Sara Fürstenau · Mechtild Gomolla (Hrsg.) Migration und schulischer Wandel: Unterricht
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Sara Fürstenau · Mechtild Gomolla (Hrsg.) Migration und schulischer Wandel: Unterricht
In Vorbereitung: Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit Migration und schulischer Wandel: Organisationskultur Migration und schulischer Wandel: Stadtteilkooperation
Herausgegeben von: Sara Fürstenau Mechtild Gomolla
Konzeptionelle Gesamtleitung des vorliegenden Bandes: Mechtild Gomolla
Sara Fürstenau Mechtild Gomolla (Hrsg.)
Migration und schulischer Wandel: Unterricht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: format absatz zeichen, Susanne Koch, Niedernhausen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15376-6
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Sara Fürstenau, Mechtild Gomolla Einführung Migration und schulischer Wandel: Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 1 Mechtild Gomolla Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Kapitel 2 Ulrike Hormel, Albert Scherr Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 45 Kapitel 3 Sara Fürstenau Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Kapitel 4 Petra Hild Kooperatives Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Kapitel 5 Therese Halfhide Teamteaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Kapitel 6 Agi Schründer-Lenzen Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Unterrichtsbedingung . . . . . 121 Kapitel 7 Tanja Tajmel Ein Beispiel: Physikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Kapitel 8 Sabine Mannitz Politische Sozialisation im Unterricht: ein europäischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Vorwort Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das öffentliche Bewusstsein in Deutschland für die Auswirkungen von Migration auf Bildung, wie umgekehrt für die Bedeutung von Bildung für die Integration Zugewanderter und ihrer Nachfahren gewachsen. Die Frage, wie es gelingen kann, die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen optimal zu fördern und das bestehende Gefälle in den Leistungen und Abschlüssen entlang der Trennlinien Ethnizität, sozialer Herkunft und Geschlecht abzubauen, gehört zu den Kernproblemen gegenwärtiger Bildungspolitik. Ein wichtiges Ziel schulischen Wandels ist eine qualitativ hochwertige und sozial gerechte Bildung, durch die alle Heranwachsenden die Kompetenzen erwerben können, die sie benötigen, um in einer pluralen Gesellschaft unter Anerkennung der Menschenrechte zu urteilen, zu handeln und an demokratischen Prozessen teilzuhaben. Um Lehrkräfte und andere mit der Schule befassten Fachkräfte zu befähigen, einen solchen schulischen Wandel aktiv zu gestalten, verbindet die Lehrbuchreihe ‚Migration und schulischer Wandel‘ Erkenntnisse der Schul(qualitäts)forschung mit Perspektiven für eine inklusive Bildungspraxis in der Einwanderungsgesellschaft. Von 2009 bis 2011 erscheinen sechs Bände zu sechs zentralen Feldern der Schul- und Unterrichtsentwicklung: • • • • • •
Elternbeteiligung Unterricht Mehrsprachigkeit Leistungsbeurteilung Stadtteilkooperation Organisationskultur
Jeder Band versammelt Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren und enthält theoretisches Grundlagenwissen, Forschungsergebnisse sowie Strategien und Praxisbeispiele. Fünf leitende Prämissen liegen den Bänden zugrunde und verweben sie zu einer kohärenten Geschichte:
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1. Kinder und Jugendliche mit ‚Migrationshintergrund‘ sind eine heterogene Gruppe. Der sperrig klingende Begriff ‚Migrationshintergrund‘ ist eine ungenaue Hilfskonstruktion. Ein Migrationshintergrund wird an so unterschiedlichen Merkmalen festgemacht wie an einer anderen Staatsangehörigkeit als Deutsch, an einem anderen Geburtsland als Deutschland bzw. an dem Umstand, dass die Eltern oder schon die Großeltern in einem anderen Land geboren wurden oder daran, dass in den Familien andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden. Selbstverständlich kommen Kinder mit Migrationshintergrund mit ebenso unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen in die Schule wie Kinder aus autochthon deutschen Familien. Ihre Lebenslagen differieren in Abhängigkeit von zahlreichen sozialen Unterscheidungsmerkmalen; zu diesen Merkmalen gehören u.a. der sozioökonomische Status der Familien, die Bildungs- und Schulerfahrungen der Eltern, das Geschlecht, die Region und die Religionszugehörigkeit. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Bildungsbeteiligung in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund variiert. Einzelne Schülerinnen und Schüler oder Gruppen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Schulen außerordentlich erfolgreich. Im Gesamtbild sind Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund allerdings deutlich unterrepräsentiert in den oberen Positionen der Bildungshierarchie, während sie auf den unteren Rängen überdurchschnittlich vertreten sind. Sie verfügen nicht über die gleichen Bildungschancen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Dieser Befund verweist auf den Entwicklungsbedarf der Schule im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität. Dabei steht die Schul- und Unterrichtsentwicklung vor der Herausforderung, migrationsbedingte Heterogenität zu berücksichtigen, ohne der Vorstellung einer vermeintlich einheitlichen (und womöglich defizitbehafteten) Gruppe von Schülerinnen und Schülern Vorschub zu leisten und ohne dichotomisierende Sichtweisen (‚wir‘ vs. ‚die Anderen‘) zu verstärken. 2. Migrationsbedingte Pluralisierungsprozesse sind konstitutiv für die Schule in Deutschland. Migration, d.h. die Tatsache, dass einzelne Menschen oder Gruppen aus ihren Herkunftsregionen aufbrechen und sich in anderen Gebieten niederlassen, ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Im Zuge wachsender globaler Verflechtungen und sich beschleunigender sozialer und technischer Umwälzungen, aber auch bedingt durch (Bürger-)Kriege, Verfolgung und Terror, Hungersnöte und ökologischen Katastrophen, erreichen Migrationsbewegungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts quantitativ und qualitativ eine neue Dimension. Dass Gesellschaften sich durch Migration verändern, ist an kaum einem Ort so deutlich erkennbar wie in den Schulen. In Deutschland, wie in anderen westlichen Einwanderungsgesellschaften, werden besonders in städ8
Vorwort
tischen Gebieten und in den Metropolen immer mehr Schulen zu großen Teilen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht. An diesen Schulen ist die Verschiedenheit und Vielfalt der sprachlichen Voraussetzungen, der Identitäten, Erfahrungen und Lebenshintergründe längst die Regel. Insofern trägt migrationsbedingte Heterogenität keine ‚Zusatzaufgaben‘ an Schulen heran, die mit ‚Sondermaßnahmen‘ zu bewältigen wären. Migration fügt der Vielfalt und Verschiedenheit der Bildungsvoraussetzungen und Bedürfnisse lediglich weitere Facetten hinzu. Migrationsbedingte Heterogenität ist eine grundlegende Bedingung für die Gestaltung von Schule und Unterricht. 3. Eine sozial gerechte Bildungspraxis erfordert institutionellen Wandel. Politik und Schulen reagierten auf Migration und ihre Folgen bisher überwiegend mit zusätzlichen kompensatorischen Fördermaßnahmen. Dabei ging es zunächst v.a. darum, Kindern und Jugendlichen mit ‚anderen‘ Familiensprachen als Deutsch durch Sprachförderung den Anschluss in der Schule zu ermöglichen. In den 1990er Jahren wurden darüber hinaus die unterschiedlichen ‚kulturellen‘ Lebenshintergründe der Schülerinnen und Schüler vermehrt zum Thema in Unterricht und Schulleben. Erst in jüngster Zeit wächst das Bewusstsein, dass punktuelle Maßnahmen nicht nur zu kurz greifen, um die schulischen Lernprozesse und -ergebnisse positiv zu beeinflussen, sondern häufig sogar dazu beigetragen haben, niedrige Erfolgserwartungen und Risiken der Benachteiligung zu verstärken. Um eine für alle Kinder und Jugendlichen förderliche und diskriminierungsfreie Lernumgebung zu schaffen, muss die Heterogenität in den Kernbereichen von Unterricht und Schulentwicklung angemessen berücksichtigt werden. Die Herausforderung des schulischen Wandels im Kontext von Migration besteht darin, alle konventionellen schulischen Arbeitsbereiche – vor allem auf den Ebenen von Curricula und Material, Unterricht bzw. pädagogischer Arbeit, Organisationen, Qualifizierung der Fachkräfte, administrativer und politischer Steuerung – aus einer neuen Perspektive zu betrachten und ihre Gestaltung zu überdenken. Dies schließt Strukturveränderungen im Umfeld der Schulen und auf der Systemebene ein. 4. Lernen und Lehren sind soziale Aktivitäten. In den letzten rund 20 Jahren hat die Unterrichts- und Schul(qualitäts)forschung wichtige Erkenntnisse beigetragen, wie Unterricht und Schulen gezielt verändert werden können, um das Lernen und die Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern und das Gefälle in den Erfolgen unterschiedlicher sozialer Gruppen abzutragen. Dabei sind Klassenräume, Schulhöfe oder Lehrerzimmer keine Inseln, auf denen abgetrennt von breiteren sozialen Prozessen gelernt und unterrichtet, bera9
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ten, Leistungen beurteilt und über Schulkarrieren entschieden wird. Lernen und Lehren sind soziale Aktivitäten, die genauso von sozialen Werthaltungen, kulturellen Hintergründen und politischen Diskursen, die das Bildungsgeschehen durchziehen, bestimmt sind wie von eher technischen Fragen des Unterrichts und der Organisation von Schule. Bildungssoziologische Untersuchungen machen seit Jahrzehnten deutlich, dass Bildungserfolg keineswegs allein von den Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler und ihres familialen Umfeldes abhängt. Insbesondere Forschungsarbeiten zur institutionellen Diskriminierung zeigen, dass die Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses bestimmter sozialer Gruppen im Schulalltag durch die regulären organisatorischen Strukturen, Programme und Routinen der Schule wesentlicht mitverursacht sind. Eine Bildungspraxis, die eine hohe Qualität der schulischen Prozesse und Ergebnisse – auch im Hinblick auf die Verwirklichung von schulpolitischen Zielen der Gerechtigkeit und demokratischen Partizipation – anstrebt, geht von einem umfassenden Lern- und Leistungsbegriff aus, der die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt. Sie stellt kritische Fragen, wie konventionelle Denkweisen und Praktiken in Schulen und anderen mit Bildung und Erziehung befassten Einrichtungen entstanden sind und wer in der Gesellschaft von ihnen profitiert. Wenn allen Kindern und Jugendlichen ein gleichberechtigter Zugang zu den schulischen Lernangeboten eröffnet werden soll, müssen auch Fragen, wie die Subjekte die Komplexität und Widersprüche unterschiedlicher Zugehörigkeiten leben und mit welchen Identitätsstrategien sich Kinder und Jugendliche, aber auch Lehrpersonen und Eltern im Schulalltag positionieren, thematisiert werden. V.a. kommt es darauf an, dass Lehrerinnen und Lehrer u.a. an der Schulentwicklung Beteiligte lernen, in konzertierten Anstrengungen die im institutionellen Setting in Unterricht, Schule und dem Bildungssystem als Ganzes angelegten Mechanismen der Diskriminierung sichtbar zu machen, kritisch zu reflektieren und Schulorganisationen in Richtung einer antidiskriminatorischen und inklusiven Praxis zu verändern. 5. Professionalisierung ist eine Voraussetzung für schulischen Wandel. In den vergangenen Jahrzehnten sind Ansätze zur Verankerung der ‚Interkulturellen Pädagogik‘ im Rahmen der Lehrerausbildung festzustellen. Trotzdem kann von einer systematischen Vorbereitung angehender Lehrerinnen und Lehrer und anderer pädagogischer Fachkräfte auf die Erfordernisse der Einwanderungsgesellschaft noch keine Rede sein. Vor diesem Hintergrund verstehen wir die im Rahmen der Lehrbuchreihe bearbeiteten Schwerpunkte auch als zentrale Qualifizierungsbereiche im Rahmen der pädagogischen Ausbildung an Universitäten,
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Vorwort
Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und Fachschulen, ebenso wie in der kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung. Die Erfahrung zeigt, dass pädagogische Fachkräfte die erwünschte Förderhaltung und Sensibilität im Umgang mit Fragen der Differenz und Ungleichheit nicht über Nacht erwerben können. Eine solche Qualifizierung erstreckt sich idealerweise über die aufeinander aufbauenden Phasen der beruflichen Erstausbildung und setzt sich in der beruflichen Praxis fort. Wo Qualifizierungs- und Entwicklungsprozesse institutionell gefördert und ermöglicht werden, zeigen sich oft erstaunliche Veränderungen pädagogischer Arbeits- und Organisationskulturen. Davon profitieren nicht nur die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern. Auch von den Professionellen selbst werden solche gelungenen Prozesse der Qualifizierung und des schulischen Wandels rückblickend oft als sehr befriedigend erlebt. An dieser Stelle danken wir Stefanie Laux ganz herzlich für ihre Ermutigung, dieses Lehrbuchprojekt anzugehen, und für ihre konstruktive Beratung und Unterstützung! Ein herzlicher Dank geht ebenfalls an Therese Halfhide, Petra Hild, Ulrike Hormel, Sabine Mannitz, Albert Scherr, Agi Schründer-Lenzen und Tanja Tajmel dafür, dass sie aus ihren Praxis- und Forschungszusammenhängen heraus Kapitel zu diesem Lehrbuch beigesteuert haben! Hamburg und Münster im März 2009 Sara Fürstenau und Mechtild Gomolla
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Einführung
Sara Fürstenau, Mechtild Gomolla
Migration und schulischer Wandel: Unterricht „Even in the most homogeneous communities, schools, and classrooms, students are different. Much of the delight of teaching comes from observing and interacting with these differences. Prior experiences, attitudes and expressions, charm and sociability, shyness and silliness, mastery of sophisticated knowledge, and astonishing and hysterical misunderstandings and gaps in what they ,should‘ but do not know all vary among the students in any classroom. In many classrooms, students also differ in the languages, cultures, and community resources they bring to school. These differences influence how students approach classroom learning, but they bear little relation to whether or not they are capable learners.” (OAKES/LIPTON 2003, S. 216f.)
Ob Kinder und Jugendliche in der Schule unabhängig von ihrer sozio-kulturellen Herkunft ihre Kompetenzen entfalten können und mit diesen auch wahrgenommen werden, hängt in hohem Maße von der Qualität des Unterrichts ab. Fragen des Unterrichts im sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Umfeld haben seit einigen Jahren Konjunktur. ‚Heterogenität‘ ist in der deutschsprachigen Schul- und Unterrichtsforschung geradezu zu einem Modethema avanciert. Bei genauerem Hinsehen sind im aktuellen Diskurs über Heterogenität jedoch Leerstellen und Widersprüche zu erkennen, die darauf hinweisen, dass ein Verständnis von Verschiedenheit und Vielfalt als ‚normale‘ Voraussetzung und Ressource des Unterrichts in allen Schulen noch lange kein Konsens ist. Der inflationäre und häufig schlagwortartige Gebrauch des Begriffs ‚Heterogenität‘ bezieht sich meistens auf spezifische Ausschnitte der Schul- und Unterrichtswirklichkeit und stellt die Idealvorstellung homogener Lerngruppen nicht zwangsläufig in Frage. So beziehen sich Konzepte zum Umgang mit Heterogenität vorrangig auf die Unterrichtsentwicklung in Grundschulen und auf der Sekundarstufe I, während Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe nur selten als Herausforderung beschrieben wird. Der Begriff Heterogenität fungiert außerdem oft als Synonym für Schulen in ökonomisch randständigen Innenstadtbezirken oder ländlichen
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Sara Fürstenau | Mechtild Gomolla
Kommunen, die hauptsächlich von Kindern aus einkommensschwachen Familien und mit Migrationshintergrund besucht werden. An solchen Lernorten – häufig geht es um Hauptschulen – werden die Anstrengungen von Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und Eltern jedoch eher durch die Homogenität ungünstiger Bildungsvoraussetzungen und ein Übermaß an strukturellen Problemen konterkariert; der Begriff Heterogenität ist hier irreführend. Abgekoppelt von Zielen der Bildungsgerechtigkeit ist die Beschäftigung mit Heterogenität des Weiteren oft von einem ‚touristischen‘ Blick auf Phänomene der Andersheit geprägt, der zu Stigmatisierung beiträgt. Die Bedeutung sozialer Differenzlinien für offene und subtile Formen der Diskriminierung in Gesellschaft, Schule und Unterricht und deren komplexe Wirkungen auf die Lernerfahrung und den Verlauf von Schulkarrieren kann in dieser Perspektive nicht erfasst werden. Die strukturellen Rahmenbedingungen des Unterrichtshandelns in den Organisationen und ihrem breiteren gesellschaftspolitischen Umfeld werden in den aktuellen Heterogenitätsdiskursen allgemein nur am Rande thematisiert. Das Bekenntnis zu einem konstruktiven Umgang mit Heterogenität beschränkt sich häufig auf Appelle an einen Einstellungswandel der Lehrerinnen und Lehrer oder auf eine eher technische Erweiterung des didaktisch-methodischen Repertoires der einzelnen Lehrkraft im Klassenunterricht. Forschungsarbeiten aus unterschiedlichen Disziplinen bestätigen jedoch den engen Zusammenhang von organisationalen Rahmenbedingungen, Unterricht und Schülerleistung. Auch verläuft die Umsetzung von Innovationen im Unterricht i.d.R. dann erfolgreich, wenn die breiteren Handlungsbedingungen in den Organisationen und ihrem Umfeld sorgfältig einbezogen werden. Hierzu zählen materielle und zeitliche Ressourcen, vorgegebene Curricula, Klassengrößen, Teamstrukturen, Bedarfe an Fortbildung und Begleitung, sowie politischer und administrativer Rückhalt. Das Lehrbuch vermittelt einen Überblick über theoretisches Grundlagenwissen, Forschungsergebnisse sowie Strategien und Praxisbeispiele zum Thema Unterricht und beleuchtet die wichtigsten Herausforderungen der Unterrichtsentwicklung im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität: 1. Im deutschen Bildungssystem verstärken sich die selektiven Schulstrukturen und die mangelnde Ausrichtung des Unterrichts auf die vorfindbare Heterogenität in den Klassenzimmern wechselseitig und tragen gemeinsam zum vermehrten schulischen Scheitern von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei. Innerhalb von Unterrichtsstrukturen und -praktiken, die nicht konsequent auf die Förderung von Kindern mit einem breiten Spektrum von Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen ausgerichtet sind, werden sprachliche und sozio-kulturelle Differenzen unweigerlich zur Störung und zum Anlass für 14
Einführung
Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung. Ohne die Forderung nach grundlegenden Reformen im Bildungssystem überflüssig zu machen, hat die neuere Forschung zur Schulqualität und Schulentwicklung v.a. in den USA und Großbritannien jedoch auch ein nützliches neues Wissen generiert, wie Unterrichtsprozesse gestaltet werden können, um eine hohe Qualität des fachlichen und sozialen Lernens zu gewährleisten und vorfindbare soziale Disparitäten in den Bildungserfolgen abzubauen. Ausgehend von dieser Prämisse skizziert Mechtild GOMOLLA im ersten Kapitel theoretische Grundlagen der Unterrichtsentwicklung in sprachlich, sozial und kulturell heterogenen Klassen, Schulen und Gemeinden. Ein historischer Überblick untersucht zunächst Homogenität als allgemeines Strukturprinzip von Schule und Unterricht. Der zweite Teil geht auf die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein und wirft ein Schlaglicht auf den Umgang mit der migrationsbedingten Heterogenität in der Alltagspraxis von Lehrkräften. Abschließend werden Perspektiven zur Unterrichtsentwicklung vorgestellt, die pädagogische und didaktische Neuerungen mit strukturellen Veränderungen auf der Ebene der Organisationen und ihrem institutionellen und sozialen Umfeld verbinden. 2. Vor dem Hintergrund neuer Rechtsinstrumente zur Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus auf der europäischen und der nationalen Ebene etabliert sich – im Anschluss an den angloamerikanischen Fachdiskurs – auch im deutschsprachigen Raum zunehmend ein Konsens, dass antirassistische und interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule das Problem der unterdurchschnittlichen Schulerfolge von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund nicht ausblenden kann. Bildungseinrichtungen sind im Umgang mit sozialen Differenzen alles andere als neutrale Instanzen. Eingebettet in breitere soziale und politische Kräftefelder sind sie mit ihren historisch gewachsenen Strukturen, Programmen und Verfahren der Problemlösung an der Konstruktion und Rekonstruktion sozialer Unterschiede höchst aktiv beteiligt. An diesen Gedanken schließen die bildungstheoretischen Überlegungen von Ulrike HORMEL und Albert SCHERR an. Als Orientierung für eine Bildungspraxis in der Einwanderungsgesellschaft schlagen sie eine Antidiskriminierungsperspektive vor, die als integrativer Rahmen für die Umsetzung unterschiedlicher Bildungsansätze – v.a. Menschenrechtspädagogik, Antirassistische Pädagogik, Interkulturelle Pädagogik und Diversity-Pädagogik – dienen soll. Damit Bildungsprozesse im Unterricht nationalistischen, rassistischen und ethnozentristischen Tendenzen entgegenwirken können, müssen Schülerinnen und Schüler die Schule als einen Ort erleben können, an dem für sie relevante Fragestellungen und Themen verhandelt werden. Hierzu ist es HORMEL und SCHERR zufolge v.a. erforderlich, ihre biografischen und aktuellen Erfahrungen – die oftmals von individueller und 15
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institutioneller Diskriminierung in Bildungseinrichtungen u.a. Alltagsfeldern geprägt sind – in pädagogisch geeigneter Weise aufzugreifen. Um in Unterricht und Schule einen Raum für Auseinandersetzungen mit den Grundlagen des eigenen Selbst- und Weltverständnisses zu ermöglichen, wird eine diversitätsbewusste und antidiskriminatorische Gestaltung der schulischen Prozesse auf mehreren Ebenen betont. Anzusetzen ist demnach v.a. an den Einstellungen von Schulleitungen und Lehrpersonen, der Gestaltung der Schulorganisationen, den Interaktionen und Kooperationen im Klassenunterricht und an der Konzeption der Lehrpläne. 3. Die Vielfalt der Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund fordert die in der deutschen Schule traditionell verankerten Normalitätserwartungen an die Vorkenntnisse und Lebenserfahrungen von Schülerinnen und Schüler heraus. Ein ‚guter Unterricht‘ zeichnet sich dadurch aus, dass er der Heterogenität von Lerngruppen Rechnung trägt. Das ist ein weitreichender Anspruch, der nicht nur Unterrichtsinhalte und -ziele, sondern auch didaktische Methoden und Interaktionsformen im Unterricht betrifft. In der allgemeinen Literatur zur didaktischen Gestaltung von (Fach-)unterricht bleibt dieser Anspruch – insbesondere im Hinblick auf migrationsbedingte Heterogenität – häufig ausgeblendet. Ausgehend von diesem Desiderat beleuchtet Sara FÜRSTENAU im dritten Kapitel die Bedeutung sozio-kultureller Kontexte für das Lernen und Lehren im Unterricht. Auf der Grundlage sozialkonstruktivistischer Lerntheorien werden die Rolle der Lehrperson und die Bedeutung didaktischer Handlungsmodelle in heterogenen Lerngruppen diskutiert. Welche Formen der Lehrer-Schüler-Interaktion tragen dazu bei, Perspektivenvielfalt im Unterricht konstruktiv zu berücksichtigen? Welche Organisationsformen im Unterricht erlauben den Schülerinnen und Schülern individuelle Zugänge zu den schulischen Inhalten? Auf diese Fragen bieten auch Schlagworte wie ‚Individualisierung‘ oder ‚Innere Differenzierung‘ keine einfachen Antworten. Es wird vielmehr deutlich, dass Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht mit heterogenen Lerngruppen vor die Herausforderung gestellt sind, einen kompetenten Umgang mit Dilemmata zu entwickeln, so z.B., wenn sie die Bedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler berücksichtigen und sich gleichzeitig an institutionellen Vorgaben und Rahmenbedingungen orientieren. 4. Eine Unterrichtsform, die sich bewährt hat, um sowohl fachliche und soziale Lernziele zu erreichen als auch die in der Bildungsforschung nachgewiesenen sozialen Ungleichheiten abzutragen, ist das Kooperative Lernen. Wie Petra HILD im vierten Kapitel ausführt, werden unter diesen Begriff unterschiedliche Unterrichtskonzepte gefasst, deren Gemeinsamkeit die Gruppenarbeit ist. Im 16
Einführung
Rückgriff auf den von der Soziologin Elizabeth COHEN entwickelten Ansatz der Komplexen Instruktion werden Aufgaben möglichst offen formuliert, so dass eine Vielfalt an Vorgehensweisen und Lösungen möglich ist. Zur Umsetzung einer solchen Arbeitsweise gehören Interventionen zum Abbau von Statusunterschieden, die Gewährleistung einer für alle sicheren und respektvollen Lernumgebung, Aufgabenstellungen, die unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Zielerreichung und vielfältige Interaktionen erfordern, Orientierung auf den Erwerb von sozialen Kompetenzen und metakognitiven Fähigkeiten und die gemeinsame Reflexion von Lernprozessen. Neben unterschiedlichen Strategien und Methoden vermittelt HILD konkrete Anhaltspunkte, wie Kooperatives Lernen im Unterricht eingeführt werden kann. Eine solche Unterrichtsentwicklung hat v.a. dann eine Chance, so das Fazit der Autorin, wenn Schulteams sich gemeinsam an diese Aufgabe heranwagen und dazu die nötigen ineinandergreifenden Veränderungen in den Organisationen installieren (z.B. Fortbildungen, Aufbau einer Hospitations- und Feedbackkultur, Teamteaching, jahrgangsübergreifende Arbeit). In solchen Prozessen kann auch die Heterogenität im Kollegium als Ressource für den Wandel von Unterrichts- und Schulkulturen fruchtbar gemacht werden. 5. Die professionelle Praxis in Schulen – insbesondere in sozio-kulturell und sprachlich heterogenen – ist komplex, ungewiss, mehrdeutig und von Wert- und Interessenkonflikten geprägt, so dass sie längst nicht mehr von einzeln agierenden Lehrpersonen zu bewältigen ist. Wenn Lehrpersonen und andere Fachkräfte die Qualität des Unterrichts bezogen auf die komplexen Anforderungen einer heterogenen Schülerschaft nachhaltig entwickeln wollen, müssen Kooperationen institutionalisiert werden. Ein gutes Beispiel ist das Teamteaching. Wie Therese HALFHIDE im fünften Kapitel erläutert, geht es beim Teamteaching um weit mehr als um die bloße Anwesenheit von zwei Lehrkräften im Klassenzimmer. Im Mittelpunkt stehen die gemeinsame Verantwortung für das Unterrichten und die gemeinsame Unterrichtsentwicklung. Dabei kann die Frage, wer für welche Aufgaben oder Schülerinnen und Schüler zuständig ist, flexibel entschieden werden. Beide Lehrkräfte können den Unterricht in wechselnden Rollen leiten oder unterstützen. Durch die Kooperation soll das Lernen der Schülerinnen und Schüler durch ein breit gefächertes Angebot differenziert und individualisiert werden und eine flexible, den Lernanlässen und -niveaus angepasste Einteilung in Gruppen ermöglicht werden. HALFHIDE geht in ihrem Beitrag auf die Geschichte und unterschiedliche Konzepte von Teamteaching ein; von welchen Bedingungen der Erfolg dieser Unterrichtsform abhängt und welche Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Unterricht bekannt sind. Zum Schluss werden im Rückgriff auf Erfahrungen aus dem Zürcher Schulentwick17
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lungsprogramm ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS) Möglichkeiten aufgezeigt, wann und wie Teamteaching sinnvoll eingesetzt werden kann. 6. Im Kontext migrationsbedingter Mehrsprachigkeit ist die Unterrichtssprache Deutsch für einen großen Teil der Schülerinnen und Schüler die Zweitsprache. In einer Großstadt wie Hamburg wächst z.B. inzwischen fast jedes zweite Kind unter sechs Jahren mit mindestens zwei Sprachen auf. Diese Kinder erwerben die kommunikativen Kompetenzen, die sie zur alltäglichen Verständigung im Deutschen und in ihren Familiensprachen benötigen, meistens problemlos. Sie verfügen über eine ‚lebensweltliche Zweisprachigkeit‘ (GOGOLIN), die aufgrund der vielfältigen Erfahrungen mit dem Spracherwerb und -gebrauch als äußerst günstige Voraussetzung für jedes weitere Sprachlernen betrachtet werden kann. Gleichzeitig benötigen lebensweltlich mehrsprachige Kinder im Unterricht häufig Unterstützung, um die schulspezifischen sprachlichen Anforderungen im Deutschen erfüllen zu können. Die Qualität von Unterricht hängt demnach maßgeblich davon ab, wie sprachliche Bildung in den Regelunterricht integriert wird. Erfolg versprechende Ansätze stellt Agi SCHRÜNDER-LENZEN im sechsten Kapitel über sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht dar. SCHRÜNDER-LENZEN plädiert für adaptive Lernangebote, die die sprachlichen Voraussetzungen in der Schulklasse auf der Grundlage einer kontinuierlichen, prozessbegleitenden Sprachstandsdiagnostik berücksichtigen. Das Kapitel bietet einen Einblick in das Wissen über Zweitspracherwerb, das alle Lehrerinnen und Lehrer benötigen, um den (Schul-)Spracherwerb von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache in jedem Unterricht unterstützen zu können. 7. Eine Herausforderung in jedem Fachunterricht besteht darin, allen Schülerinnen und Schülern einen sprachlichen Zugang zu den fachlichen Inhalten zu eröffnen. Den Stellenwert sprachlicher Bildung im naturwissenschaftlichen Unterricht illustriert Tanja TAJMEL im siebten Kapitel am Beispiel von Physikunterricht. Ausgehend von dem Tatbestand, dass bestimmte Schülergruppen – nämlich Mädchen und Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund – im naturwissenschaftlichen Unterricht weniger erfolgreich sind als der Durchschnitt, skizziert TAJMEL den Prozess einer Unterrichtsentwicklung, die darauf abzielt, Barrieren für diese Schülergruppen abzubauen. In einer Problemanalyse werden Unterrichtsfaktoren, die benachteiligend wirken können, beschrieben und sprachliche, kulturelle und institutionelle Barrieren im Physikunterricht identifiziert. TAJMEL stellt Lösungsansätze vor, die im Rahmen des internationalen Projekts PROMISE (Promotion of Migrants in Science Education) entwickelt worden sind. Der Ansatz, fachliches und sprachliches Lernen zu verbin18
Einführung
den, wird anhand konkreter sprachlernfördernder Unterrichtseinheiten für den Physikunterricht, die das Berliner PROMISE-Team entwickelt hat, illustriert. 8. Durch Migration, ebenso wie durch andere globale und europäische Prozesse der Transnationalisierung, wird die Vorstellung einer eindeutigen nationalkulturellen Zugehörigkeit in Frage gestellt. Auch ein strikter Zusammenhang zwischen Staatsbürgerschaft und demokratischer Teilhabe kann in Einwanderungsgesellschaften nicht mehr aufrechterhalten werden. Diese Entwicklungen bergen Konfliktpotenziale und erfordern einen Wandel nicht nur der schulischen Konzepte politischer Bildung, sondern auch der schulischen Strategien, Heranwachsenden unterschiedlicher Herkunft die Teilhabe am sozialen und politischen Leben zu eröffnen. Die Herausforderung, Konzepte sozialer Zugehörigkeit, demokratischer Mitbestimmung und politischer Bildung für eine migrationsbedingt heterogene Schülerschaft zu praktizieren und zu vermitteln, beleuchtet Sabine MANNITZ im achten Kapitel. MANNITZ stellt u.a. Ergebnisse einer internationalen Schul- und Unterrichtsstudie in Berlin, Rotterdam, Paris und London vor, die Aufschluss über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den nationalen Lernkulturen geben. Deutlich wird, dass Kinder aus zugewanderten Familien durch die alltägliche Unterrichtspraxis tendenziell als Angehörige von Minderheiten sozialisiert werden. Dadurch werde nicht nur die Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit der Einwanderungsgesellschaft erschwert. Darüber hinaus bleibe häufig auch die Gelegenheit ungenutzt, sich im Unterricht konstruktiv mit dem komplexen Verhältnis von ethnisch, national, kulturell heterogenen Bevölkerungen und nationalstaatlich verfassten Gesellschaften auseinanderzusetzen. Diese Gefahr bestehe – das werde im europäischen Vergleich am Beispiel einer Schule in Berlin deutlich – insbesondere innerhalb der ‚deutschen‘ Lernkultur, die durch einen restriktiven und ausgrenzenden gesellschaftspolitischen Umgang mit Migration geprägt sei.
Literatur Oakes, J./Lipton, M. (2003): Teaching to Change the World. 2nd ed. New York.
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Kapitel 1
Mechtild Gomolla
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion In jüngster Zeit wird in Politik und Forschung zunehmend anerkannt, dass die migrationsbedingte sprachliche und sozio-kulturelle Pluralisierung nicht länger in Form von Zusatzmaßnahmen behandelt werden kann, sondern einen grundlegenden Innovationsanspruch an die Gestaltung schulischer Strukturen, Programme und Praktiken heranträgt. Damit ist die Aufmerksamkeit besonders auf den Unterricht als Kernaufgabe der Schule gelenkt. ‚Heterogenität‘ ist in der deutschsprachigen Schul- und Unterrichtsforschung geradezu zu einem Modethema avanciert (vgl. z.B. BECKER u.a. 2004; BRÄU/SCHWERDT 2005; BOLLER/ ROSOWSKI/STROOT 2007). Insbesondere in den USA und Großbritannien hat die neuere Forschung zur Schul- und Unterrichtsqualität und zum geplanten Wandel schulischer Prozesse ein nützliches neues Wissen generiert, wie Unterrichtsprozesse gestaltet werden können, um eine hohe Qualität des fachlichen und sozialen Lernens zu gewährleisten und vorfindbare soziale Disparitäten in den Bildungserfolgen abzubauen (als Überblick vgl. RÜESCH 1999; MÄCHLER u.a. 2000; OAKES/LIPTON 2003). Allerdings werden auch in den aktuellen Bekenntnissen zur Überwindung einer problemfixierten Sichtweise von Heterogenität – zugunsten eines Verständnisses von Verschiedenheit und Vielfalt als ‚normaler‘ Voraussetzung und Ressource des Unterrichtshandelns – Leerstellen und Widersprüche rasch ersichtlich. Ein Beispiel ist der schlagwortartige Gebrauch des Begriffs ‚Heterogenität‘, etwa als Synonym für Schulen (v.a. Hauptschulen) in ökonomisch randständigen Gebieten, die hauptsächlich von Kindern aus einkommensschwachen Familien und mit Migrationshintergrund besucht werden – in denen aber eher die Homogenität ungünstiger Bildungsvoraussetzungen und ein Übermaß an strukturellen Mängeln das Problem sind. Abgekoppelt von Zielen der Gleichstellung ist die Beschäftigung mit Heterogenität oft von Beliebigkeit in Bezug auf konkrete soziale Differenzlinien und von einem ‚touristischen‘ Blick auf Phänomene der Andersheit geprägt. Die strukturellen Rahmenbedingungen 21
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des Unterrichtshandelns in den Schulen und ihrem weiteren gesellschaftlichen Umfeld werden nach wie vor selten thematisiert. V.a. bestätigt eine zunehmende Fülle an quantitativen und qualitativen Forschungsarbeiten im europäischen wie im nordamerikanischen Raum, dass der Gebrauch von Selektion einzelne Schülergruppen unterschiedlich trifft und dabei soziale Marginalisierungen verstärkt (vgl. Kasten 4). Gegen diese Tendenzen kann die Verbesserung des Unterrichts allein – ohne strukturelle Veränderungen auf den Ebenen der Schulorganisationen und des Bildungssystems – wenig bewirken. Dieses einführende Kapitel in Fragen eines inklusiven Unterrichts im Kontext migrationsbedingter Heterogenität behandelt drei Schwerpunkte: Der erste Teil untersucht Homogenität als historisch gewachsenes Strukturprinzip von Schule und Unterricht. Der zweite Teil beleuchtet den Umgang mit der migrationsbedingten Heterogenität im professionellen Handeln von Lehrkräften auf der Basis empirischer Forschungsergebnisse. Im dritten Teil werden Perspektiven für einen inklusiven Unterricht vorgestellt, die pädagogische und didaktische Innovationen mit strukturellen Veränderungen in den Organisationen und ihrem institutionellen und sozialen Umfeld verbinden. KASTEN 1 f
Definitionen
‚Heterogenität‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚Ungleichartigkeit‘. Was wir als ‚heterogen‘ wahrnehmen, ist immer eine soziale Konstruktion, die von expliziten oder impliziten Maßstäben für eine konstruierte Einheitlichkeit bzw. Homogenität abhängt. ‚Heterogenität‘ impliziert die Differenz zu und die Streuung um eine Norm und verweist immer auf den Kontext (z.B. in der Organisation Schule institutionalisierte Wertmaßstäbe) als Vergleichsdimension. Der Begriff ‚Inklusion‘ folgt dem internationalen Konzept ‚inclusive education‘. Dieses wird in Deutschland bisher v.a. in der integrationspädagogischen Literatur aufgegriffen (vgl. SCHNELL/SANDER 2004; GEILING/HINZ 2005), jedoch unter der Zielsetzung einer Bildung für alle zunehmend von der Inklusion von als ‚behindert‘ etikettierten Kindern auf alle benachteiligten Gruppen ausgeweitet (vgl. CAMPBELL 2002; HALFHIDE im vorliegenden Band). Mit dem Konzept der ‚inklusiven Schule‘ verbindet sich ein anspruchsvolles Kriterium sozialer Gerechtigkeit, verstanden sowohl als formal und faktisch gleichberechtigtem Zugang zu Bildungsangeboten, wie Gerechtigkeit in der Partizipation und Behandlung in Unterricht und Schulleben sowie in den Bildungsresultaten (Ergebnisgerechtigkeit) (vgl. CAMPBELL 2002; GILLBORN/YOUDELL 2000, 2f.).
22
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
1
Heterogenität im Spiegel der Geschichte der Schule
1.1
Homogenität als Organisationsprinzip von Schule und Unterricht
Zwar überwiegt in der Fachwelt die Auffassung, dass homogene Lerngruppen in der Realität nicht existieren und aus pädagogischer Sicht Lernchancen eher versperren als eröffnen (vgl. BECKER u.a. 2004). Dennoch bildet die Klassifizierung und Sortierung von Schülergruppen entlang relevanter Merkmale – v.a. nach Alter, Vorerfahrungen in der Elementarstufe, Prognosen über künftige Entwicklung und Leistungsvermögen, Leistungsresultate, sowie deutschen Sprachkenntnissen – ein zentrales Strukturprinzip im deutschen Bildungssystem: „Die Bevorzugung von Homogenität und die Tendenz zur Vermeidung von Heterogenität ist der Schule als Organisation – ganz unabhängig von den sozialpsychologischen Problemen, den Einstellungen und Haltungen ihres Personals – inhärent.“ (DIEHM/RADTKE 1999, S. 105). Die jeweils gültigen Kriterien für Homogenität bzw. Heterogenität haben sich in der Geschichte der Schule oft verändert. Sie sind mit den verschiedenen und untereinander z.T. widersprüchlichen gesellschaftlichen Funktionen des Bildungssystems, wie v.a. Qualifizierung, Selektion und Integration, eng verzahnt. Sie sind Ausdruck sozialer Interessenskonflikte, für die die Schule – als Scharnier zwischen einerseits familiärer Privatheit, persönlicher Biographie und autonomer Öffentlichkeit und andererseits individuellen Interessen, partikularen Interessen sozialer Gruppen sowie staatlicher Lenkung und Planung – seit jeher ein zentraler Austragungsort ist (vgl. GRAF/LAMPRECHT 1991). In den entstehenden Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts (z.B. Preußen) wurden erstmals auch auf dem Land in größerem Umfang Schulen gegründet. Eine flächendeckende Bildungsversorgung sollte v.a. dazu beitragen, die breite Bevölkerung aus ihren Loyalitäten an Städte, Stände und Kirche zu lösen und an die neuen Landesherren zu binden (vgl. KEMPER 1990, S. 39). Seiner Zeit weit voraus plädierte schon der Philosoph, Theologe und Pädagoge Johan Amos COMENIUS (1592-1670) – nach dem Vorbild des Militärs – für einen Klassenunterricht mit Heranwachsenden etwa gleichen Lernstandes, die frontal durch eine einzige Lehrperson unterwiesen werden sollten, um „alle alles im ganzen“ zu lehren (Große Didaktik; zit. n. KEMPER 1990, S. 26). Im 18. Jahrhundert wurde mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht (1717 in Preußen) die Schulbildung als Aufgabe der staatlichen Gemeinwesen und zugleich als Recht aller Kinder anerkannt. Vor dem Hintergrund der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 wurde Bildung zunehmend zum Garanten der basalen formellen Gleichheit der Staatsbürgerinnen und -bürger, welche ihrerseits bürgerliche Pflichten legitimiert (vgl. GRAF/LAMPRECHT 1991).
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Mechtild Gomolla
Die zunehmend berufsbezogene Spezialisierung und soziale Verbreitung der öffentlichen Schulbildung bereitete den Boden für den Übergang von einer geburtsständisch-feudalen Gesellschaftsordnung zu einer berufsständisch-bürgerlichen Sozialverfassung (vgl. KEMPER 1990, S. 62). Die Etablierung des Abiturs als Voraussetzung für den Zugang zu Universitäten im Jahr 1834 in Preußen gilt als Beginn des sogenannten ‚Berechtigungswesens‘ – der Entscheidung für Leistung statt Standeszugehörigkeit als Auslesekriterium. In der Organisation des staatlichen Schulwesens wurde jedoch eine strikte soziale Trennung fortgeschrieben. Das schulgeldpflichtige höhere Schulwesen, zu der eine dreijährige Vorschule und das neunjährige Gymnasium gehörte, blieb Jungen aus höheren Schichten vorbehalten. Kinder aus ärmeren Verhältnissen wurden in den Elementarschulen unterrichtet, welche keinerlei Berechtigungen erteilen konnten (vgl. DIEDERICH/TENORTH 1997, S. 57). Selbst die sogenannten ‚höheren Mädchenschulen‘ waren Teil des niederen Schulwesens. Sprachliche Homogenisierung gehörte in Verbindung mit dem Ziel der Herausbildung einer völkisch definierten nationalen Identität im 19. Jahrhundert zu den Hauptaufgaben der Schule (vgl. GOGOLIN 1994). Die Merkmale Sprache, Staatsangehörigkeit, Ethnizität und Kultur wurden vor dem Hintergrund grenzüberschreitender Migrationsbewegungen sowie der häufigen Verschiebung territorialer Grenzen auf vielfältige Weise zum Ausschlusskriterium (vgl. KRÜGER-POTRATZ 2005). Im Zuge der Ausdifferenzierung des modernen Schulwesens rückten auch diejenigen in den Blick, die dem Unterricht nicht folgen konnten. Nach der Errichtung von Schulen für Blinde und Taubstumme fanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heilpädagogische Einrichtungen für geistig- und körperlich behinderte Kinder Verbreitung. Die um 1880 eröffneten Hilfsschulen wurden vorwiegend von Kindern aus ärmsten Verhältnissen besucht. Sie zielten neben der Förderung der ‚lernbeeinträchtigten‘ Kinder immer auch auf den vermeintlichen Schutz der ‚nicht beeinträchtigten‘ vor Störungen. Die Jahrgangsklasse ersetzte im 19. Jahrhundert zuerst in den Gymnasien das ‚Fachklassensystem‘ bzw. den Unterricht in fachspezifischen Niveaukursen, die dem Kenntnisstand der Schüler entsprachen. Bis etwa 1870 setzte sie sich auch in den Volksschulen durch. Mit der Altershomogenisierung etablierte sich der lehrerzentrierte Frontalunterricht. Damit verbundene Leitideen wie das minutiöse Abarbeiten eines möglichst perfekten Drehbuchs, gleichschrittige Arbeit der gesamten Lerngruppe mit möglichst geringen individuellen Abständen, die ständige Kontrolle der einzelnen Lernenden durch die Lehrkraft und der fragend-entwickelnde Unterricht als Methode der Wahl prägen Bilder von ‚gutem Unterricht‘ bis heute (vgl. BECKER 2004).
24
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
Martin GRAF und Markus LAMPRECHT (1991) zeichnen in ihren historisch-soziologischen Analysen nach, wie durch Altershomogenisierung eine künstliche Gleichheit geschaffen wird, die zusammen mit der Idee, dass alle Lernende in einer Jahrgangsklasse die gleiche Behandlung erfahren, zur Rechtfertigung von Selektion auf der Basis von Leistung dient. Mit Hilfe dieses Prinzips kann sich die Schule von der aktiven Auseinandersetzung mit Heterogenität entlasten und trägt zugleich zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung bei: KASTEN 2 f
Homogenität und der Mythos der Leistungsgerechtigkeit
„Im Mechanismus der Einschulung erfahren die Schulabsolventen eine basale Gleichmachung ihrer eigenen Existenzen. Das Ausblenden der eigenen Vergangenheit, der spezifischen sozialen Verhältnisse und das Ersetzen der privaten durch eine nationale Geschichte verunmöglichen, dass alltägliche soziale Themen wirkliche Relevanz innerhalb des Schulsystems erlangen können. […] Die Schule beginnt mit einer eigenen ‚Stunde Null‘, auf welche sich alle in ihrer Bildungskarriere zu beziehen haben. Die formalrechtliche Gleichbehandlung findet hier ihre wichtigste Stütze, welche sich auch nachhaltig ins Bewusstsein einzuprägen vermag, weil sie durch das Zeremoniell des ersten Schultages gefestigt, real erlebt worden ist. Die Chancengleichheit bezieht sich in der Folge auf das Prinzip der Jahrgangsklasse, welches auch hier nur scheinbare Gleichheit zu vermitteln vermag. Im Jahrgang sind wesentliche Unterschiede des Geburtszeitpunktes und der individuellen intellektuellen, körperlichen und psychosexuellen Entwicklung verdeckt. Die ‚Stunde Null‘ erfasst sämtliche relevanten Dimensionen des späteren Schulalltags und bildet die Basis für die individualistische, leistungsbezogene Perspektive auf die im Bildungssystem vermittelte Bildungsarbeit. So sind einmal die objektiven materiellen Bedingungen für jeden Schüler und jede Schülerin primär gleich: Die gleichen Lehrmittel, die gleichen Plätze, dieselben Hilfsmittel, dieselbe Lehrperson usw. suggerieren, dass für alle Schulanfänger die Startbedingungen vergleichbar seien. Genauso wie die Angebotsseite der Schule an ihre neuen Absolventen eine Gleichbehandlung in formaler Hinsicht durchsetzt, so sind auch die zu erleidenden Einschränkungen für alle gleich: Alle haben sich den neuen raumzeitlichen Einschränkungen zu unterziehen, alle haben denselben Stoff zu lernen und dies in derselben Zeit. Dabei wird im Regelfall von gleichen Voraussetzungen in der Gesellschaft für die Individuen ausgegangen, so dass letztendlich alle Unterschiede auf Unterschiede in den Individuen selbst zurückgeführt werden können und müssen. So müssen dann alle Differenzierungen, die die Schule weiter bereithält, auf unterschiedliche Eigenschaften, –
25
Mechtild Gomolla
seien es Unterschiede im Vermögen oder in der Bereitschaft, zurückgeführt werden können. Das System ist mit dem Prinzip der Chancengleichheit scheinbar vollständig entlastet.“ (GRAF/LAMPRECHT 1991, 80f.)
1.2
Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Schule für alle?
Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rücken gesellschaftliche Kräfte, die für die Liberalisierung und Demokratisierung der Schule eintreten, immer wieder die Forderung nach einer integrativen Gestaltung von Schule und Unterricht in den Mittelpunkt. Ein Meilenstein war die Einführung der vierjährigen Grundschule als undifferenzierter Elementarschule für alle schulpflichtigen Kinder in der Weimarer Republik 1919/1920. In pädagogisch-didaktischer Hinsicht konnte die Grundschule auf Konzepte unterschiedlicher reformpädagogischer Strömungen zurückgreifen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts an der ‚inneren Erneuerung‘ der Schule interessiert waren. Zuletzt in Preußen 1908 wurde auch für Mädchen der Zugang zu höheren Schulabschlüssen und zum Universitätsstudium eröffnet (vgl. DIEDERICH/TENORTH 1997, S. 58). Erst in den 1960er Jahren wurde in der Bundesrepublik auch in den höheren Schulen gemeinsamer Unterricht für Mädchen und Jungen eingeführt. Aus den Reformdebatten der 1960er und 1970er Jahre ging als zentrales Vehikel zum Abbau sozialer Ungleichheit die Gesamtschule hervor. Sie konnte jedoch lediglich in Ergänzung zum dreigliedrigen Sekundarschulsystem etabliert werden. In den Neuen Bundesländern wurde nach 1989/90 mit Ausnahme 26
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
des Landes Sachsen-Anhalt allerdings auf die Einführung der Hauptschule verzichtet. Ab 1976 wurden in der Bundesrepublik zahlreiche Schulversuche mit Integrationsklassen durchgeführt, die in den 1980er Jahren ausgeweitet wurden. Der Großteil der Kinder mit ‚sonderpädagogischem Förderbedarf‘ wird jedoch nach wie vor separiert in Sonderschulen unterrichtet (vgl. KMK 2008). Seit Beginn dieses Jahrzehnts sind widersprüchliche Entwicklungen zu verzeichnen: Auf der einen Seite löste das schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems in internationalen Schulleistungsvergleichen – v.a. die hohe Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft (vgl. Kasten 4) – neue Debatten über die Abschaffung der frühen Selektion und der gegliederten Sekundarstufe aus. Vor dem Hintergrund eines drastischen Schülerrückgangs in den Hauptschulen werden in vielen Bundesländern unterschiedliche Modelle zur Zusammenlegung der Real- und Hauptschulen oder einer schrittweisen Einführung von Gemeinschaftsschulen, in denen alle Kinder bis zur 8. oder 10. Klasse gemeinsam lernen, erprobt. Eine wichtige Innovation ist ferner die Flexibilisierung der Schuleingangsphase, mit der ansatzweise das strikte Jahrgangsklassenprinzip aufgebrochen wird. Auf der anderen Seite werden Tendenzen zur Homogenisierung durch Reformen im Bildungssystem, die die Schulen zwingen, stärker nach ökonomischen Nutzenkalkülen zu arbeiten, verstärkt. Im Kontext der zunehmenden Marktöffnung der Bildungssysteme und erweiterten Möglichkeiten zur freien Schulwahl für Eltern und Schülerinnen und Schüler, wird es für Kinder aus Armutsverhältnissen, mit Migrationshintergrund oder mit ‚besonderen Lernbedürfnissen‘ zunehmend schwieriger, einen Platz an einer nach akademischen Gesichtspunkten ‚guten Schule‘ zu erhalten. Sie landen vermehrt in sogenannten ‚Restschulen‘, an denen auch das oft außerordentlich hohe Engagement von Lehrkräften, Eltern und Schülerinnen und Schülern die vielfältigen strukturellen Benachteiligungen nicht kompensieren kann. In diesem Zusammenhang ist auch die zunehmende Standardsorientierung für die Arbeit in heterogenen Lerngruppen umstritten (vgl. GEILING/HINZ 2005, S. 103-134). 1.3
Schulpolitische Antworten auf migrationsbedingte Heterogenität
Ausgehend von dem bis Ende der 1990er Jahre vorherrschenden Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Nicht-Einwanderungsland und von der Vorstellung, die ausländischen Familien kehrten bald in ihre Heimat zurück, wurden für die ab 1955 einreisenden ‚Gastarbeiterkinder‘ zunächst keinerlei Vorkehrungen zur schulischen Integration getroffen (vgl. KRÜGER-POTRATZ 2005; zum Umgang mit Zuwanderung im Bildungswesen der DDR: 1991). Erst 1964 27
Mechtild Gomolla
beschloss die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) die Schulpflicht für ausländische Kinder und erklärte gemeinsamen Unterricht mit autochthonen Kindern zum Regelfall. Durch Maßnahmen der äußeren Differenzierung in Vorlaufgruppen, Vorbereitungs- oder Förderklassen und zusätzliche Förderstunden, Hausaufgabenhilfe, Zusammenarbeit mit Eltern, etc. nach dem Wechsel in die Regelklasse, sollte den ausländischen Kindern und Jugendlichen der Anschluss ermöglicht werden. Unterricht in den Erstsprachen diente v.a. der Vorbereitung auf eine mögliche Rückkehr in die Herkunftsländer und war vom regulären Schulunterricht abgekoppelt. Seit Ende der 1970er Jahre stand der Erwerb von Deutsch als Zweitsprache im Vordergrund. In mehreren Bundesländern wurden Lehrpläne und Materialien für den Zweitsprachenunterricht, Formen der zweisprachigen Alphabetisierung und erste diagnostische Verfahren zur Sprachstandsfeststellung entwickelt. In der ausländerpädagogischen Perspektive auf die Defizite der betroffenen Schülerinnen und Schüler, ihrer Familien und ihrer vermeintlichen ‚Kultur‘ blieb es aber bei einem völlig unzureichenden System organisatorischer ‚ad-hoc-Maßnahmen‘. Eine Neuausrichtung des Unterrichts und der Schulorganisationen an die veränderten sozialen Bedingungen wurde nicht ins Auge gefasst. Auch die in den 1980er Jahren verabschiedeten Erlasse zum ‚Unterricht für ausländische Schüler‘ (zuerst in Nordrhein-Westfalen 1982) zielten v.a. auf die Aufhebung der organisatorischen Separierung, die durch das Vorbereitungsklassensystem verfestigt wurde und setzten primär auf die akkulturierende Wirkung der äußerlichen Integration. Die 1996 verabschiedete KMK-Empfehlung ‚Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule‘ (KMK 1996) setzte erstmals die Tatsache einer kulturell und sprachlich pluralen Gesellschaft als Ausgangspunkt. Der Fokus auf ausländische Kinder als Zielgruppe wurde fallengelassen. Interkulturelle Bildung wurde als allgemeiner Erziehungsauftrag definiert, der als Spezial- und Querschnittsaufgabe in der Schule behandelt werden soll. In dieser an sich weitreichenden Empfehlung wurde die Auseinandersetzung mit Differenz allerdings primär auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler und auf die sozialen Interaktionen im Schulleben bezogen. Der Schulmisserfolg vieler Kinder und Jugendlicher mit Migrationshintergrund wurde nur indirekt thematisiert. Erst die großflächigen Schulleistungsstudien Anfang diesen Jahrzehnts haben das Gefälle beim Zugang zu höher qualifizierenden Bildungsgängen entlang der Trennlinien Ethnizität, soziale Herkunft und Geschlecht und damit auch die Frage, wie sich Migration auf Bildung und wie sich Bildung auf die Integration Zugewanderter und ihrer Nachfahren auswirkt, auf die Agenda gebracht.
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Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
KASTEN 3 f
Chancengleichheit als Qualitätskriterium im Bildungsbereich
„Die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund muss in allen Bildungsbereichen zum Qualitätskriterium werden. Dem sollte auch die aktuelle Debatte um die Entwicklung von Bildungsstandards, Bildungsevaluation und -berichterstattung Rechnung tragen.“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2005a, S. 12)
2
Empirische Befunde zum Umgang mit Heterogenität im Unterricht
2.1
Bildungsungleichheit – Daten und Erklärungsperspektiven
Um die (Un-)Gleichbehandlung sozialer Gruppen im Bildungssystem zu erfassen, sind in der quantitativen Bildungsforschung drei Indikatoren gebräuchlich: die Bildungsbeteiligung (Anteilswerte und Beteiligungsquoten von Gruppen in Schulformen), die Schulleistung (Noten, Testergebnisse, Übergänge) und der Bildungserfolg (formale Abschlüsse) (vgl. DIEFENBACH 2007). Die in Kasten 4 zusammengefassten Daten verdeutlichen die Bildungsbenachteiligungen von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien: KASTEN 4 f
Daten zur Bildungsungleichheit
•
Die Beteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund in den Kindergärten unterscheidet sich kaum noch von der deutscher Kinder. Die Logik der Aussonderung spiegelt sich in den überproportionalen Zurückstellungen ausländischer Kinder beim Schuleintritt (vgl. KONSORTIUM BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG DEUTSCHLAND 2006).
•
Die Überrepräsentanz ausländischer Kinder und Jugendlicher an Sonderschulen hat sich zu einem Dauerproblem verfestigt. Im Jahr 2002 lag im Bundesdurchschnitt die Wahrscheinlichkeit für ausländische Schülerinnen und Schüler auf eine Sonderschule mit Förderschwerpunkt Lernen überwiesen zu werden, im Vergleich zu deutschen Gleichaltrigen um mehr als das Doppelte höher. Dabei ist die Spannbreite zwischen den Bundesländern wie auch zwischen einzelnen Nationalitätengruppen beträchtlich (vgl. DIEFENBACH 2007; KORNMANN 2009).
29
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•
Während im Schuljahr 2005/06 nur knapp 15% aller deutschen Schülerinnen und Schüler eine Hauptschule besuchten, lag der Anteil bei den ausländischen bei knapp 41% (vgl. DIEFENBACH 2007). Kinder mit Migrationshintergrund wechseln ferner häufiger von höheren auf niedrigere Sekundarschulgänge (vgl. AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2008).
•
Das Risiko, eine Klasse zu wiederholen, ist bei Kindern mit Migrationshintergrund in den Jahrgangsstufen 1 bis 3 viermal höher als bei anderen (vgl. KONSORTIUM BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2006).
•
Laut IGLU-Studie ist bei gleichem sozialen Status und gleicher Lesekompetenz die Wahrscheinlichkeit von Kindern mit Migrationshintergrund, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, fünfmal geringer als bei Einheimischen (vgl. Bos u.a. 2003).
•
Im Hinblick auf die Lesekompetenz stellte die PISA-2000-Studie fest, dass fast die Hälfte aller getesteten Schülerinnen und Schüler, die und deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, in ihrer Lesekompetenz über die elementare Kompetenzstufe I (von insgesamt fünf Kompetenzstufen) nicht hinauskommen und dies, obwohl 70% von ihnen die gesamte Schullaufbahn in Deutschland absolviert hat (vgl. STANNAT et al. 2002). Obgleich die Grundschule tendenziell bessere Ergebnisse vorweisen kann, wurde auch in der IGLU-Studie 2006 noch immer eine signifikante Differenz zwischen den Lesekompetenzen von Kindern, deren Eltern beide im Ausland geboren sind und denen ohne Migrationshintergrund konstatiert (vgl. BOS u.a. 2007).
•
Knapp 18% der ausländischen im Vergleich zu rund 7% der deutschen Jugendlichen verlässt die Schule ohne Abschluss. 40% der ausländischen im Vergleich zu 15% der deutschen Jugendlichen bleiben ohne abgeschlossene Berufsausbildung (vgl. DIE BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION 2007).
So offensichtlich die Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sind, so kontrovers werden die Ursachen für diese Schieflage diskutiert (als Überblick vgl. GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006, S. 151ff.; DIEFENBACH 2007). Grob lassen sich drei Erklärungslinien voneinander abgrenzen. Im Blickpunkt stehen entweder •
30
strukturell unterschiedliche Ausgangsbedingungen der Kinder (v.a. mangelnde materielle, soziale und kulturelle Ressourcen);
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
• •
sekundäre Herkunftseffekte (v.a. Bildungsaspirationen und -strategien als Folge milieutypischer Erfahrungen und Tradierungen); Merkmale der Institution Schule (v.a. Effekte des Lehrerhandelns, Kontextbedingungen des Schulbesuchs, Mechanismen institutioneller Diskriminierung).
Im Folgenden werden Ergebnisse empirischer Studien vorgestellt, die plausibel machen, dass und wie Bildungsverläufe vom professionellen Handeln der Lehrkräfte und den organisationalen Handlungskontexten in Unterricht, Schulen und dem Bildungssystem als Ganzem entscheidend mitbestimmt werden. 2.2
Heterogenität im beruflichen Handeln von Lehrkräften
Der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität im professionellen Handeln von Lehrerinnen und Lehrern ist seit den 1990er Jahren vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden (als Überblick vgl. GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006, S. 165ff.; EDELMANN 2007, S. 49ff.). Insgesamt zeichnen die vorliegenden Studien ein wenig zufriedenstellendes Bild. Allerdings zeigen sich deutliche Brüche in den Problemwahrnehmungen und Handlungsmustern einzelner Lehrkräfte. Neuere Arbeiten legen insbesondere nahe, dass Fortbildungen zum Umgang mit der sprachlich-kulturellen Heterogenität im regulären Unterricht, die Einbindung in Teamstrukturen und umfassende Schulentwicklungsstrategien die Professionalisierung maßgeblich fördern. Zentrale Befunde lassen sich auf drei Punkte zusammenfassen: 2.2.1 Mangelnde Anpassung von Unterricht und Schule an Heterogenität Der Großteil der Literatur zeigt, dass die Schul- und Unterrichtsstrukturen weitgehend an den Normalitätserwartungen der gesellschaftlichen Mehrheit orientiert sind. Dies wirkt sich auf die Handlungsorientierungen und Strategien der Lehrkräfte aus. Wenn Unterrichtsstrukturen und -praktiken nicht konsequent auf die Förderung von Kindern mit einem breiten Spektrum von sprachlichen Voraussetzungen und Lebenshintergründen ausgerichtet sind, wird die migrationsbedingte sprachlich-kulturelle Heterogenität nicht nur von Berufsanfängerinnen und -anfängern (vgl. BENDER-SZYMANSKI 2001), sondern auch von erfahrenen Lehrkräften als Verunsicherung erlebt. Wie schon in frühen Untersuchungen aufgezeigt (vgl. CZOCK/RADTKE 1984) werden bis heute die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Entwicklungsstände der Kinder, die zu bearbeiten Aufgabe des Unterrichts sein sollten, als Störung und Beeinträchtigung der Lehrerarbeit wahrgenommen. Vorfindbare 31
Mechtild Gomolla
Lernschwierigkeiten (z.B. mangelnder Zugang zum Unterrichtsstoff, fehlendes Verständnis von Arbeitsanweisungen, Redehemmungen, Aufmerksamkeits- und Disziplinprobleme) werden nicht auf den Unterricht bezogen, sondern als Resultat ihrer defizitären sprachlichen und fachlichen Voraussetzungen den Schülerinnen und Schülern angelastet. Auf diese Weise entsteht eine Dynamik in den Organisationen, in der sprachliche und sozio-kulturelle Differenzen v.a. zur Rechtfertigung für schulisches Scheitern und Ausgrenzung genutzt werden (vgl. z.B. GOGOLIN 1994; AUERNHEIMER u.a. 1996; GOGOLIN/NEUMANN 1997; WEBER 2003). In einer von der Verfasserin mit durchgeführte Untersuchung schulischer Entscheidungspraktiken an zentralen Übergangsschwellen im Verlauf von Schulkarrieren (v.a. Einschulung, Umschulung auf eine Sonderschule, Übergangsempfehlung für eine Sekundarschulform) konnte anschaulich nachgezeichnet werden, wie in den allfälligen organisatorischen Prozessen der Differenzierung und Auslese – primär unter dem Ziel, homogene Lerngruppen zu bilden – systematisch von stereotypisierenden Zuschreibungen hinsichtlich des sprachlichen und sozio-kulturellen Hintergrundes als Indikatoren für das Lernund Leistungsvermögen eines Kindes Gebrauch gemacht wurde – mit dem Ergebnis, dass Kinder auf vielfältige Weise negativer beurteilt wurden als ihrem Leistungsvermögen entsprach, vom Regelunterricht ausgegrenzt und in anforderungstieferen Bildungsgängen platziert wurden. Dabei erwiesen sich die diskriminierenden Entscheidungsmuster als eng verzahnt mit der organisatorischen Handlungsrationalität der Schule als Ganzes (vgl. GOMOLLA/RADTKE 2007). Etwa wenn in allfälligen Entscheidungen über die Einschulung von Kindern das Interesse, den Anteil mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler in den Klassen niedrig zu halten, Strategien der Ethnisierung Vorschub leistet (z.B. die Feststellung einer Schulleiterin „Mangelnde Sprachkenntnisse gehen oft Hand in Hand mit anderen Schwierigkeiten, die das Kind noch hat.“; ebd. S. 172). Solche Muster der Kulturalisierung sind für die Organisationen funktional. Diskriminierende Wirkungen für die betroffenen Kinder werden mit Verweis auf die begrenzten Kapazitäten und Möglichkeiten der Schule offenbar hingenommen. 2.2.2 Ein gutes Schulklima ist kein Schutz vor Selektion In den vergangenen Jahrzehnten haben vereinzelte Lehrkräfte an der Basis z.T. ein hohes Engagement entwickelt, um ihre Angebote und Praxis besser auf migrationsbedingte Heterogenität abzustimmen. Obgleich solche Anstrengungen vielfach zu einem besseren Schulklima und zu einem graduellen Wandels schulischer Strukturen und Arbeitsabläufe beitragen, machen umfassendere Fallstudien ersichtlich, dass trotz dieser Anstrengungen Mechanismen der Benachteili32
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
gung und Ausgrenzung entlang sprachlich-kultureller Trennlinien intakt bleiben können. Beispielsweise zeigten Ingrid GOGOLIN, Ursula NEUMANN und Kolleginnen und Kollegen (vgl. GOGOLIN 1994; GOGOLIN/NEUMANN 1997) an einer Grundschule in der Hamburger Innenstadt auf, wie die Mehrsprachigkeit im Schulalltag zwar in vielerlei Hinsicht berücksichtigt wurde (z.B. Anwesenheit von Lehrkräften mit türkischem Herkunftshintergrund, türkischsprachige Mitteilungen an Eltern, bilinguale Alphabetisierung). Dennoch habe dieser Wandel eine von allen Lehrkräften geteilte „monolinguale Grundüberzeugung“ unangetastet gelassen. Im Gegenteil: „Die […] herausgehobene Stellung des Türkischen an der untersuchten Schule beinhaltet die tendenziell negative Einschätzung ihres Einflusses auf den Schulerfolg der Kinder“ seitens der Lehrpersonen (GOGOLIN 1994, S. 70). Das Türkische im Schulalltag hatte v.a. Hilfsfunktionen, um den Zweck des Unterrichts zu erreichen („,Bei der Arbeit sprechen wir Deutsch‘“; ebd., S. 72). Die Handlungsweisen türkischer Kinder und ihrer Familien wurden nach wie vor als Beeinträchtigung der schulischen Routinen wahrgenommen. Die Verfasserin untersuchte die Reichweite von Strategien zur ‚interkulturellen Öffnung‘ am Fallbeispiel einer nordrhein-westfälischen Grundschule (vgl. GOMOLLA 2005, S. 117ff.). Auch hier war es der Schulleiterin und den Lehrkräften gelungen, in unterschiedlichen Feldern des schulischen Handelns (v.a. Sprachförderung beim Schuleintritt, Kooperation mit Eltern, Vernetzung mit einer Vielzahl von Institutionen im Stadtteil, soziales und interkulturelles Lernen, außerunterrichtliche Lern- und Freizeitangebote) kreative Lösungen zu entwickeln, um der sprachlich-kulturell heterogenen Schülerschaft und den ungünstigen sozio-ökonomischen Ausgangsbedingungen im Stadtteil besser gerecht zu werden. Allerdings wurden Fragen des Schulerfolgs kaum explizit berücksichtigt. Die für den Bildungserfolg relevanten Prozesse im regulären (Fach-)Unterricht, die Praxis der Beurteilung von Schülerleistungen und schullaufbahnrelevante Entscheidungen blieben von den Veränderungsstrategien in den Schulen weitgehend unangetastet. 2.2.3 Schulische Gesamtstrategien fördern die Professionalisierung Diverse Studien machen ersichtlich, dass Lehrerinnen und Lehrer und Fachkräfte in Kindergärten im Umgang mit der sprachlich-kulturellen Heterogenität sehr unterschiedliche Handlungsstile entwickeln, die sich zwischen den Polen des ‚Ignorierens‘ und eines ‚professionellen Umgangs‘ mit der Facetten der Differenz und Vielfalt bewegen (vgl. BENDER-SZYMANSKI 2001; WALTER 2001; LANFRANCHI 2002). Diese individuellen Handlungsprofile sind oft von Orientierungen und Kompetenzen beeinflusst, die nicht in der Institution Schule erwor33
Mechtild Gomolla
ben werden (z.B. ein eigener Migrationshintergrund, Auslandserfahrungen). Mit anderen Worten: ein kompetenter Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität in Kindergärten und Schulen hängt weitgehend vom Zufall ab! Neuere Studien bestätigen allerdings, dass gezielte Fortbildungen, v.a. aber auf die Heterogenität bezogene Teamarbeit und schulische Gesamtstrategien die professionellen Handlungskompetenzen im Umgang mit Heterogenität entscheidend verbessern (vgl. GOMOLLA 2005, 2009). Doris EDELMANN (2007) untersuchte die Handlungsorientierungen von 40 Lehrerinnen und Lehrern, darunter 15 Lehrpersonen mit Migrationshintergrund, an 29 Primarschulen im Kanton Zürich. Da Ende der 1990er Jahre der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität zum Ausbildungsziel für alle Lehrkräfte erklärt und parallel das Schulentwicklungsprogramm ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS) flächendeckend institutionalisiert wurde, waren etliche der Befragten in umfassendere auf die sprachlich-kulturelle Heterogenität bezogene Schulentwicklungsprojekte involviert. EDELMANN identifizierte auf der Basis ihres Interviewmaterials vier idealtypische Handlungsorientierungen hinsichtlich der sprachlich-kulturellen Heterogenität: (1.) den bewussten Einbezug des kulturellen, sprachlichen und religiösen Wissens der Kinder im Unterricht aller Fächer; (2.) die Konzentration auf die Vermittlung guter Kenntnisse der Unterrichtssprache, wobei die Sprachenvielfalt als Chance für alle akzentuiert wird; (3.) eine hohe Aufmerksamkeit für soziale Integration im Klassenverband und Wertschätzung aller Kinder in ihrer Individualität, ohne Merkmale der Differenz explizit zu thematisieren und (4.) eine abgrenzend-distanzierte Haltung – bei diesem Typus habe die Heterogenität keinerlei Bedeutung für pädagogisches Handeln. Auch in EDELMANNS Studie war der Umgang mit der Heterogenität stark vom individuellen Engagement bestimmt, das wiederum oft mit einem eigenen Migrationshintergrund oder einer binationalen Partnerschaft geprägt war. Darüber hinaus erwies sich jedoch auch als ausschlaggebend, ob die befragten Lehrpersonen durch innovative Teamstrukturen unterstützt wurden oder als Einzelstrategen agierten. z.B. von denjenigen, die dem ‚abgrenzend-distanzierten Typus‘ zugeordnet werden konnten, war keine in Teamarbeit integriert. Als zentrale Bedingung für die aktive Auseinandersetzung mit sprachlich-kultureller Heterogenität im Unterricht, sowie enge Kooperation mit Eltern und Fachlehrkräften erwiesen sich die explizite Erläuterung dieser Ziele im Schulprogramm und ihre Unterstützung durch Schulleitungen. Zudem verfügten alle Lehrpersonen, die dem sprachorientierten Typus zugeordnet werden konnten, über mindestens eine Zusatzqualifikation im Bereich Deutsch als Zweitsprache.
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3
Heterogenität als Anlass unterrichtsbezogener Schulentwicklung
Im Anschluss an internationale Reformen nimmt mittlerweile auch in Deutschland das Bemühen um die Verbesserung der Qualität im Bildungswesen in Forschung, Politik und Schulpraxis breiten Raum ein. Dies zeigt sich v.a. in der wachsenden Verbreitung von Assessment-Programmen wie TIMSS, PISA und IGLU, dem Aufbau einer neuen Evaluationskultur und der Aufforderung an Schulleitungen und Lehrkräfte, im Rahmen der sogenannten ‚Teilautonomie‘ ein individuelles Schulprofil und -programme zu entwickeln und die schulischen Angebote und Praktiken besser auf lokale Bedürfnisse auszurichten. Die Forschung zur Schulqualität hat in den letzten Jahren zu neuen Verbindungen der interkulturellen Bildungsforschung mit allgemeinen schulpädagogischen und bildungspolitischen Fragestellungen geführt. Wie im vorhergehenden Abschnitt deutlich wurde, hat sie hinsichtlich des Problems der Bildungsungleichheit zu einer Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Merkmalen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien auf die institutionellen Bedingungen des Lernens und Lehrens beigetragen. KASTEN 5 f
Schulqualität und Chancengleichheit: eine wechselvolle Geschichte
Auch wenn das Paradigma der ‚Schulqualität‘ – als Forschungsansatz, populäres politisches Konzept und Set von Praktiken – zumeist mit den Begriffen ‚Heterogenität‘, ‚Chancengleichheit‘ und ‚schulischer Wandel‘ konnotiert ist, entfaltet der Schulqualitätsdiskurs unter dem Blickwinkel der sozialen Gerechtigkeit sehr konträre Wirkungen. Das Paradigma der ‚Schulqualität‘ (engl.: school effectiveness) entstand in den 1970er und 1980er Jahren in den USA und Großbritannien. In Abgrenzung von der Sichtweise, die Bildungschancen eines Kindes seien gänzlich durch das Elternhaus bestimmt, suchten frühe Arbeiten zur Schuleffektivität zu beweisen, „all children are eminently educable and [...] the behaviour of the school is critical in determining the quality of that education“ (EDMONDS 1979, S. 29). Im Mittelpunkt stand die Identifikation von Schulmerkmalen (z.B. klare Schulmission, entschiedenes Schulleitungshandeln, unterstützendes und sicheres Schulklima, angepasste Curricula und Unterrichtsmethoden, regelmäßiges Monitoring der Lernfortschritte, positive Beziehungen zwischen Schule und Eltern und Gemeinden), die in der Lage sein sollten, die Leistungen von Kindern in den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen unabhängig von ihrem
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Mechtild Gomolla
sozio-ökonomischen Status zu steigern. Kerngedanken der frühen Schulqualitätsforschung, v.a. der Fokus auf hohen akademischer Leistungen und dem Abbau sozialer Disparitäten, sowie auf den zur Umsetzung dieser Ziele erforderlichen organisationalen Veränderungsprozessen, haben in den anglo-amerikanischen Ländern Konzepte der ‚multicultural education‘ (vgl. BANKS 2004) oder der ‚inklusiven Bildung‘ (vgl. CAMPBELL 2002) geprägt. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Gleichheitsziele jedoch mit der zunehmenden Nutzbarmachung von school effectiveness/school improvement als Steuerungskonzept in vielen Ländern vom Interesse an hohen Standards in den Grundlagenfächern, der Unterordnung öffentlicher Schulbildung unter die Ökonomie und Tendenzen zur Deregulierung und Privatisierung von der Agenda verdrängt. Wie am Beispiel England besonders deutlich wird entfaltet die Qualitätssteuerung in diesem veränderten politischen Kontext homogenisierende bzw. repressive Wirkungen im Umgang mit Heterogenität (z.B. Verdrängung von sozialen Lernen, ästhetischer Erziehung und politischer Bildung aus dem Aufgabenspektrum von Schule; verschärfte soziale Selektion beim Zugang zu und innerhalb von Schulen; vgl. GILLBORN/YOUDELL 2000; GOMOLLA 2005). Seit den 1990er Jahren finden sich in Ländern wie z.B. Großbritannien und die Schweiz neue Initiativen, um Aspekte der sprachlichen und sozio-kulturellen Heterogenität und Ziele der Gleichstellung in die Qualitätsentwicklung in Bildungssystem und Schulen zu integrieren. Als Modell für einen solchen ‚Mainstreaming-Ansatz‘ im deutschen Sprachraum ist das Zürcher Programm ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ wegweisend (vgl. www.quims.ch). Die neuere – in einem breiten Verständnis des Begriffs – ‚interkulturelle‘ Schulqualitätsforschung schließt an aktuelle Stränge innerhalb der Forschung zur Schuleffektivität an, die die Prozesse im Unterricht in den Mittelpunkt rücken, darüber hinaus aber auch die schulischen Rahmenbedingungen, die mittelbaren Einfluss auf das Unterrichtshandeln haben (z.B. Teamstrukturen, das Vorhandensein von Beratungssystemen, die Qualität der Lehreraus- und -fortbildung) einbeziehen (vgl. RUESCH 1999; ohne spezifischen Bezug zu Migration: DITTON 2000).
Der Zürcher Schulforscher Peter RÜESCH (1999, 2000) hat auf der Basis einer Analyse der internationalen Literatur zur Wirksamkeit von Unterricht und Schule ein Modell zur Qualitätsentwicklung im sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Umfeld entwickelt. Demnach müssen Interventionen v.a. an den Prozessen im Klassenzimmer und an der aktiven Ausgestaltung der Beziehung der Schule zu Eltern ansetzen, da die Prozesse im Unterricht und das Elternhaus das Lernen direkt beeinflussen. Die Aktivitäten auf diesen Ebenen müssen jedoch durch ein positives pädagogisches Klima in der Schulorganisation als 36
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
Ganzes und durch Maßnahmen im weiteren institutionellen Umfeld der Schule abgestützt sein. Da die Interventionsfelder der Schulentwicklung wechselseitig voneinander abhängen, erfordert die Gestaltung inklusiver Schulen vor allem eine kohärente Gesamtstrategie: „Diese muss die verschiedenen Handlungsebenen innerhalb einer Schule – vom Unterricht der einzelnen Lehrperson über die Zusammenarbeit in Lehrerteams bis hin zur Verankerung der Schule in ihrem Quartier – gleichzeitig erfassen“ (ebd., S. 15). KASTEN 6 f
Interventionsfelder der Schulentwicklung (RÜESCH 2000, S. 15)
Schulumfeld - Bevölkerungsstruktur - Gesetze, Systeme - Behörden
Elternhaus - Lernanregungen - Elternengagement - Soziale Schicht - Kulturelle Herkunft
Schulhaus - Zielsetzungen - Leistungsformen - Teamprozess - Organisation
Schulklasse - Unterricht - Soziale Interaktion - Kontext
Lernen des Kindes
Wie im vorangegangenen Abschnitt schon deutlich wurde, bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Studien und Evaluationen konkreter Programme, dass eine solche unterrichtsbezogene Schulentwicklung ein praktikabler Handlungsrahmen ist, in dem Lehrkräfte u.a. an der Schulentwicklung Beteiligte in konzertierter Anstrengung schulische Arbeitsstrukturen und -kulturen in einer inklusiven Richtung verändern können. Forschungsarbeiten, die dezidiert der Frage nachgehen, wie ein hohes intellektuelles Niveau der schulischen Arbeit von Lernenden und Lehrenden, das sich auch in guten Fachleistungen niederschlägt mit dem Ausgleich vorfindbarer Disparitäten in den Bildungserfolgen verbunden werden kann, sind jedoch noch immer die Ausnahme. In Kasten 7 sind exemplarisch drei prominente Beispiele aus der amerikanischen Schulforschung aufgeführt, die dieses Ziel explizit verfolgen.
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Mechtild Gomolla
KASTEN 7f
Unterrichtsqualität und Abbau von Bildungsungleichheit
Robert SLAVIN (1996) geht in seinem QuAIT-Modell (Quality, Appropriatness, Incentives, Time) von vier zusammengehörigen Schlüsselmerkmalen des Unterrichtserfolgs aus: (a) Qualität der Lehre: Gutes Klassenmanagement, klare Strukturierung des Unterrichtsverlaufs, Übungsintensität, Verständlichkeit der Inhalte, Nutzung von Schülerfeedback; (b) Angemessenheit der Unterrichtsführung: Schwierigkeitsniveau, individuelle Unterstützung; (c) Hohe Motivierungsqualität: bedeutungsvolle Inhalte, lernfreundliches Klima, Vermeidung von Angst; (d) Von den Schülerinnen und Schülern aktiv genutzte Lernzeit: Hilfen der Lehrperson (gute Vorbereitung, Pünktlichkeit, angemessenes Tempo, Rhythmisierung), Beiträge der Schülerinnen und Schüler (gute Vorbereitung, Ausdauer und Rücksichtnahme, Selbstorganisation des Lernprozesses). Im Wisconsin-School Restructuring-Projekt gingen Fred M. NEWMANN u.a. davon aus, dass Leistungen, die als lohnenswert, bedeutsam und sinnvoll im realen Leben der Schülerinnen und Schüler erlebt werden (authentic achievement) die intellektuelle Qualität des Lehr-Lern-Geschehens steigern. Sie identifizierten drei Merkmale des Unterrichts, die Authentizität und eine hohe intellektuelle Qualität gewährleisteten: „(a) Construction of Knowledge – Students learn to organize, interpret an analyze information, instead of merely reproducing specific bits of knowledge from a textbook or classroom lecture. They learn to apply knowledge, not just collect facts. (b) Disciplined Inquiry – Using established knowledge in science, mathematics, history or literature, students develop indepth understanding. They express that understanding in an ’elaborate‘ way, such as writing an essay or engaging in a substantial discussion of the topic, instead of merely checking boxes or filling in the blanks on a test. (c) Value Beyond School – Students produce work, or solve problems, that have meaning in the real world.” (NEWMANN/WEHLAGE 1995, S. 1f.) Am ‚Center for Research on Education, Diversity, and Excellence‘ an der University of California, Santa Cruz identifizierte ein Forscherteam unter Leitung von Roland THARP (2000) fünf Prinzipien, die akademische Exzellenz befördern und diese auf alle Schülerinnen und Schüler ausweiten: (a) Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler arbeiten zusammen; (b) Förderung der sprachlichen und literalen Fähigkeiten in allen Fächern; (c) Verbindung der schulischen Inhalte mit dem Alltagsleben der Lernenden; (d) Vermittlung von komplexem Denken im Unterricht; (e) Lehren durch Konversation.
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Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
4
Zusammenfassung
Eine Möglichkeit, mit Differenz umzugehen, besteht darin, das Differente mit etwas zu vergleichen, welches ‚nicht different‘ bzw. normal ist. Auf dieser Auffassung basiert die Strategie, den ‚anderen‘ Kindern und Jugendlichen durch Sonder- und Zusatzmaßnahmen den Anschluss an die schulischen Lernangebote zu ermöglichen, die weiterhin an den idealisierten ‚normalen‘ Schülerinnen und Schülern ausgerichtet sind. Eine andere Möglichkeit besteht in der Annahme, dass es eine solche Normalität als Maßstab, an dem andere gemessen und beurteilt werden, nicht gibt. In Unterricht und Schule sind Räume zu schaffen, in denen vielfältige Differenzen in ihrem eigenen Recht bestehen können, z.B. Lerngruppen, in denen alle ihre Kompetenzen einbringen und Differenzen zur Quelle reicher Lerninteraktionen werden können. Dies bedeutet keineswegs, unterschiedliche Lernbedürfnisse oder etwa unterschiedliche religiöse Praktiken, lebensweltliche Erfahrungen oder genderspezifische Präferenzen zu ignorieren. In einer solchen transformativen Perspektive kommt es jedoch v.a. darauf an, soziale Bewertungsstrukturen – die nicht nur in den alltäglichen Interaktionen eine Rolle spielen, sondern auch in den Strukturen und Praktiken im Unterricht und in den Schulorganisationen institutionalisiert sind – sichtbar zu machen und zu verändern, so dass langfristig Differenzen untergraben und Raum für künftige Neugruppierungen entsteht. Fragen und Denkanstöße 1. Bitte sammeln Sie auf der Basis des Textes Beispiele für die Tendenz, dass auch pädagogische Handlungsansätze, die ,Heterogenität‘ als Voraussetzung des Unterrichts betonen, die realen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern wie von den Lehrkräften verfehlen können oder z.T. Formen der Stigmatisierung und Benachteiligung noch verstärken. 2. Inwiefern ist die Bevorzugung von Homogenität und die Vermeidung von Heterogenität der Organisation von Schule und Unterricht inhärent? 3. Erläutern Sie das komplexe Verhältnis zwischen dem Strukturprinzip der Homogenität und dem schulpolitischen Ziel der Chancengleichheit. 4. Diskutieren Sie die Vorteile und Grenzen von unterrichtsbezogener Schulentwicklung, um das schulische Lernen aller Schülerinnen und Schüler besser zu fördern und soziale Disparitäten in den Bildungserfolgen zu minimieren.
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Mechtild Gomolla
Literaturempfehlung OAKES, J./LIPTON, M. (2003): Teaching to Change the World. New York. Konventionelle Themen der Unterrichts- und Schulforschung (u.a. Lerntheorien, Curriculum, Unterricht und Leistungsüberprüfung, Klassenführung, organisatorische Differenzierung, Schulkultur) werden konsequent aus dem Blickwinkel der sprachlichen, sozialen und kulturellen Diversität und der Problematik der Bildungsungleichheit behandelt. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Zukunft des demokratisch verfassten Gemeinwesens entscheidend davon abhängt, ob alle Heranwachsenden eine qualitativ hochwertige und sozial gerechte Bildung und Erziehung erhalten und dass Schulen Institutionen sein können und müssen, die sowohl von höchsten intellektuellen Ansprüchen wie vom Ziel sozialer Gerechtigkeit bestimmt sind. In den einzelnen Kapiteln wird ein fundiertes philosophisches, historisches und soziologisches Hintergrundwissen vermittelt. Auf der Grundlage von kognitiven, soziokulturellen und konstruktivistischen Lerntheorien und Konzepten demokratischer Bildung werden pädagogische, didaktische und schulentwicklerische Perspektiven eröffnet.
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Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
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Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion
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Kapitel 2
Ulrike Hormel, Albert Scherr
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über pädagogische Konzepte, die auf die mit der ‚Tatsache Einwanderungsgesellschaft‘ verbundenen Bildungserfordernisse zu reagieren versuchen. Unser zentrales Argument lautet, dass die Bildungsmöglichkeiten im Unterricht, um nationalistischen, ethnozentristischen und rassistischen Tendenzen entgegen zu wirken, von breiteren strukturellen und institutionellen Bedingungen mitbestimmt sind. Hierzu zählen insbesondere ausländer- und integrationspolitische Bestimmungen, bildungspolitische Rahmenvorgaben und Merkmale einzelner Schulorganisationen und ihres spezifischen Umfeldes. Eine diversitätsbewusste Pädagogik kann daher nicht auf Aspekte der politischen Bildung und des sozialen Lernens im engeren Sinne begrenzt werden. Sie muss darüber hinaus auf die Überwindung strukturell und institutionell bedingter Formen der Diskriminierung ausgerichtet sein. In diesem Sinne ist es notwendig, die bislang getrennt geführten Debatten über die Bildungsbenachteiligung von Migrantinnen und Migranten einerseits und Erfordernisse Antirassistischer und Interkultureller Pädagogik andererseits zusammenzuführen. Erforderlich sind umfassende Strategien, die auf unterschiedlichen Gestaltungsebenen der Schulentwicklung ansetzen – neben dem Unterricht auch auf der Ebene der schulischen Organisationsentwicklung, der curricularen Vorgaben, der Aus- und Weiterbildung für pädagogische Berufe bis hin zu den bildungspolitischen Festlegungen der Gliederung des Schulsystems.
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Ulrike Hormel | Albert Scherr
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Ausgangsbedingungen und pädagogische Leitorientierungen
1.1
Schulerfolg und Schulerfahrungen von Kindern aus Einwandererfamilien
Unterrichtsqualität – und dies gilt für das Erreichen fachlicher wie sozialer Lernziele – wird von einer Reihe von Faktoren mitbestimmt, die außerhalb der Reichweite des pädagogischen Handelns von Lehrpersonen liegen. Ob Schülerinnen und Schüler die Schule etwa als einen Ort begreifen, an dem sie für sich relevante Bildungschancen vorfinden und ob sie davon überzeugt sind, dass schulisches Lernen ihnen erstrebenswerte berufliche Perspektiven eröffnet, hängt nicht unwesentlich von Sozialisationsprozessen in ihrem Herkunftsmilieu ab – aber auch davon, welche faktischen Chancen ein Hauptschul-, Realschuloder Gymnasialabschluss eröffnet. Auch die Zusammensetzung einer Schule und einer Schulklasse hat Auswirkungen auf die Lernprozesse. Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur von den Lehrkräften, sondern auch voneinander und miteinander. So werden in der einschlägigen Forschung etwa Hauptschulklassen, in denen sich Schülerinnen und Schüler mit besonders schwierigen Lernbiografien und belastenden Lebenshintergründen übermäßig konzentrieren, vielfach als Lernprozesse erschwerende Mikromilieus dargestellt (vgl. SCHÜMER 2004). Die selektive Verteilung von Einheimischen und Migrantinnen und Migranten auf unterschiedliche Schultypen etabliert auch folgenreiche Bedingungen im Hinblick auf die Möglichkeiten Interkultureller und Antirassistischer Bildung: Sie konterkariert das Lernziel, dass Einheimische und Migrantinnen und Migranten sich als gleichberechtigte Individuen betrachten sollen, denn letztere finden sich mehrheitlich als Schülerinnen und Schüler vor, die auf ungleichwertigen Schulen ungleichwertige Abschlüsse erhalten. Die Struktur des viergliedrigen Schulsystems und die institutionelle Ordnung in Schulen – z.B. dass die Mehrsprachigkeit von Kindern nicht als Ressource betrachtet, sondern auf der symbolischen Ebene wie durch die bestehenden Lehr- und Lernarrangements weitgehend ignoriert wird (vgl. GOGOLIN 2005) – tragen dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler sich innerhalb einer hierarchisch nach Leistungs- und Altersgruppen gegliederten Sozialordnung erfahren, wobei Einheimischen und Zugewanderten typischerweise unterschiedliche Positionen zugewiesen sind. Diese Konstitution sozialer und ethnischer Differenzierungen im Schulalltag verbindet sich vielfach mit hoch problematischen, ideologisch konturierten Annahmen über vermeintliche soziale, kulturelle oder religiöse Besonderheiten 46
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
von ‚Migrantinnen‘ und ‚Migranten‘. Folgeeffekte von sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung werden wiederkehrend als Ausdruck ‚kultureller Unterschiede‘ missverstanden. Das Reden über ‚die Kultur‘ ‚der Migrantinnen‘ und ‚Migranten‘ dient dann der Legitimation ihrer Ungleichbehandlung. Obgleich kulturelle Differenz keineswegs ‚die Ursache‘ von Bildungsmisserfolg darstellt, können spezifische Erfahrungen – insbesondere der Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft – und nicht zuletzt dadurch mit bedingte kulturelle Bezugnahmen und Identifikationen als Bezugspunkt schulischen Lernens nicht folgenlos ignoriert werden. Damit Schülerinnen und Schüler die Schule als einen Ort erleben können, an dem für sie relevante Fragestellungen und Themen verhandelt werden, ist es erforderlich, ihre biografischen und aktuellen Erfahrungen in pädagogisch geeigneter Weise aufzugreifen. Dabei ist zu vermeiden, dass Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund offen und verdeckt mitgeteilt wird, dass sie als Angehörige einer Sondergruppe wahrgenommen werden, deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zur Schulgemeinschaft einen außergewöhnlichen Sachverhalt darstellt und deren Scheitern an schulischen Leistungsnormen erwartbar ist. Bildungstheoretisch und praktisch besteht die zentrale Lernherausforderung in der Überwindung der institutionalisierten Fiktion voraussetzbarer Gleichheit und Homogenität (vgl. TILLMANN 2004). So ist etwa sprachliche Heterogenität in Schulklassen eine nicht hintergehbare Realität, auf die nicht angemessen mit Ignoranz und Abwehr reagiert werden kann. Vielmehr gilt es, „Sprachenvielfalt als Chance“ (SCHADER 2000) für schulisches Lernen zu entdecken. Für die Entwicklung eines angemessenen Umgangs mit Heterogenität im Bildungssystem kommt es darauf an, zu hinterfragen, welche Normalitätserwartungen im Bildungssystem und in Schulen etabliert sind und welche Diskriminierungen und Benachteiligungen hieraus resultieren (vgl. GOMOLLA/RADTKE 2007; GOMOLLA 2005). 1.2
‚Normalfall Heterogenität‘: Lernherausforderungen und Lernblockaden
Migrationsprozesse können als zweiseitige Lernherausforderung charakterisiert werden: Migrantinnen und Migranten sind veranlasst, sich auf die Lebensbedingungen in der Aufnahmegesellschaft einzustellen. Einheimische bzw. die Institutionen der Aufnahmegesellschaft sind zur Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Wandel aufgefordert, der durch Migration mit bedingt ist bzw. durch die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten in besonderer Weise sichtbar wird. Solche in modernen Einwanderungsgesellschaften erforderlichen Lernprozesse gelingen in vielen Bereichen des Alltagslebens oft recht 47
Ulrike Hormel | Albert Scherr
unspektakulär als pragmatischer Wissens- und Kompetenzerwerb der beteiligten Akteure und Institutionen. Ein Verständnis der ‚nationalen Kultur‘ des Einwanderungslandes als ‚Leitkultur‘ – d.h. als ein vermeintlich eindeutig bestimmter und abgrenzbarer Komplex von Normen und Werten, für die eine Vorrangstellung beansprucht werden kann – und damit einhergehende Dominanzansprüche, stellen dagegen eine Lernblockade dar: Lernen wird von ‚den Anderen‘ im Sinne einer Anpassungsleistung erwartet. Sie wird von denjenigen aber verweigert, die sich als Repräsentantinnen und Repräsentanten der nationalen Kultur begreifen. KASTEN 1 f
Dominanzkultur
Die Berliner Psychologin Birgit ROMMELSPACHER prägte in den 1990er Jahren den Begriff der Dominanzkultur. Gemeint ist damit, „… dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind. (…) Wobei Kultur hier in einem umfassenden Sinn verstanden wird, und zwar als das Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, insbesondere ihre ökonomischen und politischen Strukturen und ihre Geschichte zum Ausdruck kommen. Sie bestimmt das Verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in dieser Gesellschaft leben, und vermittelt so zwischen den gesellschaftlichen und individuellen Strukturen.“ (ROMMELSPACHER 1995, S. 22)
Vor diesem Hintergrund wird eine zentrale Aufgabe und Chance von Bildungsprozessen in der Einwanderungsgesellschaft darin gesehen, eine reflexive Auseinandersetzung mit eigenen Überzeugungen, Orientierungen und Gewissheiten und den Grundlagen des je individuellen Selbst- und Weltverständnisses zu ermöglichen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Schülerinnen und Schüler sich wechselseitig als Individuen mit heterogenen lebensgeschichtlichen (gesellschaftlichen, politischen, lebensweltlichen, ästhetischen usw.) Erfahrungshintergründen wahrnehmen. In solchen Bildungsprozessen sind Vorstellungen einer in sich geschlossenen und stabilen nationalen Kultur zu hinterfragen und ein Verständnis von ‚Kulturen‘ als offene und dynamische Gebilde zu entwickeln, die in sich heterogen und umstritten sind (vgl. AUERNHEIMER 2003; BANKS/MCGEE BANKS 2001; COHEN 1994; KRÜGER-POTRATZ 2005; QUEHL 2000).
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
KASTEN 2 f
Vielfalt – soziale und kulturelle Unterschiede
Migration ist – worauf Annedore PRENGEL bereits vor mehr als 10 Jahren in ihrer ‚Pädagogik der Vielfalt‘ (vgl. PRENGEL 1995) hingewiesen hat – keineswegs die alleinige Ursache sozialer und kultureller Heterogenität in modernen Gesellschaften. Migrationsbedingte Heterogenität ist vielmehr nur ein Element der Prozesse, die dazu geführt haben, dass in Schulen keineswegs mehr vorausgesetzt werden kann, dass alle Schülerinnen und Schüler z.B. über ähnliche Erfahrungen mit Erziehungsstilen, ein gemeinsames Verständnis über den angemessenen Umgang zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen verfügen oder in ihren Annahmen darüber übereinstimmen, was vermeintlich typisch männliche und typisch weibliche Verhaltensweisen sind. Unter Bedingungen moderner, sozial und kulturell heterogener (Einwanderungs-) Gesellschaften kann entsprechend nicht sinnvoll an ein selbstverständlich gegebenes Vorwissen über die vielfältigen impliziten Regeln appelliert werden, die festlegen, was als angemessenes oder wünschenswertes Verhalten gilt. Vielmehr wird eine Verständigung über wechselseitige Erwartungen erforderlich, wenn vermieden werden soll, dass diejenigen als ‚Problemschüler- und schülerinnen‘ etikettiert werden, denen die Normalitätsannahmen von (deutschen) Lehrkräften nicht schon deshalb bereits vertraut sind, weil sie mit denjenigen ihrer Herkunftsfamilie übereinstimmen.
Als Orientierung für eine Bildungspraxis in der Einwanderungsgesellschaft wird im Folgenden keine zentral und primär auf die Anerkennung der Vielfalt von Herkunftskulturen ausgerichtete Programmatik, sondern eine Antidiskriminierungsperspektive vorgeschlagen. Um sowohl unterschiedliche Formen der Benachteiligung in und außerhalb der Schule abzutragen, wie auch eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen der eigenen Zugehörigkeit, politischen und religiösen Identifikationsangeboten, aber auch mit fremdenfeindlichen, nationalistischen und rassistischen Ideologien zu ermöglichen, sind insbesondere die vielfältigen und sich potentiell wechselseitig verstärkenden Zuschreibungsprozesse sowie damit verbundene Diskriminierungspraktiken und -strukturen in den Blick zu nehmen. In einer Perspektive der Antidiskriminierung ist in erster Linie danach zu fragen, welche Bedeutung soziale, kulturelle und religiöse Zuordnungen für die Herstellung und Rechtfertigung von Machtverhältnissen und Benachteiligungen haben. Entsprechend können kulturelle Unterschiede nicht als eigenständige und isolierbare Ursache von Konflikten, denen mit einer Haltung der Toleranz zu begegnen ist, betrachtet werden. Die Forderung nach Toleranz blendet häufig aus, wer – in durch Machtasymmetrien gekennzeichneten
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Ulrike Hormel | Albert Scherr
Beziehungen – in der Lage ist, wen zu tolerieren und wer darauf verwiesen ist, sich tolerieren zu lassen. KASTEN 3 f
Toleranz – eine durchaus ambivalente Haltung
Die Forderung nach Toleranz zielt auf eine akzeptierende Haltung gegenüber Praktiken und Überzeugungen, die sich von den eigenen unterscheiden und die in einem spezifischen Kontext als problematisch betrachtet werden. Mit Irritationen soll gelassen umgegangen und es soll darauf verzichtet werden, die jeweils Anderen von der fraglosen Richtigkeit eigener Sichtweisen überzeugen zu wollen. Im Kontext von Beziehungen zwischen sozial ungleichen Gruppen, zwischen Reichen und Armen, Etablierten und Außenseitern, Mächtigen und Machtunterworfenen steht die Forderung nach Toleranz in der Gefahr, einen paternalistischen Gestus der widerrufbaren Duldung aufzurufen.
Für eine solche Antidiskriminierungsperspektive sind also nicht nur diskriminierende Praktiken im Sinne von Handlungen bedeutsam, denen Vorurteile zu Grunde liegen. In Anschluss an sozialhistorische, sozialwissenschaftliche und erziehungswissenschaftliche Studien (s. insbesondere ELIAS/SCOTSON 1993; FEAGIN/BOOHER FEAGIN 2003; GOMOLLA/RADTKE 2002) ist vielmehr davon auszugehen, dass Strukturen und Praktiken der Diskriminierung keineswegs auf diskriminierende Absichten von Akteuren angewiesen sind und an vielfältige gesellschaftsstrukturell sowie diskursiv und ideologisch verankerte Ungleichheiten und Differenzkonstruktionen anschließen können.
2
Antidiskriminierung als Bildungsprogrammatik
Eine pädagogische Antidiskriminierungsperspektive begründet keine eigenständige Spezialpädagogik. Sie ist vielmehr als ein integrativer Rahmen für unterschiedliche Bildungsansätze relevant – insbesondere Konzepte der Menschenrechtspädagogik, der Antirassistischen Pädagogik, der Interkulturellen Pädagogik und der Diversity-Pädagogik. Der Stellenwert dieser unterschiedlichen Programmatiken im Kontext einer Bildung für die Einwanderungsgesellschaft kann wie folgt zusammengefasst werden:
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
2.1
Pädagogik der Menschenrechte
Die Aufgabe von Menschenrechtspädagogik (vgl. z.B. Kompass 2005) besteht in diesem Kontext v.a. darin, dass sie eine Grundlage für Verständigungsprozesse über elementare normative Maßstäbe und moralische Orientierungen bietet, auf die in Konflikten und Kontroversen Bezug genommen werden kann. Hierfür ist ein Verständnis von Menschenrechtsbildung bedeutsam, das nicht auf ‚Wertevermittlung‘ zielt. Zu betonen sind dagegen dialogische Verständigungsprozesse über den Sinn und die Bedeutung menschenrechtlicher Prinzipien. Menschenrechtliche Prinzipien können nicht vorausgesetzt, sondern müssen erarbeitet werden. Die Menschenrechte sind als ein kritischer Maßstab zu vermitteln, der der Auseinandersetzung mit manifester Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus, aber auch mit struktureller und institutioneller Diskriminierung zugrunde gelegt werden kann. Die gängige deklaratorische Beanspruchung der Menschenrechte in politischen, medialen und pädagogischen Diskursen als ein unstrittiger Grundkonsens blendet dagegen aus, dass die verfassten Menschenrechte und ihre Interpretation Ergebnis bzw. Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sind. Was die Menschenrechte konkret bedeuten, welche Ansprüche aus ihnen legitim abgeleitet werden und ggf. juristisch durchgesetzt werden können, ist jedoch keineswegs evident und unstrittig (vgl. IGNATIEFF 2002, S. 30ff.). Z.B. ist das Asylrecht als ein Menschenrecht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausdrücklich verankert. Gleichwohl war und ist es umstritten, unter welchen Voraussetzungen Flüchtlinge als Asylsuchende zu betrachten sind und was gegeben sein muss, damit sie in jeweiligen Zielländern aufgenommen werden. 2.2
Antirassistische Pädagogik
Theorien und Konzepte Antirassistischer Pädagogik (vgl. DADZIE 2000; STENDER/ ROHDE/WEBER 2003) grenzen sich explizit gegen ein Verständnis ab, das Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft als Folge kultureller Unterschiede betrachtet und daraus Forderungen nach Verständigung und Toleranz ableitet. Sie betrachten rassialisierende und ethnisierende Gruppenkonstruktionen als Element historisch gewordener Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheiten. Sie ermöglichen eine Konkretisierung sowie historische und gesellschaftstheoretische Fundierungen der in den Menschenrechtserklärungen formulierten Antidiskriminierungsprinzipien. Akzentuiert werden die Erfordernisse einer offensiven Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Strukturen und Praktiken der Diskriminierung, in denen sich biologistische und kulturalistische Rassenkons-
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Ulrike Hormel | Albert Scherr
truktionen mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen und sozioökonomischen Ungleichheitsstrukturen verschränken. Ein wesentliches Moment Antirassistischer Pädagogik ist eine Bildungsarbeit, die Über- und Unterordnungsverhältnisse in der Einwanderungsgesellschaft sowie historische und aktuelle Ideologien und Diskurse thematisiert, die Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse durch Annahmen über ungleiche und ungleichwertige Kollektive legitimieren. 2.3
Interkulturelle Pädagogik
Eine reflektierte Interkulturelle Pädagogik (vgl. HAMBURGER 2000; HORMEL/ SCHERR 2004b) zielt auf die Überwindung nationalistischer oder kulturrassistischer Ideologien, die politische Vorherrschaftsansprüche mit kulturellen Überlegenheitspostulaten verbinden. Sie bricht mit der Prämisse eines naiven ‚Multikulturalismus‘, derzufolge Individuen Angehörige einer (und nur einer) Kultur und durch diese geprägt sind. In einer solchen Sichtweise wird auch verkannt, dass und wie sich Migrantinnen und Migranten mit kulturellen Tradierungen und ihren Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaft eigensinnig auseinandersetzen. Dabei wird ausgeklammert, dass Heranwachsende und Erwachsene mit und ohne Migrationshintergrund in der Lage sind, sich distanzierend und kritisch zu nationalen, kulturellen und religiös gefassten Bezügen, Zuordnungen und Zuschreibungen zu verhalten. Demgegenüber fordert eine reflektierte Interkulturelle Pädagogik zur Auseinandersetzung mit den Bedingungen, Formen und Folgen von ethnischen, kulturellen und religiösen Zuschreibungen und Identifikationen sowie ihrer gesellschaftspolitischen, sozialen und individuellen Bedeutung auf. Dabei ist zu vermitteln, dass kulturelle Differenzen weder notwendig Ursache von Problemen und Konflikten noch allein als ein Effekt sozialer Ungleichheiten verständlich sind. An die Stelle einer Beanspruchung kulturalisierender und ethnisierender Stereotype tritt folglich der Versuch einer differenzierten Auseinandersetzung mit konkreten Praktiken und Lebensentwürfen, der auf generalisierende Annahmen über eine vermeintliche Besonderheit von MigrantInnen und Migranten verzichtet. Entsprechend weisen einschlägige Studien etwa darauf hin, dass Zugewanderte mit einem ähnlichen Migrationshintergrund sich in höchst unterschiedlicher Weise auf jeweilige kulturelle Traditionen beziehen (vgl. DANNENBECK/ESSER/LÖSCH 1999).
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
2.4
Diversity-Pädagogik
Im folgenden Abschnitt werden aktuell einflussreiche Konzepte der DiversityPädagogik (vgl. CUSHNER/MCCLELLAND/SAFFORD 1996; LYNCH/MODGIL/MODGIL 1992; WLODKOWSKI/GINSBERG 1995), die auf eine Weiterentwicklung Antirassistischer und Interkultureller Pädagogik zielen, ausführlicher diskutiert. In der Perspektive der Diversity-Pädagogik werden soziale und kulturelle Differenzen in modernen Gesellschaften nicht allein als Folgen von Einwanderung thematisiert. Die für vereinfachende Konzepte Interkultureller Pädagogik charakteristische Tendenz, einen verstehenden Blick auf ‚die andere Kultur‘ zu etablieren, ohne die Selbstverständlichkeiten und die Situiertheit der eigenen Perspektive zu hinterfragen, wird aufgebrochen, indem angenommen wird, dass soziale Klasse und sozialer Status, sex/gender, sexuelle Orientierung, Ethnizität/Nationalität, ‚Rasse‘, Alter, Sprache, Religion, psychische und physische Gesundheit, Behinderung und Regionalität sowie politische Orientierungen bedeutsame Bezugspunkte für individuelle und soziale Identitätskonstruktionen und Lebensstile sowie möglicher Anlass für Konflikte und Diskriminierungen sind (vgl. CUSHNER/MCCLELLAND/SAFFORD 1996, S. 75). Damit fordert der Diversity-Zugang einen umfassenden und auch selbstreflexiven Umgang mit multireferentiellen Identitätskonstruktionen sowie deren Verschränkung mit Dominanz- und Unterordnungsstrukturen heraus. KASTEN 4 f
Diversity und Intersektionalität
Gudrun-Axeli KNAPP (2005, S. 70) hat darauf hingewiesen, dass sich die Verwendung des Diversity-Konzepts inzwischen zu einem recht unübersichtlichen Diskurs entwickelt hat. Zu unterscheiden sei dabei insbesondere a) ein funktionales Verständnis von Diversity als ökonomisch relevanter Faktor, der für das Personalmanagement ebenso relevant ist wie für die Produktplanung; b) die Thematisierung von Heterogenität in einem politisch-rechtlichen AntiDiskriminierungsdiskurs; c) eine kritische Perspektive, die die Verschränkung sozialer Klassifikationen mit sozioökonomischen Ungleichheiten sowie politischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen in den Blick rückt. Konzepte der Intersektionalität stellen dabei ins Zentrum, dass sozioökonomische Ungleichheit, Rassialisierung, Ethnisierung, Vergeschlechtlichung sowie politische, rechtliche, institutionelle und interaktionelle Diskriminierung nicht unabhängig voneinander sind, sondern in einem engen Zusammenhang miteinander stehen (vgl. etwa ANDERSON/HILL 2004; LEIPRECHT/LUTZ 2006).
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Eine Bildungspraxis, die auf die Überwindung von Diskriminierung zielt, ist entsprechend aufgefordert, jeweilige Verschränkungen in den Blick zu nehmen und zu problematisieren. D.h. z.B., dass es nicht genügt, rassistische und kulturbezogene Vorurteile zu thematisieren, sondern erforderlich ist danach zu fragen, in welchen sozialen Konstellationen sich diese als plausible Deutungen eigener Erfahrungen darstellen können. Ein wesentliches Ziel der Diversity-Pädagogik besteht darin, Annahmen über die keineswegs selbstverständlich voraussetzbare Bedeutung kultureller Zugehörigkeiten und Unterschiede zu dekonstruieren, indem auf die Multireferentialität der Kontexte hingewiesen wird, in denen individuelle Identitätsbildung und Lebenspraxis situiert ist.
Der Diversity-Ansatz, der sich von einem allzu einfachen Verständnis sozialer und kultureller Zugehörigkeiten distanziert und die mögliche Bedeutung vielfältiger Unterschiede betont, weist einige Probleme auf der konzeptionellen Ebene auf. In den letzten Jahren haben Diversity-Konzepte auch in Deutschland in Politik und Praxis Verbreitung gefunden. Erklärtes Ziel ist v.a. eine positive Bewertung von Unterschieden. „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, so etwa die Formulierung der im Dezember 2006 von DaimlerChrysler, der Deutschen Bank, der Deutschen Telekom und der Deutschen BP gemeinsam mit Staatsministerin Böhmer ins Leben gerufenen ‚Charta der Vielfalt‘ „sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität.“ Diversity-Konzepte sind zunächst v.a. als Managementstrategien US-amerikanischer Unternehmen entwickelt worden. Sie zielen entsprechend zentral darauf „Potentiale wert(zu)schätzen und für das Unternehmen gewinnbringend einzusetzen“ (vgl. www.vielfalt-als-chance.de). Diversity Konzepte im Unternehmensmanagement sind im Wesentlichen an Effizienzkalkülen orientiert und darauf ausgerichtet, die Unterschiedlichkeit der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Unternehmenserfolg zu nutzen. Innerbetriebliche Konflikte sollen vermieden und die Akzeptanz des Unternehmens und seiner Produkte gestärkt werden. Betont wird dabei die Kontraproduktivität von Diskriminierungen. Die problematischen Grundannahmen und Engführungen von Diversity-Konzepten im Sinne eines effizienten Zugriffs auf verfügbare ‚Humanressourcen‘ sind mit der hier intendierten Antidiskriminierungsperspektive z.T. genuin unvereinbar (vgl. HORMEL/SCHERR 2004a; HORMEL 2007). Ein genereller Problempunkt liegt in der Gefahr, dass die Absicht der Sensibilisierung für reale oder zugeschriebene Differenzen zu einer Einübung in wechselseitige Stereotypisierungen entlang der Kategorien Geschlecht, Ethnizi-
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
tät, Religion usw. führt – dass also nicht die Wahrnehmung der Komplexität individueller Lebenskonstruktionen, sondern die routinierte Verwendung sozialer Klassifikationen gelernt wird. Dies kann nur dann vermieden werden, wenn die Forderung nach Beachtung und Anerkennung von Differenzen und ein Plädoyer für Vielfalt nicht abgelöst wird von der Auseinandersetzung damit, dass und wie soziale Klassifikationen als Diskriminierungsressource verwendet werden und dass der Zwang, sich in einer bestimmten Weise zu definieren bzw. definieren zu lassen (etwa als Junge oder Mädchen, als Deutscher oder als Ausländer) zu einer Einschränkung individueller Handlungsmöglichkeiten führen kann. Deshalb ist es erforderlich, über ein Plädoyer für Vielfalt, das ethnisierende und religionsbezogene Kategorisierungen und Klassifikationsprozesse nur ausdifferenziert und erweitert, hinaus zu gehen. Für eine angemessene Auseinandersetzung mit Strukturen, Praktiken und Ideologien der Diskriminierung ist es notwendig, zur Einsicht in Prozesse der Konstruktion des ‚Anderen‘ zu befähigen. Die Vorstellungen, mit denen ein jeweiliges, z.B. religiöses oder nationales ‚Wir‘ bestimmt wird, stehen, wie sich an zahlreichen Bespielen verdeutlichen lässt, in einem Zusammenhang mit historischen und gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen sowie mit Prozessen, in denen eigene Erfahrungen projektiv verarbeitet werden. So waren der Orient oder indigene Gruppen in einer europäischen Perspektive immer wieder die Projektionsfolie für Ängste und Sehnsüchte, die etwa zu Vorstellungen über ‚die edlen Wilden‘ geführt haben. Diversity-Pädagogik kann so für Grenzüberschreitungen und in sich heterogene Identitäten und Praktiken sensibilisieren, die etablierte Unterscheidungen unterlaufen (vgl. MECHERIL 2003). Es gilt also z.B. Aufmerksamkeit für die Formen zu entwickeln, in denen Mädchen und Jungen ein ironisches oder spielerisches Verhältnis zu geschlechtsbezogenen Normen realisieren oder für Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler ethnische und nationale Zuordnungen dramatisierend inszenieren und auch wieder außer Kraft setzen. Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler sollen lernen, wahrzunehmen und anzuerkennen, dass und wie vielfältige Bezüge in Bestimmungen der eigenen Identität eingehen und dass deren Bedeutung situativ variiert. In Konzepten der Diversity-Pädagogik deutet sich damit eine Perspektive an, die die Komplexität, Situationsabhängigkeit und Veränderlichkeit der für individuelle und kollektive Identitätsbildungen sowie für Zuordnungen zu sozialen Gruppen und Distanzierungen bedeutsamen Bezüge und Verortungen in Rechnung stellt. Für die Umsetzung einer solchen Bildungspraxis sind vier Gestaltungsebenen in den Blick zu nehmen (vgl. HILD im vorliegenden Band):
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•
das Selbstverständnis, die Einstellungen und Überzeugungen von Schulleitungen und Lehrpersonen und die Erfordernisse einer Befähigung zu einem reflektierten und nicht diskriminierenden Umgang mit Vielfalt im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung; Schulen als Organisationen – insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob und wie die Zusammensetzung ihrer Schülerschaft und ihres pädagogischen Personals Erfahrungen des Umgangs mit sozialen und kulturellen Unterschieden ermöglicht oder einschränkt; Interaktions- und Kooperationsprozesse in Schulklassen in Bezug darauf, welche Unterschiede für den Erfahrungshintergrund und das Selbstverständnis von Lehrkräften und Schülerinnen und Schüler bedeutsam sind, ob und ggf. wie diese zu Abgrenzungen führen, also auch, wer mit wem in Interaktion tritt und welche wechselseitigen Vorannahmen damit einhergehen; die curriculare Thematisierung von Diversität hinsichtlich ihrer inhaltlichen und methodischen Aspekte – also etwa, welche ethnischen und religiösen Klassifikationen in Unterrichtsmaterialien vorgenommen werden und welche, z.B. national gefassten Perspektiven ins Zentrum gestellt werden.
•
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KASTEN 5 f
Materialien für Diversity-Pädagogik
Eine insgesamt empfehlenswerte Zusammenstellung von Materialien für Unterrichtsprojekte und -einheiten, die der Programmatik einer Diversity-Pädagogik folgen, liegt im deutschen Sprachraum unserer Kenntnis nach nicht vor. Die von der Bertelsmann-Stiftung ausdrücklich als Praxishandbuch für Lehrkräfte verbreitete Materialiensammlung „Eine Welt der Vielfalt“ (2001) ist v.a. aufgrund des zugrunde liegenden naiven Verständnisses kultureller Vielfalt und kultureller Unterschiede für pädagogische Prozesse, wie sie im Rahmen des vorliegenden Artikels skizziert wurden, nicht zu empfehlen. In der Materialiensammlung von Marina KHANIDE und Karl GIEBLER (2003) ‚Ohne Angst verschieden sein‘ finden sich einzelne Übungen, die zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit eigenen sozialen Verortungen anregen. Eine Übersicht zu praxisrelevanten Materialien und Publikationen, die u.a. im Rahmen einer Diversity-Programmatik nutzbar sind, findet sich unter http:// www.ida-nrw.de/Diskriminierung/html/fmaterialien.htm. Materialien für diversitätsbewusste Organisationsentwicklung in englischer Sprache finden sich auf den folgenden Internetseiten: Harvard University: Derek Bok Center for Teaching and Learning; http://bokcenter. harvard.edu/icb/icb.do?keyword=k1985&pageid=icb.page29721#questions University of North Carolina at Chapel Hill: Diversity in the College Classroom: http://ctl.unc.edu/TeachforInclusion.pdf
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
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Zusammenfassung
Pädagogische Konzepte, die auf die Situation von Einwanderungsgesellschaften reagieren, sind darauf verwiesen, soziale und kulturelle Heterogenität in Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten und Machtbeziehungen in den Blick zu nehmen. Grundlegend ist folglich eine Anti-Diskriminierungsprogrammatik, die nicht das Verstehen von Unterschieden, sondern die Überwindung von Benachteiligungen ins Zentrum stellt. Allen Individuen sollen gleiche Chancen eröffnet und sie sollen dazu befähigt werden, ihr Selbstverständnis in Auseinandersetzung mit vielfältigen kulturellen Kontexten zu entwickeln. Die Diversity-Perspektive fordert in diesem Kontext dazu auf, sich differenziert mit den Strukturen und Mechanismen auseinanderzusetzen, die für soziale Verortungen und Positionszuweisungen sowie Identifikationen bedeutsam sind. Für die pädagogische Praxis zeigt sich, dass eine Unterrichtsgestaltung, die Erfahrungen der Gleichheit und der Gleichberechtigung ermöglicht, sowie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Ideologien befähigt, wichtig, aber gleichwohl unzureichend ist. Unverzichtbar sind Veränderungen von Schulen als Organisationen und des Bildungssystems, die darauf zielen, Einheimischen und Zugewanderten, Mehrheits- und Minderheitsangehörigen, Mädchen und Jungen etc. gleiche Bildungschancen und Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen. In der Lehreraus-, fort- und -weiterbildung muss eine differenzierte Wahrnehmung und Reflexion sozialer und kultureller Heterogenität gelernt werden, und zugleich die Fähigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit den Mythen und Stereotypen einer kulturalisierenden Pädagogik. Anzustreben ist deshalb die curriculare Verankerung von Menschenrechtsbildung sowie von Ansätzen der Antirassistischen, Interkulturellen und Diversity-Pädagogik als Spezial- und Querschnittsdimension in den Ausbildungsgängen für die pädagogischen Berufe. Fragen und Denkanstöße 1. Warum können pädagogische Konzepte nicht sinnvoll davon ausgehen, dass Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Kulturen angehören? Nennen Sie Beispiele für die Stereotype einer kulturalisierenden Pädagogik! 2. Erklären Sie die unter Abschnitt 1.2 benannten ‚Lernherausforderungen‘ und ‚Lernblockaden‘ und finden sie eigene Beispiele dafür! 3. Betrachten Sie die Gestaltungsebene der Schule als Organisation (S. 56): Welche Konsequenzen kann es haben, dass es an den Schulen in Deutschland kaum Lehrkräfte mit Migrationshintergrund gibt? Welchen Einfluss
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kann eine Tätigkeit von Lehrkräften mit Migrationshintergrund auf die schulische Bildungspraxis haben? 4. Betrachten Sie die Gestaltungsebene der Interaktions- und Kooperationsprozess in Schulklassen (S. 56): Welche Ausprägungen sozialer und kultureller Heterogenität sind für die Unterrichtspraxis relevant? Welche Chancen bieten die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe der Schülerinnen und Schüler für eine Gestaltung des Unterrichts? 5. Welche in Schulen verankerte Normalitätserwartungen (z.B. Erwartungen in Hinblick darauf, was einen idealen Schüler kennzeichnen sollte) tragen in welcher Weise zu Benachteiligungen und Diskriminierungen bei? Literaturempfehlungen DGB-BILDUNGSWERK THÜRINGEN E.V. (Hrsg.): Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit. Erfurt 2003. Der „Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit“ ist zwar in erster Linie für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit konzipiert, enthält aber zahlreiche Materialien und Anregungen, die auch für den schulischen Unterricht genutzt werden können. Das Konzept beruht auf einem breit gefassten Rassismusbegriff und zielt darauf, Rassismus nicht als ein isoliertes Thema in eigens dafür ausgerichteten Antirassismus-Seminaren zu behandeln, sondern Ansatzpunkte und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie das Prinzip des ‚Nicht-Rassismus‘ sowie die vertiefende Auseinandersetzung mit den Themen Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Diskriminierung, Migration etc. in der Bildungsarbeit verankert werden kann. HORMEL, U./SCHERR, A.: Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung. Wiesbaden 2004. Im Rahmen einer international vergleichenden Studie wurde untersucht, in welcher Weise Bildungspolitik und Bildungspraxis in (klassischen) Einwanderungsländern – wie Kanada, Großbritannien und Frankreich – auf die ‚Tatsache Einwanderungsgesellschaft‘ reagieren. Auf der Grundlage einer systematischen Verknüpfung von Aspekten der Menschenrechtspädagogik, der antirassistischen Pädagogik, der interkulturellen Pädagogik und der Diversity-Pädagogik werden Möglichkeiten und Erfordernisse der Reform von Schulen als Organisationen, der Curriculumsentwicklung und der Unterrichtsgestaltung sowie der Lehrerbildung aufgezeigt.
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
LEIPRECHT, R./KERBER, A. (2005) (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/Ts. Der Sammelband gibt einen Überblick über die Fachdiskussion zur Situation und den Perspektiven von Schulen in einer ‚pluriformen Einwanderungsgesellschaft‘. Aufgezeigt werden u.a. Aspekte einer ‚Pädagogik der Vielfalt‘, Möglichkeiten einer ‚Erziehung zur Mehrsprachigkeit‘ und Anforderungen an pädagogische Professionalität.
Literaturverzeichnis Anderson, M.L./Collins, P.H. (2004): Conceptualizing Race, Class, and Gender. In: Dies.: Race, Class and Gender. An Anthology. Wadworth, pp. 75-98. Auernheimer, G. (2003): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Darmstadt. Banks, J.A./McGee Banks, C.A. (Eds.) (2001): Handbook of Research on Multicultural Education. Cohen, E.G. (1994): Complex Instruction: Higher Order Thinking in Heterogeneous Classrooms. In: Sharan, S. (Ed.): Handbook of cooperative learning methods. Westport, pp. 82-96. Cushner, K./McClelland, A./Safford, P. (1996): Human Diversity in Education. New York. Dadzie, S. (2000): Toolkit for tackling racism in schools. Oakhill. Dannenbeck, C./Eßer, F./Lösch, H. (1999): Herkunft (Er)Zählt. Münster. DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. (Hrsg.) (2003): Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit. Erfurt. Im Internet abrufbar unter: www.dgb-bwt.de Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2005): Kompass Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Berlin. Elias, N./Scotson, J.L. (2003): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a.M. Feagin, J./Feagin, B.C. (2003): Racial and Ethnic Relations. New Jersey. Gogolin, I. (2005): Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund: Herausforderungen für Schule und außerschulische Bildungsinstanzen. In: Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Materialien zum Zwölften Kinder- und Jugendbericht Band 3. Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen im Schulalter. München. Gomolla, M. (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Münster. Gomolla, M./Radtke, F.-O. (2007): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. 2. Aufl. Wiesbaden. Hamburger, F. (2000): Reflexive Interkulturalität. In: Ders.: (Hrsg.): Pädagogische Praxis und erziehungswissenschaftliche Theorie zwischen Lokalität und Globalität. Frankfurt, S. 191-200.
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Hormel, U. (2007): Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft. Begründungsprobleme pädagogischer Strategien und Konzepte. Wiesbaden. Hormel, U./Scherr, A. (2004a): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung. Wiesbaden. Hormel, U./Scherr, A. (2004b): Interkulturelle Pädagogik. Standortbestimmung und Perspektiven. In: Kursiv. Zeitschrift für die politische Bildung, H. 2, S. 32-45. Ignatieff, M. (2002): Die Politik der Menschenrechte. Hamburg. Knapp, G.-A. (2005): ‚Intersectionality‘ – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ‚Race, Class, Gender‘. In: Feministische Studien, H. 1, S. 68-81. Krüger-Potratz, M. (2005): Interkulturelle Bildung. Münster. Leiprecht, R./Lutz, H. (2006): Intersektionalität im Klassenzimmer: Ethnizität, Klasse, Geschlecht. In: Leiprecht, R./Kerber, A. (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/Ts., S. 218-234. Lynch, J./Modgil, C./Modgil, S. (1992): Cultural Diversity and the Schools. Vol. 1: Education for Cultural Diversity: Convergence and Divergence. London. Mecheril, P. (2003): Politik der Unreinheit. Wien. Mecheril, P. (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim. Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen. Quehl, T. (Hrsg.) (2000): Schule ist keine Insel. Britische Perspektiven antirassistischer Pädagogik. Münster. Rommelspacher, B. (1995): Dominanzkultur. Berlin. Schader, B. (2004): Sprachenvielfalt als Chance. Das Handbuch. Zürich. Schümer, G. (2004): Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten. In: Schümer, G. et al. (Hrsg.): Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Wiesbaden, S. 73-116. Stender, W./Rohde, G./Weber, T. (Hrsg.) (2003): Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Frankfurt. Tillmann, K.-J. (2004): Die homogene Lerngruppe – oder: System jagt Fiktion. In: Otto, H.-U./Rauschenbach, T. (Hrsg.): Die andere Seite der Bildung. Wiesbaden, S. 340. Wlodkowski, R.J./Ginsberg, M.B. (1995): Diversity & motivation: Culturally responsive teaching. San Francisco.
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Kapitel 3
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Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen Da Kinder mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Interessen und Fähigkeiten in die Schule kommen, ist jede Lerngruppe heterogen. Franz WEINERT beschreibt die Unterschiede in den Bildungsvoraussetzungen der Kinder aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive: „Differenzierende Erbanlagen, unterschiedliche Sozialisationsbedingungen, kritische Lebensereignisse, frühkindliche Lernerfahrungen, das bisherige Schulschicksal und die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen diesen individuellen Entwicklungsbedingungen bewirken die Genese singulärer Persönlichkeiten schon im Kindesalter und die Entstehung großer interindividueller Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten und Lernstilen, in persönlichen Eigenarten, Haltungen und Einstellungen, in Motiven und Interessen, in sozialen Verhaltensweisen und individuellen Störbarkeiten, aber auch in psychologischen Entwicklungs- und pädagogischen Beeinflussungsmöglichkeiten.“ (WEINERT 1997a, S. 50).
Angesichts der Verschiedenheit und Vielfalt der Bildungsvoraussetzungen wird häufig gefragt, wie es annähernd gelingen kann, den Bedürfnissen einzelner Kinder im Schulunterricht mit 20 bis 30 Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Im Hinblick auf das Ziel der Bildungsgerechtigkeit erschöpft sich ein konstruktiver Umgang mit Heterogenität im Unterricht aber nicht im ‚Blick auf das einzelne Kind‘ und seinen individuellen Entwicklungsstand. Schülerinnen und Schüler zeichnen sich nicht nur durch singuläre Persönlichkeiten, sondern auch durch soziale Zugehörigkeiten aus. Unterschiede in den Bildungsvoraussetzungen sind immer auch im sozialen Kontext zu verstehen, das heißt, die sozio-kulturellen Lebenslagen der Kinder und ihrer Familien sind als Bedingungsfaktor zu berücksichtigen. Angesichts der Zuteilung sozialer Partizipationschancen durch die Schule ist der Umstand, dass sich die verschiedenartigen
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Erfahrungen, Interessen und Fähigkeiten der Kinder in ihrer sozialen Wertigkeit unterscheiden, eine grundlegende Ausgangsbedingung für die Gestaltung von Unterricht in heterogenen Lerngruppen. Im Kontext von Migration besteht die Herausforderung insbesondere darin, die schulischen Routinen angesichts der Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern aus zugewanderten Minderheiten zu hinterfragen. Im Unterricht sind implizite Normen wirksam, die auf verschiedene Schülergruppen ungleich wirken. Besonders wirksam ist z.B. die traditionell verankerte Erwartung, dass Schülerinnen und Schüler normalerweise einsprachig mit Deutsch aufwachsen. Solche Normalitätserwartungen führen dazu, dass die Zugänge der Kinder und Jugendlichen zu den schulischen Bildungsprozessen und -inhalten unterschiedlich sind. Sie sind nicht nur unterschiedlich leicht oder schwer, sondern die Unterschiede betreffen auch emotionale Voraussetzungen und Motivationen. Die Kinder können sich in unterschiedlichem Maße mit dem, was sie in der Schule tun, identifizieren. Wenn sie als Angehörige einer sozialen Minderheit wahrgenommen werden, fühlen sie sich womöglich weniger zugehörig und werden in ihrer Persönlichkeit weniger gestärkt. Diese Problematik hat 1996 in einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur interkulturellen Erziehung bildungspolitische Beachtung gefunden: „Zur interkulturellen Erziehung müssen Lehrerinnen und Lehrer befähigt werden, damit sie in ihrer pädagogischen Arbeit Raum für unterschiedliche Sichtweisen und Sichtwechsel geben können. Dies ist umso wichtiger, als die Unterrichtenden zum größten Teil der Mehrheitsgesellschaft angehören und aufgrund ihrer Sozialisation und Ausbildung in der Gefahr stehen, ihre Sichtweisen als die normalen, selbstverständlichen weiterzugeben.“ (KMK 1996, S. 7).
Die Gestaltung von Unterricht in heterogenen Lerngruppen kann einen Beitrag dazu leisten, dass alle Schülerinnen und Schüler einen Zugang zu den schulischen Inhalten finden. Dazu gehört, dass die Vielfalt der sozio-kulturellen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und für das Lernen konstruktiv genutzt wird. Dieser Ansatz kann auf der Grundlage sozialkonstruktivistischer Konzepte des Lernens und Lehrens verfolgt werden. Die folgende Definition von Unterricht verweist auf verschiedene Momente von Unterricht, mit denen sich dieses Kapitel in drei Schritten auseinandersetzt:
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Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
Definition: Unterricht „Mit Unterricht sind im Allgemeinen solche Situationen gemeint, in denen mit pädagogischer Absicht und in organisierter Weise innerhalb eines bestimmten institutionellen Rahmens von professionell tätigen Lehrenden Lernprozesse initiiert, gefördert und erleichtert werden.“ (REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 2001, S. 603) 1. Der erste Fokus liegt auf den Lernprozessen im Unterricht. Ausgehend von (sozial-)konstruktivistischen Lerntheorien geht es um die Frage, wie die soziale Interaktion im Unterricht Lernprozesse in heterogenen Lerngruppen beeinflusst. 2. Im Unterricht werden Lernprozesse „von professionell tätigen Lehrenden initiiert“. Es stellt sich die Frage nach der Rolle der Lehrkraft. Wie können Lehrerinnen und Lehrer Lernprozesse „initiieren“ und „erleichtern“? 3. Unterricht vollzieht sich „in organisierter Weise“. Eine Grundlage für die Unterrichtsgestaltung sind didaktische Handlungsmodelle. Wie beeinflussen verschiedene Unterrichtsformen und -methoden das Lernen und das Lehren in heterogenen Gruppen?
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Ko-konstruktive Lernprozesse in heterogenen Gruppen
Konstruktivistische Theorien beschreiben Erkenntnis als eine subjektive Interpretation der Welt. Das heißt nicht, dass Erkenntnis als ein beliebiger Prozess gesehen wird, in dem jede und jeder Einzelne irgendeine Vorstellung von der Wirklichkeit entwickelt. Im sozio-kulturellen Kontext kann Konstruktion als ein „vermittelter Vorgang“ betrachtet werden: „Wir sind zwar subjektiv frei, etwas zu konstruieren, aber zugleich in unserer Lebenswelt, die unsere Perspektiven formt und unsere Interessen leitet, auch gebunden in dem, was wir tun, beobachten, wofür wir uns einsetzen.“ (REICH 2006, S. 76). In der Didaktik „konstruktiv vorzugehen“ bedeutet, die Lernenden darin zu unterstützen, ihr Wissen selbst zu „konstruieren“ (ebd., S. 25). Ein solches Vorgehen entspricht Ergebnissen der Lernforschung zur aktiven Rolle des Individuums beim Lernen: „Mittlerweile kann als gesichert gelten, dass aktive Eigenkonstruktion und subjektiv vollzogene Sinngebung die Basis jedes kognitiv-konstruktivistischen Lernens darstellen – dies im Gegensatz zu rein reproduktiven und mechanisch-passiven Formen des Lernens.“ (REUSSER 2001, S. 127).
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Eine konstruktivistische Didaktik zielt also auf einen aktiven Konstruktionsprozess der Lernenden, denen die Möglichkeit eröffnet werden soll, neues Wissen selbsttätig in ihre bereits bestehenden kognitiven Strukturen zu integrieren. Der Didaktiker Kersten REICH führt den konstruktivistischen didaktischen Ansatz auf John DEWEY, Jean PIAGET und Lew S. WYGOTSKI als theoretische Vordenker zurück (vgl. ders. 2006, S. 71ff): John DEWEY (1859-1952), U.S-amerikanischer Philosph und Pädagoge, verfolgte das Anliegen, die Idee der Demokratie in pädagogischen Prozessen zu verwirklichen. Eine konstruktivistische Didaktik knüpft an DEWEYs pragmatischen Ansatz an, der darin besteht, Lernprozesse in Handlungssituationen anzustoßen. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean PIAGET (1896-1980) hat die kognitive Anpassung von Kindern an ihre Umwelt untersucht und dabei verschiedene Entwicklungsstufen beschrieben. PIAGET hat erkannt, dass Lernen ein Konstruktionsprozess ist, in dem die Kinder durch die subjektive Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt die Lerngegenstände selbst konstruieren. Lernprozesse sind daher nach seiner Theorie nur in begrenztem Maße von außen zu steuern. Diese Erkenntnis ist ein Ausgangspunkt für eine konstruktivistische Didaktik. Der russische Psychologe Lew S. WYGOTSKI (1896-1934) begründete in den 1920er Jahren die kulturhistorische Schule der russischen Psychologie. WYGOTKIs Theorie erfasst die Bedeutung sozialer Interaktion für das Lernen. Der theoretische Ansatz geht über die Fokussierung der subjektiven Lernprozesse des einzelnen Kindes hinaus, indem er soziale Lernprozesse berücksichtigt. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge zwischen Kognition und Sozialisation gerichtet. WYGOTSKI prägt sozialkonstruktivistische Lerntheorien, die Lernen im sozio-kulturellen Kontext betrachten. Der Konstruktivismus ist durch vielfältige theoretische Perspektiven geprägt, die unterschiedliche Einflussfaktoren auf den Erkenntnisprozess in den Vordergrund stellen (vgl. REICH 2006, S. 85ff). Für ein Verständnis von Lernprozessen in heterogenen Lerngruppen sind insbesondere Ansätze weiterführend, die die Einflüsse historischer Kontexte, kultureller Praktiken und sozialer Interaktionen auf die Konstruktion von Wissen berücksichtigen und die häufig auf WYGOTSKIs sozialkonstruktivistische Perspektive zurückgeführt werden. Ausgehend von der Bedeutung sozialer Interaktion als Anlass für Konstruktionsprozesse betont REICH die Beziehungsseite von Lehr-Lern-Prozessen: „Lernen ist immer eine soziale Situation und ein zwischenmenschliches kommunikatives Ereignis“ (ebd., S. 18). Lernprozesse können demnach durch die gemeinsamen Konstruktion von Bedeutung durch die Gesprächspartner angestoßen werden. YOUNISS (1994) erfasst diesen Prozess mit dem Konzept der „KoKonstruktion“ (vgl. Kasten 1).
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KASTEN 1 f
Ko-Konstruktion nach James YOUNISS
YOUNISS hat das Konzept der Ko-Konstruktion in seinen wissenschaftlichen Studien über Freundschaftsbeziehungen von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Ausgangspunkt sind Theorien der Philosophen Jürgen HABERMAS, John MACMURRAY und Paul RICOEUR, die sich mit der Kognition von Subjekten in kommunikativen Beziehungen befassen. Den Prozess der Ko-Konstruktion beschreibt YOUNISS folgendermaßen: „Formal gesehen wird Rationalität durch eine Validierung ersetzt, die über das im Dialog entwickelte Einverständnis erreicht wird. Kurz gesagt konstruiert das Subjekt in dieser Theorie zwar auch eine Realität, aber nicht als ein Subjekt, das sich nur auf die Regeln des Denkens und Begründens verlässt. Das in kommunikativen Beziehungen stehende Subjekt ko-konstruiert seine Konzepte der Wirklichkeit zusammen mit anderen. Ansprüche auf Gültigkeit des eigenen Standpunktes, der eigenen Person oder der eigenen Kenntnisse müssen ‚diskursiv eingelöst, also in einem argumentativ erzielten Konsensus der Beteiligten begründet werden‘ (HABERMAS, 1973, S. 144).“ YOUNISS stellt sein Konzept der Ko-Konstruktion einer Auffassung gegenüber, in der „Kognition mit selbstreflexivem Denken gleichgesetzt“ wird. In den Freundschaftsbeziehungen hat YOUNISS folgende günstige Bedingungen der Ko-Konstruktion herausgearbeitet: Gleichberechtigung, Respekt und gegenseitiges Wohlwollen. (YOUNISS 1994, S. 68-70).
Sozialkonstruktivistischen Lerntheorien zufolge spielt die soziale Interaktion auch für das Lernen in der Schule eine herausragende Rolle. Auch im Unterricht lernen Schülerinnen und Schüler demnach durch Aushandlungsprozesse, in denen die Gesprächspartner ausgehend von ihren persönlichen Vorerfahrungen in konstruktiver Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen gemeinsame Gedankengänge und Vorstellungen entwickeln. Das lernförderliche Potenzial eines konstruktiven Umgangs mit Unterschieden kann genutzt werden, wenn der Unterricht auf die sozialisationsbedingt unterschiedlichen Vorkenntnisse, Weltsichten und Interessen der Schülerinnen und Schüler zurückgreift. Da ko-konstruktive Lernprozesse von der Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen leben, entspricht ihre Initiierung der inzwischen weit verbreiteten Forderung, die Heterogenität der Schülerschaft im Unterricht als ‚Ressource‘ zu begreifen (vgl. z.B. LEHBERGER/SANDFUCHS 2008). Ein Ziel besteht darin, Differenz- und Fremdheitserfahrungen als Ausgangspunkt für „horizonterweiternde Lernprozesse“ zu nehmen (vgl. SIEBERT 2005). Dem entspricht der Anspruch Interkultureller Pädagogik, die gesellschaftliche Pluralität der Ausdrucks- und Lebensformen im Unterricht zu thematisie-
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ren und zu reflektieren. Welche Fähigkeiten die Schülerinnen und Schüler dabei im Einzelnen erwerben können, hat GOGOLIN (2003) in einem Modell über „Fähigkeitsstufen der Interkulturellen Bildung“ ausformuliert (vgl. Kasten 2). Das Modell beschreibt Kenntnisse und Fähigkeiten, die unabhängig vom Schulfach und vom Alter der Schülerinnen und Schüler in jedem Unterricht erworben werden können, wenn Perspektivenvielfalt thematisiert wird. KASTEN 2f
Fähigkeitsstufen der Interkulturellen Bildung
Ingrid GOGOLIN beschreibt „übergreifende, aufeinander aufbauende Fähigkeitsstufen […], die durch interkulturelle Bildung und Erziehung erreicht werden können“: „1. Kenntnisse über Phänomene, in denen sich kulturelle, sprachliche oder soziale Verschiedenheit zeigt (z.B.: Kleidung, Nahrung, […] religiöse oder andere Ideale […]). 2. Kenntnisse über Gründe und Anlässe für Phänomene, in denen sich sprachliche oder soziale Verschiedenheit zeigt (z.B.: verhüllende Kleidung als Schutz vor Hitze oder Kälte, das Entstehen ‚regionaler Küchen‘ als Spiegel der Produkte der Region und ihrer Armut oder ihres Reichtums […]). 3. Fähigkeit, die Phänomene, die auf kulturelle, sprachliche oder soziale Verschiedenheit weisen oder zu weisen scheinen, in ihrem Wandel zu betrachten und zu reflektieren (z.B.: […] Kopftuch als Kopfbedeckung ländlicher oder bäuerlicher Frauen in der ganzen Welt; Kopftuch als religiöses Symbol verschiedener Religionen, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Regionen; Kopftuch als Objekt der Mode zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Regionen; Kopftuch als Symbol der Selbstbehauptung und des Protests von jungen Frauen mit Migrationshintergrund in europäischen Metropolen). 4. Fähigkeit, die Phänomene, die auf kulturelle und sprachliche oder soziale Verschiedenheit weisen oder zu weisen scheinen, aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu reflektieren (z.B.: […] Reflexion der Erinnerungen an Christoph Columbus aus der Sicht der Eroberer oder der Sicht der Eroberten; aus der Sicht eines Spielfilmregisseurs oder aus der Sicht eines Historikers […]). 5. Fähigkeit zur Durchdringung und Verknüpfung historischer, politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, aufgrund derer Phänomene, die auf Verschiedenheit deuten, für das Leben eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen bedeutsam werden (z.B.: die Selbstverortung einer Gruppe als Angehörige einer ‚kulturellen Gemeinschaft‘ kann zum Zwecke des Ausdrucks von Zusammengehörigkeit oder eines gemeinsamen ästhetischen Empfindens geschehen; sie kann unter bestimmten historisch-politischen Umständen aber
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auch zum Zwecke der Verteidigung von Privilegien oder der Beseitigung von Benachteiligung dienen). […] 6. Fähigkeit, die eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und Verhaltensgewohnheiten bei der Begegnung mit Fremden oder Fremdem zu erkennen und zu verstehen, worauf sie jeweils zurückzuführen sind (z.B.: […] durch welche Merkmale des Aussehens eines Menschen schließe ich gewöhnlich auf seine Herkunft? […]). 7. Fähigkeit, das eigene Handeln und Verhalten, die eigenen Gewohnheiten und Werteorientierungen an den moralischen und ethischen Standards einer modernen, pluralen, weltoffenen, demokratischen Gesellschaft auszurichten.“ (GOGOLIN 2003, S. 1-3)
Die von GOGOLIN beschriebenen Kenntnisse und Fähigkeiten können in einem Unterricht, der Raum für die Heterogenität der Lerngruppe lässt, zur Anwendung kommen. Wenn auch die Erfahrungen, Sichtweisen und Wahrnehmungen von Kindern, die von den in der Schule dominanten Normalitätserwartungen abweichen, zur Kenntnis genommen und für das Lernen genutzt werden, wird gesellschaftliche Pluralität im Unterricht erfahrbar. Im Hinblick auf das Ziel der Bildungsgerechtigkeit reicht es allerdings nicht aus, die Unterschiede innerhalb der Schülerschaft im Unterricht zur Geltung zu bringen. Damit allen Schülerinnen und Schülern eine erfolgreiche Schullaufbahn ermöglicht wird, besteht eine zentrale Aufgabe des Unterrichts darüber hinaus darin, in der Interaktion auch ein gemeinsames Wissen zu entwickeln. Es ist eine besondere Herausforderung des konstruktiven Umgangs mit Heterogenität, Prozesse der Ko-Konstruktion nicht nur zur Verständigung über unterschiedliche Erfahrungen und Vorstellungen, sondern auch zur Entwicklung gemeinsamer Grundbegriffe zu nutzen. Das Ziel, allen Schülerinnen und Schülern einen Zugang zu den Kenntnissen und Fähigkeiten zu eröffnen, die für Schulerfolg ausschlaggebend sind, darf nicht aus den Augen verloren werden. Die verschiedenen Zielsetzungen des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen können durchaus als Dilemma beschrieben werden. Das Ziel, Unterschiede innerhalb der Schülerschaft in konstruktiver Weise anzuerkennen kann im Widerspruch zu dem Ziel stehen, Unterschiede im Hinblick auf Schulerfolgschancen auszugleichen (vgl. HINZ 2002). Eine Auseinandersetzung mit diesem Dilemma kann Teil des Lernprozesses sein. Soziale und schulische Normen können im Unterricht thematisiert und die soziale Wertigkeit sozio-kultureller und sprachlicher Praxis reflektiert werden. So können Schülerinnen und Schüler ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Ausdrucks-, Verhaltens- und Sichtwei-
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sen in Abhängigkeit von sozialen Kontexten und Konstellationen positiv oder negativ sanktioniert werden. Erst ein solches Bewusstsein befähigt sie, die Bedeutung unterschiedlicher Ausdrucks- und Lebensformen in historischen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu durchdringen (vgl. Punkt 5 in Kasten 2).
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Die Rolle der Lehrkraft bei der sozialen Konstruktion von Bedeutung im Unterricht
Ergebnisse der empirischen Unterrichtsforschung weisen darauf hin, dass die Bedeutung der Lehrkraft für den Lernzuwachs von Schülerinnen und Schülern größer ist, als lange angenommen wurde, und das gilt insbesondere für das Lernen von Kindern mit niedrigen Schulleistungen (vgl. LIPOWSKY 2007, S. 35ff). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler und Anleitung durch die Lehrkraft im Unterricht. Wie kann die Lehrkraft die soziale Konstruktion von Bedeutung im Unterricht unterstützen und dazu beitragen, dass die Lernenden ihren Erfahrungshorizont und ihre Kompetenzen erweitern? WYGOTSKIs theoretische Überlegungen sind ein grundlegender Beitrag zu einem Verständnis von Lernen und Lehren im Kontext sozialer Interaktion (vgl. ders. 1934/1986). Nach WYGOTSKI erwerben Kinder kulturelle Symbolsysteme durch das wiederholte Eingebundensein in sozial bedeutsame Aktivitäten und Interaktionen: Sie lernen neue Denk-, Argumentations- und Begründungsmuster in sozialen Austauschprozessen kennen und machen sich diese Muster erst im Anschluss an die soziale Erfahrung durch fortschreitende Verinnerlichung zu eigen. In der sozialen Interaktion können Kinder nach WYGOTSKI von ihren Alltagserfahrungen und „Alltagsbegriffen“ abstrahieren und allgemeingültige Phänomene bzw. „wissenschaftliche Begriffe“ erfassen (ebd., S. 167ff). Dafür brauchen Kinder allerdings Unterstützung durch eine instruktive Ausrichtung der Interaktion. Das instruktive Moment sieht WYGOTSKI im gemeinschaftlichen Lösen von Aufgaben innerhalb dialogischer Interaktionsmuster zwischen Lernenden und Lehrenden: Der erwachsene Interaktionspartner befähigt das Kind durch „Hilfsfragen“ dazu, Aufgaben aus dem „Bereich der nächsten Entwicklung des Kindes“ zu lösen (ebd., S. 236f). Das heißt, nach WYGOTSKI kann das Kind durch die instruktive Ausrichtung der Interaktion Aufgaben bewältigen, die es auf sich alleine gestellt, ohne Unterstützung, noch nicht hätte bewältigen können. In der dialogischen Konstruktion universaler Bedeutungen kann
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der erwachsene Interaktionspartner demnach die inhaltlichen und sprachlichen Abstraktionsprozesse der Kinder unterstützen, wenn er sowohl die aktuelle als auch die kommende Entwicklung des Kindes berücksichtigt. Aus WYGOTSKIs Konzept der ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ lässt sich der in der Didaktik verbreitete Anspruch ableiten, das Können des Kindes als Ausgangspunkt für Instruktion zu nehmen. Dieser Anspruch liegt zum Beispiel einer Konzeption von Förderkonzepten zugrunde, die Mechthild DEHN (1994, 1996) für den Lese- und Schreibunterricht in der Grundschule entwickelt hat: Für „Lehr- und Lernprozesse“ sei es „zentral, „vom Können des Kindes auszugehen und von da aus einen Weg zu den schulischen Anforderungen zu suchen: Was kann das Kind schon? Was muß es noch lernen? Was kann es als nächstes lernen? Zu diesem Blick auf das Kind gehört neben der Wahrnehmung seiner (frühen) Formen von Schriftlichkeit auch die Aufmerksamkeit auf sein ‚Selbst-Verständnis‘ – seine Initiative im Klassenzimmer, sein Umgehen mit der Aufgabenstellung im Unterricht, seine Reaktion auf Ansprüche, auf Korrekturformen und Arten der Präsentation der Arbeitsergebnisse (...)“ (DEHN 1996, S. 16).
Auch in der aktuellen Forschung zur Kompetenzentwicklung im Unterricht ist die theoretische Denktradition WYGOTSKIs einflussreich (vgl. z.B. PAULI 2006, SCHRADER u.a. 2008, S. 10), und eine unterstützende Haltung der Lehrkraft ist durch Untersuchungen zur Unterrichtsqualität wiederholt als Merkmal leistungsförderlichen Unterrichts identifiziert worden (vgl. z.B. DITTON 2006 und die Ergebnisse der SCHOLASTIK-Studie in Kasten 6). Im Sinne WYGOTSKIs besteht die Hilfestellung nicht in einer Belehrung, sondern darin, die Konstruktions- und Lernprozesse der einzelnen Schülerinnen und Schüler voranzubringen. Eine solche Form der Unterstützung beschreibt das Konzept des ‚Scaffolding‘ (vgl. Kasten 3).
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KASTEN 3f
Scaffolding
Der Begriff ‚Scaffolding‘ wurde von David WOOD, Jerome S. BRUNER und Gail ROSS (1976) eingeführt. Das Forschungsteam hat in einem Experiment mit dreibis fünfjährigen Kindern untersucht, wie eine erwachsene Person die Lernprozesse der Kinder bei einer für die Kinder interessanten und herausfordernden Aufgabe in der sozialen Interaktion optimal unterstützt. Das Experiment bestand im Bau einer Pyramide, bei dem Einzelteile in einer bestimmten Art und Weise zusammengesetzt werden mussten. Die Ergebnisse geben Aufschluss darüber, wie Lernende in der Interaktion mit einer ‚wissenden‘ bzw. lehrenden Person dazu befähigt werden können, Problemlösungen zu finden, die sie von sich aus nicht gefunden hätten. Zentral ist das Ergebnis, dass die Lehrperson den Lernenden im gelungenen Fall ein temporäres ‚Gerüst‘ (scaffold, englisch = Baugerüst) als Wegweiser zur Problemlösung zur Verfügung stellt, ohne dadurch die Eigenaktivität der Lernenden zu behindern. Ein „Modell des optimalen Scaffolding“ für den Unterricht skizzieren SALONEN und VAURAS (2006, S. 209): „Der Scaffolding-Prozess enthält im Wesentlichen eine graduelle Verschiebung von der Fremd- zur Selbstregulation mit dem Ziel, dem Kind zu helfen, unabhängigeres Lernen zu erreichen. (...) In einem optimalen Unterricht verändert die Lehrperson mit Scaffolding die Aufgabenschwierigkeit sensibel und flexibel. Sie hilft dem Kind durch sprachliche Anleitung die entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen und zu formulieren, gibt ihm nur die minimal nötige Unterstützung, damit die Aufgabe herausfordernd bleibt, dosiert die Hilfe flexibel und lässt sie umso mehr auslaufen, je mehr das Kind fähig ist, die Aufgabe unabhängig von Unterstützung zu bewältigen.“
Die Unterstützung der Konstruktions- und Lernprozesse durch die Lehrkraft hängt in hohem Maße von der Qualität der Interaktion ab. Anders als die Interaktion der Lernenden untereinander, die mit den von YOUNISS beschriebenen Prozessen der Ko-Konstruktion in Freundschaftsbeziehungen verglichen werden kann (vgl. Kasten 1), ist die Interaktion zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern durch ein asymmetrisches Machtverhältnis gekennzeichnet (vgl. PERREZ u.a. 2001, S. 360). Zur Rolle der Lehrkraft gehört es, Gespräche im Unterricht zu lenken und als ‚wissender‘ Interaktionspartner zu agieren. Die soziale Konstruktion von Bedeutung hängt aber davon ab, dass auch die Schülerinnen und Schüler ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen in das Gespräch einbringen können und die Interaktion ihnen Raum für eigene kognitive Aktivität lässt. Das ist der Fall, wenn die Interaktion sich als dynamischer Prozess gestaltet, in dem sich „Lehrer und Schüler wechselseitig beeinflussen“
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(ebd., S. 382). REICH (2006) zufolge zeichnen sich Lehrende als „Beziehungsdidaktiker“ idealerweise durch „ein dialogisches Verhalten in der Kommunikation“ und durch die „Fähigkeit zur Anerkennung und Wertschätzung anderer in dieser Kommunikation“ aus (S. 21). Die Unterrichtsforschung hat verschiedene Interaktionsmuster zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern beschrieben, die dem Denken und Sprechen der Lernenden mehr oder weniger Raum lassen. Eine zu starke Gesprächslenkung durch die Lehrkraft kann die aktive Beteiligung der Lernenden am Konstruktionsprozess verhindern. Die starke Lenkung zeichnet sich häufig durch kleinteilige Fragen aus, die den Blick auf das Ganze verstellen, weil sie die Inhalte portionsweise verhandeln. Bis heute gilt der zuerst von MEHAN (1979) rekonstruierte IRE-Diskurs (Initiation-Response-Evaluation-Diskurs) als in der Schule verbreitetes Interaktionsmuster. In diesem Diskurs stellt die Lehrkraft eine Frage, auf die eine Schülerin oder ein Schüler antwortet, woraufhin die Evaluierung durch die Lehrkraft folgt. Da der Lehrkraft die ‚richtigen‘ Antworten auf die Fragen meistens vorab bekannt sind, ist ein eng geführter IRE-Diskurs eher statisch als dynamisch. Nachgewiesenermaßen beteiligen sich an einer solchen Interaktion im Unterricht am ehesten Kinder von bildungserfolgreichen Eltern, denen sowohl das Interaktionsmuster als auch viele ‚richtige‘ Antworten aus Gesprächen mit ihren Eltern bereits bekannt sind. Demgegenüber begünstigen reziproke Interaktionsprozesse, in denen sich die Gesprächspartner aufeinander beziehen, eine aktive und fragende Lernhaltung und damit die kognitive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler. Wenn die Lehrkraft den Gesprächsablauf weniger vorherbestimmt und häufiger ‚echte‘ Fragen stellt, ist außerdem die Wahrscheinlichkeit höher, dass Kinder unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen einbringen können. In der reziproken Interaktion kann die Lehrkraft den Gedankengängen der Kinder folgen und ihre individuellen Konstruktionsprozesse unterstützen. Eine Voraussetzung dafür sind hohe Redeanteile der Schülerinnen und Schüler.
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KASTEN 4f
Beispiel für die soziale Konstruktion von Bedeutung im Unterricht
Das Beispiel stammt aus einer Untersuchung von Pauline GIBBONS (2006) in einer Schule in Sydney (Australien). Es handelt sich um Unterricht zum Thema Magnetismus in einer Schulklasse mit zehnjährigen Kindern, von denen die Mehrheit aus zugewanderten Familien stammt und Englisch als Zweitsprache erwirbt: „Lehrerin: Versuch ihnen zu sagen, was du gelernt hast ... okay. (Zu Hannah) ja? Hannah: Ähm äh, ich hab gelernt, dass ähm wenn man einen Magneten ... (Lachen von Hannah und anderen Kindern, als das Mädchen eine Erklärung versucht, ohne die Hände zu benutzen) wenn ich [einen Magneten auf einen Magneten] lege ... wenn man einen Magneten ... oben auf einen Magneten legt ... und der Nordpol Pole sind ... (Pause von 7 Sekunden, Hannah hat deutlich Probleme auszudrücken, was sie sagen möchte) Lehrerin: Ja, ja du machst das gut ... man legt einen Magneten oben auf einen anderen ... Hannah: Und und die Nordpole sind zusammen äh ähm der Magnet ... stößt den Magneten äh ... der Magnet und der andere Magnet ... so als ob er in der Luft schwimmt? Lehrerin: Ich finde, das ist sehr gut gesagt ... sehr gut ... willst du etwas hinzufügen, Charlene? (Die Lehrerin fordert zu anderen Beiträgen auf und kehrt dann zu Hannah zurück. Sie bittet Hannah, zuerst das Experiment den anderen Kindern zu zeigen, und fordert sie anschließend auf, es noch einmal zu erklären.) (...) Lehrerin: Hört jetzt zu ... nun, Hannah, erkläre es noch einmal ... in Ordnung, Hannah ... aufgepasst jetzt (sie stellt die Aufmerksamkeit der Klasse wieder her) ... hört noch einmal auf ihre Erklärung Hannah: Die zwei Nordpole lehnen zusammen und der Magnet unten stößt den Magneten oben ab, sodass der Magnet oben so ... in der Luft schwimmt Lehrerin: Sodass sich diese zwei Magnete gegenseitig abstoßen und ... guck dir die Kraft dabei an.“ (GIBBONS 2006, S. 279)
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Didaktische Handlungsmodelle
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Lernen ein aktiver, konstruktiver und sozialer Prozess ist, wurde der normative Begriff ‚neue Lernkultur‘ geprägt (vgl. HELMKE 2005, S. 66; WEINERT 1997b). Der Begriff wird programmatisch mit Bezug auf reformpädagogische Ideale und in Abgrenzung von einem lehrerzentrierten Unterricht verwendet (vgl. KOLBE u.a. 2008, S. 127). Er beinhaltet Vorstellungen eines ‚guten Unterrichts‘, in dem Schülerinnen und Schüler ihre Lernprozesse so weit wie möglich selbst organisieren, kontrollieren und in Kontexten gestalten, die an ihre Interessen anschließen (vgl. als Beispiel für die Aktualität dieser Ideale KOLLAR/FISCHER 2008). Dementsprechend gelten so genannte progressive Unterrichtsmethoden, wie z.B. Werkstatt- und Projektunterricht, Freiarbeit und Kooperatives Lernen (vgl. Kapitel 4 in diesem Buch) als Teil der neuen Lernkultur. In der Praxis in deutschen Schulen werden solche Ansätze am ehesten im ‚Offenen Unterricht‘ in der Grundschule umgesetzt (vgl. GÖTZ u.a. 2005). Individualisierende und differenzierende Handlungsmodelle sollen dazu beitragen, unterschiedlichen Interessen, Lernvoraussetzungen und -wegen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht mehr Raum zu geben. Definition „Innere Differenzierung“ „Innere Differenzierung als ein Ansatz, dessen Entstehung bis in die siebziger Jahre zurückreicht, ist insbesondere darauf ausgerichtet, die Lernumgebung an den heterogenen Lernvoraussetzungen und Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler zu orientieren, um auf diese Weise optimale Lernmöglichkeiten für alle Lernenden zu schaffen. Das aus dem Lateinischen stammende Wort ‚differenzieren‘ meint in dem Zusammenhang, Lernumgebungen ‚ungleich‘, ‚verschieden‘, an die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen ‚passend‘ bzw. ‚anschlussfähig‘ zu gestalten. Innere Differenzierung bezieht sich folglich auf ein ‚ungleiches‘, ‚verschiedenes‘ Gestalten von Lernumgebungen innerhalb einer Lerngruppe (...).“ (HANKE 2005, S. 123f).
In der Erziehungswissenschaft besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass ein gleichschrittiger, ausschließlich lehrergelenkter Unterricht den Unterschieden in den Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht wird und dass Innere Differenzierung in heterogenen Lerngruppen sinnvoll ist. Allerdings ignorieren allgemein gehaltene programmatische Forderungen nach Innerer Differenzierung als Lösungsansatz für den Umgang mit Heterogenität, dass damit – wie im Folgenden deutlich werden soll – durchaus praktische und theoretische Probleme, Widersprüche und Herausforderungen verbunden sind
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(vgl. WISCHER 2007). Im Hinblick auf die Berücksichtigung unterschiedlicher Lernausgangslagen und auf den Leistungsausgleich in heterogenen Lerngruppen birgt Innere Differenzierung sowohl Chancen als auch Probleme. Eine Herausforderung ist das „Spannungsfeld (...) zwischen Individualisierung und normierten Anforderungen“ (VON DER GROEBEN 2008, S. 26). Eine grundsätzliche Frage betrifft die Lernziele der einzelnen Schülerinnen und Schüler, wenn sie individuelle Aufgaben bearbeiten. In welchem Verhältnis stehen Individual- und Gruppennorm, wenn durch Innere Differenzierung für jede und jeden Einzelnen optimale Lernbedingungen geschaffen werden sollen? Was heißt Differenzierung für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler? Bearbeiten sie ‚leichtere‘ oder weniger Aufgaben als leistungsstarke Schülerinnen und Schüler? Wie wird gewährleistet, dass auch sie einen Zugang zum Wissen und Können erhalten, das für den Schulerfolg ausschlaggebend ist? Ein Ansatz im Umgang mit diesem Dilemma ist eine Orientierung an differenziellen Lernzielen, basierend auf einer „Unterscheidung zwischen einem Basiscurriculum mit fundamentalen Lernzielen für alle Schüler und einem differenziellen Aufbaucurriculum, das Schülern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und verschiedenen Interessensrichtungen möglichst große geistige Entfaltungsmöglichkeiten bietet“ (WEINERT 1997a, S. 52). Ein weiteres Problem der Inneren Differenzierung ist die Zuteilung individueller Aufgaben. Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht mit 20 bis 30 Kindern auf individuelle Lernbedürfnisse eingehen? Ist der Anspruch, das Lernangebot an individuelle Bedürfnisse ‚anzupassen‘, aus lerntheoretischer Perspektive überhaupt sinnvoll? Die Vorstellung, die Lehrkraft könne den unterschiedlichen Lernausgangslagen in einer Schulklasse gerecht werden, indem sie für alle Schülerinnen und Schüler individuell ‚passende‘ Aufgaben bereitstellt, birgt nicht nur ein praktisches Komplexitätsproblem, sondern ist auch lerntheoretisch fragwürdig. BRÜGELMANN (2002) bezeichnet eine „Passung von Unterricht und individuellem Entwicklungsstand“ durch die Lehrkraft als „Illusion“. Da „Diagnosen und Prognosen von Leistungen (...) wenig verlässlich“ seien, sei der Anspruch der „Passung“ nicht zu erfüllen (ebd., S. 38). Wenn die Lehrkraft als binnendifferenzierende Maßnahme die Qualität oder die Quantität von Aufgaben variiert, besteht unweigerlich die Gefahr, dass sie die Leistungs(un)fähigkeit einzelner Schülerinnen und Schüler festschreibt. Ein sinnvolles Gegenmodell zur Differenzierung ‚von oben‘ durch die Lehrkraft ist deshalb eine Differenzierung ‚von unten‘ durch die Schülerinnen und Schüler selbst (vgl. BRÜGELMANN 2002, S. 39; HANKE 2005, S. 124). Wenn den Lernenden bei der Bearbeitung von Aufgaben Entscheidungsfreiräume gelassen werden, können sie individuelle Zugänge entwickeln. Eine günstige Voraussetzung dafür sind komplexe Aufgaben- und Problemstellungen, die auf kleinteilige Stufung 74
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und Progression verzichten und stattdessen unterschiedliche Formen und Medien der Bearbeitung zulassen (vgl. DEHN 2005, S. 26f). Eine weitere Möglichkeit der Differenzierung ‚von unten‘ besteht darin, Schülerinnen und Schüler selbst zwischen verschiedenen Aufgaben wählen zu lassen. Voraussetzung dafür ist das Vertrauen, dass die Schülerinnen und Schüler sich beim selbstbestimmten Lernen ‚sinnvoll‘ beschäftigen und nicht ‚zu leichte‘ oder ‚zu schwere‘ Aufgaben bearbeiten. Dazu gehört ein konstruktiver Umgang mit Fehlern. „Wenn wir Fehler als individuelle Differenzierung ‚von unten‘ tolerieren, entgehen wir dem unerfüllbaren Anspruch einer Differenzierung ‚von oben‘ durch individuelle Programme für jedes einzelne Kind“ (BRÜGELMANN/BRINKMANN 1994, S. 9). Aus sozial-konstruktivistischer Perspektive stellt sich die Frage, inwieweit ein interaktiver, im oben beschriebenen Sinne horizonterweiternder Umgang mit Heterogenität im Rahmen Innerer Differenzierung überhaupt möglich ist. Steht eine Betonung des individuellen Lernens nicht im Widerspruch dazu, unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen in der Schulklasse für das gemeinsame Lernen zu nutzen? Ist es doch für die soziale Konstruktion von Bedeutung im Unterricht eine Voraussetzung, dass sich alle Schülerinnen und Schüler als Gruppe mit geteilten Problemen und Fragen auseinandersetzen und diese aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Erst dann kann das „Klassenzimmer (...) nicht nur als physikalischer, sondern auch als sozio-ökologischer Kontext des Lernens“ gesehen werden (WEINERT 1997b, S. 19). Es ist demnach sinnvoll, Phasen der Individualisierung im Unterricht durch Arbeitsformen in Gruppen und Gespräche im Klassenverband zu ergänzen.
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KASTEN 5f
„Das soll eine Sonne sein?“
Das folgende Beispiel aus dem Unterricht einer 1. Grundschulklasse hat Mechthild DEHN als „Schlüsselszene zum Schrifterwerb“ identifiziert (DEHN 1994, S. 31): Protokoll der Lehrerin: „Wir sitzen im Kreis, erzählen vom Wochenende. Sascha sagt: „Ich habe euch etwas mitgebracht.“ Stolz präsentiert er fünf gleichgroße Papierschnipsel und legt sie in die Kreismitte. „Das ist ein Puzzle“, sagt er mit einer Stimme, die verrät, daß wir das wohl nie rauskriegen. Die Kinder schauen und bemerken dann, daß auf den einzelnen Papierstücken Buchstaben stehen. Sandra hockt sich in den Kreis und beginnt, die Schnipsel nebeneinander zu legen. Die Kinder sagen: Da ist ein O. Und ein N. Den kenn‘ ich, den habe ich vorn. Das S ist auch da. Ja, und noch mal! Und ein E – wie Esel. In der Kreismitte liegt jetzt ENNOS. Sandra (sie kann schon Wörter/kleine Sätze lesen) ruft: „Oh, das ist ja Sonne!“ Schnell legt sie die Buchstaben in die richtige Reihenfolge: „Ja, das ist Sonne.“ Anwar hält sich die Hand vor den Mund, lacht versteckt und prustet dann los: „Das soll eine Sonne sein, da lach‘ ich mich ja kaputt, das ist doch keine Sonne!“ Die Kinder schauen etwas ratlos. Ich gehe an die Tafel und male eine große Sonne auf die Vorderseite. „Ist das eine Sonne?“ frage ich. Er nickt: „Ja, das ist eine Sonne. So sieht nämlich eine Sonne aus.“ Im Kreis zeige ich auf die Schnipsel und sehe die Kinder an. Sascha meint: „Ja, und da steht auch Sonne. Das ist nämlich das Wort für Sonne.“ „Hääh?“ ... Keiner kann dieses „häh“ so lang ziehen und so ungläubig gucken wie Anwar. „Das ist auch ‘ne Sonne?“ Murat sagt: „Anwar, das sind die Buchstaben für Sonne, so wenn man schreibt.“ Sascha erklärt noch, daß er sein Puzzle ja extra schwer machen wollte, deshalb habe er keine Sonne gemalt. Anwar schaut noch etwas ungläubig und fragt: „Und da steht jetzt Sonne“? Klasse 1, 30.8.1993. Gedächtnisprotokoll: Sigrid Andersen“ (DEHN 1994, S. 82)
Eine weitere Herausforderung eines geöffneten, differenzierenden Unterrichts besteht in dem Verhältnis von Anleitung und Eigenaktivität. In einem Unterricht, der auf das ‚eigenverantwortliche Lernen‘ der Schülerinnen und Schüler abzielt, wird die wichtigste Aufgabe der Lehrkraft häufig darin gesehen, die ‚Lernumgebung‘ zu gestalten. Diese Sichtweise steht jedoch im Widerspruch zu der empirischen Erkenntnis, dass eine aktive Unterstützung und Strukturierung der Lernprozesse durch die Lehrkraft gerade für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler wichtig ist (vgl. Kasten 6 zur SCHOLASTIK-Studie). Vor diesem Hintergrund kritisiert WEINERT (1997b) eine „Dogmatisierung progressiver Un76
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terrichtsmethoden“ und sieht eine Gefahr in der „Stigmatisierung des Lehrers als autoritäre Kontrollinstanz des kindlichen Lernens“ (ebd., S. 26). Wenn wir davon ausgehen, dass auch das selbstbestimmte Lernen im Unterricht einer Unterstützung durch die Lehrkraft bedarf, heißt das, die „Öffnung des Unterrichts enthebt uns (...) nicht der Aufgabe, die Lernversuche der Kinder sorgfältig zu beobachten und ihnen gezielt Aufgaben zu stellen.“ (BRÜGELMANN/BRINKMANN 1994, S. 9). Das Verhältnis von Anleitung und Eigenaktivität im Unterricht beeinflusst nicht zuletzt den Leistungsausgleich in heterogenen Lerngruppen. Schülerinnen und Schüler nutzen Freiräume für Eigenaktivität im Unterricht in unterschiedlichem Maße für die Aneignung schulischer Inhalte, und zwar auch in Abhängigkeit davon, ob ihnen schultypische Aktivitäten wie z.B. das Lesen von Haus aus vertraut sind oder nicht. Vor diesem Hintergrund warnt Jill BOURNE (2003) davor, das eigenaktive Lernen im Unterricht zu idealisieren; zur Illustration: „(...) the child who takes the teacher‘s instruction to ‚choose‘ from a range of activities at face value, and spends his time on the tricycles [Dreiräder, S.F.] rather than alongside the teacher in reading activities is seen less ‚ready‘ to learn, does not receive instruction, and falls further and further behind, particularly if not at the same time receiving parental instruction in reading at home.“ (BOURNE 2003, S. 498).
Da Unterschiede im Lernverhalten und in den Lernerfolgen immer auch auf sozio-kulturelle Bedingungsfaktoren, und nicht vorschnell auf ‚Begabungen‘ zurückzuführen sind, sollten Kinder beim selbstbestimmten Lernen im Unterricht nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern Unterstützung erfahren.
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Die Münchner Grundschulstudie SCHOLASTIK
Die Grundschulstudie SCHOLASTIK des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung München in 51 Schulklassen über die Grundschulzeit ist eine der umfassendsten schulischen Langzeituntersuchungen (vgl. WEINERT/HELMKE (Hrsg.) 1997). SCHOLASTIK steht für „Schulorganisierte Lernangebote und Sozialisation von Talenten, Interessen und Kompetenzen“. Die empirische Studie umfasst Leistungstests, Schüler- und Lehrerbefragungen sowie Unterrichtsbeobachtungen. Das Ziel bestand darin, die Entwicklung schulischer Leistungen sowie lernbezogener Motive und Orientierungen zu beschreiben und zu erklären. Für Fragen des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen sind insbesondere folgende Ergebnisse relevant: 1. Schulische Lernerfolge hängen in weitaus höherem Maße vom Vorwissen der Kinder als von ihrer Intelligenz ab. Es sind also vor allem vorangegangene Lernprozesse und sozialisationsbedingte Unterschiede in den Vorkenntnissen, die die Leistungen der Kinder in der Schule beeinflussen. In heterogenen Lerngruppen folgt daraus der Anspruch, unterschiedliche Vorkenntnisse im Unterricht zu berücksichtigen. 2. Lernerfolge hängen nicht nur von den Voraussetzungen der Kinder, sondern auch von Merkmalen des Unterrichts ab; darüber geben die Ergebnisse über Leistungen im Mathematikunterricht Aufschluss. Zwar zeigen die Profile der sechs erfolgreichsten Schulklassen in der SCHOLASTIK-Studie, dass die Merkmale eines leistungsförderlichen Unterrichts variieren und unterschiedliche Unterrichtsstile effektiv sein können. Es lassen sich aber bestimmte Merkmale der Unterrichtsgestaltung und der Klassenführung ableiten, die insbesondere für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler lernförderlich zu sein scheinen. Leistungsförderliche Merkmale der Unterrichtsgestaltung: • • •
Klarheit: Die Lehrkraft sagt eindeutig, was zu tun ist, die Kinder können Anweisungen ohne Nachfragen umsetzen. Strukturiertheit des Lehrervortrags: Die Lehrkraft drückt sich verständlich und präzise aus. Inhaltliche Zusammenhänge werden explizit erläutert. Individuelle unterstützende Lernbegleitung: In offenen Unterrichtsphasen achtet die Lehrkraft darauf, dass jedes Kind aktiv arbeitet und gibt einzelnen Kindern Hilfestellungen.
Leistungsförderliche Merkmale der Klassenführung: •
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Regeln und Rituale: Nach kurzen Ansagen wissen die Kinder genau, was zu tun ist und können sofort auf das nötige Material zurückgreifen.
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
• •
Zeitnutzung: Die Unterrichtszeit wird optimal für das fachliche Lernen genutzt. Umgang mit Störungen: Mit Störungen wird präventiv umgegangen; wird es laut, greift die Lehrkraft schnell ein.
In der Unterrichtsforschung ist es Konsens, dass ein ‚guter Unterricht‘ verschiedene Methoden in offenen und lehrergelenkten Handlungssituationen verbindet und dass eine dichotomisierende Diskussion ‚progressiver‘ und lehrergelenkter Methoden vielen Praxisansätzen nicht gerecht wird (vgl. HELMKE 2005, S. 69f; LOMPSCHER 2001, S. 396; Schrader u.a. 2008, S. 20f). Auch im ‚Offenen Unterricht‘ kann die Lehrkraft das Lernen unterstützen und strukturieren (vgl. HARTINGER 2005). Auch ein lehrergelenkter Unterricht (‚direkte Instruktion‘, ‚fragend-entwickelnder Unterricht‘) kann problemorientiert durchgeführt werden und die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler einbeziehen (vgl. PAULI 2006, STERN 2006). Die Ergebnisse der Münsteraner Schulstudie weisen darauf hin, dass eine Kombination unterschiedlicher Methoden besonders Erfolg versprechend ist (vgl. Kasten 7). KASTEN 7f
Die Münsteraner Schulstudie
Die Münsteraner Schulstudie wurde im naturwissenschaftlichen Sachunterricht zum Thema ‚Schwimmen und Sinken‘ im dritten Grundschuljahr durchgeführt (vgl. MÖLLER u.a. 2006). Die Studie ging der Frage nach, wie ein Unterricht, der den Aufbau physikalischer Basiskonzepte fördert, gestaltet sein sollte. Die Ergebnisse geben Aufschluss über die Rolle der Lehrkraft in einem konstruktivistisch orientierten Unterricht. In sechs Schulklassen wurde ein Werkstattunterricht zum Thema ‚Schwimmen und Sinken‘ durchgeführt, in dem die Kinder vielfältige Möglichkeiten hatten, eigene Erfahrungen mit dem Thema zu sammeln; so erkundeten sie bei einem Besuch im Schwimmbad die Auftriebskraft des Wassers, und nach der Methode des forschenden Lernens führten sie zahlreiche Experimente durch. Ein Unterschied im Unterricht der Schulklassen wurde durch eine quasi-experimentelle Anlage der Studie hergestellt: Der Unterricht in drei der sechs Schulklassen zeichnete sich durch eine stärkere Strukturierung der Inhalte aus. In diesen drei Klassen bestimmte die Lehrkraft die Reihenfolge, in der die Kinder die Experimente durchführten, unterstützte den Erwerb der physikalischen Konzepte durch Teilfragen und ‚Scaffolding‘ in der Gesprächsführung (vgl. Kasten 3) und stimmte die Aufgabenstellungen auf Teilaspekte des Themas ab. Die Ergebnisse der Studie belegen für den Aufbau der
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physikalischen Basiskonzepte eine signifikante Überlegenheit des Unterrichts mit stärkerer Strukturierung. Die Münsteraner Schulstudie bestätigt das Ergebnis der Unterrichtsforschung, dass insbesondere die leistungsschwächeren Kinder von der strukturierenden Unterstützung durch die Lehrkraft profitieren.
Eine günstige Bedingung für das Lernen in heterogenen Schulklassen ist ein „adaptiver Lehrstil“, der unterschiedliche Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt (WEINERT 1997a, S. 52). Dazu gehören sowohl Individualisierung und Stillarbeitsphasen als auch Instruktion und Lehrervortrag zur Sicherung von Grundbegriffen als auch gemeinsames Lernen durch ko-konstruktive Interaktion.
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Zusammenfassung
Lernprozesse im Unterricht werden aus sozialkonstruktivistischer Perspektive durch die interaktive Konstruktion von Bedeutung initiiert. Gemäß den hier zugrunde gelegten normativen Prämissen für ‚guten Unterricht‘ in heterogenen Lerngruppen gehört dazu sowohl ein konstruktiver Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen als auch die interaktive Entwicklung gemeinsamer Grundbegriffe schulischer Inhalte. Dem entspricht eine reziproke Unterrichtsinteraktion, die Raum für das Denken und Sprechen der Lernenden lässt und in der das Können der Schülerinnen und Schüler ein Ausgangspunkt für die Anleitung und Unterstützung durch die Lehrkraft ist. Die Variation verschiedener didaktischer Handlungsmodelle und Unterrichtsmethoden in Abhängigkeit von Unterrichtsinhalten und -zielen und in Abhängigkeit von den Bedürfnissen der Lerngruppe kann dazu beitragen, dass Prozesse der interaktiven Konstruktion und der Instruktion durch die Lehrkraft aufeinander bezogen sind. Fragen und Denkanstöße 1. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive wird Lernen durch die interaktive Aushandlung von Bedeutung angestoßen. Illustrieren Sie diesen Prozess an einem (fiktiven) Beispiel aus dem Unterricht in einer heterogenen Lerngruppe!
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2. Erläutern Sie den didaktischen Anspruch, das Können des Kindes als Ausgangspunkt für Instruktion zu nehmen, mit WYGOTSKIS Begriffen! 3. Analysieren Sie die Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerinnen in dem Beispiel in Kasten 4! Wodurch zeichnet sich das Gesprächsverhalten der Lehrerin aus? Wie wirkt es auf die Beiträge der Schülerin Hannah? 4. Klären Sie den Begriff ‚Innere Differenzierung‘ und illustrieren Sie ihn an einem (fiktiven) Beispiel aus dem Unterricht! Welche Potenziale und welche Probleme birgt Innere Differenzierung im Unterricht? 5. Analysieren Sie das Unterrichtsbeispiel in Kasten 5 („Das soll eine Sonne sein?“)! Welche Lernprozesse werden wie initiiert? Welche Rolle spielt die Lehrerin? Literaturempfehlungen REICH, K. (2006): Konstruktivistische Didaktik. Lehr- und Studienbuch mit Methodenpool. Weinheim und Basel. Kersten REICH, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Köln, stellt in dem Lehr- und Studienbuch theoretische Grundlagen und praxisbezogene Konzepte einer konstruktivistisch orientierten Didaktik dar. Ausgangspunkt ist die Frage, wie wir „alle Lerner (...) noch mehr zu ihrem individuell erfolgreichen, optimierten, für sie passenden Lernen“ kommen lassen können (S. 10f). Ein Methodenpool auf CD führt in verschiedene Unterrichtsmethoden ein und enthält konkrete Beispiele für die Unterrichtsgestaltung. GROEBEN, A. (2008): Verschiedenheit nutzen. Besser lernen in heterogenen Gruppen. Berlin. Annemarie VON DER GROEBEN ist Gymnasiallehrerin, war an der Bielefelder Laborschule tätig und arbeitet in der Lehrerfortbildung. Vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse und bildungspolitischer Diskussionen bietet ihr Buch erprobte und anregende Beispiele für die Unterrichtsgestaltung in heterogenen Lerngruppen. Die Beispiele zeigen, „wie Individualisierung (verstanden als Vielfalt der Lernwege, die mit einem gemeinsamen Thema verknüpft werden) konkret aussehen kann“ (S. 9). Schulischer Wandel bzw. ein umfassendes Konzept von Schulentwicklung ist dabei die übergreifende Perspektive.
VON DER
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Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
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Kapitel 4
Petra Hild
Kooperatives Lernen Lernen geschieht in und durch Interaktion. Dies ist eine der Kernaussagen dieses Beitrages über Kooperatives Lernen. Als Kooperatives Lernen bezeichnet man ganz allgemein verschiedene Unterrichtsstrategien, deren Gemeinsamkeit die Gruppenarbeit ist. Der Ansatz des Kooperativen Lernens soll sichern, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur zusammenarbeiten, sondern dass sie gemeinsam mehr lernen als allein. Kooperatives Lernen nutzt Heterogenität als Ressource. Es ist eine interaktive und strukturierte Lernform, bei der alle Lernenden sich und ihre Kompetenzen beim Bearbeiten einer komplexen Aufgabe möglichst eigenverantwortlich und gleichberechtigt einbringen, wobei die Lehrerin oder der Lehrer Autorität delegiert. Dadurch entstehen für die Lehrperson Räume zur Beobachtung, die im herkömmlichen Unterricht meist fehlen. Kooperatives Lernen ist vom Grundgedanken her nichts Neues. Bereits Amos COMENIUS (1592-1670) beklagte, dass das Prinzip ,Wer andere lehrt, bildet sich selbst‘ in den Schulen zu wenig bekannt sei. Die Zunahme der Beschäftigung mit kooperativem Lernen innerhalb der letzten Jahre hat stark mit einem veränderten Lehr-Lernverständnis zu tun. Zahlreiche Forschungen bestätigen die Wirksamkeit von Kooperativen Lernprozessen (vgl. GREEN/GREEN 2007; HUBER 1993; JOHNSON/JOHNSON/HOLUBEC 2002; KONRAD/TRAUB 2001).
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Kooperatives Lernen? Gruppenarbeit kennen wir doch ...
Bevor Sie sich gleich eingehender mit Kooperation und Kooperativem Lernen beschäftigen, nehmen Sie sich bitte 20 Minuten Zeit für die folgenden zwei Aufgabenstellungen:
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1) Beschreiben und begründen Sie den Stellenwert von ‚Lernen in Gruppen‘ für den von Ihnen bereits praktizierten oder zukünftigen schulischen Unterricht. 2) Machen Sie sich eine Liste mit Vor- und Nachteilen dieser Lehr- und Lernform und vergleichen Sie Ihre Argumente beim Weiterlesen mit denen des vorliegenden Artikels. Kooperatives Lernen ist von unterschiedlichen Bedingungen abhängig, damit es lernwirksam wird. Die folgende Definition gibt erste Anhaltspunkte. KASTEN 1f
Kooperation
Zwei oder mehr (höchstens sechs) Personen arbeiten mit dem Ziel zusammen, gemeinsam ein Problem zu lösen oder einen Lernauftrag zu erfüllen. Alle kennen das Ziel und wollen es erreichen. Die oder der Einzelne erreicht es, wenn die Gruppe es erreicht hat. Jedes Gruppenmitglied hat eine Rolle und eine Aufgabe, die seinen Fähigkeiten entspricht. Diese Rolle und diese Fähigkeiten sind notwendig zum Erreichen des Ziels. Das macht die Einzelnen zur Gruppe. Alle Mitglieder sind somit voneinander abhängig. Sie kooperieren, wenn sie einander ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Dazu müssen sie interagieren und kommunizieren. Sie müssen sich gegenseitig fragen, einander zuhören, eine Meinung vertreten, Gedanken strukturieren, den Überblick behalten und Arbeitsteilung organisieren.
Es gibt unterschiedliche Begründungen für kooperative Lernprozesse. Aus einer lerntheoretischen Perspektive wird argumentiert, dass beim Lernen durch Austausch- und Aushandlungsprozesse sowohl Wissen als auch Denkstrukturen erworben und erweitert werden. Die Pädagogik und Didaktik argumentiert mit der Mehrdimensionalität von Kooperativem Lernen: • • • • • • •
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es wird ein Inhalt gelernt; Wissen wird (re)konstruiert und damit gefestigt; Fertigkeiten wie Schreiben werden trainiert; über den Lernweg werden soziale Ziele verfolgt; Lernstrategien werden angewendet und reflektiert; Haltungen wie Respekt oder Verantwortungsübernahme können sich entwickeln und weil die Lehrperson die Steuerung zu einem großen Teil abgibt, wachsen Selbstständigkeit, Disziplin und Eigenverantwortung.
Kooperatives Lernen
Kooperatives Lernen wird seit über zwanzig Jahren innerhalb der Interkulturellen Pädagogik diskutiert, erforscht und reflektiert. Anfang der neunziger Jahre hat z.B. Pieter BATELAAN (Niederlande) zur Förderung der Interkulturellen Pädagogik in Europa SLIM eingeführt. SLIM heißt im Holländischen ,klug‘ und steht hier für gemeinsames Lernen in multikulturellen Gruppen. Die schwedische Variante ist als CLIP (Cooperative Learning in Intercultural Education Projects) bekannt. SLIM und CLIP beruhen auf den Ideen der Komplexen Instruktion, die im Folgenden vorgestellt werden (1.1). Auf zentrale Merkmale Kooperativen Lernens wird im Anschluss daran eingegangen (1.2). 1.1
Komplexe Instruktion
Die Komplexe Instruktion ist eine Unterrichtsstrategie, die auf 20jähriger Forschung basiert und von der Soziologin Elizabeth COHEN an der Stanford University in Kalifornien entwickelt wurde. Im Sinne der Komplexen Instruktion kreist bei CLIP jede kooperative Lerneinheit um eine zentrale Idee (big idea), welche sich in einer komplexen Fragestellung spiegelt, wie z.B. Warum wandern Menschen? oder Wie funktioniert Kommunikation? Komplex bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Problem nicht auf einem einfachen UrsacheWirkungs-Zusammenhang beruht. Vielmehr gibt es verschiedene Gründe und Möglichkeiten des Umgangs mit der gestellten Aufgabe oder dem formulierten Problem sowie unterschiedliche Vorgehens- und Lösungsvarianten. Nach einer einführenden, von der Lehrperson gestalteten Aktivität (z.B. Museumsbesuch) folgt eine kooperative Lernphase, in – durch die Lehrperson bestimmten – Gruppen. Die speziellen Aufgaben der einzelnen Gruppenmitglieder werden bei CLIP durch die Übernahme einer der Aufgabenstruktur angemessenen Rollenübernahme (vgl. HILD/WÜLSER 2000, S. 44) ebenfalls von der Lehrperson gesteuert. Der schriftlich formulierte Gruppenauftrag ist immer nach demselben Prinzip aufgebaut:
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KASTEN 2f
Aufbau eines Gruppenauftrags im Rahmen komplexer Instruktion
A Arbeitsauftrag 1 Die erste (und zweite) Aufgabe ist für alle Gruppen gleich. Sie führt ins Thema ein, holt Vorwissen ab, ermöglicht Austausch und lässt alle zu Wort kommen. Für diese Phase eignet sich z.B. die Taktik ,Platzdeckchen‘ (s. S. 94). B Inhaltskarte In einem zweiten Schritt befasst sich die Gruppe mit einer von der Lehrperson gestalteten Inhaltskarte. Eine Inhaltskarte stellt auf 1 bis 2 Seiten das Wesentliche zum Thema dar und dient der Wissenserweiterung. Ist etwas neu für die Gruppe? Welche Fragen wirft die Inhaltskarte auf? Diskursiv einigt sich die Gruppe auf zentrale Inhalte und Aussagen zur gestellten Frage. C Arbeitsauftrag 2 Im letzten Teil von CLIP soll das bisher erarbeitete Wissen zur Anwendung kommen, es geht um Transfer von Wissen. Im Gegensatz zu den ersten zwei Schritten unterscheidet sich die dritte Aufgabenstellung für jede Gruppe, indem sie unterschiedliche Zugänge ermöglicht. Zum Thema Kinderrechte kann z.B. von einer Gruppe ein Hörspiel geschrieben oder ein Plakat gestaltet und von einer anderen ein Interview vorbereitet oder ein Rollenspiel erarbeitet werden.
Materialien sind pro Gruppe nur einmal vorhanden. Es ist wichtig, dass alle ihr Wissen in die Gruppe einbringen und notwendige Informationen beisteuern. Jede Gruppe ist als Team für die Präsentation verantwortlich und steht zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung. Abgerundet wird die komplexe Instruktion jeweils durch eine Reflexionsphase (s. auch unter Reflexion, S. 92). 1.2
Merkmale von Kooperativem Lernen
Im Vergleich zur herkömmlichen Gruppenarbeit lassen sich acht spezifische Merkmale Kooperativen Lernens beschreiben, die das Potenzial dieses Ansatzes für heterogene Lerngruppen verdeutlichen (vgl. GREEN/GREEN 2007; HUBER 1993; JOHNSON/JOHNSON/HOLUBEC 2002; KONRAD/TRAUB 2001): (1) Interventionen zum Abbau von Statusunterschieden in der Schulklasse Strategien im Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit sind nur erfolgreich, wenn sie Statusprobleme lösen (vgl. COHEN 1993, S. 51). Der Status einzelner Schülerinnen und Schüler in der Lerngruppe wird aus der Sicht der Soziologin Elizabeth Cohen u.a. an Leistungsfähigkeit und Beliebtheit festgemacht. „Auf 88
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Status begründete Fähigkeitszuschreibungen können zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden“ (COHEN 1993, S. 51). Der Status (dazu gehört auch der Peerstatus) einzelner Lernender muss von der Lehrperson aufmerksam beobachtet werden. Es braucht Interventionen der Lehrperson, um in der Gruppe Fähigkeiten von Kindern mit niedrigem Status zu erkennen und für den Lernprozess der Gruppe attraktiv zu machen. Mit diesem Vorgehen wird diesen Schülerinnen und Schülern zu einem Expertenstatus und Ansehen in der Gruppe verholfen, was deren Einfluss- und Interaktionsmöglichkeiten erleichtert. Die Veröffentlichung dieser Fähigkeiten erhöht den Status. (2) Sichere Lernumgebung Die Grundlage für kooperative Lernprozesse bildet eine sichere Lernumgebung. Lernende müssen sich sicher, wertgeschätzt und respektiert fühlen, um effektiv zu lernen (vgl. GIBBS 1995). „Annäherung an einen Zustand, in dem man ohne Angst verschieden sein kann“, nennt es Annedore PRENGEL (2004, S. 44) in Anlehnung an eine klassische Aussage der Kritischen Theorie. Für das Lernen heißt dies z.B. ohne Angst seine Erstsprache in den Unterricht einbringen und nutzen dürfen, ohne Angst Fragen stellen, Hypothesen bilden sowie Fehler machen können. (3) Heterogene Gruppen und Ressourcenorientierung Heterogene Gruppen haben zum Hauptziel, der Verschiedenheit der Lernenden gerecht zu werden und sind damit eine Voraussetzung für mehr Chancengerechtigkeit im Unterricht. Die Aufgabe der Gruppenarbeit muss so gestellt sein, dass unterschiedliche Kompetenzen und Fertigkeiten für die Zielerreichung gefragt sind. Alle stellen ihre besonderen Ressourcen und Fähigkeiten für das Gruppenergebnis zur Verfügung nach dem Motto ,Jede bzw. jeder kann etwas gut, niemand ist gut in allem‘. Es ist die Aufgabe der Lehrperson einerseits über die Gruppenzusammensetzung und andererseits über die Rollenverteilung den Zugang zu vorhandenen Ressourcen zu regeln. Je nach Fähigkeiten und Stärken teilt die Lehrperson die einzelnen Lernenden einer Gruppe mit einem bestimmten Endprodukt zu. Die eine Gruppe erstellt vielleicht ein Plakat, die nächste hat den Auftrag, ein Rollenspiel zu erarbeiten. Ein Schüler, der erst seit ein paar Monaten auf Deutsch lernt, hat in der Rolle des Materialmanagers bereits die Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen. Die Aufgabenstellung selbst muss dafür sorgen, dass unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Erarbeitung von Lösungen gefragt sind. Zumindest ein Gruppenmitglied sollte die Rolle der Moderation einigermaßen sicher ausfüllen können. Die Gruppe bleibt so lange zusammen bis sie ein Erfolgserlebnis hat.
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(4) Direkte Interaktion Das Lernen, das Aushandeln, der Austausch stehen im Zentrum, nicht das Lehren. Die Lernsituation muss Möglichkeiten zu vielfältiger Interaktion bieten. Das Ausmaß an Interaktivität ist hierbei nicht einfach an der Häufigkeit der Interaktionssequenzen zu messen, sondern der Beitrag der Einen sollte auch einen Einfluss auf die folgenden Beiträge der Anderen auslösen. Das, was es zu tun gibt, muss ein Miteinander und ein voneinander Lernen durch gegenseitiges Verhandeln nötig machen. Die Aushandlungsprozesse über die Art und Weise des Miteinanders im Sinne einer bestimmten Aufgabe wie ,Wie wollen wir vorgehen? Lasst uns doch erst einmal unsere Fragen zum Text gegenseitig vorstellen, und dann diskutieren wir die für uns zentralen Probleme!‘, spiegeln dieses Wirkungsanliegen wieder. Durch Austauschen und Aushandeln erreichen Lernende eine höhere kognitive Ebene. Sie bewerten, analysieren oder führen zusammen. Sie verstehen etwas und können es in neue Zusammenhänge übertragen. Lernende brauchen Zeit, um ihre eigenen Ideen zu formulieren. Sie müssen ihren selbst gefundenen Standpunkt verteidigen und sie müssen erklären können. Wie aus der Kognitions- und Gedächtnisforschung bekannt, hat dieser Vorgang besonders günstige Effekte für die Erklärenden. Mit kooperativem Lernen können alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse gleichzeitig produktive Gedanken haben und Gespräche führen. Folgende Maßnahmen wirken unterstützend: •
• •
•
Die direkte Kommunikation und Interaktion hängt wesentlich von der Aufgabenstellung und deren Formulierung ab. Geeignet sind z.B. die folgenden Aufforderungen: ,vergleicht‘ ..., ,beurteilt gemeinsam‘, ... Die Aktivierung des Vorwissens der Lernenden ist eine wichtige Grundlage für das Erklären relevanter Gedanken oder Konzepte in der Interaktion. Das Vorentlasten (vor gelagertes Lehrgespräch, Illustrationen, o.ä.) ungewöhnlicher Begriffe und Gedankengänge eines neuen Konzeptes sowie das Übertragen von Wörtern, Satzgefügen und Textstellen in eine Sprache, die den Lernenden bekannt und vertraut ist, bieten nötige Grundlagen für nachfolgende Erklärungs- und Aushandlungsprozesse. Ausschlaggebend ist auch die kommunikationsgerechte Anordnung des Mobiliars (z.B. Gruppentische).
(5) Gegenseitige positive Abhängigkeit Gegenseitige positive Abhängigkeit besteht immer dann, wenn verschiedene Personen gemeinsame Ziele verfolgen und das Ergebnis jedes Einzelnen vom Handeln der anderen abhängt. Die Lehrperson stellt eine so spannende und komplexe Aufgabe, dass eine positive Abhängigkeit in der Gruppe entsteht, weil alle das Ziel erreichen wollen und dabei aufeinander angewiesen sind. Für Schü90
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lerinnen und Schüler sind in der Einführungsphase die Fußballmannschaft, das Theaterensemble oder das Orchester sehr anschauliche Beispiele, um sich mit Zusammenarbeit in der Gruppe mit all ihren Vorteilen und Herausforderungen zu beschäftigen. Gegenseitige positive Abhängigkeit wird hergestellt durch: •
• •
•
Zielabhängigkeit: Die Gruppe erhält eine klare und komplexe Aufgabe, die gemeinsam zu erfüllen ist und durch die genau festgelegt ist, was von den Einzelnen erwartet wird. Den Schülern und Schülerinnen wird klar, dass das Ziel nur erreicht wird, wenn alle ihren Beitrag leisten können. Rollenabhängigkeit: Jedes Gruppenmitglied bekommt eine bestimmte Rolle, die es zusätzlich erfüllt (vgl. HILD/WÜLSER 2000, S.44). Ressourcenabhängigkeit: Jedes Gruppenmitglied bekommt nur einen Teil des Materials oder der Information, so dass in direkter Interaktion diskutiert und ausgehandelt werden muss, um die Aufgabe zu erfüllen. Wenn eine Gruppe für eine längere Lerneinheit zusammen bleibt, wie beispielsweise in einer Projektwoche, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl auch durch Identitätssymbole (Entwerfen eines Logos, Namensgebung ...) oder durch Rituale (Song, Slogan, ...) unterstützt werden.
(6) Verbindlichkeit Jede oder jeder kann dran kommen, alle müssen ihren Anteil beitragen. Die Leistungen der Mitglieder sind verschieden. Im Idealfall sind die Gruppenmitglieder daran interessiert, dass die Lernresultate jedes einzelnen Mitgliedes maximiert werden, dass das erarbeitete Produkt funktioniert und gefällt. Jedes Gruppenmitglied muss den Prozess und das Ergebnis der Gruppe verantworten. Jedes Gruppenmitglied tut, was seinen Möglichkeiten entspricht. Wenn diese Haltung entsteht, gibt es kein ‚Trittbrettfahren‘. Folgende Hinweise unterstützen eine Entwicklung in diese Richtung: •
•
•
Für die Präsentation wird zufällig ein Gruppenmitglied ausgewählt. Die sechs Mitglieder nummerieren sich von 1 bis 6. Dann entscheidet der Würfel darüber, wer für alle stellvertretend präsentiert. Bei größeren Produkten und Lerneinheiten gilt, dass alle Teammitglieder für die Präsentation verantwortlich sind. Das Gruppenergebnis setzt sich aus individuellen Beiträgen zusammen, die identifizierbar sind, indem z.B. unterschiedliche Farben für die einzelnen Mitglieder genutzt werden. Dies gilt prinzipiell im kooperativen Lernen: Ich stehe für meinen Beitrag, meine Überlegungen namentlich ein. Durch eine Lernkontrolle am Ende der kooperativen Phase zeigen alle, wie sie die geforderten Lernziele erreicht haben. 91
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•
Aufgrund der Vergabe von Punkten nach individuellem Leistungszuwachs können individuelle Lernfortschritte Berücksichtigung finden (so ist es z.B. im Gruppenrallye angelegt, s.u.).
(7) Lernprozessorientierung: Soziale Kompetenz und Metakognition Kooperationsfähigkeit, Initiative und Verantwortungsbereitschaft im Team sind wichtige Kompetenzen, die nur in und mit Gruppen gelernt werden können. Soziale Fähigkeiten sind vorwiegend dann Teil der Aufgabenstellung, wenn ihnen im Vorfeld und Rückblick besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Durch den Lernweg rücken erstens soziale Lernziele in den Vordergrund. Neben kommunikativer Kompetenz und Kooperationsfähigkeit geht es zweitens auch um metastrategisches Können und Wissen. Lehrpersonen können zum Aufbau und zur Nutzung von metastrategischem Wissen beitragen, indem sie die Aufgaben so stellen, dass die Anwendung bestimmter Strategien nahe gelegt wird. Metawissen und -können kann sich unabhängig vom Inhaltsgebiet entwickeln. Es kann aber nur in Kombination mit Inhaltswissen zum vollen Einsatz kommen. Dieses metastrategische Wissen ist – so zeigt die Lehr-Lernforschung – lernbar, aber nur in Ausnahmefällen direkt lehrbar. (8) Die Reflexion In Varianten und nicht unbedingt chronologisch laufen in jeder Kleingruppe die fünf grundlegenden Prozesse der Gruppendynamik ab (vgl. STANFORD 1998, S. 14f): Orientierung; die Einführung von Normen; Umgang mit Konflikten; Produktivität; Auflösung. Die Reflexion, die möglichst nach jedem Gruppenlernen erfolgt, ist eine zentrale Schaltstelle. Hier wird Bewusstheit für das Wie von Lernprozessen geschaffen. Durch das Aufzeigen von Stärken und Schwächen und das Bearbeiten von Problemen wächst die Gewissheit bei Lernenden, selbst etwas bewirken zu können. Generell sind Lernprozesse erfolgreich, wenn sie auf selbst erlebten Erfahrungen und deren Reflexion beruhen und nicht auf schulischer Regelbelehrung.
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Kooperatives Lernen
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Schritte der Reflexion
1. Der erste Schritt ist die individuelle Reflexion der Qualität des eigenen Beitrags am Gruppenergebnis. Dabei kann zwischen individuellen Zielen und Gruppenzielen unterschieden werden. 2. Jede Gruppe erhält ein Feedback zur Art und Weise ihrer Zusammenarbeit. Die Lehrpersonen können dafür auf Beobachtungen zurückgreifen, die sie sich während der Gruppenarbeitsphase notiert hat. 3. Die Gruppenmitglieder besprechen innerhalb der Gruppe, abhängig von der Zielsetzung und je nach Prozessstand folgende Elemente: Art und Weise der Zusammenarbeit; Rollenübernahme; Einhalten von Regeln; Kooperationsund Kommunikationsverhalten; entstandene Unklarheiten oder Fragen zum Lernstoff; Beurteilung des Endproduktes; falls die Gruppe zusammen bleibt, erfolgt auch eine möglichst konkrete Planung der Weiterarbeit. 4. Regelmäßig aber nicht immer wird in der Großgruppe über Qualität und Vorgehensweise der Teamarbeit berichtet und reflektiert. Diese Reflexionen ergänzen das Überdenken in den Arbeitsgruppen. 5. Der letzte Schritt ist jeweils ein Höhepunkt in der Kooperativen Lerneinheit. Lernerfolge, entstandene Produkte und Fortschritte werden präsentiert und gewürdigt, und je nach Umfang auch gefeiert.
Lernen kann nur in dem Maße als wirksames kooperatives Lernen bezeichnet werden, als die acht hier vorgestellten Kriterien erfüllt sind. Grundlegend für die Qualität von Kooperativem Lernen ist das Bewusstsein vom Beziehungsgeflecht zwischen Status und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, dem Arbeitsauftrag, den Prozessen und der Dynamik der Lerngruppen sowie der Lehrerintervention.
2
Strategien und Taktiken Kooperativen Lernens
Beim Kooperativen Lernen kommen Strategien und Methoden zum Einsatz, die die Interaktion und die Struktur der Gruppenarbeit wesentlich unterstützen. Im angloamerikanischen Sprachraum wird zwischen Strategien und Taktiken Kooperativen Lernens unterschieden. Unterrichtsstrategien können verschiedene Taktiken umfassen. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele vorgestellt.
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2.1
Taktiken Kooperativen Lernens
,Platzdeckchen‘ Die Taktik ,Platzdeckchen‘ (vgl. GREEN/ GREEN 2007, S. 136) ist ein einleuchtendes Beispiel dafür, Interaktion beim Lernen zu unterstützen. Durch die vorgegebene Einteilung eines möglichst großen Papierbogens (Abbildung 1) und Phasen der Bearbeitung wird die Interaktion strukturiert. Die Taktik ist einfach und schnell einsetzbar. Das ,Platzdeckchen‘ eignet sich besonders gut für die Abbildung 1: Platzdeckchen Sammlung von Ideen und das Zusammentragen von Vorschlägen, Leitgedanken oder Argumentationen. Ertragreich ist es auch innerhalb des ersten Schrittes einer Lerneinheit, um Vorwissen zu einem bestimmten Thema abzuholen. KASTEN 4f
Phasen der Taktik ‚Platzdeckchen‘
A Schreiben, Zeichnen, Sammeln In einer vereinbarten Zeit durchdenken die Lernenden zuerst einmal die Aufgabenstellung und schreiben ihre Ideen und Vorschläge ins dafür vorgesehene Außenfeld, ohne miteinander zu sprechen. Ein ,Platzdeckchen‘ hat so viele Außenfelder wie Gruppenmitglieder und muss jeweils entsprechend eingeteilt werden. „Nennt fünf gute Argumente, welche für eine Reise nach Brasilien sprechen“, so könnte eine Aufgabenstellung lauten. B Einzelarbeit: Lesen und Verstehen Im nächsten Schritt wird das ,Platzdeckchen‘ gedreht, so dass alle die Vorschläge voneinander nachlesen. Klärungsfragen sind erwünscht. C Interaktion: Diskutieren, Aushandeln, Entscheiden Nach der Klärung von sachlichen Fragen werden die einzelnen Ergebnisse diskutiert. Es wird z.B. ausgehandelt, welches die wichtigsten Argumente für eine Brasilienreise sind. Diese werden in der gemeinsamen Mitte festgehalten. Rollenerweiterung: Z.B. eine Schülerin agiert als Kundschafterin, bewegt sich ungehindert und lautlos durchs Zimmer und erkundet, ob eine andere Gruppe über neue Argumente für die eigene Gruppe verfügt. Schülerinnen und Schüler, aber auch Erwachsene lieben diese Rolle, die klar macht, dass Wissen nicht geheim ist, sondern besser allen zur Verfügung gestellt wird.
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D Präsentation Während der Präsentation der Ergebnisse können diese dann z.B. an der Tafel gesammelt werden. Variante: Die einzelnen ,Platzdeckchen‘ wandern von Gruppe zu Gruppe und werden gegen gelesen. Mit einem Haken versehen, zeigt die Gruppe ihr Einverständnis. Ein Minuszeichen bedeutet Ablehnung. Mit einem Fragezeichen werden Unklarheiten gekennzeichnet. Die Taktik ,Platzdeckchen‘ kann in verschiedenen Fächern zum Einsatz kommen. In der Mathematik steht z.B. in der Mitte eine 4. Die Aufgabe für die Schülerinnen und Schüler ist es dann, so viele Rechnungen wie möglich zu finden, die als Resultat 4 ergeben. (vgl. GREEN/GREEN 2007)
Denken-Austauschen-Vorstellen Eine der einfachsten Taktiken mit der Bezeichnung Denken-Austauschen-Vorstellen strukturiert auf simple Art und Weise die Vernetzung von Wissen und fördert die Interaktion und Kommunikation. Wenn die Lerngruppe ihre Perspektiven austauscht, kann jedes Mitglied ein Problem unter mehreren Aspekten kennen lernen. Vergleichen, Erklären und Nachfragen sind Voraussetzungen für Verstehensprozesse, welche durch die Interaktion ermöglicht werden. Dadurch, dass sich mehr Betrachtungsweisen und Lösungswege ergeben, kann Wissen langfristiger erhalten bleiben. In ihrer Einfachheit kann diese Taktik als eine Art universelles Muster für kooperative Lernprozesse gelten. KASTEN 5f
Denken-Austauschen-Vorstellen
A Denken In einer individuellen Phase machen sich die einzelnen Lernenden allein Gedanken zur gestellten Lernaufgabe (z.B. ,Welche sieben Sehenswürdigkeiten zeigt ihr in Zürich Touristen und Touristinnen?‘) und aktivieren somit ihre Vorerfahrungen und ihr Vorwissen. Die Lehrperson gibt dafür genügend Zeit. B Austauschen In einer anschließenden kooperativen Phase (zu zweit oder in Kleingruppen) werden die Einzelbeiträge ausgetauscht. Alle kommen zu Wort. Der Vergleich von Ergebnissen und die Diskussion abweichender Resultate fördert die Vernetzung von Wissen. Gleichzeitig findet in einfacher Form „Lernen durch Lehren“ statt. Die notwendige Diskussion einzelner Zwischenschritte kann zur Erfüllung einer komplexeren Aufgabenstellung beitragen.
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C Vorstellen In der letzten Phase werden die Erkenntnisse und Lösungen im Plenum präsentiert. Die erneute Aktivierung des Wissens festigt damit das Gelernte. (vgl. GREEN/GREEN 2007, S. 130)
Dieses überaus einfache Prinzip ist wirksam, weil es die Lehrperson davor schützt, diejenigen aufzurufen, die die Antwort bereits parat haben, bevor die Lehrerfrage ausformuliert ist. So hat zum Beispiel eine Schülerin, welche die Unterrichtssprache Deutsch noch erlernt, die Gelegenheit, Begriffe, die ihr fehlen, in Erfahrung zu bringen und gleichzeitig in Phase C durch mehrmaliges Hören zu festigen. Darüber hinaus werden alle Lernenden aktiviert, nicht nur diejenigen die aufgerufen werden. Die Beteiligung aller am Unterrichtsgeschehen steigt. 2.2
Strategien Kooperativen Lernens
Reziprokes Lernen Eine sehr erfolgreiche Strategie des Kooperativen Lernens ist die reziproke Lehre (vgl. KONRAD/TRAUB 2001, S. 129f.). Die Schülerinnen und Schüler übernehmen abwechselnd die Funktion der Lehrerin bzw. des Lehrers, während die Lehrperson bei der sorgfältigen Einführung als Modell und durchgängig als Unterstützende fungiert – bis die Gruppen selbst verantwortet lernen können. Zur Konkretisierung wird an dieser Stelle das Reziproke Lesen vorgestellt, das auch von Lehrpersonen in mehrsprachigen Klassen genutzt wird. Das Reziproke Lesen ist eine Unterrichtsstrategie zur Verbesserung des Textverstehens. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen dabei abwechselnd die Lehrerrolle, um in der Gruppe dialogartig Taktiken des Textverstehens durchzuspielen. Modellartig macht die Lehrperson den Lernenden vor, mit welchen Schritten am Textverstehen gearbeitet werden kann und wie man ein Gespräch über einen Textabschnitt führt. Sie wechselt sich dabei in der Anfangsphase jeweils mit einem Schüler oder einer Schülerin ab. Ziel ist es, dass die Lehrperson überflüssig wird und lediglich noch als Beobachtende fungiert. Pro Gruppe wird eine Moderatorin bzw. ein Moderator bestimmt. Die folgende Anleitung fasst die didaktischen Schritte zusammen und kann als Vorlage für die Schülerinnen und Schüler hergestellt werden. Solch eine einfache Strukturierungshilfe unterstützt die Interaktion in den einzelnen Gruppen beim selbstständigen Tun vor allem in der Anfangsphase.
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Reziprokes Lesen
A Ein Gruppenmitglied liest einen Abschnitt laut vor. Das laute Vorlesen im Rahmen kleiner Gruppen fördert das Hörverstehen. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn das Material nur ein Mal zur Verfügung steht. B Der Moderator/die Moderatorin stellt Fragen zum gelesenen Text. Diese Rolle sollte vor allem in der Einführungsphase von einem sicheren Schüler oder einer sicheren Schülerin eingenommen werden. C Eine Schülerin bzw. ein Schüler umschreibt den Inhalt des gelesenen Textabschnittes mit eigenen Worten. Einen Begriff oder einen Text mit eigenen Worten umschreiben zu können, ist eine wichtige Strategie zur Förderung des Verstehens. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich in dieser Phase Fragen stellen und Hypothesen bilden zum Gelesenen bzw. Gehörten. E Unklare Textstellen werden besprochen und Begriffe erklärt. Erst jetzt werden unklare oder unbekannte Stellen geklärt. Mit diesem Schritt wird das detaillierte Leseverstehen unterstützt. D Eine Schülerin bzw. ein Schüler fasst nun den Inhalt des gelesenen Textabschnittes zusammen. Jetzt wird der Text mit einer Auswahl von W-Fragen (Wer, Was, Warum, Wozu, Wie etc.) zusammengefasst. Sichere Lernende können auf eine Strukturierung durch W-Fragen verzichten. F Wie könnte der Text weitergehen? Durch das Hypothesen-Bilden zum kommenden Textabschnitt wird das soeben erarbeitete Vorverständnis genutzt. Das Kommende wird vorentlastet und die Motivation (trifft meine Vorhersage zu?) fürs Weiterlesen gesteigert.
Das Gruppenrallye Mit der Strategie ,Gruppenrallye‘ (vgl. SLAVIN 1993, S. 154) kann die gegenseitige positive Abhängigkeit in der Gruppe unterstützt werden. Die Ablaufstruktur wird im Folgenden in einer praxisorientierten Beschreibung dargestellt, die in Zusammenarbeit mit Gabriela Bai, einer Lehrerkollegin, entstand.
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Beispiel – Gruppenrallye zum Thema ‚Kirchliche Feiertage‘
Im Rahmen des Unterrichtsthemas ,Religionen kennen lernen‘ besprach eine 6. Klasse die vier Weltreligionen. Anhand von Texten und mittels direkter Instruktion der Lehrperson erfolgte die Einführung ins Thema. Dann hatten die Schülerinnen und Schüler eine Woche Zeit, um sich mit Hilfe ihres Religionsheftes auf eine Lernkontrolle vorzubereiten. Der erste Test fand statt, die Lehrerin vergab Punkte für richtige Antworten. Dann erklärte sie die Vorgehensweise des ,Gruppenrallyes‘: „1. Es gibt nächste Woche eine zweite Lernkontrolle. 2. Ziel ist: Alle verbessern sich von Test 1 zu Test 2. 3. Das Üben und Besprechen der 2. Lernkontrolle findet allein in der Gruppe statt. 4. Für die Bewertung beim Gruppenrallye zählt der gesamte Lernforschritt der Gruppe, nicht die einzeln erreichte Punktzahl. X hat beim ersten Test 9 Punkte erreicht und macht in der zweiten Lernkontrolle 12 Punkte. Damit hat er oder sie 3 Punkte für die Gruppe gewonnen. Mit diesem Vorgehen bewerten wir den Lernfortschritt. 5. Es steht euch frei, wie ihr euch beim Lernen gegenseitig unterstützt, welche Methoden ihr anwendet und wie ihr euch organisiert.“ Lern- und Memorierungstechniken müssen für den hier beschriebenen Freiheitsgrad bereits zur Verfügung stehen. Eine Lerngruppe, die wenig mit selbstgesteuertem Lernen vertraut ist, braucht für den dritten und fünften Schritt entsprechend unterstützende Maßnahmen. Die folgenden protokollierten Aussagen geben Einblicke in den beobachtbaren Teil des Lernverhaltens dieser Kinder: y Eselsbrücke (Alliteration) entwickeln: „Denk daran, der Karfreitag beginnt mit K, das Symbol Kreuz ebenfalls.“ y Aufmuntern und Bestärken: „Denk an Iwan, der kann das jetzt auch!“ y Einschätzen können, was verlangt wird: „Wenn dir das Wort ,orthodox‘ nicht mehr in den Sinn kommt, schreibst du einfach die ,Religion von Mirko‘, das akzeptiert Frau Bai sicher.“ Gabriela Bai, die Lehrerin, erzählt von ihren Beobachtungen: „Niemand fragte nach einer Belohnung für die bessere Gruppe. Allein der Wettbewerbsgedanke spornte die Kinder an. Sie warfen sich mit unglaublich viel Elan in die Arbeit, waren konzentriert, opferten teilweise ihre Pause. Alle verbesserten ihre Leistung enorm. Sie gingen sehr ,pädagogisch‘ miteinander um. Sie müssen für die Gruppenleistung ja aus jedem etwas herausholen, da wäre ein ,heruntermachen‘ oder ,ungeduldig sein‘ fehl am Platz.“
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Aussagen von Schülerinnen und Schülern aus der Reflexionsrunde: „Es hat großen Spaß gemacht, in der Gruppe zu lernen. Das wäre nie so gut ausgegangen, wenn wir einfach noch mal einige Tage Zeit bekommen hätten, allein zu Hause zu lernen.“ Ein Oberschlaumeier bemerkt: „Beim nächsten Gruppenrallye mach‘ ich beim ersten Mal ganz wenig Punkte, damit mein Lernfortschritt beim zweiten Mal ganz groß ist.“ Worauf die anderen Kinder folgenden Vorschlag machen: „Frau Bai darf einfach nicht im Voraus sagen, dass es eine zweite Lernkontrolle in Gruppenrallye-Form gibt.“
3
Was tun? Wo beginnen?
Damit aus Gruppenarbeit Teamarbeit wird, müssen Lernende nachhaltig und systematisch qualifiziert werden. Wichtig ist, dass kooperative Strategien und Taktiken in unterschiedlichen Fächern und Situationen zur Anwendung kommen. KASTEN 8f
Anhaltspunkte zur Einführung von Kooperativem Lernen
1. In der Anfangsphase legt die Lehrperson mehr Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Qualität der Zusammenarbeit als auf das Lernprodukt. 2. Funktion und Sinn von Kooperativem Lernen muss den Lernenden einsichtig werden. Sie verstehen den Mehrwert im Vergleich zum individuellen Lernen. Die Lehrperson beginnt z.B. damit, die Klasse erst einmal Vorteile von Teams und erfolgreicher Kooperation durchdenken zu lassen (Orchester, Fußballmannschaft). Die Lernenden erfahren und reflektieren, dass eine komplexe Aufgabe unterschiedliche Fähigkeiten erfordert und erkennen wie wertvoll das unterschiedliche Können und Wissen jedes Gruppenmitgliedes ist. Geeignete Übungen finden sich z.B. bei STANFORD (1998). 3. In einer nächsten Phase setzen sich die Lernenden mit Merkmalen, Elementen, Taktiken und Strategien auseinander. Die Schülerinnen und Schüler lernen die Basiselemente des Kooperativen Lernens und Formen der Zusammenarbeit kennen. Erste Regeln werden gemeinsam diskutiert, festgehalten und reflektiert. Auf der Unterstufe beschäftigen sich Lehrpersonen sinnvoller Weise vertiefter mit Rollen (z.B. Lernanlage ,gemeinsam kochen‘). Jede neu eingeführte Rolle wird in ihrer Bedeutung, Dimension und Funktion besprochen. Beobachtbarkeit ist für jüngere Lernende zentral.
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4. Durch zunehmend anspruchsvollere und länger dauernde kooperative Lerneinheiten kristallisieren sich notwendige kooperative und kommunikative Fähigkeiten heraus, die während der Gruppenarbeit fokussiert und damit im Anschluss reflektiert werden. Nun kann auch mit CLIP gearbeitet werden (vgl. HILD/WÜLSER 2000). 5. Die Lernenden beginnen ihr Lernergebnis immer häufiger selbst zu reflektieren und die Lehrperson kann dazu übergehen, diese zu bewerten. 6. Bei jeder kooperativen Lerneinheit wird bei der Planung, Durchführung und Reflexion auf die beschriebenen acht zentralen Elemente für effektive Kooperation geachtet. 7. Die Lehrperson befragt sich regelmäßig selbst: Wie gut sind meine Fragestellungen? Welche Art von Rückmeldung gebe ich? Wie überprüfe ich, ob meine Arbeitsanweisungen verstanden wurden? Wie stelle ich die Lerngruppen optimal zusammen?
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Zusammenfassung
Zwar kann jede Lehrperson bereits morgen beginnen, Elemente des Kooperativen Lernens in den eigenen Unterricht aufzunehmen, indem z.B. die Taktik ,Denken-Austauschen-Vorstellen‘ integriert wird. Unterrichtsentwicklung hat aber vor allem dann eine Chance, wenn Schulteams sich zu diesen Fragen austauschen und gemeinsam weiterbilden. Nötig ist eine ebenso konsequente wie systematische Entwicklungsarbeit mit vielfältigen ineinander greifenden Qualifizierungs- und Innovationsmaßnahmen in der Einzelschule. Hospitationen und Feedbackkultur gehören ebenso dazu wie Teamteaching oder jahrgangsübergreifendes Arbeiten. Vergegenwärtigen Sie sich, dass auch die Heterogenität im Schulteam eine Ressource und produktive Kraft ist. Fragen und Denkanstöße 1. In diesem Beitrag konnte nicht auf die Veränderungen der Rolle als Lehrperson eingegangen werden. Haben Sie bereits eigene Erfahrungen und Vorstellungen im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Lehrens? Welche neuen Aufgaben sehen Sie auf sich zukommen? Worauf würden Sie besonders achten?
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2. Was haben Sie in diesem Artikel über Heterogenität und Lehr-Lernprozesse erfahren? Was ist neu für Sie? Formulieren Sie fünf Leitgedanken. Nutzen Sie die Taktik Denken-Austauschen-Vorstellen. 3. Erarbeiten Sie in einer Gruppe mindestens fünf überzeugende Argumente weshalb die Einführung von Kooperativem Lernen in einer Schule als Schulentwicklungsprojekt angelegt werden sollte. Gehen Sie dabei nach der Taktik ,Platzdeckchen‘ vor. Literaturempfehlungen HUBER, G.L. (Hg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Ausgewählte Beiträge der internationalen Konferenz 1992 über Kooperatives Lernen. Hohengehren. Diese Publikation gehört m. E. zur Grundlagenliteratur, wenn sich Pädagogen und Pädagoginnen eingehender mit Kooperativem Lernen befassen wollen. Neben der historischen Dimension ist dabei die Verknüpfung von Interkultureller Pädagogik und Kooperativem Lernen (learning to learn, learning to life and learning to life together) bedeutsam. Außerdem beruhen die hier vorgestellten und beteiligten europäischen Ansätze auf den Ideen der Komplexen Instruktion (basierend auf 20jähriger Forschung der Soziologin Elizabeth COHEN an der Stanford University in Kalifornien), die im ersten Kapitel dieses Aufsatzes beschrieben werden. Die Publikation ist wohl die einzige im deutschsprachigen Raum, welche diese Wurzeln berücksichtigt. JOHNSON, D.W./JOHSON, R.T./HOLUBEC, Johnson E. (2005): Kooperatives Lernen – Kooperative Schule. Tipps – Praxishilfen – Konzepte. Mülheim an der Ruhr. Dieses Buch befasst sich vornehmlich mit Kooperativem Lernen unter dem Aspekt der Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Lernprozessen und damit auch der Leistungssteigerung bei Lernenden. Es werden leicht umzusetzende Methoden und Strategien vorgestellt, welche die Schüler und Schülerinnen zum Zusammenarbeiten anleiten. Interessant ist, dass es dabei auch um längerfristige Zusammenarbeit in sogenannten Langzeitteams geht, die über den Unterricht hinaus zusammen arbeiten und lernen. Die vorgestellten Bewertungs- und Evaluationsmöglichkeiten können Lernenden dabei helfen, ihre Formen der Zusammenarbeit zunehmend selbstständiger zu überprüfen. WEIDNER, M. (2003): Kooperatives Lernen im Unterricht. Das Arbeitsbuch. Seelze-Velber. Das Arbeitsbuch führt zunächst in die wesentlichen konzeptionellen Bestimmungsstücke des Kooperativen Lernens ein. Indem die Autorin aufzeigt wie so101
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ziale, kooperative Lernziele verfolgt und entsprechende Fertigkeiten und Fähigkeiten sorgfältig und systematisch aufgebaut werden können, schließt sie eine Lücke der meisten Veröffentlichungen zum Thema. In den nächsten Kapiteln wird eine konkrete Handreichung zur Implementierung des Modells an der eigenen Schule sowie die Planung und Durchführung einer kooperativen Lerneinheit dargelegt. Wichtige Methoden des kooperativen Lernens sind im vorletzten Kapitel beschrieben, und die Stellung des kooperativen Lernens im Gesamtrahmen der Schulentwicklung wird am Ende des Buches diskutiert.
Literaturverzeichnis Batelaan, P. (1993): Interkulturelle Erziehung und kooperatives Lernen. In: Huber, G.L. (Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Bd. 6. Hohengehren, S. 2932. Cohen, E. (1993). Bedingungen für produktive Kleingruppen. In: Huber, G.L. (Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Bd. 6. Hohengehren, S. 45-53. Gibbs, J. (1995): Tribes – A New Way of Learning Together. Sausalito. Green, N./Green, K. (2007). Kooperatives Lernen im Klassenraum und im Kollegium. Das Trainingsbuch. 3. Aufl., Seelze-Velber. Huber, G.L. (Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Band 6. Hohengehren. Hild, P./Wülser Schoop, G. (2000): Kooperatives Lernen in der Schule. In: Mächler S. u.a.: Schulerfolg – kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikulturellen Umfeld. Zürich, S. 42-46. Johnson, D.W./Johson, R.T./Holubec Johnson, E. (2005): Kooperatives Lernen – Kooperative Schule. Tipps – Praxishilfen – Konzepte. Mülheim an der Ruhr. Konrad, K./Traub, S. (2001): Kooperatives Lernen. Theorie und Praxis in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung. Hohengehren. Prengel, A. (2004): Spannungsfelder, nicht Wahrheiten. Heterogenität in pädagogisch-didaktischer Perspektive. In: Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken. Friedrich Jahresheft XXII, 2004, S. 44-46. Slavin, R.E. (1993): Kooperatives Lernen und Leistung: Eine empirisch fundierte Theorie. In: Huber, G.L. (Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Bd. 6. Hohengehren, S. 151-170. Stanford, G. (1998): Gruppenentwicklung im Klassenraum und anderswo. 5. Aufl., New York.
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Kapitel 5
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Teamteaching 1
Einleitung
Teamteaching ist eine Form der Zusammenarbeit von mindestens zwei kooperierenden Lehrpersonen, bei der die gemeinsame Verantwortung für das Unterrichten und die gemeinsame Unterrichtsentwicklung im Zentrum stehen. Teamteaching gilt als besonders geeignet für einen inklusiven Unterricht (vgl. BRÜSEMEISTER 2004; GEILING/HINZ 2005; GRAUMANN 2005; PRENGEL 1993). Dabei geht es um sehr viel mehr als um die bloße Anwesenheit von zwei Lehrpersonen im Klassenzimmer. Die Qualität des Unterrichts von im Teamteaching kooperierenden Lehrpersonen muss sich daran messen lassen, welche Konsequenzen für die Schülerinnen und Schüler resultieren (vgl. HELMKE 2003, S. 236). Wenn heute von Teamteaching in heterogenen Schulklassen die Rede ist, geht es primär darum, die pädagogische Arbeit im Sinne einer optimalen Förderung eng an den Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler auszurichten, um den Unterricht zugunsten gleicher Lern- und Partizipationschancen für alle Schülerinnen und Schüler zu optimieren (vgl. BONSEN/VON DER GATHEN 2006). Teamteaching ist im Rahmen integrativer heilpädagogischer Schulmodelle, in denen eine schulische Heilpädagogin und eine Regellehrperson zusammen arbeiten, etabliert. In jüngster Zeit steht auch die migrationsbedingte sprachliche und sozio-kulturelle Heterogenität im Zentrum von Schul- und Unterrichtsinnovationen. Im Zusammenhang mit dem Zürcher Schulentwicklungsprojekt „Qualität in multikulturellen Schulen“ (QUIMS) sind seit Mitte der 1990er Jahre etliche Projekte entstanden, in denen Teamteaching integraler Bestandteil ist (vgl. www.quims.ch; TRUNIGER 2005; BILDUNGSDIREKTION ZÜRICH 2006). Teamteaching wird als eine der Maßnahmen angesehen, um den in der Bildungsforschung nachgewiesenen ungleichen Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien tieferer sozialer Schichten entgegen zu wirken.
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In den folgenden Abschnitten wird aufgezeigt, was mit Teamteaching gemeint ist, von welchen Bedingungen der Erfolg dieser Unterrichtsform abhängt und welche Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Unterricht bekannt sind. Zum Schluss werden im Rückgriff auf Erfahrungen aus dem Zürcher QUIMS-Projekt in knapper Form Möglichkeiten aufgezeigt, wann und wie Teamteaching sinnvoll eingesetzt werden kann.
2
Was ist Teamteaching?
Teamteaching ist keineswegs neu. Nach dem Vorbild der Teamarbeit in Wirtschaftsbetrieben entstand bereits Mitte der 1950er Jahre in den USA eine Teamteaching-Bewegung, um Missstände im Schulwesen zu beheben. Dabei ging es nicht um eine pädagogische Begründung dieser neuen Form, sondern lediglich um das Festlegen der Aufgabenteilung unterschiedlich ausgebildeter Lehrpersonen. Kennzeichen des frühen Teamteaching in den USA war eine strenge Hierarchie unter den beteiligten Lehrpersonen (vgl. HOFFELNER 1995). In den 1960er Jahren wurde Teamarbeit und Teamteaching in Großbritannien zu einem wichtigen pädagogischen Ansatz erklärt. Im Zentrum standen eine flexible Kommunikation und die Kooperation zwischen Lehrpersonen und Lernenden sowie Evaluationen dieser Maßnahmen. Als man sich während der späten 1960er und 1970er Jahre auch in Deutschland mit dem Thema befasste, lag der Schwerpunkt v.a. bei der inneren Differenzierung in einer Klasse, die durch zusammenarbeitende Lehrerteams gewährleistet werden sollte. In jüngster Zeit gewinnt Teamteaching in der Diskussion um integrative Schulmodelle zunehmend an Bedeutung, um zu gewährleisten, dass alle Schülerinnen und Schüler eines Lernverbandes möglichst optimale Lernchancen erhalten. Dabei rücken die Zusammensetzung der im Team arbeitenden Lehrpersonen und die Formen ihrer Zusammenarbeit ins Zentrum sowie die Anforderung, einer heterogenen Schülerschaft in einem qualitativ guten Unterricht gerecht zu werden. 2.1
Definitionen des Begriffs
Teamteaching wird unterschiedlich definiert und je nach Definition stehen – neben den gemeinsamen – unterschiedliche Aspekte im Zentrum. So fokussieren die einen v.a. auf Aspekte der Teamarbeit und andere betonen den Zusammenhang von Teamteaching und Unterricht. In der älteren Literatur werden die Begriffe Teamteaching, Teamarbeit oder Kooperation oft synonym verwendet. Gemeint ist damit im Wesentlichen die Zusammenarbeit von Lehrpersonen. 104
Teamteaching
In den folgenden Definitionen stimmen die Autoren trotz der unterschiedlichen Akzente darin überein, dass beim Teamteaching die Bereitschaft zur Kooperation, die Verbindung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern, die Flexibilität der Gruppenbildungen, die gemeinsame Planung, die Durchführung und Evaluation sowie die gemeinsam getragene Verantwortung zentral sind. KASTEN 1f
Definitionen von Teamteaching
DECHERT (1972) schlägt folgende Definition des Begriffs von DEAN/WITHERSPOON (1962) vor, in der vor allem die Haltung der Lehrpersonen gegenüber ihrer Aufgabe hervorgehoben wird: «Der wahre Kern des Teamteaching-Konzepts liegt nicht im strukturellen und organisatorischen Detail, sondern vielmehr in der grundsätzlichen Bereitschaft zu kooperativem Planen, konstanter Zusammenarbeit, fortwährender Gemeinsamkeit, uneingeschränkter Kommunikation und ernsthafter Bereitschaft zur Übernahme und Teilhabe an der gemeinsamen Aufgabe“ (DECHERT 1972, S. 294). MAYER (1994) stellt die Lehr- und Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler, die durch kooperierende Lehrpersonen unterrichtet werden, in den Vordergrund: „Teamteaching meint die Planung, Durchführung und Auswertung kommunikativer Lehr- und Lernprozesse durch kooperative Lehrer in Zusammenarbeit mit flexiblen Schülergruppen“ (MAYER 1994, S. 24). WINKEL (1982) fasst das Teamteaching als Methode eines Unterrichts, an dem Lehrpersonen und flexible Schülergruppierungen gleichermaßen beteiligt sind: „Teamteaching ist also eine Unterrichtsmethode, bei der mehrere Lehrer in flexiblen Schülergruppierungen zusammenarbeiten, das heisst – im Idealfall – Unterricht gemeinsam vorbereiten, durchführen und auswerten“ (WINKEL 1982, S. 12).
2.2
Teamteaching im heutigen Verständnis
Eine Erweiterung und gleichzeitig eine Differenzierung im Verständnis von Teamteaching führen DAXBACHER und BERGER (1993) herbei, indem sie Teamteaching mit dem ,Integrationsmodell‘ verbinden. Mit Integrationsmodell meinen sie das gemeinsame Unterrichten von behinderten und nicht behinderten Kindern, wobei der integrative, differenzierende und individualisierende Unterricht im Mittelpunkt steht. Nach ihrer Definition unterrichten mindestens zwei Lehrpersonen in derselben Klasse. Die Unterrichtsplanung, die -durchführung und 105
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die Auswahl der Unterrichtsinhalte und -methoden erfolgen gemeinsam. Mit der gemeinsamen Verantwortung ist eine flexible Aufteilung der Aufgaben bzw. der Zuständigkeiten für einzelne Schülerinnen und Schüler verbunden. Die Lehrpersonen wechseln dabei zwischen initiierenden und unterstützenden Aufgaben im Unterricht ab. Es gibt ein breit gefächertes Angebot von Lernanlässen, das eine flexible Differenzierung und Individualisierung ermöglicht (vgl. DAXBACHER/BERGER 1993, S. 243). Dieses Teamteaching-Verständnis kommt demjenigen von heute am nächsten, weil die Aspekte Integration, Differenzierung und Individualisierung mit einbezogen werden (vgl. FROMMHERZ/HALFHIDE 2003). KASTEN 2 f
Definition von Teamteaching von HALFHIDE u.a. (2001)
HALFHIDE u.a. (2001, S. 7) verstehen Teamteaching als eine Unterrichtsform, bei der zwei oder mehr Lehrpersonen y zur gleichen Zeit an derselben Klasse unterrichten; y g emeinsam den Unterricht inhaltlich und methodisch planen und ihn zusammen durchführen; y d ie Verantwortung gemeinsam tragen, aber flexibel aufteilen, wer für welche Aufgaben oder welche Schülerinnen und Schüler zuständig ist; y d en Unterricht in wechselnden Rollen leiten oder unterstützen; y d as Lernen der Schülerinnen und Schüler mit einem breit gefächerten Angebot differenzieren und individualisieren; y d ie Schülerinnen und Schüler flexibel und den Lernanlässen oder dem Lernniveau angepasst in Gruppen einteilen.
Dieses Verständnis von Teamteaching lässt sich ohne weiteres loslösen von der Kategorisierung der Kinder z.B. in ‚behinderte‘ und ‚nicht behinderte‘ und dem Gedanken, die eine Gruppe müsse in die andere integriert werden. Es entspricht der internationalen Ablösung des Begriffs ,Integration‘ durch ,Inklusion‘. Nach dem Inklusions-Konzept werden alle Aspekte, die im Zusammenhang mit Heterogenität in den Blick genommen werden können, als ,normal‘ angesehen. 2.3
Vom integrativen zum inklusiven Unterricht
Im Umgang mit sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Klassen wird unter dem Leitbegriff ,Integration‘ schwerpunktmäßig der Zugang von vorher teilweise separiert unterrichteten Schülergruppen zum allgemeinen Schulunterricht diskutiert. Beispielsweise soll eine spezifisch definierte Gruppe mit ,sprachlichen Defiziten‘ mittels ‚Integration‘ in den Regelklassenunterricht eingebun-
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den werden. Durch Teamteaching soll gewährleistet werden, dass die sprachliche Förderung trotz unterschiedlichstem Sprachstand der Schülerinnen und Schüler für alle gewährleistet werden kann. Unter dem Leitbegriff ,Inklusion‘ „weitet sich dieses Verständnis zur positiven Wahrnehmung und Nutzung von Heterogenität mit all ihren unterschiedlichen Dimensionen in einer Schule für alle“ (BOBAN/HINZ 2004, S. 39). Inklusion bedeutet, dass eine – als unteilbar verstandene – heterogene Lerngruppe unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht mehr trennscharf in zwei oder mehr Teilgruppen unterschieden werden kann. Alle haben teil an der Gemeinschaft ihrer Schule. Annedore PRENGEL legte bereits 1995 in ihrem Buch „Pädagogik der Vielfalt“ die Elemente und Merkmale dar, die heute unter dem Begriff ,Inklusion‘ diskutiert werden. Sie stellte die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler explizit in den Mittelpunkt ihrer theoretischen und praktischen Überlegungen. Sie geht soweit, dass sie eine Aufhebung der homogenen Jahrgangsklasse in der Regelschule fordert, da die heterogene Zusammensetzung ohnehin kein gleichschrittiges Lernen zulasse. Auszugehen sei von der Unterschiedlichkeit der Lernziele in einer Klasse. Dieses Prinzip nennt sie ,zieldifferentes Lernen‘. Sie spricht von Vielfalt im Sinne einer ,egalitären Differenz‘ (vgl. PRENGEL 2001) und geht von einem demokratischen Differenzbegriff aus. In diesem Denkzusammenhang ist Teamteaching als eine Form von kooperierenden Lehrpersonen in einem inklusiven Unterricht zu verstehen. KASTEN 3 f
Hauptaspekte einer inklusiven Pädagogik
Vielfalt: Alle Lernenden in der Schule werden in den Blick genommen und in ihrer Vielfalt wertgeschätzt. Kategorisierungen werden vermieden. Lernen und Teilhabe: Barrieren für das Lernen und die Teilhabe werden beseitigt, denn alle sind in das Recht auf Lernen einbezogen. Dies gilt für Schülerinnen und Schüler wie für Lehrpersonen. Demokratie: Alle Stimmen kommen zur Geltung und Zusammenarbeit auf allen Ebenen ist unentbehrlich. Die Schule als Ganzes: Die Schule als Ganzes muss sich verändern und Barrieren für das Lernen und die Teilhabe sind nicht primär in einzelnen Lernenden zu suchen, sondern bei allen Aspekten einer Schule (alle Ebenen des Systems). Die Gesellschaft als Gesamtes: Inklusion ist kein Status, der erreicht werden kann, sondern ein kontinuierlicher Prozess, ist politisch und konflikthaft und bezieht sich auf den Anspruch auf Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft. (vgl. BOBAN/HINZ 2004, S. 40f.)
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Teamteaching als eine kooperative Form der Zusammenarbeit
Wie zu Beginn erwähnt, ist Teamteaching weit mehr, als die Anwesenheit von zwei Lehrpersonen in einem Klassenzimmer. GRÄSEL u.a. (2006, S. 206) halten fest, dass Schulen Organisationen sind, in denen Lehrpersonen i.d.R. alleine für eine Klasse verantwortlich sind. Obwohl Zusammenarbeit heute meist vorgesehen ist, bedeutet dies nicht, dass automatisch von kooperierenden Teams gesprochen werden kann. Die Autorinnen und Autoren werfen die Frage auf, inwieweit strukturelle Bedingungen der Schule die Kooperation erschweren. Kooperation ist nach SPIESS (2004, S. 199) gekennzeichnet “durch den Bezug auf andere, auf gemeinsam zu erreichende Ziele bzw. Aufgaben, sie ist intentional, kommunikativ und bedarf des Vertrauens. Sie setzt eine gewisse Autonomie voraus und ist der Norm von Reziprozität verpflichtet“. ROLFF (1980, S. 113) definiert Lehrerkooperation als Problemlösekompetenz, die sich prozesshaft entwickelt und im Idealfall zum teamartigen kooperativen Handeln führt. Lehrerinnen und Lehrer, die eine solche Handlungskompetenz entwickeln, erfüllen die Voraussetzungen von ,Professionellen Lerngemeinschaften‘ (PLG), die gekennzeichnet sind durch einen reflektierenden Dialog, eine Bereitschaft, ihre Unterrichtspraxis schulintern öffentlich zu machen, eine kontinuierliche Zusammenarbeit und Kooperation sowie gemeinsamen handlungsleitenden Zielen. Als Schlüsselwerte in PLGs gelten vor allem eine ,Hilfe-Kultur‘ und ,Fehlertoleranz‘ (vgl. ROLFF 2006, S. 238). Die professionelle Praxis in Schulen – insbesondere in sozio-kulturell und sprachlich heterogenen – ist „komplex, ungewiss, mehrdeutig, einzigartig und von Wert- und Interessekonflikten geprägt“ (ebd. S. 235) und ist längst nicht mehr von einzeln agierenden Lehrpersonen zu bewältigen. PLGs an Schulen, welche die Qualität des Unterrichts, bezogen auf die komplexen Anforderungen einer heterogenen Schülerschaft, entwickeln, benötigen eine institutionelle Basis, wenn sie dauerhaft und nachhaltig wirken sollen. An Schulen sind unterschiedliche PLGs von Lehrpersonen möglich: z.B. Fachgruppen unterschiedlicher Lehrpersonen, Jahrgangs- oder Klassenteams sowie Teamteaching-Tandems. Teamteaching ist also nur als eine Form von kooperativ handelnden Lehrpersonen im Sinne einer PLG an einer Schule zu verstehen. Wie eine Erhebung in sechs Primarschulklassen in der Stadt Zürich (vgl. FROMMHERZ/HALFHIDE 2003) gezeigt hat, werden die Chancen des Teamteaching in höherem Maße genutzt, wenn alle Lehrpersonen einer Schule in die Unterrichtsentwicklung unter dem Gesichtspunkt der Heterogenität verbindlich einbezogen sind. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Aussagen von HORSTER/ROLFF (2001, S. 58), in denen sie die
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Teamteaching
Wichtigkeit betonen, dass Lehrpersonen einer Schule sich über ihre Vorstellungen von Unterricht verständigen müssen und die dafür notwendigen Schritte vereinbaren sowie die Kriterien definieren, anhand derer der Erfolg der gemeinsamen Anstrengungen gemessen werden kann. Das gemeinsame Unterrichten im Teamteaching verlangt eine anspruchsvolle Form der Kooperation, die über den Austausch und die Arbeitsteilung hinaus geht. GRÄSEL u.a. (2006, S. 211) nennen die am höchsten entwickelte Form von Kooperation ,Kokonstruktion‘. Kokonstruktion zeichnet sich durch einen intensiven Austausch zwischen den Partnerinnen und Partnern hinsichtlich ihrer Aufgabe aus. Indem die Lehrpersonen ihr individuelles Wissen aufeinander beziehen, kokonstruieren sie Bedeutungen. Im Unterschied zur arbeitsteiligen Kooperation wird kontinuierlich an der gemeinsamen Aufgabe gearbeitet. Im Zentrum stehen sowohl ein gemeinsames Ziel als auch der Arbeitsprozess. Für eine produktive Kokonstruktion ist Vertrauen besonders wichtig. “Jeder Einzelne muss das Risiko eingehen, Fehler anzusprechen, zu kritisieren und zu hinterfragen bzw. selbst unsichere Vorschläge zu machen, die auf Ablehnung stoßen können. (...) Der Aufwand für gemeinsame Abstimmungen ist relativ hoch und die Gefahr für sachliche und soziale Konflikte größer als bei anderen Kooperationsformen“ (ebd. S. 211). Teamteaching sehen GRÄSEL u.a. als die eindeutigste Form von Kokonstruktion, weil Lehrpersonen gemeinsam unterrichten. Gemeinsam zu unterrichten bedingt eine gemeinsame Planung, das gemeinsame Erstellen von Unterrichtsmaterialien und die Reflexion über Unterrichtsepisoden. KASTEN 4 f
Voraussetzung für die Kooperation zwischen Lehrkräften
Um gute Kooperationsbedingungen zu schaffen, braucht es • • • • • • • • •
ein klares Ziel verbindliche Abmachungen Rollenklarheit die Übernahme von Verantwortung durch alle Gleichberechtigung soziale und fachliche Kompetenz die Fähigkeit zur Reflexion genügend Zeitressourcen geeignete Räumlichkeiten
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Therese Halfhilde
4
Erfolgsbedingungen von Teamteaching
Die enge Zusammenarbeit von Lehrpersonen im Teamteaching muss erlernt werden. Damit dieser Lernprozess erfolgreich verläuft, nennt HUBER (2000) einige Voraussetzungen. Sie betreffen die Persönlichkeit und die Zusammenarbeit der Lehrpersonen, die Organisation sowie den Unterricht. Kooperierende Lehrpersonen im Teamteaching fokussieren demnach immer gleichzeitig auf die Zusammenarbeit und den Unterricht. 4.1
Anforderungen an die Persönlichkeit und Bedingungen der Zusammenarbeit
Ausgangsbedingung ist eine Grundhaltung der beteiligten Lehrpersonen, dass Teamteaching grundsätzlich eine Bereicherung für Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Unterricht darstellt. Die Lehrpersonen müssen ihre pädagogischen Einstellungen und Haltungen kommunizieren können und sich ihrer fachlich spezifischen Kompetenzen bewusst sein. Die Bereitschaft zur gleichwertigen Zusammenarbeit auf das gemeinsame Ziel hin und eine grundsätzliche Offenheit und Flexibilität für situativ sinnvolle Anpassungen und Änderungen des Unterrichtsplans erleichtern die Arbeit. Außerdem benötigen die Lehrpersonen die Bereitschaft, ihre Zusammenarbeit und das Unterrichten gemeinsam zu reflektieren und Rückmeldungen entgegenzunehmen. Übergeordnete Ziele und der Aufbau einer sozialen Beziehung sind Voraussetzung dafür, dass sich eine gute Arbeitsbeziehung entwickeln kann. 4.2
Organisatorische Bedingungen
Auch wenn dies nicht immer möglich ist, sind die Chancen für eine positive Entwicklung der Zusammenarbeit besser, wenn die Lehrpersonen ihre jeweiligen Partnerinnen und Partner selber wählen können. Der Einstieg ins Teamteaching fällt leichter, wenn sich die Lehrpersonen darauf vorbereiten können. Dies kann sowohl durch Hospitieren bei erfahrenen Tandems als auch in einer Weiterbildung geschehen. Auf der strukturellen Ebene der Schule müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu gehören u.a. geeignete Räumlichkeiten sowie ein genügend hohes Stundenkontingent für das gemeinsame Unterrichten. In der Praxis fällt auf, dass die normativ formulierten, durch Teamteaching zu erreichenden Unterrichtsziele, die zu einem verbesserten Schulerfolg und somit zu größerer Chancengerechtigkeit führen sollen, durch zu kleine Stundenkontingente häufig kaum zu erreichen sind.
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Teamteaching
4.3
Unterrichtsbezogene Bedingungen
Die Lehrpersonen verfügen über das Wissen, was guten Unterricht in – v.a. sprachlich und sozio-kulturell – heterogenen Klassen ausmacht. Gemeinsam sind sie aufgrund ihrer spezifischen Fachexpertisen in der Lage, ihren Unterricht zu planen, gemeinsam durchzuführen und ihn auszuwerten. Die Verantwortlichkeiten und die sich daraus ergebenden Rollen im Unterricht sind geklärt. Eine Einigung über pädagogische Vorstellungen und Unterrichtsstile hat stattgefunden. Da Teamteaching letztlich immer auf einen wirksamen Unterricht abzielt, muss überprüft werden, ob die gesteckten Ziele erreicht werden. Die vielfältigen Möglichkeiten, Unterricht und die Teamarbeit zu evaluieren, können an dieser Stelle nicht vorgestellt werden (vgl. dazu STERN/DÖBRICH 1999; BILDUNGSDIREKTION DES KANTONS ZÜRICH 1999; ALTRICHTER/POSCH 1998). KASTEN 5 f
Weitere Voraussetzungen von Teamteaching
Teamteaching ist eine komplexe Unterrichtsform, die viele Absprachen erfordert: Wie organisieren wir unsere Zusammenarbeit? u.a. eingesetzte Zeit für die Planung, Vorbereitung und Reflexion; kollegiale Unterstützung und Weiterbildung; Vorgehen bei Konflikten; Feiern von Erfolgen Wie gestalten wir den gemeinsamen Unterricht? u.a. Unterrichtsformen; Unterrichtsstile; Unterrichtsbereiche; situativ sinnvolle Lerngruppeneinteilungen; Partizipationsformen der Schülerinnen und Schüler; Formen des Teamteaching und Rollen der Lehrpersonen Wie kommunizieren wir (Lehrpersonen untereinander und Lehrpersonen mit Schülerinnen und Schülern)? u.a. Gesprächsinhalte, Gesprächsstil, Art des Feedbacks
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5
Wirkungen von Teamteaching
Bis heute existieren kaum empirische Forschungsresultate bezüglich der Wirkung von Teamteaching. Viele Praxiserfahrungen zeigen aber, dass sich diese Unterrichtsform bei gekonnter Anwendung positiv auf die Schülerinnen und Schüler und das Lernen, aber auch auf die Lehrpersonen auswirkt (vgl. HUBER 2000; HALFHIDE/FREI/ZINGG 2001; FROMMHERZ/HALFHIDE 2003). KASTEN 6
Wirkungen von Teamteaching
Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler und das Lernen: Durch Teamteaching • lässt sich die Konzentration der Schülerinnen und Schüler eher aufrecht erhalten, was sich auf deren Lernmotivation positiv auswirkt; • erwerben die Schülerinnen und Schüler kooperative Verhaltensweisen untereinander und mit den Lehrpersonen, da sie am Rollenvorbild der Lehrpersonen lernen; • können die Schülerinnen und Schüler leichter in gewissen Lernformen (z.B. in Gruppen) und auch an anderen Lernorten (z.B. Bibliothek, Sprachateliers) arbeiten; • erhalten die Schülerinnen und Schüler schneller ein Feedback, was ihre Lernprozesse fördert und ihre aktive Lernzeit erhöht; • steht den Schülerinnen und Schülern mehr Zeit zur Verfügung, in der sie sich beraten lassen oder beim Üben unterstützt werden können; • können sie zwischen mindestens zwei Bezugspersonen wählen. Wirkungen auf die Lehrpersonen und das Unterrichten: Teamteaching • fördert Innovationen im pädagogischen Alltag, da sich die kooperierenden Lehrpersonen gegenseitig anregen und ihren Unterricht systematischer reflektieren; • entlastet die Lehrpersonen in ihren Aufgaben und ihrer Verantwortung, sobald die Zusammenarbeit einmal eingespielt ist (zu Beginn ist mit einem zeitlichen Mehraufwand zu rechnen); • erleichtert den Umgang mit unvorhergesehenen oder belastenden Geschehnissen, da man sich gegenseitig beraten und austauschen kann; • verhilft zum Bewusstsein persönlicher und fachlicher Stärken und Schwächen und als Folge davon zu einer intensiveren Nutzung gemeinsamer Ressourcen; • durchbricht die Isolation der Lehrpersonen;
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Teamteaching
• • • •
verbessert die Qualität des Unterrichts, da sich die Lehrpersonen häufig ergänzen; erhöht die Objektivität der Leistungsbeurteilung; schafft überhaupt erst die Möglichkeit, in sehr heterogenen Klassen den Unterricht genügend zu differenzieren und zu individualisieren; ermöglicht eine permanente Unterrichtsentwicklung durch den Aufbau einer Feedbackkultur.
Die Arbeit im Teamteaching stellt eine Chance dar, die Arbeitsqualität und die Berufszufriedenheit der Lehrpersonen zu verbessern. Die oben aufgeführten Wirkungen bleiben jedoch teilweise oder ganz aus, wenn die Lehrpersonen nur nebeneinander arbeiten und kein Interesse an Unterrichtsentwicklung haben. Die Chance, dass sich die positiven Wirkungen tatsächlich ergeben, erhöht sich, wenn Teamteaching im Kontext einer umfassenden Schul- und Unterrichtsentwicklung umgesetzt wird.
6
Teamteaching als Ansatz inklusiver Unterrichts- und Schulentwicklung
Es sind unterschiedliche Schulmodelle denkbar, die versuchen, mit Teamteaching das Lernen aller Schülerinnen und Schüler in einem inklusiven Unterricht zu unterstützen. Im Folgenden liegt das Hauptgewicht auf Modellen, die mittels Teamteaching explizit den Aspekt der sprachlichen und sozio-kulturellen Heterogenität ins Zentrum stellen. Wenn wir von sprachlicher Heterogenität ausgehen, ist jeglicher Unterricht neben dem inhaltlichen Aspekt immer auch Sprachunterricht. Dies bedeutet, dass mindestens eine der im Teamteaching arbeitenden Lehrperson spezialisiert ist auf Deutsch als Zweitsprache-Didaktik oder einen Erstsprachenbezug einbringen kann. Solche Fachexpertisen sind bei der Zusammensetzung der Teamteaching-Tandems oder Teams zu berücksichtigen. 6.1
Tandem und Teammodell
Schulen in Regionen oder Stadtteilen, in denen der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund hoch ist, werden in ihrer Arbeit durch sprachlich-kulturelle Vielfalt und häufig auch durch instabile Lebenslagen der Familien, z.B. 113
Therese Halfhilde
durch Arbeitslosigkeit, herausgefordert. Dieser Situation begegnet das Schulentwicklungsprojekt QUIMS mit speziellen Maßnahmen zur Unterrichts- und Schulentwicklung. Zwei Modelle sind in diesem Zusammenhang besonders interessant: das Tandemmodell und das Teammodell (vgl. HALFHIDE u.a. 2001; WÜLSER SCHOOP 2000). KASTEN 7 f
Modelle von Teamteaching im Rahmen des Zürcher Projekts QUIMS
Tandemmodell in mehrsprachigen Klassen: In sprachlich heterogenen Schulklassen oder Kindergärten unterrichtet eine zweite Lehrperson mit einer Zusatzqualifikation in Deutsch als ZweitspracheDidaktik für mindestens drei bis vier Stunden pro Woche im Teamteaching mit der Klassenlehrperson zusammen. Teammodell für Klassen mit direkter Einschulung von Neuimmigrierten: Damit in solchen Klassen alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Lernchancen haben, unterrichten während der Hälfte der Wochenstunden zwei Lehrpersonen die Klasse gemeinsam. Auch in diesem Modell bringt mindestens eine Lehrperson eine Zusatzqualifikation in Deutsch als Zweitsprache-Didaktik mit. Das Modell wurde von 1995 bis 1998 auf der Unterstufe (1. bis 3. Klasse) entwickelt und erprobt und wurde nach positiven Evaluationsergebnissen auf die Mittelstufe (4. Bis 6. Klasse) ausgedehnt.
Beiden Modellen gemeinsam ist die Vernetzung über die Einzelschule hinaus und eine kontinuierliche Unterrichtsentwicklung über mehrere Jahre, wobei Teamteaching ein integratives Element darstellt. Mindestens eine der beteiligen Lehrpersonen eines Tandems, das im Teamteaching unterrichtet, verfügt über spezifische Fachkenntnisse in Deutsch als Zweitsprache-Didaktik. Die einzelnen Tandems entwickelten innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen geeignete Teamteachingformen, um die sprachliche Bildung im Unterricht zu optimieren. An den regelmäßigen Treffen der Tandems reflektierten alle ihre Erfahrungen und planten nach Bedarf Begleit- oder Weiterbildungsmaßnahmen. Gegenseitige Hospitationen bilden dabei ein wesentliches Element, um den Teamteachingunterricht zu optimieren. Beide Projekte wurden nach einer Erprobungsphase evaluiert (vgl. HALFHIDE u.a. 2001, S. 14ff.).
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Teamteaching
6.2
Zweisprachiges Teamteachingmodell
Ein Schulmodell mit Pioniercharakter ist der integrierte Unterricht in ,Heimatlicher Sprache und Kultur‘ (HSK) (vgl. HALFHIDE u.a. 2001, S. 20f.). In diesem Modell ,Integrierter HSK plus‘ unterrichten in Schulen des Schulkreises Limmattal in der Stadt Zürich Lehrpersonen der Regelklassen oder des Kindergartens gemeinsam mit Lehrpersonen für HSK zusammen. Die HSK-Lehrpersonen unterrichten während einzelner Wochenstunden im Teamteaching in verschiedenen Schulklassen und Kindergärten. Außerdem beteiligen sie sich an Schulhausaktivitäten wie z.B. in der Zusammenarbeit mit Eltern, bei der sie als ,Kulturvermittlerinnen‘ und ,Kulturvermittler‘ agieren sowie in Projektwochen. Die Erfahrungen aus diesem Modell bildet eine wertvolle Grundlage für die Entwicklung von sprachlich gemischten Teamteachingformen an QUIMS-Schulen. 6.3
Unterrichtsorganisation
Ein wichtiges Merkmal von inklusivem Unterricht ist die Überwindung der Vorstellung von immer gleichen Lerngruppen nach dem Muster ,mit/ohne‘ Förderbedarf. Die Lerngruppen werden je nach Unterrichtsgegenstand oder gewählter Lernform immer wieder neu zusammengesetzt. Teamteaching ermöglicht eine Vielfalt an Unterrichtsformen und Methoden. Je nachdem variieren die Rollen der Lehrpersonen. Die im Folgenden aufgeführten Beispiele stammen aus der Praxis von Lehrpersonen, die im Teamteaching unterrichten. Sie wurden an Weiterbildungsveranstaltungen der Autorin zusammen getragen. Wichtig ist, dass die aktive Lernzeit der Schülerinnen und Schüler möglichst hoch sein soll. Zudem achten die Lehrpersonen darauf, dass sie während des Teamteaching-Unterrichts immer eine klar definierte Aufgabe wahrnehmen. Eine solche Aufgabe kann auch die gegenseitige Hospitation sein sowie gezieltes Beobachten einzelner Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang mit der Förderdiagnostik.
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Form
Rollen der Lehrpersonen
Niveau-/Interessengruppen oder Halbklassen
Jede Lehrperson betreut je eine bis zwei Niveau- oder Interessengruppen oder ist zuständig für je eine Halbklasse (z.B. jede Lehrperson arbeitet nach ihrem eigenen Programm, anschließend wechseln sie die Halbklasse).
Klassenunterricht und wechselnde kleine Fördergruppen
Eine Lehrperson leitet und betreut die Klassenaktivitäten, die andere Lehrperson holt abwechselnd kleine Gruppen zu sich (z.B. für intensives Üben, Deutsch als Zweitsprache innerhalb des Unterrichtsthemas, Nachhilfe).
Selbständiges Arbeiten in offenen Lernformen und Förderdiagnostik/ Einzelförderung
Die Schüler/innen arbeiten z.B. in einer Werkstatt oder am Wochenplan. Eine Lehrperson ist Ansprechperson bei Fragen, die andere arbeitet gezielt mit einzelnen Kindern nach deren Förderplan.
Lernstationen oder Werkstattunterricht
Die Lehrpersonen sind Ansprechpersonen für bestimmte Lernstationen.
Klassenunterricht gemeinsam
Beide Lehrpersonen sind gegenseitig und mit der Klasse im Dialog (z.B. Klassenrat, Einführen in ein neues Thema).
Klassenunterricht und Lernen am Modell
Eine Lehrperson leitet den Klassenunterricht, die andere sitzt in der Klasse und beteiligt sich wie ein/e Schüler/in am Unterricht.
Themenbezogenes Klassengespräch/Protokoll führen
Die Schüler/innen arbeiten mit der einen Lehrperson mündlich zu einem Thema und die zweite Lehrperson hält die Ergebnisse in einem Protokoll am Computer für die ganze Klasse fest.
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7
Zusammenfassung
Teamteaching bietet im Zusammenhang von Schul- und Unterrichtsentwicklung viele Vorteile. In Schulen, die sich durch sprachliche und sozio-kulturelle Heterogenität der Schülerinnen und Schüler auszeichnen, ist primär von einem inklusiven Ansatz auszugehen. Dies bedeutet, dass auch selbstverständliche und etablierte Formen von Schule, die den Schulalltag und den Unterricht strukturell regulieren, kritisch zu betrachten sind. Zu den Regulativen, die unter Umständen einer Anpassung und Veränderung bedürfen, zählen u.a. die Zeit- und Raumaufteilungen, der Stundentakt und die Jahrgangsklassen, die Art und Weise wie Schülerinnen und Schüler klassifiziert und eingeteilt werden, wie Lehrpersonen aufgefordert sind zu arbeiten und wie Schülerinnen und Schüler Aufgaben erhalten und wie sie beurteilt oder geprüft werden (vgl. ROLFF 2006, S. 222f.). Ist Teamteaching lediglich eine Form von Zusammenarbeit von Lehrpersonen an einer sich entwickelnden Schule, ist die Chance höher, dass sich die Tandems als professionelle Lerngemeinschaften verstehen, die gemeinsam in einem Prozess der Kokonstruktion ihren Unterricht entwickeln, durchführen und reflektieren. Ihre Arbeit wird erleichtert und unterstützt, wenn sich alle Lehrpersonen der Schule auf verbindliche Qualitätsziele bezüglich Unterricht geeinigt haben. In Lehrerteams an sprachlich heterogenen Schulen müssen Lehrpersonen sein, die Expertinnen oder Experten für Deutsch als Zweitsprache sind und solche, die Fachlehrpersonen der am häufigsten gesprochenen Erstsprachen der Schülerinnen und Schüler sind. Einem Teamteaching-Tandem gehört mindestens eine Lehrperson mit einer oder beider dieser Fachkompetenzen an. Zur Sicherung der Nachhaltigkeit und Qualität ist es notwendig, dass Teamteaching-Tandems schulinterne oder externe Unterstützung in ihrem Unterrichtsentwicklungsprozess erhalten. Zum Abschluss sei noch erwähnt, dass Lehrpersonen, die in feste Teamformen eingebunden sind, auch in konkreten eigenen pädagogischen Formen ein intensiveres Kooperationsverhalten zeigen als solche, die nicht in Teams eingebunden sind. „Wo feste Teambildungen bestehen und wo intensiv mit den Kolleg/innen kooperiert wird, finden wir auch eine differenziertere Lernkultur mit variablen Lernarrangements im Unterricht vor.“ (vgl. HOLTAPPELS/VOSS 2006, S. 255).
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Fragen und Denkanstöße 1. Welches sind wesentliche Merkmale des Teamteaching? 2. Welche Faktoren erhöhen die Chance, dass Lehrpersonen Teamteaching als kooperative Form des Unterrichtens wirklich nutzen? 3. Was meint inklusiver Unterricht und was heisst dies für das Unterrichten im Teamteaching? 4. Welche Chancen ergeben sich für die Lehrpersonen, die im Teamteaching zusammenarbeiten? 5. Welche Chancen bestehen für Schülerinnen und Schüler in sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Klassen, wenn mindestens zwei Lehrpersonen im Teamteaching unterrichten? Literaturempfehlungen HALFHIDE, T./FREI, M./ZINGG, C.: Teamteaching. Wege zum guten Unterricht. Zürich 2001. Eine Broschüre, die sich vor allem auf praktische Erfahrungen aus dem Kantonalzürcher Projekt ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS) stützt. Sie enthält Ideen und Modellbeschreibungen, die die Einrichtung von Teamteaching erleichtern. HORSTER, L./ROLFF, H-G.: Unterrichtsentwicklung. Grundlagen, Praxis, Steuerungsprozesse. Weinheim 2001. Unterricht steht im Zentrum schulischer Arbeit. Unterrichtsentwicklung ist der Königsweg der Schulentwicklung. Die systematische Darstellung von Unterrichtsentwicklung wird ergänzt mit vielen Beispielen und Arbeitsblättern für die praktische Arbeit. BOBAN, I./HINZ, A.: Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische Entwicklung in der „Schule für alle“. In: Heinzel, F./Geiling, U. (Hrsg.): Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 37-48. Mit dem Index für Inklusion stellen die Autoren ein Material der Selbstevaluation von Schulen vor, das die Funktion einer demokratischen Entwicklung einer ‚Schule für alle‘ haben kann.
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Literaturverzeichnis Altrichter, H./Posch, P. (1998): Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. 3. durchgesehene und erweiterte Auflage. Bad Heilbronn. Bildungsdirektion Kanton Zürich (Hrsg.) (2006): Umsetzung Volksschulgesetz – Handreichung QUIMS. Zürich: Lehrmittelverlag. Bildungsdirektion Kanton Zürich (Hrsg.) (1999): Handreichung Selbstevaluation. Projekt «Teilautonome Volksschulen». Zürich: Volksschulamt. Boban, I./Hinz, A. (2004): Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische Entwicklung in der „Schule für alle“. In: Heinzel, F./Geiling, U. (Hrsg.): Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden, S. 37-48. Bonsen, M./von der Gathen, J. (2006): Fünf Säulen professionellen Lernens. Das Konzept der Professionellen Lerngemeinschaft in der Schulpraxis. In: Journal für Schulentwicklung, 3/2006, S. 23-28. Brüsemeister, T. (2004): Schulische Inklusion und neue Governance. Zur Sicht der Lehrkräfte. Münster. Daxbacher, R./Berger, B. (1993): Schulische Integration behinderter Kinder in Wien Zur Bedeutung der Prinzipien des Teamteaching, der Kooperation und des Kompetenztransfers für Grundschulen ohne Aussonderung. In: Behindertenpädagogik 32, S. 242-253. Dechert, H.W. (1972): Teamteaching in der Schule. München. Frommherz, B./Halfhide, T. (2003): Teamteaching an Unterstufenklassen der Stadt Zürich. Beobachtungen in sechs Klassen. Zürich: Pädagogisches Institut der Universität Zürich. Im Internet verfügbar unter: http://www.paed.unizh.ch/pp1/blockzh/ Team TeachingZH.pdf. Geiling, U./Hinz, A. (2005): Integrationspädagogik im Diskurs. Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik? Bad Heilbrunn. Gräsel, C./Fussangel, K./Pröbstel, C. (2006): Lehrkräfte zur Kooperation anregen – eine Aufgabe für Sisyphos? In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 2/2006, S. 205-219. Graumann, O. (2005): Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen. Bad Heilbrunn. Halfhide, T./Frei, M./Zingg, C. (2001): Teamteaching. Wege zum guten Unterricht. Zürich. Helmke, A. (2003): Unterrichtsqualität. Erfassen, Bewerten, Verbessern. Seelze. Hoffelner, R. (1995): Teamteaching. Entwicklungen. Europäische Hochschulschriften. Frankfurt am Main. Holtappels, H.G./Voss, A. (2006): Organisationskultur und Lernkultur. Zusammenhänge zwischen Schulorganisation und Unterrichtsgestaltung am Beispiel selbständiger Schulen. In: Bos, W. et al.: Jahrbuch der Schulentwicklung. Weinheim und München, S. 247-274. Horster, L./Rolff, H-G. (2001): Unterrichtsentwicklung. Grundlagen, Praxis, Steuerungsprozesse. Weinheim. Huber, B. (2000): Teamteaching. Bilanz und Perspektiven. Europäische Hochschulschriften. Frankfurt am Main.
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Kapitel 6
Agi Schründer-Lenzen
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Unterrichtsbedingung 1
Sprachliche Heterogenität
Sprachlich-kulturelle Heterogenität in Bildungseinrichtungen ist seit mehr als drei Jahrzehnten eine Realität, die erst in den letzten Jahren als eine fast durchgängige Rahmenbedingung von Schule und Unterricht zur Kenntnis genommen wird. Bereits 30 % der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren verfügen deutschlandweit über einen „Migrationshintergrund“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 143). Die größte Aufmerksamkeit erfährt seitdem die frühe Sprachförderung, da in der sprachsensiblen Phase, die bis ungefähr zum 6. Lebensjahr reicht, Kinder praktisch mühelos mit mehr als einer Sprache aufwachsen können (TRACY 2007). Dieser simultane Erwerb zweier Sprachen im Kleinkindalter (Bilingualismus) ist von dem sukzessiven Erwerb einer zweiten Sprache, die erst im Vorschulalter beginnt, zu unterscheiden. Dieser relativ späte Erwerb von ‚Deutsch als Zweitsprache‘ (DaZ), ist gerade für jene Kinder typisch, deren beide Eltern im Ausland geboren wurden und die, statistisch gesehen, den geringsten Bildungserfolg haben. Sukzessiver Spracherwerb ist zwar im Kontext schulischer Sprachvermittlung insbesondere dann, wenn es um das Erlernen einer Fremdsprache (DaF = Deutsch als Fremdsprache) geht, relativ gut erforscht (vgl. HELBIG u.a. 2001), aber dieses didaktische Setting unterscheidet sich grundsätzlich von der Lernsituation von Migrantenkindern: Ihre weitgehend ungesteuerte Sprachaneignung in vielfach bildungsfernen Elternhäusern unterliegt anderen Entwicklungsverläufen als das weitgehend gesteuerte Sprachlernen im Fremdsprachenunterricht. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verfügen häufig über eine relativ gut ausgebildete umgangssprachliche Kompetenz, die über grammatische Fehler, lexikalische Ungenauigkeiten und erfahrungsbezogene Wissenslücken hinwegtäuscht. Sichtbar werden diese Probleme häufig erst im Verlauf
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Agi Schründer-Lenzen
der Grundschule, wenn die Anforderungen an das Sprachverstehen und die Textproduktion stark zunehmen. Die geschriebene Sprache lässt sich auch als „Sprache der Distanz“ verstehen, denn ihre Produktion ist durch Situationsentbindung gekennzeichnet, die dazu zwingt, alles das zu verschriftlichen, was in der mündlichen Sprache, der „Sprache der Nähe“, durch außersprachliche Mittel (Mimik, Gestik) oder auch parasprachlich (Intonation, Artikulation) kommuniziert werden kann (vgl. KOCH/OESTERREICHER 1985). Es ist nicht der Erwerb einer kommunikativen Kompetenz, der im Fokus des Fremdsprachenunterrichts steht, sondern die Teilhabe an der ‚schulischen Bildungssprache‘, die die zentrale didaktische Herausforderung in der Unterrichtung sprachlich-kulturell heterogener Schülergruppen bedeutet. Die Komplexität dieser Lernaufgabe wäre aber nicht richtig verstanden, würde man hierunter nur die vier Grundfertigkeiten des Zweitspracherwerbs verstehen: Hörverständnis, Sprechen, Lesen und Schreiben. Das Erlernen der schulischen Bildungssprache ist weitaus anspruchsvoller und setzt im Verlauf der Bildungskarriere zunehmend den Erwerb von Fachsprache, das damit verbundene Begriffslernen, das Verständnis spezifischer Textsorten und ein konzeptuell verankertes Fachwissen voraus. Diese Zielperspektive und die damit gegebene Notwendigkeit eines sprachbewussten Unterrichts in allen Fächern und auf allen Schulstufen ist zwar aus wissenschaftlicher Perspektive Konsens, aber es existieren bisher nur wenige Ansätze einer didaktischen Konkretisierung. In der neuen Generation der Rahmenlehrpläne und ministeriellen Handreichungen wird Sprachförderung nicht mehr nur als unterrichtsergänzende Fördermaßnahme beschrieben, sondern explizit als Unterrichtsprinzip für den Regelunterricht gefordert: So sind bereits 1999 in NRW die „Empfehlungen zur Förderung der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern“ erschienen und auch die Berliner „Handreichung Deutsch als Zweitsprache“ (2001) versucht, Grundlagenwissen für einen „integrativen Sprachunterricht“ zu vermitteln. Der sächsische Rahmenplan (2000) zeigt Möglichkeiten der Integration von DaZ-Unterricht und Fachunterricht auf. Auch der Hamburger Grundschullehrplan Deutsch (2004) weist in diese Richtung, indem DaZ als Querschnittaufgabe aller Fächer gesehen wird und explizit mit dem Ziel „Mehrsprachigkeit“ verbunden wird. Der Blick in Rahmenlehrpläne und ministerielle Empfehlungen ermöglicht aber auch Hinweise auf unterschiedliche didaktische Schwerpunktsetzungen der Sprachförderung: So orientiert sich der bayerische Rahmenlehrplan, der 2002 von Berlin und Niedersachsen übernommen wurde, an einem kommunikativpragmatischen Sprachförderkonzept, das von Themen der kindlichen Lebenswelt wie „Ich und Du“ oder „Miteinander leben“ ausgeht. Diese Orientierung des Sprachlernens an authentischen, erfahrungsbezogenen, thematisch struktu122
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
rierten Lernsituationen (HÖLSCHER u.a. 2006) lässt sich von dem sprachsystematischen Konzept der Berliner DaZ-Handreichung unterscheiden, das besonderes Gewicht auf den Erwerb bestimmter grammatischer Strukturen legt (vgl. RÖSCH 2005).
2
Guter Unterricht in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse
Die empirische Unterrichtsforschung hat im Hinblick auf schulart- und fachunabhängige Qualitätsmerkmale von Unterricht eine Reihe von Indikatoren herausgearbeitet, die auch für das Unterrichtsgeschehen in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse Gültigkeit beanspruchen können (vgl. HELMKE 2003, vgl. auch Kapitel 3): 1. effiziente Klassenführung und Zeitnutzung 2. lernförderliches Unterrichtsklima 3. vielfältige Motivierung 4. Strukturiertheit, Klarheit, Verständlichkeit 5. Wirkungsorientierung, Kompetenz- und Lernzielorientierung 6. Schülerorientierung und -zentrierung 7. Förderung aktiven, selbständigen Lernens 8. angemessene Variation von Methoden und Sozialformen 9. Konsolidierung, Übung, Transfer 10. Nutzung vielfachen Feedbacks Diese Auflistung von Indikatoren der Unterrichtsqualität birgt allerdings Gefahren, da sie suggeriert, ‚den‘ guten Unterricht beschrieben zu haben. Unterrichtsprozesse werden aber vielfältig ‚moderiert‘, es kommt zu Wechselwirkungen zwischen Schülermerkmalen und Unterrichtsmethoden. CRONBACH und SNOW (1977) bezeichneten diese Wechselwirkungen als „Aptitude-TreatmentInteractions (ATI)“. Effektives Unterrichten erfordert dementsprechend ein an die jeweiligen Lernvoraussetzungen angepasstes Vorgehen, ein adaptives Lernangebot. Aus der Fülle möglicher methodischer Zugriffsweisen, Inhalte und Organisationsformen sind diejenigen auszuwählen, die der je aktuellen Unterrichtssituation, der konkreten Klasse und dem individuellen Schüler am besten entsprechen. Diese ‚Passung‘ des Lernangebots ist dann gegeben, wenn es in der ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ liegt, also etwas anspruchsvoller ist, als das, was die Schülerin bzw. der Schüler bereits kann: 123
Agi Schründer-Lenzen
“It is the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers” (VYGOTSKY 1978, S. 86).
Was bedeuten diese Überlegungen für die sprachlich-kulturell heterogene Klasse und wie lassen sie sich in didaktische Strategien umsetzen? Zwei Elemente einer didaktischen Expertise sollen im Folgenden skizziert werden: die diagnostische Basisorientierung und Strategien einer integrativen Sprachförderung. 2.1
Diagnostische Basisorientierung
Eine individuelle Sprachstandsanalyse gehört zu den notwendigen Grundlagen einer professionellen didaktischen Konzeption für die sprachlich-kulturelle Klasse. Nur durch die kontinuierliche Beobachtung der individuellen Entwicklung der Lernersprache bei gleichzeitiger Berücksichtigung der heterogenen Sprachvoraussetzungen kann eine Lernsituation geschaffen werden, die sprachliches und fachliches Lernen ermöglicht. Lehrkräfte stehen mit dieser Forderung aber vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe, denn das Angebot an Instrumenten und Verfahren für eine Einschätzung des sprachlichen Entwicklungsstandes ist für die Vorschulphase und den Schuleintritt sehr groß und für die weitere Schulzeit, insbesondere die Sekundarstufe, so gut wie nicht vorhanden. Es fehlen Instrumente, um den fachsprachlichen Entwicklungsstand einzuschätzen, so dass die Gefahr sehr groß ist, Lernschwierigkeiten irrtümlich als fachliche Defizite zu interpretieren, obwohl sie eigentlich auf einem sprachlichen Nicht-Verstehen beruhen. Mit diesen Hinweisen wird auch deutlich, dass mit der Analyse des sprachlichen Entwicklungsstandes ganz unterschiedliche Interessen verbunden sein können: Sprachstandsanalyse wird häufig als Statusdiagnostik verstanden, um z.B. einen Förderbedarf zu identifizieren. Gerade für das Kindergartenalter gibt es hierzu eine Fülle von Instrumenten (vgl. Kasten 1), die von den Verfahren zu unterscheiden sind, die auf eine Prozessdiagnostik orientiert sind. Beispiel hierfür wären Sprachenportfolios zur Dokumentation von Fremd- bzw. Zweitspracherwerb, für die unterschiedliche Muster auf den Internetseiten der Ministerien abrufbar sind (vgl. hier Abb. 1: Auszug aus dem Thüringer Sprachenportfolio).
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Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
KASTEN 1 f
Die sprachdiagnostischen Instrumente für die Altersphase der 4- bis 6-Jährigen haben unterschiedliche Zielstellungen: • •
•
•
Identifizierung von Sprachentwicklungsstörungen (z.B. KISTE ), Feststellung von Sprachförderbedarf (z.B. Deutsch plus, Fit in Deutsch, Delphin, LiSe DaZ = Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache), Unterstützung einer gezielten und systematischen Beobachtung und Dokumentation der ‚normalen‘ kindlichen Sprachentwicklung (z.B. SISMIK, Bayern-Hessen-Screening), Instrumente zur Erfassung der Mehrsprachigkeit (HAVAS, CITO).
In der Praxis ist die Vernetzung der vorschulisch erhobenen Informationen über die Sprachentwicklung mit dem Anfangsunterricht ein gravierendes Problem, das zumeist durch punktuelle Verständigung zwischen Kindergärtnerin und Grundschullehrerin ‚gelöst‘ wird. Ansatzpunkte für eine institutionenübergreifende diagnostische Orientierung lassen sich z.B. in dem Berliner Konzept des Sprachlerntagebuches für den Elementarbereich und der sich anschließenden „Lerndokumentation Sprache“ finden. Hier werden einerseits die diagnostischen Kategorien der Vorschulphase wieder aufgegriffen und andererseits erweitert, indem neben den üblichen Beobachtungsdaten für den Schriftspracherwerb (phonologische Bewusstheit, Schreibmotorik, Lesen, Rechtschreiben, Textproduktion) auch Kategorien für das mündliche Sprachhandeln, die morpho-syntaktische Entwicklung, die Sprachlernmotivation und das Sprachwissen berücksichtigt werden. Damit wird an Erkenntnisse aus der Spracherwerbsforschung angeknüpft, die – unabhängig von der jeweiligen Herkunftssprache – im Bereich der Syntax einen idealtypischen Erwerbsverlauf des Deutschen als Zweitsprache gezeigt haben. Besonders markant ist die sprachliche Progression im Bereich der Wortstellung, die sich in Anlehnung an GRIESSHABER (2005) in folgenden Stufen beschreiben lässt: 0. Bruchstückhafte Äußerungen, unvollständige Sätze 1. Einfache Sätze mit linearer Abfolge von Aktor, Aktion (Prädikat) und Objekt der Aktion 2. Einfache Sätze mit der für das Deutsche sehr charakteristischen Trennung von finitem Verb und infiniten Verbteilen
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3. Inversion: Nach vorangestellten Adverbien werden Verb und Subjekt vertauscht 4. Nebensätze mit finitem Verb in Endstellung Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Tatsache, dass die syntaktischen Strukturen von Deutsch als Zweitsprache in bestimmten Sequenzen erworben werden? Lässt sich durch Unterricht die Reihenfolge dieser Erwerbssequenzen beschleunigen bzw. verändern? Diese Fragen sind von hoher didaktischer Relevanz und konnten bereits in den 1980er Jahren von PIENEMANN beantwortet und von DIEHL u.a. (2000) erneut bestätigt werden: Der Erwerb von grammatischen Strukturen, die eine Stufe über dem bereits erreichten Sprachstand liegen, kann durch Unterricht positiv beeinflusst werden. Teachability-Hypothese: Sprachentwicklung ist durch Instruktion beeinflussbar! Wenn jedoch das Lernangebot Sprachstrukturen enthält, die mehr als eine Stufe über dem jeweils aktuellen Sprachstand liegen, dann ist der Unterricht bestenfalls wirkungslos, wenn er nicht sogar zu einer Beeinträchtigung der weiteren Sprachentwicklung führt. Diese Aussage bezieht sich aber nur auf das didaktische Lernmaterial, nicht auf die Lehrersprache. Gerade die Vorbildfunktion einer variantenreichen aber verständlichen Lehrersprache ist wichtig für implizite Spracherwerbsprozesse, die zumindest im Grundschulalter noch erwartet werden können (DEKEYSER 2003, N.C. ELLIS 2002, OERTER 2000). Allerdings sind diese Erwerbsprozesse auch in spezifischer Weise fragil: Anders als der sozusagen robuste Erstspracherwerb unterliegt der Zweitspracherwerb ‚Fossilierungstendenzen‘, d.h. es besteht die Gefahr, dass die Lernersprache auf einem Sprachentwicklungsniveau stehen bleibt. Gerade diese Stagnationen sind ohne eine kontinuierliche Beobachtung nicht bemerkbar und nur durch gezielten sprachsystematischen Input aufzubrechen (vgl. DOUGTHY 2003, R. ELLIS 2002). 2.1.1 Am Können der Lernenden ansetzen Die Einsicht in den progressiven Verlauf des Spracherwerbs hat zu einer weiteren Konsequenz geführt: der ‚Könnens-Diagnostik‘. Es gibt sozusagen unterschiedliche Brillen für den diagnostischen Blick: Die Defizit-Diagnostik sucht nach Abweichungen von der monolingualen Sprachentwicklung, die als implizite Norm gilt, die Könnens-Diagnostik orientiert sich an der Kompetenzprogression in der Zweitsprache und beschreibt den jeweils erreichten Kompe-
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Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
tenzstand in den einzelnen sprachlichen Dimensionen. Diese diagnostische Basisorientierung entspricht dem Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, in dem die Erwerbsreihenfolge in sechs Stufen (A 1–C 2) für die Bereiche Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben beschrieben wird. Dieser Beschreibungsmodus hat insbesondere Eingang in die Sprachenportfolios der Sek. I gefunden (z.B. Sprachenportfolio Thüringen), die den Schülerinnen und Schülern eine Selbsteinschätzung ihres sprachlichen Lernprozesses ermöglichen sollen (Abb. 1). A1
Ich kann vertrauliche alltägliche Wendungen – z.B. Begrüßen, Vorstellen, Verabschieden – wieder erkennen und weiß, was sie bedeuten, vorausgesetzt, es wird langsam und deutlich gesprochen Ich kann einfache Arbeitsanweisungen verstehen und darauf reagieren. Ich kann Fragen – z.B. nach der Uhrzeit, Namen oder Wohnort – verstehen und darauf reagieren.
A2
Ich kann klare und häufig gebrauchte Hinweise im alltäglichen Leben verstehen und darauf reagieren Ich kann häufig gebrauchte Ausdrücke und einfache Sätze verstehen, wenn es sich um bekannte Themen handelt – z.B. zur Person, Familie oder zur näheren Umgebung – sofern langsam und deutlich gesprochen wird. Ich kann kurzen, klaren Mitteilungen und Durchsagen das Wesentliche entnehmen.
Abb. 1: Auszug aus dem Thüringer Sprachenportfolio für die Sekundarstufe I, Kompetenzstufung des Hörverständnisses
2.1.2 Curricular basierte Sprachprofildiagnostik Das didaktisch interessanteste Gesamtkonzept für eine durchgängige Sprachdiagnostik bieten aktuell die Baseler Sprachprofildeskriptoren, die die bildungssprachlichen Kompetenzen beschreiben, die vom Kindergarten bis zum Abschluss der Sek. I an den Übergangsstellen des Bildungssystems jeweils erwartet werden. Mit diesen Sprachprofilen werden für alle Fächer die sprachlichen Handlungen benannt, die – den curricularen Vorgaben im Kanton Basel entsprechend – benötigt werden. Es handelt sich also um ein Instrument, das auf der Analyse der Rahmenlehrpläne und Fachlehrpläne basiert und so ‚schulische Bildungssprache‘ zum expliziten Lerngegenstand macht. Es ist Produkt einer Teamarbeit von Lehrpersonen, die sich aus den jeweils angrenzenden Bildungs-
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institutionen über den Erwartungshorizont an Sprachkompetenz am Ende der abgebenden bzw. am Anfang der aufnehmenden Stufe verständigt haben. Diese Standards für Unterrichtsinhalte (Content- oder Curriculumstandards) dürfen nicht mit den Leistungsstandards verwechselt werden, die – wie im Europäischen Referenzrahmen – bestimmte Kompetenzniveaus beschreiben. Sie dienen nicht der Leistungsbeurteilung, sondern wollen über die lehrplannahe Operationalisierung sprachlicher Teilkompetenzen eine Zielorientierung für den Unterricht bieten. 2.2
Strategien einer integrativen Sprachförderung
Sprachförderung in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse ist in mehrfacher Hinsicht als ‚integrativ‘ zu verstehen: • • •
Sie bezieht sich auf den gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Erstsprachen und ethnischer Zugehörigkeit. Sie bedeutet die Verbindung aller Bereiche der Spracherwerbsaufgabe. Sie meint die Verzahnung von Sprach- und Fachlernen.
Für den Umgang mit Heterogenität gibt es eine Reihe praxiserprobter Unterrichtsmethoden wie z.B. Projektarbeit, Lernen an Stationen, Wochenplanarbeit, Lernen durch Lehren, die die drei klassischen Prinzipien des Umgangs mit Heterogenität umsetzen: Differenzierung, Individualisierung und soziale Kooperation (vgl. auch Kapitel 3 und 5). Dabei lassen sich aus didaktischer Perspektive zwei Pole der unterrichtlichen Umsetzung unterscheiden: •
•
Bei einer kognitivistisch orientierten Auffassung von Unterricht wird der Lernprozess durch einen didactic leader weitgehend vorstrukturiert und gesteuert. Konstruktivistische Vorstellungen von Lehren und Lernen führen demgegenüber dazu, die Bereitstellung von authentischen, problemhaltigen Lernumgebungen einzufordern, in denen Lernende gemeinsam nach Lösungen suchen und dabei Wissen und Kompetenzen erwerben.
Lernen in institutionalisierten Kontexten, insbesondere im Grundschulalter, scheint auf die Verbindung beider Perspektiven angewiesen zu sein: Ziel des Unterrichts ist nicht nur der Aufbau von Problemlösekompetenz, Interesse und Teamfähigkeit, sondern auch die Entwicklung von Basiskompetenzen, einer anschlussfähigen Wissensbasis und der Aufbau eines Verständnisses von komplexen Zusammenhängen (vgl. hierzu Hinweise auf eine „integrative Didaktik“ bei 128
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
KIPER/MISCHKE 2004). Was aber bedeuten diese Überlegungen für eine didaktische Perspektive auf sprachlich-kulturelle Heterogenität? Aus empirischer Sicht gibt es dazu bisher erst wenige Befunde: In der Berliner Längsschnittstudie zur Lesekompetenzentwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund (BeLesen vgl. SCHRÜNDER-LENZEN/MERKENS 2006) zeigte sich, dass sich die Effekte unterschiedlicher fachdidaktischer Strukturierungen des Anfangsunterrichts zumindest bis zum Ende der Primarstufe verlieren, d.h. die anderen Effekte der Unterrichtssituation und auch der individuellen Lernvoraussetzungen sind bedeutsamer für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode: Am Ende von Klasse 4 hatten die Kinder besonders viel dazugelernt, die in einer Klasse lernen konnten, in der der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund geringer als in anderen war und das allgemeine kognitive Leistungsniveau der Klasse besonders hoch lag (vgl. MÜCKE 2007). Welche Relevanz haben dann noch unterrichtsmethodische Entscheidungen? Kann es überhaupt eine didaktische Antwort geben, die über den üblichen Umgang mit Heterogenität wie z.B. Individualisierung von Unterricht hinausgeht? Eine Antwort auf diese Fragen hängt auch von der didaktischen Grundorientierung ab, unter der die migrationsbedingte Heterogenität gesehen wird: Wird die soziokulturelle und sprachliche Distanz der Kinder und Jugendlichen zur schulischen Bildungssprache als ein Problem gesehen, dann muss ein kompensatorisches Konzept entwickelt werden, mit dem Sprachförderung und kulturelle Integration als ein notwendiges Additum angeboten werden. Diese Sicht wird teilweise durch eine Einschätzung überlagert, die die sprachlich-kulturelle Heterogenität in der deutschen Schule als ‚normale‘ Erscheinung einer ‚multikulturellen Gesellschaft‘ bzw. als Chance für die Erweiterung einer nationalen Kultur betrachtet. Schülerinnen und Schüler aus anderen Kulturen mit anderen Sprachen werden als Bereichung für die Klasse gesehen. Aufgabenstellungen und Materialien sollen daher unterschiedliche Kulturen und Sprachen einbeziehen, Weltoffenheit vermitteln und Differenzen transparent machen. Das wechselseitige Lernen, eine Kultur der Anerkennung sind das Ziel. Für die heterogene Klasse wird damit die Aufgabe gesehen, eine Atmosphäre der Gemeinsamkeit und des Miteinander zu kultivieren. Es kann aber nicht nur darum gehen, Toleranz und Wertschätzung gegenüber Anderen und fremden Kulturen zu vermitteln, sondern auch Grenzen der Toleranz innerhalb einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft bewusst zu machen (ATES 2007, TIBI 2002). Dieser Komplex von Unterrichtszielen und -inhalten berührt im Kern die Frage der normativen Setzungen, die sich mit dem Konzept eines „interkulturellen Lernens“ verbinden (vgl. GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006 und Kapitel 2).
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An dieser Stelle soll der Prämisse des Nationalen Integrationsplans gefolgt werden, der auf eine „Integration durch Sprache“ setzt und dem Erwerb des Deutschen Priorität einräumt. 2.2.1 Integration aller Bereiche des Sprachlernens Der Erwerb schulischer Bildungssprache setzt die Förderung aller Bereiche der Sprachkompetenz voraus – also rezeptive und produktive Fähigkeiten und Sprachbewusstheit: Die unterschiedlichen Dimensionen sprachlicher Kompetenz sind eng miteinander verbunden und beruhen auf komplexen kognitiven Prozessen. So ist z.B. das Lesen keine nur rezeptive Fähigkeit, sondern setzt auch sprachkonstruktive Fähigkeiten voraus. Rechtschreiben ist zwar zunächst eine produktive Fähigkeit, ist aber sehr stark aufmerksamkeitsgesteuert und setzt Sprachbewusstheit voraus. Im Unterricht sind alle sprachlichen Bereiche integriert zu fördern, wobei in „didaktischen Schleifen“ Schwerpunktsetzungen sinnvoll sind (zu dem Konzept eines „integrativen Sprachunterrichts“ vgl. auch RÖSCH 2005). Wie diese Forderungen in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse umgesetzt werden können, soll anhand eines Beispiels für den Leseunterricht in Grundschulklassen vorgestellt werden, das im Kontext der BeLesen-Studie erprobt werden konnte (zu den Ergebnissen vgl. SCHRÜNDER-LENZEN 2008) (vgl. Abb. 2). :
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Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
Orientierung der Kinder
Didaktische Orientierung
Vor dem Lesen: Vorentlastung – kognitive Aktivierung – advanced organizer Was wollen wir lesen?
Leseinteresse wecken: authentische, lebensweltbezogene insbes. auch informierende (Sach-)Texte wählen, Einbeziehen der Kulturen aller Kinder der Klasse, Ritualisierung der Vorlesesituation
Wovon könnte die Geschichte handeln?
Aktivierung des Vorwissens, Erfahrungsaustausch, Klärung zentraler Begriffe, Schlüsselwörter besprechen, ggf. notieren
Beachte Überschrift und ggf. Bilder, Graphiken, Tabellen!
Hypothesenbildung – Sammeln von sachbezogenen Vorkenntnissen
Arbeit am Text Lies den Text erst einmal insgesamt durch!
Globalverständnis
Was hast du verstanden? Lesen heißt nicht übersetzen! Oft kann man einen Satz verstehen, ohne jedes Wort zu kennen!
„Inseln des Verstehens“ bauen – selektives/partielles Verstehen
Kläre die Wörter, die du nicht verstanden hast. Lies sie noch einmal! Was kennst du an dem Wort? Lies den Textabschnitt noch einmal! Versuche, die Bedeutung aus dem Zusammenhang zu erschließen! Denk’ noch einmal über das Wort nach! Wie könnte es heißen? Probiere aus, ob es stimmen könnte! Du kannst auch Andere fragen oder im Wörterbuch oder in deiner Lernwörterkartei nachsehen!
Detailverstehen: Den Kindern Zeit geben für die eigenständige Erarbeitung von Wortbedeutungen! Verstehensstrategien erarbeiten: hypothesentestende Worterschließung, Nachschlagetechniken üben, themenorientierte Wörterkartei anlegen, Wortfeldarbeit
Unterstreiche wichtige Wörter! Schreibe sie an den Rand oder auf eine Liste!
Schlüsselwörter – roter Faden Mind Map-Techniken vorbereiten
Hilfestellungen für ein präzises, sinnkonstruierendes Lesen Teile den Text in Abschnitte! Nummeriere die Abschnitte! Überlege ein Stichwort (Überschrift), das gut zu dem Abschnitt passt.
Textbearbeitungsstrategien erarbeiten
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Stelle nach einem Abschnitt die W-Fragen!
Wer – Wann – Wo – Warum?
Schreibe Zusammenfassungen zu Textabschnitten!
Zusammenfassungen ggf. erst mündlich erarbeiten, ggf. Schlüsselwörter, Satzanschlüsse oder Satzteile schriftlich vorgeben.
Beantworte Fragen zum Text! Finde Textfragen auf unterschiedlichen selbst Fragen zum Text und lasse sie von sprachlichen und fachlichen Niveaueinem Partner beantworten. stufen vorbereiten. Vertiefung/Reflexion des Gelesenen bei expositorischen Texten Erzähle die Geschichte noch einmal! Ggf. male ein Vorstellungsbild!
Handlungstabelle für Personen, Ort, Zeitpunkte etc. vorbereiten.
Wie könnte der Text weitergehen? Könnte die Geschichte auch anders enden?
Formale Gestaltungselemente des Textes bewusst machen, ggf. als Vorlage für die Einübung grammatischer Strukturen nutzen
Lies die Geschichte vor. Wie fandest du die Geschichte – diskutiere mit den anderen darüber!
Dialogisches Lesen, Partnerlesen, Lesekonferenz,
Schreibe die Geschichte mit eigenen Worten auf!
Texte präsentieren lassen
Abb. 2: Basisorientierung für Vorlesen und Lesen in der sprachlich-kulturell heterogenen Grundschulklasse
Insbesondere das tägliche Vorlesen durch die Lehrperson kann ein sprachlich gutes, Wissen vermittelndes und emotional anschlussfähiges Lernangebot sein. Die Prozesse des Hör- und Leseverstehens gleichen sich zu einem großen Teil, allerdings mit einigen zentralen Unterschieden: Die Entschlüsselung des sprachlichen Inputs muss sehr schnell erfolgen und ist häufig nur unvollständig bzw. mit Verstehenslücken möglich. Eine gut artikulierte und ausdrucksvolle Lehrersprache, wechselnde Sprecher beim Vorlesen, der Einsatz von Hörkassetten (Globalverstehen), Höraufgaben, in denen das Zuhören auf einzelne Schlüsselwörter (selektives Hören) oder inhaltliche Aspekte (Detailverstehen) gelenkt wird, können hier unterstützend wirken. Über ein interaktives, ‚dialogisches‘ Vorlesen kann eine Lesehaltung demonstriert werden, die die Kinder beim selbstständigen Lesen zunehmend allein übernehmen können. So werden sie zu
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Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
Leserinnen und Lesern, die einen Text nicht ‚rezipieren‘, sondern befragen und solange ‚kneten‘ bis sie ihn verstanden haben. Für die Unterstützung eines expliziten Sprachlernens ist die Vermittlung von Lernstrategien wichtig, durch die die Lernenden in die Lage versetzt werden, ihren Sprachlernprozess selbständig zu steuern (kognitive Strategien), zu überwachen (metakognitive Strategien) und aufrechtzuerhalten (sozial-affektive Strategien) (zu der Strategietypologie eines good language learners vgl. O’MALLEY/CHAMOT 1990, S. 137ff.). Lernstrategien müssen domänenspezifisch erworben werden, also z.B. für das Abschreiben, für das Lösen des Dreisatzes oder die Erarbeitung von Texten. In dem o. g. Beispiel (Abb. 2) finden sich bereits alle drei Lernstrategien: die kognitiven Strategien durch das Textstellen markieren, Erstellen von mind maps etc., die metakognitiven Strategien durch die bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit auf Schlüsselwörter, hypothesentestendes Lesen etc. und die sozial-affektiven Strategien durch die Lesekonferenz, durch die Orientierung auf das Verstandene, die ‚Inseln des Verstehens‘. 2.2.2 Integration von Sprachlernen und Fachlernen Für das Lesen von Fachtexten im Sekundarstufenbereich, für den Aufbau einer Fachsprache in Biologie, Chemie, Physik, Mathematik und Geschichte gibt das Methoden-Handbuch „Deutschsprachiger Fachunterricht“ (LEISEN 2003) sehr gute Anregungen (vgl. auch Kapitel 7 von TAJMEL in diesem Lehrbuch). Grundprinzip ist die variantenreiche Visualisierung von Aufgabenformaten, die zusätzlich durch lexikalische und morpho-syntaktische Hilfestellungen sprachlich entlastet, aber auch bewusst für Sprachlernen gestaltet sind (vgl. Abb. 3). Diese Form der Verbindung von Sprachlernen und Fachlernen bietet ‚Lerngerüste‘ für ein Sprachlernen, das parallel zum Fachlernen verlaufen soll. Durch das sprachliche Scaffolding der Aufgabenformate wird aber auch der Gefahr der kognitiven Unterforderung von Zweitsprachlernenden begegnet, die ohne eine derartige Unterstützung des Sprachverständnisses nur fachlich einfachere Aufgaben bearbeiten könnten. Differenzierung in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse bedeutet damit neben der fachlichen Differenzierung auch unterschiedliche Niveaustufen des Schwierigkeitsgrades auf sprachlicher Ebene bereitzustellen bzw. jene Sprachstrukturen anzubieten, die nachhaltig schwierig sind, wie z.B. die Pluralbildung, die Kasusmorphologie, Nominalisierungen, Passivkonstruktionen.
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3
Zusammenfassung: Zentrale didaktische Grundsätze für den Umgang mit sprachlich-kultureller Heterogenität
Zusammenfassend lassen sich einige Aspekte pointieren, die für den Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität bedeutsam sind: Ausgangspunkt von Unterricht in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse sollten individuelle Sprachstandsanalysen sein, die nicht nur die linguistisch markierten sprachlichen Basisqualifikationen umfassen, sondern das Kind als Ganzes in den Blick nehmen, mit allen seinen Ressourcen, von denen die Mehrsprachigkeit nur eine ist. Sprachstandsdiagnostik ist dabei notwendig prozessbegleitend zu gestalten, und zwar über die gesamte Schulzeit. Die Vielfalt der Klasse sollte – so weit möglich – für die Bildung sprachlich heterogener Lerngruppen genutzt werden, damit implizite Sprachlernprozesse begünstigt werden. Gleichwohl werden explizite Sprachlernprozesse notwendig bleiben, um eine Stagnation des Erwerbsprozesses zu verhindern. Bewusstmachen und Üben der sprachsystematischen Strukturen der Zielsprache, d.h. nicht formaler Grammatikunterricht, sondern eine an der sprachlichen Progression des Zweitspracherwerbs ausgerichtete, fachlich integrierte Vermittlung sprachsystematischer Strukturen erscheint günstig. Anders als Monolinguale können Zweitsprachlernende nicht in gleichem Maße auf sprachkonstruktive Leistungen aufbauen, so dass ihr Lernen auf ein Mehr an sachstruktureller Vorentlastung (advance organizer, mind map) und an Unterstützung, ein Scaffolding, angewiesen ist. Für viele Schülerinnen und Schüler in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse ist aber auch die Bereitstellung von kulturgebundenem Weltwissen und sozialen Erfahrungen notwendig, die eine ‚Integration durch Sprache‘ erst ermöglichen.
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Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
Wie wird ein mikroskopisches Präparat hergestellt? Schreibe im Passsiv und verwende die Verben: abziehen, auftropfen, einritzen, herunterklappen, abnehmen Beispiel: 1. Auf der Innenseite einer Zwiebelschuppe wird mit einem Messer ein kleines Viereck eingeritzt. 2. Mit einer Pinzette wird ... 3. Anschließend ... 4. Danach ... 5. Am Schluss... Abb. 3: Beispiel für die Integration von Sprachlernen in den Fachunterricht der Sekundarstufe (LEISEN 2003)
Fragen und Denkanstöße 1. Erläutern Sie den Unterschied zwischen einer Statusdiagnostik und einer Prozessdiagnostik. 2. Konstruieren Sie Beispiele kindlicher Äußerungen, die den sprachlichen Niveaustufen von GRIESSHABER entsprechen. 3. Finden Sie heraus, welche Sprachenportfolios auf den Internetseiten der Bildungsministerien sich an DaZ- bzw. an DaF-Lernende richten. 4. Versuchen Sie – in Analogie zu den Baseler Sprachprofildeskriptoren – eine Beschreibung der sprachlichen Kompetenz, die Sie in Ihrem Unterrichtsfach an einer der Übergangsstellen des Bildungssystems erwarten. 5. Gestalten Sie ‚sprachliche Lerngerüste‘ für Aufgabenformate in Anlehnung an das Konzept von LEISEN für den Fachunterricht.
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Literaturempfehlungen SCHRÜNDER-LENZEN, A. (Hrsg.) (2006): Risikofaktoren kindlicher Entwicklung. Wiesbaden Im Zentrum des Bandes steht die Schulleistungsentwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund. Von besonderem Interesse ist dabei die schriftsprachliche Kompetenzentwicklung in sprachlich-kulturell heterogenen Klassen, wobei auch die emotionalen und persönlichkeitsbezogenen Aspekte der Kompetenzentwicklung einbezogen werden. Der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe 1 wird thematisiert, wobei gerade auch unterschiedliche Verarbeitunsstrategien, personale und soziale Ressourcen von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund aufgezeigt werden. Alle Beiträge des Bandes bieten jeweils einen empirisch fundierten Einblick in die Thematik und präsentieren Forschungsergebnisse, die für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der schulischen Lernsituation von Kindern mit Migrationshintergrund bedeutsam sind. RÖSCH, H. (Hrsg.) (2003): Deutsch als Zweitsprache. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen zur Sprachförderung, Unterrichtspraxis Grundschule. Hannover. RÖSCH, H. (2005): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Hannover In beiden Bänden wird das Thema „Deutsch als Zweitsprache“ sehr praxisnah und jeweils schulstufenbezogen in seinen Grundzügen vorgestellt. In beiden Bänden geht es um die Entwicklungsstufen des Zweitspracherwerbs, Prinzipien der DaZ-Förderung und integrativen Sprachunterricht und auch um Probleme der Leistungsbeurteilung. Die zahlreichen Kopiervorlagen haben einen grammatischen Schwerpunkt, beziehen aber auch die Wortschatzarbeit und für den Sekundarstufenbereich auch das Sprachlernen im Fachunterricht mit ein.
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Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
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Kapitel 7
Tanja Tajmel
Ein Beispiel: Physikunterricht Die sprachliche und kulturelle Diversität der Gesellschaft stellt eine neue Herausforderung für jede Fachdidaktik und für die Unterrichtsgestaltung in allen Fächern dar. In diesem Kapitel soll am Beispiel des Physikunterrichts gezeigt werden, auf welche Weise dieser Herausforderung nachgegangen werden kann. Zunächst wird ein Überblick über jene Faktoren des Physikunterrichts gegeben, welche Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund den Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung erschweren. Die Entwicklung in Richtung eines barrierefreien Zugangs zu naturwissenschaftlicher Bildung wird als Prozess dargestellt. Auf einer Problemanalyse basierend werden Ziele und Lösungsansätze formuliert. Konkret wird auf Maßnahmen zur Sprachförderung im Physikunterricht durch Planung und Entwicklung von so genannten sprachlernfördernden Unterrichtsmaterialien eingegangen.
1
Chancengleichheit als Qualitätsmerkmal von Physikunterricht
1.1
Das Recht auf Bildung
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht eines jeden Menschen auf Bildung und Ausbildung ohne Rücksicht auf Herkunft, wirtschaftliche Lage oder Geschlecht festgeschrieben. Aufgabe der Schule sowie Kennzeichen eines guten Unterrichts ist es somit, Benachteiligungen aufgrund der Herkunft auszugleichen, d.h. folglich differenzierende Maßnahmen zu setzen, um Bildungschancengleichheit zu gewährleisten. Mit dem Beschluss der Lissabon Ziele (EUROPÄISCHER RAT 2000) wurde die wissenschaftliche Kapazität Europas im naturwissenschaftlichen Bereich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
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Tanja Tajmel
Es wurde festgestellt, dass nicht genügend naturwissenschaftliche Fachkräfte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Verfügung stehen, um diese Ziele zu erreichen. Dies lenkte die Aufmerksamkeit seitens politischer und wirtschaftlicher Entscheidungsträger auf die vorhandenen, aber ungenutzten Humanressourcen, die so genannten Bildungsreserven. KASTEN 1 f
Unter Bildungsreserven sind Gruppen zu verstehen, welche in den einzelnen (naturwissenschaftlichen und anderen) Berufsfeldern als unterrepräsentiert (s.u.) zu bezeichnen sind. Im Bereich der Naturwissenschaften sind dies Frauen, Migrantinnen und Migranten (vgl. GENDER-DATENREPORT 2005, 25f, EUMC 2004). Unterrepräsentiert bedeutet, dass der prozentuale Anteil einer gesellschaftlichen Gruppe in einem bestimmten Bereich geringer ist, als der prozentuale Anteil dieser Gruppe in der Gesamtbevölkerung. Solange dieser nicht auf allen Bildungs- und Berufsebenen angeglichen ist, kann davon ausgegangen werden, dass die unterschiedlichen Gruppen nicht die gleichen Chancen in Bildung und Berufswahl haben. In diversen Formen erfährt die unterrepräsentierte Gruppe also Benachteiligung.
Es ist zu vermuten, dass die Unterrepräsentanz dieser Gruppen zum Teil auf unzureichende Differenzierungsmaßnahmen im naturwissenschaftlichen Unterricht zurückzuführen ist. Die Tatsache der Existenz von Bildungsreserven lässt daher bereits einen Zustand der Benachteiligung einzelner Gruppen im Bildungssystem vermuten. Der erste Schritt ist es, die benachteiligenden Faktoren zu identifizieren, um in weiterer Folge gezielte Maßnahmen zur Herstellung der Chancengleichheit und zur Verbesserung der Unterrichtsqualität entwickeln zu können. 1.2
Differenzierung nach Geschlecht
Im Laufe der letzten 30 Jahre wurde eine Fülle an empirischen Daten zu Geschlechterunterschieden in den Naturwissenschaften erhoben. In den 1970er und -80er Jahren begann die Diskussion um die Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden im Physikunterricht. Auslöser waren Studien, welche deutliche Unterschiede in der Schulleistung in naturwissenschaftlichen Fächern, allen voran in Physik und Mathematik, zwischen Mädchen und Jungen aufzeigten (ORMEROD u.a. 1979, SPENDER 1985, ENDERS-DRAGÄSSER/FUCHS 1989). Auf der Suche nach den dafür verantwortlichen Faktoren verdichteten sich die Hinwei140
Ein Beispiel: Physikunterricht
se, dass die Defizite nicht auf Seiten der Mädchen sondern auf Seiten des Physikunterrichts angesiedelt sind (MUCKENFUSS 1995, HÄUSSLER/HOFFMANN 1995). Es wurde festgestellt, dass die gewählten Beispiele im Physikunterricht viel stärker den Lebensbereich und die Interessensgebiete von Jungen widerspiegeln als jene von Mädchen. Man gelangte zur Erkenntnis, dass der Unterricht nur dann erfolgreich sein kann, wenn er derart gestaltet wird, dass er für beide Geschlechter verständlich ist und dass auf unterschiedliche Vorerfahrungen der Geschlechter Rücksicht genommen wird (HERZOG 1996). In der Schweizer Koedukationsstudie (HERZOG/LABUDDE u.a.1997) wurde eine Checkliste für mädchengerechtes Lehrerverhalten entwickelt. Weitere Studien zeigten: Je mehr Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren, desto zufriedener waren die Schüler und Schülerinnen mit dem Unterricht. Zudem wurde beobachtet, dass die Motivation sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen stieg. (HOFFMANN/HÄUSSLER/LEHRKE 1998, HÄUSSLER/HOFFMANN 1998). Daraus kann geschlossen werden, dass ein mädchengerechter Unterricht alle Schüler und Schülerinnen stärker anspricht und somit ,besserer Unterricht‘ ist.
2
Aktuelle Problemfelder des Physikunterrichts
Während es zur Gestaltung von geschlechtergerechtem Physikunterricht bereits eine Vielzahl an Vorschlägen gibt (HERZOG/LABUDDE U.A. 1997, WODZINSKI 2002), welche allerdings noch nicht in ausreichendem Maße umgesetzt werden, ist das Problembewusstsein für einen ,migrantengerechten‘ Physikunterricht erst im Entstehen. Im Folgenden sollen aktuelle Problemfelder des Physikunterrichts identifiziert werden, welche Migranten und Migrantinnen den Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung erschweren und somit eine neue Herausforderung für die Gestaltung von Physikunterricht darstellen. 2.1
Problemanalyse
Für die Identifikation der benachteiligenden Faktoren, welche Migrantinnen und Migranten den Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung erschweren, wird hier die Methode des Logischen Rahmens zur Problemanalyse und Zielformulierung (AUSTRALIEN GOVERNMENT 2005) verwendet. Ausgehend von einem unerwünschten Faktum wird eine hypothetische Ursache formuliert. Daraus werden Folgen abgeleitet, die wiederum Ursachen für weitere Folgen darstellen, bis schließlich aus diesem logischen Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang das unerwünschte Faktum hervorgeht. In Abbildung 1 ist die Ableitung des nega141
Tanja Tajmel
tiven Faktums aus einer hypothetischen Ursache über mehrere Teilursachen dargestellt. Negatives Faktum ist in diesem Fall, dass Migrantinnen und Migranten schlechtere Leistung in naturwissenschaftlichen Fächern erzielen und in naturwissenschaftlichen Berufsfeldern unterrepräsentiert sind. Als hypothetische Ursache wird die mangelnde Berücksichtigung der sprachlichen und kulturellen Diversität im naturwissenschaftlichen Unterricht angenommen. Auf Basis dieser Problemanalyse können drei Bereiche von Barrieren identifiziert werden, welche Zugang zu Bildung behindern: A) Sprachliche Barrieren, B) kulturelle Barrieren und C) institutionelle Barrieren. Der hier gewählte defizitorientierte Ansatz identifiziert nicht Defizite seitens der Migrantinnen und Migranten (wie etwa mangelhafte Deutschkenntnisse). Wenn in der Problemanalyse von Defiziten und Mängeln die Rede ist, so sind stets Defizite des naturwissenschaftlichen Unterrichts gemeint. Negatives Faktum: Schüler/innen mit Migrationshintergrund zeigen schlechte Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern und sind unterrepräsentiert in naturwissenschaftlichen Berufsfeldern.
A
B
C
Die Vermittlung von Fachinhalten ist nicht möglich.
Schüler/innen fühlen sich im Unterricht nicht angesprochen.
Die Vermittlung von Fachinhalten ist nicht möglich.
Sprachliche Verständnisprobleme
Mangelnde Identifikationsmöglichkeiten für Schüler/innen nicht deutscher Herkunft
Unsicherheit, Inkompetenz, Misserfolgserlebnis
Mangelnde Berücksichtigung des Sprachstands der Schüler/innen
Mangelnde Präsenz diverser Kulturen im Unterricht
Mangelnde Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede
Mangelnde Ausbildung der Lehrer/innen
Hypothetische Ursache: Die sprachliche und kulturelle Diversität der Schüler/innen wird im naturwissenschaftlichen Unterricht nicht berücksichtigt.
Abbildung 1
142
Ein Beispiel: Physikunterricht
A) Sprachliche Barrieren Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Herkunftssprache sind im deutschen Unterricht prinzipiell dadurch benachteiligt, dass sie in einer Sprache kommunizieren müssen, welche nicht ihre erste bzw. beste Sprache ist. Schülerinnen und Schüler deutscher Herkunftssprache sind hier im Vorteil. Der Sprachstand der Schülerinnen und Schüler wird im naturwissenschaftlichen Unterricht bis dato nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass nicht in ausreichendem Maße dafür Sorge getragen wird, dass die Schülerinnen und Schüler den Unterricht sprachlich verstehen. KASTEN 2 f
Gedankenexperiment
Versetzen Sie sich bitte in eine Standardsituation des Unterrichts, der Vorführung eines Demonstrationsexperiments zum Auftrieb. Ein Stein hängt an einem Federkraftmesser. Nun wird der Stein in Wasser getaucht. Was passiert? Bitte versetzen Sie sich in die Rolle einer Schülerin oder eines Schülers. Sie werden aufgefordert, Ihre Beobachtung so detailliert wie möglich den anderen mitzuteilen - jedoch nicht in Ihrer besten, sondern in Ihrer zweitbesten Sprache. Wären Sie in einer Prüfungssituation und könnten die Sprache wählen, dann würden Sie vermutlich Ihre beste Sprache wählen, weil Sie sich darin am sichersten fühlten. Hätten Sie diese Wahlmöglichkeit nicht, würden Sie vermutlich dankbar für kleine Hilfestellungen, z.B. in Form von Vokabeln sein. Ihre Aufmerksamkeit könnte dann in viel stärkerem Ausmaß der Beobachtung gelten und würde nicht vordergründig davon beansprucht, die richtigen Worte zu finden. Vermutlich wären Sie der Meinung, dass all jene, deren Erstsprache die Unterrichtssprache ist, gegenüber Ihnen im Vorteil wären, weil sie präziser und schneller antworten könnten. Der Rückschluss, dass all jene, die sich schneller melden, auch schneller den Inhalt begriffen hätten, und daher besser in Physik seien, würde Ihnen ungerecht und unrichtig erscheinen. Denn Sie müssten in einer Fremdsprache antworten und hätten daher schlechtere Ausgangsbedingungen.
B) Kulturelle Barrieren Der Unterricht an deutschen Schulen ist monokulturell und monolingual ausgerichtet (vgl. GOGOLIN 1994). Dies zeigt sich in der kulturellen Herkunft der Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie bei der Darstellung von fachlichen Inhalten in Schulbüchern. Auch die Darstellung von Personen und von Artefakten in Schulbüchern oder Textaufgaben spiegelt nicht die kulturelle Diversität der Gesellschaft wider. Bewusstseinsbildung und Bereitschaft zur Veränderung ist in diesem Bereich besonders schwierig, da die verbreitete Annahme besteht, Naturwissenschaften seien objektiv und wertneutral. Studien zeigen, dass Na143
Tanja Tajmel
turwissenschaft und insbesondere Physik nicht nur als ,männlich‘, sondern auch als ,westlich-weiß‘ konnotiert sind. (vgl. AIKENHEAD/JEGEDE 1999). Die Vermutung liegt nahe, dass ähnliche Unterrichtsdefizite – wie aus der Geschlechterforschung bekannt – für die schlechteren Leistungen von Migranten und Migrantinnen verantwortlich sind: Mangelnde Identifikationsmöglichkeiten sowie mangelnde Anknüpfung an Lebensbereiche und Interessensgebiete. Kulturelle Barrieren sind hier – ebenso wie Sprachbarrieren – also nicht als Defizite seitens der Migrantinnen und Migranten zu verstehen, sondern als Defizite des Unterrichts in Form von mangelnder Differenzierung und mangelhafter Berücksichtigung der Lebensbereiche von Migranten und Migrantinnen. C) Institutionelle Barrieren Als institutionelle Barrieren werden Hindernisse verstanden, welche im Schulsystem und in der Bildungspolitik begründet liegen. Hierzu zählt, dass Lehrerinnen und Lehrer für die neuen Anforderungen, welche eine sprachlich und kulturell heterogene Gesellschaft mit sich bringt, nicht entsprechend ausgebildet werden. Die mangelhafte Berücksichtigung der Diversität von Schülerinnen und Schülern in der Lehrerausbildung führt etwa dazu, dass die Lehrerinnen und Lehrer weder über die notwendigen Kompetenzen verfügen noch es als ihre Aufgabe wahrnehmen, Sprachförderung in den Fachunterricht zu integrieren. Weitere institutionelle Barrieren finden sich in Lehrplänen und in der Festlegung der Klassengröße, also in Bereichen, auf welche die einzelne Lehrkraft keinen Einfluss hat. 2.2
Zielformulierungen
Als Lösungsansatz für die Überwindung der aus der Problemanalyse resultierenden drei Barrierenbereiche werden, mit der hypothetischen Ursache beginnend, alle Aussagen sukzessive in das positive Gegenteil umformuliert. Das Ergebnis sind die Maßnahmen, aus denen wiederum erwünschte Wirkungen folgen, welche letztlich zum erwünschten Ziel führen. In Abbildung 2 sind die Umkehrungen der negativen Aussagen aus Abbildung 1 in ihr positives Gegenteil dargestellt; die notwendigen Maßnahmen sind durch den dunkleren Kasten hervorgehoben. Es sind dies: (i) Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht, (ii) Einbeziehung der Kulturen und Lebensbereiche aller Schülerinnen und Schüler, (iii) Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede, und (iv) entsprechende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte.
144
Ein Beispiel: Physikunterricht
Ziel: Schüler/innen mit Migrationshintergrund zeigen gute Leistungen in naturwissenschaftlichen Fächern und wählen naturwissenschaftliche Berufe.
A
B
C
Fachinhalte werden vermittelt und diskutiert.
Steigerung der Motivation und des Interesses am naturwissenschaftlichen Unterricht.
Beachtung aller Schüler/innen gleichermaßen
Die Schüler/innen partizipieren an der Kommunikation.
Schüler/innen identifizieren sich mit dem Unterricht.
Lehrkompetenz, positives Selbstwirksamkeitsgefühl
Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht
Einbeziehung der Kulturen und Lebensbereiche aller Schüler/innen
Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede
Ausbildung der Lehrkräfte für sprachfördernden Unterricht
Lösungsansatz: Die sprachliche und kulturelle Diversität der Schüler/innen wird im naturwissenschaftlichen Unterricht berücksichtigt.
Abbildung 2
3
Lösungsansätze am Beispiel des Projekts PROMISE
Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene wurden in den letzten Jahren Projekte ins Leben gerufen, deren Ziel es ist, Migranten und Migrantinnen zu fördern. Eines dieser Projekte soll hier exemplarisch vorgestellt werden. Im Projekt PROMISE – Promotion of Migrants in Science Education (TAJMEL/STARL 2005) – kooperierten erstmals Lehrerinnen und Lehrer und Wissenschaftler/innen aus Deutschland, der Türkei, Österreich und Bosnien-Herzegowina, um Vorschläge für Physikunterricht, Lehrerausbildung und Bildungspolitik
145
Tanja Tajmel
zu erarbeiten (TAJMEL/STARL 2009). Die Wissenschaftler/innen stammten aus den Bereichen Physikdidaktik, Sprachdidaktik, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften. Wesentliche Merkmale des Projekts waren die interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die fachliche Einbindung der Migrations-Herkunftsländer Türkei und Bosnien-Herzegowina. 3.1
Förderung von Mädchen mit Migrationshintergrund
Eine besondere Maßnahme wurde zur Förderung von Mädchen mit Migrationshintergrund gesetzt, da diese in den Naturwissenschaften, speziell in Physik, am stärksten unterrepräsentiert sind. In allen Partnerländern wurden so genannte Clubs Lise (benannt nach Lise Meitner) gegründet. Im Rahmen des Club Lise trafen sich naturwissenschaftlich interessierte Migrantinnen der 10.-13. Klasse und wurden von Studentinnen und Doktorandinnen betreut. Der Club Lise hat das konkrete Ziel, die Anzahl an Migrantinnen, welche ein naturwissenschaftliches Studium belegen oder einen naturwissenschaftlich-technischen Beruf wählen, zu erhöhen. Einerseits sollen dadurch positive Rollenbilder von bildungserfolgreichen Migrantinnen geschaffen werden und andererseits Schülerinnen in der Übergangsphase Schule-Universität bei der Realisierung ihrer persönlichen Studieninteressen individuell unterstützt werden. Jährlich fanden internationale Treffen aller Clubs Lise statt. Hier hatten die Schülerinnen Gelegenheit, interkulturelle und internationale Kontakte mit gleichermaßen naturwissenschaftlich interessierten Mädchen zu knüpfen und somit bereits auf voruniversitärer Ebene naturwissenschaftliche Interessensnetzwerke zu bilden, die auf universitärer Ebene in den einzelnen Fachbereichen zum wissenschaftlichen Alltag gehören. 3.2
Interdisziplinäre Lehrerteamarbeit
Als indirekte Fördermaßnahme wurde in jedem Partnerland ein so genanntes PROMISE-Team, bestehend aus Lehrer/innen und Fachdidaktiker/innen, gegründet. Die Teams nahmen in ihren Ländern Unterrichtsanalyen vor, dokumentierten aktuelle Probleme und entwickelten konkrete Lösungsansätze. Das PROMISE-Team der Humboldt-Universität zu Berlin widmet sich der Entwicklung von sprachlernfördernden Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe 1. Die Ziele der Unterrichtsentwicklung wurden auf Basis einer differenzierten Analyse der gesamten Situation von Schulen mit hohem Migrantenanteil definiert. Zu den berücksichtigten Faktoren zählen (i) die Dringlichkeit zur Ergreifung von Maßnahmen, (ii) die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer zur Veränderung ihres Unterrichts und (iii) die Ausstattung der Schule. Lehrerinnen und Lehrer, welche sich am Thema interessiert zeigten und für die Arbeit im PROMISE146
Ein Beispiel: Physikunterricht
Team gewonnen werden konnten, wurden zu den genannten Faktoren befragt und gebeten, diese zu bewerten. Die Dringlichkeit der Maßnahmen wurde einstimmig als sehr hoch eingestuft. Auf die Frage der Bereitschaft, den eigenen Unterricht zu verändern, neues Unterrichtsmaterial zu verwenden bzw. eine entsprechende Fortbildungsveranstaltung zu besuchen, gaben die Lehrerinnen und Lehrer mehrheitlich an, dass sie wenig Zeit hätten, sich mit neuem Unterricht zu beschäftigen, da sie ohnehin durch die Unterrichtssituation stark belastet wären. Zur Ausstattung der Schule gaben die befragten Lehrerinnen und Lehrer an, dass Schulen mit hohem Migrantenanteil nicht ihrer besonderen Situation entsprechend ausgestattet sind. Diese Situationsanalyse war grundlegend für die Definition der Kriterien, welchen der PROMISE-Unterricht genügen sollte: (i) Die Berücksichtigung der Diversität durch Sprach-, Kultur- und Geschlechtssensibilität als durchgängiges Prinzip, um der Chancenungleichheit zu begegnen. (ii) Die vollständige Ausarbeitung von einzelnen Unterrichtsmodulen zu einem Themenbereich, welche sowohl als Ergänzung zum Unterricht eingesetzt werden können, als auch in Summe einen vollständigen Unterricht darstellen und ersetzen können (TAJMEL et al. 2009). Somit bleibt der Lehrkraft die höchstmögliche Flexibilität. Die Mehrbelastung ist durch die vollständige Ausarbeitung gering. (iii) Die in den Modulen beinhalteten Experimente sind dem Low-cost Bereich zuzurechnen, wodurch auch schlecht ausgestattete Schulen den Unterricht durchführen können. All jene Faktoren, die eine Lehrerin oder einen Lehrer daran hindern, einen neuen Unterricht durchzuführen, wie der erhöhte Zeitaufwand einer neuen Vorbereitung, mangelndes Experimentiermaterial oder unpassendes Niveau, wurden somit minimiert, um so schnell wie möglich der problematischen Ausgangssituation zu begegnen.
4
Sprachförderung im Physikunterricht
Im Folgenden werden Möglichkeiten präsentiert, wie Sprachförderung in den Physikunterricht integriert werden kann. Dabei wird das Konzept Language across the curriculum (LAC) verfolgt, wonach jede Form von Unterricht auch als Sprachunterricht zu verstehen ist (vgl. ACT DEPT FOR EDUCATION AND TRAINING 1997). In ähnlicher Weise werden bereits seit Jahren im bilingualen Unterricht und im Unterricht zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) bzw. Deutsch als Fremdsprache (DaF) Fach- und Sprachlernen miteinander verwoben. Im Englischen wird dieser Ansatz als Content and language integrated learning (CLIL) bezeichnet (MOHAN 1986, GIBBONS 1993). Im Gegensatz zum reinen Sprachunter147
Tanja Tajmel
richt wird dabei ein funktionaler Sprachansatz verfolgt, wonach nicht die grammatikalische Richtigkeit im Vordergrund steht, sondern die Kommunikation der Inhalte (MOHAN 1986). Sprachfördernde Modifikationen sind beispielsweise Textvereinfachungen, die Verwendung kürzerer Sätze und die Angabe von Vokabeln. 4.1
Sprachstand
Um gezielte Sprachförderung im Unterricht planen zu können, müssen die bereits bestehenden sprachlichen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler bekannt sein. Neben den standardisierten Sprachstandstests kann jede Lehrerin und jeder Lehrer zum aktuellen Unterrichtthema passende kleinere Sprachtests selbst durchführen. Beispielsweise kann abgefragt werden, ob ausgewählte Begriffe, welche im Kontext eines bestimmten Unterrichtsthemas vorkommen, bekannt sind oder nicht. Dabei geht es nicht um Fachtermini, die erst durch den Unterricht eingeführt werden, sondern um alltägliche Begriffe. Auf diese Weise kann bereits ein erstes Bild gewonnen werden, ob Begriffe, welche für den Lehrer oder die Lehrerin zum Alltagswortschatz gehören, auch im Wortschatz der Schülerinnen und Schüler vorkommen. Die im Folgenden angeführten Beispiele entstammen einer explorativen Untersuchung, welche im Juli 2007 an zwei Schulen in Berlin in zwei siebten und zwei achten Klassen durchgeführt wurde. Eine der beiden Schulen ist eine Haupt- und Realschule in Berlin-Kreuzberg mit 100% Schülerinnen und Schülern nicht deutschsprachiger Herkunft. In Abbildung 3 ist das Ergebnis der Befragung in zwei achten Klassen dieser Schule dargestellt. Die Schülerinnen und Schüler sollten angeben, ob sie glauben, dass die genannten Gegenstände schwimmen oder sinken oder ob sie den Gegenstand nicht kennen. Etwa ein Sechstel der Schülerinnen und Schüler wusste nicht, was ein Korken ist. Die Balken in Abb. 3 geben den Prozentanteil jener SchülerInnen an, die den Begriff nicht kannten. Der Lehrer oder die Lehrerin kann auf Basis dieser kurzen Umfrage bereits gezielt auf einige zentrale und im Unterrichtskontext stehende Begriffe näher eingehen. Die Umfrage kann wahlweise dadurch erweitert werden, dass die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden anzugeben, was sie hinter dem jeweiligen Begriff vermuten. Auf diese Weise können Fehlvorstellungen festgestellt und gezielt angesprochen werden. Ein Beispiel hierfür aus derselben Umfrage: Auf die Frage, ob der Begriff Volumen schon einmal gehört worden wäre, und ob man wisse, was dieser bedeute, antworteten einige Schülerinnen und Schüler, Volumen hinge mit ‚Lauter Drehen der Musik’ zusammen. Eine andere Schülerin meinte: „Volumen ist das bei den Haaren“.
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Ein Beispiel: Physikunterricht
Abbildung 3
Neben der Evaluation der Bekanntheit von Begriffen kann die Fähigkeit zur Formulierung von Begründungen und Argumenten getestet werden. Das Verständnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen ist grundlegend für den physikalischen Erkenntnisgewinn. Entsprechend sollen die Schülerinnen und Schüler explizit darin geschult werden, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge korrekt auszudrücken. Als Test dieser Ausdrucksfähigkeit können Fragen folgender Art gestellt werden: „Schwimmt eine Metallplatte oder geht sie unter? Kreuze an und begründe deine Entscheidung!“ Diese Frage wurde der untersuchten Klasse mit dem Bild einer Metallplatte vorgelegt, bevor der Begriff Dichte durchgenommen wurde. Eine Schülerin der achten Klasse schrieb als Antwort: Eine Metallplatte geht unter, weil … „der platte aus Metall entschteht und der Metall ist immer schwer egal ob es leicht oder schwer ist wen es ein Metall ist dan geht es unter!“ Die Schülerin versteht, dass es vom Stoff eines Körpers abhängt, ob er schwimmt oder nicht. Dies ist eine sehr gute Voraussetzung für die Bearbeitung des Themas Dichte. Die Antwort ist also fachlich ihrem Wissensstand entsprechend korrekt, bildungssprachlich jedoch nicht. Die Schülerin hat Probleme,
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Tanja Tajmel
die korrekten Artikel zu wählen. Zudem kann sie nicht korrekt ausdrücken, dass Metall - unabhängig von der Größe des Körpers - immer untergeht. Hier könnte die Lehrkraft gezielt im Unterricht nachfragen, was die Schülerin meint, wenn sie sagt: „Metall ist schwer, egal ob es leicht oder schwer ist.“ Es könnte gemeinsam nach einer bildungssprachlich korrekten Formulierung gesucht werden, die dann als Erkenntnis und Lernziel festgehalten wird. Den Schülerinnen und Schülern soll nicht nur vermittelt werden, dass sie einen Lernerfolg erzielt haben, wenn sie zu physikalisch richtigen Ergebnissen gelangen, sondern zusätzlich, wenn sie sprachlich richtige Formulierungen dafür finden. 4.2
Unterrichtsplanung
Damit Sprache und Sprachförderung ein inhärenter Teil des naturwissenschaftlichen Unterrichts werden, muss Sprache bereits in der Unterrichtsplanung mit berücksichtigt werden. Im Folgenden wird die deutsche Adaption eines Planungsrahmens vorgestellt, welcher von Pauline GIBBONS entwickelt und bereits in englischsprachigen Schulen erfolgreich eingesetzt wurde (SOMANI/MOBBS 1997). Der Planungsrahmen stellt auf sehr übersichtliche und gut nachvollziehbare Art und Weise dar, wie Sprache in die fachliche Unterrichtsplanung integriert werden kann. Ein weiteres positives Merkmal des Planungsrahmens ist, dass er auch von Laien der Sprachdidaktik ohne größere Schwierigkeiten verwendet werden kann. Dies ist hier insofern von Bedeutung, als Lehrerinnen und Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer in den meisten Fällen nicht Sprache als Zweitfach unterrichten und daher selten über eine Ausbildung in Sprachendidaktik verfügen. Der Planungsrahmen besteht aus den fünf Bereichen Thema, Aktivitäten, Sprachfunktionen, Sprachstrukturen und Vokabular. Geplant wird nach den folgenden Leitfragen: • • • • •
Welches Thema wird behandelt? Welche Aktivitäten sollen die Schülerinnen und Schüler zeigen? Welche Sprachfunktionen erfordern diese Aktivitäten? Welche Sprachstrukturen sind dafür notwendig? Welches Vokabular wird für den gewählten Themenbereich benötigt?
Als Beispiel ist in Abbildung 4 der Planungsrahmen für die Unterrichtseinheit zum Thema ,Volumen von Körpern‘ dargestellt.
150
Ein Beispiel: Physikunterricht
Thema
Aktivitäten
Volumen Befüllen der eines Körpers Messgeräte
Sprachfunktionen
Sprachstrukturen
Vokabular
Berichten
Ich lese den Messwert ab.
Das Volumen der Messwert, -e
Vergleichen Beobachten Erklären Abschätzen Ablesen
Ergebnisse formulieren
Der Messwert 1 ist kleiner als der Messwert 2. Das Volumen beträgt 50 ml.
Subtrahieren Ich schätze das Volumen des Körpers auf 100 cm3.
schätzen, ich schätze, schätzte, hat geschätzt ablesen, ich lese ab, las ab, hat abgelesen betragen, der Messwert beträgt, betrug, hat betragen
Dieses Thema
... beinhaltet diese Aktivitäten
Diese Aktivitäten verlangen diese Sprachfunktionen ...
... nach dieser Struktur ...
.... unter Verwendung dieses Vokabulars
Abbildung 4
4.3
Unterrichtsmaterialien
Entsprechend der Einbeziehung von Sprache in die Unterrichtsplanung finden sich explizit ausgewiesene Elemente des Sprachlernens auch in den Unterrichtsmaterialien wieder. Als Unterrichtsmaterialien sollen hier Arbeitsblätter, Unterrichtstexte, Experimentieranleitungen, Versuchsbeschreibungen, Schulbücher und auch Tafelbilder verstanden werden. Leider kann (noch) nicht davon ausgegangen werden, dass deutsche Physikschulbücher sprachlernfördernde Elemente beinhalten bzw. solche explizit ausweisen. Es ist jedoch für den Lehrer oder die Lehrerin bis zu einem gewissen Grad möglich, diese fehlenden Elemente in die Schulbucharbeit mit einzubringen. Eine mögliche Gestaltung eines sprachlernfördernden Arbeitsblattes ist in Abbildung 5 dargestellt: Der Sprache
151
Tanja Tajmel
steht eine eigene Spalte zur Verfügung (TAJMEL et al. 2009). Die Elemente zu Sprachfunktion, Sprachstruktur und Vokabular aus dem Planungsrahmen finden sich hier wieder. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, wie man richtig von Volumen spricht. Die Antworten sind als Lückentexte vorgegeben, wobei sich die Lücken von Beispiel zu Beispiel vergrößern und die sprachstrukturelle Hilfestellung damit abnimmt. Das Arbeitsblatt soll den Schülerinnen und Schülern deutlich machen, dass sie Sprache lernen und dass die sprachlich korrekte Antwort ein Lernziel darstellt. Physik
Sprache
Schätze wie groß das Volumen der abgebildeten Gegenstände ist. Gib deine Schätzung in Milliliter (ml) und Kubikzentimeter (cm3) an.
die Schätzung, -en schätzen, ich schätze/schätzte/hat geschätzt Das Volumen beträgt (Das Volumen ist …) Der Körper hat ein Volumen von …. Ein ml ist ein cm3. Zwei ml sind zwei cm3. Antwort: Das Teeglas hat ein Volumen von ungefähr _________ ml.
das Teeglas
Man kann auch sagen: Das Volumen des Teeglases __________ __________ cm3.
Das Volumen der Parfümflasche ____________ ________ ml. Die Parfümflasche _______ ein Volumen _____ ________ cm3. die Parfümflasche Das Volumen der Wasserflasche … _______________________________ _______________________________
die Wasserflasche das Glas
Das Glas ... _______________________________ _______________________________
Abbildung 5
Demonstrationsexperimente oder die Vorstellung von Experimentiergegenständen können sprachfördernd begleitet werden, indem die einzelnen Teile des Ex152
Ein Beispiel: Physikunterricht
periments auf einem eigenen Arbeitsblatt beschriftet werden. Zusätzlich kann Vokabular angegeben werden, das die Schülerinnen und Schüler verwenden sollen, wenn sie ihre Beobachtung beschreiben.
5
Zusammenfassung
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund treffen im deutschen Physikunterricht auf unterschiedliche Barrieren, welche diesen den Zugang zu Bildung erschweren und diese somit mit schlechteren Bildungschancen konfrontieren. Dies sind im Wesentlichen sprachliche Barrieren, kulturelle Barrieren und institutionelle Barrieren. Ein möglicher Ansatz zur Überwindung der Barrieren ist die Ergreifung von Differenzierungsmaßnahmen im Physikunterricht durch den Lehrer oder die Lehrerin. Dazu zählen etwa die geschlechtsgerechte Anknüpfung des Unterrichts an die unterschiedlichen Lebensbereiche von Schülern und Schülerinnen unterschiedlicher kultureller Herkunft sowie die Einbindung von Sprachlernmethoden in den Fachunterricht. Fragen und Denkanstöße 1. Erläutern Sie den Begriff ,Chancengleichheit‘ in Hinblick auf naturwissenschaftliche Bildung. 2. Erproben Sie an einem Beispiel aus Ihrem eigenen Unterrichtsfach die Planung von sprachlernförderndem Unterricht nach dem Planungsrahmen von Pauline GIBBONS. 3. Diskutieren Sie die Frage, ob unterschiedliche Klausuraufgaben für Schülerinnen und Schüler deutscher und nicht-deutscher Herkunftssprache zulässig sind! Literaturempfehlungen AHRENHOLZ, B. (2009): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache: Tübingen Dieses Buch stellt eine Sammlung an Aufsätzen zum Thema Sprache und Fachunterricht aus der Perspektive der jeweiligen Fächer dar. Dabei werden Mathematik-, Physik- und Biologieunterricht ebenso betrachtet wie Literaturunterricht, Englischunterricht und bilingualer Sachfachunterricht. Es geht um Schreiben und Textkompetenz, CLIL (content and language integrated learning) und DaZ (Deutsch als Zweitsprache), Sprachdiagnose und Sprachförderung.
153
Tanja Tajmel
GIBBONS, P. (2002): Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth Pauline GIBBONS ist Associate Professor an der University of Technology in Sidney, Australien. Zu ihren Foschungsschwerpunkten zählen sprachliche Diskurse im Fachunterricht. Das Buch bietet eine detaillierte Darstellung von sprachlernförderndem Lehrverhalten in Unterrichtsdiskursen sowie Anregungen zur sprachsensiblen Unterrichtsplanung. LABUDDE, P. Hrsg. (1996): Naturwissenschaften im Unterricht – Physik, Heft 49 „Mädchen, Jungen im Physikunterricht“. Seelze Das von Peter LABUDDE herausgegebene Heft zeigt Aspekte von geschlechtergerechtem Unterricht auf und beinhaltet Anregungen und didaktische Vorschläge zur Realisierung.
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Ein Beispiel: Physikunterricht
Herzog, W./Labudde, P. u.a. (1997): Koedukation im Physikunterricht. Schlussbericht zuhanden des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Bern Hoffmann, L./Häußler, P./Lehrke, M. (1998): Die IPN Interessensstudie Physik. - Kiel Ormerod, M.B./Bottomley, J./Keys, W.P./Wood, C. (1979): Girls and physics education. Physics education, 14, S. 271-277 Mohan, B. (1986): Language and content. Reading Muckenfuß, H. (1995): Lernen im sinnstiftenden Kontext. Berlin OECD (2000): The OECD Program for International Student Assessment (PISA) Somani, N./Mobbs, M. (1997): Using Pauline Gibbons Planning Framework. Examples of Practice. http://www.naldic.org.uk/ITTSEAL2/resource/readings/EGUsingGibbonsPlanningFramework.htm Spender, D. (1985): Frauen kommen nicht vor. Sexismus im Bildungswesen. Frankfurt/ Main Tajmel, T./Starl, K. (2009): Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. Münster. Tajmel, T./Starl, K. (2005): PROMISE – Promotion of Migrants in Science Education. – Berlin und Graz (online: www.etc-graz.at; Occasional paper No.18) Tajmel, T./Neuwirth, J./Holtschke, J./Rösch, H./Schön, L.-H. (2009): Schwimmen – Sinken. Sprachförderung im Physikunterricht. Unterrichtsmodule. In: Tajmel, T./Starl, K. (Hrsg.) (2009): Science Education Unlimited. Approaches to Equal Opportunities in Learning Science. Münster. Wodzinski, R. (2002): Mädchen im Physikunterricht. In: Kircher, E./Schneider, W. (Hrsg.): „Physikdidaktik in der Praxis”. Berlin
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Kapitel 8
Sabine Mannitz
Politische Sozialisation im Unterricht: ein europäischer Vergleich 1
Die Herausforderung der migrationsbedingten Heterogenität für politische Bildung in der Schule
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr zu übersehen, dass die in vorherigen Jahrzehnten gewohnten, vielfach für selbstverständlich gehaltenen Rahmenbedingungen, Voraussetzungen und Zielvorstellungen politischer Bildungsarbeit einen grundlegenden Wandel erfahren haben. Der pädagogische Impetus der politischen Bildung in der modernen Demokratie gilt der Entwicklung eines Bürgerverständnisses der gemeinsamen Verantwortung. So einfach und einleuchtend dieser Zusammenhang klingen mag, ist er doch voraussetzungsvoll: Die mündigen Bürgerinnen und Bürger sollen in der Lage sein, die Angelegenheiten ihres Gemeinwesens im kollektiven Interesse zu regeln. Wie das Credo der Aufklärung es pointiert, sollen sie den Mut haben, sich auch in politischen Belangen ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Dazu braucht es Wissen über die demokratische Herrschaftsform, politische Urteilsfähigkeit, das Bewusstsein der eigenen Interessen und die Kenntnis der Mittel, mit denen diese verfolgt werden können, nicht zuletzt aber auch das Wissen um die Grenzverläufe von partikularen zu kollektiven Interessen, von legitimen zu illegitimen Mitteln der Einflussnahme. Politische Bildung beinhaltet neben Zielen, die sich auf eine Stabilisierung des Gemeinwesens richten, auch die emanzipativen Kompetenzen zum selbstgesteuerten Lernen. Das schnelle Veralten einmal erworbener Wissensbestände und die digital verfügbaren Informationen aus aller Welt forcieren in den spätmodernen Gesellschaften ein Bildungskonzept, das die Einzelnen zu Eigeninitiative und Partizipation qualifizieren will, indem es Medienkompetenz und ganz allgemein die individuelle biographische „Gestaltungskompetenz“ ins Zentrum rückt (vgl. DE HAAN 2004, S. 41). Dem entspricht, dass von der einstigen Be157
Sabine Mannitz
lehrungskultur der Wissensvermittlung mehr und mehr abgerückt wurde: In der Bundesrepublik Deutschland bildete sich im Zuge der Akademisierung der Lehrerausbildung sowie der Bildungsreformen in den 1960er und -70er Jahren ein didaktischer Konsens zur politischen Bildung in der Schule aus, der sich insbesondere in der Sekundarstufe 2 an wissenschaftlichen Qualitätskriterien orientierte (vgl. SANDER 2002). Die seither gültige Politikdidaktik läuft darauf hinaus, dass Heranwachsende zwar mit politisch kontroversen Positionen vertraut gemacht werden und auch im Klassenzimmer Kontroversen zugelassen werden sollten, die Schülerinnen und Schüler aber in ihrer Meinungsbildung nicht manipuliert werden dürfen. Trotz dieser allgemeinen Verpflichtung auf eine gesinnungsneutrale Unterrichtung zur demokratischen Teilhabe umfasst schulische politische Bildung mehr als die Instruktion über den Aufbau von Staat und Gesellschaft, ist das Ziel doch die Ausbildung der Einzelnen zu Mündigkeit und Kritikfähigkeit in der pluralistischen Demokratie. Als Fach, das jungen Leuten Orientierung und handlungsrelevante Werte mit auf den Weg geben soll, ist politische Bildung durch gesellschaftlichen Wandel inhaltlich und methodisch grundsätzlich herausgefordert. Neben das Problem, die Ziele und Inhalte schulischer Bildung im Zeitalter von Globalisierung und digitaler Informationsgesellschaft neu gewichten zu müssen, tritt heute die Herausforderung, eine sehr viel heterogenere Schülerschaft auf das politische Leben vorbereiten zu müssen, als es noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Schulische politische Bildung hatte traditionell stets die Bürgerschaft des Nationalstaats als Zielgruppe im Visier und wollte mit den Spielregeln des konkreten, nationalstaatlich organisierten politischen Gefüges vertraut machen. Dabei wurde zugleich die Nation als eine Art natürliche Gemeinschaft betrachtet, in der historische, sprachliche und kulturelle Traditionen die kollektive Identität eines „Wir“ stiften (vgl. ANDERSON 1991). Dieses Konzept von Staat und Nation wird durch neuere Prozesse der Transnationalisierung, z.B. in Gestalt der Europäisierung von politischen Entscheidungsgremien, und der wirtschaftlichen Globalisierung sowohl ‚von außen‘ als auch durch die gewachsene Diversität der Bevölkerungen ‚von innen‘ relativiert. Im Kontext der genannten Dynamik ist die Einwanderung zwar nur ein Faktor unter vielen. In der Wirkung auf die vorgestellte quasi-natürliche Gemeinschaft der Nation ist sie aber besonders prägnant: Die gestiegene internationale Mobilität und freiwillige wie erzwungene Wanderungsprozesse haben die europäischen Gesellschaften in Herkunft, Nationalität und Religion ihrer Mitglieder stärker diversifiziert. Damit erweisen sich „Wir-Imaginationen“, die das Bild einer mehrheitlich homogenen Bürgerschaft zur Normalität erklären (vgl. MECHERIL 2007, S. 4; SENGHAAS 2002), als unangemessen für die Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch die Rahmenumstände der politischen 158
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
Bildung in den Schulen sind damit komplexer geworden: Die soziale Differenzierung ist insgesamt weit fortgeschritten. In den individualisierungsbetonten Gesellschaften der Gegenwart haben sich die sozial akzeptierten Formen der Lebensführung so vervielfacht, dass „jede Kultur in sich selbst ‚multikulturell‘ ist“, wie Jean-Luc NANCY zugespitzt hat (1993, S. 6). Hinzu kommt, dass eine Reihe von politischen Beteiligungsmöglichkeiten auch unabhängig vom formellen Status der nationalen Staatsangehörigkeit bestehen, also auch von Ausländerinnen und Ausländern in Anspruch genommen werden können. (vgl. SOYSAL 1994). Kurz, die Schwierigkeit schulischer politischer Bildung lautet gegenwärtig, die bestehenden Werte und Normen des politischen Systems zu repräsentieren, ohne es beliebig erscheinen zu lassen, und zugleich die gewachsene Unübersichtlichkeit der Grenzen von Staaten und Zugehörigkeiten in Europa zu berücksichtigen, die eine Grundbedingung des sozialen und politischen Handelns geworden ist.
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Der Umgang mit migrationsbedingtem Wandel in nationalen Lernkulturen der politischen Bildung
Für die Konzeption von normativen Bildungszielen werfen die gesellschaftlichen Folgen von Einwanderung eine Reihe an Fragen auf: Wer sind ‚Wir‘, und wer sind noch ‚die Anderen‘ angesichts von vielfältigen, quer zur Staatsangehörigkeit liegenden und überdies widersprüchlichen Gemeinsamkeiten und Bindungen? Was zeichnet ‚das Eigene‘ aus, wenn weder Klassenlage noch Nationalität oder andere Großkollektive mehr zur umstandslosen Ableitung einer kollektiven Identifikation taugen? Ehemals ‚Fremdes‘ ist auf vielfache Weise ein Teil des ‚Eigenen‘ geworden, durch die Ansiedlung ehemaliger Ausländerinnen und Ausländer und die Auswanderung ehemals Einheimischer, durch den internationalen Tourismus, die globale Popkultur, die politische Europäisierung, die ökonomische, mediale und digitale Globalisierung. Dessen ungeachtet ist Auftrag der schulischen politischen Bildung weiterhin, Heranwachsenden eine Vorstellung vom Gemeinwesen und seinem politischen Leben zu vermitteln, die nicht austauschbar ist. Heranwachsende sollen das Land, in dem sie leben, als ‚ihre‘ Solidargemeinschaft betrachten. Nicht zuletzt sollen sie die geltenden sozialen und politischen Normen erlernen, um zum Funktionieren des politischen Systems bewusst und begründet beitragen zu können. Die schulische Aufgabe, Schülerinnen und Schüler auf ihre Teilhabe am öffentlichen Leben vorzuberei-
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ten, umfasst damit notwendigerweise die Unterscheidung von anderen Staaten und Nationen. Zugleich befinden sich die Nationalstaaten heute in Prozessen der Entgrenzung, zumal in Europa, wo die Schaffung einer übergeordneten Bürgergemeinschaft erklärtes Politikziel ist. Prägende Alltagserfahrungen machen wir in unseren nach wie vor nationalstaatlich verfassten Gesellschaften; sie sind jedoch zugleich in einen größer gewordenen Horizont eingebettet. Dem muss politische Bildung Rechnung tragen (vgl. PINGEL 1995). Ein weiterer Anpassungsdruck, dem die schulische Konzeption politischer Bildung sich zu stellen hat, ergibt sich ganz unmittelbar aus der Einwanderung und betrifft die schulische Integrationsaufgabe: Generell sollen der kommenden Generation in der Schule die erwünschten Formen der Partizipation nahegebracht werden, mit denen sie als Erwachsene möglichst umfassend am zivilgesellschaftlichen Austausch, am politischen und ökonomischen Leben teilhaben können. Diese Funktion der Schule hat mit Blick auf Immigrantinnen und Immigranten bzw. ihre Kinder jedoch eine besondere Bedeutung. Einwanderer (der so genannten ersten Generation) haben in ihren Herkunftsgesellschaften möglicherweise andere Vorstellungen davon entwickelt, worauf es im gesellschaftlichen und politischen Austausch ankommt, welche Mittel und Wege zur Verfügung stehen und was beim Verfolgen eigener Interessen zu beachten ist: Selbst wenn die Herkunftsländer ebenfalls Demokratien sind, ob europäische oder außereuropäische, unterscheiden sich die Strukturen der staatlichen Institutionen und die politischen Kulturen der Länder. Einige Migrantinnen und Migranten kommen zudem aus Ländern, die nicht in dem Maße konsolidierte Demokratien sind wie die westeuropäischen Einwanderungsländer. Migrantenfamilien bringen daher nicht unbedingt das mit, was in Deutschland an Vorwissen zur schulischen politischen Bildung als selbstverständlich unterstellt wird, sondern halten teilweise andere Konzepte für maßgeblich (vgl. REITER/WOLF 2007). Überdies stellen auch die Zielländer der Einwanderung unterschiedliche Integrationsanforderungen. Erlaubt beispielsweise Großbritannien seinen diversen Bevölkerungsgruppen ein sehr weitgehendes Praktizieren kultureller Eigenarten auch in öffentlichen Institutionen und Ämtern, sollen Symbole der kulturellen Herkunft in Frankreich weitestgehend im Privaten bleiben: Ein Polizist mit dem Turban des Sikh ist in Großbritannien Normalität, in Frankreich wäre das undenkbar. Um solche unterschiedlichen Erwartungen und Grenzen dessen zu vermitteln, was als angemessen gilt, gewinnt die Schule als öffentliche Sozialisationsagentur für Kinder und Jugendliche an Bedeutung, deren Eltern in anderen Kontexten, politischen Kulturen und staatlichen Systemen sozialisiert wurden. Die spezifischen Erfordernisse hiesiger Verfahren können sie ihren Nachkommen nicht vermitteln, wenn sie sie selbst nicht kennen. Kindergarten und Schule können solche Benachteiligungen wettmachen. 160
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
Mit dieser Situation wird in den verschiedenen europäischen Einwanderungsländern sehr unterschiedlich umgegangen. Obwohl alle westeuropäischen Länder den Prinzipien von aufgeklärter Demokratie, Marktökonomie und zivilgesellschaftlicher Freiheit verpflichtet sind, unterscheiden sie sich in ihrer politischen Geschichte, Kultur und konkreten Praxis. Das bedeutet, dass auch die Kompetenzen, die Gegenstand von politischer Bildung sind, von Land zu Land variieren (SCHIFFAUER 1993). Zu der Varianz von schulischen Sozialisationszielen und ihren Wirkungen auf Heranwachsende migrantischer Herkunft habe ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in einem dreijährigen internationalen Forschungsprojekt eine komparative Studie erarbeitet. Im Vergleich von vier europäischen Einwanderungsländern haben wir die Schule in ihrer alltäglichen Praxis und deren Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien untersucht (siehe Kasten zu „Staat – Schule – Ethnizität“).
KASTEN 1 f
„Staat – Schule – Ethnizität“: Ein internationales Forschungsprojekt zur politischen Sozialisation von Immigrantenkindern
In der vergleichenden Untersuchung von vier europäischen Einwanderungsländern wurde die Schule als Institution zur Herstellung der gesellschaftlichen Integrationsfähigkeit beleuchtet. Unter der Befähigung zur Integration verstanden wir die Vermittlung der Kompetenzen, die es zur Partizipation an den spezifischen Prozeduren von Zivilgesellschaft und Gemeinwesen braucht. Als Forschungsteam von vier Feldforscher/innen und vier Supervisor/innen haben meine Kolleg/innen und ich ein Schuljahr lang ethnologische Feldforschungen an Schulen der Sekundarstufe in Frankreich, England, den Niederlanden und Deutschland durchgeführt. Aufgrund ihrer multinationalen Schülerschaften waren die Schulen geeignete Untersuchungsfelder für das Erkenntnisinteresse, wie Heranwachsende aus Einwandererfamilien die schulischen Aktivitäten zur politischen Bildung und Sozialisation erfahren. Dazu wurden eine Reihe an Untersuchungsmethoden kombiniert: Analysen von Curricula, Inhaltsanalysen von Schulbüchern, ethnographische Untersuchungen der Unterrichtskulturen, Diskursanalysen der Unterrichtsgespräche, Experteninterviews usw. Neben der Erstellung von Profilen zur Beschreibung der jeweiligen Charakteristika für jede Fallstudie fokussierte eine weitere Untersuchungsebene die Schüler/innen aus Einwandererfamilien und ihre Reaktionen auf die dargebotene ‚Angebotsstruktur‘ zur sozialen Identifikation und Integration. Ich habe in Berlin-Neukölln Interviews mit Lehrkräften, Schüler/innen und Expert/innen aus Bezirk und Schulverwaltung geführt, vor allem aber die
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Gruppendiskussionen, Interaktionen und Unterrichtsgespräche vor Ort protokolliert und analysiert. Meine Kolleg/innen waren in Schulen mit vergleichbar heterogenen Populationen in Rotterdam, der Banlieue von Paris und London tätig. Die Schulkulturen im Umgang mit Diversität und insbesondere die Ansprache, die eingewanderte Minderheiten jeweils erfuhren, haben wir systematisch miteinander verglichen. Das Projekt wurde von der VolkswagenStiftung finanziert, die Gesamtkoordination lag beim Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie der Europa-Universität Viadrina. Als Hauptergebnis der Studie lässt sich resümieren, dass Einwandererkinder in jedem der untersuchten Länder auf eigene Weise als Minderheiten sozialisiert werden. Auch wenn es (jeweils verschieden gestaltete) Möglichkeiten gibt, sich im Einwanderungsland politisch einzubringen und auch einbürgern zu lassen, machen Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder soziale und kulturelle Diskriminierungserfahrungen, die das erklärte Integrationsziel vielfach als Lippenbekenntnis erscheinen lassen und die Identifikation mit dem Einwanderungsland behindern. Eine ausführliche Darstellung des Projekts und seiner Ergebnisse findet sich in: SCHIFFAUER/BAUMANN/KASTORYANO/VERTOVEC 2002.
Im Folgenden will ich die verschiedenen Ansätze der im Projekt „Staat – Schule – Ethnizität“ untersuchten vier Fallstudien kurz erläutern. Freilich kann aus Platzgründen hier nur schlaglichtartig illustriert werden, was die jeweilige Besonderheit ausmacht.
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Entwürfe von (Staats-)Bürgertugenden in der Schule
An den öffentlichen Schulen jedes Landes werden spezifische Ideale, Stile und Verfahrensweisen vermittelt, die die heranwachsende Generation zur politischen Partizipation in der Bürgergesellschaft befähigen soll. Daneben werden die Spielregeln zum richtigen Verhalten im öffentlichen Leben auf verschiedenen Ebenen des Schulalltags auch praktisch eingeübt. Das explizite Curriculum der politischen Bildung – der normative Diskurs in Schulbüchern, Lehrplänen etc. – macht insofern immer nur einen Teil dessen aus, was Schulen zu wichtigen Orten der politischen Sozialisation macht. In den expliziten Curricula und Schulbüchern für Geschichte und Sozialkunde werden normative Kernaussagen über die „Wir-Imaginationen“ (s.o.; MECHERIL 2007) jedoch am fassbarsten. 162
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
Zwar repräsentieren Schulbuchtexte lediglich schematische Entwürfe dessen, was die Schülerinnen und Schüler über die politische Kultur ihres Landes und ihren eigenen Ort und Beitrag darin lernen sollen. Die teilweise vereinfachenden Reduktionen komplexer Sachverhalte auf Schulbuchformat beziehen aber gerade aus der Verkürzung eine beachtliche Wirkung darauf, unter welchen Perspektiven Heranwachsende bestimmte Themen wahrnehmen. Dass dies der Fall ist, ist ein Ergebnis unserer empirischen Vergleichsstudie und wurde auch in anderen Arbeiten gezeigt (vgl. HÖHNE 2000: 29; HÖHNE/KUNZ/RADTKE 2000). Die folgenden Kurzporträts formulieren in ähnlicher Verkürzung die Quintessenz dessen, was wir in den untersuchten vier Schulen als das jeweils Charakteristische fanden. 3.1
London: Citizenship als Dienst an der Community
Das Bild der Bürgergesellschaft, das Heranwachsenden in der Londoner Schule unserer Untersuchung vermittelt wurde, war stark von einem Diskurs über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und verschiedener Bevölkerungsgruppen geprägt. Es herrschte eine Atmosphäre der affirmativen Bejahung von Heterogenität: Die Schulleitung legte großen Wert darauf, dass Schülerinnen und Schüler ein positives Gefühl für die eigene kulturelle Identität entwickelten. Wissen um die Besonderheiten der eigenen Herkunft und des kollektiven Erbes, das daraus resultiere und in der Gemeinschaft zu pflegen sei, erfuhren demonstrative Anerkennung; einerseits als Quelle gesellschaftlichen Reichtums und andererseits als Quelle individuellen Selbstbewusstseins. Die Berücksichtigung von religiös oder kulturell begründeten Bedürfnissen, z.B. im Hinblick auf das Schulspeisen-Angebot oder die Modifikation der Schuluniform, war eine Selbstverständlichkeit. Auch in Schulbüchern findet sich ausdrücklich der Verweis darauf, dass Großbritannien multikulturell, multiethnisch und multireligiös sei, und es Rücksichtnahme auf spezielle Bedürfnisse bräuchte, um diese Vielfalt produktiv sein zu lassen. Es war Routine, dass bei Aufnahme in die Londoner Schule die künftigen Schülerinnen und Schüler nach ihrer ethnischen, religiösen und sprachlichen Zugehörigkeit befragt wurden. Die enorme Bandbreite der Sprachen, Religionen und Herkunftskulturen, die sich dabei zeigte, wurde in der Selbstbeschreibung der Schule als positiver Ausdruck eines multikulturellen Großbritanniens artikuliert. Zugleich wurden die Angaben zu Herkunft und Sprache für eine pragmatische Integrationsarbeit der Schule genutzt: Familien erhielten in ihrer Sprache Informationen dazu, was die Schule von ihnen und ihren Kindern verlange. Darunter wurde ausdrücklich auch der Respekt vor religiösen und kulturellen Besonderheiten als zentraler Wert herausgestellt. Die Schule bekannte 163
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sich demonstrativ dazu, alle in ihrer Eigenart respektieren zu wollen und diesen Respekt gegenüber Anderen zugleich allen Schüler/innen abzuverlangen. Es gelte, allen gleiche Entwicklungschancen einzuräumen, und ein nicht-diskriminierendes soziales Klima sei dafür wesentliche Voraussetzung. Jungen Leuten sollte in London also weder ein Staatsbürgerkonzept angetragen werden, das für die Diversität der Bürger/innen blind ist, noch eine gleichförmige, vereinheitlichende nationale Identität. Vielmehr wurde das Ziel in den Vordergrund gerückt, das Bewusstsein von den vielfältigen Wurzeln der britischen Gegenwartsgesellschaft zu stärken um die Schülerinnen und Schüler in Anerkennung dieser Tatsache Toleranz und Respekt für sich selbst und voreinander entwickeln zu lassen. Um junge Menschen auf ihre aktive Rolle im Gemeinwesen ganz praktisch vorzubereiten, wurde die ideale Ausübung der Staatsbürgerschaft sehr alltagsnah als Dienst an der Partnerschaft von Bürgerinnen und Bürgern verstanden, der lokales Engagement und Hilfsbereitschaft für das soziale Leben an der Schule oder im Stadtteil bedeute. Die Schule betrieb aktiv ein Belobigungssystem für vorbildliches Verhalten. Wer sich als besonders hilfsbereit zeigte, konnte seitens der Schule eine Auszeichnung in citizenship erhalten. Bürgersinn wurde so auf die Ebene des für alle Machbaren heruntergebrochen. 3.2
Rotterdam: Demokratie bietet Partizipationschancen
Aktive Teilhabe an demokratischen Prozessen machte den wesentlichen Charakter der Schulkultur aus, die wir in Rotterdam antrafen. Auch hier wurde das eigene Land mit großer Selbstverständlichkeit als ein multikulturelles entworfen, jedoch mit weniger Enthusiasmus als im britischen Fall. Wie in London sprachen sowohl die Schulbücher als auch die Lehrkräfte von der multikulturellen Gesellschaft der Niederlande als einer Grundbedingung, der man sich heute gegenübersähe und die nicht in Frage stehe. Die in Folge der Einwanderung gewachsene Diversität der niederländischen Gesellschaft wurde bei aller grundsätzlichen Anerkennung der faktischen Situation aber weniger affirmativ propagiert. Wurden die Eingewanderten Unterrichtsthema, dann weniger im Kontext von kulturellem Reichtum oder zu respektierenden Spezialinteressen, sondern stärker zur Thematisierung von Partizipationshindernissen auf Seiten der Immigrantenbevölkerung. Zwar wurde auch an der niederländischen Schule als konkretes Ideal praktizierten Bürgersinns die Beteiligung an Aktivitäten verstanden, die auf der kleinsten sozialräumlichen Ebene der eigenen Schule oder Nachbarschaft angesiedelt sein könnten. Dabei wurde jedoch deutlicher Wert auf Dinge gelegt, die alle Schülerinnen und Schüler quer zu Herkunft, Religion oder kultureller 164
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
Zuordnung verbinden: Die Teilnahme an möglichst vielen Gemeinschaftsaktivitäten, die die Schule anbot, von Klassenfahrten bis hin zu Theaterbesuchen, Sport- und Musik-Arbeitsgruppen, wurde als wichtiges Zeichen der Bereitschaft gefordert, sich aktiv einzubringen. Wenn Schüler/innen dagegen eine spezielle, z.B. herkunftskulturelle Gruppenzugehörigkeit pflegen wollten, wurde das zwar nicht direkt unterbunden oder sanktioniert, aber als potenziell spaltend kommentiert und wenig befürwortet. Das Motto der Schule war, es gebe zwar kulturelle, religiöse und alle möglichen anderen Differenzen; sie sollten aber nicht das Handeln bestimmen, weil das eher störe als nütze und zu gefährlichen Abschottungen führen könne. Die Schulbroschüre betonte hierzu, dass eine Schule aus x Individuen bestehe, während man in London darauf hinwies, dass so und so viele Gruppen der Bevölkerung in der Schule vertreten seien. Auch im Unterricht wurden in Rotterdam Argumentationen, die auf Konsensfindung und individuelle Kompromisse setzten, positiv verstärkt, während Schülerinnen und Schüler, die z.B. kulturalistisch für die Einführung von Sonderregelungen für Kollektive wie ‚die Muslime‘ plädierten, gebeten wurden, sich dessen Polarisierungspotenzial bewusst zu machen. Der Deutungsrahmen war hier weniger von den Rechten auf Differenz denn vom wünschbaren Ergebnis gesellschaftlicher Kooperation her bestimmt: Während der Diskurs vom multikulturellen Zusammenleben in London als einer der gleichen Rechte auf Eigenarten und deren Anerkennung ausgestaltet war, wurden in Rotterdam die spalterischen Risiken eines kompromisslosen Beibehaltens von Eigenarten in den Vordergrund gerückt. Die Bereitschaft zur Beteiligung am Ganzen war hier stärker gefordert als das Bewusstsein des spezifisch Eigenen. 3.3
Paris: Staatsbürgerschaft als rationale Angelegenheit
Während der britische Ansatz von citizenship problemorientiert und alltagsnah wirkte, galt das französische Anliegen dem umfassenden Bild der Prinzipien, welche die historische Entwicklung und den Fortschritt im Sinne der Entfaltung von Rationalität vorantreiben: Politische Bildung hieß in der Pariser Schule in erster Linie die Vermittlung von Kenntnissen über den Aufbau der Republik und von der Bedeutung der französischen Geschichtsentwicklung im Prozess der Zivilisation. Ein auf die unmittelbaren Lebensräume der Schülerinnen und Schüler heruntergebrochenes Verständnis vorbildlichen Bürgersinns wurde ebenso wenig gepflegt wie es eine Hinwendung zu ihren partikularen Alltagserfahrungen oder spezifischen kulturellen Orientierungen gegeben hätte. Die Idee der Bürgerschaft war dadurch stärker als in den anderen untersuchten Fällen als instrumentelle Staatsbürgerschaft konzipiert, weniger als etwas, das im eigenen 165
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Alltag ‚gelebt‘ werden könnte. Der Bürgersinn, um den es in diesem Rahmen geht, verlangt vor allem die Abstraktion von den eigenen Lebensumständen, um den Blick auf das größere Ganze zu gewinnen. Konkret bedeutete dies, dass Verweise auf die spezifischen Lebensumstände der einzelnen Schülerinnen und Schüler in der schulischen Sphäre nicht erwünscht waren. Das Beispiel des muslimischen Kopftuchs als Symbol einer Partikularität in der Gesellschaft ist so bekannt wie charakteristisch: Die Sichtbarmachung der bestehenden Differenzen gilt in Frankreichs öffentlichen Institutionen als unpassend. In einem Rundschreiben forderte das staatliche Bildungsministerium die französischen Schulen 1994 auf, das Tragen von „ostentativen“ religiösen oder weltanschaulichen Symbolen, die missionierend oder diskriminierend wirkten, in ihren Räumen zu unterbinden. Die untersuchte Schule in der Pariser Banlieue versuchte, Kopftuch tragende Schülerinnen im Gespräch dazu zu bringen, ihre Kopfbedeckungen am Schultor abzulegen. Mädchen, die sich weigerten, wurden der Schule verwiesen (vgl. MANNITZ 2002a und b, S. 183-185 und 198-200). Während die Kopftücher also in London als Zeichen kollektiver Identität respektiert und als mögliche Teile der Schuluniform integriert wurden, tolerierte die Schule in Rotterdam sie als Element des individuellen Ausdrucks, vergleichbar einer jugendkulturellen Mode oder Punkfrisur. In Frankreich herrschte ein sehr viel politischeres Verständnis von Kleidung und Symbolen als möglichen Medien weltanschaulicher Aussagen. Mit dieser Betonung und der klaren Ausgrenzung der privaten Partikularität aus dem schulischen Leben wirkten ‚andere‘ Lebensweisen, insbesondere alles, was gemeinhin als traditionell firmiert oder mit kultureller Differenz begründet wird, als illegitim. Die Schule in Paris fungierte somit weniger als ein Ort der Gesellschaft denn als eine Institution des Staates. 3.4
Berlin: Das Gemeinwesen als Verantwortungsgemeinschaft
Die deutsche Geschichte bringt es mit sich, dass ein stolzes Narrativ wie das der Franzosen vom Triumph der Vernunft in Gestalt der eigenen Republik sich verbietet. Dass die Demokratie sich hier nicht einer grandiosen Erhebung des Volkes verdankt, sondern dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland, schlug sich im Unterricht der Berliner Schule so nieder, dass als das Spezifische der Demokratie ihre Anfälligkeit für destruktive Einflüsse betont wurde. Es wurde an einen Bürgersinn appelliert, der sich aus kollektiver Verantwortung für ein Gemeinwesen ableitet, das verteidigt werden muss. Dieses Bild der Verantwortungsgemeinschaft begründet die ‚Wir-Imagination‘ im Verbund mit einer nationalen Vergangenheit, die nicht eben zur Identifikation einlädt. Die gewachsene Diversität der Bevölkerung stellt für dieses Verständnis der Bürgerschaft als ei166
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
ner historisch geprägten Schicksalsgemeinschaft ein Problem dar. Integrieren lässt sich die Pluralisierung durch Einwanderung hier weniger unkompliziert als etwa in das Selbstbild von Großbritannien als eines von jeher multinationalen Empires. Anders als in London oder Rotterdam waren der Schulbuch- und vielfach auch der Unterrichtsdiskurs in Berlin mitnichten davon geprägt, dass die Einwanderung eine soziale Tatsache sei, die soziale Strategien erfordert, um allen die weitestgehende Teilhabe zu ermöglichen. Migration war vielmehr ein Konflikttopos. Positive Deutungen der migrationsbedingten Heterogenität bezogen sich in Berlin höchstens auf die kulinarische Horizonterweiterung der Deutschen, nicht z.B. auf wechselseitige Lernchancen, wie mit Diversität konstruktiv umzugehen sei. Stattdessen bestimmte die These der kulturellen Fremdheit der „Ausländer/innen“ das Klima. Sie – als ‚die Anderen‘ – müssten sich anpassen, hieß es teils explizit in Unterrichtsdiskussionen. Gelegentlich forderten die Lehrpersonen Jugendliche aus Migrantenfamilien auf, etwas über „ihr Land“ zu erklären oder als Repräsentanten „des Islam“ zu bestimmten Themen Stellung zu nehmen. Auch in Berlin geborene Schülerinnen und Schüler aus eingewanderten Familien wurden so noch als ‚ausländisch‘ und als Fremde konstruiert. Die Chance, im Unterricht auf die Unterschiede der Ebenen von staatsbürgerlicher Mitgliedschaft, sozialen, kulturellen, nationalen oder religiösen Zuordnungen hinzuweisen und deren Relationen oder auch alltägliche Widersprüche auszuloten, wurde im Schulalltag kaum genutzt. Das Interesse, die eingewanderten Familien auf Augenhöhe einzubeziehen, schien hier wenig ausgeprägt. Wo die Londoner Schulleitung Übersetzer/innen engagierte, um Eltern am schulischen Leben und möglichst am Erfolg ihrer Kinder mitwirken zu lassen, zuckten die Berliner Kolleginnen und Kollegen vielfach mit den Achseln angesichts der Schwierigkeiten, bildungsferne Kreise für die Schule zu interessieren. Politische Teilhabe „der Ausländer“ firmierte im Diskurs der Schulleitung weniger als erstrebenswertes Ziel der eigenen Arbeit denn als Quelle eines Unbehagens, das mit Sorge um die Qualität der freiheitlichen Demokratie argumentierte und ‚den Anderen‘ starke Partikularinteressen und mangelnde Toleranz unterstellte.
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Politische Bildung zwischen nationaler Integration und Entgrenzung
Politische Bildung in der Schule hat Mitglieder einer heterogenen Bevölkerung für die Mitgestaltung von Gesellschaften zu qualifizieren, die sich so rapide ver-
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ändern, dass die Einzelnen sich umso leichter als ohnmächtig erfahren können. Dem im inhaltlichen Zuschnitt, Konzeption und Didaktik entgegenzuwirken, wird immer schwieriger. Die Etikettierungen der gesellschaftlichen Transformationsprozesse als internationaler, postnationaler oder globaler Trends verdeutlichen das: Die Transnationalisierung des politischen Raumes in Europa, die voranschreitende Globalisierung von Kommunikation, Finanz- und Warenfluss, kulturellen Ausdrucksformen, Wissenszusammenhängen und nicht zuletzt auch Konflikt- und Bedrohungsfaktoren muss wachsende Berücksichtigung erfahren, ohne dass konkrete Zukunftsszenarien absehbar wären. Praktisch sollten Heranwachsende also stärker mit der Gewissheit von Ungewissheiten vertraut gemacht werden als mit definitiven Zustandsbeschreibungen. Mit Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten umgehen zu können, muss lernen, wer angesichts der Komplexität von ‚Wissensgesellschaft‘ und globaler digitaler Revolution nicht bloß überwältigt sein soll. Um in dem von Entgrenzung, Heterogenität, Vermischung und struktureller Fremdheit geprägten demokratischen Gemeinwesen der Gegenwart Mündigkeit und Gestaltungskompetenz zu erlangen, ist eine Orientierung an den idealtypischen Nationalstaats-Gemeinschaften der Vergangenheit nicht mehr zielführend; nationalstaatliche politische Traditionen wirken aber fort. Selbst im Kontext der vorangeschrittenen EU-Europäisierung sind die nationalen Öffentlichkeiten wichtige Foren der politischen Auseinandersetzung und Gestaltung geblieben. Um die Handlungsfähigkeit und politische Urteilskraft der heranwachsenden Generation wäre es gleichwohl schlecht bestellt, wenn ihr nicht auch eine „Bildung im Horizont der Weltgesellschaft“ (SEITZ 2002, S. 49) angeboten würde. Schon jetzt liegen bedeutsame Handlungsfelder der mündigen Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Landesgrenzen sowie mehr und mehr im virtuellen Raum. Zudem ergibt sich aus der heutigen Normalität von nicht nur internationalen Verflechtungen, sondern auch multinationalen, multireligiösen und multiethnischen Bevölkerungen in den nationalstaatlichen Gesellschaften ein wachsender Bedarf, auch im eigenen Lebensalltag mit Ungewohntem, Unsicherheit und Uneindeutigkeit umgehen zu können. Für die schulische politische Bildung bedeutet das Einwanderungsgeschehen daher nicht nur Komplikationen, sondern vor allem eine Chance: Durch Migration gewachsene innergesellschaftliche Heterogenität bietet wichtige Lernfelder für den Umgang mit Situationen, die Gewohntes in Frage stellen und für Verunsicherung sorgen. Es ist für die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz hilfreich, wenn Heranwachsende mit den Anerkennungskonflikten der multikulturellen Realität im schulischen Rahmen in strukturierter Weise vertraut gemacht werden; das haben die vertiefenden Untersuchungen der zitierten Vergleichsstudie bekräftigt. In den Ländern, die sich grundsätzlich zum Charakter der Einwanderungsgesellschaft 168
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
bekennen, fanden wir auch in den Schulen explizite Strategien dazu, welche Verhaltensnormen für einen konstruktiven Umgang der diversen Bevölkerungsgruppen miteinander wünschenswert oder notwendig seien. Dagegen herrschten in der Berliner Schule Ratlosigkeit, Unbehagen und eine inkonsistente Praxis, die das Fehlen einer staatlichen Integrationskonzeption auf schulischer Ebene wiederholte, statt einen Ausgleich zu suchen. Wer jungen Leuten unterschiedlicher Herkunft konkrete Identifikations- und Gestaltungsangebote machen will, kann die alltägliche Normalität der gesellschaftlichen Multinationalität, Multireligiosität und lebensweltlichen Vielfalt nutzen: Statt Teenagern zuzumuten, sich als ‚Türkin‘ oder als ‚Muslim‘ zu diesem oder jenem äußern zu sollen, kann z.B. die Unangemessenheit von national-kulturellen Zuschreibungen oder des Schwarz-Weiß-Vokabulars von ‚Ausländern‘ versus ‚Deutschen‘ im Unterricht thematisiert werden. Nachholbedarf besteht hier in beide Richtungen: Lehrern und Lehrerinnen sollte bewusst sein, dass auch ihrer Staatsangehörigkeit nach ‚ausländische‘ Schülerinnen und Schüler für eine möglichst weitgehende Teilhabe am öffentlichen Leben auszubilden sind. Heranwachsenden gilt es klar zu machen, dass politische Teilhabe in der Bürgergesellschaft auch diejenigen fordert und einschließen kann, die Schwierigkeiten haben, das Attribut des Deutschen für sich anzunehmen.
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Zusammenfassung
Das Kapitel beleuchtet aktuelle Herausforderungen, die schulische politische Bildung im Kontext der europäischen Einwanderungsgesellschaften gewärtigt. Das Spannungsfeld von verdichteten internationalen Informationsflüssen und globalen Verflechtungen, vorangeschrittener sozialer Differenzierung und der auch durch das Einwanderungsgeschehen vielfältiger gewordenen Lebensstile stellt traditionelle Auffassungen von staatsbürgerlicher Bildung in der Schule teilweise in Frage. Zwar gilt weiterhin, dass Heranwachsende mit den Strukturen des Gemeinwesens und den Prozessen demokratischer Mitbestimmung vertraut zu machen sind. Die notwendigen Kompetenzen der Teilhabe sind aber einerseits weniger als in der Vergangenheit aus dem Instrumentarium des Nationalstaats abgeleitet; zum anderen sind sie auch weniger eng an die formale Staatsbürgerschaft gebunden als früher. Hinzu kommt, dass die Aufgabe der Integration von Eingewanderten ein weiter gefasstes Verständnis von politischer Bildung und Partizipation erforderlich macht.
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Zur Illustration der konkreten Möglichkeiten heutiger politischer Bildung in der Schule beleuchtet das Kapitel kurz die Ergebnisse einer internationalen Vergleichsstudie zu dem Thema. Dabei wird deutlich, dass es in Ländern, die eine positive oder zumindest akzeptierende Grundhaltung zum Einwanderungsgeschehen entwickelt haben, besser gelingt, die gesellschaftlichen Konflikte um Anerkennung und Mitsprache auch im Bereich der schulischen politischen Bildung so zu thematisieren, dass den Schülerinnen und Schülern daraus Lernchancen erwachsen. Fragen und Denkanstöße 1. Was kann und soll politische Bildung unter den sich rapide wandelnden gesellschaftlichen und globalen Rahmenbedingungen leisten, was nicht? 2. Diskutieren Sie die Implikationen der national unterschiedlich akzentuierten Bürgerschafts-Konzepte für den Einbezug von Immigrantinnen und Immigranten. 3. Lässt sich die Forderung nach einer nationalen ‚Leitkultur‘ sachlich begründen? Welche Kompetenzen braucht es Ihrer Ansicht nach vor allem, um in Deutschland als Bürger/in integriert zu sein? 4. Staatsbürger, Weltbürger, Cyberspacebürger: Wie können die unterschiedlichen Anforderungsprofile aktueller Handlungsräume sich wechselseitig nutzen? Literaturempfehlungen: BENHABIB, S. (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Horkheimer Vorlesungen. Frankfurt am Main. Der Band führt in kurzen Einzelbeiträgen in die Grundzüge der politischen Theorie zu Fragen des Umgangs mit Differenz ein. Da es sich um die „Horkheimer Vorlesungen“ handelt, die Seyla BENHABIB 1997 in Frankfurt am Main gehalten hat, haben die einzelnen Beiträge gut verdauliche Länge. BENHABIB verknüpft die theoretische Kost überdies mit anschaulichen Beispielen aus der gesellschaftlichen Praxis. BUTTERWEGGE, C./HENTGES, G. (Hrsg.) (2002): Politische Bildung und Globalisierung. Opladen. In 16 pointierten Einzelbeiträgen werden Probleme beleuchtet, vor denen politische Bildung angesichts der diversen ‚postnationalen‘ Entgrenzungsprozesse von Internationalisierung, Digitalisierung, Globalisierung steht. 170
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
HÖHNE, T. (2000): Fremde im Schulbuch: Didaktische Vorstrukturierung und Unterrichtseffekte durch Schulbuchwissen am Beispiel der Migrantendarstellung, iks – QuerFormat, Nr. 3. Die beispielhafte Analyse von Schulbuchinhalten zur Darstellung von (migrationsbedingter) Differenz führt vor Augen, wie die Zuschreibung von Fremdheit als eine unhinterfragte Deutungsroutine erfolgt. Angehenden Lehrerinnen und Lehrern ist das Heftchen daher besonders zu empfehlen, weil es den eigenen Blick auf das schärft, was häufig als selbstverständlich ‚anders‘ gilt und im Unterricht umso dringender einer kritischen Befragung bedarf. ROMMELSPACHER, B. (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt am Main. Birgit ROMMELSPACHER schlägt den Bogen von deutschen Selbstbeschreibungen, die eine fiktive kulturelle Homogenität beschwören, zur Analyse real existierender Konflikte und Interessendifferenzen in der multikulturellen Gesellschaft, z.B. um Symbole wie das Kopftuch. Nach praxisnahen Beispielen folgt ein Blick auf internationale Konzepte dazu, wie Egalitätsversprechen und Pluralität in der Demokratie ausbalanciert werden können.
Literaturverzeichnis Anderson, B. (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London. de Haan, G. (2004): Politische Bildung für Nachhaltigkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7-8, S. 39-46. Höhne, T. (2000): Fremde im Schulbuch: Didaktische Vorstrukturierung und Unterrichtseffekte durch Schulbuchwissen am Beispiel der Migrantendarstellung, iks – QuerFormat, Nr. 3. Höhne, T./Kunz, T./Radtke, F.-O. (2000): ,wir‘ und ,sie‘. Bilder von Fremden im Schulbuch. In: Forschung Frankfurt, Nr. 2, S. 16-25. Mannitz, S. (2002) a: Religion in vier politischen Kulturen. In: Schiffauer, W./Baumann, G./Kastoryano, R./Vertovec, S. (Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster, S. 101-138. Mannitz, S. (2002) b: Disziplinarische Ordnungskonzepte und zivile Umgangsformen in Berlin und Paris. In: Schiffauer, W./Baumann, G./Kastoryano, R./Vertovec, S. (Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster, S. 161-219. Mecheril, P. (2007): Die Normalität des Rassismus. In: Überblick. Vierteljahres-Zeitschrift von IDA-NRW, 13. Jg., Nr. 2, S. 3-9.
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Sabine Mannitz
Nancy, J.-L. (1993): Lob der Vermischung. In: Lettre International, Nr. 21, S. 5-7. Pingel, F. (1995) (Hrsg.): Macht Europa Schule?. Frankfurt am Main. Reiter, S./Wolf, R. (2007): Politische Bildung für Migrantinnen und Migranten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32-33, S. 15-20. Richter , D. (2007): Das politische Wissen von Grundschülerinnen und -schülern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 32-33, S. 21-26. Sander, W. (2002): Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte der politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft. In: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) (2002): Politische Bildung und Globalisierung. Opladen, S. 11-24. Schiffauer, W. (1993): Die civil society und der Fremde. In: Balke, F./Habermas, R./ Nanz, P./Sillem, P. (Hrsg.): Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern. Frankfurt am Main, S. 185-199 . Schiffauer, W./Baumann, G./Kastoryano, R./Vertovec, S. (Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Münster. Seitz, K. (2002): Lernen für ein globales Zeitalter. In: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.) (2002): Politische Bildung und Globalisierung. Opladen, S. 45-57. Senghaas, D. (2002): Kulturelle Globalisierung – ihre Kontexte, ihre Varianten. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12, S. 6-9. Soysal, Y. (1994): Limits of Citizenship. Migrants and Postnational Membership in Europe, Chicago: University Press.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Sara FÜRSTENAU, Dr. phil., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (ab August 2009), Arbeitsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung; Interkulturelle Bildung; Bildungslaufbahnen im Kontext transnationaler Migration; Migration und schulischer Wandel. Mechtild GOMOLLA, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, z.Zt. Vertretung einer Professur an der Goethe-Universität Frankfurt a.M., Arbeitsschwerpunkte: Bildungsprozesse unter Bedingungen von Migration; Bildungsungleichheit; Rassismus- und Diskriminierungsforschung; Unterrichts- und Schulentwicklung im heterogenen Umfeld; Bildung und Demokratie; Schule als öffentlicher Bildungsraum. Therese HALFHIDE, lic. phil. Ethnologin, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich, Arbeitsschwerpunkte: Migration und Schule; Kindheit und Jugend aus ethnologischer Perspektive; Teamteaching; in eigener Praxis als Trainerin für kollegiales Coaching, Supervisorin und Coach in Organisationen tätig. Petra HILD, lic. phil. I, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich, Arbeitsschwerpunkte: Sozialisation und Differenz; Weiterbildung von Lehrpersonen des Kantons Zürich und im deutschsprachigen Raum der Schweiz; Leiterin des Zertifikatslehrgangs ‚Migration und Schulerfolg‘, der aktuell weiter entwickelt wird. Ulrike HORMEL, Dr. phil., Akademische Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Institut für Sozialwissenschaften, Arbeitsschwerpunkte: Bildungssoziologie; Ungleichheits- und Diskriminierungsforschung; Migrationssoziologie, interkulturelle und antirassistische Pädagogik. Sabine MANNITZ, Dr. phil, Projektleiterin und Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main, Arbeitsschwerpunkte: Migration und Integrationspolitik; soziale Identität und Alteritätskonstruktion; Sozialisation durch Institutionen und deren Wandel.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Albert SCHERR, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Institut für Sozialwissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsforschung, Jugendforschung, Migration und Diskriminierung. Agi SCHRÜNDER-LENZEN, Dr. phil., Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Potsdam, Department für Erziehungswissenschaft, Arbeitsschwerpunkte: Empirische Schul- und Unterrichtsforschung; Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund; Ganztagsorganisation im Grundschulbereich; methodisch-didaktische Konzepte des Schriftspracherwerbs; Analyse schriftsprachlicher Kompetenzen. Tanja TAJMEL, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Deutsch als Zweitsprache an der Humboldt-Universität zu Berlin, Arbeitsschwerpunkte: naturwissenschaftlicher Unterricht in sprachlich-kulturell heterogenen Klassen; Sprache im naturwissenschaftlichen Fachunterricht; Entwicklung von sprachlernfördernden Unterrichtsmaterialien; Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern naturwissenschaftlicher Fächer.
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