriffsinstrumentariums in zahlreichen neueren Arbeiten dadurch gelöst, dass man erst gar keinen Versuch macht, sich damit auseinanderzusetzen. Durch 31
32
Vgl. Wolpers, Theodor „Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung“, in: Ergebnisse und Perspektiven, S. 41–112; ders., „Recognizing and Classifying Literary Motifs“, S. 33–70. http://zs.gbv.de/motive/ LiMoST, Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen, Testfassung. Datenbestand: 6 004 Einträge (6. Februar 2004). Letzte Änderung an den Internet-Seiten: 6. Februar 2004. Stand: 10. 11. 2007; vgl. auch Habel, Thomas, „Die Göttinger Motiv-, Stoff- und Themenbibliographie – zu Entwicklung, Anlage und Arbeitsweise“, in: Ergebnisse und Perspektiven, S. 331–376.
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diese gewollte Missachtung soll die Gefahr eines Rückfalls in einen terminologischen Essentialismus vermieden werden. Diese Gefahr bestand seit dem Beginn der Stoff- und Motivforschung, besonders in der Ausarbeitung bestimmter und bestimmender Kennzeichen von Nationalliteraturen. Die empirische Forschung fand oftmals rekurrierende und kontinuierliche literarische Grundtypen, war sich aber meistens gleichzeitig bewusst, dass die Gestaltgebung dieser Grundtypen von sozialen und geschichtlichen Entwicklungen abhängt und dadurch beträchtlichen Bedeutungsschwankungen unterworfen ist.33 Arbeiten der Stoffforschung, die axiomatisch behaupteten, unwandelbar vorgegebene Konstanten zu identifizieren, und die diesen Konstanten ontologischen Charakter beimaßen, blieben oft nicht ohne gefährliche ideologische Konsequenzen, wie Sander Gilman zeigt.34 „Das Interesse an nationalspezifischen Stoffen gerät“, wie Manfred Beller bemerkt, „leicht in Gefahr, statt der kritischen Analyse anhand allgemeinverbindlicher poetologischer Kategorien seinerseits einer tendenziösen Rechtfertigung politischer Legendenbildung zu dienen“.35 Wenn Frank Trommler 1995 schreibt, man könne die wissenschaftliche Beschäftigung mit „thematics“ als ein Forschungsfeld betrachten, „das noch immer auf der Suche nach Anerkennung sei“, kann man dieser Aussage zustimmen, wenn damit gemeint ist, dass die traditionelle Stoffund Motivforschung nur noch selten beim Namen genannt wird – und dies selbst bei ihren interessantesten Vertretern.36 Die kritische Missach33
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35
36
Viele der besten Arbeiten der Stoff- und Motivforschung zeigen gerade diesen langzeitigen geschichtlichen Wandel durch die Untersuchung eines Einzelstoffes oder Einzelmotivs. Bekannte Beispiele stammen häufig aus der vergleichenden Literaturwissenschaft. Stellvertretend für eine ganze Reihe solcher Arbeiten ist die Prometheus-Arbeit des belgischen Philologen Raymond Trousson, Le thème de Prométhée dans la littérature européenne, 2 vol., Genève 1964 (2e éd. augmentée 1976; 3e éd. 2001). Vgl. Gilman, Sander „Themes and the ‚Kernel of Truth‘“, in: Sollor, Werner (Hrsg.), The Return of Thematic Criticism, Cambridge MA, London 1993, S. 294–296; auch Marcel De Grève in seinem Dictionnaire International des Termes Littéraires weist auf diese Gefahr hin: „La Stoffgeschichte conduit à la Geistesgeschichte. Et dans leur voisinage, présentes mais incertaines, subtiles, malaisément saisissables, s’affirmant cependant comme nécessaires, inévitables, d’autres notions: les „familles d’esprit“, le Volksgeist, le Zeitgeist“; http://www.ditl.info/arttest/art23070.php. Beller, Manfred, „Thematologie“, in: Schmeling, Manfred (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1981, S. 76. „Thematics can be considered a field in search for recognition“. Trommler, Frank, „Preface“, in: Thematics Reconsidered, S. 1.
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tung der oft als moribund geltenden Methode hat eine lange Tradition. Die Nachrichten über den Tod der Stoff- und Motivforschung waren aber schon immer stark übertrieben, wenn auch der Versuch von Manfred Beller, bereits 1970 „der konventionellen ‚Stoffgeschichte‘ die Leichenabdankung zu singen“, als teilweise geglückt gesehen werden muss.37 Die im Titel von Bellers einflussreichem Aufsatz angedeutete Aktualisierung des Methodenrahmens – die Zusammenführung der Stoff- und Motivanalyse mit der Thematologie – wird in den letzten Jahren in zahlreichen neueren Forschungsarbeiten praktiziert, oft gänzlich ohne theoretische Reflexion. Viele Autoren dieser thematisch geprägten Beiträge geben sich besondere Mühe, nicht als Vertreter einer Disziplin zu gelten, die den Ruf hat, antiquiert, angestaubt, völlig unzeitgemäß zu sein.38 Diese Kritik ist aber beinahe so alt wie die Stoff- und Motivforschung selber. Als erfolgreiche Beispiele neuer Arbeiten in der langen Tradition der Stoff- und Motivanalyse kann Joachim Rickes’ Führerin und Geführter. Zur Ausgestaltung eines literarischen Motivs in Christoph Martin Wielands ‚Musarion oder die Philosophie der Grazien‘ gelten.39 Ausgehend von einer kritischen Reorientierung an Elisabeth Frenzels Begriffsdefinitionen, gelingt Rickes in seiner textimmanenten Analyse eine überzeugende Neuinterpretation der Wieland’schen Protagonistin. Eine andere wichtige Studie in der Tradition der Motivforschung ist Michael Andermatts Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk.40 Im Gegensatz zu Rickes, der weitgehend im traditionellen Rahmen der Stoff- und Motivforschung weiterarbeitet, bedeutet Andermatts Arbeit eine Rückkehr der Motivforschung zum Strukturalismus, genauer zur strukturalen Erzähltextanalyse Teun A. Van Dijks. Diese
37 38
39
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Vgl. Beller, Manfred, „Von der Stoffgeschichte zur Thematologie – Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre“, in: arcadia 5/1970, S. 34. Vgl. Sollor, Werner, The Return of Thematic Criticism, Cambridge MA, London, 1993, S. xi ff.; Rickes, Joachim, „Motivforschung – eine unmoderne Disziplin? – Überlegungen zu einer (ge)wichtigen Neuerscheinung (Michael Andermatt, „Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk“, Bern et al. 1996)“, in: Wirkendes Wort 3/1997, S. 489–501. Rickes, Joachim, Führerin und Geführter. Zur Ausgestaltung eines literarischen Motivs in Christoph Martin Wielands ‚Musarion oder die Philosophie der Grazien‘. Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Band 1161, Bern et al., 1989. Andermatt, Michael, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk, Bern et. al. 1996.
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Rückkehr hat unter anderem auch die Folge, dass die Trennungslinie von Kunstliteratur und Volksliteratur sich wieder aufzulösen beginnt.41 Andermatt nimmt die Einsicht der neueren Arnimforschung, dass Analogie das wichtigste Organisationsprinzip von Arnims Texten sei, als Ausgangspunkt seiner Arbeit und wählt Arnims Erzählung Die Einquartierung im Pfarrhause als Demonstrationsobjekt für diese These.42 Nach einer kurzen methodenbegrifflichen Darstellung der Motivforschung (und Wiederholung der alten Klage über die Verwirrung der Begriffsdefinitionen) sieht Andermatt die zeitgemäße Rettung des Fachbereiches in der Textlinguistik, besonders in den theoretischen Begriffen von Teun van Dijk und dessen Ausrichtung auf globale Textstrukturen (Makrostrukturen). In Anlehnung an van Dijk ist ein Motiv für Andermatt „wesentlich eine aus Teilsequenzen, also aus einer Anzahl von Propositionen zusammengesetzte Bedeutungseinheit der makrostrukturellen Ebene des Textes“. Wie alle vorgängigen Motivdefinitionen birgt auch Andermatts die Gefahr extremer Abstraktion und verlangt von den Lesern wesentliche Vorkenntnisse der Textlinguistik. Die axiomatische Aussage „Motive bilden sich als komplexes Resultat von Inferenzziehung“ liegt nahe an Daemmrichs Definition, die Motiv ebenfalls nicht zum bloßen Textmerkmal reduziert. Nach Andermatt wandelt sich die Motivkonstitution „unter dem Zugriff der Rezeption, wobei dieser wiederum im Horizont gesellschaftlicher Diskursregelungen erfolgt.“43 Der strukturelle Charakter von Motiven bedeutet, dass sie nicht unmittelbar im Text ersichtlich sind, sondern aus gewissen Satzkonstellationen hervorgehen. Andermatts Einteilung des Arnimtextes in verschiedene textliche Ebenen mit korrespondierenden Motivkonkretisierungen ist einsichtig und überzeugend, die Zuordnungen müssen sich aber strikt an vorgegebene Konstanten der Makrostrukturen halten. Weil Motive Ergebnis 41
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Vgl. Rickes Kommentierung von Andermatts Arbeit: „[…] mit ihrer anspruchsvollen methodischen Fundierung wie ihrer sorgfältigen und ertragreichen Duchführung insbesondere geeignet, dem fachlichen Negativimage dieser Disziplin als einer wenig zeitgemässen Form der Literaturbetrachtung entgegenzuwirken“. Rickes, „Motivforschung – eine unmoderne Disziplin?“, S. 497. Im folgenden benutze ich die von Andermatt stark kondensierte Version seiner Arbeit zu Arnims Geschichte, die auf seiner Website zugänglich ist. Vgl. Andermatt, Michael, http://homepage.sunrise.ch/mysunrise/mandermatt/ mit dem Hinweis: „Der folgende Aufsatz enthält in stark gekürzter Form Überlegungen aus meiner Habilitationsschrift.“ Stand: 10. 11. 2007. Vgl. Andermatt, Verkümmertes Leben, Punkt 5, http://homepage.sunrise.ch/mysunrise/mandermatt/
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von Inferenzziehungen sind, bleibt ihr subjektiver Charakter auch in Andermatts Analyseverfahren bestehen. Die langjährige Arbeit der Göttinger Kommission, die der Motivund Stoffforschung neue Impulse verleihen sollte, scheint bis heute bei Literaturwissenschaftlern nur ein begrenztes Echo gefunden zu haben. Eine aktualisierte Motivforschung, deren Hauptaufgabe darin besteht, historische, kulturelle und soziologische Veränderungen aufzuzeigen, wird jedoch weiterhin von Forschern der unterschiedlichsten theoretischen Ausrichtungen praktiziert, auch wenn bei diesen Arbeiten der traditionelle Name ‚Stoff- und Motivforschung‘ nicht mehr erscheint.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Rickes, Joachim, Führerin und Geführter. Zur Ausgestaltung eines literarischen Motivs in Christoph Martin Wielands ‚Musarion oder die Philosophie der Grazien‘, Bern et al. 1989. Die Arbeit gibt einen extensiven kritischen Überblick über die gängige Terminologie der Motivforschung und wendet die gewonnenen motivtheoretischen Einsichten erfolgreich in der detaillierten Textanalyse von Wielands Erzählung an. Andermatt, Michael, Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk, Bern et al. 1996 Andermatts Habilitationsschrift analysiert den Motivgebrauch in Arnims Werk mit dem Begriffsinstrumentarium der Textlinguistik, insbesondere dem Begriff der ‚Textkohärenz‘. Dabei werden Motivbildungen im Text in Bezug auf ihre makrostrukturelle hierarchische Organisation untersucht (über- und untergeordnete Motive). Durch Inferenz der Leser werden solche Motivbildungen erkannt und dadurch der Text als kohärent verstanden. Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 5., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart 1999. Umfassende Darstellung immer wiederkehrender literarischer Motive und ihrer literarhistorischen Entwicklung. Teilweise konzipiert als Begleitband zum Stoffe der Weltliteratur – Lexikon, mit Verweissystem auf Stichworte des Stofflexikons.
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Wolpers, Theodor (Hrsg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000, Göttingen 2002. Abschlussband der Göttinger Kommission mit wichtigen Aufsätzen von Elisabeth Frenzel (Überblick über die Forschung), Theodor Wolpers (Verfahrensanalyse und Begriffsdefinitionen) und Thomas Habel (Darstellung der Göttinger Stoff- und Motivbibliographie als Datenbank). Frenzel, Elisabeth, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 10. überarb. und erw. Aufl. unter Mitarb. von Sybille Grammetbauer, Stuttgart 2005. Unentbehrliches Nachschlagewerk, das die wichtigsten Stoffe der westlichen Literaturtraditionen systematisch von ihrem frühesten Erscheinen bis zur heutigen Behandlung vergleichend darstellt und ihre Bedeutungswandlung im Verlauf der Zeit beschreibt.
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1. Definition Der Begriff ‚Strukturalismus‘ bezeichnet einen einflussreichen geisteswissenschaftlichen Ansatz der europäischen (und amerikanischen) Moderne und bezieht sich zum einen auf die sprachtheoretischen Konzepte im sogenannten Cours de linguistique générale 1 des Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (1857–1913) und zum anderen auf eine Reihe von einander ähnlichen, im einzelnen jedoch deutlich distinkten geisteswissenschaftlichen Schulen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich sämtlich in der Nachfolge von de Saussure konstituiert haben. Die wichtigsten, in ihrer Konzeption, Methode und Zielsetzung jedoch recht unterschiedlichen Schulen sind dabei im Wesentlichen die sogenannte ‚Prager Funktionale Linguistik‘, die ‚Kopenhagener Glossematik‘ sowie der ‚Amerikanische Strukturalismus‘. Als weniger einflussreich gelten die Genfer Schule, die Londoner Schule, die Moskauer Schule sowie der französische Strukturalismus. Allen strukturalistischen Auffassungen ist ein deskriptiver Ansatz eigen und zudem die Annahme, dass Sprache bzw. Kultur als ein System aufzufassen sei, dessen einzelne Elemente sich durch Beziehungen in diesem System (‚Strukturen‘) erst konstituieren. Als Überwindung des Strukturalismus im Rahmen der Linguistik wird häufig die Arbeit Syntactic Structures von Noam Chomsky (1957) angesehen, sicher zu Recht, denn sie markiert den Beginn der sogenannten ‚Generativen Linguistik‘ – strukturalistische Modelle und Methoden gehören jedoch bis heute zum Bestand der modernen Linguistik.
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Vgl. Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, publié par Charles Bally et Albert Sechehaye, avec la collaboration de Albert Riedlinger, Paris 1916.
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2. Beschreibung Die strukturalistischen Schulen beziehen sich allesamt mehr oder weniger explizit auf den Cours de linguistique générale (im Folgenden: Cours) von Ferdinand de Saussure, sei es in bewusster Adaption der darin enthaltenen sprachtheoretischen Grundannahmen, sei es in (partieller) Konfrontation damit. Dies ist insofern bemerkenswert, als der Cours als Kompilation von Vorlesungsmitschriften bekanntlich nicht von de Saussure selbst autorisiert, sondern von seinen Schülern Charles Bally und Albert Sechehaye 1916 posthum publiziert wurde. Er hatte jedoch als gleichermaßen eigenständige wie eigenmächtige Publikation auch eine eigene Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte und muss daher als Textgrundlage für die nachfolgenden strukturalistischen Schulen gelten. Als neu im Sinne eines neuen strukturalistischen Sprachkonzepts wurden allerdings nur die Einleitung sowie der erste und zweite Teil des Cours zur Kenntnis genommen, also nur knapp die Hälfte der gesamten Publikation. Rezipiert wurden durch die strukturalistischen Schulen insbesondere die folgenden (von de Saussure häufig dichotomisch organisierten) sprachtheoretischen Annahmen: a) Der Cours unterscheidet (in Anlehnung an Georg von der Gabelentz) drei Aspekte von ‚Sprache‘, nämlich die sogenannte ‚langue‘ als abstraktes, virtuell im Gehirn aller Sprecher einer Sprache anzunehmendes Sprachsystem, die sogenannte ‚parole‘ als konkrete Realisierung der ‚langue‘ sowie (als Zusammenfassung dieser beiden dichotomisch aufeinander bezogenen Ausdrücke) die sogenannte (‚faculté de) langage‘, die allgemeine menschliche Sprachfähigkeit.2 ‚Langue‘ und ‚parole‘ gelten als die zentralen Aspekte; Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft ist die ‚langue‘, die als abstraktes System allerdings nur über die ‚parole‘ zugänglich ist. b) Im Cours wird explizit zwischen ‚synchronischer‘ (statischer, auf einen Zeitpunkt bezogener) und ‚diachronischer‘ (auf einen zeitlichen Verlauf bezogener) Sprachwissenschaft getrennt. De Saussure betont die Notwendigkeit und Ausschließlichkeit dieses Gegensatzes;3 allerdings geht es ihm nicht (wie häufig angenommen wird) um die Ableh2
3
Die deutsche Übersetzung dieser zentralen Termini durch Herman Lommel ist leider unglücklich; so übersetzt er ‚langue‘ durch ‚Sprache‘ (heute wird der Ausdruck ‚Sprach-System‘ verwendet) und ‚parole‘ durch ‚Sprechen‘ (heute: ‚konkrete Realisierung des Sprachsystems‘). Vgl. Saussure, Cours, S. 117 ff.
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nung der diachronen Methode, sondern darum, dass die ‚Achse der Gleichzeitigkeit‘ von der ‚Achse der Aufeinanderfolge‘ reflektiert getrennt wird. Aufgrund der langjährigen Vorherrschaft der Diachronie strebte de Saussure eine synchrone Sprachwissenschaft an. c) Die ‚langue‘ wird im Cours als „système de signes“,4 als System von Zeichen, aufgefasst. Die bilateral strukturierten Zeichen dieses Systems setzen sich jeweils aus einer Ausdrucksseite (‚signifiant‘, ‚Bezeichnendes‘) und einer Inhaltsseite (‚signifié‘, ‚Bezeichnetes‘) zusammen, die in ‚arbiträrer‘ (willkürlich festgelegter und qua gesellschaftlicher Konvention etablierter) Relation zueinander stehen. Das schon in Platons Kratylos thematisierte Prinzip des „arbitraire du signe“5 ist nur bei wenigen (etwa onomatopoetischen) Zeichen qua ‚Motiviertheit‘ aufgehoben. Das sprachliche Zeichen ist von anderen Zeichen auch durch (zeitlich zu erfahrende) ‚Linearität‘ unterschieden, es ist veränderlich und seine beiden Seiten sind untrennbar wie die beiden Seiten eines Blattes Papier.6 Die Ausdrucksseite entspricht einem ‚image acoustique‘ (einem „Lautbild“, respektive dem „psychische[n] Eindruck dieses Lautes“)7 und die Inhaltsseite einem ‚concept‘ (einer ‚Vorstellung‘).8 Die Verbindung von ‚image acoustique‘ und ‚concept‘ machen für de Saussure das „signe linguistique“ aus, das „donc une entité psychique à deux faces“9 sei. d) Das sprachliche System stellt ein Netzwerk von Relationsbeziehungen dar, ein System von Werten (‚valeurs‘), die zueinander in Opposition stehen. Sprachliche Elemente werden also nicht durch ihre Beziehung auf außersprachliche Eigenschaften definiert, sondern erhalten ihren Wert durch ihre (Oppositions-)Relation zu anderen Elementen des Sprachsystems und werden de facto erst durch diese kontrastive Beziehung, also ex negativo konstituiert. e) Aus den beiden Grundannahmen, dass Sprache nichts als ein System von Werten sei und dass das sprachliche Zeichen eine arbiträre Verbindung von ‚image acoustique‘ und ‚concept‘ darstelle, ergibt sich, dass das sprachliche Zeichen eine Form bezeichnet und keine Substanz. Ge4 5 6 7
8 9
Ebd., S. 33. Ebd., S. 102. Ebd., S. 163. So die Übersetzung durch Herman Lommel in: Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Charles Bally / Albert Sechehaye (Hrsg.), unter Mitwirkung von Albert Riedlinger, übersetzt von Herman Lommel, Berlin 1916/67, S. 77 f. Ebd. Saussure, Cours. S. 101.
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nauer sagt de Saussure, die Sprachwissenschaft arbeite auf dem Grenzgebiet, „où les éléments des deux ordres se combinent; cette combinaison produit une forme, non une substance“.10 f) Die Beziehungen zwischen Zeichen sind ‚syntagmatischer‘ und ‚paradigmatischer‘ Art (im Cours als „rapports associatifs“11 bezeichnet). Die ‚syntagmatischen‘ Beziehungen (Anreihungen, Syntagmen) beschreiben das Verhältnis einzelner Sprachzeichen zu den (direkt oder indirekt) benachbarten Zeichen einer linear angeordneten Kette in ‚praesentia‘ (qua Distribution). Die ‚assoziativen‘ (heute: ‚paradigmatischen‘) Beziehungen bezeichnen das Verhältnis von Zeichen zu anderen, per Austausch (Substitution) gefundenen sprachlichen Elementen, also Zeichen in ‚absentia‘. Der Wert der sprachlichen Zeichen ist mit Hilfe der beiden Grundoperationen ‚Segmentierung‘ und ‚Klassifizierung‘ exakt zu ermitteln. g) Schließlich ist wichtig, dass der Cours explizit zwischen dem ‚inneren‘ und dem ‚äußeren Bezirk der Sprachwissenschaft‘ trennt. Interessant dabei ist, dass de Saussure sich zunächst auf die Sprache (und nicht auf die Sprachwissenschaft) bezieht: „Notre définition de la langue suppose que nous en écartons tout ce qui est étranger à son organisme, à son système, en un mot tout ce qu’on désigne par le terme de ‚linguistique externe‘“.12 Als ‚linguistique externe‘ werden etwa ethnologische, politische, soziale und geographische Kontexte und Bezüge von Sprache aufgefasst, deren Studium durchaus lohnend, allerdings zur Kenntnis des ‚inneren Organismus‘ der Sprache nicht erforderlich sei. Die ‚innere Sprachwissenschaft‘ dagegen befasse sich mit der Sprache als „un système qui ne connaît que son ordre propre“.13 So weit zu den auch in der Nachfolge des Cours wesentlich als neu rezipierten inhaltlichen Grundannahmen; schaut man sich allerdings die zentralen Termini ‚Strukturalismus‘ und ‚Struktur‘ genauer an, so ist es weder mit der Gebrauchsfrequenz noch mit dem postulierten inhaltlichen Neuigkeitswert allzu weit her. Zwar ist der Ausdruck ‚Struktur‘ von lat. ‚structura‘ (Zusammenfügung, Ordnung, Bauwerk) schon für 10 11 12
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Ebd., S. 163. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 176. Ebd., S. 41. Interessant ist hier auch (vor dem Hintergrund der späteren Ausführungen zum Strukturalismus und seinen Vorläufern) der parallele Gebrauch der Ausdrücke ‚organisme‘ und ‚système‘. Ebd., S. 44.
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das Mittelhochdeutsche nachweisbar, er wurde aber in früheren sprachwissenschaftlichen und -theoretischen Arbeiten (ganz im Gegensatz etwa zu dem hochfrequent gebrauchten Terminus ‚System‘) eher selten verwendet.14 Und auch im Cours spielen die Ausdrücke ‚Struktur‘, ‚strukturell‘ oder gar ‚Strukturalismus‘ eine untergeordnete oder gar keine Rolle; ob de Saussure den Ausdruck ‚structure‘ in seinen Vorlesungen bewusst vermieden oder ihn schlicht für nicht wichtig gehalten hat, ist dabei ohne Belang. Wesentlich ist, dass eine fachsprachliche Verwendung der Termini ‚strukturell‘, ‚Struktur‘ und ‚Strukturalismus‘ sich erst seit dem Ende der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu etablieren begann und sich dann in den 1930er- und 1940er-Jahren in Europa und den USA ausbreitete. Als zentral für den Bedeutungsumfang des Ausdrucks ‚Struktur‘ gelten dabei die folgenden Aspekte: Eine jegliche ‚Struktur‘ ist eine nach außen abgeschlossene, als selbständig identifizierbare ‚Ganzheit‘; diese Ganzheit ist zudem zerleg- und somit analysierbar, wobei das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (so dass nicht nur die einzelnen Elemente, sondern zugleich und gerade auch die Relationen zwischen den Einheiten der betreffenden Ganzheit wesentlich sind). Weiterhin gilt, dass eine solche ‚Struktur‘ der Sprache selbst immanent ist und dass weder die sprachlichen Einheiten selbst, noch die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen empirisch direkt zugänglich sind, sondern sich nur im Rekurs auf konkrete sprachliche Äußerungen ‚aufdecken‘ lassen. Zudem ist festzuhalten, dass eine besondere Art der materiellen Vergegenständlichung der betreffenden sprachlichen Elemente gerade nicht von Bedeutung ist. Vor allem aber sind diese ‚Strukturen‘ wesentlich einzelsprachlich gebunden und zwar insbesondere an den Zustand der betreffenden Einzelsprache zu einer bestimmten Zeit. – Alle Strukturalisten respektive Vertreter der strukturalistischen Schulen im beginnenden 20. Jahrhundert haben sich mehr oder minder einvernehmlich auf diese Auffassung von ‚Struktur‘ verständigt. Auch wenn der Strukturalismus immer wieder als ‚Beginn einer neuen Sprachwissenschaft‘ deklariert wird, ist festzustellen, dass sein inhaltsseitiges Konzept nicht neu, sondern deutlich der Sprachwissenschaft und Sprachtheorie des 19. Jahrhunderts verpflichtet war, gebunden allerdings wesentlich an den Gebrauch der Ausdrücke ‚System‘ und ‚Or14
Vgl. aber exemplarisch zur „innre[n] Structur“ der Sprache: Schlegel, Friedrich, Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde, Heidelberg 1808, S. 28 sowie zu den „structuren“: Grimm, Jacob, Deutsche Grammatik. Vierter Theil, Göttingen 1837, S. IV.
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ganismus‘. Die Auffassung von Sprache als einem ‚gegliederten Ganzen‘, das Veränderungen erleidet, die Vorstellung von Autonomie und Selbstregulierung sprachlicher Systeme sowie auch der gestalttheoretische Grundsatz, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, wurde schlicht von der modernen Linguistik im 20. Jahrhundert adaptiert und in neue – strukturalistische – Metaphern (‚Struktur‘, neuerer ‚System‘-Begriff, später auch ‚Modul‘) ‚umgegossen‘. Wie viele Metaphern in wissenschaftlichen Kontexten diente auch der Gebrauch des Ausdrucks ‚Struktur‘ in nicht unproblematischer Weise dazu, zum einen an bekanntes Vorverständnis anzuknüpfen, zum anderen wissenschaftlich Kontroverses zu homogenisieren, um damit – zum dritten – vermeintliche Einheitlichkeit zu suggerieren.
3. Institutionsgeschichtliches Der Strukturalismus ist eingebettet in zwei andere große wissenschaftstheoretische Ansätze, nämlich die sogenannten ‚Junggrammatiker‘ auf der einen Seite und die Entwicklung der ‚Generativen Grammatik‘ in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite. Schaut man sich zunächst die ‚Junggrammatiker‘ (auch: ‚Leipziger Schule‘)15 an, die seit den 1970er-Jahren des 19. Jahrhunderts eine klar positivistische Sprachauffassung mit gleichzeitig weiterhin deutlich diachronem Interessenschwerpunkt vertraten, dann sind hier neben konträren Positionen zur späteren strukturalistischen Sprachwissenschaft (die immer wieder hervorgehoben werden) auch Parallelen, wenn nicht gar direkte Vorläufer strukturalistischer Konzepte zu erkennen. Die diachrone Sprachbetrachtung, die ja bereits die gesamte Germanistik und Indogermanistik im Rahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt hatte, ist sicherlich erst durch de Saussure reflektiert abgelöst worden. Die Hinwendung zur Naturwissenschaft jedoch (etwa durch die Etablierung des Lautgesetzbegriffs) sowie der Ansatz, Sprachwandel (vor allem bezogen auf die Lautebene und die morphologische Ebene) auch als psychologisch zu erfassendes Phänomen zu beschreiben, sind durchaus prägend für spätere strukturalistische Konzepte. (De Saussure hatte sich als Student in Leipzig mit eben diesen Auffassungen auseinanderzusetzen.) Insbesondere die als zentrale junggrammatische Erkennt15
Ihre wichtigsten Repräsentanten sind Karl Brugmann, Hermann Osthoff, August Leskien und Hermann Paul.
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nis zu wertende Annahme von ausnahmslos geltenden Lautgesetzen ist hier interessant, denn dabei zeigen sich auch die Grenzen der Anwendung des Gesetzesbegriffs. Da die vermeintliche Ausnahmslosigkeit nicht für alle sprachlichen Phänomene durchgängig zu postulieren war, mussten offensichtliche ‚Ausnahmen von der Ausnahmslosigkeit‘ durch die Annahme des Analogiegedankens geschickt ‚wegargumentiert‘ werden. Trotz dieses Versuchs, systemorientiert zu argumentieren und das Gesamtsystem der Sprache in möglichst weitumfassenden Gesetzen zu beschreiben, ist den Junggrammatikern häufig (und wohl zu Recht) der sogenannte ‚Atomismusvorwurf‘ gemacht worden, in dem ihnen ein Zuviel an Einzelanalysen und ein Zuwenig an systematischer Analyse attestiert wurde. Der Systemgedanke jedoch, die (unterschiedlich ausgeprägte) Anbindung an die inhaltlichen Konzepte des Cours sowie die Ablehnung des junggrammatischen Atomismus, spielte für alle strukturalistischen Schulen eine zentrale Rolle. Die Bedeutung und der Einfluss dieser Schulen werden in der Historiographie unterschiedlich gewichtet, aber man kann sicher festhalten, dass es innerhalb des klassischen Strukturalismus drei große Schulen gibt: die Prager funktionale Linguistik, die Kopenhagener Glossematik und den Amerikanischen Strukturalismus (sowie einige weniger einflussreiche Schulen) – auf sie wird im folgenden expliziter eingegangen. Die ‚Prager (Funktionale) Linguistik‘ (seit 1932 auch: ‚Prager Schule‘) wurde von Vilém Mathesius, Bohumil Trnka und Josef Vachek im Jahr 1926 in Prag als ‚Cercle Linguistique de Prague‘ (auch: ‚Prager Linguistenkreis‘) gegründet und trat im Jahr 1928 auf dem 1. Internationalen Linguistenkongress in Den Haag erstmals an die Öffentlichkeit. Als Hauptvertreter der Prager Schule gelten neben den Gründern des Linguistenkreises insbesondere Nikolaj Sergejevic Trubetzkoy und Roman Jakobson sowie Sergej Karcevskij und Bohuslav Havránek. Als ihre Hauptarbeitsgebiete gelten die Phonologie und die Morpho(phono)logie. Konzeptionell stützt sich die Prager Schule zum einen auf die Annahme von Sprache als (funktionalem) System, zum anderen wird Sprachwissenschaft als autonome Wissenschaft (als unabhängig, aber nicht isoliert von anderen Disziplinen) aufgefasst. Allerdings wird die strikte de Saussure’sche Trennung von Synchronie und Diachronie nicht adaptiert (vgl. zu den zentralen Thesen Jakobson, Prinzipien, und Martinet, Économie). (Die Anbindung an den Cours betrifft insofern wesentlich die oben im zweiten Kapitel herausgearbeiteten Aspekte a, c und d; eher irrelevant sind dagegen b und e.) Zentral für verschiedene Spielarten der
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Prager Schule ist die Annahme des sogenannten ‚Funktionalismus‘; deshalb legen einige Vertreter der Prager Linguistik (in bewusster Abgrenzung zur Kopenhagener Schule) Wert auf die Bezeichnung ‚funktionale‘ oder ‚funktional-strukturelle‘ Linguistik. Der Ausdruck ‚Funktionalismus‘ ist durchaus ambig und kann sich auf die Funktion sprachlicher Systeme (in Bezug auf Elemente außerhalb des Systems) beziehen sowie auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen eines sprachlichen Systems. Diese zweite Bedeutung steht hier stärker im Fokus; es wird angenommen, dass jede sprachliche ‚Form‘ auch eine (‚kommunikative) Funktion‘ aufweist, die für die Etablierung des sprachlichen Systems gleichermaßen konstitutiv ist. Dieser Funktionalismusbegriff ist im Prager Kreis in linguistischen und auch literaturwissenschaftlichen Untersuchungen wesentlich geworden,16 aus linguistischer Perspektive ist dabei jedoch vor allem die ‚Prager Phonologie‘ (auch: ‚strukturalistische Phonologie‘) bedeutsam, die von Nikolaj Sergejevic Trubetzkoy und Roman Jakobson entwickelt wurde und die sicher als das (in sprachwissenschaftlicher Hinsicht) wesentliche Kernstück der Prager Schule bezeichnet werden kann. Trubetzkoy trennt die neu etablierte strukturelle Phonologie explizit von der Phonetik und weist beiden Disziplinen unterschiedliche Einheiten zu: „Der Laut ist eine physikalische Erscheinung, die durch das Gehör wahrgenommen werden kann [und der] durch die menschlichen Sprachorgane mit kommunikativem Zwecke hervorgebracht wird. […] Die gedachten Wörter können nur aus Lautbegriffen oder Lautideen bestehen, für die wir eben den Ausdruck ‚Phonem‘ gebrauchen“.17 Zum einen wird hier deutlich, dass es sich bei der neu etablierten Einheit ‚Phonem‘ um ein psychisches Konzept handelt (vgl. den Zeichenbegriff im Cours) zum anderen spiegelt sich darin die Dichotomie von ‚langue‘ (in der Disziplin der Phonologie) und ‚parole‘ (in der Phonetik). Für die Konstitution des Phonembegriffs spielt der Funktionalismus insofern eine wesentliche Rolle, als Trubetzkoy dem ‚Phonem‘18 das funktionale Merkmal der ‚Distinktivität‘ (Bedeutungsdif16
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Vgl. die ‚Funktionale Satzperspektive‘, die die Thema- vs. Rhema-Struktur in Texten beschreibt, die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur poetischen Funktion von Sprache bei Roman Jakobson sowie den Funktionsbegriff im Organon-Modell von Karl Bühler 1934. Dies formuliert er 1932 in einem Brief an den Phonetiker Jørgen Forchhammer; s. Jakobson, Roman (Hrsg.), N. S. Trubetzkoy’s Letters and Notes, The Hague 1975, S. 457–462, hier S. 458; Hervorhebungen im Original. Ausdrucksseitig ist der Terminus ‚phonème‘ schon in den Arbeiten von de Saussure und anderen nachweisbar, neu ist jedoch der inhaltsseitige Aspekt der Dis-
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ferenzierung) als zentrales Definiens zuweist.19 Laute sind erst dann als Phoneme eines einzelsprachlichen Systems aufzufassen, wenn sie in dieser Einzelsprache distinktiv wirken, und diese Distinktivität manifestiert sich in den „gegenseitigen Beziehungen der Phoneme“.20 Ihr Wert entsteht also in (binärer) Relation zu anderen Einheiten, in sogenannten minimalen Oppositionen, und diese in einem ausgesprochen komplexen System darzustellenden „distinktiven Oppositionen“ spielen laut Trubetzkoy „in der Phonologie die Hauptrolle“.21 „Jedes Phonem“, so Trubetzkoy weiter, „besitzt nur deshalb einen definierbaren phonologischen Gehalt, weil das System der phonologischen Oppositionen eine bestimmte Ordnung oder Struktur aufweist“.22 Insbesondere der Funktionalismusbegriff, der hier exemplarisch am Distinktivitätskonzept der strukturellen Phonologie deutlich gemacht wurde, bot den formal ausgerichteten Kopenhagener Glossematikern immer wieder Anlass zu dem Vorwurf, die Prager Linguisten hätten sich von der Auffassung des Cours, Sprache sei reine Form, weit entfernt. Der Begriff ‚Kopenhagener Linguistenkreis‘ (auch: ‚Cercle Linguistique de Copenhague‘) bezeichnet eine Gruppe dänischer Linguisten (Hauptvertreter sind Louis Hjelmslev, Viggo Brøndal und Hans Jørgen Uldall), die (insbesondere in Abgrenzung zur Prager Schule) zu Beginn der 30er Jahre in Dänemark eine Sprachtheorie konzipierten, die auf dem 2. Phonetikerkongress und dem 4. Internationalen Linguistenkongress als ‚Glossematik‘ bezeichnet wurde. Der Ausdruck wurde von Uldall in Anlehnung an Bloomfields Definition des Glossems (als kleinster bedeutungstragender sprachlicher Einheit) in expliziter Abgrenzung zur Terminologie der Prager Schule geprägt. In direktem Rekurs auf den Cours verstehen die Kopenhagener Linguisten Sprache als autonomes System von Relationen und verzichten vollständig auf die empirische Be-
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tinktivität; vgl. zum Bedeutungswandel des Ausdrucks sowie zur Geschichte des Phonembegriffs Kohrt, Manfred, Problemgeschichte des Graphembegriffs und des frühen Phonembegriffs, Tübingen 1985. Vgl. Trubetzkoy, Brief an Forchhammer, S. 459; sowie zum Distinktivitätskonzept genauer Kohrt, Problemgeschichte, S. 244 ff. Trubetzkoy, Brief an Forchhammer, ebd. Trubetzkoy, Nikolaj Sergejevic, Grundzüge der Phonologie, Prague 1939, S. 60 ff. (= Travaux du Cercle Linguistique de Prague). Ebd., S. 60 ff. De facto sind es nicht die Phoneme, sondern deren distinktive Merkmale, die in Opposition zueinander stehen (vgl. Jakobson, Roman / Halle, Morris, „Phonologie und Phonetik“, in: Roman Jakobson (Hrsg.), Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Berlin 1979, S. 54–106.
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obachtung sprachlicher Fakten. Tatsächlich handelt es sich bei der Glossematik um eine durch den Einfluss des logischen Empirismus von Carnap (sowie von Whitehead und Russell) geprägte axiomatisch-deduktive Sprachtheorie, die sich einer hochgradig abstrakten, mathematisch anmutenden Wissenschaftssprache bedient (d. h. einer hermetischen Fachsprache, die – neben der Tatsache, dass die Ursprungstexte in dänischer Sprache publiziert wurden – sicher auch zur Verhinderung einer breiten Wirkung beigetragen hat). In der zentralen Arbeit Omkring sprogteoriens grundlæggelse von 194323 grenzt Hjelmslev (wie de Saussure) zwei Untersuchungsebenen voneinander ab: nämlich eine Inhaltsebene (oder einen ‚Inhalt‘) von einer Ausdrucksebene (dem ‚Ausdruck‘).24 Und auf beiden Ebenen unterscheidet er (wiederum in enger Anlehnung an den Cours) jeweils zwischen Form und Substanz, so dass sich auf diese Weise vier Kombinationen ergeben, denen gleichermaßen vier sprachwissenschaftliche Disziplinen entsprechen. Auf der Ausdrucksebene sind das: die Phonetik als Substanz des Ausdrucks und die Phonologie als Form des Ausdrucks, auf der Inhaltsebene: die Semantik als Substanz des Inhalts und die Grammatik als Form des Inhalts. Als zentrale linguistische Arbeitsgebiete der rein ‚langue‘-orientierten Sprachanalyse versteht Hjelmslev dabei jeweils die formorientierten Wissenschaften, nämlich die Phonologie und die Grammatik; Phonetik und Semantik dagegen befassen sich seiner Auffassung nach mit außerlinguistischen Aspekten. Hjelmslevs Funktionsbegriff ist zudem (ganz anders als in der Prager Funktionalen Linguistik) ein Relationsbegriff; als Funktionen versteht er paradigmatische und syntagmatische Beziehungen zwischen sprachlichen Objekten (etwa gegenseitige Abhängigkeit, einseitige Abhängigkeit, freie Konstellation), und nur und gerade diese Relationen konstituieren für ihn den sprachlichen Gegenstand – sprachliche Gegenstände außerhalb von Beziehungsbündeln sind inexistent, insbesondere für eine an der sprachlichen Form ausgerichtete deduktive Linguistik. Die Anbindung an den Cours ist insofern ausgesprochen eng und betrifft alle oben im zweiten Kapitel aufgeführten Punkte a-g. In der Fachgeschichte wird zum Teil von einer ‚Radikalisierung des Cours‘ gesprochen, die allerdings 23
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Vgl. Hjelmslev, Louis, Omkring sprogteoriens grundlæggelse. Kopenhagen 1943. S. auch: Uldall, Hans Jørgen, Outline of Glossematics. A study in the methodology of the humanities with special reference to linguistics, Copenhague 1952. In der deutschen Übersetzung werden beide Ausdruckspaare gebraucht, vgl. Hjelmslev, Louis, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, übersetzt von Rudi Keller, Ursula Scharf und Georg Stötzel, München 1974, S. 52ff (=Linguistische Reihe 9) S. 52 ff.
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vollständig auf die Zurkenntnisnahme aller sozialen Zusammenhänge von Sprache verzichtet. Der sogenannte ‚Amerikanische Strukturalismus‘ umfasst verschiedene, zum Teil schwer voneinander abtrennbare strukturalistische Schulen in Amerika. Einer Reihe von amerikanischen Strukturalisten war das Interesse an aussterbenden Sprachen (insbesondere Indianersprachen) gemeinsam, und durch dieses Interesse entstand eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sprachwissenschaft und Anthropologie. Bedingt durch den zu analysierenden Gegenstand (die Sprachen lagen teilweise nur in oraler Überlieferung vor) ging es hier wesentlich um eine rein deskriptive Analyse der ‚parole‘. Als Hauptvertreter des amerikanischen Strukturalismus müssen Edward Sapir, Leonard Bloomfield und Zellig S. Harris angesehen werden, wobei es die Arbeit Language von Leonard Bloomfield im Jahre 193325 war, einem Schüler und Anhänger der Leipziger Junggrammatiker, die vorerst zum Standardwerk der amerikanischen strukturellen Linguistik wurde (obwohl Bloomfield ursprünglich nur vorhatte, einen Überblick über die vorhandenen sprachwissenschaftlichen Positionen zu geben). Im Stellenwert ist die Arbeit den Grundzügen der Phonologie von Trubetzkoy und den Prolegomena to a Theory of Language von Hjelmslev vergleichbar. Bloomfields Sprachtheorie, für die phonetisch/phonologische und grammatische Analysen zentral sind, wird zu Recht als behavioristischer Ansatz tituliert, da sie eng an die Erkenntnisse der behavioristischen Psychologie gekoppelt ist und eine betont empirische Sprachanalyse postuliert, die wesentlich konkrete Beobachtungsdaten (sowie deren Distribution) zum Gegenstand wählt und mentalistische Konzepte ablehnt. Gegenstand der Sprachwissenschaft ist insofern der konkrete, aus akustischem Material sich konstituierende Sprechakt oder (auf der syntaktischen Ebene) der Satz als „independent linguistic form“.26 „Meaning“27 dagegen sollte in einer Sprachwissenschaft nicht thematisiert werden, bevor nicht eine rein formale Beschreibung und Klassifikation von Sprechakten und Sätzen vorliege. Interessanterweise hat gerade diese Ausblendung von „meaning“ zwei verschiedene linguistische Schulen konstituiert, zum einen diejenige, die Bedeutungsaspekte als strukturell in der Form angelegte Konzepte mit in die Analyse einbeziehen will, zum anderen eine streng formale Schule (von Harris und später Chomsky), die Bedeutung aus der linguistischen Analyse 25 26 27
Vgl. Bloomfield, Leonard, Language, New York 1933/65. Ebd., S. 170. Ebd., S. 139 ff.
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vollständig ausblenden will. Mit dem sogenannten ‚Distributionalismus‘ nach Zellig S. Harris (auch: ‚Taxonomische Analyse‘) beginnt eine weitere Phase des amerikanischen Strukturalismus, zunächst gebunden an die zentrale Arbeit Methods in Structural Linguistics von 1951.28 Harris geht davon aus, dass ‚Distribution‘, also die Verteilung von Elementen im Satz, sowie (damit verbunden) die Gesamtheit ihrer jeweiligen Umgebungen, das zentrale Kriterium zur Gewinnung (Segmentierung) und Klassifizierung sprachlicher Einheiten darstellt. Harris unterscheidet dabei äquivalente von partiell äquivalenter Distribution sowie komplementärer Distribution. Im Fokus der Analyse stehen die beiden Beschreibungsebenen der Phonologie und Morphologie, deren Grundeinheiten mit Hilfe der Distributionsanalyse herausgearbeitet werden; dabei geht es in einem ersten Schritt um das Segmentieren von Phonemen und Morphemen qua Substitution, in einem zweiten Schritt um das Zusammenfassen einzelner Segmente zu Klassen und schließlich um die Deskription der durch Distribution gefundenen Klassen von Elementen. Dieses Verfahren der Distributionsanalyse gehört unumstritten zu den wesentlichsten Entdeckungen der strukturellen Linguistik, da damit (zumindest dem Anspruch nach) sprachliche Erscheinungen exklusiv aufgrund sprachimmanenter Beziehungen und unter Ausschluss außersprachlicher und/oder subjektiver Faktoren beschrieben werden können. Mit dem Begriff der ‚Transformation‘ schließlich, der durch Chomsky adaptiert und ausgebaut wird, entwickelt Harris später ein auf dem Substitutionsgedanken beruhendes formales (aber noch deskriptives) Syntaxmodell, in dem jeder Satz einer Sprache qua Transformationsbeziehung auf einen oder mehrere Kernsätze reduziert werden kann (und vice versa). – Die Anbindung an den Cours ist für die amerikanischen Strukturalisten wesentlich auf die oben im zweiten Kapitel behandelten Aspekte b, c und d beschränkt (für Harris auch f), alle anderen Aspekte sind eher irrelevant. Auf einige weniger einflussreiche strukturalistische Schulen soll im Folgenden eher knapp eingegangen werden. Unter dem Terminus ‚Genfer Schule‘ ist wesentlich die Herausgeberschaft, Nachlassverwaltung, Verteidigung und Weiterverbreitung Saussure’schen Gedankengutes (wesentlich) durch die Nachfolger auf dem Genfer Lehrstuhl von Ferdinand de Saussure, nämlich Charles Bally, Albert Sechehaye, Sergej Karcevskij und Henri Frei zu verstehen, also die Weiterführung des Struktu28
Harris, Zellig S., Methods in Structural Linguistics, Chicago 1951; vgl. ders., „Distributional structure“, in: Word, 10, S. 146–162.
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ralismus nach de Saussures Tod (vor allem durch ihr Publikationsorgan, Cahiers Ferdinand de Saussure). Die ‚Londoner Schule‘ (auch: Britischer Kontextualismus, Firthian Linguistics) ist eine englische Form des Strukturalismus, die auf Untersuchungen des Anthropologen und Ethnologen Bronisław Malinowski aufbaut und wesentlich durch John Rupert Firth begründet wurde. Im Unterschied etwa zu den Prager Linguisten (und im Einklang mit der Bloomfield-Schule) ist hier die ‚parole‘ Untersuchungsgegenstand. Es wird davon ausgegangen, dass Parole-Erscheinungen in Situationen eingebettet sind, also in sprachlichen und situativen Kontext, und dass ihre Bedeutung erst durch diesen Kontext erschließbar ist – eine Auffassung, die die spätere Spracherwerbsforschung wesentlich mit beeinflusst hat. Die ‚Moskauer Schule‘ (oder, wenn die Bewegungen in Kazan und Petersburg hinzugenommen werden: ‚russische Schule‘) bildete sich schon 1915 als Kreis von Sprachwissenschaftlern und galt dem Prager Zirkel als Vorbild respektive Vorläufer. Neben sprachwissenschaftlichen Problemen stand hier auch das Interesse an der Dichtersprache und an volkskundlichen, folkloristischen Fragestellungen im Zentrum. Durch politische Widrigkeiten löste sich der Moskauer Kreis schon 1924 wieder auf und die Weiterentwicklung einer strukturellen Sprachwissenschaft in Russland wurde schwieriger. Auch wenn einige Wissenschaftshistoriker infragestellen, dass eine russische Schule des Strukturalismus überhaupt anzunehmen sei, ist doch festzuhalten, dass russische Sprachwissenschaftler (auch im Prager Zirkel) wesentlich an strukturalistischen Konzepten mitgewirkt haben. Der ‚französische Strukturalismus‘ schließlich ist wiederum zu untergliedern in den Ansatz von André Martinet, der die Prager Phonologie als Grundlage nimmt, dann allerdings Elemente der dänischen Glossematik und des amerikanischen Deskriptivismus aufnimmt, sowie in die strukturelle Semantik von Algirdas Julien Greimas und in die strukturelle Syntax von Lucien Tesnières. Die Etablierung der ‚Generativen (Transformations-) Grammatik‘ durch Noam Chomsky29 (auch: ‚Erzeugungsgrammatik‘, ‚Produktionsgrammatik‘, ‚Transformationsgrammatik‘) gilt allgemein als Ablösung des Strukturalismus, allerdings durchaus auf der Basis des Distributionalismus und der Transformationsanalyse sowie einer (etwa bezogen auf die ‚Kompetenz-Performanz-Dichotomie‘) erstaunlich deutlichen Bezugnahme auf den Cours. Das Ziel der Generativen Grammatik besteht
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Vgl. Chomsky, Noam Syntactic structures, The Hague 1957.
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in der Entwicklung eines formalisierten Verfahrens, mit dessen Hilfe nur wohlgeformte Sätze (oder andere formale Einheiten) einer Sprache generiert (erzeugt) werden; es soll insofern mit endlichen Mitteln eine unendliche Anzahl von Einheiten gebildet werden (können). Seit Chomskys Syntactic Structures erscheint die Generative Grammatik in zahlreichen Ausprägungen, Modifikationen und Weiterentwicklungen (zuerst das sogenannte ‚Aspekte-Modell‘ von Chomsky 1965,30 später die sog. ‚Revidierte (Erweiterte) Standardtheorie‘, die ‚Prinzipien- und Parameter-Theorie‘, um nur wenige Theorien zu nennen). Allen Modellen gemeinsam ist dabei der Anspruch auf eine adäquate Erklärung der menschlichen Sprachfähigkeit und des menschlichen Spracherwerbs mit Hilfe des Postulats einer Universalgrammatik sowie der Annahme, dass gewisse Regeln genetisch vorgegeben sind (Nativismusannahme). Ziel der Generativen Grammatik ist insofern nicht (wie im Strukturalismus) die Deskription, sondern die Explanation von Sprache durch die Entwicklung eines umfassenden und möglichst genauen Regelapparates. In seinem häufig rezipierten Aufsatz Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden von 1966 stellt Manfred Bierwisch (bezogen primär auf die generativen Methoden, jedoch auch im Rekurs auf de Saussure) rückblickend fest: „Eine Reihe methodologischer Prinzipien, die sich in den exakten Wissenschaften durchgesetzt haben, sind auch für die Linguistik unentbehrlich geworden. […] Erstens können linguistische Begriffe und Aussagen nicht länger direkt mit den Mitteln der Alltagssprache formuliert oder gar definiert werden. Sie erlangen ihren präzisen Sinn erst innerhalb der gesamten Theorie, die als Ganzes den Gegenstandsbereich erfassen soll. Nur im Rahmen der Grammatiktheorie können Termini wie Morphem, syntaktische Regel, Bedeutung, Wort oder Satz genügend scharf gefaßt werden. […] Zweitens können theoretische Begriffe nicht mehr einfach und unmittelbar auf konkrete Beobachtung angewendet werden. Vielmehr entsprechen ihnen mitunter abstrakte Beziehungen und theoretische Einheiten, die keiner direkten Beobachtung zugänglich sind“.31 Die 1916 im Cours publizierten Grundannahmen von Ferdinand de Saussure hinsichtlich der Aspekte a-g haben insofern nicht nur die Entwicklung und Entstehung der strukturalistischen Schulen, sondern auch die der Generativen Grammatik entscheidend geprägt. 30 31
Vgl. Chomsky, Noam, Aspects of the theory of syntax, Cambridge, MA 1965. Vgl. Bierwisch, Manfred, Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden, in: Kursbuch 5/1966, S. 147 f.
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Der literaturwissenschafte Strukturalismus ist in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ebenfalls auf die Grundgedanken von Ferdinand de Saussure zurückzuführen sowie auf die Arbeiten der russischen Formalisten; einige literatursemiotische Ansätze basieren auch auf den philosophischen Arbeiten von Charles Sanders Peirce. Als zentrale Vertreter gelten u.a. Roland Barthes, Algirdas Julien Greimas, Roman Jakobson, Jurij M. Lotman, Jan Mukaˇrovsk´y und Vladimir Propp. Den unterschiedlichen Ansätzen gemeinsam ist eine textorientierte Erarbeitung literarischer Strukturen, wesentlich auf der Basis der Auffassung von Texten als komplexen Zeichensystemen sowie der Annahme, dass sämtliche ‚theoretischen Objekte‘ der Literaturwissenschaft (Texte, Gattungen etc.) jeweils als Struktur respektive als System zu betrachten sind. Synchrone Relationen (Isotopien, Rekurrenzen) sind dabei ebenso zu beschreiben wie diachrone Relationen (etwa per Intertextualität), und dies sowohl in syntagmatischer als auch paradigmatischer Hinsicht. Gemeinsam ist den unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Ausprägungen des Strukturalismus zudem das Bestreben nach einer rationalen, intersubjektiv nachprüfbaren Theoriebildung und Methodologie sowie einer exakten Terminologie. Die Bedeutung eines sprachlichen Kunstwerks konstituiert sich in der Perspektive des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus nicht durch Subjektives oder gar Zufälliges – der literarische Text gilt vielmehr als regelhaft strukturiert und konstruiert. Der Begriff des Autors tritt bei der Analyse in den Hintergrund; zentral sind die Textstrukturen und dabei die Beschreibung ihrer eigenen Regelhaftigkeit in systematischer Abgrenzung zu den Regularitäten nicht-literarischer Texte. So sieht etwa Roman Jakobson die ‚poetische Funktion‘, also die ‚Literarizität‘ resp. ‚Poetizität‘ literarischer Texte, wesentlich in deren sprachlicher Struktur selbst verankert, und zwar insbesondere in ihrer Abweichung von Texten der Alltagssprache/Standardsprache (Deviationspoetik). Der literarische Text wird als ‚sekundäres Bedeutungssystem‘ verstanden, das Besonderheiten aufweist, die über das primäre Bedeutungssystem der Standardsprache hinausgehen. An die Stelle der hermeneutischen Textinterpretation tritt eine strukturelle Textanalyse – exemplarisch sei hier auf die frühe Analyse russischer Zaubermärchen verwiesen –, in der Vladimir Propp anhand eines Systems variabler wie invarianter Formen und Strukturen mit großer Genauigkeit die Spezifik dieser Gattung aufzeigt. Allen literaturwissenschaftlichen strukturalistischen Vorgehensweisen gemeinsam sind klar formulierte Interpretationsregeln und z. T. operationale Verfahren, die explizite Standards für das erfolgreiche Analysieren und Interpretieren von literarischen Texten aufstellen.
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4. Publikationen Die ersten Arbeiten des berühmten Genfer Strukturalisten Ferdinand de Saussure sind nicht synchroner Art, sondern der historisch-vergleichenden Indogermanistik und der junggrammatischen Methode (und damit de Saussures Leipziger Studienjahren 1876–79) verpflichtet, so: Saussure, Ferdinand de, Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes, Leipzig 1879, sowie seine Dissertation: Saussure, Ferdinand de, De L’emploi du Génitif absolu en Sanscrit, Genf 1881. Als Standardwerk des Strukturalismus dagegen gilt: Saussure, Ferdinand, de, Cours de linguistique général, publié par Charles Bally et Albert Sechehaye, avec la collaboration de Albert Riedlinger, Paris 1916. Die Arbeit wurde bekanntlich nicht von de Saussure autorisiert (es gibt Hinweise darauf, dass er eine derartige Drucklegung auch nie geplant hat), sondern im Jahr 1916 posthum publiziert. Diese de facto recht eigenwillige, zum Teil eigenmächtig gestaltete und verschiedentlich inkohärente Kompilation der Mitschriften dreier Vorlesungsreihen, die de Saussure 1906/07–1911 an der Genfer Universität über die Grundlagen der allgemeinen Linguistik gehalten hat, entfaltete eine eigene, sehr umfassende Wirkung: Die 2. Auflage erschien bereits 1922, die deutsche Übersetzung 1931, die 2. deutsche Auflage 1967 als: Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, Charles Bally / Albert Sechehaye (Hrsg.), unter Mitwirkung von Albert Riedlinger, übersetzt von Herman Lommel, Berlin 1916/67. Die eindrucksvolle und auch ikonisch überzeugende Nebeneinanderstellung der verschiedenen Vorlesungsmitschriften in der kritischen Ausgabe von Rudolf Engler sowie die kommentierte Ausgabe von Tullio de Mauro ermöglichten erst eine kritische Auseinandersetzung mit der Editionsgeschichte und auch mit den Brüchen dieses Standardwerks (Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, édition critique par Rudolf Engler. Wiesbaden 1916/68; Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, édition critique préparée par Tullio de Mauro. Lausanne, Paris 1916/1972). Zentrale Arbeiten der ‚Prager Schule‘ sind: Bühler, Karl, Sprachtheorie, Jena 1934; Jakobson, Roman, „Prinzipien der historischen Phonologie“, in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague, 4/1931, S. 247–268; Jakobson, Roman / Halle, Morris, „Phonologie und Phonetik“, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Berlin 1979, S. 54–106; Martinet, André, Économie des changements phonétiques, Bern 1955; Trubetzkoy, Nikolaj Sergejevic, Brief an Forchhammer, s. Jakobson, Roman (Hrsg.), N. S. Trubetzkoy’s Letters and Notes, The Hague 1975, S. 457–462, sowie die (ebenso
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wie der Cours posthum publizierte) Grundlagenarbeit über die strukturelle Phonologie: Trubetzkoy, Nikolaj Sergejevic, Grundzüge der Phonologie, Göttingen 1939. Die Zeitschrift Travaux du Cercle Linguistique de Prague (ab 1929) gilt als wichtigstes Publikationsorgan der Prager Linguisten. Zentral sind weiterhin das Wörterbuch linguistischer Begriffe aus der Prager Schule von Vachek, Josef / Dubsky, Josef, Dictionnaire de linguistique de l’Ecole de Prague, Untrecht 1966 sowie die Rückblicke auf die Prager Schule durch Mathesius und Vachek: Mathesius, Vilem, Le Cercle de Prague, Paris 1969; Vachek, Josef, The linguistic school of Prague. An introduction to its theory and practice, Bloomington 1966. Als Weiterführung der Prager Schule gilt u. a.: Vachek, Josef / Beneˇs, Eduard (Hrsg.), Stilistik und Soziolinguistik. Beiträge der Prager Schule zur strukturalen Sprachbetrachtung und Spracherziehung, Berlin 1971. Als zentrale Arbeiten des Amerikanischen Strukturalismus gelten die folgenden Arbeiten: Bloomfield, Leonard, „A set of postulates for the science of language“, in: Language, 2/1926, S. 153–164; Bloomfield, Leonard, Language, New York 1933/65; Boas, Franz, Handbook of American Indian languages, Bd. 1–3, Washington 1911–38; Harris, Zellig S., „From morpheme to utterance“, in: Language, 22/1946, S. 161–183; Harris, Zellig S., Methods in Structural Linguistics; Chicago 1951; Harris, Zellig S., „Distributional structure“, in: Word, 10/1954, S. 146–162; Harris, Zellig S. „From phoneme to morpheme“, in: Language, 31/1955, S. 190–222; Sapir, Edward, Language. An Introduction to the Study of Speech, London 1970. Die Zeitschriften Language (1925 gegründet), Linguistic Circle of New York (1942 gegründet) und Word gelten als wesentliche Publikationsorgane der amerikanischen Strukturalisten. Wesentliche Publikationen der Kopenhagener Linguistik sind: Brøndal, Viggo, Morfologi og Syntax. Ny Bidrag til Sprogets Theori, Kopenhagen 1932; Hjelmslev, Louis, Omkring sprogteoriens grundlæggelse, Kopenhagen 1943. Die erste englische Übersetzung erschien 1953, die erweiterte Fassung erst 1961. Deutsche Übersetzung: Hjelmslev, Louis, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, übersetzt von Rudi Keller, Ursula Scharf und Georg Stötzel, München 1943/1974 (Linguistische Reihe. 9); Uldall, Hans Jørgen u. a., Outline of Glossematics. A study in the methodology of the humanities with special reference to linguistics, Part 1: General Theory, Copenhague 1952. Wichtige Publikationsorgane der Kopenhagener Linguisten sind die Zeitschriften: Acta Linguistica Hafniensia und Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague. Als zentrale Arbeiten der sehr unterschiedlichen Ausprägungen des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus gelten: Barthes, Roland: S/Z,
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Paris 1970; Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, München 1968/72; Greimas, Algirdas Julien, Maupassant. La sémiotique du texte, Paris 1976; Jakobson, Roman, Poetik, Frankfurt a. M. 1979; Lévi-Strauss, Claude, Mythologiques I–IV, Paris 1964–1971; Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte, München 1972; Mukaˇrovsk´y, Jan, Kapitel aus der Poetik, Frankfurt a. M. 1967; Mukaˇrovsk´y, Jan, Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt a. M. 1970; Propp, Vladimir, Morphologie des Märchens, München 1928/1972; Todorov, Tzvetan, Poétique, Paris 1968.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die gemeinsamen Leistungen der strukturalistischen Schulen bestehen in einer reflektierten Trennung von Synchronie und Diachronie sowie der Ablösung der rein diachronen Methodik durch eine Verlagerung des Fokus auf die Synchronie, zudem in der bewussten Differenzierung zwischen ‚langue‘ und ‚parole‘ sowie in der Annahme, dass sprachliche Einheiten einem strukturierten Zeichensystem zugeordnet sind, dessen Strukturen (Oppositionen, Relationen, Korrelationen) die jeweiligen Zeichen erst konstituieren. Allen strukturalistischen Ansätzen ist zudem eine deskriptive und nicht primär normativ-präskriptive Analyse eigen, alle Schulen haben in unterschiedlicher Art den Versuch unternommen, sprachliche Erscheinungen exakt, überindividuell und nicht intuitionistisch zu beschreiben. Die herausgearbeiteten Methoden der Segmentierung, Klassifizierung, Distribution und Transformation müssen als große Leistungen der strukturalistischen Schulen anerkannt werden. Neben diesen allgemeinen Leistungen sind in den diversen Schulen auch bedeutende Einzelleistungen auszumachen; genannt seien hier exemplarisch die einer funktionalistischen Auffassung verschriebenen phonologischen und morphologischen System-Etablierungen in der Prager Schule, die Konstruktion einer mathematischen Beschreibungssprache in der Kopenhagener Schule oder die Distributionsanalyse im Amerikanischen Strukturalismus. Weitergeführt wurden strukturalistische Theorien und Methoden etwa durch die Prager Linguisten seit den 1950er-Jahren, wobei Untersuchungsmethoden und -ergebnisse auf andere Sprachen, vor allem das Englische und die slavischen Sprachen, ausgedehnt wurden,32 oder durch die in Anbindung an Hjelmslev zu se32
Vachek, Josef / Beneˇs, Eduard (Hrsg.), Stilistik und Soziolinguistik. Beiträge der Prager Schule zur strukturalen Sprachbetrachtung und Spracherziehung, Berlin 1971.
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hende Stratifikationsgrammatik von S. J. Lamb. Auswirkungen hatte der Strukturalismus zudem auf andere wissenschaftliche Disziplinen, so die Literaturwissenschaft, die Anthropologie und natürlich den Poststrukturalismus. Als Defizite wurden den Strukturalisten Ausklammerung der Semantik, Antihistorismus und (aufgrund der deskriptiven Basis) das Fehlen von Erklärungsansätzen vorgeworfen. Dieser letzte Vorwurf führte dann zur Überwindung des Strukturalismus, indem in einer Weiterführung des Distributionalismus durch die Generative Grammatik von Noam Chomsky der strukturalistische Anspruch einer deskriptiven Adäquatheit durch denjenigen einer Erklärungsadäquatheit abgelöst wurde. Als ein weiteres Defizit ist sicherlich das Ausblenden sprachpragmatischer Zusammenhänge anzuführen, insbesondere auch (bei den meisten Strukturalisten) das Fehlen eines induktiven Zugangs zur Analyse sprachlicher Einheiten. Dieser Vorwurf führte dann in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zur sog. ‚pragmatischen Wende‘ der Sprachwissenschaft, ausgelöst zunächst durch die Entwicklung der deduktiv ausgerichteten Sprechakttheorie und wenig später dann durch eine (der amerikanischen Soziologie und Ethnologie verpflichtete) induktiv ausgerichtete Konversations- respektive Gesprächsanalyse. In der Literaturwissenschaft sind trotz z. T. erheblicher Differenzierungen strukturalistische Grundannahmen auch in aktuelleren wissenschaftstheoretisch orientierten Literaturtheorien zu finden, so in der Empirischen Literaturwissenschaft, der Systemtheorie, der Analytischen Literaturwissenschaft sowie in dem von Umberto Eco konzipierten semiotischen Textmodell. Letztlich basieren auch Dekonstruktion und Poststrukturalismus, die wesentlich zur Überwindung des Strukturalismus beigetragen haben, auf der Möglichkeit der Anwendung strukturalistischer Methoden und Verfahrensweisen.
6. Auswahlbibliographie Auf folgende, im vorliegenden strukturalistischen Zusammenhang sekundär relevante Quellentexte aus der Zeit vor und nach dem Strukturalismus wurde Bezug genommen: Schlegel, Friedrich, Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde, Heidelberg 1808. Grimm, Jacob, Deutsche Grammatik. Vierter Theil, Göttingen 1837.
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Gabelentz, Georg von der, Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse, 2. Auflage, Leipzig 1901. Chomsky, Noam, Syntactic Structures, The Hague 1957. Chomsky, Noam, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge, MA 1965. Weiterführende Literatur zur Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts: Rensch, Karl-Heinz, „Organismus – System – Struktur in der Sprachwissenschaft“, in: Phonetica, 16/1967, S. 71–84. Arens, Hans, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1969. Kohrt, Manfred, Problemgeschichte des Graphembegriffs und des frühen Phonembegriffs, Tübingen 1985. Schmidt, Hartmut, Die lebendige Sprache. Zur Entstehung des Organismuskonzepts, Berlin 1986 (= Linguistische Studien, Reihe A, Arbeitsberichte. 151). Kucharczik, Kerstin, Der Organismusbegriff in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, Diss. phil., TU Berlin 1998. Kucharczik, Kerstin, „Organisch – ‚um den beliebten aber vildeutigen ausdruck zu gebrauchen‘. Zur Organismusmetaphorik in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts“, in: Sprachwissenschaft, 23/1998, S. 85–111. Weiterführende Literatur zum Strukturalismus respektive zu den strukturalistischen Schulen: Benveniste, Émile, „‚Structure‘ en linguistique“, in: Roger Bastide (Hrsg.), Sens et usages du terme structure dans les sciences humaines et sociales, The Hague 1962, S. 31–39. Bierwisch, Manfred, „Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden“, in: Kursbuch 5/1966, S. 77–152.
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Helbig, Gerhard, Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Unter dem besonderen Aspekt der Grammatik-Theorie, München 1971. Ihwe, Jens, Literaturwissenschaft und Linguistik, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1971. Gallas, Helga (Hrsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Neuwied 1972. Genette, Gérard, Figures III, Paris 1972. Hempfer, Klaus W., Gattungstheorie, München 1973. Motsch, Wolfgang, Zur Kritik des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus, Berlin 1974. Culler, Jonathan, Structuralist Poetics, New York 1975. Koerner, Konrad, „European Structuralism: Early Beginnings“, in: Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Current Trends in Linguistics, Vol. XIII: Historiography of Linguistics, The Hague 1975. Pfister, Manfred, Das Drama, München 1977. Titzmann, Michael, Strukturale Textanalyse, München 1977. Posner, Roland, „Semiotik diesseits und jenseits des Strukturalismus: Zum Verhältnis von Moderne und Postmoderne, Strukturalismus und Poststrukturalismus“, in: Zeitschrift für Semiotik, 15/1993, S. 211–233. Amacker, René, „La dimension synchronique dans la théorie linguistique de Saussure“, in: Sylvain Auroux / Konrad Koerner / Hans-Josef Niederehe / Kees Versteegh (Hrsg.), History of the Language Sciences, Bd. 2, Berlin, New York 2001, S. 1735–1746. Fought, John G., „The ‚Bloomfield School‘ and Descriptive Linguistics“, in: Sylvain Auroux / Konrad Koerner / Hans-Josef Niederehe / Kees Versteegh (Hrsg.), History of the Language Sciences, Bd. 2, Berlin, New York 2001, S. 1950–1966.
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Joseph, John E., „The Exportation of Structuralist Ideas from Linguistics to Other Fields: An Overview“, in: Sylvain Auroux / Konrad Koerner / Hans-Josef Niederehe / Kees Versteegh (Hrsg.), History of the Language Sciences, Bd. 2, Berlin, New York 2001, S. 1880–1908. Kohrt, Manfred / Kucharczik, Kerstin, „Die Wurzeln des Strukturalismus in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts“, in: Sylvain Auroux / Konrad Koerner / Hans-Josef Niederehe / Kees Versteegh (Hrsg.), History of the Language Sciences, Bd. 2, Berlin, New York 2001, S. 1719–1735. Rischel, Jørgen, „The Cercle Linguistique de Copenhague and Glossematics“, in: Sylvain Auroux / Konrad Koerner / Hans-Josef Niederehe / Kees Versteegh (Hrsg.), History of the Language Sciences, Bd. 2, Berlin, New York 2001, S. 1790–1806. Ehlers, Klaas-Hinrich, Strukturalismus in der deutschen Sprachwissenschaft. Die Rezeption der Prager Schule zwischen 1926 und 1945, Berlin, New York 2005 (= Studia Linguistica Germanica 77). Albrecht, Jörn, Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, 3. erw. Auflage, Tübingen 2007. Rolf, Eckard, Sprachtheorien. Von Saussure bis Millikan, Berlin, New York 2008.
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1. Definition Systemtheorie (gr. ‚systema‘: ein aus Gliedern bestehendes Ganzes; gr. ‚theoria‘: Betrachtung) bezeichnet ein interdisziplinäres Grundkonzept, welches der Beschreibung und Erklärung von systemischen Prozessen dient. Wissenschaftshistorisch reichen die Anfänge der mit der Kybernetik konzeptuell eng verbundenen Systemtheorie in die 1940er-Jahre zurück, als sie in unterschiedlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen entwickelt worden ist. Eine Allgemeine Systemtheorie wurde in den 1950er-Jahren von dem Biologen Ludwig von Bertalanffy formuliert. Das aktuelle literaturwissenschaftlich relevante Verständnis der Systemtheorie bezieht sich jedoch vor allem auf die zunächst von Talcott Parsons handlungstheoretisch eingeführte und seit den 1970erJahren von Niklas Luhmann unter der Leitidee der Kommunikation ausgearbeitete soziologische Variante.
2. Beschreibung 2.1 Problemstellung Die zentrale Problemstellung der soziologischen Systemtheorie Luhmann’scher Prägung richtet sich auf die Frage, wie Gesellschaft – diese lässt sich als eine rekursiv-netzwerkförmige Kommunikationsaktivität beschreiben – möglich ist, obwohl ihr Fortbestand zugleich als hochunwahrscheinlich diagnostiziert wird. Als unwahrscheinlich gilt Kommunikation für Luhmann erstens im Hinblick auf die Erwartung, dass sie verstanden wird und sich somit überhaupt vollzieht. Zweitens ist unwahrscheinlich, dass eine Mitteilung den Adressaten erreichen kann, und schließlich ist es drittens unwahrscheinlich, dass die Kommunikation akzeptiert wird. Mit Hilfe unterschiedlicher Konzepte, insbesondere aber
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unter Einbeziehung der binären Codierung sowie des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums bietet die Systemtheorie Erklärungen dafür an, wie die Gesellschaft das Problem löst. Allgemein wird dabei von Luhmann ein Medium funktional als ‚Transformation des Unwahrscheinlichen ins Wahrscheinliche‘ definiert. Auch die literarische Kommunikation prozessiert unter diesen Unwahrscheinlichkeitsbedingungen und setzt zum Zweck erfolgreicher Systemreproduktion (‚Autopoiesis‘) geeignete Medienleistungen voraus – neben dem ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium‘ (vor allem der Sprache) technische Verbreitungsmedien wie den Buchdruck. Als Bestandteil des Kunstsystems ist Literatur überdies durch eine spezifische ‚Funktionsbestimmung‘ determiniert und auf eine spezifische, nur diesem System eigene binäre Codierung angewiesen. In seinem Aufsatz von 1976 Ist Kunst codierbar? nennt Luhmann die in der an diesen Vorschlag anschließenden literaturwissenschaftlichen Forschung kontrovers diskutierte Unterscheidung ‚schön/hässlich‘. In einzelnen Arbeiten wird diese z. B. durch ‚interessant/langweilig‘ (Plumpe/Werber) oder ‚stimmig/nicht stimmig‘ (Schmidt) ersetzt. Entscheidend ist indes, dass jede Kommunikation, der die kunstspezifische Code-Unterscheidung zugrunde liegt, ungeachtet ihres Gegenstandsbezugs als Ereignis des Kunstsystems aufzufassen ist. Die Systemzuweisung erfolgt nämlich ausschließlich im Vollzug der kommunikativen Referenz. Insofern mit Hilfe der jeweils spezifischen Codierung eine von keinem anderen Funktionssystem abgedeckte Beobachtung ermöglicht wird, begründet sie die Eigenständigkeit und Unentbehrlichkeit des Systems. So ist z. B. das Rechtssystem durch eine andere ‚Funktionsbestimmung‘ und ‚binäre Codierung‘ (‚Recht/Unrecht‘) charakterisiert als das Wirtschaftssystem (‚zahlen/nicht-zahlen‘), dieses wiederum prozessiert nach einer anderen Code-Differenz als das Wissenschaftssystem (‚wahr/falsch‘), welches sich wiederum vom Kunstsystem aufgrund der ihm eigenen Codedifferenz unterscheidet. In diesem Sinne brauche die Gesellschaft auch das Kunstsystem, weil nur dieses kommunikative Prozesse nach Maßgabe der kunstspezifischen Unterscheidung organisiere und eine kunstspezifische Funktion – etwa Offenlegung der Kontingenz von Entscheidungen oder Einbeziehung der Wahrnehmung in die Kommunikation – erfülle. In Luhmanns eigenen Schriften sowie in der systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft insgesamt schwindet im Verlauf der 1990er-Jahre das Interesse an der konkreten Bestimmung der binären Codierung. Auch die noch in den 1980er-Jahren rege diskutierte Frage, ob und inwiefern sich Litera-
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tur überhaupt als ein soziales System beschreiben lässt, verliert an Bedeutung. In den Vordergrund rücken stattdessen Überlegungen, welche die mediale wie materiale Beschreibung einzelner Kunstwerke und die zwischen der Kognition und der Kommunikation erfolgenden Interaktionen hervorheben. Im Fokus der systemtheoretischen Fragestellung steht die Erörterung der Voraussetzungen und Mechanismen, mit deren Hilfe sowohl die Entstehung als auch die Reproduktion des Kunstsystems als eines unverzichtbaren, autopoietisch grundierten Teilsystems der modernen Gesellschaft systematisch und im historischen Verlauf dargestellt werden können. In Abgrenzung zu Ansätzen, welche entweder das ‚Ende der Kunst‘ postulieren oder das Aufkommen einer post- bzw. nachmodernen Kunstepoche ausrufen, hält die Systemtheorie weitgehend an einer Kontinuität der Moderne fest. Gemeinsam mit und in Konkurrenz zu diskursanalytischen Forschungen sowie der Feldanalyse Pierre Bourdieus leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung der sozialtheoretischen Literaturwissenschaft. 2.2 Zentrale Konzepte a) Die soziologische Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz baut auf der Ausgangsdifferenz zwischen ‚System‘ und ‚Umwelt‘ auf. Grundsätzlich setzt Luhmann die Unterscheidung zwischen drei Systemtypen voraus: dem sozialen System, d. h. Gesellschaft (Kommunikation), dem psychischen System, d. h. dem Bewusstsein (Wahrnehmung, Denken) sowie dem lebenden System, d. h. dem Organismus (Zellteilung). Diese bilden jeweils Umwelt füreinander. Entscheidend ist hierbei, dass jedes System ausschließlich innerhalb seiner eigenen Systemgrenzen nach ihm immanenten Bestimmungen zu operieren vermag. In diesem Sinne ist es operativ gegenüber seiner Umwelt geschlossen (‚operative Schließung‘). Das bedeutet grundsätzlich, dass die einzelnen Systeme nicht ineinander hineinoperieren können. Psychische Systeme kommunizieren nicht, während umgekehrt soziale Systeme nicht wahrnehmen. Bei jedem dieser Systeme handelt es sich daher um eine ‚autonome‘ und ‚selbstreferentiell‘ bestimmte Operationseinheit. Allerdings registriert ein System Stimuli aus der Umwelt, ja, es kann sogar kein System unabhängig von seiner Umwelt existieren. Die operative Geschlossenheit eines Systems macht es daher offen für Anpassungen an die Umwelt, insofern deren Stimuli zum Aufbau eigener Strukturen genutzt werden und so ‚strukturelle
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Kopplungen‘ entstehen. Kommunikative Prozesse etwa brauchen Bewusstseinsinstanzen, die an der Kommunikation teilnehmen, während die Bewusstseinsinstanzen wiederum Körper brauchen, an die sie gebunden sind. Gleichwohl – und dies charakterisiert die systemtheoretische Perspektive – verarbeiten soziale Systeme die Kontaktreize und Einflüsse der Umwelt – des Bewusstseins und des lebenden Systems – allein nach systemspezifischen, internen Maßgaben und damit als Kommunikation. Systeme ‚übersetzen‘ mithin die von außen kommenden Impulse in ihre eigenen Operationen. b) Innerhalb der Gesellschaft unterscheidet Luhmann zunächst ‚Interaktions‘- und ‚Organisationssysteme‘. Interaktionssysteme beziehen sich auf zwischenmenschliche Formen des sozialen Kontakts, während Organisationssysteme institutionelle, betriebliche oder bürokratische Strukturen umfassen. Die sozialen Systeme aber konstituieren eine höhere Komplexitätsordnung, welche die zuerst genannten übergreift. Innerhalb der Gesellschaft gibt es darüber hinaus unterschiedliche soziale Teil- bzw. Funktionssysteme, deren Beziehung zueinander ebenfalls nach dem Schema der ‚System/Umwelt‘-Differenz und der dieser zugrunde liegenden operativen Schließung zu beschreiben ist. Zugleich und infolge dessen lassen sich auch fortwährende Interdependenz- und Störverhältnisse zwischen ihnen beobachten. Dass z. B. die Interessen der Wirtschaft oder des Rechtssystems auf die Kunst einzuwirken versuchen, lässt sich etwa an den Friktionen festmachen, die entstehen können, wenn Kunst zum Zwecke der Wertsteigerung gesammelt wird, oder unter Berücksichtigung der bis heute für die Produktion von Kunst- und literarischen Werken unabdingbaren mäzenatischen Bedingungen. Ein wirtschaftliches Auskommen muss gewährleistet sein, damit ein Autor literarische Werke verfassen kann. In systemtheoretischer Perspektive werden solche zwischen den Funktionssystemen der Gesellschaft stattfindenden Interaktionen als zentraler Gesichtspunkt der Systembeschreibung zwar unterstrichen, jedoch stets unter der Prämisse der operativen Selbstreferenz (‚Selbst-/Fremdreferenz‘) reflektiert. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die ereignisorientierte Grundlegung des Systembegriffs. Luhmann versteht unter einem System eine besondere, Anschluss generierende Ereignisfolge. Soziale Systeme werden nicht durch einen Gegenstandsbezug definiert und voneinander unterschieden: Das Wirtschaftssystem etwa basiert nicht auf Geld oder anderen ökonomischen Gütern, ebenso wenig lässt sich das Kunstsystem über die Identifikation und Festschreibung von Kunstwerken bestimmen, auch wenn in beiden Fällen eine wichtige Umweltbedin-
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gung genannt ist. Unter einem sozialen System versteht Luhmann vielmehr einen Kommunikationsprozess, eine Operationsfolge. Das bedeutet, dass nicht die einzelnen Kunstwerke – die sich in ihrer perzeptiven Erscheinungsform mittels der ‚Medium/Form‘-Unterscheidung beschreiben lassen, zugleich aber auch als ‚Kompaktkommunikationen‘ bezeichnet werden – das Kunstsystem reproduzieren, sondern ausschließlich die kommunikativ erzeugte Beobachtung, welche auf prinzipiell alle Bezugsgegenstände, also auch auf Kunstwerke anwendbar ist. Das bedeutet zum Einen, dass sowohl Rezipienten und Produzenten, sofern sie diese Unterscheidung anwenden, die Reproduktion des Kunstsystems betreiben als auch die Kunstwerke selbst, geht man davon aus, dass sie ihrerseits kommunizieren und die kunstspezifische Unterscheidung anwenden können. c) Die ‚funktionale Ausdifferenzierung‘ der einzelnen sozialen Systeme, deren Fortbestand dadurch gewährleistet ist, dass sie jeweils nach Bedarf und Interesse der eigenen Bezugsprobleme entscheiden, kennzeichnet die moderne Gesellschaft. Diese grenzt sich von den alten, entweder ‚segmentär‘ (nach Sippen) oder ‚stratifikatorisch‘ (nach Ständen) organisierten Gesellschaftsformen dadurch ab, dass sie eine heterarchische Ordnung aufweist und segmentäre und stratifikatorische Strukturen ausschließlich auf der Ebene der Organisation duldet. Innerhalb eines solchen Rahmens wird das Kunstsystem als dem Wirtschafts-, Politik-, Religions- oder Rechtssystem gleichwertiges Teilsystem moderner Gesellschaft vorausgesetzt und behandelt, erfüllt es doch eine exklusive, nur von ihm abgedeckte Funktion. Es darf sich demnach weder von politischen noch wirtschaftlichen oder religiösen Funktionsinteressen leiten lassen, sondern ist allein dem Anliegen verpflichtet, seinen Anschluss zu gewährleisten. Nicht was sich als wirtschaftlich ertragreich verwerten lässt, sondern allein die kunstspezifische Beobachtung kann als Referent des Kunstsystems bestimmt werden. Das schließt den Sachverhalt ein, dass zahlreiche Kunstwerke gleichzeitig polyfunktional beobachtet werden können, nämlich sowohl hinsichtlich der kunstsystemischen, der wirtschaftssystemischen als auch anderer Unterscheidungen. Es schließt überdies auch die Möglichkeit ein, dass etwa in Museen oder anderen ‚Organisationen‘ der Gesellschaft unter Umständen wirtschaftliche gegenüber ästhetisch-künstlerischen Überlegungen vorrangig behandelt werden können. Die exklusive Funktion des Kunstsystems bestimmt Luhmann in seinen unterschiedlichen Schriften jeweils unterschiedlich. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst von 1986 spricht er
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von „Herstellung von Weltkontingenz“,1 durch welche die Alltagsversion der Realität sich in einer polykontexturalen, auf andere Möglichkeiten hin geöffneten Weltwahrnehmung auflöst. Diesen Ansatz wiederholt Luhmann in seinem Aufsatz Weltkunst von 1990, bis er in seinem – bemerkenswert wenig stringenten – opus magnum Die Kunst der Gesellschaft (1995) erwägt, die Funktion der Kunst darin zu sehen, dass sie in die Kommunikation etwas „prinzipiell Inkommunikables, nämlich Wahrnehmung“2 einbeziehe. Indes zielt diese umfassende Abhandlung weniger darauf ab, definitive Angaben hinsichtlich der Funktionsfestlegung und Codierung des Kunstsystems zu machen, als vielmehr theoretische Möglichkeiten durchzuspielen und vor allem historische Entwicklungen zu beschreiben. d) Neben der historischen Rekonstruktion des modernen Kunstsystems rückt Die Kunst der Gesellschaft auch die Frage nach dem Kunstwerk in den Vordergrund, welches insbesondere mit Hilfe der ‚Medium/ Form‘-Unterscheidung beschrieben wird. Luhmann hat im Zuge der Weiterentwicklung seines Theoriegebäudes unterschiedliche Medienbegriffe entworfen, deren letzter eine sich von jeder Dingorientierung distanzierende Modifikation der ursprünglich auf Fritz Heider zurückgehenden ‚Medium/Ding‘-Unterscheidung ist. Die ‚Medium/Form‘-Unterscheidung führt Luhmann bereits in einem 1986 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Das Medium der Kunst ein, womit deutlich wird, dass die Kunstreflexion die Ausarbeitung dieses Konzepts erforderlich machte. Sie fungiert zunehmend auch als eine Art Metamedium-Konzept, welches relational gebaut ist und aufs engste mit dem Beobachterbegriff zusammenhängt. Sie führt jede Form (feste Kopplung) auf das sie bedingende Medium (lose Kopplung) zurück und projiziert jedes Medium auf die es stabilisierende Form. Zwar liegt der ‚Medium/Form‘-Unterscheidung das wahrnehmungsanalytische Modell der ‚Figur/Hintergrund‘Unterscheidung zugrunde, im Kontext der Systemtheorie wird es allerdings universalisiert. Neben seiner Applizierbarkeit auf Wahrnehmungsprozesse eignet es sich nämlich auch zur Beschreibung struktureller, systemübergreifend wirksamer Kopplungen, so z. B. zwischen Bewusstsein und Kommunikation. So wird es von Luhmann etwa zur Bestimmung der Erzeugung von ‚Sinn‘ eingesetzt, insofern dieser als Aktualisierung einer Form (Entscheidung) vor dem Hintergrund eines Mediums (andere 1 2
Luhmann, Niklas, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: Delfin, 3/1984, S. 51–69, hier S. 62. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 227.
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potentielle Entscheidungen) aufgefasst werden kann. Aufschlussreich ist hierbei, dass die ‚Medium/Form‘-Unterscheidung keine statische Einheit, sondern ein dynamisches, rekursives Beobachtungsinstrumentarium darstellt, demzufolge jede Form ihrerseits auch wieder als Medium anderer Formen und umgekehrt jedes Medium auch als Form beschrieben werden kann. „Das Medium der Kunst ist […] in jedem Kunstwerk präsent – und doch unsichtbar, da es nur auf der noch unbezeichneten Seite gleichsam als Attraktor weiterer Beobachtungen wirkt. Im Suchen verwandelt sich dann das Medium in Form“.3 Als konstitutives Element des Kunstsystems jedoch fordert das Kunstwerk in seiner Bestimmung als Einheit der ‚Medium/Form‘-Unterscheidung die primär soziologische Grundlegung des Systembegriffs in gewisser Weise heraus. Denn zum einen setzt die Beobachtung eines Kunstwerks, das in Die Kunst der Gesellschaft – wie von Kritikern zu Recht angemerkt – vorrangig am Modell bildender Kunst orientiert ist, die Operation der Wahrnehmung voraus, womit das Kunstsystem in herausragender Weise an die Prozesse des Bewusstseins gebunden wird. Der Kunstwerkbezug konfiguriert folglich eine intersystemische Schnittstelle. Aus diesem Grund bezeichnet Luhmann die Einbeziehung der Wahrnehmung in die Kommunikation als Funktion des Kunstsystems. Zum anderen lässt er das Problem der Verhältnisbestimmung zwischen der systemischen Ebene und der Einzelwerkorientierung deutlich zum Vorschein kommen. Es artikuliert sich besonders dort, wo unter Rekurs auf das ‚Ornament‘-Konzept die Diskrepanz zwischen diesen beiden Ebenen wieder aufgehoben werden soll. Auch diesen Begriff definiert Luhmann tendenziell im Sinne einer Funktion – als Mittel zur Erzeugung von Anschlüssen –, indem er ihn zugleich jedoch auch als konkret wahrnehmbares Stilelement versteht, erhält das Ornament den Status, Anschlusserzeugung zu veranschaulichen und mithin die systemische Reproduktion selbst sichtbar zu machen. e) Ein entscheidender theoretischer Beitrag der Luhmann’schen Systemtheorie liegt in dem von ihr definierten Kommunikationsbegriff. Er begründet die operative Einheit der Gesellschaft. In seiner systemtheoretischen Deutung gilt er als sehr voraussetzungsreich und beschreibt gemäß der Prämisse der operativen Geschlossenheit systemischer Vorgänge eine selbstreferenzielle Struktur. Unbestritten ist in diesem Zusammenhang dennoch die enge strukturelle Kopplung an das jeweilige
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Ebd., S. 191.
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Bewusstsein der beteiligten Kommunikanten. Vorausgesetzt wird eine Teilnahme von mindestens zweien, nämlich Alter, das eine Information mitteilt, und Ego, das sie versteht. Systemtheoretisch handelt es sich bei der Kommunikation jedoch nicht um eine intentional grundierte Interaktion zwischen zwei Kommunikationspartnern, welche sich Informationen zusenden und diese jeweils entsprechend der Absicht des Absenders beim Empfang verstehen. Das Konzept setzt wesentlich abstrakter ein. Aufgrund der operativen Schließung zwischen dem sozialen und dem psychischen System kommt die Kategorie der Intentionalität als Bedingung erfolgreicher Kommunikation nicht in Frage. Sie wird vielmehr als ‚Synthese dreier Selektionen‘ definiert: ‚Mitteilung‘, ‚Information‘ und ‚Verstehen‘, das seinerseits als Differenzierung zwischen Mitteilung und Information bestimmt wird. Die Option der Annahme oder Ablehnung der Kommunikation im Sinne einer Reaktion auf das Verstehen gehört nicht mehr konstitutiv zu diesem Kommunikationskonzept, auch wenn sie eine wichtige Kondition der kommunikativen Reproduktion darstellt. Nur wenn diese drei Selektionskomponenten – Mitteilung, Information und Verstehen – unterschieden werden können, und nur wenn alle drei Selektionen realisiert sind, findet Kommunikation statt. Die Mitteilungsselektion betrifft die Ausdrucksseite. Sie kennzeichnet jede kommunikative Äußerung als eine spezifische Auswahl aus der Fülle möglicher Ausdrucksformen: ‚gestisch/sprachlich‘, ‚mündlich/ schriftlich‘, ‚laut/leise‘, ‚handschriftlich/maschinell‘ etc. Entsprechend gilt auch eine Information als eine Selektion, insofern sie in der Welt eine Unterscheidung zwischen dem zieht, was gesagt und daher als Information ‚ausgewählt‘ wird, und dem, was ausgeschlossen bleibt. Nur wenn Ego erkennt, dass eine Differenz zwischen Mitteilung und Information vorliegt, d. h. nur unter der Voraussetzung, dass Ego eine Wahrnehmung überhaupt als Mitteilung identifizieren und Alter somit die Absicht unterstellen kann, etwas mitteilen zu wollen – diese Unterstellung muss keineswegs zutreffen und dennoch für kommunikativen Anschuss sorgen –, wird Verstehen ermöglicht. Dieses wird systemtheoretisch nicht als Aufnehme einer von Alter übermittelten Intention definiert, sondern als Selektionsleistung Egos hervorgehoben. Wie und was es versteht, gilt ausschließlich als seine eigene, selektiv erzeugte Konstruktion. Das bedeutet zugleich, dass Verstehen systemtheoretisch nicht inhaltlich bestimmt ist. Mithin bezieht es sich nicht auf die Herstellung eines Konsenses zwischen Alter und Ego hinsichtlich einer Bedeutung, sondern allein auf die basale Tatsache, dass Alter überhaupt erkennt, dass Kommunikation vorliegt.
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Zu unterscheiden sind dabei zwei Perspektiven, die in gewisser Weise der Unterscheidung zwischen Interaktions- und Organisationssystemen korrespondieren. Die erste bezieht sich auf einzelne, zwischen Alter und Ego erfolgende Kommunikations- bzw. Interaktionsakte, welche sich zu verschieden langen Ketten verbinden können, je nachdem, wie viele Anschlüsse geschaffen werden. Diese Kommunikationsakte bilden jedoch vergleichsweise kleine und an einem bestimmten Punkt abbrechende Einheiten. Die zweite Perspektive fokussiert hingegen makrologische Zusammenhänge, die mit der Evolution, d.h. dem historischen Verlauf eines sozialen Systems korrelieren und als solche die Vorstellung einer die Interaktionen transgredierenden Dauerkommunikation erforderlich machen. Auszugehen ist in diesem Zusammenhang von einer nicht auf Alter und Ego begrenzten Konstellation, sondern vielmehr von Mitteilungs-, Informations- und Verstehensselektionen, welche unabhängig von einzelnen Personen, mithin institutionell, organisatorisch oder strukturell getroffen werden und damit auf einer höheren und dauerhafteren Komplexitätsebene stattfinden. Einzelne Kommunikationsakte haben vor diesem Hintergrund lediglich eine supplementäre Funktion, insofern sie die übergreifenden kommunikativen Selektionsentscheidungen ausführen bzw. in Form einzelner Interaktionen realisieren. 2.3 Analyseverfahren und Vorgehensweise a) Das systemtheoretische Analyseverfahren eignet sich zur Beschreibung einzelner sozialer Systeme mit besonderer Berücksichtigung ihrer jeweiligen Entstehungsbedingungen sowie in Bezug auf diejenigen Mechanismen und Einrichtungen, die ihre Reproduzierbarkeit generieren. Niklas Luhmann hat in diesem Sinne u. a. das Rechts-, Wirtschafts-, Wissenschafts-, Religions- und Kunstsystem als Funktionssysteme der modernen Gesellschaft dargestellt und im Blick auf die jeweilige binäre Codierung, die Funktionsbestimmung sowie das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium differenziert. Im Anschluss an Luhmanns Systemdarstellungen wurden nach diesem Schema auch andere Systeme, so z. B. das des Journalismus (Bernd Blöbaum), entworfen. Innerhalb dieses Rahmens liefert die ‚Evolutionstheorie‘ eine wichtige Perspektive. Luhmann wendet sie zur Rekonstruktion und Erklärung historisch beobachtbarer Änderungen von Systemstrukturen und historischen Semantiken an. Weisen die einzelnen sozialen Systeme einerseits unveränderliche Konstituenten wie die jeweilige binäre Codie-
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rung auf, so unterliegen sie andererseits historischen Veränderungen. In diesem Sinn ist z. B. auch die systemstabilisierende Codierung unabhängig von den historisch wechselnden Programmen der Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu denken. Jedoch lässt sich vor diesem Hintergrund jede semantische Bestimmung einer Code-Differenz selbst als Effekt eines Programms deuten, wie in der Forschung verschiedentlich bemerkt wurde. Dass sich z.B. in der Literatur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Gattung des modernen Romans durchgesetzt hat, ist ein evolutionär zu beschreibender Befund. Ähnlich lassen sich die Ausdifferenzierung des Kunstsystems insgesamt und mit ihr die der Literatur bereits seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts als ‚Emergenzeffekte‘ einer evolutionären Entwicklung beobachten. Auch die Datierung des Ausdifferenzierungsprozesses ist ein Ergebnis der evolutionären Beschreibungperspektive. Grundsätzlich gilt, dass die evolutionär zu erfassenden Strukturänderungen auf der Basis der Unterscheidung dreier Mechanismen erfolgen: der ‚Variation‘, ‚Selektion‘ und ihrer ‚Stabilisierung‘ bzw. ‚Retention‘. Das Verhältnis dieser Mechanismen untereinander muss als Wechselseitigkeit gedacht werden, insofern die Möglichkeit der Variation bereits stabilisierte Selektionen erfordert, wie diese umgekehrt auf Variation angewiesen sind, um eine Veränderung zu selektieren und stabilisieren. Anders als die klassische Evolutionstheorie argumentiert Luhmann nicht mit dem Primat der Umweltanpassung, sondern mit dem Verweis auf systeminterne Anpassungsvorgänge. Zwar gilt die Umwelt prinzipiell als Voraussetzung systemischer Autopoiesis, weshalb ein System stets auch an der Herstellung von Kompatibilitäten zwischen seinen Strukturen und den Umweltbedingungen interessiert ist. Jedoch liegt der Hauptakzent der systemtheoretischen Beschreibung evolutionärer Prozesse auf den internen und damit den Selbsterhalt eines Systems erklärenden Strukturänderungen. In Frage steht dabei, welche Veränderungspotentiale das jeweilige System selbst bereitstellt und in welcher Weise sie zum Aufbau neuer Strukturen genutzt werden. So müssen z. B. diejenigen Strukturen des Kunst- bzw. Literatursystems spezifiziert werden, welche – wie die zuerst durch den Buchdruck und dann durch die Alphabetisierung bedingte Zunahme der Lektüreaktivität sowie die damit einhergehende Umstellung des Lektüremodus (von der Mehrfachlektüre einiger weniger Texte auf die Einmallektüre vieler verschiedener Texte) oder die Ablösung von der Regelpoetik und ihrer strengen Form-Restriktion – die Durchsetzung der Gattung des modernen Romans im 18. Jahrhundert ermöglicht bzw. nur begünstigt haben.
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Eine besondere Facette im Zusammenhang mit der evolutionären Perspektive bildet die Rekonstruktion der ‚historischen Semantik‘. Als Semantik wird der Begriffs- und Themenvorrat der Gesellschaft bezeichnet, zu dem zentrale Konzepte, Standardoptionen zur Annahme und Ablehnung von Kommunikationen, Modelle, Termini und ihre Gegenbegriffe innerhalb bestimmter zeitlicher sowie ständischer oder regionaler Kontexte gehören. Anhand der historischen Semantik lässt sich vorzugsweise die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft nachzeichnen. Mehr noch: keine Gesellschaftsbeschreibung kommt ohne Bezugnahme auf die entsprechende Semantik aus. Eine exemplarische Realisation erfährt dieses Prozedere in der Schrift Liebe als Passion, worin Luhmanns semantikgeschichtliches Interesse unter besonderer Berücksichtigung literarischer Texte umgesetzt wird. Eine wichtige Zäsur in der Beschreibung der historischen Veränderung in der Konzeptualisierung der Liebe macht er dabei in der Neuzeit ab dem 17., verstärkt aber im 18. Jahrhundert fest, indem hier eine Grundlegung auf der Individualität der Person erfolgt. Deren Zuspitzung lässt sich in der epochentypischen Erfahrung der Inkommunikabilität prägnant nachweisen, während um 1800 mit der romantischen Liebe eine „Reflexivität“4 entsteht – eine Selbstbezüglichkeit der Liebe um ihrer selbst Willen –, die sich auch semantisch niederschlägt. Denn die bis dahin geltende, sich auf der Grundlage der „Differenz von aufrichtiger und unaufrichtiger Liebe“5 konstituierende Semantik wird in der Romantik zugunsten der Differenz von Zufall und Schicksal ersetzt. Für das semantikgeschichtliche Verfahren ist die Rekonstruktion und Benennung zentraler Differenzbegriffe ausschlaggebend. Nicht nur in Liebe als Passion, sondern auch in anderen für diesen Zusammenhang wichtigen Texten Luhmanns kommt Literatur als wichtiger Lieferant und als Dokumentationsmedium der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung sowie ihrer jeweiligen Semantik zum Tragen. b) Des weiteren bietet Luhmanns Kommunikationsbegriff die Möglichkeit, kommunikative Situationen und Formen, so auch die literarische in ihren unterschiedlichen medialen Ausprägungen, eingehend zu analysieren. In diesen Kontext gehören die von Luhmann selbst, aber auch in der systemtheoretischen Forschung überhaupt eher selten durchgeführten Untersuchungen von ‚Face-to-face-Interaktionen‘. Vor allem jedoch wird der Kommunikationsbegriff im Zusammenhang mit 4 5
Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1985, S. 175. Ebd., S. 179.
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schriftlicher Kommunikation im Sinne des ‚Schreibens‘ und der ‚Lektüre von Texten‘ sowie als Partizipation an ‚massenmedialer Kommunikation‘ reflektiert. Anders als in der mündlichen Face-to-face-Kommunikation unter Anwesenden hebt Luhmann als zentrales Charakteristikum der Schrift hervor, dass sie die Selektion einer Mitteilung und einer Information auch in Abwesenheit des Kommunikationspartners ermöglicht und mithin die Selektionen der Mitteilung, Information und des Verstehens räumlich und zeitlich auseinander zieht. Damit nimmt die Unsicherheit der Kommunikation, d. h. ihres Gelingens zu, insofern z. B. nur Zeit verzögert festgestellt werden kann, ob die ‚Mitteilung/Information‘-Selektion vom Adressaten überhaupt ausgeführt worden ist. Zugleich steigert die Schrift den kommunikativen Freiheitsgrad, weil sie eben räumliche und zeitliche Distanzen zu überbrücken ermöglicht. Darüber hinaus bedingt sie die Einführung einer spezifischen, schriftgemäßen Rhetorik. Einige dieser Überlegungen legt Luhmann in seinem Aufsatz Die Form der Schrift dar. Auch in Die Kunst der Gesellschaft finden sich Passagen, welche die mediale und, daraus resultierend, zumeist buchmateriale Form literarischer Texte sowie ihrer Lektüren erörtern. Ein weiterer Gesichtspunkt schriftlicher Kommunikation wird in der Abhandlung Die Realität der Massenmedien entfaltet, indem hier die Vervielfältigung von Texten qua Buchdruck als historisch erste massenmediale Zäsur bezeichnet wird. In deren Folge werden Bücher bzw. gedruckte Texte verfügbarer, so dass von vielen viele verschiedene Texte gelesen werden können. Diese Entwicklung schlägt sich jedoch nicht nur in der Veränderung von Rezeptionsformen und -möglichkeiten nieder, sondern auch innertextuell, da fortan die Texte etwa in Fußnoten und Anmerkungen aufeinander Bezug nehmen. c) Das differenztheoretische Verfahren der Systemtheorie lässt sich selbst auf die Basisdifferenz ‚Operation/Beobachtung‘ zurückführen. Unter einer Operation wird dabei die Reproduktion eines Elements im Vollzug der Autopoiesis eines Systems mit Hilfe von Elementen desselben Systems verstanden. Sie gilt als Voraussetzung für die Existenz eines Systems, insofern dieses durch eine spezifische, nur ihm eigene Operationsweise determiniert ist. Obwohl die operative Reproduktion einen Anschluss der einzelnen Elemente ermöglicht und mithin den Fortbestand eines Systems generiert, handelt es sich bei Operationen um hochgradig flüchtige und ausschließlich aktuelle Ereignisse. Ihre Unterscheidung in frühere und spätere ist alleinige Leistung eines Beobachters. Denn anders als die Reproduktion der jeweils flüchtig-einmaligen Operationsereignisse ermöglicht die Beobachtung über die Aktualität hinaus
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stabile Sinnfiguration. Die Beobachtung wird zunächst als die Einheit von Unterscheidung und Beobachtung verstanden. Zwar ist die Beobachtung auch eine spezifische Operationsweise, die sich nur von einem bestimmten System aus vollzieht. Sie benutzt jedoch eine ‚Unterscheidung‘, um deren eine oder andere Seite zu bezeichnen und auf diese Weise Sinn zu konstituieren. Dieser stabilisiert sich dadurch, dass sowohl Bezeichnungen als auch Unterscheidungen als identisch beobachtet werden können (‚Kondensation/Konfirmation‘). Nach diesem Verständnis entsprechen alle systemtheoretischen Unterscheidungen – die ‚System/ Umwelt‘-Differenz ebenso wie die jeweiligen historisch-semantischen Oppositionen und nicht zuletzt auch die Unterscheidung zwischen Operation und Beobachtung selbst – dem Beobachterbegriff. Zusammenfassend ließe sich die systemtheoretische Methode insgesamt als ein solches, unterschiedliche Basisdifferenzen auf unterschiedlichen analytischen Ebenen veranschlagendes Beobachten bestimmen. Entscheidend ist hierbei, dass sich der Luhmann’sche Beobachterbegriff, den er am Kalkül von George Spencer Brown orientiert, weder auf eine besondere Wahrnehmungsleistung – des Sehens z. B. – bezieht, noch von einem Bezug auf Menschen abhängig ist. Beobachten können nämlich soziale Systeme ebenso wie Bewusstseinsinstanzen, sofern sie den Sachverhalt einer bezeichnenden Unterscheidung erfüllen.
3. Institutionsgeschichtliches Die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns und insbesondere der ihr zugrunde liegende Systembegriff gehen auf die in den 1950erund 1960er-Jahren dominante strukturell-funktionale Sozialtheorie Talcott Parsons – bei dem Luhmann studiert hat – zurück. Luhmann hat im Zuge der Übernahme entscheidende Modifikationen, dabei vor allem eine Umstellung von der Handlung auf Kommunikation vorgenommen. Im Verlauf der Ausformulierung der Luhmann’schen Sozialtheorie von ihren Anfängen in den 1960er-Jahren bis zu den in den 1990er-Jahren bzw. den posthum erschienenen Schriften lassen sich zahlreiche weitere Adaptionen und Umakzentuierungen nachweisen. So wurde der insbesondere für Luhmann – weit über die Grenzen der Soziologie hinaus wahrgenommene – zentrale Begriff der Autopoiesis von den Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela übernommen und dabei von lebenden auf soziale Systeme übertragen. Auch die für die späteren Schriften sehr wichtige Kategorie des Beobachters ist ein theoretischer
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Import George Spencer Browns. Überdies transferierte Luhmann Fritz Heiders ‚Ding/Medium‘-Differenzierung in die ‚Medium/Form‘-Unterscheidung, womit er eine auch auf Wahrnehmungsprozesse anwendbare Beschreibungsformel in sein Theoriegebäude integrierte. In den 1990erJahren lässt sich zudem ein starkes Rezeptionsinteresse an poststrukturalistischen Theorien feststellen, zu welchen Luhmann sich zunehmend in Konkurrenz setzte, was allerdings das Eingeständnis vielfacher Übereinstimmungen – insbesondere mit Jacques Derrida und Michel Serres – durchaus implizierte. Die konzeptuellen Anleihen, die Luhmann seinem Theoriesystem implementierte, deuten zum einen auf die systemtheoretische Offenheit kurrenten Theorieentwicklungen gegenüber hin. Zum anderen handelt es sich stetes um Übernahmen mit dem Ziel, die somit neu erworbenen Konzepte einer Neubestimmung und Anverwandlung zu unterziehen. In ihrer Gesamtanlage ist die Systemtheorie daher sowohl durch eine ausgeprägte Tendenz zur Wahrung von strukturellkonzeptuellen Kontinuitäten als auch durch ständige Erweiterung und Umschrift charakterisiert. Die derzeit prominentesten Vertreter der soziologischen Systemtheorie – u. a. Dirk Baecker und Rudolf Stichweh – setzen diesen Kurs fort, wenn auch unter jeweils unterschiedlichen Vorzeichen, indem sie das Luhmann’sche Instrumentarium etwa netzwerktheoretisch weiterentwickeln und in Bezug auf die aktuell von der Globalisierungs- und Weltgesellschaft gestellten Anforderungen hin prüfen. Obwohl die ursprünglichen Impulse aus den USA kamen, wird die soziologische Systemtheorie heute vor allem im deutschen Sprachraum und in anderen europäischen Ländern rezipiert und weiterentwickelt. Ihr wissenschaftlicher Einfluss auf andere Disziplinen, insbesondere die Betriebswirtschaftslehre, die Verwaltungswissenschaft und Pädagogik, aber auch die Literatur- und Kulturwissenschaften ist sehr groß. Jedoch ist sie zugleich ausgerechnet innerhalb der Sozialwissenschaft selbst durchaus in der Defensive. Die Angriffe richten sich dabei auf das hohe begrifflich-konzeptuelle Abstraktionsniveau, welches eine Rückbindung und Applikation auf konkrete soziale Phänomene problematisch erscheinen lässt. Zudem stelle sie, so ein weiteres Angriffsargument, mehr eine lose Begriffssammlung dar, denn ein kohärentes Theoriesystem. Ferner werden ihr grundsätzlich mangelnde Empirie und eine zu große Entfernung von gesellschaftlichen Problemen vorgehalten. Von der Kritischen Theorie wird ihr mit ähnlicher Stoßrichtung ihre jedem Idealismus abschwörende Fokussierung auf funktional-strukturelle Prozesse, denen eine humanistisch grundierte Perspektive fehle, vorgeworfen. In-
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sofern das Interesse der Systemtheorie allein der Beschreibung des sozialen Status quo gewidmet ist, arbeite sie nicht an der Veränderung und Besserung der Zustände, sondern affirmiere sie vielmehr (so auch die Auseinandersetzung in der Luhmann-Habermas-Kontroverse). Die breite literatur- und kulturwissenschaftliche Rezeption systemtheoretischer Ansätze schließt an die Veröffentlichung von Soziale Systeme an, bezieht dabei jedoch auch Luhmanns früher erschienenen Beitrag zur Kunst, Ist Kunst codierbar?, ein. Außer in der germanistischen Literaturwissenschaft wird die Systemtheorie auch in der Anglistik insbesondere durch Anregungen von Dietrich Schwanitz und in der Romanistik von Hans Ulrich Gumbrecht rezipiert. Insgesamt wird das analytische Werkzeug der Systemtheorie erstens zur Neubestimmung einer Sozialgeschichte der Literatur genutzt. Untersucht werden im Zuge dessen die historischen Entwicklungen und Voraussetzungen der Entstehung des modernen Literatursystems, aber auch semantikgeschichtliche Spezialprobleme. Zweitens werden die Luhmann’schen Begriffe zur Profilierung literaturtheoretischer Fragen genutzt. Einen besonderen Zweig der Luhmann-Rezeption und -Adaption bildet die in der 1980er-Jahren vorgenommene Weiterentwicklung der Empirischen Literaturwissenschaft, wie sie insbesondere Siegfried J. Schmidt in seiner Schrift Selbstorganisation des Literatursystems. Literatur im 18. Jahrhundert vorlegte. Neben der Übernahme der Kategorie der Selbstorganisation hebt er in dieser Studie vor allem das konstruktivistische Moment der Systemtheorie hervor. Nahezu zeitgleich wurde in einer Arbeitsgruppe um Jörg Schönert eine an Parsons orientierte systemtheoretische Diskussion ausgelöst, welche in den 1990er-Jahren von Georg Jäger auf den Luhmann’schen Ansatz hin geöffnet wurde. Andere Akzente setzen in einer Reihe von gemeinsam in den 1990erJahren publizierten Aufsätzen sowie mehreren jeweils einzeln verfassten Monographien die Literaturwissenschaftler Gerhard Plumpe und Niels Werber, wenn sie unter besonderer Berücksichtigung der Selbstbeschreibungsprogramme moderner Literatur die literarhistorisch angemessene Code-Differenz und die funktionale Bestimmung des Kunstsystems reflektieren. Von Plumpe werden überdies die im deutschen Sprachraum üblichen Epochenbegriffe auf der Basis der Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung neu sortiert. Werber setzte sich u. a. mit der Gattung des modernen Liebesromans im Rahmen einer semantikund medienhistorischen Analyse auseinander. In Bezug auf die Reflexion und Beschreibung des Kunstsystems ist zum einen der Ansatz Harry Lehmanns in Die flüchtige Wahrheit der Kunst
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zu erwähnen, der dafür plädiert, die Funktion der Kunst in der Anregung neuer Selbstbeschreibungen der Gesellschaft zu sehen. Zum anderen verfolgt Dirk Baecker in einer Reihe von Aufsätzen die Veränderungen der Kunst im Zuge der von ihm angenommenen Ablösung der funktionalen Ausdifferenzierung. Eine weitere Aufnahme findet die Systemtheorie in literaturwissenschaftlichen Versuchen, welche sich um eine Anbindung an die Diskursanalyse Foucaults – so Claus-Michael Ort – sowie insbesondere an den Poststrukturalismus bzw. die Dekonstruktion verdient gemacht haben. In einem von Matthias Prangel und Henk de Berg 1995 herausgegebenen Sammelband erörtern die Beiträge die von der Systemtheorie und Dekonstruktion jeweils vertretenen Differenzbegriffe (Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus). Auch der 1996 von Jürgen Fohrmann und Harro Müller herausgegebene, die Relevanz unterschiedlicher systemtheoretischer Konzepte für die Literaturwissenschaft untersuchende Sammelband Systemtheorie der Literatur enthält mehrere Beiträge, welche sich einem Vergleich zwischen diesen beiden Theoriekontexten widmen. Hervorzuheben sind in dem Zusammenhang auch die den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff im Hinblick auf seine Möglichkeiten bzw. Tauglichkeit als Lektüreinstrumentarium befragenden Arbeiten von Georg Stanitzek. Dabei bringt er das Luhmann’sche Konzept zum einen mit philologischen Operationen, wie sie etwa der lectio-Lehre oder Hermeneutik entspringen, sowie zum anderen mit dekonstruktiven Verfahren in einen reflexiven Zusammenhang. Eine kulturwissenschaftliche Weiterentwicklung der Systemtheorie regen Cornelia Vissmann und Albrecht Koschorke in dem 1999 von ihnen herausgegebenen Sammelband Widerstände der Systemtheorie. Kulturanalytische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann an. Da die meisten der Beiträger Literaturwissenschaftler sind, lässt er sich als eine Bestandsaufnahme aus der Perspektive dieser Disziplin lesen. Auch medientheoretische Anschlussmöglichkeiten der Systemtheorie werden erarbeitet und mit dekonstruktiven Ansätzen verknüpft (Verf., Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns [2000]). Eine systemtheoretisch fundierte Medientheorie der Bibliothek formuliert Nikolaus Wegmann in Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter (2000). Till Dembeck nutzt in Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (2007) Luhmanns Überlegungen zum Ornament, um eine Theorie der Figuration von Texten zu entwickeln. Festzuhalten gilt es insgesamt, dass sich das literaturwissenschaftliche Interesse an der Systemtheorie im Laufe der 1990er-Jahre zunehmend hinsichtlich einer
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Erschließung kompatibler Theoriekontexte verschiebt. Die Vergleichbarkeit mit anderen kurrenten Theorien und die Applizierbarkeit auf aktuelle Gegenstände der Literaturwissenschaft (Medien, kulturwissenschaftliche Öffnung) stehen dabei im Zentrum. Zuletzt hat 2003 Oliver Jahraus mit seiner Abhandlung Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation eine umfassende und eingehende, die theoretischen Ansätze der Dekonstruktion und des Strukturalismus einbeziehende Untersuchung der Luhmann’schen Medienbegriffe vorgelegt und deren Anwendung auf die Literatur vorgeschlagen. Jahraus’ Beitrag ist sowohl im Blick auf die Systemtheorie als auch die Literaturwissenschaft metatheoretisch angelegt. Die Abhandlung verfährt weniger soziologisch als literaturtheoretisch, insofern sie nicht nach dem sozialen System der Literatur fragt, sondern Literatur als Beobachtungsmedium und -form beschreibt. Sie ist der bislang letzte Versuch einer dezidiert systemtheoretisch profilierten Literaturwissenschaft. Zwar findet sich das Luhmann’sche Theoriegebäude auch in anderen aktuellen Forschungsarbeiten mit theoretischer Ausrichtung stark vertreten, es lassen sich aber keine Schulen oder Zentren mehr rekonstruieren. Systemtheorie wird vielmehr nur selektiv und in Verbindung mit Konzepten anderer Provenienz eingesetzt. In seiner Studie Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien (2007) konturiert und kritisiert Remigius Bunia, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, die literaturwissenschaftlich derzeit intensiv diskutierten narrationstheoretischen Ansätze und ihre Implikationen insbesondere unter Einbeziehung der systemtheoretischen Kategorie des Beobachters, des Sinn- und Weltbezugs.
4. Publikationen Aus der Sicht der Literatur- und Kulturwissenschaft sind vor allem diejenigen Schriften Luhmanns als besonders wichtig anzusehen, die sich explizit mit Kunst, Literatur und Kultur befassen. Sie haben in den genannten Disziplinen die meiste Aufmerksamkeit bekommen. Jedoch müssen auch sachlich und thematisch anders orientierte Publikationen genannt werden, sofern diese literatur- und kulturwissenschaftlich anschlussfähige Konzepte formulieren. Seit den 1990er-Jahren werden in diesem Sinne die vornehmlich medientheoretisch angelegten Arbeiten Luhmanns intensiv rezipiert und den Anforderungen entsprechend modifiziert. In die breitere literatur- und kulturwissenschaftliche Öffentlichkeit gelangt die Systemtheorie mit dem Erscheinen von Soziale Systeme.
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In dieser Abhandlung werden die zentralen Begriffe, vor allem die ‚System/Umwelt‘-Differenz und das Kommunikationskonzept systematisch dargelegt. Besondere Beachtung wird hier auch der von Luhmann vorgenommenen Grundlegung der Gesellschaft auf Kommunikation zuteil. Die Systemtheorie stellt sich in dieser Schrift selbst als „Supertheorie“ vor und bringt somit eine Bezeichnung in Umlauf, die von der Forschung sowohl polemisch als auch affirmativ und explikativ immer wieder aufgegriffen worden ist. Auf diese Weise tritt sie als eine der letzten Theorien mit dem Anspruch eines übergreifenden Geltungsrahmens auf. Ein weiteres oft zitiertes Moment der von ihr hier entworfenen Selbstbeschreibung bildet die in der Einleitung enthaltene metaphorische Schilderung ihrer Vorgehensweise als „Flug […] über den Wolken“, wobei – und dies ist entscheidend – „mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen“ ist. Als eine Art Blindflug gibt sich Luhmanns theoretisches Unternehmen zu erkennen, zugleich aber stellt es „gelegentlich Durchblicke nach unten“ in Aussicht. Betont wird in der hiermit gewählten Metaphorik indes nicht nur die Sichtbehinderung, sondern ebenso die für Luhmanns Vorgehensweise typische Vogelperspektive. Zu den im engeren Sinne kunst- und literaturwissenschaftlichen Arbeiten Luhmanns sind im Wesentlichen fünf Titel zu zählen. Neben dem speziell auf die Frage der binären Codierung des Kunstsystems gerichteten Aufsatz Ist Kunst codierbar? sind vor allem folgende Texte zu nennen: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. Hier wird die autopoetische Reproduktionsfähigkeit der Kunst auch hinsichtlich ihrer spezifischen Funktionsbestimmung vorgenommen. In Das Medium der Kunst führt Luhmann die Unterscheidung zwischen dem Medium und der Form ein, um auch die Kategorie des Kunstwerks konzeptuell einzuholen. In Weltkunst hebt er schließlich den Beobachter als konstitutive Kategorie hervor. Mit Die Kunst der Gesellschaft legt er eine umfangreiche Abhandlung zum Thema vor. Das Kunstsystem wird in den einzelnen Kapiteln aus der Perspektive der zentralen systemtheoretischen Konzepte analysiert. So steht die Differenz zwischen Wahrnehmung und Kommunikation ebenso im Fokus der Ausführungen wie die für das Kunstsystem relevante Bedeutung der ‚Medium/Form‘-Unterscheidung. Aber auch die Beschreibung der evolutionären Entwicklung des Kunstsystems seit der Renaissance und damit unter vormodernen Rahmenbedingungen weist einen wichtigen Stellenwert in der Abhandlung auf. Überdies dokumentiert die Schrift beiläufig auch die Theoriedebatte, die Luhmann zur Verteidigung der Systemtheorie gegenüber den zum Zeitpunkt der Veröf-
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fentlichung der Schrift literatur- und kulturwissenschaftlich vergleichsweise stärker vertretenen poststrukturalistischen Positionen führt. Eine weitere für die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung ausschlaggebende Akzentsetzung findet sich in der medienwissenschaftlichen Perspektive der Systemtheorie, wie sie insbesondere anhand der ‚Medium/Form‘-Unterscheidung, aber auch unter Rekurs auf Luhmanns Aufsatz Die Form der Schrift sowie seinen Beschreibungsversuch eines Systems der Massenmedien in Die Realität der Massenmedien erfolgt. Mit Luhmanns funktionalem Zugang ist nämlich einerseits eine Alternative zur technik- und apparatbasierten Medientheorie gegeben, andererseits ein dezidiert nicht anthropologischer und mithin dem McLuhan’schen ‚extension-of-man‘-Zugriff entgegengesetzter Ansatz gewählt.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Ein wesentlicher Beitrag der Systemtheorie liegt in der konzeptuellen und begrifflichen Neuausrichtung der bis dahin zumindest im deutschen Sprachraum von der Kritischen Theorie dominierten Sozialwissenschaft. Darin besteht auch ihre literaturwissenschaftliche Bedeutung, führt doch die systemtheoretische Grundierung zu einer Ablösung von der durch die Frankfurter Schule geprägten sozialwissenschaftlichen Profilierung des Fachs. Zu erwarten ist jedoch, dass im Zuge der in der Soziologie derzeit allmählich drohenden Marginalisierung der Luhmann’schen Theorie zugunsten netzwerktheoretischer Ansätze, die sich an Christian Boltanski und Éve Ciapello oder Bruno Latour anlehnen, eine entsprechende Verschiebung in der sozialgeschichtlich interessierten Literaturwissenschaft stattfinden wird. Dabei offerieren Luhmanns Schriften im Hinblick auf netzwerktheoretische Überlegungen produktive Anknüpfungspunkte. Nicht nur sind die konstitutiven Unterscheidungsfiguren der Systemtheorie rekursiv und netzwerkförmig organisiert, vielmehr finden sich in Luhmanns Schriften immer wieder auch Beschreibungen sozialer Netzwerke, welche – dem Modell der sizilianischen Mafia analog – die Strukturen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft unterwandern. Zwar vertritt die aktuelle Netzwerktheorie einen umfassenderen Netzwerkbegriff, insofern sie ihn auf die Gesellschaft insgesamt – und nicht nur einzelne Gruppenstrukturen – ausweitet. Gleichwohl kann eine Rückbildung der modernen funktional differenzierten Gesellschaftsordnung keineswegs flächendeckend diagnostiziert werden. Eine solche Prognose stellt indes der Systemtheoreti-
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ker Dirk Baecker in Studien zur nächsten Gesellschaft, indem er von einem globalen Übertritt in das Stadium der Netzwerkgesellschaft ausgeht. Die wachsende Abkehr der systemtheoretischen Forschung vom Systembegriff hin zu kommunikationstheoretischen und epistemologischen Untersuchungen verspricht, dass systemtheoretische Ansätze – vielleicht im Verbund mit Netzwerkkonzepten – für die Literaturwissenschaft auch in Zukunft ein großes Gewicht haben werden, zumal sie gegenwärtig die einzig ernst zu nehmende Alternative zu den aufstrebenden neonaturalistischen Ansätzen bereitstellen.
6. Auswahlbibliographie Luhmann, Niklas, „Ist Kunst codierbar?“, in: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), ‚schön‘: Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, München 1976, S. 60–95. Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1985. Luhmann, Niklas, „Das Medium der Kunst“, in: Delfin, 4/1986, S. 6–15. Luhmann, Niklas, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in: Delfin, 3/1984, S. 51–69. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984. Luhmann, Niklas, „Weltkunst“, in: Niklas Luhmann / Frederick D. Bunsen / Dirk Baecker, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7–45. Luhmann, Niklas, „Die Form der Schrift“, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Schrift, München 1993, S. 349–366. Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien, 2., überarbeitete Auflage, Opladen 1996. Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997.
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Textwirkungsforschung / Empirische Literaturwissenschaft von M ARGRIT S CHREIER
1. Definition Im Mittelpunkt der empirischen Literaturwissenschaft steht die Untersuchung der Produktion, Rezeption, Verarbeitung und Vermittlung literarischer Texte unter Anwendung von Methoden, wie sie insbesondere in den empirischen Sozialwissenschaften entwickelt wurden. Gegenstand der Textwirkungsforschung als Teilbereich der empirischen Literaturwissenschaft ist die Erforschung von Wirkungen literarischer Texte auf Kognitionen, Emotionen und Handeln von Leserinnen und Lesern.
2. Beschreibung Kernannahmen der empirischen Literaturwissenschaft In ihrer Entstehungsphase grenzt sich die empirische Literaturwissenschaft in erster Linie gegenüber der hermeneutischen Literaturwissenschaft und dem mit dieser Konzeption verbundenen ontologischessentialistischen Textbegriff ab, dem zufolge einem literarischen Text eine bestimmte Bedeutung zukommt, die im Laufe hermeneutisch-literarischer Interpretation ermittelt und damit zugleich als die ‚korrekte‘ Textbedeutung ausgezeichnet wird. Vertreter der empirischen Literaturwissenschaft gehen dem gegenüber, aufbauend auf Arbeiten aus der Semiotik und der Rezeptionsästhetik, von der grundlegenden Polyvalenz literarischer Texte aus, die erst im Vorgang der Rezeption durch den Rezipienten bzw. die Rezipientin vollendet werden.1 Somit wird der ‚her-
1
Zur Polyvalenzannahme vgl. Groeben, Norbert / Schreier, Margrit, „The hypothesis of the polyvalence convention: A systematic survey from a historical perspecitve“, in: Poetics, 21/1992, S. 5–32.
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meneutisch-essentialistische‘ durch einen ‚pragmatisch-funktionalen‘ Textbegriff ersetzt.2 So spricht beispielsweise Siegfried J. Schmidt, einer der führenden Vertreter der empirischen Literaturwissenschaft, auch nicht von literarischen Texten, sondern von ‚Kommunikaten‘, die erst im Rezeptionsprozess zu vollständigen literarischen Texten werden.3 Speziell in der Textwirkungsforschung wird der Text auch als ‚Wirkungspotenzial‘ bezeichnet.4 Mit dem funktionalen Textbegriff ist zugleich eine erste Kernannahme der empirischen Literaturwissenschaft benannt. Wenn der (literarische) Text nicht bereits eine Bedeutung in sich trägt, so folgt daraus zwangsläufig, dass Leser im Rezeptionsprozess auch nicht passiv eine bestimmte Textbedeutung aufnehmen, sondern am Prozess der Bedeutungskonstitution selbst aktiv beteiligt sind. Die Bedeutung, die eine Leserin oder ein Leser einem Text zuweist, wird also nicht allein durch Textmerkmale bestimmt, sondern ebenso von Persönlichkeit, Vorwissen, Einstellungen, Gestimmtheiten der Leser (sowie schließlich auch von Merkmalen der Rezeptionssituation). Dass im Prozess der Textrezeption Vorwissen der Leser mit Textmerkmalen integriert wird, dass Rezipienten Bedeutung also aktiv konstruieren, konnte in der Sprach- und Denkpsychologie für nichtliterarische Texte schon vielfach aufgezeigt werden und stellt einen der am besten gesicherten Befunde in diesen Disziplinen dar.5 Dass dies für – oft polyvalente – literarische Texte noch einmal in besonderem Maße gilt, konnte in der empirischen Literaturwissenschaft ebenfalls wiederholt nachgewiesen werden.6 Der textseitigen ersten Kernannahme des funktionalen Textbe2
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Zum funktionalen Textbegriff in der empirischen Literaturwissenschaft vgl. z. B. Groeben, Norbert / Landwehr, Jürgen, „Empirische Literaturpsychologie (1980–1990) und die Sozialgeschichte der Literatur: ein problemstrukturierender Überblick“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 16/1991, S. 143–235, hier S. 144. Vgl. Schmidt, Siegfried J., Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft, S. 71 Vgl. Groeben, Norbert / Vorderer, Peter, Leserpsychologie: Lesemotivation – Lektürewirkung, Münster 1988, Kap. 3.2. Im Überblick: Christmann, Ursula / Groeben, Norbert: „Psychologie des Lesens“ in: Bodo Franzmann / Klaus Hasemann / Dietrich Löffler / Erich Schön (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 145–223; Van Dijk, Teun / Kintsch, Walter: Strategies of discourse comprehension, New York 1983. Im Überblick: Christmann, Ursula / Schreier, Margrit, „Kognitionspsychologie der Textverarbeitung und Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte“, in: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matías / Winko, Simone (Hrsg.), Regeln der Bedeutung, Berlin, New York 2003, S. 246–285.
Textwirkungsforschung / Empirische Literaturwissenschaft
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griffs in der empirischen Literaturwissenschaft entspricht somit auf Seiten der Leser die zweite Kernannahme der ‚kognitiven Konstruktivität‘ der Rezipienten. Daraus folgt zugleich als dritte Kernannahme, dass der Rezeptionsprozess selbst stets als ‚Interaktion‘ von Merkmalen des Textes, der Leser und der Rezeptionssituation aufgefasst wird.7 Dieser interaktive, konstruktive Prozess der Rezeption literarischer Texte wird als ein Teilbereich der ‚Theorie literarisch-kommunikativen Handelns‘ sensu Schmidt aufgefasst.8 Damit wird die Literaturrezeption zum einen im Rahmen übergeordneter, genereller Theorien des Handelns, der Kommunikation sowie der Ästhetik verortet. Zum anderen wird, innerhalb der Theorie literarisch-kommunikativen Handelns, die Rezeption als eine von vier ‚Handlungsrollen‘ in Bezug auf Literatur rekonstruiert; die übrigen Rollen umfassen die Produktion, die Vermittlung sowie die Verarbeitung im Sinne des literaturkritischen sowie literaturwissenschaftlichen Diskurses. In ihrer Gesamtheit konstituieren diese vier Rollen das Spektrum möglicher Handlungsweisen in Bezug auf literarische Texte innerhalb des Kommunikationssystems literarischen Handelns. Diese Handlungsrollen beinhalten zugleich eine ‚Prozessorientierung‘ der Forschung, so dass zumindest vom Anspruch her auf theoretischer Ebene eine Integration von Prozess-, System- und Handlungstheorie angestrebt wird.9 Damit ist zugleich der Gegenstandsbereich der empirischen Literaturwissenschaft bestimmt: Wiederum in Abgrenzung gegenüber einer in erster Linie hermeneutischen Literaturwissenschaftskonzeption, innerhalb derer die Textinterpretation an zentraler Stelle steht, geht es in der empirischen Literaturwissenschaft um die Untersuchung der verschiedenen Handlungsweisen in Bezug auf Literatur, wobei die Interpretation als Teil des literaturwissenschaftlichen Diskurses und somit als Form der Verarbeitung literarischer Texte lediglich einen Teilbereich des umfassenden Gesamtgegenstandes darstellt. Durch die Verortung des literarisch-kommunikativen Handelns innerhalb einer generellen Theorie des kommunikativen Handelns ergibt sich die Notwendigkeit, das Handeln innerhalb des literarischen Systems gegenüber anderen Kommunikationssystemen abzugrenzen. Diese Ab7 8 9
Vgl. Groeben / Landwehr, „Empirische Literaturpsychologie“, hier Kap. 2.1. Vgl. dazu und im Folgenden: Schmidt, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Vgl. Groeben, Norbert, „Der Paradigma-Anspruch der empirischen Literaturwissenschaft“, in: Barsch, Achim / Rusch, Gebhard / Viehoff, Reinhold (Hrsg.), Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1994, S. 21–38, hier S. 24.
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grenzung erfolgt häufig mittels der Ästhetik- und der Polyvalenzkonvention, von denen angenommen wird, dass sie für die Art und Weise konstitutiv sind, in der wir mit literarischen Texten umgehen.10 Die ‚Ästhetikkonvention‘ besagt, dass Leser literarische Texte nicht danach beurteilen, ob die dargestellten Handlungen, Figuren und Ereignisse real sind oder sich tatsächlich so zugetragen haben, sondern nach anderen, ästhetischen Kriterien wie beispielsweise Neuigkeits- oder Unterhaltungswert. Der ‚Polyvalenzkonvention‘ zufolge legen Leser literarische Texte – anders als Informationstexte wie etwa eine Gebrauchsanweisung – nicht auf eine bestimmte Bedeutung fest, sondern sind in der Lage, unterschiedliche Lesarten eines Textes zu realisieren. So mag ein Leser Umberto Ecos Name der Rose bei der ersten Lektüre vorrangig als Kriminalroman rezipieren, bei einer zweiten Lektüre als Realisation einer Theorie der Semiotik – oder vielleicht wechselt er auch zwischen den Lesarten. Die ‚Ästhetik‘- und die ‚Polyvalenzkonvention‘ stellen Schlüsselbegriffe innerhalb der Theorie der empirischen Literaturwissenschaft dar. Textwirkungsforschung als Teilbereich der empirischen Literaturwissenschaft Die Textwirkungsforschung stellt einen Teilbereich der empirischen Literaturwissenschaft dar. Wenn der (literarische) Text gemäß den Kernannahmen der empirischen Literaturwissenschaft erst im Akt der Rezeption durch die Leser quasi vollendet und Lesen zudem als Interaktion von Text- und Lesermerkmalen modelliert wird, so folgt daraus notwendig, dass aus Textmerkmalen allein nicht schon auf die Lektürewirkung geschlossen werden kann. Entsprechend wird der literarische Text innerhalb der Textwirkungsforschung lediglich als Wirkungspotenzial aufgefasst – ob dieses Potenzial im konkreten Fall auch tatsächlich wirksam wird und in welcher Weise, ist als empirische Frage gesondert zu untersuchen.11 Weiterhin ist begrifflich zwischen ‚Textrezeption‘ und ‚Textwirkung‘ zu unterscheiden.12 Unter Rezeptionsprozessen werden üblicherweise Prozesse des Textverstehens, das Generieren einer Textbedeutung sowie kurzfristige Veränderungen im Verlauf des Lektüreprozesses selbst verstanden, wie etwa Assoziationen, Veränderungen der Stimmung und ähnliches. Unter der Textwirkung versteht man dagegen längerfristige Wirkungen, die sich an die Lektüre anschließen und länger 10 11 12
Zu den Konventionen s. Schmidt, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Vgl. Groeben/Vorderer, Leserpsychologie, Kap. 3.2. Vgl. ebd., Kap. II.0
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andauern können. Der Begriff der ‚Textwirkungsforschung‘ bezieht sich in erster Linie auf solche längerfristigen Wirkungen.13 Längerfristige Wirkungen lassen sich außerdem nach Gegenstandsbereich weiter differenzieren. So hat beispielsweise Sahr eine dreidimensionale Modellierung der Wirkungen von Kinder- und Jugendliteratur vorgeschlagen, mit der er zwischen Wirkungsbereichen (Wissen, Einstellungen und Verhalten), Wirkungsrichtungen (auf der Einstellungsebene: Modifikation bereits vorhandener und Bildung neuer Einstellungen) und einer Bewertung der Wirkung unterscheidet (ebenfalls auf der Einstellungsebene: konforme und non-konforme Einstellungen); allerdings steht bei ihm der Bereich der Einstellungen stark im Vordergrund.14 Schmidt differenziert zwischen drei Grundfunktionen ästhetischer Kommunikation: Einer kognitiv-reflexiven, einer hedonistisch-individuellen und einer moralisch-sozialen.15 Diese Dreiteilung entspricht weitgehend der in der Psychologie üblichen Unterscheidung zwischen Kognitionen, Emotionen und Verhalten/Handeln und erweist sich somit gerade auch interdisziplinär als anschlussfähig. Bisherige Untersuchungen in der Textwirkungsforschung haben sich in erster Linie auf die Wirkung literarischer Texte auf die Kognitionen der Leser konzentriert. Die empirische Methodik Oben wurde die empirische Literaturwissenschaft und mit ihr die Textwirkungsforschung gegenüber der traditionell-hermeneutischen Literaturwissenschaft auf der Gegenstands- und der Theorieebene abgegrenzt. Eine dritte wesentliche Abgrenzung ergibt sich über die spezifisch empirische Methode.16 Dies bedeutet erstens, dass die Forscher in der Regel ihre eigenen Daten generieren, die ohne den Forschungsprozess nicht zur Verfügung stehen würden, und dass sie dies zweitens in ‚systematischer‘ und nicht nur ‚nachvollziehbarer‘, sondern in nachprüfbarer Weise tun, vielfach in der Form, dass vorab formulierte Hypothesen über den Gegenstandsbereich getestet werden. Dies gilt sowohl für die literarischen Texte selbst als auch für deren Rezeption und Wirkung (wie auch für den 13
14 15 16
Vgl. Schreier, Margrit „Textwirkungen“, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2007, S. 193–202. Vgl. Sahr, Michael, Wirkung von Kinderliteratur, Baltmannsweiler 1981, Kap. 2.1. Schmidt, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft, S. 121 ff. Vgl. auch Groeben, Norbert, „Empirisch-konstruktivistische Literaturwissenschaft“, in: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1994, S. 609–629.
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Umgang mit literarischen Texten im Rahmen der anderen Handlungsrollen).17 In einer viel beachteten frühen Wirkungsstudie aus den 1970erJahren ist etwa Klaus Geiger der Wirkung so genannter ‚Landser-Hefte‘ auf jugendliche Leser nachgegangen.18 Landser-Hefte zählen zur Kategorie Krieg verherrlichender Populärliteratur, und es liegt die Vermutung nahe, dass eine häufige Lektüre dieser Hefte dazu führt, dass die Leser eine solche kriegsverherrlichende Einstellung auch selbst übernehmen. Geiger untersuchte zunächst inhaltsanalytisch, wie der Zweite Weltkrieg in den Landser-Heften dargestellt ist: Relevante Textbedeutungen werden hier im Rahmen eines inhaltsanalytischen Kategoriensystems systematisch expliziert, und Textpassagen werden den Kategorien durch mindestens zwei Kodierer unabhängig voneinander zugeordnet. Soweit sie in ihren Zuordnungen übereinstimmen, ist davon auszugehen, dass die entsprechenden Bedeutungen den Textpassagen auch tatsächlich zukommen.19 Die Zuordnung von Textteilen zu Bedeutungskategorien durch zwei unabhängige Kodierer ermöglicht die Überschreitung von subjektivem in Richtung auf intersubjektives Textverstehen. Die Inhaltsanalyse stellt somit das Verfahren der Wahl zum Zweck einer systematischen Textbeschreibung dar. Geiger konnte auf diese Weise unter anderem sichern, dass sowjetische Soldaten in den Landser-Heften praktisch nie als Individuen oder gar positiv dargestellt werden, sondern meist verallgemeinernd in der Rolle des Feindes. Ausgehend von dieser Textbeschreibung lässt sich nun beispielsweise die Hypothese formulieren, dass die häufige Lektüre von Landser-Heften dazu führt, dass die jugendlichen Leser eine negative Einstellung gegenüber der damaligen Sowjetunion entwickeln. Geiger überprüfte diese und andere Hypothesen im nächsten Schritt im Rahmen einer experimentellen Untersuchungsanordnung an 323 Schülern. Die eine Hälfte der Schüler füllte zunächst einen Fragebogen aus, der unter anderem auch Fragen zur Einstellung gegenüber Personen verschiedener Nationalitäten beinhaltete, und las dann LandserHefte. Die andere Hälfte der Schüler las zunächst die Hefte und füllte den Fragebogen im Anschluss an die Lektüre aus. Durch den Vergleich
17
18
19
Zur empirischen Vorgehensweise vgl. Groeben, Norbert, Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft [1977], 2. Aufl., Tübingen 1980; ders., „Der ParadigmaAnspruch“. Vgl. Geiger, Klaus-F., „Jugendliche lesen Landser-Hefte“, in: Gunter Grimm (Hrsg.), Literatur und Leser, Stuttgart 1975, S. 324–341. Zur Inhaltsanalyse vgl. Rustemeyer, Ruth, Praktisch-methodische Schritte der Inhaltsanalyse, Münster 1992.
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der beiden Gruppen konnte Geiger unter anderem zeigen, dass Jugendliche nach der Lektüre von Landser-Heften tatsächlich mehr Vorurteile gegenüber Russen äußern als Jugendliche, die noch keine Landser-Hefte gelesen haben – und zwar in einem solchen Maß, dass der Unterschied zwischen den beiden Gruppen allein durch Zufall nicht zu erklären ist. Um zu überprüfen, ob ein solcher Gruppenunterschied auch rein durch Zufall zustande gekommen sein könnte, kommen Verfahren der so genannten ‚Inferenzstatistik‘ zur Anwendung.20 Dieses zweischrittige Vorgehen Geigers verdeutlicht das Grundprinzip der empirischen Methode in der empirischen Literaturwissenschaft bzw. der Textwirkungsforschung: Textwirkungsforschung beinhaltet Annahmen über die Wirkung von Texteigenschaften auf die Leser. Zur Überprüfung dieser Annahmen ist in einem ersten Schritt sicherzustellen, dass die Texte die fraglichen Eigenschaften auch tatsächlich aufweisen, wobei die Inhaltsanalyse die Methode der Wahl zur systematischen Textbeschreibung darstellt. In einem zweiten Schritt ist dann zu prüfen, ob die Eigenschaften sich in der angenommenen Weise auf die Leser auswirken. Dabei ist vorzugsweise ein Vergleich zwischen Lesern und Nicht-Lesern zu realisieren, und der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist mittels inferenzstatistischer Verfahren auf seine Bedeutsamkeit zu überprüfen. Für die Realisierung einer solchen Vergleichsstudie steht in den empirischen Sozialwissenschaften eine Reihe von Untersuchungsdesigns zur Verfügung.21 Desgleichen wurde eine Vielzahl von Methoden zur Erhebung von Daten für die verschiedensten Fragestellungen entwickelt. Diese reichen von so genannten ‚quantitativen‘ Methoden – wie etwa dem Ankreuzen von einer unter mehreren Antwortoptionen im Rahmen eines Fragebogens – bis hin zu ‚qualitativen‘ Methoden wie dem Interview oder der Gruppendiskussion.22 Die Untersuchung von Geiger verdeutlicht nicht nur die empirische Vorgehensweise, sondern darüber hinaus zwei weitere typische Merk20
21
22
Vgl. Lietz, Petra / Kotte, Dieter, „Quantitative Auswertung: Uni- und bivariate Statistik“, in: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik, Weinheim, München 2006, S. 443–480. Im Überblick: Schreier, Margrit „Experimentelle/quasi-experimentelle Untersuchungsplanung“, in: ebd., S. 307–342. Zu quantitativen Erhebungsmethoden vgl. Schreier, Margrit / Lietz, Petra, „Quantitative Datenerhebungsverfahren“, in: ebd., S. 361–397; zu qualitativen Datenerhebungsmethoden vgl. Schreier, Margrit, „Qualitative Verfahren der Datenerhebung“, in: ebd., S. 399–420.
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male der empirischen Literaturwissenschaft, nämlich die Einbeziehung von ‚Unterhaltungsliteratur‘ sowie die Forderung nach einem ‚Anwendungsbezug‘ der Untersuchungen.23
3. Institutionsgeschichtliches In der US-amerikanischen Leseforschung finden sich schon früh Beispiele für Untersuchungen, in denen Rezeptionsprozesse und -strategien zum Gegenstand empirischer Forschung werden. So untersuchte etwa Richards bereits 1929 interindividuell unterschiedliche Interpretationen von Gedichten,24 und in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde vielfach versucht, Lektürewirkungen auch pädagogisch für eine Einstellungsänderung nutzbar zu machen.25 Die kontemporäre empirische Literaturwissenschaft, die wesentlich durch die o.g. Annahmen charakterisiert ist, entwickelte sich jedoch erst in den 1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum. Dabei orientierten sich ihre Vertreter weniger an der praxisorientierten Leseforschung als vielmehr in erster Linie an theoretischen Arbeiten aus der Analytischen Literaturwissenschaft, dem Strukturalismus und insbesondere der Rezeptionsästhetik.26 Bereits Ingarden und Mukarovsky hatten in ihren Arbeiten theoretische Annahmen über die Rolle von sowohl Text- als auch Lesermerkmalen im Rezeptionsprozess entwickelt. Diese Annahmen und Konzepte, darunter insbesondere Ingardens Konzept der Unbestimmtheit literarischer Texte, wurden in der Folge im Rahmen der Rezeptionsästhetik von Iser mit der Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von ‚Leerstellen‘ im literarischen Text, ergänzt um das Konstrukt des impliziten Lesers, weiter ausgearbeitet.27 Durch all diese Arbeiten zieht sich wie ein 23 24 25
26
27
Zur Unterhaltungsliteratur vgl. Groeben / Vorderer, Leserpsychologie; zum Anwendungsbezug vgl. Groeben, „Der Paradigma-Anspruch“, hier S. 24. Vgl. Richards, Ivor A., Practical criticism: a study of literary judgement, New York 1929. Im Überblick: Andringa, Els, „Literature: empirical studies“, in: Ronald E. Asher (Hrsg.), The encyclopedia of language and linguistics, Oxford 1994, S. 2266–2271; Klementz-Belgardt, Edith, Amerikanische Leserforschung, Tübingen 1982. Im Überblick: Andringa, „Literature: empirical studies“; Moser, Sibylle, „Empirische Theorien“, in: Sexl, Martin (Hrsg.), Einführung in die Literaturtheorie, Wien 2004, S. 222–256. Vgl. z. B. Iser, Wolfgang, „Die Appellstruktur der Texte. Die Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa“, in: Warning, Rainer (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228–253; ders., Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972.
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roter Faden die Annahme einer Text-Leser-Interaktion und die Postulierung von Textmerkmalen, die geeignet sind, leserseitige Aktivität anzuregen. Jedoch bleiben Strukturalismus und Rezeptionsästhetik bei der theoretischen Modellierung dieser Interaktion stehen: Der implizite Leser sensu Iser ist ein Leser, der dem literarischen Text eingeschrieben ist; eine Einbeziehung des realen Lesers erfolgt dagegen nicht. Dies ist zugleich der zentrale Kritikpunkt Norbert Groebens an der Rezeptionsästhetik, der dem gegenüber bereits in den frühen 1970er-Jahren die Untersuchung tatsächlicher Lektüreprozesse fordert.28 Einen weiteren wichtigen Wendepunkt markiert Heide Göttner, die in ihrer Logik der Interpretation aufzeigt, dass literarische Interpretationen bzw. Deutungshypothesen sich in ihrer Grundstruktur nicht wesentlich von wissenschaftlichen Aussagen und Hypothesen in den empirischen (Natur)Wissenschaften unterscheiden und entsprechend auch einer Überprüfung zugänglich sind.29 Daraus ergibt sich die Forderung, implizite Annahmen, die literarischen Interpretationen zugrunde liegen, auch explizit zu machen. Linguisten wie Walther Kindt und Siegfried J. Schmidt gehen hier noch einen Schritt weiter und fordern nicht nur die Korrektheit der Argumentation, sondern darüber hinaus auch die Überprüfbarkeit von Belegen und die Begründung der Wahl der Methoden.30 In dieser sprachwissenschaftlich-argumentationstheoretischen Tradition steht vor allem die Empirische Theorie der Literatur, wie sie von Siegfried J. Schmidt und anderen Mitarbeitern der NIKOL-Gruppe entwickelt wurde (s. u.). Vor diesem Hintergrund entwickeln sich vier distinkte Strömungen der empirischen Literaturwissenschaft: Dies ist erstens die primär ‚methodologisch fundierte und psychologisch orientierte empirische‘ Literaturwissenschaft in der Tradition von Groeben.31 Als Psychologe und Literaturwissenschaftler arbeitet er vor allem die kognitionspsychologische Fundierung der empirischen Literaturwissenschaft im Sinne von Lesen und literarischer Rezeption als kognitiv-konstruktiver Aktivität heraus. Als Vertreter eines kognitiven Konstruktivismus gilt sein Interesse dem Beitrag von sowohl text- als auch leserseitigen Faktoren zum 28 29 30 31
Groeben, Rezeptionsforschung, S. 220. Göttner, Heide, Logik der Interpretation, München 1973. Im Überblick: Moser, „Empirische Theorien“, hier S. 225 ff. Vgl. z. B. Groeben, Rezeptionsforschung; ders., Rezeption und Interpretation. Ein interdisziplinärer Versuch am Beispiel der ‚Hasenkatastrophe‘ von R. Musil, Tübingen 1981; ders. „Der Paradigma-Anspruch“; Groeben/Vorderer, Leserpsychologie.
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Rezeptionsergebnis. Seine Auffassung der empirischen Literaturwissenschaft ist in erster Linie methodologisch orientiert: Er geht von der Annahme aus, dass die Entwicklung eines Paradigmas der empirischen Literaturwissenschaft zunächst die Entwicklung von gegenstandsangemessenen Methoden erfordert, und zwar unter Adaptation des Methodenspektrums in den empirischen Sozialwissenschaften. Charakteristisch für seinen Ansatz ist vor allem die Annahme der fließenden Übergänge, und zwar sowohl zwischen Lesen im Allgemeinen und Lesen literarischer Texte im Besonderen (bzw. auch zwischen alltäglichem und literarischem Kommunikationssystem) als auch zwischen der empirischen Literaturwissenschaft und traditionellen literaturwissenschaftlichen Ansätzen. So konzeptualisiert Groeben die Interpretation als zentralen Gegenstand der traditionellen Literaturwissenschaft und zugleich als Teilbereich einer empirischen Literaturwissenschaft. Eine zweite Strömung bildet die ‚Empirische Theorie der Literatur‘ in der Tradition von Siegfried J. Schmidt in Zusammenarbeit mit der NIKOL-Gruppe.32 Wie aus der Bezeichnung bereits hervorgeht, ist es Schmidts Ziel (im Gegensatz zur methodologischen Orientierung der empirischen Literaturwissenschaft sensu Groeben), eine umfassende theoretische Fundierung der empirischen Literaturwissenschaft zu erarbeiten, die in der Folge den Ausgangspunkt für empirische Untersuchungen bilden kann. Einige der in diesem Rahmen entwickelten Konzepte wurden im vorausgehenden Abschnitt bereits als grundlegend für die empirische Literaturwissenschaft eingeführt, wie beispielsweise die wechselseitige Abgrenzung von alltäglichem und literarischem Kommunikationssystem, die Charakterisierung des literarischen Kommunikationssystems durch die Ästhetik- und die Polyvalenzkonvention sowie die Postulierung der vier Handlungsrollen von Produktion, Rezeption, Vermittlung und Verarbeitung. Während Groebens Konzeption eher handlungstheoretisch fundiert ist, macht Schmidt vermehrt systemtheoretische Ansätze für die empirische Literaturwissenschaft nutzbar, insbesondere die Systemtheorie Luhmanns. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen liegt in der Relation zur traditionellen Literaturwissenschaft. Im Gegensatz zu Groeben betrachtet Schmidt die empirische Literaturwissenschaft und traditionelle literaturwissenschaftliche Ansätze als unvereinbar; daraus folgt unter anderem, dass Interpre32
Im Überblick: Schmidt, Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft; ders., Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt 1989; NIKOL (Hrsg.), Angewandte Literaturwissenschaft, Braunschweig 1986.
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tation sich innerhalb des Ansatzes von Schmidt nicht als Gegenstandsbereich einer empirischen Literaturwissenschaft rekonstruieren lässt. Schließlich wird zwar in beiden Ansätzen die Konstruktivität des Rezeptionsprozesses betont. Während Groeben hier einen Kognitiven Konstruktivismus zugrunde legt, wie er als Objekttheorie in der Kognitionspsychologie vertreten wird, setzt Schmidt zeitweise einen Radikalen Konstruktivismus in Anlehnung an Varela und Maturana als Erkenntnistheorie an.33 Objekttheoretisch folgt daraus die Irrelevanz des Textfaktors gegenüber dem Lesefaktor – eine Annahme, die Meutsch einmal in dem prägnanten Satz zusammengefasst hat: „Wir verstehen nicht literarische Texte, sondern wir verstehen Texte literarisch“.34 Die Annahme eines Radikalen Konstruktivismus wird innerhalb der Empirischen Theorie der Literatur jedoch heute mehrheitlich nicht mehr vertreten. Die Ansätze von Groeben und Schmidt sind vor allem für die deutschsprachige empirische Literaturwissenschaft prägend gewesen. Daneben hat sich relativ unabhängig im US-amerikanischen Raum eine eher ‚pragmatisch‘ auf empirische Forschung ausgerichtete dritte Strömung der empirischen Literaturwissenschaft entwickelt, die sich im weitesten Sinne als ‚reader response research‘ charakterisieren lässt. Zu deren Vertretern zählen beispielsweise Art Graesser mit Schwerpunkt auf Inferenzen im Rezeptionsprozess,35 Don Kuiken und David Miall mit einem Fokus auf den emotionalen Aspekten des Rezeptionsprozesses sowie Douglas Vipond und Russ Hunt, die verschiedene Lesestile identifizieren konnten (point driven versus story driven reading).36 Charakteristisch für diese Strömung ist der empiriewissenschaftliche Schwerpunkt, ohne Ausarbeitung eines expliziten theoretischen, ontologischen oder epistemologischen Annahmenkerns. Während vor allem bei Groeben sowie in der US-amerikanischen Strömung die psychologische Orientierung auf die individuelle Rezep33
34 35
36
Vgl. Schmidt, Siegfried J., „Der Radikale Konstruktivismus: ein Paradigma im interdisziplinären Diskurs“, in: hrsg. v. dems., Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt 1987, S. 11–88. Meutsch, Dietrich, Literatur verstehen. Eine empirische Studie, Braunschweig 1987, S. VI. Vgl. z. B. Graesser, Arthur / Singer, Murray / Trabasso, Tom, „Constructing inferences during narrative text comprehension“, in: Psychological Review, 101/1994, S. 371–347. Vgl. z. B. Kuiken, Don / Miall, David S. / Sikora, Shelley, „Forms of self-implication in literary reading“, in: Poetics Today, 25/2004, S. 171–203; Vipond, Douglas / Hunt, Russel A., „Point-driven understanding: pragmatic and cognitive dimensions of literary reading“, in: Poetics, 13/1984, S. 261–277.
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tion und Verarbeitung literarischer Texte dominiert, ist die vierte Strömung der empirischen Literaturwissenschaft durch eine ‚literatursoziologische‘ Ausrichtung charakterisiert; im Vordergrund steht die empirische Untersuchung der Verarbeitung und der Vermittlung literarischer Texte. Zu den typischen Untersuchungsgegenständen zählen unter anderem historische Entwicklungen des Literatursystems, Strategien von Verlagshäusern bei der Produktion von Bestsellern, Trends und Tendenzen in Buchbesprechungen und deren Auswirkungen auf den Buchmarkt oder der Vergleich verschiedener Lesergruppen.37 Trotz der vielfältigen Unterschiede zwischen diesen vier Strömungen hat seit den späten 1980ern eine zunehmende Institutionalisierung der empirischen Literaturwissenschaft stattgefunden.38 Von zentraler Bedeutung ist dabei die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Empirische Literaturwissenschaft 1987 in Siegen; seither finden in zweijährigem Abstand regelmäßig internationale Tagungen statt. Zu den wichtigsten Publikationsorganen (im Zeitschriftenbereich) zählen das Siegener Periodikum für Internationale Empirische Literaturwissenschaft (SPIEL) sowie Poetics (mit besonderem Schwerpunkt auf literatursoziologischen Arbeiten). Fließende Übergänge bestehen außerdem zur Psychologie der Ästhetik (Empirical Studies of the Arts), zur Psychologie der Textverarbeitung (Discourse Processes) und zur Literaturpsychologie.39 Bezüge zwischen der empirischen Literaturwissenschaft und der Germanistik finden sich in erster Linie in den textlinguistischen Ursprüngen der Empirischen Theorie der Literatur sensu Schmidt. Germanistische Literaturwissenschaft und empirische Literaturwissenschaft stehen dagegen weitgehend unverbunden nebeneinander – zu groß scheinen die Unterschiede in den Auffassungen von Gegenstand und Methode der Disziplin.40 Vereinzelt wird die empirische Literaturwissenschaft in Handbüchern und Überblickswerken der Germanistik inzwischen jedoch durchaus als literaturwissenschaftlicher Ansatz aufgeführt. Auch finden sich Ansätze einer wechselseitigen Öffnung im Hinblick auf solche (anderen) Teilbereiche der Germanistik, die sich vom Selbstverständnis her ebenfalls als Alternative zu einer traditionellen Literaturwissenschaft verstehen, so etwa zwischen empirischer Literaturwissen37
38 39 40
Im Überblick: Andringa, „Literature: empirical studies“, hier Abschnitt 1.3; Groeben: „Der Paradigma-Anspruch“, hier S. 30. Im Überblick: Moser, „Empirische Theorien“, hier S. 233. Im Überblick: ebd. Im Überblick: Groeben, „Der Paradigma-Anspruch“, hier S. 26.
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schaft und Sozialgeschichte der Literatur sowie einer auf neue Medien und Medienprodukte (wie beispielsweise literarische Hypertexte oder narrative Computerspiele) hin orientierten Literaturwissenschaft. Innerhalb dieses Spektrums von Ansätzen und Entwicklungslinien ist die Textwirkungsforschung in erster Linie der psychologisch orientierten Strömung in der Tradition von Groeben sowie der forschungspraktisch ausgerichteten US-amerikanischen Strömung zuzurechnen. In den letzten zehn Jahren hat sich darüber hinaus ein Teilbereich der Textwirkungsforschung aus der Sozialpsychologie der Persuasion heraus entwickelt. Während in der traditionellen Persuasionsforschung die Wirkungen von Informationstexten auf die Überzeugungen der Leser oder Hörer im Vordergrund standen, richtet sich das Forschungsinteresse nun zunehmend auch auf die überzeugungsändernden Wirkungen literarisch-narrativer Texte. Zu den führenden Vertretern dieses Teilbereichs der Sozialpsychologie zählen etwa Richard Gerrig, Timothy Brock und Melanie Green.41
4. Publikationen Zu den wichtigsten theoretischen Publikationen zählen in erster Linie die Schriften von Groeben und von Schmidt, die in den vorausgehenden Abschnitten mehrheitlich auch schon genannt wurden. Erste Überlegungen in Richtung auf ein Forschungsprogramm der empirischen Literaturwissenschaft finden sich bereits 1972 bei Groeben im Rahmen seiner Literaturpsychologie.42 Für die theoretische Ausarbeitung der empirischen Literaturwissenschaft kann der Grundriß der Literaturwissenschaft als grundlegend gelten, den Siegfried J. Schmidt 1980 und 1982 in zwei Bänden vorgelegt hat; die methodisch-methodologische Ausarbeitung hat Groeben 1977 in seinem Band Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft vorangetrieben. Groeben fungiert auch als Herausgeber eines Bandes, in dem (am Beispiel der Hasenkatastrophe von Musil) die Möglichkeiten der Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Interpretation als Gegenstandsbereich der empirischen Literaturwissenschaft 41
42
Zusammenfassend: Green, Melanie C. / Brock, Timothy, „Persuasiveness of narratives“, in: Brock, Timothy / Green, Melanie C. (Hrsg.), Persuasion. Psychological insights and perspectives, Thousand Oaks 2005, S. 117–142. Vgl. Groeben, Norbert, Literaturpsychologie. Literaturwissenschaft zwischen Hermeneutik und Empirie, Stuttgart 1972.
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verdeutlicht werden (1981). Seit diesen Anfängen hat Schmidt seine Konzeption vor allem theoretisch modifiziert, beispielsweise unter vermehrter Einbeziehung systemtheoretischer Überlegungen oder durch Erweiterung der Empirischen Literatur- durch eine Empirische Medienwissenschaft.43 Groeben hat sich vor allem auf die Ausarbeitung des Gegenstandes Lesen konzentriert, wobei auch er Lesen und Lesekompetenz zunehmend in einem medialen Umfeld verortet.44 Seit den Anfängen der empirischen Literaturwissenschaft in den 1970ern sind auch immer wieder Sammelbände publiziert worden, die einen umfassenden Überblick zum Stand der Disziplin vermitteln, sowohl im Hinblick auf theoretische Entwicklungen als auch zu aktuellen Forschungsergebnissen.45 Trotz ihrer relativ jungen Geschichte sind relevante Forschungsbeispiele in der empirischen Literaturwissenschaft inzwischen bereits so zahlreich (ein Überblick findet sich in den gerade genannten Sammelbänden), dass hier in der Tat nur einige wenige Beispiele herausgegriffen werden sollen, die sich insbesondere im Hinblick auf die hier zentrale Perspektive der Textwirkungsforschung als bedeutsam erwiesen haben. Einen ersten Meilenstein markiert sicherlich die Untersuchung von Hintzenberg, Schmidt und Zobel aus dem Jahr 1980, in der zentrale Annahmen der empirischen Literaturwissenschaft erstmals auch empirisch bestätigt werden konnten – beispielsweise, dass Leser literarische Texte nicht danach beurteilen, ob sie wahr oder nützlich sind, sondern andere, ästhetische Kriterien an diese Texte anlegen.46 Anhand eines Vergleichs der Rezeptionen eines Gedichts und einer Kurzgeschichte konnten Meutsch und Schmidt darüber hinaus zeigen, dass nicht-narrative literarische Texte in höherem Maß polyvalent rezipiert werden als narrative.47 43
44
45
46
47
Vgl. z. B. Schmidt, Siegfried J., Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, Frankfurt 1994; im Überblick: Moser, „Empirische Theorien“. Vgl. z. B. Groeben, Norbert (Hrsg.), Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 24/1999, 10. Sonderh.: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft; im Überblick: Moser, „Empirische Theorien“. Vgl. z. B. Barsch/Rusch/Viehoff, Empirische Literaturwissenschaft; Schram, Dick/ Steen, Gerard (Hrsg.), The psychology and sociology of literature, Amsterdam, Philadelphia 2001. Vgl. Hintzenberg, Dagmar / Schmidt, Siegfried J. / Zobel, Rainer, Zum Literaturbegriff in Deutschland, Braunschweig, Wiesbaden 1980. Vgl. Meutsch, Dietrich / Schmidt, Siegfried J., „Über die Rolle von Konventionen beim Verstehen literarischer Texte“, in: Siegener Periodikum zur Internationalen Literaturwissenschaft, 9/1985, S. 1–14.
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Fragen der Beschaffenheit solcher polyvalenten Rezeptionen stehen im Vordergrund einer weiteren wegweisenden Untersuchung von Meutsch, in der er denselben Text einer Gruppe von Rezipienten als literarischen, der anderen Gruppe als nicht-literarischen vorgab.48 Es zeigte sich, dass bei der Rezeption literarischer Texte nicht nur – wie dies für die kognitiv-konstruktive Rezeption jeglicher Texte gilt – Vorwissen auf Seiten der Leser mit Merkmalen und Inhalten der Texte integriert wird. Die Rezeption literarischer Texte ist darüber hinaus durch je spezifische kognitive Elaborationen gekennzeichnet: Inhaltselaborationen mit alternativen Referenzrahmen, metatextuelle sowie polyvalente Elaborationen. Damit ist nicht nur die Spezifik der Rezeption literarischer Texte empirisch beschrieben, sondern auch ein weiterer Beleg für die Geltung der Polyvalenzkonvention erbracht. Die Polyvalenzkonvention kann somit als eine der am besten bestätigten Annahmen innerhalb der empirischen Literaturwissenschaft gelten.49 Als wegweisend haben sich weitere Studien erwiesen, in denen der Einfluss ausgewählter Merkmale literarischer Texte auf die Rezeption untersucht wird. So hat van Peer nachgewiesen, dass Aspekte von Foregrounding auf der phonologischen, der grammatikalischen und der semantischen Ebene sich auf die Wahrnehmung von Auffälligkeit, Wichtigkeit, Kohäsion und Diskussionswert der Texte seitens der Leser auswirken.50 Ludwig und Faulstich haben die erzähltheoretische Unterscheidung zwischen Ich- und Er-Perspektive aufgegriffen und einer empirischen Überprüfung unterzogen – wobei sich die Erzählperspektive für die Rezeption jedoch als irrelevant erwiesen hat.51 Von Hofstaedter stammt eine der umfassendsten Untersuchungen in diesem Bereich, die ausgehend von einer poetologischen Modellierung die Auswirkung von textseitigen Äquivalenzen, Abweichungen und Mehrdeutigkeiten in Interaktion mit leserseitigen Merkmalen auf Verständlichkeit, Gefallen oder Poetizitätsbewertung überprüft hat.52 Es zeigte sich, dass diese Textmerkmale für die Rezeption durchaus von Bedeutung sind, und zwar insbesondere für die Rezeption von Lesern, die über Erfahrungen
48 49
50 51 52
Vgl. Meutsch, Literatur verstehen. Im Überblick: Groeben/Schreier, „The hypothesis of the polyvalence convention“. Vgl. Van Peer, Will, Stylistics and psychology, London 1986. Vgl. Ludwig, Hans-Werner / Faulstich, Werner, Erzählperspektive empirisch, Tübingen 1985. Vgl. Hofstaedter, Petra, Poetizität aus der Sicht des Lesers, Hamburg 1986.
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im Umgang mit literarischen Texten verfügen. Texteigenschaften wirken sich also in Interaktion mit Eigenschaften der Leser auf die Rezeption aus, was zugleich einen weiteren Beleg für die kognitive Konstruktivität der Rezeption darstellt, hier speziell für die Rezeption literarischer Texte. Die Untersuchung der Wirkung literarischer Texte im engeren Sinn hat sich bisher in erster Linie auf die Untersuchung kurzfristiger Wirkungen auf Kognitionen im Allgemeinen sowie (vor allem in den letzten zehn Jahren: s. o.) auf Überzeugungsänderungen im Besonderen konzentriert. Studien zur Wirkung literarischen Lesens auf Kognitionen im Allgemeinen wurden für die verschiedensten Gegenstandsbereiche durchgeführt, so beispielsweise zur Wirkung literarischen Lesens auf moralisches Denken und moralische Urteile, auf die Selbstwahrnehmung und das Selbstkonzept, auf die Fähigkeit, sich in die Situation anderer Menschen zu versetzen (Empathiefähigkeit), auf Geschlechtsrolleneinstellungen sowie auf Einstellungen gegenüber Minderheiten.53 Allerdings sind diese Untersuchungen zum Teil insofern schwer interpretierbar, als sich der Einfluss des Lesens literarischer Texte auf die genannten Einstellungsaspekte nicht vom Einfluss der Diskussion über diese Texte (beispielsweise im Klassenzimmer) trennen lässt. Zudem fallen die Ergebnisse über mehrere Untersuchungen hinweg häufig uneinheitlich aus, d. h. in einigen Untersuchungen lässt sich ein Einfluss des literarischen Lesens auf Einstellungen gegenüber Minderheiten, Empathiefähigkeit und weitere Kognitionen sichern, in anderen Untersuchungen dagegen nicht. Die Untersuchung des Einflusses literarischer Texte auf Überzeugungsänderungen nahm mit einer Studie von Prentice, Gerrig und Bailis ihren Anfang.54 Die Autoren gingen dabei – im expliziten Gegensatz zu Coleridges Annahme einer suspension of disbelief als grundlegend für die Rezeption literarischer Texte – davon aus, dass Leser Informationen aus Texten zunächst einmal für wahr halten und nicht weiter hinterfragen, es sei denn, es besteht ein besonderer Grund dafür: Sei es, weil das Thema des Textes für sie von besonderer persönlicher Bedeutung ist, weil die Leser von ihrer Persönlichkeit her dazu tendieren, jegliche Informationen zunächst einmal kritisch zu hinterfragen, oder sei es aus ande53
54
Im Überblick: Hakemulder, Jemeljan, The moral laboratory, Amsterdam, Philadelphia 2000, S. 32 ff.; Klementz-Belgardt, Amerikanische Leserforschung, Kap. 2.7.2. Vgl. Prentice, Deborah / Gerrig, Richard / Bailis, Daniel D., „What readers bring to the processing of fictional texts“, Psychonomic Bulletin and Review, 5/1997, S. 416–420.
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ren Gründen. Diese Annahme wurde überprüft, indem den Untersuchungsteilnehmern eine von zwei speziell für die Untersuchung konstruierten Varianten einer Kurzgeschichte vorgelegt wurde. In jede der beiden Geschichten waren acht Aussagen eingebettet, die im Widerspruch zu unserem gängigen westlichen Weltwissen stehen, wie beispielsweise: „Psychische Krankheiten sind ansteckend“ oder „Von Schokolade nimmt man ab“. In jeder der beiden Versionen waren dies acht andere Aussagen. Zudem waren die Erzählungen spiegelbildlich so angelegt, dass die Aussagen, die in der einen Version in Widerspruch zu unserem Weltwissen formuliert waren, in der anderen Version in Übereinstimmung mit unserem Weltwissen standen. Im Anschluss an die Lektüre wurden den Untersuchungsteilnehmern eine Reihe von Aussagen vorgelegt, darunter auch die unplausiblen Aussagen aus den beiden Erzählungen, und sie wurden gebeten, auf einer mehrstufigen Skala anzugeben, inwieweit sie diesen Aussagen zustimmten oder nicht zustimmten. Es zeigte sich, dass Personen, die die unplausiblen Aussagen zuvor gelesen hatten, diesen anschließend auch stärker zustimmten. Die Lektüre der Erzählungen veränderte also die Überzeugungen der Leser, und zwar in eine Richtung, die zu unserem gängigen Weltwissen in eklatantem Widerspruch steht. Dieser grundlegende Befund einer Auswirkung literarischen Lesens auf die Überzeugungen der Leser konnte auch in nachfolgenden Untersuchungen immer wieder gesichert werden, und zwar sowohl für artifizielle als auch für natürliche literarische Texte.55 Appel konnte darüber hinaus zeigen, dass es sich bei dieser Überzeugungsänderung keineswegs nur um einen kurzfristigen Effekt handelt, sondern dass die Lektürewirkung über einen Abstand von zwei Wochen hinweg sogar noch zunimmt.56 Green und Brock konnten außerdem nachweisen, dass dieser Effekt umso intensiver ausfällt, je stärker die Leser bei der Lektüre emotional involviert sind. Unklar ist dagegen, inwieweit die je persönliche Tendenz, Informationen kritisch zu hinterfragen, einer solchen Überzeugungsänderung durch literarische Texte entgegenwirken kann. Unklar ist auch, ob der Effekt einer Überzeugungsänderung auf literarische Texte beschränkt ist oder bei der Lektüre narrativer Texte im Allgemeinen auftritt.57 55 56 57
Zusammenfassend: Green/Brock: „Persuasiveness“. Vgl. Appel, Markus, Realität durch Fiktionen: Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen, Berlin 2005. Zusammenfassend: Green/Brock, „Persuasiveness“.
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Während die Auswirkungen fiktionaler Texte auf die Überzeugungen der Leser somit eindeutig nachgewiesen werden konnten, liegen zu den Wirkungen literarischen Lesens auf Emotionen und Handlungsweisen bisher nur wenige Untersuchungen vor. Was emotionale Wirkungen literarischen Lesens betrifft, so ist hier die Unterscheidung zwischen dem Rezeptionsprozess und den Wirkungen über die Rezeption hinaus (s. o.) von zentraler Bedeutung. So steht außer Frage, dass das Leseerleben während des Lektüreprozesses ausgesprochen intensiv sein kann, so dass die Leser ganz in den Text eintauchen und dabei Zeit und Raum vergessen. Eben diese Form des Rezeptionserlebens ist es, die Gerrig sowie Green & Brock als ‚Transportation‘ bezeichnen.58 Auch Empfindungen von Empathie gegenüber oder Identifikation mit den literarischen Figuren oder von Erinnerungen an eigene Lebenssituationen beim literarischen Lesen wurden vielfach nachgewiesen.59 Untersuchungen zu emotionalen Wirkungen über den Rezeptionsprozess hinaus sind dagegen ausgesprochen selten, nicht zuletzt aufgrund der Flüchtigkeit des Phänomens selbst.60 Auch die Annahme, dass literarisches Lesen sich langfristig auf die Handlungen und die gesamte Persönlichkeit eines Menschen auswirken kann, wurde bisher kaum einer experimentellen Überprüfung unterzogen. So konnte zwar nachgewiesen werden, dass Leser in der Regel Zusammenhänge zwischen ihrer Lektüre und ihrer Lebenssituation herstellen,61 und es liegen auch Anhaltspunkte dafür vor, dass literarisches Lesen sich therapeutisch zur Vermittlung konstruktiven Problemlösewissens nutzbar machen lässt, etwa im Rahmen der sog. Bibliotherapie.62 Doch die Voraussetzungen solcher umfassenden Wirkungen sind derzeit noch unklar. Insgesamt ist aber davon auszugehen, dass literarisches Lesen den Menschen auch in seinen Handlungen verändern kann.
58 59
60 61 62
Vgl. ebd. Vgl. Larsen, Uffe / Seilman, Stehen, „Personal remindings while reading literature“, in: Text, 8/1988, S. 411–429; Odag, Özen, Wenn Männer von der Liebe lesen und Frauen von Abenteuern. Eine empirische Rezeptionsstudie zur emotionalen Beteiligung von Frauen und Männern beim Lesen narrativer Texte, Lengerich 2007. Vgl. Schreier „Textwirkungen“. Vgl. ebd. Zusammenfassend: Groeben, Norbert / Schreier, Margrit, „Literaturpsychologie“, in: Straub, Jürgen / Kochinka, Alexander / Werbik, Hans (Hrsg.), Psychologie in der Praxis, München 2000, S. 776–798, hier S. 792.
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5. Fachgeschichtliche Einordnung Es ist das große Verdienst der empirischen Literaturwissenschaft, dass sie den Blick der Literaturwissenschaft erweitert hat: Ihr Gegenstand ist nicht mehr nur der literarische Text selbst, sondern auch der Umgang mit dem Text – seitens der Leser, Autoren, Verlage, Zeitschriften und anderer Akteure des Literatursystems. Die Textwirkungsforschung als Teilbereich der empirischen Literaturwissenschaft lenkt dabei die Aufmerksamkeit ganz besonders auf die Leser und die kognitive Verarbeitung literarischer Texte. Indem literarisches Lesen hier wesentlich als kognitiv-konstruktive Aktivität rekonstruiert wird, werden zugleich Überschneidungsbereiche mit und damit auch Anknüpfungspunkte der Literaturwissenschaft an andere(n) Disziplinen sichtbar, insbesondere in Relation zur empirischen Leseforschung, der Kognitionspsychologie der Textverarbeitung, der sozialpsychologischen Persuasionsforschung und zunehmend auch der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung und der Medienpsychologie. Allerdings wird die empirische Literaturwissenschaft, mit wenigen Ausnahmen (s. o.), noch immer weitgehend neben und außerhalb der traditionellen Literaturwissenschaft betrieben. Dahinter stehen vermutlich die unterschiedlichen methodisch-methodologischen Verankerungen der (Teil-)Disziplinen, in den Geisteswissenschaften einerseits und den Sozialwissenschaften andererseits, und die damit einhergehenden Unterschiede in Vorgehensweise, Geltungsanspruch und -kriterien. Aus traditionell literaturwissenschaftlicher Sicht erscheint dabei nicht zuletzt das ‚Herunterbrechen‘ des literarischen Textes auf einzelne Textmerkmale problematisch – was jedoch unter empirisch-methodologischer Perspektive eine unverzichtbare Vorgehensweise auf dem Weg zu prüfbaren Aussagen darstellt. Allerdings ist dies auch nicht die einzige Vorgehensweise in der empirischen Literaturwissenschaft, die ihrerseits nicht auf experimentelle Variationen einzelner isolierter Textmerkmale reduziert werden sollte. Die vermehrte Zusammenarbeit zwischen den beiden Literaturwissenschaften im Sinne von Komplementarität statt Konkurrenz stellt somit ein erstes und zentrales unausgeschöpftes Potenzial sowohl der empirischen Literaturwissenschaft als auch der traditionellen Literaturwissenschaft dar. Auf Seiten der empirischen Literaturwissenschaft besteht dabei vor allem Bedarf an Untersuchungen, in denen die Textrezeption mit einer systematischen Beschreibung relevanter textseitiger Kategorien in Verbindung gebracht wird. Angesichts der Proliferation
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neuer Medien und Medienprodukte steht die empirische Literaturwissenschaft (wie die Literaturwissenschaft im Allgemeinen) zudem vor der Herausforderung, den eigenen Gegenstand im Rahmen eines solchen erweiterten Forschungsfeldes und im Hinblick auf die Nachbardisziplinen Medien- und Kommunikationswissenschaft zu spezifizieren und zu positionieren: Was ist das Spezifikum des literarischen Lesens und inwieweit unterscheidet es sich von der Rezeption anderer Medienprodukte? Drittens hat die empirische Literaturwissenschaft sich bisher in erster Linie darum bemüht, die quantitativen Methoden aus den empirischen Sozialwissenschaften im Hinblick auf den eigenen Gegenstandsbereich zu adaptieren. Eine Adaptation der qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden, die dem Gegenstand des literarischen Lesens und dessen Wirkungen mindestens ebenso angemessen sind, steht dagegen bisher noch am Anfang.63 Qualitative Methoden sind schließlich auch besonders geeignet, dem Defizit an Untersuchungen zu den emotionalen Wirkungen literarischen Lesens sowie Auswirkungen auf Handeln und Persönlichkeit der Leser zu begegnen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Groeben, Norbert, Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft [1977], 2. Aufl., Tübingen 1980. Grundlagentext der methodologischen Ausrichtung der deutschsprachigen empirischen Literaturwissenschaft; Ausarbeitung einer methodologisch orientierten empirischen Literaturwissenschaft. Schmidt, Siegfried J., Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft, Bd. 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur, Braunschweig 1980. Erster Grundlagentext der theoretisch orientierten Ausrichtung der deutschsprachigen empirischen Literaturwissenschaft. Schmidt, Siegfried J., Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft, Bd. 2: Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen in einer Empirischen Theorie der Literatur, Braunschweig 1982.
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Schreier, Margrit, „Qualitative methods in studying text reception“, in: Schram, Dick / Steen, Gerard (Hrsg.), The psychology and sociology of literature, Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 35–56.
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Zweiter Grundlagentext der theoretisch orientierten Ausrichtung der deutschsprachigen empirischen Literaturwissenschaft. Groeben, Norbert (Hrsg.), Rezeption und Interpretation. Ein interdisziplinärer Versuch am Beispiel der ‚Hasenkatastrophe‘ von R. Musil, Tübingen 1981. Zweiter Grundlagentext der methodologischen Ausrichtung der deutschsprachigen empirischen Literaturwissenschaft; empirische Überprüfung der Gültigkeit von Textinterpretationen verschiedener literaturwissenschaftlicher Schulen. Klemenz-Belgardt, Edith, Amerikanische Leserforschung, Tübingen 1982. Überblick über die amerikanische Leserforschung insbesondere in den 1970er-Jahren unter besonderer Berücksichtigung von Studien zur Wirkung literarischer Texte. Groeben, Norbert / Vorderer, Peter, Leserpsychologie: Lesemotivation – Lektürewirkung, Münster 1988. Grundlagentext zur Textwirkungsforschung unter Berücksichtigung von Informations- und von literarischen Texten; Ausarbeitung der Differenzierung zwischen Rezeption und Wirkung. Groeben, Norbert / Landwehr, Jürgen, „Empirische Literaturpsychologie (1980–1990) und die Sozialgeschichte der Literatur: ein problemstrukturierender Überblick“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 16/1991, S. 143–235. Überblick über Entwicklungen in der empirischen Literaturwissenschaft aus literaturpsychologischer Sicht unter Berücksichtigung von Überschneidungen und Kooperationen zwischen empirischer Literaturwissenschaft und Sozialgeschichte der Literatur. Barsch, Achim / Rusch, Gebhard / Viehoff, Reinhold (Hrsg.), Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1994. Sammelband mit theoretisch-methodologischen Texten und Untersuchungsbeispielen. Schram, Dick / Steen, Gerard (Hrsg.), The psychology and sociology of literature, Amsterdam, Philadelphia 2001. Sammelband mit theoretischen wie methodischen Texten und Untersuchungsbeispielen unter Einbeziehung sowohl der deutschsprachigen als auch der internationalen empirischen Literaturwissenschaft.
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Green, Melanie C. / Brock, Timothy, „Persuasiveness of narratives“, in: Timothy Brock / Melanie C. Green (Hrsg.), Persuasion. Psychological insights and perspectives, Thousand Oaks 2005, S. 117–142. Überblick zur Wirkung literarischer Texte auf die Überzeugungen der Leser. Literatur64 Richards, Ivor A., Practical criticism: a study of literary judgment, New York 1929. Groeben, Norbert, Literaturpsychologie. Literaturwissenschaft zwischen Hermeneutik und Empirie, Stuttgart 1972. Iser, Wolfgang, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972. Göttner, Heide, Logik der Interpretation, München 1973. Geiger, Klaus-F., „Jugendliche lesen Landser-Hefte“, in: Gunter Grimm (Hrsg.), Literatur und Leser, Stuttgart 1975, 324–341. Iser, Wolfgang, „Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa“, in: Warning, Rainer (Hrsg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 228–253. Hintzenberg, Dagmar / Schmidt, Siegfried J. / Zobel, Rainer, Zum Literaturbegriff in Deutschland, Braunschweig, Wiesbaden 1980. Sahr, Michael, Wirkung von Kinderliteratur, Baltmannsweiler 1981. Van Dijk, Teun / Kintsch, Walter, Strategies of discourse comprehension, New York 1983.
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Es sind hier nur solche Texte aufgeführt, die nicht bereits in der Kommentierten Auswahlbibliographie enthalten sind.
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Vipond, Douglas / Hunt, Russell A., „Point-driven understanding: pragmatic and cognitive dimensions of literary reading“, in: Poetics, 13/1984, S. 261–277. Ludwig, Hans-Werner / Faulstich, Werner, Erzählperspektive empirisch, Tübingen 1985. Meutsch, Dietrich / Schmidt, Siegfried J., „Über die Rolle von Konventionen beim Verstehen literarischer Texte“, in: Siegener Periodikum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 9/1985, S. 1–14. Hofstaedter, Petra, Poetizität aus der Sicht des Lesers, Hamburg 1986. NIKOL (Hrsg.), Angewandte Literaturwissenschaft, Braunschweig 1986. Van Peer, Will, Stylistics and psychology, London 1986. Meutsch, Dietrich, Literatur verstehen. Eine empirische Studie, Braunschweig 1987. Schmidt, Siegfried J., „Der Radikale Konstruktivismus: ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs“, in: hrsg. v. dems., Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 11–88. Larsen, Uffe / Seilman, Steen, „Personal remindings while reading literature“, in: Text, 8/1988, S. 411–429. Schmidt, Siegfried J., Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989. Groeben, Norbert / Schreier, Margrit, „The hypothesis of the polyvalence convention: A systematic survey from a historical perspective“, in: Poetics, 21/1992, S. 5–32. Rustemeyer, Ruth, Praktisch-methodische Schritte der Inhaltsanalyse, Münster 1992. Andringa, Els, „Literature: empirical studies“, in: Ronald E. Asher (Hrsg.), The encyclopedia of language and linguistics, Oxford 1994, S. 2266– 2271.
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Graesser, Arthur / Singer, Murray / Trabasso, Tom, „Constructing inferences during narrative text comprehension“, in: Psychological Review, 101/1994, S. 371–347. Groeben, Norbert, „Der Paradigma-Anspruch der empirischen Literaturwissenschaft“, in: Barsch, Achim / Rusch, Gebhard / Viehoff, Reinhold (Hrsg.), Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1994, S. 21–38. Groeben, Norbert, „Empirisch-konstruktivistische Literaturwissenschaft“, in: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1994, S. 609–629. Schmidt, Siegfried J., Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, Frankfurt a. M. 1994. Prentice, Deborah / Gerrig, Richard / Bailis, Daniel D., „What readers bring to the processing of fictional texts“, in: Psychonomic Bulletin and Review, 5/1997, S. 416–420. Christmann, Ursula / Groeben, Norbert, „Psychologie des Lesens“, in: Franzmann, Bodo / Hasemann, Klaus / Löffler, Dietrich / Schön, Erich (Hrsg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 145–223. Groeben, Norbert (Hrsg.), Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 24/1999, 10. Sonderh.: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Groeben, Norbert / Schreier, Margrit, „Literaturpsychologie“, in: Straub, Jürgen / Kochinka, Alexander / Werbik, Hans (Hrsg.), Psychologie in der Praxis, München 2000, S. 776–798. Hakemulder, Jemeljan, The moral laboratory, Amsterdam, Philadelphia 2000. Schreier, Margrit, „Qualitative methods in studying text reception“, in: Schram, Dick / Steen, Gerard (Hrsg.), The psychology and sociology of literature, Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 35–56.
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Christmann, Ursula / Schreier, Margrit, „Kognitionspsychologie der Textverarbeitung und Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte“, in: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hrsg.), Regeln der Bedeutung, Berlin, New York 2003, S. 246–285. Kuiken, Don / Miall, David S. / Sikora, Shelley, „Forms of self-implication in literary reading“, in: Poetics Today, 25/2004, S. 171–203. Moser, Sibylle, „Empirische Theorien“, in: Sexl, Martin (Hrsg.), Einführung in die Literaturtheorie, Wien 2004, S. 222–256. Appel, Markus, Realität durch Fiktionen: Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen, Berlin 2005. Lietz, Petra / Kotte, Dieter, „Quantitative Auswertung: Uni- und bivariate Statistik“, in: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik, Weinheim, München 2006, S. 443–480. Schreier, Margrit, „Experimentelle/quasi-experimentelle Untersuchungsplanung“, in: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik, Weinheim, München 2006, S. 307–342. Schreier, Margrit, „Qualitative Verfahren der Datenerhebung“, in: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik, Weinheim, München 2006, S. 399–420. Schreier, Margrit / Lietz, Petra, „Quantitative Datenerhebungsverfahren“, in: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik, Weinheim, München 2006, S. 361–397. Odag, Özen, Wenn Männer von der Liebe lesen und Frauen von Abenteuern. Eine empirische Rezeptionsstudie zur emotionalen Beteiligung von Frauen und Männern beim Lesen narrativer Texte, Lengerich 2007. Schreier, Margrit, „Textwirkungen“, in: Anz, Thomas (Hrsg), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2007, S. 193–202.
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1. Definition Der aus dem Forschungszweig der Stoff- und Motivgeschichte hervorgegangene, in der internationalen Komparatistik etablierte Begriff der ‚Thematologie‘ wird in einem engeren und in einem weiteren Sinne verwendet. Im engeren Sinne bezieht er sich auf die systematische und problemorientierte Untersuchung literarischer Stoffe, Motive und Themen im diachronen und interkulturellen Vergleich, wobei neben den Zeugnissen der Weltliteratur auch Bearbeitungen in anderen Künsten (Bildende Kunst, Musik, Film, Tanz) in die Analyse einbezogen werden.1 Im weiteren Sinne wird ‚Thematologie‘ auch generell als „literaturwissenschaftliche Inhaltsforschung“2 oder als „Lehre von der Inhaltsebene literarischer Texte“3 aufgefasst; allerdings besteht hier die Gefahr einer zu weiten Öffnung des Gegenstandsbereichs, denn schließlich hat jeder Text, jede kulturelle Äußerung ein Thema (im Sinne von ‚Idee‘, ‚Gehalt‘). Deshalb konzentriert sich auch der allgemeinere Ansatz einer Thematologie sinnvollerweise auf solche Themen der Literatur, die einen (konventionalisierten) Überlieferungszusammenhang, ein verdich1
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Trousson, Raymond, „Plaidoyer pour la Stoffgeschichte“, in: Revue de littérature comparée 38/1964, S. 101–114; ders., Thèmes et mythes. Questions de méthode, Bruxelles 1981; Weisstein, Ulrich, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1968; Beller, Manfred, Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre, in: arcadia 5/1970, S. 1–38; Ziolkowski, Theodore, Varieties of Literary Thematics, Princeton/New Jersey 1983; Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid, Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch, 2., stark überarb. und erw. Aufl., Tübingen, Basel 1995. Müller-Kampel, Beatrix, „Thema, Stoff, Motiv. Eine Propädeutik zur Begrifflichkeit komparatistischer und germanistischer Thematologie“, in: Compass, 4/2001, S. 1–20, hier S. 1. Corbineau-Hoffmann, Angelika, Einführung in die Komparatistik, 2., überarb. und erw. Auflage, Berlin, 2004, Kap. III.2: Thematologie oder: die Inhalte der Literatur, S. 136–153, hier S. 138.
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tetes intertextuelles Bezugssystem oder ein anthropologisches Grundmuster bilden. Thematologie beschäftigt sich so stets mit der vergleichenden Analyse einer themenbezogenen Textreihe. Auch wenn sich der Begriff der ‚Thematologie‘ im internationalen Diskussionszusammenhang zunehmend durchsetzt, ist die Kontroverse um eine präzise Terminologie noch längst nicht abgeschlossen, möglicherweise auch nicht endgültig lösbar. Dies liegt zum einen an den wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen, zum anderen an den sprachlichen Differenzen namentlich im französischen, angloamerikanischen und deutschsprachigen Verwendungskontext.4 Während der Begriff ‚Thema‘ im Deutschen abstrakt auf den Gehalt eines Textes bezogen und von den konkreten Kategorien ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘ abgegrenzt wird, erscheint er im englischen (‚theme‘) und französischen (‚thème‘) literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch zumeist synonym mit dem Terminus ‚Stoff‘, so dass die Forschungszweige der ‚thematics‘ bzw. der ‚thématologie‘ mit dem Gegenstandsbereich der Stoff- und Motivgeschichte weitgehend identisch sind. Dass man sich in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft seit den 1970er-Jahren zunehmend von der traditionellen Stoff- und Motivgeschichte abgegrenzt hat, hängt mit deren wissenschaftshistorischer Genese zusammen: Man warf der Disziplin positivistische Stoffhuberei oder auch – in der geistes- und ideengeschichtlichen Ausprägung – anthropologische Verabsolutierungen vor.5 Während die einen dennoch aus Gründen der terminologischen Präzision an der deutschen Bezeichnung ‚Stoff- und Motivgeschichte‘ festhalten6 oder allenfalls von ‚Motiv- und Themenforschung‘ sprechen,7 plädieren die anderen für den international etablierten Begriff der ‚Thematologie‘.8 Beide Richtungen haben jedoch gemeinsam, dass ihre For-
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Vgl. dazu die äußerst differenzierte und hilfreiche Darstellung bei Müller-Kampel, „Thema, Stoff, Motiv“, S. 2–16. Beller, Manfred, Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Frenzel, Elisabeth, „Neuansätze in einem alten Forschungszweig: Zwei Jahrzehnte Stoff-, Motiv- und Themenforschung“, in: Anglia, 111/1993, S. 97–117; Bisanz, Adam John, „Zwischen Stoffgeschichte und Thematologie. Betrachtungen zu einem literaturtheoretischen Dilemma“, in: DVjs, 47/1973, S. 148–166. Wolpers, Theodor (Hrsg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998–2000, Göttingen, 2002. Vgl. Trousson, „Plaidoyer pour la Stoffgeschichte“; ders., Thèmes et mythes. Questions de méthode; Weisstein, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft; Beller, Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre;
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schungen klar einen problemorientierten Ansatz gegen die herkömmliche bloß positivistische Beschreibung oder auch die enthistorisierende Betrachtungsweise ins Feld führen. Stoffe, Motive und Themen werden in sich wandelnden kultur- und sozialhistorischen Kontexten strukturanalytisch, problembezogen, funktions- und diskursgeschichtlich untersucht und für kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar gemacht.
2. Beschreibung Ausgangspunkt der Thematologie – sowohl der enger gefassten Stoffund Motivanalyse als auch der weiter angelegten Themenforschung – ist der Grundgedanke, dass in der Literatur ebenso wie in den benachbarten Künsten immer wieder bestimmte inhaltliche Muster tradiert werden, „die als gemeinsame Bestandteile und Anordnungen vieler ähnlicher Ereigniszusammenhänge mental gespeichert bleiben“.9 Das Faszinosum solcher Grundmuster – literarischer Stoffe und Motive, aber auch anthropologischer Themen wie Liebe, Tod, Fremdheit oder Sehnsucht – besteht in der Konstanz der Thematik bei gleichzeitiger historisch und kulturspezifisch sich ausprägender Dynamik. Die konkreten Realisierungen einer Figur, einer Konstellation, eines Ereignisses oder eines Handlungsmusters geben Aufschluss über kulturgeschichtliche Rahmenbedingungen, mentalitätshistorische Kontexte, soziologische Zusammenhänge, psychologische Motivationen oder auch ästhetische Ausrichtungen, die einen literarischen Text bzw. andere künstlerische Produktionen in ihren jeweiligen Kontexten kennzeichnen und wirksam werden lassen. Der diachrone ebenso wie der interkulturelle Vergleich ermöglicht darüber hinaus Einblicke in kulturgeschichtliche Prozesse und diskursgeschichtliche Entwicklungen, die man neuerdings auch unter dem Aspekt des ‚Wissens- und Kulturtransfers‘ beleuchtet. Dabei geht es einerseits um die Analyse von Strukturen literarischer Themen in formaler und in problembezogener Perspektive, andererseits um die Be-
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Ziolkowski, Varieties of Literary Thematics; Daemmrich/Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Anz, Thomas, Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1, Kap. 4.5., Ereignis, Handlung, Stoff, Motiv, Stuttgart 2007, S. 127–130, hier S. 130. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Handbuch der Begriff Thematologie nicht vorkommt und die Disziplin der Stoff-, Motiv- und Themenforschung nur am Rande Erwähnung findet.
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schreibung der permanenten Dynamik, der Modifikationen und Transformationen, denen ein Strukturmuster im historischen Prozeß unterliegt. Um den Gegenstandsbereich zu spezifizieren, erscheint es zunächst sinnvoll, die etablierten Schlüsselbegriffe zu klären bzw. voneinander abzugrenzen: ‚Stoff‘, ‚Motiv‘, ‚Thema‘.10 2.1 Motiv Der Begriff ‚Motiv‘ bezieht sich im weitesten Sinne auf die kleinste strukturbildende und bedeutungsvolle Einheit innerhalb eines Textganzen. Ursprünglich aus der mittelalterlichen Gelehrtensprache entlehnt (das ‚motivum‘ ist ein intellektueller Impuls, der ‚Einfall‘ einer Rede), wurde der Terminus im 18. Jahrhundert auf die Künste übertragen und bezeichnet zunächst in der Musik den kleinsten Bestandteil einer Melodie, sodann in der bildenden Kunst ein figuratives oder ornamentales Element, schließlich in der Literatur einen dynamischen Impuls, der die Handlung in Gang setzt oder auch psychologisch ‚motiviert‘. Während die allgemeine Definition von ‚Motiv‘ als „kleinste gestaltbildende Einheit“ eines Textes11 jede Strukturanalyse bestimmt (formale Gliederung, semantische Organisation, thematische Struktur), kommt für eine thematologische Untersuchung ein weiteres Kriterium hinzu: Hier erscheint das Motiv nicht lediglich als Baustein innerhalb einer Textstruktur, sondern als Bestandteil eines intertextuellen Bezugssystems, d. h.: Es wird zum Gegenstand der literarischen Überlieferung und ist somit ein Effekt der Rezeption. Dies bedeutet, dass motivgeschichtliche Forschungen es immer mit (mehr oder weniger) konventionalisierten bzw. im Prozess der Tradierung etablierten inhaltlichen Mustern oder Konstellationen zu tun haben – wie etwa dem Motiv der ‚verfeindeten Brüder‘, dem Motiv des ‚Kindsmords‘ oder dem Motiv der ‚blauen Blume‘. Literarische Motive im thematologischen Sinne ergeben sich somit erst aus der Summe einer als gewichtig erachteten Überlieferungsgeschichte. 10
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Siehe dazu Müller-Kampel, „Thema, Stoff, Motiv“; außerdem Lubkoll, Christine, Art. „‚Motiv, literarisches‘, ‚Stoff, literarischer‘, ‚Stoff- und Motivgeschichte/Thematologie‘“, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, vierte aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2008, S. 684–687, hier S. 515 f. Müller-Kampel, „Thema, Stoff, Motiv“, S. 12; vgl. auch Corbineau-Hoffmann, Einführung in die Komparatistik, S. 140.
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Genau dies dokumentieren nicht zuletzt die einschlägigen Handbücher zur Motivforschung, deren Auswahl immer auch das Ergebnis eines Kanonisierungsprozesses abbildet.12 2.2 Stoff Ein literarischer Stoff (von altfrz. estoffe = Gewirk, Gewebe) stellt eine Kombination von (oft typischen) Motiven dar, die insgesamt ein Handlungsgerüst bzw. eine Problemkonstellation bilden. So enthalten fast alle Bearbeitungen etwa des Fauststoffs die Motive des ‚Teufelspakts‘, der ‚verführten Unschuld‘, der phantastischen Reise etc. Umgekehrt kann übrigens der komplexe Fauststoff auf ein Motiv reduziert werden, etwa in Thomas Manns Der Zauberberg, wo sich lediglich Anspielungen auf den Fauststoff finden. Außerdem wird der Stoff – nach der Horaz’schen Unterscheidung zwischen ‚res‘ (‚Thema‘) und ‚materia‘ (‚Stoff‘) – immer auf eine vorausgehende oder sogar außertextliche Vorgabe zurückgeführt: einen archaischen Mythos (Ödipus), ein historisches Ereignis bzw. eine historische Figur (Caesar; Wallenstein), eine prägnante literarische Vorlage (Undine). Im Gegensatz zum Motiv sind Ereigniszusammenhänge, die einen Stoff bilden, zumeist an namentlich genannte Figuren, seltener auch an Schauplätze gebunden (Orpheus in der Unterwelt). Wie für das Motiv gilt auch für den komplexeren Begriff des ‚Stoffs‘, dass erst seine Geschichtsfähigkeit bzw. die Übernahme in den Kanon literarischer Stoffe ihn im diachronen Prozess als solchen etabliert. 2.3 Thema Im Gegensatz zu den relativ konkreten, aufgrund der genannten Kanonisierungsprozesse auch eingrenzbaren Begriffe ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘, die an bestimmte Ereigniszusammenhänge und klar strukturierte Konstellationen gebunden sind, bezeichnet das ‚Thema‘ eine Abstraktion, die Grundidee oder auch den Gehalt eines Textes. Nach Horst S. und Ingrid 12
Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 5. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 1999; Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid, Themen und Motive in der Literatur; außerdem http://zs.gbv.de/motive/ LiMoSt, Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen, Textfassung. Datenbestand: 6004 Einträge (6. Februar 2004); aufgerufen am 8. 1. 2009.
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Daemmrich kann für die Thematologie alles zum literarischen Thema werden, was in gehäufter Form in Literatur vorkommt und bearbeitet wird, sei es im diachronen Prozess (z. B. das Thema ‚Kindheit‘ oder das Thema ‚Angst‘), sei es in einer historischen Konzentration (z. B. das Thema ‚Großstadt‘ in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts). Dies muss kein Schaden sein, wenn für vergleichende Analysen eine gezielte, repräsentative und aussagekräftige Textauswahl vorgenommen wird. Allerdings besteht gerade dann, wenn ein systematischer Zugriff versucht werden soll, auch die Gefahr der Beliebigkeit. So finden sich etwa im Handbuch von Horst S. und Ingrid Daemmrich 53 Einträge zum Lemma ‚Angst‘ – selbstverständlich gibt es weit mehr Texte der Weltliteratur, die dieses Thema zentral behandeln.13 Dennoch setzt sich die Tendenz durch, auch die „großen, existenziellen Themen“ (Liebe, Tod, Angst etc.) thematologisch in literarischen Texten zu untersuchen, wie es etwa Angelika Corbineau-Hoffmann in ihrer komparatistischen Einführung vorschlägt.14 Allerdings erfordert auch hier nicht nur die nahezu unüberschaubare Menge möglicher thematischer Forschungen, sondern auch das berechtigte Postulat methodologischer Präzision eine pragmatische Eingrenzung des Gegenstandsbereichs. Beatrix Müller-Kampel plädiert in ihrem Beitrag dafür, im Zusammenhang thematologischer Studien lediglich solche literarischen Themen gezielt und systematisch zu untersuchen, die sich an stofflichen oder motivischen Konkretisationen festmachen lassen. ‚Thematologie‘ nennt sie ihren stoff- und motivgeschichtlichen Ansatz deshalb, weil mit der Konzentration auf die abstrakte Kategorie des Themas zugleich die problemorientierte und damit kulturgeschichtlich interessante Perspektive ins Zentrum rückt (wie das von der Teildisziplin der Thematologie, seit Trousson, von jeher gefordert wurde). Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt die Göttinger Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung, der es vor allem um die Verbindung von konkreter Strukturanalyse und kulturwissenschaftlich relevanter Fragestellung geht.15
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Daemmrich, Horst S. / Ingrid, Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur; vgl. dazu auch Müller-Kampel, „Thema, Stoff, Motiv“, S. 6. Corbineau-Hoffmann, Einführung in die Komparatistik, S. 151. Wolpers, Ergebnisse und Perspektiven.
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3. Institutionsgeschichtliches Die Entstehung der Thematologie – verstanden als problemorientierte und kulturgeschichtlich interessierte Erforschung literarischer Themen und ihrer intertextuellen Überlieferung – hängt eng mit der Entwicklung der komparatistischen Teildisziplin der Stoff- und Motivgeschichte zusammen.16 Nachdem diese in der ersten Phase (von den Brüdern Grimm bis zur positivistischen Erforschung der Genealogie literarischer Stoffe) in erster Linie Textzeugen gesammelt und schematisch geordnet hatte, wurde von Seiten der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft die Untersuchung ideengeschichtlicher Zusammenhänge gefordert: der ‚Gehalt‘ erschien wichtiger als der (bloß materielle) Stoff.17 Dabei kam es aber zunehmend zu Enthistorisierungen bzw. anthropologischen Verallgemeinerungen oder auch zur Herauslösung von Einzelelementen (z. B. das Motiv der Sehnsucht bei Goethe). Um die Mitte des 20. Jahrhunderts entbrannte eine kritische Debatte über die Methoden der Stoff- und Motivgeschichte: Von Seiten der werkimmanenten Interpretation (Wolfgang Kayser)18 und des amerikanischen ‚New Criticism‘ (René Wellek, Austin Warren)19 wurde der Stoff- und Motivgeschichte erneut positivistischer Reduktionismus (die Konzentration auf den minderwertigen Stoff als außerliterarische Vorgabe) und die Vernachlässigung der ästhetischen Form des Kunstwerks vorgeworfen. Vor diesem Hintergrund entstand – nach einer Stagnation in den 1950er- und -60er-Jahren – die Neuausrichtung des Forschungszweigs der Stoff- und Motivgeschichte unter der Bezeichnung ‚Thematologie‘. Es wurde nun die Verbindung systematischer, ästhetischer und historischer Perspektiven angestrebt und vor allem eine problembezogene kulturgeschichtliche Reflexion gefordert. Die Frage nach der spezifischen (kulturanthropologischen und gesellschaftlichen) Funktion literarischer Stoffe und Motive trat in den 16
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Siehe dazu das Kapitel ‚Stoff- und Motivgeschichte‘ (Hans-Jakob Werlen) in diesem Band. Vgl. Lubkoll, Art. „Stoff- und Motivgeschichte/Thematologie“. Vertreter der positivistischen Stoff- und Motivgeschichte waren etwa Theodor Benfey und Wilhelm Scherer; die geistesgeschichtliche Richtung etablierten in Deutschland etwa Wilhelm Dilthey, Oskar Walzel, Julius Petersen, Paul Merker, in Italien Benedetto Croce, in Frankreich René Baltensberger und Paul Hazard. Kayser, Wolfgang, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948], Tübingen, Basel 1992. Wellek, René / Warren, Austin (Hrsg.), Theory of Literature [1949], London, Harmondsworth 1993 (dt.: Theorie der Literatur [1972;1959], Frankfurt a. M. 1995.
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Vordergrund; außerdem richtete sich das Augenmerk nun gezielt auf die historisch interessanten Wandlungsprozesse literarischer Themen und Topoi. Als erster vertrat der französische Komparatist Raymond Trousson diesen Ansatz. Mit seinem programmatischen Aufsatz Plaidoyer pour la Stoffgeschichte (1964)20 setzte er sich für eine Neubegründung der Disziplin mit der Fokussierung auf kulturgeschichtlich relevante Fragestellungen ein. Da der Begriff ‚Stoffgeschichte‘ jedoch aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen negativ besetzt war, entschied sich Trousson später für die Bezeichnung ‚Thematologie‘ und öffnete damit zugleich den Weg zu einer (breiter ausgelegten) Literaturgeschichte als Themengeschichte. In seiner Studie über Thèmes et mythes. Questions de méthode (1981)21 weitete er außerdem den Gegenstandsbereich auf Zeugnisse der Bildenden Kunst und der Musik aus. Diese Impulse wurden vor allem von Seiten der US-amerikanischen Literaturwissenschaft (und hier insbesondere auch der Auslandsgermanistik) produktiv aufgegriffen. Harry Levin forderte mit seinem Konzept der ‚Thematics‘ die Integration von historischer und ästhetischer Betrachtungsweise;22 François Jost beschrieb die Thematologie als ‚study in functional variations‘.23 Theodore Ziolkowski schließlich etablierte schon früh einen kulturwissenschaftlichen Zugang zur Thematologie, indem er diese als Erforschung einer ‚literarischen Ikonologie‘ betrieb.24 Die Kategorie des ‚Themas‘ als Schlüsselbegriff der Forschungsrichtung wurde seit den 1970er-Jahren auch in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft starkgemacht. In seinem programmatischen Beitrag Von der Stoffgeschichte zur Thematologie 25 schlug Manfred Beller bereits 1970 vor, den Begriff ‚Thematologie‘ zu übernehmen. Er plädierte damit zum einen für die problemgeschichtliche Neuorientierung der Disziplin und verband dies mit einer nochmaligen heftigen Polemik gegen die her20 21 22
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Trousson, Plaidoyer pour la Stoffgeschichte. Ders., Thèmes et mythes. Levin, Harry, „Thematics and Criticism“, in: Demetz, Peter / Greene, Thomas / Nelson Jr., Lowry (Hrsg.), The Disciplines of Criticism. Essays in Literature, Interpretation and History, New Haven, London 1968, S. 125–145. Jost, François, Introduction to Comparative Literature, Indianapolis 1974, S. 175–247; vgl. ders., Grundbegriffe der Thematologie, in: Theorie und Kritik. Zur vergleichenden neueren deutschen Literatur. Festschrift für Gerhard Loose zum 65. Geburtstag, hrsg. von Stefan Grünwald mit Bruce A. Beatie, Bern, München 1974, S. 15–46. Ziolkowski, Theodore, Disenchanted Images. A literary Iconology, Princeton 1977; ders., Varieties of literary Thematics, Princeton 1983. Beller, Von der Stoffgeschichte zur Thematologie.
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kömmliche Stoff- und Motivgeschichte; außerdem begründete er sein Anliegen mit dem notwendigen Anschluss an die internationale komparatistische Forschung, der sich nicht zuletzt auch in einer terminologischen Angleichung niederschlagen sollte. In diesem Sinne favorisierten auch Horst S. und Ingrid Daemmrich eine Fokussierung auf das Thema als richtungsweisende Kategorie. Schon in ihrer Monografie Wiederholte Spiegelungen (1978), vor allem aber im Vorwort zu ihrem Handbuch Themen und Motive in der Literatur entfalteten sie das Programm einer Thematologie als Problemgeschichte und weiteten zugleich den Gegenstandsbereich aus: über die engere Stoff- und Motivforschung hinaus, die sich auf vorwiegend konventionalisierte literarische Strukturmuster bezieht, hin zu existenziellen, in der Literatur immer wieder bearbeiteten Konstellationen wie Liebe, Angst und Tod.26 Aufgrund dieser verallgemeinernden Neuausrichtung der Stoff- und Motivgeschichte auf eine Literaturwissenschaft als ‚Inhaltsforschung‘ (Müller-Kampel) kam es innerhalb der deutschen scientific community in den 1970er-Jahren allerdings auch zu einer durchaus heftigen Kontroverse. In seinem in der DVjs veröffentlichten Beitrag zum Thema wandte sich Adam John Bisanz,27 in kritischer Auseinandersetzung mit dem Vorstoß von Beller, entschieden gegen die neue Terminologie und begründete dies mit der zu weiten Auslegbarkeit des Begriffs ‚Thema‘ und damit der Gefahr zunehmender Unschärfe des Forschungsprofils. Auch Elisabeth Frenzel, die mit ihren beiden einschlägigen Lexika zu ‚Stoffen‘ bzw. ‚Motiven‘ der Weltliteratur zu einer Hauptvertreterin der Disziplin in Deutschland avanciert war28, kommentierte die Entwicklung kritisch und wandte sich, aus Gründen der immensen ‚Weitmaschigkeit‘ des Begriffs ‚Thema‘, gegen eine Anpassung an den internationalen Sprachgebrauch. Zudem richtete sich ihre programmatische Standortbestimmung (Neuansätze zu einem alten Forschungszweig) auch gegen historische Längsschnitte im Bereich der Themenforschung (nicht der Stoff- und Motivgeschichte), und zwar dort, wo, im Sinne der Daemmrichs, Themen lediglich allgemein als „tragende Ideen“ untersucht würden.29 Diesen Einwänden zum Trotz hat sich nicht nur in der internationalen, sondern auch in der deutschen 26
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Daemmrich, Horst S. / Daemmrich, Ingrid, Wiederholte Spiegelungen. Themen und Motive in der Literatur, Bern, München 1978; dies., Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Bisanz, „Zwischen Stoffgeschichte und Thematologie“. Frenzel, Elisabeth, Motive der Weltliteratur; dies., Stoffe der Weltliteratur. Dies., „Neuansätze in einem alten Forschungszweig“, S. 105.
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Komparatistik und Germanistik der Begriff ‚Thematologie‘ oder auch ‚Themenforschung‘ zunehmend durchgesetzt. Auch in der seit 1978 eingerichteten Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung der Göttinger Akademie der Wissenschaften wird dem Konzept des Themas ein bedeutender Stellenwert eingeräumt; in der von ihr erstellten Datenbank für literarische Motive, Stoffe und Themen erscheinen neben einschlägigen, etablierten Stoff- und Motivkonstellationen auch eine große Zahl allgemeiner Lemmata (Liebe) und sogar Symbole (Rose), die allerdings dank der technischen Möglichkeiten zugleich autoren- und epochenspezifisch systematisiert sind.
4. Publikationen Abgesehen von den genannten programmatischen Beiträgen zur (kontroversen) Diskussion um den Begriff und das Konzept der ‚Thematologie‘, die im Abschnitt 3 bereits reflektiert wurden, lässt sich im Bereich der konkreten thematologischen Forschungsaktivitäten geradezu eine Hochkonjunktur seit den 1970er-Jahren konstatieren. Dies hängt nicht zuletzt mit dem schon von Elisabeth Frenzel hervorgehobenen Umstand zusammen, dass die Stoff- und Motivforschung entschieden von den Fortschritten in der theoretischen und methodologischen Fundierung der Literaturwissenschaft profitieren konnte und diese auch fruchtbar gemacht hat. Die Forscherin nennt namentlich die Rezeptionsästhetik, die nach den Mechanismen der Tradierung und Transformation literarischer Muster fragt und die zudem beschreibt, wie Themen als kulturgeschichtliche Problem-Markierungen im Prozess der Rezeption durch die Leser überhaupt erst herauskristallisiert werden30. Im Übrigen erwähnt Frenzel auch – im Zusammenhang mit Troussons historisch orientierten ‚études de thèmes‘ – die Intertextualitätsforschung, ohne dies jedoch weiter zu vertiefen.31 Im Folgenden sollen, bevor abschließend neue Ansätze und Perspektiven thematologischer Forschungen im Rahmen der jüngsten Fachgeschichte skizziert werden (vgl. unten Abschnitt 5), zwei Monographien herausgestellt werden, die viel beachtet wurden und die der Diskussion über die inhaltliche und methodische Ausrichtung der literaturwissen-
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Ebd., S. 109. Ebd., S. 101.
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schaftlichen Themenforschung entscheidend neue Impulse verliehen haben. An erster Stelle sei Peter von Matts Studie zum Thema ‚Liebesverrat‘ genannt, die schon Elisabeth Frenzel als besonders bemerkenswerten Beitrag würdigt.32 Diese Untersuchung erscheint für die neuere thematologische Forschung in zweierlei Hinsicht als richtungsweisend. Erstens bezogen auf den Gegenstandsbereich bzw. dessen Eingrenzung. Tatsächlich handelt es sich, wie der Autor in seiner Einleitung selbst bekennt, beim Thema ‚Liebesverrat‘ um einen „dominanten Inhalt“, um eines der zentralen Sujets von Literatur überhaupt, so dass die Zahl der in Frage kommenden Texte unüberschaubar ist.33 Er macht deshalb deutlich, dass die Auswahl aussagekräftiger und relevanter Textbeispiele zuallererst eine Konstruktion darstellt, die auf einer Strukturierung, Systematisierung und nicht zuletzt auch Zuspitzung von Seiten des Rezipienten – hier des Literaturwissenschaftlers – beruht. Daraus folgt zweitens, dass – notwendig für alle thematologischen Analysen – die Fokussierung auf eine markante Problemstruktur vorgenommen wird und werden muss. Für von Matt ist das Thema ‚Liebesverrat‘ deshalb von besonderem kulturhistorischem Interesse, weil mit ihm – in jeweils sich wandelnden historischen Kontexten – zentrale „Normenkonflikte“ sichtbar werden, in die „Menschen sich verwickelt sehen können“.34 Dabei interessiert den Forscher durchaus der Variantenreichtum des „irritierend Immergleichen im endlos Immerneuen“.35 Ein entscheidendes – mutiges – Prinzip seiner Analyse ist allerdings gerade nicht, wie in einer sozialhistorischen Untersuchung zu erwarten wäre, die streng diachrone Darstellung, die eine Entwicklungsgeschichte suggerieren würde; vielmehr entscheidet er sich für eine systematische Gliederung, die es auf die „anthropologischen Konstanten“ einerseits und erst innerhalb dieser dann andererseits auf das „geschichtlich Spezifische jedes einzelnen Falles“ abgesehen hat.36 Dabei reicht das Spektrum behandelter Texte schon im ersten eigentlichen Analyseteil (‚Urbilder‘) von antiken Mythen über Tristan und Isolde und Boccaccios Il Decamerone bis hin zum Blaubart-Märchen, Robert Musils Novelle Grigia und etlichen weiteren 32
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Ebd., S. 109.; Matt, Peter von, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989; vgl. auch ders., Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München u. a. 2006. Ders., Liebesverrat, S. 20. Ebd., S. 17. Ebd., S. 24. Ebd., S. 18.
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Textbeispielen des 20. Jahrhunderts (etwa: Brecht, Max Frisch, Ingeborg Bachmann) – und dies, wie gesagt, nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge. Auch in den folgenden Kapiteln, die nach den ‚Urbildern‘ des Liebesverrats gezielt einzelne zentrale Problemkonstanten in den Vordergrund rücken (die Zusammenhänge von Liebesverrat und Liebesvertrag, die Sakralisierung der Liebe, Subversionen des konventionellen Liebeskonzepts, Ehe-Ordnung, Verführung, schließlich: Einsamkeit), dominiert nicht die diachrone, sondern eine systematische Perspektivierung. Dabei kristallisieren sich einige Texte heraus, an denen von Matt die verschiedenen Facetten des Liebesverrats besonders eindringlich und komplex diskutiert: etwa Mörikes Peregrina, Fouqués Undine und vor allem Ingeborg Bachmanns Undine geht und Uwe Johnsons Skizzen eines Verunglückten. Zunehmend dominieren im übrigen Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert, wobei immer wieder sozialhistorische Kontextualisierungen vorgenommen werden. Damit werden vor allem die „Gelenkstellen zwischen intimem Geschehen und öffentlichem Umfeld“ herausgestellt,37 um die es von Matt in seiner Studie vor allem geht. Insgesamt leistet der Schweizer Literaturwissenschaftler mit seiner thesenreichen Untersuchung einen grundlegenden Beitrag zu einer zwar weit gefassten, aber doch auf bestimmte Grundmuster und Konstellationen ausgerichteten Thematologie, die über den Schematismus einer traditionellen ‚Stoffund Motivgeschichte‘ hinausgeht und stattdessen das anthropologische, historisch und sozialkritisch motivierte Interesse am abstrakten Thema, am Konfliktgehalt seines Sujets, ins Zentrum rückt. Als zweites Beispiel für eine problembezogene und methodisch reflektierte Neuausrichtung der Disziplin ist Hans Blumenbergs umfangreiche Monographie Arbeit am Mythos zu nennen.38 War die Mythenforschung immer schon ein wichtiger Bestandteil der Stoff- und Motivforschung – nicht zuletzt auch bei Trousson, der mit seinen Prometheus-Studien sein Konzept von Thematologie zu realisieren suchte39 –, so rückt der Philosoph Blumenberg nun nicht nur einen prominenten Stoff in seiner historischen Überlieferung ins Zentrum – nämlich ebenfalls den Prometheus-Mythos –, sondern er stellt vor allem die Frage nach den Mechanismen und der Beschreibbarkeit des Transformationsprozesses, dem die Stoff-Konstellation unterliegt. Dabei wird in seiner Studie ein thematologischer Zugriff wirksam: Erstens diskutiert Blumenberg nämlich in 37 38 39
Siehe nochmals Frenzel, „Neuansätze zu einem alten Forschungszweig“, S. 109. Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979. Trousson, Thèmes et mythes.
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seinem Einleitungskapitel generell den ‚Stoff, aus dem die Mythen sind‘: d. h. er abstrahiert die zentralen Themen (als Problemgehalte), um welche mythische Erzählungen kreisen – etwa: den als bedrohlich erfahrenen Absolutismus der Wirklichkeit; archaische Angst vor dem Unvertrauten; Unterworfenheit unter eine Ur-Macht (der Götter; der Natur). Zweitens beschreibt er das ‚Thema‘ eines mythischen Stoffs als den eigentlichen Motor des Überlieferungsprozesses: Es sind die dem Mythos zugrundeliegenden, konstitutiv unlösbaren (anthropologischen) Fragen, die den permanenten Prozess der Bearbeitung, die ‚Arbeit am Mythos‘, initiieren und vorantreiben. Gerade weil Mythen keine wirklichen Lösungen anbieten, sondern ‚unbefragbar‘ machen, kommt es zu immer neuen Modifikationen. An anderer Stelle spricht Blumenberg von einer „Hypothek vakant gebliebener Positionen von Antworten“, die insbesondere in Zeiten von Umbruchskrisen zu Umbesetzungen tradierter Muster führen.40 An der Überlieferung bzw. den Varianten des Prometheus-Mythos zeigt er auf, wie die Aporien der Kulturbegründung, von denen die Sage handelt, immer wieder neu eingekreist und schließlich in der Aufklärung überwunden werden sollen. Dabei interessiert den Verfasser vor allem die Geschichtlichkeit des Mythos, d. h. die Verankerung der jeweiligen Lösungsvisionen im konkreten historischen Kontext. Einen zentralen Textzusammenhang, auf den die Argumentation Blumenbergs zuläuft, stellen schließlich Goethes Prometheus-Bearbeitungen dar, an denen die Anstrengung aufgezeigt wird, „den Mythos zu Ende zu bringen“.41
5. Fachgeschichtliche Einordnung Abgesehen von der zunehmenden kultur-, sozial- und strukturgeschichtlichen Orientierung, wie sie die Arbeiten Blumenbergs und von Matts deutlich markieren, lässt sich insgesamt seit den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine Neuausrichtung der literaturwissenschaftlichen Themenforschung beobachten, die sich vermehrt auch den ‚großen Themen‘ (als abstrahierten Problemgehalten der Literatur) zu40
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Blumenberg, Hans, Säkularisierung und Selbstbehauptung, erw. und überarb. Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, erster und zweiter Teil, Frankfurt a. M. 1974. Ders., „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, in: Fuhrmann, Manfred (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, S. 11–66, hier S. 31.
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wendet und dies mit einer verstärkten Methodenreflexion verbindet. Entscheidende Impulse erhielt die Disziplin dabei von neueren literaturtheoretischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen. So erlaubt insbesondere die Intertextualitätsforschung eine systematische Beschreibung der Tradierungsprozesse, denen ein literarischer Stoff, ein Motiv oder ein Thema unterliegt. Auch die Systemtheorie, die semantische Codes in ihrer historischen Entwicklung untersucht, hat wichtige Beiträge zur Thematologie geliefert – etwa Niklas Luhmann mit seiner Studie Liebe als Passion.42 Entscheidendes Innovationspotential geht darüber hinaus von den kulturwissenschaftlichen Ansätzen der historischen Diskursanalyse und des ‚New Historicism‘ aus. Sie ermöglichen es, Themen wie beispielsweise den Schmerzdiskurs,43 das Motiv des Selbstmords,44 den Medea-Stoff45 oder den Umgang mit Fremdheit46 in einer dichten Wechselwirkung literarischer Gestaltungen mit wissenschaftshistorischen und alltagsgeschichtlichen Zeugnissen zu beschreiben. In diesem Zusammenhang spielen auch die historische Anthropologie und die Mentalitätengeschichte eine wichtige Rolle, die mit der Erforschung von Prozessen der ‚longue durée‘ (z. B. zu Auffassungen von Kindheit oder Tod) die kulturgeschichtlichen Quellen für eine themenbezogene Literaturwissenschaft bereitstellt.47 Zu erwähnen ist außerdem der in der jüngsten Entwicklung breit ausgebaute Bereich der Erinnerungsforschung, für die Impulse aus den verschiedensten Disziplinen – von der Geschichtswissenschaft über die Literatur- und Kunstwissenschaften bis hin zur Kognitionspsychologie – fruchtbar gemacht werden.48 42
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Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. Als weiteres Beispiel des systemtheoretischen Ansatzes vgl. auch: Jahraus, Oliver, Amour fou – Die Erzählung des Amour fou in Literatur, Oper und Film. Zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung, Tübingen u. a. 2004. Borgards, Roland, Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner, München 2007. Neumeyer, Harald, Selbstmord 1700/1800. Anomalien, Autonomien und das Unbewusste, Göttingen 2009. Stephan, Inge, Medea, Multimediale Karriere einer mythologischen Figur, Köln u. a. 2006. Dürbeck, Gabriele, Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815–1914, Berlin, New York 2007. Etwa: Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, München 1988; ders., Geschichte des Todes, München 1999. Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
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Will man die inhaltlichen Bereiche, die in einer auf neuen theoretischen und methodologischen Ansätzen basierenden literaturwissenschaftlichen Themenforschung bearbeitet werden, systematisieren, so lassen sich neben den klassischen Feldern der Stoff- und Motivanalyse etwa folgende Fokussierungen nennen. a) kulturanthropologische Themen wie z. B. ,Tod‘, ‚Liebe‘, ‚Kindheit‘ und ‚Jugend‘, ‚Geschlechterbeziehungen‘, ‚Mensch und Natur‘, ‚Mensch und Technik‘, ‚Krieg‘, ‚Zeiterfahrung‘ etc. b) Beziehungen zwischen Literatur und wissenschaftlichen Diskursen (Literatur und Medizin, Literatur und Recht, Literatur und Ökonomie, Literatur und Mathematik, Physik, Biologie etc.) c) Beziehungen zwischen Literatur und den Künsten (Musik, bildende Kunst, Tanz, Film in Literatur) d) Epochenspezifische Themen (‚Vergänglichkeit‘, ‚Kindsmord‘, ‚Großstadt‘, ‚Umweltproblematik‘, ‚Globalisierung‘, ‚Internet‘) Die Reihe wäre fortzusetzen. Wichtig bleibt, festzuhalten, dass nach der theoretischen und methodologischen Ausdifferenzierung der Literaturwissenschaften seit den 1970er-Jahren, nicht zuletzt auch nach den terminologischen Kontroversen um ‚Stoff- und Motivgeschichte‘ bzw. ‚Thematologie‘, eine themenbezogene Literaturanalyse vor allem dann sinnvoll und gewinnbringend erscheint, wenn der thematische Fokus klar umgrenzt und strukturiert wird und die vergleichende Textanalyse auf fundierten methodischen Prämissen beruht.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Beller, Manfred, „Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre“, in: arcadia, 5/1970, S. 1–38. Programmatischer Aufsatz, der der thematologischen Forschung in den 1970er-Jahren entscheidende Impulse verlieh. Beller fasst noch einmal die wichtigste Kritik am traditionellen Forschungszweig der Stoff- und Motivgeschichte zusammen (positivistische Stoffhuberei, Anthropologisierung und Enthistorisierung literarischer Themen) und fordert zugleich eine (auch terminologische) Annäherung an die internationale Komparatistik. Der Begriff ‚Thematologie‘ bezeichnet für ihn die problembezogene und an historischen Kontextualisierungen interessierte Erforschung literarischer Stoffe, Themen und Motive.
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Frenzel, Elisabeth, „Neuansätze in einem alten Forschungszweig: Zwei Jahrzehnte Stoff-, Motiv- und Themenforschung“, in: Anglia, 111/1993, S. 97–117. Dieser Aufsatz liefert eine differenzierte und informative Bestandsaufnahme der Forschungsdiskussion über den Zweig der ‚Stoff- und Motivgeschichte‘ sowie der Kontroverse um den Begriff der ‚Thematologie‘. Im Gegensatz zu Beller favorisiert die Verfasserin – wegen der Weitmaschigkeit und der international unterschiedlichen Bedeutung von ‚Thema‘, ‚theme‘, ‚thème‘ – die Bezeichnung Stoff- und Motivgeschichte. Sie unterstützt aber die methodologische Neuausrichtung der Disziplin, namentlich im Rahmen der Rezeptionsästhetik und der Intertextualitätsforschung. Müller-Kampel, Beatrix, „Thema, Stoff, Motiv. Eine Propädeutik zur Begrifflichkeit komparatistischer und germanistischer Thematologie“, in: Compass, 4/2001, S. 1–20. Eine sehr hilfreiche, differenzierte Klärung der im Kontext der Thematologie-Diskussion zentralen Begriffe ‚Thema‘, ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘, die schließlich zu einer klaren Standortbestimmung führt: Die Verfasserin plädiert im Interesse der Anschlussfähigkeit an die internationale Komparatistik für die Bezeichnung Thematologie, fordert aber eine klare Eingrenzung des Gegenstandes auf solche Themen bzw. Textreihen, die sich an stofflichen bzw. motivischen Konkretisationen festmachen lassen und einen Überlieferungszusammenhang darstellen. Ihre methodologischen Überlegungen verdeutlicht Müller-Kampel am Beispiel des Märchens vom Aschenputtel. Corbineau-Hoffmann, Angelika, Einführung in die Komparatistik, 2., überarb. und erw. Auflage, Berlin, 2004, Kap. III.2: Thematologie oder: die Inhalte der Literatur, S. 136–153, hier S. 138. Das Kapitel verfolgt ein weites Konzept von ‚Thematologie‘. Die Verfasserin definiert Thematologie generell als „Lehre von der Inhaltsebene literarischer Texte“ und weist vor allem auf die Anschlussfähigkeit der Disziplin an kulturwissenschaftliche Forschungen hin. Ihren Ansatz verdeutlicht die Autorin anhand von Anwendungsbeispielen zum Thema ‚Liebe und flüchtige Begegnung‘ (Baudelaire, George, Hofmannsthal) und zum Thema Tod (Maeterlinck, Hofmannsthal, Wilde).
Werkimmanente Literaturwissenschaft / New Criticism
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Werkimmanente Literaturwissenschaft / New Criticism von B ETTINA G RUBER
1. Definition Als ‚werkimmanent‘ wird jedes literaturwissenschaftliche Vorgehen bezeichnet, das sich strikt auf die Beschäftigung mit dem Werk resp. Text selbst beschränkt und daher alles andere als ‚Umfeld‘ ausblendet. Dazu gehört idealiter die vollständige Untersuchung und Beschreibung seiner Strukturen, von der Mikroebene (phonetische und morphologische Strukturen) bis zur Makroebene (‚grobe‘ Tektonik: Erzählformen, Akteinteilung usw.); de facto konzentriert sich die Analyse aber meist auf je nach Interpretationsinteressen und Textgattung ausgewählte Aspekte. Im deutschen Bereich wird der Begriff auf die Interpretationspraxis der Nachkriegsgermanistik bis etwa Ende der 1950er-Jahre angewandt; doch haben auch die französische explication de texte, der Russische Formalismus, der amerikanisch-britische New Criticism, der Strukturalismus und die mit ihm verbundene Semiotik eine immanente Interpretationspraxis ausgebildet, so dass die gängige germanistische Begriffsverwendung als stark verengt erscheint.
2. Beschreibung Bei allen Differenzen zwischen dem New Criticism und der sog. Werkimmanenz des deutschen Sprachraums haben diese mehr gemeinsam als die programmatische Zentralstellung des literarischen Textes. Beide sind fachgeschichtlich gesehen Reaktionen auf eine Situation, in welcher der Eindruck einer eigentümlichen Objektlosigkeit literaturwissenschaftlichen Forschens entstehen konnte. Ziellose Faktenrecherchen, ein methodisch dubioser Autor-Psychologismus und (in Deutschland) rhetorisch angestrengte geistesgeschichtliche Großkonstruktionen kennzeichnen
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Bettina Gruber
eine Forschungslandschaft, der die Literatur abhanden gekommen zu sein scheint. Die Wendung hin zum Text verspricht in dieser Lage die Etablierung eines eigenständigen literaturwissenschaftlichen Terrains. Beide reagieren zugleich auf eine politische Ausgangssituation: der New Criticism auf die starke Politisierung der amerikanischen Gesellschaft und Akademia im Zuge der Wirtschaftskrise, die Werkimmanenz auf die Verirrungen der deutschen NS-Germanistik, von denen man größtmöglichen Abstand gewinnen will. Voraussetzung für diese Wendung ist eine als autonom und als Kunst in wertendem (nicht soziologisch-deskriptivem) Sinne wahrgenommene Literatur. Damit geht ein emphatisches Verständnis vom Text als Werk einher, wobei diese Emphase im englischsprachigen Raum zurückgenommener erscheint als im deutschen. Das für dieses Vorverständnis entwickelte kritische Vokabular lässt drei unterschiedliche Tendenzen erkennen: eine analytische Variante, die am ehesten dem Russischen Formalismus und der späteren Semiotik nahe steht, eine, die sich an traditionellen rhetorischen Kategorien orientiert, und eine philosophischhermeneutische. Insgesamt ist dabei rein immanentes Vorgehen in den allermeisten Fällen bloß eine Konstruktion der Gegner immanentistischer Richtungen. So zeigt z. B. schon die zentrale Stellung, die der Begriff ‚tradition‘ für T.S. Eliot und Cleanth Brooks besitzt, dass diese Interpretationsformen nicht als ausschließlich textorientiert beschrieben werden können. Die genannten Tendenzen amalgamieren sich bei den einzelnen Autoren zu ganz unterschiedlichen Verfahrensweisen, so dass es ‚eine‘ immanente ‚Methode‘ nicht gibt. Die Unterschiede zum programmatisch immanent operierenden Russischen Formalismus fallen sowohl für den New Criticism als auch für die deutschsprachige Werkimmanenz ins Auge: In beiden Fällen stehen im Hintergrund prägend das ästhetische Ideal des Organischen und der positive Rückbezug auf eine als kanonisch empfundene dichterische Tradition, während die Russischen Formalisten vor einem avantgardistischen Hintergrund agieren, der technizistische Referenzen bevorzugt. Die völlig unterschiedlichen Entstehungsbedingungen (und dementsprechend auch Intentionen), die durch die Vergabe des Etiketts ‚Immanenz‘ leicht verdeckt werden, sind daher im Auge zu behalten. Während New Criticism und deutschsprachige Werkimmanenz im Sinne der Wiederbelebung einer Tradition also an Bestehendes anknüpfen wollten, setzte der Russische Formalismus ästhetisch und politisch auf revolutionären Bruch mit der Vergangenheit. Für die deutschsprachigen Autoren kommt eine weitere Differenz hinzu: Während der Russische Formalis-
Werkimmanente Literaturwissenschaft / New Criticism
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mus bewusst versucht, die Analyse von Literatur von (soziologischen, philosophischen usw.) Fremdvorgaben frei zu halten, stellt sich die Werkinterpretation meist bewusst unter den Einfluss philosophisch-ästhetischer Theoriebildung (Heidegger, Kant).
3. Institutionsgeschichtliches Die Interpretationspraxis des New Criticism setzt den Ästhetizismus der Jahrhundertwende voraus, von dem er sich jedoch zugleich distanziert. Zum Katalysator für den New Criticism werden erst die theoretischen Schriften von T. S. Eliot (1888–1965), dessen Positionen, die er über Essaybände und die 1922 gegründete Zeitschrift Criterion verbreitet, auf das lebhafte Interesse einer Reihe amerikanischer Literaturwissenschaftler treffen.1 Diese sich in den 1930er-Jahren formierenden New Critics stammen überwiegend aus den Südstaaten und stehen dem sog. Agrarian Movement nahe. In Reaktion auf positivistische Wissenschaftspraktiken und die starke Politisierung der amerikanischen Gesellschaft und Akademia im Zuge der Wirtschaftskrise bestehen sie nachdrücklich auf dem Autonomie-Status von Literatur. Für die Verbreitung und institutionelle Etablierung war das Wirken von John Crowe Ransom (1888–1974) von Bedeutung, der seit 1914 an der Vanderbilt University und später am Kenyon College lehrte. Der von ihm gegründete Kenyon Review wurde ein zentrales Publikationsorgan der Schule. Protagonisten des New Criticism wie Allen Tate (1899–1979, 1951– 1968 Prof. University of Minnesota), Robert Penn Warren (1905–1989, ebenfalls Prof. University of Minnesota) und Cleanth Brooks (1906– 1994, 1932–47 Prof. Louisiana State University, Baton Rouge, 1947–75 Yale) waren seine Schüler. Warren und Brooks kooperierten, indem sie ihre interpretativen Grundkonzepte in Lehrbücher umsetzten, die in Universitäten und Colleges kanonischen Status gewannen. Der New Criticism wurde so zu einem dominanten Paradigma, das zwar schon von marxistisch orientierten Kritikern angegriffen wurde, aber erst durch die massiven Angriffe der entstehenden Dekonstruktion, die mit dem Vorwurf des Logozentrismus operierte, in Misskredit geriet. Anders verhält es sich mit der deutschsprachigen Werkimmanenz, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit entsteht und meist als Reaktion auf 1
Harding, Jason, The ‚Criterion‘: Cultural Politics and Periodical Networks in Interwar Britain, Oxford 2002.
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Bettina Gruber
die nationalsozialistische Literaturwissenschaft und als Versuch, sich in ein unverfänglich-unpolitisches Feld zu retten, gedeutet wird. Die historische Situation kommt der Etablierung werkimmanenter Interpretationspraxis sicherlich entgegen, eine bloß politische Deutung der Entstehung des Paradigmas greift jedoch entschieden zu kurz. Dieses ist ebenso als Gegenbewegung zu fast ausschließlich kontext-orientierter positivistischer wie geistesgeschichtlich orientierter Forschung zu verstehen. Die oben erwähnten russischen, französischen und amerikanisch-britischen Theoriemodelle zeigen, dass international und teilweise bereits weit früher Interesse an einer Konzentration auf den Text selbst bestand. Dementsprechend gibt es auch im deutschen Raum bereits frühere Ansätze zu einer immanentistischen Betrachtung, die aber vereinzelt bleiben.2 Einflüsse sind dabei nach 1945 nur sehr sparsam auszumachen. Der Russische Formalismus wurde in Deutschland erst sehr viel später direkt rezipiert, aber einige Grundgedanken auf indirektem Weg, nämlich über den polnischen Phänomenologen Roman Ingarden (1893–1970), dessen Das literarische Kunstwerk (Halle 1931, 4. Auflage 1972) mit Interesse zur Kenntnis genommen wurde, schon zuvor weitergegeben.3 Zu dieser vermittelten Kenntnis formalistischen Gedankenguts trug ferner der österreichisch-tschechische Anglist und Slawist René Wellek (1903–1995) bei. Seine gemeinsam mit Austin Warren verfasste, 1949 veröffentlichte Theory of Literature übte früh erheblichen Einfluss auf die deutsche Literaturwissenschaft aus.4 Wellek nimmt hier wiederholt Bezug auf die Rus2
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Kober, A., „Wesen und Methoden der Literaturwissenschaft“, in: GRM, 7/1915– 1919, S. 115, 116; Walzel, Oskar, „Analytische und synthetische Literaturbetrachtung“, in: GRM, 1910, S. 257–274, S. 321–341; Wiederabdruck in O.W., Das Wortkunstwerk, Leipzig 1926, S. 3–35. Edgar Lohner sieht hier sogar einen „trend which culminated in the influential works of Emil Staiger and Wolfgang Kayser.“ Lohner, Edgar, „The Intrinsic Method: Some Reconsiderations“, in: Demetz, Peter / Greene, Thomas / Nelson Jr., Lowry, The Disciplines of Criticism. Essays in Literary Theory, Interpretation, and History, New Haven and London (Yale University press) 1968, S. 147–172, hier S. 159. Hier werden Walzel und Strich also nicht als Vertreter der Geistesgeschichte gesehen, sondern als Vorgänger von Staiger und Kayser eingestuft. Müller, Günther, „Über die Seinsweise der Dichtung“, in: DVLG, 17/1939, S. 137–153. Bei dem einflussreichen Petersen, Julius, Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1944, wird Ingarden gemeinsam mit Benedetto Croce genannt (S. 64 f.). Zur Theory of Literature heißt es bei Eppelsheimer, Hanns W. (Hrsg.), Bibliographie der Deutschen Literaturwissenschaft 1945–1953, Frankfurt a. M. 1957: „beste und umfassendste amerikanische Orientierung über methodische Prinzipienlehre“, S. 15.;
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sischen Formalisten.5 Später (in Four Critics: Croce, Valéry, Lukacs, Ingarden, 1981) bekannte er sich dazu, mehr von Ingarden als von irgendjemand sonst gelernt zu haben. Die Theory of Literature vermittelte darüber hinaus T.S. Eliot als Theoretiker, und auch J.C. Ransom, Allen Tate und Robert Penn Warren erscheinen hier bereits. In Welleks Werk laufen also Vermittlungslinien in die Germanistik für den Russischen Formalismus und für den New Criticism zusammen. Die leitenden Prinzipien des letzteren wurden zusätzlich durch die Eliot-Begeisterung von Ernst Robert Curtius (1886–1956) bekannt gemacht, der schon 1929 über T.S. Eliot als Kritiker schrieb.6 Trotz dieser Kenntnisnahme handelt es sich bei der im deutschsprachigen Raum entwickelten immanenten Betrachtungsweise um eine unabhängige Parallelentwicklung, deren Hauptexponenten Emil Staiger (1908–1987) und Wolfgang Kayser (1909–1960) waren. Beide schienen aufgrund ihrer biographischen Voraussetzungen besonders geeignet, eine neue, ‚unbelastete‘ Germanistik zu repräsentieren: Staiger als vermeintlich neutraler Schweizer (der freilich kurzfristig sehr wohl mit der völkischen Literaturwissenschaft sympathisiert hatte), Kayser, der während des Krieges in Portugal gelehrt hatte, als weltoffener und in den europäischen Literaturen versierter Gelehrter. Das Prinzip der Immanenten Interpretation (nicht immer in Deckung mit der tatsächlichen Praxis) setzte sich erstaunlich schnell durch, und bereits auf dem 1. Deutschen Germanistentag 1950 konnte Heinz Otto Burger formulieren: „Das Wortkunstwerk als Wortkunstwerk, die einzelne Dichtung in ihrem Wesen als Dichtung zu erschließen, ist das entscheidende Anliegen der modernen Interpretation. So erst gewinnt die Literaturwissenschaft als Dichtungswissenschaft einen Eigenbereich
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erste dort verzeichnete Rez. v. H. Levin, in: German Review, 24/1949, S. 303–306. 1960 findet bereits ein Rückblick auf die Rezeption Welleks statt: „Das umfassende Werk, das seit Jahren einen wachsenden Einfluß auch auf die Orientierung innerhalb der deutschen Grundlagenforschung ausübt …“ (Germanistik Bd. 1, 1960, S. 469). Es handelt sich um eine der frühesten Erwähnungen des Russischen Formalismus in der amerikanischen Literaturwissenschaft. Artikel „R.I.“, in: Encyclopedia of Literary Critics and Criticism, Ed. by Chris Murray, 2 Bde. London, Chicago 1999, hier: Bd. 1, S. 557–559, hier: 557; und Encyclopedia of Criticism, Bd. 2, S. 1079. E.R. Curtius, „T.S. Eliot als Kritiker“, in: Die Literatur, 32/1929, 10, S. 11–15. Robert Weimann hebt hervor, dass sich in Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Bern 1948) Grundkonzepte sowie wörtliche Zitate aus Eliots Essays finden. Robert Weimann, „New Criticism“ und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft, 2. Aufl. [BRD Lizenzausgabe], München 1974, S. 67.
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zwischen der Philologie, von der sie sich abgespalten hat, und der Geistesgeschichte, in der sie aufzugehen droht.“7 Die Formulierung macht deutlich, dass die Konzentration auf Textinterpretation als Kerngeschäft der Literaturwissenschaft eben auch einer deutlicheren Abgrenzung von einerseits der Sprachwissenschaft und andererseits einer für alles und nichts zuständigen ‚Geistesgeschichte‘ dient. Dieser Doppelung von politisch-historischem und fachstrategischem Vorteil verdankt die Werkimmanenz wohl ihren enormen Auftrieb in der Nachkriegszeit. Doch scheint die Vorstellung, dass sie deren Germanistik ‚beherrscht‘ habe, bis zu einem gewissen Grad eine Legende zu sein. In den 1950er-Jahren wurde bereits Kritik am immanenten Ansatz laut, die teilweise scharfe Formen annahm. Clemens Heselhaus bezeichnete sie als „die Gefahr unserer Zeit“.8 Eine Gegentendenz wird also früh deutlich und begann nicht erst im Umfeld der Studentenrevolte von 1968, die freilich ‚die‘ Werkimmanenz zu ihrem Feindbild erkor.
4. Publikationen Der amerikanische Kritiker Joel E. Spingarn veröffentlichte bereits 1911 ein Manifest mit dem Titel The New Criticism, das im Gefolge der Argumentation Oscar Wildes und Walter Paters die radikale Trennung der ästhetischen Sphäre von allen anderen (insbesondere der Moral) postuliert. Mit diesem Nachvollzug der faktischen Ausdifferenzierung des Ästhetischen, die als Unabhängigkeit missverstanden wird, geht ein von Benedetto Croce übernommener radikaler Nominalismus einher. Sämtliche generalisierenden Kategorien der Literaturbetrachtung, sowohl Gattungen als auch Kategorien wie das Komische, Tragische, Erhabene usw. werden als schädliche Abstraktionen zurückgewiesen, was zwangsläufig in einer Aufwertung des Einzelwerks resultiert. Daran konnte dann T.S. Eliot anknüpfen. Sein 1920 erschienener Essayband The Sacred Wood gilt als die endgültige Ablösung der bis dahin immer noch dominanten ‚viktorianischen‘ Standards englischer Literaturkritik (die von Li7
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Burger, Heinz Otto, „‚Methodische Probleme der Interpretation.‘ Vortrag auf dem 1. Deutschen Germanistentag in München, Sept. 1950“, in: GRM, 1950/51, 1, S. 81–92, Wiederabdruck in: Enders, Horst (Hrsg.), Die Werkinterpretation, Darmstadt 1967, S. 198–213, hier S. 198. Nach Lohner, „The Intrinsic Method“, S. 260. Dort auch Verweis auf interpretationskritische Interventionen von Werner Ross, Horst Rüdiger, Friedrich Sengle, Benno von Wiese und – Hans Schwerte.
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teraturwissenschaft hier noch nicht getrennt werden kann), die durch einen vagen life-and-letters-approach sowie durch den Gestus des gebildeten Amateurs gekennzeichnet war. Dem setzt Eliot poetologisch und ästhetisch eine neoklassizistische Strenge entgegen, die Dichter und Kritiker gleichermaßen verordnet wird. Sein historisch weitgespanntes Unterfangen der Neubewertung einer Reihe englischer Autoren, das faktisch auf den Versuch hinausläuft, die englische Literaturgeschichte umzuschreiben, bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Positionen zur Interpretation. Eliot erblickte den Ursprung alles literarischen Übels in der Romantik und der Fortdauer ihrer Positionen bei Lesern, Kritikern und Autoren. Besonders kritisch sah er das von ihr inaugurierte Verhältnis von Text und Verfasser, bei dem ersterer als Ausdruck von Befindlichkeiten des letzteren aufgefasst wird. Am Ursprung seiner immanentistischen Positionen steht also eine dezidierte Ablehnung der romantischen Ausdrucksästhetik, die zu jener Verschiebung der Aufmerksamkeit von ‚poet‘ zu ‚poem‘ führt, an welche die New Critics anschließen konnten. „He wished to redirect attention from the poet to the poem. In doing so, he created the critical perspective that led to the established rhetorical analyses of the New Criticism and redefined the nature of literary tradition, thereby changing some methods and assumptions of historical criticism.“9 Allen Tates Reactionary Essays on Poetry and Ideas erschienen bereits 1936.10 Sie verstehen sich als Rebellion gegen die politische Instrumentalisierung der Literatur und gegen jedwede Form des Kontextualismus, vor allem des positivistischen. Im Sinne einer solchen Gegen-Reaktion ist hier das Adjektiv ‚reactionary‘ zu verstehen. Eine ‚Doctrine of relevance‘, die das Werk an seinen mimetischen Leistungen misst, wird von Tate abgelehnt, einziges Wertungskriterium ist die Konsistenz des Werks selbst. Als sein wichtigster Essay gilt Tension in Poetry, der zwei idealtypische Extreme eröffnet: die romantische und symbolistische Dichtung auf der einen Seite, die von Tate als (verfehlter) Versuch, Gefühle zu kommunizieren, abgelehnt wird (Poetry of intension), auf der anderen die ‚rationalistische‘ Dichtung (Poetry of extension), ein ebenso verfehlter Versuch, Lehren zu vermitteln. Dem wird als Ideal eine ‚Poetry of tension‘ entgegengestellt, die beide Irrwege vermeidet. 9 10
Encyclopedia of Criticism, S. 349. Zur Person: „A.T“., in: Encyclopedia of Criticism, Bd. 2, S. 1078–1081; Squires, R., Allen Tate. A Literary Biography, New York 1971; Essay of Four Decades, 1968.; „Der Schriftsteller in der modernen Welt“, in: Perspektiven, 1953, 6, S. 8–19.
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1941 veröffentlichte John Crowe Ransom sein programmatisches Werk The New Criticism.11 Grundbegriffe von Ransoms kritischem Vokabular sind (in Hinblick auf Gedichte) ‚structure‘ und ‚texture‘. Struktur bezieht sich dabei auf die inhaltliche Komponente, während ‚texture‘, insbesondere ‚local texture‘, das ist, was ein Gedicht von einem Prosastück unterscheidet. Es ist diese Textur, also die konkrete Wort- und Lautgestalt, die der Dichtung eine einzigartige Position gegenüber anderen Formen der Sprachverwendung (insbesondere der wissenschaftlichen) verschafft. Aus Ransoms Sicht gibt es zwischen beiden kein Entsprechungs-, sondern ein Spannungsverhältnis, indem die Textur die Aufnahme der inhaltlichen Struktur behindert, bremst und so gefährdet. Gelungene Gedichte sind dadurch ausgezeichnet, dass sie eine spezifische Spannung zwischen beiden Ebenen aufbauen. Das Gelingen des Gedichts wird aus der Spannung zwischen Form und Inhalt abgeleitet, nicht etwa aus deren Harmonie. Das Argument der Komplizierung entspricht dem Russischen Formalismus (Form als Wahrnehmungsbremse, Verfremdung). Zum vielleicht meistrezipierten New Critic, allerdings auch als ‚formalist‘ und ‚eclectic‘ tituliert, wurde Cleanth Brooks mit Modern Poetry and the Tradition (1939), und The Well-Wrought Urn: Studies in the Structure of Poetry (1947).12 Wegweisend für die Verbreitung der Ideen des New Criticism war die Zusammenarbeit von Brooks mit Robert Penn Warren, aus der eine Reihe äußerst einflussreicher Lehrbücher hervorging, die die Dominanz des New Criticism in den Hörsälen zu etablieren halfen, indem sie seine theoretischen Annahmen an Beispielen aus der Literaturgeschichte durchexerzierten.13 Dabei wurden ganz pragmatisch die Gattungen abgearbeitet, was die Eignung für die Lehre weiter erhöhte.14 Vergleichbar der Methodik Ingardens (s. u.), aber weit weniger trennscharf erfolgt die Betonung der ‚total relationship‘ der verschiedenen 11
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Zur Person: „J.C.R.“, in: Encyclopedia of Criticism, Bd. 2, S. 914–917; Stewart, John L., John Crowe Ransom, Minneapolis 1963; The New Criticism, 1941; außerdem: Studies in Modern Criticism from the „Kenyon Review“, 1951; Symposium on Formalist Criticism, 1967; (Hrsg.) The Kenyon Critics, 1967. Zur Person C.B: Winchell, Mark Royden, C.B. and the Rise of Modern Criticism, Charlottesville London 1996. R.P.W. / Cleanth Brooks / J.TH. Purser, „An Approach to Literature: A Collection of Prose and Verse with Analysis and Discussions, 1936. Rez. von W. Kayser“, in: Deutsche Literatur-Zeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, 71/1950, S. 403–407. Understanding Poetry [1938], 4. ed., New York, Chicago 1976; Understanding Fiction [1943], Englewood Cliffs N.J. 1971.
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Ebenen. Trotz des technisch-analytischen Gestus wird ein organisches Modell von Dichtung ausdrücklich beibehalten. Im deutschen Sprachraum widmet sich Roman Ingardens Das literarische Kunstwerk (1931) aus an Husserl geschulter phänomenologischer Perspektive der „Seinsweise des literarischen Werkes“ und seiner „Grundstruktur“, die gegen psychologistische Tendenzen ebenso entschieden abgegrenzt wird wie gegen die Forderungen der Ästhetik. Dass auch letztere als werkfremd wahrgenommen werden kann, zeigt das für die Zeit außergewöhnlich ausgeprägte Differenzierungsbewusstsein Ingardens. Im Sinne der oben formulierten ‚idealen Immanenz‘ wollen seine Betrachtungen alle im Werk vorhandenen Elemente, seinen „mehrschichtigen Aufbau“ („Polyphonie“) berücksichtigen. An Schichten unterscheidet er die der „Wortlaute und Lautgebilde“, der Bedeutungseinheiten, der „schematisierten Ansichten“, der „dargestellten Gegenständlichkeiten“. Nicht zum Werk gehören die psychischen Zustände von Autor und Leser sowie die „Sphäre der Gegenstände und Sachverhalte“, die den „Stoff“, „Schauplatz“ etc. bilden. Ingardens Abgrenzung des Werks gegen die Autorkategorie ist, Jahrzehnte vor dem Barthes’schen Tod des Autors, von unüberbotener Präzision und Sachlichkeit. „Vor allem bleibt vollständig außerhalb des literarischen Werkes der Autor selbst samt allen seinen Schicksalen, Erlebnissen und psychischen Zuständen. Insbesondere bilden aber die Erlebnisse der Autors, die er während des Schaffens seines Werkes hat, keinen Teil des geschaffenen Werkes. Mögen – wie nicht bestritten werden soll – zwischen diesem Werke und dem psychischen Leben und der Individualität des Autors mannigfache enge Beziehungen bestehen, mag insbesondere das Entstehen des Werkes durch ganz bestimmte Erlebnisse des Autors bedingt sein, mag der ganze Aufbau des Werkes und seine einzelnen Eigenschaften von den psychischen Eigenschaften des Autors, von seiner Begabung und dem Typus seiner ‚Ideenwelt‘ und seines Gemüts funktionell abhängig sein und somit mehr oder weniger ausgeprägte Spuren seiner gesamten Persönlichkeit an sich tragen und dadurch die letztere ‚zum Ausdruck bringen‘, so ändern all diese Tatsachen nichts an dem primitiven und doch oft verkannten Faktum, daß der Autor und sein Werk zwei heterogene Gegenständlichkeiten bilden, die schon ihrer radikalen Heterogenität wegen völlig getrennt sein müssen. Erst die Feststellung dieser Tatsache erlaubt, die mannigfachen Beziehungen und Abhängigkeiten, die zwischen ihnen bestehen, richtig herauszustellen“.15 15
Ingarden, Roman, Das literarische Kunstwerk, [Halle 1931], 3. durchges. Aufl ebd. 1965, S. 20. ders., Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Aufsätze und Dis-
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Den Auftakt der so genannten Werkimmanenz im üblichen Sinne bildet 1948 Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk, ein Band, der bald zu einem Klassiker für Studierende der Germanistik avancierte.16 Kaysers Einführung brachte zwei neue Aspekte in die germanistische Wissenschaftslandschaft ein: einmal eine ungewöhnliche Internationalisierung der Textbeispiele, die mit jeglicher Deutschtümelei auffallend kontrastierte und eine komparatistische Öffnung bedeutete. Zweitens, eine Systematik des Aufbaus, die deutlich über die bisher, etwa bei Julius Petersen, gepflegten Systematiken hinausgeht, indem sie sich, nach der Ermittlung der ‚philologischen Voraussetzungen‘, strikt an Untersuchungskategorien für den Umgang mit Einzeltexten orientiert. Nicht zufällig beginnt Kayser mit einer Ausführung darüber, wie sehr Begeisterung für Literatur und ihre fachliche Behandlung auseinandertreten. Indem er die Bedeutung des technischen Rüstzeugs mit Recht betont, vollzieht er zugleich eine entschiedene Distanzierungsbewegung gegen Laienlektüre. Der „Bezirk des Subjektiven“ soll durch Analyse transzendiert werden. Zwar erinnert der Aufbau zunächst noch stark an Petersens Wissenschaft von der Dichtung, indem den „philologischen Voraussetzungen“ Erläuterungen zu „Stoff“ und „Motiv“ als „Grundbegriffe[n] des Inhalts“ folgen, aber die systematischen Einlassungen zu formalen Aspekten von Versfuß über Lautung, Figurenlehre und Syntax bis zum Stil zeigen ein grundlegend anderes Interesse. Es geht nicht mehr um die Genese des Textes aus etwaigen „Erlebnissen“, sondern um den Text selbst in seiner Synchronizität. Der Kern des von Kayser entfalteten Vorgehens ist damit in der Tat als immanent zu bezeichnen. Zugleich aber sind diese Interessen mit dem radikalen Nominalismus Benedetto Croces und einiger New Critics (vgl. Spingarn) nicht vereinbar. Fragen der Gattungstheorie und der Stilforschung spielen eine erhebliche Rolle, womit auch hier die Werkimmanenz im engsten Sinn schon wieder verlassen ist.17 Eine vollkommen andere Strategie verfolgt Emil Staigers Aufsatz Die Kunst der Interpretation, ein stets als Klassiker der Werkimmanenz gehan-
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kussionsbeiträge, Tübingen 1976.; Ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968. Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948], Tübingen, Basel 1992. Vgl. auch ders., „Das Problem der literarischen Gattungen“, in: Grossegesse, Orlando / Koller, Erwin (Hrsg.), Literaturtheorie am Ende? 50 Jahre Wolfgang Kaysers „Sprachliches Kunstwerk“, Tübingen, Basel 2001, S. 177–191.
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delter Text, der zur Etikettierung Staigers als des (neben Kayser) immanenten Interpreten schlechthin führte. Wie problematisch eine solche Zuordnung ist, zeigt sich schon an dem Kontext, in dem der Artikel steht. Er ist Teil einer Sammlung, die Aufsätze z. B. zur Individualitätskonzeption in der Goethe-Zeit („Schellings Schwermut“), zu Klopstock, Lessing, Wieland, zum Thema des „entstellten Zitats“ und anderen enthält und also keineswegs ein exklusives Interesse an Textinterpretation bekundet. Noch weniger rechtfertigt der umstrittene Artikel selbst eine solche Zuordnung. Staiger sieht die „wissenschaftliche Richtung“ der Interpretation „seit zehn bis fünfzehn Jahren durchgesetzt“ – und lehnt diese rein immanente Praxis durchaus polemisch ab. Im Gegenzug demonstriert er an einem Beispiel, Eduard Mörikes Gedicht Auf eine Lampe, Schritt für Schritt, wie Interpretation in seinem Sinne funktioniert. Anders als bei Kayser bildet hier die persönliche Vorliebe für den behandelten Text den Ausgangspunkt der Interpretationshandlung, die freilich in der Arbeit am Text plausibel gemacht und als begründet vorgeführt werden muss. Jede Aussage des Interpreten ist durch einen entsprechenden Textbefund abzustützen. Zugrunde liegt diesem hermeneutischen Procedere, was man als ein ‚Ideal kontrollierter Subjektivität‘ bezeichnen könnte. Um den Text zu verstehen, darf eben nicht rein immanent vorgegangen werden, sondern es müssen externe Zusatzinformationen herangezogen werden. Der Text wird dabei „zeitlich und räumlich“ gewissermaßen ‚eingekreist‘, indem er durch Stilvergleich mit seinen anderen Werken in die Werkbiographie des Autors und skizzenhaft in sein literarisches Umfeld eingestellt sowie auf seinen Wortschatz hin untersucht wird. Dann erst wendet sich die Untersuchung der Struktur des Gedichts zu, um aus der minutiösen Untersuchung des Aufbaus wieder in den größeren Zusammenhang von Biographie und Zeitgeschichte zurückzukehren. Stil ist für Staiger eine integrative Kategorie, nämlich die Übereinstimmung aller Ebenen und Aspekte eines Werkes. Das verbindet sich mit einer Wertung, denn aus dieser Sicht ist ein Werk eben „vollkommen“, wenn „alles einig ist im Stil“. In dieser ganz auf Harmonie orientierten Konzeption wird der fortdauernde klassizistische Einfluss der kanonisierten Weimarer deutlich. (Verzichtet man dagegen auf die Wertung, lässt sich dieser Stilbegriff leicht in eine semiotische Beschreibung überführen; vgl. den Begriff des ‚überdeterminierten Textes‘ bei Jürgen Link.) Staiger betont die Bedeutung der Einzelanalyse, die immer wieder zeigt, wie allgemeine Zuordnungsschemata (Gattungen, Epochenbe-
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zeichnungen) den Blick auf den jeweiligen Text verstellen, der in seiner konkreten Individualität zu untersuchen sei. Diese nominalistische Tendenz unterscheidet ihn von Kayser ebenso wie die Haltung zur Ausdifferenzierung des Faches. Im Gegensatz zu Kayser fordert Staiger eine Darstellung, die nicht nur dem Wissenschaftler zugänglich ist, sondern auch den literarisch gebildeten Laien anspricht. Die von Staiger hier vorgeführte Lektüre ist eine Methode der Aneignung, Bestätigung und individuellen Anverwandlung eines kulturell Eigenen, das auch für den Leser zum Eigenen werden soll, und erfüllt so auch eine konservative kulturpolitische Funktion. Staiger vertritt, wie in anderer Weise HansGeorg Gadamer, eine Gelehrtenkultur, die aus der identifikatorischen Bindung an den vertretenen Kanon lebte und sich durch diesen Habitus von der mehrheitlich auf epistemologische Distanz orientierten zeitgenössischen Literaturwissenschaft unterscheidet.
5. Fachgeschichtliche Einordnung Die wichtigste Leistung der so genannten immanenten Methoden liegt in der Etablierung eines genuin literaturwissenschaftlichen Feldes, das von seinen Vertretern in einem Mehrfrontenkampf gegen Kontextualismen verschiedener Art (Positivismus, Geistesgeschichte, Psychologisierung, politische Ansprüche) erobert wurde. Erst damit kristallisieren sich ‚der Text‘ und die Verfahrensweisen, die ihn konstituieren, als Kernbereich der Literaturwissenschaft heraus. Die Entwicklung verschiedener Sets analytischer Vokabularien stellte einen wichtigen Schritt zur Ausdifferenzierung des Faches aus einem vagen geisteswissenschaftlichen Generaldiskurs dar. Die dabei entwickelten Beschreibungskapazitäten sind von ganz unterschiedlicher Art und Qualität. Neben ‚dichten‘ rhetorischen und ggf. linguistischen Verfahren stehen philologisch gestützte, aber vergleichsweise vage Formen der Einfühlung, eine Differenz, die auf konkurrierende Vorstellungen von Wissenschaftskultur verweist, deren Grenzen nicht als identisch mit nationalen Unterschieden zu verstehen sind. Die entschiedene Reduktion, die diesen Gewinn an deskriptiven Spielräumen ermöglicht, bezeichnet zugleich auch die Defizite. Der Text, der dieser intensiven interpretatorischen Aufmerksamkeit gewürdigt wird, muss ein anspruchsvoller sein, was sich schon in der Zentralstellung des ‚Werk‘-Begriffs ausdrückt. Das Verfahren konzentriert sich daher zunächst auf kanonische oder potentiell kanonfähige literarische
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Texte, auf Texte, die einen Autor haben oder mindestens einem Autor zugeschrieben werden, sowie auf Texte, die in einem historischen Raum angesiedelt sind, der dem Lesenden vertraut ist oder vertraut erscheint. Es verdoppelt so lediglich den Prozess der historischen Ausdifferenzierung von Literatur in den letzten zweihundert Jahren. Nicht erfasst werden damit kulturhistorisch relevante Texte ohne ästhetischen Anspruch, anonyme und serielle Texte und schließlich Texte, die aus außereuropäischen Kulturräumen stammen. Das Arbeitsfeld der Literaturwissenschaft wäre bei konsequent immanentem Vorgehen daher außerordentlich eingeschränkt. Ein solches Vorgehen ist jedoch – fachgeschichtlich betrachtet – kaum jemals anzutreffen. Der reine ‚Immanentist‘ ist im Wesentlichen (nicht nur im Falle Staiger) eine Fiktion seiner Gegner. Dies eröffnet fachgeschichtlich eine Situation, in der Text und Kontext alternierend wiederentdeckt und strategisch gegeneinander ausgespielt werden können, wobei, wohl infolge des innerfachlichen Profilierungsdrucks, ‚synthetische‘ Lösungen (wie das von Jost Hermand vorgeschlagene ‚synthetische Interpretieren‘) weniger Anklang finden als radikal einseitige. Da Textanalyse de facto unverzichtbar ist, kommt es immer wieder zu Neuauflagen solcher Verfahren in den verschiedensten Konstellationen, von der Texthermeneutik (Ulrich Nassen) zur Semiotik der 1970er- und -80er-Jahre (der ein bemerkenswerter Brückenschlag zwischen Text und kulturellem Umfeld gelingt) und zur dekonstruktivistischen Neu-Rhetorik Paul de Mans. Der Dekonstruktivismus insgesamt hat, seiner lautstark vorgetragenen Gegnerschaft zum New Criticism zum Trotz, diesen fortgeführt und vielfach beerbt – seine zentralen Konzepte ‚Ironie‘ und ‚Paradox‘ sowie die Konzentration auf rhetorische Verfahren entstammen direkt dem Fundus der New Critics. Mit seiner Weigerung, Text, Diskurs und Welt zu differenzieren, lässt er sich als eine Art explodierter Werkimmanenz lesen.
6. Kommentierte Auswahlbibliographie Enders, Horst (Hrsg.), Die Werkinterpretation, Darmstadt 1967. Sammelband, der einschlägige Beiträge von 1916 bis 1957 zusammenstellt und dadurch einen guten (wenn auch keineswegs vollständigen) Überblick über interpretatorische und theoretische Ansätze auch vor den Dioskuren Staiger und Kayser bietet. S. insbesondere die Beiträge von Oskar Walzel, Leo Spitzer, Kurt May und Günther Müller.
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Lohner, Edgar, „The Intrinsic Method: Some Reconsiderations“, in: Demetz, Peter / Greene, Thomas / Nelson Jr., Lowry (Hrsg.), The Disciplines of Criticism. Essays in Literary Theory, Interpretation, and History, New Haven, London 1968, S. 147–172. Lohner ist wie Weimann (s. u.) Kenner der deutschen wie amerikanischen Wissenschaftsszene. Differenzierte Darstellung, wertvolle bibliogr. Hinweise auf Rezeption des New Criticism in Deutschland, paradigmenhistorisch unverzichtbar. Weimann, Robert, „New Criticism“ und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft. Geschichte und Kritik autonomer Interpretationsmethoden, 2. Aufl., [Lizenzausg.] München 1974. Souveräner Überblick sowohl über die amerikanische als auch über die deutsche Situation. Als Informationsquelle wie als Anschauungsmaterial hinsichtlich des Leistungsvermögens der DDR-Literaturwissenschaft unter ideologisch restriktiven Bedingungen bemerkenswert. Danneberg, Lutz, „Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation“, in: Barner, Wilfried / König, Christoph (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 313–342. In Sachen wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion des WerkimmanenzParadigmas wichtiger Artikel, der kursierenden Klischees durch differenzierte Bewertung entgegentritt und damit neue Perspektiven ermöglicht hat. Reiches Literaturverzeichnis. Rickes, Joachim / Ladenthin, Volker / Baum, Michael (Hrsg), 1955– 2005: Emil Staiger und „Die Kunst der Interpretation heute“, Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 16, Bern, Berlin u. a. 2007. Informative Re-Inspektion von Staigers Aufsatz anlässlich des 50. Jahrestages des Erscheinens. Fragt nach dem Verhältnis von Einzelinterpretation und literaturwissenschaftlicher Synthese, nach der Aktualität der Werkimmanenz, den Legitimationsstrategien, dem Verhältnis zur Dekonstruktion und dem Verstehensbegriff. Auswahlbibliographie.
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Autoren- und Titelregister Abendroth-Göttner, Heide – Die Göttin und ihr Heros 498 Adler, Alfred 355 Adorno, Theodor W. 188, 232, 369, 400, 487 f. – Dialektik der Aufklärung 493, 496 Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus 491 Agamben, Giorgio 79 Agulhon, Maurice 462 Aischylos 499 Albert, Hans 591 Alewyn, Richard 545 Althusser, Louis 75, 94, 401 Andermatt, Michael – Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose 674 f. Apel, Karl-Otto – Das Apriori der Kommunikationswissenschaft 239 Ariès, Philippe 455, 462, 466 Aristarch 4, 489 Aristophanes von Byzanz 4 Aristoteles 73, 172, 175 f., 180 f., 261, 518, 535, 639 – Peri Poietikes (Über die Dichtkunst) 174 f. Arndt, Ernst Moritz 546 – Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte 542 – Volk und Staat 541 Arnim, Achim von – Die Einquartierung im Pfarrhause 675 Assmann, Aleida 301, 428 Assmann, Jan 428 Auerbach, Erich 178 Augustinus 639 Austin, John Langshaw 522, 553, 558, 561 f., 565, 567 – How to do things with words (Zur Theorie der Sprechakte) 560, 564 f.
Bachmann, Ingeborg 758 – Undine geht 758 Bachofen, Johann Jakob 487 – Das Mutterrecht 492 Bachtin, Michail 163 f., 273 f., 280, 645 Bacon, Francis 12 f. Baecker, Dirk 82, 301, 714, 716 – Studien zur nächsten Gesellschaft 720 Bailis, Daniel D. 736 Bally, Charles 680, 690, 694 Balzac, Honoré de 389, 418 Balzer, Wolfgang 637 Barck, Karlheinz 182 Barsch, Achim – Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion 741 Bartels, Adolf – Geschichte der deutschen Literatur 544 f. Barthes, Roland 73–75, 78, 270, 272 f., 275 f., 279, 298, 377, 487 f., 643, 657, 693 – Eléments de sémiologie (Elemente der Semiologie) 651 – La mort de l’auteur (Der Tod des Autors) 517, 771 – Mythologies (Mythen des Alltags) 493, 496 – S/Z 83, 168, 695 Baßler, Moritz – Die kulturpolitische Funktion und das Archiv 302 f. Baudelaire, Charles 399, 413 – Les fleurs du mal (Die Blumen des Bösen) 238 Baudrillard, Jean 431 Bauerhorst, Kurt 668 f. – Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur 669 Baumgarten, Alexander Gottfried – Aisthetica (Ästhetik) 182 – Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus
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Autoren- und Titelregister
(Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts) 182 Baur, Erwin – Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassehygiene 546, 548 Beauvoir, Simone de – Le deuxième sexe (Das andere Geschlecht) 54, 145 Becker, Nikolaus – Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein 542 Becker, Thomas 413 Bédier, Joseph 111 Behler, Ernst – Aktualität der Frühromantik 77 Beißner, Friedrich – Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe 117, 126 Beller, Manfred 673 f. – Von der Stoffgeschichte zur Thematologie 754, 761 Belting, Hans 428 Belyj, Andrej 160 Benecke, Georg Friedrich 199 Benedict, Ruth 68 Benjamin, Walter 51, 545 – Die Aufgabe des Übersetzers 49 Benn, Gottfried 497 Benninghoff-Lühl, Sibylle 141 Bense, Max 639 – Semiotik 651 Berendson, Walter J. 545 Berg, Hans Christoph 611 Berger, Peter L. – Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 325 Bernays, Michael – Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes 125, 577 Bertalanffy, Ludwig von 701 Bertram, Ernst 201 Bhabha, Homi K. 47, 79 – The Location of Culture (Die Verortung der Kultur) 41, 60 f. Bielschowsky, Albert 479 Bierwisch, Manfred 329 – Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden 692 Binczek, Natalie 79
Bisanz, Adam John 755 Bitterli, Urs – Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘ 43 Blanckenburg, Friedrich von 539 Blaubart-Märchen 757 Bloch, Ernst 18 Bloch, Marc 447, 452 f., 459–463, 467 – Les rois thaumaturges (Die wundertätigen Könige) 463 – La société féodale (Die Feudalgesellschaft) 463 Blöbaum, Bernd 709 Blok, Aleksandr – Die Schaubühne 160 Blome, Hermann – Der Rassegedanke in der deutschen Romantik und seine Grundlagen im 18. Jahrhundert 546 Bloom, Harold 76, 278 – Anxiety of Influence (Einflußangst) 168, 278 f. – Map of Misreading (Eine Topographie des Fehllesens) 278 f. Bloomfield, Leonard 689, 691 – Language 689, 695 Blumenbach, Johann Friedrich 540 Blumenberg, Hans 13, 28, 486, 499 f., 759 – Arbeit am Mythos 498, 758 f. – Die Legitimität der Neuzeit 12 Boas, Franz – Handbook of American Indian Languages 695 Boccaccio, Giovanni 180, 490 – Il Decamerone 757 Bodmer, Johann Jacob 125, 183, 537 – Character Der Teutschen Gedichte 536 Böckmann, Paul 200, 206 – Formgeschichte der deutschen Dichtung 217 f. – Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung 218 Boehm, Gottfried 427 Böhn, Alexander 283 Bogatyrev, Petr 159 Bogdal, Klaus-Michael 95–97, 416 Boileau-Despréaux, Nicolas 179 – L’art poétique (Die Dichtkunst) 181, 227
Autoren- und Titelregister Boltanski, Christian 719 Bolzano, Bernard 639 Bonaparte, Marie – Edgar Poe. Sa vie – son œuvre. Étude analytique (Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie) 368 Bonfadelli, Heinz 314 Booth, Wayne C. 512 Botticelli, Sandro – Primavera (Frühling) 433 Bouhours, Dominique 536 Bourdieu, Pierre 295, 385, 389–400, 402–409, 411, 413–417, 703 – La distinction (Die feinen Unterschiede) 390, 396, 404, 406 – Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld 391 – Les règles de l’art (Die Regeln der Kunst) 394, 397, 404, 413 Bovenschen, Silvia – Gibt es eine ‚weibliche‘ Ästhetik? 146 – Die imaginierte Weiblichkeit 146 Brahm, Otto 583 Braudel, Fernand 462–465 – La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.) 465 Braungart, Georg – Leibhafter Sinn 346 Brecht, Bertolt 758 Breitinger, Johann Jacob 125, 183 Brjusov, Valerij 160 Broch, Hermann – Methodologische Novelle 156 Brock, Timothy 733, 737 f. – Persuasiveness of narratives 742 Brøndal, Viggo 687 – Morfologi og Syntax 695 Broich, Ulrich 270, 281 Brooks, Cleanth 764 f. – Modern Poetry and the Tradition 770 – The Well-Wrought Urn: Studies in the Structure of Poetry 770 Brown, George Spencer 713 f. Bruce, Donald 283 Brunel, Pierre – Mythocritique 499 f. Brunner, Otto 474
779
Bruns, Karin – Historische Mythologie der Deutschen 497 Buber, Martin 58 – Ich und du 66 Bucharin, Nikolaj 162 Buckle, Henry Thomas 574 Büchner, Georg – Marburger Ausgabe 118 Bühler, Karl 642 – Sprachtheorie 651, 694 Bürger, Peter 397 – Theorie der Avantgarde 399 Bumke, Joachim – Nibelungenklage 113, 124 Bunia, Remigius – Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien 717 Burdach, Konrad 592 Burger, Hans Otto 767 Burke, Peter 461–463 – Offene Geschichte. Die Schule der ‚Annales‘ 469 Burroughs, William S. – Dutch Schultz 258 Butler, Judith 54, 71, 78, 149, 553, 558, 562, 565 – Bodies that Matter (Körper von Gewicht) 148 – Gender Trouble (Das Unbehagen der Geschlechter) 55, 68, 144, 148 – Performatice Acts and Gender Constitution 565 f. Carnap, Rudolf 688 Carus, Carl Gustav 546 Cassirer, Ernst 200, 296, 470, 498 f. – Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte 197 – Der Mythus des Staates 493, 495 – Philosophie der symbolischen Formen 493, 495 Castelvetro, Lodovico 179 Cˇechov, Anton f Tschechow, Anton Pawlowitsch Cerquiglini, Bernhard – Éloge de la variante 124 Chamberlain, Houston Stewart 535 – Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts 544
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Autoren- und Titelregister
Chamisso, Adelbert von – Peter Schlemihl 102 Chartier, Roger 457 f., 469 – Lesewelten 315 Chateaubriand, François-René de – Atala 45 Chatman, Seymour 510 – A Theory of Meter 327 Chaunu, Pierre 455 Chomsky, Noam 312, 329, 550, 558, 560, 567, 689–692, 697 – Syntactic Structures (Strukturen der Syntax) 328, 679, 692 Christian, Barbara – The Race for Theory 147 Christiansen, Broder – Die Philosophie der Kunst 328 Ciapello, Éve 719 Cixous, Hélène 54 f., 78, 142 f., 363 Clauß, Ludwig Ferdinand – Die nordische Seele 545 Clendinnen, Inga 63 Cofalla, Sabine 410 Coleridge, Samuel Taylor 736 Comte, Auguste 4, 6, 199, 210, 247, 573 f. Condorcet, Marie Jean Antoine Marquis de 4 Conze, Werner 475 Corbineau-Hoffmann, Angelika 752, 762 Corneille, Pierre 369 Coseriu, Eugenio 39 Creuzer, Friedrich – Symbolik und Mythologie der alten Völker 491 Croce, Benedetto 768, 772 – La poesia (Die Dichtung) 185 Culler, Jonathan 76, 565 Curtius, Ernst Robert 180, 767 Cysarz, Herbert 203 – Das Deutsche Schicksal im Deutschen Schrifttum 203 Czerwinski, Peter 40 Daemmrich, Horst S. 665, 667, 670 f., 675, 751 f. – Themen und Motive in der Literatur 755 – Wiederholte Spiegelungen 755
Daemmrich, Ingrid 671, 751 f. – Themen und Motive in der Literatur 755 – Wiederholte Spiegelungen 755 Dainat, Holger 592 Danneberg, Lutz 80 Dante Alighieri 214, 426, 490, 497, 586 – De vulgari eloquentia (Über die Redegewandtheit in der Volkssprache) 178 Darwin, Charles 543 Dascal, Marcelo 645 Dauer, Holger 476 De Man, Paul 72, 76, 78 f., 81, 557, 565, 775 – Allegories of Reading (Allegorien des Lesens) 83 f., 567 f. Debord, Guy 431 Deleuze, Gilles 75, 78, 86, 436 – Kafka. Pour une littérature mineure (Kafka. Für eine kleine Literatur) 378 f. – Logique du sens (Logik des Sinns) 83 Delumeau, Jean 455 Dembeck, Till – Texte rahmen 716 Derrida, Jacques 42, 58, 72, 75–78, 80 f., 86, 90, 98, 142, 241, 273, 553, 557, 562, 565, 568, 714 – De la Grammatologie (Grammatologie) 36, 76, 82 – De quoi demain? (Woraus wird Morgen gemacht sein?) 74 – Limited Inc. 84 – Signature – Événement – Contexte (Signatur – Ereignis – Kontext) 561, 565 – Signéponge 51 n. 50 – Spectres de Marx (Marx’ Gespenster) 74, 84 f. – La voix et le phénomène (Die Stimme und das Phänomen) 76 Descartes, René 4, 44, 226 f., 490 Descombes, Vincent 58 Deutsch, Robert 460 Dewey, John 344 Diderot, Denis – Supplément au voyage de Bougainville (Nachtrag zu Bougainvilles Reise) 44 Dijk, Teun A. van 674 f.
Autoren- und Titelregister Dilthey, Wilhelm 7, 186, 197, 200, 207–210, 212 f., 220, 230, 236, 239, 294 f., 344, 364 f., 492, 575, 583, 587, 592, 663, 668 – Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften 208, 234 – Einleitung in die Geisteswissenschaften 208, 234 – Die Entstehung der Hermeneutik 230, 233 – Das Erlebnis und die Dichtung 198, 201, 208, 211, 296, 585 Dinzelbacher, Peter 476 Dionysos Areopagita – Systematik der Engel 426 Dodge, Raymond – Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage 313 Döblin, Alfred – Berlin Alexanderplatz 258 Dörner, Andreas 411, 414 Dos Passos, John – Manhattan Transfer 258 Dotzler, Bernhard 100 Droysen, Johann Gustav – Grundriß der Historik 248 Duby, Georges 452, 455 f., 462, 465 f., 468 f. – L’histoire des mentalités 475 Duden, Barbara 54 Dülmen, Richard van 469 Düntzer, Heinrich 576, 579, 581 f., 584, 586, 590 Durkheim, Émile 449, 460 Dutz, Klaus D. 645 Eco, Umberto 301, 631 f., 644 f., 657, 697 – Il nome della rosa (Der Name der Rose) 724 – Semiotica e filosofia del linguaggio (Semiotik und Philosophie der Sprache) 652 – La struttura assente (Einführung in die Semiotik) 651, 696 – Trattato di semiotica generale (Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen) 651 Eggert, Hartmut 611 – Literarische Sozialisation 315
781
Eibl, Karl 344, 349–351 – Animal Poeta 347, 349 – Die Entstehung der Poesie 347, 349 Eissler, Robert Kurt –. Goethe. Eine psychoanalytische Studie 375f. Ejchenbaum, Boris 159 – 5=200 161 – Wie Gogols ‚Mantel‘ gemacht ist 157, 165 Eliot, Thomas Stearns 764 f., 767–769 – The Sacred Wood 768 Engel, Manfred 346 Engler, Rudolf 694 Eratosthenes 4, 489 Erdmann, Benno – Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage 313 Espagne, Michel 46 Etkind, Efim 168 Evans-Pritchard, E.E. 68 Fairclough, Norman 283 Fanon, Frantz 300 Farge, Arlette 467 Faulstich, Werner 617, 735 Febvre, Lucien 447, 452 f., 459–464, 466 f., 472, 475 – Face au vent 454 – Le problème de l’incroyance au XVIe siècle (Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert) 463 f. Fechner, Gustav Theodor 588 Fichte, Johann Gottlieb 4, 539, 544 – Reden an die deutsche Nation 541 Firth, John Rupert 691 Fischer, Eugen – Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassehygiene 546, 548 Fischer, Ludwig 397, 400 Fischer-Lichte, Erika 562 – Ästhetik des Performativen 566 f. Fix, Ulla 283 Flashar, Hellmut 330 Flaubert, Gustave 388, 394–396, 398 f., 402–404, 413 f. – Madame Bovary 238 f. Fludernik, Monika 520 Fohrmann, Jürgen 79, 96 Fontane, Theodor 50 Fontenelle, Bernard le Bovier 490
782
Autoren- und Titelregister
Foucault, Michel 47, 55, 60, 62, 68, 71, 75, 78, 89–100, 144, 273, 296 f., 462, 562, 591, 716 – L’archéologie du savoir (Archäologie des Wissens) 90, 472 – Les mots et les choses (Die Ordnung der Dinge) 36 – L’ordre du discours (Die Ordnung des Diskurses) 90, 98 – Qu’est-ce qu’un auteur? 276 Fouqué, Friedrich de la Motte – Undine 758 Franck, Georg 416 Frank, Manfred 7, 80 – Das Sagbare und das Unsagbare 241 ff. – Was ist Neostrukturalismus? 77 Frei, Henri 690 Frenzel, Elisabeth 667–671, 674, 755–757 – Motive der Weltliteratur 665, 669, 755 – Neuansätze zu einem alten Forschungszweig 755, 762 – Stoffe der Weltliteratur 664, 669, 755 Freud, Sigmund 55, 67 f., 75, 134, 296, 355–359, 362–370, 374, 378–380, 486, 497 f. – Der Dichter und das Phantasieren 366, 371–373 – Jenseits des Lustprinzips 495 – Eine Kindheitserinnerung aus ‚Dichtung und Wahrheit‘ 366 – Der Mann Moses und die monotheistische Kultur 428 – Psychopathische Personen auf der Bühne 366 – Totem und Tabu 359 – Traumdeutung 355 f., 365, 371, 494 – Das Unbewußte 357 – Das Unheimliche 366 – Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 366, 373 f. Fricke, Gerhard 9 Friedemann, Käte 512, 517 f. – Die Rolle des Erzählers in der Epik 518, 526 Friedrich, Hans-Edwin 403 f. Frisch, Max 758 – Andorra 52 – Mein Name sei Gantenbein 52 – Stiller 52
Fritsch, Theodor – Handbuch der Judenfrage 544 Frühwald, Wolfgang 334 Fuhrmann, Manfred 613 Gabelentz, Georg von der 680 Gadamer, Hans-Georg 7, 39, 61, 76 f., 80, 225 f., 229 f., 235 f., 238 f., 241, 246, 344, 600, 606, 610, 617, 774 – Wahrheit und Methode 234 Gallas, Helga 362 – Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘ 377 f. Garbe, Christine – Literarische Sozialisation 315 Geertz, Clifford 297, 301, 473 – Thick Description (Dichte Beschreibung) 40, 298 f. – Works and Lives (Die künstlichen Wilden) 68 Geier, Manfred – Die Schrift und die Tradition 282 Geiger, Klaus 726 f. Geiger, Theodor 460 Genette, Gérard 270, 277, 281, 331, 511, 513, 520, 524 – Discours du récit (Die Erzählung) 519, 522–527 – Nouveau discours du récit 519 – Palimpsestes (Palimpseste) 188, 277 George, Stefan 213 f., 586 Gerhard, Ute 97 Gerrig, Richard 733, 736 Gervinus, Georg Gottfried 580 Gibson, Eleanor J. 314 Gilbert, Sandra – The Madwomen in the Attic 147 Gilman, Sander 673 Ginzburg, Carlo – Il formaggio e i vermi (Der Käse und die Würmer) 472 Gobineau, Joseph Arthur de 535 – Essai sur l’inégalité des races humaines (Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen) 544 Gockel, Heinz – Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte 219
Autoren- und Titelregister Goedeke, Karl – Schiller-Ausgabe 125, 578 Goethe, Johann Wolfgang von 166, 198, 211, 214, 366, 375 f., 410 f., 413 f., 577, 579–583, 586–590, 609, 663, 753, 759 – Akademie-Ausgabe 114, 119, 126 f. – Ausgabe letzter Hand 114, 125 – Dichtung und Wahrheit 580, 583 – Faust 578, 580, 589 – Faust II 102, 589 – Grundlagen der Goethe-Ausgabe 126 f. – Iphigenie auf Tauris 581 – Jahrmarktsfest zu Plundersweilern 580 – Die Leiden des jungen Werthers 580 – Maximen und Reflexionen 666 – Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des ‚West-östlichen Divans‘ 183 – Satyros 580 – Urfaust 588 – Wilhelm Meister 25, 580 – Wilhelm Meisters Wanderjahre 589 – Weimarer Ausgabe 114 f., 119, 122, 125 f., 578, 584, 586 Göttner, Heide – Logik der Interpretation 729 Goffman, Erving 392 Goldmann, Lucien 388 f., 396 Goodman, Nelson 639 – Languages of Art (Sprachen der Kunst) 652 – Ways of Worldmaking (Weisen der Welterzeugung) 652 Gottsched, Johann Christoph 536 – Critische Dichtkunst 182 Grabbe, Christian Dietrich – Don Juan und Faust 240 Graesser, Art 731 Grass, Günter 256, 411 Graus, Frantiˇsek 472 Green, Melanie C. 733, 737 f. – Persuasiveness of narratives 742 Greenblatt, Stephen 76, 103 – Marvelous Possessions (Wunderbare Besitztümer) 44 Greimas, Algirdas Julien 94, 298, 657, 691, 693 – Du sens 652 – Essais sémiotiques 652
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– Maupassant. La sémiotique du texte 696 – Sémantique structurale (Strukturale Semantik) 643, 652 Grimm, Gunter 603 Grimm, Herman 583 – Weimarer Goethe-Ausgabe 125 Grimm, Jacob 542 Grimm, Jacob und Wilhelm 199, 295, 753 – Deutsches Wörterbuch 541 f. Grivel, Charles 280 Groeben, Norbert 312, 314, 355, 617, 729–731, 733 f. – Empirische Literaturpsychologie 741 – Leserpsychologie 216, 741 – Literaturpsychologie 733 – Rezeption und Interpretation 741 – Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft 733, 740 Groys, Boris – Über das Neue 415 Guattari, Félix – Kafka. Pour une littérature mineure (Kafka. Für eine kleine Literatur) 378 f. Gubar, Susan – The Madwomen in the Attic 147 Günther, Hans F.K. – Rassenkunde des deutschen Volkes 545 Guiette, Robert 61 Gumbrecht, Hans Ulrich 607, 715 – Production of Presence (Diesseits der Hermeneutik) 80 Gundolf, Friedrich 23, 201, 213–215, 586 – Goethe 214 – Shakespeare und der deutsche Geist 213, 585 – Vorbilder 214 Gunzenhäuser, Rul 330 Habermas, Jürgen 78, 90, 232, 235, 246, 369, 487, 493, 715 – Erkenntnis und Interesse 236 f., 247, 369 Haeckel, Ernst 531 Hagen, Friedrich Heinrich von der 111, 540 Hahn, Karl-Heinz – Wissenschaft auf Abwegen? 127
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Autoren- und Titelregister
Haidu, Peter 38–40 Hamacher, Werner 80 – Entferntes Verstehen 77 Hamburger, Käte 510, 519, 545 – Logik der Dichtung 186, 519, 526 Harris, Zellig S. 689 f. – Methods in Structural Linguistics 690, 695 Hartog, François 41 – Le miroir d’Hérodote 67 Haubrichs, Wolfgang 330 Haverkamp, Anselm – Laub voll Trauer 77 Havránek, Bohuslav 685 Haym, Rudolf – Hegel und seine Zeit 206 – Die romantische Schule 206 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 18, 54, 57, 66, 75, 184, 195, 198, 206, 209, 211–213, 248, 573, 584, 639 Hehn, Victor – Goethe und das Publikum 597 Heidegger, Martin 58, 75, 79, 225, 231, 765 – Der Ursprung des Kunstwerkes 232 Heider, Fritz 706, 714 Heine, Heinrich 413 f., 535, 581 Heinzel, Richard 583 Helmstetter, Rudolf 304 Hempel-Küter, Christa – Germanistik zwischen 1925 und 1955 203 Heraklit 535 Herder, Johann Gottfried 28, 48, 183, 195, 198, 212, 226, 302, 343, 459, 491, 533, 535, 539–541, 543 – Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 45, 540 – Von der Entstehung des Menschen 540 Hermand, Jost 196, 232, 775 Hermanns, Fritz – Sprachgeschichte als Mentalitätengeschichte 475 Herodot 42, 490, 535 – Historien 41 Heselhaus, Clemens 768 Hesiod 174 Hesse, Hermann 410 Hettche, Thomas 256 Heuermann, Hartmut 617
Heym, Georg – Dichtungen 118 Heyse, Paul 583 Hintzenberg, Dagmar 734 Hirsch, Eric D. – Validity in Interpretation (Prinzipien der Interpretation) 241 Hitchcock, Alfred 381 Hjelmslev, Louis 687, 696 – Aufsätze zur Sprachwissenschaft 652 – Omkring sprogteoriens grundlæggelse (Prolegomena zu einer Sprachtheorie) 643, 652, 688 f., 695 Hocke, Gustav René – Die Welt als Labyrinth 297 Hölderlin, Friedrich 77, 198, 491, 499, 586 – Frankfurter Ausgabe 118 f. – Stuttgarter Ausgabe 117, 119, 126 Hörisch, Jochen – Wut des Verstehens 246 Hoesterey, Ingeborg – Verschlungene Schriftzeichen 282 Hoffmann, E.T.A. – Der Sandmann 366 Hoffmeister, Karl 581 Hofmannsthal, Hugo von 51 Hofstaedter, Petra 735 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 490 Holland, Norman N. 360 f. Holthuis, Susanne 283 Holtzhauer, Helmut – Wissenschaft auf Abwegen? 127 Holub, Robert 615 Homer 174, 227, 486, 600 Honegger, Claudia 461, 463 Honold, Alexander 97 Horaz 180, 751 – Ars poetica 176 Horkheimer, Max 369, 487 f. – Dialektik der Aufklärung 493, 496 Horn, András 172 Hühn, Peter 617 Huizinga, Johan – Herfsttij der Middeleeuwen (Herbst des Mittelalters) 459 Humboldt, Alexander von 546 Humboldt, Wilhelm von 48 Hunt, Russel A. 731
Autoren- und Titelregister Huntington, Samuel – The Clash of Civilizations (Kampf der Kulturen) 47 Hurrelmann, Bettina 312, 314 Husserl, Edmund 58, 75, 161, 427, 771 Hutton, Patrick 467 Ihwe, Jens 329 Ingarden, Roman 159, 327, 600, 605, 610, 728, 767, 770 – Das literarische Kunstwerk 766, 771 Irigaray, Luce 54 f., 78, 142 f., 363 Iser, Wolfgang 341, 344, 351, 512, 565, 597, 600, 604 f., 608–610, 613, 616, 729 – Der Akt des Lesens 568 – Das Fiktive und das Imaginäre 347–349 Jäger, Georg 407, 715 Jahn, Friedrich Ludwig – Deutsches Volksthum 541 Jahraus, Oliver 351 – Literatur als Medium 717 Jakobson, Roman 83, 156, 159 f., 167, 323 f., 326, 333, 685 f., 693 – Language, Sign, Poetry 331 – Linguistik und Poetik 332 f. – Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie 327, 333 – Poetik 696 – Prinzipien der historischen Phonologie 685, 694 – Probleme der Sprach- und Literaturwissenschaft 160 – Semiotik. Ausgewählte Texte 652 – Suche nach dem Wesen der Sprache 633 Jannidis, Fotis 80 Jarchow, Klaas 397, 400 Jaspers, Karl 58 – Psychologie der Weltanschauungen 459 Jauß, Hans Robert 35, 38 f., 159, 186, 239, 280, 334, 597–603, 606, 608, 610 f., 613–617 – Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur 61 f., 66 f. – Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft 168, 237 f. Jean Paul 83
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Jensen, Wilhelm – Gradiva 366, 380 Joch, Markus 413 – Bruderkämpfe 412 Jöckel, Sabine 472, 476 Johannes de Garlandia – Poetria 178 Johnson, Uwe – Mutmaßungen über Jakob 52 – Skizzen eines Verunglückten 758 Jost, François 754 Jung, Carl Gustav 355, 368, 486 f. – Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten 495 – Wandlungen und Symbole der Libido 368 Jurt, Joseph 397, 399 Kämper-van den Boogaart, Michael 416 f. Kafka, Franz 378 f., 499, 558 – Historisch-kritische Ausgabe 119, 123 Kaiser, Gerhard 77 Kallimachos 4 Kammler, Clemens 95, 98 Kant, Immanuel 183, 208, 245, 371, 518, 540, 546, 765 – Kritik der Urteilskraft 245 Karcevskij, Sergej 685, 690 Kayser, Wolfgang 18, 206, 231, 753, 767, 773 f. – Das sprachliche Kunstwerk 219, 772 Kindt, Tom 210 Kinst, Walther 729 Kittler, Friedrich A. 77, 95 f., 99 – Aufschreibesysteme 1800 · 1900 77 Klages, Ludwig 487, 493 Klapisch, Christiane 467 Klein, Josef 283 Klein, Melanie 355 Klein, Wolfgang 330 Kleinberg, Alfred 545 Kleist, Heinrich von 198, 582 – Brandenburger Ausgabe 123 – Hermannsschlacht 543 – Michael Kohlhaas 362, 377 f. – Penthesilea 360 Klemenz-Belgardt, Edith – Amerikanische Leserforschung 741
786
Autoren- und Titelregister
Klopstock, Friedrich Gottlieb 539, 773 Kluckhohn, Paul 200 – Die Idee des Menschen in der Goethezeit 204 Kluge, Alexander 256, 418 König, Ekkehard 565 Koeppen, Wolfgang – Tauben im Gras 401 Körner, Josef 668 – Erlebnis – Motiv – Stoff 668 Kohut, Heinz 355 Kolk, Rainer – Berlin oder Leipzig 592 Kolkenbrock-Netz, Jutta 95 Konstantinovi´c, Zoran 280 Korff, Hermann August 200 – Geist der Goethezeit 198, 211 Koschorke, Albrecht – Körperströme und Schriftverkehr 80 Koselleck, Reinhart 28, 334, 474 Koˇsenina, Alexander – Anthropologie und Schauspielkunst 346 Kracauer, Siegfried 257 Krämer, Sibylle 565 Kraus, Carl von 111 Kreuzer, Helmut 330 Kristeva, Julia 54 f., 68, 71, 78, 168, 270, 275–277, 279, 280, 283, 298, 363, 374, 645, 657 – Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman 273 f. – Étrangers à nous-mêmes (Fremde sind wir uns selbst) 67 – Recherches pour une sémanalyse 652 Kruˇcenych, Aleksandr 160 Kühnel, Jürgen – Der offene Text 123 Kürenberg, Der von 554 Kues, Nikolaus von 12, 57 Kuhn, Thomas S. 303 – The Structure of Scientific Revolutions (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen) 14 Kuiken, Don 731 La Bruyère, Jean de 44 Labrousse, Ernest 462 Lacan, Jacques 55, 60, 68, 75, 77 f., 90, 98 f., 134, 142, 241, 298, 355, 362 f., 370, 377 f., 380, 645
– Seminar über E.A. Poes ‚Der entwendete Brief‘ 376 Lachmann, Karl 110 f., 199, 583 – Lessing-Ausgabe 113, 577 – Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth 123 Lachmann, Renate 280 f. Laclau, Ernesto 79 Lämmert, Eberhard 518 f. – Bauformen des Erzählens 18, 526 Lamb, Sydney MacDonald 697 Lambert, Johann Heinrich 639 Landwehr, Jürgen – Empirische Literaturpsychologie 741 Latour, Bruno 78, 719 Lauer, Gerhard 80 Laughton, Charles – Nachtjäger 258 Lautréamont, Comte de 364 Lavater, Johann Caspar 540 Le Goff, Jacques 452–456, 462, 465 f., 469, 472 – Les mentalités. Une histoire ambigue 450 Le Roy Ladurie, Emmanuel 462, 466 n.118 Lefebvre, Georges – La grande peur de 1789 460 Lehmann, Harry – Die flüchtige Wahrheit der Kunst 715 Leibniz, Gottfried Wilhelm 639 Lenz, Fritz – Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassehygiene 546, 548 Lenz, Jakob Michael Reinhold 401, 410 f., 539 Lenz, Siegfried – Das Vorbild 52 Lerchner, Gotthard 612 f. Lessing, Gotthold Ephraim 46, 198, 538, 577, 582, 589, 773 – Nathan der Weise 44, 589 Lévi-Strauss, Claude 68, 75, 82, 94, 166, 297 f., 333, 488, 643 – Mythologiques I–IV (Mythologica I–IV) 298, 497, 696 – La structure des mythes (Die Struktur der Mythen) 497 – Tristes Tropiques (Traurige Tropen) 298, 497
Autoren- und Titelregister Levin, Harry 314, 754 Lévinas, Emmanuel 36, 58 – Totalité et Infini (Totalität und Unendlichkeit) 66 Lévy-Bruhl, Lucien 460, 492 – Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures (Das Denken der Naturvölker) 460 – La mentalité primitive (Die geistige Welt der Primitiven) 460 Lieb, Hans Heinrich 636 Lindemann, Uwe 335 Link, Jürgen 95 f., 100, 102, 106, 298, 303, 493, 773 – Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe 187 Link-Heer, Ursula 100, 303 Locke, John 639 Löffler, Dietrich 612 Loeper, Gustav 583 Lorde, Audre 147 Lorenzer, Alfred 370 Lotman, Jurij M. 168, 644, 693 – Struktura chudo zestvennogo teksta (Die Struktur literarischer Texte) 652, 696 – Über die Semiosphäre 652 – Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik 326 f. Luckmann, Thomas – Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 325 Ludwig, Hans-Werner 735 Lüdtke, Gerhard 668 Lüsebrink, Hans-Jürgen – Kriminalität und Literatur im Frankreich des 18. Jahrhunderts 476 Lugowski, Clemens 493 – Die Form der Individualität im Roman 499 Luhmann, Niklas 79, 86, 297, 303, 305, 403–405, 407, 701–719 – Die Form der Schrift 712, 719 – Ist Kunst codierbar? 702, 715, 718 – Die Kunst der Gesellschaft 706 f., 712, 718 – Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst 705, 718 – Liebe als Passion 711, 760 – Das Medium der Kunst 706, 718
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– Die Realität der Massenmedien 712, 719 – Soziale Systeme 715, 717 – Weltkunst 706, 718 Lukács, Georg 387–389, 396, 401 Lunaˇcarskij, Anatolij 162 Luther, Martin – Bibelübersetzung 227 Lyotard, Jean-François 78 – La condition postmoderne (Das postmoderne Wissen) 246 f. Macherey, Pierre 94, 401 Magerski, Christine 414 Makropoulos, Michael 304 Malinowski, Bronisław 68, 691 Mallarmé, Stéphane 364 Mandelkow, Karl Robert 601–603, 609 f. Mandrou, Robert 449, 455, 463 Mann, Heinrich 402, 410, 412, 418 Mann, Thomas 256, 410, 412, 488 – Der Zauberberg 751 Mannheim, Karl 460, 602 Marazé, Charles 463 Marquard, Odo 489 Marquardt, Katrin 410 Martens, Gunter 118 – Textdynamik und Edition 127 Martinet, André 691 – Économie des changements phonétiques (Sprachökonomie und Lautwandel) 685, 694 Martini, Fritz 9 Martino, Alberto – Die deutsche Leihbibliothek 317 Martyn, David – Sublime Failures 79 Marx, Karl 75, 79, 84 f., 388, 390, 610, 615, 765 – Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie 600 Mathesius, Vilém 685 Matt, Peter von 358 f., 758 f. – Liebesverrat 757 – Psychoanalyse und Literaturwissenschaft 369 Maturana, Humberto 713, 731 Maurer, Karl 330
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Autoren- und Titelregister
Mauro, Tullio de 694 McLuhan, Marshall 351, 424, 719 Mead, George H. 642 – Philosophy of the Act 652 Mecklenburg, Norbert 50 Medvedev, Pavel 163 – Die Formale Methode in der Literaturwissenschaft 162 f. Mendel, Gregor 544 Mendelssohn, Moses 589 Menke, Christoph – Die Souveränität der Kunst 77 Menninghaus, Winfried 77 Merker, Paul 663, 668 Merleau-Ponty, Maurice 58, 427 Mersch, Dieter 565 Meutsch, Dietrich 734 f. Meyer, Richard Moritz 579, 582, 584, 591 – Goethe 586, 589 Meyer-Kalkus, Reinhard 95 Miall, David 731 Michaels, Walter Ben 78, 80 Milch, Werner 545 Miller, Gottlieb Dieterich von 539 Millett, Kate – Sexual Politics (Sexus und Herrschaft) 145 f. Mill, John Stuart 210 Minor, Jakob 579, 582, 584, 590 – Schiller: Sein Leben und seine Werke 586, 590 Mitchell, William J. Thomas 427 Mittelstraß, Jürgen 334 Mix, York-Gothart 407, 413 Mölk, Ulrich 661 Moeller van den Bruck, Arthur 539 Mörike, Eduard – Auf eine Lampe 773 – Peregrina 758 Mohanty, Chandra Talpade – Under Western Eyes 147 Moholy-Nagy, László – Malerei, Fotografie, Film 259 Molière – Le misanthrope (Der Menschenfeind) 238 Mommsen, Theodor 583 Montaigne, Michel Eyquem de 44, 302
Montesqieu, Charles de Secondat Baron de 459 Moritz, Karl Philipp – Götterlehre 491 Morris, Charles W. 633 f., 642 – Foundations of the Theory of Signs (Grundlagen der Zeichentheorie) 652 – Signification & Significance 653 – Signs, Language and Behavior (Zeichen, Sprache und Verhalten) 653 Moscherosch, Johann Michael 4 – Wunderliche und Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald 537 Moser, Hugo – Minnesangs Frühling 123 Mouffe, Chantal 79 Mousnier, Roland 462 Mozart, Wolfgang Amadeus – Zauberflöte 258 Müllenhoff, Karl Viktor 583 Müller, Günther 18, 518 f. Müller, Hans-Harald 80, 210 Müller, Harro 96 Müller, Jan-Dirk 457 Müller, Wilhelm 491 Müller-Kampel, Beatrix 752, 755, 762 Mukaˇrovsk´y, Jan 159, 693, 728 – Kapitel aus der Ästhetik 696 – Kapitel aus der Poetik 696 Muschg, Walter 367 Musil, Robert 18, 51, 418 – Grigia 757 – Hasenkatastrophe 733 Nadler, Joseph – Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften 202, 493, 545 Nassen, Ulrich 775 Naumann, Manfred 599, 600, 606, 615 f. Neisser, Ulric 314 Nibelungenlied 542 Nicolai, Friedrich 538 Nietzsche, Friedrich 75, 83, 85, 247 f., 296, 487 – Also sprach Zarathustra 167, 494 – Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 488, 492, 494
Autoren- und Titelregister – Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn 247 f. – Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben 233 Novalis 198, 491, 499 Nünning, Ansgar 451, 458, 475, 477, 512 f. Ogden, Charles K. 630 – The Meaning of Meaning (Die Bedeutung der Bedeutung) 653 Oken, Lorenz 546 Opitz, Martin – Buch von der Deutschen Poeterey 181 Ort, Claus-Michael 716 Osinski, Jutta 143, 149 Ozouf, Mona 467 Parr, Rolf 97, 493 – Historische Mythologie der Deutschen 497 – Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks 298 Parsons, Talcott 701, 713, 715 Pascal, Blaise 44 Pater, Walter 768 Paterson, Janet M. – L’alterité 68 Pêcheux, Michel 94 Peer, Will van 735 Peirce, Charles Sanders 86, 629 f., 632 f., 638, 640–642, 644, 651, 693 – Collected Papers 653 – Writings of Charles Sanders Peirce 653 Pelz, Annegret 141 Perrault, Charles – Les Parallèles des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences 227 Perrot, Michèle 467 Peters, Ursula 456, 474 Petersen, Jürgen 519 – Erzählsysteme 527 Petersen, Julius 200, 668, 772 – Wissenschaft von der Dichtung 772 Petrarca, Francesco 179 Petsch, Robert 668 Pfeiffer, K. Ludwig – Das Mediale und das Imaginäre 351 Pfeiffer, Rudolf – History of Classical Scholarship 4
789
Pfister, Manfred 270, 281 Pfotenhauer, Helmut 346 f. Picard, Max – Hitler in uns selbst 24 Piégay-Gros, Nathalie – Introduction à l’intertextualité 283 Pietzcker, Carl – Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk 369, 372 Pindar 174 Platen, August von 581 Platon 42, 174–176, 518, 522, 524, 535 – Kratylos 681 – Politeia (Der Staat) 174 Plumpe, Gerhard 95 f., 404 f., 702, 715 Poe, Edgar Allan – The Purloined Letter (Der entwendete Brief) 376 Popper, Karl R. – The Logic of Scientific Discovery (Logik der Forschung) 14 Posner, Roland 632, 636 f. – Believing, Causing, Intending 653 Pound, Ezra 497 Poyatos, Fernando 345 Preisendanz, Wolfgang 280, 613 Prentice, Deborah 736 Probst, Gerhard 52 Propp, Vladimir 663, 693 – Morphologie des Märchens 166, 670, 696 Proust, Marcel – À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) 449, 522 Quine, Willard Van Orman 77 Racine, Jean 46, 369, 389, 609 – Iphigénie 600 Rajewsky, Irina 256 Ranke, Leopold von 248 Ransom, John Crowe 765, 767 – The New Criticism 770 Raphael, Lutz 465 Raulff, Ulrich 451 Rehm, Walter 200 – Orpheus. Der Dichter und die Toten 499 – Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung 213
790
Autoren- und Titelregister
Ricardou, Jean 273 Richards, Ivor A. 630, 728 – The Meaning of Meaning (Die Bedeutung der Bedeutung) 653 Richter, Matthias 607 f. Rickert, Heinrich 575 Rickes, Joachim – Führerin und Geführter 674 Ricœur, Paul 239–241, 364 f. Riecks, Annette 468 Riedel, Wolfgang 339, 346–348 – Die Anthropologie des jungen Schiller 346 – ‚Homo natura‘. Literarische Anthropologie um 1900 346, 348 Riffaterre, Michael 270, 278 f. – Semiotics of Poetry 279 Rilke, Rainer Maria 51, 497, 499 Robering, Klaus 636 Röcke, Werner 457, 476 f. Roethe, Gustav 111 Röttger, Brigitte 617 Ronell, Avital 76 Rorty, Richard 77 – Philosophy and the Mirror of Nature (Der Spiegel der Natur) 76 Rose, Gilbert J. – The Power of Form 360 Rosebrock, Cornelia 311 Rosenberg, Alfred 487 – Mythus des 20. Jahrhunderts 493 Rosenkranz, Johann Karl Friedrich 184 Rosenzweig, Franz 58 Rothacker, Erich – Einleitung in die Geisteswissenschaften 591 Rousseau, Jean-Jacques 82, 298, 369, 540 – Discours sur l’origine des hommes (Abhandlung über den Ursprung der Menschen) 45 Ruh, Kurt – Votum für eine überlieferungsgeschichtliche Editionspraxis 123 Runte, Annette 97, 100 Rusch, Gebhard – Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion 741 Russell, Bertrand 688 Rutschky, Michael 611
Sachs, Hanns – Gemeinsame Tagträume 367, 374 f. Sahr, Michael 725 Said, Edward W. 300 – Orientalism (Orientalismus) 41, 47, 62 f., 67 Sapir, Edward 689 – Language. An Introduction to the Study of Speech (Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache) 695 Sartre, Jean Paul 58, 241, 410, 427 – L’être et le néant (Das Sein und das Nichts) 66 Sattler, Dietrich E. – Frankfurter Hölderlin-Ausgabe 118 f. Sauer, August – Literaturgeschichte und Volkskunde 202 Saussure, Ferdinand de 75, 161, 272 f., 362, 550, 560, 631, 633, 640 f., 643, 684, 690 f., 693 f. – Cours de linguistique générale (Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft) 640, 653, 679–692, 694 f. – De l’emploi du génitif absolu en Sanscrit 694 – Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes 694 Saxer, Ullrich 314 Scaliger, Julius Caesar 181 – Poetices libri septem 180 Schechner, Richard 559 Scheibe, Siegfried 127 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 491, 546, 773 Schenda, Rudolf 314 Scherer, Wilhelm 6, 200, 212, 295, 365, 488, 543, 573–592, 668 – Geschichte der deutschen Literatur 588 – Goethephilologie 586 f. – Poetik 184, 586–588, 591, 668 Scherpe, Klaus R. 401 Schestag, Thomas 79 Schiller, Friedrich 183, 198, 343, 371, 544, 577, 581 f., 590 – Wilhelm Tell 358 Schings, Hans-Jürgen – Melancholie und Aufklärung 346 Schlegel, August Wilhelm 46, 491, 546, 581 – Jenaer Vorlesungen 183
Autoren- und Titelregister Schlegel, Friedrich 48, 53, 183, 195, 207, 491, 546 – Geschichte der alten und neuen Literatur 195 – Lucinde 53, 207, 237 – Rede über die Mythologie 491 Schlegel, Johann Elias 538 Schleiermacher, Friedrich 7, 48, 53, 80, 230, 241, 243 f., 246 – Akademiereden 229 – Hermeneutik und Kritik 242 – Über die verschiedenen Methoden des Übersezens 49, 65 f. – Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels ‚Lucinde‘ 53 Schlenstedt, Dieter 599, 616 – Wirkungsästhetische Analysen 187 Schmeling, Manfred 335 Schmid, Wolf 510, 514 Schmidt, Erich 200, 231, 543, 579, 582 f., 585 f., 588 f., 591 f. Schmidt, Siegfried J. 324, 331, 702, 722 f., 725, 729–734 – Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft 733, 740 f. – Selbstorganisation des Literatursystems 715 Schmitt, Franz Anselm – Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur 669 Schmitz-Emans, Monika 335 Schneider, Jost 416 f. – Sozialgeschichte des Lesens 317, 406 Schneider, Manfred 100 Schönert, Jörg 507, 715 Schöttler, Peter 95, 453, 461, 469 Schottel, Justus Georg – Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquissimorum 537 Schram, Dick – The psychology and sociology of literature 741 Schücking, Levin Ludwig – Soziologie der Literarischen Geschmacksbildung 313 Schuler, Alfred 493 Schuller, Marianne 141 Schultze-Naumburg, Paul – Kunst und Rasse 545 Schulze, Hagen 453, 473
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Schwanitz, Dietrich 715 Schwingel, Markus 407 Searle, John 84, 522, 553, 560 – Speech Acts (Sprechakte) 565 Sebald, Winfried Georg 256 Sechehaye, Albert 680, 690, 694 Sedlmayr, Hans – Verlust der Mitte 24 Seidel, Gerhard 127 Seiffert, Werner – Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte 126 Serres, Michel 78, 714 Shakespeare, William 46, 214, 411, 538, 540, 586 – Hamlet 361, 365 Shannon, Claude 424 Showalter, Elaine 142 Siebenpfeiffer, Hania 97 Siebert, Jan 256 Siegert, Bernhard 100 Simenauer, Erich – Rainer Maria Rilke 368 Simmel, Georg 295 f., 470 Simmel, Johannes Mario 412 Singer, Milton 559 Sˇklovskij, Viktor 159, 163, 166 f., 324 – Die Auferweckung des Worts 160 – Kunst als Kunstgriff 160, 164 – Wie Don Quijote gemacht ist 157 Sloterdijk, Peter 85 Sokal, Alan 81 Sollers, Philippe 273 Solon 174 Sommer, Dieter 612 Sophie von Sachsen-Weimar 583 Sophokles – König Ödipus 365, 497 Souriau, Étienne 522, 524 Spengler, Oswald 487 Spielhagen, Friedrich 517 f. Spinner, Kaspar H. 315 Spitzer, Leo 330 Spivak, Gayatri Chakravorty 47, 76, 79, 133 – Can the Subaltern Speak? 148 Springarn, Joel E. – The New Criticism 768
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Autoren- und Titelregister
Stackmann, Karl – Mittelalterliche Texte als Aufgabe 111, 123 Stäheli, Urs 79 Staiger, Emil 231 f., 386, 767, 773–775 – Grundbegriffe der Poetik 186 – Die Kunst der Interpretation 232, 246, 772 Stanitzek, Georg 79, 85, 716 Stanzel, Franz K. 510 f., 517, 519 f., 522, 524 – Theorie des Erzählens 517, 519, 520–522, 526 – Typische Erzählsituationen im Roman 518 Stark, Michael 409 Starobinski, Jean 280 – L’œil vivant 369 Steen, Gerard – The psychology and sociology of literature 741 Steer, Georg – Textgeschichtliche Edition 124 Stefan, Verena – Häutungen 142 Steffens, Henrich 546 Stein, Peter – Schriftkultur 317 f. Steiner, George – Real Presences (Von realer Gegenwart) 24 Stekel, Wilhelm 380 Stendhal 369 Stephan, Inge 139, 141 Sternsdorff, Jürgen 592 Stichweh, Rudolf 714 Stierle, Karlheinz 402 Stocker, Peter 283 Stolz, Peter 171 Strich, Fritz 200 – Deutsche Klassik und Romantik 205 f., 216 f. – Der Dichter und die Zeit 205 – Kunst und Leben 205 – Zu Lessings Gedächtnis 205 Strich, Walter – Wesen und Bedeutung der Geistesgeschichte 199 Striedter, Jurij 613 Strohschneider, Peter 40 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 330
Suerbaum, Ulrich 330 Sulzer, Johann Georg – Allgemeine Theorie der Schönen Künste 182 Suphan, Bernhard – Herder-Ausgabe 578 – Weimarer Goethe-Ausgabe 125 Szondi, Peter 183 Tacitus 545 – Germania 536 Taine, Hippolyte 574 Tambiah, Stanley 566 Tate, Allen 765, 767 – Reactionary Essays on Poetry and Ideas 769 – Tension in Poetry 769 Tepe, Peter 498 Tervooren, Helmut – Minnesangs Frühling 123 Tesnière, Lucien 691 Theagenes 4 Theweleit, Klaus – Buch der Könige 497 Thomas von Aquin 426 Titzmann, Michael 89 Todorov, Tzvetan 44, 63, 168, 331, 522 – La conquête de l’Amérique (Die Eroberung Amerikas) 43, 63 f., 67 – Poétique (Poetik) 696 Tolstoj, Lev – Leinwandmesser 156 Tomaˇsevskij, Boris 155 – Literatur und Biographie 157 Tommek, Heribert 411 Topitsch, Ernst 232 Trakl, Georg – Innsbrucker Ausgabe 118 Tristan und Isolde 757 Trnka, Bohumil 685 Trockij, Lev 162 Trommler, Frank 673 Trousson, Raymond 752, 756, 758 – Plaidoyer pour la Stoffgeschichte 754 – Thèmes et mythes. Questions de méthode 754 Trubetzkoy, Nikolaj Sergejevic 685–687 – Grundzüge der Phonologie 689, 695 Trunz, Erich 9 Tschechow, Anton Pawlowitsch 50, 157
Autoren- und Titelregister
793
Turner, Victor 550, 559 – The Ritual Process (Das Ritual) 559, 566 – Schism and Continuity 559 Tyler, Edward 295 – Primitive Culture (Die Anfänge der Cultur) 297 Tynjanov, Jurij 157–159, 163, 166 – Die literarische Evolution 165 – Das literarische Faktum 165 – Probleme der Sprach- und Literaturwissenschaft 160
Vogt, Jochen – Aspekte erzählender Prosa 519 Vogt, Ludgera 411, 414 Volosinov, Valentin 273 Von deutscher Art in Sprache und Dichtung 545 Vorderer, Peter – Leserpsychologie 741 Voß, Johann Heinrich 491 Voßkamp, Wilhelm 171, 187 Vossler, Karl 330 Vovelle, Michel 455, 462
Uldall, Hans Jørgen 687 – Outline of Glossematics 695 Unger, Rudolf 198, 200, 212, 215 – Hamann und die Aufklärung 201, 211, 213, 585 – Herder, Novalis und Kleist 213 – Literaturgeschichte als Problemgeschichte 212 – Literaturgeschichte und Geistesgeschichte 212 – Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft 201, 211, 585 – Die Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts 202
Waldenfels, Bernhard 58, 69 Wallon, Henri – La mentalité primitive et celle de l’enfant 460 Walzel, Oskar 201, 297, 330 – Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters 216 – Wechselseitige Erhellung der Künste 216 Warburg, Aby 428, 493 Warren, Austin 753 – Theory of Literature (Theorie der Literatur) 766 Warren, Robert Penn 765, 767, 770 Weaver, Warren 424 Weber, Max 296, 390, 400, 470 – Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 459 Wegmann, Nikolaus 79 – Bücherlabyrinthe 716 Weigel, Sigrid 141 Weinrich, Harald 610, 618 Weisstein, Ulrich – Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft 670 Wellbery, David E. 76 Wellek, René 753 – Theory of Literature (Theorie der Literatur) 766 Werber, Niels 404, 702, 715 Werlen, Erika 476 Werner, Hans-Georg 612 Werner, Michael 46 Wetzel, Michael 79 Whitehead, Alfred North 86, 688
Vachek, Josef 685 Varela, Francisco 713, 731 Vico, Giambattista 4, 302, 459, 490 f. – Principii di una scienza nuova (Prinzipien einer neuen Wissenschaft) 226, 295, 490 Viehoff, Heinrich 581 Viehoff, Reinhold 331 – Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion 741 Viëtor, Karl 219, 545 Vietta, Silvio 471 Vilar, Pierre 462 Vinaver, Eugène 61 Vinokur, Grigorij 159 Vipond, Douglas 731 Vischer, Friedrich Theodor 184, 584 – Faust III 584 Vitruv 535 Voegelin, Eric – Rasse und Staat 546
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Autoren- und Titelregister
Wieland, Christoph Martin 411, 773 Wiese, Benno von 9 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 488, 492 Wilde, Oscar 768 Wildenbruch, Ernst von – Die Karolinger 543 Wilhelms, Kerstin 141 Willemsen, Roger 418 Windelband, Wilhelm 575 Winko, Simone 80 Winnicott, Donald 355, 375 Winter, Hans-Gerd 397, 400 Witkowski, Georg – Grundsätze kritischer Ausgaben neuerer deutscher Dichterwerke 126 – Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke 120, 126 Wittgenstein, Ludwig 86 Wittmann, Reinhard – Geschichte des deutschen Buchhandels 318 Wölfflin, Heinrich 215 Wolf, Christa – Nachdenken über Christa T. 52 Wolf, Norbert Christian 409, 413 Wolff, Reinhold 355 Wolpers, Theodor 666 Woolf, Virgina – A Room of One’s Own (Ein Zimmer für sich allein) 145
Wright, Elizabeth – Klassische und strukturalistische Ansätze der psychoanalytischen Literaturforschung 370 Wülfing, Wulf – Historische Mythologie der Deutschen 497 Wünsch, Marianne 607, 617 Würzbach, Natascha 665 Wunder, Heide 473 Xenophanes 4, 174 Zarncke, Friedrich 583 Zeller, Hans – Befund und Deutung 127 – C.F.-Meyer-Ausgabe 117 f. – Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik 126 Zenodot 4 Ziolkowski, Theodore 670, 754 Zipfel, Frank 80 Zˇirmunskij, Viktor 166 f. Zobel, Rainer 734 Zola, Émile 388, 413 f. Zumthor, Paul 38 f., 61, 550 f., 554, 556 – La poésie et la voix dans la civilisation médiévale (Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft) 567 Zymner, Rüdiger 173, 176, 182, 344, 349, 351