Susanne Hedlund Mit Stift und Stuhl Illustrationen und Stuhlübungen für Psychotherapie, Beratung und Coaching
Susanne Hedlund
Mit Stift und Stuhl Illustrationen und Stuhlübungen für Psychotherapie, Beratung und Coaching Mit 46 Abbildungen
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Dr. Susanne Hedlund, (Ph. D., USA) Schön Klinik Roseneck Am Roseneck 6 83209 Prien am Chiemsee www.s-hedlund.de
[email protected]
Mit Online-Material: Auf der Website www.s-hedlund.de finden Sie kostenfrei Video-Beispiele von Stuhlübungen und Kurzfassungen von Illustrationen. ISBN
978-3-642-05063-3
Springer Medizin Verlag Heidelberg
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Geleitwort Liebe Leserin, lieber Leser, nach dem Motto »Von den Meistern lernen« möchte ich Ihnen, den psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten, aber auch den psychologischen Beratern/Coachs, Susanne Hedlunds Buch »Mit Stift und Stuhl« zur Lektüre und als Arbeitsgrundlage empfehlen. Frau Dr. Hedlund hat ihr in fast 25 Jahren in den USA und in Deutschland gesammeltes Fachwissen und ihre Erfahrung in Klinischer Psychologie/Psychotherapie und in Beratungspsychologie zusammengetragen und präsentiert hier wissenschaftlich fundiert Praxisanleitungen und Hinweise für die Arbeit mit Patienten/Klienten in Klinik und ambulanter Praxis, im Einzelwie auch im Gruppentherapiesetting. Ihr Anliegen ist es, die nicht selten auf der rein verbalen Ebene des Therapeut-Patienten-Dialogs bzw. des Gesprächskreises in der Gruppentherapie verbleibende Psychotherapie anzureichern um erlebnis- und verarbeitungsaktivierende Methoden. Hierbei geht es weniger um Expositionen und Verhaltenslernen außerhalb des Therapiezimmers – dies wäre ein Thema für sich, zu dem in der Psychotherapie im Übrigen schon reichlich Manuale existieren. Vielmehr liegt der klare Schwerpunkt auf therapieförderlichen Veranschaulichungen innerhalb der Therapiestunde im Büro des Psychotherapeuten bzw. im Gruppenraum. Grafische und schriftliche Konkretisierungen (Illustrationen) mithilfe von Filzschreibern, Papier- und Flipchartbögen oder Karteikarten können Prozesse und Ergebnisse der Therapie fokussieren, zum Nachdenken anregen, eine Dynamik in Gang setzen, zu Klärungen beitragen. Frau Dr. Hedlund präsentiert hierzu eine Fülle von Themen- und Aufgabenstellungen, bei denen genau diese Illustrationen die Therapie in hervorragender Weise unterstützen, z. B. Motivations- oder Erwartungsklärung, biografische Aufarbeitung und Ursachenanalyse, Ressourcenerarbeitung, Initiierung kognitiver und emotionaler Prozesse. In einem weiteren, etwas ausführlicheren Kapitel werden Stuhlübungen erläutert, die das therapeutische Geschehen noch stärker als die Illustrationen intensivieren. Mithilfe rollenspielartiger Techniken (Platznehmen auf ausgewählten Stühlen mit spezifischer Bedeutung oder Funktionszuweisung) erarbeitet der Patient/Klient pointiert aktuelle bzw. zurückliegende biografische Schlüsselsituationen unter Anleitung und Begleitung des Therapeuten und mit dessen gezielter Aufgabenstellung und Nachbesprechung. Diese Stuhlübungen sind komplexer, und sie sind in nochmals höherem Maße erlebnis- und erfahrungsauslösend: Sie ermöglichen dem Patienten/Klienten eine tiefe emotionale Durchdringung, engagierte Beteiligung, substantiierten Erkenntnisgewinn. Dies hat eine andere Qualität als das alleinige Sprechen über die gegebene Problematik oder auch das mitunter recht trockene Dokumentieren von Verhaltensweisen oder Befindenswerten. Die von Frau Dr. Hedlund vorgestellten Stuhlübungen sind von den Anforderungen her in Stufen ansteigend, ein Großteil kann – wie im Übrigen auch alle Papier-und Stift-Aufgaben – ohne Gefahr durchaus von Therapeuten am Anfang ihrer Karriere eingesetzt werden. Hierzu möchte ich explizit ermuntern. Ein anderer Teil setzt Erfahrungen voraus, etwa im Umgang mit posttraumatischen Belastungsstörungen, dramatischen Verlusten, schweren Persönlichkeitsstörungen oder mit Suizidalität.
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Geleitwort
Der Vorzug der hier zusammengetragenen Methoden und Techniken besteht darin, dass keine bestimmte Therapieschule oder Richtlinie vorgegeben ist. Viele Therapieelemente entstammen einer ganzen Bandbreite von Verfahren: der Gestalttherapie, dem Psychodrama, den systemischen Ansätzen, der Hypnotherapie, der Verhaltens- und kognitiven Therapie, der »emotion focused psychotherapy«, gar dem NLP. Sie sind überdies auch mit tiefenpsychologisch orientierten Vorgehensweisen sehr gut kompatibel. Was von vornherein überzeugend deutlich wird: »Mit Stift und Stuhl« ist ursprünglich überhaupt nicht als Buch am Schreibtisch konzipiert, sondern das Resultat langjähriger praktischer Arbeit als Psychotherapeutin und vor allem als Dozentin und Workshopleiterin bei Psychotherapieausbildungsinstituten, bei unzähligen Klinikfortbildungen oder den großen klinisch-psychologischen Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. In Teilnehmerrückmeldebögen wiederholt erhaltene Spitzenbewertungen machten es geradezu zwingend, den dort präsentierten Stoff in Schriftform zu bringen und bei einem hochrangigen Wissenschaftsverlag zu publizieren. Das Buch ist bewusst konzipiert als eine Sammlung von einzeln verwendbaren Interventionen, es erfordert – außer dem Lesen des Einleitungsteils – kein Durcharbeiten von vorn bis hinten, sondern man kann beim jeweils interessierenden Thema einfach nachschlagen. Wie wir es von Frau Dr. Hedlund nicht anders kennen, zeichnet sich das Buch durch hervorragende Didaktik und Anschaulichkeit aus, und es enthält beeindruckende Fallbeispiele. »Mit Stift und Stuhl« kommt ohne einen einzigen Mittelwert oder Korrelationskoeffizienten aus, dennoch ist es im besten Sinne des Wortes empirisch, nämlich aus der Erfahrung erwachsen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen einen substanziellen Lerngewinn, viele Anregungen, aber auch Freude beim Benutzen des Buches und vor allem gute Erfolge in der Arbeit mit den Patienten. Prof. Dr. Edgar Geissner
Leitender Diplompsychologe Schön Klinik Roseneck, Prien und Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München Prien am Chiemsee, im Januar 2011
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Danksagung » Emotion moves us and reason guides us. Leslie Greenberg, 2008 « Ein Therapiebuch entsteht niemals im luftleeren Raum, sondern immer aus den konkreten Interaktionen mit Menschen. Mein erster Dank gilt deshalb meinen Klientinnen und Klienten, die mir mit ihren persönlichen Themen vertraut haben und so die Entwicklung der Illustrationen und Stuhlübungen in dieser Form erst möglich gemacht haben. Weiterhin bin ich vielen Kolleginnen und Kollegen in Austin, Texas, und an der »Schön Klinik Roseneck« in Prien am Chiemsee zu Dank verpflichtet, die sich Zeit für Gespräche über meine Ideen nahmen und die konstruktive Vorschläge zu den Texten einbrachten. In Austin: Susan Ansorge, Stephanie S. Rude, Elizabeth A. Sylvester, David M. Tucker; in Prien: Maren Bracht, Sabine Brandenburg, Doris Bresina, Claudia Erzberger, Kerstin Fertl, Lina Ipsch, Axel Müller, Miriam Nonnenmacher, Denise Sturm. Dank auch an Maria Schunk-Warning für die erste Idee zur Allegorie des Lebensbüchleins (7 Kap. 5). Im Verlauf der Entstehung des Buches war für mich vor allem die gleichbleibend freundliche und ermutigende Betreuung durch Monika Radecki und Sigrid Janke vom Springer Verlag essenziell – als Autorin gibt es viel zu beachten und zu lernen, und ich bin dankbar für diese sehr professionelle Begleitung. Das kompetente Lektorat von Gisa Windhüfel, Freiburg, gab dem Buch den letzten Schliff – auch ihr gilt mein Dank. Susanne Hedlund
Prien, im Dezember 2010 Mit Online-Material: Auf der Website www.s-hedlund.de finden Sie kostenfrei VideoBeispiele von Stuhlübungen und Kurzfassungen von Illustrationen.
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Die Autorin Dr. Susanne Hedlund
Dr. Susanne Hedlund (Ph.D., USA), Jahrgang 1959, schloss 1984 ein Philologiestudium mit dem 1. Staatsexamen für Lehramt an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn ab. Zwischen 1986 und 1993 studierte sie als Post-Baccalaureate zwei Jahre in Houston, Texas und weitere fünf Jahre als Doktorandin in Austin, Texas Psychologie. Sie promovierte im Bereich der kognitiven Prozesse bei akuten und remittierten Depressionen. Der Studienabschluss 1993 führte in den USA zum Doktortitel als Counseling Psychologist und berechtigte nach einem weiteren Jahr Arbeit in Vollzeit als Psychologin zur dortigen Approbation oder Pychology License. Zusatzausbildungen USA: Neurolinguistisches Programmieren, Hypnosetherapie nach Milton H. Erickson. In Freiburg arbeitete Susanne Hedlund ab Mai 1995 in der psychiatrischen Universitätsklinik auf einer Psychotherapiestation mit dem Schwerpunkt Zwangserkrankungen, bevor sie Ende 1996 an ihren jetzigen Arbeitsplatz, die Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, wechselte. Die in diesem Buch vorgestellten Interventionen entstanden alle im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit mit Psychosomatik-Patienten in der Einzel- und Gruppenarbeit. Zusätzlich wurden viele Interventionen auch von der Autorin in ambulanter Psychotherapie erprobt. Deutsche Titel und Aktivitäten: Psychologische Psychotherapeutin (VT), Kinder- und Jugendlichentherapeutin, Klinische Psychologin (BDP), Supervisorin (BDP), Coach; Dozentin in der VTAusbildung in Prien, München, Marburg mit unterschiedlichen Themen; konzeptionelle Arbeit im Bereich der Entwicklung und Überarbeitung von Indikativgruppen der Schön Klinik Roseneck; Beteiligung an deutschen und englischen Publikationen.
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Inhaltsverzeichnis Einführung und allgemeine Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.3
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen . . . . 4 Zur Repräsentation von Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verwendung und therapeutische Funktionen von Illustrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Verwendung von Stuhlübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Therapeutische Funktionen von Stuhlübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Verwendung von Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2
Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7
Illustrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
Einfache Illustrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufforderung zur Kooperation: Die Motivationsklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungen reflektieren: Die Erwartungsskala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schonung und Stress: Das Burnout-Diagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschen und Nähe: Beziehungskreise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedanken und Einstellungen: Das Gedankennetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belastende Komorbidität: Verzahnte Krankheiten oder Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multikausales Modell: Der Ursachenstern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsnutzen: Das Funktionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplexere Illustrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenlobmodell: Der Kopffüßler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traumamodell: Die Mauer im Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Latente Suizidalität: Der Lebensbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrolle und Akzeptanz: Das Schicksalsdiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Respekt gegenüber anderen: Das Kommunikationsdiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Existenzielle Klärungen: Lebensaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertiefung und Integration: Die Glückspyramide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 30 32 35 36 40 42 43 47 49 49 51 55 57 60 61 62
Stuhlübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcenübung: Der Als-ob-Stuhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auflösung von Ambivalenz: Entscheidungsstühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen und vergeben: Die Zeitreise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstumgang verbessern: Gespräch mit dem inneren Kritiker, Saboteur oder Antreiber . . . . Arbeit an Funktionalisierungen: Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten . . . . Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierige Klärung und Exposition: Gespräch mit dem Missbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Loslösungen: Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson . . . . Eine positive Beziehung beenden: Gespräch mit einer verstorbenen Person . . . . . . . . . . . . . . . Eine problematische Beziehung beenden: Gespräch mit einer verstorbenen Person . . . . . . . .
66 75 76 79 84 92 92 99 105 105 113 126 135
XII
Inhaltsverzeichnis
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Metaphern und Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Angst vor Psychopharmaka: Der Fluss des Lebens mit Schwimmreifen . . . . . . . . . . . . . . . Gehirn und Gewohnheit: Die Waldmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schuldgefühle: Das Schuldhalsband. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbst aktiv werden: Die Leiter im Loch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Lebensthema: Die Bewältigungsspirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Suizidalität: Das Lebensbüchlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146 147 148 149 149 150
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
1
Einführung und allgemeine Überlegungen 1.1
Einführung – 2
1.2
Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen – 4
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4
Zur Repräsentation von Erfahrungen – 5 Verwendung und therapeutische Funktionen von Illustrationen – 8 Verwendung von Stuhlübungen – 11 Therapeutische Funktionen von Stuhlübungen – 13
1.3
Verwendung von Metaphern – 16
S. Hedlund, Mit Stift und Stuhl, DOI 10.1007/978-3-642-05064-0_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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1
Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
In diesem Buch werden Einzeltechniken für die Psychotherapie vorgestellt: Illustrationen, also Zeichnungen zur Verdeutlichung von Gesprächsinhalten, und Stuhlübungen zur Arbeit mit Emotionen bilden den Hauptteil (7 Kap. 3, 7 Kap. 4). Darüber hinaus werden noch ein paar nützliche Metaphern und Vergleiche für bestimmte Therapie- oder Beratungsanlässe vorgestellt (7 Kap. 5). Das eher kurze Kapitel 5 sehe ich übrigens als Bonusmaterial für dieses Buch, denn Metaphern sind nicht Teil des Titels.
Der Anwender kann die in diesem Buch zusammengefassten Techniken in den verschiedensten Settings einsetzen: in der Psychotherapie, in der Beratung sowie im Coaching. Alle Interventionen entstanden in der hier vorgestellten Form im Rahmen der stationären und ambulanten Psychotherapie mit Erwachsenen und wurden von der Autorin sowie Kolleginnen und Kollegen vielfach erprobt. Adaptationen einiger Illustrationen und Stuhlübungen auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie auf den Bereich der beruflich veranlassten Beratung sind möglich. In den jeweiligen Abschnitten finden sich hierzu Vorschläge.
1.1
Einführung
Haben Sie schon einmal zur Erläuterung eines Gedankens etwas für Ihre Klienten aufgemalt? Wenn ja, dann wissen Sie, wie hilfreich es ist, eine kleine farbige Veranschaulichung von Prozessen und Konzepten zu erstellen, auf die man sich auch in den nachfolgenden Gesprächen immer wieder beziehen kann. Und haben Sie Ihren Klienten in einer Therapie- oder Beratungssitzung schon einmal von einem Stuhl zum anderen gebeten, um ihm bestimmte, an diese Positionen gebundene Erfahrungen zu ermöglichen? Dann wissen Sie auch, wie intensiv und lohnend die übenden, erlebnisaktivierenden Verfahren sind – in diesem Falle würde es sich um eine Stuhlübung handeln. Zusätzlich wissen Therapeuten und Berater, dass ihre sprachliche Kommunikation durch die Verwendung von Metaphern belebt wird und beim Klienten imaginative Prozesse anregt. Hiervon handelt dieses Buch: Es stellt eine Sammlung von Illustrationen, Stuhl-
übungen und Metaphern aus meiner über 20-jährigen therapeutischen und beratenden Praxis dar, gedacht für Psychotherapeuten, Berater, Coaches und eventuell Supervisoren auf allen Ebenen ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit. Sie eignen sich auch für Mediatoren, Trainer und andere Personen in anleitender, helfender oder beratender Funktion. Im Grunde können alle beratenden Professionen Ideen und Anregungen aus diesem Buch erhalten. Da die meisten Leserinnen und Leser wahrscheinlich psychotherapeutisch tätig sind, beziehe ich mich sprachlich vorrangig auf diesen Bereich und zusätzlich stellenweise auf das Coaching für berufliche Probleme, da eine ständige Erwähnung aller beratenden Berufe die Lesbarkeit beeinträchtigen würde. Für die Seite unserer Auftraggeber bietet sich der eher breit gefasste Begriff des Klienten an, aber für manche genuin klinische Interventionen, z. B. beim Traumamodell, ist in den Beschreibungen auch gelegentlich der Begriff des Patienten oder der Patientin zu finden. In der Psychotherapie und den therapeutischen Beratungsberufen finden sich auf beiden Seiten mehr Frauen als Männer – in der klinischen Psychologie muss dieser Anteil mittlerweile mit 70–80% veranschlagt werden. Ab und zu benutze ich daher die kombinierte Sprachform und erwähne Therapeutinnen und Therapeuten, um dieser Tatsache ein wenig gerecht zu werden, aber generell verwendet dieses Buch aus Gründen der Lesbarkeit in den meisten Fällen nur die männliche Form. Ich bitte die Leserinnen um Verständnis. Ein Buch mit ausschließlich weiblichen Bezeichnungen wäre zum jetzigen Zeitpunkt noch zu ungewöhnlich. Sprachlich herrscht in der Psychotherapie ein überwiegend von Fremdwörtern befreites Alltagsdeutsch vor, das der Therapeut auch zur Erklärung von Illustrationen und Stuhlübungen verwenden sollte. Dieser Stil bestimmt die wörtliche Rede in den Praxiskapiteln und kennzeichnet – abgesehen von einigen Fachbegriffen – auch die anderen Texte dieses Buches. So wird in den Praxiskapiteln z. B. eher von einem Ursachenstern als von einem multikausalen Modell gesprochen. Diese beschreibende deutsche Benennung des multikausalen Modells stammt übrigens von einem meiner Klienten. Die Wahl der sprachlichen Nähe zur therapeutischen
1.1 • Einführung
Realität soll die Leser zusätzlich ermutigen, abends ein Kapitel zu lesen und am nächsten Morgen gleich eine neue Strategie in ihrer Psychotherapiesitzung oder Beratung zu erproben: Diese Praxisnähe würde meine persönliche Definition von Erfolg für dieses Buch darstellen. z
Konzeptionelle Herkunft der Übungen
Heute stellt die moderne kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die meine amerikanische, eher eklektische Psychotherapieausbildung hier in Deutschland ergänzte, ein therapeutisches Verfahren dar, das Anleihen bei verschiedenen anderen Therapieverfahren und Therapiemethoden macht und somit Techniken oder Einzelinterventionen unterschiedlicher Herkunft assimiliert. In Ergänzung zur klassischen, vorwiegend gesprächsbasierten Anwendung der KVT in den 1970er-Jahren verwenden erfahrene Kolleginnen und Kollegen heute zusätzlich vielfältige übende Ansätze, um das emotionale Erleben der Klienten in der Sitzung zu fördern und auf diese Weise Veränderungen in Gang zu setzen. Auch wird heute innerhalb der KVT viel mehr als früher mit Themen aus der persönlichen Vergangenheit des Klienten gearbeitet, wenn deutlich wird, dass diese früheren Erfahrungen auch gegenwärtig noch zu emotionalen oder Verhaltensproblemen führen oder in irgendeiner anderen Form die aktuelle Lebensqualität einschränken; ein Beispiel ist die Übung Abschied von den Eltern (7 Kap. 4.4.2) – man wendet sie sogar an, wenn die betroffenen Bezugspersonen lange verstorben und die Klienten schon selbst im mittleren Alter sind. Auch wenn die Interventionen in diesem Buch im Rahmen einer KVT entstanden sind, die mittlerweile für Techniken aus unterschiedlichen Therapieverfahren offen ist, so sollten sie nicht darauf begrenzt bleiben. Die zurzeit noch vorherrschende Verfahrensorientierung in der Psychotherapieausbildung wird ohnehin aktuell von den Berufsverbänden problematisiert, und es gibt Vorschläge für eine Ausbildung, die sich stärker an therapeutischen Kompetenzen, allgemeinen psychotherapeutischen Wirkfaktoren und der Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung ausrichtet. Kuhr & Vogel (2009, S. 375) berichten, »wie in der Versorgungspraxis die Schulengrenzen in ambulanter wie stationärer Psychotherapie überschritten werden«, und plädieren
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1
für eine stärker integrierte Psychotherapiepraxis. In diesem Sinne möchte ich die hier vorgestellten Interventionen auch den Kolleginnen und Kollegen empfehlen, die ursprünglich andere Schwerpunkte als die KVT hatten. Psychodynamisch halte ich insbesondere die Stuhlübungen für sehr interessant. Workshopteilnehmer mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt waren tatsächlich nach zwei Tagen sehr zufrieden mit dem Gelernten. Ich stelle in diesem Buch Interventionen (Illustrationen, Stuhlübungen, Metaphern) vor, die ich entweder selbst entwickelt oder die ich in Anlehnung an bereits vorhandene Übungen, z. B. der Übung zum inneren Kritiker oder der Ambivalenzübung, weiterentwickelt bzw. abgeändert habe. Bei manchen Interventionen ist für mich allerdings – trotz aller Bemühungen – nicht mehr nachvollziehbar, woher vor vielen Jahren die allerersten Anregungen stammten. Bei mehreren Illustrationen geht jedoch in meinem Training die Grundidee zum dimensionalen Denken mit Aufmalen einer Skala von 0 bis 100 auf das »kognitive Kontinuum« von Judith Beck (1999, S. 160) zurück: Das BurnoutDiagramm und das Schicksalsdiagramm in diesem Buch sind Variationen dieser einfachen, aber nützlichen Grundidee. Für Stuhlübungen wurde bereits in den 1950erJahren die Grundlage durch Jacob Moreno gelegt (vgl. Staemmler, 1995), und die Stuhlübung zum inneren Kritiker kennzeichnet wichtige gestalttherapeutische Arbeiten der 1970er-Jahre (z. B. Perls, 1973/1992, S. 145, S. 195); die Übung wird heute in der Psychotherapie vielfach verwendet. Sie finden in diesem Buch meine persönliche Version sowie Varianten und Erweiterungen dieser wirkungsvollen Intervention. Auch meine Teilnahme an einem Kurs in Gestalttherapie sowie die Ausbildungen in neurolinguistischem Programmieren und Hypnose in den USA beeinflussten die Entwicklung der im praktischen Teil vorgestellten erlebnisaktivierenden Übungen – der Leser wird hypnotherapeutische Elemente identifizieren können, z. B. in der Verwendung der intuitiven Position (7 Kap. 4), bei der der Klient einen Perspektivenwechsel vornimmt, ohne ganz in die Rolle einer anderen Person schlüpfen zu müssen, da ihm dies oft nicht zuzumuten ist.
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
Dieser kurze Abriss der eklektischen Herkunft aller hier vorgestellten Illustrationen und Übungen zeigt, dass wir als Psychotherapeuten und Berater alle auf die Erfahrungen von hoch qualifizierten Praktikern und Theoretikern der letzten 60 Jahre zurückgreifen können, die uns den Weg zu den heutigen, mehr und mehr integrativen Verfahren gebahnt haben. Sie lernen in diesem Buch eine Sammlung von Zeichnungen, Stuhlübungen und Sprachmetaphern kennen, die von mir vielfach erprobt und auch von Seminarteilnehmern und Supervisanden dankbar aufgegriffen wurden. So hat sich bereits auch der praxisbezogene Nutzen dieser illustrierenden, erlebnisaktivierenden und imaginationsfördernden Strategien im direkten Kontakt mit den Klientinnen und Klienten gut bewährt. Manche Stuhlübungen sind recht komplex und beinhalten mehrere Positionswechsel, die im jeweiligen Abschnitt (7 Kap. 4) durch kleine Zeichnungen abgebildet werden. Die Buchform hat den Vorteil einer Festlegung der Vorgehensweise durch das geschriebene Wort, aber den Nachteil, dass das Prozesshafte der Übung nicht angemessen dargestellt werden kann. Aus diesem Grund gibt es ab Ende 2011 eine zusätzliche Website (www.s-hedlund.de), auf der Sie Videos mit Durchführungsbeispielen von Stuhlübungen anschauen können, die meine Kollegen und ich nachgestellt haben. Da es sich hier um eine lose Sammlung von Einzelinterventionen handelt, obliegt die größere konzeptionelle Einbettung jeder Einzelintervention in den Gesamtzusammenhang der Therapie oder Beratung dem Anwender. Manche Übungen oder Zeichnungen eignen sich nur für bestimmte klinische Störungsbilder oder einige wenige Analogsituationen: Das Traumamodell (7 Kap. 3.2.2) wird in der Psychotherapie für eben solche Störungen verwandt, eventuell auch für Zwangsstörungen, es kann sich aber auch im Coaching für die Aufarbeitung vergleichbarer, emotional sehr belastender Situationen eignen, wenn der Klient längerem Mobbing oder anderen beruflichen Konflikten ausgesetzt war und traumabedingte Reaktionen mit Vermeidungsverhalten zeigt. In anderen Fällen, z. B. bei der Übung zum inneren Kritiker (7 Kap. 4.3.1), ist eine sehr breite Anwendbarkeit gegeben. Sie finden wichtige allgemeine Anwendungshinweise in 7 Kap. 2 und spezifische
Hinweise nochmals zu Beginn von 7 Kap. 4 und im jeweiligen Abschnitt für jede einzelne Stuhlübung. Ich empfehle dringend die Lektüre von 7 Kap. 2, nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen – einige der Übungen sind sehr kraftvoll –, und es ist insbesondere für klinisch arbeitende Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig, die Kontraindikationen und die möglichen Gefahren vor Beginn dieser Arbeit zu reflektieren; sei es auch nur die Warnung bezüglich der sicheren Verkehrsteilnahme des Klienten nach einer sehr intensiven Therapiesitzung. Im Rahmen der KVT wird bei vielen Übungen dringend empfohlen, die gewonnenen Einsichten nicht nur durch eine nachfolgende Besprechung, sondern auch durch schriftliche Aufträge oder selbstständig durchgeführte Verhaltensaufgaben nachhaltig im Alltag des Klienten zu verankern. Wenn dies nicht beachtet wird, besteht die Gefahr, dass die hochemotionale Erfahrung während einer Übung im Zeitverlauf einfach wieder verblasst und nicht zu den gewünschten kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Veränderungen im Leben des Klienten führt. In den Übungsbeschreibungen finden Sie Hinweise für die Formen der Aufarbeitung, die sich bewährt haben. Kapitel 1 bezieht sich im Folgenden ausschließlich auf psychotherapeutische Anwendungen der Illustrationen, Stuhlübungen und Metaphern, da Psychotherapeuten die Hauptzielgruppe des Buches darstellen. Viele Überlegungen zum Einsatz dieser Techniken treffen natürlich auch auf Beratung und Coaching für psychisch gesunde Personen mit nichtklinischen Beratungsanlässen zu.
1.2
Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
In diesem Buch werden zahlreiche Einzeltechniken für Psychotherapie und Beratung vorgestellt, die vom Anwender in einen allgemeinen Gesprächskontext integriert werden müssen. Die Illustrationen dienen der Vorbereitung und begleitenden Erläuterung von Therapie- und Beratungsanliegen. Die Aktivierung von Emotionen durch praktische Übungen, in diesem Fall Stuhlübungen, ist in Psychotherapie, Beratung und Coaching oft ein zent-
1.2 • Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
rales Anliegen, um auf diese Weise Informationen zu erhalten – quasi weitere Diagnostik zu betreiben –, um innere Prozesse beim Klienten sichtbar und fühlbar zu machen und natürlich, um erwünschte Veränderungen und psychische Heilungsprozesse einzuleiten. Hinsichtlich dieser Techniken, zu denen Stuhlübungen zählen, konnte die Forschergruppe um Leslie Greenberg (z. B. Ellison et al., 2009; Goldman et al., 2006) bereits empirisch zeigen, dass das Hinzufügen solcher Interventionen Therapieerfolg und Rückfallquote signifikant verbessert. Die Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen gestaltet die Psychotherapie überdies zeitlich effizienter und inhaltlich wirksamer, als es bei der rein verbalen Interaktion möglich wäre. Weiterhin zeigt die Erfahrung, dass beide Arten von Interventionen dem Therapieprozess immer wieder neue, zuvor innerhalb des Gesprächs noch nicht behandelte Aspekte hinzufügen können. > Die hier vertretene moderne Form der Gestaltung einer Psychotherapie- oder Beratungssitzung, in der Illustrationen und Stuhlübungen verwendet werden, ist durch Zeitersparnis, erhöhte Intensität des Veränderungsprozesses und kreative Möglichkeiten des Zugangs zu neuen Inhalten und Bedeutungen gekennzeichnet.
1.2.1
Zur Repräsentation von Erfahrungen
Psychotherapie und Beratung wollen zu Veränderungen verhelfen, sie wollen beim Klienten möglichst erfolgreiches Lernen in Gang setzen und ihm somit neue Handlungsoptionen verschaffen. Sowohl die Verwendung von Illustrationen als auch von Stuhlübungen weist auf wichtige positive Merkmale für erfolgreiches Lernen hin (vgl. Edelmann, 2000, S. 162 ff.): 5 Dem Klienten wird die Möglichkeit einer Erfahrung gegeben, bei der sich Handeln und Sprache verknüpfen. 5 Durch das Erlebnis des neuartigen Umgangs mit den eigenen intrapsychischen Inhalten
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ergibt sich beim Klienten ein hoher Grad von Bewusstheit. 5 Der Grad der Lenkung variiert etwas, obliegt aber immer dem Therapeuten gemeinsam mit dem Klienten, nie dem Therapeuten allein. 5 Die Motivation für die Beschäftigung mit dem Thema in der Psychotherapie ist gegeben und im Allgemeinen sehr hoch. Im Einzelnen kann die kognitive Psychologie Hinweise dazu geben, warum insbesondere die Stuhlübungen erfolgreiche Lernsituationen darstellen. Bereits in den 1970er-Jahren entwickelte Paivio (neuere Publikation z. B. 2007) die »dual coding theory«, in der er verbal-symbolische Informationsverarbeitung von bildlich-analoger unterscheidet. Solange der Rezipient nicht quantitativ überfordert wird, führt die gezielte Verwendung beider InputKanäle zu breiterer kognitiver Verknüpfung und besserer Retention der vermittelten Inhalte. Dabei ergänzt die visuelle die verbale Modalität oder umgekehrt – keiner dieser beiden Optionen kann eine objektive Priorität zugeordnet werden. Andere Theoretiker entwickelten jedoch einen sog. rein propositionalen Ansatz (z. B. Pylyshyn, 1973), der kein inneres Bild, sondern eine Art innere Beschreibung eines Bildes postuliert, für die möglicherweise auch eine innere mentale Sprache (»mentalese«, vgl. Thomas, 2010) benötigt wird. Dagegen ist Kosslyn (z. B. 1994, S. 6) ein moderner Vertreter der Auffassung, dass es tatsächlich bildliche Formen der Abspeicherung von Inhalten gibt, die er »depictal mental representations« nennt. Andere Theoretiker wiederum fügten der Debatte einen weiteren Aspekt hinzu und schlugen eine »enactive imagery theory« vor, bei der die mentale Repräsentation eng mit den speziellen Handlungen einer Person verknüpft ist. Wie Thomas (2010) in seinem Überblicksartikel berichtet, ist die Frage weiterhin nicht abschließend beantwortet, ob es wirklich eine bildliche oder eher eine propositionale, also nichtbildliche Abspeicherung von Inhalten im Gedächtnis gibt und was die Bedingungen für den Einfluss von Handlungen der Person auf die kognitiven Repräsentationen sind. Für die Praxis ist die Annahme plausibel, dass sowohl Sprache als auch bildliche bzw. visuelle Erfahrungen sowie handlungsbasierte Erlebnisse ge-
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
meinsam auf die Gestaltung von Gedächtnisinhalten einwirken. Diese drei Faktoren finden sich in Stuhlübungen wieder, obwohl die bildliche Erfahrung innerhalb der Übung nur zum Teil real ist und zum Teil aus Imaginationen besteht. Auch wenn es der Realität der mentalen Repräsentation also nicht entsprechen sollte, stellt doch der Ausdruck des inneren Bildes für den psychotherapeutischen Kontext eine sinnvolle Metapher dar, die in diesem Buch weiterhin verwendet wird. Jenseits der wissenschaftlichen Debatten um mentale Repräsentationen ist es intuitiv überzeugend, dass die zusätzliche Verwendung von konkret-visuellen Mitteln wie Farben und Formen (Illustrationen), von motorischen und imaginativen Erfahrungen (Stuhlübungen) oder von innerlich erzeugten Bildern (Metaphern) die Psychotherapie reichhaltiger und eindringlicher gestaltet als das reine Gespräch, das ja immer die Grundlage aller Therapien und Beratungen darstellt. z
Illustrationen: Inhalte verbildlichen
Die hier vorgestellten Illustrationen sollen nun keinen konkreten oder analogen Inhalt, wie bei Paivio postuliert, sondern einen abstrakten und eher komplexen Inhalt verbildlichen – eine rein analoge Darstellung des bezweckten Inhalts ist daher nicht möglich. Es handelt sich bei den Zeichnungen daher um eine Kombination von rein verbalem Input in Form der Beschriftung der Zeichnung mit einer visuell-symbolischen Darstellung, die Linien, verschiedene Formen, Pfeile und Farben verwendet: Nicht nur die Worte, sondern auch die Zeichnungen selbst erfordern beim Rezipienten einen inneren Übersetzungsprozess, um die Bedeutung zu extrahieren, die jedoch dann weiterhin mit der visuellen Festlegung im Gedächtnis des Klienten verknüpft bleibt. Die Zeichnungen sind daher nicht als vollständig analog zu verstehen, sondern nehmen eine Zwischenstellung zwischen reiner Symbolik und einem sachlich-konkreten Bild ein. Die erforderliche kognitive Transferarbeit führt zu tieferer Informationsverarbeitung und erzeugt auf diese Weise eine bessere Retention der Inhalte im Gedächtnis. Daraus wiederum entsteht die Möglichkeit der späteren verbalen Bezugnahme auf die Illustration und die damit verbundenen Bedeutungen im Gespräch.
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Stuhlübungen: Imagination und Emotion
Bei den Stuhlübungen werden oft, im Gegensatz zu den Illustrationen, analoge Formen der inneren Darstellung verwendet, nämlich sehr konkrete Visualisierungen oder Imaginationen für den leeren Stuhl, die sich auf eine reale andere Person oder einen personifizierten Selbstanteil beziehen. Wenn es sich um einen Menschen handelt, der quasi auf dem leeren Stuhl Platz nimmt, soll dieser in seiner ganzen analogen Vielfalt imaginativ wahrgenommen werden – Charakteristika wie Aussehen, Alter, Gesichtsausdruck, typische Kleidung oder Klang der Stimme werden vom Therapeuten gezielt erfragt. Die absichtliche Erzeugung der imaginativen Realität zu Beginn einer Stuhlübung etabliert und fördert die Intensität dieser künstlichen Wirklichkeit; sie verhilft dem Protagonisten zu emotionalen Erfahrungen, die die Möglichkeiten des reinen Therapiegesprächs weit übertreffen. In der Tat sind die Klienten immer wieder erstaunt über den realistischen Charakter ihrer Gespräche mit leeren Stühlen, auf denen sie Selbstanteile oder andere Personen imaginieren. Dies ist neuropsychologisch mittlerweile zumindest teilweise nachvollziehbar. In der Neuropsychologie gibt es sowohl Hinweise auf gemeinsam verwendete Gehirnregionen der Informationsverarbeitung für imaginiertes und reales Material als auch für Beteiligung unterschiedlicher Gehirnstrukturen, die uns letztlich doch noch die Unterscheidung von Imagination und Realität ermöglichen (z. B. Hassabis et al., 2007). Die lebhafte und realistische Erfahrung in der emotionsfokussierten Intervention mit Stühlen basiert auf der ersten Tatsache, nämlich der teilweisen Aktivierung derselben Gehirnregionen wie bei einem echten Gespräch. Intensivierend wirkt überdies die körperliche Erfahrung der Positionswechsel während der Übung, die fest mit bestimmten Bedeutungen für jede Position verknüpft ist. Ein Stuhlwechsel erzeugt daher immer auch neben einer emotionalen eine zusätzliche motorische oder kinästhetische Erinnerung – es entsteht folglich bei dieser Form der Intervention eine handlungsmäßige Wissensrepräsentation. Edelmann (2000, S. 153) spekuliert, »dass durch eine gleichzeitige oder sukzessive Mehrfachkodierung ein Gegenstand präziser und vollständiger erfasst
1.2 • Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
und auch besser behalten wird«; es werden »mehrere Sinne und auch Emotionen angesprochen«. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht sind bei Stuhlübungen definitiv ausgeprägte Konditionierungsprozesse beteiligt: Mit den Stuhlpositionen werden jeweils bestimmte Erfahrungen fest verknüpft. So darf der Therapeut in der Fortführung einer Stuhlübung, die unterbrochen wurde und sich vielleicht sogar über zwei oder drei Sitzungen erstreckt, nicht die Positionen des positiv und negativ besetzten Stuhls im Raum vertauschen, da so die Wirkung auf den Klienten deutlich reduziert würde. Klienten berichten nämlich, dass sie sich an die Stuhlpositionen im Raum gut erinnern können und sich z. B. im Alltag später fragen: »Auf welchem Stuhl sitze ich gerade? Will ich das wirklich, oder sollte ich auf den anderen Stuhl wechseln?« Für die psychotherapeutische Arbeit ist zusätzlich die Hypothese eines internalen kognitiven Netzwerks im Langzeitgedächtnis von Bedeutung. In der Psychotherapie aktivierte Netzwerke sind Mischformen von Ereignissen, die auch die Emotionen enthalten, und abstrakteren Begriffen, die Konzepte wie »guter Vater« oder »Missbrauch« umfassen (vgl. Edelmann, 2000). Aufgrund von individuellen Faktoren werden entlang der Achsen des Netzwerks Inhalte verschiedener Qualität aufgerufen. Am Beispiel von Frau E., einer gewalttätig und emotional missbrauchten Klientin, kann man diese verschiedenartigen Erinnerungen illustrieren (vgl. Fallbeispiel, 7 Kap. 4.4.4). Die Aktivierungen beinhalteten 5 Emotionen (Wut, Ohnmacht), 5 konzeptionelles Wissen (»guter Vater«, »Respekt«), 5 Erlebnisse von individueller Bedeutung (»Er schlug mich mit seinem Gürtel, und die Schnalle verletzte mich«), 5 Bilder von wichtigen Ereignissen (seinem Freitod) sowie 5 Sinneseindrücke verschiedener Art (olfaktorisch – der Alkoholgeruch des Vaters; auditiv – die sich überschlagende Stimme; exterozeptiv oder die Außenwahrnehmung betreffend – Schmerz am Hinterkopf von seinen auf die Klientin geworfenen Pantoffeln).
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Diese Erzeugung einer sehr reichhaltigen Erfahrung macht die Arbeit mit Stühlen für die Psychotherapie so fruchtbar. z
Wirkungsweisen von Stuhlübungen
Stuhlübungen können zum Teil völlig unerwartete psychische Inhalte aktivieren, was immer wieder eindrucksvoll zu beobachten ist. Der Klient erinnert sich häufig an Details aus seiner Vergangenheit, die ihm lange entfallen waren, und er formt immer wieder gänzlich neue, zum Teil für ihn selbst erstaunliche neue Einsichten in Bezug auf das gewählte Thema, indem er sich in der Laborsituation der Therapie mit vergangenen oder aktuellen problematischen Ereignissen nochmals auseinandersetzt. Diese netzwerkbasierte Aktivierung von Inhalten, Ereignissen, Gedanken und Gefühlen sowie die neuen intellektuellen Verknüpfungen ermöglichen bereits während der Intervention selbst eine ganzheitliche Erfahrung; sie erlaubt außerdem die Formulierung neuer Einsichten und oft auch die Transformation von Gefühlen. Das intendierte und letztlich konstruktiv gelenkte Wiedererleben problematischer Situationen während der Intervention – es ist laut Greenberg (z. B. 2006) auf jeden Fall notwendig – ermöglicht deren kognitiv-emotionale Bewältigung, was bedeutet, dass die Situation oft schon im Therapieraum eine Neufassung erhält: Der missbrauchte kleine Junge kann beispielsweise nun dem Vater auf dem leeren Stuhl als kraftvoller, erwachsener Mann entgegentreten und auf diese Weise sein Erleben als Opfer des Vaters überwinden. Stuhlübungen enthalten überdies sehr oft ein Element von Visualisierung oder Imagination, denn es geht häufig um den Dialog mit einem Selbstanteil oder mit einer anderen, auf einem leeren Stuhl imaginierten Person. Die Kraft von Imaginationen kann mittlerweile in der Neuropsychologie untermauert werden, wobei es allerdings keine rein visuelle Imagination zu geben scheint. Neuropsychologische Untersuchungen zeigen, dass wohl alle Stimuli immer auch zu einem gewissen Maß in der weniger hervorstechenden Modalität verarbeitet werden; demnach entstehen vorbewusste oder bewusste verbale Benennungen automatisch beim Ansehen eines Bildes oder beim Erleben einer Szene, während verbaler Input selbst
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
automatisch in gewissem Maße auch innere Bilder erzeugt (z. B. Mazoyer et al., 2002). Die klinische Erfahrung erlaubt die Vermutung, dass es bei der individuellen Präferenz für den Stil der Informationsverarbeitung genetische Faktoren (Talent) und lerngeschichtliche Prägungen (Übung, Förderung) zu geben scheint, sodass manche Menschen stärker, andere weniger intensiv in Form von inneren Bildern denken. Das deutsche Schulsystem wurde zu Recht für seine Betonung der verbalen Modalität kritisiert, denn aktuelle pädagogische Texte würdigen mittlerweile die Bedeutung der multiplen Repräsentation für den Lernerfolg der Schüler. Dies überträgt sich auch auf psychotherapeutische und beratende Settings, wo dieser Lernvorteil gezielt genutzt werden kann. Wie bereits erwähnt, gibt es Theoretiker, die für die handlungsbasierte Repräsentation von Erfahrungen zusätzlich einen dritten, von den beiden anderen unabhängigen Informationsverarbeitungsweg postulieren (vgl. Edelmann, 2000), was wiederum insbesondere die Wirkungsweise von handlungsbasierten Interventionen wie Stuhlübungen weiter theoretisch untermauern würde. Für die physiologisch begründeten Hypothesen zur Wirkung von Stuhlübungen gibt es mittlerweile also in der Neuropsychologie viele Hinweise, deren detaillierte Aufarbeitung hier zu weit führen würde. Es ist jedoch auch intuitiv plausibel, dass Erfahrungen, die explizit zwei oder drei kognitive Repräsentationssysteme ansprechen – das verbale, visuelle und das handlungsgebundene – im kognitiv-emotionalen Erinnerungssystem tiefer encodiert und breiter vernetzt werden als rein verbale Stimuli. Die Intensivierung und Veränderung dieses subjektiven Bedeutungserlebens ist in der Arbeit mit Menschen ein zentrales Anliegen in allen Phasen der Psychotherapie oder Beratung. Die jeweiligen klinischen Vorteile der Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen in der Beratungs- oder Psychotherapiesituation werden in den folgenden Abschnitten zusammengestellt. > In klinischer Hinsicht führt eine multimodale Stimulierung (z. B. durch Sprache, Imagination, Handlungen oder die Verwendung von farbigen, beschrifteten Zeichnungen) beim Klienten zu intensive-
ren und teilweise realistischeren Erlebnissen als das reine Gespräch: Der subjektive Bedeutungswert der Erfahrung und die daran geknüpften Lernmöglichkeiten erhöhen sich.
1.2.2
Verwendung und therapeutische Funktionen von Illustrationen
Illustration Eine meist mehrfarbige und für den jeweiligen Klienten individuell erstellte und beschriftete Zeichnung, die im Rahmen der Psychotherapie oder Beratung verschiedene Inhalte und Konzepte erläutert und unterschiedliche psychologische Ziele verfolgt.
Die Verwendung von Illustrationen, d. h. farbigen und individuell beschrifteten Zeichnungen, unterstützt das Therapiegespräch, indem sie das visuelle System einbezieht und ein Produkt erzeugt, nämlich eine Karteikarte mit einer Zeichnung darauf. Als therapeutischer Zugang sind die Zeichnungen sowohl der kognitiven als auch der emotionalen Seite der Psychotherapie zuzuordnen; oft geht es um implizite emotionale Inhalte, die durch eine Zeichnung kognitiv erfassbar und letztlich dadurch erst veränderbar werden, z. B. bei der Motivationsklärung (7 Kap. 3.1.1): Der Klient kann meistens spontan nicht formulieren, dass seine Therapiemotivation in irgendeiner Weise blockiert ist, aber die Zeichnung kann und soll natürlich das Gespräch zu diesem Thema eröffnen. Illustrationen haben im Allgemeinen oft einen belehrenden Charakter und werden beispielsweise häufig im pädagogischen Kontext als Schaubild verwendet. In Seminaren und Trainings mit Erwachsenen werden oft auch Grafiken mit statistischem Inhalt und theorieerläuternde visuelle Modelle erstellt, die ausschließlich der professionellen Kommunikation dienen. Auch in der Verhaltenstherapieausbildung und in der zugehörigen Theoriediskussion verdeutlichen oftmals komplexe Modelle theoretische Zusammenhänge und wenden
1.2 • Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
sich an ein Fachpublikum, nicht an die Klienten selbst (z. B. Margraf, 2003, verzeichnet insgesamt 59 Abbildungen, viele rein theoretisch in der Zielsetzung). In der angewandten kognitiven Verhaltenstherapie gibt es recht bekannte Illustrationen in Buchkapiteln und Manualen zur Behandlung von Angststörungen, beispielsweise in Form eines Teufelskreises bei Angst (Margraf & Schneider, 1990, S. 74) oder in Form von Spannungsverlaufskurven für die Erfahrungen der Betroffenen bei der Exposition von Zwangsstörungsritualen (Siegl & Reinecker, 2007, S. 126). Diese Illustrationen dienen einerseits dem Training angehender Psychotherapeuten und werden andererseits häufig in den psychoedukativen Sequenzen bei der Behandlung der jeweiligen Störung im Einzel- oder Gruppensetting verwendet. Illustrationen, wie sie in diesem Buch präsentiert werden, gehören direkt in die Psychotherapie oder Beratung und besitzen weder einen eigenständigen theoretischen Modellcharakter noch einen Trainingsauftrag für angehende Therapeuten. Sie stellen reine Interventionen für das Therapiegespräch dar. Als bekannter Therapeut, der in etwas ähnlicher Weise arbeitet, wäre hier auch Manfred Prior (2009) zu nennen, der in einem Vortrag seine individualisierten Zeichnungen erklärt: Die Hauptelemente bestehen aus Strichmännchen, angedeuteten Häusern, Geldscheinen oder anderen einfachen Alltagsobjekten sowie aus bestimmten Zeichen wie einem Blitz zur Verdeutlichung der Beziehungen von Personen zueinander. Da die Zeichnungen also ganz konkrete Personen und Objekte verwenden, sprechen sie die Klienten in anderer Weise an als die Illustrationen in diesem Buch, obwohl in den therapeutischen Funktionen solcher Veranschaulichungen natürlich auch einige Übereinstimmungen zu finden sind. Die hier vorgestellten Illustrationen beziehen sich auf typische und wiederkehrende Therapieund Beratungssituationen; sie haben daher naturgemäß einen teilweise standardisierten Charakter, und sie sind abstrahiert, zeigen also – bis auf eine Ausnahme, den Kopffüßler (7 Kap. 3.2.1) – keine Alltagsobjekte oder Personen. Andererseits muss fast jede Illustration auch individuell beschriftet werden, um für diesen speziellen Klienten über-
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zeugend zu wirken. Die Zeichnungen in 7 Kap. 3 stellen in ihrer Grundform daher alle erlernbaren Einzelinterventionen dar, die das Repertoire des interessierten Therapeuten oder Beraters ergänzen können. Sie zielen darauf ab, den Klienten individuell anzusprechen und seine aktuelle Therapiesituation in irgendeiner Weise zu erläutern oder zu fördern. Der Versuch, innerhalb einer Literatursuche mit englischen oder deutschen Stichworten einige Theorieartikel zu dieser Art der rein individuellen Verwendung von Illustrationen zu finden, war nicht sehr ergiebig. Vielleicht sind dies einfach zu minimale Interventionen, als dass man sich theoretisch damit befassen möchte. Oder es mag daran liegen, dass die Kollegen solche individualisierten Zeichnungen sehr häufig verwenden und diese Form der Kommunikation als integralen Bestandteil ihrer Psychotherapie sehen, sodass hier keine theoretische Diskussion oder empirische Überprüfung stattfindet. Andererseits könnte es sein, dass nur wenige praktisch tätige Kollegen überhaupt individualisierte Illustrationen verwenden und dass diese Form der Intervention daher bis jetzt kaum Eingang in Theorie- und Praxisartikel gefunden hat. Rückfragen bei Seminaren mit amerikanischen und deutschen Kolleginnen und Kollegen außerhalb meiner eigenen Klinik vermittelten mir den subjektiven Eindruck, dass individualisierte Illustrationen in der Psychotherapie nur selten verwendet werden. Eine amerikanische Kollegin berichtete, regelmäßig in psychoedukativen Sequenzen Angstkurven aufzumalen, was aber dem oben erwähnten Typ der Illustration mit gemischter Zielsetzung entspricht, der in der deutschen Verhaltenstherapie häufig für Trainings der Kollegen und in manualisierten Angsttherapien verwendet wird (vgl. Margraf, 2003). Trotzdem lassen sich einzelne Beispiele für Illustrationen ähnlich derer in diesem Buch finden. Nach einigem Suchen wurde ich beispielsweise in einem umfangreichen amerikanischen Buch (Hecker et al., 2007) fündig, das eine Illustration zur Exploration von Beziehungen insbesondere für sexuell missbrauchte Personen vorstellt (Christiansen et al., 2007). Diese Illustration ähnelt – nicht erstaunlich, da konzentrische Kreise sich anbieten – den Beziehungskreisen in diesem Buch
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
(7 Kap. 3.1.4), aber die Letzteren haben eine sehr breite Zielsetzung und eignen sich daher für alle Klientengruppen und verschiedene Therapie- oder Beratungssettings. Bei David Burns (2006, S. 342), dem renommierten amerikanischen kognitiven Verhaltenstherapeuten, findet sich z. B. »Jason’s Recovery Circle«, eine Zeichnung ähnlich dem Ursachenstern (7 Kap. 3.1.7); allerdings wird bei Burns eine einzelne dysfunktionale Kognition in den mittleren Kreis geschrieben, und die Strategien zur Umstrukturierung etc. finden sich außen herum. Die Zeichnung bei Burns illustriert das kognitive Vorgehen in der Psychotherapie, während der Inhalt des Ursachensterns ganzheitlich konzipiert ist. Im deutschsprachigen Raum verwendet die Forschergruppe um den Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun (z. B. 1981) seit langen Jahren Illustrationen zur Verdeutlichung der verschiedensten Kommunikationsprozesse. Diese Zeichnungen werden in Trainings häufig verwendet. Trotzdem fehlt m. E. zumindest im deutschsprachigen Raum eine größere Sammlung von eher psychotherapiebezogenen Zeichnungen für typische Therapie- oder Beratungssituationen. Die verschiedenen in 7 Kap. 3 vorgestellten Illustrationen können in allen Therapiephasen zur Anwendung kommen: Einige eignen sich mehr für die Anfangsphase, die Festigung der therapeutischen Beziehung und die motivationale Klärung, andere helfen bei der Problemaktualisierung, Ressourcenaktivierung oder zielen direkt auf bestimmte Formen der Problembewältigung ab (vgl. Grawe, 2005). Aus pragmatischer Sicht hat eine Illustration viele Vorteile für die Kommunikation mit dem Klienten und den Therapieprozess allgemein. Eine individualisierte Illustration kann eine oder mehrere der folgenden therapeutischen Funktionen und Zielsetzungen verfolgen: 5 Die Therapiesituation wird durch die gemeinsam entwickelte Zeichnung lebendiger, sie lockert das Gespräch auf. Dies gilt wohl für alle Illustrationen. 5 Der Prozess des Zeichnens erweckt beim Klienten besondere Aufmerksamkeit und intensives Interesse. Auch dies ist ein allgemeiner Wirkfaktor für alle Zeichnungen.
5 Illustrationen unterstützen ganz allgemein die Therapie- und Veränderungsmotivation. 5 Die Individualisierung der Illustration durch Verwendung von Bezeichnungen des Klienten bei der gemeinsamen Erarbeitung der Beschriftung fördert die aktive Mitarbeit. 5 Einige Illustrationen erzeugen und unterstützen bei den Klienten die sehr wichtige Hoffnung auf Veränderung, z. B. der Ursachenstern (7 Kap. 3.1.7). 5 Der Prozess des Zeichnens und individuellen Beschriftens zeigt, dass der Therapeut sich in intensiver Weise über die Problematik des Klienten Gedanken macht und fördert so das Vertrauen in die therapeutische Beziehung und die Fachkompetenz des Therapeuten. 5 Die Illustration stellt eine visuelle Unterstützung des Gesprächs dar und führt zu einer Konkretisierung, einem Fassbarmachen des Problems; dies wird von Klienten allgemein sehr geschätzt. 5 Förderung der aktiven Mitarbeit zwischen den Sitzungen: Manchmal werden Klienten in der Bezeichnung und Fortführung der Illustration selbst kreativ, auch ohne vorherige Aufforderung zu einer Hausaufgabe. 5 Die Zeichnung kann in Folgesitzungen gemeinsam weiter bearbeitet, ergänzt oder verändert werden. 5 Die Zeichnung dient als eine dauerhafte Gesprächsgrundlage, die einen spezifischen Namen hat und auf die man sich in späteren Sitzungen immer wieder beziehen kann, selbst wenn der Klient die Karte nicht mitgebracht hat. 5 Die Zeichnung fördert beim Klienten das Verstehen von bereits besprochenen Inhalten. 5 Die Illustrationen können Anlass für eine weiterführende Hausaufgabe sein: Sie unterstützen durch ihre Anschaulichkeit die Motivation für therapeutische Hausaufgaben, z. B. in Form von weiterer Arbeit an der Illustration selbst, kognitiver Aufarbeitung anhand der Zwei-Spalten-Technik (s. Beck, 1999) oder Protokollen dysfunktionaler Gedanken (s. Beck, 1999). 5 Illustrationen leisten eine Systematisierung und Sortierung von neuen oder zuvor bereits
1.2 • Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
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erwähnten Inhalten. Die Zeichnungen stellen außerdem (neue) Bezüge zwischen den einzelnen Elementen der Darstellung her, die therapeutische Bedeutung haben. Beispielsweise kann man bei den Beziehungskreisen (7 Kap. 3.1.4) die Art der Beziehung zu den Personen in der Zeichnung durch farbige Markierungen kennzeichnen. Manchmal bemerkt der Therapeut anhand der Besprechung einer Illustration erst, wie der Klient denkt und was er in den vorausgehenden Gesprächen vielleicht nicht verstanden hatte. Die Illustration kann neue, noch nicht bewusst ausgesprochene Inhalte bildlich zum Ausdruck bringen und so in die Diskussion einfügen. Beispiel: Die als ambivalent erlebte Motivation des Klienten wird im Rahmen der Motivationsklärung (7 Kap. 3.1.1) thematisiert, oder Lebensaufgaben (7 Kap. 3.2.6) fordern zur Überblicksperspektive bezüglich der eigenen Lebensgestaltung auf. Bei einigen Illustrationen bekommt der Klient ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, da das Problem nun fassbarer und vor allem schrittweise aktiv bearbeitbar wird; dies wäre beispielsweise ein wichtiger Wirkfaktor des Lebensbogens (7 Kap. 3.2.3). Das Produkt, also die Karteikarte im DIN-A5Format mit einer bunten Zeichnung darauf, festigt die Erinnerung an das Gesagte durch Ansprechen der visuellen Sinnesmodalität (Formen, ggf. Farben, Pfeile für Zusammenhänge etc.; vgl. Weidenmann, 1994) und durch die haptische Erfahrung, die Karte nun zu besitzen. Die in der Sitzung gemeinsam besprochene, vom Therapeuten farbig gemalte Illustration auf der Karteikarte stellt ein gemeinsames Produkt dar, das als positiv besetztes Objekt den Therapieprozess zwischen den Sitzungen unterstützen kann.
1.2.3
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Verwendung von Stuhlübungen
Stuhlübung Unter Stuhlübung wird eine emotionsfokussierte Übung unter Verwendung von ein bis vier Übungsstühlen verstanden, bei der der Klient durch Veränderung seiner Position im Raum – er sitzt auf oder steht vor oder hinter einem der Stühle – bestimmte Erfahrungen durchläuft, die sich verbal in einem Monolog (z. B. Als-ob-Stuhl, Zeitreise) oder Dialog ausdrücken. Die Dialoge betreffen die Auseinandersetzung mit eigenen inneren Anteilen (z. B. mit dem inneren Kritiker) oder mit Personen aus dem Umfeld des Klienten. Der Therapeut nimmt eine moderierende oder zusätzlich bei bestimmten Übungen eine Mitspielerfunktion ein.
Der Ausdruck Stuhlübung hat sich für die Vielfalt an Übungen bewährt, die in 7 Kap. 4 vorgestellt werden. Es handelt sich manchmal auch um Monologe des Klienten, z. B. bei der Zeitreise (7 Kap. 4.2.3) und dem Als-ob-Stuhl (7 Kap. 4.2.1), sodass der von anderen Autoren verwendete Ausdruck Stuhldialog für diese Sammlung zu eng gefasst erschien. Kellogg (2004) verwendet im amerikanischen Englisch den Ausdruck »chairwork«. Die Stuhlübungen in diesem Buch sind emotionsfokussierte Interventionen, bei denen der Therapeut die Erfahrungen des Übenden planvoll lenkt und fördert: 5 Der Klient drückt sich in Form eines Monologs aus, sitzt dabei auf einem einzelnen Stuhl oder in Folge zwei oder drei verschiedenen Stühlen und wird vom Therapeuten durch gezielte Fragen unterstützt. Die Stühle symbolisieren dabei verschiedene Aspekte des Therapiethemas, Beispiel: Zeitreise (7 Kap. 4.3.2). 5 Der Klient tritt in einen Dialog mit einem leeren Stuhl (selten: zwei Stühlen) ein, bei dem entweder eine reale Person, das jüngere Selbst des Klienten oder ein Selbstanteil, z. B. der innere Kritiker (7 Kap. 4.3.1), auf diesem Stuhl imaginiert wird. Der Therapeut etabliert die
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
Eigenschaften jeder Position sorgfältig vor Beginn der Übung und fördert den Dialog durch Ermutigung, konkrete Fragen und Vorschläge. 5 Die intuitive Position ist eine Form des Monologs, bei der der Klient hinter dem Stuhl einer realen Person steht und äußert, was diese Person wohl im Moment zu ihm sagen würde oder welche Motive die Person zu einem speziellen vergangenen Zeitpunkt bewegten. Sie wird beispielsweise bei problematischen Beziehungen zwischen Klient und Person auf dem leeren Stuhl verwendet, aber auch bei der Arbeit an Beziehungen zu verstorbenen Personen (7 Kap. 4.4.2 bis 4.4.4). Der Therapeut selbst kann bei Stuhlübungen verschiedene Funktionen und sogar Rollen einnehmen: 5 Der Therapeut ist beobachtender Interviewer und stellt Fragen, um dem Klienten bei der Entfaltung seiner Erfahrungen auf der jeweiligen Stuhlposition zu helfen. 5 Der Therapeut setzt sich schräg hinter den Klienten und ermutigt ihn durch Vorschläge gezielt in der Auseinandersetzung mit dem gegenüberliegenden Stuhl, auf dem vielleicht eine problematische Person aus der Vergangenheit oder ein ungeliebter Selbstanteil wie der innere Antreiber (7 Kap. 4.3.1) sitzt. 5 Der Therapeut übernimmt eine Rolle, z. B. die einer anderen Person, eines Selbstanteils oder des früheren Selbst des Klienten, d. h. er setzt sich auf einen der Stühle und tritt aus dieser Rolle heraus in den Dialog mit dem Klienten ein. 5 Der Therapeut stellt sich hinter den Stuhl einer imaginierten anderen Person in die intuitive Position, um aus der Perspektive dieser Person Vorschläge zu generieren, die für den Fortgang der Übung wichtig sind. Dies geschieht, wenn der Klient selbst in der intuitiven Position zuvor keine Informationen aufrufen konnte (7 Kap. 4.4.2 bis 4.4.4). Stuhlübungen sind Einzeltechniken, die im Rahmen eines bestimmten Therapieverfahrens, z. B. einer kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), eingesetzt werden können. Innerhalb einer auf KVT ba-
sierenden ambulanten Einzeltherapie kann nur eine einzige Stuhlübung einen Durchbruch bei der Aufarbeitung von zuvor vermiedenen inneren Anteilen darstellen (vgl. Falldarstellung bei Rude & Bates, 2005). Da es bei Stuhlübungen immer um das Aufrufen und Bearbeiten von bestimmten, emotional besetzten Erfahrungen geht, werden diese Techniken heute dem Bereich der emotionsfokussierten Therapie zugeordnet, deren Hauptvertreter Leslie Greenberg (z. B. 2006) ist. In der modernen KVT gehören emotionsaktivierende Interventionen verschiedener Art mittlerweile zum Standard und werden in den Ausbildungsinstituten gelehrt. Wichtiger als die Verankerung in einem speziellen Verfahren ist jedoch die Nutzung der verschiedenen Wirkfaktoren einer Stuhlübung. In Anlehnung an Grawes (2005) fünf Wirkfaktoren kann eine Stuhlübung zunächst eine kraftvolle Ressourcenaktivierung darstellen: Der Klient bekommt (wieder oder erstmalig) Zugang zu seinen positiven Eigenschaften und Fähigkeiten wie Selbstwertgefühl, Kreativität, Gelassenheit (vgl. Dick, 2007, S. 52), Intelligenz, Empathie, Durchhaltevermögen, Selbstregulation, konstruktiven Denkvorgängen, adaptiven Emotionen (die wiederum zu adaptiven Handlungen führen) etc. Einige Übungen, z. B. Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson (7 Kap. 4.4.2), haben das explizite Ziel, einen ressourcenbetonten Umgang mit sich selbst und als schwierig erlebten Personen im Umfeld zu entwickeln. Praktisch jede Stuhlübung stellt eine Problemaktualisierung dar, denn sie erzeugt eine Situation, die »Probleme erlebnismäßig« ausgestaltet (Grawe, 2005, S. 7): Der Klient erlebt in der ersten Übungsphase noch einmal genau das, was er anschließend verändern möchte, z. B. die extrem schwierige Beziehung zum verstorbenen Vater (7 Kap. 4.4.4) oder eine unerbittliche innere Stimme, die in Form des inneren Kritikers auf dem leeren Stuhl sitzt (7 Kap. 4.3.1). Die Problembewältigung wird in der Arbeit mit Stühlen in verschiedener Weise gefördert. Da es sich häufig um interaktionelle Themen handelt, zielen einige Interventionen auf die Stärkung der sozialen Kompetenz, insbesondere der Fähigkeit zur Abgrenzung und zum Abschiednehmen, ab, beispielsweise bei den Übungen Abschied und
1.2 • Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
Klärung (7 Kap. 4.4.2) und bei den Gesprächen mit Verstorbenen (7 Kap. 4.4.3 und 4.4.4). Andere Problembewältigungen bestehen im Gewinnen von innerer Klarheit bei Ambivalenz auf den Entscheidungsstühlen (7 Kap. 4.2.2) oder der Neubewertung einer vergangenen Situation im Rahmen der Zeitreise (7 Kap. 4.2.3). Wichtig ist weiterhin oft die Verbesserung der Selbstfürsorge beim Protagonisten, beispielsweise in Stuhlübungen, die Fürsorge für das frühere Ich fördern (Zeitreise, 7 Kap. 4.2.3, oder Abschied von den Eltern, 7 Kap. 4.4.2). Der Wirkfaktor der motivationalen Klärung findet sich beispielsweise in Stuhlübungen, bei denen das Einnehmen der intuitiven Position hinter dem leeren Stuhl dem Klienten erlaubt, die WarumFrage an das imaginierte Gegenüber aus sich selbst heraus zu beantworten und auf diese Weise ein besseres Verständnis für seine eigene Problematik zu gewinnen; Grawe (2005, S. 7) betont hier, »dass der Patient ein klareres Bewusstsein der Determinanten seines problematischen Erlebens und Verhaltens gewinnt«. Zusätzlich kann aus langjähriger Erfahrung heraus angemerkt werden, dass erfolgreich durchgeführte Stuhlübungen einerseits natürlich von einer bereits bestehenden, soliden therapeutischen Beziehung profitieren oder sie bei hochemotionalen Themen sogar dringend voraussetzen, dass sie aber andererseits eben diese Beziehung ihrerseits auch stark fördern und vertiefen: Der Wirkfaktor Qualität der Therapiebeziehung ist in zweifacher Hinsicht, als wünschenswerte Voraussetzung und als günstige Folge, bei diesen Interventionen beteiligt. Historisch betrachtet verwendeten zunächst Psychodramatherapeuten die »auxiliary chair technique« (Carstenson, 1955), und die Gestalttherapie von Fritz Perls ist wohl am bekanntesten für die Verwendung des »leeren Stuhls« (vgl. Staemmler, 1995; Perls, 1973/1992). Young und Kollegen (Young et al., 2003, S. 142 ff.) integrieren ebenfalls die Technik mit dem leeren Stuhl in ihr Handbuch zur Schematherapie. Kellogg (2004) gibt eine Übersicht über die moderne Verwendung von Stuhlübungen in verschiedenen Therapieschulen, z. B. der Schematherapie, der »process-experiential therapy« oder der kognitiv-behavioralen Therapie, und beschreibt auch einige therapeutische Verwendungen von Übungen, sortiert nach drei Dimensionen: In
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der »external dimension« finden sich Auseinandersetzungen mit Eltern und Missbrauchern oder der Abschied von einem Verstorbenen; in der »internal dimension« finden sich Übungen zum inneren Kritiker oder zur Auseinandersetzung mit anderen inneren Anteilen sowie eine Übung zur Entscheidungsfindung; in der »corrective dimension« tritt der Klient in einen Dialog zur Überprüfung von dysfunktionalen Kognitionen ein und argumentiert im Normalfall selbst auf beiden Stühlen, um sein Dilemma konkret zu erleben. Im Rahmen der Schematherapie kann jedoch auch der Therapeut zunächst die gesunde Rolle einnehmen (vgl. Young et al., 2003, S. 368). Dies zeigt, dass Schematherapeuten intensiv und sehr differenziert mit erlebnisaktivierenden Techniken und Hilfsmitteln wie mehreren Stühlen arbeiten. Diese kurze Darstellung soll verdeutlichen, dass Stuhlübungen von Therapeuten verschiedener Therapieschulen verwendet werden können. In diesem Buch stellt die kognitive Verhaltenstherapie den theoretischen Rahmen für die Übungen dar, was in den Praxiskapiteln bei den Vorschlägen zur Aufarbeitung einer Intervention deutlich zum Ausdruck kommen wird – es werden beispielsweise Gedankenprotokolle, Hausaufgaben in Form von Briefen oder Vorschläge für Handlungen verschiedener Art verwendet.
1.2.4
Therapeutische Funktionen von Stuhlübungen
Alle Formen des gezielten Erfahrungslernens – sei es Rollenspiel, systemische Aufstellung, Psychodrama, leerer Stuhl der Gestalttherapie – haben Vorteile gegenüber dem reinen Therapiegespräch, da Situationen zur Erlebnisaktivierung geschaffen werden. Dies wird heute von Grawe (z. B. 2005) und Greenberg (z. B. 2006) intensiv vertreten. Die dialogischen Stuhlübungen könnte man als Sonderform eines begrifflich weit gefassten Rollenspiels auffassen, da es keinen realen Gesprächspartner gibt; sobald eine reale Person, also der Therapeut oder der Teilnehmer einer Therapiegruppe, die Rolle eines Gesprächspartners innerhalb der Übung übernimmt, sobald also im Grunde zwei Stühle von Menschen besetzt sind, handelt es sich genau ge-
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
nommen um ein Rollenspiel im engeren Sinne des Wortes. Einige Stuhlübungen wie der Als-ob-Stuhl (7 Kap. 4.2.1) oder die Zeitreise (7 Kap. 4.2.3) haben allerdings monologischen Charakter, passen also überhaupt nicht unter den Oberbegriff des Rollenspiels. Stuhlübungen haben vielfältige psychotherapeutische Funktionen und Wirkweisen, denn sie bieten dem Klienten eine als sehr realitätsnah empfundene Lernsituation an. Der Protagonist scheint zu vergessen, dass es sich um eine künstlich hergestellte, oftmals sogar vollständig irreale Dialogsituation handelt, z. B. beim Gespräch mit dem inneren Kind oder mit der psychischen Störung. Im Folgenden findet sich der Versuch einer Zusammenfassung wichtiger therapeutischer Funktionen von Stuhlübungen, die zeigen soll, wie breit gefächert diese Form der erlebnisaktivierenden Arbeit in ihren Wirkungen ist: 5 Bei Stuhlübungen können verschiedene Aspekte und Dimensionen menschlichen Handelns und Empfindens zum Tragen kommen: 5 Intensiver Selbstbezug in der Arbeit mit inneren Anteilen und Arbeit an den Beziehungen zu anderen Menschen. 5 Zeitperspektiven: Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft. 5 Veränderung geschieht durch Akzeptanz oder durch gezielte Aktivität. 5 Intensive Emotionen und Erlebnisse führen zu völlig neuen Gedanken und Einsichten. 5 Sehr konkrete Alltagspläne können erstellt werden, andererseits kann der Klient auch tief greifende spirituelle Erfahrungen machen. 5 Eine sorgfältig ausgewählte Stuhlübung bringt Lebendigkeit und Aktivität in die Psychotherapiesitzung. 5 Stuhlübungen sind aufgrund der Einbeziehung mehrerer Sinnesmodalitäten (Stimme, visuelles System, kinästhetische Erfahrung) so intensiv, dass sie zu ganzheitlichen Erinnerungen führen, auf die Therapeut und Klient sich später immer wieder berufen können. 5 Diese Form der Intervention fördert und festigt die therapeutische Beziehung, was bereits in zwei Studien bestätigt werden konnte (Goldman et al., 2006; Ellison et al., 2009).
5 Stuhlübungen haben diagnostischen Wert, da der Klient sich – zum Teil erstmalig – zu bestimmten Themen überhaupt äußert; der Therapeut lernt die emotionalen Reaktionen und die Gedankenwelt des Klienten besser kennen. Dies ist sowohl in Übungen zu inneren Anteilen als auch in solchen mit realen Personen der Fall. 5 Stuhlübungen sind intensiv und sehr zeiteffizient im Hinblick auf das, was sie therapeutisch leisten können, denn sie ermöglichen eine zügige Problemaktualisierung und Problembewältigung. 5 Klienten machen innerhalb einer Stuhlübung eine intensive Selbsterfahrung – die Übung fördert daher ihre differenzierte Selbstwahrnehmung und Introspektionsfähigkeit. 5 Der Therapeut ist ein empathischer Zeuge, wenn der Klient sich seinen schmerzlichen Erfahrungen (vielleicht erstmalig) in einem Stuhldialog stellt. Je nach Situation begleitet, fördert, ermutigt und tröstet er den Klienten (7 Kap. 4.4.1 bis 4.4.4). 5 Stuhlübungen können die Schutz- und Abwehrfunktion von sekundären Emotionen, die eine Reaktion auf ein Ereignis darstellen (s. Greenberg, 2006), schnell überwinden und bieten eine Situation für die Exploration von Primäremotionen, deren Erleben dann eine psychische Veränderung möglich macht: »It is only awareness of adaptive primary emotions that promotes orientation and problem solving« (Greenberg & Bolger, 2001, S. 198). 5 Stuhlübungen beschränken vielschichtige reale Situationen oft auf das Wesentliche: Sie destillieren relevante Details aus der Komplexität des realen Lebens heraus und ermöglichen durch diese Fokussierung eine neue Erfahrung für den Protagonisten. 5 Stuhlübungen haben oft die Funktionen, komplizierte Sachverhalte zu sortieren, zusammenzufassen und zu strukturieren. Als Beispiel seien hier Klärungen mit Personen aus dem Umfeld des Klienten genannt (7 Kap. 4.4.1 bis 4.4.4). 5 Stuhlübungen stellen wichtige Interventionen in der störungsspezifischen Psychotherapie dar und haben aufdeckende sowie
1.2 • Allgemeine Überlegungen zur Verwendung von Illustrationen und Stuhlübungen
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lösungsorientierte Wirkungen, z. B. bei hoch funktionalisierten Störungen wie Anorexia nervosa, Zwangsstörung oder Agoraphobie mit Panikstörung (s. Gespräch mit der Störung, 7 Kap. 4.3.2). Stuhlübungen können auch ein bestimmtes Problemverhalten, z. B. Selbstverletzung oder Substanzmissbrauch, gezielt aufgreifen und therapeutisch zur Bearbeitung bringen (7 Kap. 4.3.2). Stuhlübungen trennen innere Zustände voneinander, wodurch der Klient eindeutige emotionale Erfahrungen machen und entsprechende kognitive Schlussfolgerungen ziehen kann. Beispiel: Im Kopf eines Klienten gibt es neben den kritischen Stimmen natürlich auch eine gesunde Stimme, eine Stimme des Genusses oder eine der Freiheitsliebe. Durch Isolation der kritischen Stimme und Verwendung des Bildes eines inneren Kritikers (7 Kap. 4.3.1), also durch die Fokussierung und Personifizierung, intensiviert sich die Erfahrung dieses Aspektes für den Klienten. Stuhlübungen bieten Gelegenheit zum Probehandeln für die reale Lebenssituation des Klienten. Der Rollenspielcharakter bei einigen dieser Interventionen trainiert gesundes Interaktionsverhalten, z. B. die Fähigkeit zur Kritik, zur Abgrenzung oder zum Ausdruck von Zuneigung oder Ärger. Stuhlübungen sind immer wieder Mittel zum Empowerment für den Klienten; er spürt seine Ressourcen und seine inneren Kräfte für die ihm gestellte Aufgabe. Der Klient kann die Opferrolle, aus der die Klärung mit schwierigen Personen bei einigen Stuhlübungen erwächst, überwinden (7 Kap. 4.4.1 bis 4.4.4). Vergangenheitsperspektive: In einer Stuhlübung kann eine belastende biografische Situation aufgearbeitet werden, z. B. bei der Zeitreise (7 Kap. 4.2.3). Vergangenheitsperspektive: Stuhlübungen bieten die Möglichkeit, die Beziehungen und Einstellungen zu verstorbenen Personen in intensiver Weise zu bearbeiten. Zukunftsperspektive: Neue oder zuvor nicht beachtete Gefühle und Gedanken können
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Lösungswege aufzeigen, wie es häufig bei den Entscheidungsstühlen passiert (7 Kap. 4.2.2). Gegenwarts- und Zukunftsperspektive: Selbstfürsorge kann gefördert und eingeübt werden, z. B. im Verlauf des Gesprächs mit dem inneren Kritiker oder in Sequenzen zum positiven Umgang mit dem jüngeren Ich. Manche Stuhlübungen, z. B. die Entscheidungsstühle, ermöglichen die konkrete Erarbeitung von Zukunftsperspektiven. In der intuitiven Position, in der der Klient hinter dem leeren Stuhl steht und sich auf mögliche Äußerungen und Motive seines imaginierten Gegenübers konzentriert, entsteht ein Perspektivenwechsel, der zur Klärung beiträgt und manchmal zu erstaunlichen Ergebnissen führt. Beispielsweise konnte eine Klientin auf diese Weise klären, warum ihre Mutter sie »nie geliebt hat«: Sie war ein unerwünschtes nachgeborenes Kind, das die Freiheit der alternden Mutter beschränkte, sie war als Kind zu schön und zu lebendig, und sie sollte es auf keinen Fall besser haben als die Mutter. Diese Erkenntnisse, obwohl negativ, entlasteten die Klientin sehr (vgl. Fallbeispiel Frau Sch., 7 Kap. 4.4.2). Oft äußern Klienten selbst nach Beendigung der Übung Erstaunen über die Inhalte des Erlebten: Sie lernen einiges über die eigenen Gefühle und Gedanken, was vorher nicht bewusst formulierbar gewesen wäre (vgl. Kihlstrom, 2008, zur modernen Auffassung von unbewussten Prozessen). Stuhlübungen locken auch sehr reservierte, eher intellektuell geprägte Klienten aus ihrer Reserve und ermöglichen ihnen wichtige emotionale Erfahrungen, die sie im Gespräch nicht machen konnten. Beispielsweise konnte Frau S., 66 Jahre, durchaus im Therapiegespräch von ihrem Missbrauch im Alter von 17 Jahren erzählen, fühlte dabei aber nichts, bis sie sich im Rahmen des Gesprächs mit dem Missbraucher (7 Kap. 4.4.1) kraftvoll äußern konnte und vor allem die langjährigen Folgen der Erfahrung in ihrem Leben thematisierte. Die starke emotionale Reaktion mit Weinen führte zwar zunächst zu ausgeprägter Erschöpfung, aber
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
auch sofort und langfristig zu deutlicher Erleichterung. Stuhlübungen bieten einen sanktionsfreien Raum für das (erstmalige) Erleben von sog. negativen Emotionen wie Hass, Wut, Abscheu oder Ekel. Diese Gefühle wurden vielleicht in der Vergangenheit aus Angst vor den Konsequenzen ihres Ausdrucks unterdrückt. Diese kathartische Funktion der Übungen entlastet die Klienten sehr. Maladaptive Emotionen (s. Greenberg, 2006), deren Eigenart eine oft über lange Zeiträume hinweg erstarrte Unveränderbarkeit ist, dürfen in der Übung geäußert werden. Das bewusste Erleben solcher verfestigter Emotionen ermöglicht überhaupt erst ihre Transformation. Beispielsweise kann mit maladaptivem Ärger gearbeitet werden, ohne die interpersonellen Beziehungen des Klienten zu belasten, oder maladaptive Scham kann durch korrektives Erleben infrage gestellt werden. Die Therapiesituation bietet die Möglichkeit zu einer unzensierten Auseinandersetzung während der Übung. Der Klient drückt Gefühle und Gedanken aus, die in der Realität so überhaupt nicht gesagt werden könnten – aus Gründen der Höflichkeit, der Schonung eines sehr alten Menschen oder weil das Gegenüber nicht verfügbar oder bereits verstorben ist. Innerhalb einer Stuhlübung kann eine negative Stimmungslage zum Teil in kurzer Zeit bewältigt werden – durch Katharsis, durch Erzeugen von neuer Klarheit, durch stellvertretende und imaginierte interaktionelle Erfahrungen etc. Selbst bei chronifizierten Problemen kann in einer Sitzung eine heilende Erfahrung eingeleitet werden: Frau K. konnte im Rahmen einer Klärung mit ihrer Mutter die Bürde der exzessiv negativen Selbstbewertungen (Symbol: ein Kissen auf dem Schoß der Klientin) an die Mutter zurückgeben, von der diese Bewertungen ursprünglich stammten. Das Problem dieser dysfunktionalen Kognitionen hatte lange bestanden, aber die Intervention ermöglichte der Klientin erstmalig, sich nach der Sitzung planvoll mit diesen extrem belastenden Kognitionen auseinanderzusetzen und auf diese Weise schrittweise eine dauerhafte
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Erleichterung zu erzeugen: »Ich gebe sie (die abwertenden Gedanken) immer wieder zurück, wie das Kissen«. Da intensive Gefühle aufgerufen werden, sind auch konkrete Veränderungsprozesse möglich, z. B. im Übergang von den Gefühlen des missachteten Kindes zur Entrüstung der erwachsenen Frau über die vergangenen Ereignisse (z. B. Abschied und Klärung, 7 Kap. 4.4.2). Heilende Erfahrungen im Umgang mit der imaginierten anderen Person, dem imaginierten Selbstanteil oder im Rahmen der Fürsorge für das jüngere Selbst sind möglich (z. B. bei der Zeitreise, 7 Kap. 4.2.3). Mehrere Stuhlübungen sind dazu geeignet, traumatische Erlebnisse aufzurufen; die Übung bekommt in diesen Fällen Expositionscharakter und fördert Akzeptanz und Integration der belastenden Ereignisse. Diese Interventionen können daher einen zentralen Platz im Rahmen einer Traumatherapie einnehmen (7 Kap. 4.4.1 zum Gespräch mit dem Missbraucher). In einzelnen Forschungsstudien zeigt sich bereits, dass Therapien, bei denen emotionsfokussierte Techniken angewendet werden, im Vergleich zu Gesprächspsychotherapie größere symptomatische Erholung bewirken (Goldman et al., 2006) und dass die Effekte auch besser beibehalten werden (Ellison et al., 2009).
Verwendung von Metaphern Metapher Bei der hier verwendeten Form der Metapher wird jeweils ein eher abstrakter Begriff oder Prozess durch einen bildlichen Ausdruck erläutert, und zwar ohne Verwendung eines Vergleichswortes. Hierzu nutzt der Sprecher eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den beiden Begriffen. Die sinnlichen Qualitäten des metaphorischen Ausdrucks erzeugen ein inneres Bild beim Hörer und somit einen bewusst gewählten Effekt. Der Hörer selbst leistet die
1.3 • Verwendung von Metaphern
Übertragungsarbeit und füllt so das Gesagte mit neuer oder vertiefter Bedeutung. Eine Allegorie kann als längere Metapher in Form einer kleinen Geschichte verstanden werden. Durch ihre bildliche Qualität ist diese Form der Metapher sehr einprägsam.
Die Verwendung einer sprachlichen Metapher wird als Therapieintervention innerhalb der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, innerhalb der humanistischen Tradition oder unter Hypnotherapeuten ausführlich reflektiert. In der kognitiven Verhaltenstherapie ist dies weniger der Fall (vgl. Kopp & Craw, 1998), aber es wäre wohl andererseits für jeden Therapeuten sehr schwierig, im Dialog mit Klienten überhaupt keine Metaphern zu verwenden. Schon ein einzelner Ausdruck wie »tiefschwarze Depression« enthält ein Bild. Viele metaphorische Wendungen reflektieren wir im Alltag kaum, aber es ist sinnvoll für den Therapeuten, einerseits die klientengenerierten Metaphern aufmerksam wahrzunehmen und andererseits möglichst bewusst mit den eigenen bildlichen Ausdrucksweisen umzugehen, denn sie haben hohe emotionale Bedeutung und Kraft. Weiterhin fördert der sorgfältige Umgang mit dieser Form von imaginativer Evokation den Rapport mit dem Klienten, indem er das Therapiegespräch intensiviert und bereichert. Eine Metapher kann in nur einem Ausdruck bestehen, wenn z. B. der Therapieverlauf als »steiler Berg« bezeichnet wird, oder sie kann eine ganze Geschichte umfassen; sie müsste im letzteren Fall genau genommen als Allegorie bezeichnet werden. Es ist immer Ziel der Metapher, ein inneres Bild oder innere Bilder beim Hörer zu erzeugen. Durch die Ähnlichkeit oder sogar Analogie der Bilder wird ein eher abstrakter Sachverhalt konkretisiert, erläutert, erweitert oder auf einen bestimmten Aspekt konzentriert. Das mental erzeugte Bild oder die Imagination hat mehr emotionale Valenz als die abstrakte Ausdrucksweise (Holmes & Mathews, 2005), was wiederum zu besserer Retention und zur Wiederverwendbarkeit des Bildes in späteren Therapiesitzungen führt.
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In der Forschung gibt es Hinweise, dass Imagination in dreifacher Weise Emotionen erzeugt und beeinflusst (s. Holmes & Mathews, 2010): 5 Die imaginierten Bilder aktivieren Gehirnareale, die auch für normale sensorische Erfahrungen zuständig sind. 5 Die Bilder erzeugen überdies eine Art innerer Wahrnehmung, die der faktischen Sinneswahrnehmung in vieler Hinsicht entspricht und den quasi-realen Charakter der Erfahrung eines inneren Bildes erklärt. 5 Weiterhin aktivieren innere Bilder durch ihren Emotionsgehalt relevante, meist ebenfalls emotional getönte Erinnerungen beim Hörer (vgl. netzwerkbasierte Erinnerungsaktivierung, 7 Kap. 1.2.1). Die inneren Bilder bleiben überdies aufgrund ihres ganzheitlichen Charakters besser in der Erinnerung als Informationen, die in rein propositionaler Form, ohne bildlichen Gehalt, präsentiert wurden. Diese Formen der bildhaften Beeinflussung von inneren Prozessen können für das Individuum sowohl positiv als auch negativ sein, und sie können willentlich oder unwillkürlich geschehen – man denke nur an die extrem belastenden inneren Bilder oder Intrusionen von traumatisierten Menschen, deren reale Ursprünge sich ungewollt tief ins Gedächtnis eingeprägt haben und deren Flashback-Bilder auch nach vielen Jahren schwer zu löschen sind. In der Psychotherapie versuchen wir nun, gezielt positive und nützliche innere Bilder zu erzeugen, um dem Klienten etwas Wichtiges mitzuteilen. Wir überlassen ihm bei der Verwendung einer Metapher in den meisten Fällen selbst die Verantwortung für die Transferleistung in seine eigene Erlebniswelt – er muss geistig aktiv werden, er muss sich bereits beim Zuhören innerlich engagieren, um die Metapher zu decodieren. Im Allgemeinen sind innere Bilder stärker als abstrakte Sprache dazu in der Lage, emotionale Reaktionen zu evozieren (Holmes & Mathews, 2005), mit denen dann in der Psychotherapie gearbeitet werden kann. Eine bewusst eingesetzte Metapher hat daher den Status einer (kleinen) therapeutischen Intervention. Die in 7 Kap. 5 präsentierten Metaphern wurden vielfach erprobt
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Kapitel 1 • Einführung und allgemeine Überlegungen
und passen auf bestimmte, häufig in der Psychotherapie vorkommende Situationen. z
Mit Online Material
Auf der Website www.s-hedlund.de finden Sie kostenfrei Video-Beispiele von Stuhlübungen und Kurzfassungen von Illustrationen.
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Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
S. Hedlund, Mit Stift und Stuhl, DOI 10.1007/978-3-642-05064-0_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 2 • Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
Wer kann die Illustrationen und die Stuhlübungen verwenden?
Personengruppen, die psychotherapeutisch tätig sind, also Psychologinnen, Ärzte, Heilpraktiker sowie Kinder- und Jugendlichentherapeuten, stellen die zentrale Zielgruppe dieses Buches dar. Zusätzlich finden Personen in beratenden Funktionen wie der Coach, Lebensberater, Trainer oder Betriebsrat viele Anregungen für die visuelle und übungsorientierte Arbeit mit ihren Klienten. Sowohl die Illustrationen als auch die Stuhlübungen sind nach Komplexität und Schwierigkeit der Anwendung geordnet, jedoch nicht nach ihren Inhalten und Anwendungsbereichen. Wenn der Anwender noch keine eigenen Erfahrungen mit übenden Verfahren sammeln konnte, dann ist es günstig, bei den Stuhlübungen zunächst die etwas weniger vielschichtigen Übungen auf Ebene 1 zu erproben, bei denen eine positive Erfahrung für den Klienten fast garantiert werden kann. Dies wäre beispielsweise der Fall bei den Entscheidungsstühlen (7 Kap. 4.2.2) oder bei der Zeitreise (7 Kap. 4.2.3). z
Warum wird ein so ausführliches Format für die Übungsbeschreibungen verwendet?
Alle Interventionen werden aus zwei Gründen sehr ausführlich und zum Teil in Form von systematischen, schrittweisen Anleitungen beschrieben: Zum einen handelt es sich um erprobte Übungen, die der Leser am besten zunächst einmal in genau dieser Form verwenden sollte, bevor eigene Abwandlungen zur Anwendung kommen. Auf diese Weise besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Intervention erfolgreich verläuft. Zum anderen wendet sich das Buch nicht nur an erfahrene Psychotherapeuten und Berater, sondern auch an Berufsanfänger, die jeden Schritt der jeweiligen Intervention im Einzelnen nachvollziehen müssen. Diese Notwendigkeit der expliziten und punktuell sogar wörtlichen Vermittlung von kraftvollen Interventionen wie Stuhlübungen ergibt sich aus den Rückmeldungen von Teilnehmern an zahlreichen Supervisionssitzungen und Workshops. Gleichzeitig hoffe ich, dass auch die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit schätzen, einer langjährig tätigen Therapeutin über die Schulter zu schauen; diese Gelegenheit bietet sich
im psychotherapeutischen Alltag von approbierten Psychotherapeuten oder Beratern sehr selten. z
Warum werden ähnliche Interventionen jeweils sehr ausführlich beschrieben?
Die meisten Leserinnen und Leser werden nur ausgewählte Kapitel dieses Buches lesen. Aus diesem Grund wurde darauf geachtet, dass die Beschreibungen in sich geschlossen und möglichst vollständig sind – mit Ausnahme des Kommunikationsdiagramms (7 Kap. 3.2.5), bei dem es sich um eine Variante des Schicksalsdiagramms handelt. Außerdem stellen ähnliche Beschreibungen der Vorgehensweise bei verschiedenen Übungen sinnvolle Formen der Wiederholung dar, die dem Leser den allgemeinen Stil und die Denkweise für die Durchführung dieser Interventionen näher bringen. z
Wie kann man sich diese zum Teil komplexen Interventionen aneignen?
Es handelt sich in 7 Kap. 3 um insgesamt 15 Illustrationen und in 7 Kap. 4 um zehn Stuhlübungen in neun Abschnitten, denn zwei Übungen sind so ähnlich, dass sie kombiniert vorgestellt werden (7 Kap. 4.4.2, Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson). Die Vielzahl der Techniken macht eine Auswahl nötig, um sie sich schrittweise anzueignen. Man könnte sich vielleicht zwei Illustrationen und zwei Stuhlübungen sorgfältig einprägen und diese dann einige Zeit immer wieder verwenden, Erfahrungen damit sammeln und die Durchführung anhand erneuter Lektüre der Beschreibungen korrigieren. Anschließend kann man weitere Übungen ins Auge fassen. Andererseits ist der Anlass für die Auswahl einer Illustration oder Stuhlübung immer das Gespräch mit dem Klienten, und man könnte sich angewöhnen, vor der nächsten Sitzung mit einem Klienten die jeweils geeignete Technik im Buch nachzulesen, um sie dann anzuwenden. Es ist auch günstig, nach dem Lesen eines Abschnitts immer wieder zu überlegen, mit welchen früheren Klienten Sie diese Intervention hätten durchführen können und warum sie gepasst hätte: Auf diese Weise trainieren Sie die Indikationsstellung für die verschiedenen Illustrationen und Stuhlübungen. Grundsätzlich wird empfohlen, insbesondere bei Stuhlübungen zu Beginn möglichst genau die hier
Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
beschriebenen Schritte einzuhalten, um erste eigene Erfahrungen zu sammeln und sich in diesem Prozess auf bewährte Abläufe zu stützen. Sinnvolle Abwandlungen ergeben sich dann möglicherweise bei häufiger Verwendung der Übungen. z
Haben diese Interventionen auch einen Platz in nichtklinischen Beratungen?
Nicht nur in der therapeutischen Arbeit, sondern auch im Coaching und bei anderen Beratungstätigkeiten stellen Zeichnungen und erlebnisaktivierende Übungen eine willkommene Belebung der Sitzung dar. Die Verwendung der Illustrationen, die nicht an klinische Störungsbilder gebunden sind, verfolgt in der Beratung meist die gleichen Ziele wie in der Psychotherapie – das Themengebiet wird präzisiert, erläutert, erweitert, und die Zeichnung ermöglicht dem Klienten ein besseres Verständnis von gewissen Inhalten und Prozessen. Die Emotionsaktivierung einer Stuhlübung, die Möglichkeiten des Perspektivenwechsels und viele andere Funktionen solcher Übungen führen zu neuen Einsichten und oftmals zu schneller Zielerreichung in Bezug auf die Gestaltung von beruflichen Interaktionen oder Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen im Arbeitskontext. Dem Coach oder Berater wird die Anwendung von einigen der hier vorgestellten Stuhlübungen daher sehr empfohlen. Sogar die intensiveren Übungen, z. B. Abschied von den Eltern (7 Kap. 4.4.2), können angeglichen werden und unter anderer Benennung im Coaching zum Einsatz kommen, wenn eine inhaltliche Analogie besteht. In den jeweiligen Kapiteln werden immer wieder Hinweise auf die Verwendung der Übungen in nichtklinischen Beratungssituationen gegeben. Da eine berufliche Beratung oder ein Coaching oft nicht in die sehr persönlichen Erlebnisbereiche der Klienten führt, sondern eher berufsspezifisch bleibt, sind Sicherheitsüberlegungen wie bei psychisch kranken Menschen in Bezug auf die Teilnahme am Straßenverkehr nach der Sitzung oder in Bezug auf sinnvolles oder dysfunktionales Bewältigungsverhalten zwischen den Treffen nicht so wichtig; allerdings kann auch bei Coachingklienten nach einer intensiven Sitzung die Aufforderung zu einer kurzen Reflexionspause zweckmäßig sein.
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Bedeutet der Einsatz von Stuhlübungen im Coaching einen Übergang zur Psychotherapie?
Der Begriff Coaching wird hier im Sinne von Beratung eines Klienten aus rein beruflichem Anlass definiert, die durch eine fachlich ausgewiesene Person durchgeführt wird (vgl. Schreyögg, 2003), in Abgrenzung zum Mitarbeitercoaching durch den eigenen Chef. Im Coaching findet keinesfalls automatisch der Übergang zur Psychotherapie statt, auch wenn der Coach über die entsprechende Ausbildung verfügen sollte. Eine Stuhlübung aus beruflichem Anlass, z. B. zur Klärung eines interpersonellen Konflikts, wird sich meistens auch auf diesen Themenkreis beschränken. Andererseits kann eine emotionsfokussierte Übung für den Coachingklienten durchaus zu psychotherapienahen Themen hinführen. Hier muss der Coach oder Berater für sich entscheiden, wie weit er im Einzelfall auch intrapsychische Prozesse seines Klienten gezielt bearbeiten kann und möchte – und ob hierfür überhaupt das Einverständnis des Klienten und die vertragsmäßige Basis besteht; wenn z. B. ein Unternehmen das Coaching bezahlt, muss sorgsam zwischen auftragsrelevanten und letztlich rein persönlichen Anliegen getrennt werden. Die Erfahrung im Coaching zeigt, dass bei Problemen in beruflichen Interaktionen immer wieder Übertragungsphänomene auftreten, die sich anhand von irrationalen Einschätzungen, Hoffnungen und Ängsten oder von übertrieben emotionalen Reaktionen in bestimmten Situationen zeigen. Eine solche Situation kann durch gezielte psychologische Aufarbeitung der Übertragung gelöst werden, womit sich diese Arbeit an der Schnittstelle zur Psychotherapie befände. Das Beispiel für dieses Kapitel (s. unten) greift diesen Sachverhalt auf; es entstammt einer Therapiegruppe zur Stressbewältigung am Arbeitsplatz (Hillert et al., 2007), hat hauptsächlich beratenden Charakter und könnte gut im Rahmen einer Coachingsitzung stattfinden. Es fand keine psychotherapeutische Aufarbeitung der familiär bedingten Hoffnungen an die Fürsorge des beruflichen Umfelds statt, sondern nur eine Bewusstmachung dieser Vermischung von Erwartungen.
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Kapitel 2 • Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
Besonders interpersonelle Konflikte im Berufsleben, z. B. bei der Zusammenarbeit von Teams, werfen oft psychologische Themen wie Dominanz, Autorität, Führung, Unterwerfung, Rivalität etc. auf. Wenn der Coachingklient in seinem Bericht oder in der Stuhlübung bereits ein hohes Maß an Irrationalität erkennen lässt, dann ist es durchaus wahrscheinlich, dass sein Erlebensmuster einer früheren Lebenszeit entstammt und in der jetzigen Situation wahrscheinlich nicht mehr angemessen ist. Beispielsweise ist in den Übungssequenzen zu interpersonellen Konflikten mit Chefs immer wieder die Vater- oder Elternproblematik anzutreffen. Hier treten nicht nur negative Übertragungen mit Grundgefühlen von Angst oder Aggression auf, sondern auch sehr positive, die sich in Form von zu hohen oder zu persönlichen Erwartungen an die Unterstützung durch eine Führungskraft äußern können. Andererseits werden die Kollegen im Team vielleicht ähnlich wie Geschwister wahrgenommen, wo Themen wie Kooperation und Konkurrenz ebenso erscheinen wie ein mehr oder weniger subtiles Gerangel um die Gunst der Autoritätsperson. Diese inneren, oft halb bewussten Prozesse kosten das Individuum viel Energie und erzeugen im Arbeitsablauf eines Teams unnötige Reibungsverluste. Wenn solche Überlagerungen mit Erlebnisweisen aus der Vergangenheit beispielsweise in einer Stuhlübung aufgedeckt wurden, kann die Arbeitssituation entlastet werden, sobald der Klient die implizit auftretenden Geschwisterthemen bewältigt hat. Es kann sein, dass der Klient nach einer Sitzung mit relativ therapeutischem Charakter unter einer gewissen psychischen Belastung steht, die vom Coach berücksichtigt werden sollte. Eine Überweisung zu einem Psychotherapeuten kann immer dann sinnvoll sein, wenn es sich um zentrale persönliche Themen des Coachingklienten handelt, die den Rahmen einer beruflich motivierten Beratung sprengen würden. Frau F. ist Mitte 20 und seit drei Jahren als Sachbearbeiterin in einer mittelständischen Firma tätig. Als der Chef ihr in einer sachlichen Frage nicht zustimmt und den Vorschlag einer Teamkollegin bevorzugt, reagiert Frau F. mit einem der Sache nicht mehr angemessenen emotionalen Einbruch
und starkem Kränkungserleben. In einer Stuhlübung kann mithilfe der intuitiven Position hinter dem eigenen Gesprächsstuhl (Ziel: »Was ich ihm eigentlich im Klartext gerne sagen würde«) geklärt werden, dass Frau F. ihre Wünsche nach positiver familiärer Anerkennung auf ihren Chef übertragen hatte und das Team in geschwisterlicher Weise wahrnahm. In der intuitiven Position hinter dem Chef-Stuhl erlebte die Klientin selbst, wie verwirrend und unangebracht dem Chef ihr Verhalten erscheinen musste. Nach der Übung erhielt die Protagonistin Rückmeldung der Gruppenteilnehmer zu dieser Vermischung ihrer Erwartungen. Sie konnte am Ende eine bessere Differenzierung zwischen Familie und Arbeitsplatz erzielen und so einen höheren Grad an Professionalität entwickeln. In einer Wiederholung der Stuhlübung äußerte sich Frau F. gegenüber dem Chef anschließend distanzierter und in adäquater Weise professionell.
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In welchen Settings können Illustrationen und Stuhlübungen eingesetzt werden?
Gerade in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen oder Menschen in Krisen tragen die Therapeutinnen und Therapeuten eine sehr hohe Verantwortung. Im stationären Setting einer psychosomatischen Klinik kann man durchaus eine kraftvolle Intervention wählen, selbst wenn der Klient noch in gewissem Maße psychisch beeinträchtigt ist, da therapeutische Auffangsysteme in Form eines diensthabenden Arztes und pflegerischer Betreuung rund um die Uhr verfügbar sind. Im ambulanten Bereich ist dies anders – manche Stuhlübungen sind bei einigen Klienten tranceinduzierend, auch wenn formal keine Trance eingeleitet wurde. Sie erzeugen intensive Gefühle und gelegentlich auch vorübergehende emotionale Destabilisierungen. Trotzdem sollten sich die Klienten aber am Ende der ambulanten Therapiesitzung möglichst in einem emotional günstigen Zustand befinden. Dies hat zwei Gründe: Ambulante Klienten müssen im Normalfall nach der Therapiesitzung in der Lage sein, sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen und ggf. sofort Auto zu fahren. Wenn dies infrage steht, sollte der Therapeut eine Warnung aussprechen und den Klienten dazu auffordern, sich eine Pause zu gönnen, z. B. einen klei-
Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
nen Spaziergang um den Häuserblock einzulegen oder sich einige Zeit in ein Café zu setzen, bevor er in sein Auto steigt. Der zweite Grund ist motivational: Die Erfahrung von sehr aversiven Gefühlen ohne Lösung am Ende einer Beratungs- oder Therapiesitzung kann definitiv nicht als besonders motivierend eingestuft werden. Der Klient verlässt vielleicht die Sitzung unter dem Eindruck einer großen psychischen Belastung und nimmt daher die Termine mit dem Therapeuten oder Berater nicht (mehr) als Hilfe und Ressource wahr – er kommt im schlimmsten Fall vielleicht aus diesem Grund gar nicht mehr zur nächsten Sitzung. Diese Situation sollte möglichst vermieden werden. z
Sollten meine Klientinnen und Klienten dieses Buch auch lesen?
Nein, denn dies ist kein Selbsthilfebuch. Von der Empfehlung an die Klienten, sich dieses Buch zu kaufen, wird deshalb abgeraten. Bestenfalls ist dieser Schritt unnütz, schlimmstenfalls behindert er den inneren Prozess der Klientinnen und Klienten. Der Prozess der Leitung einer therapeutischen Sitzung erfordert beim Therapeuten eine kontinuierliche Integration von eigenen gefühlsmäßigen und intuitiven Prozessen mit dem intellektuellen Fachwissen über den Therapieprozess. Alle professionellen Berater und Psychotherapeuten kennen diese innere Zweigleisigkeit von konkreten Äußerungen zum Klienten einerseits und der gleichzeitigen gedanklichen Überprüfung andererseits: Wo stehen wir in der Psychotherapie/Beratung? Führt diese Frage oder Aussage einen Schritt weiter? Erreicht meine Formulierung den Klienten? Dieses Buch bemüht sich daher, für den professionellen Leser beide Aspekte zu berücksichtigen – den Kontaktaspekt der Intuition für die Emotionen und den inneren Prozess des Klienten sowie den Reflexionsaspekt der inneren intellektuellen Überlegungen für die professionelle Durchführung einer Intervention. Ganz anders ist es beim Klienten, der während der Stuhlübung seine intellektuelle Reflexionsebene zunächst ganz aufgeben und sich dem Erleben einer bestimmten Rolle überlassen sollte. Wenn der Klient sich nun gleichzeitig auch auf intellektueller Ebene von den ihm angebotenen Übungen
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ein genaues Bild machen möchte, indem er die Anleitungen in diesem Buch studiert, kann dies den intendierten Effekt der Erlebnisaktivierung bei Stuhlübungen überlagern, vermindern oder sogar gänzlich zunichtemachen. Auch die Illustrationen sollten dem Klienten möglichst nicht vor ihrem individuellen Einsatz bekannt sein, da auch hier die erste gemeinsame Erarbeitung die zentrale Erfahrung darstellt. Durch eine theoretische Vorbereitung einer Illustration oder Stuhlübung wird die primäre emotionale Ansprechbarkeit der Klienten von reflektierenden Gedanken verdrängt, z. B.: »Macht mein Therapeut das richtig? Welche Übung ist das jetzt? Was sollte ich hier fühlen? Funktioniert das auch in meinem Fall?« Eine solche intellektuelle Analyse der Therapie- oder Beratungssituation lenkt die Klienten von ihrem eigenen inneren Prozess ab, sodass sie möglicherweise die Chance verpassen, sich in einer gewissen Naivität und Frische in das Erleben der verschiedenen Stuhlpositionen oder in die neuen Einsichten beim Erstellen einer Illustration hineinzubegeben. z
Was passiert, wenn eine Stuhlübung nicht vollständig angeleitet wurde?
Es geht bei der Anleitung einer Stuhlübung nicht darum, alles richtig oder perfekt zu machen. In Supervisionsvideos solcher Interventionen zeigte sich, dass auch eine formal nicht perfekt angeleitete Stuhlübung oft überaus erfolgreich ist, weil der Klient die Intervention intuitiv gut erfasst, experimentierfreudig ist und sich sofort auf die verschiedenen Stuhlpositionen emotional einlassen kann. z
Für welche Klienten sind die Illustrationen und Stuhlübungen geeignet?
Die für eine nichtklinische Beratung geeigneten Interventionen können mit allen Klienten zum Einsatz kommen – Überlegungen zur Absicherung dieser hoffentlich psychisch überwiegend gesunden Personen sind nicht notwendig. In der klinischen Arbeit müssen jedoch insbesondere für die Stuhlübungen einige Ausschlusskriterien und Vorsichtsmaßnahmen gelten, die in 7 Kap. 4 ausführlich erörtert werden. Illustrationen sind weniger emotional fordernd und können daher breit ange-
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Kapitel 2 • Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
wendet werden, mit Ausnahme des Traumamodells (7 Kap. 3.2.2).
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Wie alt sollten die Personen sein, die an den Interventionen teilnehmen?
Interventionen mit Illustrationen sind im Allgemeinen gut geeignet für jüngere Klienten. In diesem Buch finden Sie eher intellektuelle, z. T. abstrakte und komplexe Gesprächshilfen, die für einen Personenkreis ab etwa 16 Jahren erstellt wurden; wahrscheinlich kann der erfahrene Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut jedoch passende Abwandlungen einiger Illustrationen für sehr junge Klientinnen und Klienten entwickeln. Die Stuhlübungen wurden ebenfalls mit Klienten ab 16 Jahren erprobt und für geeignet befunden. Bei Klienten unter 25 Jahren sind die Übungen sogar besonders gut verwendbar, da jüngeren Menschen das spielerische Element leichter fällt und sie sich überdies schnell in die Emotionalität der Rollen einfinden. Inwiefern Personen über 65 oder 70 Jahre überhaupt noch Stuhlübungen machen wollen und emotional dazu in der Lage sind, hängt sehr vom Individuum und der allgemeinen Zielsetzung der Psychotherapie mit dieser Person ab. Auch hier sollte gelten: Es ist immer sinnvoll, eine Stuhlübung anzubieten und dem Klienten die Möglichkeit dieser Erfahrung zu geben. Wenn eine Stuhlübung gar nicht funktioniert, weil dem älteren oder sehr ängstlich-zwanghaften Klienten vielleicht der emotionale Zugang zu den verschiedenen Positionen oder das erlebnismäßige Umschwenken von Stuhl zu Stuhl nicht gelingt, ist das in den meisten Fällen auch nicht schädlich (7 Kap. 4.1). z
Sollte der Therapeut sich Stichwortkarten zum Ablauf einer Intervention mit Illustrationen oder einer Stuhlübung zurechtlegen, um nichts zu vergessen?
Generell ist dies bei planbaren Übungen mit Illustrationen oder Stühlen, die zum ersten Mal durchgeführt werden, eine gute Idee, um das Ablaufschema oder gezielte Einzelfragen vor Augen zu haben und günstige therapeutische Momente gezielt zu nutzen. Das Hantieren mit den Karten kann jedoch ein wenig förmlich und ungeschickt wirken. Außerdem könnte der Klient den Eindruck
bekommen, er werde in ein bestehendes Schema hineingepresst; er fühlt sich dadurch möglicherweise beeinträchtigt. Immerhin gibt der Therapeut ja durch das Benutzen der Stichwortkarte zu, dass er den Ablauf der Übung in diesem Moment nicht frei gestaltet. Als längerfristiges Ziel ist es daher sehr wünschenswert, sich die flexible therapeutische Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen ohne Stichwortkarten anzueignen. Diejenigen Interventionen, die dem Leser gefallen und gut in seinen Arbeitsbereich hineinpassen, könnten nach und nach zum jederzeit frei verfügbaren Repertoire hinzugefügt werden. z
Ist der Einsatz von Illustrationen und Stuhlübungen auch für Gruppenprozesse geeignet?
Fast alle Stuhlübungen und viele komplexe Illustrationen wurden bereits im Kontext von verhaltenstherapeutischen Therapiegruppen und themenzentrierten Gruppen zur Stressbewältigung (diese Gruppe enthält multiple Coachingsequenzen, vgl. Hillert et al., 2007) erfolgreich angewendet. Das Schicksalsdiagramm (7 Kap. 3.2.4) erzeugt beispielsweise eine adäquate Nachdenklichkeit in einer Therapiegruppe und bietet eine gute Grundlage für eine Plenumdiskussion. Die Motivationsklärung (7 Kap. 3.1.1) kann nicht nur im Einzelgespräch, sondern bei gestörten therapeutischen Prozessen auch in der Gruppe angewendet werden, sobald der Therapeut das Gefühl bekommt, selbst außerhalb der von der Gruppe intendierten Prozesse zu stehen. Es gibt verschiedene Formen der Einbeziehung von Gruppenmitgliedern, und die Rückmeldungen aller Teilnehmer für Stuhlübungen waren im stationären psychosomatischen Setting immer sehr positiv – die Teilnehmer konnten oft aktiv zum Prozess des Protagonisten, also der Person, die gerade im Mittelpunkt steht, beitragen und ihm wichtige Unterstützung leisten. Meist entsteht sowohl bei den Gruppentherapeuten als auch bei den Teilnehmenden nach solchen Sitzungen der Eindruck, dass gerade Wichtiges für den Protagonisten und auch für einige Zuschauer passiert ist. In der abschließenden Gruppendiskussion melden daher oft andere Teilnehmer ihren persönlichen Bedarf an einer ähnlichen, auf sie persönlich zugeschnit-
Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
tenen Stuhlübung für die nächste Sitzung an: »Ich möchte nächstes Mal gerne mit meiner eigenen psychischen Störung sprechen« (7 Kap. 4.3.2, Gespräch mit der Störung). Bei den Übungsbeschreibungen in 7 Kap. 4 finden sich jeweils detaillierte Hinweise auf die Möglichkeiten der Einbeziehung von Gruppenteilnehmern. Nach unserer Erfahrung ist es zudem sehr günstig, wenn zwei Therapeuten während der Übung im Raum sind, denn emotional aufreibende Übungen wie Abschied von den Eltern (7 Kap. 4.4.2) o. Ä. können auch bei zuschauenden Gruppenteilnehmern intensive Gefühle auslösen. In diesem Fall würde ein Therapeut die Übung federführend anleiten, während der andere ggf. kurze Kriseninterventionen durchführt, z. B. sich um eine stark weinende Gruppenteilnehmerin kümmert oder jemanden davon abhält, den Gruppenraum überstürzt zu verlassen. z
Zu welchem Zeitpunkt im Therapie- oder Beratungsverlauf sind diese Interventionen einsetzbar?
Illustrationen, möglicherweise auch schon eine einfache Stuhlübung, könnten beim Coaching bereits ab der ersten Stunde eingesetzt werden, zumal der Coach oft insgesamt nur wenige Kontakte mit seinen Klienten hat und Doppelstunden üblich sind. Bei der Psychotherapie können Illustrationen ebenfalls sofort eingesetzt werden – gleich nach Diagnostik, Biografieerhebung und erstem Beziehungsaufbau. Ähnliches gilt für die erlebnisorientierte Arbeit mit Stühlen, die bei geeigneten Themen und Klienten auch frühzeitig eingesetzt werden können. Wieder einmal zählt letztlich die Erfahrung und Menschenkenntnis eines Therapeuten für diese Entscheidung: Der Therapeut oder Berater muss wissen, wen er vor sich hat, wie belastbar dieser Mensch ist, wie viele relevante Vorerfahrungen vorhanden sind und welche Intensität für diese Persönlichkeitsstruktur und für die gewählte Zielsetzung zum gegebenen Zeitpunkt angemessen ist. Die einfacheren Stuhlübungen wie der Als-obStuhl (7 Kap. 4.2.1) oder die Entscheidungsstühle (7 Kap. 4.2.2) können gut als einführende Übungen dienen, während sich die intensiveren Übungen, bei denen oft tiefe emotionale Verletzungen aktualisiert werden, erfahrungsgemäß eher für die späte-
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ren Therapiephasen eignen. Der Versuch, die Stuhlübungen in hierarchische Ebenen der Komplexität und der emotionalen Belastung einzuteilen (vgl. Einleitung zu 7 Kap. 4), mag einen zusätzlichen Hinweis für die Therapiephase darstellen: Man verwendet im Therapieverlauf vielleicht schon in der Anfangsphase den Als-ob-Stuhl, um Ressourcen zu aktivieren, würde aber erst in einer späteren Therapiephase den Abschied von den Eltern (7 Kap. 4.4.2) gestalten oder die kraftvolle Abgrenzung von einem Missbraucher (7 Kap. 4.4.1) aus der Jugend moderieren. z
Aus welchen Verfahren wurden die Illustrationen und Stuhlübungen abgeleitet?
Diese Zusammenstellung von Illustrationen und Stuhlübungen ist im Ansatz der kognitiven Verhaltenstherapie verpflichtet, einem Verfahren, bei dem der Einsatz von erläuternden Zeichnungen und insbesondere von erlebnisorientierten Übungen seit vielen Jahren zum Standard gehört. Im Stil greifen die Illustrationen am ehesten auf didaktische Konzepte der Veranschaulichung in der Pädagogik und im Seminarwesen zurück, während die ersten Stuhlübungen aus den klassischen Verfahren wie Gestalttherapie und Psychodrama erwachsen sind und überdies z. B. in der Verwendung des Übertragungsbegriffs der analytischen Psychotherapie verpflichtet sind (7 Kap. 1). Inhaltlich ist zu hoffen, dass viele der hier vorgestellten Illustrationen und Übungen auch in den anderen Therapieverfahren einen sinnvollen Platz erhalten werden. z
Wie wird eine Stuhlübung verhaltenstherapeutisch aufgearbeitet?
Im Rahmen einer systematisch konzipierten ambulanten kognitiven Verhaltenstherapie über 25, 40 oder mehr Einzelsitzungen bzw. im stationären Setting einer psychiatrischen oder psychosomatischen Klinik wird zusätzlich zur Emotionsaktivierung die kognitive Aufarbeitung in vielen Fällen empfohlen. Auf diese Weise bleibt die emotionale Erfahrung innerhalb der Therapiesitzung kein singulär kathartisches Erlebnis, denn kognitive Techniken wie die Zweispaltentechnik oder das Protokoll dysfunktionaler Gedanken (s. Beck, 1999) fördern die breitere Verarbeitung des Erlebten und damit die dauerhafte Veränderung, die intendiert ist.
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Kapitel 2 • Wichtige Anwendungshinweise für die Arbeit mit Illustrationen und Stuhlübungen
Auch ein formloses Therapietagebuch eignet sich für manche Klienten gut zum Festhalten der Gedanken und Gefühle aus der Übung und zur Entwicklung der eigenen Rückschlüsse daraus für den Alltag. Bei jeder Form der Aufarbeitung ist es sinnvoll, dass der Klient die schriftliche Fixierung seiner Erlebnisse zwischen den Sitzungen gut akzeptieren kann. Diese Strategien wirken dem Vergessen und den häufig unterschätzten Kräften der langjährig eingeübten dysfunktionalen Erlebnisgewohnheiten gezielt entgegen. In 7 Kap. 4 werden erprobte Formen der Aufarbeitung für die jeweiligen Stuhlübungen beschrieben. Es gibt ab und zu jedoch Klienten, für die sind schriftliche Arbeiten aufgrund von fehlenden Kenntnissen der Rechtschreibung stark schambesetzt und meist mit Erinnerungen an Schulstress in der Jugend verbunden. Sie lehnen schriftliche Aufzeichnungen deshalb grundsätzlich ab. Im Umgang mit diesen Klienten empfiehlt sich eher die mündliche Nachbesprechung am Ende der Übungssitzung und in späteren Sitzungen. Zusätzlich kann der Therapeut selbst schriftlich auf einer Karteikarte die wesentlichen Schlussfolgerungen, die er gemeinsam mit dem Klienten im Gespräch erarbeitet hat, festhalten. Auf diese Weise erhält auch der Klient mit Schreibhemmungen eine schriftliche Unterlage für seine Therapiemappe und zur späteren Bezugnahme. In der Folgesitzung direkt nach einer intensiven Übung sollte grundsätzlich nochmals ausführliche Rückschau gehalten werden, da der Klient bis dahin im Normalfall bereits einige Tage zur emotionalen und kognitiven Verwertung des Erlebten hatte. Der Therapeut gewinnt auf diese Weise einen guten Einblick in die psychische Verarbeitungsweise seiner Klienten – die histrionisch akzentuierten Persönlichkeiten werden z. B. intensive Erfahrungen aus einem Stuhldialog ganz anders nutzen als zwanghafte Menschen. Im Gespräch über die Effekte der Stuhlübung und die Schlussfolgerungen des Klienten bekommt der Berater oder Therapeut außerdem nochmals die Gelegenheit, den intendierten Effekt der jeweiligen Übung mit dem Klienten zu erörtern und mögliche Fehlwahrnehmungen oder ungünstige Schlussfolgerungen zu korrigieren.
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Sollte man ein Video von einer Stuhlübung für die weitere Arbeit mit den Klienten anfertigen?
Einerseits kann es sehr aufschlussreich sein, gemeinsam mit dem Klienten das Video einer intensiven emotionsaktivierenden Übung anzuschauen, zumal eine solch objektive Gesprächsgrundlage keine Erinnerungsfehler hinsichtlich der Dialoginhalte zulässt. Andererseits kann die laufende Kamera den inneren Prozess des Klienten sehr stören, und es ist im therapeutischen Alltag meist zu aufwendig, ständig so viele Therapievideos zu produzieren, dass der Klient sich bereits an die Kamera gewöhnt hat. Zusätzlich stehen Aufwand und Nutzen wahrscheinlich in keinem guten Verhältnis zueinander. Viel wichtiger ist die eigenständige oder angeleitete Aufarbeitung der Stuhlübung durch den Klienten zwischen den Sitzungen, die eine psychische Integrationsleistung darstellt – der Klient macht sich die Erfahrung auf intellektueller und emotionaler Ebene zu eigen. Für angehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Supervision sind Videos von Stuhlübungen natürlich sehr nützlich; sie sollten in der Einzel- und Gruppensupervision häufig vorgezeigt und gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen diskutiert werden.
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Illustrationen 3.1
Einfache Illustrationen – 29
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6
Aufforderung zur Kooperation: Die Motivationsklärung – 30 Erwartungen reflektieren: Die Erwartungsskala – 32 Schonung und Stress: Das Burnout-Diagramm – 35 Menschen und Nähe: Beziehungskreise – 36 Gedanken und Einstellungen: Das Gedankennetz – 40 Belastende Komorbidität: Verzahnte Krankheiten oder Verhaltensweisen – 42 Multikausales Modell: Der Ursachenstern – 43 Krankheitsnutzen: Das Funktionsmodell – 47
3.1.7 3.1.8
3.2
Komplexere Illustrationen – 49
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7
Eigenlobmodell: Der Kopffüßler – 49 Traumamodell: Die Mauer im Kopf – 51 Latente Suizidalität: Der Lebensbogen – 55 Kontrolle und Akzeptanz: Das Schicksalsdiagramm – 57 Respekt gegenüber anderen: Das Kommunikationsdiagramm – 60 Existenzielle Klärungen: Lebensaufgaben – 61 Vertiefung und Integration: Die Glückspyramide – 62
S. Hedlund, Mit Stift und Stuhl, DOI 10.1007/978-3-642-05064-0_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 3 • Illustrationen
Die Verwendung von Illustrationen, also von einfachen, farbigen und individuell beschrifteten Zeichnungen auf einer Karteikarte, ermöglicht es dem Therapeuten, zusätzlich die visuelle Sinnesmodalität bei seinen Klienten anzusprechen und gemeinsam mit dem Klienten ein dauerhaftes Produkt herzustellen. Illustrationen sind vielfältig und schnell in der Psychotherapie oder der Beratung einsetzbar – oft dauert die Erstellung nur wenige Minuten, erfüllt aber eine wichtige Funktion im Therapiegespräch. Die hier vorgestellten 15 Illustrationen unterscheiden sich in ihrer Komplexität und in ihren sehr unterschiedlichen Zielsetzungen. Die Modelle sollen die Leser ermutigen, eigene Ideen zu entwickeln, und sie dazu anregen, sich weitere Zeichnungen für Therapie und Beratung auszudenken.
Das Hauptmedium bei Psychotherapie, Beratung und Coaching ist das gesprochene Wort. Die Verwendung von weiteren Modalitäten spricht jedoch die Klienten in zusätzlicher Weise an und ermöglicht ihm oder ihr eine intensivere Erfahrung. Körperarbeit, Musiktherapie oder Kunsttherapie beziehen die kinästhetischen, auditiven und visuellen Sinnesmodalitäten ein. Die stationären klinischen Behandlungen in psychosomatischen und psychiatrischen Krankenhäusern machen sich diesen Sachverhalt seit vielen Jahren zunutze und kombinieren die gesprächsbasierte Psychotherapie im Einzel- und Gruppenformat mit wöchentlichen Sitzungen der Kunst- oder Musiktherapie und mit Körper- und Entspannungstherapien. Aber auch innerhalb der psychotherapeutischen oder beratenden Gesprächssitzung selbst bestehen Möglichkeiten eines Zugangs, der den Klienten ganzheitlicher anspricht. In diesem Kapitel werden verschiedene Illustrationen präsentiert, die alle vielfach erprobt sind. Die Zeichnungen sind hier im Buch alle schwarzweiß abgedruckt, in der Arbeit mit den Klienten sollten sie dagegen farblich gestaltet werden. Die Farbe Grün symbolisiert dabei – gemäß unserer Kultur – positive, günstige Prozesse, während Rot problematische Prozesse und Gedanken kennzeichnet. Bei jeder Illustration finden Sie entsprechende Hinweise zur Verwendung dieser beiden Farben. Die Zeichnungen sprechen durch die Verwendung
von Farben, aber auch von Formen und Pfeilen das visuelle System des Klienten an und erfordern aufgrund ihres symbolischen Charakters eine intellektuelle Transferleistung, z. B. wenn das ganze Leben auf einer waagerechten Linie dargestellt wird. Das Sichtbarmachen von Inhalten ergänzt das therapeutische oder beratende Gespräch und präzisiert oder erweitert das Verständnis der thematisierten Sachverhalte; manche Zeichnungen stellen sogar eine Konfrontation mit problematischen Verhaltensweisen dar (s. Motivationsklärung, 7 Kap. 3.1.1). Die Illustrationen unterstützen kurze oder auch etwas längere Therapiesequenzen in den Phasen von Problemaktualisierung, Ressourcenaktivierung oder Problembewältigung (vgl. Grawe, 2005) durch die Erarbeitung von Lösungsansätzen; sie tragen eine eigene Bezeichnung, z. B. Schicksalsdiagramm (7 Kap. 3.2.4), auf welche Klient und Therapeut später im Gespräch weiterhin Bezug nehmen können. Erfahrungsgemäß schätzen alle Klientinnen und Klienten das gemeinsame Erarbeiten einer Illustration: Die Sitzungsinhalte werden konkreter, das besprochene Thema wird quasi »fassbar«, und die Karteikarte mit der Illustration landet sehr oft gut sichtbar an der Pinnwand des Klinikzimmers oder am heimischen Kühlschrank, ohne dass der Therapeut dies explizit angeregt hätte. Die Visualisierung in Form einer Zeichnung fördert also auch die Auseinandersetzung mit dem Therapiethema zwischen den Sitzungen und bleibt auf diese Weise weit besser im Gedächtnis des Klienten haften als viele ausschließlich verbale Interventionen. Weiterhin kann eine Visualisierung emotionale Aspekte zum Therapiegespräch beisteuern und zeigen, dass der Therapeut den inneren Prozess des Patienten verstanden hat: Die verletzte Seele bildete in der Jugend eine dicke Mauer (7 Kap. 3.2.2, Traumamodell) um das Trauma herum; die Farben der Pfeile (Denkprozesse) im Traumamodell unterstützen die Einsicht in die emotionalen Erfahrungen des Traumaprozesses: Grün steht für normale Denkprozesse, Rot für Traumaerleben und Blau für kognitive oder verhaltensbasierte Vermeidung. Ferner wissen erfahrene Psychotherapeuten und Berater, dass es Menschen gibt, die in starkem Maße bildlich denken und sich durch eine Zeichnung wesentlich stärker angesprochen fühlen als
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3.1 • Einfache Illustrationen
durch das Gespräch oder eine schriftliche Aufzählung der im Gespräch erwähnten Punkte in Form einer Liste. Die Neigung zu einer ausgeprägt oder sogar primär visuellen Informationsverarbeitung kann vermutet werden bei Berufsgruppen wie technischen Zeichnern, Grafikern und Ingenieuren, bei verschiedenen Gruppen von Handwerkern oder auch bei Zahnärzten und Chirurgen und wahrscheinlich auch bei Menschen, die als Hobby das Malen, Zeichnen oder Heimwerken angeben. Viele Klienten können auf Befragung hin ihre bevorzugte Modalität für die Informationsverarbeitung benennen. Diese Beobachtung soll jedoch nicht implizieren, dass nur diese Personengruppen von Illustrationen profitieren – im Gegenteil; Illustrationen können oder sollten sogar möglichst in jeder Therapie, mit allen Typen von Klienten, Verwendung finden. In diesem Zusammenhang ist es günstig, wenn der Therapeut seine eigene primäre Informationsverarbeitung kennt und diese Vorliebe dann möglicherweise gezielt um das Visuelle bereichern kann. Meine persönliche Modalität ist fast ausschließlich die verbale, aber es hat Freude gemacht und meine Denkweise bereichert, Illustrationen zu entwerfen. Es wäre eine interessante Forschungsfrage für die kognitive Psychologie, ob sich unter Therapeuten und Beratern primär verbal geneigte Menschen finden oder ob die Mehrheit eine Kombination aus visuellen und verbal-auditiven Modalitäten bevorzugt. Für die Anfertigung von Illustrationen ist es sinnvoll, als Material DIN-A5-Karteikarten in verschiedenen Pastellfarben und farbige Filzstifte mit feiner Spitze zum Schreiben und Zeichnen sowie für das Traumamodell auch weiße Korrekturflüssigkeit griffbereit zu halten. Therapeut und Klient sollten die Möglichkeit haben, im Sitzen bequem zu schreiben oder zu malen. Hierfür eignet sich entweder ein kleiner Tisch (Normalhöhe) neben dem Stuhl des Klienten oder beide Personen verwenden Klemmbretter auf dem Schoß als Schreibunterlage. Man könnte für alle Illustrationen durchaus Farbausdrucke mithilfe des Computers erstellen, statt alles in der Sitzung mit der Hand in Gegenwart des Klienten aufzumalen. Hiervon würde ich jedoch für fast alle Illustrationen abraten. Nur für die leeren Kreise des relativ großen Funktionsmodells
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(7 Kap. 3.1.8) oder die Beziehungskreise (7 Kap. 3.1.4) kann diese Vorbereitung eines Arbeitsblatts durchaus sinnvoll sein. Generell lebt die therapeutische Illustration davon, dass der Therapeut sie speziell für diesen Klienten in dieser individuellen Therapiesituation erstellt und während des Aufmalens bereits erläutert. Sobald der Klient ein Formblatt erhält, ist offensichtlich, dass es sich um eine standardisierte Intervention handelt, die auch einigen anderen Klienten zugutekommt, was wiederum die persönliche Bedeutung für diese eine Person, die gerade hier in Ihrem Therapiezimmer sitzt, reduzieren könnte. Auch würde man bei Ausdrucken normale DIN-A4-Blätter verwenden, die schnell verknicken und bestenfalls in Ordnern verschwinden; das Besondere der kleineren, farbigen Karteikarte im DIN-A5-Format käme nicht zum Tragen. Aus diesen Gründen ist es ratsam, alle Illustrationen mit der Hand im Beisein des Klienten aufzumalen. Es fesselt und interessiert den Klienten erfahrungsgemäß mehr, wenn die Illustration ganz neu vor seinen Augen entsteht. Außerdem betont diese Aktivität des Therapeuten sein Interesse am inneren Prozess des Klienten. Es wäre daher sehr günstig, wenn einige Illustrationen mit der Zeit Teil des festen Interventionsrepertoires des Therapeuten werden.
3.1
Einfache Illustrationen
Die folgenden Zeichnungen können fast alle recht schnell erstellt und in das Gespräch integriert werden. Die Einfachheit einer Zeichnung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, welchen Einfluss sie auf die Erzeugung von verbesserter Kommunikation zwischen dem Klienten und dem Therapeuten und die Förderung von Einsicht in die jeweilige Thematik nehmen kann. Eine der einfachsten Illustrationen, die Motivationsklärung (7 Kap. 3.1.1), ist sogar eher konfrontativer Natur. Zur Erinnerung: Pastellfarbene oder weiße Karteikarten im DINA5-Format und mehrere bunte Filzstifte mit feiner Spitze werden benötigt; nur beim Traumamodell (7 Kap. 3.2.2) ist zusätzlich weiße Korrekturflüssigkeit nötig.
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Kapitel 3 • Illustrationen
Überforderung
Fehlendes Vertrauen Klient Optimismus Therapeutische Beziehung regelmäßig besprechen
Klient
3
Störung/ Problemverhalten
Störung/ Problemverhalten
Selbst aktiv werden Therapeut
Therapeut
Angst
a
b
. Abb. 3.1 Motivationsklärung. a Das Oval mit durchgezogener Linie (in Rot) illustriert die schwierige Assoziation des Klienten mit seinem Problemverhalten oder seiner Störung. Nur der Therapeut geht gegen die Störung an (einzelner Pfeil in Rot). Außerhalb des Ovals werden die Gründe für die Motivationsprobleme aufgezählt. b Das gestrichelte Oval mit den gestrichelten Pfeilen (alles in Grün) stellt die gemeinsam erarbeitete Lösung dar, positive gemeinsame Lösungsansätze finden sich als Beschriftung innerhalb des Ovals
3.1.1
Aufforderung zur Kooperation: Die Motivationsklärung
Diese sehr einfache, aber wirksame Veranschaulichung zur Motivationsklärung könnte im Coaching eine etwas neutralere Benennung, z. B. Standortbestimmung, bekommen. Es sollten zwei getrennte Zeichnungen hergestellt werden, damit deutlich wird, dass es keine Kombination der beiden Therapiesituationen geben kann; sich überschneidende Ovale in einer kombinierten Zeichnung würden dies vielleicht signalisieren und die Klarheit der Botschaft an den Klienten gefährden. Außerdem sollte der Therapeut dem Klienten vermitteln, dass es nur die eine oder die andere Situation, aber keinen Zwischenzustand gibt, denn Ambivalenz bezüglich des Fortgangs der gemeinsamen Gespräche kann nie der gewünschte Zielzustand sein (. Abb. 3.1). Die ungünstige Assoziation zwischen Klient und Problem(verhalten) wird am besten rot, die günstige zwischen ihm und dem Therapeuten grün markiert. Im roten Modell (rotes Oval) findet sich nur der einzelne, rote Pfeil vom Therapeuten gegen
die Störung, was die problematische Motivationslage gut verdeutlicht: Auf diese Weise kann keine psychische Störung überwunden werden. Die einzig sinnvolle und daher psychotherapeutisch wünschenswerte Allianz findet zwischen dem Therapeuten und dem Klienten statt (grünes Oval), die sich gemeinsam gegen das zentrale Problemverhalten wenden: Nun wenden sich zwei grüne Pfeile gegen die psychische Störung bzw. gegen das Problemverhalten. Der Einsatz dieser Zeichnung stellt meist eine Konfrontation für den Klienten dar und führt auf die Metaebene, also zu einem Gespräch über das Therapiegespräch selbst, über die therapeutische Beziehung und vor allem über die Therapiemotivation und die Therapieziele, die gemeinsam verfolgt werden sollten. Zeitlich fällt diese Klärung in die ersten Sitzungen der gemeinsamen Arbeit; seltener wird man die Zeichnung verwenden, um eine eher verfahrene Therapiesituation in späteren Phasen wieder in Gang zu bringen. Im besten Fall leitet also die Besprechung der beiden Allianzen bzw. Ovale eine Klärung von therapeutischer Beziehung, Motivation und Zielsetzung ein.
3.1 • Einfache Illustrationen
Eine Einführung der ersten Zeichnung könnte lauten: »Wenn wir diese drei Elemente unserer Situation in Beziehung setzen, Sie als Klienten, mich als Therapeuten und das Problemverhalten (oder die Störung), dann habe ich im Moment den Eindruck, als hätten Sie sich sehr mit Ihrem Problemverhalten identifiziert und verbunden. Ich höre immer wieder, dass Sie vehement Ihr Problemverhalten verteidigen, als gäbe es gar keine Lösung dafür, sodass ich letztlich hier draußen stehe und gegen diesen Widerstand anrede.« Der Therapeut stellt in dieser Besprechung sicher, dass der Klient sich durch diese Konfrontation keinesfalls herabgesetzt oder beschuldigt fühlt, sondern dass die beiden Zeichnungen als Aufforderung zur gemeinsamen Störfallanalyse aufgefasst werden. Wenn der Klient dieser Wahrnehmung zustimmt, dann kann die rote Umrandung des Ovals in der ersten Zeichnung (. Abb. 3.1a) außen mit den Ursachen für die Abwehr beim Klienten beschriftet werden. Die Besprechung dieser Gründe führt (wieder) zur konstruktiven psychotherapeutischen Zusammenarbeit. Einige Möglichkeiten für die Beschriftung des ersten Ovals: 5 Der Klient verspürt Angst vor positiver Veränderung – wovor genau? 5 Der Klient verspürt mangelndes Vertrauen in den Therapeuten – warum? 5 Der Klient äußert Überforderung durch den Therapieprozess – an welcher Stelle? 5 Der Klient fühlt die Ungeduld des Therapeuten: Dies führt zu Überforderung, Verärgerung etc. 5 Der Klient fühlt sich in wesentlichen Aspekten seines Problems nicht verstanden. 5 Der Klient hat keine Ideen für Alternativverhalten nach Behebung seiner Störung und hält daher an der Störung oder dem Problemverhalten fest. 5 Die Störung ist sehr hoch funktionalisiert und leistet viel im Leben des Klienten. 5 Der Klient fühlt sich hoffnungslos und befindet sich nicht im Kontakt mit seinen persönlichen Ressourcen, die für die Überwindung des Problems notwendig sind. Im Grunde stellt diese gemeinsame Analyse der Abwehr von Veränderung bereits den Übergang zur
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günstigen therapeutischen Allianz dar, also zum grünen Oval der zweiten Zeichnung (. Abb. 3.1b). Dann kann bei vielen Klienten die zweite Zeichnung durch Nennung der individuellen Ressourcen ausgearbeitet und ebenfalls beschriftet werden, dieses Mal innerhalb des grünen Ovals. Mögliche Themenbereiche für die Beschriftung: 5 Der Klient entwickelt Mut, Hoffnung oder Optimismus. 5 Der Klient nimmt sein Mitspracherecht in der Therapie gezielter wahr. 5 Der Klient äußert vor allem sog. Störungen in der Beziehung zum Therapeuten oder hinsichtlich des Therapieprozesses in ehrlicher Weise; er übernimmt so mehr Verantwortung für den Verlauf seiner Psychotherapie. 5 Ein Beziehungsproblem zwischen dem Therapeuten und dem Klienten konnte gelöst werden. 5 Der Klient nimmt jetzt (wieder) seine eigenen Ressourcen zur Lösung seiner Probleme wahr (Ressourcen zur Behebung des Problemverhaltens hier konkret benennen). Die Zeichnung mit dem grünen Oval führt zu einer ressourcenorientierten Sammlung von Möglichkeiten, die therapeutische Beziehung zu stärken, die gemeinsamen Ziele zu präzisieren, Optimismus zu erzeugen und die Vorteile der Überwindung der psychischen Störung oder des Problemverhaltens deutlich zu machen (vgl. Modell zum Krankheitsnutzen – Funktionsmodell, 7 Kap. 3.1.8). Es kann aber auch sein, dass die Motivationsproblematik grundsätzlicher ist, als zunächst vermutet, sodass der Therapeut sich nach der Besprechung der ersten Zeichnung für eine längere Therapiesequenz zur Funktionalität der psychischen Störung entscheidet. In der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) gibt es das Konzept der Funktionsanalyse, die in tiefenpsychologischer Denkweise etwa mit dem primären und sekundären Krankheitsgewinn zu vergleichen wäre. Die Funktionalisierung einer Störung im Leben des Klienten wirkt oft so verstärkend und scheinbar lohnend – es finden kurz- und langfristige Verstärkerprozesse statt –, dass die Motivation zur Arbeit am Problemverhalten bestenfalls ambivalent ist. In dieser Situation wäre eine separate Illustration, z. B. in Form der
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3
Kapitel 3 • Illustrationen
Funktionsanalyse (7 Kap. 3.1.8), sinnvoll, um in den verschieden großen Kreisen genügend Platz für detaillierte Notizen zu haben. Erst nach der gemeinsamen Erarbeitung der Funktionen würde sich die Ausarbeitung der zweiten Zeichnung zur Motivationsanalyse anschließen. > Zwei verschiedene Illustrationen können in einer längeren Therapiesequenz miteinander verknüpft werden.
In der klinischen Arbeit gibt es Störungsbilder, bei denen in den ersten Sitzungen der gemeinsamen Arbeit die Klärung der therapeutischen Beziehung und der Motivationslage eher die Regel als die Ausnahme ist. Gute Erfahrungen bestehen bei Personen mit Essstörungen, Zwangsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Beispiel: selbstverletzendes Verhalten als Problemverhalten). Hier stellt die Illustration die Basis für eine therapeutische Beziehungsklärung und gemeinsame Prozessanalyse dar. Analog zum klinischen Bereich könnte sich z. B. beim Coaching in Bezug auf Mobbing am Arbeitsplatz die Opferrolle für den Klienten so ehrenwert anfühlen, dass er zunächst nicht bereit ist, eigenes problematisches Verhalten in Bezug auf die Kollegen und Vorgesetzten überhaupt zu untersuchen, und lieber in der reinen Opferrolle verharrt. Auch hier kann die Motivationsklärung im Hinblick auf eine rückhaltlos offene und selbstkritische Analyse der Mobbingsituation hilfreich sein, um Offenheit und kritische Selbstbetrachtung beim Klienten zu fördern. Die Abkürzungen für das erste, rote Oval könnten etwas zweideutig lauten: K/O für Klient/Opferdenken beim Klienten, C für den Coach selbst und M für die Mobbingproblematik, die bearbeitet werden soll. Im zweiten, grünen Oval der konstruktiven Zusammenarbeit entfällt das O für das Einnehmen der Opferrolle beim Klienten.
3.1.2
Erwartungen reflektieren: Die Erwartungsskala
Es gibt Menschen, die sich selbst immer wieder durch exzessive Erwartungen an sich selbst, an andere und die Welt – einen Arbeitgeber, einen Chef, ein ganzes Unternehmen – massiv unter Druck
setzen oder Gefühle von Ärger und Depression entwickeln, wenn die Welt nicht so ist, wie sie es sich vorstellen. Überhöhte Erwartungen können vor allem in engen zwischenmenschlichen Beziehungen zu ausgeprägten Konflikten führen, z. B. zu erpresserischen Kommunikationsformen, mit denen der Klient bei Familienmitgliedern seine Auffassung von Kontaktpflege durchsetzen möchte. Es kann für diese Klienten sinnvoll sein, sich mit dieser Illustration auseinanderzusetzen, um in bestimmten Bereichen ein günstiges Ausmaß von Erwartungen zu erarbeiten, die nicht übertrieben und nicht rigide sind, sondern letztlich realistisch und flexibel bleiben. Die Besprechung der Illustration fördert beim Klienten gezielt den Prozess der Verantwortungsübernahme für die eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Die Illustration spricht eine typische Form des Schwarz-Weiß-Denkens an und ist vielfältig verwendbar (. Abb. 3.2). Bei klinisch relevanten Störungen, z. B. der generalisierten Angststörung, bewährte sich die Erwartungsskala zur Förderung einer realistischen Skalierung der verschiedenen Ängste unter Berücksichtigung von Gefühlen und Gedanken der Betroffenen. Analog kann die Skala auch für die realistische Überprüfung von Befürchtungen im Rahmen einer Zwangsstörung verwendet werden, denn man kann die unrealistische Erwartung an sich, beispielsweise für die Sicherheit geliebter Menschen zu 100% Verantwortung zu übernehmen, mit der ebenfalls unrealistischen Gegenseite von 0% Verantwortung kontrastieren. In den meisten Lebensbereichen muss auch der Zwangspatient sich eingestehen, dass 100% unmöglich und resignative 0% unnötig sind, dass also das gesunde Maß in der Mitte liegt. Als weitere wichtige Anwendung kann die Skala auch für überhöhte Ansprüche an sich selbst verwendet werden: Perfektionismus, verbissener Ehrgeiz und ausgeprägtes Konkurrenzstreben stellen oft Übertreibungen dar; sie führen zu Selbstabwertungen wie »Versager«, wenn die Erwartungen am rechten Ende der Skala nicht zu erfüllen sind, und sie erzeugen beim Klienten z. B. eine Burnout-Depression, deren Charakteristika anhand der Erwartungsskala intensiv thematisiert werden können. Das therapeutische Gespräch lenkt diese Klienten
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3.1 • Einfache Illustrationen
0% Erwartungen
»Ich erwarte gar nichts mehr von anderen/ vom Leben.«
100% Erwartungen
Günstiger Bereich: • realistisch • flexibel • menschlich • respektvoll • lässt Raum für Abweichungen
Resignation Pessimismus Apathie Erstarrung
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»Alle müssen so sein, wie ich es will. Alles muss so funktionieren, wie ich es mir vorstelle.«
Ärger Wut Enttäuschung »Ich leide nicht oder wenig, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird«; kein Stress mit anderen; Entwicklung ist möglich
Erstarrung
. Abb. 3.2 Erwartungsskala. Beide Endpunkte der Skala (in Rot) sind problematisch und werden als Erstes erarbeitet. Die durchgehenden senkrechten Pfeile an beiden Polen (in Rot) verweisen auf mögliche ungünstige Folgen der extremen Erwartungen. Der mittlere Bereich der Skala mit Oval und gestricheltem Pfeil (in Grün) beschreibt eine sinnvolle, gemäßigte Erwartungshaltung an sich selbst, andere oder das Umfeld, deren Eigenschaften ebenfalls gemeinsam formuliert und notiert werden
zu einer sinnvollen Überprüfung und realistischen Abstufung ihrer Ansprüche, sodass ein mittleres Maß an Erwartungen erzielt wird. Manchmal gibt es Klienten, die sich auf der linken Seite befinden, die also so depressiv sind, dass sie gar nichts mehr vom Leben und von anderen erwarten. Es handelt sich hier oft um extrem enttäuschte Menschen; beispielsweise erklärte eine Klientin nach ihrer zweiten Scheidung: »Ich kann nie mehr einem Mann vertrauen.« Auch dies ist dysfunktional und kann vorsichtig im Gespräch korrigiert werden, unter Wahrung des Respekts für die aktuelle Enttäuschung dieses Menschen. Der Therapeut ermutigt und gibt quasi die Erlaubnis, dem Leben wieder gewisse Erwartungen entgegenzubringen und nicht im depressiven Pessimismus zu verharren. Ein Klient, der viel meditierte, äußerte sich einmal spontan zum Null-Prozent-Pol der Skala: »Da
will ich hin – dann bin ich erleuchtet.« Es ist richtig, dass es auch einen sehr positiven erwartungslosen Zustand gibt, der durch eine völlige Offenheit gegenüber allen Ereignissen in der Gegenwart gekennzeichnet ist, aber dies ist in der Psychotherapie normalerweise kein expliziter Zielzustand; er wäre wahrscheinlich nur durch langjährige Meditationspraxis zu erreichen. Dieser achtsam-erwartungslose Zustand unterscheidet sich wesentlich vom dysfunktional-enttäuschten Null-Prozent-Pol der Erwartungsskala durch das völlige Fehlen negativer Emotionen. Folgende Merkmale kennzeichnen ein gesundes Ausmaß von Erwartungen an andere Menschen, an Ereignisse oder an Organisationen, Unternehmen, Verbände etc.: 5 Die Erwartung ist klar formuliert und realistisch; sie kann unter günstigen Umständen offen bei einem anderen Menschen (Partner,
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3
5 5
5
5
Kapitel 3 • Illustrationen
Familienmitglied, Chef, Kollegen) geäußert werden, ohne Druck auszuüben oder die Beziehung zu belasten. Die Möglichkeit der Flexibilität besteht, denn die Erwartung lässt Raum für Abweichungen in der Realität. Die Erwartungshaltung berücksichtigt Einschränkungen, die in der Natur der Sache liegen, ist also realistisch. Die Erwartung beachtet die persönlichen Grenzen anderer Menschen; sie stellt daher eine respektvolle Form der Kommunikation und keinen Übergriff auf den freien Entscheidungsspielraum des anderen dar. Die Nichterfüllung der Erwartung ist zwar mit Gefühlen wie Trauer, Enttäuschung oder Ärger verbunden, kann aber vom Klienten verschmerzt werden. Wenn die Erwartung sich als ungünstig herausstellt, kann der Klient seine Erwartung modifizieren oder sogar aufgeben – er hat die Chance auf persönliche Entwicklung in diesem Prozess der Auseinandersetzung mit anderen Menschen oder einer bestimmten Lebenssituation.
In der Besprechung der Erwartungsskala kann es sinnvoll sein, unterschwellige Erwartungen konkret auszuformulieren und bei der Korrektur der übermäßigen Intensität dieser Haltung auch andere Begriffe einzuführen, die keinerlei Anspruch an andere und die Welt beinhalten, aber gleichzeitig die Gefühle des Klienten validieren. Wenn der Therapeut von Wunsch oder Sehnsucht statt von Erwartung spricht, gibt er den Emotionen des Klienten einen anderen Rahmen (therapeutisches Reframing, vgl. Beispiel). In der KVT befinden sich Kognitionen, z. B. Erwartungen, auf der mittleren Abstraktionsebene, die Judith Beck »intermediate beliefs« bzw. »bedingte Annahmen« (1999, S. 16) nennt. Die Erarbeitung der ausgewogenen Einstellung in der Mitte der Skala stellt daher eine Form der kognitiven Umstrukturierung dar. Im Allgemeinen wird der Therapeut selbst die Beschriftung des günstigen Bereichs vornehmen, damit der Klient sich ganz der Reflexion seiner Erwartungen widmen kann; man kann jedoch auch den Klienten auffordern,
die Punkte im mittleren Teil selbst aufzuschreiben, sofern dies den Klienten nicht übermäßig vom therapeutischen Gespräch ablenkt. > Die Einsicht aus der Besprechung einer Illustration kann, wenn es sich um das Thema Kommunikation handelt, in Verhalten überführt und durch eine Stuhlübung oder ein Rollenspiel praxisnah eingeübt werden.
Die Erwartungsskala ist vielfältig verwendbar. Im Bereich der Besprechung von zwischenmenschlichen Beziehungen – privat oder beruflich – kann die Skala zur Klärung beitragen: Hier wären realistische Erwartungen und Wünsche an den Gesprächspartner sicher deutlich förderlicher als resignative Gleichgültigkeit bei 0% der Skala oder aggressives Einfordern dessen, was man sich selbst vorstellt bei 100% der Skala. Im Coaching eignet sich die Skala gut für die Erarbeitung von möglicherweise positiv übertriebenen oder negativ verzerrten Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen im Hinblick auf das berufliche Umfeld oder von exzessiven Leistungserwartungen an sich selbst. Eine Klientin, Mitte 50, beklagt sich bitter, dass ihre einzige erwachsene Tochter sie nicht regelmäßig besucht, obwohl diese in der Nähe wohnt. Die Illustration wird gemeinsam erarbeitet und beschriftet, und der Therapeut macht einen Lösungsvorschlag, der die Gefühle der Klientin validiert. »Sie haben auf der rechten Seite bei 100% ganz hohe Erwartungen an die Fürsorge Ihrer erwachsenen Tochter für Sie formuliert – das führt aber erfahrungsgemäß bei Ihnen zu Frustration und letztlich zu Konflikten mit Ihrer Tochter, die sich von Ihnen zu sehr unter Druck gesetzt fühlt. Vielleicht hilft es Ihnen, dieses ganz natürliche Bedürfnis nach Kontakt eher als Wunsch oder Sehnsucht aufzufassen: Es ist verständlich, dass Sie die Tochter öfters sehen möchten, aber Sie haben weder die Kontrolle über die Erfüllung dieses Wunsches noch das Recht darauf. Es wäre vielleicht günstig, im Gespräch mit der Tochter eher bescheiden diesen Wunsch zu kommunizieren, statt sie mit der hundertprozentigen Erwartung unter Druck zu setzen, dass sie jede Woche mehrmals zu Ihnen kommen soll. Mit einem
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3.1 • Einfache Illustrationen
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3 Erfolg: Balance von Leistung und Selbstfürsorge
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Jetzt: Rückzug
2
Früher: Dauerstress X Maximale Verausgabung, immer 150%
Volle Schonung
Ziel: Maßvolle Belastung
Reaktion: Ängstliche Vermeidung von Anforderungen
Meine Fallen • Zu perfektionistische Ansprüche • Schwarz-WeißDenken • Geringe Selbstwahrnehmung
Meine Stressbewältigung • Listen, Tagesstruktur, eigene Grenzen respektieren • Delegieren • Tägliche Zeiten für Einkehr etc.
. Abb. 3.3 Burnout-Diagramm. Vorgehensweise meistens von Punkt 1 zu Punkt 3. Für Personen, die nach einer Extrembelastung (kleines rotes Kreuz rechts auf der Linie) ins Gegenteil der übermäßigen Schonung (linker senkrechter Pfeil in Rot) geraten. Entwicklung von Problembewusstsein (»Meine Fallen«, in Rot) und Lösungsansätzen (»Meine Stressbewältigung«, in Grün), um das Ziel der »Maßvollen Belastung« zu erreichen (gebogener, gestrichelter Pfeil und senkrechter, gestrichelter Pfeil, beide in Grün)
Wunsch lassen Sie Ihrer Tochter einen angemessenen Spielraum, sich zu entscheiden. Zusätzlich übernehmen Sie durch diese Art der Äußerung die volle Verantwortung für Ihre Gefühle in diesem Bereich, statt vielleicht der Tochter für Ihre eigene Enttäuschung die Schuld zu geben.« Wenn die Klientin dies annimmt, kann z. B. noch ein Mutter-TochterRollenspiel (die Tochter wird auf einem leeren Stuhl imaginiert, 7 Kap. 4.4.2) in die Praxis dieser sozial kompetenten Form der Bedürfnisäußerung für die Mutter führen.
3.1.3
Schonung und Stress: Das Burnout-Diagramm
Diese einfache Skala zur Work-Life-Balance befindet sich inhaltlich auf der Schnittstelle zwischen Psychotherapie und Coaching. Die individuell erarbeitete Beschriftung der beiden Ansatzpunkte (senkrechte Pfeile) stellt eine Gesprächsgrundlage für Personen dar, die sich entweder aus lauter Angst vor einem (nochmaligen) Zusammenbruch ganz von ihrem Berufsleben und ihrer Verantwortung zurückgezogen haben, oder umgekehrt für diejenigen, die sich noch am rechten Ende der Skala in der ständigen Verausgabung befinden (kleines Kreuz auf der Skala rechts; . Abb. 3.3). Differen-
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Kapitel 3 • Illustrationen
zierte Denkweisen im Hinblick auf die eigene Belastbarkeit sind manchen Menschen, die in ihrem bisherigen Leben eine sehr hohe psycho-physische Robustheit und Leistungsfähigkeit gewohnt waren, oft eher fremd, und es herrscht stattdessen Schwarz-Weiß-Denken vor: »Entweder ich kann weiterhin meine 60 Stunden pro Woche voll konzentriert arbeiten, oder ich lasse mich pensionieren.« Insbesondere Personen mit hohen Leistungsansprüchen an sich selbst und der Neigung zum Perfektionismus tendieren zu solchen extremen Denkformen, obwohl die jahrelange Dauerbelastung in Kombination mit zunehmendem Alter und geringerer Belastbarkeit meist schon längere Zeit ihre problematischen Wirkungen zeigen. Diese einfache dimensionale Illustration kann helfen, die Diskussion über das richtige Maßhalten und das Einteilen der eigenen Energien in Gang zu setzen. Auch das Erkennen von Frühwarnzeichen für weitere Überforderung (zu notieren unter »Meine Fallen«) kann hier thematisiert werden. Der Therapeut malt die Skala auf, beschriftet die Endpunkte mit den allgemeinen Ausdrücken »Volle Schonung« und »Maximale Verausgabung, immer 150%«, möglichst in Rot. Anschließend lässt er den Klienten selbst auf der Skala einschätzen, wo dieser sich zum Zeitpunkt des Höhepunktes seiner psychischen Krise befand und wie er darauf reagierte – oft folgt dies der Nummerierung von Punkt 1 zu Punkt 2. Der Therapeut erklärt daraufhin, dass die Extrempunkte »Dauerstress« und »Rückzug« nicht funktional sind – beide Extreme verhindern die sinnvolle und dauerhafte Teilnahme am Arbeitsleben. Der Kasten »Meine Fallen« (rot) fasst die Einstellungen und Defizite des Klienten zusammen, die zur Selbstüberforderung (rechte Seite) bzw. eventuell in Reaktion auf einen Zusammenbruch bereits zur übermäßigen Schonhaltung (linke Seite) geführt hatten. Nicht alle Klienten mit einer Stressproblematik berichten allerdings von einer extremen Schonhaltung. In solchen Fällen kann dieses Ende der Skala einfach als theoretisch mögliche, aber nicht zweckmäßige Reaktion erläutert werden. In Grün sollten nun unter Punkt 3, »Balance von Leistung und Selbstfürsorge«, Maßnahmen der adäquaten Selbstunterstützung und individuell entwickelte Stressbewältigungsstrategien für den Klienten no-
tiert werden. Auf diese Weise wird die Karte auch zur ressourcenorientierten »coping card« bzw. »Bewältigungskarte« (vgl. Beck, 1999, S. 217 ff.). Die Skala kann auch für Personen verwendet werden, die von einer Normalbelastung aufgrund von einer körperlichen oder seelischen Erkrankung in die übermäßige Schonung geraten sind und die man beispielsweise zur Aufnahme einer Teilzeittätigkeit motivieren möchte. Entsprechend wäre der rechte Endpunkt »100%« oder einfach mit »Vollzeit« zu benennen. Auch hier geht es darum, angesichts neu eingetretener Einschränkungen physischer oder psychischer Art das beste Maß für die zukünftige Arbeitsbelastung zu finden. Als klinische Adaptation kann man diese Skala z. B. auch für Schmerzpatienten verwenden, die in dem Dilemma zwischen Selbstüberforderung durch ständiges Angehen gegen die Signale des Körpers einerseits und exzessiver Schonung andererseits stecken. Die Bezeichnung der Zeichnung könnte hier Belastungsskala sein. Die Skala kann auch die exzessive Übernahme von Verantwortung in verschiedenen Bereichen symbolisieren. Für solche Anwendungen der Zeichnung eignet sich eine Bezeichnung wie Balance-Linie besser als der konkrete Bezug zum Burnout.
3.1.4
Menschen und Nähe: Beziehungskreise
Positive zwischenmenschliche Kontakte im Alltag stellen einen wichtigen Faktor für die Lebenszufriedenheit der Klienten dar. Das Aufmalen der Beziehungskreise eignet sich sehr gut für den klinischen Bereich und zusätzlich auch für Coaching und Beratung, sobald die Work-Life-Balance und die Beziehungsgestaltung mit Kollegen und Freunden sowie mit der Familie zur Diskussion steht (. Abb. 3.4). Die Beziehungskreise haben zum Ziel, das gesamte soziale Umfeld einer Person oder einen wichtigen Ausschnitt davon in einfachster Form zu visualisieren. Sie können durchaus konfrontierend wirken, da sie unterschwellig Erlebtes – auch Negatives – sichtbar machen. Die Kreise enthalten die Namen von Bekannten, Freunden und Angehörigen, ggf. auch von Kolleginnen, Kollegen und Chefs
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3.1 • Einfache Illustrationen
3
Frau Kranz
Petra
Gaby
Sabine Kinder > 18 David
Karin Mutti
Klientin CaroPartner la Kinder < 18 Vati
Micha
Petra
Oliver
Daniela
Sylvia
Klaus & Katja Herr Bender
Andreas
. Abb. 3.4 Beziehungskreise. Einfache Darstellung des beruflichen und/oder privaten sozialen Netzes, bei dem Farben und Linien zur Hervorhebung verschiedener Arten von Verbindungen zu den einzelnen Personen (z. B. problematische Beziehung zu »Gaby« in Rot) oder von Bewegungen der Personen nach außen (Pfeil nach außen für »Andreas« in Schwarz) oder innen verwendet werden können. Diskussionsgrundlage bei Defiziten und Veränderungswünschen in diesem Bereich. Innerster Kreis: Klient und engste Bezugspersonen (Partner, Kinder); zweiter Kreis: enge Vertraute (gute Freunde, geschätzte Verwandte); dritter Kreis: Bekannte, erweiterter Freundeskreis; vierter Kreis: Kollegen, Nachbarn
sowie wichtige Eigenschaften der Beziehungen zu diesen Menschen. Mögliche Indikationen für die Verwendung der Beziehungskreise: 5 Der Klient ist generell unzufrieden mit seinem sozialen Netzwerk – privat oder beruflich. 5 Der Klient klagt über Einsamkeit – die Kreise ermöglichen eine Überprüfung, ob es sich um eine kognitive Verzerrung handelt oder ob die Einsamkeit nachvollziehbar ist, und leiten das Gespräch über gezielte Veränderungen der Situation ein. 5 Der Klient hatte sich aus Krankheitsgründen sozial zurückgezogen und soll ermutigt werden, seine Beziehungskreise wieder auf allen Ebenen angemessen zu füllen. 5 Der Klient leidet extrem unter Partnerlosigkeit oder Partnerverlust (innerer Kreis bleibt leer) und teilt mit, sein Lebensglück sei ohne Partnerschaft nicht möglich. 5 Die Qualität verschiedener sozialer Beziehungen soll visualisiert und besprochen werden:
Gibt es zu viele Konflikte? Warum? Sollte ein Kontakt abgebrochen werden? Wem vertraue ich besonders? Mit wem habe ich besonders viel Spaß? 5 Schmerzliche Verluste im sozialen Bereich und Möglichkeiten der positiven Veränderung durch Intensivierung bestehender Beziehungen sollen visualisiert werden. Die Illustration kann sowohl eine bis dahin noch nicht wahrgenommene Fülle der Kontaktmöglichkeiten als auch einen Mangel deutlich machen; sie fordert also entweder zur größeren Zufriedenheit auf mit dem, was an Kontakten bereits vorhanden ist und nicht wahrgenommen wurde, oder sie dient als Aufforderung zur Behebung des Mangels an Kontakten. Wenn z. B. der innerste und der zweite Kreis leer bleiben, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen sozial isolierten Menschen; es muss gefragt werden, wie der Klient entweder bestehende Bekanntschaften intensivieren oder
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Kapitel 3 • Illustrationen
sich Möglichkeiten zum Kennenlernen neuer Freunde schaffen kann. Gewisse normative Vorstellungen sind unvermeidlich mit den Beziehungskreisen verbunden, um eine Besprechung überhaupt zu ermöglichen; beispielsweise sollten zumindest im zweiten Kreis ein oder zwei Namen stehen – alles andere würde auf soziale Isolation hinweisen. Trotzdem stellt die Zeichnung natürlich immer nur eine grobe Annäherung an die psychische Realität der Klienten dar und hat ihren Zweck bereits erfüllt, wenn sich ein konstruktives Gespräch über Wertvorstellungen, Kontaktgestaltung im Alltag und Einstellungen zu Familie, Freunden und Bekannten entwickelt. Im innersten Kreis steht immer der Vorname des Klienten und – wenn vorhanden – der feste Partner oder die Partnerin, bei Personen unter 18 Jahren meist noch die Eltern als engste Bezugspersonen. Es handelt sich um einen interessanten Gesprächsanlass, wenn z. B. eine Klientin ihren Ehemann in einen der äußeren Kreise verbannt. Jüngere Erwachsene führen vielleicht noch die Eltern und gleichzeitig den bereits vorhandenen Partner im innersten Kreis auf – sie befinden sich im Übergang zur inneren und äußeren Selbstständigkeit. Bei Erwachsenen sind die eigenen Kinder im Alter von unter 18 Jahren meist noch dem innersten Kreis zuzuordnen, rutschen aber dann mit zunehmender Abnabelung normalerweise etwas weiter nach außen in den zweiten Kreis von engen Vertrauten. Dort haben auch sehr gute Freunde und Freundinnen sowie geschätzte Verwandte Platz, also Personen, mit denen der Klient sehr enge, persönliche Beziehungen pflegt. Diese Personen stellen bei psychischen Krisen sehr wichtige nichtprofessionelle Ansprechpartner dar. Im zweiten Kreis finden sich überdies Personen, um die sich der Klient selbst fürsorglich kümmert, z. B. die eigenen pflegebedürftigen Eltern –, wenn die Beziehung zu ihnen als positiv einzustufen ist. Es gibt allerdings auch Eltern erwachsener Klienten, die es mit Mühe in die vierte Kontaktebene schaffen oder ganz aus dem sozialen Netz der Klienten herausfallen, da die Beziehungen zerrüttet sind. Diese Tatsache kann natürlich zum Therapiethema werden, wenn die Klientin oder der Klient unter der problematischen Beziehung zu den Eltern leidet und das Gespräch darüber wünscht.
In der therapeutischen Praxis ist es erstaunlich, wie viele Personen im Alter von etwa 50 ± 3 Jahren in der Psychotherapie als dringendes Ziel angeben, sich intensiv mit der Beziehung zu den eigenen Eltern sowie mit Themen aus Kindheit und Jugend auseinandersetzen zu wollen. Die Beziehungskreise können in diesem Zusammenhang eine sinnvolle Gesprächsgrundlage bieten, da sie zu diesem Thema die persönlichen Daten in übersichtlicher Form liefern. Auch die Platzierung der erwachsenen Geschwister kann in Hinsicht auf die Qualität der Beziehungen recht aufschlussreich sein. Kontaktabbrüche mit Geschwistern stellen oft für die Klienten eine chronische psychische Hintergrundbelastung dar – der Therapeut kann explorieren, ob eine Lösung durch vorsichtige Kontaktaufnahme realistisch erscheint. Noch belastender ist der Kontaktabbruch mit eigenen erwachsenen Söhnen und Töchtern: Auch hier können die Beziehungskreise zum Gespräch über Lösungsmöglichkeiten anregen. Im dritten Kreis finden sich dann meist lockere, weniger vertraute Freunde und freundschaftliche Kollegenkontakte, im vierten Bekannte, Nachbarn und Kollegen oder rückgestufte ehemalige Freunde, z. B. »Andreas« in . Abb. 3.4. Diese eher normativ wirkenden Überlegungen sollen nur Anhaltspunkte für die Besprechung der Beziehungskreise darstellen. Wenn beispielsweise eine gut 50-jährige Frau noch unbedingt ihre beiden erwachsenen Kinder im innersten Kreis aufführen will, muss zumindest therapeutisch nachgefragt werden, ob es sich hier um eine zu große familiäre Verstrickung handelt; diese würde objektivierbar durch fehlende Entwicklungsschritte dieser »Kinder«, die vielleicht mit gut 30 Jahren noch nie eine Partnerschaft eingegangen sind, die aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Mutter wichtige berufliche Chancen verpasst haben oder die aus Angst vor der Welt noch nicht aus dem Elternhaus ausgezogen sind. Wenn diese Hypothesen verworfen werden können, dann ist der Eintrag der Patientin für den innersten Kreis nur als Ausdruck ihrer großen Zuneigung zu ihren Kindern zu werten und sollte nicht weiter problematisiert werden. Wenn diese Frau zusätzlich noch einen Enkel in den innersten Kreis hineinschreibt, den sie wochentags
3.1 • Einfache Illustrationen
betreut, so ist dies auch als angemessen zu sehen, da der Kontakt sicherlich sehr intensiv ist. Eine weitere, ebenfalls etwas normative Vorstellung: Es ist als günstig und bereichernd einzustufen, wenn die Person im zweiten oder dritten Kreis Vertreter des anderen Geschlechts als Freunde benennt, mit denen keine Partnerschaft besteht oder je bestanden hat. Leider ist dieses Kriterium oft nicht erfüllt – Frauen pflegen generell eher Freundschaften mit anderen Frauen, Männer nennen vielleicht einen männlichen Kumpel im zweiten Kreis, aber nur selten eine Frau als Vertraute, die keine Partnerin ist. Es ist erstaunlich, wie viele Namen ein Klient oft in diese Illustration einträgt, sobald er sich die Zeit nimmt, nach der Therapiesitzung sein Adressbuch durchzugehen oder auch nur gedanklich sein soziales Umfeld zu sortieren. Die Beziehungskreise werden am besten nur kurz innerhalb einer Therapiesitzung eingeführt und dann in einer Folgesitzung besprochen, sodass im Intervall zwischen den Sitzungen für das sorgfältige Ausfüllen der Karte genügend Zeit bleibt. Das Therapiegespräch bleibt zu oberflächlich, wenn innerhalb der ersten Sitzung viel Zeit damit verbracht wird, die einzelnen Namen in die verschiedenen Kreise einzutragen – dazu benötigt der Klient im Normalfall keine enge therapeutische Begleitung. Die gemeinsame Erstellung des gesamten Modells innerhalb der Therapiesitzung sollte nur bei Personen erfolgen, die kognitiv eingeschränkt sind, z. B. durch schwerste Depressionen, Schizophrenie oder beginnende Demenz. Mögliche wichtige therapeutische Diskussionspunkte in Bezug auf die fertig ausgefüllte Illustration können sein: 5 Was versteht der Klient überhaupt unter Freundschaft? Was braucht er von seinem Gegenüber, um tiefe Freundschaft (Eintrag im innersten Kreis) zu empfinden? Ist er selbst ein guter Freund für andere? Welche Vorbehalte und Ängste verknüpft er mit engen Freundschaften? Ist es leichter, mit Männern oder mit Frauen im Gespräch Vertrautheit zu entwickeln? 5 Einsamkeitsgefühle entstehen vor allem, wenn der Klient den innersten Kreis leer lassen muss und nicht wahrnehmen kann, dass möglicher-
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weise trotzdem die äußeren Kreise gut gefüllt sind. Die Illustration kann also für eine umfassendere Perspektive auf das eigene soziale Umfeld sorgen. Wenn Familienmitglieder weit in die äußeren Bereiche gerückt sind, kann es sinnvoll sein, die Ursprungsfamilie von der selbst gewählten Family der eng vertrauten Freunde zu unterscheiden. Dabei soll die sprachliche Nähe des englischen Begriffs »family« zum Wort Familie betonen, dass gute Freunde Funktionen im Leben übernehmen können, die zuvor die Ursprungsfamilie oder auch die selbst gegründete Familie innehatte; oder die Family erfüllt Funktionen der Vermittlung von Geborgenheit, Zugehörigkeit und Begleitung im Leben, die von einer eher dysfunktionalen Ursprungsfamilie auch in früheren Zeiten nie erfüllt wurden. 5 Die äußeren Beziehungskreise können im emotionalen Bereich viel Begleitung und Unterstützung bieten, auch wenn der innerste Kreis leer bleibt, der Klient also alleinstehend ist. Das Therapiegespräch kann zum Ziel haben, die ausschließliche Orientierung auf das Vorhandensein einer Partnerschaft zu lockern, denn das Modell impliziert, dass Kontakte zu Menschen auf einem Kontinuum von Intensität und Vertrautheit basieren und dass alle Arten von Kontakten, auch die weniger intensiven, wichtig sind. Die Visualisierung wirkt so dem Schwarz-Weiß-Denken entgegen: »Nur wenn ich eine feste Partnerschaft habe, bin ich nicht einsam.« Hier handelt es sich kognitiv um eine persönliche Regel auf der Ebene der bedingten Annahmen (Beck,1999). 5 Idealerweise sollte der zweite Kreis mindestens den Namen einer sehr vertrauten Person enthalten – dies stellt einen Schutzfaktor gegen die Entwicklung von Depressionen dar. Wie pflegt der Klient diesen Kontakt? Macht er sich die Mühe, einen räumlich entfernten guten Freund immer wieder auch persönlich aufzusuchen, statt nur E-Mails auszutauschen oder zu telefonieren? Wenn der Klient keine Person dort aufführt, könnte gemeinsam überlegt werden, woran das liegt – vielleicht ist er im Gespräch mit seinen Bekannten letztlich nicht offen genug, sodass sich diese
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Kapitel 3 • Illustrationen
Kontakte nicht vertiefen können, vielleicht liegt es aber an einem neuen Wohnort oder an der ungünstigen Zeitgestaltung im Alltag. Bei depressiven Personen zeigen sich in dieser Therapiesequenz häufig soziale Defizite wie fehlende Offenheit, übertriebene Suche nach Rückversicherung oder sogar nach negativer Rückmeldung von anderen (vgl. Joiner & Timmons, 2009), die weitere Therapieinterventionen hinsichtlich der sozialen Kompetenz und Kontaktgestaltung erfordern. 5 Was fehlt in den Beziehungskreisen, wie hat der Klient seine Unzufriedenheit symbolisiert? Welche alten Freundschaften könnten wieder aufgegriffen, welche Bekanntschaften intensiviert werden? Oder benötigt der Klient zusätzlich zu guten Freunden noch ein paar lockere Bekannte für Unternehmungen und Spaß, da sich die engen Freunde nicht ständig um ihn kümmern können? 5 Wo gab es Enttäuschungen und Herabstufungen in der Beziehung zu einer Person? Diese Bewegung nach außen kann durch rote Pfeile innerhalb der Beziehungskreise symbolisiert werden (»Andreas«, . Abb. 3.4). Ein solch dynamisches Modell ist sinnvoll, wenn der Klient von mehreren Verlusten bzw. Herabstufungen in den letzten zwei bis drei Jahren berichtet. Sind diese Verluste psychologisch adäquat verarbeitet? Welche Gründe gab es? Was hat der Klient durch sein eigenes Kontaktverhalten beigetragen? Gibt es Änderungsbedarf im eigenen Verhalten? Insbesondere bei Herausfallen von nahen Familienmitgliedern aus den ersten beiden Beziehungskreisen besteht meist Gesprächsbedarf. Im Coaching ist denkbar, dass diese Illustration in Form von Kollegenkreisen ausschließlich die verschiedenen Kontaktformen sowie Nähe, Distanz und Konflikte im Arbeitsleben zusammenfasst. Dies ist wichtig bei der Beratung von Personen, die unter Konflikten leiden oder auch nur ihr kollegiales Umfeld sowie ihre eigenen Erwartungen und Wünsche an die Kollegen besser verstehen wollen. Dabei sollten Farben bzw. farbliche Markierungen für die Einträge verwendet werden, wenn für eine Führungskraft auf mittlerer Ebene zusätzlich
die drei Ebenen der Kollegen auf gleicher Ebene, der Mitarbeiter und der Vorgesetzten voneinander unterschieden werden müssen. Dies macht allerdings die Kollegenkreise in der Ausführung deutlich komplexer.
3.1.5
Gedanken und Einstellungen: Das Gedankennetz
Die Idee zu der Illustration Gedankennetz entstammt der Theorie zur kognitiven Verhaltenstherapie nach Aaron und Judith Beck (z. B. Beck, 1999, S. 18) und visualisiert die hierarchische Verbindung der drei Gedankenebenen: Automatische Gedanken, die an spezielle Situationen gebunden sind, sehr verkürzt formuliert werden und spontan auftreten, kombinieren sich innerhalb bestimmter Themenkreise zu abstrakteren Regeln, Einstellungen und Annahmen, den bedingten Annahmen oder »intermediate beliefs«. Auf dieser mittleren Abstraktionsebene wäre das kognitive Schema anzusetzen. Auf der höchsten Abstraktionsebene finden sich die wenigen Grundannahmen (»core beliefs«) der Person, die eine essenzielle Selbstwahrnehmung darstellen, sich über viele verschiedene Lebensbereiche hinweg bemerkbar machen und die im Falle von negativen Aussagen (z. B.: »Ich bin ein Versager«) nur schrittweise modifizierbar sind (. Abb. 3.5). Die meisten Menschen haben natürlich auch viele positive Gedanken auf allen drei Abstraktionsebenen, die aber zunächst in der Psychotherapie nicht erhoben werden – die kognitive Verhaltenstherapie nach Beck setzt bei den dysfunktionalen Gedanken auf allen drei Ebenen an. Positive Kernsätze werden dann im Rahmen der Therapiegespräche langsam als Gegengewicht zu den negativen bedingten Annahmen entwickelt. Diese können in einem Analogmodell vom Klienten als Zusammenfassung seiner Umstrukturierungen entwickelt werden. Eine Kenntnis der kognitiven Verhaltenstherapie nach Aaron und Judith Beck ist für die Verwendung dieser Illustration Voraussetzung. Beispiel: Automatische Gedanken in Bezug auf Kontakte: »Keiner mag mich«, »Ich bin zu dick«, »Die finden mich doof«; Schlussfolgerung und Regel daraus,
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3.1 • Einfache Illustrationen
3
»Alleine geht gar nichts.«
»Das schaffe ich nicht.«
»Bei mir klappt nie was!« »Ich bin blöd.«
GA »Ich bin ein Versager.«
AG
AG
BA
AG
BA
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AG
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. Abb. 3.5 Gedankennetz. Visualisierung von Kognitionen auf den drei Ebenen der automatischen Gedanken (AG), bedingten Annahmen (BA) und Grundannahmen (GA). Für jede Ebene und/oder jeden Themenbereich kann eine andere Farbe verwendet werden. Die Zeichnung stellt eine Systematisierung und Zusammenfassung der vorangegangenen Sitzungen zur Erhebung dysfunktionaler Kognitionen dar. Ein Lösungsnetz mit den umstrukturierten, hilfreichen Gedanken kann ebenfalls erstellt werden
also eine bedingte Annahme: »Ich bin für andere unattraktiv.« Diese Regel kann auf die Grundannahme: »Ich bin nicht liebenswert« verweisen. In . Abb. 3.5 findet sich ein anderes inhaltliches Beispiel aus dem Leistungsbereich: »Bei mir klappt nie etwas. Ich bin ein Versager.« In der Illustration sollte eine Gruppe von automatischen Gedanken und ihre zugehörige Einstellung oder Annahme möglichst in der gleichen Farbe dargestellt werden. Die Verstrebungen bzw. Pfeile machen deutlich, dass die alltäglichen automatischen Gedanken (AG) die zugehörige Einstellung, Annahme oder Regel (BA) regelrecht
verankern. Jede Abstraktionsebene der Gedanken wird durch analoge Darstellung der Umrandungen (eventuell auch hier dieselbe Farbe oder die gleiche Umrandung verwenden) miteinander in Beziehung gesetzt. Das Aufmalen dieser drei Ebenen mit den konkreten zugehörigen Gedanken eines Klienten kann in der mittleren Phase der Psychotherapie verdeutlichen – im Sinne der Transparenz in der kognitiven Verhaltenstherapie (Kanfer et al., 2006) –, wie der Therapeut denkt und welche Zielrichtung die Gespräche sinnvollerweise nehmen sollten oder bereits genommen haben, nämlich von außen nach
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3
Kapitel 3 • Illustrationen
innen: Von den automatischen Gedanken in spezifischen Situationen (AG) führt das Gespräch zu allgemeineren Regeln, Einstellungen und Annahmen (BA) und möglicherweise auch zu einer wichtigen Grundannahme (GA), die früh im Leben geformt und seither nie mehr überprüft wurde. Nach den Gesprächen und emotionsaktivierenden Übungen zur Umstrukturierung – einige der Stuhlübungen eignen sich sehr gut für die Entwicklung der hilfreichen, realistischen und positiven Gedanken – kann der Klient ein neues, positives Gedankennetz entwickeln, um seine Fortschritte festzuhalten. Viele Klienten schätzen eine solche Systematisierung ihrer Erfahrungen mit der kognitiven Umstrukturierung im Einzel- oder Gruppengespräch, sodass die Therapiemotivation und Zusammenarbeit hier nochmals gezielt gestärkt werden können. Weiterhin ermöglicht allein die Erarbeitung eines Gedankennetzes mit der Benennung von verschiedenen Themenbereichen eine Sortierung und Priorisierung von Therapiethemen sowie eine Planung der nächsten gemeinsamen Therapieschritte im Sinne einer Konkretisierung der zu Beginn der Therapie formulierten Ziele. Nicht selten ergeben sich im Gespräch auch noch zusätzliche Aspekte eines kognitiven Schemas auf der mittleren Ebene, die noch gar nicht im Gespräch erwähnt wurden und die dann in der weiteren Therapie aufgegriffen werden können. Das Gedankennetz kann also verschiedene Aufgaben in der Psychotherapie erfüllen: 5 Formale Systematisierung von verschiedenen gedanklichen Abstraktionsebenen: automatische Gedanken, bedingte Annahmen/Regeln/ Einstellungen, Grundannahmen. 5 Inhaltliche Systematisierung durch die Benennung von verschiedenen Themenbereichen und die Gruppierung der Kognitionen in diesen Bereichen. 5 Auffinden und Benennen neuer und Präzisierung bereits erwähnter Therapiethemen. 5 Priorisierung der Themenbereiche für die Psychotherapie: Hierarchiebildung. 5 Planung der nächsten Therapieschritte, z. B. durch Auswahl einer Illustration oder einer passenden emotionsfördernden Stuhlübung. 5 Förderung der Therapiemotivation und der konstruktiven Zusammenarbeit zwischen
Zwang
Trauma
Somatische Probleme
Depression
. Abb. 3.6 Verzahnte Krankheiten oder Verhaltensweisen. Im klinischen Bereich eine Visualisierung der Beziehungen von verschiedenen Krankheiten oder problematischen Verhaltensweisen zueinander. Die Krankheiten am besten in verschiedenen Farben und Formen gestalten. In diesem Beispiel ist die Depression eine Art Grundgefühl im Leben einer Patientin, die Zwangsrituale sichern sie zusätzlich vor dem Erleben der Intrusionen eines traumatischen sexuellen Missbrauchs ab; somatische Symptome fügen sich punktuell ins Erleben ein. Die Illustration führt zu einer Diskussion über Funktionalität
Klienten und Therapeuten durch verständliche Systematik und Transparenz des Vorgehens.
3.1.6
Belastende Komorbidität: Verzahnte Krankheiten oder Verhaltensweisen
Diese Zeichnung eignet sich in der Psychotherapie vor allem für die Darstellung komplexer komorbider psychischer Störungen, wenn sich im Therapiegespräch herausstellt, dass die Störungen oder die problematischen Verhaltensweisen zumindest teilweise funktional miteinander verknüpft sind. Man könnte jedoch auch einzelne problematische Verhaltensweisen auf diese Art in Beziehung zueinander setzen, sollte die Illustration dann aber eher als verzahnte Verhaltensweisen bezeichnen. Hier wäre daher auch die Schnittstelle zur nichtklinischen und beruflich motivierten Beratung (. Abb. 3.6). Die in der Zeichnung verwendeten Formen können von Fall zu Fall natürlich sehr unterschiedlich gestaltet werden. Die Funktion »schützen vor« oder »ablenken von« findet sich jedoch häufig und ist gut durch den nach oben gewölbten Halbkreis zu symbolisieren, während punktuell auftretende
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3.1 • Einfache Illustrationen
Störfaktoren durch ein spitzes Dreieck veranschaulicht werden können. Die Illustration wird am besten schrittweise gemeinsam mit dem Klienten erstellt. Wie für andere Illustrationen gilt auch hier, dass emotionale Prozesse sichtbar gemacht und schwer zu verbalisierende Inhalte sowohl sprachlich als auch optisch präzisiert werden können. Farben sind hier, wie immer, sehr hilfreich. Für motivierte Klienten kann ein solches Modell auch als Hausaufgabe gestellt werden, wobei der Therapeut in diesem Fall eine Beispielzeichnung eines anderen Falls erstellen sollte, damit der Klient das Prinzip dieser Form der Visualisierung erfassen kann. Eine typische Verknüpfung zwischen psychischen Störungen besteht, wenn die im Vordergrund stehende Störung das Erleben und die Belastungen der Symptome einer anderen Störung verhindern soll: Die nach außen hin wahrnehmbare Störung übernimmt eine Schutzfunktion in Bezug auf sehr belastenden Emotionen im Rahmen einer anderen Störung. Beispiel: Manchmal hemmt eine Zwangsstörung oder eine schwere Essstörung das Erleben der erschreckenden Intrusionen einer zugrundeliegenden posttraumatischen Störung nach sexuellem Missbrauch (vgl. Beispiel in . Abb. 3.6). Dies lässt sich klinisch dadurch erklären, dass sowohl Zwänge als auch schwere Essstörungen sehr viel psychische Energie eines Menschen binden; es handelt sich funktional um eine intensive und gelungene, allerdings auch problematische Abwehrstrategie, die letztlich in eine zusätzliche psychische Erkrankung hineinführt. Eine andere, eher kausal und nicht als Schutz zu verstehende Verknüpfung von psychischen Störungen ergibt sich, wenn eine Störung die Grundlage oder Vorbedingung für eine andere darstellt. Eine Anorexie kann z. B. auf der Grundlage einer Depression mit Selbstwertproblematik und einem zwanghaften Abnehmversuch mit dem Ziel des Schönseins und Gefallens entstehen. In solchen Fällen macht die Zeichnung für den Klienten transparent, wie der Therapeut denkt, und fördert für ihn die Einsicht in seine eigenen psychischen Prozesse. Beim Erstellen der Illustration hat der Klient überdies die Gelegenheit, das Modell gemäß seiner subjektiven Erfahrung zu validieren oder zu verändern. Hieraus entsteht dann ggf. eine ambulante oder stationäre Therapieplanung, die
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sowohl dem Therapeuten als auch dem Klienten sinnvoll erscheint und zu einer überdachten Priorisierung der Störungen und der Reihenfolge von therapeutischen Maßnahmen führt; dies gilt vor allem in Bezug auf die Fülle der möglichen Therapiemaßnahmen in der stationären Psychotherapie, aber auch für das schrittweise ambulante Vorgehen. Das Modell kann also die verschiedenen Phasen der Therapie darstellen und nachvollziehbar machen, welche Reihenfolge von Schwerpunkten die günstigste ist. Dabei ist nicht unbedingt immer zwingend die Bewegung von außen nach innen zu empfehlen, obwohl sie sich meistens anbieten wird, wenn das Modell dem Beispiel aus . Abb. 3.6 ähnelt. Analog könnte man im Coaching verschiedene, klar abgegrenzte Problembereiche zueinander in Beziehung setzen, wenn zuvor funktionale Beziehungen wie Schutz, Kausalität oder Bedingtheit dieser Problembereiche im Gespräch deutlich wurden. Ein Substanzmissbrauch z. B. hat oft die Funktion, gewisse berufliche Probleme mit negativ empfundener Emotionalität nicht sehen und nicht fühlen zu wollen. Dies kann hier visualisiert werden. Außerdem könnte im Coaching diese Illustration auch verschiedene Aspekte des Arbeitslebens eines Klienten zueinander in Beziehung setzen. Als Beispiel sei ein größeres Projekt genannt, dessen Durchführung Schwierigkeiten bereitet: Die Illustration setzt wichtige Aufgaben, die zu erledigen sind, in Beziehung zu Störungen dieses Ablaufs, zu selbstbehindernden Verhaltensweisen wie übermäßigem Substanzgenuss oder Ablenkungen aller Art und zu Basisbedingungen, die das Projekt betreffen etc.
3.1.7
Multikausales Modell: Der Ursachenstern
Zu Beginn der Psychotherapie fragen die Klienten den Therapeuten oft – und zu Recht –, warum sie überhaupt eine psychische Störung entwickelt haben; die von ihnen wahrgenommenen Ursachen sind häufig sehr unvollständig und rechtfertigen subjektiv daher nicht die erlebte Ausprägung der psychischen Störung. Der Klient spürt also, dass ihm in der Herleitung seiner Probleme Informatio-
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Kapitel 3 • Illustrationen
Selbstwert, Abhängigkeit
Eheprobleme, Gewalt
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Traditionelle Werte
Tochter, Vorwürfe
Scham wegen Depression
Depression
Finanzen, keine Arbeit
Elternhaus
Eisenmangel
Alter
Umzug = fehlende Freunde, Umstellung
. Abb. 3.7 Ursachenstern. Die Ursachen für eine psychische Störung oder ein gravierendes Problem(verhalten) können sich auf Ereignisse beziehen, die zum Teil weit in der Vergangenheit liegen, bzw. können sich auf verschiedenen Ebenen (Psyche, Körper, Beziehungen, Schicksalsschläge) befinden. Durch farbige Markierungen (in der Abb. durch verschiedene Umrandungen markiert) lassen sich die Ursachen in Gruppen zusammenfassen. Der Lösungsstern wird analog erarbeitet
nen und Einsichten fehlen. Weiterhin gibt es Klienten, die aufgrund geringer Introspektionsfähigkeit kaum Zugang zu den vielfältigen Belastungsfaktoren haben, die ihre psychischen Probleme in Gang gesetzt haben. Insbesondere bei Depressionen, aber auch bei schweren Essstörungen, sind die Klienten oft regelrecht erstaunt über die Vehemenz ihrer Symptome und machen sich überdies Gedanken darum, ob und wie sie selbst zu dieser problematischen Entwicklung beigetragen haben. Dies gilt aber analog auch für viele andere klinische und nichtklinische Problemlagen. Bei Coachingklienten könnten z. B. die vielschichtigen Ursachen für ein Burnout auf diese Weise visualisiert werden. Auch das psychische Straucheln unter monatelangem Mobbing – einem eskalierten Konflikt – durch Vorgesetzte oder Kollegen würde sich für einen Ursachenstern eignen (. Abb. 3.7). Dieses ganzheitliche Ursachenmodell in Form eines Sterns erfordert meist zur gemeinsamen Erarbeitung mindestens eine ganze Therapiesitzung, also 50 Minuten, oder auch länger. Im stationären
Umfeld notiert man meistens 8 bis 15 Strahlen für den Stern, ambulant eher weniger. Die Benennungen der verschiedenen Strahlen sollten vom Klienten möglichst selbst formuliert werden. Man kann mit Farben dann die jeweils zusammengehörenden Elemente des Sterns markieren, in . Abb. 3.7 durch jeweils verschiedene Umrandungen (Linien, Striche, Punkte) gekennzeichnet: Körperliche Ursachen werden rot umrandet, Beziehungsprobleme blau, Schicksalsschläge schwarz etc. Am Ende einer solchen Sitzung wirkt der betroffene Klient – in den Händen eine Karteikarte mit seinem individuellen Ursachenstern – dann oft von der Menge der dargestellten Ursachen emotional überwältigt. Acht bis 15 Strahlen im Ursachenstern sind durchaus die Norm. Um einer Stimmung von Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit durch diese Konfrontation mit seiner Situation entgegenzuwirken, sorgt der Therapeut vor Beendigung der Sitzung dafür, die nun folgende, sorgfältige therapeutische Aufarbeitung zu erwähnen und Hoffnung zu erzeugen: »Es gibt für alle Strahlen des Sterns Möglichkeiten der positiven Verände-
3.1 • Einfache Illustrationen
rung; wir werden jeden einzelnen Punkt sorgfältig bearbeiten.« Mit positiver Veränderung kann natürlich auch die größere Akzeptanz gemeint sein, wenn es sich z. B. um genetische Belastungen, das Älterwerden, unveränderliche Schicksalsschläge oder Verluste handelt. Der Ursachenstern hat ganzheitlichen Charakter, denn er benennt Ursachen aus den verschiedensten Lebensbereichen und aus der gesamten Chronologie des Lebens einer Person. Manche Strahlen reichen zeitlich weit zurück, gehören aber aufgrund ihrer massiven Auswirkungen auf die Gegenwart des Klienten definitiv in das Modell hinein. Folgende Aspekte können im Ursachenstern Berücksichtigung finden: 5 Äußere, objektive Bedingungen wie Wohnsituation, städtisches/ländliches Umfeld etc. sowie ein Umzug in ein neues Umfeld, 5 kulturelle Herkunft: Bindungen, Bindungsverlust, Verunsicherungen, Konflikte, 5 gravierende Verluste und Schicksalsschläge aus den letzten Jahren, 5 unbewältigte frühe Schicksalsschläge des Lebens, 5 belastende Aspekte der privaten Lebenssituation wie Sorge um hilfsbedürftige Angehörige oder um ein behindertes Kind, 5 familiäre Situation: Belastungen in den Beziehungen zu (Ex-)Partner, Kindern und Verwandten allgemein, 5 individuelle objektive Bedingungen wie Alter oder Lebensphase, körperliche Einschränkungen, somatische Erkrankungen, genetische Belastungen, dauerhafte Einnahme von Medikamenten mit möglichen Nebenwirkungen, 5 Rollenübergänge: Auszug aus dem Elternhaus und erste Selbstständigkeit, Empty-Nest-Syndrom, kürzlich erfolgte (Früh-)Berentung, 5 aktuelle oder chronische Konflikte mit Freunden, Bekannten, Nachbarn etc., 5 psychologische Einstellungen wie: »Ich sollte immer perfekt sein und keine Schwäche zeigen«, »Ich sollte meine Probleme allein bewältigen«, »Eine psychische Erkrankung zu haben bedeutet Schwäche« etc. (bedingte Annahmen nach Beck, 1999), 5 Unzufriedenheit durch fehlende spirituelle Eingebundenheit,
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5 berufliche Probleme aller Art: Langeweile oder Überforderung, Gratifikationskrisen; strukturelle Kränkungen (z. B. nicht befördert worden zu sein), Konflikte mit Kollegen, Mitarbeitern, Vorgesetzten, 5 privater und beruflicher Dauerstress, z. B. durch fehlendes Zeitmanagement, schlechte Pausengestaltung, fehlende Fähigkeit zur Priorisierung, mangelhafte Abgrenzung von Anforderungen und Unfähigkeit zur Delegation von Aufgaben etc., 5 gravierende finanzielle Probleme, Verschuldung. Nach dem Erstellen eines Ursachensterns sollte unbedingt die nächste Sitzung zur konstruktiven Arbeit an den verschiedenen Punkten genutzt und schrittweise ein Lösungsstern erarbeitet werden. Als Vorarbeit kann der Klient zunächst in Form einer Hausaufgabe weitere Präzisierungen, die ihm sinnvoll erscheinen, am Ursachenstern vornehmen. Der Therapeut oder Berater kann eine der folgenden Strategien für die Arbeit am Ursachenstern vorschlagen, bevor man den Lösungsstern erstellt: 5 Gleiche farbige Markierungen für mehrere Ursachen zeigen Probleme auf derselben Ebene an, z. B. soziale Aspekte werden in Blau, körperliche Probleme in Rot und Schicksalsschläge in Schwarz markiert. Der Klient erhält einen Überblick über den Schwerpunkt seiner Problematik oder die Differenziertheit der verschiedenen Ursachen, wenn kein Schwerpunkt zu erkennen ist. 5 Es besteht die Möglichkeit, ein zentrales Thema zu formulieren, das viele Aspekte des Ursachensterns verknüpft, z. B.: »Ich muss mich immer an andere anpassen.« 5 Der Klient markiert die verschiedenen Strahlen des Sterns mit drei Zeichen (Kreis, Dreieck, Punkt) für seine Einschätzung, in welchem Maße jeder Punkt von ihm beeinflusst werden kann: »gar nicht beeinflussbar«, »etwas oder indirekt beeinflussbar« oder »liegt zu 100% in meiner Hand«. 5 Der Klient verwendet eine numerische Bewertungsskala von 1 bis 10 für jeden Strahlen-Endpunkt und bewertet so die jeweilige subjektive Bedeutung jeden Punktes. Diese Priorisierung
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Kapitel 3 • Illustrationen
wird dann in der Erarbeitung von Lösungsansätzen beachtet. 5 Der Klient entscheidet ganz direkt mithilfe einer einfachen Nummerierung, in welcher Reihenfolge er die verschiedenen Ursachen bearbeiten möchte. Der Ursachenstern regt aber selbst bereits zur Formulierung von Lösungen an – manche Klienten machen dies spontan, andere bekommen diese ressourcenorientierte Arbeit als Hausaufgabe: Der Klient beginnt selbstständig oder nach Aufforderung durch den Therapeuten zwischen den Sitzungen, für jeden Strahl des Sterns einen Lösungsansatz zu formulieren. Er visualisiert dies auf einer zweiten Karteikarte in analoger Aufteilung als Lösungsstern. Wenn ein Klient dies spontan ausführt, ohne eine explizite Hausaufgabe zu diesem Thema erhalten zu haben, bestätigt dies die motivierende und aktivierende Kraft der Illustration. Die nachfolgenden Therapiegespräche greifen alle Punkte und die zugehörigen Lösungsansätze sorgfältig auf. Wenn der Klient selbst seinen Lösungsstern beschriftet, achtet der Therapeut auf konkrete und verhaltensnahe Formulierungen, damit die Umsetzung im Alltag gelingt. Die Lösungsansätze enthalten, gemäß der ganzheitlichen Natur des Ursachensterns, die verschiedensten Aktivitäten: 5 Entwicklung neuer, hilfreicher psychologischer Einsichten, z. B. statt: »Ich sollte alles allein schaffen«, nun: »Ich darf mir Hilfe suchen, auch beim Partner oder bei Freunden.« 5 Einen Arztbesuch vereinbaren oder Schulungen zum besseren Management einer chronischen Erkrankung, z. B. eines Diabetes, aufsuchen. 5 Eine Ernährungsumstellung bei Übergewicht beginnen, dafür Information einholen. 5 Bücher lesen, um das spirituelle Vakuum zu füllen, oder nach spirituellen Anregungen in Form von Kursen, Kirchenbesuchen und Gesprächskreisen suchen. 5 Wichtige Lebensschritte planen, z. B. in Hinsicht auf den Auszug aus dem Elternhaus oder der Lebensgestaltung nach Scheidung, Berufswechsel oder Berentung.
5 Bestimmte, unveränderliche Tatsachen, z. B. ein sehr hohes Krebsrisiko aufgrund einer genetischen Belastung, nach und nach innerlich akzeptieren. 5 Schmerzliche Verluste immer mehr annehmen, ggf. im Therapiegespräch einen Abschied von einem geliebten Menschen gestalten (vgl. Stuhlübung, 7 Kap. 4.4.3). 5 Einen Brief an einen bestimmten Menschen schreiben, ein Telefonat führen, einen Besuch machen, ein Paar- oder Familiengespräch mit dem Therapeuten verabreden oder eine vertiefende Stuhlübung durchführen, wenn der persönliche Kontakt mit dem wichtigen Menschen, mit dem ein Problem besteht, nicht (mehr) möglich oder erwünscht ist. Die lösungsorientierte Besprechung dieses multikausalen Modells kann im Grunde die Themen der gesamten weiteren Psychotherapiesitzungen beinhalten. Der Ursachenstern sollte, wenn dies passend erscheint, auch die fehlende oder vernachlässigte spirituelle Seite des Klienten aufführen. Wenn Spiritualität nicht nur als christliche Religiosität, sondern breiter im Sinne einer existenziell berührenden Erfahrung (vgl. die Glückspyramide, 7 Kap. 3.2.7) definiert wird, fühlen sich die meisten Klienten auch auf dieser Ebene angesprochen. Zumeist wird der Therapeut dieses Thema anregen und mit einer für den Klienten akzeptablen Formulierung in den Ursachenstern einfügen, wenn er es als wichtigen Faktor wahrnimmt. Theoretisch könnte man natürlich die verschiedenen Strahlen des Ursachensterns noch mit weiteren Pfeilen zueinander in Beziehung setzen, da sie oft voneinander abhängen, aber dies würde die Zeichnung ziemlich komplex aussehen lassen. Das Therapiegespräch profitiert von der Einfachheit der Darstellung, mit der der Therapeut seine Ideen kommuniziert; eine sehr übersichtliche Darstellung fördert sowohl das Verstehen als auch die Abspeicherung der Inhalte im Gedächtnis. Nachdem der Ursachenstern erstellt wurde, tragen die verschiedenen Formen der Arbeit mit dieser Illustration implizit den Beziehungen zwischen den verschiedenen Themenbereichen Rechnung: Es wird für jeden Klienten eine subjektive Logik der Bearbeitung seines Ursachensterns geben, die
3.1 • Einfache Illustrationen
auf seinen persönlichen Eigenarten und Bedürfnissen sowie den prozessorientierten Erfahrungen des Therapeuten beruht. Ein Beispiel aus dem klinischen Bereich: Die Bearbeitung von körperbezogenen selbstschädigenden Verhaltensweisen wie Hungern, Substanzmissbrauch oder Selbstverletzung hat grundsätzlich Vorrang vor der Beschäftigung mit anderen Problemen im Bereich Psyche oder Lebensführung. Eine etwa 40-jährige Patientin, hochengagierte Krankenschwester mit Zusatzqualifikationen und Beteiligung an Forschungsstudien, kam mit Depressionen, Ängsten und dem Gefühl des Ausgebranntseins in die Klinik. Der große Ursachenstern zeigte vielfältige zeitnahe und zeitferne Ursachen ihres Zustands. Nach der Erarbeitung des Sterns mit insgesamt 15 Strahlen kam die Patientin mit ihrer Karte in die nächste Therapiesitzung und hatte in großen Buchstaben um den inneren Kreis, in dem die Worte »Depression«, »Angst«, »Burnout« standen, herumgeschrieben: »Ich will geliebt werden.« Sie sah dies als zentrales Thema an, das viele Problemfelder miteinander verknüpfte und vor allem die mangelnde Selbstfürsorge sowie das übermäßige berufliche Engagement erklärte. Es folgte die sorgfältige Bearbeitung aller 15 Strahlen des Sterns und die ausführliche Besprechung ihres sehr verständlichen und wichtigen Bedürfnisses, geliebt zu werden.
3.1.8
Krankheitsnutzen: Das Funktionsmodell
Das Modell zum Krankheitsnutzen (. Abb. 3.8) entstand im Rahmen der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung von Zwangsstörungen und hat sich in den vielen Jahren seiner Verwendung auch für das Verständnis anderer psychischer Störungen gut bewährt. Erfahrungsgemäß sind auch Essstörungen oder die Agoraphobie mit Panikstörung hoch funktionalisiert, und die Arbeit am Funktionsmodell fördert bei der Patientin die innere Distanzierung von den bis dahin überwiegend implizit erlebten, scheinbaren Vorteilen der Störung.
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3
Die Funktionsanalyse innerhalb der Therapiesitzung ersetzt zwar nicht die sorgfältige Verhaltensanalyse auf Mikro- und Makroebene mit Erstellung eines funktionalen Bedingungsmodells (vgl. Kanfer et al., 2006) für den Kassenantrag, aber sie liefert wichtige Basisinformationen für alle professionellen Berichte des niedergelassenen Verhaltenstherapeuten. Die Funktionskreise stellen eine möglicherweise recht umfangreiche Zusammenfassung der externalen und internalen aufrechterhaltenden Faktoren einer Problematik dar. Bei manchen Klienten dient die psychische Störung zur Machtausübung in der Familie, bei anderen steht eher die psychische Stabilisierung des Selbstwertgefühls oder die Vermeidung von anstehenden Lebensaufgaben, z. B dem Verlassen der Ursprungsfamilie, im Vordergrund. Für die Verwendung des Funktionsmodells ist es günstig, Vordrucke mit leeren Kreisen verschiedener Größe auf DIN-A4-Blättern zu erstellen, um sich das (ggf. zweimalige) Aufmalen des ganzen Modells zu ersparen – das Lösungsmodell kann nämlich analog zum Funktionsmodell auf einem zweiten Formblatt erarbeitet werden. Im zentralen Kreis kann »Z« für Zwang stehen, »D« für Depression oder »E« für Essstörung etc. Als Beispiele sind in . Abb. 3.8a, b zusammenfassend und in allgemeiner Formulierung einige typische Funktionen für ausgeprägte Zwangsstörungen und Depressionen vermerkt. Solche Funktionen von Krankheiten »fressen« sich über Jahre hinweg kognitiv-emotional und zeitlich und in das Leben der Betroffenen hinein und bilden auf diese Weise gleichsam einen Schutzwall um die Person herum, der im Fall von Zwangspatienten in der ausgeprägten Angst wurzelt, negative Gefühle direkt zu erleben. Auch chronifizierte Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa sowie die soziale Phobie, Agoraphobie mit Panikstörung oder Sucht können im Leben der Betroffenen stark funktionalisiert sein und einen sehr pathologischen Lebensstil erzeugen, von dem die meisten oder alle Lebensbereiche und insbesondere nahe Angehörige betroffen sind. Bevor das Funktionsmodell sinnvoll eingesetzt werden kann, sollte der Therapeut seinen Klienten ziemlich gut kennen und eine erste Verhaltensanalyse durchgeführt haben. Das gemeinsame Aus-
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3
Kapitel 3 • Illustrationen
Gefühlsbewältigung
Beziehungen zu anderen Menschen
Gefühlsbewältigung
Beziehungen zu anderen Menschen
Negative Gefühle vermeiden: Hass, Ekel, Sinnlosigkeit etc.
• Konfliktvermeidung • Zuwendung erhalten • Machtausübung
Aggressive Gefühle vermeiden; schlimme Erinnerungen vermeiden
• Konfliktvermeidung • Zuwendung erhalten • Machtausübung
Lebensaufgaben vermeiden
Gewohnheit, Automatismus Z
• Auszug bei Eltern • Arbeitsplatz, Partner suchen
D
Funktionen für das Selbst • Stütze für Selbstwert • Erzeugen von Kontroll-, Sicherheits-, Allmachtsgefühlen • Schutz vor Depression oder Psychose
Lebensaufgaben vermeiden
Gewohnheit, Identifikation, Selbstmitleid
• Auszug bei Eltern • Arbeitsplatz, Partner suchen
Funktionen für das Selbst Psych. Störung als Lebensphilosophie
• Depression gibt Erlaubnis zu Ruhe, Rückzug und Selbstfürsorge • Schutz vor Überforderung
Zwang als Richtschnur für das moralisch perfekte Leben
a
b
Psych. Störung als Lebensphilosophie • Pessimismus als »überlegene« Weltsicht • Depression als Gottes Strafe
. Abb. 3.8 Funktionsmodell. Bestimmte problematische Verhaltensweisen (z. B. Sucht, Selbstverletzung etc.) und einige psychische Störungen entwickeln mit der Zeit vielfältige Funktionen im Leben des Betroffenen, die auch als Krankheitsgewinn oder Krankheitsnutzen bezeichnet werden. a Dieses Modell zeigt mögliche Funktionen bei chronischer Zwangsstörung. b Dieses Modell zeigt mögliche Funktionen für eine Depression. Ein individuelles Modell mit Lösungsansätzen kann auf einem zweiten Vordruck mit denselben Kreisen analog erarbeitet werden
füllen der Kreise ergänzt und präzisiert wiederum die Vielfalt der Bedingungen, unter denen ein dysfunktionales Verhalten im Alltag aufrechterhalten wird. Als Stuhlübung dazu bietet sich übrigens das Gespräch mit der Störung (7 Kap. 4.3.2) an: Nach dieser emotionsaufdeckenden Intervention stellen die Funktionskreise die schriftliche, intellektuelle Aufarbeitung der Stuhlübung dar. Man kann aber auch umgekehrt vorgehen und die zuvor schriftlich erarbeiteten Funktionen in eine Stuhlübung zur Entwicklung von Ressourcen gegen die vielfältigen Funktionalisierungen überführen. Die . Abb. 3.8 soll Ideen für die individuelle Funktionsanalyse im sokratischen Dialog liefern und Bereiche erfassen, die auch bei vielen anderen psychischen Störungen betroffen sind. Selbst bei sehr intelligenten und psychologisch differenzierten Klienten sollte diese Analyse der eigenen Moti-
ve jedoch keinesfalls als Hausaufgabe zwischen den Therapiesitzungen aufgegeben, sondern gemeinsam im Gespräch erarbeitet werden, denn dieser Prozess erfordert viel Introspektionsfähigkeit und innere Distanz zum eigenen Verhalten. Genau diese beiden Fähigkeiten werden beim Klienten im Therapiegespräch über die Funktionalisierung seiner Probleme gefördert. Eine präzise Benennung des eigenen Problemverhaltens, z. B. die Einsicht: »Ich vermeide durch meine Symptomatik den nächsten Schritt in meinem Leben, nämlich den Auszug aus meinem Elternhaus«, stellt bereits eine sinnvolle Therapieintervention mit implizitem Aufforderungscharakter dar. Im Gespräch kann der Therapeut dabei eine exzessiv schuldhafte Verarbeitung der gewonnenen Einsichten in die Funktionalität (»Ich zerstöre das Leben meines Partners«) oder die Bedrohung des Selbstwertgefühls (»Ich bin ein
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3.2 • Komplexere Illustrationen
Idiot und habe mein ganzes Leben verpfuscht«) sofort erörtern, sodass der Klient nicht übermäßig emotional belastet auf das fertige Funktionsmodell reagiert, sondern diese Zusammenstellung als Systematisierung und Aufforderung zur positiven Veränderung auffasst. Der Ausblick auf die lösungsorientierten Besprechungen aller Punkte des Funktionsmodells in den nächsten gemeinsamen Sitzungen sollte in jedem Fall erfolgen, selbst wenn der Klient am Ende der Besprechung (noch) keine emotionalen Belastungen durch die Zusammenstellung der Problempunkte erkennen lässt. Diese emotionale Reaktion tritt erfahrungsgemäß nach einiger Reflexion oft abends oder in den Tagen nach der Therapiesitzung auf. Die Folgesitzungen dienen der Aufarbeitung der verschiedenen Funktionen: »Wenn Sie in der Familie mit Ihren Zwängen Macht ausüben, ist das problematisch, aber wie könnten Sie es denn erreichen, auch ohne Zwänge angemessenen Einfluss zu haben und gehört zu werden?« Zusätzlich zum Funktionsmodell kann optional ein analoges visuelles, ressourcenorientiertes Lösungsmodell erstellt werden, um konkrete Veränderungsstrategien für jeden Kreis des Funktionsmodells schriftlich zu erfassen. Da das Funktionsmodell manchmal recht detailliert und daher in seiner emotionalen Wirkung sehr intensiv ausfallen kann, ist die Verwendung des gleich aussehenden Formblatts für das ressourcenorientierte Lösungsmodell aus Gründen der Balance sehr sinnvoll – es gibt dem Klienten ein erstes Gefühl von Kontrolle über diese Problembereiche. Bei der Anfertigung dieser Illustration ist die Verwendung von Farben sehr hilfreich Die therapeutische Verwendung des Funktionsmodells mit dem Klienten kann mehrere Formen annehmen: 5 Ein leeres Formblatt nur mit Kreisen und Pfeilen dient in der Therapiesitzung der gemeinsamen Erarbeitung aller individuell gültigen Themenbereiche und Erläuterungen. 5 Ein Vordruck mit leeren Kreisen dient zum Schreiben, und ein sehr ausführliches, vorbereitetes Funktionsblatt mit Erläuterungen (vgl. . Abb. 3.8a, b) dient als Ideengeber für den Klienten sowie als Vorlage für die Beschriftung des individuellen Funktionsmodells. Der The-
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rapeut achtet in diesem Fall darauf, dass der Klient nicht nur abschreibt: »Am besten ist es, wenn Sie sich zwar Ideen von dem Ausdruck holen, alle Punkte aber in Ihren eigenen Worten formulieren.« 5 Ein Formblatt mit einigen Überschriften (z. B. »Beziehungen zu anderen Menschen«, »Funktionen für das Selbst«, »Gefühlsbewältigung«) wird im gemeinsamen Gespräch durch die individuellen Inhalte ergänzt; Themenbereiche, die für diesen Klienten nicht zutreffen, werden ausgestrichen. 5 Optionaler Zusatz für die Lösungsphase: Nachdem der Klient das Funktionsmodell erarbeitet hat, verwendet er einen zweiten, analog aufgeteilten Vordruck mit leeren Kreisen für die Formulierung seiner Ressourcen, Ideen und Lösungsstrategien. Das Lösungsmodell wird im Verlauf der Psychotherapie noch schrittweise ergänzt, sodass es dieser Therapiephase einen Rahmen gibt.
3.2
Komplexere Illustrationen
Die Illustrationen in diesem Unterkapitel haben weniger diagnostischen und einführenden Charakter, sondern fördern direkt den Veränderungsprozess beim Klienten und binden ihn zum Teil durch intensive Hausaufgaben ein. Oder sie stellen Zusammenfassungen ganzer Therapiephasen dar. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen den Illustrationen aus 7 Kap. 3.1 und 7 Kap. 3.2 nur vage zu treffen und variiert stark durch die Art der Verwendung im Therapiegespräch und der persönlichen Bedeutung für den jeweiligen Klienten – auch einige der Illustrationen aus 7 Kap. 3.1 können natürlich stark prozessorientiert verwendet werden.
3.2.1
Eigenlobmodell: Der Kopffüßler
Bei einer Umfrage in einer Psychotherapiegruppe von 12 bis 14 Erwachsenen melden sich normalerweise nur zwei oder drei Personen auf die Frage, wer denn in seinem jetzigen Lebenszusammenhang – privat und beruflich – genügend Lob und Anerkennung erhält. Die meisten Klienten in der
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Kapitel 3 • Illustrationen
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. Abb. 3.9 Kopffüßler. Diese kindliche Zeichnung ist Anlass für die ausführliche Erarbeitung der Regeln zur adäquaten Selbstverstärkung und der Hausaufgabe dazu. Gut geeignet bei Gratifikationskrisen im Job, niedrigem Selbstwertgefühl und Depressionen sowie häufigen negativen Selbstverbalisationen
Psychotherapie und sicher auch viele im Bereich Coaching und Beratung leiden unter einem Defizit an positiven Erlebnissen und positiver Verstärkung durch andere Menschen im Alltag. Andererseits sind Erwachsene bereit, kleine Kinder großzügig und klar zu loben, auch wenn die Leistung, die vom Kind erbracht wurde, noch sehr zu wünschen übrig lässt. Über den Kopffüßler, den ich manchmal mit der ironischen Bemerkung »Hier ist ein echter Hedlund« überreiche, war eine Klientin einmal so belustigt, dass sie sich die Karte nach dem Gespräch noch signieren ließ. Die Einführung der Sequenz durch die betont kindliche Zeichnung (. Abb. 3.9) mit einem großen Grinsen nimmt dem Thema die Schwere und fördert eine positive Gesprächsatmosphäre, und zwar sowohl im Einzel- als auch im Gruppengespräch. Die Illustration eignet sich natürlich auch gut für die beruflich motivierte Beratung, insbesondere bei Gratifikationskrisen. Der Therapeut malt einen Kopffüßler auf eine Karte mit der Anmerkung: »Stellen Sie sich vor, Ihr dreijähriger Sohn bringt Ihnen dieses Gemälde als Geschenk – was sagen Sie?« Selbst depressive Klienten sind meistens gewillt und in der Lage, diese sehr unperfekte Zeichnung für das Kind mit »Wie schön, prima, hast du toll gemacht, der lacht ja …« zu bewerten. Einschränkungen wie »ziemlich«, sprachliche Verneinungen wie »nicht
schlecht« oder direkte Kritik wie: »Der hat ja gar keinen Bauch, keine Haare und keine Nase« kommen normalerweise nicht vor. Anhand dieser Reaktionen auf die Illustration kann der Therapeut anschließend die Diskrepanz zwischen unserem Umgang mit einem kleinen Kind und uns selbst oder anderen Erwachsenen erläutern – wann sind wir je gewillt, einen anderen Erwachsenen in großzügiger Weise zu loben? Oder gar uns selbst? Da die Klienten im Alltag selten genügend Anerkennung erhalten, legt die Schlussfolgerung nahe, dies in die eigenen Hände zu nehmen. Bei Einführung des Wortes Eigenlob, das weniger akademisch als der Fachausdruck Selbstverstärkung klingt, muss der Therapeut manchmal auch die deutsche Redensart »Eigenlob stinkt« kritisch beleuchten. Eine Therapiegruppe mit ausschließlich depressiven Patienten, die sehr angetan auf den Kopffüßler reagiert hatten, wandelte diesen Ausdruck am Ende dieser Therapiesequenz kurzerhand in das ressourcenorientierte Motto: »Eigenlob stärkt« um; man könnte das Motto auch umwandeln in: »Eigenlob stimmt.« Nach der Erläuterung, warum Lob und Anerkennung für jeden Menschen wichtig sind und selbstwertstabilisierende Funktionen haben, werden die wichtigsten Regeln für Selbstverstärkung am Beispiel der Reaktionen auf den Kopffüßler gemeinsam erarbeitet und neben der Zeichnung für den Klienten schriftlich fixiert: 5 Einen vollständigen Satz formulieren, so, als würde man zu einer Person sprechen. 5 Das Verhalten, das gelobt wird, sollte genau benannt werden – eine diffuse Zufriedenheit über die Ereignisse wäre nicht ausreichend. 5 Der Satz muss positiv formuliert werden – doppelte Verneinungen wie »nicht schlecht« kommen kaum oder sogar falsch im Unterbewusstsein an. 5 Großzügige Ausdrücke wie »sehr gut«, »toll«, »super«, »klasse« sollten verwendet werden. 5 Keine Einschränkungen mit den Wörtern »eigentlich«, »ziemlich«, »etwas« etc. vornehmen. 5 Perfektion und Heldentaten werden nicht verlangt – der Klient darf sich selbst für alles anerkennen, wofür er sich angestrengt hat und
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3.2 • Komplexere Illustrationen
was für ihn persönlich nicht selbstverständlich ist. 5 Ob andere Personen dieses Verhalten sowieso schon beherrschen, sollte für den Klienten nicht ausschlaggebend sein – es gibt sicher immer erfolgreichere Leute, aber der Klient darf sich trotzdem loben. Es ist sehr wichtig, anschließend den Transfer dieser Therapiesequenz in den Alltag in Form von konkreten Hausaufgaben zu sichern: Die Klientin oder der Klient sollte sich in einem Zeitraum von fünf bis sieben Tagen mindestens fünfmal ein großzügiges Eigenlob für aktuell vorkommende positive Verhaltens- und Denkweisen aussprechen und die fünf ausformulierten Sätze für die nächste Sitzung schriftlich fixieren. Zusätzlich könnten fünf weitere anerkennende Sätze für die Leistungen und Erfolge des Klienten in der Vergangenheit vorgeschlagen werden – ein Zusatz, der insbesondere bei depressiven Personen sehr sinnvoll ist, die nicht nur die Gegenwart, sonder auch ihre eigene Biografie in düsteren Grautönen wahrnehmen. In der Nachbesprechung zeigt sich immer wieder, dass diese scheinbar einfache Aufgabe auf Widerstände stößt (»Habe ich vergessen«) oder nicht korrekt durchgeführt wird, obwohl die Anleitung für die Formulierung von Eigenlob in schriftlicher Form vorlag und sicher nicht komplex ist. Es ist insbesondere bei depressiven Menschen günstig, wenn der Therapeut auch nach der Besprechung dieser schriftlichen Fixierung von Selbstverstärkung das Thema immer wieder aufgreift, da die alten Gewohnheiten des negativen Denkens sehr mächtig sind und sich nicht einfach in zwei Therapiestunden abschließend verändern lassen. Die Stuhlübung zum inneren Kritiker (7 Kap. 4.3.1) könnte dem Kopffüßler vorausgehen oder ihm folgen. Personen, auf deren Selbstumgang das Bild des inneren Kritikers gut zutrifft, profitieren von der neuen Gedanken- und Wahrnehmungsdisziplin, immer wieder auf das Positive im Leben zu achten, auch auf die kleinen und scheinbar unwichtigen Erfolge im Alltag.
3.2.2
3
Traumamodell: Die Mauer im Kopf
Diese Illustration (. Abb. 3.10) entstand, um das psychotherapeutische Vorgehen bei der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung von Traumata im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung zu verdeutlichen, insbesondere zur Erklärung des Vorgehens bei Expositionen in Bezug auf die belastenden inneren Bilder oder Intrusionen. Sie findet in der ersten Therapiephase Anwendung und soll die therapeutische Allianz stärken sowie im Sinne der Transparenz in der Verhaltenstherapie die Kooperation der Patientin – es handelt sich meistens um Frauen mit sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte – mit dem therapeutischen Vorgehen fördern. Diese Illustration ist vielfach erprobt, viele Kolleginnen und Kollegen berichteten bereits von sehr guter Annahme des Traumamodells bei ihren Patientinnen. Für andere Störungsbilder kann die Illustration auch einfach als »Mauer im Kopf« bezeichnet werden. Bei Zwangspatienten besteht die Mauer aus ausgeprägtem Vermeidungsverhalten und Zwangsritualen aller Art, die eine direkte Konfrontation mit dem gefürchteten Stimulus, z. B. (imaginiertem) Schmutz, vermeiden sollen. Das Modell erläutert für den Zwangspatienten die Notwendigkeit der Exposition für seine Gedanken und sein Verhalten. Analog würde bei Essstörungen mit den vielen Nahrungsverboten oder auch bei Agoraphobie mit Panikstörung mit den sorgfältig vermiedenen Alltagssituationen verfahren. Im Coaching gibt es Klienten, die aufgrund von massiven Ängsten nicht mehr zum Betreten ihrer Arbeitsstelle in der Lage sind, weil sie Mobbing oder anders geartete quasi-traumatische Situationen am Arbeitsplatz erlebt haben. Diese stark phobische Reaktion hinsichtlich der meist notwendigen Rückkehr an den Arbeitsplatz kann ebenfalls mithilfe des Traumamodells besprochen werden (s. unten): Die Mauer besteht in intensivem Vermeidungsverhalten, gestützt durch dysfunktionale Kognitionen. Die Zeichnung wird in zwei Phasen erstellt (. Abb. 3.10a, b), und der genaue Ablauf wird hier detailliert für eine posttraumatische Störung nach
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Kapitel 3 • Illustrationen
Trauma
Trauma
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Hobby
Hobby
Freunde
Freunde
Beruf
Beruf a
b
. Abb. 3.10 Traumamodell. Modell in zwei Schritten (es wird aber nur eine Zeichnung erstellt). a Der äußere Kreis symbolisiert »alles, was in Ihrem Geist Platz hat«, die geraden Pfeile (in Grün) stellen normale Denkvorgänge dar; der gebogene Pfeil (in Blau) stellt die Vermeidung des Traumabereichs nach Auftreten eines Hinweisreizes dar. Der Traumabereich ist durch eine durchgehende schwarze Mauer von anderen, durchlässigen Lebensbereichen (gestrichelt umrandet) abgetrennt. Der kleine Kreis innerhalb des Traumabereichs (in Rot) zeigt, dass die Betroffene sich nicht mehr aus dem Traumaerleben befreien kann, wenn sie unfreiwillig hineingeraten ist, z. B. durch einen starken Traumaauslöser. b Hier gibt es Durchbrüche (mit weißer Korrekturflüssigkeit über die schwarze Umrandung gemalt) durch die Mauer um das Trauma, der Prozess der Vermeidung (blauer, gebogener Pfeil, jetzt durchgestrichen) ist gestoppt worden, die normalen Denkvorgänge (zwei zusätzliche gerade, grüne Pfeile) können nun in den Traumabereich hinein-, aber auch ohne Hindernis durch die Öffnungen wieder hinausgelangen und symbolisieren die erarbeitete willentliche Kontrolle über die Beschäftigung mit den Traumainhalten. In der Praxis wird der Lösungsansatz (Durchbrüche durch die Mauer mit Korrekturflüssigkeit, neue grüne Pfeile etc.) in die erste Zeichnung hineingemalt, die Klientin erhält also nur eine Illustration vom Therapeuten
sexuellem Missbrauch geschildert, zunächst die erste Phase: 5 Der Therapeut malt in Schwarz den großen Kreis und die gestrichelten Kreise mit mehreren Bezeichnungen von Bereichen im Leben der Patientin, die unproblematisch sind: »Stellen Sie sich vor, dieser große Kreis enthält alles, was Sie in Ihrem Geist vorfinden können. Da gibt es also den Bereich Ihrer Freundschaften, Ihren Beruf und auch die Hobbys, von denen Sie mir bereits berichtet haben, und sicher noch einige andere Bereiche.« 5 Mit einem grünen Stift werden nun die »normalen Denkprozesse«, also die geraden Pfeile in Grün, eingezeichnet, die sich frei von einem Bereich zum anderen bewegen können – daher die gestrichelten Ränder für diese Bereiche: »Sie können in all diese Bereiche mit Ihren
Gedanken jederzeit ungehindert hineingehen und sie auch wieder verlassen.« 5 Mit schwarzem Stift zeichnet der Therapeut nun den dick umrandeten Traumabereich ein: »Dies hier ist die sehr hohe Mauer, die Sie um Ihr traumatisches Erlebnis gezogen haben. Dieser fast undurchdringliche schwarze Kreis symbolisiert Ihr Bemühen, diese Inhalte aus Ihrem Alltagsbewusstsein fernzuhalten, weil es zu schmerzlich und emotional überwältigend ist, sich mit diesen Ereignissen zu beschäftigen. Können Sie damit etwas anfangen?« Diese Frage ist zentral – die Traumapatientin sollte hier zustimmen, sonst kann die Illustration nicht fortgesetzt werden. Das Bild der Mauer im Kopf finden jedoch erfahrungsgemäß alle Personen mit derartigen Erlebnissen sehr passend.
3.2 • Komplexere Illustrationen
5 Als Nächstes wird ein gebogener blauer Denkpfeil eingezeichnet, der auf den Traumabereich zuläuft und in einer Kehrtwende vorher abbiegt: »Wenn Sie in Ihrem Alltag auf irgendwelche Hinweise treffen, die Sie stark an Ihr Trauma erinnern, dann versuchen Sie immer gezielt, diese Erinnerungen zu vermeiden. Es gibt rein gedankliche Vermeidungsstrategien, z. B. Ablenkung, und es gibt eine ganze Reihe konkreter Verhaltensweisen, die zu diesem Zweck verwendet werden können.« Hier kann der Therapeut das Gespräch vertiefen, indem er insbesondere problematische Strategien wie exzessiven Sport, übermäßiges Essen, Hungern, Substanzmissbrauch oder Selbstverletzung anspricht – letztlich alles Strategien, die das Auftreten von Intrusionen und den damit verbundenen Gefühlen abwenden sollen. Es kann therapeutisch sinnvoll sein, hier mit der Patientin gemeinsam alle Vermeidungsstrategien zu sammeln und außerhalb der Illustration auf der Karte zu notieren. Oft haben sich traumatisierte Menschen schon dermaßen an einen eingeschränkten Lebensstil gewöhnt, dass sie vieles als normal betrachten, was ursprünglich zum Schutz vor emotionaler Überflutung etabliert wurde: Sie halten sich von Menschenmengen fern, vermeiden die Nähe zu Männern allgemein, sie weichen Situationen aus, in denen Kontakte mit Männern nötig wären; sie gehen Situationen aus dem Weg, in denen sich Personen im Raum hinter der Patientin befinden, z. B. bei Mittelplätzen im Café, Restaurant oder Kino; sie vermeiden es, sich Medienberichte und Fernsehfilme zu Missbrauch und Gewalt allgemein anzuschauen. 5 Mit rotem Stift wird anschließend der kleine geschlossene Kreis mit Pfeil in den Traumabereich hineingemalt: »Der blaue Pfeil zeigt, dass Ihre Vermeidungsstrategien Sie immer wieder gut schützen. Das funktioniert aber leider nicht immer, denn manchmal werden Sie von Traumahinweisen im Alltag überrumpelt. Dabei kann es sich um die Bemerkung einer anderen Person, eine Fernsehnachricht oder das Auffinden eines bestimmten Gegenstands mit Erinnerungswert handeln. Dann passiert
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das, was dieser rote Kreis zeigen soll: »Sie geraten ungewollt in den Traumabereich hinein und kreiseln dort herum, ohne diesen Bereich absichtlich wieder verlassen zu können – es ist, als seien Sie mit Ihren Gedanken und Gefühlen dort gefangen, und dies erzeugt immense Ängste und Spannungen. Passt das zu Ihren Erfahrungen?« Auch an diesem Punkt ist die Zustimmung der Patientin für die weitere Diskussion unerlässlich. Hier endet die erste, beschreibende Phase des Traumamodells (. Abb. 3.10a), die auch prüft, ob die Patientin dieser Konzeptualisierung überhaupt zustimmt. Wenn die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung korrekt ist oder zumindest eine intensive Störung mit Traumacharakter vorliegt, dann müsste das Modell gut zum inneren Erleben der Patientin passen. Nicht nur bei klinisch diagnostizierbaren Störungen, sondern auch für subklinisch traumatisierte Personen, die ein gewisses Ausmaß an Vermeidungsverhalten entwickelt haben, kann diese Illustration hilfreich sein. Die Visualisierung zeigt der Patientin, dass sie vom Therapeuten verstanden wird – ein essenzieller Therapieschritt, denn die Traumabehandlung erfordert eine besonders belastbare therapeutische Allianz. Außerdem teilt der Therapeut auf diese Weise mit, dass es Konzepte gibt für das, was die Patientin täglich in ihrem Geist erlebt und was ihr Leben teilweise oder sogar in allen Bezügen stark einschränkt und belastet. Auf diese Weise kann bereits diese beschreibende Phase eine erste Hoffnung auf Entspannung erzeugen. Die zweite Phase (. Abb. 3.10b) besteht darin, das therapeutische Vorgehen der Exposition zu erklären: 5 Der Therapeut malt in die bereits erstellte Zeichnung hinein und erläutert: »Ziel unserer Behandlung ist nun, dass Sie diesen Traumabereich wieder bewusst aufsuchen und auch verlassen können, genau so, wie Sie es mit den anderen Lebensbereichen tun können – angezeigt durch die grünen (geraden) Pfeile für die normalen Denkprozesse. Wir können Ihre Erinnerung an das Trauma nicht einfach auslöschen, aber es ist möglich, die sehr hohe emotionale Belastung im Traumabereich deut-
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Kapitel 3 • Illustrationen
lich zu verringern. Was meinen Sie, wie wir das erreichen können? (Interaktion) Sie mussten ja selbst erfahren, dass sich dieser Traumabereich innerhalb des schwarzen Kreises durch Ihre Vermeidungsstrategien nicht einfach mit der Zeit aufgelöst hat. Hatten Sie das vielleicht zunächst erwartet oder gehofft? (Interaktion) Wenn Sie in das Traumaerleben hineingeraten und nicht mehr herauskommen – das ist der rote Kreis –, ist es, als sei das Trauma nur wenige Wochen und nicht viele Jahre her. Vielleicht hatten Sie ja erhofft, dass sich die ganze Lage von selbst beruhigt, aber die ausgetüftelten Vermeidungsstrategien im Alltag haben ein Umlernen und Abheilen der Belastungen verhindert. Daher denke ich, dass jetzt etwas Neues passieren sollte, denn Sie benötigen definitiv eine andere Lösung.« Im Gespräch wird gemeinsam erarbeitet, dass die Klientin sich mithilfe des Therapeuten und unter für sie kontrollierbaren Bedingungen bewusst mit ihren Gedanken und Gefühlen in diesen Traumabereich hineinbegeben muss, um die dort gespeicherten Inhalte zu bearbeiten und die emotionalen Belastungen schrittweise zu verringern – die Expositionsbehandlung. 5 Der Therapeut malt nun mit weißer Korrekturflüssigkeit die Durchbrüche über die schwarze Mauer und ergänzt zwei grüne, gerade Pfeile analog zu den normalen Denkprozessen im Modell; einer führt durch einen Durchbruch hinein in den Traumabereich, der andere führt an anderer Stelle wieder hinaus: »Diese Öffnungen in Ihrer Mauer – oder vielleicht sind es Durchbrüche – können wir durch gezielte psychotherapeutische Strategien erzeugen. Da es sich um eine seit Jahren bestehende Mauer handelt, erfordert es Mut und Kraft von Ihnen, die Mauer jetzt zu durchbrechen bzw. schrittweise abzubauen. Ich werde Sie aber dabei begleiten, Sie sind damit nicht allein. Wenn wir hier überall Öffnungen in der Mauer haben, dann können Sie wie bei allen anderen normalen Denkprozessen selbst entscheiden, ob Sie sich mit dem Trauma befassen und wann Sie diesen Bereich wieder verlassen wollen: Sie haben sich die volle Kontrolle über dieses Thema erarbeitet. Deshalb müssen die neuen
Pfeile auch grün sein, denn sie zeigen, dass Sie Ihre innere Freiheit, über alles nachzudenken und damit wieder aufzuhören, wiedererlangt haben.« 5 Der Therapeut kann anschließend im Detail die von ihm verwendete Form der Exposition darlegen und die Patientin auch darauf vorbereiten, dass die ersten Besuche im Traumabereich durchaus belastend und emotional aufwühlend sein können. Als Abwandlung kann das Modell bei Zwangsstörungen verwendet werden: Bestimmte angsterzeugende Emotionen sind hinter der Mauer von Zwangsritualen verborgen. Der rote Kreis im Traumabereich zeigt, unter welchen immensen Druck der Patient gerät, wenn er seine Rituale einmal nicht oder nicht vollständig durchführen kann. Wenn der Patient sich aber im Rahmen der Expositionsübungen wieder traut, diese angstbesetzten Emotionen direkt zu fühlen, also bewusst gewählte verhaltensbasierte Durchbrüche in die Mauer zu machen, kann er die Zwangsrituale schrittweise abbauen. Wenn im Coaching problematische Reaktionen auf die Arbeitssituation thematisiert werden, z. B. nach Mobbing, nach massiven Konflikten oder jahrelanger Selbstüberlastung, wird manchmal der gesamte Bereich Arbeit mit Vermeidungsverhalten vom normalen Leben wie mit einer Mauer abgetrennt: Der Coachingklient zeigt eine hochgradig phobische Reaktion und zieht sich komplett aus dem Arbeitsleben zurück, sodass ein Umlernen nicht mehr stattfinden kann. Der rote Kreis innerhalb des Traumabereichs kann dabei die endlosen nächtlichen Grübelschleifen des schlaflosen Klienten symbolisieren: Gedankliche Ablenkung und Vermeidung funktionieren nachts sehr viel schlechter als am Tag. Vermeidungsstrategien im Arbeitsleben können z. B. lange Krankschreibungen, übermäßiger Alkoholkonsum, aber auch Kontaktverweigerung mit der Arbeitsstelle sein. Solche Verhaltensweisen untergraben die geregelte Rückkehr an den Arbeitsplatz nach langer Krankschreibung sowie das normale Arbeiten und vor allem die Arbeitszufriedenheit und das Kompetenzerleben des Klienten. Die weißen Durchbrüche führen zu einem Gespräch mit dem Coach darüber, was der
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3.2 • Komplexere Illustrationen
Klient benötigt, um sich wieder in angemessener Form und ohne ungünstiges Verhalten der Arbeitssituation anzunähern.
3.2.3
Latente Suizidalität: Der Lebensbogen
Freunde Beruf Therapie
In der stationären und ambulanten klinischen Arbeit treffen Therapeutinnen und Therapeuten immer wieder auf Patienten (dieser Ausdruck passt beim Auftreten von Suizidalität besser als Klient), die Suizid über lange Zeit, oft über Jahre hinweg, als möglichen Ausweg aus ihren Problemen sehen. Es handelt sich hier um chronisch und schwer kranke Menschen, die oft emotionalen, gewalttätigen und/oder sexuellen Missbrauch in der Ursprungsfamilie erlebt haben oder sehr problematische Lebensereignisse wie den Verlust eines Kindes nicht adäquat verarbeiten konnten. Die Ursachen für chronische Suizidalität sind also vielfältig, aber im Hinblick auf den therapeutischen Prozess besteht eine Gemeinsamkeit: Latente Suizidalität wirkt wie ein unterschwelliges erpresserisches Konstrukt an das Leben – es ist, als ob der Patient sagen würde, in überspitzter Form: »Wenn mir irgendetwas im Leben (oder in Ihrer Therapie) nicht passt, dann kann ich ja immer noch verschwinden, indem ich mich umbringe.« Der Patient entzieht sich im Grunde auf diese Weise selbst die Energie, die er benötigen würde, um seine Probleme besser zu meistern. > Eine Intervention mit dem Lebensbogen darf auf keinen Fall mit akut suizidalen Patientinnen und Patienten durchgeführt werden – es handelt sich hier nämlich um eine leicht konfrontative Strategie, die Ruhe und Reflexion sowie letztlich innere Flexibilität erfordert und einen klaren Willen zur Veränderung einer langjährigen Einstellung entwickeln soll. Ein akut suizidaler Mensch kann dies nicht leisten.
Die meisten Psychotherapeuten empfinden die Arbeit mit Personen unter dieser latenten Bedrohung des Suizids als besonders belastend. Bei der Visualisierung dieses Prozesses im Lebensbogen wird versucht, die therapeutische Allianz zu fördern und gleichzeitig die konstruktive Auseinan-
Familie Krankheit
SELBSTMORDGEDANKE Hobby
Energieverlust keine Motivation
»Stöpsel«: Freund Natur Beruf etc.
. Abb. 3.11 Lebensbogen. Gesprächsgrundlage bei latenter Suizidalität. Wichtige Lebensbereiche verzeichnen; der chronische »Selbstmordgedanke« (Wort in Rot) als vermeintlicher Ausweg führt zu Verlust von Energie (Pfeil, Worte auch in Rot), die eigentlich zur Problembewältigung im Leben benötigt würde. Die Öffnung unten am Lebensbogen wird langsam mit »Stöpseln« geschlossen (in Grün, auch in doppelten Lagen anzubringen): »Warum lohnt es sich, eine klare Entscheidung für das Leben zu treffen?«
dersetzung mit der fantasierten Selbstzerstörung und deren Folgen für Angehörige und Freunde zu beginnen (. Abb. 3.11). Einführung des Lebensbogens und therapeutische Verwendung: 5 Der Therapeut malt den Lebensbogen mit einem breiten Loch am unteren Ende und einem Pfeil am oberen Linienende auf: »Das soll Ihr Leben symbolisieren – Sie kommen irgendwo her (linke Seite, Beginn des Bogens) und gehen irgendwo hin (Pfeil nach oben rechts).« 5 »Es gibt verschiedene Lebensbereiche, für die Sie Ihre Energie benötigen: Ihre Arbeit, Ihre Freunde, die Familie, Ihr Hobby.« Die für den Patienten zutreffenden Lebensbereiche werden in den bauchigen Teil des Bogens eingetragen. 5 »Nicht zuletzt benötigen Sie natürlich auch eine Menge Energie und Motivation, um Ihre psychische Erkrankung zu bewältigen.« Der Begriff »Krankheit« oder »Psychotherapie«
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Kapitel 3 • Illustrationen
wird im Lebensbogen verzeichnet, vielleicht sogar die klinische Diagnose, die dem Klienten bereits bekannt ist. In Rot wird nun das Wort »Selbstmordgedanken« in den Lebensbogen über die große Öffnung geschrieben; das deutsche Wort ist in der Arbeit mit Patienten dem abstrakten, klinischen Wort »Suizid« vorzuziehen. »Sie verwenden aber auch einige Energie, sich mit der Möglichkeit des Selbstmordes auseinanderzusetzen, vor allem, wenn es in der Therapie oder im Leben brenzlig wird; ist das stimmig für Sie bis hier?« Der Patient sollte der Annahme zustimmen, dass die Beschäftigung mit Selbstmord immer wieder Energie kostet. Manche Patientinnen und Patienten verbringen sogar ihre Abende im Internet als Mitglieder eines Suizidforums, weil sie sich dort mit ihrem Wunsch nach dauerhafter Erleichterung verstanden fühlen. Der Therapeut zeichnet nun einen senkrechten roten Pfeil vom »Selbstmordgedanken« aus dem Loch im Lebensbogen hinaus und schreibt darunter: »Energieverlust« oder »keine Motivation«. Das Rot symbolisiert auch das Blutige vieler Suizide – dies ist den Patienten intuitiv klar, es braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden. Anschließend wird der Zusammenhang erläutert zwischen einer klaren Entscheidung für das Leben und der Verfügbarkeit von psychischer Energie, Motivation, Ausdauer und Kraft, die verschiedenen Lebensaufgaben angemessen zu bewältigen. »Können Sie das so nachvollziehen? Wenn Sie die Beschäftigung mit und den Wunsch nach Selbstmord aufgeben können, werden Sie mehr Energie und Stärke verspüren, Ihr Leben aktiv in den Griff zu bekommen.« Dieser kritischen Gesprächssequenz sollte der Therapeut einige Zeit widmen. Innerhalb dieser Sitzung werden dann die ersten Stöpsel für das Loch im Lebensbogen entwickelt: »Wofür lohnt es sich denn, am Leben zu bleiben? Was ist Ihnen besonders wichtig? Oder wer?« Gemeinsam werden zwei oder drei Punkte erarbeitet, aber das Loch wird keinesfalls sofort geschlossen. Es wäre unrealistisch
und psychotherapeutisch nicht plausibel zu erwarten, dass eine vielleicht schon seit Jahren bestehende latente Suizidalität in einer einzigen Sitzung von 50 Minuten vollständig bewältigt werden kann. 5 Der Lebensbogen wird in der Psychotherapie als Prozessbegleiter gesehen: Der Patient bekommt die Hausaufgabe, sich weitere Stöpsel zu überlegen, diese auf der Karte zu notieren und jeden als weitere kleine, dicke Linie in das Loch einzuzeichnen. Die Öffnung im Lebensbogen sollte erst vollständig geschlossen werden, wenn der Klient auch psychisch dazu in der Lage ist, den Ausweg Selbstmord und die andauernde Beschäftigung damit vollständig aufzugeben. Dies mag im klinisch-stationären Bereich einige Wochen dauern, ambulant auch länger. Für das Loch im Lebensbogen können auch mehrere Lagen von Verschlüssen erarbeitet werden, sodass es auf jeden Fall nicht zu frühzeitig geschlossen wird. Der allerletzte Stöpsel sollte dann einhergehen mit einer überzeugenden Selbstverpflichtung, den Notausgang Selbstmord nicht mehr zur eigenen psychischen Entlastung zu verwenden. An diesem Punkt kann zusätzlich dann ein schriftlicher, ressourcenorientierter Lebensvertrag mit dem Patienten gemeinsam formuliert und unterschrieben werden. Da der Therapeut in diesem Therapieprozess dem Patienten vorschlägt, etwas aufzugeben, was er über Jahre subjektiv als Hilfe und als Ressource erlebt hat, ist es bei diesem Modell besonders wichtig, das Einverständnis des Patienten an verschiedenen Stellen der Erarbeitung des Lebensbogens einzuholen. Nach der erfolgreichen Einführung zeigt der Patient das Modell in den folgenden Wochen während der gemeinsamen Sitzungen immer wieder vor, und der Therapeut achtet bei der Besprechung auf das Problem der sozialen Erwünschtheit – dies tritt auf, wenn sehr schnell lauter Ressourcen oder Stöpsel auf der Karte erscheinen, aber doch deutlich wird, dass die notwendigen Änderungen der Einstellung zum Leben und zum Suizid in der Psyche des Patienten noch gar nicht stattgefunden haben. Die therapeutischen Besprechungen sind
essenziell, um zu verhindern, dass der Lebensbogen zur intellektuellen Fingerübung verkommt. Klinische Analogie: Selbstverletzungen können von der Patientin – es sind im klinischen Rahmen fast immer Frauen – mit traumatischem Erlebnishintergrund ebenfalls als eine zwar dysfunktionale, aber gleichzeitig sehr hilfreiche Bewältigungsstrategie bei inneren Anspannungszuständen empfunden werden. Auch dieses Verhalten ist nicht therapiefördernd, sondern aktiv destruktiv und muss längerfristig durch sinnvolle Strategien der Anspannungsreduktion ersetzt werden. Die Stöpsel für das Loch im Lebensbogen können für diese Variante des Lebensbogens nach und nach durch sinnvolle Handlungen im Sinne von Skills nach Marsha Linehan (z. B. 1996) formuliert werden, d. h. die Patientin erarbeitet gemeinsam mit dem Therapeuten nichtdestruktive und wirkungsvolle Verhaltensweisen zur individuellen Anspannungsreduktion. Auch hier wird das Loch im Lebensbogen erst ganz verschlossen, wenn die Patientin sich eine vollständige Abstinenz von Selbstverletzungen vorstellen kann.
3.2.4
Kontrolle und Akzeptanz: Das Schicksalsdiagramm
Das Schicksalsdiagramm hat sich für Menschen bewährt, deren Probleme zumindest teilweise darin begründet sind, dass sie mit Personen und Ereignissen hadern, die sie nicht verändern können. Manche Personen verausgaben sich für Projekte, die zum Scheitern verurteilt sind, da sie nicht im individuellen Kontrollbereich liegen (. Abb. 3.12). Beispiele für solche meist vergebliche Einflussversuche auf die andere Seite könnten sein: 5 »Mein Ehemann soll sich ändern, z. B. nicht mehr so viel trinken oder emotional expressiver werden.« 5 »Meine erwachsenen Kinder sollen sich mehr um mich kümmern.« 5 »Mein Körper sollte sofort ganz anders sein.« 5 »Mein Arbeitsplatz sollte viel besser sein.« Wahrscheinlich hegt jeder Mensch in gewissem Maße solche »Die Welt sollte anders sein«-Einstellungen, aber im klinischen Bereich oder in der
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3.2 • Komplexere Illustrationen
100% - Das ganze Leben Schicksal
Meine Seite *
50% • Meine Bereiche: Gesundheit, Freunde, Arbeit, Wohnung... • Entscheiden • Habe Kontrolle • Trage Verantwortung • Engagement
Meine Möglichkeiten im Leben zu 100% nutzen
50% • • • • •
Andere Menschen Krankheiten, Gene Unfälle Zufälle, Glücksfälle Politik, Umwelt, Kultur
Annehmen, Demut zeigen oder auf meine Seite überführen
* Übergriffe auf die Schicksalsseite sind problematisch . Abb. 3.12 Schicksalsdiagramm. Die Gesamtskala entspricht dem »ganzen Leben«, »meine Seite« mit 50% wird gemeinsam mit den individuellen Möglichkeiten unter der Kontrolle des Klienten beschriftet; Aufgabe Klient: Diese Seite immer zu 100% nutzen. Die rechte Seite – die anderen 50% – wird zunächst inhaltlich erarbeitet und beschriftet, dann benannt: Seite des Schicksals. Aufgabe Klient: Entweder demütig annehmen oder einzelne Punkte sinnvoll in den linken Bereich des eigenen Engagements (unterer gebogener Pfeil, in Grün) überführen. Der gewölbte Pfeil oberhalb des Modells (in Rot) zeigt dysfunktionale Übergriffe in den Schicksalsbereich: Problematisches Verhalten individuell benennen, Folgen wie Energieverlust, Konflikte etc. ausführlich besprechen
Beratungssituation wird oft ein zu großes Ausmaß solcher Kognitionen erkennbar, die chronische Gefühle wie Ärger, Frustration oder Hoffnungslosigkeit nach sich ziehen. Klinisch neigen Personen mit narzisstisch oder zwanghaft akzentuierten Persönlichkeiten zu einem erhöhten Kontrollbedürfnis im Leben, aber auch viele Personen mit Angststörungen aller Art, insbesondere mit Zwangsstörungen und mit Depressionen oder Essstörungen können durch die Unterscheidung meine Seite – Schicksalsseite ihre Einstellungen überprüfen. Die Illustration wird als sehr anschaulich und als gute Diskussions-
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Kapitel 3 • Illustrationen
grundlage auch für Gruppensitzungen erlebt. Die Einführung erfolgt in mehreren Schritten: 5 Auf der Skala des Schicksalsdiagramms ergänzen sich die Themen Kontrolle und Akzeptanz zu dem, was der Therapeut einfach zunächst »das ganze Leben« nennen kann. Er malt als Erstes die gesamte Linie auf, teilt sie in zwei Hälften und malt die großen Klammern unter beide Bereiche: »Das hier ist Ihr gesamtes Leben. Hier, diese 50% stellen Ihre Seite dar. Ich nenne sie deshalb einfach ‚meine Seite.’« Man kann die geschweifte Klammer grün malen oder den Bereich, den sie von der Lebenslinie abtrennt, grün schraffieren: »Hier gehören Ihre Energie und Ihr volles Engagement hin.« 5 »Auf Ihrer Seite können Sie alles Mögliche tun, hier haben Sie Kontrolle.« Therapeut und Klient erarbeiten gemeinsam, welche Formen der Aktivität auf dieser Seite für diesen Klienten wesentlich sind. Typische Bereiche, die dort angesprochen werden können: Gesundheitsverhalten aller Art, Stressmanagement, Wahl des Partners, der Freunde und Bekannten, berufliches Engagement, Wahl der Freizeitbetätigung, des Wohnorts. Allgemeine Ausdrücke, die dort notiert werden könnten: handeln, entscheiden, Kontrolle ausüben, Verantwortung übernehmen. 5 »Nun möchte ich aber nicht, dass Sie resignieren, weil Sie nur 50% Ihres Lebens in dieser Form unter Kontrolle haben. Sie müssen sich im Leben immer wieder entscheiden, Ihre Seite – diese 50% auf der linken Seite – auf jeden Fall zu 100% zu nutzen.« Der Therapeut schreibt diese Schlussfolgerung »Meine Möglichkeiten im Leben zu 100% nutzen« unter die Liste auf der linken Seite. 5 »Die Skala zeigt aber Ihr ganzes Leben. Worin bestehen denn Ihrer Meinung nach die anderen 50%?« Einige Klienten können diese andere Seite sofort beschreiben: »Das ist alles, was nicht meiner Kontrolle unterliegt.« Nun erarbeiten Therapeut und Klient, was sich auf dieser Seite befinden könnte: Die Einstellungen, Meinungen und Kommunikationsformen anderer Menschen; genetische Einflüsse auf das Leben, z. B. in Form von Krankheiten; positive oder negative Eigenarten
der Ursprungsfamilie; Zufälle, Unfälle oder Glücksfälle des Lebens. Die gezielte Auswahl der Themen ermöglicht die Individualisierung der Illustration. Der Therapeut erweitert außerdem die Sichtweise um überindividuelle Aspekte des Lebens wie politische Ereignisse, soziale und kulturelle Umgebung, um so dem Satz: »Das ist Ihr gesamtes Leben« Rechnung zu tragen. Überdies gibt es vereinzelt tatsächlich Klienten, die durch das Weltgeschehen zu sehr belastet sind und zu viele Emotionen investieren in Bereiche, auf welche sie praktisch keinerlei Einfluss haben, z. B. auf die globale Umweltzerstörung. Für die meisten Klienten vervollständigen diese überindividuellen Punkte aber nur das Diagramm im allgemeinen Sinn. 5 Als Nächstes folgt die Frage: »Wie sollen wir denn diese andere Seite nennen, die Sie im Grunde nicht persönlich kontrollieren können?« Vorschläge der Klienten könnten sein »Gott« oder auch »mein Schicksal«. Der Begriff Schicksalsdiagramm hat sich als weltanschaulich neutral und daher allgemein tauglich erwiesen; das Wort Schicksal wird nun über der rechten Seite notiert. 5 »Wenn Ihre Hauptaufgabe auf Ihrer Seite das Zupacken ist, also die 100%ige Nutzung Ihrer Möglichkeiten, welche Hauptaufgabe haben Sie auf der Schicksalsseite?« Das ursprünglich deutsche Wort annehmen ist in Therapie und Beratung immer dem etwas klischeebehafteten Fremdwort akzeptieren vorzuziehen, auch wenn Letzteres fest zum allgemeinen Sprachgebrauch gehört. Der Therapeut notiert das Wort annehmen, ggf. auch den Zusatz demütig unter der Liste auf der rechten Seite des Diagramms: Es geht nicht darum, sich grollend den Notwendigkeiten zu beugen, sondern um eine echte innere Entspannung des Klienten in Bezug auf die Dinge, die er nicht verändern kann, für deren Veränderung er aber bisher Energie und Emotionen investiert hat. 5 Als Einschub für differenzierte Klienten kann hier bereits erwähnt werden, dass das Engagement für Schicksalsbereiche durchaus sinnvoll sein kann, wenn eine realistische Form des Handelns für das Individuum gefunden wer-
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3.2 • Komplexere Illustrationen
den kann (s. unten). Daher heißt in . Abb. 3.12 die Beschreibung der Aufgabe auf der Schicksalsseite: »Annehmen, Demut zeigen – oder überführen auf meine Seite.« Der geknickte Pfeil (in Grün) symbolisiert sinnvolles Engagement. 5 »Wenn Sie nun ständig von Ihrem Bereich aus auf den Schicksalsbereich übergreifen, wenn Sie auf diese Weise ständig Gefühle und Energie in erfolglose Aktivitäten, Wünsche und Hoffnungen investieren, dann erzeugen Sie für Ihr Leben mehr Belastungen als nötig – dieser Bereich des Schicksals liegt einfach nicht in Ihrer Hand.« Der Therapeut zeichnet oben über der Skala einen gewölbten roten Pfeil ein, der vom Bereich des Klienten auf die Schicksalsseite übergreift. »Es ist immer wieder sinnvoll sich zu fragen, ob sich das Problem, das Sie wahrnehmen, wirklich auf Ihrer Seite befindet.« Dabei betont der Therapeut die wichtige Trennung zwischen den 50%-Bereichen nochmals, indem er eine kurze, dicke senkrechte Linie auf die Mitte der Lebenslinie einzeichnet. Für weniger kritisch denkende Menschen kann die Vorstellung des Schicksalsdiagramms hier enden und ins Therapiegespräch über die notwendigen Unterscheidungen »meine Seite – Schicksalsseite« im Alltag überführt werden. Es gibt übrigens erstaunlicherweise sehr selten Personen, die die Setzung: »Sie haben nur 50% Ihres Lebens unter Kontrolle« infrage stellen und diesen eigenen Anteil vielleicht eher auf 60% oder gar 70% einschätzen würden. Diese Wahrnehmungen und Wünsche des Klienten nach Kontrolle können für die Beurteilung seiner Weltsicht sehr aufschlussreich sein. Im Gespräch gebe ich natürlich in diesem Moment zu, dass ich den Wert von 50% selbst gewählt habe und dass es sich keinesfalls um eine irgendwie objektivierbare Wahrheit handeln kann. Es scheint sich aber um eine akzeptable Einschätzung unserer Einflussmöglichkeiten zu handeln. Wie bereits mehrfach erwähnt, dient auch das Schicksalsdiagramm als Gesprächsgrundlage, und gerade dieser Punkt des Ausmaßes der eigenen Kontrolle über das Leben kann für das Therapiegespräch sehr nützlich sein.
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Kontraindikationen
Für Personen, insbesondere für Frauen aus anderen Kulturkreisen, z. B. aus eher traditionell orientierten Migrantenfamilien, kann meine Seite keinesfalls mit 50% angesetzt werden, da diese Menschen sehr viel weniger Freiheiten im Leben genießen. Ich würde davon abraten, das Schicksalsdiagramm in solchen Therapien oder Beratungen überhaupt zu verwenden. Auch schwer behinderte Menschen, die auf Hilfe von außen angewiesen sind, haben sehr viel weniger Wahlmöglichkeiten als der durchschnittlich körperlich gesunde Mensch. Auch in diesen Fällen sollte das Diagramm nicht vorgestellt werden. Ein häufigerer und auch therapeutisch ergiebiger Einwand zur einfachen Form dieses Diagramms betrifft die Interaktion des individuellen Bereichs mit der Schicksalsseite. Manche Klienten bemerken zu Recht, dass beide Seiten in vielen Punkten keinesfalls unabhängig voneinander, sondern interdependent sind. Am Beispiel Krankheiten zeigt sich, dass die Person selbst durch Ernährung, Sport, Substanzgebrauch und Stressmanagement einiges zur Krankheitsgeschichte ihres Lebens beiträgt, dass sie aber andererseits auch vieles als schicksalhaft hinnehmen muss (genetische Belastungen, Einflüsse von außen wie Infekte, Unfälle). In Bezug auf andere Menschen bestehen ebenfalls Querverbindungen, denn die Kommunikationsformen unter Partnern, Freunden und Kollegen beeinflussen sich jeweils gegenseitig, aber trotzdem hat mein Gegenüber immer die grundsätzliche Freiheit zu entscheiden, wie er mit mir umgehen möchte, selbst wenn ich das höchste Niveau meiner sozialen Fertigkeiten an den Tag lege. Begriffe wie Einfluss und Kontrolle müssen hier sorgfältig voneinander getrennt werden; wir haben letztlich immer Einfluss auf die andere Seite, wenn es sich um Menschen im eigenen Umfeld handelt, aber dieser Einfluss ist oft in seinen Ergebnissen nicht berechenbar und ist daher nicht mit wirklicher Kontrolle gleichzusetzen. Ob mein Partner sich verändert, weil ich plötzlich positive Kommunikationsformen zeige, oder eben nicht, liegt letztlich immer in seinem eigenen Ermessen. In der Diskussion über Beziehungen zu anderen Menschen ist das Thema der übersteigerten Erwartungen an das Verhalten und an die Veränderungen
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Kapitel 3 • Illustrationen
beim anderen sowohl privat als auch beruflich oft sehr wichtig. Wenn Kommunikation das zentrale Problem darstellt und keine anderen Themen besprochen werden müssen, sollte eher das Kommunikationsdiagramm (7 Kap. 3.2.5) verwendet werden. Der Therapeut ergänzt für einige Klienten noch, dass auch die positive Möglichkeit besteht, ein Thema der Schicksalsseite in die eigene Seite zu überführen, wenn es dem Klienten sehr wichtig erscheint. Er wird kaum den Hunger in der Welt abschaffen können, aber wenn dieser Punkt für ihn extrem bedeutsam ist, könnte er sich in finanzieller Weise durch Spenden und Patenschaft oder in ehrenamtlicher Weise mit seiner Zeit für dieses Thema engagieren und so zum globalen politischen Fortschritt in diesem Bereich beitragen. Diese Überführung eines großen Themas in den eigenen Einflussbereich ist als konstruktiv zu werten – es handelt sich dabei um eine bewusste Entscheidung, mit den eigenen begrenzten Mitteln zur Verbesserung eines überindividuellen Bereichs beizutragen. Diese Querverbindungen können mit grünen Pfeilen eingezeichnet werden.
3.2.5
Respekt gegenüber anderen: Das Kommunikationsdiagramm
Es gibt Klienten in Psychotherapie und Coaching, bei denen eine gesunde und sozial kompetente Kommunikation unter Einhaltung der Grenzen zur anderen Person ein wichtiges Therapieziel darstellt. Für diese Fälle stellt das Kommunikationsdiagramm eine nützliche Variante des Schicksalsdiagramms dar (. Abb. 3.13). Den Hintergrund für die Besprechung bilden die verhaltenstherapeutischen Regeln für sozial kompetente Kommunikation. Die Zeichnung wird analog zum Schicksalsdiagramm vorgestellt, aber das Gespräch bezieht sich ausschließlich auf die Kommunikation unter gleichberechtigten Erwachsenen, sodass die Linie von 100% mit der »gesamten Kommunikation zwischen Ihnen und anderen Erwachsenen« bezeichnet werden kann. Die rechte Seite wird einer anderen, gleichberechtigten Person zugeschrieben, mit der der Klient Kommunikationsschwierigkeiten erlebt.
100% - der Kommunikation
Meine Seite
Der/Die andere *
50%
50%
• Gefühle äußern • Wünsche äußern • Meinung sagen oder ändern • Konstruktive Kritik • Frei entscheiden
• Er/Sie hat dieselben Rechte wie ich!
Negative Übergriffe: • Harsche Kritik • Respektlosigkeit • Zu hohe Erwartungen • Emotionale Erpressung • Aggressivität
Soziale Kompetenz: • Konstruktive Kritik • Den anderen achten • Flexible Erwartungen • Wünsche äußern • Frühzeitige IchBotschaften
* Übergriffe auf die Seite des anderen sind problematisch . Abb. 3.13 Kommunikationsdiagramm. Die Gesamtskala symbolisiert 100% der Kommunikation unter Erwachsenen, von der der Klient selbst nur 50% unter seiner Kontrolle hat. Persönliche Rechte stehen ihm selbst (linke Seite) und dem anderen Menschen (rechte Seite) ebenso zu. Individuelle Übergriffe werden durch den gewölbten Pfeil (in Rot) symbolisiert und unten individuell beschrieben. Lösungsansätze können auf der rechten Seite des Diagramms eingetragen werden
Bei Kindern oder anderen objektiv unterlegenen und ggf. schutzbefohlenen (erwachsenen) Personen, z. B. geistig Behinderten, trägt der gesunde Erwachsene übrigens grundsätzlich mehr als 50% der Verantwortung für die Kommunikation. Das Kommunikationsdiagramm in der hier vorgestellten Form bezieht sich jedoch nur auf den Austausch mit gleichgestellten Gesprächspartnern. Es könnte jedoch durchaus als Erklärungsbasis für gleichaltrige Kinder oder Jugendliche verwendet werden, die lernen müssen, die Rechte anderer Kinder oder Jugendlichen zu respektieren. Adaptationen an andere Beratungssituationen, in denen die Auftrennung der Skala nicht bei 50%
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3.2 • Komplexere Illustrationen
liegen kann, sind natürlich auch denkbar. In diesen Fällen könnte der Klient selbst einschätzen, wie viel Prozent der Kommunikation mit seinem Chef auf seiner Seite veranschlagt werden muss und ob diese Aufteilung realistisch, wünschenswert oder veränderungsbedürftig ist. Die Berücksichtigung des Machtdifferenzials zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem kann zu wichtigen Gesprächen über Unterordnung und Hierarchie, Durchsetzungsfähigkeit, Mut zur Rückmeldung an den Vorgesetzten u. Ä. führen. In einer themenoffenen Psychotherapiegruppe oder auch einem Trainingsseminar kann das Kommunikationsdiagramm zur Verdeutlichung von Problemen und gemeinsamer Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten, z. B. dem Aufstellen von Regeln im Umgang miteinander, führen. Auf der linken Seite des Diagramms werden die kommunikativen Rechte und Möglichkeiten des Klienten aufgeführt, z. B. das Recht sich auszudrücken, seine Meinungen, Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen zu formulieren und in möglichst konstruktiver Weise unter Verwendung von IchBotschaften Kritik zu üben. Die gleichen Rechte gelten natürlich auch für die andere Person – dies sollte ebenfalls vermerkt werden. Bereits hier entstehen erste Einsichten, denn der zur Übergriffigkeit neigende Klient gesteht anderen Personen im Grunde diese Rechte nicht vollständig zu. Als Nächstes erarbeiten Klient und Therapeut, welche Verhaltensweisen des Klienten als ungünstig und letztlich als kommunikativer Übergriff (roter, gewölbter Pfeil) auf die anderen 50% gesehen werden müssen: Hier können Du-Botschaften und Beschuldigungen genannt werden, unangemessene Anordnungen und Forderungen, wie die andere Person sich verhalten sollte, oder sogar die manchmal nur implizit geäußerten vielfältigen Erwartungen und Hoffnungen in Bezug auf das Verhalten der anderen Person, deren Nichterfüllung dennoch zu Störungen der Kommunikation führt. Unsichere Menschen verwenden immer wieder indirekt erpresserische Appelle zur Verhaltensänderung an die andere Person: »Wenn du nicht x tust, dann passiert y«; diese Appelle werden meist nicht direkt geäußert, müssen also aus dem Gespräch herausdestilliert werden. Allein die klare Formulierung solcher Kommunikationsformen gibt dem Klienten bereits die Möglichkeit zu einer ersten inneren
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Distanzierung von seiner problematischen Strategie. In diese Kategorie von Kommunikation gehört im Übrigen auch im klinischen Rahmen die chronische Suiziddrohung an den Partner oder an Familienmitglieder. Die konstruktiven, verantwortlichen und sozial kompetenten Formen der Kommunikation werden nach Erstellung des Diagramms mit dem Klienten gemeinsam im Gespräch und ggf. auch unter Einsatz von Stuhlübungen oder Rollenspielen entwickelt.
3.2.6
Existenzielle Klärungen: Lebensaufgaben
In der Psychotherapie ist diese Illustration am besten geeignet für die Phase der Terminierung, denn hier entsteht am ehesten ein Überblick über die verschiedenen Aspekte einer zentralen Lebensaufgabe, die möglicherweise für den Klienten identifiziert wurde. Die Zeichnung der Lebensaufgaben (. Abb. 3.14) mit einem konkret benannten Zentrum stellen eine einfache Form der Mind-map dar, bei der Ideen, Aufgaben o. Ä. um ein Zentrum herum visualisiert werden, um Informationen zusammenzufassen oder zu hierarchisieren. Im Beispiel (. Abb. 3.14) handelt es sich um eine Psychosomatikpatientin mit genetisch bedingtem chronischem Schmerzsyndrom (Wirbelsäulenanomalie), die sich in der Fürsorge für andere Menschen verloren und dabei selbst körperlich sowie emotional massiv überfordert hatte. Es wurde im Verlauf der Therapie deutlich, dass das emotionale Geben für diese Frau der zentrale Aspekt ihres Lebens war. Durch das Aufmalen der Illustration fühlte die Patientin sich in dieser existenziellen Selbstwahrnehmung bestärkt. Das Modell wurde in der vorletzten Therapiestunde erstellt, sodass hier bereits auch das Thema der Selbstfürsorge, das zuvor als notwendiger und neuer Aspekt des Lebens ausführlich thematisiert worden war, seinen Platz erhielt – eine Form des Gebens an sich selbst. Auch die anderen Punkte waren in verschiedenen Therapiesitzungen zuvor diskutiert worden. Durch diese Visualisierung im Zusammenhang mit der zentralen Lebensaufgabe war es für die Patientin stimmig, von nun an auch
62
Kapitel 3 • Illustrationen
Förderschule, Arbeit mit Kindern
Existenzielles
Freundeskreis
Verhalten, Denken, Gefühle Körper
3 An mich selbst
Liebe, Fürsorge, Zuwendung geben
Äußere Bedingungen: (Un)Beeinflussbares Wohnsituation, finanzielle Bedingungen, Beziehungen, Arbeitsplatz, Wohnort/Umfeld
Ehemann Geschwister
. Abb. 3.14 Lebensaufgaben. Darstellung wesentlicher Aufgaben im Leben eines Klienten, die einer zentralen Neigung entspringen oder die – auch ohne Zentrum – miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Die relative Größe der Kreise, die Abstände (Pfeillänge) zum zentralen Doppelkreis oder die Benutzung bestimmter Farben (z. B. gefülltes Oval in Grün »An mich selbst«) zeigen die Bedeutung der einzelnen Lebensaufgaben an. Zusammenfassende Illustration, die ein Gespräch auf existenzieller Ebene anregt
sich selbst nicht auszuklammern, sondern sich sogar mit höchster Priorität Fürsorge zukommen zu lassen, um überhaupt die anderen Lebensaufgaben weiterhin bewältigen zu können, z. B. die Arbeit mit mehrfach behinderten Kindern. In dieser asymmetrischen Zeichnung kann der Abstand, also die Pfeillänge, von den Empfängern der Zuwendung zur zentralen Lebensaufgabe die Priorität des jeweiligen Themas symbolisieren. In diesem Fall haben Selbstfürsorge (kürzester Pfeil, größtes Oval) und Zuwendung zum Ehemann (nächst kurzer Pfeil) Priorität vor Schule, Freunden und Geschwistern. Wenn diese Illustration früher im Therapieverlauf, also nicht erst bei Terminierung, erarbeitet werden soll, erhält sie eher Aufforderungscharakter. Die einzelnen Punkte sollten dann in den darauf folgenden Therapiegesprächen noch intensiv thematisiert werden, sodass sie inhaltlich gefüllt sind. Nicht immer gibt es eine ganz zentrale Aufgabe wie bei diesem Beispiel, aber trotzdem könnte eine
. Abb. 3.15 Glückspyramide. Die unterste Ebene zeigt äußere Lebensbedingungen, die vom Klienten nur teilweise beeinflussbar sind, drei weitere Ebenen darüber stellen intraindividuelle Bedingungen dar, die in unterschiedlichem Maße durch den Klienten selbst beeinflussbar sind. Führt zur Diskussion über Glückssuche und die Ebenen des Erlebens von Glück. Individuelle Beschriftung der Ebenen, ggf. Problembereiche rot markieren, Veränderungsansätze grün
Zeichnung dieser Art für manche Klienten verschiedene Lebensbereiche oder Lebensthemen zueinander in Beziehung setzen, die ggf. noch durch Größenunterschiede oder Farben in ihrer relativen Bedeutung erfasst werden. In dieser Variante entfernt sich die Illustration von den Regeln zur Erstellung einer Mind-map, deren Konzept auf der Visualisierung von verschiedenen Aspekten eines einzelnen, zentralen Themas beruht.
3.2.7
Vertiefung und Integration: Die Glückspyramide
Die Glückspyramide hat keinen speziellen klinischen Bezug, sondern ist breit verwendbar und stellt die Grundlage für eine ganzheitliche Diskussion der verschiedenen Ebenen der Beeinflussung des individuellen Glücks dar (. Abb. 3.15). Die Pyramide eignet sich für Psychotherapie und Coaching, für die Anfangsphase oder für spätere Sitzungen und für die Arbeit in Psychotherapiegruppen. Erfahrungsgemäß profitieren vor allem Personen mit einer gewissen Reife von diesen Überlegungen. Bei sehr jungen Klientinnen oder Klienten (unter 25 Jahren) ist die Erfahrung der Verwundbarkeit oder Vergänglichkeit des Kör-
3.2 • Komplexere Illustrationen
pers und der eigenen Möglichkeiten, das Leben wesentlich zu beeinflussen, oft noch nicht ausgeprägt genug, um dem Gespräch die nötige Tiefe zu verleihen. Andererseits kann ein Versuch bei einem jungen Menschen, diese Überlegungen anzustoßen und auch die höchste, spirituelle Ebene nicht zu vernachlässigen, sicher nicht schaden. Die hier aufgeführten Anmerkungen zu den verschiedenen Aspekten der Pyramide beziehen sich auf eine erste Einführung für den Klienten, sodass die Pyramide die Reflexion der verschiedenen Ebenen anstoßen kann: 5 »Wir Menschen sind in gewisser Weise immer auf Glückssuche; manchmal ist dies eher unausgesprochen, zu anderen Zeiten steht das Thema Glück explizit im Vordergrund – bei wichtigen Ereignissen wie Hochzeit oder Geburt beispielsweise. Es ist sinnvoll, sich einmal über die verschiedenen Möglichkeiten Gedanken zu machen, die wir haben, um unser Glück oder Wohlbefinden oder unsere Zufriedenheit mit dem Leben im Alltag zu fördern.« 5 Der Therapeut beginnt, die unterste Ebene zu zeichnen und beschriftet sie dann mit den Unterpunkten zu den äußeren Bedingungen: »Der Bereich unter der Linie enthält alles, was außerhalb Ihrer Person liegt, diese aber punktuell sehr stark beeinflussen kann. Hier ist es wichtig, die für Sie beeinflussbaren Elemente von solchen zu unterscheiden, die Sie einfach hinnehmen müssen. Gibt es bei diesen äußeren Faktoren Dinge, die Sie positiv beeinflussen wollen? Welche Ideen haben Sie dafür? Und welche möglicherweise unangenehmen Aspekte Ihres Lebens müssen Sie möglichst gelassen hinnehmen, da sie sich nicht verändern lassen?« 5 Die drei Pyramidenstufen oberhalb der Linie betreffen das Individuum selbst: »Der Körper stellt die Basis für unser persönliches Glück dar. Ein kranker oder schwacher Körper macht es deutlich schwerer, Glücksmomente zu erleben oder sein Glück aktiv zu gestalten. Wie gehen Sie mit Ihrem Körper um? Tun Sie Ihr Möglichstes, damit er gut funktionieren kann?« Themen wie Ernährung und Gewicht, Sport und Substanzgebrauch sowie Management chronischer Leiden wie Diabetes ge-
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3
hören hierher. Auch die Krankheitsakzeptanz bei bedrohlichen Erkrankungen wie multipler Sklerose oder Krebs kann kurz im Rahmen der Besprechung thematisiert werden. Es ist individuell unterschiedlich, wie viel Zeit auf die körperliche Seite des Glücks gelegt werden sollte. Bei Personen, deren Fürsorge für den Körper in wesentlichen Aspekten mangelhaft ist, kann sich am besten nach Abschluss der Besprechung der Glückspyramide eine längere Therapiesequenz zum Umgang mit dem Körper anschließen, z. B. bei einem Diabetiker, der seine Krankheit möglichst gar nicht beachten möchte. Ganz allgemein zielt die Glückspyramide nämlich eher nicht auf sehr detaillierte Diskussionen einzelner Punkte ab, sondern auf einen vereinfachenden Überblick über die verschiedenen Ebenen des menschlichen Erlebens. Allzu lange Sequenzen, z. B. zum Ernährungsverhalten des Klienten, würden dieser Illustration letztlich ihre Prägnanz rauben. 5 Überleitung zur nächsten Ebene: »Wenn man dazu neigt, Glücksgefühle über den Körper, also z. B. über viel Sport, herzustellen, dann ist das sicher sinnvoll. Als einzige Form der Glückserzeugung bleibt der Sport allerdings letztlich zu oberflächlich. Man könnte Zeiten haben, wo man aus Krankheitsgründen oder Altersgründen gar keinen Sport treiben kann – aber auch dann sollte es Möglichkeiten für individuelles Glück geben. Außerdem gibt es hochengagierte Sportler, bei denen man regelrecht das Gefühl bekommt, sie laufen ihren Gedanken und Gefühlen, also der Auseinandersetzung mit sich selbst auf der nächsten Ebene, davon.« 5 Auf der nächsten Ebene finden sich die Bereiche »Denken«, »Fühlen« und »Verhalten«, Bereiche also, auf die sich die meisten Psychotherapiegespräche und Beratungen in irgendeiner Form beziehen. Der Therapeut setzt hier mit dem Klienten individuelle Schwerpunkte, wie er sein Glück oder seine Zufriedenheit besser fördern kann. Bei Personen ohne klinische Diagnose kann die Kenntnis der Persönlichkeitsakzentuierung oder des Persönlichkeitsstils für die Beraterin hilfreich sein, da für die histrionisch akzentuierte Persönlichkeit eine
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3
Kapitel 3 • Illustrationen
andere Form des Umgangs mit Gefühlen angeraten werden muss als für die zwanghaft oder narzisstisch akzentuierte. Im Coaching werden andere Typisierungen zur Hilfe genommen, z. B. Aufteilungen nach persönlichem Führungsstil oder nach Rolle und Funktion in einem professionellen Team. Personen, die auf dieser Ebene der Glückspyramide individuelle Strategien des Selbstmanagements und ein angemessenes Maß an Kontrolle erworben haben, können ihr Glück und ihre Zufriedenheit gezielt positiv beeinflussen. Da auf dieser Ebene vieles erlernbar ist, ergeben sich hier aus dem Gespräch über die Pyramide vielfältige individuelle Themen für die nachfolgenden Einzel- und Gruppensitzungen. 5 Mögliche Einführung der obersten Ebene: »Auf der Ebene von Gedanken, Gefühlen und Verhalten sind wir naturgemäß immer gewissen Schwankungen ausgesetzt, und auch die Unterschiede im körperlichen Wohlbefinden sowie die ständigen Veränderungen unseres äußeren Umfelds können unser Glück immer wieder ins Wanken bringen. Aufgrund dieser Erfahrungen ist es vielleicht sogar korrekter, nur von Glücksmomenten zu sprechen – wir alle wissen, dass Glück nichts Dauerhaftes ist. Wie können wir uns nun zumindest etwas von diesen eher instabilen Ebenen loslösen? Was würde es uns ermöglichen, auch in einem kranken oder sehr alten Körper oder unter ungünstigen äußeren Umständen glücklich zu sein? Oder zumindest zufrieden zu sein? (Interaktion) Ein Wechsel der Ebene muss hier stattfinden – nur die Einbeziehung der existenziellen Ebene kann eine gewisse Unabhängigkeit von den anderen Ebenen entstehen lassen. Außerdem ermöglicht diese obere Ebene eine besondere Form der Zufriedenheit und Sinnerfahrung, die es auf den unteren Ebenen in dieser Form nicht geben kann. Allerdings gehören alle Ebenen natürlich in Ihrem inneren Erleben letztlich immer zusammen, sie müssen nur für die Besprechung der Pyramide getrennt werden. Das bedeutet, dass Ihr körperbetonter morgendlicher Lauf durch die Natur durchaus direkt zu einer wichtigen existenziellen Sinnerfahrung führen
kann. Auf der existenziellen Ebene können wir lernen, uns über unseren Alltag zu erheben, uns von eingefahrenen Denkmustern zu verabschieden und negative Gefühle aufzulösen. In unserer Glückssuche ist es wesentlich, auch diese Dimension einzubeziehen.« Hier handelt es sich natürlich um einen sehr komprimierten Text, der nicht in dieser Form als Vortrag verwendet werden sollte. Er fasst jedoch wichtige Vorschläge für das Gespräch mit dem Klienten oder den Gruppenteilnehmern zur existenziellen Ebene zusammen. In diesem Gespräch sollte der Klient am besten immer wieder selbst berichten, welche Formen der existenziellen Erfahrung er in seinem Leben regelmäßig macht oder ob er in diesem Bereich vielleicht einen Mangel wahrnimmt, den er beheben möchte. Wenn der Therapeut nichtreligiöse Beispiele von existenziellen Erfahrungen anführt, gibt es erfahrungsgemäß sehr wenig Widerspruch in Bezug auf die Einbeziehung der obersten Ebene in Überlegungen zur Glückssuche; im Gegenteil, oft entsteht eine angemessene Nachdenklichkeit. Die Bedeutung dieser obersten Ebene ist sogar psychologisch messbar: Menschen mit ausgeprägter Religiosität oder Spiritualität sind nachweislich glücklicher und zufriedener als Menschen, die diese Ebene ganz verneinen (vgl. Bucher, 2007). Die existenzielle Erfahrung kann im Rahmen der Spiritualität oder Religiosität einer Person geschehen, aber sie kann auch in kreativen Aktivitäten oder anderen Situationen stattfinden, in denen der Geist sich vom Alltäglichen lösen kann, z. B. beim Malen oder im intensiven Gespräch mit einem wichtigen Menschen (vgl. Flow-Erlebnisse nach Csikszentmihalyi, z. B. 2002). In Vorträgen, bei denen keine Arbeitsblätter mit der Glückspyramide vorgesehen waren, wurde am Ende wiederholt nach einer Kopie dieses einfachen Modells gefragt – das Glück scheint die Menschen zu interessieren.
65
Stuhlübungen 4.1
Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung – 66
4.2
Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen – 75
4.2.1 4.2.2 4.2.3
Ressourcenübung: Der Als-ob-Stuhl – 76 Auflösung von Ambivalenz: Entscheidungsstühle – 79 Verstehen und vergeben: Die Zeitreise – 84
4.3
Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen – 92
4.3.1
Selbstumgang verbessern: Gespräch mit dem inneren Kritiker, Saboteur oder Antreiber – 92 Arbeit an Funktionalisierungen: Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten – 99
4.3.2
4.4
Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen – 105
4.4.1
Schwierige Klärung und Exposition: Gespräch mit dem Missbraucher – 105 Loslösungen: Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson – 113 Eine positive Beziehung beenden: Gespräch mit einer verstorbenen Person – 126 Eine problematische Beziehung beenden: Gespräch mit einer verstorbenen Person – 135
4.4.2 4.4.3 4.4.4
S. Hedlund, Mit Stift und Stuhl, DOI 10.1007/978-3-642-05064-0_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
4
66
4
Kapitel 4 • Stuhlübungen
Stuhlübungen stellen kraftvolle emotionsfokussierte Interventionen dar, die beim Klienten sowohl auf emotionaler als auch auf kognitiver Ebene die verschiedensten Prozesse in Gang setzen können. Diese intensiven Erlebnisse können den Klienten temporär destabilisieren, bevor er durch Reflexion das Erlebte integrieren und sich auf einer günstigeren psychischen Ebene wieder stabilisieren kann – eine neue, gesündere Homöostase wird erreicht. Um diesen Veränderungsprozess kompetent und umsichtig begleiten zu können, wird dringend empfohlen, die folgenden Vorüberlegungen (7 Kap. 4.1) sorgfältig zu lesen.
Die Verwendung von Stuhlübungen hat sich über Jahre in klinischen Settings sehr bewährt. Viele der hier vorgestellten Übungen sind auch gut für Beratungen und Coachings geeignet, während sich einige der komplexeren Übungen fast nur klinisch mit bestimmten Patientengruppen einsetzen lassen. In jedem Fall hat der Therapeut oder Berater ein kraftvolles Instrument in der Hand, um verschiedene Erfahrungen hervorzurufen. Zur sprachlichen Vereinfachung wird im gesamten Kapitel ausschließlich auf Therapie, den Therapeutenstuhl und therapeutische Wirkungen hingewiesen, auch wenn Adaptationen der Übungen auf Beratung und Coaching oftmals möglich sind.
4.1
z
Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung Welche Materialien und welche Ausstattung des Beratungs- oder Therapieraums benötige ich?
Für die Stuhlübungen ist es günstig, neben dem normalen Stuhl des Klienten (Klientenstuhl) und dem normalen Stuhl des Therapeuten (Therapeutenstuhl) drei bis vier stapelbare Übungsstühle und – für die Arbeit mit dem inneren Kind – ein dickes, frisch bezogenes Kopfkissen bereitzuhalten. Da den Stühlen jeweils eine bestimmte imaginierte Realität zugewiesen wird, z. B. der Stuhl des inneren Antreibers oder der Stuhl Mutter der Jugendjahre, ist die saubere Trennung zwischen dem normalen Klientenstuhl und den Übungsstühlen sehr wich-
tig: Der Klientenstuhl sollte möglichst gar nicht für innere Anteile oder als Personenplatzhalter innerhalb einer Stuhlübung verwendet werden. Nur bei Platzmangel kann der Therapeut improvisieren, wobei dann eine Position auch darin bestehen kann, dass der Klient sich an die Schreibtischkante lehnt. Notfalls kann auch der Klientenstuhl zum Übungsstuhl umgewandelt werden, aber möglichst dann nur zu einer Position mit positiver Bedeutung – aufgrund der zu erwartenden Konditionierungsprozesse innerhalb einer Stuhlübung. Die verschiedenen Stühle und die verschiedenen Positionen im Raum aktualisieren das Erleben einer anderen emotionalen Realität, in die der Klient kontrolliert eintreten und aus der er sich auch willentlich wieder entfernen kann – das Kontrollerleben bezüglich der eigenen, z. T. auch maladaptiven Emotionen wird hier gezielt gefördert. Die Rückkehr auf den normalen Klientenstuhl bedeutet dann immer Pause, Erholung, Reflexion des Erlebten. Der Therapeut möchte überdies gerade bei psychisch kranken Menschen ungünstige Assoziationen und Konditionierungsprozesse zwischen dem regulären Klientenstuhl (oder Patientenstuhl) und den Übungsstühlen mit negativer Symbolik vermeiden; der Klient ist kein Sklaventreiber oder gnadenloser Kritiker, sondern dies stellt einen inneren Anteil dar, eine Facette der Persönlichkeit, die von anderen, gesunden Eigenschaften der Persönlichkeit ausgeglichen werden kann. Bei Beendigung der Übung werden die Stühle meistens sofort wieder zurück auf einen Stapel in eine Ecke des Raums gestellt – dies ist auch symbolisch die Aufforderung an den Klienten, sich jetzt wieder dauerhaft auf seinem eigenen Stuhl und in der Gegenwart der Therapiesitzung einzufinden. Auf diese Weise ist die Intervention förmlich beendet, und die Nachbesprechung kann beginnen. z
Welche Risikofaktoren sollten vor der Durchführung von emotionsaufdeckenden Übungen vor allem in der klinischen Arbeit beachtet werden?
Vor dem Einsatz von emotionsaufdeckenden Übungen im Rahmen der Psychotherapie sollten einige Überlegungen in Bezug auf die Zumutbarkeit und die möglichen Reaktionen der Klienten angestellt werden. Bei ambulanten Sitzungen ist
4.1 • Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung
der Grad der psychischen Beeinträchtigung beim Klienten normalerweise geringer als im stationären Umfeld, jedoch auch hier sind verschiedene ungünstige emotionale Reaktionen möglich. Zu den Vorüberlegungen bei eher kranken Menschen gehört daher auf jeden Fall dazu, Information einzuholen über 5 den aktuellen psychischen Zustand der Klientin oder des Klienten, 5 die aktuelle Lebenssituation des Klienten, insbesondere im ambulanten Umfeld, 5 das Potenzial für impulsive Handlungen aller Art, z. B. Substanzabusus, 5 mögliche selbst- oder fremdschädigende Handlungen, z. B. Selbstverletzung, Gewalt gegen andere, 5 das Potenzial für psychische Dekompensation, z. B. emotionale Krisen, dissoziative Episoden oder suizidale Handlungen. Wenn Risikofaktoren dieser Art vorhanden sind, muss der Therapeut oder Berater sorgfältig abwägen, inwiefern die Durchführung einer Stuhlübung zu verantworten ist. z
Bei welchen klinischen Diagnosen ist ein vorsichtiges Abwägen vor der Durchführung einer Stuhlübung notwendig?
Es ist denkbar, eine Übung – vielleicht eine der einfacheren wie den Als-ob-Stuhl (7 Kap. 4.2.1) oder Entscheidungsstühle (7 Kap. 4.2.2) – mit einem schizophrenen Patienten durchzuführen, wenn die Erkrankung gut medikamentös eingestellt, das Funktionsniveau angemessen und die Gesamtsituation stabil ist. Andererseits sind komplexe und emotionsbetonte Erlebnisse potenzielle Auslöser für psychotische Schübe, sodass bei den relevanten Diagnosen mit psychotischer Komponente extreme Vorsicht geboten ist. Sicherheitsüberlegungen dieser Art sind daher bei allen psychotischen Erkrankungen, aber auch bei bipolaren Störungen ohne Psychose, bei Persönlichkeitsstörungen mit impulsivem Potenzial wie Borderline und antisozialer Persönlichkeit sowie bei Patienten, die sich selbst verletzen oder stark dissoziieren, relevant. Bei all diesen Personengruppen kann die Therapeutin oder der Therapeut im stationären Setting das Risiko einer emotionsaktivierenden Interven-
67
4
tion eher eingehen als in der ambulanten Psychotherapie. Schwer depressive Personen sind oft nicht psychotherapiefähig und (noch) nicht flexibel genug, die differenzierten Emotionen einer Stuhlübung zu erleben: Diese Menschen leiden unter einer inneren Erstarrung, die ihre emotionale Bandbreite stark einengt; die Stuhlübung könnte daher in solchen Fällen möglicherweise negative Einstellungen und Sichtweisen noch fördern. Hier sollte man abwarten, bis die Depression zumindest teilremittiert ist. Auch akuter Substanzabusus muss als Kontraindikation für intensive Psychotherapie mit Stuhlübungen angesehen werden, denn die eingenommenen Substanzen manipulieren die emotionale Welt des Klienten massiv, sodass unklar ist, was die jeweiligen Erlebnisse auf den Stühlen bedeuten und wie sich die Übung ohne die Substanz entfaltet hätte. Außerdem erfolgt bestenfalls während der Übung zustandsabhängiges Lernen, was sich wahrscheinlich dann nicht mehr auf den vollständig abstinenten Zustand übertragen lässt. Hochgradig untergewichtige Anorexiepatientinnen profitieren wahrscheinlich erst am Ende der Gewichtsrehabilitation adäquat von Stuhlübungen – als Faustregel gilt ein Body-Mass-Index (BMI) von über 17,0 kg/m², denn durch Kachexie ist die Emotionalität eines Menschen grundsätzlich stark beeinträchtigt; die Gedankenwelt der Patientinnen ist extrem eingeengt auf die typischen Themen wie Essen, Körperbild, Verbote, Kalorien, Schlanksein, Sport etc. Trotzdem ist es denkbar, auch unter einem BMI von 17,0 mit dieser Form der emotionsfokussierten Arbeit zu beginnen und die Übungen nach einiger Zeit zu wiederholen: Das Gespräch mit der Essstörung (vgl. 7 Kap. 4.3.2) wird bei einem BMI von 14,0 ganz anders ausfallen als bei einem Gewicht mit einem BMI von über 18. Ganz allgemein sollte, wie sonst auch, im klinischen Bereich die Erfahrung des Therapeuten für die Interventionsauswahl ausschlaggebend sein. Dieses klinische Urteilsvermögen entwickelt sich mit den Jahren der Berufstätigkeit. Die jungen Kolleginnen und Kollegen, die sich Stuhlübungen nach und nach aneignen, können im Supervisionsgespräch mit erfahrenen Personen gezielt auf deren Erfahrungsschatz zurückgreifen, wenn es um den
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Einsatz bestimmter therapeutischer Interventionen für die genannten Patientengruppen geht. z
4
Für welche Personen sind die Stuhlübungen generell schwierig, unabhängig von der Diagnose?
Neben Personen mit sehr schwerwiegenden Diagnosen gibt es auch Klienten ohne eine solche Diagnose, denen die Durchführung einer Stuhlübung generell sehr schwerfällt. Zu dieser Gruppe gehören sehr angespannte, extrem ängstliche Menschen oder Personen mit sehr zwanghafter Persönlichkeitsstruktur, denen die psychische Flexibilität für den Wechsel der emotionalen Erfahrungen in den verschiedenen Stuhlpositionen weitgehend fehlt. Diese Menschen neigen dazu, die Situation über den Intellekt analysieren zu wollen, um Kontrolle über ihre Reaktionen und vor allem ihre Wirkung nach außen zu behalten. Gedanken wie: »Was will der Therapeut jetzt von mir?«, »Mache ich es auch richtig?«, »Wie muss ich reagieren?« entspringen der Sorge um soziale Erwünschtheit und erschweren das Eintauchen in die Erfahrung auf den Stühlen. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass ein langsames Anbahnen der Erlebnisse auf den Stühlen und gezielte Hilfe für den Ausdruck von Emotionen auch bei eher zwanghaften Menschen zu gehaltvollen Dialogen und intensiven Erfahrungen führt. Die so gewonnenen neuen Einsichten, Einstellungen und Regeln kann ein zwanghafter Mensch dann aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur oft sehr gezielt und erfolgreich im Alltag umsetzen. Im Unterschied dazu hätte eine histrionisch akzentuierte Person wahrscheinlich wenig Schwierigkeiten mit der Durchführung der Stuhlübung selbst, da eine hohe emotionale Flexibilität gegeben ist, würde aber hinsichtlich der Retention und Umsetzung des Erlebten gezielte Hilfestellung benötigen, die als Hausaufgaben in Form einer Liste, eines Briefs, eines Gedankenprotokolls o. Ä. gegeben werden kann. Generell muss die Skepsis eines Klienten gegenüber einer Stuhlübung nicht automatisch zum Aufgeben des therapeutischen Plans für diese Form der Intervention führen: Manche Klienten, die z. B. in einer Psychotherapiegruppe eine erfolgreiche Stuhlübung beobachtet haben, beteuern im Einzel-
gespräch, dass sie zu diesen Interventionen keinesfalls in der Lage seien – nur um dann beim ersten Versuch erstaunt festzustellen, dass allein durch die Positionswechsel im Raum auch bei ihnen emotional bedeutsame Erfahrungen ausgelöst wurden. Außerdem lernen die Klienten im Verlauf mehrerer Übungen, diese Form der therapeutischen Aktivität optimal zu nutzen. Wenn der Therapeut also mit einer eher skeptischen Person dennoch eine solche Intervention durchführt, kann er durchaus – vielleicht sogar erstmalig im Therapieverlauf – bei diesem Menschen eine intensive Erfahrung erzeugen, die häufig im Gespräch gar nicht entstanden wäre. Wenn jedoch gar nichts Wesentliches beim Versuch der Durchführung einer Stuhlübung passiert, sollte der Psychotherapeut dem Klienten vermitteln, dass dies kein persönliches Versagen darstellt, sondern dass es sich einfach um eine in diesem Fall nicht geeignete Therapieintervention handelt. So verhindert der Therapeut, dass der Klient die misslungene Durchführung der Übung als eigenes Versagen interpretiert. Die meisten dieser Versuche werden jedoch positive Ergebnisse zeigen, auch wenn die Übung vielleicht nicht ganz optimal abläuft. z
Was ist zu beachten, wenn Deutsch nicht die Muttersprache des Klienten ist?
Bei Stuhlübungen mit Personen, die zwar Deutsch sprechen, aber im Alltag vor allem ihre Muttersprache benutzen, hat es sich bewährt, sehr expressive emotionale Passagen in der Muttersprache ausführen zu lassen. Der Therapeut kann demnach den Klienten ermutigen, in der Auseinandersetzung mit einem gewalttätigen Vater oder auch der geliebten, verstorbenen Mutter die gemeinsame Sprache von früher zu verwenden. Oft verliert der Klient auf diese Weise auch die Scheu, sich kraftvoll auszudrücken, was anhand des Tons, der Intensität der Verbalisierungen und der Körperhaltung gut sichtbar wird. Die Stuhlübung wird mit solchen Personen also zweisprachig durchgeführt, ohne dass der Therapeut die Muttersprache des Klienten beherrschen muss. Im Einzelfall wird er daher in der Nachbesprechung den Klienten bitten, ihm ein paar Details aus den muttersprachlichen Passagen auf Deutsch mitzuteilen, um einen genaueren Eindruck vom Verlauf des Dialogs zu bekommen.
4.1 • Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung
z
Welche allgemeinen Hinweise zur Einführung von Stuhlübungen sind nötig, damit die Intervention funktioniert? Und was ist bei den Stuhlbezeichnungen zu beachten?
Eine Stuhlübung hängt im Allgemeinen sehr von der Qualität der Einführung durch den anleitenden Therapeuten ab. Zu Beginn ist es sinnvoll, das grundsätzliche Einverständnis des Klienten einzuholen: »Hätten Sie Lust, zu diesem Thema jetzt eine Übung durchzuführen? Ich würde dazu zwei weitere Stühle aufstellen und Ihnen den Verlauf dann erklären.« Bei skeptischen Klienten oder wenn zu erwarten ist, dass die Übung dieser Person sehr schwerfallen wird, fügt man hinzu: »Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir beide nach der Übung mit den Schultern zucken und im Grunde gar nichts passiert ist. Es gibt keinerlei Risiken, wenn es nicht klappen sollte.« Dies gilt für die meisten Interventionen auf Stühlen; allenfalls kann der Abbruch einer Übung zu psychischen Belastungen führen, die dann in anderer Weise als mit Stühlen therapeutisch aufgearbeitet werden müssen. Der Therapeut oder Berater bemüht sich bei der Einführung der Übung um eine gewisse Leichtigkeit im Ton, um dem Klienten die Angst zu nehmen sowie den Erfolgsdruck zu senken und vielleicht sogar eine spielerische Neugier zu wecken. Dann werden die Stühle aufgestellt und sorgfältig in ihrer jeweiligen therapeutischen Funktion erklärt, solange der Klient noch auf seinem regulären Stuhl, also quasi in der Beobachterposition, sitzt. Viele Stuhlübungen befassen sich mit realen Personen aus der Vergangenheit oder dem aktuellen Umfeld des Klienten, aber einige bearbeiten auch seine inneren Anteile. Für diese inneren Anteile werden sorgfältig Bezeichnungen wie innerer Kritiker, innerer Antreiber oder das ängstliche Mädchen, die mutige Frau gewählt, und jedem Anteil – meistens sind es zwei – wird ein Stuhl zugewiesen. Auf diese Weise macht die Stuhlübung innere Zustände oder innere Anteile getrennt erfahrbar, was wiederum die klare emotionale Erfahrung und damit auch die Veränderung beim Klienten fördert. Die Entscheidungsstühle (7 Kap. 4.2.2) oder das Gespräch mit dem inneren Kritiker (7 Kap. 4.3.1) sind Beispiele für diese Trennungen. Die jeweilige Be-
69
4
nennung sollte für den Klienten gut passen, um die Intervention gezielt zu unterstützen, sie muss aber keineswegs elegant ausfallen. Ein paar Beispiele: der Kindstuhl – der Erwachsenenstuhl; der Stuhl des inneren Kritikers (Kritikerstuhl) – der positive, nachsichtige Stuhl (Ressourcenstuhl); der Scheidungsstuhl – der Ehestuhl; der Lissy-Stuhl – der Elisabeth-Stuhl; der Anpassungsstuhl – der Unabhängigkeitsstuhl. Weiterhin versichert der Therapeut, dass er dem Klienten in jeder Position helfen wird, in die jeweilige Rolle zu schlüpfen und diese beizubehalten, um die Stuhleigenschaften nicht miteinander zu vermischen: »Ich werde dann in jeder Stuhlposition ausführlich mit Ihnen sprechen und Sie befragen, um Ihnen zu helfen, diese räumlich erzeugte Trennung auch innerlich zu erleben. Wenn sich die Erlebnisweisen vermischen, dann werde ich Sie daran erinnern, die Trennung zwischen den Stühlen aufrechtzuerhalten, oder Sie bitten, auf den anderen Stuhl zu wechseln.« Der Therapeut sollte die genauen Zielsetzungen und therapeutischen Prozesse im Auge behalten, aber er braucht sie dem Klienten nicht in allen Einzelheiten zu erklären. Die Erklärungen sollten nur das Notwendige enthalten, sodass der Klient nicht zu sehr über die Übung nachdenkt. Auf diese Weise bleibt die erwünschte Frische und Intensität des ersten Erlebens erhalten. Außerdem ergeben sich oft während der Stuhldialoge überraschende Wendungen, sodass der Therapeut möglicherweise bei der allzu ausführlichen Erklärung der Übung im Voraus eine falsche Erwartung äußern würde, was den Klienten nur verwirrt und seinen inneren Prozess letztlich verfälscht. Es gibt jedoch Klienten, die eine durchdachte verbale Unterstützung während der Intervention benötigen, um in sich selbst Emotionen überhaupt zu erkennen. Ihre Selbstwahrnehmung ist noch nicht geschult, und die Beschreibung verschiedener Gefühle und assoziierter Gedanken fällt ihnen schwer. Der Therapeut kann für diese Menschen im Verlauf der Übung die ganze Bandbreite der möglichen Reaktionen aufzählen. Es ist bei dieser Hilfestellung günstig, die verschiedensten, auch gegenteiligen Reaktionen zu erwähnen, damit der Klient sich nicht festgelegt fühlt; es kann keinesfalls um die Suggestion eines Gefühls gehen, das der Thera-
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4
Kapitel 4 • Stuhlübungen
peut vielleicht aufgrund seiner Erfahrung mit anderen Klienten erwarten würde. Die Hilfestellung könnte in etwa so lauten: »Auf diesen Stühlen ist alles erlaubt – Sie dürfen jetzt sehr wütend werden und brauchen dann Ihre Wortwahl nicht zu kontrollieren; Sie fühlen aber vielleicht auch Trauer, Hilflosigkeit und Verachtung, oder Sie spüren eine gewisse Zuneigung oder sogar Liebe für Ihren Gesprächspartner. Sie dürfen alles sagen, was Sie wollen. Lassen Sie bitte ganz ohne innere Zensur hochkommen, was Sie gerade fühlen!« Dass mehr negative als positive Gefühle genannt werden, liegt in der Natur der Sache, denn eine Stuhlübung stellt meistens eine Form der Problembearbeitung dar, und sie wird benötigt, um den Ausdruck und die Transformation der ursprünglich oft unterdrückten negativen Gefühle zu erzielen. Nachdem also die Eigenschaften der verschiedenen Stühle und die Aufgabe für den Klienten sorgfältig erklärt wurden, setzt sich die Person auf den ersten Stuhl, um die Übung zu beginnen. z
Wie gehe ich mit negativen inneren Anteilen des Klienten um, z. B. mit dem inneren Kritiker?
Ein innerer Anteil eines Klienten, auch bzw. gerade wenn er sehr negativ ist, wird niemals rundweg abgelehnt, sondern immer transformiert und integriert – alles andere wäre weder respektvoll noch logisch: Erst den inneren Kritiker aufzurufen, um ihn dann in der nächsten Therapiesequenz in Grund und Boden zu stampfen (es gibt leider Fortbildungsvideos prominenter Kollegen mit solchem Inhalt) –, dieses Vorgehen bei einer Stuhlübung ist m. E. nicht akzeptabel. Von dieser Strategie wird deshalb dringend abgeraten, denn sie würde dem Klienten einmal mehr suggerieren, dass er, symbolisiert durch diesen speziellen inneren Anteil, nicht in Ordnung ist. Die Ablehnung des Anteils kann zum Rückzug des inneren Kritikers nach innen führen, was bedeutet, dass der Klient möglicherweise keine Äußerungen mehr machen wird, die diesem problematischen Selbstanteil entstammen, und dass dann die Arbeit an diesem Thema erschwert oder unmöglich wird. Diese psychische Energie, die im Kritiker gebunden ist, sollte wieder für konstruktive Formen der Zielerreichung nutzbar gemacht werden.
Der negative innere Anteil hat im Kern immer eine positive Intention, die hinter seinen problematischen Verhaltensweisen verborgen ist – meist ist es eine Schutzfunktion – und herausgearbeitet werden sollte (vgl. 7 Kap. 4.3.1). Allein das Erlebnis, dass der innere Kritiker den Klienten in der Vergangenheit vor Kritik und Demütigung durch andere schützen sollte, stellt für den Protagonisten oft den ersten Schritt zur Transformation dieses Anteils dar. Analog würde man auch mit einem ängstlichen, zwanghaften oder unzuverlässigen Anteil verfahren. z
Eine Stuhlübung enthält oft imaginative Elemente – wie fördere ich diesen Prozess der Imagination beim Klienten?
Die Abschnitte zu den verschiedenen Stuhlübungen zeigen, dass die Verwendung von Sinnesmodalitäten die Schaffung einer imaginativen Realität unterstützt. Bei Übungen, in denen es um das Gespräch mit einem Menschen geht, könnte man diese Realität auf folgende Weise herstellen: »Stellen Sie sich vor, auf diesem leeren Stuhl sitzt Ihr Vater. Wie alt wollen Sie ihn machen? Wie sieht er aus? Haare, Augenfarbe, Brille? Was trägt er für Kleidung im Moment?« Die visuelle Modalität wird durch diese Fragen im grammatikalischen Präsens explizit aufgerufen, die innere Erfahrung wird konkreter und reichhaltiger. Diese Erfahrung könnte überdies auch durch die auditive Modalität ergänzt werden: »Was für eine Stimme hat Ihr Vater? Können Sie ihn quasi jetzt hören?« Weitere Hinweise zur Verwendung von imaginativen Verfahren finden sich im nächsten Abschnitt und bei Kirn et al. (2009). z
Welche sprachlichen Besonderheiten sind bei Stuhlübungen zu beachten?
Es ist sinnvoll, ein paar hypnotherapeutische Grundsätze für die Sprache während der Übung zu berücksichtigen, auch wenn die explizite Induktion einer Trance nicht das Ziel der Stuhlübung darstellt: 5 Die Sätze sollten generell einfach, positiv und meistens in der Gegenwartsform (Präsens) formuliert sein. 5 Die Sprache bleibt konkret, beschreibend, emotional unterstützend oder ermutigend und fragend; Interpretationen, Reflexionen und an-
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4.1 • Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung
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dere intellektuelle Überlegungen zum Übungsinhalt gehören in die Nachbesprechung, nicht in die Stuhlübung selbst. Offene Fragen mit »wie«, »was«, »wann« können verwendet werden, ebenso gezielt lenkende Entscheidungsfragen wie: »Gibt es in dieser Situation noch ein anderes Gefühl außer der Traurigkeit?« Therapeutisch erzeugen diese Fragen jeweils längere oder kürzere Antworten, was der Therapeut in seine Überlegungen einbeziehen kann. In der Arbeit mit dem inneren Kind reflektiert die Sprachform das Alter des Kindes: Das »Du« mit Verwendung des Vornamens ist angemessen für Kinder unter 16 Jahren, und eine respektvoll-kindgerechte Sprache ist sinnvoll, wenn das innere Kind jünger als 10 Jahre alt ist: »Lissy, du darfst jetzt der Mama genau sagen, was du fühlst und wie es so ist mit ihr als Mama im Alltag. Sie kann dir jetzt ganz aufmerksam zuhören und schimpft überhaupt nicht.« Der Therapeut informiert den Klienten vor dieser Sequenz davon, dass er das »Du« verwenden wird. Dialoge mit inneren Anteilen, mit Problemverhalten oder mit der psychischen Störung des Klienten laufen generell per »Du« ab, und der Therapeut erwähnt dies kurz, bevor er in den Dialog mit dem Klienten eintritt. Als Tonlage für alle sehr emotionalen Momente eignet sich eine sanfte Stimmlage, die die Warmherzigkeit und die emotionale Präsenz des Therapeuten oder Beraters sowie die volle Akzeptanz aller Äußerungen des Klienten signalisiert. Er soll das Gefühl bekommen, dass er in der Übung nichts falsch machen kann – und das ist tatsächlich so: Es gibt keine Fehler, die der Klient machen könnte. Das Verhalten des Klienten, was immer es ist, enthält immer wichtige Informationen für den Therapeuten hinsichtlich des Verlaufs einer Intervention. Bei unerwarteten Aussagen des Klienten reagiert der Therapeut daher möglichst flexibel, selbst wenn ihm die Übungsstruktur zeitweise abhanden kommen sollte.
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Welche Anleitung bekommt der Klient für den Dialog während der Stuhlübung?
Bei der Ressourcenübung, z. B. dem Als-ob-Stuhl (7 Kap. 4.2.1) oder der Zeitreise (7 Kap. 4.2.3), wird im Normalfall nur ein Übungsstuhl benötigt, denn es handelt sich um Monologe des Klienten, die vom Therapeuten in Form eines Interviews moderiert werden. Bei den meisten anderen Stuhlübungen handelt es sich jedoch um Dialoge, bei denen entweder ein Selbstanteil, z. B. der Angstanteil, ein Problemverhalten bzw. eine psychische Störung sowie das jüngere Ich oder eine reale Person aus dem Umfeld des Klienten auf dem leeren Stuhl imaginiert werden. Der Klient spricht in diesen Übungen den leeren Stuhl direkt an, verwendet die meiste Zeit grammatikalisch das Präsens und tut so, als säße dieser Selbstanteil oder diese Person auf dem Stuhl. Eine Anleitung könnte lauten: »Stellen Sie sich vor, hier auf diesem Stuhl sitzt Ihr jüngeres Ich. Dieses Mädchen hat einige schwierige Dinge erlebt, wie wir auf dem anderen Stuhl erfahren haben, und es könnte Ihre Unterstützung brauchen. Wie möchten Sie als die Erwachsene, die Sie heute sind, für die kleine Lissy sorgen? Was möchten Sie ihr jetzt sagen?« Für Dialoge mit inneren Anteilen, z. B. dem inneren Kritiker, ist die Verwendung des Präsens für beide Seiten sehr wichtig: »Du machst mich einfach immer fertig, und dabei bist du total unfair«, während der Erwachsene, der dem Vater einige Erlebnisse und Gefühle aus seiner Jugend aufzeigt, notwendigerweise in der Vergangenheit spricht: »Du hast immer wieder deine rohe Wut mit dem Gürtel an mir ausgelassen, bis ich groß genug war, um dir auch Schläge anzudrohen. Ich habe dich dafür gehasst.« Wenn es passend erscheint, kann der Therapeut den Klienten auf die Verwendung des Präsens und die direkte Anrede »Du« im Dialog mit dem leeren Stuhl hinweisen. z
Was mache ich, wenn der Klient sich nicht vollständig an meine Anweisungen halten kann?
Generell gilt, dass eine Stuhlübung oft gar nicht perfekt eingeführt werden muss, um eine gute therapeutische Wirkung zu erzielen. Viele Klienten können sich gut auf diese Intervention aufgrund des spielerischen Elements einlassen und benöti-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
gen gar keine besonders detaillierte Anleitung für die verschiedenen Stuhlpositionen. Falls es aber dem Klienten sehr schwerfällt, im direkten Dialog mit dem leeren Stuhl zu bleiben, und er sich immer wieder in Erzählform direkt an den Therapeuten wendet, dann kann der Therapeut ihn vielleicht zwei- oder dreimal darauf hinweisen: »Sprechen Sie doch direkt mit Ihrem Vater, er sitzt ja da auf dem Stuhl.« Der Klient sollte während der Übung möglichst auch alle intellektuellen Überlegungen und Reflexionen zu den Ereignissen bis zur Nachbesprechung zurückstellen. Es ist allerdings auch mit einem lenkenden Hinweis wie: »Darüber sprechen wir gleich nach der Übung« nicht immer möglich, den Klienten in der Übungsstruktur zu halten; der Therapeut macht diese Anmerkung vielleicht zweimal, lässt dann aber besser den Klienten selbst entscheiden, ob er innerhalb der Übung eine Reflexion einbringen möchte. Rigidität in der Durchführung der Intervention gefährdet das Vertrauen in die therapeutische Beziehung und ist überdies nicht nötig. Sehr oft wird es möglich sein, nach einer kurzen Reflexionsphase nochmals den direkten Dialog mit dem leeren Stuhl aufzugreifen. Der Therapeut darf nicht schulmeisterlich wirken, sondern bleibt der mitfühlende und flexible Begleiter der Übung. Wenn der Klient immer wieder aus der Übung ausschert, indem er in der dritten Person über die Ereignisse mit dem Therapeuten sprechen will, statt sich direkt damit auseinanderzusetzen, dann muss dies auch als wichtiges psychologisches Signal gewertet werden. Der Klient schützt sich vielleicht vor emotionaler Überflutung und reguliert auf diese Weise die Intensität der Übung, oder er muss erst schrittweise lernen, sich auf diese künstliche Dialogsituation und die daraus entstehenden starken Emotionen wirklich vollständig einzulassen. Auch solche Sitzungen, bei denen der Therapeut akzeptieren muss, dass der Klient vom Übungsstuhl aus bereits reflektieren oder über die Ereignisse in der dritten Person erzählen möchte, haben eine gewisse Intensität und daher hohen psychotherapeutischen Wert. Es hat sich nicht bewährt, den Klienten in diesem Moment sofort auf seinen regulären Stuhl zurückzubitten, um ihm dann nochmals den Übungsstuhl genau zu erklären – wenn die Übung am Anfang sorgfältig erklärt wurde, ist das intel-
lektuelle Verständnis der verschiedenen Stuhlpositionen in den seltensten Fällen der Störfaktor. Es ist eher sinnvoll, nach ein oder zwei vergeblichen Erinnerungen an die Regeln der Übung diese Form der Selbstregulation eines Klienten, der aus seiner Rolle aussteigt, zu respektieren. Auch diese Personen äußerten sich in den Nachbesprechungen immer wieder positiv über ihre Erfahrungen auf den Stühlen und die atmosphärischen Veränderungen, die sie allein durch die Stuhlpositionen erlebten. z
Was passiert, wenn ich die Stuhlübung nicht sorgfältig eingeführt habe?
Wenn dem Klienten nicht klar geworden ist, dass es um ein getrenntes Erleben von verschiedenen Anteilen seiner Person geht, dann besteht die Gefahr, dass sich die Erfahrungen dieser Anteile nicht sauber trennen lassen und der Klient im Grunde nicht viel Neues erlebt. Es kommt beispielsweise häufig vor, dass die Indikation für die Auseinandersetzung mit Personen aus dem direkten Umfeld des Klienten eine als belastend erlebte Mischung von kindlichen und erwachsenen Anteilen in der Kommunikation mit dieser Bezugsperson ist: Dies stellt für den Klienten eine Art Normalzustand dar, der noch nie reflektiert und bearbeitet wurde. Die Stuhlübung hat in diesem Fall zum Ziel, diese beiden Seiten im Erleben der Person klar zu trennen, um auf diese Weise Veränderungen überhaupt möglich zu machen. Wenn die Funktionen der beiden Stuhlpositionen aber nicht genau erklärt wurden, kann diese Trennung nicht gut vollzogen werden. Die Praxis zeigt jedoch, dass die Aufschlüsselung der verschiedenen Erlebnisweisen meistens gut gelingt, selbst bei einer recht kurz geratenen Einleitung der Intervention. Außerdem besteht immer die Möglichkeit der Nachbesserung während der Übung, wenn der Therapeut ein Missverständnis bemerkt – auch dies ist nicht problematisch. Weiterhin gibt es natürlich immer relativ gesunde, motivierte und emotional flexible Klienten, die auch nach sehr kurzen Anweisungen sofort verstehen, worum es geht, und die angestrebten emotionalen Lernprozesse mit Leichtigkeit durchlaufen. Wie bereits erwähnt, gilt für die meisten Klienten und die meisten Übungen, dass eine misslungene Stuhlübung keinen therapeutischen Schaden
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4.1 • Wichtige Vorüberlegungen zur Implementierung
anrichtet. Eine unvollständig erklärte Stuhlübung, die zu keinem Ergebnis führte, kann zu einem späteren Zeitpunkt nochmals wiederholt werden, mit ausführlicheren Erklärungen der verschiedenen Stuhlpositionen. Vielleicht lag der Misserfolg jedoch auch an der ungünstigen Wahl des Zeitpunkts für die Übung, oder es handelt sich um einen Klienten, mit dem auch unter den allerbesten Umständen eine solche Übung nicht durchzuführen wäre. z
Wie lange dauert eine Stuhlübung ungefähr?
In einer Einzelsitzung sollten mindestens 25 Minuten für eine Stuhlübung zur Verfügung stehen, da auch das Nachgespräch und die Verabredung von weiterführenden Hausaufgaben noch innerhalb der Sitzung stattfinden sollten. Knüpft man jedoch an zuvor durchgeführte Stuhlübungen an, können auch kürzere Sequenzen ohne lange Einführung sinnvoll sein: »Wollen Sie diese neue Einsicht vielleicht nochmals mit aller Kraft dem inneren Antreiber mitteilen, den wir schon letzte Stunde kennengelernt haben?« Für diese Anschlusssequenz sind vielleicht nur ein paar Minuten notwendig. In anderen Fällen, wenn es um tiefe Emotionen und wichtige Veränderungsprozesse geht, kann sich eine Stuhlübung über zwei oder sogar drei Sitzungen hinziehen. Dies passiert, wenn eine Klientin oder ein Klient sich vielleicht erstmalig traut, lange verborgene Gefühle aus der Kindheit aufzurufen, und von dieser Erfahrung zunächst überwältigt ist. Der Wechsel auf einen Erwachsenenstuhl zur weiteren Auseinandersetzung mit den Eltern der Kindheit wäre innerhalb derselben Sitzung vielleicht nicht mehr sinnvoll, da der Klient Zeit zum Nacherleben des ersten Gesprächs benötigt. Die Fortführung ist vielleicht auch gar nicht mehr emotional zumutbar – intensive Gefühle brauchen Zeit, und mancher Wechsel wäre innerhalb einer einzigen Sitzung einfach zu abrupt. Die Erwachsenen-Stuhlposition kann dann in der Folgesitzung angebahnt werden. z
Stellen Stuhlübungen eine besondere Anforderung an die therapeutische Beziehung dar?
Grundsätzlich ist immer schwer einzuschätzen, wie der Klient eine Stuhlübung verarbeitet – das Gespräch mit dem inneren Kritiker (7 Kap. 4.3.1) kann
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bei der einen Person eher locker und sogar humorvoll ablaufen, während die andere Person in dieser Übung sehr tiefe Gefühle des Abgelehntwerdens durch die frühen Bezugspersonen erlebt, da sie den inneren Kritiker mit der Stimme der Mutter identifiziert. Trotzdem kann man einen Anhaltspunkt zur Intensität geben: Bei den einfachen Stuhlübungen (Ebene 1) ist ein besonders tiefes Vertrauensverhältnis zwischen dem Therapeuten und dem Klienten nicht unbedingt notwendig, wenn auch wünschenswert. Übungen auf Ebene 2 zeigen häufig einen mittleren Grad an Intensität und emotionalem Erleben beim Klienten. Dagegen ist aber bei Interventionen zu äußerst schmerzlichen Erfahrungen (Ebene 3) wie sexuellem Missbrauch oder dem Verlust eines geliebten Menschen durch Tod ein belastbares Vertrauensverhältnis unabdingbar. Dabei sind die bereits von Carl Rogers geforderten Basistugenden wie Empathie und Echtheit sowie die bedingungslose positive Wertschätzung des Klienten auch aus der kognitiven Verhaltenstherapie nicht mehr wegzudenken. Je klarer und gleichzeitig warmherziger und verständnisvoller der Therapeut sich in den Sitzungen äußern kann, umso tiefer gehen die Stuhlübungen beim Klienten. Nicht die Stühle, sondern die Worte des Therapeuten erreichen die Klienten und ermöglichen letztlich die emotionsaufdeckenden und heilenden Erfahrungen. z
Was ist zu tun, wenn eine Sitzung mit Stuhlübung nicht positiv zu Ende gebracht werden konnte?
Es gibt natürlich intensive psychische Prozesse wie den Abschied von einem schwierigen Elternteil, die nicht in 50 Minuten bewältigt werden können, sondern sich über zwei oder drei Sitzungen erstrecken. > Eine einzelne Stuhlübung sollte maximal drei Sitzungen umfassen. Bei mehr als drei aufeinanderfolgenden Sitzungen ist die Übung wahrscheinlich zu lang, eher unfokussiert und daher letztlich ineffizient.
Im stationären Setting bestehen bei den Intervallen zwischen den Stuhlübungssitzungen für psychosomatisch erkrankte Patienten keine Bedenken, solange keine Psychose und keine schwere Persönlichkeitsstörung mit Neigung zu Selbstverletzung
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
oder Suizidalität vorliegen. Eine mehrstündige Stuhlübung kann jedoch auch mit einem ambulanten Klienten durchgeführt werden, wenn die hier aufgeführten Kriterien zumindest teilweise oder nahezu vollständig erfüllt sind. Die folgenden Aspekte treffen natürlich ebenso für die Unterstützung von Klienten im stationären Umfeld nach belastenden Sitzungen ohne positive Lösung zu und sollten im Voraus bekannt sein: 5 Es besteht eine solide und belastbare therapeutische Beziehung; der Klient setzt in den Therapeuten großes Vertrauen. 5 Besonders im ambulanten Umfeld: Der Klient befindet sich insgesamt in einem relativ stabilen Gesamtzustand, der eine umschriebene psychische Belastung zwischen den Therapiesitzungen erlaubt. 5 Der Therapeut unterbreitet dem Klienten einige individuell passende Vorschläge zur konstruktiven Selbstfürsorge zwischen den Sitzungen, beispielsweise den Hinweis auf einen besonderen Genuss, eine wohltuende Entspannungsübung oder eine spezielle Unternehmung mit positiv verstärkendem Charakter. Auf diese Weise nehmen problematische Gefühle im Intervall zwischen den Sitzungen nicht überhand. 5 Der Therapeut diskutiert am Ende der ersten Sitzung den negativen, belastenden Gefühlszustand mit dem Klienten und ordnet ihn – im Sinne eines Reframings – positiv in den Gesamtverlauf dieser Psychotherapiephase ein. Er erzeugt durch die Erklärung des Vorgehens eine insgesamt positive Einstellung zum Verlauf der zusammengehörenden Stuhlübungssitzungen: »Es ist sehr berührend und sehr wichtig, dass Sie heute diese schwierige Erfahrung wirklich zulassen und sogar weinen konnten. Sie haben eine lange verschlossene Tür geöffnet, auch wenn es wehtut. Dies ist die Voraussetzung für die Heilung. Es ist jetzt nicht leicht, die schwierigen Gefühle zu ertragen, aber vielleicht hilft Ihnen ja die Perspektive, dass nun viel Positives in der nächsten Sitzung geschehen kann. Bis dahin wäre es wichtig, dass Sie besonders gut für sich sorgen.« Diese Transparenz in der Verhaltenstherapie (vgl. Kanfer et al., 2006) unterstützt
wichtige Wirkfaktoren wie die Motivation des Klienten zur Mitwirkung und seine Verantwortungsübernahme. Außerdem kann der Therapeut auf diese Weise gezielt die Hoffnung auf die Lösung der Problematik in einer der nächsten Sitzungen erzeugen. 5 Der Therapeut entwirft sinnvolle therapeutische Hausaufgaben, die die weitere Verarbeitung der schwierigen Gefühle zwischen den Sitzungen fördern, dem Klienten eine aktive Rolle in seinem Prozess zuweisen und den Übergang zur nächsten Sitzung erleichtern. Der Klient kann beispielsweise die erste Phase der Intervention nacharbeiten, indem er die wesentlichen Punkte schriftlich fixiert; oder er kann beginnen, mit wichtigen Menschen in seinem Umfeld über Dinge zu sprechen, die ihn gerade bewegen und die er vielleicht bisher noch nie erwähnt hatte. 5 In manchen Fällen ist der niedergelassene oder stationäre Therapeut gewillt, am Abend nach der Sitzung oder am Folgetag mit dem Klienten ein kurzes zusätzliches Gespräch bzw. Telefonat zu führen, um das Gefühl des Alleingelassenseins mit dem schwierigen Thema zu reduzieren und um so die Brücke zur nächsten Sitzung zu bauen. z
Wie oft kann man innerhalb einer Psychotherapie oder Beratung Stuhlübungen durchführen?
Für eine stationäre Therapie von sechs bis acht Wochen mit 12 bis 15 Einzelsitzungen sind meistens ein bis zwei, seltener auch drei verschiedene Stuhlübungen sinnvoll und passend. In der ambulanten Psychotherapie oder in einer Beratung, die ja einen viel längeren Zeitraum umfasst, können über 25 bis 85 Sitzungen hinweg auch mehr Stuhlübungen Platz finden. Es ist allerdings davon abzuraten, ständig Stuhlübungen zu verwenden und fast alle Therapieinhalte in dieses Format zu pressen. Günstiger ist es, nur ganz zentrale Therapieinhalte mithilfe dieser emotionsaufdeckenden Übungen zu bearbeiten. Auf diese Weise bleibt auch für den Klienten das Besondere dieser Art von Intervention und des Erlebnisses während der Übung erhalten.
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4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
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Was sind die Unterschiede zwischen den Stuhlübungen auf den drei Ebenen?
Die Stuhlübungen in diesem Buch unterscheiden sich durch drei Ebenen der Komplexität: Auf Ebene 1 handelt es sich um einfache, auf Ebene 2 um intensivere und auf Ebene 3 um komplexe, hochemotionale Übungen. Diese Unterscheidung entstand im klinischen Kontext durch eigene Beobachtung und Erfahrungen von Therapeutinnen und Therapeuten, die sich diese Übungen aneigneten. Es handelt sich um intuitive, klinische Erfahrungskategorien, nicht um objektive Kriterien. Die Schwierigkeit der Durchführung für den Therapeuten stellt ein wichtiges Kriterium der Einteilung dar; hier spielen sowohl die Anzahl der Stühle und die verschiedenen Positionen des Klienten eine Rolle als auch inhaltliche Gesichtspunkte wie die Bedeutung der Problematik für den Klienten und die zu erwartende Intensität seines Erlebens – im Gespräch mit einem geliebten Verstorbenen ist im Normalfall mehr Gefühl zu erwarten als bei der Klärung einer beruflichen Ambivalenz. Wenn der Therapeut zusätzlich die intuitive Position beim Klienten aufruft, befindet er sich ebenfalls auf einem höheren Niveau der Komplexität als bei Interventionen auf den Ebenen 1 und 2: In dieser Position steht der Klient hinter dem Stuhl einer schwierigen Person aus seiner Vergangenheit und ruft sein intuitives Wissen über die Beweggründe dieser Person für ihr Handeln auf. Die drei Abstufungen der Übungen besitzen keinerlei intrinsisch wertende, sondern rein heuristische Bedeutung: Eine Übung auf Ebene 1 kann durchaus extrem wichtig und für den Klienten sehr intensiv ausfallen. Die Wirksamkeit einer Übung für den Klienten erschließt sich allein aus der subjektiven Erfahrung – eine Übung auf Ebene 1 kann für einen Klienten mit Ambivalenz oder beruflichen Problemen ungeachtet der relativ einfachen Durchführung die zentrale, wesentliche Erfahrung in der Psychotherapie oder im Coaching darstellen. Die Aufteilung in Ebenen soll es dem mit Stuhlübungen noch wenig erfahrenen Therapeuten oder Berater ermöglichen, sich diese Form der Arbeit mit Menschen schrittweise anzueignen, denn die Führung des Klienten ist auf den Entscheidungsstühlen (7 Kap. 4.2.2) oder
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bei der Zeitreise (7 Kap. 4.2.3) unkomplizierter als bei den Übungen auf den anderen beiden Ebenen. z
Sind die Stuhlübungen alle klar voneinander abzugrenzen?
Viele der hier vorgestellten Stuhlübungen unterscheiden sich sehr klar voneinander, allerdings überlappen sich einige Übungsstrukturen. Die Aufteilung in zehn verschiedene Übungen hat sich in Seminaren und Supervisionssitzungen für das Erlernen dieser Interventionen gut bewährt. Die 7 Kap. 4.2 bis 7 Kap. 4.4 enthalten neun Unterabschnitte, da zwei Übungen aufgrund ihrer fast analogen Durchführung kombiniert vorgestellt werden. z
Wie erfolgt die Darstellung der Stuhlpositionen in diesem Buch?
Die verschiedenen Stuhlpositionen der Übungen sind als Schwarz-Weiß-Zeichnungen in den jeweiligen Unterkapiteln dargestellt: Stühle mit spitzen Armlehnen kennzeichnen die regulären Sitzstühle, die im Therapieraum stehen: einen Klientenstuhl und einen Therapeutenstuhl. Stühle mit runden Armlehnen symbolisieren die Übungsstühle; der Therapeut ist durch ein »T«, der Klient durch ein »K« markiert. Die kleinen schwarzen Dreiecke in den Zeichnungen geben jeweils die Blickrichtung von Therapeut und Klient an.
4.2
Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
Die drei Übungen auf der ersten Stufe der Komplexität sind nicht an den klinischen Kontext und nicht an das Vorliegen bestimmter psychischer Störungen gebunden, können also auch sehr gut im Bereich von Beratung und Coaching verwendet werden. Die Übungen zur Ressourcenaktivierung, der Als-ob-Stuhl (7 Kap. 4.2.1), und zur Ambivalenz, die Entscheidungsstühle (7 Kap. 4.2.2), sind außerdem auch für Kinder und Jugendliche gut geeignet.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
4.2.1
Ressourcenübung: Der Als-ob-Stuhl
Zielgruppe
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Diese Übung stellt eine gezielte Aktivierung von Ressourcen dar und ist für alle Klientengruppen, auch für Kinder und Jugendliche, gut geeignet, solange der Klient in der Lage sein wird, sich in die erwünschte Zielsituation hineinzuversetzen. Die Übung ist ebenso für alle Psychotherapie- und Beratungssettings sowie Coachings zu empfehlen.
Therapeutische Zielsetzung In Therapie und Beratung ergibt es sich zwangsläufig, dass die Klienten wichtige Veränderungswünsche verschiedener Art an ihr eigenes Verhalten und ihr Leben haben und sich daher in den Sitzungen vor allem mit ihren Defiziten den Therapeuten und Beratern vorstellen. Dabei ist oftmals der erwünschte Zielzustand nur vage und wenig definiert: Der Klient weiß eher, wovon er sich entfernen möchte, als wohin er gehen möchte. Es ist eine wichtige Aufgabe in Therapie und Beratung, die Zielzustände nicht nur kognitiv zu definieren, sondern auch emotional eindrücklich erfahrbar und dadurch attraktiv zu gestalten. Es gibt vielfältige Interventionen, die den Weg zur Ressource aufzeigen und auch spürbar machen können. Der Als-ob-Stuhl soll den statischen Endpunkt der Veränderung, wenn also das Problem vollständig gelöst oder die psychische Störung vollständig überwunden sein wird, aufzeigen und dem Klienten ein inhaltsreiches Erlebnis dieser neuen Situation ermöglichen.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Eine Kontraindikation besteht nicht, solange die Thematik sich für einen eindeutigen Ressourcenstuhl eignet, der die (fast) vollständige Lösung des Problems symbolisiert. Ungeeignete Themen könnten sein: Bewältigung einer chronischen oder sogar chronisch-progredienten Erkrankung, für die eine medizinische Lösung letztlich nicht möglich ist, oder alle anderen Ereignisse mit vorhersagbar negativem Verlauf. Allerdings könnte man auch in solchen Fällen als Abwandlung einen Lösungsstuhl im Sinne von vollständiger Akzeptanz der Erkrankung oder des Ereignisses entwickeln, wenn
dies passend erscheint – dieser Schritt der Akzeptanz bedeutet ja trotz persistierender Probleme eine große psychische Entlastung und die Freisetzung von Energie für den sinnvollen Umgang mit der Erkrankung oder dem Ereignis: »Es kann und darf mir jetzt wieder gut gehen, auch wenn ich die Diagnose einer multiplen Sklerose erhalten habe.« Bei der Durchführung der Übung könnte es schlimmstenfalls passieren, dass der Klient oder Patient sich auf dem Ressourcenstuhl gar nicht vorstellen kann, sein Problem sei gelöst und sein Leben könne sich tatsächlich positiv verändern. Dies hat zur Folge, dass der Klient auf dem Ressourcenstuhl nichts Wesentliches erleben wird. Wie auch bei anderen fehlgeschlagenen Interventionen hat dieser Vorgang wichtige diagnostische Bedeutung bezüglich der Zielerreichung für diese Person: Ein Ziel wird nur erreicht, wenn es dem Klienten im Detail überhaupt vertraut ist, wenn es eine klare positive emotionale Valenz besitzt und daher nicht nur auf intellektueller Ebene attraktiv erscheint. Wenn ein Klient auf dem Als-ob-Stuhl nichts spürt, müsste die ganzheitliche Wahrnehmung des Zielzustands auf andere Weise angebahnt werden, bevor man diese Übung ein zweites Mal einsetzen kann. Zunächst könnte überprüft werden, ob vielleicht selbstbehindernde Kognitionen wie: »Das schaffe ich eh nicht«, »Einen so guten Zustand habe ich gar nicht verdient« den Übergang zum positiven Zielzustand blockieren.
Dauer der Übung Diese Übung kann schon bei einer Zeitspanne von 10 bis 15 Minuten sehr hilfreich sein, sie darf aber auch länger dauern, wenn der Zielzustand ausführlich beschrieben werden soll und positive Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen nach sich zieht, die im Gespräch einzeln aufgerufen werden.
Stuhlpositionen Für diese Übung benötigt man nur einen Übungsstuhl (. Abb. 4.1), da der Therapeut in der Interviewer-Position bleibt und durch Fragen den Monolog des Klienten fördert. Es finden keine Positionswechsel statt.
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4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
K
T
. Abb. 4.1 Als-ob-Stuhl. Der Klient sitzt auf dem Ressourcenstuhl und wird vom Therapeuten zu den positiven Aspekten und Folgen eines Therapiethemas befragt; Stuhlpositionen: spitze Armlehnen normale Stühle; runde Armlehnen Übungsstühle; T Therapeut; K Klient; kleine schwarze Dreiecke Blickrichtung
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
Um die Ressource, die der Klient auf dem Als-obStuhl erleben soll, von seinen Selbstzweifeln und seiner Problemverhaftung sauber zu trennen, ist auf jeden Fall die sorgfältige Erklärung des Übungsstuhls wichtig: »Herr K., ich werde Sie gleich bitten, sich auf diesen Übungsstuhl zu setzen, den ich Alsob-Stuhl nennen möchte. Bitte stellen Sie sich vor, dass Ihr Problem vollständig gelöst ist, sobald Sie sich auf diesen Stuhl setzen. Dazu möchte ich Sie auffordern, einmal gedanklich aus Ihrer jetzigen Situation auszusteigen, Ihre Selbstzweifel beiseite zu lassen und sich intensiv auszumalen, Sie hätten es schon geschafft. Sobald Sie auf diesem Stuhl Platz nehmen, tun Sie so, als ob Sie Ihre Probleme bereits gelöst und Ihr Ziel erreicht hätten. Ich helfe Ihnen dann durch einige Fragen, die Bedeutung dieses neuen Zustands genauer zu beschreiben und zu erspüren.« z
Therapiesequenz
Der Therapeut oder Berater bittet den Klienten, sich auf den Ressourcenstuhl zu setzen, und führt
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eine Art Interview durch, bei dem der Zielzustand ausführlich beleuchtet werden sollte, vor allem in Bezug auf seine attraktiven emotionalen Qualitäten und seine günstigen Folgen im Zeitverlauf. Trotzdem sollten auch kritische Fragen nach potenziellen Problemen durch die Zielerreichung – hier sind Effekte auf das soziale Umfeld wichtig – und nach Rückfallgefahren gestellt werden. Mögliche Fragen könnten sein: 5 »Wie geht es Ihnen denn jetzt, so ganz ohne das Problem/die Störung?« 5 »Wie fühlen Sie sich?« 5 »Was machen Sie mit Ihrer Zeit? Mit Ihrer neu gewonnenen Energie?« 5 »Was bedeutet dies für Ihre Berufstätigkeit, jetzt und längerfristig?« 5 »Wie wirkt sich die Lösung Ihres Problems auf Ihr Privatleben, Ihre Familie und Ihre Ehe aus?« 5 »Was bedeutet diese vollständige Problembewältigung längerfristig für Ihr Leben? In ein paar Jahren?« 5 »Können Sie sich auch wirklich erlauben, dass es Ihnen richtig gut geht?« 5 »Hat das Folgen für Ihr Selbstbild, Ihr Selbstbewusstsein, Ihr Selbstwertgefühl? Welche?« 5 »Wie fühlt sich nun abschließend dieser Alsob-Stuhl für Sie an?« Die letzte Frage sollte in jedem Fall gestellt werden, um dem Klienten eine zusammenfassende Wahrnehmung und Bewertung der Erfahrung vor Verlassen des Ressourcenstuhls zu ermöglichen. Der Als-ob-Stuhl ist als Position für einen bestimmten Zustand, also statisch, gedacht, soll also nicht den Prozess der Veränderung symbolisieren. Fragen wie: »Was können Sie tun, um dieses Ziel zu erreichen?« gehören nicht in diese Übung, sondern ggf. in die Nachbereitung. Auf dem Übungsstuhl ist ja bereits der Zielzustand erreicht und soll in seinen Auswirkungen exploriert werden. z
Abschluss und Nachbesprechung
Die Übung wird abgeschlossen, sobald wesentliche Aspekte der Zielerreichung detailliert beschrieben wurden und der Klient diese neue, wünschenswerte Situation gut erleben konnte. Der Klient sollte einige positive Gefühle möglichst selbst erfahren
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
und benennen: Freude, Erleichterung, Zuversicht, Optimismus etc. Die Intervention stellt einen Aspekt der Motivationsförderung in der Psychotherapie dar und kann auch zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden. In der Nachbesprechung kann der Therapeut dann die in der Übung aufgetauchten Hinweise auf weitere Therapieschritte erörtern: Vielleicht müssen noch Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, vielleicht sollten Wege und Zielzustände noch genauer definiert werden, und vielleicht muss einem Rückfall in den Pessimismus vorgebeugt werden.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Als Aufarbeitung sollte der Klient auf jeden Fall die wichtigsten Punkte der Übung selbst schriftlich in einer Liste festhalten – er beschäftigt sich auf diese Weise intensiver mit den erwünschten Zielzuständen, und das positive Erlebnis bleibt nicht beschränkt auf die einmalige Ressourcenübung mit dem Als-ob-Stuhl. Motivierte Klienten können die einzelnen Punkte auch noch genauer ausführen, als es in der Übung geschah. Alternativ kann der Klient auch selbst ein Schaubild entwickeln, das die Aspekte des Zielzustands zueinander in Beziehung setzt; beispielsweise können inhaltliche Abhängigkeiten bestehen, denn bevor eine Entscheidung über eine wichtige Beziehung getroffen werden kann, muss ein klärendes Gespräch geführt werden; oder es können rein zeitliche Abhängigkeiten visualisiert werden, denn die Umzugsplanung ist erst sinnvoll, wenn die Ehefrau zugestimmt hat und der neue Job in einer anderen Stadt gefunden wurde. Diese eher intellektuelle Durchdringung der positiven Gesichtspunkte in schriftlicher Form macht den Prozess der konkreten Umsetzung für den Klienten viel fassbarer, sodass die Chance auf den Transfer in den Alltag steigt.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext Der Als-ob-Stuhl kann auch in einer Psychotherapiegruppe im Rahmen von individuellen Therapiesequenzen verwendet werden. Die Gruppenmitglieder können das Interview des Therapeuten durch eigene Fragen ergänzen, sodass die Erfahrung für den Protagonisten insgesamt reichhalti-
ger wird. Die Intervention ist sehr empfehlenswert für eine Therapiegruppe, allerdings wird sie wahrscheinlich keine Doppelstunde füllen können, sondern nur einen Zwischenschritt in einer längeren Therapiesequenz darstellen.
Abwandlungen Die Basisversion dieser Stuhlübung ist als rein ressourcenorientierte Intervention ohne argumentatives oder konfrontatives Element gedacht und eignet sich als erster Schritt für Menschen, die das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten – ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugung – weitgehend verloren haben und noch nicht mit Hindernissen konfrontiert werden sollten. Die Intervention kann wiederholt werden, wenn der Klient sich gestärkt fühlt und einigen Gegenargumenten gewachsen ist. Klienten, die ohnehin bereits in dieser Form belastbar sind, sollten gleich beim ersten Durchlauf mit möglichen Problemen bei der Zielerreichung konfrontiert werden. Therapeutenfragen könnten lauten: 5 »Birgt die neue Situation irgendwelche Nachteile für Sie? Wie bewältigen Sie diese?« 5 »Wie gehen Sie mit der Gefahr eines Rückfalls/ eines Wiederauftretens Ihres Problems um?« 5 »Was machen Sie, wenn Ihr soziales Umfeld Ihre Veränderungen gar nicht gut findet und Sie kritisiert werden?« Gerade die möglichen problematischen Auswirkungen auf das soziale Umfeld sollten thematisiert werden, z. B. die missbilligende Reaktion von Ehemann und Kindern, wenn die Hausfrau und Mutter vollständige psychische Gesundheit erzielt, selbstständiger werden möchte und sich sogar eine Arbeitsstelle außerhalb des Hauses suchen möchte. Der Als-ob-Stuhl wurde bei einem Therapiegespräch mit Frau R. eingesetzt, um ihre als Angestellte erworbenen Ressourcen in die zukünftige Selbstständigkeit zu transferieren. Die Klientin, die über zwei Jahrzehnte in leitender, verantwortlicher Position in einem großen Konzern erfolgreich gearbeitet hatte, äußerte Ängste hinsichtlich eines erwünschten Schritts in die Selbstständigkeit. Die Konzernziele der letzten Jahre konnte Frau R. innerlich überhaupt nicht mehr akzeptieren, zumal die-
4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
se durch für sie nicht nachvollziehbare Vorgaben ihren eigenen Führungsstil mittlerweile zu sehr eingeengt hatten. Bereits vor Therapiebeginn hatte Frau R. sich fest zu einem Wechsel in die Selbstständigkeit entschlossen. Obwohl die eigene Internetfirma, die sie parallel zur Festanstellung über Jahre hinweg aufgebaut hatte, bereits erfolgreich war, quälte die Klientin sich mit Existenzängsten, das gut gepolsterte Nest des Großkonzerns zu verlassen. Auf dem Als-ob-Stuhl oder Ressourcenstuhl wurde Frau R. nun im ersten Schritt als angestellte Führungskraft von heute interviewt und nach den positiven Folgen dieser Tätigkeit befragt. Sie berichtete, welche Persönlichkeitsentwicklung ihr die letzten 20 Jahre im Konzern ermöglicht hatten, welche Erfahrungen konstruktiv waren und was sie als Führungskraft alles gelernt hatte. Anschließend verknüpfte die Therapeutin diese positiven Entwicklungen im zweiten Schritt mit dem Übergang in die vollständige Selbstständigkeit als Unternehmerin. Nach der Rückkehr auf den normalen Therapiestuhl war die Klientin überrascht, wie viel Positives in diesen Jahren entstanden war, das ihr letztlich auch beim Wechsel in die Selbstständigkeit nicht verloren gehen, sondern sehr helfen würde: Mut zum Risiko hatte sie auch als Angestellte immer wieder bewiesen, weiterhin entwickelte sie viele Führungsqualitäten, die auch in der Selbstständigkeit Geltung besitzen, zudem waren da noch Geschäftssinn, Freude an der Organisation von Projekten und einige andere wichtige Qualitäten, die die angestellte Führungskraft der Unternehmerin zur Verfügung stellen wird.
4.2.2
Auflösung von Ambivalenz: Entscheidungsstühle
Zielgruppe Für die Ambivalenzübung gibt es wenige Einschränkungen, die über die allgemeinen Vorüberlegungen aus 7 Kap. 2 und 7 Kap. 4 hinausgehen. Die Intensität der Emotion auf dem jeweiligen Stuhl kann gut gelenkt werden, sodass man sogar bei Patienten mit schwerwiegenden Diagnosen wie Psychosen (medikamentös gut eingestellt) oder Persönlichkeitsstörungen diese Übung durchfüh-
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ren kann. Sie eignet sich auch für Kinder und Jugendliche. Die Übung passt nicht nur gut in die Psychotherapie, sondern auch in die Bereiche allgemeine Beratung und Coaching, in denen häufig wichtige berufliche Entscheidungen in all ihren Konsequenzen exploriert werden müssen.
Therapeutische Zielsetzung Die künstliche Auftrennung des Entscheidungsthemas auf zwei, selten auch drei verschiedene Stühle führt zur inneren Klärung auf emotionaler und intellektueller Ebene. Die Klärung beruht auf der Intensivierung des Erlebens beim Klienten unter Ausschluss der jeweils anderen Seite der Thematik. Meistens kann der Klient selbst sein Dilemma benennen. Im Übrigen bemerkt der Therapeut, dass eine Ambivalenzübung sinnvoll wäre, wenn der Klient z. B. bei der Erörterung von Optionen häufig in »Ja aber«-Erörterungen gerät, die seine Unfähigkeit zur Entscheidung aufzeigen. Auch quälende Grübeleien und Gefühle von Gefangen- oder Gelähmtsein können ein Hinweis auf eine problematische Entscheidungssituation sein. Diese Intervention betont, dass der Klient selbst die volle Verantwortung für seine Entscheidung trägt – der Therapeut begleitet nur und fördert den Prozess dieser Entscheidungsfindung. Das ist insbesondere bei Personen wünschenswert, die sich schnell von der Meinung einer Autoritätsperson abhängig machen und am liebsten sähen, dass der Berater oder Therapeut die schwierige Entscheidung für sie trifft: »Was meinen Sie, sollte ich mich scheiden lassen?« In manchen Fällen kann es für den Therapeuten oder Berater durchaus verlockend sein, dem Klienten tatsächlich einen gezielten Ratschlag zu geben, nicht zuletzt um eine vielleicht anstrengende Unschlüssigkeit zu beenden. Es wäre aber viel günstiger, wenn der Klient unter Anleitung des Therapeuten die für ihn subjektiv beste Entscheidung selbst entwickelt; dieser eigenständige Entdeckungsprozess hat wesentlich mehr persönliche, emotionale Bedeutung und fördert gleichzeitig die Autonomie und Verantwortungsübernahme des Klienten. Die Exploration der verschiedenen Positionen führt außerdem dazu, dass der Therapeut seinen Klienten besser kennenlernt und möglicherweise vorschnell getroffene eigene Einschätzungen der Sachlage innerlich revidieren wird.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.2 Entscheidungsstühle. a Der Klient befindet sich in der ersten Ambivalenzposition, der Therapeut ist Interviewer. b Der Klient nimmt die zweite Ambivalenzposition ein, der Therapeut befragt ihn zu dieser Seite des Themas
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Für diese Intervention gibt es, abgesehen von einer allgemeinen Therapiefähigkeit des Klienten im klinischen Setting, keine besonderen Kontraindikationen oder Gefahren. Sie ist gleichermaßen für die klinische und beratende Arbeit geeignet.
Dauer der Übung Im Normalfall kann und sollte diese Intervention innerhalb einer Sitzung von 50 Minuten durchgeführt werden, d. h. der Klient sollte für die Exploration beider Positionen ausreichend Zeit bekommen, jeweils mindestens 10, besser 15 Minuten. Eine Wiederholung der Übung nach einiger Zeit zur weiteren Präzisierung der Positionen ist denkbar, wenn sich in der Zwischenzeit wesentliche neue Gesichtspunkte ergeben haben.
Stuhlpositionen Für diese Übung (. Abb. 4.2) werden zwei Übungsstühle benötigt, die seitlich nebeneinander mit etwas Abstand aufgestellt werden, sodass der Klient den Therapeuten auf beiden Stühlen anschaut; die Stühle stehen also bei dieser Intervention nicht gegenüber, da keine Interaktion zwischen den Positionen geplant ist. Es gibt nur selten drei klar psychologisch voneinander abgrenzbare Positionen, für die man auch drei Übungsstühle benötigen würde.
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
Der Erfolg dieser Intervention beruht auf der sorgfältigen psychologischen Trennung der beiden Positionen, die der Klient für sich in Betracht zieht. Der Therapeut erzeugt diese Trennung der Ambivalenzpositionen durch die genauen Anweisungen für die Stühle. Er erklärt dem Klienten, dass er auf dem ersten Stuhl ausschließlich aus der ersten Position heraus argumentieren solle, damit er diese Seite der Angelegenheit in aller Vielfalt erleben kann. Der Therapeut erläutert weiterhin, dass er diese Erfahrungen in beiden Positionen durch gezielte Fragen an den Klienten in Form eines Interviews fördern werde und dass er den Klienten ggf. daran erinnern werde, die jeweils andere Seite seiner Thematik erst einmal gar nicht zu berücksichtigen. Anschließend formuliert der Therapeut gemeinsam mit dem Klienten zwei geeignete Bezeichnungen für die Übungsstühle; es könnte z. B. bei einem Abiturienten einen Universitätsstuhl und einen Ausbildungsstuhl oder Bundeswehrstuhl geben. Typische weitere Ambivalenzsituationen in der Psychotherapie: Trennung oder Beziehung zum Partner beibehalten; Kinder bekommen oder nicht; angestellt oder selbstständig arbeiten; Arbeitsstelle kündigen oder bleiben; jetzt oder später ein Kind bekommen/umziehen/ein Haus bauen/eine Arbeitsstelle anstreben oder wechseln, ins Aus-
4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
land gehen. Im Prinzip eignen sich alle Lebensentscheidungen für diese Intervention, wenn sie eine gewisse individuelle Bedeutung haben und unterschiedliche Emotionen auf beiden Positionen zu erwarten sind. z
Erste Therapiesequenz
Der Klient setzt sich auf einen der Übungsstühle (. Abb. 4.2a). Für die Auswahl des ersten Stuhls gibt es keine feste Regel, und manchmal ist es sinnvoll, den Klienten selbst entscheiden zu lassen. Es ist natürlich einfacher, die Situation des gegenwärtigen Zustands zuerst zu bearbeiten, da diese Erfahrungen ja real sind: Der verheiratete Mann nimmt zuerst den Ehestuhl und anschließend den Scheidungsstuhl ein. Die umgekehrte Reihenfolge ist jedoch auch denkbar: Der angestellte Architekt sitzt zunächst auf dem Selbstständigkeitsstuhl, um dann im Unterschied dazu die aktuelle Situation auf dem Angestelltenstuhl zu spüren. Wenn es eine eindeutig wünschenswerte Position gibt, kann man mit dieser beginnen, dann die problematische Situation detailliert erfragen und am Ende der Sitzung nochmals die wünschenswerte Position auf dem ersten Stuhl kurz explorieren; dies könnte z. B. bei Bearbeitung einer Ehesituation mit Gewalt gegen die Klientin sinnvoll sein, aus der sie sich lösen sollte. Der Therapeut kann und sollte natürlich in diesem Fall klar für die Beendigung dieser Gewaltsituation eintreten, da sonst keine psychische Gesundheit erzielt werden kann. Der Therapeut beginnt die Therapiesequenz immer mit der anschaulichen Beschreibung des Stuhls, der ausgewählt wurde, und endet mit Fragen zur allgemeinen Erlebnisqualität dieser Position, bevor gewechselt wird (vgl. auch Alsob-Stuhl, 7 Kap. 4.2.1). Die Qualität der Erfahrung verbessert sich durch die gezielten Fragen des Therapeuten, die dem Klienten helfen, die verschiedensten Aspekte seiner Entscheidung zu beleuchten und insbesondere die emotionalen Qualitäten und ggf. die längerfristigen Konsequenzen über größere Zeiträume hinweg aufzurufen. Durch die vielfältigen Interviewfragen des Therapeuten für jede Position ist die Ambivalenzübung auf den Entscheidungsstühlen der abstrakten Pro-undKontra-Liste deutlich überlegen. Der Klient wird überdies aufgefordert, im Präsens zu sprechen und
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wirklich so zu tun, als hätte er sich bereits sehr klar und motiviert für diese eine Möglichkeit entschieden. Einige potenzielle Aufforderungen und Fragen des Therapeuten am Beispiel der Überlegungen zur Selbstständigkeit bei einem angestellten Architekten: 5 Einleitung zur nochmaligen Betonung der Eigenschaften in der ersten Position, nachdem der Klient auf dem ersten Stuhl Platz genommen hat: »Stellen Sie sich vor, Sie haben sich auf diesem Stuhl nun ganz klar dafür entschieden, sich selbstständig zu machen und nicht mehr als Angestellter zu arbeiten. Diese Entscheidung steht für Sie fest, und Sie sind motiviert, alles Nötige zu tun.« 5 »Erzählen Sie doch bitte, wie Sie sich das ungefähr vorstellen. Werden Sie Angestellte haben? Wie bekommen und pflegen Sie Ihre Kundenkontakte? Wer macht das Kreative, wer die Buchhaltung und die Finanzen? Wie viel Zeit werden Sie auf den Baustellen verbringen? Wie viel Arbeitszeit pro Woche erwarten Sie zunächst? Und später?« 5 »Welche Schwierigkeiten und Probleme erwarten Sie bei diesem Schritt?« 5 Den Zeitaspekt in das Interview hineinbringen: »Nun stellen Sie sich vor, Sie haben jetzt die ersten zwei (fünf) Jahre hinter sich. Wie ist Ihr Leben nun? Was hat sich geändert? Mögen Sie Ihren Job noch? Wie kommen Sie auf Dauer mit der Verantwortung, der Unsicherheit und den langen Arbeitszeiten zurecht? Wie wirkt sich all dies auf Ihr Privatleben, auf Ihre Familie aus? Werden Sie das voraussichtlich noch leisten können, wenn Sie über 60 Jahre alt sind?« 5 Kognitionen erfragen: »Wie bewerten Sie Ihren Schritt abschließend?« 5 Die Gefühlsfrage wird bereits im Verlauf des Interviews ein oder zwei Mal gestellt, sie schließt aber auf jeden Fall diese Sequenz ab: »Wie fühlt sich dieser Stuhl an? Welche Gefühle haben Sie hier erlebt? Bitte schildern Sie Ihre Eindrücke!« 5 Ergänzend kann der Therapeut hier seine eigenen Wahrnehmungen äußern: »Ich habe Sie als sehr lebendig, aber anfangs auch als etwas verunsichert und zaghaft erlebt.«
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Weise betrachten können. Diese Position hatte etwas Entspanntes und Selbstsicheres.«
Zweite Therapiesequenz
Wenn die erste Position ausreichend beleuchtet wurde, fordert der Therapeut den Klienten auf, sich auf den zweiten Stuhl zu setzen (. Abb. 4.2b). Bei sehr emotionalen Themen wie einer Trennung vom Partner ist es sinnvoll, eine kurze Pause vor dem Stuhlwechsel einzulegen und den Klienten zunächst einmal zur Erholung auf seinen angestammten Platz zurückzubitten. Mögliche Äußerungen des Therapeuten zur Vertiefung der Erfahrung auf dem zweiten Stuhl: 5 »Nun stellen Sie sich bitte vor, Sie haben sich nach einigem Abwägen doch ganz fest dazu entschlossen, als Architekt bei Ihrer jetzigen Firma zu bleiben. Erzählen Sie bitte, was das bedeuten wird! Warum ist die Sicherheit der Anstellung und des regelmäßigen Gehalts für Sie wichtig? Wie wird es weitergehen? Welche Möglichkeiten haben Sie innerhalb der Firma, Ihre Arbeit interessant und lohnend zu gestalten?« 5 Zeitaspekt hineinbringen: »Wie können Sie dort als Angestellter in den nächsten Jahren wirklich zufrieden sein? Wie wird es in zwei, in fünf Jahren sein? Wie wird es im Alter von über 60 Jahren sein?« 5 »Gibt es wichtige Veränderungen, die Sie vornehmen wollen, um Ihre Arbeit interessant und anregend zu halten? Möchten Sie vielleicht noch einmal einige Zeit für Ihre Firma ins Ausland gehen oder ein wirklich großes Projekt in Angriff nehmen?« 5 »Was bedeutet diese Entscheidung für Ihr Selbstwertgefühl, für Ihre Selbstbewertung als erfolgreicher Architekt?« 5 »Was bedeutet diese Entscheidung für Ihr Privatleben, Ihre Familie?« 5 Kognitionen erfragen: »Wie bewerten Sie Ihren Schritt abschließend?« 5 Gefühlsqualität erfassen: »Wie fühlt sich dieser Stuhl an? Welche Gefühle haben Sie hier erlebt? Bitte schildern Sie Ihre Eindrücke!« 5 Ergänzend kann der Therapeut am Schluss ein weiteres Mal seine eigenen Wahrnehmungen äußern: »Ich habe bemerkt, dass es Ihnen zunächst schwerfiel, dieser Seite Positives abzugewinnen, aber mein Eindruck ist, dass Sie jetzt auch diese Möglichkeit in ausgewogener
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Abschluss und Nachbesprechung
Der Therapeut bittet den Klienten, sich auf seinen regulären Klientenstuhl zu setzen. Die beiden Übungsstühle können zunächst als Referenzpunkte im Raum stehen bleiben. In der Nachbesprechung werden die Eindrücke des Klienten von beiden Stühlen in Worte gefasst und kommentierend ergänzt. Bei wichtigen Themen findet selten die reale Entscheidung bereits in der Therapiestunde statt, und das sollte wohl auch so sein. Die subjektive Erfahrung auf den beiden Stühlen muss nach der Sitzung in Ruhe reflektiert werden, die entscheidungsrelevanten Schlussfolgerungen bilden sich dann oft in den Tagen nach der Übung. Andererseits treffen manche Klienten bereits direkt nach Abschluss dieser Intervention eine eindeutige Entscheidung, die sich aus der intensiven Erfahrung der Positionen ergibt. Diese Klienten reagieren dann erleichtert über die erlangte Klarheit und positiv überrascht über die Kraft dieser simplen Intervention.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Im Anschluss an diese Intervention kann es sinnvoll sein, dass der Klient seine Erfahrungen auf den beiden Stühlen schriftlich festhält – auch auf Papier getrennt nach Positionen und unter Berücksichtigung seiner Erlebnisse und Gefühle. Diese Hausaufgabe bietet mehr Tiefgang als eine ohne Übung erstellte Pro-und-Kontra-Liste, die die Gefahr der Intellektualisierung birgt. Für die Ambivalenzübung kann es auch wichtig sein, dass der Klient seine neuen Einsichten mit der Partnerin, einem Freund oder anderen von den Ereignissen betroffenen Personen bespricht, bevor er eine endgültige Entscheidung trifft. Eine intensive Form der erlebnisorientierten Aufarbeitung und des ersten Alltagstransfers von Ambivalenzübungen besteht in der Übung »So tun als ob« (nach Beck, 1999, S. 167f). Sie eignet sich insbesondere, wenn selbst nach der Intervention im therapeutischen Kontext die Entscheidung noch unklar bleibt. Der Klient wird aufgefordert, zunächst für drei Tage so zu tun, als hätte er sich für Möglichkeit A entschieden; er wird gebeten,
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4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
mit mehreren Personen darüber zu sprechen, was dies in seinem Leben bedeuten würde, und auch in seinen inneren Dialogen so zu tun, als wäre dies die endgültige Entscheidung. Er notiert seine Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und die Veränderungen seiner Sichtweise von Möglichkeit A in Form eines Tagebuchs. Anschließend tut er weitere drei Tage lang so, als hätte er sich eindeutig und klar für Möglichkeit B entschieden. Beide Phasen kann der Klient seinen Gesprächspartnern als klärende Übung transparent machen, da diese sich sonst über seinen plötzlichen Sinneswandel wundern würden. Diese Vorgehensweise betont die Autonomie der Entscheidung für den Klienten. Der Therapeut oder Berater begleitet im Therapiegespräch diese Selbsterfahrung, ohne eine eigene Stellungnahme abzugeben.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext Die Entscheidungsstühle eignen sich sehr gut für eine Psychotherapiegruppe: Der Ablauf ist weitgehend identisch mit dem für das Einzelgespräch, jedoch können die Gruppenmitglieder beitragen, indem sie das Interview ergänzen und den Protagonisten auf jedem Stuhl gezielt zu seinen Erfahrungen, Ängsten, Hoffnungen, Wünschen und Problemen befragen. Bei der Auswertung der Übung beschreiben die anderen Gruppenteilnehmer ebenfalls ihre Wahrnehmungen vom Protagonisten auf den beiden Stühlen, sodass eine Vielzahl von Rückmeldungen erfolgen kann. Die Übung entwickelt sich für den Protagonisten im Rahmen einer unterstützenden Gruppe sowohl reichhaltiger als auch kraftvoller in der Wirkung, als es in der Einzelsitzung möglich wäre. In der Moderation dieses Gruppengesprächs achtet der Therapeut jederzeit darauf, dass die Teilnehmer nicht einfach Ratschläge erteilen und die von ihnen präferierte Entscheidung vorwegnehmen, denn der Protagonist soll die Entscheidung ja selbst aus seinen Erlebnissen auf den beiden Stuhlpositionen heraus entwickeln. Wenn Ratschläge geäußert werden, kann der Therapeut korrigieren, indem er den Sprecher zu einer Ich-Botschaft auffordert und damit zur Übernahme der Verantwortung für seine Präferenz: Der Ratschlag verwandelt sich hier in eine ganz persönliche Rückmeldung durch
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den Gruppenteilnehmer und lässt dem Protagonisten angemessenen Raum für eigene Überlegungen.
Abwandlungen z
Abwandlung im formalen Ablauf
Es kann sinnvoll sein, den Klienten ein- oder zweimal hin- und herwechseln zu lassen, und zwar wenn er äußert, er habe wichtige Argumente auf dem anderen Stuhl vergessen, oder wenn deutlich wird, dass er noch einige Gefühle aus der vorherigen Position mit der aktuellen vermischt. Das Ziel der Übung muss grundsätzlich darin bestehen, die Trennung der inneren Zustände möglichst klar herauszuarbeiten und Vermischungen zu vermeiden. Wenn dies einen zusätzlichen Stuhlwechsel erforderlich macht, ist das akzeptabel. Das Problem bei jedem Positionswechsel ist jedoch die Intensität des emotionalen Erlebens – meistens kann man bei wichtigen Themen nicht einfach binnen Sekunden auf eine andere Erlebnisweise, auf eine ganz andere Gefühls- und Gedankenwelt umschalten, sodass häufige Positionswechsel letztlich das Ergebnis bezüglich des emotionalen Lernens und der vertieften Einsicht in die Thematik verwässern würden. Mehr als zwei bis drei Wechsel werden aus diesem Grund nicht empfohlen. Die speziellen Gefühle, die mit jeder einzelnen Position verknüpft sind und vielleicht erstmalig erlebt werden, brauchen Zeit. z
Inhaltliche Abwandlung
In der klinischen Arbeit kann auch die Ambivalenz in Bezug auf die Bewältigung einer psychischen Störung gut mit zwei Stühlen bearbeitet werden, denn hoch funktionalisierte Störungen wie Anorexie, Bulimie, Panikstörungen oder Zwangsstörungen können eine gewisse Attraktivität für die Betroffenen haben, obwohl sie auch viel Leiden erzeugen. Der Hauptunterschied in der Vorgehensweise zum normalen Ambivalenzkonflikt besteht darin, dass der Therapeut jetzt klar Partei ergreifen kann und die gesunde Seite aktiv unterstützen sollte, wenn dem Patienten nicht genügend Vorteile für diese Position einfallen. Es ist günstig, auf beiden Stühlen die Vor- und Nachteile genau zu erarbeiten, obwohl es dem Therapeuten punktuell Abstinenz abfordert, wenn die Patienten alle scheinbaren Vorteile ihrer
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Essstörung oder ihrer Zwangsrituale aufzählen. Da die Zielrichtung im Fall der Arbeit mit der psychischen Störung eindeutig in Richtung Gesundheit geht, sollte als Erstes der Krankheitsstuhl exploriert werden; es müssen auf jeden Fall die langfristigen Folgen für das Leben der Person eindeutig benannt werden, denn die kurzfristigen Vorteile des Verharrens in der psychischen Krankheit sind oft sehr einflussreich. Der Therapeut kann anschließend auf dem Gesundheitsstuhl assistieren, indem er dem Patienten oder der Patientin Facetten für die langfristigen positiven Konsequenzen eines gesunden Lebens anbietet: »Wäre es nicht eine Befreiung, beim Essen nicht mehr an jede Kalorie zu denken und wieder alle Nahrungsmittel zu genießen? Und der Figur nicht mehr einen solch immensen Stellenwert zuzumessen, sondern sich anzunehmen?« Aus diesem Beispiel ergibt sich, dass die Ambivalenzübung mit einer psychischen Störung nur dann sinnvoll ist, wenn der Leidensdruck hoch ist, wenn der Patient sich bereits teilweise von der Störung distanzieren konnte und wenn er bereits in der Lage ist, auch die negativen Aspekte der Krankheit vorbehaltlos zu benennen. Frau K., eine engagierte Psychologin in Ausbildung und alleinerziehende Mutter einer Tochter, fühlt sich ausgebrannt und überfordert. Sie überlegt deshalb, eine mehrwöchige Kur zu beantragen. Auf dem Kurstuhl erlebt sie die Möglichkeit, sich einmal einige Zeit nur um sich zu kümmern und Zeit zu haben, als extrem positiv und heilend. Die Frage zu den Nachteilen dieser Entscheidung bringt jedoch ein Dilemma zum Vorschein, das im Vorgespräch nicht ersichtlich war: Frau K. möchte weiterhin vom Vater der Tochter und anderen Personen in ihrem Umfeld als kompetent, belastbar und natürlich als gute Mutter gesehen werden. Die Entscheidung für eine Kur ohne die halbwüchsige Tochter könnte diese Fremdwahrnehmung gefährden: »Dann wäre ich schwach und egoistisch.« Aus diesen Überlegungen stammen die Zweifel an der Entscheidung, zur Kur zu gehen. Auf dem Zuhausestuhl wird nun versucht, dieser Fortführung des gegenwärtigen Zustands mit all seinen Belastungen auch etwas Positives abzugewinnen. Im Interview wird die Frage entwickelt, ob Frau K. auch im heimischen Umfeld ihre Selbst-
fürsorge intensivieren und sich mehr Freiräume schaffen kann. Dies erscheint jedoch eher als vage Möglichkeit, die nicht überzeugt. In der Nachbesprechung wird deutlich, dass das Grundthema dieser Ambivalenzsituation nicht auf der Sachebene zu finden ist – die Kur erscheint dem Beobachter definitiv als sinnvolle Entscheidung –, sondern auf dem geringen Selbstbewusstsein von Frau K. beruht, die Angst hat, ihren eigenen Weg zu gehen und dafür ggf. Kritik aus dem sozialen Umfeld in Kauf zu nehmen. Die Erfahrung auf den beiden Stühlen führte zur Formulierung von weiteren Gesprächsthemen hinsichtlich der Lebensregeln und der Konflikte von Autonomie und Anpassung bei Frau K.
4.2.3
Verstehen und vergeben: Die Zeitreise
Die Zeitreise ermöglicht es, sich selbst in Bezug auf ein Ereignis, eine Entscheidung oder einen Fehler aus der Vergangenheit besser zu verstehen und sich möglicherweise auch zu verzeihen. Die Zeitreise kann in drei verschiedenen Varianten stattfinden: 5 Variante 1: Der Klient hat keine objektive Schuld auf sich geladen, macht sich jedoch massive Vorwürfe wegen einer problematischen Situation aus der oft sehr fernen Vergangenheit. Es sind exzessive Schuldgefühle und verzerrte Kognitionen als Anzeichen mangelnder Verarbeitung erkennbar. Ziele der Intervention sind in diesem Fall, Verständnis und Verzeihung für das jüngere Ich sowie eine neue, faire und gerechte Beurteilung der damaligen Situation zu erreichen. 5 Variante 2: Der Klient hat objektive Schuld auf sich geladen (Straftat, Gewalt gegen andere, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch mit katastrophalen Folgen) und leidet weiterhin stark an diesem Ereignis. Ziele der Intervention sind hier, sich dieser Schuld zu stellen, sie besser zu verarbeiten und zu klären, was man aus den Ereignissen für das weitere Leben gelernt hat. Die Varianten 1 und 2 sind manchmal schwer zu trennen, wenn es sich nicht eindeutig um Straftaten handelt, da objektive
4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
Schuld im psychologischen Kontext kaum abschließend definierbar ist. Daher stellen die hier vorgeschlagenen Unterscheidungen (Varianten 1 und 2) nur Anhaltspunkte dar. 5 Variante 3: Der Klient berichtet von einer sehr positiven früheren Situation, in der sein Leben hinsichtlich des Therapiethemas sehr gut verlief, ganz im Gegensatz zu seiner jetzigen, problematischen Situation. Der Zeitreisestuhl erhält in dieser Variante eine günstige und motivierende Qualität, die für die Verbesserung der gegenwärtigen Situation genutzt werden soll. Die Intervention zielt demnach darauf ab, die Gründe für die negative Entwicklung zu formulieren und die Ressourcen der positiven früheren Situation für die heutige Konstellation zu adaptieren. Unter dem Abschnitt »Abwandlungen« wird die Durchführung dieser Variante kurz erläutert. Die ausführliche Beschreibung der therapeutischen Zeitreise in diesem Kapitel bezieht sich auf die erste Variante, die zur Verzeihung für das jüngere Ich führen soll, denn das ist bei Weitem die häufigste Problemstellung in der Psychotherapie. Die Notwendigkeit bei Variante 3, eine positive Ressource aus der Vergangenheit zu aktivieren und für die Gegenwart zu nutzen, ergibt sich z. B. auch in Coachingsequenzen, in denen es darum geht, dass die berufliche Zufriedenheit eines Klienten aus vielerlei Gründen mit den Jahren stark nachgelassen hat: Der Coach moderiert einen positiven Zeitreisestuhl und ermittelt gemeinsam mit dem Klienten die Ressourcen aus der Vergangenheit, um sie für die Gegenwart nutzbar zu machen.
Zielgruppe Aufgrund der therapeutischen Zielsetzung der Zeitreise, bei der eine problematische – seltener auch eine positive – vergangene Situation mit dem Ziel der Perspektivenerweiterung aufgesucht wird, können in dieser Übung sehr starke Gefühle ausgelöst werden. Entsprechend muss hier insbesondere bei Variante 1 stärker als bei der Ambivalenzübung auf die psychische Stabilität geachtet werden. Auch sind beim Klienten ein gewisser zeitlicher und damit entwicklungspsychologischer Abstand zum Zeitpunkt des Zeitreisestuhls und damit ein verän-
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derter Reifegrad notwendig, damit er wirklich eine neue Perspektive einnehmen kann. Es ist unwahrscheinlich, dass ein 25-jähriger Klient schon ausreichend inneren Abstand und einen großen Reifezuwachs hinsichtlich einer Situation gewinnen konnte, die er drei Jahre zuvor erlebt hat. In diesem Fall wäre die Zeitreise möglicherweise keine sehr gehaltvolle Übung, aber letztlich ist der Einsatz der Übung immer auch eine intuitive Entscheidung des Therapeuten. Wie lang dieser zeitliche Abstand zum Zeitreisestuhl objektiv sein sollte, kann nicht in Zahlen ausgedrückt werden, aber generell gilt: Wenn es sich thematisch bei einem Klienten anbietet, könnte man die Zeitreise ruhig ausprobieren, denn schlimmstenfalls kommt nicht viel dabei heraus, aber es ist auch nichts Schädliches oder Deprimierendes für den Klienten passiert. Vielleicht kann der Therapeut sogar diese Erfahrung sinnvoll nutzen und zu einer anderen Form der psychotherapeutischen Perspektivengestaltung umlenken: »Ich sehe, dass sich die damalige und die heutige Bewertung der Situation nicht sehr unterscheiden, dass Sie sich also heute immer noch stark für das verurteilen, was Sie damals entscheiden mussten. Gab es denn damals oder gibt es vielleicht in Ihrem heutigen Umfeld eine andere Person, die Sie nicht so harsch beurteilen würde? Wer ist das? Was würde diese Person denn jetzt zu Ihrem jüngeren Ich sagen?« Dies ist eine typische Gesprächstechnik für die kognitive Umstrukturierung im Rahmen der kognitiven Therapie (vgl. Beck, 1999).
Therapeutische Zielsetzung Die Zeitreise ermöglicht es, sich selbst in Bezug auf ein Ereignis, eine Entscheidung oder einen Fehler aus der Vergangenheit besser zu verstehen und sich möglicherweise auch zu verzeihen. In der Psychotherapie werden meistens im Sinne von Variante 1 Situationen bearbeitet, bei denen keine objektive Schuld vorliegt. Therapeutisches Ziel ist daher die Beendigung der psychischen Belastung durch das frühere Ereignis, z. B. bei exzessiven Schuldvorwürfen an sich selbst, und damit die ressourcenbetonte Integration des Ereignisses in den Erfahrungsschatz der Person, vielleicht mit der Formulierung von Einsichten wie: »Ich habe daraus etwas Wichtiges gelernt«, »Diese Erfahrung hat mich als
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Persönlichkeit stark geprägt«. Der Zeitreise liegen also bei Variante 1 negativ verzerrte Kognitionen der Selbstbewertung zugrunde, welche in realistische und vielleicht sogar hilfreiche Bewertungen umgewandelt werden sollen. Manche Menschen beurteilen sich im Nachhinein deshalb unangemessen hart, weil sie Standards von Reife und Einsicht der späteren Lebensjahre verwenden und übersehen, in welcher speziellen Lage und in welchem entwicklungspsychologischen Stadium ihre problematische Entscheidung oder Handlung zustande kam. Diese Tatsache des entwicklungspsychologischen Differenzials stellt immer wieder eine wichtige Grundlage für die therapeutische Intervention bei der Zeitreise dar. Bei dieser Intervention ruft der Klient in Variante 1 auf dem ersten Stuhl die emotionale und kognitive Realität seines früheren Ichs in einer problematischen Situation auf, sodass Verstehen, Verzeihen und eine ausgewogene Selbstbeurteilung möglich werden. Allgemein formuliert könnte das etwa so klingen: »Ich finde zwar nicht in Ordnung, wie ich damals gehandelt habe, aber ich verstehe jetzt, warum ich das so tun musste und damals, im deutlich jüngeren Alter, keine andere Möglichkeit für mich gesehen habe; deshalb kann ich mir jetzt doch verzeihen.« Der Klient erlernt Nachsicht mit sich selbst, wobei dieser Prozess allerdings nicht einfach mit dem Gutheißen einer problematischen Tat gleichzusetzen ist: Diese Unterscheidung sollte im Therapiegespräch betont werden. Trotzdem kann es auf emotionaler Ebene eine Erlösung aus oft jahrelanger Selbstzermürbung geben. In einer optionalen abschließenden Sequenz kann die Übung zur Fürsorge für das jüngere Ich führen, wie im Fallbeispiel demonstriert. Verständnisvolle Worte der heutigen Person für das jüngere Ich, ggf. auch ein klärender Brief, stellen heilende Erfahrungen am Ende der Zeitreise dar. Diese Form der Beendigung der Intervention passt jedoch nicht immer, zumal die Zeitreise oft gar nicht in die Jugendjahre (unter 20 Jahre) zurückführt. Wenn nicht von Anfang an ein zweiter Übungsstuhl aufgestellt wurde, kann dieser nach der ersten Sequenz noch ergänzt werden, oder man verwendet den regulären Klientenstuhl. Im selteneren Fall der objektiven Schuld (Variante 2) – der Therapieklient berichtet vielleicht
von Gewaltexzessen gegen Familienmitglieder, der Coachingklient von gezielten Mobbinghandlungen gegen Kollegen oder finanziellen Manipulationen am Arbeitsplatz – ist die Zielsetzung möglicherweise auch zunächst eine Erklärung des eigenen Verhaltens durch Beleuchtung der besonderen damaligen Umstände, aber ein einfaches Verzeihen kann nicht Endpunkt der Übung sein. Vielmehr sollte sich der Klient seinen früheren Motivationen und Handlungen sowie letztlich seiner Schuld schonungslos stellen. Nur dann kann er die Lektion der problematischen Tat für sein Leben erkennen oder diese vertiefen; nur so kann er günstige Schlussfolgerungen ziehen wie: »Das wird mir nie mehr passieren«, »Ich habe meine Schwächen besser kennengelernt«, »Ich habe eine Form der Wiedergutmachung gefunden« und letztlich die Basis dafür schaffen, dieses Kapitel seines Lebens abzuschließen. Auch in diesem Fall liegt das therapeutische Ziel in einem günstigeren psychischen Gleichgewicht, sodass keine unnötige negative Energie mehr auf das vergangene Ereignis verwendet wird. Für die weitere Beschreibung der Zeitreise wird in diesem Abschnitt von Variante 1 (ohne objektive Schuld) ausgegangen. Typische Situationen dieser Art beinhalten den vorzeitigen Abbruch von Schulausbildung, Berufsausbildung oder Studium; ungünstige Entscheidungen bezüglich des Arbeitsplatzes; massive Auseinandersetzungen innerhalb der Familie mit Kontaktabbrüchen; Trennungen oder Scheidungen sowie Vernachlässigung eines Partners, eines sterbenden Menschen oder eines Kindes; exzessiven Substanzgenuss und die Folgen; Abtreibungen etc. Frau D. ist 42 Jahre alt, verheiratet und hat eine 14-jährige Tochter. Sie kommt mit einer bereits länger andauernden depressiven Symptomatik zur Therapie. Die Klientin befindet sich in einer eher ruhigen Lebensphase, in der sie Zeit zur Reflexion gefunden hat, und sich eingestehen muss, dass ein früheres Ereignis, über das sie lange nicht mehr nachgedacht und sie dennoch immer unterschwellig belastet hatte. Eine Abtreibung im Alter von 17 Jahren wird nun zum Anlass für massive Selbstvorwürfe und Schuldgefühle, zumal die Patientin ihre Tochter sehr liebt und sich ausmalt, wie ihr erstes Kind hätte sein können.
4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
Auf dem Zeitreisestuhl kann sich Frau D. gut in die junge Frau, die sie einmal war, hineinversetzen. Die Klientin wird mit »Sie« und ihrem Mädchennamen angesprochen; sie schildert zunächst die Umstände, die zum Abbruch der Schwangerschaft führten, und kommt emotional sichtlich unter Druck: Sie war damals in der Ausbildung, der Vater des Kindes hatte sich bald von ihr verabschiedet, weil er dem Druck der ungeplanten Vaterschaft nicht gewachsen war, und – der schmerzlichste und ausschlaggebende Punkt – die Mutter der Klientin reagierte sehr ablehnend auf die Schwangerschaft. Sie übte starken Druck in Richtung Abtreibung aus. Es war der Klientin jetzt möglich, diese belastende Situation in allen Facetten nochmals zu erleben: die Verzweiflung, die Unsicherheiten, die finanzielle und emotionale Abhängigkeit vom Elternhaus bei gleichzeitigen Gefühlen von Abgelehntwerden und emotionaler Kälte seitens der Mutter. Frau D. erlebte auf dem Zeitreisestuhl selbst, wie verengt die Perspektive des jüngeren Ichs war. Ihre abschließende Wahrnehmung auf dem Zeitreisestuhl: »Ich fühle mich jetzt alleingelassen von Partner und Eltern, als Mensch und vor allem als werdende Mutter abgelehnt und insgesamt völlig überfordert.« Frau D. benötigt eine Pause und setzt sich kurz auf ihren Therapiestuhl, um sich von diesen intensiven Emotionen zu erholen. Dann wechselt sie auf den heutigen Stuhl, der noch schnell zusätzlich aufgestellt wurde, und tritt in den Dialog mit ihrem jüngeren Ich ein: Sie spricht die junge Frau direkt und im Präsens an, als säße sie tatsächlich da, kurz nach dem Schwangerschaftsabbruch, in all ihrer Trauer und Verzweiflung. Sie findet Worte von Verständnis und Verzeihen, denn sie kann jetzt sowohl die entwicklungspsychologische als auch die soziale und finanzielle Situation der jungen Frau in Betracht ziehen und die Entscheidung von diesem Kontext aus beleuchten. Die Therapeutin merkt an, dass auch die historische Dimension eine wichtige Rolle spielt: Vor 25 Jahren hatten Frauen in dieser Situation wesentlich weniger Spielraum als heute, eine sozialpolitische Tatsache, die die Klientin bei ihrer Selbstbeurteilung noch gar nicht bedacht hatte. Diese Zeitreise bedeutet nicht, dass Frau D. heute plötzlich einen Schwangerschaftsabbruch gutheißen könnte. Die Intervention zielt lediglich
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auf die subjektive Ebene der psychologischen Entlastung ab, nicht jedoch auf die grundsätzliche Veränderung von Wertvorstellungen. Obwohl das jüngere Ich mit 17 Jahren kein Kind mehr ist, erscheint es sinnvoll, die Selbstakzeptanz noch durch eine gezielte Anleitung zur Selbstfürsorge zu verstärken. Therapeut: »Hier sitzt die junge Frau mit 17 Jahren, die gerade Schlimmes erlebt hat und total fertig ist. Was möchten Sie denn jetzt für sie tun?« Diese Frage führt dazu, dass die Klientin sich der jungen Frau auf dem leeren Stuhl verstärkt gefühlsmäßig zuwendet. Die Klientin tritt in einen emotional fürsorglichen Dialog mit ihrem jüngeren Ich ein, möchte die junge Frau umarmen und für sie da sein, ihre Tränen trocknen und ihr Selbstwertgefühl stärken. Eine imaginative Kontaktaufnahme in dieser Form – »Stellen Sie sich vor, dass Sie die junge Frau in den Arm nehmen können« – beendet die Stuhlübung. Als eigenständige Aufarbeitung der Problematik stimmt Frau D. in der Nachbereitung gerne dem Vorschlag zu, einen Brief an das jüngere Ich zu schreiben, den sie in der nächsten Einzelsitzung vorliest. Es handelt sich um eine gefühlvolle und ausgewogene Bewertung der Situation, die mit Verständnis und Wertschätzung für das frühere Ich verbunden ist. Das Ziel der Zeitreise, eine deutliche emotionale Entlastung und die Integration der problematischen Ereignisse zu bewirken, wurde erreicht.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Man könnte befürchten, dass sich die gegenwärtige, übermäßig harsche Selbstbeurteilung des Klienten möglicherweise in der Übung noch verstärken könnte, statt sich in einem verständnisvollen Selbstumgang aufzulösen, aber dies ist erfahrungsgemäß nicht der Fall, solange es gelingt, die Emotionen aus der vergangenen Situation aufzurufen und gleichzeitig die Unausweichlichkeit der damaligen Entscheidungen und Handlungen aufzuzeigen. Wenn der Übergang zum Verständnis für das frühere Ich trotzdem nicht gelingen mag, kann der Therapeut in der Imagination eine andere, dem Klienten liebevoll zugetane Person aufrufen und fragen, wie denn diese Person das jüngere Ich beurteilen würde, unter Berücksichtigung entwick-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.3 Zeitreise. a Die Zeitreise mit einem Übungsstuhl; der Therapeut fördert das Erleben der vergangenen Situation. b Zwei Übungsstühle, der Klient erkundet mithilfe der therapeutischen Fragen die vergangene Situation. c Der Klient nimmt seine heutige Rolle ein und setzt sich in fürsorglicher Form mit seinem früheren Ich auseinander. Der Therapeut passt seine Position an, um den Klienten von vorne zu sehen
lungspsychologischer Gesichtspunkte und äußerer Umstände. Als andere Möglichkeit kann die nicht an eine reale Person gebundene Vorstellung eines liebevollen Begleiters oder einer liebevollen Begleiterin eingeführt werden: »Wie würde denn Ihr liebevoller Begleiter diese Situation des früheren Ich beurteilen?«
Dauer der Übung Diese Übung sollte unbedingt im Rahmen einer einzigen Psychotherapiestunde durchgeführt werden, sonst gelingt sie wahrscheinlich nicht. Falls es aussichtsreich ist, die Erlebnisse auf dem Zeitreisestuhl später noch zu vertiefen und damit die Einstellungsänderung beim Klienten noch zu vervollständigen, kann die gesamte Übung zu einem späteren Zeitpunkt nochmals durchgeführt werden.
Stuhlpositionen Für die Zeitreise (. Abb. 4.3) kann man mit nur einem Übungsstuhl arbeiten (. Abb. 4.3a), aber zwei gegenüberstehende Stühle für die heutige Person und für das jüngere Ich könnten ebenfalls verwendet werden (. Abb. 4.3b, c), insbesondere dann, wenn eine Sequenz zur Fürsorge durch die heutige Person für das jüngere Ich antizipiert wird. Bei Bedarf kann auch der zweite Stuhl für die heutige Person noch ergänzt werden (s. Fallbeispiel oben unter »Therapeutische Zielsetzung«), oder man verwen-
det für die Interaktion mit dem jüngeren Ich den regulären Klientenstuhl. Der Therapeut setzt sich so, dass er dem Klienten immer ins Gesicht blicken kann (. Abb. 4.3c, Positionswechsel Therapeut).
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
Die Zeitreise bei psychologischer Schuld eignet sich, wenn der Klient im Gespräch eine starke psychische Belastung durch eine eigene Entscheidung bzw. Handlung in der Vergangenheit äußert und wenn der Therapeut gleichzeitig vermutet, dass es sich bei dieser Selbstbeurteilung um eine zu negative, zu selbstabwertende und daher der Situation nicht angemessene Beurteilung handelt. Der Therapeut führt die Übung ein, indem er den Zeitreisestuhl erklärt, solange der Klient noch auf seinem regulären Stuhl sitzt: »Ich würde gerne zu diesem Thema eine Übung mit Ihnen machen und stelle zunächst einmal einen Übungsstuhl auf. Dies ist Ihr Zeitreisestuhl – sobald Sie sich gleich darauf setzen, möchte ich, dass Sie sich in die damalige Zeit versetzen. Ich werde Ihnen helfen, indem ich Sie zu einigen Aspekten dieser Zeit genau befrage. Bitte sprechen Sie dann ausschließlich aus der Sicht dieses jüngeren Ichs und verwenden Sie das Präsens. Es ist sehr wichtig, dass Sie sich erlauben, die damaligen Gefühle und Gedanken wieder zu
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4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
(Therapeut, Klient sprechen dann über das Ereignis rückblickend im Perfekt).
erleben und sich auch Ihre Lebensumstände zu vergegenwärtigen.« z
Erste Therapiesequenz
Der Therapeut muss dem Klienten gegenübersitzen, um ihm gezielt zu helfen, diese künstliche Realität des Zeitreisestuhls mit Leben zu füllen (. Abb. 4.3a). Hierzu eignen sich kontextbezogene Fragen, die möglichst im Präsens formuliert werden sollten. Der Klient kann für diese Intervention die Augen offen halten oder sie schließen, um sich besser zu konzentrieren: 5 »Wie ist Ihr Name?« Frauen haben in der Jugend oft andere Nachnamen, sodass die Verwendung dieses Namens durch den Therapeuten die Reise in die Vergangenheit unterstützt. Wenn das jüngere Ich unter 16 Jahre alt ist, kann es geduzt werden: »Ich werde Sie jetzt mit ‚Du‘ anreden. Hast du einen Kurz- oder Spitznamen, oder wirst du immer Elisabeth gerufen?« 5 Weitere Fragen beziehen sich auf die visuelle Sinnesmodalität: »Wie sind Ihre Haare? Tragen Sie eine Brille? Welche Kleidung tragen Sie gerne und welche Farben? Welche Musik hören Sie gerne? Haben Sie Hobbys?« 5 Sobald der Eindruck entsteht, dass der Klient sich gut in sein früheres Ich hineinversetzen kann, folgt die Exploration der Umstände: »Wie leben Sie? Wer ist wichtig in Ihrem Umfeld? Familie, Freunde, Partner? Wie finanzieren Sie sich? Welche Ausbildung durchlaufen Sie/welche Arbeit verrichten Sie? Wie ist das alles für Sie, wie fühlt sich das Leben gerade an?« 5 Nach dieser Exploration der allgemeinen Gefühlsqualität dieser Lebensphase wird das problematische Ereignis detailliert geschildert: »Erzählen Sie doch mal, wie es jetzt gerade zu dieser Entscheidung/zu diesen Ereignissen kommt. Wer ist beteiligt? Wer übt Druck auf Sie aus? Welche Überlegungen gehen Ihnen durch den Kopf? Warum? Wie verläuft nun diese Lebensphase für Sie?«. Man kann sich vorstellen, dass das problematische Ereignis noch in der Zukunft passieren wird, wie hier angedeutet (Therapeut, Klient sprechen dann im Präsens) oder dass es gerade passiert ist
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Der Therapeut unterstützt also den Klienten darin, die subjektiven Belastungsfaktoren der damaligen Zeit und die psychologische Realität des jüngeren Ichs lebendig werden zu lassen. Bei eher objektiven Fehlern, z. B. Medikamentenmissbrauch eines Krankenpflegers mit problematischen Folgen für die Pflegequalität, sollte der Therapeut dies natürlich nicht schönreden, aber die Erfahrung der inneren und äußeren Umstände des Ereignisses sollten trotzdem eine bessere psychische Bewältigung in der Gegenwart ermöglichen. z
Option: Ende der Übung hier
Wenn nur ein Stuhl verwendet wurde und wenn für dieses Ereignis ein direkter Dialog aus der Perspektive der heutigen Person mit dem früheren Ich nicht geeignet ist, kann die Übung hier beendet werden, denn die Zeitreiseerfahrung ist in sich intensiv und bewirkt meistens bereits eine Veränderung der negativen Selbstbewertungen. Therapeutische Hilfestellungen für die Nachbesprechung und Integration der Übung werden weiter unten geschildert. z
Zweite Therapiesequenz
In dieser Sequenz wird ein Dialog mit dem früheren Ich geführt und möglicherweise auch eine Sequenz zur emotionalen Fürsorge für die Person der Vergangenheit angeleitet. Wenn man nicht bereits zwei Übungsstühle aufgestellt hatte (. Abb. 4.3b, c), kann der zweite Stuhl noch schnell ergänzt werden (vgl. Fallbeispiel oben unter »Therapeutische Zielsetzung«), oder der Klient dreht seinen Klientenstuhl seitlich zum Stuhl des früheren Ichs. Da die heutige, fürsorgliche Rolle erwünscht und positiv ist, kann der Klientenstuhl durchaus verwendet werden. Der Therapeut wechselt ggf. seine Position, um den Klienten anzuschauen (. Abb. 4.3c). Der Klient nimmt nun aus der Gegenwartsperspektive Kontakt mit seinem früheren Ich auf. Dieser Therapieschritt ist natürlich nur sinnvoll, wenn der Klient die echte Einsicht gewonnen hat, dass seine harsche Verurteilung des früheren Ichs übertrieben war. Der Therapeut fördert in dieser Sequenz einen verständnisvollen Dialog, der die
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
damaligen Umstände in adäquater Weise berücksichtigt: »Denken Sie daran, das jüngere Ich ist erst 16«, oder: »Diese junge Frau hatte gar keine Möglichkeit, die Sache so zu sehen wie Sie heute, da sie sich noch gar nicht von den Meinungen und Beeinflussungen der Eltern gelöst hatte«, oder: »Beachten Sie bitte, dass es im Jahr 1971 gesellschaftlich und kulturell noch wesentlich problematischer war, ganz offen mit dem Thema Abtreibung/Homosexualität/Suizid umzugehen.« Auch in dieser Position fließen manchmal Tränen. Nachdem Verständnis und Mitgefühl mit dem jüngeren Ich ausgedrückt werden konnten, kehrt der Klient auf seinen Klientenstuhl zurück, und alle Übungsstühle werden als Symbol der offiziellen Beendigung dieser Intervention wieder auf ihren Stapel gesetzt. z
Nachbesprechung für die Übungsvarianten 1 und 2
Für die Nachbesprechung gibt es zwei grundlegende Überlegungen. Wenn es bei der Übung beispielsweise um die falsche Partner- oder Berufswahl geht, liegt ein rein psychologischer Fehler, eine frühere psychologische Fehleinschätzung vor (Variante 1 der Zeitreise). Für diesen Fall ist es hilfreich, dem Klienten einen entlastenden Satz wie: »Sie haben damals Ihr Bestes getan, unter den damaligen Umständen und im Alter von nur 20 Jahren« zu vermitteln. Dieser Satz würde auch passen, wenn der Klient als älterer Mann heute seinen früheren Erziehungsstil für seine Kinder allzu kritisch betrachtet und sich mit der Zeitreise die damaligen Umstände ins Gedächtnis ruft, solange keine objektiv zu verurteilenden Verhaltensweisen wie Gewalt oder Vernachlässigung gegenüber den Kindern aufgetreten sind. Wenn der Therapeut andererseits mit objektiv problematischen Handlungen und Entscheidungen arbeitet (am ehesten in Variante 2 der Zeitreise, Abgrenzung zu Variante 1 jedoch schwierig), erfolgt die Aufarbeitung in anderer Weise. Es passt hier nicht, dem Klienten zu suggerieren, er habe unter den damaligen Umständen »sein Bestes« getan, denn der Klient beging ja einen eindeutigen Fehler, z. B. exzessiven Substanzgebrauch am Arbeitsplatz mit problematischen Folgen. Klienten erleben jahrelange quälende Schuldgefühle aufgrund verschiedener Entscheidungen und Handlungen: Gewalt gegen
die eigenen Kinder, betrunkene Verkehrsteilnahme mit Unfallfolge, folgenschwere selbst verschuldete Fehler im Arbeitsleben, finanzieller Betrug etc. Die legalen Implikationen der Besprechung von Straftaten innerhalb der Psychotherapiesitzungen sollten natürlich auch beachtet werden, können in diesem Rahmen aber nicht diskutiert werden. In solchen Fällen mit objektiver Schuld ist es wichtig, die genaue Unterscheidung zwischen den damaligen Umständen und der relativen Unreife des früheren Ichs einerseits und der objektiven Bewertung der Handlungen andererseits zu treffen. In diesen Therapiegesprächen kann es keine vollständig wertfreie Haltung für den Therapeuten geben, aber er wird sich um Ausgewogenheit der Beurteilung und zum Teil um Verständnis für die Handlungen des Klienten oder der Klientin bemühen, z. B. beim Thema des exzessiven Substanzgenusses mit problematischen Folgen. Ob der Therapeut explizit wertende Aussagen machen möchte oder nicht, hängt sehr vom Inhalt der Sitzungen ab. Natürlich kann man als Therapeut nie Verständnis aufbringen für Straftaten, die das Wohl eines anderen Menschen massiv schädigten wie Kindesmissbrauch und andere Gewalttaten. Trotzdem kann die Intervention der Zeitreise bei solch objektiv problematischen Ereignissen versuchen, die exzessive Selbstzerfleischung beim Klienten zu beenden und das Ereignis in psychischer Hinsicht sinnvoll zu integrieren. Ziel könnte sein, dass der Klient die Ereignisse für eine konstruktive Lernerfahrung in Bezug auf sein eigenes Verhalten nutzt, falls dies noch nicht (ausreichend) geschehen ist. Nicht zuletzt kann eine symbolische oder reale Form der Wiedergutmachung vereinbart werden, wenn dies passend erscheint: Ein Klient, der in der Psychotherapie zugegeben hatte, seine jugendliche Tochter etwa 17 Jahre zuvor sexuell missbraucht zu haben, verfasste einen Brief an diese Tochter, der in angemessen schuldbewusstem Ton um Verzeihung und Wiederaufnahme des Kontakts bat. In Zeitreisen mit psychologischer Schuld, Variante 1, ist oft das entwicklungspsychologische Moment wesentlich. Wenn das frühere Ich jünger als etwa 25 Jahre ist und der Klient diesen jungen Mann oder den Jungen, der er einmal war, mit den Standards des reiferen Mannes in mittleren Jahren beurteilt, dann kann der Therapeut in der Nach-
4.2 • Stuhlübungen auf Ebene 1 – einfache Übungen
besprechung oder eventuell schon während der zweiten Therapiesequenz auf entwicklungspsychologische Gesichtspunkte hinweisen. Er verdeutlicht den Reifeunterschied zum heutigen Ich und fördert so die faire Selbstbewertung: »Bitte denken Sie doch daran, wie jung Sie waren und wie anders man denkt und fühlt in diesem Alter.« Diese Hinweise auf entwicklungspsychologisch bedingte Grenzen von Reife und Handlungsmöglichkeiten beim jüngeren Ich sind erfahrungsgemäß häufig notwendig. Um diese Perspektive in der Erfahrung des Klienten zu entwickeln, kann der Therapeut den Klienten nach seiner Wahrnehmung von jungen Leuten in diesem speziellen Alter in seinem Umfeld fragen und erkunden, wie erwachsen diese Menschen denn schon sind und ob man sie an den Maßstäben eines 20 oder 30 Jahre älteren Menschen messen sollte.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Manchmal ist es bei Variante 1 (psychologische Schuld), sinnvoll, dass der Klient einen Brief an sein jüngeres Ich schreibt und dort seine Erfahrung aus der Übung zusammenfassend in einem Selbstdialog mitteilt. Der Brief muss auf jeden Fall in der Einzeltherapie, ggf. auch in der Psychotherapiegruppe, in der die Übung stattfand, vorgelesen werden – die Präsenz von Zeugen und das Ritual des Vorlesens beenden dann diesen Therapieprozess. Wenn die Verarbeitung der problematischen Ereignisse für den Klienten wirklich beendet ist, kann er den Brief vernichten. Für den Fall einer Abtreibung , der nicht ganz selten auftritt, kann eine besondere Aufarbeitung gewählt werden, wenn die Klientin sich intensiv mit dem ungeborenen Kind beschäftigt und ihm ein Gesicht und einen Namen verliehen hatte. In der Sitzung nach der Zeitreise wird ein Gespräch der Klientin mit dem ungeborenen Kind auf dem leeren Stuhl angebahnt. Das Kind wird in solchen Fällen als 3- oder 4-Jähriges auf dem leeren Stuhl imaginiert, es erhält einen Namen, und die Klientin kann sich direkt in den Dialog begeben. Sie kann jetzt unerfüllte Hoffnungen und Bedürfnisse äußern, sie kann ihre Trauer über den Verlust ausdrücken und letztlich die Entscheidung, nun in positiver Form und ohne Schuldgefühle weiterzu-
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leben, ausformulieren. Die Struktur dieser Übung verläuft teilweise analog zum Abschied von einem geliebten Menschen (7 Kap. 4.4.3). Ziel ist jedoch nicht die gesunde Pflege der Beziehung zu diesem imaginierten Kind, sondern der endgültige Abschied, ein vollständiges Loslassen. Eine andere kognitive Form der Aufarbeitung einer Abtreibung in der Jugend (s. Fallbeispiel oben unter »Therapeutische Zielsetzung«) könnte beinhalten, dass in den Folgesitzungen die exzessive Anpassung an die Forderungen des sozialen Umfelds und die Unterdrückung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse thematisiert werden. Dies ist sinnvoll, wenn die unsicheren Verhaltensmuster selbst in aktuellen Beziehungen noch fortbestehen. Auch bei anderen Themen exemplifizieren viele Zeitreisen die verschiedensten problematischen Verhaltensmuster, die im Leben des Klienten immer wieder schwierige Situationen erzeugt haben und zu wichtigen Therapiethemen werden können, insbesondere bei einem negativ akzentuierten Persönlichkeitsstil.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext Klienten trauen sich selten, Themen der Variante 2 in eine Gruppentherapie einzubringen, aber wenn es passiert, ist erfahrungsgemäß die Gruppenatmosphäre respektvoll und unterstützend. Themen der Variante 1 werden in Gruppen immer wieder angesprochen. Bei einer solchen Zeitreise im Rahmen einer Psychotherapiegruppe gibt es verschiedene Punkte, an denen die Gruppenmitglieder einbezogen werden können: 5 Auf dem Zeitreisestuhl beginnt der Therapeut das Interview mit dem jüngeren Ich des Klienten, überlässt aber die meisten Fragen bei der Exploration der vergangenen Situation den Gruppenmitgliedern. Dabei greift der Therapeut nur moderierend ein, wenn dies nötig erscheint, z. B. wenn eine Suggestivfrage geäußert oder ein Ratschlag erteilt wird: »Denkst du nicht auch, dass du diese Situation gar nicht länger aushalten kannst?« Hier erinnert der Therapeut die Gruppenteilnehmer daran, keine Ratschläge zu erteilen und dem Protagonisten nichts zu unterstellen, sondern offene Fragen zu stellen.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
5 Wenn der Protagonist auf dem heutigen Stuhl noch Schwierigkeiten hat, seinem jüngeren Ich mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen, dann wird er zur Seite auf einen Beobachterstuhl gebeten, und der Therapeut fordert die Gruppe auf: »Wir brauchen jetzt Ihre Hilfe. Ich wäre dankbar, wenn drei oder vier Personen diesen heutigen Stuhl einnehmen könnten und aus der Perspektive Ihres Mitpatienten ein Gespräch mit seinem jüngeren Ich führen würden. Es ist sehr hilfreich für Ihren Mitpatienten, wenn er sehen kann, wie Sie über diese schwierige Angelegenheit denken und sie bewerten.« Es ist für andere Personen deutlich einfacher, dieses Mitgefühl zu zeigen, und für den Protagonisten sehr günstig, diese Fremdperspektive zu erleben. Als Letztes sollte dann der Protagonist selbst nochmals auf dem heutigen Stuhl das frühere Ich in verständnisvoller Weise ansprechen. 5 Auch die Nachbesprechung in der Gruppe, bei der sich möglichst alle Anwesenden – vielleicht in Form eines Blitzlichts (kurzer, zusammenfassender, subjektiver Beitrag jedes Gruppenteilnehmers) – zumindest kurz äußern sollten, vertieft beim Protagonisten die neuen, ausgewogenen Denkweisen.
mus oder Familienübertragungen auf die Arbeitskollegen und Vorgesetzten heraushören und gezielt bearbeiten. Diese Abwandlung der Zeitreise kann z. B. in der Arbeit mit Lehrern überaus hilfreich sein, die oft von den Problemen der heutigen Schülerschaft überfordert sind, ihre Berufstätigkeit jedoch Jahre zuvor voller Elan begonnen hatten. Eine über 50-jährige Lehrerin unternahm eine Zeitreise in die Jahre nach dem Referendariat, in denen sie voller Begeisterung und Idealismus ihren Schuldienst versehen hatte. Die inneren und äußeren Faktoren, aus denen sich ihre Motivation und Begeisterung damals speisten, wurden herausgearbeitet. Im zweiten Schritt wurde auf dem regulären Therapiestuhl der Klientin (Klientenstuhl) erörtert, ob sie für sich heute die Möglichkeit sähe, einzelne Aspekte der guten Jahre in ihrer heutigen Tätigkeit wiederzubeleben, obwohl die Bedingungen sich natürlich sehr verändert hatten. Die Klientin empfand die Intervention als aufschlussreich und thematisierte den Import ihrer Ressourcen aus der Vergangenheit in weiteren Therapiegesprächen.
4.3
Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
Abwandlungen In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, eine positive Zeitreise zu unternehmen, also Variante 3 durchzuführen. Wenn z. B. der berufliche Kontext für einen Klienten mit den Jahren immer negativer geworden ist und letztlich die Freude am Beruf und die Motivation verloren gegangen sind, kann es sehr aufschlussreich sein, wenn der Klient sich auf dem Zeitreisestuhl an die Begeisterung der ersten Jahre im Beruf erinnert. Bei günstigem Verlauf können die Ressourcen aus der Vergangenheit in die Gegenwart überführt werden. So verringern sich Gefühle von Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit beim Klienten durch die Erfahrung, dass er wider Erwarten doch aktiv einige Dinge für seine eigene Zufriedenheit im Arbeitsleben tun kann, selbst wenn das Arbeitsumfeld sich mit den Jahren stark verändert hat. Zusätzlich lernt der Berater den Klienten genauer kennen und kann vor allem unrealistische Erwartungen, übermäßigen Idealis-
Ebene 2 wird als Stufe der mittleren Komplexität angesehen, insbesondere in Bezug auf die therapeutische Durchführung der Übungen. Da es bei den Klientinnen und Klienten oft zu intensiven emotionalen Reaktionen kommt, enthalten die Beschreibungen zum Teil Vorschläge für Abwandlungen, um zumindest einige mögliche Reaktionen bei den Klienten abzudecken und den Leser auf ein gewisses Maß an Flexibilität bei der Übungsgestaltung einzustimmen.
4.3.1
Selbstumgang verbessern: Gespräch mit dem inneren Kritiker, Saboteur oder Antreiber
Zielgruppe Diese Stuhlübung ist im klinischen Bereich breit und störungsübergreifend anwendbar, kann aber
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4.3 • Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
auch im Coaching, z. B. im Rahmen einer Stressanalyse, einen wichtigen Platz einnehmen. Während dieser Übung kann der Therapeut durch seine Rollenübernahme auf dem Stuhl des inneren Kritikers ein freundlich-ironisches Element in den Dialog einführen. Dies bringt Humor und eine gewisse Leichtigkeit in die Übung, was wiederum dem Klienten die innere Distanzierung von den Inhalten erleichtert. Diese leicht ironische, humorvolle Gestaltung des Dialogs (Kritiker: »Wie – ich soll dich jetzt gar nicht mehr fertigmachen? Auch nicht vielleicht so ein bisschen, so ab und zu nur?«) stellt eine Besonderheit beim Gespräch mit dem inneren Kritiker dar, die sich bei anderen Stuhlübungen kaum anbietet, höchstens gelegentlich beim Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten (7 Kap. 4.3.2). Es obliegt dem Therapeuten, der in der zweiten Sequenz meistens selbst den Kritiker spielt und somit in ein echtes Rollenspiel einsteigt, hier den richtigen Ton zu treffen.
Therapeutische Zielsetzung Diese Intervention hat gleichermaßen diagnostischen und prozessorientierten Wert. Der Therapeut lernt seinen Klienten im Hinblick auf inneren Dialog und Selbstkritik sehr gut kennen, sobald er den inneren Kritiker direkt befragen kann. Die Klienten können sich meist gut in diese Rolle hineinversetzen und formulieren auf dem Stuhl des Kritikers mehr Facetten ihrer Selbstwertproblematik, als man bis dahin im Therapiegespräch erfragen konnte. Der prozessorientierte und therapeutisch wirksame Aspekt der Übung besteht im Dialog mit dem Kritiker, meistens gespielt vom Therapeuten, von dem sich der Klient dezidiert abgrenzen muss. Ziel ist also, den Klienten in seine Ressourcen zu führen, indem die Selbstsabotage zunächst konkret geäußert und dann auf dem anderen Stuhl argumentativ gezielt abgebaut wird. Der innere Kritiker, Saboteur oder Antreiber sorgt für viel therapeutisch relevantes Material, das nicht selten zu anderen Stuhlübungen führt, z. B. zur Abgrenzung von den exzessiv fordernden Eltern der Jugendjahre. > Der innere Anteil eines Klienten, selbst wenn er negativ empfunden wird wie der innere Kritiker, wird niemals abgelehnt
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und beschimpft, sondern immer umgestimmt und mit konstruktiven neuen Aufgaben für den Klienten versehen.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Bei psychisch sehr kranken Menschen wird der Wechsel von der übermäßig kritischen Position zur Ressourcenarbeit bei dieser Übung oft nicht gelingen. Dies ist zu befürchten bei Personen mit sehr schweren Depressionen, bei stark untergewichtigen Anorexiepatientinnen oder auch bei Borderlinepatienten und beim Vorliegen anderer, schwer ausgeprägter Persönlichkeitsstörungen. Hier besteht also die Gefahr, dass der Patient den kritischen Anteil mit viel Energie und wortreich darstellen kann, nur um dann auf dem Ressourcenstuhl zu verstummen. Zwar hat auch diese Situation diagnostischen Wert, aber sie sollte dem Patienten trotzdem möglichst erspart werden, denn er wird seine fehlenden Argumente auf dem gesunden Stuhl nur als persönliches Scheitern verarbeiten. Eine zusätzliche Gefahr besteht in der Wahl des falschen Tons, wenn der Therapeut den inneren Kritiker spielt: Ein zynischer, herablassender Ton wäre ebenso wenig angebracht wie ein alberner und würde auch nicht der humorvollen Distanzierung von den Inhalten des Kritikerstuhls dienen. Vielleicht wäre die beste Beschreibung des Tonfalls die fürsorglich-aufgebrachte Empörung auf Seiten des Kritikers, der sich verteidigt, dass ja der Klient »überhaupt nicht« ohne seine »immense Hilfe im Alltag« auskäme, dass er »nie etwas geleistet hätte« und natürlich »immer nur Kritik von außen« empfangen hätte und durch ihn, den Kritiker, immer »extrem gut gegen Kritik geschützt wurde«.
Dauer der Übung Innerhalb einer einzelnen Therapiestunde sollte der Klient immer auch den Ressourcenstuhl, nicht nur den Kritikerstuhl, einnehmen, da er sonst mit einem sehr negativen Grundgefühl die Praxis des Therapeuten verlassen würde; dies ist grundsätzlich nicht wünschenswert. Da bei tief greifender Selbstwertproblematik, jahrelangem Perfektionismus und ähnlichen Sachlagen die gesamte Symptomatik natürlich nicht in 50 Minuten behoben werden kann, ist es oft sinnvoll, kürzere Dialogsequenzen mit dem inneren Kritiker in den nachfolgenden
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.4 Gespräch mit dem inneren Kritiker. a Der Klient spielt den inneren Kritiker, der Therapeut nimmt die Klientenrolle ein, indem er Stichwörter gibt und dem Kritiker Fragen stellt. b Nun spielt der Therapeut den Kritiker und fordert den Klienten, der auf dem Ressourcenstuhl sitzt, auf, sich kraftvoll abzugrenzen. c Der Therapeut sitzt auf seinem normalen Therapeutenstuhl und unterstützt von da aus in der zweiten Therapiephase den Klienten auf dem Ressourcenstuhl dabei, sich vom inneren Kritiker abzugrenzen; weniger konfrontative, stärker unterstützende Version
Sitzungen zur Aufarbeitung der Selbstkritikthemen einzuschieben, sodass die verschiedensten Aspekte der Selbstvorwürfe detailreich in mehreren Sitzungen bearbeitet werden können. Solche späteren Einschübe mit zwei Stühlen benötigen oft nur 10 bis 15 Minuten, zumal der Klient ja die Übungsform bereits kennt und auf die verschiedenen Stuhlpositionen eingestimmt ist. Kritikerstuhl und Ressourcenstuhl sollten immer am selben Ort im Raum stehen wie in den vorangegangenen Sitzungen.
Stuhlpositionen Für die Stuhlübung »Gespräch mit dem inneren Kritiker« (. Abb. 4.4) werden zwei Übungsstühle benötigt, die sich gegenüberstehen: der Kritikerstuhl und der Ressourcenstuhl. Der Klient benutzt beide Stühle, der Therapeut ebenfalls, wenn er als Mitspieler fungiert (. Abb. 4.4a, b). Wenn der Therapeut nicht mitspielt, kann er in der zweiten Therapiephase den Klienten bei der Abgrenzung vom inneren Kritiker unterstützen; zu diesem Zweck wechselt der Therapeut nach der ersten Therapiephase wieder zurück auf seinen regulären Stuhl (. Abb. 4.4c), während sich der Klient auf den Ressourcenstuhl begibt und sich auf den des Kritikers konzentriert. Im Gespräch mit dem Klienten ist es empfehlenswert, vom »kranken« (Kritikerstuhl) und vom »gesunden« Stuhl (Ressourcenstuhl) zu sprechen, da diese Formulierungen einfacher sind.
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
Zunächst ist es wichtig, gemeinsam mit dem Klienten den problematischen Stuhl passend zu benennen: Meistens trifft der Ausdruck innerer Kritiker zu, seltener die innere Kritikerin. Bei sehr gestressten und perfektionistischen Personen eignet sich der Ausdruck innerer Antreiber, bei einigen anderen eher das Wort Saboteur. Ein in der Persönlichkeit ausgeprägt zwanghafter und depressiver Klient wählte einmal den Ausdruck Miesepeter, da ihm dieser innere Anteil nach einem bereits als schön erlebten Ereignis dieses durch Pochen auf hundertprozentige Nützlichkeit der Zeitverwendung nachträglich zunichtemachte – aus dieser gnadenlosen Effizienzperspektive war das schöne Erlebnis natürlich als Versagen einzustufen. Zwei Übungsstühle stehen sich gegenüber, und der Therapeut erklärt, dass der eine Stuhl dem inneren Kritiker gehört: »Wenn Sie sich gleich dort hinsetzen, dürfen Sie nur aus der Sichtweise des inneren Kritikers heraus argumentieren; trauen Sie sich ruhig und sagen Sie schonungslos, was der innere Kritiker Ihnen im Alltag immer so eingibt und vorschreibt.« Eine längere Erklärung, was nun dieser Kritiker ist und wie das gehen soll, ist im Allgemeinen nicht nötig. Da der innere Kritiker einen
4.3 • Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
Gesprächspartner benötigt, spielt der Therapeut den Patienten auf dem anderen Übungsstuhl, ohne die Ressourcen schon auszuformulieren: »Ich setze mich hier auf Ihren Stuhl und gebe Ihnen ein paar Stichworte, damit Sie dem inneren Kritiker jetzt eine Stimme geben können. Da es sich um einen inneren Anteil von Ihnen handelt, werden wir uns in der Übung duzen.« z
Erste Therapiesequenz
In den meisten Fällen nimmt der Therapeut selbst zunächst die Klientenrolle und danach die Kritikerrolle ein. Dies hat sich bewährt, da die Übung auf diese Weise sehr lebendig und manchmal auch humorvoll verläuft. Es ist allerdings auch denkbar, dass der Therapeut in der zweiten Sequenz den Klienten vom Therapeutenstuhl aus gezielt gegen den imaginierten Kritiker unterstützt, oder dass er gar nicht mitspielt und den Dialog mit dem leeren Stuhl in den beiden Therapiesequenzen jeweils moderiert. Zunächst muss der Klient selbst den inneren Kritiker spielen, um diesen negativen Anteil überhaupt klar zu erfühlen und seine Argumente genau kennenzulernen, und zwar ohne jegliche Einmischung schützender und gesunder innerer Anteile. Der Therapeut gibt ihm vom anderen Übungsstuhl aus Stichworte (. Abb. 4.4a), spielt also meist selbst mit. Er könnte jedoch auch von seinem Therapeutenstuhl aus Stichworte geben und Fragen stellen, sodass der Klient sich auf den leeren Stuhl, wo sein gesundes Ich imaginiert wird, konzentriert. Vieles, was nun vom Klienten auf dem Kritikerstuhl geäußert wird, erweist sich in dieser Klarheit und Schärfe sowohl für ihn selbst als auch für den Therapeuten als neu, und die Intensität der negativen Äußerungen durch den inneren Kritiker verblüfft oftmals. Folgende Therapieschritte haben sich bewährt: 5 Nachdem beide Personen auf den zusätzlichen Stühlen Platz genommen haben, beginnt der Therapeut: »Weißt du, innerer Kritiker, ich bin dich jetzt leid und möchte, dass du aus meinem Leben verschwindest.« Oft genügt diese sehr allgemein gehaltene Bemerkung, um beim inneren Kritiker einen regelrechten Wortschwall auszulösen, warum er gerade das nun sicher nicht tun wird.
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5 Im Verlauf dieser Therapiesequenz soll der innere Kritiker seine genaue Wirkweise, seine Gedanken und Argumente sowie seine Bewertungen in Bezug auf verschiedene Lebensbereiche des Klienten äußern. Mancher innere Kritiker bezieht sich nur auf den Leistungsbereich, während andere im Rundumschlag alles am Klienten letztlich verurteilen. Der Therapeut kann verschiedene Lebensbereiche in das Gespräch einbringen: »Weißt du, innerer Kritiker, ich finde eigentlich, dass ich in meiner Arbeit als Lehrer ganz gute Leistungen erbringe, aber du hast ja wirklich immer etwas zu meckern, sodass ich nie zufrieden sein kann.« Es ist oft erstaunlich, wie viel Lebendigkeit und Kraft auch sehr unsichere Klienten auf diesem Kritikerstuhl entwickeln, sodass man sich gut vorstellen kann, wie viel innere Macht dieser Anteil ausübt. 5 Sehr wichtig: Der Therapeut hat in dieser Sequenz nur die Aufgabe, allgemeine Stichwörter zu liefern oder Fragen zu stellen, die dem Kritiker Anlässe für die detaillierte Darlegung seiner Position geben. Der Therapeut beschränkt sich daher in seiner Rolle als Klient auf allgemeine Äußerungen wie: »Ich habe gar keine Lust mehr auf dich. Du gehst mir auf die Nerven. Du könntest mich eigentlich langsam in Ruhe lassen. Ich will jetzt ein positiveres Leben führen ohne dich.« Die gesunden Gegenargumente gegen den Kritiker wird der Therapeut an dieser Stelle keinesfalls äußern, denn genau dies wird später die Aufgabe des Klienten selbst sein, die der Therapeut natürlich nicht vorwegnehmen sollte. Es ist in jedem Fall Ziel der Übung, dass der Klient sich später selbst aktiv und kraftvoll vom inneren Kritiker abgrenzt und dass er die Argumente dazu möglichst selbstständig entwickelt. 5 Lenkende Fragestellungen können in dieser Therapiephase verwendet werden, damit der Therapeut Einsicht in die zeitliche Dimension erhält: »Wie kommst du eigentlich auf diese Ideen, innerer Kritiker? Wer hat dir das alles beigebracht?« Eine weitere Frage zu früheren oder heutigen Beziehungen: »Stehst du in Konkurrenz mit jemandem von früher? Oder vielleicht aus der Gegenwart? Mit wem?« Per-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
sonen mit gutem Reflexionsvermögen können sofort die Quellen für die Argumente des inneren Kritikers benennen, während andere hier oft (noch) keine Einsicht haben. Im letzteren Fall sollte der Therapeut nicht versuchen, auf einer Ursachenforschung zu bestehen – diese Einsichten können noch in der Nachbesprechung entwickelt werden, müssen aber nicht unbedingt Teil der Aufarbeitung sein; wenn also ein Klient überhaupt nicht weiß, warum er so harsch und negativ mit sich selbst umgeht, kann der Therapieprozess trotzdem erfolgreich voranschreiten. Die Beantwortung der Frage zur Ursache stellt einen zusätzlichen, aber nicht notwendigen Aspekt des Verstehens dar. 5 Es ist sehr wichtig für diese Übung, in einem weiteren Schritt die positive Intention, die meistens hinter der immensen Negativität des inneren Kritikers steht, herauszuarbeiten; in diesem Moment beginnt nämlich bereits implizit die Ressourcenarbeit: »Sag mal, lieber innerer Kritiker, was willst du eigentlich erreichen für mich? Warum machst du das alles?« Oft benötigt man diese Frage gar nicht, weil der Kritiker dies schon spontan erklärt hatte. Es handelt sich meistens um einen in der Jugend entstandenen Schutzmechanismus für den Selbstwert und die Leistungsfähigkeit des Patienten, denn der innere Kritiker soll den Patienten vor Kritik von außen, manchmal auch vor Demütigung und sogar vor Schlägen schützen. Es ist wünschenswert, wenn der Klient diese positive Intention in seiner Rolle als innerer Kritiker klar äußern kann, denn anhand dieser funktionalen Perspektive kann in einer späteren Sequenz die positive Transformation dieses Anteils beginnen. Ein innerer Anteil des Klienten wird nämlich niemals rundweg abgelehnt, sondern immer umgestimmt und integriert. 5 Das gefühlte Alter des inneren Kritikers liegt übrigens oft unter 15 Jahren. Wenn es passend erscheint, kann der Therapeut in dieser Sequenz daher auch noch fragen: »Lieber innerer Kritiker, wie alt bist du denn eigentlich?« Das Wissen um das jugendliche Alter dieses inneren Anteils unterstützt die Distanzierung
des Klienten von den vorgebrachten Inhalten. Die Transformation des inneren Kritikers in einen konstruktiven Anteil der Persönlichkeit könnte daher auch als Nachreifung in diesem Lebensbereich aufgefasst werden. Diese erste Therapiesequenz wird beendet, wenn dem inneren Kritiker nichts mehr einfällt und auch der Therapeut den Eindruck gewinnt, dass er genügend Informationen über diesen kraftvollen und belastenden Aspekt der Innenwelt seines Klienten gesammelt hat. z
Zweite Therapiesequenz
5 Der Therapeut wechselt auf den Stuhl des inneren Kritikers (. Abb. 4.4b), da er jetzt genügend Information über dessen Vorgehensweise hat, und erklärt dem Klienten: »Ich spiele als Nächstes den inneren Kritiker, und Sie nehmen jetzt den gesunden Stuhl ein. Ich werde jetzt so richtig gemein und frech argumentieren – machen Sie sich auf etwas gefasst! Es ist Ihre Aufgabe auf dem gesunden Stuhl, dem inneren Kritiker sinnvolle Argumente entgegenzubringen und sich abzugrenzen.« Nun beginnt der Therapeut in der Rolle des inneren Kritikers: »Also, hör mal zu, Richard, ich bin dein bester Freund, ohne mich kommst du im Leben überhaupt nicht klar. Du würdest nie etwas leisten ohne mich.« Der Therapeut sollte es dem Klienten im Verlauf der Übung nicht zu leicht machen und darf ruhig immer mal ein wenig schnoddrig agieren: »Na hör mal, so schnell wirst du mich nicht los; überleg mal Folgendes …«, oder: »Ach, so ein bisschen Therapie, das wird uns beide sicher nicht trennen!« 5 Der Therapeut formuliert die Themen des inneren Kritikers dabei scharf und prägnant, und der Klient muss dagegen argumentieren. Nur bei sehr zaghaften Klienten sollte der Tonfall weniger herausfordernd sein, damit diese Personen im Dialog nicht verschüchtert reagieren. Der Therapeut zieht also im Normalfall alle Register, um seine Kritikerrolle als »immense Hilfe im Alltag« sorgfältig zu verteidigen. Dabei ist es zulässig, aus der Kenntnis des Klienten heraus und auch aufgrund der therapeutischen Erfahrung mit anderen
4.3 • Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
inneren Kritikern, einzelne Argumente zu formulieren, die der Klient selbst zuvor in der Kritikerrolle nicht geäußert hatte. Wenn nötig, kann der Therapeut danach kurz seine Rolle verlassen und sich im normalen Gesprächston beim Klienten rückversichern: »Hat dieses neue Argument auch zu Ihrem inneren Kritiker gepasst?« 5 Wenn der Therapeut den Eindruck gewinnt, dass der Klient sich wirklich mit guten Argumenten und in überzeugender Weise vom inneren Kritiker abgrenzt, kann er den Forderungen nach Veränderung langsam nachgeben und zum nächsten Aspekt überleiten: »Ich sehe schon, vielleicht habe ich ein wenig übertrieben … aber ich will dir doch nur helfen. Du kannst ja gar keine Kritik von anderen aushalten, und ich schütze dich vor jeglicher Kritik, weil ich dich immer nur antreibe, überall 150% zu geben. Das ist doch eigentlich gut für dich.« Der Klient kann jetzt beginnen, die positive Intention des inneren Kritikers zu würdigen – der Schutz vor Kritik ist sicher in Maßen immer eine sinnvolle Angelegenheit, nur übertreibt dieser innere Kritiker sehr und wählt extrem negative Mittel, um sein Ziel zu erreichen. 5 Kritiker und Klient beginnen nun in freundlichen Verhandlungen, für den Kritiker eine neue, sinnvolle und ressourcenorientierte Rolle zu definieren. In diesem Beispiel geht es um eine Verhandlung mit dem inneren Kritiker, der einen neuen Job bekommt. Mein Klient Richard spielt dabei sich selbst und ich als Therapeutin übernehme die Rolle des Kritikers: Klient: »Also, Kritiker, das mit dem Schutz vor Kritik war ja nett gedacht und war früher auch mal sehr wichtig, aber du hast mich auf Dauer völlig fertig gemacht mit deinen extremen Ansprüchen und Forderungen. Schau, wo du uns hingebracht hast – wir sind seit Monaten krankgeschrieben, waren zunächst mal wochenlang mit Suizidgedanken in der Psychiatrie. Das kann ja nicht dein Ziel gewesen sein.« Kritiker: »Ja, das ist auch wirklich dumm gelaufen – aber ich finde doch, du solltest sehr bald wieder etwas leisten.« Klient: »Ja, das möchte ich
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auch, aber jetzt bin ich Ende 50, und es muss sich etwas ändern bei uns beiden, damit ich das schaffe. Eigentlich könntest du mich ab jetzt in Ruhe lassen.« Kritiker: »Na ja, aber ich habe sehr viel von deiner Energie, du kannst mich nicht so einfach wegschicken, da mache ich nicht mit. Du kannst mir ja einen neuen Job vorschlagen.« Klient: »Ja, das ist eine gute Idee. Wie wäre es, wenn du den Schutz meiner Leistungsfähigkeit übernimmst? Das heißt aber auch, dass du deine perfektionistischen Ansprüche runterschraubst und mir hilfst, im Arbeitsleben Pausen zu machen. Ich möchte außerdem meine Wochenenden so gestalten, dass ich sie wirklich genießen und Energie tanken kann. Bist du dazu bereit, innerer Kritiker?« Kritiker: »Hm – das ist eine ziemliche Umstellung. Werden wir dann auch wirklich weiterhin beruflich etwas leisten? Ich will kein Psycho-Weichei werden, das passt nicht zu uns. Das Rumhängen hier im Krankenhaus finde ich sowieso mittlerweile ziemlich blöd …«. Klient: »Ja, wenn du locker lassen kannst, dann kann ich all die Ideen der Stressbewältigung, die ich schon entwickelt habe, auch im Alltag umsetzen. Das darfst du aber nicht blockieren. Außerdem musst du wirklich positiver mit mir umgehen.« Kritiker: »Aber wenn ich nun so nett zu dir bin – wirst du dann nicht doch ein fauler Sack?« (Der Therapeut kann in dieser Rollenspielsequenz Selbstbeschimpfungen wie »fauler Sack« aufgreifen, wenn der Klient solche Ausdrücke in seiner Rolle als Kritiker zuvor selbst geäußert hatte.) Klient: »Nein, ganz sicher werde ich nicht faul – wir beide wollen ja das Gleiche, nämlich wieder leistungsfähig sein. Stimmt das?« Kritiker: »Ja, das stimmt.« Klient: »Außerdem könntest du dich ab sofort auch höflicher ausdrücken.« Kritiker: »Na gut, wir können das alles mal ausprobieren – ich schaue, dass du genug arbeitest, aber auch genügend Pausen machst und am Wochenende den Kopf frei bekommst. Ist das in Ordnung?« Klient: »Ja, das klingt sehr gut, innerer Kritiker. Jetzt muss ich nur noch einen neuen Namen für dich finden, der zu deiner neuen Aufgabe passt.« Der neue Name, z. B. der »Schützer der Leistungsfähigkeit«, wird nun gemeinsam verhandelt, und dies stellt das Ende der Stuhlübung dar. Man kann die neue Vereinbarung durch Handschlag noch besiegeln.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Die Stuhlübung zum inneren Kritiker enthält eine bestimmte Sequenz von therapeutischen Schritten, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden: 5 Leidensdruck durch den inneren Kritiker deutlich werden lassen: Der Klient spielt den inneren Kritiker, der Therapeut gibt Stichworte auf dem Ressourcenstuhl in der Rolle des Klienten. Die Argumente des inneren Kritikers werden gesammelt. 5 Der Therapeut stellt dem Kritiker auch die Frage nach dem Ursprung dieser harschen Kritik. 5 Der Therapeut kann den Kritiker nach seinem gefühlten Alter befragen, das meist unter 16 Jahren liegt. 5 Der Dialog arbeitet die positive Intentionen des Kritikers, z. B. Schutz, klar heraus, stellt seine Mittel aber als unangemessen negativ und übertrieben dar. 5 Rollenwechsel: Der Klient nimmt den gesunden Stuhl ein, der Therapeut spielt den Kritiker und macht in dieser Rolle solange Druck, bis dem Klienten die Abgrenzung mit gesunden Argumenten gut gelingt und alles Wesentliche gesagt wurde. 5 Der Kritiker gibt dann langsam nach und bestätigt, dass er mit seinen negativen Äußerungen wohl übertrieben habe und jetzt kompromissbereit sei. 5 Der Klient erarbeitet schrittweise mit dem Kritiker Möglichkeiten, die negativen Mittel aufzugeben und stattdessen die positiven Intentionen des Schutzes in respektvoller und positiver Art und Weise zu erfüllen: Die Kooperation zwischen der gesunden Seite des Klienten und dem Kritiker ermöglicht die nachhaltige Transformation des Kritikers. 5 Klient und Kritiker legen gemeinsam den neuen Namen für diesen inneren Anteil fest. 5 Beendigung der Intervention, auch mit Handschlag. 5 Nachbesprechung mit schriftlicher Aufarbeitung der Einsichten aus der Übung (s. unten unter »Nachbesprechung«). Es kann sein, dass ein Klient zunächst den Übergang zur positiven Erfüllung der Absichten des inneren Kritikers nicht gänzlich innerhalb der Übung
vollziehen kann. In diesem Fall ist es zweckmäßig, eine Gesprächssitzung einzuschieben und diese Aspekte sorgfältig im sokratischen Dialog zu erarbeiten, bevor dann die Stuhlübung abgeschlossen werden kann. > Selbst wenn die einzelnen Inhalte einer Stuhlübungssequenz im Therapiegespräch zuvor sorgfältig formuliert wurden, ist der Dialog auf den Stühlen im Sinne einer Problemaktivierung wichtig und zeigt, ob der Klient in der imaginierten Konfrontation mit einem negativen Selbstanteil oder einer anderen Person das Erarbeitete in die Praxis umsetzen kann. Eine Stuhlübung besitzt nämlich mehr Nähe zur Alltagsrealität des Klienten, lässt mehr Gefühle aufkommen als das Therapiegespräch und bietet daher die Möglichkeit zum Probehandeln. z
Nachbesprechung
Bei einer erfolgreichen Stuhlübung zum Thema exzessive Selbstkritik benötigt man meist keine langwierige Nachbesprechung – die Klienten äußern sich spontan zum Erlebten und zeigen oft auch Erleichterung über den inneren Klärungsprozess, den sie durchlaufen haben. Dabei ist zu vermuten, dass die generelle Akzeptanz des »lieben inneren Kritikers« ein zentrales Element für die spätere Transformation und Integration dieses Anteils darstellt. Die Anrede »lieber Kritiker«, eingeführt durch den Therapeuten in der Position des Klienten, ist durchaus nicht ironisch gemeint: Wir sind in dieser Übung als Therapeuten mit einem sehr einflussreichen Persönlichkeitsanteil des Klienten in Kontakt, der bereits seit Jahren oder Jahrzehnten besteht, der in früherer Zeit sicher einmal eine sinnvolle Schutzfunktion für den Klienten ausgeübt hat und der vor allem über viel Energie dieses Menschen verfügt. In diesem Sinne schulden wir diesem Anteil, so negativ er sich auch zunächst darstellen mag, letztlich großen Respekt. Ziel ist das Zurückgewinnen dieser Energie des Kritikers für positive Zwecke. Wenn dieser Anteil einfach abgelehnt würde, könnte keine sinnvolle Kooperation mit den gesunden Anteilen der Person und daher
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4.3 • Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
auch keine Lösung des inneren Dilemmas zustande kommen.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Eine schriftliche Aufarbeitung dieser Erfahrung wird dringend empfohlen, denn diese Stuhlübung ist inhaltlich sehr reichhaltig und vielschichtig. Die Einzelheiten werden möglicherweise schnell vergessen, wenn nicht schriftlich festgehalten wird, was wichtig war. Dies kann am einfachsten in Form einer Liste zu den wichtigen Einsichten im besseren Umgang mit sich selbst geschehen. Auf dieser Liste werden die einzelnen Punkte in Form einer sinnvollen verhaltenstherapeutischen Zielerarbeitung verhaltensnah und in konkreten, kleinen, erreichbaren und überprüfbaren Schritten beschrieben. Falls die negativen Argumente des Kritikers doch noch viel Gewicht haben, sollte die ZweiSpalten-Technik (s. Beck, 1999, S. 155) zur Anwendung kommen, bei der der Klient jeden wichtigen negativen Punkt des inneren Kritikers in der linken Spalte vermerkt und ihn dann jeweils durch gezielte Argumente in der rechten Spalte außer Kraft setzt. Dies ist eine ausführliche Hausaufgabe, die der Therapeut zur Förderung der Motivation möglichst noch innerhalb der gemeinsamen Sitzung gemeinsam mit dem Klienten beginnen sollte.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext Die Übung zum inneren Kritiker ist für die anderen Gruppenteilnehmer immer interessant und zum Teil auch unterhaltsam, wenn der Therapeut z. B. in der Rolle des Kritikers zwischendurch lamentiert: »Ach, die blöden Therapeuten, die haben dich ja ganz schön verbogen. Früher hatte ich es leichter mit dir.« Wenn der Protagonist auf dem Ressourcenstuhl stockt und nicht genügend überzeugende Argumente findet, darf er sich ein oder zwei Helfer aus der Gruppe wählen, die schräg hinter ihm sitzen und ihm ihre konstruktiven Ideen gegen den inneren Kritiker ins Ohr flüstern. Er wählt dann jedes Mal selbst aus, ob das Argument für ihn passend ist, und verwendet es dann im Gespräch mit dem Kritiker. Alternativ kann der Protagonist in eine Beobachterposition wechseln, damit mehrere Gruppen-
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teilnehmer in seiner gesunden Rolle dem inneren Kritiker Paroli bieten können. Am Schluss der Gruppensitzung muss dann der Protagonist nochmals selbst gegen den Kritiker argumentieren, was jetzt meistens deutlich energischer ausfällt.
Abwandlungen Manchmal ist es günstiger, wenn der Therapeut im Einzelgespräch während beider Sequenzen oder zumindest bei der zweiten Sequenz auf seinem gewohnten Stuhl sitzen bleibt und den Klienten auf dem Ressourcenstuhl nur berät (. Abb. 4.4c zeigt die zweite Sequenz der Abgrenzung vom Kritiker mit leerem Stuhl). Er spricht daher nun vom Kritiker in der dritten Person: »Der Kritiker hat eben gesagt, Sie wären faul, wenn Sie nur 40 Stunden pro Woche arbeiten würden – was sagen Sie dazu? Finden Sie das auch?« Trotz dieser zweiten Ebene im Gespräch sollte der Klient sich weiterhin an den leeren Stuhl wenden, auf dem er sich den inneren Kritiker vorstellt. Als visuelle Hilfestellung kann man auch ein großes Kissen auf den Stuhl stellen, das der Klient ansehen kann. Diese Form des Dialogs mit dem imaginierten Kritiker ermöglicht gezielte psychotherapeutische Hilfestellungen für Klienten, denen die Abgrenzung von innerer Kritik noch schwerfällt. Der Therapeut kann im therapeutischen Dialog mit dem Klienten Argumente erarbeiten oder sogar einzelne vorschlagen, die der Klient ausprobieren kann. Auf diese Weise verläuft die Intervention letztlich weniger konfrontativ. Wenn es sinnvoll ist, kann zu einem späteren Zeitpunkt auch noch die Standardübung in Form des genuinen Rollenspiels durchgeführt werden, da der Klient nun genügend ressourcenorientierte Argumente gegen den frechen Kritiker haben sollte.
4.3.2
Arbeit an Funktionalisierungen: Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten
Diese Übung läuft überwiegend parallel zur Übung mit dem inneren Kritiker, nur braucht die psychische Störung oder das Problemverhalten nicht transformiert und integriert zu werden wie ein innerer Kritiker, denn die psychische Störung wird
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
nicht wirklich als genuiner innerer Anteil aufgefasst – sie kann letztlich ganz aus dem Leben des Betroffenen verschwinden. Es ist ausreichend, wenn es dem Klienten gelingt, sich am Ende der Intervention kraftvoll von seiner Störung abzugrenzen und wenn er für die Erfüllung der Funktionen der Störung in seinem Leben adäquate gesunde Verhaltens- und Denkweisen ins Feld führen kann. Ein Beispiel: Die Depression erklärt dem Klienten, dass sie ihm doch sehr erfolgreich Ruhe und Schonung verschafft. Anschließend kann dieser als Erwiderung gesunde Formen der Stressbewältigung anführen, sodass die Depression selbst als Entschuldigung für Ruhe nicht mehr benötigt wird. Diese Übung wird erfahrungsgemäß von den Klientinnen und Klienten sehr geschätzt; nach einer Übung im Rahmen einer Psychotherapiegruppe im stationären Rahmen kann es daher sein, dass einige der Zuschauer die Übung mit ihrem eigenen Thema in der nächsten Sitzung wiederholen möchten.
Zielgruppe Diese Übung ist für die ambulante Psychotherapie oder Beratung sowie für die stationäre psychotherapeutische Behandlung geeignet. Es handelt sich um die Aufarbeitung von Funktionalisierungen einer psychischen Störung oder eines bestimmten Problemverhaltens im Alltagsleben der Klienten. Inwiefern dies bei Diagnosen wie bipolarer Störung oder Schizophrenie passend ist, muss im individuellen Fall entschieden werden. Andererseits entwickeln sich bei Angststörungen, Essstörungen, unipolarer Depression und einigen weiteren psychischen Störungen sehr oft funktionale Aspekte im Leben des Klienten, sodass die Übung bei Personen mit diesen Diagnosen berücksichtigt werden kann. Eine verhaltenstherapeutische Funktionsanalyse oder deren Äquivalent, die zumindest der Therapeut für sich bereits anhand der ihm bekannten Information durchgeführt hat, stellt die Basis der Übung dar. Auch junge Klienten unter 18 Jahren profitieren sehr von dieser Übung.
Therapeutische Zielsetzung Bei den Funktionen einer psychischen Störung oder eines Problemverhaltens handelt es sich um subjektiv als positiv erlebte Konsequenzen der Symptomatik wie Zuwendung und Rücksichtnahme durch
Partner oder Familienmitglieder und Vorteile in der Gestaltung der täglichen Aufgaben zu Hause oder am Arbeitsplatz. Beispielsweise braucht ein Angstpatient für seinen Arbeitgeber keine Dienstreisen mehr zu unternehmen, oder eine Hausfrau hält sich systematisch vom Herd fern, da sie ihn nicht ohne langwierige Zwangsrituale ausschalten könnte. Die psychischen Verstrickungen mit dem sozialen Umfeld, das dem Kranken helfen und ihn schonen muss, halten letztlich die Symptomatik aufrecht, wenn sie nicht gezielt bearbeitet werden. Die Benennung dieser Funktionen selbst stellt bereits einen wichtigen Therapieschritt dar, da die Klienten sich meistens zu Beginn der Psychotherapie dieser Prozesse gar nicht klar bewusst sind. Aus diesem Grund stellt bereits die erste Stuhlposition, bei der die Störung bzw. das Problemverhalten selbst zu Wort kommt, eine Offenlegung verborgener Inhalte dar. Statt einer psychischen Störung kann die Übung sich auch auf ein spezielles Problemverhalten beziehen, z. B. auf Selbstverletzung, übermäßigen Substanzgenuss oder regelmäßige Impulskontrolldurchbrüche in Form von Wutanfällen. Herr F. ist 23 Jahre alt und kommt mit sehr bizarr aussehenden, rein psychogenen Anfällen in die stationäre Krankenhausbehandlung. Eine Epilepsie oder andere somatische Ursachen konnten ausgeschlossen werden. Herr F. übernimmt die Rolle eines Anfalls der Intensität 5 (Maximum) auf dem Krankheitsstuhl und beantwortet Fragen des Therapeuten. Er schildert, wie diese Anfälle ihn schon seit der Kindheit begleiten und was sie mittlerweile für ihn leisten: Sie verschaffen ihm weiterhin Fürsorge und Aufmerksamkeit in der Familie, außerdem schützen sie ihn davor, aus dem Elternhaus ausziehen und das eigene Geld verdienen zu müssen sowie sich eine Partnerin zu suchen. Das gefühlte Alter des Anfalls selbst ist 10 Jahre, also ein Alter, wo Selbstständigkeit und die Beziehung zu einer Person des anderen Geschlechts tatsächlich eine massive Überforderung darstellen würden. Der Anfall, Stellvertreter für einen wichtigen inneren Anteil des Klienten, beantwortet die Frage des Therapeuten, wie er nachreifen könne, mit: »Klaus muss zunächst mal verträglicher mit mir umgehen«. Herr F. wechselt nun auf den Ressourcenstuhl.
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4.3 • Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
Der Therapeut übernimmt nun die Rolle des Anfalls und fordert Herrn F. heraus, damit er sich abgrenzen kann. Zunächst argumentiert der Klient überhaupt nicht, sondern zeigt viel Ärger auf den Anfall, aber der Anfall hat gar keine Lust, einfach auf Zuruf zu verschwinden: »Ich habe viel Macht. Wenn du mich nicht akzeptierst, mache ich weiter Stress.« Nur schrittweise weicht der Ärger, und der Klient findet heraus, was Akzeptanz bedeutet. Langsam entsteht eine versöhnliche Stimmung. Es wird nun verhandelt, in welcher Form der Anfall künftig seine Energie für positive Schritte ins Erwachsenenleben zur Verfügung stellen möchte. Für Herrn F. formt sich im Verlauf dieser Übung eine neue und erstaunliche Einsicht: »Die Anfälle sind wirklich ein Teil von mir selbst.« Sie überfallen ihn nicht einfach so »von hinten«, wie er es immer empfunden hatte. Bei einem späteren Telefonat berichtet Herr F., insgesamt acht Monate lang nach der Entlassung gar keine Anfälle gehabt zu haben, wobei zu diesem Erfolg sicher auch viele andere stationäre Behandlungsmaßnahmen beigetragen haben.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Die Klienten sollten für die Durchführung der Übung bereits etwas fortgeschritten sein und Interesse an der Lösung ihrer Probleme haben, denn sonst besteht keine Veranlassung, die scheinbaren Vorteile der Symptomatik aufzugeben. Weiterhin erfordert die Übung ein relativ hohes Maß an kognitiver Kontrolle und die Fähigkeit, sich von der Störung bzw. dem Problemverhalten zu distanzieren, also eine Außenperspektive einzunehmen. Dies gilt vor allem für die erste Stuhlposition, bei der die begriffliche Erfassung von Funktionen der Störung erfolgen soll. Eine andere Gefahr bei jeder Form der Funktionsanalyse ist, dass die Klienten letztlich den Vorwurf heraushören, sie seien manipulativ, sie würden ihre Umgebung mit ihrer Krankheit gezielt unter Druck setzen oder sie würden die psychische Problematik in anderer Weise, z. B. beruflich, zu ihrem Vorteil ausnutzen. Obgleich dieser bewusst manipulative Aspekt vorhanden sein kann, nehmen die Klienten die Funktionalität im Allgemeinen eher implizit wahr. Die meisten Klienten geraten über Jahre hinweg schrittweise in die aktuelle,
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hoch funktionalisierte Situation hinein, oft aufgrund eines falsch verstandenen Helfersyndroms von Angehörigen. Eine manipulative Absicht liegt demnach selten vor. Es liegt hier am Geschick des Therapeuten, dass die Übung zu den Funktionen keinen Beschuldigungscharakter bekommt. Dem Klienten wird vielmehr vermittelt, dass die Funktionalisierungen, die er erlebt, ganz normale Prozesse darstellen bei psychischen Störungen, die über Jahre hinweg im Leben einer Person viel Raum eingenommen haben. Hinsichtlich der klinischen Störungsbilder wägt der Therapeut ab, ob ein Klient mit schwerer Depression bereits zu einer Distanzierung in der Lage ist und ob Personen mit schweren Persönlichkeitsstörungen überhaupt den Begriff der Funktionalisierung sinnvoll füllen können – wahrscheinlich nicht. Die Übung selbst ist allerdings im Vergleich zu anderen Interventionen mit Stühlen nicht extrem belastend.
Dauer der Übung Es ist günstig, bei der ersten Durchführung dieser Übung den Großteil einer Psychotherapiesitzung, also 35–45 Minuten, zur Verfügung zu haben. Die Übung kann allerdings auch auf zwei Sitzungen verteilt werden, wenn es nötig ist, die ermittelten Funktionalisierungen zunächst sorgfältig zu besprechen, bevor der Klient auf den Ressourcenstuhl wechselt.
Stuhlpositionen Bei der Stuhlübung »Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten« (. Abb. 4.5) werden zwei Übungsstühle gegenübergestellt und der Therapeut spielt zunächst die gesunde Rolle (. Abb. 4.5a), danach die der Störung oder des Problemverhaltens (. Abb. 4.5b). Wenn der Therapeut nicht mitspielt, kann er in der zweiten Therapiephase den Klienten bei der Abgrenzung von der psychischen Störung unterstützen; zu diesem Zweck wechselt der Therapeut nach der ersten Therapiephase wieder zurück auf seinen regulären Therapeutenstuhl (. Abb. 4.5c), während sich der Klient auf den Ressourcenstuhl begibt und sich auf den der psychischen Störung konzentriert.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.5 Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten. a Der Klient spricht in der Rolle der psychischen Störung oder des Problemverhaltens, während der Therapeut ihm Stichworte von der gesunden Position aus gibt. b Nun übernimmt der Therapeut die Rolle der Störung oder des Problemverhaltens und fordert den Klienten auf dem Ressourcenstuhl zu energischer Abgrenzung heraus. c Für die Phase der Abgrenzung von der Störung kann der Therapeut auch seinen Therapeutenstuhl einnehmen und den Klienten auf dem Ressourcenstuhl gezielt unterstützen, was weniger konfrontativ wirkt
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
Aus Gründen der Lesbarkeit für die Beschreibungen in diesem Abschnitt wird die Abgrenzung von einer psychischen Störung angenommen, nicht von einer einzelnen problematischen Verhaltensweise. Der Therapeut erklärt die erste Position auf dem Krankheitsstuhl für den Klienten: »Wenn Sie sich gleich auf diesen Stuhl setzen, möchte ich, dass Sie Ihrer psychischen Störung eine Stimme geben, es handelt sich also um den kranken Stuhl. Die Störung hat Sie über die Jahre in Ihrem Leben begleitet, sodass Sie sich vorstellen können, es handle sich um eine Person, die bestimmte Dinge zu sagen hat. Ich übernehme zunächst einmal Ihren Stuhl, also den gesunden Stuhl, und gebe Ihnen ein paar Stichworte.« z
Erste Therapiesequenz
Der Therapeut nimmt die gesunde Rolle des Klienten ein, während dieser sich in die Störung, in diesem Beispiel eine Zwangsstörung, hineinversetzen muss. Aus der gesunden Rolle heraus (. Abb. 4.5a) beginnt der Therapeut wieder mit allgemein gehaltenen Äußerungen wie: »Hör mir zu, Zwang, ich bin dich gründlich leid, und du kannst jetzt gerne aus meinem Leben verschwinden.« Er fordert den Klienten auf diese Weise auf, sich in der Rolle der Störung zu äußern und die Funktionen
oder den Krankheitsnutzen im Leben zu formulieren. Klient als Zwang: »Ach hör mal, das geht gar nicht. Wenn du mich nicht hättest, dann wärst du ein total schmutziger und unordentlicher Mensch, außerdem wärst du unmoralisch, wenn du nicht dauernd putzen und waschen würdest. Ich bin sicher, du würdest gar nichts mehr im Leben leisten.« Die Funktion der Zwänge ist in diesem Fall: Schutz vor Kritik sowie künstliche Stütze des Selbstwerts durch Perfektion bei Ordnung und Waschen. Im Folgenden finden sich mögliche Äußerungen des Therapeuten, um wichtige Funktionsbereiche in allgemeiner Formulierung ins Gespräch einzubringen: »Weißt du, Zwang, du kostest mich zu viel Zeit und Energie – ich hätte schon selbst einige Ideen, was ich wieder mit meiner Zeit anfangen kann. Zwang, ich bin deine ganzen Vorschriften gründlich leid; ich kann jetzt meine Gefühle ohne dich bewältigen/meine Zeit ohne dich füllen; ich will nicht mehr, dass du dich so in meine Beziehung/in die Erziehung meiner Kinder/in die Ausübung meiner Arbeit einmischst.« Die Funktionalität einer mittleren bis schweren Depression sähe inhaltlich anders aus, obwohl die erste Aufforderung des Therapeuten in der Rolle des Klienten, die Depression solle nun aus seinem Leben verschwinden, analog zum eben genannten Beispiel formuliert wird. Diese Sequenz der Erhebung der Funktionalität ist beendet, wenn der Klient relativ erschöpfend vom vielfältigen schein-
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4.3 • Stuhlübungen auf Ebene 2 – intensivere Übungen
baren Nutzen seiner Störung im Leben berichtet hat. Implizites Ziel dieser Sequenz ist natürlich auch, dass der Therapeut genügend Material für die zweite Übungsphase sammelt, bei der er diesen Funktionen seine Stimme leiht. z
Option: Unterbrechung der Übung hier
Die Übung sollte natürlich nicht beendet werden, bevor der Klient selbst auf den Ressourcenstuhl wechselt, aber eine Unterbrechung zur Diskussion über die Funktionen der psychischen Erkrankung ist denkbar, insbesondere, wenn dieses Konzept für den Klienten relativ neu ist. Die Ressourcenposition nimmt der Klient dann in der folgenden Sitzung ein. z
Zweite Therapiesequenz
Therapeut und Klient tauschen den Platz (. Abb. 4.5b), und der Therapeut beginnt analog zum Dialog mit dem inneren Kritiker diese Sequenz in etwa so: »Also, lieber Peter, ich bin dein Zwang und dein bester Freund. Ohne mich geht gar nichts in deinem Leben. Ich bin extrem wichtig.« Im Verlauf des Gesprächs greift der Therapeut möglichst alle Funktionsaspekte, die zuvor vom Klienten selbst in der ersten Position geäußert wurden, auf, sodass der Klient nun auf dem Ressourcenstuhl die Gelegenheit bekommt, sich mit diesen Aspekten auseinanderzusetzen. Diese wichtige Sequenz endet erst, wenn der Therapeut in seiner Rolle als Stimme der Störung das Gefühl hat, nicht mehr viel antworten zu können. Hierfür muss der Klient definitiv kraftvoll argumentieren, sonst kann die Zwangsstörung durchaus sehr eigensinnig dagegenhalten. Eine konfrontative Äußerung des Therapeuten in der Rolle der Zwangsstörung könnten sein: »Ach, lieber Peter, das klingt alles so niedlich und ziemlich schwach, was du bisher gesagt hast. Solange du in Psychotherapie bist, mag das mit der Exposition ja alles ganz gut klappen, da halte ich mich dann ein wenig zurück. Aber warte erst, bis du wieder mit deinen Gefühlen zu Hause allein bist, dann geht es rund. Dann bist du so klein mit Hut, und ich werde dir wieder sehr gezielt bei deiner Lebensbewältigung helfen, indem ich dir deine Gefühle wegmache.« Ein freundlich-ironischer oder fürsorglich-entrüsteter Tonfall bei dieser Konfrontation
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kann, wie beim inneren Kritiker, die Atmosphäre auflockern, wenn die humorvolle Gestaltung hier passend erscheint. Sobald der Patient überzeugend und intensiv gegen das Problemverhalten argumentiert hat, beginnt der Zwang oder die Depression, nachzugeben und zunächst alle positiven Intentionen ins Feld zu führen: »Ja, ich merke, dass ich dich ziemlich genervt habe die letzten Jahre. Vielleicht habe ich übertrieben, aber ich wollte ja nur dein Bestes. Ich habe dir viel Aufmerksamkeit in der Familie verschafft, alle haben Rücksicht genommen, und außerdem musstest du in der Arbeit ein paar Sachen nicht machen, davor habe ich dich erfolgreich beschützt.« Der Therapeut lenkt diesen Abschnitt des Gesprächs so, dass der Klient selbst Ideen entwickeln muss, wie er ohne Zwangserkrankung ein angemessenes Maß an Beachtung in der Familie erfahren kann und warum er jetzt vielleicht doch alle ihm zugedachten Aufgaben an seiner Arbeitsstelle vollständig ausführen möchte. Falls der Klient zu wenig positives Alternativverhalten benennen kann, muss dieses in Sequenzen zur Selbstsicherheit, zur Abgrenzung in der Familie oder hinsichtlich anderer relevanter Bereiche noch therapeutisch erarbeitet werden. Das Gespräch mit der Störung sollte am besten in solchen Fällen zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden. z
Nachbesprechung
Auch diese Nachbesprechung muss, wie bei der Stuhlübung zum inneren Kritiker, meist nicht mühsam in Gang gesetzt werden, sondern ergibt sich spontan aus dem Erlebten. Viele Klienten sind gleichzeitig leicht amüsiert und berührt von der Übung. Das Therapiegespräch vertieft die verschiedenen Ideen, wie sich der Klient von seinem Krankheitsgewinn lösen kann oder wie er auf angemessene Weise die in den Funktionen enthaltenen positiven Intentionen erfüllen kann.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Als schriftliche Fixierung eignet sich ein Abschiedsbrief an die Erkrankung, der alle Argumente enthält, warum ihre Dienste nicht mehr benötigt werden. Als weniger imaginative Aufgabe reicht auch eine zusammenfassende Liste mit den Punk-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
ten gegen die Beibehaltung der Funktionalität aus, oder man erklärt dem Klienten die Zwei-SpaltenTechnik (s. Beck, 1999, S. 155), damit er nochmals beide Seiten der Diskussion aus dieser Intervention im Einzelnen nachvollzieht.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext
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In einer Psychotherapiegruppe mit dem gleichen Diagnoseschwerpunkt (Indikativgruppe, Themengruppe) finden sich viele Teilnehmer mit ihren eigenen Funktionalisierungen in der Stuhlübung des Protagonisten wieder, während in Gruppen mit gemischten Diagnosen durch die verschiedenen Störungsbilder auch funktional eher unterschiedliche Aspekte zum Tragen kommen und eine Wiederholung der Übung mit einem anderen Klienten daher empfohlen werden kann – es wird sicher nicht langweilig. Diese Intervention ist für die jeweiligen Zuschauer immer interessant und belebt das Gruppengeschehen. Sie verschafft dem Protagonisten reichhaltige Rückmeldungen durch die anderen Gruppenteilnehmer, was wiederum die psychotherapeutische Wirkung dieser Aktivität verstärkt. In themenzentrierten Gruppen kann aus dem Gespräch mit der Störung eine Übung für die gesamte Gruppe werden, z. B. bei einer Gruppe mit essgestörten Teilnehmerinnen. Zunächst teilt die Gruppe sich auf, und die Teilnehmerinnen setzen sich in zwei Reihen gegenüber. In der ersten Phase darf Teilgruppe A die Vorteile der Essstörung loben und verteidigen, während die Mitglieder der Teilgruppe B die gesunden Gegenargumente vorbringen müssen. Alle Teilnehmerinnen sollen sich zu Wort melden, aber das Gespräch braucht nicht allzu sehr strukturiert zu werden – es profitiert vielmehr vom lebhaften Hin und Her zwischen den beiden Gruppen. Der Therapeut moderiert ein wenig und achtet darauf, dass alle sich äußern und dass sämtliche Beiträge im Eifer des Gefechts doch noch zu hören sind. Die Übung läuft erfahrungsgemäß sehr lebhaft und zum Teil lustig ab. Gruppe A hat meistens viel Spaß dabei, die Vorteile der verschiedenen Essstörungen hervorzuheben und dabei ein wenig zu übertreiben, während Gruppe B ihre liebe Not hat, überhaupt mit ihren gesunden Gegenargumenten zu Wort zu kommen. In der zweiten Übungsphase werden die Rollen getauscht,
und der Therapeut erläutert, dass natürlich alle Argumente aus der ersten Phase wiederholt werden dürfen und sollen. Nun lobt Teilgruppe B die Vorteile der Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa, während Gruppe A sich um die gesunde Korrektur dieser Wahrnehmungen bemüht. In der Nachbesprechung werden die Inhalte der Übung nochmals vertieft und es wird überdies eruiert, wem welche Rolle leichter fiel und warum.
Abwandlungen Diese Übung zum Gespräch mit einer psychischen Störung oder einem Problemverhalten eignet sich nicht für größere Abwandlungen in der Vorgehensweise. Die Reihenfolge der Stühle in der Einzelübung sollte eingehalten werden. Zudem ist ein mehrmaliges Wechseln von Stuhl zu Stuhl aufgrund der Verflachung des emotionalen Erlebens hier nicht empfehlenswert. Herr G. beschreibt eine seit Jahren bestehende, ausgeprägte generalisierte Angststörung, die zu ständigen sorgenvollen Gedanken und der Antizipation der verschiedensten Katastrophen im Leben führt. Herr G. leidet daher auch an einer sehr hohen Daueranspannung im Alltag, an unangenehmem Herzklopfen und vor allem an subjektiv sehr belastenden Schlafstörungen. Er spielt zunächst die Angst selbst und erklärt der Therapeutin, die die gesunden Rolle übernimmt: »Wir haben doch gelernt, dass die Welt ganz schön gefährlich ist. Ich bereite dich auf alle möglichen Ereignisse vor, sodass du nie überrascht werden kannst, und ich helfe dir, dich und deine Familie immer besser abzusichern.« Nachdem die Angst sich verteidigt und ihre positive Intentionen geäußert hat, wechselt der Klient in die gesunde Position, und die Therapeutin übernimmt die Rolle der Angst. In ironisch-frechem Ton erklärt sie dem Klienten, dass er ohne sie ja gar nicht im Leben zurechtkommen würde und dass sie ihn doch wirklich gut schützen würde. Der Klient kann sich einigermaßen abgrenzen, profitiert aber dann von der Hilfestellung eines Gruppenteilnehmers, der sich schräg hinter ihn setzt und ihm Ideen für Argumente gegen die Angst ins Ohr flüstert. Für Herrn G. stellt die Übung einen wichtigen Schritt zur Distanzierung von seinen ängstlichen Denkund Verhaltensmustern dar. Die Zwei-Spalten-Tech-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
nik wird als Hausaufgabe vorgeschlagen und im nächsten Einzelgespräch ausführlich besprochen.
4.4
Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
Die hier auf Ebene 3 vorgestellten Übungen unterscheiden sich in mehrerer Hinsicht von den Übungen in den vorherigen Abschnitten. Die Durchführung ist oft komplexer, da es sich um bis zu vier Übungsstühle handelt und der Klient auch die intuitive Position hinter dem Stuhl eines Gegenübers einnehmen kann, um aus seinem Unterbewusstsein bestimmte Antworten auf seine Fragen an das Gegenüber entstehen zu lassen. Aus der Bezeichnung der jeweiligen Übung geht außerdem hervor, dass es sich häufig um Themen von existenzieller Bedeutung handelt: Klärungen mit einem Missbraucher oder Täter im allgemeinen Sinne, mit wichtigen Bezugspersonen aus der Jugend oder Gespräche mit Verstorbenen. Aus diesen Gründen sollte in der Durchführung mit hochemotionalen Situationen gerechnet werden, bei denen der Klient aufmerksam geführt werden muss. Entsprechend ist der Anspruch an die Durchführung der Dialoge für den Therapeuten hoch. Inhaltlich gehören die meisten Übungen in den Bereich der intensiven psychotherapeutischen Arbeit, aber Adaptationen an beruflich veranlasste Beratungen sind denkbar, wenn zwischenmenschlicher Klärungsbedarf besteht, z. B. nach einer Mobbingsituation. Wahrscheinlich ist für Berater und Coachs die Struktur der Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson (7 Kap. 4.4.2) die passendste, da sie vielfältig verwendbar ist, auch für die psychologische Aufarbeitung aktueller Konflikte.
4.4.1
Schwierige Klärung und Exposition: Gespräch mit dem Missbraucher
Zielgruppe Diese Übung ist geeignet für Frauen, die sexuelle Übergriffe, Missbrauch und Vergewaltigung sowie
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auch alle anderen Arten von Gewalt in der Vorgeschichte erfahren haben. Auch Männer werden Opfer solcher Taten, finden sich aber seltener in der stationären psychosomatischen Behandlung ein, sodass in diesem Abschnitt nur von Frauen gesprochen wird. Als Überbegriff für diese traumatisierenden Situationen wird hier Missbrauch verwendet, auch wenn es sich im Einzelnen um andere Ereignisse mit Gewaltcharakter handeln kann. Bei Frauen, die körperliche Gewalt im Rahmen einer früheren Beziehung oder Ehe erlebt und diese traumatisch verarbeitet haben, könnte diese Intervention oder die Klärung mit einer früheren Bezugsperson (7 Kap. 4.4.2) zur Anwendung kommen. Generell passt der Ausdruck »Patientin« hier besser als »Klientin«, da Traumatisierungen dieser Art zu klinisch relevanten psychischen Störungen im Bereich Angst und Depression führen, auch wenn nicht immer die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) im Vordergrund stehen wird. Die Übung kann und sollte selbstverständlich auch mit männlichen Patienten durchgeführt werden. Männer berichten leider nicht selten von gewalttätigem Missbrauch durch den Vater, manchmal auch durch die Mutter, bis zum Alter von etwa 15 Jahren, als sie hätten zurückschlagen können und dies dem Täter oder der Täterin auch angedroht hatten. Das Gespräch mit einem Täter ist eine kraftvolle Intervention, die Expositionscharakter hat. Sie wurde häufig erprobt mit Patientinnen und Patienten ab dem Alter von etwa 18 Jahren bis hin zu Personen im Alter von Ende 50. Im Fall von sexuellem Missbrauch waren auch die jüngeren Patientinnen zum Zeitpunkt der Psychotherapie nicht mehr täglich im Kontakt oder im Einflussbereich des Täters. Falls dies doch noch der Fall sein sollte, muss der Therapeut abwägen, ob die Übung im Sinne von Probehandeln zur Stärkung der Patientin dienen kann oder ob sie keinen Sinn ergeben würde, da die Patientin ja nach jeder Sitzung wieder in ihre reale Opferrolle zurückkehren muss; es stehen möglicherweise erst einmal andere Therapieaufgaben an als die konkrete Auseinandersetzung mit dem Täter. Patientinnen können immer von dieser Übung profitieren, wenn sie durch den Missbrauch in gewissem Ausmaß eine Traumatisierung erlitten haben. Das bedeutet nicht automatisch, dass eine
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
PTBS nach ICD-10 F43.1 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision) als Diagnose vorliegt, aber dass einzelne belastende Gefühlsund Verhaltensstörungen aus dem Formenkreis der PTBS im Alltag der Person vorhanden sind, z. B. exzessive Angst vor Männern, vor Aggressionen und Konflikten, eine Neigung zur Hypervigilanz und zu übertriebenem Sicherheitsverhalten im Alltag, Probleme in engen Beziehungen zu Männern oder exzessive Unterordnung in einer Beziehung mit fehlender Kraft zur Durchsetzung eigener Wünsche und Bedürfnisse.
Therapeutische Zielsetzung Die Grundlage für diese Expositionsübung ist eine sehr problematische oder sogar traumatische, jahrelang andauernde Erfahrung, die auch nach Beendigung das Leben der Patientin stark bestimmt und multiple Probleme für ihr gegenwärtiges Leben zur Folge hat. Im Normalfall sollte die Patientin sich zum Zeitpunkt dieser Intervention nicht mehr im Einflussbereich des Täters oder Missbrauchers befinden, damit diese imaginative, ressourcenbetonte Übung überhaupt eine Chance hat, eine echte emotionale Entlastung zu erzeugen. Wenn die Patientin am Abend nach ihrer Therapiesitzung weiter missbraucht oder geschlagen wird, ist es unwahrscheinlich, dass die therapeutischen Interventionen mit leeren Stühlen genügend Kraft besitzen, dieser Frau zu wesentlichen Veränderungen hinsichtlich ihres Verhaltens und ihres Gefühlslebens zu verhelfen. Andererseits könnte man versuchen, der Patientin bei einer Serie von Stuhlübungen mit dem Missbraucher schrittweise Selbstbewusstsein und Stärke zu vermitteln, um sie so möglicherweise doch für eine Veränderung ihrer belastenden Lebenssituation zu stärken. Das Gespräch mit dem Missbraucher stellt eine Ressourcenübung dar. Aus diesem Grund wird für die Patientin nur ein Übungsstuhl bereitgestellt, es gibt also hier nicht die Unterscheidung von Kindstuhl und Erwachsenenstuhl, da eine vollständige Regression in die Zeit des Missbrauchs nicht bezweckt wird. Die Patientin soll vielmehr als Erwachsene sagen und beschreiben können, was sie als Kind erlebt hat. Dabei werden unvermeidlich auch die zum Trauma gehörenden Gefühle aus der Kindheit wie Angst, Ekel, Hass, Ohnmacht oder Wut auftreten, sodass eine ge-
wisse psychische Regression meistens automatisch auftritt. Die problematischen früheren Erfahrungen werden aufgerufen und kurz beschrieben, aber der Hauptteil der Intervention stellt die kraftvolle Abgrenzung zum Missbraucher dar. Die günstigste Konstellation in der Zielerreichung ist eine Kombination von vollständiger Akzeptanz des Geschehenen sowie dem Erreichen emotionaler Gelassenheit und innerer Befreiung von der psychischen Umklammerung durch hässliche Intrusionen und alten Gefühlen wie Schuld, Scham, Angst, Ohnmacht und Ekel. Bei manchen Patientinnen ist ein solcher Zielzustand nach einiger Zeit der Traumatherapie und vielleicht mehreren Wiederholungen der Übung zu erreichen, bei anderen Personen mit komorbiden Störungen und einem langen Leidensweg bleibt die vollständige Befreiung von der Traumatisierung jedoch ein Langzeitziel. Oft muss das Nahziel für diese Intervention mit Expositionscharakter also sein, überhaupt einen ersten Schritt in die erwachsene Auseinandersetzung mit dem Täter zu wagen. Wer eine Patientin in einem solchen Prozess schon einmal begleitet hat, weiß, was für eine Selbstüberwindung diese Art von Intervention kostet und wie viel Empowerment bereits durch eine allererste Konfrontation schon erreicht werden kann. Emotionen wie Wut und Entrüstung, Abscheu und Verachtung sind zwar nicht immer präsent, aber wenn sie ausgedrückt werden können, helfen sie der Patientin, sich aus der kindlichen Opferrolle zu befreien, in der sie sich zur Zeit der Traumatisierung unweigerlich befand. Empowerment Empowerment im psychologischen Sinne erhöht die Selbstwirksamkeit des Individuums, d. h. das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, seine Situation in einer bestimmten Hinsicht zu verbessern. Handlungen des Patienten für diese Verbesserung können beinhalten: Informationen einholen, Ressourcen entwickeln und verwenden, Entscheidungen selbstständig treffen, neue Kompetenzen erwerben, alte Verhaltensmuster aufgeben, Optimismus und Selbstbewusstsein in sich erzeugen etc.
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4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
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. Abb. 4.6 Gespräch mit dem Missbraucher. a Die Patientin konfrontiert von ihrem Ressourcenstuhl aus den Missbraucher, der Therapeut unterstützt sie von seinem normalen Therapeutenstuhl aus. b Zur Unterstützung der energischen Abgrenzung vom Missbraucher stehen Therapeut und Patientin gemeinsam vor dem leeren Stuhl und schauen auf den Missbraucher hinab – der Therapeut kann in dieser Position ermutigen und Rollenmodell sein
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Wenn es der Patientin nicht gelingt, im Dialog mit dem Missbraucher ihre eigene Kraft zu spüren und sich abzugrenzen, dann besteht die Gefahr der Retraumatisierung und (weiteren) emotionalen Destabilisierung. Aus diesem Grund ist die Wahl des Zeitpunkts für diese Intervention sehr wichtig – der Therapeut sollte sich fast sicher sein, dass es der Patientin möglich sein wird, durch das Erleben von eigener Kraft und Durchsetzung einen inneren Schritt zu Abgrenzung vom Täter zu vollziehen. Die Intervention ist natürlich kontraindiziert für Patientinnen, die noch gar nicht über ihr Trauma und die involvierten Personen sprechen können, da das Gespräch mit einem Täter immer starken Expositionscharakter hat; man könnte es als eine Exposition mit einer Mischung von Aspekten in sensu (der Missbraucher wird auf dem leeren Stuhl imaginiert) und Aspekten in vivo (die Klientin handelt selbst in der Realität, nicht imaginiert) bezeichnen.
Dauer der Übung Für diese Übung sollte der Großteil einer Psychotherapiesitzung reserviert werden, zumindest bei der ersten Durchführung. Wenn der Missbrauch über mehrere Sitzungen hinweg behandelt wird, kann auch die Übung mehrfach wiederholt werden; dann benötigt man oft nur noch kürzere Übungs-
sequenzen, da die sorgfältige Einleitung für die beiden Stühle weitgehend entfällt und die Patientinnen bereits mit dieser Intervention Erfahrung gesammelt haben.
Stuhlpositionen Für die Stuhlübung »Gespräch mit dem Missbraucher« (. Abb. 4.6) werden zwei sich gegenüberstehende Übungsstühle benötigt: Die Patientin sitzt auf ihrem Ressourcenstuhl, der leere Stuhl ist der Täterstuhl (. Abb. 4.6a), und der Therapeut bleibt auf seinem regulären Therapeutenstuhl. Die Patientin kann sich auch zur Verstärkung der Abgrenzung vor den Stuhl des Täters hinstellen und auf ihn herabsehen. In dieser Position kann sie vom Therapeuten unterstützt werden, der sich neben sie stellt (. Abb. 4.6b). Die ohnehin stattfindende Teilregression in das kindliche Erleben während der ersten Therapiephase soll hier nicht noch zusätzlich durch einen Kindstuhl gefördert werden, wie das in anderen Stuhlübungen beim inneren Abschied von schwierigen Personen der Fall ist.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Detaillierte Beschreibung der Übung z
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Einführung
Für die Beschreibungen der Anleitungen und Dialoge wird inhaltlich ein sexueller Missbrauch in der Kindheit, d. h. vor dem zwölften Lebensjahr, zugrunde gelegt. Während die Patientin noch auf ihrem gewohnten Stuhl sitzt, erklärt der Therapeut ihr die beiden Positionen: »Auf einem dieser Stühle sitzt jetzt der Missbraucher. Bitte beschreiben Sie doch mal, wie Sie ihn in Erinnerung haben. Wie sieht er aus?« Die Beschreibung des Missbrauchers sollte noch vom gewohnten Stuhl aus erfolgen, da erfahrungsgemäß der Übungsstuhl für die Patientin bereits sehr belastend ist und ihre Aufmerksamkeit wahrscheinlich nach innen lenken wird. In Bezug auf die Vorstellung vom Missbraucher erläutert der Therapeut nun: »Jetzt stellen Sie sich bitte vor, der Missbraucher sitzt hier, und er macht gar nichts, er ist einfach nur da und reagiert nicht auf das, was Sie ihm zu sagen haben. Er kann Ihnen jetzt ruhig und aufmerksam zuhören. Ich weiß, dass das wahrscheinlich überhaupt nicht realistisch ist, aber es ist zunächst einmal die beste Vorstellung für den Verlauf der Übung.« Diese Anweisung ist wichtig, da die Patientin sonst möglicherweise versuchen wird, die konkreten Reaktionen des Missbrauchers zu erspüren und zu äußern, was sie jedoch von ihren eigenen inneren Prozessen ablenken und diese abschwächen würde. In dieser Übung ist aber das Ziel, dass die missbrauchte Frau ihre Opferrolle überwinden und dem Missbraucher nun als kraftvolle Gesprächspartnerin entgegentreten kann. Dies erfordert die volle Aufmerksamkeit der Patientin für ihre eigene Entwicklung während der Übung. z
Erste Therapiesequenz: Was passiert ist
Nachdem das Bild des Missbrauchers aufgerufen wurde, setzt die Patientin sich auf ihren Übungsstuhl (. Abb. 4.6a), und der Therapeut leitet den Dialog ein: »Erklären Sie ihm jetzt mal, was er da angerichtet hat und wie sich das angefühlt hat. Damals, als Kind, hatten Sie noch keine Stimme – aber jetzt, als Erwachsene, haben Sie eine. Nutzen Sie diese Gelegenheit jetzt!« In der ersten Sequenz werden zentrale Aspekte der traumatischen Erfahrung benannt. Der Therapeut begleitet diese emotionale
Erfahrung mitfühlend und ermutigend. Wenn die Patientin sich zu sehr erregt, ist es sinnvoll, sie wieder auf ihren gewohnten Stuhl zu bitten und eine Erholungspause einzulegen: Die Übung hat zwar Expositionscharakter, darf aber keinesfalls zum Auslöser einer Retraumatisierung werden. Die Intensität der Erfahrung sollte daher durch Pausen und – wenn nötig – Anwendung von Verhaltenstechniken zur Spannungsregulation (z. B. Skills nach Linehan, 1996) moduliert werden. Wenn die Patientin weint, aber trotzdem einigermaßen gefasst weiterspricht, kann der Therapeut sich auch schräg hinter sie setzen und sie aus dieser unterstützenden Position heraus begleiten. Weibliche Therapeutinnen können der Klientin auch beruhigend an den Arm fassen, wenn das passend erscheint. Bei der Neigung zur Dissoziation – dieses (teilweise) Wegtreten aus der Realität wäre nicht wünschenswert – gibt der Therapeut Hinweise wie: »Jetzt nicht aus der Wirklichkeit wegrutschen, bleiben Sie die Erwachsene. Sie sind eine 42-jährige Frau, Sie haben jetzt die Kraft zu dieser Auseinandersetzung.« Solche Hinweise haben sich im Verlauf dieser Intervention gut bewährt. z
Option: Unterbrechung der Übung hier
Es kann sein, dass die Beschreibung des Missbrauchs und seiner Folgen, die ja eine intensive Exposition darstellt, die Klientin sehr belastet. Dann ist es ratsam, den Rest der Sitzung in Ruhe auf den gewohnten Stühlen zu verbringen: Der Therapeut lobt die Patientin für ihren Mut, die problematischen Erlebnisse klar zu schildern angesichts der Vorstellung, der Täter würde auf dem leeren Stuhl sitzen. Allein dieser Teil der Intervention bedeutet bei vielen Personen bereits einen wesentlichen Schritt aus dem Opferdasein heraus. Das Opfer, das die Klientin als Kind zwangsläufig einmal war, hatte natürlich nie die Möglichkeit, Rückmeldung zu geben. Mit anderen Worten: Auch wenn es sich um eine von Regression geprägte Erfahrung handelt, die möglicherweise zunächst intensive Emotionen und viele Tränen erzeugt, stellt die konfrontative Verwendung der Sprache bereits einen Paradigmenwechsel dar vom fast vollständig visuell-kinästhetisch erinnerten Missbrauchserlebnis (z. B. van der Kolk et al., 1996, S. 287) hin zu einer erwachse-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
nen, verbal codierten und daher rationaleren Form des Ausdrucks. Einfach ausgedrückt: Missbrauchte Kinder verstummen, Erwachsene können bei dieser Intervention ihre Stimme wiederfinden. Die Stuhlübung kann also bei hoher Belastung der Patientin in zwei möglichst zeitnah aufeinanderfolgenden Sitzungen stattfinden. Erst die zweite Phase ermöglicht einen eindeutigen Ausstieg aus der Opferrolle, sodass diese Erfahrung relativ bald angebahnt werden sollte. Ideal ist natürlich eine einzige Sitzung – vielleicht eine Doppelstunde –, bei der der Übergang aus der Beschreibung des Missbrauchs zum Empowerment in Form der Konfrontation des Missbrauchers vollzogen wird. z
Zweite Therapiesequenz: Ressourcenphase – was ich geschafft habe
Die Positionen der Patientin bleiben für diese Sequenz gleich (. Abb. 4.6a). In dieser optionalen Phase der Übung kann die Patientin, wenn sie bereits in ihrem Leben wichtige Ressourcen entwickeln konnte, dies dem Missbraucher entgegenhalten. Für Personen, denen dies jedoch (noch) nicht gelungen ist, sollte die Übung mit der kraftvollen Abgrenzung der Erwachsenen vom Täter enden. Eine Patientin jedoch, die sich überhaupt für dieses Thema in Psychotherapie begibt und die sich bereits einer solchen Übung stellen kann, hat auf psychologischem Gebiet und im Leben oft einiges erreicht. Allein die motivierte und mutige Mitarbeit in einer intensiven Psychotherapie, die solche schmerzhaften Themen aufgreift, stellt eine wesentliche Ressource der Patientin dar. Folgende Fragen können der Patientin helfen, ihre Ressourcen überhaupt zu sehen und auf diese Weise sich und der Welt zu zeigen, dass der Missbrauch in ihrem Leben zwar viel angerichtet, aber nicht alles zerstört hat: 5 Der Therapeut kann die erwachsene, kompetente und mutige Seite der Patientin durch folgende Aufforderung stärken: »Erklären Sie dem Missbraucher, dass jetzt mit all den Belastungen Schluss ist; dass Sie keine Lust mehr haben auf die Schuldgefühle, die Scham, das Sicherheitsverhalten im Alltag und die anderen Einschränkungen, sondern dass Sie seinen Einfluss jetzt endlich abschütteln werden.« In einer solchen Sequenz kann die Patientin
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meistens ihre kindlich-verletzten Anteile zurückstellen und sich als willensstarke Erwachsene erleben. 5 »Nun wäre es gut, wenn Sie ihm auch erklären, was Sie alles in Ihrem Leben auf die Beine gestellt haben – trotz des Missbrauchs.« Hier kommen Themen wie Durchlaufen einer Ausbildung, Berufsausübung, Freundeskreis, Heirat, Familiengründung, Erziehung von eigenen Kindern, die erhaltene Fähigkeit zu Freude und Genuss u. Ä. zur Sprache, also die Erfolge dieser Patientin in ihrem Leben. Diese sehr normal klingenden Lebensereignisse stellen für schwer missbrauchte Personen durchaus keine Selbstverständlichkeit dar, sondern wurden oft hart erkämpft. Es ist günstig, wenn die Patientin diese Aspekte ihres Lebens sogar als persönlichen Triumph über ihr Missbrauchsschicksal erleben kann, eine Wahrnehmung, die der Therapeut gezielt unterstützt. z
Dritte Therapiesequenz: Kraftvolle Abgrenzung
5 »Frau P., Sie sind ja jetzt 35 Jahre alt. Was denken Sie heute von diesem Mann? Wie bewerten Sie seine Handlungen? Was halten Sie von ihm? Wer war denn schuld an diesen Ereignissen? Und wer sollte sich eigentlich schämen?« Diese Sequenz benötigt einige Zeit und erfordert oft gezielte Ermutigung, manchmal auch Modelllernen vom Therapeuten, bis die Patientin zu diesen kraftvollen Äußerungen überhaupt fähig ist. Für das Modelllernen kann der Therapeut sich neben die Patientin setzen oder besser noch stellen (. Abb. 4.6b) – die stehende Position gibt der Patientin stärker das Gefühl, jetzt überlegen zu sein, und ist daher oft hilfreich; sie schaut nun auf den Missbraucher hinab. 5 »Als Nächstes können Sie sich jetzt von diesem Mann und all den Belastungen abgrenzen. Sie müssen dies aber sehr energisch und direkt tun … ich glaube nicht, dass er sich entfernen wird, wenn Sie ihn einfach höflich darum bitten. Was möchten Sie ihm sagen? Wie möchten Sie sich abgrenzen? Sie dürfen dabei auch die Stimme erheben, Sie dürfen aufstehen und auf ihn hinunterschauen, und Sie dürfen
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
auch alle Schimpfwörter benutzen, die Ihnen einfallen, wenn Sie wollen. Machen Sie es so, wie es zu Ihnen passt.« Ärger und Wut können hier auftreten und sind meistens gute Helfer beim Überwinden der Opferrolle, aber diese Emotionen sind nicht immer unbedingt nötig. Wichtig ist jedoch die Klarheit der Verbalisationen an den Missbraucher, denn das erfordert Mut und Selbstüberwindung seitens der Patientin. Diese Sequenz endet erst, wenn die Patientin sich nicht mehr wie ein ängstliches Opfer verhält, sondern Selbstbewusstsein und Kompetenz zeigt. Bei noch zaghaften Patientinnen kann der Therapeut sich als Hilfestellung neben die Patientin stellen und einige Sätze gegen den Missbraucher formulieren, die von der Klientin nachgesprochen werden. Danach entfernt der Therapeut sich am besten jedoch wieder aus dem Übungsbereich, damit die Patientin das Gefühl hat, die Abgrenzung alleine zu bewältigen. 5 Wenn der Missbraucher ein geliebter Verwandter, also vielleicht der Vater oder der Bruder war, dann gehört zur inneren Abgrenzung von ihm auch die andere Seite der Beziehung – die Liebe des Kindes für diesen Verwandten sowie die ungeheure Enttäuschung über den Vertrauensbruch und die Brutalität der Ereignisse. Der Therapeut ermutigt die Klientin hier, auch diese Facette ihrer Beziehung, nämlich widersprüchliche Gefühle von Liebe und Hass, Zuneigung und Ekel, Respekt und Verachtung, direkt angesichts des Missbrauchers auf dem leeren Stuhl auszudrücken. Der Therapeut gibt in dieser Sequenz die Erlaubnis für die konfliktreichen Gefühle, er vermittelt der Klientin also, dass es keine falschen Gefühle gibt und dass alle Gefühle ihre Berechtigung haben. Diese Validierung der unterschiedlichsten Gefühle stellt eine heilsame Erfahrung für die Person mit Missbrauchserlebnissen dar, deren Gefühle in den Jahren der Unterdrückung nie beachtet wurden. z
Vierte Therapiesequenz: Beendigung der Übung
Die Übung kann beendet werden, wenn die Patientin ihre eigene Kraft angesichts der Konfrontation
mit dem Missbraucher gut spüren kann und nicht mehr in der Opferrolle verharrt. Der Therapeut stellt zunächst eine offene Frage vor Beendigung des Dialogs: »Gibt es noch etwas Wichtiges, was Sie dem Missbraucher hier und heute sagen möchten? (kurze Pause) Wenn Ihnen jetzt nichts mehr einfällt, können wir die Übung beenden. Sie können dem Missbraucher aber in der nächsten Sitzung noch einmal Ihre Meinung sagen.« Das Bild des Missbrauchers auf dem Stuhl sollte nun explizit aufgelöst werden durch eine hilfreiche Imagination, z. B.: »Jetzt stellen Sie sich vor, der Mann auf dem Stuhl schrumpft zusammen … er wird immer kleiner und kleiner … bis Sie ihn fast nicht mehr sehen … jetzt ist er nur noch ein Punkt … und jetzt ist er vollständig verschwunden.« Dann bittet der Therapeut die Patientin auf ihren gewohnten Stuhl und stellt die Übungsstühle wieder zurück auf den Stapel, um das Ende der Intervention hervorzuheben. Wenn der Stuhl des Missbrauchers stehen bliebe, könnte sich die Patientin bei der Nachbesprechung gestört fühlen. Ich habe auch einmal den Stuhl einfach nach hinten umgekippt, um die Übung zu beenden, was die Patientin später positiv kommentierte. Alternativ kann auch die Patientin selbst den Täterstuhl aus der Übungsposition entfernen. z
Nachbesprechung
In der Nachbesprechung ist es zunächst wichtig, die Patientin sehr zu loben für all ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihre emotionale Leistung bei dieser Übung. Dies sollte geschehen, selbst wenn das vollständige Empowerment noch nicht stattgefunden hat – jeder Schritt zählt auf diesem langen Weg. Sie sollte dann die Möglichkeit bekommen, die Übung frei zu kommentieren: Es ist interessant zu hören, welche Schwerpunkte sie wählen wird und welche Aspekte dieser Erfahrung für sie im Vordergrund stehen. Danach kann man in systematischer Art die verschiedenen Inhalte der gelungenen Abgrenzung aufgreifen und die emotionale Entwicklung auf dem Ressourcenstuhl vom verzweifelten Kind zur wütenden oder vielleicht sogar gelassenen Frau nachvollziehen. Je nach Beziehung zum Missbraucher sollte spätestens in der Folgesitzung besprochen werden, was dieser Emanzipationsprozess für die Gestaltung
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
der realen Beziehung bedeutet, insbesondere wenn es sich um ein Familienmitglied handelt. Auch die Beziehung zu Verstorbenen kann noch moduliert werden – Pflichtbesuche am Grab des Vaters sind wahrscheinlich jetzt nicht mehr stimmig. Das gleiche gilt für Heuchelei gegenüber der ahnungslosen Mutter. Diese Verstellung im Alltag, die sehr viel Energie kostet, sollte im Therapiegespräch aufgegriffen werden. Die Patientin wird vom Therapeuten in dieser Hinsicht zu Selbstbestimmung und Authentizität im Alltag ermutigt. Es ist manchmal erschreckend, wie sehr sich missbrauchte Frauen aus Angst, irgendwie als unnormal oder krank wahrgenommen zu werden, in ihren Beziehungen zu anderen Menschen verstellen und was sie alles mit viel Sorgfalt vor dem Umfeld verheimlichen. Hier kann durch die Verbesserung der zwischenmenschlichen Kontakte viel zusätzliche psychische Entlastung erzeugt werden.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Die Stuhlübung mit dem Missbraucher stellt nur einen kleinen Teil einer Traumatherapie dar, wenn eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliegt. Für Personen ohne PTBS kann bereits eine Sitzung mit dieser Struktur große Veränderungen in Gang setzen. Als intensives Erlebnis, oft mit kathartischer Phase, sollte jedoch in jedem Fall die weitere Verarbeitung des Erlebnisses gezielt angeleitet werden. Es ergeben sich mehrere Möglichkeiten: 5 In den nachfolgenden Sitzungen ist es oft wesentlich, im Sinne der kognitiven Verhaltenstherapie zentrale Themen wie Schuld, Scham und Verantwortung für die Ereignisse weiter zu bearbeiten. Eine Zwei-Spalten-Technik oder das gemeinsame Erarbeiten des Protokolls dysfunktionaler Gedanken (s. Beck, 1999, S. 127 ff.) sind empfehlenswert. Auch Grundannahmen wie: »Ich bin schlecht/nicht liebenswert« etc. können jetzt in ihrer Bedeutung erschüttert werden. 5 Es kann auch ausreichen, wenn die Patientin sich in Form von Stichworten oder Kernsätzen ihre wichtigsten Erkenntnisse aus der Übung notiert: »Er muss sich schämen, nicht ich. Er ist an allem schuld. Ich kann mich jetzt von
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ihm befreien. Ich darf jetzt reden. Ich darf leben. Mein Leben ist heute gut.« 5 Die komplexere Aufgabe wäre der Brief an den Missbraucher. Er ist jedoch nur sinnvoll, wenn es sich um eine Vertrauensperson, also ein Familienmitglied oder einen guten Bekannten der Familie, handelt. Der Brief, der keinesfalls abgeschickt werden sollte, kann am besten die gegensätzlichen Gefühle in Bezug auf die Person selbst und diesen meist nicht zu verzeihenden Vertrauensbruch herausarbeiten. Er wird im Einzelgespräch und eventuell auch in der Gruppentherapie vorgelesen, wenn die Stuhlübung im Rahmen der Psychotherapiegruppe stattgefunden hatte. Der Brief kann zu einem späteren Zeitpunkt beispielsweise verbrannt oder im Wasser versenkt werden, wenn er nicht mehr gebraucht wird. 5 An die Stuhlübung mit dem Missbraucher können sich bei fortgeschrittenen Patientinnen die verschiedensten Expositionsübungen in sensu oder in vivo anschließen. Wichtige Lebenssituationen, die bisher vermieden wurden, kann sich die Patientin nach der erfolgreichen Auseinandersetzung mit dem Missbraucher wieder schrittweise annähern, vielleicht in Form einer Imagination wie: »Mein Partner legt den Arm um mich, und ich kann es gut akzeptieren.« Danach findet die reale Durchführung der gewünschten Handlung statt. 5 Wenn die Traumatherapie dem Ende zugeht, kann es sinnvoll sein, ein direktes Gespräch mit dem Missbraucher in Gang zu setzen, wenn dieser Mensch weiterhin Teil des Umfelds der Patientin ist und sie dazu in der Lage ist. Möglicherweise könnte das Gespräch auch im Beisein des Psychotherapeuten stattfinden, wenn es Aussicht auf Erfolg hat. Hier ist es für eine Therapeutin sinnvoll, einen männlichen Kollegen hinzuzuziehen. Diese Gespräche sind aus vielerlei Gründen problematisch und sollten psychotherapeutisch sorgfältig vorbereitet werden; die Details führen hier jedoch zu weit. Keinesfalls darf ein solches Gespräch zu einer Retraumatisierung der Patientin führen – ihr Schutz ist oberstes Gebot während der Begegnung mit dem Täter.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
5 Eine wichtige Form der weiteren Aufarbeitung kann das Gespräch mit dem Partner oder einem wichtigen Familienmitglied, z. B. der Mutter oder der älteren Schwester, darstellen. Wenn der Missbrauch das erste Mal zur Sprache kommen soll, ist die therapeutische Moderation eines solchen Gesprächs indiziert.
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Verwendung der Übung im Gruppenkontext In einer Psychotherapiegruppe können die Mitpatienten als Modellpersonen für die Kritik am Missbraucher und die überzeugende Abgrenzung von ihm dienen: In diesem Fall beginnt die Protagonistin selbst, sitzt in der nächsten Phase jedoch neben dem Therapeuten in der Beobachterposition, während sich drei oder vier Gruppenteilnehmer – auch die Männer – auf den Ressourcenstuhl setzen und dem Missbraucher sagen, was sie von ihm halten. Diese Intervention gibt der Patientin einige zusätzliche Ideen, was sie sagen könnte, und sie wirkt außerdem einigen charakteristischen problematischen Kognitionen des Missbrauchsopfers wie: »Ich bin schlecht«, »Ich bin schuld«, »Ich sollte mich schämen« entgegen. Es hat eine heilende Wirkung, wenn die Betroffene in dieser Phase der Übung die Entrüstung und den Ärger der anderen Gruppenteilnehmer auf den Missbraucher spürt. Um das Gespräch zu lenken, wenn die Mitpatienten sich auf dem Ressourcenstuhl befinden, kann der Therapeut sich kurz auf den Missbraucherstuhl setzen oder sich zumindest danebenstellen und Stichworte geben wie: »Du hast das ja selbst gewollt«, »Du hast dich ja gar nicht gewehrt«, »Du hast das ja schön gefunden« äußern; er sollte sich dann aber wieder auf seinen Beobachterstuhl (Therapeutenstuhl) setzen. Die extrem negativ besetzte Rolle des Täters braucht keiner, auch nicht der Therapeut, für längere Zeit einzunehmen.
Abwandlungen Auch im Einzelgespräch kann der Therapeut bei sehr fortgeschrittenen Patientinnen einmal kurz den Missbraucherstuhl einnehmen und die typischen Einschüchterungen (»Ich tue deiner Mutter etwas an, wenn du etwas erzählst«) und Behauptungen eines Missbrauchers (»Das bist du alles selbst schuld«) in das Gespräch einbringen. Der
Therapeut nimmt dann sofort wieder seinen gewohnten Stuhl ein. Wenn die Patientin im Einzelgespräch trotz Ermutigung bei der Abgrenzung zu ängstlich und zaghaft bleibt, kann der Therapeut sie hinter ihren eigenen Stuhl stellen. Diese stehende Position hilft solchen Patientinnen häufig, sich doch noch von ihrem Opfererleben zu befreien: »Stellen Sie sich vor, dass Sie jetzt in dieser Position deutlich mehr Überblick über die ganze Situation haben. Jetzt sagen Sie Ihrem Vater aus dieser Position heraus mal ganz ehrlich und ungeschminkt, was Sie von ihm halten!« Diese kleine Abwandlung der Ressourcenposition hat sich auch bei den anderen Übungen zur Abgrenzung (7 Kap. 4.4.2, 7 Kap. 4.4.4) bewährt, denn die Patientinnen verbinden mit dieser stehenden Position tatsächlich ein anderes Selbstbild. Im Einzel- oder Gruppengespräch kann der Therapeut sich für die Phase der Abgrenzung neben die Patientin stellen und mit ihr eine Stimmübung machen, damit sie ihre Kraft angesichts des Missbrauchers auf dem leeren Stuhl spüren kann: Ein kurzer, prägnanter Satz wie: »Lass mich in Ruhe«, oder: »Geh weg, du Schwein« wird gemeinsam entwickelt. Dann wiederholen beide, Therapeut und Patientin, diesen Satz rhythmisch und gemeinsam, und bei jeder Wiederholung werden beide lauter, bis sie den Missbraucher regelrecht anschreien. Bei der höchsten Lautstärke noch drei Wiederholungen ausführen, dann unterbrechen. In ein oder zwei weiteren Sequenzen wäre es günstig, wenn der Therapeut sich schrittweise aus der direkten Unterstützung zurückzieht, z. B. in folgender Form: »Ich mache das jetzt noch einmal gemeinsam mit Ihnen, und zwar mit dem zweiten Satz, den wir formuliert haben. Wenn wir bei der höchsten Lautstärke sind, steige ich aus und sage nur leise ‘weiter’. Dann bleiben Sie genau bei dieser Lautstärke – Sie dürfen jetzt auf keinen Fall leiser werden – und schreien Ihren Satz noch dreimal ganz alleine dem Missbraucher entgegen. Bitte keinesfalls leiser werden! Ist das in Ordnung?« Die eigene Stimme in dieser Form zu verwenden, zeigt der Patientin, wie viel Kraft sie hat. Frau W. kommentierte die erlebte Lebendigkeit nach der Stimmübung mit: »Jetzt kribbelt mein ganzer Körper.« Die Patientinnen erleben es als sehr anstrengend, aber auch extrem
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
befreiend, wenn sie dieses innere Verbot, sich zu wehren, endlich durchbrechen können. Frau M. traute sich nach sorgfältiger Vorbereitung im Einzelgespräch erstmals mit ihrem Missbrauchsthema in die Gruppe. Nachdem sie erzählt hatte, was ihr widerfahren war, führte sie mithilfe eines leeren Stuhls ein Gespräch mit dem Täter. Diese Auseinandersetzung war zunächst noch sehr zaghaft, sodass es sinnvoll erschien, die Gruppenteilnehmer als Rollenmodelle zu aktivieren. Während nun Frau M. auf dem Beobachterstuhl saß, nahmen mehrere Personen ihren Platz gegenüber dem leeren Stuhl ein und standen Modell für eine mutige und energievolle Abgrenzung von ihrem Peiniger. Die Mitspieler bekamen von der Therapeutin Stichwörter aus der Missbraucherperspektive wie: »Du hast das ja gewollt, du bist selbst schuld.« Die Klientin war sehr bewegt. Ihr eigenes abschließendes Gespräch mit dem Missbraucher fiel jetzt wesentlich klarer und energischer aus – man spürte, dass sie jetzt viel stärker die innere Berechtigung wahrnahm, den Mann mit seinen Taten direkt zu konfrontieren und dadurch aus der Opferrolle des Kindes, das sie einmal war, auszusteigen.
4.4.2
Loslösungen: Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson
In den beiden Stuhldialogen, die sehr ähnlich ablaufen und daher in diesem Abschnitt gemeinsam dargestellt werden, kann der Klient einen großen Bogen schlagen von der starken Belastung durch psychische Verletzungen im interpersonellen Kontext zu einer gelassenen und psychologisch adäquat abgegrenzten inneren Haltung gegenüber der anderen Person, die in der Übung als Gesprächspartner imaginiert wird. Beide Übungen führen zu einer Klärung von Beziehungen. Zur Unterscheidung der Übungsstrukturen und weil es meistens den Therapieinhalten angemessen erscheint, wurde die Übung mit drei Stühlen Abschied von den Eltern genannt: Es ist ein innerer, psychologischer Abschied gemeint, und es handelt sich natürlich nicht immer um Eltern, aber diese wurden stellvertre-
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tend für wichtige Personen aus der Vergangenheit des Klienten ausgewählt. Die Übung Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson findet mit nur zwei Übungsstühlen statt und ist breit anwendbar auf frühere und aktuelle wichtige Personen im Leben des Klienten. Eine Regression in kindliche Erlebnisweisen mag auch bei der Klärungsübung auftreten, wird aber nicht eigens durch einen Kindstuhl gefördert, wie das bei der Abschiedsübung der Fall ist. In diesen beiden Stuhlübungen geht es oft um »große Gefühle«. Als Zielgruppe beziehen sich die beiden hier kombinierten Übungen nicht auf klinisch traumatisierte Menschen (7 Kap. 4.4.1), sondern auf Personen mit belastenden emotionalen Verletzungen aus einer früheren Zeit oder aus gegenwärtigen Konflikten. Es können also in diesen beiden Übungsstrukturen sowohl Probleme aus Kindheit und Jugend bzw. der Vergangenheit allgemein (Abschied, Klärung) als auch aktuelle Konfliktsituationen (Klärung) bearbeitet werden. Im Gegensatz zu den Übungen Gespräch mit einer verstorbenen Person (7 Kap. 4.4.3, 7 Kap. 4.4.4) handelt es sich bei Abschied und Klärung um lebende oder verstorbene Bezugspersonen, mit denen vor allem ein subjektiver, psychologischer Abschied gestaltet werden muss. Die Tatsache des Verstorbenseins, dieser äußerst objektive Abschied von einem Menschen, steht nicht im Vordergrund. Die spirituelle Dimension wird in den Übungen zum Abschied und zur Klärung nicht angesprochen. Die Übungen mit ausschließlichem Bezug auf Verstorbene beziehen sich im Gegensatz dazu explizit auf die Tatsache des Abschieds durch Tod und beinhalten möglichst auch eine Therapiesequenz zu den existenziellen und spirituellen Vorstellungen des Klienten in Bezug auf Sterben, Tod, Leben als Lernerfahrung und mögliche Wiederkehr. Es handelt sich also bei diesen Übungen um die Gestaltung des objektiven, todesbedingten und gleichzeitig des subjektiven, psychologischen Abschieds. Die zwei Varianten der Übung, Abschied und Klärung, werden in diesem Abschnitt gemeinsam dargestellt, um Wiederholungen zu vermeiden. Die Buchstabenbezeichnung der Abbildungen 4.7a bis 4.7f folgt in diesem Abschnitt dabei der Logik des Verlaufs bei der Hauptübung zum Abschied von den
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.7 Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson. a Abschiedsübung: Der Klient sitzt auf dem Kindstuhl und erklärt, wie er seine Kindheit mit dem Menschen auf dem leeren Stuhl erlebt hat. b Abschiedsübung (Option): Der Klient steht in der intuitiven Position hinter dem Stuhl der früheren Bezugsperson und äußert sich zu deren Gedanken und Motiven. Die intuitive Position ist analog auch bei der Klärungsübung möglich. c Abschiedsübung: Der Klient nimmt auf dem Erwachsenenstuhl Platz und setzt sich mit der Bezugsperson auseinander. d Abschiedsübung: Eine Version mit vier Stühlen, wenn beide Eltern quasi als Einheit erlebt wurden und der Klient sich beide vorstellen möchte. e Klärungsübung: Die wichtige Variante der Übung mit nur einem Übungsstuhl für den Klienten. f Abschiedsübung: Der Klient dreht seinen Erwachsenenstuhl zum Stuhl des verletzten (inneren) Kindes und spricht fürsorglich mit ihm
Eltern. Kurze Beschreibung der beiden Übungsvarianten: 5 Variante 1: Bei der Übung Abschied von den Eltern kommen insgesamt drei Übungsstühle zum Einsatz: ein Kindstuhl und ein Erwachsenenstuhl für den Klienten sowie ein Stuhl für den Vater oder die Mutter (. Abb. 4.7a–c). Natürlich kann es sich bei dieser Intervention auch um eine andere Bezugsperson aus der Jugend handeln, nicht nur um einen Elternteil. Die Übung zum Abschied setzt jedoch voraus, dass das Verhältnis zu der Person aus der Vergangenheit durch ein Machtdifferenzial gekennzeichnet war, dass der Klient sich also in der schwächeren, abhängigen Rolle befand. Nur dann ergibt überhaupt der Kindstuhl beim Abschied Sinn und lässt sich besser vom Erwachsenenstuhl trennen. Auf dem Kindstuhl könnte man auch Jugendliche (bis etwa 18 Jahre) imaginieren. Es geht hier immer um einen rein psychologischen Abschied. Was dieser innere Prozess dann im Leben des Klienten
für den realen Kontakt mit der Bezugsperson bedeutet, liegt auf einer anderen Ebene. Es kann sein, dass der innere, psychologische Abschied von seinen Eltern dem Klienten hilft, kindliche Erwartungen an diese Menschen zu überwinden und dadurch letztlich sogar eine entspanntere und positivere Umgangsform im realen Kontakt mit den Eltern zu finden. Es geht also nicht darum, Kontaktabbrüche zu fördern. 5 Variante 2: Die Klärung mit einem wichtigen Menschen aus dem Umfeld des Klienten erfordert zwei Übungsstühle: einen für den Klienten und einen für die Person, mit der etwas geklärt werden soll (. Abb. 4.7e). In dieser Struktur können auch Bezugspersonen aus der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit, z. B. ein früherer Ehemann, auf dem leeren Stuhl imaginiert werden. Aus diesem Grund ist die Klärungsübung viel breiter anwendbar als die Abschiedsübung. Auch bei der Klärungsübung ist oft ein gewisser zeitlicher
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
Abstand zum Problem vorhanden, aber ein Machtdifferenzial liegt nicht immer vor – es kann sich hier auch einfach um massive, ungelöste Konflikte mit einer gleichberechtigten Person handeln. Manchmal wird man die Klärungsübung demnach auch für ganz aktuelle Konfliktlösungen einsetzen, es besteht in diesen Fällen also gar kein zeitlicher Abstand zur Problemsituation. Die Klärungsübung kann definitiv auch zur Abgrenzung von den Eltern oder von frühen Bezugspersonen verwendet werden, wenn der Therapeut keine starke Regression in die Kindheit oder Jugend beim Klienten erzielen möchte, sondern nur die erwachsene Auseinandersetzung als Schwerpunkt anstrebt. Dies wird wahrscheinlich sogar in vielen Therapieverläufen als angemessen empfunden. Die Therapieprozesse bei der Abschieds- und Klärungsübung sind letztlich hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der anderen Person sehr ähnlich. Da die Abschiedsübung jedoch durch die beiden Stühle für den Klienten (Kindstuhl, Erwachsenenstuhl) im Ablauf deutlich komplexer ist und Zusatzoptionen bietet, bezieht sich der Haupttext in diesem Abschnitt auf diese Variante der Übung, während die Klärung mit nur einem Klientenstuhl im Abschnitt zur Abwandlung der Hauptübung dargestellt wird. Das gesamte 7 Kap. 4.4.2 stellt jedoch inhaltlich eine Einheit dar – nur den Abwandlungsteil zu lesen, ist nicht ausreichend, um die Übung zur Klärung kompetent durchführen zu können. Das Fallbeispiel bezieht sich auf eine sehr emotionale und erfolgreiche Klärungsübung einer über 60-jährigen Klientin mit ihrer verstorbenen Mutter über drei Sitzungen hinweg.
Zielgruppe Ganz allgemein erfordert die gelungene Abgrenzung von einem Menschen, zu dem eine problematische Beziehung bestand oder besteht, im Normalfall auch die räumliche Trennung von dieser Person. Dies bedeutet, dass die Übung für Klienten, die im selben Haushalt wie die problematische Bezugsperson leben, wahrscheinlich sehr schwierig sein wird. Beispielsweise bestünde im Fall einer pflegenden Angehörigen, die mit der hilfsbedürftigen Mutter
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in der gleichen Wohnung lebt, die nötige Abgrenzung in rein kognitiv-emotionalen Prozessen, die aber nicht zu der Option der räumlichen Autonomie führen könnten. Die Durchführung der Übung muss in diesem Fall sorgfältig gegen die psychologischen Risiken abgewogen werden, denn das starke Bedürfnis nach Abgrenzung von der Mutter kann die Klientin letztlich sehr unter Druck setzen, da ihre äußere Situation zunächst keine größere Veränderung erlaubt. Anders ist es bei Personen, die in einer abgeschlossenen Wohnung im selben Haus mit der problematischen Bezugsperson leben, denn sie können sich auf jeden Fall abgrenzen, da auch eine räumliche Rückzugsmöglichkeit besteht. Ab dem Alter von 20 bis 25 Jahren ist es entwicklungspsychologisch angemessen, die gesunde Abgrenzung von den Eltern in der Therapie zu fördern. In Ausnahmefällen, wenn z. B. Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch im Spiel sind, muss dieser Prozess bereits in jüngeren Jahren vollzogen werden. Nach oben hin sind bezüglich der Zielgruppe keine Altersgrenzen gesetzt. Es ist erstaunlich, dass in der Psychotherapie besonders oft Personen im Alter von etwa 50 Jahren diese klärende Übung durchführen wollen und dann auch sehr davon profitieren. Vielleicht handelt es sich um eine entwicklungspsychologische Stufe, auf der eine Person zur Aufarbeitung von Themen aus ihrer Ursprungsfamilie besonders offen ist. Die psychische Lage des Klienten sollte tiefe Emotionen, auch tiefen Schmerz und das Fühlen alter Verletzungen, erlauben, ohne zur vollständigen Dekompensation zu führen. Mit anderen Worten: Die Übung kann psychisch belastend sein. Traurigkeit, Nachdenklichkeit oder Wut können zu einer temporären, aber konstruktiven Destabilisierung führen. Der Klient wird nach der Übung dazu angeleitet, mit sich selbst sehr sensibel und fürsorglich umzugehen und vor allem, sich Zeit für die Integration der Erlebnisse aus der Übung zu geben. Diese Aufforderung ist insbesondere für den ambulanten Kontext sinnvoll: Eine kurze Auszeit, mindestens 30 Minuten, vom hektischen Alltag wäre auch für die ambulanten Klienten ideal und könnte vom Therapeuten vorgeschlagen werden.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Therapeutische Zielsetzung z
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sogar bei einigen Personen zwei oder drei Therapiesitzungen in Anspruch nehmen.
Abschiedsübung
Bei Erwachsenen ist die Beziehung zu problematischen Bezugspersonen aus der Vergangenheit meist ambivalent: Kindliche Aspekte der Persönlichkeit, hervorgerufen durch die ständige Erinnerung an Demütigungen, Gewalt o. Ä., vermischen sich im aktuellen Kontakt mit erwachsenem Distanzierungsbemühen und mit Rationalisierungen wie: »Mein Vater wurde ja selbst von seinem Vater geschlagen.« Um emotionale Entlastung von den seelisch erschütternden Erlebnissen aus der Jugend zu erfahren, müssen bei dieser Intervention die kindlichen von den rationalen, erwachsenen Anteilen sauber getrennt werden – erst dann ist die gezielte Bearbeitung der vergangenen Erlebnisse und deren Folgen möglich. Dieser Stuhldialog mit der Struktur des Abschieds hat daher eine zweifache Zielsetzung. Zum einen gestattet der Therapeut dem Klienten zunächst auf dem Kindstuhl, die alten Gefühle in Relation zu einer Person aus der Vergangenheit noch einmal ungefiltert und direkt zu erleben. Da die Indikation für die Übung eine aus der Vergangenheit stammende Belastung ist, geraten die meisten Klienten fast zwangsläufig in eine emotionale Lage, wie sie ihnen aus der Jugend bekannt ist, sobald sie den Kindstuhl einnehmen. Dies geschieht oft sogar allein durch den Positionswechsel auf den Kindstuhl, noch bevor der Therapeut dazu kommt, die einführenden Fragen zu stellen. Auch Männern kommen hier gelegentlich die Tränen. Allein diese Erlaubnis, quasi den kindlichen Anteil der Persönlichkeit aufzurufen – wir haben ihn alle – und die früheren Verletzungen im Beisein eines mitfühlenden Zeugen zu erleben, ist Teil des Heilungsprozesses. Kommentar von einzelnen Klienten in der Nachbesprechung: »Ich war dieses Mal nicht allein mit meiner Verzweiflung.« Zum anderen soll der Wechsel auf den Erwachsenenstuhl dem Klienten ermöglichen, eine reifere, ausgewogenere Sichtweise seiner Vergangenheit zu entwickeln und, wenn möglich, die Verletzungen dieser Zeit zu überwinden. Da dieser Therapieprozess oft sehr tief geht, kann oder sollte die Übung
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Abschiedsübung und Klärungsübung
Auch bei der Klärung wird oft mit früheren Bezugspersonen gearbeitet. Die Befreiung aus der negativen Verstrickung mit einer solchen Person muss oft über die Lösung von kindlich geprägten Erwartungen an diesen Menschen geschehen. Der erwachsene Klient hat häufig – mehr oder weniger explizit – nämlich immer noch die große Hoffnung, dass der Vater ihn endlich anerkennen oder die Mutter ihm endlich liebevoll begegnen wird. Solche Erwartungen binden jedoch den Klienten an die Bezugsperson und eine innere Autonomie kann nicht entwickelt werden. Es gilt, dies auf dem Erwachsenenstuhl oder auf dem Klärungsstuhl zunächst klar zu formulieren: Der Klient soll sich in einem ersten Schritt seiner Hoffnungen auf Heilung durch die Bezugsperson klar bewusst werden. Da es sich aber um den Erwachsenenstuhl (bei der Abschiedsübung) oder um nur einen Stuhl (bei der Klärungsübung) handelt, greift der Therapeut an dieser Stelle ein und erfragt, ob denn dieser Vater oder diese Mutter heute tatsächlich dazu bereit wäre, den erwachsenen Klienten rückhaltlos anzuerkennen oder zu lieben. Diese Realitätsüberprüfung fordert den Klienten auf, seine aus der Kindheit stammenden Hoffnungen an die Realität anzugleichen. Meistens muss der Klient seine Wünsche und Hoffnungen an die Bezugsperson aufgeben, um sich wirklich befreien zu können. z
Abschiedsübung
Aus der inneren Distanzierung von der früheren Bezugsperson entsteht dann die Möglichkeit für den erwachsenen Anteil der Person, sich beim Abschied dem imaginierten Kind auf dem Kindstuhl zuzuwenden; die Heilung des kindlich-bedürftigen Anteils erfolgt dann über die Fürsorge des Erwachsenen für das eigene innere Kind. Diese letzte Sequenz findet bei der Klärung nicht statt. z
Klärungsübung
Die Übung zur Klärung mit einer Bezugsperson ruft zwar nicht explizit das innere Kind auf einem separaten Stuhl auf, erzeugt aber oft ebenfalls eine
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
gewisse emotionale Regression, bevor die erwachsene Auseinandersetzung stattfinden kann. Da der Klient nur einen Stuhl verwendet, ist die Übungsstruktur der Klärung in sich weniger regressionsfördernd und legt den Schwerpunkt auf die erwachsene Auseinandersetzung und vor allem das Aufgeben der Hoffnung auf bedingungslose Zuwendung und Anerkennung von den Eltern oder anderen wichtigen Personen. Die Klärung ermöglicht auch Auseinandersetzungen mit Personen im aktuellen Umfeld des Klienten und mit gleichberechtigten Personen wie (ehemaligen) Partnern und Freunden. Der Zielpunkt für die Beendigung ist je nach Thematik sehr unterschiedlich, wird aber immer eine größere innere Ruhe und möglicherweise eine ausgewogenere Beurteilung des anderen Menschen beim Klienten beinhalten.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Diese beiden Übungen sind für psychisch labile Personen und Personen mit einer Psychose nicht geeignet, da sie oft zu intensiven Gefühlen führen, die eine Dekompensation auslösen könnten. Ob stark sedierte Patienten in der Lage sind, die Gefühle auf den beiden Stühlen aufzurufen, muss für den Einzelfall eingeschätzt werden. Für schwer depressive Menschen ist die Übung wahrscheinlich zu belastend.
Dauer der Übungen Beide Übungen können in ein bis zwei Sitzungen abgeschlossen werden oder in Form von Wiederholungen der gesamten Übung zwei bis drei Sitzungen in Anspruch nehmen.
Stuhlpositionen Für die Abschiedsübung (. Abb. 4.7) werden drei Übungsstühle benötigt, von denen zwei Stühle, nebeneinander positioniert, dem dritten gegenüberstehen. Der Klient nimmt im Verlauf den Kindstuhl und den Erwachsenenstuhl ein (. Abb. 4.7a, c). Manchmal wird zusätzlich gleich nach dem Kindstuhl eine intuitive Position benötigt (. Abb. 4.7b). Selten wird man vier Stühle wählen, wenn die Klärung z. B. mit beiden Eltern gleichzeitig geschehen soll (. Abb. 4.7d), weil der Klient in seiner Jugend diese beiden Personen wie eine einheitliche Front erlebt hat und Unterschei-
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dungen nach Vater und Mutter nicht notwendig erscheinen. Der Übungsverlauf ist mit vier Stühlen identisch, nur würde der Klient in diesem Fall während der Dialoge von »Euch« sprechen, da er sich auf den beiden Stühlen, zu denen er spricht, auch zwei Personen vorstellt. Für die Klärungsübung mit einer Bezugsperson reichen zwei Stühle aus – es gibt keinen separaten Kindstuhl (. Abb. 4.7e). Auch bei der Klärungsübung kann die intuitive Position hinter dem Stuhl der Bezugsperson eingenommen werden (analog zu . Abb. 4.7b). Bei der Abschiedsübung kann in einer optionalen Position (. Abb. 4.7f) noch eine Sequenz zur Fürsorge für das innere Kind Eingang in die Übung finden.
Detaillierte Beschreibung der Übung Abschied von den Eltern mit drei Übungsstühlen z
Einführung
Bei der folgenden Beschreibung wird bei dem Begriff »Klient« nur die weibliche Form verwendet, weil Männer diese Übung seltener benötigen als Frauen. Zunächst entwickeln der Therapeut und die Klientin gemeinsam die besten Benennungen für die beiden Übungsstühle (. Abb. 4.7a). Oft handelt es sich einfach um einen Kindstuhl oder Jugendstuhl und einen Erwachsenenstuhl. Es ist grundsätzlich günstig, in der Benennung das Machtdifferenzial zwischen der Klientin und der Bezugsperson von früher deutlich zu machen, da dies die imaginativ erzeugte Realität der beiden Stühle unterstützt. In der Einführung gibt der Therapeut der Klientin explizit die Erlaubnis, die Gefühle der Kindheit – im allgemeinen im Alter von unter 10 Jahren – oder in der Jugend wiederzuerleben: »Frau K., wenn Sie sich gleich auf den Kindstuhl setzen, dann stellen Sie sich vor, Sie sind wieder etwa acht Jahre alt. Erlauben Sie sich, dass die Gefühle und Gedanken von früher wieder auftauchen dürfen – wie es halt damals war, die Tochter Ihrer Mutter zu sein. Gleichzeitig haben Sie aber auf diesem Stuhl auch alle Einsichten der erwachsenen Frau, die Sie heute sind, zur Verfügung. Erlauben Sie sich, ganz offen und ehrlich der Mutter zu sagen, wie Sie Ihr Leben
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
damals empfunden haben. Ich helfe Ihnen durch ein paar Fragen, das alles wieder aufzurufen. Jetzt können Sie sich auf diesen ersten Stuhl setzen. Ich werde Sie auf dem Kindstuhl duzen; wurden Sie als Kind Elisabeth genannt, oder hatten Sie einen Spitznamen?« Es hat sich bewährt, dass sich die Klientin vorstellt, die problematische Person auf dem anderen Stuhl wäre ruhig und aufnahmebereit. Denn wenn die Klientin sich die vielfältigen Gesprächsreaktionen dieser schwierigen Mutter auch noch vorstellen würde, dann bestünde die Gefahr, dass die Übung zu einem eher oberflächlichen imaginierten Rollenspiel wird, bei dem die Klientin versucht, wie auch schon zu früheren Zeiten, der Mutter im Gespräch etwas entgegenzusetzen. Darum geht es aber in dieser Übung nicht. Die Vorstellung, dass die Mutter nun ruhig zuhören kann, was wahrscheinlich real nie der Fall war, unterstützt die Klientin darin, nach innen zu schauen und die Verletztheit des Kindes wieder zu spüren. Es geht darum, dass die Klientin sich auf ihren inneren Prozess konzentrieren kann und sich selbst besser verstehen lernt (zu den Intentionen von Fritz Perls vgl. Staemmler, 1995, S. 93). Allerdings gibt es ab und zu Klientinnen, die spontan die Äußerungen der Mutter in die Übung hineinbringen und immer wieder sagen: »Ich höre jetzt …« Da dies nicht expliziter Teil der Anweisung war und ihr sogar zuwiderläuft, handelt es sich offensichtlich um einen wichtigen inneren Prozess der Dialogisierung der Übung und sollte daher respektiert werden – die Klientin gestaltet in diesem Fall ihre Erfahrung aktiv. Dies tritt jedoch selten auf. Es fällt vielen Klientinnen sehr schwer, problematische Inhalte dann angesichts der imaginierten Mutter oder des imaginierten Vaters auf dem leeren Stuhl auch kraftvoll auszudrücken, weil sie hier bereits eine wichtige Familienregel übertreten: Das Kind konnte der Mutter nie sagen, wie es sich fühlte und was alles falsch lief. Hilfestellung des Therapeuten: »Frau K., stellen Sie sich vor, Ihre Mutter sitzt auf diesem anderen Stuhl, in etwa so, wie sie damals aussah. Ihre Mutter ist aber heute in einem ruhigen, gelassenen Zustand – sie ist jetzt bereit, Ihnen einfach zuzuhören und nicht darauf zu reagieren, was Sie sagen. Sie ist einfach da, aufmerksam und offen.« Wenn die Klientin protes-
tiert, das sei zu unrealistisch, da die Mutter sich so nie verhalten könnte, dann kann der Therapeut noch erklären, dass es zunächst einmal nicht um den Austausch mit der schwierigen Mutter im Sinne eines Rollenspiels geht, sondern darum, in sich selbst hineinzuhören und innere Belastungen von früher aufzurufen und zu lösen. z
Erste Therapiesequenz
Wenn die Klientin auf dem Kindstuhl (. Abb. 4.7a) sitzt und unter 16 Jahre alt, eher noch unter 10 Jahre alt ist, helfen einführende Fragen, diese imaginierte Realität erlebbar zu machen: 5 »Wie siehst du aus? Wie sind deine Haare, und welche Kleidung trägst du gerne?« 5 »Wie ist es in der Schule? Und welche Hobbys hast du? Hast du eine beste Freundin oder einen besten Freund? Wie heißt sie oder er? Was macht ihr gemeinsam?« 5 »Jetzt beschreibe bitte noch deine Mutter. Wie groß ist sie ungefähr? Wie sind die Haare? Brille? Gewicht und Kleidungsstil?« Als Nächstes beginnt die Aussprache, die das Kind in der Realität nie hätte wagen können: 5 »Jetzt darfst du mal deiner Mutter sagen, wie schwer es ist, bei ihr Kind zu sein. Was fehlt dir? Wie geht sie mit dir um?« Eine längere Therapiesequenz folgt hier, am besten im Präsens formuliert. 5 Die Frage nach den Gefühlen muss immer wieder gestellt werden, wenn diese Gefühle nicht spontan geäußert werden: »Wie fühlt sich das alles an?« Hier sollte man der Klientin Zeit geben, die Gefühle zu spüren und eindeutig zu benennen. Nur notfalls wird noch ausdrücklich Erlaubnis auch für die schwierigen Gefühle gegeben, da diese Intervention suggestiven Charakter besitzt: »Erlebst du Momente, wo du sie auch hasst? Wie wütend bist du, wie traurig, wie verzweifelt? Ist denn jemand für dich da, der dich trösten kann?« Ein paar wichtige Ereignisse aus der Vergangenheit und die dazugehörenden Reaktionsweisen der Mutter wird die Klientin wahrscheinlich spontan berichten. Oft fließen hier insbesondere bei Frauen viele Tränen, während die Männer im Ausdruck
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
ihrer Gefühle eher zurückhaltend sind; sie erleben aber innerlich natürlich genauso viel wie Frauen. Themen wie Missachtung, emotionaler Missbrauch durch Erpressung, durch Einflößen von Schuldgefühlen und durch Demütigung oder sogar Themen wie massive Ablehnung, Vernachlässigung und Gewalt kommen zur Sprache. Da die Klientinnen und Klienten es meist erstmalig wagen, dies im quasi direkten Kontakt mit der Mutter oder dem Vater auszudrücken, entwickeln sich sehr emotionale Momente. Diese Gefühle auf dem Kindstuhl brauchen Zeit – der Therapeut wird also Pausen einlegen, einfühlsam reflektieren, wie schwierig und traurig das alles war, und so zum mitfühlenden Zeugen dieser Auseinandersetzung werden. Manchmal kann es sinnvoll sein, sich kurz neben eine schluchzende Klientin zu setzen und einfach eine tröstende Hand auf ihren Arm zu legen. Natürlich erlebt nicht jede Klientin so kathartische Momente mit intensiven Gefühlen, und daran sollte der Erfolg der Übung keinesfalls gemessen werden – es gibt Menschen, die diese Übung in emotional sehr verhaltener Form durchlaufen und trotzdem großen Nutzen daraus ziehen. Erfahrungsgemäß löst die Kindsituation aber immer etwas aus, was therapeutisch weiterführt und den Erwachsenenstuhl ganz anders erscheinen lässt. Abschluss dieser Sequenz auf dem Kindstuhl: »Liebe Lissy, was möchtest du deiner Mutter denn noch sagen? Gibt es noch etwas Wichtiges, was du ihr jetzt mitteilen möchtest, bevor wir dieses Gespräch für heute beenden?« z
Option: Unterbrechung der Übung hier
In fast allen Fällen ist nach den Erlebnissen auf dem Kindstuhl eine Unterbrechung der Übung durch den Wechsel auf den gewohnten Therapiestuhl (Klientenstuhl) nötig und sinnvoll. Die Klientin erholt sich von den intensiven Gefühlen des Kindes, das sie gerade intensiv gespürt hat, und kann das Geschehene kurz reflektieren, wenn sie möchte. Dies sollte jedoch nicht allzu ausführlich geschehen und die Nachbesprechung vorwegnehmen. Wenn der Kindstuhl extrem emotional war und zu einem starken Gefühlsausbruch geführt hat, ist es aus zwei Gründen sinnvoll, die erwachsene Position erst in der nächsten Therapiesitzung anzubahnen: Zum einen könnte die Klientin auch nach der
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kurzen Erholungspause noch so beeindruckt von ihrem Kinderlebnis sein, dass sie gar nicht innerlich auf die erwachsene Perspektive wechseln kann, und zum anderen stellt es auch einen Schutz vor Überforderung mancher Klientinnen dar, zwei Sitzungen zu investieren. Außerdem gibt es immer wieder ein Zeitargument für die Vertagung der erwachsenen Position, wenn die Exploration des Kindstuhls den Großteil der ersten Sitzung in Anspruch genommen hat. Der Schwerpunkt der Intervention muss ja der Erwachsenenstuhl sein, für den daher auch genügend Zeit eingeplant werden sollte. Wenn es jedoch möglich und zumutbar ist, sollte der Übergang auf den Erwachsenenstuhl noch in der gleichen Therapiesitzung vollzogen werden, damit die Klientinnen vom Empowerment des erwachsenen Umgangs mit der problematischen Person profitieren können. z
Option: Beantwortung der Warum-Frage in der intuitiven Position
Durch die starken negativen Emotionen auf dem Kindstuhl entsteht in der Reflexion des Erwachsenen, die ja auch auf dem Kindstuhl internal auch weiterhin stattfindet, oft gleichzeitig Ärger – die Frage, warum dieser Elternteil so verletzend gehandelt hat, drängt sich vielen Klientinnen und Klienten auf. Eine eher intellektuell-rationalisierende Erörterung dieser Frage im Sinne von »Meine Mutter wurde von ihrer eigenen Mutter auch schlecht behandelt« sollte nicht während der Intervention, sondern am besten nur in der Nachbesprechung stattfinden. Es bietet sich aber für flexible, intuitiv begabte Klientinnen an, nach der Sequenz auf dem Kindstuhl in der intuitiven Position hinter dem Stuhl des imaginierten Gesprächspartners die Antwort auf die Warum-Frage selbst zu entwickeln (. Abb. 4.7b). Psychotherapeutisch beruht dieser Schritt auf der Annahme, dass der Klient unbewusst genau weiß, warum der Vater oder die Mutter so gehandelt hat – sei es aus Neid und Missgunst, aus Hass auf das zu früh oder zu spät geborene Kind oder aufgrund von Inkompetenz und Überforderung. Die Anleitung für die Klientin zur intuitiven Position bleibt jedoch bei dem Bild, die Mutter in ihrer Individualität und Eigenart spüren zu können. Die Anleitung zu dieser intuitiven Wahrneh-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
mung von eigenen vorbewussten Inhalten ist sehr wichtig und darf ruhig ein wenig wortreich sein: 5 »Frau K., Sie fragen jetzt nach dem ‚Warum’. Ich möchte Sie daher bitten, sich einmal hinter den Stuhl der Mutter zu stellen und auf Ihren Kindstuhl zu schauen.« 5 »Sie brauchen jetzt nicht die Rolle der Mutter einzunehmen, aber ich möchte, dass Sie sich vorstellen, Sie hätten jetzt von dieser Position aus die Möglichkeit, die Mutter intuitiv wahrzunehmen und genau zu wissen, warum sie so gehandelt hat. Spüren Sie da mal hinein, lassen Sie die Antwort aus dem Gefühl heraus entstehen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten aus dieser Position heraus Zugang zu dem, was damals in Ihrer Mutter vorging. Sie können es jetzt genau spüren und formulieren.« 5 »Ich schlage vor, Sie bleiben einige Momente ganz still … vielleicht wollen Sie die Augen schließen und die Hände auf Ihr Herz legen, um nach innen zu horchen. Lassen Sie die Antwort der Mutter auf Ihre Warum-Frage tief innen entstehen. Sie werden diese Antwort ganz plötzlich kennen, Sie werden ganz plötzlich wissen, warum Ihre Mutter sich so verhalten hat.« Wenn man diese Position einige Male mit Klienten erlebt hat und vielleicht auch in der eigenen Selbsterfahrung verschiedene Ebenen des eigenen Bewusstseins kennenlernen konnte, dann ist es nicht schwierig, die intellektuell erdachten Äußerungen der Klientin von den wirklich intuitiv ermittelten zu trennen. Wenn die Klientin eine rationale Begründung gibt, wird diese natürlich auch vom Therapeuten validiert, und er fordert sie anschließend auf: »Hören Sie nochmals tief in sich hinein und lassen Sie die Antwort der Mutter selbst aufsteigen. Stellen Sie sich vor, die Mutter kann jetzt zugeben, warum sie so gehandelt hat.« Das Fallbeispiel zu dieser Stuhlübung (s. unten unter »Option: Beendigung der Übung hier«) demonstriert einige wirklich intuitive Aussagen der Klientin zur Warum-Frage, die ihr aus intellektueller Überlegung heraus nicht bekannt waren. Das Erstaunen der Klientinnen über ihre intuitive Beantwortung der Frage nach den Gründen stellt einen wesentlichen Hinweis darauf dar, dass es sich nicht um ein Pro-
dukt des rationalen Nachdenkens handelt. Auch die Bemerkung, die Antwort sei »ganz plötzlich da gewesen«, ist ein Anhaltspunkt für die Arbeit des Unbewussten (vgl. Revenstorf & Peter, 2001). z
Zweite Therapiesequenz
Für diese Sequenz des Abschieds wird die Klientin ermutigt, auf dem anderen Stuhl nun ausschließlich aus der Perspektive der erwachsenen Frau zur Bezugsperson aus der Vergangenheit zu sprechen (. Abb. 4.7c). Es gibt hier die verschiedensten Möglichkeiten, therapeutische Hilfestellung zu geben, je nach Problemstellung und Situation – die Bezugsperson könnte ja bereits verstorben sein, sodass direkter Kontakt gar nicht mehr stattfinden wird. Einige Fragemöglichkeiten in Bezug auf eine noch lebende Gesprächspartnerin, beginnend mit einer ganz offenen Frage: 5 »Frau K., wie möchten Sie von nun an als Erwachsene mit Ihrer Mutter umgehen?« 5 »Welche Veränderungen möchten Sie im Kontakt mit der Mutter vornehmen? Wie viele Besuche und Telefonate soll es wöchentlich geben? Wie soll der Gesprächsstil zwischen Ihnen künftig sein?« 5 »Möchten Sie Ihrer Mutter ehrlich von dem berichten, was Sie heute erlebt haben? (Klientin: »Ja.«) Was erwarten Sie von einem solch offenen Gespräch?« Hier könnte eine unrealistische Hoffnung auf Verständnis und Zuwendung der Mutter geäußert werden, auf die der Therapeut in einer kurzen Gesprächssequenz im Sinne einer Realitätsüberprüfung eingehen sollte. »Als Kind haben Sie von der Mutter nicht genügend Zuwendung bekommen – Sie sind aber jetzt erwachsen. Wird die Mutter das noch aufholen können, was sie damals versäumt hat? Könnten Sie denn jetzt wirklich von ihr noch annehmen, was Sie damals vermisst haben? Würde das jetzt noch viel bewirken? (Klientin: »Nein, das wäre gar nicht realistisch.«) Wie gehen Sie damit um, dass Ihre Mutter, obwohl sie ja noch da ist, Ihnen nie geben wird, was Sie sich gewünscht hätten und bis vor Kurzem noch gewünscht haben?« 5 Meistens wird es darum gehen, sich durch Aufgeben der Hoffnungen auf Zuwendung aus der zu engen Beziehung zur Mutter oder zum
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
Vater zu befreien. Die einzige Lösung ist hier die volle Akzeptanz dieser emotionalen Situation, auch wenn das für einige Klientinnen recht schmerzlich ist. Therapeut: »Könnten Sie Ihre Wünsche an die Mutter aufgeben? Es wird Ihnen zu einer inneren Freiheit verhelfen, nichts mehr von ihr zu erwarten und einfach mit viel innerer Offenheit zu schauen, was bei jedem Treffen passiert. Wer nichts erwartet, wird weniger oder vielleicht gar nicht mehr verletzt.« Diese Therapiesequenz endet, wenn die Klienten eine klare Form des erwachsenen Umgangs entwickelt haben, bei dem sie sich selbst in den Mittelpunkt stellen, sich vor weiterer Verletzung schützen können und in authentischer Weise genau das tun, was sie im Kontakt mit der Bezugsperson wirklich tun möchten. Sie geben dabei die Anpassung an die Bezugsperson durch exzessive Selbstaufopferung und Schuldgefühle (»Ich muss jeden Tag hingehen, sonst ist sie traurig«) auf. Gefühle wie Hass und Abneigung werden auf dieser Position häufig wichtige emotionale Zwischenschritte zu einem ausgewogenen Umgang mit der Bezugsperson sein. In der Psychotherapie kann es passieren, dass die erwachsene Position auch am intendierten Ende der Übung noch von negativen Gefühlen wie Verachtung geprägt ist. Letztlich haben die Klienten in diesem Fall nur eine Teilstrecke des Wegs zur vollen Abgrenzung zurückgelegt. Die Entwicklung von gelassener Distanzierung, echtem Mitgefühl und vielleicht sogar authentischem Verzeihen kann natürlich nicht in zwei oder drei Sitzungen erzwungen werden, obwohl es sich hier um ideale Endpunkte handelt. Der Therapeut muss also diese Übung oftmals abschließen, auch wenn die Gelassenheit gegenüber der Bezugsperson noch nicht vollständig eingetreten ist. Die Entwicklung der oben erwähnten positiven Gefühlsqualitäten stellt im Allgemeinen einen längeren Veränderungsprozess dar. Bei manchen Klientinnen – seltener bei Männern – besteht die Gefahr, dass sie zu schnell zum Verzeihen überwechseln, weil sie diese Lösung als sehr wünschenswert auffassen. Hier sollte der Therapeut sehr aufmerksam das echte Verzeihen mit innerer Loslösung vom intellektuell-theoretischen
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Verzeihen unterscheiden. Letzteres besitzt nicht die positive Gefühlsqualität der echten Gelassenheit und führt auch nicht zu einer inneren Befreiung von der Bezugsperson. Es muss überdies zwischen den realen Kontakten zur Bezugsperson und dem inneren Empfinden sauber unterschieden werden. Der Therapeut sollte nicht in die Rolle geraten, der Klientin die Fürsorge für ein alterndes Elternteil auszureden, weil die Beziehung schwierig ist. Wenn die alternde Mutter beispielsweise im selben Haus wohnt, wird sie mit der Zeit immer mehr auf die Hilfe der Tochter angewiesen sein. Es handelt sich hier um einen aktiven Generationenvertrag, den die Tochter durch diese Wohnsituation eingegangen ist und den sie nicht einfach auflösen kann. Der Therapeut hält sich mit seinen eigenen Wertvorstellungen aus diesem Aspekt des Lebens seiner Klientin heraus, denn sie muss selbst entscheiden, wie viel Kontakt im realen Leben weiterhin stattfinden soll und muss. Letztlich geht es bei dieser Intervention um die innere Haltung der Klientin ihrer Mutter gegenüber, um immer weniger Verletzbarkeit und im Idealfall um eine distanziert-positive Beziehungsgestaltung zu dieser alten Dame. Ob die Klientin ihre Mutter nun zweimal pro Jahr oder täglich sieht, ist eine andere Frage. z
Option: Beendigung der Übung
In manchen Fällen ist es ausreichend, diese beiden Positionen gemeinsam mit der Klientin exploriert zu haben. Die Übung kann dann beendet und nachbesprochen werden. Im folgenden Fallbeispiel war das explizite Anliegen zu Beginn der Übung die Beantwortung einer Warum-Frage, sodass die drei intuitiv gewonnenen Antworten den natürlichen Abschluss der Übung darstellten. In diesem Beispiel geht es um die Klärung mit der verstorbenen Mutter. Die Patientin Frau Sch., selbst bereits 62 Jahre alt, sehr attraktiv und überdies recht therapieerfahren, möchte klären, warum ihre verstorbene Mutter sie nie geliebt hat. Die Klärungsübung wird nun in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen verwendet. Zwei Stühle stehen sich gegenüber, auf dem leeren Stuhl sitzt imaginiert die Mutter. Zunächst soll die Klientin dem Therapeuten die Mutter beschreiben – ihr Äußeres, ihr
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Alter zur relevanten Zeit in der Jugend und ihre Art der Kommunikation mit der Tochter; sie soll sich die Mutter in gesundem Zustand vorstellen, nicht alt und krank – die Verletzungen in der Kindheit finden meist durch ein kraftvolles Elternteil statt. »Stellen Sie sich bitte vor, dass Sie auf diesem Klärungsstuhl jetzt mit Ihrer Mutter ganz offen und ehrlich reden können. Ihre Mutter ist ruhig, aufnahmebereit und reagiert jetzt nicht in ihrer normalen aggressiven Art und Weise.« Frau Sch. soll sich ganz auf ihren inneren Prozess konzentrieren können. Einstieg: »Jetzt sprechen Sie erst einmal ein wenig mit Ihrer Mutter und erzählen ihr, wie schwierig es war in der Kindheit, was Sie vermisst haben und wie es sich damals angefühlt hat.« Die Patientin erzählt von mehreren Vorfällen, die Ablehnung und Herabsetzung beinhalten. Es fließen viele Tränen, die Verletzungen sind noch deutlich spürbar, obwohl kein Kindstuhl etabliert wurde. Dies passiert während aller drei Sitzungen in vergleichbarer Form zu Beginn der Übung. Eine volle Regression ins Kind-Ich ist jedoch hier nicht beabsichtigt. Wenn der Spannungsbogen dieser Phase zu Ende ist, wird Frau Sch. aufgefordert, sich als die erwachsene Frau der heutigen Zeit mit der Mutter auseinandersetzen. Die Klientin kann nun ihre zentrale Frage an den leeren Stuhl stellen: »Mutter – warum hast du mich eigentlich nie geliebt?« Natürlich wissen wir nicht, ob das objektiv von anderen Personen auch so wahrgenommen worden wäre, aber zumindest handelt es sich um eine eindeutige psychologische Realität der Klientin, eine subjektive psychologische Wahrheit also. Die Antworten auf die Warum-Frage können nur im Unterbewusstsein von Frau Sch. gefunden werden. Deshalb bereitet der Therapeut das intuitive Empfangen der Antworten aus dem Unterbewusstsein vor: »Jetzt schlage ich vor, Sie stellen sich hinter den Stuhl der Mutter. Sie brauchen nicht vollständig in die Rolle der Mutter zu gehen, aber Sie können in dieser Position intuitiv erfassen, was damals in ihr vorging, warum sie Sie in dieser Form abgelehnt hat. Vielleicht bleiben Sie einige Momente ganz still … vielleicht wollen Sie die Augen schließen und die Hände auf Ihr Herz legen, um nach innen zu horchen. Lassen Sie die Antwort der Mutter in Ihrem Inneren entstehen. Sie werden diese Antwort ganz plötzlich kennen.« Diese
suggestive Technik aktiviert das unbewusste oder vorbewusste Wissen der Patientin und ermutigt sie, es ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen. Frau Sch. antwortete sinngemäß aus der Perspektive der Mutter – verteilt auf insgesamt drei Sitzungen mit der gleichen Übungsanordnung: »Ich wollte dich nicht mehr, du kamst so spät und hast mir meine Unabhängigkeit im Leben weggenommen. Außerdem warst du zu schön, zu lebendig und zu lebensfroh. Und warum sollte es dir denn besser gehen als mir?« In der Nachbesprechung war Frau Sch. trotz der negativen Aussagen aus der intuitiven Position sehr erleichtert, endlich klare Worte zu haben für das, was sie schon immer gespürt hatte. Die Klärung bestand in diesem Fall in einem Verstehen und Benennen der negativen Beziehungsaspekte: Ablehnung des Kindes wegen unerwünschter später Schwangerschaft, Neid auf Aussehen und Temperament der Tochter und Missgunst bezüglich ihrer besseren Lebensbedingungen nach dem Krieg. Mehr musste für Frau Sch. in der Übung nicht geschehen, zumal die Mutter bereits lange verstorben war. In einem Gespräch etwa ein Jahr später sprach Frau Sch. die Übung spontan nochmals an und berichtete, dass sich ihr inneres Verhältnis zur Mutter grundlegend geändert und entspannt hatte – die Entlastung war dauerhaft geworden.
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Dritte Therapiesequenz
In anderen Fällen ist es sinnvoll, eine weitere Therapiesequenz anzuregen. In der Struktur mit drei Stühlen, also der Abschiedsübung, kann der Therapeut die Fürsorge der Erwachsenen für das eigene innere Kind anleiten, sobald die Klientin auf dem erwachsenen Stuhl sitzt und die direkte Auseinandersetzung mit der früheren Bezugsperson beendet ist. Die Einführung erfolgt etwa so: 5 »Frau K., Sie haben jetzt eine neue, bessere Abgrenzung von Ihrer Mutter in allen Einzelheiten entworfen und können schon die Entlastung spüren. Nun sitzt hier neben Ihnen auf dem ersten Stuhl aber noch die 8-jährige Lissy, der es vorhin ganz schlecht ging. Das ist Ihr inneres Kind. Sie haben bemerkt, dass die Mutter sich früher nicht gut genug um das Kind sorgen konnte und dass sie auch jetzt
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Ihnen als Erwachsener die Zuwendung und Anerkennung verweigert. Das Kind benötigt aber dringend Zuwendung. Da es sich um Ihr inneres Kind handelt, kann ich das nicht tun – es ist Ihre eigene Aufgabe.« 5 »Ich schlage daher vor, Sie drehen Ihren Stuhl seitlich zum inneren Kind hin (der Therapeut dreht auch den Stuhl des Kindes in Richtung zum Erwachsenenstuhl, . Abb. 4.7f), um mit der kleinen Lissy zu sprechen.« 5 »Wie möchten Sie für die kleine Lissy sorgen?« Diese Frage hat den suggestiven Aspekt, dass auf jeden Fall für das innere Kind gesorgt wird und dass nur noch entschieden werden muss, wie dies geschehen soll. Der Therapeut wartet nun ab, was die Klientin tun möchte. 5 Wenn die Klientin keine positiven Reaktionen zeigt, kann der Therapeut Vorschläge machen: »Was möchten Sie ihr sagen? Möchten Sie sie beruhigen oder Ihre Zuneigung ausdrücken? Wollen Sie sie vielleicht in den Arm nehmen?« Es folgen ggf. weitere Anleitungen, die der Klientin helfen, sich liebevoll um das innere Kind zu kümmern, es zu trösten und ihm vor allem zu versichern, dass sie sich nun selbst um die kleine Lissy kümmern wird, dass sie immer für das Kind da sein wird etc. Zur Verstärkung des emotionalen Aspekts kann man der Klientin bei dieser Arbeit mit dem inneren Kind ein großes Kopfkissen auf den Kindstuhl stellen. In dem Moment, wo sie äußert, das Kind umarmen zu wollen, kann sie dieses Kopfkissen in die Arme schließen. Diese Technik hat sich zur Verstärkung der heilenden Wirkung dieser Sequenz gut bewährt, denn sie fügt der weitgehend imaginativen Übungssequenz einen kinästhetischen Aspekt hinzu. Das Umarmen des Kopfkissens passt am besten zu Kindern unter 10 Jahren. Diese Sequenz ist jedoch nicht immer passend und auch nicht unbedingt nötig. Anleitung zur Beendigung dieser Therapiephase: 5 »Wenn Sie soweit sind, können Sie sich von der kleinen Lissy verabschieden. Sie können wählen, ob Sie Ihr inneres Kind an einen sehr schönen, geschützten Ort bringen wollen oder ob es Ihnen lieber ist, mit dem inneren Kind zu verschmelzen, denn das sind ja Sie selbst.«
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5 Anleitung zum Verschmelzen: »Stellen Sie sich vor, Sie haben die Kleine auf dem Arm. Sie spüren ihren kleinen Körper, sie können ihr Herz fühlen, und es schlägt genauso wie Ihr eigenes Herz – Sie und das Kind sind eins. Erlauben Sie, dass das innere Kind wieder eine Einheit wird mit Ihnen, dass es jetzt mit Ihnen verschmelzen darf.« Hier kann die Stuhlübung zum Abschied von einer Bezugsperson aus der Kindheit oder Jugend enden. Wenn die Klientin ihr inneres Kind gar nicht annehmen kann, sollte diese Sequenz bald abgebrochen werden, um keinen emotionalen Druck auszuüben. Wahrscheinlich handelt es sich in diesem Fall um eine Klientin, der es auch im realen Leben in mancher Hinsicht schwerfällt, adäquat für sich zu sorgen. Vielleicht kann die Psychotherapie dann eher an den aktuellen Defiziten der Selbstfürsorge ansetzen, denn Themen wie Abbau von Unteroder Übergewicht, Verbesserung der Qualität der Ernährung oder Förderung der kommunikativen Kompetenz in der Partnerschaft sind emotional weniger bedrohlich als die Fürsorge für das innere Kind. In einer längeren ambulanten Therapie ist es denkbar, die Sequenz mit dem inneren Kind nach einiger Zeit zu wiederholen, wenn die Klientin dem zustimmt. z
Nachbesprechung
In der Nachbesprechung der Übungen wird zunächst der Verlauf des Gesprächs nochmals rekapituliert – die verschiedenen Themenbereiche und die emotionalen Wendungen, die der Dialog nahm. Bei beiden Übungen kann es vorkommen, dass völlig neue Informationen zu Tage treten, weil zum einen der Kindstuhl (Abschiedsübung) oder auch nur die intensive Erinnerung an die Kindheit (Klärungsübung) längst Vergessenes aufruft und weil zum anderen die intuitive Position möglicherweise neue Einsichten über den Gesprächspartner liefert. Nach solchen Sitzungen ist es grundsätzlich günstig, die Klienten zu einer Zeit der Ruhe und Reflexion aufzufordern. Hierfür wären mindestens 30 Minuten wünschenswert, länger ist natürlich in diesem Fall besser. Die Klienten sind allgemein sehr berührt, auch wenn keine Tränen flossen, und pro-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
fitieren nach der Sitzung von einer kurzen Auszeit in Bezug auf die Anforderungen des Alltagslebens.
Optionen für die Aufarbeitung der Übungen
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Bei noch lebenden Bezugspersonen kann es sinnvoll sein, tatsächlich ein klärendes Gespräch zu führen, z. B. wenn die Eltern noch nicht sehr alt sind oder wenn der frühere Ehemann als Vater der gemeinsamen Kinder noch eine Rolle im Leben der Klientin spielt. Es kann aber auch ausreichen, nur einen zusammenfassenden Brief an die Person aus der Vergangenheit zu richten, der nicht abgeschickt wird, sondern ausschließlich der therapeutischen Aufarbeitung dient. Dieser Brief wird dann in der nächsten Einzel- oder Gruppensitzung vorgelesen, einige Zeit verwahrt und ggf. noch imaginativ an die Person abgeschickt, wenn sie verstorben ist: Ein Brief an einen Verstorbenen wird den Elementen übergeben. Er kann also verbrannt oder mit einem Stein in einem See oder Fluss versenkt werden; er kann aber auch zerrissen und in der Erde vergraben oder dem Wind überlassen werden.
Verwendung der Übungen im Gruppenkontext Die Übungen des Abschieds oder der Klärung können auch im Rahmen einer Psychotherapiegruppe durchgeführt werden. Wenn die Protagonistin Schwierigkeiten hat, sich eindeutig und in erwachsener Form von der problematischen Bezugsperson abzugrenzen, können Gruppenteilnehmer in der Position der Klientin für die Formulierung dieses inneren Schritts Modell stehen. Die Klientin begibt sich solange in die Beobachterposition. Danach muss sie selbst nochmals die Auseinandersetzungsposition einnehmen und mit neu gewonnener Kraft das Gespräch führen. Erfahrungsgemäß erzeugt diese Form des Modelllernens in der Gruppe immer einen deutlichen Zuwachs an Kompetenz für die Protagonistin. Auch wenn die Gruppenteilnehmer nicht mitgespielt haben, ist es für die Klientin in der Nachbesprechung hilfreich, von den anderen Teilnehmern auf ihrem Weg der gesunden Abgrenzung, vielleicht sogar der Verzeihung, ermutigt zu werden. Die Gruppenteilnehmer sehen bei solchen Übungen meistens sehr aufmerksam und mitfühlend zu,
sodass der Therapeut nicht zu befürchten braucht, dass bei den Zuschauern Ermüdung oder Langeweile aufkommen.
Abwandlung: Klärung mit einer Bezugsperson aus früherer Zeit (zwei Übungsstühle) Die Klärung mit einer Bezugsperson aus der Jugend (vgl. oben unter »Option: Beendigung der Übung« das Fallbeispiel Frau Sch. und . Abb. 4.7e) verläuft in der ersten Therapiesequenz weitgehend analog zur Abschiedsübung, erfordert aber nur zwei Übungsstühle, denn man verzichtet bei dieser Übung auf den Kindstuhl. Es gibt daher auch keine Sequenz mit dem inneren Kind am Schluss der Intervention. Die Benennung des einen Stuhls für den Klienten kann daher außer Klärung Ausdrücke wie Abrechnung oder Auseinandersetzung oder Konfrontation beinhalten. Neutraler kann man ihn einfach den Gesprächsstuhl nennen. Der andere Stuhl ist für die Bezugsperson reserviert. Die Fragen und Überlegungen zur problematischen Beziehung sind überwiegend identisch zur Abschiedsübung, nur wird eine weniger intensive Regression erzeugt, da dies bei einer Klärung nicht im Vordergrund steht. Trotzdem spricht der Therapeut in seiner Befragung der Klientin auf dem Auseinandersetzungsstuhl zunächst die frühere Zeit, also je nach Situation auch die Kindheit, an. Er fordert sie auf, zunächst von den früheren Verletzungen zu berichten. Dabei bleibt die Klientin im direkten Gespräch mit der Bezugsperson, schaut den anderen Stuhl an und sagt »Du«, »Mutti« oder den Namen der anderen Person, wenn es sich z. B. um einen ehemaligen Partner handelt. Eine Pause auf dem regulären Klientenstuhl ist möglich, aber nicht unbedingt nötig, bevor die Klientin dann ohne Positionswechsel das zentrale Klärungsthema mit der Bezugsperson aus ihrer erwachsenen Perspektive anspricht. Der Therapeut gestaltet den Übergang vom kindlichen Erleben zur erwachsenen Person, indem er dies beschreibt und die Klientin zum inneren Umschalten auffordert. In dieser Phase unterstützt der Therapeut die gesunde, erwachsene Abgrenzung. Er erlaubt oder fördert ggf. sogar Ausbrüche von Wut, Hass und Verachtung, die über viele Jahre unterdrückt wer-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
den mussten. Diese kathartische Phase ist oft sehr wichtig. Anschließend versucht der Therapeut, der Klientin eine erste Transformation dieser negativen Gefühle zu ermöglichen. Allein die Möglichkeit, angesichts des gewalttätigen Vaters einmal »Ich hasse dich« sagen zu dürfen, hat kathartischen Wert und entlastet emotional, denn die Klientin erlebt sich erstmalig in dieser Beziehung als erwachsen und authentisch. Je klarer auch diese sehr negativen Gefühle ausgedrückt werden dürfen, desto eindeutiger ist auch der Spannungsbogen, den die Klientin durchläuft. Es kommt nach dem Ausdruck dieser intensiven Gefühle zu einer inneren Beruhigung, und die Möglichkeit einer neuen, akzeptierenden und vielleicht sogar gelassenen Haltung zu den Ereignissen eröffnet sich. Ob diese Transformation in einer einzigen Sitzung stattfinden kann oder mehr Zeit benötigt, ist individuell natürlich sehr verschieden. Die intuitive Position hinter dem Stuhl der Bezugsperson (analog zu . Abb. 4.7b) kann auch äußerst hilfreich für die Auflösung von negativen Gefühlen aller Art sein. In der intuitiven Position kann eruiert werden, welche Gründe auf Seiten der Bezugsperson zu dieser Form der Beziehungsgestaltung führten. Diese gefühlsmäßig ermittelte Erkenntnis kann bei der Klientin dazu führen, ihr eigenes Schicksal mit diesem Menschen mehr zu akzeptieren. Das Fallbeispiel illustriert dies eindringlich: Sogar sehr negative Begründungen, z. B: »Du warst zu schön« und »Du solltest es nicht besser haben als ich«, entlasteten Frau Sch. erheblich. Im nächsten Schritt fordert der Therapeut die Klientin auf, nun als Erwachsene eine neue Form der Beziehungsgestaltung zu der noch lebenden Bezugsperson zu entwickeln, bei der vor allem eigene Bedürfnisse eine große Rolle spielen dürfen und kritiklose Anpassung an die Bezugsperson nicht mehr den zentralen Aspekt darstellt. Dies kann bei noch lebenden Angehörigen aufgrund der emotionalen Loslösung zu vollständiger Versöhnung mit der Bezugsperson führen; es kann aber auch dazu führen, den Kontakt zur Bezugsperson auf gelegentliche Pflichtbesuche zu beschränken, oder, bei sehr missbräuchlichen Beziehungen, den Kontakt völlig abzubrechen. Die Lösung hängt immer von Qualität und Schweregrad der Konflikte sowie von
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der generellen Bedeutung der Person im Leben der Klientin ab. Die Übung zur Klärung kann mit gutem Ergebnis in einer der nachfolgenden Sitzungen wiederholt und vervollständigt werden, wie das Fallbeispiel der drei Sitzungen mit Frau Sch. zeigt. Wenn die Abgrenzung zur problematischen Mutter allzu zaghaft verläuft, kann man als Hilfestellung die Klientin bitten, sich hinter ihren eigenen Stuhl zu stellen: »In dieser Position haben Sie jetzt den Überblick über die Beziehung zur Mutter, hier können Sie sagen, was Sie ihr wirklich immer mitteilen möchten, ohne jegliche Zensur.« Eine Klientin, die sich mit 56 Jahren immer noch der 30 Jahre älteren, extrem dominanten Mutter völlig unterordnete, kommentierte noch vor der Anleitung den überlegenen Blickwinkel des Stehens so: »Das ist eine Position, in der ich niemals war«, da sie ja auf den Stuhl der Mutter hinabblickte. Die Klärungsübung kann auch für derzeitige oder frühere wichtige Bezugspersonen wie Partner oder gute Freunde verwendet werden, bei denen zuvor Konflikte und Kontaktabbrüche entstanden waren. In diesem Fall waren die Klientin und der Gesprächspartner also bereits zum Zeitpunkt der belastenden Ereignisse erwachsen, und die erste Therapiesequenz dieser Klärung enthält daher keine regressiven Aspekte. Ein Beispiel: Die Klärungsübung ist für Frauen hilfreich, die in jüngeren Jahren Gewalt und emotionalen Missbrauch durch einen Partner erfahren haben und aufgrund von Ängsten, finanzieller und emotionaler Abhängigkeit und der Präsenz von Kindern über lange Jahre hinweg keine Trennung wagten. Diese Jahre in einer missbräuchlichen Partnerschaft traumatisieren die Klientinnen in gewissem Maße, auch wenn keine klinische Traumastörung vorliegt, und verstellen ihnen oft den Weg in eine vertrauensvolle und gesunde neue Partnerschaft. Aufgrund solcher, aktuell fortbestehender negativer Auswirkungen der problematischen Partnerschaft wird sehr empfohlen, diesen Klientinnen die Intervention zur Klärung mit dem früheren Partner anzubieten.
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
4.4.3
Eine positive Beziehung beenden: Gespräch mit einer verstorbenen Person
In Psychotherapie und Beratung äußern Klienten häufig Belastungen in Bezug auf den Verlust eines geliebten Menschen – eines Freundes, Partners oder Familienmitglieds. Die Übung zum Gespräch mit einer verstorbenen Person kann bei normalen Trauerprozessen sehr hilfreich sein – noch innerhalb des Trauerjahrs oder auch danach. Zusätzlich ist sie besonders gut einsetzbar bei Formen der komplizierten Trauer mit langjährigen, nicht bewältigten Gefühlen von Schuld und Schmerz über den Verlust: Diese Übung kann helfen, einen gesunden Trauerprozess in Gang zu setzen und damit die übermäßigen psychischen Belastungen zu beheben. In diesem Abschnitt geht es um eine verstorbene Person, zu der eine positive emotionale Beziehung bestand, im folgenden und letzten Abschnitt um eine Person, zu der eine problematische emotionale Beziehung unterhalten wurde. Diese Intervention hat normalerweise keinen Klärungscharakter, da es sich um eine positive Beziehung zwischen zwei Menschen handelt, bei der nichts oder nur sehr wenig kontrovers zu besprechen ist. Sie unterscheidet sich neben der fehlenden Problemorientierung zusätzlich von den Übungen zum Abschied von den Eltern und der Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson (7 Kap. 4.4.2), da man die spirituellen Vorstellungen des Klienten vom Sterben und vom Jenseits und auch seine Vorstellungen vom eigenen Sterben explizit in das Gespräch einbezieht.
Zielgruppe Diese Übung kann bereits mit Jugendlichen durchgeführt werden, und es gibt keine Altersgrenze nach oben, wobei die Vorgehensweise bei älteren Klienten anders sein wird als bei jüngeren – eine stärker narrativ ausgerichtete, langsamere Vorgehensweise hat sich bei älteren Menschen bewährt. Die Übung erlaubt den Beginn, die Förderung oder die Wiederaufnahme eines gesunden Trauerprozesses, sodass der Klient in einer Phase seiner Therapie und seines Lebens sein sollte, in der eine gewisse temporäre Destabilisierung, die manchmal durch die neu erlebte, intensive Trauer eintritt, akzeptabel
ist. Diese Form des emotionsaktivierenden Stuhldialogs erfordert überdies möglicherweise mehrere Sitzungen über einen längeren Zeitraum hinweg. Der Therapeut folgt also hier dem natürlichen Prozess seines Klienten, der von verschiedenen Faktoren abhängt.
Therapeutische Zielsetzung Diese Intervention hat häufig zum Ziel, einen stockenden oder vollständig erstarrten Trauerprozess zu einem guten Ende zu bringen und die damit verknüpften psychischen Belastungen zu beheben, z. B. jahrelangen exzessiven Schmerz über den Verlust oder ungerechtfertigte Schuldgefühle dem Verstorbenen gegenüber. Meistens handelt es sich um verstorbene Familienmitglieder oder den Partner oder die Partnerin, aber es kann durchaus auch um einen Kollegen, Chef oder Freund gehen, dessen (frühzeitigen, plötzlichen) Tod der Klient nicht verwunden hat. > In der Arbeit mit komplizierter Trauer ist die sensible Führung des Trauernden während der Übung notwendig, aber es sollte auf keinen Fall Druck ausgeübt werden, da der Klient dies in seinem Umfeld oft bereits erlebt und da Druck zur Normalität in diesem Bereich des persönlichen Erlebens sicher nicht wirksam ist. Die Arbeit mit komplizierter Trauer erfordert viel Geduld und Toleranz für zum Teil hochgradig dysfunktionale Gedanken und Einstellungen, die sich nur mit der Zeit korrigieren lassen.
Dabei verwendet die Übung eine zweifache Strategie, indem sie den Verstorbenen zunächst nochmals in seiner Eigenart und Bedeutung für den Trauernden würdigt, um danach den Abschied zu gestalten und die neue Form einer gesunden Beziehung zum Verstorbenen zu thematisieren. Je nach Verlusterlebnis kann diese Übung in einer einzigen Sitzung bereits wesentliche therapeutische Effekte haben, oder sie wird über mehrere Sitzungen hinweg andauern, um dem Klienten einen angemessenen Zeitraum für den inneren Prozess zu ermöglichen. Erfahrungsgemäß ist der Verlust eines Sohnes oder einer Tochter die schwerwiegendste Verlusterfahrung in unserer Kultur und wird auf Seiten des Therapeuten sowohl hohes Einfühlungs-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
vermögen als auch Geduld erfordern. Ein günstiger Verlauf führt oft zu positiven persönlichen Entwicklungen bei den Hinterbliebenen, die ein Klient, der um seine Tochter trauerte, einmal mit einem gewissen Erstaunen als »Über-sich-Hinauswachsen« bezeichnete. Ein weiterer Aspekt der Übung ist das Gespräch über die Vorstellungen des Klienten vom Sterben, vom Verbleib des geliebten Menschen nach Aufgabe des Körpers – die meisten Menschen glauben an einen Dualismus von Körper und Seele – und letztlich vom eigenen Tod. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, können die Angehörigen und Freunde kaum vermeiden, sich auch mit der eigenen Vergänglichkeit auseinanderzusetzen. Therapiesitzungen zu diesem Thema sollten daher diese existenzielle oder spirituelle Dimension möglichst immer berücksichtigen, um den Klienten in seiner ganzen Betroffenheit zu erfassen und zu unterstützen. Diese Intervention ist definitiv indiziert, wenn der intensive Trauerprozess in unveränderter Weise mehr als ein Jahr lang andauert und noch keine oder kaum Fortschritte in der Überwindung der Problematik zu sehen sind. In Fällen, bei denen seit dem Todesfall noch nicht viel Zeit verstrichen ist und der Trauerprozess auch nicht pathologisch anmutet, kann trotzdem ein Gespräch mit dem Verstorbenen angeleitet werden (vgl. erste Phase dieser Übung), aber ein Abschied wäre hier aus zeitlichen Gründen noch nicht angemessen. Diese erste Phase der Übung kann innerhalb des ersten Trauerjahres als Hilfestellung für den normalen Trauerprozess verstanden werden. Aus diesem Grund wird man auch nur einen Gesprächsstuhl, keinen Abschiedsstuhl verwenden. Meistens kommen Klienten jedoch erst nach mehreren Jahren in die Psychotherapie, um bestimmte Aspekte ihrer nicht vollständig bewältigten Trauer zu besprechen, sodass die Entscheidung, wo die Grenze zur pathologischen Form der Verarbeitung verläuft, normalerweise gar nicht erforderlich ist.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Bei Personen, die vom Charakter her besonders stur sind oder gar eine zwanghafte Persönlichkeitsakzentuierung aufweisen, wird der Übergang zum angemessenen Abschiednehmen nur langsam gelingen, denn diesen Personengruppen fällt innere,
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psychische Veränderung eher schwer. Der Therapeut sollte aus diesem Grund mehrere Sitzungen, im ambulanten Rahmen vielleicht sogar mehrere Monate, einplanen. Eine Gefahr bei der Durchführung dieser Übung könnte überdies sein, dass sie die komplizierte Trauer um den Verstorbenen noch verschlimmert, ähnlich einer Retraumatisierung bei Traumapatienten, und keine heilenden emotionalen Erlebnisse erfolgen. Falls dies auftreten sollte, bietet sich für den Verhaltenstherapeuten spätestens zu diesem Zeitpunkt eine sorgfältige Funktionsanalyse an, denn das Verharren in dysfunktionaler Trauer scheint bei diesen Klienten einen gewissen innerpsychischen oder äußeren Nutzen zu bringen. Sowohl ambulant als auch stationär sollten grundsätzlich noch genügend Einzelsitzungen verfügbar sein, sodass der innere Heilungsprozess möglichst noch abgeschlossen werden kann, auch wenn er länger dauern sollte. In Bezug auf die Verwendung dieser intensiven Intervention bei ernsthaften klinischen Diagnosen gelten die bereits mehrfach erwähnten Überlegungen – bei schwerst depressiven Menschen, Personen mit Psychose oder Patienten in einer manischen Phase und emotional instabilen Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder Suchtproblemen sollte die Durchführung der Übung sorgfältig gegen die Risiken abgewogen werden.
Dauer der Übung Bei manchen, inhaltlich umgrenzten Trauerproblemen kann erfahrungsgemäß bereits eine einzige Therapiestunde mit dieser Übung sehr viel bewirken. Der Therapeut wird sich gemeinsam mit dem Klienten nach der Übung für eine bestimmte Form der Aufarbeitung entscheiden. Wenn eine einzige Sitzung ausreicht, dann stellte diese Intervention vermutlich nur den letzten Schritt beziehungsweise den Abschluss eines ins Stocken geratenen Trauerprozesses dar. In vielen Fällen, gerade wenn es sich um engste Verwandte bzw. um den Partner oder die Partnerin handelt, wird man jedoch mehrere Therapiestunden für diesen Prozess ansetzen müssen. Die direkten Gespräche mit dem Verstorbenen in den Übungssitzungen können von therapeutischen Gesprächen mit anderen Zielsetzungen unterbrochen werden, z. B. der kognitiven Umstrukturierung von dysfunktionalen Vorstellungen wie:
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.8 Gespräch mit einer verstorbenen Person – positive Beziehung. a Der Klient sitzt auf dem Gesprächsstuhl und nimmt Kontakt mit dem Verstorbenen auf, erzählt Wichtiges und würdigt ihn. b Der Klient nimmt auf dem Abschiedsstuhl Platz und formuliert, in welcher Form er des Verstorbenen weiterhin gedenken und wie er sein Leben trotz des Verlustes positiv weiterführen möchte. c Variante der Übung mit nur einem Übungsstuhl für den Klienten, wenn der Abschied vom Verstorbenen noch kein Thema in der Therapiesitzung sein soll. d Der Klient nimmt die intuitive Position ein und formuliert, was der Verstorbene ihm vielleicht sagen würde
»Wenn ich nicht dreimal pro Woche am Grab bin, habe ich meinen Sohn verraten und vergessen«, »Es darf mir selbst nie wieder gut gehen«, oder: »Ich muss alles genau so bewahren, wie es am Todestag war«.
Stuhlpositionen Für die Stuhlübung »Gespräch mit einer verstorbenen Person – positive Beziehung« (. Abb. 4.8) wird empfohlen, insgesamt drei Übungsstühle aufzustellen (. Abb. 4.8a, b): zwei Stühle für den Klienten (Gesprächsstuhl und Abschiedsstuhl) und einen für den Verstorbenen. Wenn jedoch der Abschied vom Verstorbenen noch gar nicht Thema sein soll und der Klient in dieser Hinsicht auch keinen Er-
wartungsdruck durch den Abschiedsstuhl erhalten sollte, dann reicht ein Übungsstuhl für den Klienten aus (. Abb. 4.8c): Der Therapeut bahnt in diesem Fall zunächst nur ein allgemeines Gespräch mit dem Verstorbenen an, ohne die Zielsetzung Abschied. Dies wäre passend für die Trauerphase kurz nach dem Tod des geliebten Menschen, in der Abschiednehmen noch verfrüht wäre. Für die weitere Beschreibung dieser Intervention wird hier jedoch von zwei Übungsstühlen für den Klienten ausgegangen. Die intuitive Position ist auch bei dieser Intervention eine Option (. Abb. 4.8d), um noch Äußerungen oder Botschaften des Verstorbenen an den Klienten zu generieren. Da es sich um eine positive Beziehung handelte, symbolisiert die-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
se Position meist den gesunden Anteil des Klienten selbst.
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
Nach dem Aufstellen der drei Übungsstühle erklärt der Therapeut die beiden Übungsstühle für den Klienten: »Wir werden heute möglicherweise nur einen Stuhl benutzen, aber diese beiden Stühle sind für Sie gedacht. Auf dem ersten Stuhl haben Sie die Möglichkeit, noch einmal mit Ihrem Vater ins Gespräch zu kommen. Ich weiß, dass er sehr plötzlich gestorben ist, sodass Sie überhaupt keine Vorwarnung hatten und sich in keiner Weise vorbereiten konnten.« Oder: »Die beiden Stühle sollen symbolisieren, dass Sie wieder innerlich in Bewegung kommen in Bezug auf Ihre verstorbene Tochter. Auf dem einen Stuhl, den wir für einige Zeit verwenden werden, möchte ich, dass Sie einfach wieder mit ihr ins Gespräch kommen. Ich helfe Ihnen dabei, indem ich Ihnen einige Fragen stelle.« Anschließend bittet der Therapeut den Klienten (eventuell noch vom Klientenstuhl aus), den Verstorbenen genau zu beschreiben, und zwar in seinem gesunden Zustand. Sobald der Klient dem Verstorbenen gegenübersitzt, könnte es mit der neutralen Beschreibung der verstorbenen Person nämlich vorbei sein, da oft schon beim Stuhlwechsel und vor Beginn des Gesprächs intensive Gefühle auftreten. Erst nach der Beschreibung, also nach dem imaginativen Aufrufen der verstorbenen Person, setzt der Klient sich auf den ersten Stuhl. Man kann ihn schlicht den Gesprächsstuhl nennen, um eine generelle Themenoffenheit zu signalisieren. Die Benennung des anderen Stuhls kann, muss aber nicht sofort gewählt werden: Stuhl für die Freiheit von der Trauer, für die neue Beziehung zum Verstorbenen, Abschiedsstuhl etc. z
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und sie würdigen sowie zum anderen auf die weitere Bewältigung und psychische Integration des Verlustes hinarbeiten. Die Fragen werden zwar notgedrungen in der dritten Person gestellt, aber der Klient wird aufgefordert, sich bei der Beantwortung jeweils dem Verstorbenen auf dem leeren Stuhl zuzuwenden und ihn direkt anzusprechen (. Abb. 4.8). Der Therapeut verwendet hier meistens die Vergangenheitsformen bei seinen Fragen, um den Unterschied zur Auseinandersetzung mit einer lebenden Person zu betonen. Es wäre aber auch denkbar, alles im Präsens auszudrücken. In fast jedem Fall wird der Klient intensive Gefühle erleben. Mögliche Fragen des Therapeuten, um das Gespräch zu moderieren: 5 »Wie war dieser Mensch? Wie sah er aus, als er noch gesund war?« Details erfragen, möglichst auch den Namen des Verstorbenen verwenden. 5 »Welche Eigenschaften hatte er, welche Marotten, Vorlieben und Abneigungen?« 5 »Was war für diesen Menschen im Leben wichtig – bei der Ausbildung oder Arbeit, bei Freunden, in Bezug auf die Ursprungsfamilie oder die eigene Familie? Warum wurde er von anderen geschätzt und gemocht?« 5 »Wie war Ihre ganz spezielle Beziehung zum Verstorbenen? Warum war er wichtig? Wie hat sich das entwickelt?« 5 »Wofür sind Sie dieser Person dankbar? Was haben Sie von ihr in den Jahren des Kontakts gelernt oder übernommen?« 5 »Gibt es besondere Ereignisse, an die Sie sich gerne zurückerinnern und die wichtig für Sie waren? In welcher Weise waren diese Ereignisse bedeutsam für Sie?« 5 »Was hat diese Person insgesamt für Sie bedeutet – was haben Sie mit ihr oder von ihr für Ihr eigenes Leben gelernt? Gibt es ein spezielles Vermächtnis des Verstorbenen an Sie?«
Erste Therapiesequenz
Die Inhalte des Gesprächs mit einem Verstorbenen sind natürlich nicht zu antizipieren und werden extrem unterschiedlich ausfallen. Je nach Beziehung zu dieser Person kann der Therapeut jedoch eine Reihe von Fragen stellen, die zum einen wichtige Aspekte der Beziehung aufleben lassen
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Option: Unterbrechung oder Beendigung der Übung hier
Das Erzählen und Würdigen dieser wichtigen verstorbenen Person kann und darf Zeit einnehmen, manchmal mehr als eine Therapiestunde. Der implizit heilende Effekt dieser Gesprächsphase ist, dass dem Klienten überhaupt noch einmal – oft
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
nach langen Jahren des stillen Leidens – erlaubt wird, sich offen mit dieser Person zu befassen und einem mitfühlenden Zeugen wichtige Fakten oder Erlebnisse zu berichten. Personen mit komplizierter Trauer haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass nach einiger Zeit niemand in ihrem sozialen Umfeld mehr ihre Klagen über den Verlust hören will; sie fühlen sich ungerecht behandelt sowie unverstanden, was im Grunde auch der Wahrheit entspricht. Diese Enttäuschung über die Reaktionen des Umfelds kann im ersten Teil der Übung durch ausführliche Gespräche mit dem Verstorbenen verarbeitet werden. In der Psychotherapie dürfen der Trauerfall selbst und wichtige Ereignisse auch wiederholte Male erzählt werden, wenn der Klient von dieser Form der Bewältigung profitiert. Diese Stuhlübung kann daher mehrere Therapiestunden lang immer wieder die Gelegenheit zum Gespräch mit dem schmerzlich vermissten Verstorbenen bieten. Die Transformation der Beziehung zum Verstorbenen in eine adäquat gestaltete – und nicht mehr leidvolle – Beziehung kann also einige Zeit in Anspruch nehmen, je nach den Bedürfnissen und der Situation des Trauernden. Die Intervention kann jedoch auch bei einem normalen Trauerprozess erfolgreich eingesetzt werden, insbesondere in den ersten beiden Jahren nach dem Todesfall. Bei normaler Trauer können ein oder mehrere Gespräche im Verlauf dieser Zeit eine außerordentlich unterstützende und heilende Wirkung entfalten und den Übergang zur Akzeptanz der Endgültigkeit des Verlustes unterstützen. Die Gespräche mit dem Verstorbenen können in beiden Fällen – bei komplizierter oder normaler Trauer – an dieser Stelle enden. z
Zweite Therapiesequenz
Wenn sowohl der Therapeut als auch der Klient den Eindruck haben, dass genug erzählt und die Beziehung zum Verstorbenen ausreichend gewürdigt wurde, kann der Therapeut vorschlagen, den anderen Stuhl aufzusuchen (. Abb. 4.8b). Die Benennung des Stuhls sollte gemeinsam gewählt oder an dieser Stelle nochmals überprüft werden und zeigt bereits: Was ist nun Ziel der zweiten Therapiesequenz? Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass komplizierte Trauer über Jahre hinweg eine zu
hohe emotionale Investition in die Beziehung zu einem Toten darstellt, die dem Lebenden die positive Gestaltung seines eigenen Alltags deutlich erschwert. Diese Energie soll dem Klienten wieder zur freien Disposition gestellt werden. Dabei hat es sich bewährt, Klischees wie: »Sie müssen jetzt loslassen« oder verfrühte Fragen wie: »Was würde Ihre verstorbene Tochter denn jetzt sagen?« gänzlich zu vermeiden – mit solch wohlgemeinten Ratschlägen und scheinbar tiefschürfenden Fragen wurden die Betroffenen schon öfters und offensichtlich erfolglos traktiert. Das Wort loslassen hat überdies oftmals Reizcharakter. Die Frage nach der Meinung des Verstorbenen sollte sorgsam in den Therapieprozess eingebettet werden, um ihren wesentlichen, regelrecht existenziellen Charakter zu bewahren. Sie wird erst verwendet, wenn dieser Verstorbene in der Vorstellung des Klienten wirklich auf dem leeren Stuhl sitzt, für ihn also real spürbar ist. Nur so hat diese Frage wirklich therapeutischen Wert und führt zur intendierten gesunden Veränderung der Perspektive. Der Prozess des Heilens von der Trauer um einen Menschen ist je nach Beziehung und Nähe zum Verstorbenen extrem unterschiedlich. Bei Freunden im allgemeineren Sinn, einem Chef oder einem Kollegen kann durchaus erwartet werden, dass der Klient sich zu einer relativ zügigen Lösung von den belastenden Gefühlen entscheiden kann und es ihm gelingt, in positiver Weise weiterzuleben, ohne jedoch den Verstorbenen zu vergessen. Die zweite Phase der Stuhlübung wird sich in solchen Fällen erfahrungsgemäß eher unproblematisch gestalten. Bei nahestehenden Personen ist der Prozess der Loslösung von der Fokussierung auf die verstorbene Person und auf die eigenen Trauergefühle naturgemäß komplexer und langwieriger. Für diesen zweiten Fall werden verschiedene Fragemuster vorgeschlagen, die zunächst wieder mit einer gänzlich offenen Frage beginnen und im Verlauf auch die spirituelle Dimension und Vorstellungen vom eigenen Sterben aufrufen. Eine Psychotherapie ohne Einbeziehung der Dimension der Spiritualität in irgendeiner Form greift bei der Bewältigung eines wichtigen Todesfalls inhaltlich zu kurz und kann den ganzen Menschen nicht erfassen. Bei diesem
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
Thema kann der Therapeut auf eine beim Klienten bestehende, solide Bindung an eine der christlichen Kirchen oder an eine andere Religion zurückgreifen oder, wenn dies nicht möglich ist, von der existenziellen Dimension der Erfahrung sprechen, die wirklich jeder Trauernde spüren kann, auch wenn er sich als nicht gläubig bezeichnet; Letzteres ist jedoch sehr selten. Die folgenden Fragen setzen voraus, dass der Trauernde innerlich bereit ist, eine Veränderung in der Beziehung zum Verstorbenen und im Gedenken an ihn zuzulassen. Die sorgfältige Auswahl des Zeitpunkts für diese Fragen ist natürlich sehr wichtig und wird von Person zu Person sehr unterschiedlich ausfallen: 5 »Wie möchten Sie nun die Beziehung zum Verstorbenen verändern, sodass es Ihnen wieder besser geht? Was möchten Sie anders erleben, was möchten Sie in Ihrem Alltag anders machen?« Der Therapeut kann auch Vorschläge äußern, die auf seiner Kenntnis der häuslichen Situation beruhen und eine konkrete Veränderung beinhalten: Die Sachen des Verstorbenen ausräumen und – bis auf ein paar Erinnerungsstücke – weggeben; die große Anzahl der Fotos vom Verstorbenen, die im ganzen Haus aufgehängt wurden, reduzieren u. Ä. 5 Das Thema Friedhof und Grabpflege stellt einen empfindlichen Punkt dar. Oft geht es darum, die extrem häufigen Gänge zum Grab sinnvoll zu reduzieren: »Ist denn der Verstorbene wirklich dort im Grab auf dem Friedhof? (Klient: »Nein, wohl nicht.«) Wo ist denn jetzt der Verstorbene Ihrer Meinung nach?« Hier kann sich bereits eine Besprechung der Vorstellungen vom Todesprozess, von der Trennung der Seele vom Körper und manchmal von Reinkarnation anschließen; das Thema kann aber auch etwas später einfließen (s. unten). Die meisten Menschen glauben an den Dualismus von Körper und Seele. Auch rein christlich erzogene Menschen äußern zudem häufig Vorstellungen vom irdischen Leben allgemein als Lernerfahrung und von multiplen Wiederverkörperungen, die stattfinden, um diese Erfahrungen zu vervollständigen. Ziel dieser Sequenz ist, dass der Trauernde
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die Intensität der Beziehung zum Toten löst und mehr und mehr akzeptiert, dass dieser in die geistige Welt eingegangen ist und letztlich nicht mehr zu unserer körperlichen Welt gehört, auch wenn wir uns immer wieder liebevoll an ihn erinnern können. Der Klient wird in dieser Sequenz zu einer positiven Hinwendung zu den Lebenden eingeladen. 5 Das Aufgeben des Haderns mit dem Leben, dem Schicksal oder mit Gott ist für manche Menschen besonders schwierig. Als Grundhaltung für diese wichtige Sequenz wird der Therapeut im Ton nicht fordern, sondern vielmehr einladen und Erlaubnis geben, das Leben wieder autonomer und positiver zu gestalten. Es ist tatsächlich so, dass viele Trauernde eine moralische Sperre haben, ohne den Toten wieder normal leben und wieder Freude spüren zu können, weil sie dies mit einem Verrat am Verstorbenen gleichsetzen. Diese Personen müssen behutsam aus ihrem Dilemma herausgeführt werden, und der Therapeut besitzt in seiner Rolle eine gewisse moralische Autorität, tatsächlich die explizite Erlaubnis zur Normalität zu geben. Wenn hier jedoch zu viel Druck auf den Klienten ausgeübt wird, könnte dies im ambulanten Umfeld die letzte gemeinsame Therapiesitzung gewesen sein. 5 Auch Vorstellungen vom eigenen Sterben schwingen mit, wenn eine Person einen Angehörigen begleitet hat und möglicherweise schweres Leiden miterleben musste. Das Thema der eigenen Vergänglichkeit und der Angst vor dem Leiden kann an dieser Stelle ebenfalls angeschnitten werden: »Haben Sie seit dem Verlust auch an Ihren eigenen Weg gedacht? An Ihre Vergänglichkeit? In welcher Form? Wie stark hat das Erlebnis mit dem Verstorbenen Ihre eigenen Vorstellungen beeinflusst? Wie viel Angst ist da?« 5 Gestaltung des Übergangs zur Normalität: »Wie möchten Sie denn ab jetzt an den Verstorbenen denken? Was möchten Sie am Todestag tun?« Die Pflege der Beziehung zum Verstorbenen – ohne Übertreibungen natürlich – ist bei nahen Verwandten sehr wichtig. Man kann als Therapeut keiner Mutter auftragen, die Beziehung zur verstorbenen Tochter
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
einfach ganz aufzugeben: Sie wird es nicht tun. Es geht in dieser Sequenz also darum, eine angemessene Form der Beziehung zu einem Toten zu entwickeln – angemessen in dem Sinne, dass diese Beziehung künftig weder psychisch belastend noch zeitlich oder emotional besonders involvierend sein sollte. Implizit ist der Therapeut, wie so oft in der Psychotherapie, Normgeber für psychische Gesundheit: Die Hauptbeziehungen in unserem Leben sollten wir mit den Lebenden, nicht mit einem Verstorbenen führen. Diese Norm erkennen die meisten Betroffenen an, so schwer es manchmal auch fällt. Der Therapeut äußert in diesem Veränderungsprozess immer wieder auch seinen Respekt für die inneren Vorgänge des Trauernden, indem er dem Klienten ausreichend Zeit für die Gefühle einräumt und im Ton immer weich und verständnisvoll bleibt. 5 »Was hindert Sie im Moment noch, dem Verstorbenen jetzt seine Position als wichtiger, aber halt nicht mehr in Ihrem Leben leiblich präsenter Mensch zuzuweisen?« Hier kommen die verschiedensten dysfunktionalen Kognitionen der komplizierten Trauer zum Tragen, auf welche der Therapeut in seiner Moderation immer wieder gezielt eingehen sollte. Diese Kognitionen erfordern allerdings oft auch einige Sitzungen mit kognitiver Therapie zwischen den Stuhlinterventionen, denn Einstellungsänderungen in so essenziellen Belangen benötigen Zeit und gezielte therapeutische Unterstützung. Auch von der eigenen Trauer Abschied zu nehmen, ist ein Schritt, der von Betroffenen schmerzlich reflektiert und manchmal mit dysfunktionalen Bedeutungen wie: »Ich verrate meine Tochter, ich werde sie vergessen« belegt werden. 5 »Was stellen Sie sich vor, wo Ihr Verwandter jetzt ist?« Der Therapeut sollte sich auf jeden Fall ein Bild von der Jenseitsvorstellung des Klienten machen. Die wenigsten Menschen leugnen eine Weiterexistenz nach dem Tod gänzlich. Wenn die Jenseitsvorstellung darin besteht, dass der Verstorbene »Tag und Nacht mein Schutzengel im Alltag ist«, stellt dies natürlich ein Problem dar, da auf diese Weise die konstante Bezogenheit auf diese verstorbe-
ne Person im Alltag untermauert wird. Frauen neigen eher als Männer zu dieser Form der Beziehungsgestaltung. Lösungsansätze könnten sein, diese ausschließliche Beschäftigung mit dem Toten infrage zu stellen: »Hat Ihr Verwandter nicht vielleicht auch andere Dinge zu tun? Meinen Sie, er möchte oder sollte sich tatsächlich die ganze Zeit mit Ihnen beschäftigen? Oder ist diese Vorstellung vielleicht nur der Ausdruck Ihres Schmerzes und Ihrer Sehnsucht nach ihm?« Oder der Therapeut nutzt eine häufig geäußerte Überzeugung über die stufenweise Entfernung der Seele vom Irdischen, ohne dem Trauernden jedoch ein Schuldgefühl einzuflößen: »Wenn Sie weiterhin so stark am Verstorbenen festhalten, dann fällt es ihm vielleicht schwer, in seiner eigenen, geistigen Existenz die nächsten Schritte zu machen – wollen Sie das denn?« Während diese Interaktionen hier zur Vermittlung sehr prägnant formuliert werden müssen, ist die reale Kommunikation in der Therapiesitzung eher geprägt von längeren Beschreibungen und der emotionalen Akzeptanz der Trauer beim Klienten, damit die therapeutische Beziehung nicht gefährdet wird. z
Option: Einnehmen der intuitiven Position
Wenn es passend erscheint und der Klient oder die Klientin als intuitiver Mensch wahrgenommen wird, kann in einer der beiden Therapiephasen, also auf dem Gesprächsstuhl oder auf dem Abschiedsstuhl, die intuitive Position hinter dem Stuhl des Verstorbenen eingenommen werden (. Abb. 4.8d). Theoretisch kann man auch ohne Positionswechsel das intuitive Wissen des Klienten aufrufen, aber meistens ist es wirklich ratsam, dass der Klient seinen Stuhl verlässt und sich hinter den leeren Stuhl begibt. Auf diese Weise entsteht ein stärkeres Signal für das Aufrufen eines anderen Selbstanteils. Bei wohlwollenden Beziehungen zwischen dem Klienten und dem Verstorbenen kann davon ausgegangen werden, dass die Position des Verstorbenen den Kontakt zum gesunden Anteil im Klienten symbolisiert, denn er hätte sicherlich dem Klienten jetzt wieder ein unbelastetes Leben mit Freude und mit einem normalem Alltag gegönnt. An diese Stelle passt sehr gut die wichtige Frage nach der Pers-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
pektive des Verstorbenen: »Was würde denn Ihr Mann jetzt dazu sagen, dass Sie sich gar keine Freude mehr im Leben gönnen?« Durch die intuitive Position mit ihrer imaginativen Qualität wird der Antwort eine Tiefe verliehen, die oft im normalen Gespräch nicht zu erreichen ist. Anlässe für die intuitive Position und die Frage nach den Ansichten des Verstorbenen könnten sein: 5 Der Klient hadert weiterhin stark mit diesem Schicksalsschlag. 5 Der Klient hat den Gedanken, er dürfe sich im Leben überhaupt nicht mehr freuen. 5 Der Klient hindert sich vor lauter Trauer daran, sein eigenes Leben weiterzuführen, z. B. eine neue Partnerbeziehung zuzulassen oder das Zimmer des Toten auszuräumen und die Sachen für seinen eigenen Alltag zu verwenden. 5 Der Klient meint, er werde ohne Tränen und intensive Trauer den Verstorbenen völlig vergessen – das Ganze hat eine moralische Qualität, für deren Infragestellen der Therapeut nicht qualifiziert erscheint. Hier ist es günstiger, den Verstorbenen selbst zu Wort kommen zu lassen, in der Hoffnung, dass der gesunde Anteil des Klienten in der intuitiven Position dominiert. 5 Der Klient meint, er sei nun auf jeden Fall der Nächste, der stirbt, oder er werde sicher auch genauso leiden müssen wie der Verstorbene, wenn es soweit ist. 5 Der Klient quält sich mit der Schuld eines Überlebenden, also mit der Vorstellung, dass er selbst anstelle des Verstorbenen hätte sterben sollen – besonders typisch bei gemeinsam erlebten Unfällen. Die verschiedensten dysfunktionalen Einstellungen können also mit der intuitiven Position gezielt bearbeitet werden. Eine schnelle Lösung der Problematik kann erwartet werden, wenn im Verlauf der Intervention intensive Gefühle ausgedrückt werden und der Klient gleichzeitig die Fähigkeit besitzt, inneren Abstand und eine emotionale Perspektive zu gewinnen.
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Abschluss der Übung oder Übungssequenz und Nachbesprechung
Wenn mehrere Gespräche mit dem Verstorbenen geplant sind, wird dies vor Beendigung der Stuhlübung mitgeteilt, sodass der Klient sich besser aus der Situation lösen kann: »In der nächsten Sitzung werden wir dieses Gespräch wieder aufgreifen, aber für heute können Sie sich jetzt von Ihrem Sohn verabschieden. Sie wissen ja, Sie können dieses Gespräch bald fortführen.« In der Nachbesprechung haben sowohl der Therapeut als auch der Klient die Gelegenheit, ihre Eindrücke zu äußern. Im stationären Rahmen könnte man die Nachbesprechung auf den Folgetag verschieben, aber ein Abstand von mehreren Tagen zwischen Stuhlübung und Nachbesprechung wird nicht empfohlen, da die Eindrücke zu schnell verblassen. Der Therapeut achtet überdies darauf, alle neuen, in der Übung gewonnenen Einsichten zu wiederholen, um auch den Intellekt des Klienten explizit in den Prozess einzubeziehen und die Abspeicherung im Gedächtnis zu fördern. Wenn die Zeit es erlaubt, sollte gemeinsam eine kurze Liste mit den wichtigsten konstruktiven Punkten des Gesprächs erstellt werden.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Auch wenn nur eine einzige Therapiestunde für das Gespräch mit dem Verstorbenen verwendet wurde, ist es sinnvoll, diese sehr emotionale Erfahrung aufarbeiten zu lassen. Stark kathartische Sitzungen sind zwar subjektiv beeindruckend und auch wichtig, sollten aber durch eine zusätzliche intellektuelle Aufarbeitung inhaltlich festgeschrieben werden, sonst besteht die Gefahr, dass die Inhalte zu schnell vergessen werden. Bei multiplen, stark dysfunktionalen Gedanken, die in der Übung bereits konfrontiert und umgeformt wurden, kann die Zwei-Spalten-Technik aus der kognitiven Therapie zur Anwendung kommen, sodass der Klient sich alle gesunden, hilfreichen und unterstützenden Gedanken notiert und diese nicht verloren gehen. Der Trauernde kann auch einen Brief an den Verstorbenen schreiben – entweder nur einen Brief, um nochmals Kontakt aufzunehmen (»Was ich dir noch sagen wollte«) – oder sofort einen Abschiedsbrief mit Beschreibung der inneren und äußeren
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Veränderungen im Alltag, die nach und nach erfolgen und den intensiven Trauerprozess beenden sollen. Im stationären Kontext schlage ich oft ein stufenweises Ritual vor, das gut angenommen wird: 5 Der Klient schreibt einen Abschiedsbrief, oft mehrere Seiten lang. 5 Er liest den Brief im Einzelgespräch vor. 5 Danach wird dem Klienten in der allgemeinen Psychotherapiegruppe Zeit eingeräumt, diesen Brief für alle vorzulesen: Die Gemeinschaft trägt den Schicksalsschlag mit. Dies ist auch möglich, wenn die Stuhlübung zum Abschied vom Verstorbenen nicht in der Gruppe stattgefunden hat. 5 Der Brief wird noch einige Zeit im Zimmer verwahrt, vielleicht nochmals im Einzelgespräch aufgegriffen und ganz sicher vom Klienten noch mehrfach gelesen. 5 Wenn die Zeit reif ist, wird der Brief »abgeschickt«, also den Elementen übergeben. Viele Klienten wählen das Verbrennen des Briefs, andere fahren mit dem Boot auf einen nahegelegenen See hinaus, wickeln den Brief um einen Stein und versenken ihn im Wasser. Manchmal wird der Brief in kleine Stücke zerrissen und im Wald vergraben. Dieses Ritual des Absendens wird am besten im Beisein von mindestens einem Mitklienten durchgeführt, denn Trauer um einen Verstorbenen sollte immer von einer (kleinen) Gemeinschaft mitgetragen werden, und außerdem ist die Präsenz eines Freundes immer tröstlich. Wenn es passend erscheint, kann der Therapeut dem Klienten zusätzlich vorschlagen, die Kirche oder eine Kapelle aufzusuchen und dort in die stille Zwiesprache mit Gott einzutreten, sein eigenes Schicksal in diesem spirituellen Kontext zu überdenken und vielleicht sogar auf diese Weise mehr Akzeptanz zu entwickeln. Auch eine Kerze für den Verstorbenen könnte als kleines Ritual des Gedenkens dienen.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext Wenn man diese Intervention im Gruppenkontext verwendet, stellt die Phase der Stuhlübung selbst eine Art Einzeltherapie vor Zuschauern dar. Es ist
jedoch möglich, eine Unterbrechung einzufügen und kurz im Plenum gemeinsam mit der Gruppe zu überlegen, was für den Protagonisten der nächste Schritt in der Verarbeitung seiner Trauer sein könnte. Die Erlaubnis der anderen Gruppenmitglieder für den Trauernden, nun wirklich den Verstorbenen loszulassen und sein eigenes Leben wieder positiv zu gestalten, ist sehr kraftvoll, solange die Gruppenatmosphäre respektvoll und mitfühlend bleibt und der Protagonist sich zunächst in seiner (manchmal extremen und chronifizierten) Trauer angenommen fühlt. Frau T. trauert um ihren 20-jährigen Sohn Andreas, der vor knapp drei Jahren bei einem Autounfall als nicht angeschnallter Beifahrer ums Leben kam. Die Therapie beinhaltete mehrere Stuhlübungen, und aufgrund der tiefen Religiosität und Intuition der Patientin konnte gezielt mit den intuitiv empfangenen Antworten des verstorbenen Sohns gearbeitet werden. Frau T. schilderte eine Situation am letzten Tag mit ihrem Sohn, die sie sehr belastete: Der junge Mann war einige Stunden zu Hause, denn er wohnte noch bei den Eltern, bevor er das Haus das letzte Mal verließ. Die Patientin bedauerte nun auf sehr schmerzliche Weise, dass sie gerade an diesem Tag nicht die maximale Zeit mit ihm verbracht hatte, sondern dass sich beide in verschiedenen Räumen des Hauses aufgehalten hatten; es ging um ca. 1,5 Stunden des verpassten Zusammenseins, was ihr im Rückblick als extremes Versäumnis vorkam. Auf dem Gesprächsstuhl nutzte sie nun zunächst die Gelegenheit, sich beim Sohn für dieses scheinbare Versäumnis zu entschuldigen und ihr tiefes Bedauern auszudrücken – Tränen flossen, die Belastung war deutlich spürbar. In der intuitiven Position hinter dem Stuhl des Sohnes konnte Frau T. dann jedoch in ihrem Geist nach einer Minute der Stille sehr klar die Perspektive wechseln und sich für das öffnen, was Andreas wohl gesagt hätte. Erstaunlich, wie sich die Mimik entspannte und sich der Tonfall der Klientin plötzlich völlig veränderte, eine freundlich-unterstützende Leichtigkeit ausdrückend: »Ach, Mutti, mach es dir doch nicht so schwer. Wir haben doch so viele schöne Zeiten zusammen verbracht« etc. Als die Klientin die Augen wieder öffnete, lächelte sie und war von ihrem dysfunktionalen Schuldgefühl befreit.
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
Wenn die Übung so positiv verläuft, bleibe ich gerne bei dem Bild, dass Andreas der Mutter tatsächlich eine Botschaft übermittelt hat – ohne jedoch die Interpretation zu fördern, hier habe ein esoterisches Channeling des Verstorbenen stattgefunden. Falls eine Klientin zu sehr in diese esoterische Richtung neigen sollte und so Verantwortung für ihren eigenen psychischen Prozess nicht übernimmt, würde ich durchaus die Erklärung hinzufügen, dass dieses Bild vom verstorbenen Sohn, mit dem eine so gute Beziehung bestand, beim Aufsuchen der gesunden inneren Anteile im eigenen Bewusstsein extrem hilfreich ist – dass also letztlich natürlich der Erfolg dieser Lösung zu hundert Prozent der Klientin selbst zuzurechnen ist. Diese Attribution fördert die Selbstwirksamkeit. Bei Frau T. wurde der direkte Kontakt mit ihrem Sohn Andreas als Katalysator für die eigenen gesunden Anteile explizit diskutiert, da sie an das großzügige gegenseitige Wohlwollen in der Beziehung anknüpfen konnte. In dieser längeren ambulanten Psychotherapie war übrigens ab der ersten Stunde klar, dass Trivialitäten wie: »Sie müssen loslassen lernen« bei dieser differenzierten und sensiblen Frau sehr unbeliebt sein würden – ich vermied das Wort loslassen ganz bewusst, obwohl es mir natürlich immer wieder auf der Zunge lag. Eines Tages kam Frau T. nun in die Therapiesitzung und erklärte, im Gottesdienst habe ein Priester, der als Gast ihre Gemeinde besuche, sehr gut vom Loslassen gesprochen und dass sie nun spüre, dazu jetzt auch langsam in der Lage zu sein. Von diesem Zeitpunkt an war das Wort im Therapiegespräch nicht mehr tabu.
4.4.4
Eine problematische Beziehung beenden: Gespräch mit einer verstorbenen Person
Im Gespräch mit einem Verstorbenen, zu dem die Beziehung besonders schwierig war, ist mit einer Vielzahl von oft widerstreitenden Gefühlen zu rechnen. Zusätzlich könnte es ein Problem darstellen, den Endpunkt dieser Auseinandersetzung zu finden – eine echte Versöhnung kann oft auch mit mehreren Stuhlübungen in Folge nicht erzielt wer-
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den und sollte auch keinen unbedingt erwünschten Zielstandard darstellen. Vielmehr geht es beim Klienten darum, einen äußeren und inneren Abschluss der Beziehung zu gestalten und – trotz allem – innerlich zur Ruhe zu kommen. Der Verlauf der Übung unterscheidet sich stark von der vorherigen Übung, wo eine positive Beziehung zum Verstorbenen bestand. Bei dieser Übung besteht eine Überschneidung mit den Übungen zum Abschied von den Eltern und zur Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson (7 Kap. 4.4.2), die ggf. auch zum Einsatz kommen können. Da es sich jedoch bei der Intervention in diesem Abschnitt immer um eine verstorbene Person handelt, wird der objektive Abschied vom Verstorbenen mit dem subjektiven, psychologischen kombiniert; bei den Übungen Abschied und Klärung liegt der Schwerpunkt immer beim rein subjektiven Abschied. Auch sind die Beziehungen, mit denen in diesem Abschnitt gearbeitet wird, meistens extrem problematisch, was beim Abschied oder bei der Klärung nicht der Fall ist. Weiterhin arbeitet man im Normalfall bei dieser Intervention mit einem Verstorbenen in der (fernen) Vergangenheit des Klienten. Zusätzlich kann und sollte auch möglichst oft die spirituelle Dimension – die Vorstellung des Klienten vom Sterben und vom Jenseits – angesprochen werden. Dies ist der Hauptunterschied zu den Interventionen in 7 Kap. 4.4.2, in deren Verlauf diese Dimension nicht explizit angesprochen wird.
Zielgruppe Für diese Übung besteht keine Empfehlung hinsichtlich des Alters der Klienten. Die Bewältigung des Abschieds von der verstorbenen Person wird erfordern, dass der Klient noch ein letztes Mal, vielleicht sogar mehrfach, seine negativen Gefühle während der Übung klar ausdrückt und spürt. Eine generelle psychische Belastbarkeit für das Erleben von negativen Gefühlen wie Wut, Hass, Verachtung oder Ekel sollte daher für die Durchführung dieser Intervention vorhanden sein.
Therapeutische Zielsetzung In dieser Stuhlübung geht es meistens um Eltern oder Hauptbezugspersonen aus der Jugend, viel seltener um einen Chef oder ehemaligen Freund,
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
mit dem die Beziehung sich negativ entwickelt hatte. Mit diesen nahestehenden Personen war das echte Gespräch über die wichtigen Aspekte der gemeinsamen Beziehung meist vor langer Zeit abgebrochen, bevor der Tod diese Situation scheinbar endgültig machte. Es ist paradox, dass der endgültige Abschied von einer nahestehenden Person, zu der ein problematisches Verhältnis bestand, sich meistens viel schwieriger gestaltet als der Abschied durch Tod auf der Basis einer unkomplizierten und wertschätzenden Beziehung: Vielleicht fehlt der hinterbliebenen Person die Möglichkeit, im direkten Gespräch noch eine letzte Klärung der problematischen Beziehung zu erzielen oder sich zumindest adäquat abzugrenzen; ganz sicher entfällt jedoch nach dem Tod einer engen Bezugsperson jegliche direkte Möglichkeit, von dieser Person vielleicht doch noch die ersehnte Zuwendung oder Anerkennung zu bekommen, die man sich immer erhofft hatte. Insbesondere von den Eltern löst man sich wesentlich leichter, wenn die emotionale Beziehung in der Jugend positiv und wertschätzend war. Therapeutisches Ziel dieser Stuhlübung ist eine innere Beruhigung, ein innerer Abschluss der Beziehung zu diesem Verstorbenen, auch wenn es oft natürlich keine nachträgliche Versöhnung geben kann. Die Klienten versuchen in dieser Übung gelegentlich, sehr bald zum Verzeihen zu gelangen, weil sie meinen, dass dies Ziel der Übung sei. Allerdings kann ein Verzeihen, das der Klient sich selbst quasi verordnet hat, niemals authentisch empfunden werden und dem Klienten daher auch nicht die wirkliche emotionale Entlastung verschaffen, die Ziel dieser Intervention ist. Der Therapeut achtet daher sehr genau darauf, was die reale Gefühlslage des Klienten ist und ob er sich wirklich in der ersten Phase des Gesprächs mit dem Verstorbenen den Ausdruck all der negativen, verletzten Gefühle erlauben konnte. Die psychische Entlastung der Übung entsteht nämlich hauptsächlich durch den Ausdruck dessen, was meistens in der realen Beziehung zu dieser Person niemals gesagt werden konnte oder durfte. Die Versöhnung oder das Verzeihen braucht also keinesfalls das Hauptziel der Übung zu sein – kein Klient muss dem prügelnden oder ständig alkoholisierten Vater aus der Jugend letztlich ver-
zeihen. Nur, wenn der Therapeut den Eindruck gewinnt, dass der Klient in authentischer Weise den Verstorbenen in seiner eigenen Begrenztheit und Tragik verstehen und ihm verzeihen kann, stellt diese Form der emotionalen Beruhigung einen günstigen Endpunkt der Übung dar. Auch wenn die Versöhnung mit dem Verstorbenen also nicht zu erreichen ist, leitet der Therapeut den Klienten im Stuhldialog dazu an, eine bessere innere Balance hinsichtlich der Beziehung zum Verstorbenen zu finden, vielleicht sogar einen Kernsatz der Akzeptanz zu formulieren, der psychisch entlastet, ohne schönzufärben. Vollständige Akzeptanz, auch wenn diese lauten muss: »Ich hatte einen unfairen, prügelnden Alkoholiker zum Vater, aber ich bin anders«, befreit letztlich aus der Umklammerung dieser negativen Beziehung. Es hängt von der Zielsetzung der Übung ab, ob ein Kindstuhl und ein Erwachsenenstuhl benannt werden sollten oder nur ein Auseinandersetzungsstuhl und ein Abschiedsstuhl. Wahrscheinlich tritt auf dem Auseinandersetzungsstuhl im Gespräch mit frühen Bezugspersonen ohnehin eine gewisse Regression ein, sodass diese nicht unbedingt gezielt gefördert werden sollte angesichts der oftmals sehr missbräuchlichen Beziehung zum Verstorbenen. Der therapeutische Schwerpunkt dieser Intervention liegt in der Stärkung der souveränen Abgrenzung vom Verstorbenen, nicht in der Förderung einer Regression. Im Vergleich zur Übung Abschied von den Eltern (7 Kap. 4.4.2), wo ja die Bezugsperson durchaus auch verstorben sein könnte, wird in dieser Übung von einer sehr viel problematischeren Beziehung zum Verstorbenen ausgegangen, aber die Übergänge wären schwierig zu beschreiben, und diese Unterscheidung im Schweregrad des Beziehungsproblems hat für den positiven Verlauf der Übung selbst keine Bedeutung, nur für den lernenden Psychotherapeuten. Das Einbringen der spirituellen Dimension bietet sich in der Arbeit mit Verstorbenen immer an. Wenn der Klient denkt, dass der Verstorbene ihn weiterhin aus dem Jenseits stark negativ beeinflussen kann, hat dies für den Verlauf der Intervention natürlich ein ganz anderes Gewicht, als wenn er die Vorstellung hegt, dass der Verstorbene in ein neues Leben eintritt oder eingetreten ist und dort bestimmt Lektionen lernen muss, die er im gemein-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
samen Leben verpasst hat. Weiterhin können die Vorstellungen des Klienten vom eigenen Sterben und dem, was danach kommt, einbezogen werden. In der Nachbesprechung der Intervention werden im Sinne der Ressourcenwahrnehmung auch die positiven Folgen dieser Erfahrung für den Klienten thematisiert, denn ein Mensch kann auch hochproblematische Zeiten in seinem Leben letztlich zur Entwicklung von persönlicher Stärke, mehr Empathie oder einer neuen Lebensperspektive verwenden (vgl. das Konzept des posttraumatischen persönlichen Wachstums, Zöllner & Märcker, 2006). Außerdem findet oft negatives Modelllernen in Bezug auf den Verstorbenen statt, der vielleicht ein gewalttätiger Alkoholiker war: Der Klient selbst entwickelt aus der Erfahrung mit diesem Vater heraus eine gesunde Skepsis gegenüber dem regelmäßigen Alkoholgenuss und eine klare ablehnende Haltung gegen jegliche Gewaltausübung.
Kontraindikationen, mögliche Gefahren Durch diese Intervention könnte die Negativität im Erleben des Klienten vielleicht verstärkt und verfestigt werden, obwohl das meiner Erfahrung nach noch nicht vorgekommen ist. In diesem Fall sollten Therapiesitzungen psychoedukativer Art, z. B. Selbstmanagement im Bereich der intensiven Gefühle und Sitzungen zur kognitiven Umstrukturierung, eingeschoben werden, um die Blockierung des Loslassens zu beheben. Es kann auch passieren, dass die Lösungsphase der Übung nicht oder zumindest nicht zeitnah erreicht wird. Das mag für den Therapeuten unbefriedigend sein, aber die Erfahrung zeigt, dass auch diese Klienten von der kathartischen Wirkung des Gefühlsausdrucks in der ersten Therapiephase profitieren. In einer längeren ambulanten Psychotherapie kann die Exploration auf dem Abschiedsstuhl auch nach mehreren Wochen noch wiederholt werden, um Entwicklungen in der Bewältigung dieser schwierigen Beziehung fühlbar zu machen. Der Therapeut im stationären Setting kann diese Wiederholung der Lösungsphase an die fortführende ambulante Psychotherapie delegieren. Bei Traumapatienten mit dysfunktionalen Bewältigungsstrategien wie Selbstverletzung oder übermäßigem Substanzgenuss ist zusätzliche Umsicht in der Durchführung der Intervention er-
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forderlich. Für schwer depressive, manische oder psychotische Klienten und Personen mit Suchtverhalten gelten die üblichen Überlegungen zum aktuellen psychischen Status und der psychischen Belastbarkeit.
Dauer der Übung Für diese Übung kann im einfachsten Fall eine einzelne Sitzung ausreichend sein, wenn es sich nicht um komplizierte Trauer handelt. In solchen Fällen sind dann zwei bis drei, in Ausnahmefällen auch mehr Sitzungen mit Stuhlübungen erforderlich. Die Stuhldialoge sind dann in die längere Behandlung der komplizierten Trauer eingebettet.
Stuhlpositionen Für die Stuhlübung »Gespräch mit einer verstorbenen Person – problematische Beziehung« (. Abb. 4.9) können – wenn nur eine einzige Sitzung erwartet wird – drei Übungsstühle aufgestellt werden: Für den Klienten gibt es einen Auseinandersetzungsstuhl und einen Bewältigungs- oder Abschiedsstuhl nebeneinander, gegenüber steht dann der Stuhl des Verstorbenen (. Abb. 4.9a, b). Bei mehreren Sitzungen zu diesem Thema kann man mit nur zwei Stühlen beginnen, um keinen Druck auf den Klienten auszuüben (. Abb. 4.9c) – der Abschiedsstuhl hat immer Aufforderungscharakter und braucht in der ersten Sitzung noch nicht bereitzustehen. Die intuitive Position kann bei dieser Übung ebenfalls verwendet werden (. Abb. 4.9d), um die Beweggründe des Verstorbenen zu ergründen und ggf. sogar eine positive Botschaft zu empfangen (s. Fallbeispiel unten unter »Abwandlungen«).
Detaillierte Beschreibung der Übung z
Einführung
In den meisten Therapien, in denen das Thema des Abschieds von einer extrem schwierigen Person aufkommt, wird eine einzelne Sitzung dieser Art durchgeführt, jedoch kann es auch sinnvoll sein, zwei oder drei Sitzungen einzuplanen. Wenn man vermutet, dass eine Sitzung ausreichen wird, arbeitet man gleich mit drei Übungsstühlen (. Abb. 4.9a, b). Der Therapeut erklärt dem Klienten die Positio-
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
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. Abb. 4.9 Gespräch mit einer verstorbenen Person – problematische Beziehung. a Der Klient nimmt auf dem Auseinandersetzungsstuhl Platz und erklärt dem Verstorbenen, wie schwierig die Zeit mit ihm war und warum. b Der Klient sitzt auf dem Abschiedsstuhl und nimmt Abstand vom Verstorbenen; er formuliert seine Form der Überwindung der alten Verletzungen. c Variante der Übung, bei der man zunächst nur einen Gesprächsstuhl aufstellt, um mit dem Thema Abschied oder Abgrenzung keinen Druck auszuüben. d Der Klient nimmt die intuitive Position hinter dem Stuhl des Verstorbenen ein, um zu ergründen, was diesen motivierte und was er wirklich dachte und fühlte
nen: »Diese zwei nebeneinanderstehenden Stühle sind für Sie. Auf dem Auseinandersetzungsstuhl haben Sie Gelegenheit, Ihrem Vater nochmals alles zu sagen, was Sie schon immer ausdrücken wollten. Stellen Sie sich dazu vor, dass Ihr Vater heute hier sitzt, tatsächlich offen ist und Ihnen zuhören kann. Ich weiß, dass das nicht der Realität entspricht, aber diese Vorstellung soll Ihnen helfen, sich ganz auf sich selbst und Ihre Gefühle zu konzentrieren.« Zunächst lässt der Therapeut sich das Aussehen des Vaters genau schildern, um dem leeren Stuhl eine gewisse imaginäre Realität zu verleihen. Dann setzt der Klient sich auf den ersten Stuhl. Oft ist es hilfreich, bereits bei der Einführung der Übung explizit die Erlaubnis für schwierige Gefühle zu geben: »Ihren Erzählungen entnehme
ich, dass Sie viele Gefühle im direkten Kontakt mit Ihrem Vater unterdrücken mussten, dass Sie ihm also nie mitteilen konnten, was er bei Ihnen angerichtet hat und wie sich das alles anfühlte, was Ihnen widerfahren ist. Heute haben Sie auf dem ersten Stuhl die Gelegenheit, dies nachzuholen – Sie dürfen jetzt wirklich auspacken, Sie dürfen und sollten sogar alles völlig unzensiert ausdrücken, was Sie über Jahre hinweg in sich angestaut haben und nie sagen konnten. Ich helfe Ihnen dabei so gut wie möglich mit Fragen und Vorschlägen.« Eine kurze Erklärung des Abschiedsstuhls erfolgt ebenfalls zu Beginn der Übung: »Der zweite Stuhl ist der Abschiedsstuhl. Ob wir heute dazu kommen, diesen Stuhl zu verwenden, ist jetzt noch unklar – wir können das auch in der nächsten Sit-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
zung tun. Auf diesem Abschiedsstuhl geht es um eine innere Loslösung, mit der Sie zur Ruhe kommen und diese schwierige Beziehung innerlich abschließen können.« Mehr Inhalt ist zunächst als Erläuterung des zweiten Stuhls nicht notwendig. z
Erste Therapiesequenz
Ähnlich wie bei der Übung Gespräch mit dem Missbraucher (7 Kap. 4.4.1) geht es auch in dieser Sequenz für den Klienten zunächst darum, dieser wichtigen Bezugsperson aus der Vergangenheit lange unterdrückte Gefühle und Inhalte ohne Selbstzensur mitzuteilen (. Abb. 4.9a). Manche Klienten sind schnell in der Lage, eine sehr konfrontative Haltung einzunehmen, sich kraftvoll auszudrücken und auch die früher negierten Gefühle wie Hass oder Verachtung zu empfinden. In diesem Fall begleitet und unterstützt der Therapeut den Klienten nur solange, bis die Anspannung und Negativität nachlassen, bis also zunächst ein Mal alles gesagt wurde. Viele Klienten benötigen jedoch gezielte Hilfestellung, um die innere Verbotsschwelle von: »Das ist zu riskant, das darfst du ihm nicht sagen« zu überwinden. Hier einige Vorschläge für Hilfestellungen: 5 »Vielleicht denken Sie einmal zurück an die Kindheit – ein Kind ist verletzlich und abhängig von den Bezugspersonen. Wie war es für Sie als Kind, unter diesem Vater aufzuwachsen? Was haben Sie mit ihm erlebt? Warum war es so schwierig, sein Sohn zu sein? Welche Gefühle haben vorgeherrscht?« 5 »Sie könnten erst einmal einige Ereignisse aus der Zeit mit Ihrem Vater beschreiben, die Ihnen noch gut im Gedächtnis sind. Was ist passiert? Was war die Rolle des Vaters? Welche Gefühle wurden durch das Ereignis und sein Verhalten in Ihnen damals ausgelöst?« 5 Visualisierungshilfe, wenn keine Ereignisse erinnert werden: Der Therapeut leitet den Klienten an, sich das eigene, jüngere Ich in einer schwierigen Situation mit dem Vater vorzustellen und die Szene zu beobachten, und zwar als dritte Person und wissender Beobachter sozusagen, der die Gefühle des jüngeren Ich genau wahrnehmen kann. Visualisierungen dieser Art – am besten mit geschlossenen Augen – können sehr kraftvoll wirken. Kenntnisse für
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die Anleitung von Visualisierungen werden vorausgesetzt (vgl. Kirn et al., 2009). 5 Bei manchen Klienten wird sichtbar, dass sie starke Gefühle empfinden, aber sie können diese nicht ausdrücken. In diesen Fällen kann der Therapeut gezielte Hilfestellung in Form einer empathischen Bemerkung mit der expliziten Erlaubnis für schwierige Gefühle geben: »Ein Kind, das so behandelt wurde wie Sie, entwickelt oftmals intensive Hassgefühle auf den gewalttätigen Vater. Wie war das bei Ihnen? Was haben Sie ihm gewünscht, nachdem er Sie verprügelt hatte?« 5 Auch einige Vorschläge für mögliche Gefühle können dem gehemmten Klienten helfen, zum Ausdruck seiner Gefühle zu kommen: »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie damals vielleicht Gefühle der Wut, des Hasses und der Verachtung, zeitweise auch der Ohnmacht und der Verzweiflung gespürt haben. Was passt davon auf Ihre Erfahrung mit dem Vater?« z
Option: Unterbrechung der Übung hier
Wenn die psychische Belastung der ersten Therapiesequenz hoch war oder wenn einfach der Zeitrahmen für die zweite Sequenz mit dem Abschiedsstuhl nicht gegeben ist, kann die Übung hier unterbrochen werden. Oft ist es aus psychotherapeutischen Gründen sehr sinnvoll, die Übung in zwei Sitzungen durchzuführen, da sie ja die Transformation einer inneren emotionalen Realität zum Ziel hat – und das braucht Zeit (s. Fallbeispiel unten unter »Abwandlungen«). Als Option kann es sinnvoll sein, dass der Klient die Inhalte der ersten Therapiesequenz in Form eines Briefs an den Verstorbenen zusammenfasst, um sich nochmals mit den belastenden Gefühlen zu konfrontieren und diese im brieflichen Kontakt mit dieser Bezugsperson auszudrücken. Die therapeutische Begründung für diesen Schritt basiert auf dem Expositionsrational: In der zweiten Konfrontation mit der problematischen Situation müssten die Gefühle bereits weniger belastend und intensiv sein, da die Schwelle zum Erleben der Gefühle bereits in der Übung selbst überschritten wurde. Dies stellt eine hilfreiche Intensivierung für fortgeschrittene und belastbare Klienten dar. Für die anderen ist die Präsenz des Therapeuten essenziell, sodass die
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Wiederholung der ersten Therapiesequenz in einer weiteren Therapiesitzung sinnvoll sein kann: »Hier ist noch einmal der Auseinandersetzungsstuhl. Was ist Ihnen noch eingefallen, das Sie noch nicht gesagt hatten? Was muss noch ausgedrückt werden? Oder möchten Sie einfach noch einmal klar und ohne Selbstzensur wiederholen, was Sie Ihrem Vater letztes Mal gesagt hatten?« Diese Sequenz wird am besten erst abgeschlossen, wenn beim Klienten eine merkliche innere Beruhigung eingetreten ist. z
Zweite Therapiesequenz
Für diese Sequenz setzt sich der Klient auf den Bewältigungs- oder Abschiedsstuhl, der direkt neben dem Auseinandersetzungsstuhl steht (. Abb. 4.9b). Mit folgenden Worten können Sie diese Sequenz einleiten: 5 »Wenn Sie jetzt gleich den Abschiedsstuhl einnehmen, dann haben Sie die Gelegenheit, nochmals Dinge zusammenzufassen und Ihre grundsätzliche Haltung Ihrem Vater gegenüber auszudrücken. Dabei dürfen und sollen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen – es soll Ihnen in dieser Hinsicht jetzt gut gehen, vielleicht das erste Mal überhaupt. Wie wollen Sie mit der Erinnerung an den Vater umgehen, damit Sie sich gut fühlen können?« 5 Der Abschied muss die Vielfalt der Gefühle des Klienten einbeziehen; da es sich um eine Bezugsperson handelte, waren wahrscheinlich auch zeitweise positive Gefühle im Spiel: »Da es sich um Ihren Vater handelt, haben Sie wahrscheinlich auch liebevolle und bewundernde Gefühle empfunden, als Sie klein waren. Möchten Sie davon nochmals erzählen? In welchen Situationen haben Sie Ihren Vater auch gemocht und respektiert? Welche positiven Erinnerungen haben Sie?« Falls der Klient verneint, überhaupt positive Erinnerungen zu haben, sollte dies nicht bezweifelt werden; die möglichen positiven Situationen aus der Vergangenheit sind in solchen Fällen wahrscheinlich stark überlagert von den traumatisierenden Gewalterlebnissen und dem eigenen Hass. Der Klient hat das gute Recht, die Bezugsperson nicht differenziert zu sehen.
5 »Sie sind nun 52 Jahre alt, und Ihr Vater ist seit einigen Jahren tot. Es geht jetzt darum, sich von ihm zu verabschieden, was bedeutet, vor allem die Erfahrungen mit Gewalt und Demütigung hinter sich zu lassen. Wie würden Sie diesen Abschied gestalten? Stellen Sie sich vor, dass Ihr Vater heute in seinem besten Zustand ist und Ihnen jetzt aufmerksam zuhört.« Manche Klienten haben genaue Vorstellungen von ihrem eigenen gelassenen Endzustand, andere benötigen jedoch weitere Hilfestellungen. 5 »Sie könnten zunächst einmal die Vogelperspektive einnehmen und Ihrem Vater erklären, was es für Sie und Ihr Leben bedeutet hat, so viel Gewalt erfahren zu haben. In diesem Zusammenhang können Sie ihm auch (nochmals) berichten, welche letztlich positiven Auswirkungen Ihre Erfahrungen hatten – welche günstigen Schlussfolgerungen Sie aus Ihren Erfahrungen ziehen konnten.« Wenn der Klient diese Erfahrungen in seinen Lebenszusammenhang einordnen und vielleicht sogar positive Folgen im Sinne des posttraumatischen persönlichen Wachstums aus den Erlebnissen benennen kann, fördert er so die Überwindung seiner Traumatisierung. Ein Reframing, d. h. eine positive Umdeutung, etabliert den Klienten als Lenker seines eigenen Schicksals, weil er in der Lage ist, die schwierigsten Ereignisse nun als wichtige Lernerfahrungen und Hilfen zu seiner eigenen positiven Entwicklung zu sehen. Wenn es gelingt, solche günstigen Entwicklungen wie: »Ich habe mich selbst sehr gut kennengelernt, denn ich musste mir therapeutische Hilfe holen und ich musste vieles infrage stellen« im Bewusstsein des Klienten zu etablieren, stellt diese Einsicht einen wichtigen Aspekt bei der Überwindung der Opferrolle dar. 5 »Vielleicht wollen Sie Ihrem Vater erklären, wie Sie jetzt weiterleben werden, wie Sie für sich selbst sorgen werden und in welcher Form Sie sich selbst von nun an (immer mehr) respektieren werden.« Es wäre günstig, wenn der Klient hier bereits konkrete Veränderungen in seinen Einstellungen und Verhaltensweisen benennen könnte, z. B. geringerer Alkoholkonsum oder das neue Ziel, eine gute Männer-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
freundschaft zu entwickeln, bei der man sich im Gespräch auch vertrauensvoll öffnen darf. Der Klient wird mit dieser Anleitung implizit dazu aufgefordert, die positiven Aspekte einer Vaterrolle, also Fürsorge, Respekt usw., im Umgang mit sich selbst stärker zu entwickeln und negative, vom Vater übernommene Denkund Verhaltensweisen zu überwinden. Es fällt erfahrungsgemäß missbrauchten Menschen sehr schwer, gut mit sich selbst umzugehen, denn das innere Kind glaubt oft noch, dass es als Mensch irgendwie nicht in Ordnung sei und eine gute Behandlung gar nicht verdient habe. 5 Manchmal ist es möglich, dass der Klient dem gewalttätigen Vater authentisch verzeihen kann. Dies ist meistens mit einer biografischen Herleitung der Gewalttätigkeit des Vaters verknüpft, der möglicherweise selbst nur Gewalt im Elternhaus und zusätzlich noch den Zweiten Weltkrieg erlebt hat – in Kombination mit fehlender professioneller Unterstützung für seine emotionalen Probleme danach. Es ist berührend, wenn der Klient seinem Vater tatsächlich verzeihen und auf diese Weise seine eigene innere Ruhe herstellen kann. Diese Ruhe kehrt natürlich nicht ein, wenn der Klient sich nur sozial erwünscht verhält und sich das Verzeihen quasi verordnet. Der Therapeut lenkt diesen Prozess und gibt auch hier Erlaubnis, die Beziehung zum Vater ohne Verzeihung abzuschließen. 5 Es ist sehr hilfreich für die Gestaltung des Loslassens, auch die spirituelle Dimension für den Klienten aufzurufen: »Was glauben Sie, wo Ihr Vater jetzt ist? Gibt es ihn noch? In welcher Form?« Wenn der Klient religiös ist: »Wird ihm verziehen werden? Muss er vielleicht nochmals ins irdische Leben eintreten? Wenn ja – was wird möglicherweise seine Aufgabe im nächsten Leben sein?« Viele Christen, die sich nie mit einer der östlichen Religionen befasst haben, äußern trotzdem die klare Überzeugung, dass es frühere und weitere Leben für jede Seele gibt. Der Therapeut sollte in dieser Sequenz auf jeden Fall nach diesen Vorstellungen suchen und sie in die Sitzung einbeziehen.
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5 Zusätzlich kann in dieser Intervention auch die Vorstellung des Klienten bezüglich seines eigenen Sterbens und der Erlebnisse danach thematisiert werden. Die Einbeziehung der eigenen Betroffenheit gibt dieser Übung eine gewisse Tiefe und existenzielle Bedeutung. Außerdem kann das Erleben der spirituellen Dimension bei der Überwindung der alten Verletzungen durch den Verstorbenen von großem Nutzen sein. Im Therapiegespräch kann man Ausdrücke wie »Trennung der Schicksalswege« verwenden. z
Abschluss und Nachbesprechung
Der Abschluss der Übung sollte mit einer sichtbaren Beruhigung, mit einer Verschiebung der Emotionen ins Positive und mit erhöhter Selbstfürsorge des Klienten einhergehen. Der Klient drückt idealerweise am Ende der Intervention Erleichterung, Gelassenheit und eine adäquate Distanzierung von den vergangenen Ereignissen und Verletzungen aus. In der Nachbesprechung ermutigt der Therapeut den Klienten, nochmals die Abfolge der verschiedenen Gefühle und vor allem den Endpunkt der Übung zu reflektieren.
Optionen für die Aufarbeitung der Übung Sowohl die erste als auch die zweite Therapiesequenz kann mit einem Brief an den Vater verknüpft werden: der erste Brief zur rückhaltlosen, erwachsenen Abrechnung mit dem Vater, der zweite als Abschied. Es ist günstig, wenn der zweite Brief auch eine längere zukunftsorientierte Sequenz enthält, in der der Klient dem Vater sein künftiges, positiv verändertes Leben schildert. Bei Männern ist es wichtig, auf die direkten Gefühlsworte zu achten, da ihre Sozialisation den Gefühlsausdruck weniger betont, als das bei Frauen der Fall ist.
Verwendung der Übung im Gruppenkontext Diese Übung kann im Rahmen einer Psychotherapiegruppe erfolgen und erzeugt meistens eine gebannte Stille bei den Zuschauern. Der Therapeut kann die Übung an bestimmten Stellen, z. B. in der Mitte oder am Ende der ersten Therapiesequenz, unterbrechen, um die Gruppe einzubeziehen. Die
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Kapitel 4 • Stuhlübungen
Zuschauer können dann die Gefühle des Protagonisten validieren und ihn – wenn das Gespräch mitten in der Sequenz stattfindet – stärken, diese Gefühle nun anzuerkennen und direkt auszudrücken. Wenn der Protagonist im Ausdruck seiner negativen Gefühle sehr zaghaft ist und die alten Verbote nicht überwinden kann, können zwei oder drei Gruppenmitglieder auf dem Stuhl des Protagonisten als Rollenmodell dienen, was er denn dem gewalttätigen Vater alles sagen könnte. Der Protagonist sitzt für diese Sequenz auf einem Beobachterstuhl neben dem Therapeuten. Der Therapeut macht seine Intention transparent: »Diese Beispiele, was man dem Vater alles sagen könnte, sollen Ihnen Mut machen, sich kraftvoll zu äußern. Sie können einzelne Elemente aus dem, was die Mitpatienten gesagt haben, übernehmen, aber letztlich geht es darum, dass Sie Ihren ganz eigenen Stil der Auseinandersetzung mit Ihrem Vater finden und sich trauen, alles klar zu äußern, was Sie innerlich bewegt.«
Abwandlungen In manchen Fällen kann nach der ersten Therapiesequenz auch noch die intuitive Position (. Abb. 4.9d) aufgerufen werden. Das folgende Fallbeispiel zeigt, wie eine Klientin tatsächlich von ihrem als ausschließlich negativ erlebten Vater zwei positive Botschaften aus dieser Position heraus erhielt und sich ihre Wahrnehmung seiner Person um diese Facette erweiterte, die er allerdings zu Lebzeiten nie kommunizieren konnte. Inwiefern die Inhalte der intuitiven Position wirklich wahr sind, ist letztlich irrelevant. Es handelt sich um eine psychologische Wahrheit dieses Menschen, und die intuitive Position ist eine Gelegenheit, zusätzliche Perspektiven zu diesem schwierigen Thema zu entwickeln. Falls der Klient in der intuitiven Position keine Informationen abrufen kann, nimmt der Therapeut diese Position ein, während sich der Klient wieder auf seinen Übungsstuhl setzt. Der Therapeut macht nun aus seiner Intuition und seinem therapeutischen Wissen heraus Vorschläge zu den Gedanken und Motiven des schwierigen Verstorbenen, die der Klient validieren oder verwerfen sollte.
Frau W. war bereits vor dem Klinikaufenthalt in psychotherapeutischer Behandlung, bei der sie ihre Kindheit aufgearbeitet hatte, denn sie litt als Kind unter einem ständig betrunkenen und gewalttätigen Vater. In einer Stuhlübung mit drei Übungsstühlen und über zwei Sitzungen hinweg gestaltet sie den Abschied von ihm. Sie war 14 Jahre alt, als der Vater sich mit 44 Jahren das Leben nahm. Frau W. wirft ihm auf dem Abrechnungsstuhl ruhig, aber doch unter Tränen zunächst die Gewalt und die Missachtung vor: »Du bist unmenschlich. Ich war dein Ventil. Der Stiefel im Po tut weh, die Gürtelschnalle und die Hand im Gesicht auch – ich bin doch kein Tier. Du konntest uns nicht lieben. Außerdem war Kinderarbeit verboten.« Die Klientin musste nämlich schon als Vorschulkind in der Landwirtschaft hart arbeiten. Auf Nachfrage gibt sie keinerlei positive Erinnerungen an, spürt nur nochmals die Angst, die Verachtung und die Wut gegen den Vater. Mit etwa 13 Jahren habe sie überlegt, zurückzuschlagen. Folgen dieser Erfahrungen insgesamt: »Es war wenig Raum für Glück in meinem Leben; ich musste mir das, was ich jetzt habe, mühsam erkämpfen.« Und: »Ich bin trotzdem stark geworden.« In Bezug auf Männer: »Ach – nie heiraten«, dachte sie damals, ist aber nun mit 47 Jahren doch glücklich verheiratet. Sie sagt auch zum Vater: »Ich war froh, als du tot warst«, ein Satz, zu dem nur wenige Klienten den Mut aufbringen. Nach einiger Zeit auf dem Abrechnungsstuhl beruhigt sich die Klientin sichtbar und erklärt hierzu in der kurzen Zwischenbesprechung: »Er ist immer kleiner geworden auf dem Stuhl, ein Häuflein Elend. Ich habe ihn zum Schluss nicht mehr als Bedrohung gesehen.« Diese spontane imaginative Lösung geschieht nicht oft. Die beiden Stuhlpositionen wurden bewusst auf zwei Sitzungen verteilt, um dem inneren Prozess Zeit zu geben. Die Klientin beginnt in der zweiten Sitzung nochmals auf der ersten Stuhlposition. Dort fasst sie zusammen, was sie in der ersten Sitzung gesagt hatte, und fügt nun psychologische Einsichten über den Vater hinzu: »Du hättest andere respektieren sollen. Du konntest selbst nicht richtig leben.« Sie erklärt, dass der Vater selbst unter De-
4.4 • Stuhlübungen auf Ebene 3 – komplexe, hochemotionale Übungen
pressionen litt, mit seiner Arbeit völlig überfordert war und in seiner eigenen Kindheit viel Gewalt erfahren hatte. In der intuitiven Position hinter dem Stuhl des Vaters wird Frau W. nun gebeten, sich für das zu öffnen, was der Vater ihr heute sagen würde, und sehr schnell kommen Sätze wie: »Ich mag dich, bin stolz auf dich«, denn sie ging als einziges Kind aus ihrem Dorf auf das Gymnasium. Frau W. war selbst sehr erstaunt über diese Sätze – »Das ist ein ganz neuer Zug an ihm«–, die der Vater real jedoch nie hatte äußern können: Er war zu sehr mit sich beschäftigt, mit seiner Überforderung auf dem Hof und dem Alkohol. Frau W. wechselt nun auf den Abschiedsstuhl und wird zunächst ärgerlich. Sie hadert mit dem, was er ihr angetan hat, und gibt ihm die Schuld, zu Recht. Das Wort Abschied passt für sie gar nicht: »Ich kann nicht Abschied nehmen, da die Spuren deines Verhaltens mich bis an mein Lebensende verfolgen werden.« Sie benennt heutige Probleme als Beleg, z. B. orthopädische Probleme mit der Wirbelsäule aufgrund der körperlichen Arbeit als Kind. Nachdem einige negative Aspekte hier nochmals geäußert wurden, wird ihre Aufmerksamkeit gezielt auf alles, was sie trotz dieser schwierigen Kindheit geschafft hat, gelenkt – auf ihre Ressourcen: Sie ist Gymnasiallehrerin geworden, kommt mit ihren Schülern gut zurecht, führt eine gute Ehe, war selbst nie gewalttätig, trinkt nicht, liest viel und nimmt die Hilfe anderer Menschen im Lauf ihres Lebens adäquat in Anspruch. Psychologisch entwickelte sie trotz einiger Rückschläge eine große innere Stärke, Selbstvertrauen und eine hohe Lernfähigkeit. Eigenschaften wie Neugierde, Durchhaltevermögen und Mut halfen ihr, die beengten Verhältnisse des Elternhauses zu verlassen und ihren eigenen Weg zu gehen. Frau W. ist erstaunt über so viele positive Unterschiede zum Vater und beginnt, den Abstand zwischen sich und ihm zu spüren: »Ich bin einfach froh, dass ich so weit weg bin von dir.« Der Stuhl erhält daraufhin die Bezeichnung Abstandsstuhl, was für Frau W. gut passt. Eine Zufriedenheit über diese ressourcenbetonte Wendung des Gesprächs und die Umbenennung des Stuhls ist bei ihr spürbar. Die Übung konnte an diesem Punkt gut beendet werden. Die hohe Authentizität dieser Klientin ermöglichte ihr eine persön-
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4
liche und plausible Lösung des Themas Abschied vom Vater, jenseits der Standardbenennung des Stuhls. Frau W. nahm auch in einer späteren Sitzung nochmals Bezug auf den großen Abstand, den sie zwischen sich und den Vater legen konnte. Die spirituelle Seite dieses Abschieds wurde innerhalb dieser Übungssitzung nicht thematisiert, sondern für einen späteren Zeitpunkt ins Auge gefasst.
145
Metaphern und Vergleiche 5.1
Angst vor Psychopharmaka: Der Fluss des Lebens mit Schwimmreifen – 146
5.2
Gehirn und Gewohnheit: Die Waldmetapher – 147
5.3
Schuldgefühle: Das Schuldhalsband – 148
5.4
Selbst aktiv werden: Die Leiter im Loch – 149
5.5
Ein Lebensthema: Die Bewältigungsspirale – 149
5.6
Chronische Suizidalität: Das Lebensbüchlein – 150
S. Hedlund, Mit Stift und Stuhl, DOI 10.1007/978-3-642-05064-0_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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5
Kapitel 5 • Metaphern und Vergleiche
In diesem Kapitel stelle ich Ihnen einige erprobte Metaphern für bestimmte therapeutische Situationen vor. Eine Metapher stellt einen abstrakten Sachverhalt in einem analogen Bild dar, wobei der Vergleich oder die Analogie implizit bleibt und dem Leser oder Hörer die Deutungsleistung überlassen wird. Da der Therapeut jeweils eine bestimmte Intention mit der Verwendung einer Metapher verfolgt, wird er dem Klienten jedoch eher wenig Interpretationsspielraum lassen und manchmal die Deutung selbst einfließen lassen.
Im Allgemeinen verwenden kognitive Verhaltenstherapeuten nicht so viele Metaphern und Vergleiche wie Psychotherapeuten in der Hypnotherapie und bei den psychodynamischen Verfahren, aber die wohlüberlegte Verwendung eines Bildes kann den Klienten in anderer, intensiverer Weise berühren als nur das gesprochene Wort. Die Verwendung einer Metapher kann überdies, ähnlich wie beim Einsatz von Illustrationen und Stuhlübungen, das intuitive, emotionale Verstehen sowie die Abspeicherung im Gedächtnis fördern. Zusätzlich zum Wort wird bei einer Metapher oder einem Vergleich internal das visuelle System, also die Imaginationsfähigkeit, genutzt, um Einsichten zu vermitteln, bei denen sowohl Intellekt als auch Gefühl angesprochen werden. Die hier vorgestellten Metaphern und Vergleiche entstanden in rein klinischen Zusammenhängen – eine Angleichung an Coaching oder Beratung ist jedoch denkbar.
5.1
Angst vor Psychopharmaka: Der Fluss des Lebens mit Schwimmreifen
Im stationären Setting einer psychosomatischen Klinik passieren oft zwei Dinge: Patienten, die aus einer psychiatrischen Klinik übernommen wurden und auf dem Wege der Besserung sind, können ihre Medikation häufig unter ärztlicher Aufsicht reduzieren; andere Patienten kommen erstmalig in die stationäre Behandlung und werden aufgrund ihres Zustands ärztlich beraten, eine Zeit lang beispielsweise ein Antidepressivum oder ein anderes psychotropes Medikament einzunehmen. Auch im ambulanten Kontext besteht immer wieder die
Notwendigkeit, einen Klienten zu ermutigen, aufgrund einer ärztlichen Empfehlung ein psychotropes Medikament einzunehmen. Meistens wird es sich bei Beratungs- und Psychotherapieklienten um Antidepressiva handeln. Auch der nichtärztliche Psychotherapeut wird durch seine Ausbildung Grundwissen über die verschiedenen Typen von psychotropen Medikamenten haben, sodass er seinen Klienten in der Compliance mit ärztlichen Empfehlungen gezielt unterstützen kann. Die Klienten empfinden oft viele Ängste in Bezug auf die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen der antidepressiven Medikamente: Sie befürchten eine Veränderung ihrer Persönlichkeit, sie erwarten die Entwicklung einer körperlichen Abhängigkeit und meinen vielleicht im Verlauf einer erfolgreichen Einnahme, dass jegliche Verbesserung ihres Zustands ausschließlich auf das Medikament zurückzuführen sei. Im Psychotherapiegespräch können diese Vorbehalte durch eine Metapher reduziert werden. Im Folgenden ein Beispiel für den Fall einer depressiven Störung unter Verwendung der altehrwürdigen Flussmetapher, dieses Mal in einer Version mit Schwimmreifen. Der Therapeut führt die Metapher in folgenden Schritten ein: 5 »Stellen Sie sich vor, das ganze Leben wäre ein großer, breiter Fluss, in dem wir alle schwimmen. Manche Leute begeben sich gerne in die reißenden Stromschnellen, jedenfalls für eine Weile, andere befinden sich in kleinen Buchten, in denen eigentlich gar nichts passiert und wo sie nicht wirklich vorankommen. Sie selbst befinden sich auch in diesem Fluss, und Sie können immer wieder entscheiden, ob Sie kräftig oder langsam schwimmen wollen, ob Sie das linke Ufer, das rechte Ufer oder die Insel in der Mitte ansteuern wollen oder ob Sie gar gegen den Strom schwimmen wollen. Außerdem entscheiden Sie, mit welchen anderen Schwimmern Sie sich möglicherweise für eine Weile – oder auch für immer – verbinden wollen.« 5 »Nun ist es aber so, dass Ihre Depression bewirkt, dass Sie sich nicht über Wasser halten können: Sie geraten immer wieder mit dem Kopf unter Wasser. Das ist ein großer Nachteil für die Navigation, denn Sie sehen gar nicht genau, wohin Sie schwimmen könnten und
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5.2 • Gehirn und Gewohnheit: Die Waldmetapher
was als nächstes Ziel sinnvoll wäre; Sie sind viel zu beschäftigt damit, immer wieder mit einiger Mühe den Kopf aus dem Wasser zu heben und zu Atem zu kommen.« 5 »Dann kommt jedoch ein freundlicher Mensch – ich glaube, es ist Ihr Psychiater –, der Ihnen einen gut aufgeblasenen Schwimmreifen gibt. Sie legen ihn gleich an, denn der Schwimmreifen hält Sie zuverlässig mit dem Kopf über Wasser. Stellen Sie sich vor, Sie hätten diesen Reifen jetzt um den Oberkörper gelegt. Schwimmt dieser Reifen auch für Sie?« Die Patienten antworten hier meist: »Nein, das macht er natürlich nicht.« Therapeut: »Kann der Reifen Entscheidungen treffen und Sie zwingen, in nur eine Richtung zu schwimmen?« Patient: »Nein, das geht sicher auch nicht.« Therapeut: »Verändert der Reifen Ihre Persönlichkeit?« Auch das verneint der Patient. Therapeut: »Sie sehen also, der Reifen gibt Ihnen nur so viel Unterstützung, dass Sie wieder in der Lage sind, den Kopf über Wasser zu halten und Ihre eigenen Entscheidungen im Leben zu treffen. Auf diese Weise verlieren Sie nicht den Überblick über Ihre Lage und können weiterschwimmen. Es kann übrigens sein, dass Sie plötzlich einige Ihrer Bekannten und Freunde auch mit Schwimmreifen sehen, was Ihnen bis dahin nie aufgefallen war. Das hilft Ihnen natürlich, diese vorübergehende Hilfestellung zu akzeptieren.« 5 »Nach einiger Zeit, wenn Sie wieder Ihre Kraft und Autonomie beim Schwimmen spüren, wird der freundliche Mensch ganz vorsichtig und in Abstimmung mit Ihnen schrittweise die Luft aus Ihrem Schwimmreifen herauslassen, sodass Sie sich wieder gut an das Schwimmen ohne Einsatz eines Reifens gewöhnen können.« Der Therapeut kann zur Erklärung dann noch die Analogie zum antidepressiven Medikament erläutern, aber meistens ist dies nicht notwendig.
5.2
5
Gehirn und Gewohnheit: Die Waldmetapher
Bei manchen psychischen Störungen empfinden die Patienten sich wie gefangen in ihren eigenen Denkmustern und beschreiben diese Erfahrungen als Grübelschleifen, aufdringliche Gedanken oder sogar als zwanghaftes Denken. Bei der Zwangsstörung finden sich die Extremfälle der eingefahrenen Denkmuster – die Zwangsgedanken im klinischen Sinne; aber auch bei Depressionen oder Ängsten und im Rahmen der Symptomatik von Persönlichkeitsstörungen kann zwanghaftes Denken ein Problem darstellen. Die Analogie zur Coachingsituation ergibt sich, wenn sich der Klient als festgefahren und zu einseitig in seinem Denken beschreibt. Um zu erklären, dass der Weg zum freieren und flexiblen Denken nicht ganz eben sein wird und je nach Situation auch der gezielten verhaltenstherapeutischen Exposition bedarf, kann die Waldmetapher verwendet werden: 5 »Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn wäre ein großer, schöner Wald, und Sie würden mit einem schicken Geländewagen darin herumfahren. Das sind Ihre Denkprozesse. Früher sind Sie immer alle Wege mit Freude entlanggefahren. Nun hat es sich aber aufgrund der Depression/ der Zwangsstörung ergeben, dass Sie seit Jahren immer nur bestimmte Wege auswählen und andere gar nicht mehr beachten. Sie fahren also immer nur etwa fünf Wege mit Ihrem Geländewagen entlang. Was passiert mit diesen Waldwegen?« 5 Die Patienten antworten meistens: »Diese Wege sind breit und offen, man kann gut durchfahren.« Therapeut: »Und was ist mit all den anderen Wegen, die Sie so lange nicht befahren haben?« Patient: »Na ja, diese Wege wachsen langsam zu.« Therapeut: »Ja, genau so ist es. Nun wird es die ersten Male, wenn Sie all die anderen Wege wieder entlangfahren möchten, sehr holprig werden. Es kann nicht einfach glattgehen, wenn man jahrelang diese Wege vernachlässigt hat und sie zugewachsen sind. Sie müssen sich auf Hindernisse und langsames Vorankommen gefasst machen, bevor diese Wege dann bald wieder gut befahrbar sein werden. Um das zu erreichen, müssen
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Kapitel 5 • Metaphern und Vergleiche
Sie immer wieder dort entlangfahren und viel Durchhaltevermögen zeigen. (Für neue Denkund Verhaltensmuster, die Sie sich aneignen müssen, benötigen Sie ebenfalls viel Übung und Geduld).«
5
Jetzt kann die genaue Art der benötigten Arbeit an den zwanghaften Gedankenmustern spezifiziert werden – kognitive Umstrukturierung perfektionistischer Einstellungen, Rollenspiele oder Stuhlübungen, Expositionen gegen Zwangsgedanken oder Sammeln von sinnvollen Alternativen, die zur Lösung der aktuellen Problemstellung führen. Die räumliche Öffnung der Waldwege als Bild stellt übrigens ein grobes Analogon zur neuropsychologischen Wirklichkeit dar: Intensive Psychotherapie, beispielsweise im Fall von Zwangsstörungen, normalisiert nachweislich die Stoffwechsellage des Gehirns (vgl. Schwartz et al., 1996), da die extreme Beanspruchung gewisser, wiederkehrender Denkvorgänge aufhört. Die zunächst unausgewogene Stoffwechselaktivierung verschiedener Gehirnregionen gleicht sich mit fortschreitender Therapie aus. Insbesondere Patienten mit Zwangsstörungen und Depressionen äußern oft Ängste über den Zustand ihres Gehirns nach jahrelanger Krankheit und reagieren erleichtert und optimistisch auf die Waldmetapher, die die Plastizität des erwachsenen Gehirns veranschaulicht.
5.3
Schuldgefühle: Das Schuldhalsband
In der Psychotherapie hat der Therapeut oft mit Personen zu tun, die unter exzessiven, psychologisch bedingten Schuldgefühlen leiden, die z. B. darauf beruhen, dass das eigene Verantwortungsgefühl für andere Menschen übertrieben wird. Diese Schuldgefühle unterscheiden sich von berechtigten Gefühlen der eigenen, objektiven Schuld (z. B. bei Kindesmissbrauch) dadurch, dass keine objektiv zu verurteilende Handlung oder gar Straftat aufgetreten ist. Psychologische Schuld unterscheidet sich wiederum von realistischem Bedauern eines Fehlers durch die intensive Selbstabwertung, mit der sie verknüpft ist und die sie besonders schmerzlich macht. Wenn Menschen sich häufig in diesem
psychologischen Sinne schuldig fühlen und ihren Selbstwert auf diese Weise reduzieren, sind sie aufgrund dieser Schwäche gut durch andere Personen lenkbar: Da die Erfahrung von Schuldgefühlen durch die inhärente Bedrohung des Selbstwertgefühls extrem aversiv ist, neigt die Person grundsätzlich dazu, nachzugeben und sich an die Wünsche und Forderungen anderer Personen anzupassen, um möglichst erst gar keine Schuldgefühle zu entwickeln. Ein kurzer Vergleich zur Veranschaulichung dieser Problematik kann das Gespräch über neue, selbstbewusstere Verhaltensweisen und die Zurückweisung der Schuldvorwürfe einleiten: 5 »Es ist, als würden Sie ein Halsband mit einer Leine daran tragen. Menschen, die Ihnen ein Schuldgefühl einreden wollen, wissen das und reißen einfach an dieser Leine. Das ist natürlich extrem unangenehm. Diese Menschen üben so Dominanz aus, sie versuchen also, Sie zu lenken und zu manipulieren. Da Sie nach einigen unguten Erfahrungen bereits voraussehen können, dass an Ihrem Schuldhalsband gezerrt werden wird, passen Sie sich lieber an alle Forderungen an, damit das Halsband locker bleibt. Sie wissen aber innerlich, dass Sie vielleicht einen Konflikt riskieren oder auch eigene Bedürfnisse klar äußern sollten, wagen dies aber nicht.« 5 »Nun hat das Halsband aber in der Tat eine große Schnalle, die Sie gut selbst erreichen können. Niemand könnte mehr an der Leine reißen und Sie aus dem Gleichgewicht bringen, wenn Sie sich trauen, die Schnalle selbst zu öffnen und das Halsband abzulegen. Das wäre doch eine tolle Sache, oder? Was benötigen Sie, damit Sie dieses Halsband ablegen können?« Der Vergleich weist die Verantwortung für dieses aversive Gefühl klar den Klienten selbst zu – sie sind keinesfalls Opfer des Menschen, dem gegenüber das Schuldgefühl entstanden ist. Klienten mit dieser Problematik reagieren in der Regel positiv auf dieses Bild und erwähnen es auch in späteren Sitzungen immer wieder, wie Frau W. in der stationären Abschlusssitzung: »Ich bin jetzt dabei, das Schuldhalsband endgültig abzulegen.«
5.5 • Ein Lebensthema: Die Bewältigungsspirale
5.4
Selbst aktiv werden: Die Leiter im Loch
Zu Beginn der Therapie oder Beratung ist es oft nötig und sinnvoll, dem Klienten selbst die Verantwortung für seinen Veränderungsprozess zuzuweisen und die eigene Rolle als Begleiter des therapeutischen Prozesses zu klären. Es geht darum, den Klienten selbst zu konstruktiver Aktivität aufzufordern, ohne ihm die Hilfestellung, die er benötigen wird, vorzuenthalten. Hier eignet sich möglicherweise das etwas drastische Bild eines Menschen, der im Loch sitzt: »Man könnte vielleicht im Moment sagen, dass Sie in einem ziemlich tiefen Loch sitzen, aus dem Sie selbst nicht mehr herauskommen. Die Wände sind einfach zu hoch und zu glatt. Nun will und kann ich nicht zu Ihnen ins Loch klettern, denn dann säßen wir ja beide fest. Ich bin aber in der Lage, Ihnen eine große Leiter in Ihr Loch zu stellen und Sie beim Herausklettern zu beraten. Auf diese Weise werden Sie wieder sicher hier oben in der freundlichen, hellen Welt ankommen. Ich begleite Sie auf Ihrem Weg zurück an die Oberfläche, aber die Arbeit des Kletterns müssen Sie schon selbst übernehmen. Die Muskulatur dafür werden Sie schrittweise entwickeln, aber es kann auch mal anstrengend werden. Wie klingt das für Sie?« Da der Klient ja ohnehin weiß, dass es ohne Eigenverantwortung nicht gelingen kann, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, ist an dieser Stelle sein Einverständnis sicher.
5.5
Ein Lebensthema: Die Bewältigungsspirale
In der Psychotherapie gibt es einige zentrale Themen, die bei manchen Patienten den gesamten Lebensverlauf beeinträchtigt haben. Hierzu gehören sexueller oder gewalttätiger Missbrauch, Schicksalsschläge wie der Tod eines Kindes oder der frühe Verlust eines Elternteils sowie andere außerordentliche Ereignisse. Wenn es sich um eine solch wichtige Angelegenheit handelt, eignet sich das Wort Lebensthema dafür. Viele dieser Klientinnen und Klienten haben oft bereits schon Therapiestunden auf die Bearbeitung ihres Lebensthemas verwandt
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5
und sind erstaunt, zum Teil auch verärgert, wenn sich die Belastungen durch dieses Thema nach Jahren doch wieder zeigen: »Ich dachte eigentlich, ich hätte das Verhältnis zu meiner gewalttätigen Mutter in einer früheren Therapie vollständig geklärt.« Hier eignet sich die metaphorische Beschreibung dieses Wiederauftretens von psychischen Schwierigkeiten in Form der Bewältigungsspirale, die es dem Therapeuten erlaubt, einerseits die bereits geleistete psychologische Arbeit des Patienten zu würdigen, andererseits aber auch die erneute psychische Belastung zu validieren. Das Bild der Spirale soll Akzeptanz für die Notwendigkeit erzeugen, das Lebensthema im Therapiegespräch erneut aufzugreifen: 5 »Meine Vorstellung ist, dass das Leben in vieler Hinsicht mit einer großen Spirale vergleichbar ist. Wir bewegen uns in großen Kreisen, kommen immer wieder zu scheinbar demselben Punkt, aber wir befinden uns bei jeder Runde auf einer etwas anderen, höheren Ebene: Es ist eben nicht genau dieselbe Situation, und ich bin nicht mehr genau dieselbe Person wie bei der früheren Runde.« 5 Der Therapeut kann dies gut mit spiralförmigen Handbewegungen illustrieren. »Sie sind jetzt an einem Punkt, an dem Sie mit Ihrem Lebensthema in die nächste Runde der Bearbeitung gehen und wieder eine weitere Schicht des Problems abtragen können. Irgendwann sind alle Schichten bearbeitet, denn auch ein Lebensthema lässt sich mit der Zeit vollständig lösen. Es werden allerdings manchmal mehrere Runden der Bewältigung über einige Jahre hinweg benötigt. Sie bemerken vielleicht, dass Sie wieder an so einem Punkt sind, an dem das Lebensthema sich meldet. Wir bemühen uns nun, gemeinsam gute psychologische Arbeit auf dieser neuen Ebene der Bewältigungsspirale zu leisten.« 5 Der Therapeut versucht auch, die Unterschiede zur vorherigen Runde der Bearbeitung des Lebensthemas herauszuarbeiten: »Vielleicht könnten Sie mir beschreiben, in welcher Weise das Thema sich heute von damals unterscheidet? Welche Aspekte haben Sie schon bewältigt? Und wie haben Sie sich selbst verändert, seit Sie sich zum letzten Mal mit diesem The-
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Kapitel 5 • Metaphern und Vergleiche
ma beschäftigt haben? Welchen Schwerpunkt sollten wir dieses Mal wählen, also was genau muss Ihrer Meinung nach jetzt bewältigt werden?« Viele Klienten finden diesen Vergleich passend und können besser hinnehmen, dass ihr erledigt geglaubtes Thema ein weiteres Mal ihre Energie und Geduld beanspruchen wird.
5
5.6
Chronische Suizidalität: Das Lebensbüchlein
Die Arbeit mit chronisch suizidalen Patienten ist eher belastend für den Psychotherapeuten, da diese ständige Bedrohung die ressourcenorientierte Arbeit und die Therapiefortschritte dieses Klienten stark behindern kann. Viele Personen, die sich jahrelang mit diesem vermeintlichen Ausweg aus ihren Problemen beschäftigt haben, trauen sich jedoch nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Eine bewusst etwas kindlich wirkende Geschichte vom Lebensbüchlein soll zur Akzeptanz eines schweren Lebensschicksals beitragen und gleichzeitig zur Nachdenklichkeit in Bezug auf die Option Suizid anregen, indem der Suizidentschluss in der Geschichte zu Ende gedacht wird: 5 »Stellen Sie sich vor, dass der liebe Gott Ihnen ein Lebensbüchlein geschenkt hat, bevor Sie hier auf die Erde gekommen sind. In dieses Lebensbüchlein hat er für Ihre Seele schon ein paar Dinge hineingeschrieben, die Ihr Leben wesentlich bestimmen werden – man würde das am besten als Ihr Schicksal bezeichnen. Es sind aber auch noch viele Seiten in diesem Buch frei. Wenn Sie dann hier gelandet sind, schreiben in den ersten Lebensjahren zunächst einmal Ihre Eltern und wichtige Bezugspersonen in dieses Büchlein hinein. Später sind es Lehrer, Freunde, Bekannte, dann im Erwachsenenalter auch Partner, Kollegen oder Chefs. Es steht Gutes und weniger Gutes darin. Wenn Sie ganz jung sind, können Sie noch keine eigenen Einträge in das Büchlein hineinschreiben, aber so nach und nach gelingt es Ihnen immer besser, selbst Einträge zu verfassen. Und an irgendeinem Punkt entdecken
Sie sogar, dass Sie zurückblättern können und die Möglichkeit haben, bestimmte Einträge zu korrigieren, jedoch nicht alle. Diese Einsicht macht Sie trotz allem sehr froh. 5 Eines Tages aber – Sie haben gerade einen sehr schlechten Tag – entscheiden Sie, das Lebensbüchlein einfach zurückzugeben. Es wird Ihnen einfach alles zu viel. Sie sind sauer, verzweifelt, hoffnungslos, und Sie bringen sich um. Das bedeutet, Sie gehen zum lieben Gott zurück und knallen ihm das Büchlein vor die Füße mit den Worten: ‚Das kannst du zurückhaben, ich will es nicht mehr.’ Was meinen Sie, was der liebe Gott dann sagt?« 5 Die meisten Klienten stellen das Konzept Gott hier nicht infrage, sondern spielen das Spiel mit. Oftmals kommt der Satz: »Ich weiß nicht, was er sagen würde.« Es entsteht jedoch immer bei eher religiösen Menschen eine adäquate Nachdenklichkeit zum Thema Freitod, die im Gespräch aufgegriffen werden sollte. Klienten kommentieren auch häufig: »Nun, es wäre sehr schwierig, ihm das Büchlein wirklich zurückzugeben.« Die Geschichte kann hier enden, und ein sehr wichtiges Therapiegespräch über die Option Suizid und deren Bedeutung im Leben beginnt. 5 Manche Klienten antworten spontan, dass der liebe Gott ihnen wahrscheinlich verzeihen wird, aber dass er sie dann nach einiger Zeit mit einem neuen, sehr ähnlichen Lebensbüchlein auf die Erde zurückschicken wird, um die abgebrochene Lektion doch noch zu lernen. Hier fließt das Konzept der Reinkarnation ein, obwohl es sich bei meinen ambulanten und stationären Gesprächspartnern in diesen Fällen bisher immer um katholische oder evangelische Christen ohne Hang zu östlichen Denkweisen handelte. Auch diese Vorstellung, ein ganz ähnlich schwieriges Leben nochmals beginnen zu müssen, macht unweigerlich sehr nachdenklich und lässt den Suizid nicht mehr als guten Ausweg erscheinen. Natürlich bringen nur manche Klienten die Idee der Wiederkehr in dieses Gespräch. Wenn Sie als Therapeut riskieren möchten, dieses nicht ganz einfache Thema anzusprechen, dann können Sie
5.6 • Chronische Suizidalität: Das Lebensbüchlein
selbst die Vorstellung vom Leben als sich wiederholende Lernerfahrung einbringen: 5 »Ich könnte mir vorstellen, der liebe Gott würde in etwa Folgendes sagen: ‚Liebe kleine Seele, ich sehe schon, das war dir alles zu viel, und du hast dich gegen dieses Leben entschieden. Nun darfst du erst einmal hier bleiben und dich eine Weile ausruhen. Nach einiger Zeit werde ich dich aber ein weiteres Mal rufen, denn du wirst dann wieder zurück auf die Erde gehen. Ich gebe dir dann wieder ein Lebensbüchlein mit, und in diesem Büchlein steht wieder etwas ganz Ähnliches wie zuvor, sodass du eine weitere Chance hast, diese wichtige Lektion auf der Erde zu lernen.‘« Die Verwendung dieser Geschichte ist nicht problemlos und provoziert ab und zu sofortigen Widerstand, z. B. in Form des Arguments, nach dem Tod sei ohnehin alles vorbei. In diesem Fall muss man die Geschichte abbrechen und vielleicht erst einmal nachhören, woher der Klient sich denn so sicher ist, dass alles vorbei sein wird – ob er wohl schon drüben war? Diese leichte Ironie soll dem Thema die allzu große Schwere nehmen. Das atheistische Argument soll die chronische Suizidalität natürlich schützen. Der Therapeut könnte in diesem Moment noch die Illustration Lebensbogen (7 Kap. 3.2.3) zur Anwendung bringen, um das Thema eher in diesseitiger und pragmatischer Form anzugehen. Trotz der Gefahren einer eher kontrovers geführten Diskussion ist es empfehlenswert, die Geschichte vom Lebensbüchlein ab und zu einzubringen. Auch den Reinkarnationsgedanken sollte man hin und wieder bewusst einfügen – es entstehen in den allermeisten Fällen bedeutsame Gespräche über die Weltsicht des chronisch suizidalen Klienten, die den Therapiefortgang meistens günstig beeinflussen können.
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Literatur
S. Hedlund, Mit Stift und Stuhl, DOI 10.1007/978-3-642-05064-0, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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158
Stichwortverzeichnis
A
C
G
Abschied – endgültiger 91 – objektiver 113, 135 – psychologischer 113 – von der Mutter 118 – von einem gewalttätigen Vater 138 Abtreibung – aufarbeiten 86, 91 Agoraphobie 47 Akzeptanz 58 – einer Erkrankung oder eines Ereignisses 76 – eines schweren Lebensschicksals 150 – von Krankheiten 63 Allianz – therapeutische 30, 31, 53 Alltagstransfer 82 Als-ob-Stuhl 76 Angststörung – generalisierte 32, 104 Annahmen – bedingte 40 – Grundannahmen 40 Anorexie 43 Appelle – indirekt erpresserische 61 automatische Gedanken 40
Coaching 21, 34, 43 coping card 36
ganzheitliches Ursachenmodell 44 Gedanken – automatische 40 – dysfunktionale 40 – zwanghafte 147 Gedankennetz 40 Gefühle – unterdrückte 139 – widerstreitende 135 generalisierte Angststörung 32, 104 Gespräch – mit dem inneren Kritiker, Saboteur oder Antreiber 93 – mit dem Missbraucher 105 – mit der Störung oder dem Problemverhalten 99 – mit einer verstorbenen Person 126, 135 Gewalterfahrungen 105 Glücksmomente 64 Glückspyramide 62 Grundannahmen 40
B Beruf – Verlust der Freude am 92 berufliche Beratung 21 Bewältigungskarte 36 Bewältigungsspirale 149 Beziehung – zwischen Therapeut und Klient 13, 73 Beziehungsgestaltung – distanziert-positive 121 – mit der Familie 36 – mit Freunden und Kollegen 36 Beziehungskreise 36 Brief – an das jüngere Ich 91 – an den Missbraucher 111 – an den Vater 141 – an einen Verstorbenen 139
D Depression 57, 100, 102, 103, 146 – Schutz vor 39 Dialog – des Klienten 11, 71 Dissoziation 108 Du-Botschaft 61 dysfunktionale Gedanken – Protokoll 111 dysfunktionales Verhalten 48
E Eigenlob 50 Eigenlobmodell 50 Elternproblematik 22, 38, 135 Emanzipationsprozess 110 emotionale Entlastung 136 emotionsfokussierte Intervention 66 emotionsfokussierte Therapie 12 Empowerment 15, 106 – Definition 106 Entscheidungsstühle 79 entwicklungspsychologisches Differenzial 86 Erwartungen – gesundes Maß an 33 Erwartungsskala 32 Essstörung 32, 47 – Vorteile der 104 Exposition – in sensu/in vivo 107, 111 Expositionsbehandlung 54 Expositionsrational 139
F Familie – selbst gewählte Family 39 – Ursprungsfamilie 39 Flow-Erlebnisse 64 Flussmetapher 146 Funktionalisierungen 100 Funktionsanalyse 31, 101 – individuelle 48 – verhaltenstherapeutische 100 Funktionskreise 47
H Hausaufgaben – Brief an das jüngere Ich 91 – Brief an den Missbraucher 111 – Brief an den Vater 141 – Brief an einen Verstorbenen 124, 133, 139 – therapeutische 74 – Therapietagebuch 26 – Zwei-Spalten-Technik 99 heilende Erfahrung 16, 129
I Ich-Botschaft 61, 83 Illustration – Beziehungskreise 36 – Erwartungsskala 32 – Gedankennetz 40 – Glückspyramide 62 – Kommunikationsdiagramm 60 – Kopffüßler 50 – Lebensaufgaben 61 – Motivationsklärung 30 – Schicksalsdiagramm 57 – therapeutische Funktionen 10 – Ursachenstern 44 Imagination 6, 7, 17
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Stichwortverzeichnis
Imaginationsfähigkeit 146 Imaginationsprozess 70 individuelle Funktionsanalyse 48 Informationsverarbeitung – bildlich-analoge 5 – verbal-symbolische 5 – visuelle 29 innere Anteile 69 innere Klärung 79 innerer Abschied 113 innerer Antreiber 93 innerer Kritiker 70, 93 – gefühltes Alter 96 – positive Intention 97 – Schutzfunktion 98 inneres Bild 17 inneres Kind 71, 116, 122 – annehmen und umsorgen 123 intellektuelle Reflexionsebene 23 Intervention – emotionsfokussierte 66 Introspektionsfähigkeit 48 Intrusion 43, 51, 53 intuitive Aussagen 120, 122, 134 intuitive Position 12, 75, 105, 119, 142
J »Ja aber«-Erörterungen 79
K kathartische Momente 119 Kindesmissbrauch 90 Klärung – innere 79, 98 – mit der verstorbenen Mutter 121 – mit einer früheren Bezugsperson 113 – motivationale 13 kognitive Umstrukturierung 34, 42, 85 kognitive Verhaltenstherapie 3 kognitives Schema 42 Kollegenkreise 40 Kommunikationsdiagramm 60 Kommunikationsschwierigkeiten 60 Konditionierungsprozess 7 Konflikte – im Arbeitsleben 40 – im Berufsleben 22 – interpersonelle 22
konstruktive Aktivität 149 Kontakte – positive 36 Kontaktmangel 37 Kontrolle 58, 59 Kopffüßler 50 Krankheitsnutzen 47
L Leben – als Lernerfahrung 151 Lebensaufgaben 61 Lebensbüchlein 150 Lebensthema 149 Lob 49 Loslösung – von den Eltern 113 Lösungsmodell – ressourcenorientiertes 49 Lösungsstern 45
M Machtdifferenzial 114 – zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem 61 maladaptive Emotionen 16 Mauer im Kopf 51 Metapher 146 – Bewältigungsspirale 149 – Flussmetapher 146 – Lebensbüchlein 150 – Leiter im Loch 149 – Schuldhalsband 148 – therapeutische Funktionen 17 – Waldmetapher 147 Missbrauch – emotionaler 119, 125 – Kindesmissbrauch 90 – sexueller 105, 108, 149 – Substanzmissbrauch 43 Mobbing 32, 51 Modelllernen 109 – negatives 137 Monolog – des Klienten 11, 71 Motivationsförderung 78 Motivationsklärung 30 multimodale Stimulierung 8
A-S
N negative Gefühle – Transformation 125 Netzwerk – internales kognitives 7
O Opferrolle – überwinden 108
P Perfektionismus 32, 93 Persönlichkeitsakzentuierung 63 posttraumatische Belastungsstörung 51, 105 Problemaktualisierung 12 Problembewältigung 12 – Fragen zu Rückfallgefahren 77 – Fragen zur Zielerreichung 77 propositionaler Ansatz 5 psychische Störungen – komorbide 42 Psychopharmaka 146
R Rationalisierungen 116 Reframing 34, 74, 140 Regression 106, 108 Reinkarnationsgedanke 150 Repräsentation – mentale 5 – von Erfahrungen 5 Repräsentationssysteme 8 Respekt – gegenüber anderen 60 Ressourcenaktivierung 12 ressourcenorientiertes Lösungsmodell 49 Ressourcenposition – Abwandlung der 112 Retraumatisierung 107, 111 Rollenspiel 13
S Schematherapie 13 Schicksal – annehmen 58 – hadern mit dem 131
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Stichwortverzeichnis
Schicksalsdiagramm 57 Schmerzpatient 36 Schmerzsyndrom 61 Schuld – objektive 84, 90, 148 – psychologische 90, 148 Schuldgefühle 126, 148 – exzessive 84 – jahrelange quälende 90 Schuldhalsband 148 Schwarz-Weiß-Denken 32, 36 Selbstdialog 91 Selbstfürsorge 36, 61, 87, 122 Selbstmord 7 Suizidalität 55 Selbstmordgedanken 56 Selbstregulation – des Klienten 72 Selbstverletzungen 57 Selbstwertproblematik 93, 148 Selbstwirksamkeitsüberzeugung – Verlust der 78 Selbstzensur 139 Setting – ambulantes 22, 74 – stationäres 22, 73 sexueller Missbrauch 108, 149 – Brief an den Missbraucher 111 – erwachsene Auseinandersetzung mit dem Täter 105 – Opferrolle überwinden 108 – posttraumatische Störung 52 Sinnesmodalitäten 28 Skills 57 Spiritualität 46 Sprache – Deutsch nicht Muttersprache 68 – hypnotherapeutische Grundsätze 70 – innere mentale 5 – Metapher 17 Sterben 7 Tod 130 Stichwortkarte 24 Störfallanalyse 31 Straftat 90 Stuhlpositionen – Darstellung 75 Stuhlübung – Abschied von den Eltern oder Klärung mit einer (früheren) Bezugsperson 113 – Als-ob-Stuhl 76 – Definition 11 – Entscheidungsstühle 79 – Gespräch mit dem inneren Kritiker, Saboteur oder Antreiber 93 – Gespräch mit dem Missbraucher 105
– Gespräch mit der Störung oder dem Problemverhalten 99 – Gespräch mit einer verstorbenen Person 126, 135 – kognitive Aufarbeitung 25 – Komplexitätsebenen 75 – Kontraindikation 67 – professionelle Durchführung 69 – Risikofaktoren 66 – therapeutische Funktionen 14 – Verwendung in verschiedenen Therapieschulen 13 – Wirkfaktoren 12 – Wirksamkeit 75 – Zeitreise 84 Substanzmissbrauch 43 Suizidalität – akut suizidale Patienten 55 – chronische 55, 150 – chronische Suiziddrohung 61 – latente 55 Supervision – Videoeinsatz 26
T Therapeut – Funktion und Rolle 12 Therapiegespräch – Metaebene 30 Therapiegruppe 24 Therapieplanung 42 Therapietagebuch 26 Tod – eines geliebten Menschen 126 – Jenseitsvorstellung 132, 136 – Perspektive des Verstorbenen 133 – spirituelle Dimension 141 – Vorstellungen vom 131 Trauer – dysfunktionale Kognitionen 132 – komplizierte 126, 130 – normale 130 Trauerprozess 126 Trauerritual 134 Trauma – posttraumatische Belastungsstörung 51, 105 – quasi-traumatische Situationen 51 – Retraumatisierung 107 – subklinisch traumatisierte Personen 53
– überwinden 140 Typisierungen 64
U Umstrukturierung – kognitive 34, 42, 85 Ursachenstern 44
V Verantwortungsübernahme 79, 148, 149 Verhaltenstherapie – Funktionsanalyse 31, 100 – kognitive 3 – Transparenz 74 Vermeidungsstrategie 53 Verstehen – einer früheren problematischen Situation 86 verzahnte Verhaltensweisen oder Krankheiten 42 Verzeihen – bei problematischen Beziehungen 136 – dem gewalttätigen Vater 141 – echtes 121 Video 26 visuelles System 28, 146
W Waldmetapher 147 Warum-Frage 119 Wertschätzung 49 – bedingungslose positive 73 Wiedergutmachung 90 Wissensrepräsentation 6 Work-Life-Balance 35, 36
Z Zeitreise 84 Zwangspatient 51 Zwangsritual 54 Zwangsstörung 32, 47, 54, 57, 103, 147 – Krankheitsnutzen 102 Zwei-Spalten-Technik 99, 104, 111, 133