Christian Tielmann
Mit Volldampf ins Mittelalter Die Zeitenläufer #01
s&c 10/2008
Gelingt es auch Henrik und Lenz, in...
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Christian Tielmann
Mit Volldampf ins Mittelalter Die Zeitenläufer #01
s&c 10/2008
Gelingt es auch Henrik und Lenz, in den Bund der geheimnisvollen, durch die Jahrhunderte reisenden »Zeitenläufer« aufgenommen zu werden? Ihre erste große Aufgabe stellt die beiden und Fenne, das Mädchen aus dem Mittelalter, vor eine schwierige Bewährungsprobe. Auf der Suche nach einem geheimnisvollen Buch geraten die Freunde mitten hinein in den Machtkampf zwischen Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen. Werden sie einen der größten bisher dagewesenen Kriege durch ihr Eingreifen verhindern können? ISBN: 978-3-570-13223-4 Verlag: cbj Erscheinungsjahr: 2007 Umschlaggestaltung: Michael Bayer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Christian Tielmann
Mit Volldampf ins Mittelalter
Mit Illustrationen von Michael Bayer
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Mix Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen kontrollierten Herkünften Zert.-Nr.SGS-COC-1940 www.fsc.org © 1996 Forest Stewardship Council
Verlagsgruppe Random House FSC-deu-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2007 © 2007 cbj, München Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild und Innenillustrationen: Michael Bayer Lektorat: Martina Patzer Umschlagkonzeption: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf MP • Herstellung: WM Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust, Aalen Druck: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-570-13223-4 Printed in Germany
www.cbj-verlag.de
Die Zeitenläufer
1. Kapitel
N
icht schon wieder, dachte Lenz. Es war jedes Mal dasselbe: Weil seine Eltern Schauspieler waren, mussten sie alle paar Jahre in eine neue Stadt ziehen. Lenz kam dann in eine neue Schule und bei der erstbesten Gelegenheit hatte er einen neuen Erzfeind. So war es in Weimar gewesen, in Kiel, in Freiburg und nun also auch hier in Köln. Dabei hatte es viel besser begonnen als sonst: Die Jacobis hatten endlich mal genug Zeit gehabt, um in Ruhe umzuziehen. Sie konnten alles richtig gut verpacken und alle Kartons beschriften, sodass fast nichts kaputt- oder verlorengegangen war. (Als sie in Weimar angekommen waren, hatten sie sich neues Geschirr kaufen müssen, und in Freiburg hatten sie Wochen gebraucht, um ihre Sachen wiederzufinden, weil sie in der Eile des Umzugs alles in irgendwelche Kisten und Säcke gestopft hatten.) Zu seiner neuen Schule hatte Lenz es auch nicht weit. (In Kiel hatte er jeden Morgen eine Dreiviertelstunde in einem erbärmlich stinkenden
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Bus gesessen, um von dem dämlichen Dorf, in dem sie wohnten, zur Schule zu kommen). Aber das Beste an Köln war das Haus, das seine Eltern gemietet hatten. Es war nicht so eine verschimmelte Bruchbude wie in Freiburg. Es war auch nicht mit dem Schuhkarton, in dem sie in Weimar gewohnt hatten, zu vergleichen. Und mit dem langweiligen Siebzigerjahre-Reihenhaus neben dem Reiterhof in Mielkendorf bei Kiel hatte dieses neue Haus der Jacobis auch nichts gemeinsam. Das Haus, das Anna und Alexander Jacobi gemietet hatten, war alt. Es war sehr alt. Schmal und schief stand es in der Kettengasse, eingekeilt zwischen zwei Betonklötzen, ohne die es bestimmt längst umgefallen wäre. In den Betonklötzen waren eine Sprachschule und jede Menge Büros untergebracht, und die Leute, die durch die schmale Gasse, die irgendwo im Gewimmel zwischen Neumarkt und Rudolfplatz versteckt lag, hetzten, schienen von dem schmalen Haus keine Notiz zu nehmen. Das Erdgeschoss ließ nur Platz für die Tür und ein Fenster. Über dieser Etage erhob sich ein Obergeschoss, das aus schiefem Fachwerk zusammengezimmert war. Und schließlich wurde das Häuschen gekrönt von einem steilen Dach, aus dem ein kleines Dachfenster einen Blick auf die andere Straßenseite warf. Hinter dem Haus wucherte jede Menge wildes Gestrüpp im Garten, der an allen vier Seiten von hohen Mauern der Nachbargrundstücke umschlossen war. Lenz hatte das Haus auf den ersten Blick geliebt. Und das Zimmer unter dem Dach, das hatte es ihm ganz besonders angetan. Erst wollten seine Eltern ihr Schlafzimmer hier oben einrichten, aber Lenz konnte sie überreden – dies sollte sein Reich werden. Eine 6
Wendeltreppe führte hinauf. Es war zwar klein wie alle Zimmer im Haus, aber Lenz hatte seine eigene Etage für sich. Alles in allem hatte es wirklich nach einem ganz wunderbaren Start für Lenz ausgesehen. Und nun das. Dieser Kerl. Ausgerechnet dieser Henrik, der größte Angeber und Strahlemann der Klasse, stand bei ihnen im Haus und grinste sein überhebliches, makelloses Sonnenschein-Grinsen. Ausgerechnet dieser Henrik Arnheim, mit dem Lenz schon am Morgen seines ersten Tages in der neuen Schule zusammengerasselt war, musste der Sohn des Vermieters sein! »Lenz, hol uns doch bitte mal was zu trinken rauf. Henrik hilft dir bestimmt beim Tragen, oder?« Lenz’ Mutter lächelte den Strahlemann dabei so feenhaft an, dass er gar keine Chance hatte, etwas gegen ihren Vorschlag einzuwenden. Gegen das Lächeln seiner Mutter waren alle machtlos – Groß und Klein. Das wusste Lenz. Herr Arnheim saß in einem der plüschigen Sessel im Erdgeschoss und erzählte Anna und Alexander Jacobi, wie er durch Glück und Zufall in den Besitz dieses Hauses gekommen war. »Na, traust du dich nicht allein in den Keller, Segelohr?«, feixte Henrik, als sie die uralte Holztreppe hinunterstiegen. »Aber hab keine Angst, ich bin bei dir!« Lenz hätte den Kerl würgen können! »Erstens habe ich keine Angst. Und zweitens heiße ich nicht ›Segelohr‹!« Henrik grinste nur still vor sich hin. Auch dafür hätte Lenz ihm am liebsten eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Der Kerl war einfach 7
unerträglich! Ja, es war richtig: Lenz hatte abstehende Ohren. Kleine, abstehende Ohren. Na und? Es konnten ja nicht alle Leute aussehen wie Superman. Ging das nicht in die verschrumpelten Gehirne von diesen Typen rein? Es war immer dasselbe: In Kiel war es Kevin gewesen, in Freiburg Tom, in Weimar Rolf und Dominik und nun also in Köln dieser Henrik. Immer fing es mit den abstehenden Ohren an. Und immer endete es in einer Feindschaft, gegen die kein Kraut gewachsen war, bis die Jacobis schließlich ein neues Engagement an einem anderen Theater hatten und sie weiterzogen. Lenz stieß die quietschende Holztür zum Vorratskeller auf. »Es ist gut, dass du keine Angst hast«, sagte Henrik, ohne mit der Grinserei aufzuhören. »Denn in diesem Haus spukt’s.« Lenz lachte. »Klar doch, logisch! Wahrscheinlich ist es der Geist deiner toten Oma, der hier rumschwirrt.« Henriks gute Laune war auf einen Schlag verschwunden. »Lass meine Oma aus dem Spiel!« Jetzt war es Lenz, der grinste. Henrik hatte einen Fehler gemacht. Er hatte eine Schwäche zugegeben. Und wenn ein Erzfeind erst einmal eine Schwäche eingestanden hatte, dann ließ sich Lenz die Chance, den Spieß umzudrehen, nicht entgehen. »Ist dein geliebtes Omilein etwa kein Klappergespenst?« Henrik bekam einen knallroten Kopf und rief: »Lass gefälligst meine Oma aus dem Spiel!« Lenz pfiff durch die Zähne. »Oh lala, bist du der Kaiser von Köln, oder was? Du hast mir überhaupt nichts zu befehlen!« 8
»Das hier ist mein Haus!«, rief Henrik. »Und in meinem Haus wird gemacht, was ich sage!« »Da lachen ja die Hühner!«, antwortete Lenz. »Das Haus gehört deinem Vater, der es vermutlich von deiner Geister-Oma geerbt hat! Und auch der hat uns nichts zu sagen, Mann! Wir sind doch nicht im Mittelalter!« Das war zu viel für Henrik. Der kräftige Junge packte Lenz am Kragen und schubste ihn gegen die Wand links neben der Tür. Der wütende Strahlemann holte mit der geballten Faust zum Schlag aus. Aber Lenz schaffte es ausnahmsweise, sich schnell genug zu ducken. Henriks Faust sauste gegen die Wand. Er hatte einen solchen Schwung, dass der alte Lehm aufplatzte. Lenz wollte sich schon aus dem Keller retten, als Henriks entgeisterter Gesichtsausdruck ihn aufhielt. Henrik hatte ein Loch in die Wand geschlagen. Und nun starrte er in dieses Loch. Auch Lenz sah in das Loch. Das war nicht nur ein Loch in der Wand. Es war eine Art Fach, das mit einer dünnen Lehmschicht verputzt gewesen war. Und in diesem Fach lag eine Schachtel! Henrik holte sie heraus. Die Schachtel war nicht größer als ein dickes Buch. Lenz sah Henrik an. Der Angeber öffnete den Deckel der Schachtel. Das Scharnier quietschte und der Staub rieselte vom Deckel auf den Kellerboden. Lenz’ Herz begann plötzlich heftig zu klopfen. Diese Schatulle war alt, das sah er auf den ersten Blick. Die war nicht nur so alt wie die Geister-Oma von Henrik. Diese Schatulle war viel älter. So viel Dreck und Staub setzt man nicht in zwei Jahren oder Jahrzehnten an. Das Holz war fast verrottet. Die Schachtel erinnerte Lenz an die mittelalterlichen Kistchen und Schatullen, die er im 9
Augustiner-Museum in Freiburg mit seiner Grundschullehrerin bewundern musste. »Was ist das?«, fragte Lenz. »Keine Ahnung«, antwortete Henrik. Er hob eine Art Haken aus der Schatulle. Henrik drehte das Ding hin und her. »Sieht aus wie ein Dosenöffner aus der Steinzeit«, sagte Lenz. Henrik reichte ihm diesen »Dosenöffner«. Das Ding war aus einem einzigen Stück Marmor geschlagen. Es hatte einen Griff, der wie für die Hände von Henrik und Lenz geschaffen schien. Am oberen Ende lief dieser Griff in einen Haken aus. Der Haken war kurz und spitz gebogen, wie eine zu groß geratene Häkelnadel. »Hier ist ein Zettel.« Henrik hob ein Blatt aus der Schatulle. »Es ist ein Brief.« Dann sagte Henrik gar nichts mehr. Und auch Lenz verschlug es die Sprache. Denn das, was sie da lasen, war ganz und gar unglaublich. Finder dieser Zeilen, gehe behutsam mit deinem Fund um. Frage dich, ob du bereit bist, diese Regeln zu befolgen: 1. 2. 3.
4.
Befolge die Anweisungen dieses Schreibens genau! Sprich mit niemandem über deinen Fund! Wenn du älter als elf Jahre bist, verstaue den Anker und dieses Schreiben wieder an Ort und Stelle und kümmere dich um nichts weiter! Niemals dürfen die Schatulle, der Anker und dieses Schreiben den Raum verlassen, in dem du sie gefunden hast! 10
5.
Wenn du nicht älter als elf Jahre bist und bereit, eine Reise zu unternehmen, lies die folgenden Zeilen:
In diesem Raum gibt es ein Zeitloch. Es sieht aus wie ein Schatten und scheint zu schweben. Es ist so eng, dass du gerade hindurchpasst. Ehe du ins Zeitloch steigst, musst du den Anker am Rand festhaken, sonst kannst du niemals in deine eigene Zeit zurückkehren. Hake den Anker am Rand des Lochs so fest, dass der Haltegriff ins Zeitloch ragt. Nimm kein schweres Gepäck mit, sonst bleibst du im Loch stecken. Wenn du im Zeitloch bist, hältst du dich am Haltegriff des Ankers fest. Kaum lässt du den Haltegriff los, wirst du das Gefühl haben zu fallen. Suche mit den Händen nach einem zweiten Anker. Wenn du ihn gefunden hast, halte dich daran fest! Viel Glück, gute Reise und bis gleich! Alte Wöhr
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2. Kapitel
K
apier ich nicht. Wieso ›bis gleich‹?« Noch während Lenz über den Sinn dieses Briefes nachdachte, rief Henrik plötzlich: »Ich hab’s!« Er zeigte auf eine Stelle über den Kartons, die Lenz’ Vater am Vorabend neben dem uralten Kleiderschrank abgestellt hatte. Henrik stieg auf einen alten Stuhl und bog die nackte Glühbirne, die den Keller erhellte, so, dass sie genau auf das Zeitloch schien. Es war tatsächlich kein Schatten, sondern ein Loch. Denn ein Schatten verschwindet, wenn man ihn mit einer Lampe anstrahlt. Dieser Schatten aber sah trotz der Ausleuchtung immer noch aus wie ein deutlicher Schattenwurf. Nur dass kein Gegenstand zwischen der Lichtquelle und dem Schatten stand. »Und jetzt?«, fragte Lenz leise. Ihm war die ganze Sache ziemlich unheimlich. Was sollten sie jetzt tun? Ganz sicher nicht in das Zeitloch steigen! Sie hatten ja keine Ahnung, was sie darin erwartete! Was war das überhaupt, dieses Loch? Man konnte mit der Lampe 12
nicht hineinleuchten. Aber es hatte doch einen Rand, an dem man sich festhalten konnte. Henrik hängte den Anker genau so in das Loch, wie es in der Anleitung gestanden hatte. Dann aber drehte er sich zu Lenz herum. Und plötzlich war es wieder da: das überhebliche Grinsen. »Wir brauchen einen Freiwilligen, Lenz.« Lenz zeigte ihm einen Vogel. »Ich klettere doch nicht in einen Schatten!« »Es ist ein Zeitloch! Und du kannst dich am Griff festhalten, wie beschrieben«, sagte Henrik. »Ja, schon klar: Ich hüpf da einfach rein. In Zeitlöcher zu steigen, das ist der reinste Spaziergang! Das hab ich schon tausendmal gemacht. Du musst dich nur gut am Griff festhalten, kletterst rein und dann lässt du einfach los.« Henrik machte einen Schritt auf Lenz zu. »Genau. So einfach ist das! Und wenn du kein Feigling bist, dann steig jetzt da rein!« Lenz schluckte. »Ich sag’s doch: Du bist ein Feigling, Segelohr!« Henrik lachte. »Ein total verpennter Feigling mit abstehenden Ohren!« Da machte in Lenz etwas »Klick!«. Vermutlich war das eine Sicherung im Gehirn, die ihm durchgebrannt war. Er konnte dieses Grinsen auf einmal nicht mehr länger ertragen und hörte sich selbst plötzlich wie aus weiter Ferne sagen: »Mach Platz, Strahlemann! Hör auf zu grinsen und nenn mich nie wieder Segelohr oder Feigling!« Lenz stieg auf die Kisten, hielt sich am Rand des Lochs fest. Er stemmte sich hoch, setzte sich auf den Rand des Zeitlochs und ließ die Beine ins Loch 13
baumeln. Es war ein echtes Loch: Seine Beine waren verschwunden. Dann glitt er langsam nach unten und klammerte sich mit der linken Hand am Rand und mit der rechten Hand am Marmoranker aus der Schatulle fest. »Toll hier. Tolles Loch«, sagte Lenz, von dem nur noch der Kopf aus diesem Nichts in den Keller ragte. Es sah aus, als würde sein Kopf frei über den Pappkartons schweben. Lenz wollte wieder aus dem Loch rausklettern. Aber da hörten die beiden Anna Jacobi von oben rufen: »Jungs, was ist? Wo bleibt der Apfelsaft?« »Mach schnell!«, sagte Henrik. »Sonst kommen sie runter und entdecken das Loch!« Lenz seufzte. Er ließ auch seinen Kopf verschwinden. Es war pechschwarze Nacht in dem Zeitloch. Außerdem fühlte sich sein Körper so leicht an, als wäre er unter Wasser. Er hörte Henrik im Keller murmeln: »Ich seh deine Hand noch, Lenz! Lass endlich los! Ich komme gleich nach!« Lenz dachte gar nicht daran. Ihm war das alles unheimlich. Er wusste ja gar nicht, wo er landen würde, wenn er jetzt losließe. Er wollte sich gerade wieder aus dem Loch ziehen, als ihm Henrik kräftig auf die Finger schlug. Lenz schrie vor Schmerz auf und ließ den Anker los. Es war ein seltsames Gefühl. Lenz hätte schwören können, dass er fiel. Aber er hätte nicht sagen können, ob er aufwärts- oder abwärtsfiel. Er fiel einfach irgendwohin. Aber vielleicht war das ja nur eine Täuschung? Er streckte sich nach dem Anker – griff aber ins Leere. Lenz wurde panisch. Er war in ein Loch 14
gestiegen, ein Loch, das so pechschwarz war, dass er die Hand vor Augen nicht sah! Was hatte sich dieser Mistkerl von Henrik nur dabei gedacht? Der konnte ihn doch nicht in dieses Loch stoßen! Was fiel dem ein, ihm auf die Finger zu hauen? Lenz begann zu strampeln und zu rufen, aber er konnte seine eigene Stimme nicht hören. Er streckte die Arme aus, um den Rand des Lochs zu erreichen, aber da war nichts mehr. Lenz hätte sich ohrfeigen können! Wie konnte er nur so bescheuert sein und sich von Henrik, diesem Blödmann, dazu anstiften lassen, hier reinzusteigen? Es war kein Ausgang in Sicht! Plötzlich machte es RATSCH und die Reise war fürs Erste zu Ende. Lenz hing fest. Irgendetwas hatte sich an einer Gürtelschlaufe seiner Hose verhakt. Er tastete seinen Hintern ab. Ja, da war etwas. Es war kalt. Es war kalt wie Stein. Das war ein Griff! Es war der Anker! Lenz ließ seine Finger am Anker entlanggleiten. Und tatsächlich konnte er mit der einen Hand den Rand des Lochs packen. Aber herausziehen konnte er sich nicht, solange der Anker ihn am Hosenboden festhielt. Lenz versuchte, seine Hose irgendwie mit der anderen Hand zu befreien, und verrenkte sich dabei fast den Hals. Schließlich probierte er es mit Gewalt. Die Hose riss noch ein Stück weiter ein. Aber Lenz war endlich frei! Er zog sich hoch, setzte sich auf den Rand des Lochs und betrachtete seine Hose. Die Naht am Hintern war aufgerissen, sodass die Hose beim Aufstehen in zwei 15
Einzelteile zerfallen würde. So blieb er fürs Erste auf dem Rand des Lochs sitzen und sah sich um. Er war genau da, wo er beim Einstieg in das Loch gewesen war: im Keller. Allerdings hatte sich inzwischen einiges verändert: Der alte Schrank und die Pappkartons waren verschwunden. Die Holztür war erneuert. Aber vor allem wurde der Raum nicht als Vorratskeller genutzt, sondern als eine Art Werkstatt oder Labor. An der Wand links neben der Kellertür stand eine große Werkbank, die mit Werkzeugen und kleinen Gesteinsbrocken übersät war. Auf dem Boden und an der Wand rechts neben der Werkbank stapelten sich Holzplatten, Steinplatten und auch allerlei Metallteile. Die Wand, die der Tür gegenüberlag, war ganz und gar mit einem Regal verbaut. Dieses Regal war gefüllt mit Büchern, Schachteln, Schatullen, Gläsern und tönernen Gefäßen in verschiedenen Größen. Das Zeitloch schwebte vor diesem Regal. An der sich anschließenden Wand stand genau unter Lenz’ Füßen eine Kiste, aus der Stoffe und Ärmel von Kleidern quollen. Daneben, unter dem Kellerfenster, war eine Eckbank aus Stein in der Wand verankert. Vor dieser Eckbank stand eine weitere Kiste, auf der eine Kerze brannte, als eine Art Tisch mit zwei Baumstümpfen als Hocker. Auf einem dieser Hocker saß eine Hexe. Zumindest stellte sich Lenz eine Hexe so vor: Sie hatte schlohweißes Haar und einen krummen Rücken. Ihr Gesicht, das Lenz nur von der Seite sehen konnte, hatte mehr Runzeln als Nicht-Runzeln, die sich um ihre kleine Hakennase gruppierten. Ihre knochigen, krummen Finger hielten einen Becher, in dem eine Flüssigkeit dampfte. Aber das Hexenhafteste an ihr 16
waren die Augen. Sie waren so grau wie Stein. Und diese Augen blinzelten zu Lenz herüber! »Wen haben wir denn da? Willkommen, mein Freund, willkommen!« Die Hexe drehte sich mit ihrem ganzen gekrümmten Körper zu Lenz herum und winkte ihn zu sich. »Komm nur, mein Freund! Setz dich zu mir!« Stürz dich wieder ins Loch und hau ab! Das war der erste Gedanke, der Lenz durch den Kopf schoss. Was auch immer es genau mit dem Zeitloch auf sich hatte: Henrik hatte den Anker ja festgemacht und Lenz musste sich nur zurück ins Loch stürzen und nach dem zweiten Anker suchen. »Fenne, mein Kind!«, rief die Alte da in den Flur vor der Tür. »Er ist da!« Wie bitte?, fragte sich Lenz. Wurde er etwa schon länger erwartet? Aber er kannte diese Hexe doch gar nicht! »Wer denn?«, hörte er eine Mädchenstimme aus dem Gang vor dem Keller. Das Mädchen, dem die Stimme gehörte, betrat den Raum. Sie war in Lenz’ Alter, hatte knallrote Haare und wasserblaue Augen. Logisch, dachte Lenz. Die Tochter der Hexe hat rote Haare. Er rieb sich die Augen. Es war wie im Märchen. Aber irgendetwas an diesem Mädchen fand er vom ersten Augenblick an nicht beängstigend, sondern nur irgendwie anders. Interessant, irgendwie. Vielleicht sogar aufregend. Ihr Körper steckte in einem hellbraunen Kittel, der etwas Sackartiges hatte und über den Hüften mit einem Gürtel zusammengehalten wurde. Das Mädchen sah zu Lenz rauf, der noch immer auf dem Rand des Zeitlochs 17
hockte, und fragte, ohne ihren Blick von Lenz zu wenden, die Alte: »Aber warum kommt er nicht zu uns runter? Kann er uns nicht verstehen?« Die Alte schüttelte ihren grauen Schopf. »Natürlich kann er uns verstehen! Wer durch ein Zeitloch reist, versteht die Sprache der Zielzeit, ohne sie erst lernen zu müssen. Nein, ich glaube, er hat ein bisschen Angst. Schließlich ist es das erste Mal, und er kann kaum glauben, dass das, was ihm gerade passiert, wirklich wahr ist.« Das Mädchen musterte Lenz nun mit einem abschätzigen Blick. »Du meinst, er ist ein Feigling oder ein Dummkopf?« In diesem Augenblick hörte Lenz Henrik unter sich im Zeitloch schimpfen: »Mach Platz, Mann! Ich will hier raus!« »Das ist keine gute Idee, fürchte ich«, flüsterte Lenz. Die Alte legte ihre runzlige Stirn in noch mehr Falten und fragte: »Seid ihr etwa zu zweit?« Da zwickte Henrik, der Blödmann, Lenz in den Po. Lenz quiekte und sprang vom Rand des Lochs runter auf den Boden. Er landete sicher auf dem Kellerboden. Seine Hose auch. In zwei sauberen Teilen rutschte sie ihm an den Beinen herunter auf die Füße. Da stand er nun im Keller vor der Hexe und dem Mädchen in Unterhosen und wurde knallrot. Das Mädchen begann zu kichern. Aber die Alte sagte: »Fenne, hör auf zu lachen. Unser Freund hat eine lange Reise hinter sich. Und da, wo er herkommt, ist deine Kleidung sicherlich auch nicht mehr üblich.« 18
»Ja, mag sein«, lachte Fenne. »Aber ich habe wenigstens Kleidung!« »Ich bin hängen geblieben … am Anker …«, versuchte Lenz, sich zu verteidigen. Aber da erschien der Kopf von Henrik aus dem Loch vor dem Regal. Wenn Lenz ungefähr denselben Gesichtsausdruck gehabt hatte wie Henrik, als er aus dem Zeitloch gekrochen kam, dann wunderte es ihn, dass die Alte nicht in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Henrik, dieser Strahlemann, glotzte mit offenem Mund in den Keller, ehe er fragte: »Wo sind wir?« »Das ist die falsche Frage«, antwortete die Alte. »Die richtige Frage lautet: ›Wann sind wir?‹« Henrik sprang vom Rand des Zeitlochs in den Keller. »Also gut, dann beantworten Sie mir eben diese Frage!« »Ihr seid am Ende des zwölften Jahrhunderts nach Christi Geburt gelandet. Kommt, setzt euch zu mir, Jungs«, sagte die Alte. »Ihr habt eine lange Reise hinter euch. Trinkt einen Schluck. Dann werde ich es euch erklären.« Lenz bekam weiche Knie. Spätes zwölftes Jahrhundert. Das hieß, dass sie irgendwo in der Zeit zwischen 1170 und 1199 gelandet waren. Das war Mittelalter. Das war tiefstes und finsterstes Mittelalter. In Freiburg hatte er eine Lehrerin gehabt, die das Mittelalter wahnsinnig interessant gefunden hatte. Lenz versuchte rasend schnell, sich an den Unterricht zu erinnern, aber ihm fiel noch nicht mal der Name dieser Lehrerin wieder ein. Plötzlich kam Lenz ein ganz anderer Gedanke in den Sinn. Konnte es nicht sein, dass dieser Henrik ein noch 19
viel größerer Mistkerl war, als Lenz bisher gedacht hatte? Er musterte den Strahlemann. Gab es hier irgendwo eine versteckte Kamera und gleich würde die neue Schulklasse irgendwo aus dem Versteck kommen und rufen: »Ätsch, reingefallen!«? Aber Henrik stand selbst der Schweiß auf der Stirn. Nein, der sah beim besten Willen nicht so aus, als würde er Lenz auf den Arm nehmen wollen. Im Gegenteil. So wie Henrik die Alte Wöhr mit seinen Blicken löcherte, schien der Strahlemann sich selbst zu fragen, ob er nicht von der Wöhr auf den Arm genommen wurde. Lenz blieb fürs Erste nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass sie tatsächlich eine Zeitreise durch das Loch gemacht hatten. Er versuchte, sich das irgendwie vorzustellen. Aber es klappte nicht. Denn wie sollte das möglich sein? Was taten seine Eltern, während er und Henrik im Mittelalter waren? Ging deren Leben weiter oder standen die da wie erstarrt? Wie zum Kuckuck waren Zeitreisen überhaupt möglich?
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil I Ich glaube, Lenz hat zuerst an seinem Verstand gezweifelt, dann an meinem. Henrik wiederum, glaube ich, hat zuerst an meinem Verstand gezweifelt, und dann an seinem eigenen. Es war ja auch keine Kleinigkeit, die ich den beiden auftischte. Sie hatten bisher noch nie etwas von Zeitlöchern gehört. Und von den Zeitenläufern wussten sie auch nichts. Der Hauptfehler der beiden Jungs war, dass sie sich keine richtige Vorstellung von der Zeit machten. Dabei gibt es gerade im zwanzigsten (und auch noch im frühen einundzwanzigsten) Jahrhundert etwas, anhand dessen man den Verlauf der Zeit wunderbar erklären kann: die Langspielplatte. Das ist eine schwarze Scheibe, in der eine einzige, sehr lange Rille als Spirale vom Rand der Platte nach innen zum Zentrum der Platte führt. In dieser Rille sind irgendwie Melodien gespeichert. Ich habe diese Platten auf einer meiner eigenen Zeitreisen kennengelernt. Die Technik habe ich nie genau verstanden, aber es gibt einen Apparat, mit dem man die in der Rille versteckten Melodien zum Klingen bringen kann. Dazu wird eine Nadel, die an einem Tonarm hängt, auf eine Stelle der Rille gesetzt. Ich sagte Henrik und Lenz, dass sie sich die Zeit als eine solche Rille und das Leben der Menschen als die Melodien vorstellen sollten. Mithilfe des Zeitlochs hatten sie sich gleichsam am Tonarm entlang zu einem früheren Zeitpunkt der Platte gehangelt. Ich glaube, die Jungs haben diese Erklärung nicht ganz begrif-
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fen. Aber sie haben sie trotzdem akzeptiert. Und das bewies meine Vermutung, dass die Jungs das Zeug dazu haben mussten, zwei großartige Zeitenläufer zu werden. Sie waren noch keine 11 Jahre alt. Sie waren so schmal und leicht, dass sie nicht im Zeitloch stecken bleiben konnten. Ferner erkannte ich, dass beide mutig waren, sonst hätten sie ja niemals die Reise zu mir gewagt. Und sie waren noch nicht so sehr von den Lehrmeistern ihrer Zeit verdorben, dass sie alles für unmöglich hielten, was sie nicht verstanden. Nun musste ich nur noch herausfinden, wie sie sich anstellten, wenn es wirklich drauf ankam. Wie es Glück und Zufall wollten, hatte ich gerade einen Auftrag, mit dem ich die beiden auf die Probe stellen konnte. Eigentlich hatte ich Fenne damit betraut. Und ich war auch der Ansicht, dass sie diesen Botengang gut und gerne alleine erledigen konnte. Aber da sich nun einmal die Gelegenheit ergeben hatte, Zwei weitere Zeitenläufer auf ihre Eignung zu prüfen, bat ich Fenne, die beiden Jungen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert unter ihre Fittiche zu nehmen, zumal sie sich im »Mittelalter«, wie sie meine Zeit nannten, überhaupt nicht auskannten.
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3. Kapitel
O
kay, ich fasse noch einmal zusammen«, sagte Henrik. Er erhob sich von der Bank und begann, im Keller der Alten Wöhr, wie der Name der Hexe lautete, auf und ab zu marschieren. »Wir sind aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert ins zwölfte Jahrhundert gereist, indem wir durch das Zeitloch gestürzt sind.« Die Alte Wöhr saß auf einem Hocker und schlürfte das Getränk aus ihrem Becher. (Es war so eine Art Brennnesseltee, angeblich ihre eigene Erfindung – ein fürchterliches Gesöff.) Sie nickte lächelnd. »Und nun sagen Sie, dass wir so eine Art Geheimagenten werden können.« »Boten«, verbesserte die Alte Wöhr. »Nenn es Boten. Boten zwischen verschiedenen Zeiten und Orten.« »Sollen wir vielleicht etwas Kakao aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert mitbringen?«, fragte Lenz. Dieser Tee war jedenfalls unerträglich.
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Die Alte Wöhr schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Händler. Ich brauche Leute, die dazu in der Lage sind, einen Brief, eine Nachricht, eine Schachtel, ein Buch oder was auch immer, von einem Ort zu einem anderen zu bringen, oder von einer Zeit in eine andere, ohne sich dabei erwischen zu lassen.« »Stopp!«, schaltete sich Henrik wieder ein. »Was heißt da: ›Nicht erwischen lassen‹? Ist das, was wir tun sollen, etwa illegal? Haben wir ruckizucki die Kripo auf den Fersen?« »Die was?«, flüsterte Fenne, die neben Lenz auf der zweiten Steinbank saß. »Kripo – Kriminalpolizei, du weißt schon: Fingerabdrücke, Blaulicht, Handschellen und so …« Lenz stockte. Und als er das entgeisterte Gesicht von Fenne sah, bekam er eine Ahnung davon, was es hieß, im Mittelalter zu sein: Es gab noch keine Kriminalpolizei. Entweder gab es nur das Wort nicht oder es gab auch diese Beamten nicht. Lenz hatte keine Ahnung, wer im Mittelalter dafür sorgte, dass Mörder oder Einbrecher festgenommen, vor ein Gericht gestellt und bestraft wurden. Machten das die Ritter? Aber die suchten bestimmt nicht nach Fingerabdrücken. Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. Wie sollte er einem Mädchen aus dem Mittelalter erklären, was die Kriminalpolizei war? »Was ihr tut, ist nicht gegen das Gesetz«, sagte die Alte Wöhr. »Zumindest meistens nicht. Aber es ist trotzdem nicht ungefährlich, ein Zeitenläufer zu sein.« Die Alte Wöhr zwinkerte Henrik mit ihren kleinen steingrauen Augen zu. »Aber ihr seid Kinder. Wer kümmert sich schon um Kinder?« 24
»Das Jugendamt, zum Beispiel! Oder Eltern, die ihrer Fürsorge- und Aufsichtspflicht nachkommen! Und manchmal auch die Kripo«, rief Henrik. »Ich erklär’s dir später«, raunte Lenz Fenne zu. – Jugendamt, Fürsorgepflicht, Kripo … Dieser Henrik hatte ja überhaupt keine Ahnung von Geschichte! Sie waren im Mittelalter! Hier gab es Ritter, Könige, Herzöge, Mönche und dergleichen. Aber keine Kriminalpolizisten oder Sozialarbeiter. »Es ist eure freie Entscheidung«, sagte die Alte Wöhr. »Ich zwinge niemanden, ein Zeitenläufer zu werden. Wenn ihr euch nicht traut, geht zurück in euer Jahrhundert und vergesst, dass ihr jemals hier gewesen seid. Erzählt es niemandem, denn es würde euch ohnehin niemand glauben.« »Und wenn wir uns dafür entscheiden, Zeitenläufer zu werden?« Henrik setzte sich wieder auf die Bank unter dem Fenster. »Wie würde unser Auftrag lauten?« Die Alte Wöhr hörte schlagartig auf zu lächeln. »Heißt das, dass du es probieren willst?« Henrik nickte erst zögernd, dann bestimmt. Die Alte Wöhr drehte sich zu Lenz herum. »Und du?« Lenz wusste nicht so recht. Was die Alte Wöhr erzählte, klang nicht gerade nach einem dieser entspannten Nachmittage mit der Nase in einem Buch, die Lenz so liebte. Andererseits wollte Lenz Fenne kennenlernen. Und bisher hatte er nur begriffen, dass das rothaarige Mädchen nicht die Tochter der Alten Wöhr, sondern auch so eine Zeitenläuferin war. Und vor ihr wollte Lenz auf keinen Fall als Feigling dastehen, der sich nicht traute, im Mittelalter herumzuspazieren. Außer25
dem hatte er keine Lust, allein zurück ins einundzwanzigste Jahrhundert zu reisen, um dort Henriks Vater erklären zu müssen, dass sein Sohn leider im Mittelalter verschollen sei. Also gab er sich einen Ruck und nickte ebenfalls. »Gut! Sehr gut! Ihr könnt jederzeit aussteigen, wenn es zu gefährlich wird. Ich glaube aber nicht, dass es brenzlig für euch wird, denn bisher sind wir noch unentdeckt. Außerdem wird euch Fenne begleiten.« »Wie lautet der Auftrag?«, fragte Henrik wieder. Lenz bemerkte dieses Funkeln in Henriks braunen Augen. Das war ihm schon am Morgen in der Schule aufgefallen, kurz bevor er sich über die Ohren von Lenz lustig gemacht hatte. Jetzt wurden auch noch die Wangen vom Strahlemann vor Aufregung rot. »Wir sollen doch niemanden in der Zukunft ermorden, oder?« »Wie oft denn noch, Henrik: Ihr seid Boten! Und fürs Erste sollt ihr auch noch nichts von einer Zeit in die andere bringen, sondern Fenne hier helfen, ein Buch für mich abzuholen.« Lenz atmete auf. Henrik wurde bleich vor Enttäuschung. Er sah zu Lenz herüber. »Stell dir das mal vor, Lenz! Da reisen wir achthundert Jahre in die Vergangenheit und sie braucht nur ein blödes Buch! Sie schickt uns in die Stadtbücherei!« Lenz schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Henrik. Der Buchdruck wurde erst um 1500 von Johannes Gutenberg erfunden.« Endlich fiel Lenz wieder ein, was er bei Frau Erlemann in Freiburg gelernt hatte. »Vor Gutenberg mussten Bücher noch von Hand abgeschrieben werden und waren dementsprechend teuer und 26
selten. Ich glaube kaum, dass es jetzt schon Stadtbibliotheken gibt. Soweit ich weiß, gehören im Mittelalter die meisten Bücher der Kirche.« Die Alte Wöhr strahlte Lenz und Henrik an und murmelte: »Ihr zwei werdet es weit bringen. Vielleicht sogar sehr weit.« Dann sammelte sie sich und rückte endlich mit dem ganzen Auftrag heraus. Es hörte sich eigentlich ganz einfach an. Einem Freund der Alten Wöhr, dem Dichter Heinrich von Veldeke, war ein halbfertiges Buch gestohlen worden. Es war eine Heldengeschichte. Von dieser Geschichte hatte Veldeke nur ein einziges Exemplar gehabt, sein eigenes nämlich, an dem er noch arbeitete. Als er den ersten Teil dieser Geschichte fertiggeschrieben hatte, las er ihn bei einem Fest von Kaiser Friedrich Barbarossa in Mainz vor. Dieser erste Teil des Buches wurde von Herzog Heinrich, genannt Heinrich der Löwe, der ebenfalls auf dem Fest war, geklaut. »Ich habe Jahre gebraucht, um das Buch wiederzufinden. Aber jetzt habe ich es geschafft. Es ist in Braunschweig. Die Frau, die es für mich dem Löwen entwendet hat, heißt Beatrix. Sie erwartet euch in Braunschweig. Geht in den ›Goldenen Bären‹. Holt das Buch ab. Sprecht mit niemandem darüber und bringt es sofort zurück zu mir nach Köln.« Henrik nickte matt. Ihm schien der Auftrag noch immer zu langweilig zu sein. »Ist das Buch wenigstens wahnsinnig wertvoll?«, fragte er gähnend. Die Alte Wöhr nickte. »Es ist von unschätzbarem Wert.« Dann stand sie auf und öffnete die Kleiderkiste unter dem Zeitloch. »Ihr braucht andere Kleider, Jungs. So wie ihr läuft kein Mensch rum.« 27
Fenne begann wieder zu kichern, während die Jungs ihre Kleider auszogen und sich zwei dieser sackartigen, braunen oder grauen Kittel aus der Kiste aussuchten. Die Alte Wöhr betrachtete die zerrissene Hose von Lenz und fragte. »Soll ich dir die wieder zusammenflicken?« Lenz nickte erleichtert. »Das wäre prima.« Die Kleider aus der Kiste kratzten ein bisschen auf der Haut. Aber das Schlimmste waren die Schuhe: Die waren aus einem Stück Leder geschnitten und wurden mit Riemen über dem Fuß festgebunden. »Kann ich nicht meine Turnschuhe anbehalten?«, fragte Lenz. »Wer achtet schon auf die Schuhe?« »Nichts da«, antwortete die Alte Wöhr. »Deine merkwürdigen Schuhe fallen jedem auf. Und ihr müsst euch möglichst unauffällig benehmen, damit Heinrichs Leute keinen Verdacht schöpfen.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil II Ich hätte ein mulmiges Gefühl bei der Sache haben sollen. Eigentlich war es kein gefährlicher oder schwieriger Auftrag. Aber es bestand die Gefahr, dass Lenz und Henrik sich zu auffällig benahmen. Ich hatte ihnen eingeschärft, dass sie immer auf Fenne hören sollten. Ich hatte ihnen Geld und Empfehlungsschreiben für die Reise mitgegeben, damit sie gut und sicher übernachten konnten. Ferner ließ ich mir von ihnen versprechen, dass sie mit keiner Silbe verraten würden, was sie wirklich in Braunschweig wollten. Henrik hatte, wie er mir später gestand, nicht die geringste Ahnung, auf was er sich da einließ. Er dachte, dass sie diesen Auftrag in einem Tag erledigen konnten. Er wusste nicht, dass eine Reise nach Braunschweig in meiner Zeit bedeutet, 10 bis 14 Tage unterwegs zu sein. Lenz hingegen wusste ein bisschen über unsere Zeit Bescheid. Aber viele seiner Vorstellungen waren völlig falsch. So fragte er mich allen Ernstes, ob es denn nun Drachen gäbe oder nicht. Was sich aber als großer Vorteil herausstellte, war, dass beide lesen konnten. Und schließlich war ja auch meine gute Fenne dabei – und auf die, dessen war ich gewiss, ist Verlass.
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4. Kapitel
E
s war eine Qual. Es war eine einzige Qual. Lenz hätte gar nicht sagen können, wo er mit dem Jammern beginnen und wo er aufhören sollte. Morgens dachte er, dass er nie wieder in diese Schuhe steigen könnte. Abends, dass er sie nie wieder ausziehen könnte. Dabei hatte ihre Reise ganz spaßig angefangen. Ein Onkel von Fenne kannte einen Weinhändler, der bereit war, sie mitzunehmen. So fuhren sie zunächst auf einem großen Ruderboot rheinabwärts bis Wesel, dann ging es den Fluss Lippe hinauf bis zu einem Ort, der von allen auch »Lippe« genannt wurde. In Lippe verkaufte der Händler seinen Wein und fuhr zurück nach Köln. Für Lenz, Henrik und Fenne aber ging die Reise hier erst richtig los: Sie schlossen sich ein paar Handwerkern an und wanderten mit ihnen zu Fuß nach Paderborn. Fenne meinte, es sei nicht weit. Nur ein Tagesmarsch. »Nur«, hatte sie gesagt. »Nur ein Tagesmarsch.« Lenz fand es überhaupt nicht »nur«, er fand, es war 30
eher »allerdings« oder »scheußlicherweise« ein ganzer Tagesmarsch. Fenne und Henrik aber wollten von seinem Gejammer natürlich nichts hören, und so biss er die Zähne zusammen und trottete den lieben langen Tag hinter den beiden, die sich blendend unterhielten, über staubige Wege. Zum Glück hatte ihnen die Alte Wöhr ein Empfehlungsschreiben mitgegeben, sodass sie in einem Kloster übernachten konnten. Lenz interessierte sich an diesem Abend aber weder für den Abt noch für das Kloster. Er fiel todmüde ins Bett und schlief wie ein Stein. Von Paderborn aus schafften sie es irgendwie in mehreren Tagen auf Fuhrwerken, zu Fuß und manchmal auch mit einem Kahn bis Hildesheim. Auf dieser beschwerlichen, mühsamen Reise kamen Lenz und Henrik sich von Tag zu Tag wenigstens in einem Punkt immer näher: Das Mittelalter hatten sie sich besser vorgestellt. Oder, wie Henrik sagte: »Das Mittelalter ist ein einziger Misthaufen!« Und das war es wirklich: Die Städte stanken wie eine riesige Jauchegrube, die so genannten Straßen waren eigentlich eher Feldwege, die im Regen total aufweichten und sich in Matschbahnen verwandelten. Gummistiefel waren noch nicht erfunden, und die Schuhe, die Lenz und Henrik von der Alten Wöhr bekommen hatten, waren eine einzige Frechheit – die Jungs hatten beide Blasen an den Füßen. Auch das Essen im Mittelalter war ziemlich merkwürdig. Alles war viel zu fett und viel zu stark gewürzt. Fenne schien das alles nichts auszumachen. Interessiert lauschte sie den Geschichten, die ihr die Leute unterwegs erzählten. Je näher sie Braunschweig kamen, 31
desto abenteuerlicher wurden sie: Der Herzog, Heinrich der Löwe, baute angeblich eine gewaltige Burg. Deshalb waren jede Menge Handwerker, Ritter, Bauern und Händler auf dem Weg nach Braunschweig. So fiel es Fenne nicht schwer, ein Fuhrwerk für den Rest des Weges aufzutreiben, auf dem sie mitfahren konnten. »Wenn nichts schiefgeht, werden wir heute Braunschweig erreichen«, sagte Fenne, als sie sich im Morgengrauen auf die Hinterkante des mit Tuchballen beladenen Fuhrwerks setzten. Lenz hätte jubeln können! Endlich Braunschweig! Dann her mit dem Buch, nichts wie zurück nach Köln und anschließend ab in die Neuzeit, dachte er. Aber Fenne guckte so sorgenvoll aus ihren wasserblauen Augen, dass er fragte: »Meinst du denn, es wird schiefgehen?« Fenne wiegte den rothaarigen Kopf hin und her. »Ich weiß nicht. Alle sind so seltsam. Niemand sagt etwas laut, alle reden nur hinter vorgehaltener Hand. Angeblich kauft Heinrich jede Waffe, die er kriegen kann. Und diese Menschen, die alle unterwegs nach Braunschweig sind – was will der mit den vielen Leuten und Waren?« Henrik ließ fröhlich die Beine baumeln. »Ach was, mach dir darüber keine Gedanken. Wir holen einfach das Buch und hauen wieder ab. Und wenn mich nicht alles täuscht, geht es zurück sogar schneller, weil wir die Lippe dann abwärts schippern können. Und abwärts ist ja immer flotter.« »Wenn du es sagst, Henrik …«, murmelte Fenne, aber ihre Zweifel daran, dass es so einfach gehen würde, wie er sich das dachte, waren kaum zu überhören. Am späten Nachmittag tauchte Braunschweig vor 32
ihnen auf. Baukräne ragten neben den Türmen in den Himmel. Schon vor den Toren der Stadt drängten sich die Leute, die hineinwollten, an denen vorbei, die hinauswollten. In der Stadt selbst war der Teufel los: Händler, Handwerker, Ritter und alles mögliche Volk drängten sich in den Gassen. Und diese Gassen waren eng! Die oberen Stockwerke der Häuser standen weit über, und Lenz hatte bei mehr als einem Haus arge Bedenken, ob das Fachwerk das Gewicht der oberen Stockwerke wohl noch lange tragen würde. Auf dem Platz vor der Kirche waren Marktstände, die mit braunen Tüchern überzogen waren, aufgebaut. Der Wind wirbelte den Staub von den Straßen auf. Heinrich der Löwe ließ zwar an allen Ecken und Enden von Braunschweig bauen, aber auf die Idee, endlich mal die Straßen und Plätze zu pflastern, war der Herzog anscheinend noch nicht gekommen. Stattdessen ließ er die Stadt rundum befestigen und erneuerte auch die Burg »Dankwarderode«. Fenne bekam den Mund nicht mehr zu, als sie auf dem Platz zwischen der Burg und der Baustelle des Doms standen. Denn auf diesem Platz stand auf einer Säule ein vergoldeter Löwe. »Hat den etwa Heinrich der Löwe da aufstellen lassen?«, fragte Lenz. »Wer denn sonst?«, fragte Fenne kopfschüttelnd. »Der Kerl scheint zu viel Geld zu haben«, sagte Henrik. »Also, wenn ihr mich fragt, dann hat der nicht nur zu viel Geld, sondern auch eine ausgesprochene Macke!«, pflichtete Lenz ihm bei. 33
»Nicht so laut!«, zischte Fenne. »Wir sind hier nicht irgendwo in einem Dorf, sondern in seiner Stadt, vergesst das nicht!« »Ist ja gut, ich bin schon ruhig.« Henrik hob entschuldigend die Hände, während Fenne eine Frau, die aus einem Brunnen Wasser schöpfte, nach dem Weg zum Wirtshaus »Goldener Bär« fragte. Sie hatten es nicht weit. Der »Goldene Bär« lag in einer der engen Gassen südlich vom Eiermarkt. Das Lokal war nicht halb so edel, wie es der Name erwarten ließ. Die groben Holzbänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Laut ging es hier zu, es wurde gegessen, getrunken und vor allem geschrien. Fenne führte sie durch das Gewühl aus bunt gekleideten Edelleuten zielsicher zu einem Tisch in der hinteren linken Ecke. Am unteren Ende dieses Tisches saß ein Mann auf der Bank, der schon so betrunken war, dass sein Kopf auf dem Tisch ruhte. Er trug einen dreckigen braunen Kittel. Sein Kopf war von seinem Strohhut verdeckt. Fenne musterte ihn kopfschüttelnd und murmelte: »Dämlicher Bauer! Was er heute verdient hat, hat er direkt versoffen!« »Woran erkennen wir Beatrix?«, fragte Henrik ungeduldig. »Ein Foto hast du ja vermutlich nicht. Oder kennst du sie schon?« Fenne schüttelte den Kopf. »Sie weiß, dass ich komme. Und ein Kind im Wirtshaus, ohne Eltern, das gibt es ja nicht so häufig – oder ist das in eurer Zeit etwa anders?« »Klar, wir können machen, was wir wollen.« Henrik setzte sich auf die Bank mit dem betrunkenen Bauer und 34
lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Eltern sind im einundzwanzigsten Jahrhundert eigentlich nur noch dazu da, dass sie einem das nötige Kleingeld zum Leben besorgen. Den Rest machen wir selbst …« Das Großmaul zwinkerte Lenz mit seinen braunen Augen zu. Aber Lenz wollte Fenne nicht verschaukeln. Es war doch so schon schwer genug für das Mädchen aus dem Mittelalter, sich die Zeit, in der Henrik und Lenz zu Hause waren, vorzustellen. »Glaub ihm kein Wort!« Henrik verdrehte die Augen. »Der Kerl ist nicht nur ein Jammerlappen mit abstehenden Ohren, sondern auch ein Spielverderber!« Er lächelte zu Fenne herüber, die neben Lenz auf der anderen Seite des Tisches saß. »Ist dir das auch schon aufgefallen?« Lenz spürte die Wut in sich hochkochen. Dieser Blödmann sollte ihn doch endlich mal mit seinen Ohren in Ruhe lassen! »Und der da ist nicht nur ein Großmaul! Er hat auch eine Geister-Oma, die in unserem Haus rumspukt!«, giftete Lenz quer über den Tisch. Henrik wurde knallrot im Gesicht. »Ich sag’s dir zum letzten Mal, Segelohr: Lass meine Oma aus dem Spiel!« »Und ich sag’s euch beiden: Haltet die Luft an!«, zischte Fenne. »Sonst fliegen wir hier schneller raus, als wir reingekommen sind!« Henrik drohte Lenz mit einer Faust und einem Nawarte-wir-sprechen-uns-noch-Bürschchen-Blick. Aber Lenz hielt dem locker stand. Von dem Angeber wollte er sich nicht mehr bloßstellen lassen. Aber da setzte sich eine Frau neben Fenne auf die Bank. »Schickt dich die Alte Wöhr?«, fragte die Frau. 35
Lenz sah die Frau an und mochte sie nicht. Er mochte sie einfach nicht. Ihr Lächeln war schief, ihre Zähne waren braun. Diese Frau war bestimmt nicht viel jünger als die Alte Wöhr und sie schielte. Nur weil hier eine Alte hässlicher ist als die andere, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht nett ist, sagte sich Lenz. Aber das war es nicht alleine, auch die Stimme und die ganze Art der Frau gefielen Lenz nicht. »Hier ist es!«, murmelte sie und schob Fenne einen Brotsack zu. Fenne zog ein Buch aus dem Sack. »Ihr solltet lieber rasch verschwinden!« Die Frau sah sich um. Aber Fenne schlug das Buch auf. Lenz sah ihr über die Schulter und wunderte sich. »Schreibt Veldeke seine Geschichten auf Latein?«, flüsterte er Fenne ins Ohr. Fenne schüttelte den Kopf. »Nein, auf Deutsch, das hat mir die Alte Wöhr gesagt. Warum?« »Dann ist es das falsche Buch!«, flüsterte Lenz. »Nun macht schon! Bringt es zur Alten Wöhr! Wo steckt sie überhaupt?« Fenne sah Lenz in die Augen. Sie guckte ängstlich und unsicher und sie schien eine Frage zu haben. Aber Lenz wusste nicht, welche. Henrik antwortete der Frau: »In Köln – au!« Lenz spürte, dass sein Herz plötzlich raste. Fenne hatte Henrik unter dem Tisch getreten. Er sollte anscheinend die Klappe halten. »Was für ein Buch ist das?«, fragte Fenne die Frau. »Veldekes Buch, wie bestellt«, antwortete die Frau. »Was denn sonst?« 36
Nun drehte sich Fenne zu Lenz herum. »Stimmt das?« Lenz schüttelte den Kopf. »Nein. Das hier ist irgendwas Lateinisches.« Nun sah auch Henrik in das Buch. »Stimmt. Das ist Latein. Klingt irgendwie nach Bibel oder so.« Die Frau lächelte ein gequältes Lächeln und nahm das falsche Buch wieder an sich. »Sehr gut! Ich wollte nur sehen, ob ihr das richtige Buch auch erkennen könnt. Wartet hier, ich werde Veldekes Buch holen. Und dann sagt ihr mir, wo ich die Alte Wöhr finden kann, ich muss sie dringend sprechen!« Noch ehe die Kinder etwas erwidern konnten, war die alte Frau aufgestanden und im Gewusel der Wirtschaft verschwunden. »Das stinkt doch zum Himmel!«, flüsterte Henrik. »Warum bringt sie uns nicht gleich das richtige Buch, wenn sie es hat?« Lenz nickte. Irgendwas an dieser Frau war seltsam. Und das war weder das Alter noch die Hässlichkeit. »Meinst du, wir sollten lieber abhauen?« »Typisch!« Henrik sah Lenz von oben herab an. »Das ist mal wieder typisch für unseren kleinen Lenz! Das Erste, was dir einfällt, ist abzuhauen.« Henrik trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch herum. »Wir müssen natürlich erst das richtige Buch finden!« Fenne starrte die ganze Zeit Lenz an. Sie hatte einen offenen Mund und brachte keinen Ton heraus. »Was ist?«, fragte Lenz schließlich. »Ihr könnt lesen!«, entfuhr es Fenne. Sie sah von Lenz zu Henrik. »Könnt ihr wirklich lesen?« 37
Die Jungs zuckten mit den Schultern. »Na klar. Du etwa nicht?« »Und ihr seid ganz sicher, dass es das falsche Buch war?«, fragte Fenne weiter, ohne ihre Gegenfrage zu beantworten. Die Jungs nickten. Fenne legte die Stirn in Sorgenfalten. »Was jetzt?« »Ihr seid in Gefahr«, sagte da der Bauer, der schon die ganze Zeit am anderen Ende des Tisches gesessen hatte. Anscheinend hatte der Mann weder geschlafen noch war er betrunken. Er hob den Kopf und schob den Strohhut in den Nacken. »Beatrix ist nicht mehr in Braunschweig. Heinrich der Löwe hat ihren Diebstahl bemerkt. Sie musste fliehen. Ich bin Dietrich. Sie hat mich geschickt, damit ich euch zu ihr bringe.« Er stand auf. »Folgt mir. Schnell, ehe die Alte mit Verstärkung zurückkommt.« Lenz sah Fenne an. Fenne sah Henrik an. Und Henrik musterte den Mann. Sie alle waren sich nicht sicher, was sie nun tun sollten. Sollten sie dem Kerl vertrauen? Aber warum? Und was, wenn er auch nur irgendein Betrüger war, so wie die Alte? Möglicherweise steckte er mit ihr unter einer Decke! »Warum sollten wir Euch trauen?«, fragte Fenne den Mann, der ziemlich groß und breit war. Der Mann lächelte freundlich. »Erstens habt ihr keine andere Wahl, wenn ihr zu Beatrix wollt.« Er hörte schlagartig auf zu lächeln, beugte sich zu Fenne herunter und flüsterte: »Und zweitens kann ich euch vor Armgard beschützen, ehe sie wieder hier auftaucht.« »Armgard?«, entfuhr es Fenne. »Die Alte war Armgard?« 38
Der Mann nickte. Als Lenz sah, in welchen Schrecken Fenne dieser Name versetzte, wurden seine Knie weich wie Wackelpudding. Er wollte weg hier. Weg aus Braunschweig und weg aus dem beknackten, stinkenden und lebensgefährlichen Mittelalter. »Wir kommen mit Euch«, entschied Fenne. Und den Jungs raunte sie zu: »Wir bleiben dicht beisammen! Wenn er uns zur Burg oder zu der Alten führen will, hauen wir ab.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil III Ein durchtriebeneres, bösartigeres und gefährlicheres Weibsstück als Armgard habe ich in meinem ganzen Leben nicht kennengelernt. Armgard geht über Leichen. Und sie machte dabei auch schon damals selbst vor Kindern nicht Halt. Beatrix wollte eine Warnung an mich schicken, als sie bemerkte, dass Armgard sie entdeckt hatte. Aber diese Warnung hatte mich nie erreicht. Wahrscheinlich war der Bote, den Beatrix losschickte, von Armgard abgefangen worden. Aber ich hätte mir denken können, dass sie sich diese Chance nicht entgehen lassen würde. Ich wusste ja, dass Armgard sich mit Heinrich dem Löwen zusammengetan hatte. Aber dass sie so raffiniert vorgehen würde, damit habe ich einfach nicht gerechnet. Armgard musste schon sehr früh herausgefunden haben, dass Beatrix es war, die das Buch von Veldeke aus Heinrichs Bibliothek gestohlen hatte. Aber statt nun Beatrix direkt festzusetzen und zur Herausgabe des Buches zu zwingen, hatte Armgard den Mönch, der die Bibliothek betreute, vor Heinrich des Diebstahls bezichtigt. Als Beatrix von dieser Anklage hörte, glaubte sie sich in Sicherheit und schickte an mich eine Nachricht. Ich sollte einen zuverlässigen Boten senden, um das Buch abzuholen. Und genau darauf hatte Armgard spekuliert! Wenn sie dem Boten folgte, würde sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Veldekes Buch stehlen können und herausfinden, wo ich wohnte. Meinen Aufenthaltsort hatte ich nämlich seit unserem Zerwürfnis mit viel Vorsicht und Mühe vor
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Armgard geheim gehalten. Alles in allem war es reines Glück, dass Dietrich Beatrix in dieser Situation beistand. Denn ohne den erfahrenen Dietrich hätten meine Zeitenläufer kaum eine Chance gehabt, je aus Braunschweig herauszukommen.
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5. Kapitel
S
chnell, hier rauf!« Dietrich deutete auf einen Karren, vor den ein Esel gespannt war. Er warf immer wieder einen Blick über die Schulter und beobachtete unauffällig den Platz vor der Gasse, in der er geparkt hatte, während Henrik und Fenne auf den Wagen kletterten. Die Sonne stand schon tief und warf lange Schatten in die Gassen Braunschweigs. Ein kühler Wind blies über die Mauern der Stadt. Lenz fröstelte ein bisschen. Er stieg auf die Ladefläche des Karrens und sehnte sich mal wieder nach den gepolsterten Sitzen und der müffelnden Heizung der Eisenbahn. »Mir geht das alles zu schnell. Wer ist Armgard?« Lenz setzte sich neben Fenne auf die leeren Säcke, die den Boden des Karrens bedeckten. Ihnen gegenüber saß Henrik, der seine Augen nicht von Dietrich ließ und murmelte: »Das wollte ich auch gerade fragen.«
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Aber noch ehe Fenne antworten konnte, zischte Dietrich, der die Gasse beobachtete: »Unter die Säcke!« Blitzschnell versteckten sich Fenne und Henrik unter den leeren Säcken, die auf dem Boden des Karrens lagen. Lenz sah sich das an und wollte sich gerade ebenfalls einen Sack über den Kopf ziehen, als zwei Wachen in die Gasse traten. »Wer da?«, rief eine der Wachen. »Ein Bauer«, antwortete Dietrich. »Nur ein armer Bauer.« Die Wachen traten näher an den Karren heran und entdeckten Lenz. »Und wer ist das?« »Mein Sohn, Herr!«, log Dietrich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Mein nichtsnutziger Sohn, den ich den ganzen Abend in der Stadt suchen musste!« Die Wachen musterten Lenz. Er wagte nicht, ihnen in die Augen zu sehen. Die beiden Männer trugen Schwerter am Gürtel und waren breit wie Kleiderschränke. Plötzlich spürte Lenz Dietrichs schwere Hand auf seiner Schulter. »Komm endlich nach vorn zu mir, mein Sohn!« Dietrich packte Lenz kräftig unter den Armen und hob ihn auf die Kiste, die er hinter dem Esel als eine Art Kutschbock auf den Karren gestellt hatte. »Stimmt etwas nicht, Herr?«, fragte er dann die Wachen. »Wir suchen drei Kinder. Hast du die gesehen, Bauer?« Die Wachen hatten nicht gerade einen freundlichen Ton, fand Lenz. Dietrich machte eine kurze Verbeugung und antwor43
tete: »Nein, Herr. Nein. Das einzige Kind, das ich gesehen habe, ist mein nichtsnutziger Sohn!« Dietrich stockte. Und fragte dann: »Meint Ihr zwei Jungen und ein Mädchen?« Die Wachen nickten. »Die haben wir gesehen, natürlich, oder nicht, mein Sohn?« Lenz wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Dietrich stand mit dem Rücken zu den Wachen und zwinkerte ihm unauffällig zu. Da fiel endlich auch bei Lenz der Groschen! Dietrich wollte die Wachen in die Irre schicken. »Ja, die sind weggerannt. Richtung Marktplatz!« Lenz kam sich vor wie ein Held! So eine glatte Lüge war ihm noch nie so locker über die Lippen gegangen. Aber die Wachen schienen mit der Antwort nicht zufrieden zu sein. »Erzieh deinen Jungen, Bauer! Sonst mach ich das!«, sagte der eine der beiden Männer und holte zu einer saftigen Ohrfeige gegen Lenz aus. »Er wollte sagen: ›Sie sind zum Marktplatz gelaufen, Herr!‹«, fuhr Dietrich schnell dazwischen. Er schlug Lenz sanft auf den Hinterkopf. »Wie oft soll ich dir das noch sagen, Junge?« »Entschuldigung, Herr«, murmelte Lenz unsicher. Musste er nach jedem Satz »Herr« sagen? Da ließ die Wache die Hand sinken. Lenz schluckte. Das Mittelalter war definitiv nichts für ihn. Ganz und gar nicht. Während die eine Wache schon Richtung Marktplatz eilte, sah die zweite Dietrich und Lenz noch zu, wie sie den Karren aus der Gasse schoben. 44
»Wenn du die Stadt noch verlassen willst, dann musst du dich beeilen, Bauer!«, knurrte die Wache. »Bei Sonnenuntergang werden die Tore geschlossen!« Dietrich sagte wieder: »Ja, Herr!«, schwang sich auf die Kiste neben Lenz und trieb den Esel an. Als sie außer Hörweite der Wache waren, fügte er hinzu: »Stinkstiefel, Mistbock, elender Wichtigtuer!« Er knuffte Lenz in die Seite. »Ich hoffe, ich hab dir nicht wehgetan, mein Sohn!« Lenz schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, ich war zu langsam. Ich bin immer zu langsam. Ich kann das alles nicht, ich …« »Halt die Luft an!«, sagte Dietrich. »Du machst das doch ganz großartig. Wie heißt du überhaupt?« »Lenz.« »Ein schöner Name«, murmelte Dietrich. »Ein sehr schöner Name.« Sie näherten sich dem Stadttor. »Soll ich mich unter den Säcken verstecken?«, fragte Lenz. Aber Dietrich schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät, Lenz, mein Sohn. Jetzt müssen wir einfach Glück haben.« Die Wachen am Tor hielten sie an. »Wohin noch zu so später Stunde, Bauer?« »Mein nichtsnutziger Sohn ist mir fortgelaufen, während ich das Obst abgeladen habe, Herr«, flötete Dietrich. Lenz fand es unglaublich, wie gut der Kerl lügen konnte – und als ihm das aufging, fragte er sich, ob er nicht auch Fenne angelogen hatte. »Ich konnte doch nicht ohne ihn zurück auf den Hof. Seine Mutter würde den Verlust nicht überleben!« 45
Die Wachen sahen einander an. »Ja, ja, diese Kinder!« Der eine Mann lächelte. »Ich hab auch zwei Söhne. Die sind schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe.« »Ihr sagt es, Herr«, pflichtete Dietrich ihm bei. »Was hast du geladen, Bauer?«, fragte die zweite Wache. »Nur leere Säcke, Herr«, antwortete Dietrich. Der Mann trat an die Ladefläche des Karrens. Lenz hielt den Atem an und musste plötzlich ganz, ganz dringend pinkeln. Die Wache zupfte an einem der Säcke herum. Lenz machte sich fast in die Hose. »Mach, dass du heimkommst, Bauer!«, sagte da die andere Wache. »Und bring deinen Sohn sicher nach Hause!« Dietrich dankte und trieb den Esel an. Erst als sie die Tore der Stadt hinter sich hatten, atmete Lenz auf. »Können wir ganz kurz anhalten?«, fragte er Dietrich. »Ich muss mal.« Dietrich stoppte lachend den Karren. »Das ist die Aufregung.« »Wer ist denn nun eigentlich diese Armgard?«, fragte Lenz, als er sich wieder auf die Kiste neben Dietrich gesetzt hatte. »Und warum sind alle so scharf auf das Buch?«, fügte Henrik hinzu, der seinen Kopf unter dem Sack hervorstreckte. Dietrich nickte über die Schulter Fenne zu, die ebenfalls aus den Säcken aufgetaucht war. »Du musst Fenne sein.« Das Mädchen nickte. »Und das ist Henrik.« Das schien Dietrich im Augenblick nicht die Bohne 46
zu interessieren. »Dann kannst du unseren Freunden doch sicherlich erklären, wer Armgard ist.« Er trieb den Esel an. Fenne schnaufte einmal tief durch die Nase. »Armgard ist die Erzfeindin der Alten Wöhr. Die kennen sich schon seit ihrer Kindheit. Sie sind beide bei Granwolf in die Lehre gegangen. Aber als Granwolf alt geworden war und die Wöhr zu seiner Nachfolgerin bestimmt hatte, stellte sich Armgard gegen sie. Seit diesem Tag herrschen Neid, Streit und Kampf zwischen den beiden.« Henrik zuckte mit den Schultern. »Na und? Armgard wohnt in Braunschweig und die Alte Wöhr in Köln – die scheinen sich doch aus dem Weg zu gehen.« Der Karren holperte den Weg entlang. »Falsch«, sagte Fenne. »Die Alte Wöhr geht Armgard aus dem Weg. Aber Armgard versucht immer wieder, die Alte Wöhr zu finden. Deshalb hält die Wöhr auch geheim, wo sie wohnt. Armgard hatte bis heute keine Ahnung davon, dass die Alte Wöhr in Köln ist. Sie hat geglaubt, dass sie noch in Rom ist.« Fenne schwieg. Lenz schluckte. Auch Henrik brachte lange keinen Ton heraus. Schließlich sagte er ziemlich kleinlaut: »Aber ich habe es vorhin verraten.« »Ja«, sagte Fenne trocken. »Das war das Dümmste, was du bisher angestellt hast.« »Armgard hatte euch schon erwartet«, schaltete sich nun Dietrich ein. »Ich verstehe nur nicht, warum sie euch ein falsches Buch unterjubeln wollte.« »Ganz einfach«, sagte Fenne. »Sie hat nicht damit gerechnet, dass die Jungs lesen können. Wenn ich das falsche Buch mitgenommen hätte, wäre sie uns heimlich bis zum Versteck der Alten Wöhr in Köln gefolgt.« 47
Dietrich wiegte den Kopf hin und her. »Das könnte sein, stimmt schon«, murmelte er schließlich, während er den Karren in ein Wäldchen lenkte. Es holperte und rumpelte gewaltig. Dann gabelte sich der Weg. Sie nahmen den rechten Abzweig, der einen Hang hinaufführte. »Absteigen, Leute. Der Esel hat genug geschuftet und wir sind sowieso gleich da.« Dietrich stieg vom Karren und führte den Esel am Zaumzeug neben sich den Berg hinauf. »Dafür, dass du nur ein Bauer und Bote bist, weißt du ganz schön gut über die ganze Sache Bescheid, Dietrich«, sagte Fenne und das Misstrauen in ihrer Stimme war zumindest für Lenz nicht zu überhören. Dietrich lachte in sich hinein und antwortete: »Ihr seid doch auch nur Boten, oder? Und ihr wisst mindestens so viel wie ich.« Der Weg schlängelte sich aus dem Wald heraus. Die Sonne verkroch sich hinter dem Horizont und tauchte den Himmel in tiefes Rot. Vor diesem Rot erhoben sich die von einer Mauer umgebenen Gebäude eines Klosters. »Willkommen in Amelungsborn«, sagte Dietrich zu den Kindern. Sie schritten auf die dunklen Mauern zu und blieben schließlich vor dem einzigen Tor, das ins Kloster führte, stehen. Dietrich schlug dreimal kräftig an das schwere Tor aus Eichenholz.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil IV Das Kloster war für Lenz und Henrik, wie sie mir später berichteten, ein Flecken der Erholung. Dort gab es sauberes Wasser, sie konnten sich endlich richtig gründlich waschen, wie sie es gewohnt waren. Ferner brauchten sie sich nicht zu verstecken, denn Friedhelm, der Abt von Amelungsborn, war schon seit Ewigkeiten einer meiner Freunde. Daher hatte Beatrix sich auch dort versteckt, als es in Braunschweig eng für sie wurde. Ich habe mich ehrlich gesagt oft über die Pfaffen und die Kirche geärgert – besonders die Bettelorden verlangen manchmal sehr viel von der städtischen Gemeinschaft, ohne sich doch selbst dem Recht der Stadt zu unterstellen. Andererseits war es für Beatrix und die Kinder ein Segen, dass innerhalb der Klostermauern Heinrich der Löwe nichts zu sagen hatte: Seine Gerichtsbarkeit endete vor der schweren Eichentür.
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6. Kapitel
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enz hätte nie gedacht, dass ihm ein Kloster mal so heimelig vorkommen würde! Die Klöster, die er mit seinen verschiedenen Schulklassen angucken musste, waren eigentlich immer ziemlich kühle, ungemütliche Gemäuer gewesen. Aber in Amelungsborn war er froh, sich endlich ausruhen zu können. Die Mönche hatten sogar ein Gästehaus gebaut. Es gab Obst und Gemüse aus dem Garten, und vor allem hatte das Kloster eine eigene Quelle, die ordentlich sprudelte. Und das hieß: Es gab sauberes, frisches Wasser zum Trinken, aber auch zum Waschen! Lenz fühlte sich wie neugeboren, als er am Abend, nachdem er sich gründlich gewaschen und abgenibbelt hatte, im Speisesaal an einer langen Tafel saß. Die Mönche hatten schon gegessen und waren mit dem Abendgottesdienst beschäftigt. »Der ist für uns leider verboten.« Beatrix, eine junge Frau, saß am Kopfende des Tischs. Links von ihr hatte sich Fenne auf die Bank gehockt. 50
Lenz fand es nicht besonders schlimm, dass er nicht in die Kirche durfte. Seine Eltern gingen sowieso nie hin. Er war nur einmal mit seiner Großtante in einem Gottesdienst gewesen und den hatte er ziemlich langweilig gefunden. Aber Fenne und Beatrix wären anscheinend wirklich gern dabei gewesen. Lenz setzte sich Fenne gegenüber auf die zweite lange Bank am Tisch. Die Mönche hatten einiges für die Gäste stehen lassen, ehe sie in die Kirche gegangen waren: Es gab Obst, Käse, frisches Brot, ein paar verschrumpelte Würste und gebratene Geflügelkeulen. Vor Lenz stand eine der Holzschalen, die er schon kannte: Das waren die Teller. »Endlich mal ein gescheites Abendessen!«, freute sich auch Henrik, als er den Saal betrat. Er setzte sich neben Fenne und langte gleich zu. »Lasst es euch schmecken!« Beatrix lächelte. »Es tut mir leid, dass ich euch nicht mehr bieten kann. Aber hier sind wir im Moment wenigstens in Sicherheit. Allerdings kann ich nicht mehr lange bleiben – eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Das Kloster ist für Frauen verboten. Der Bischof wird dem Abt die Ohren lang ziehen, wenn er davon Wind bekommt, dass ich mich hier versteckt halte.« Lenz biss in einen knallroten Apfel. Er war saftig, leicht sauer und nicht so mehlig wie der Mist, den sein Vater immer aus dem Supermarkt anschleppte. Na also, dachte er. Das Mittelalter hat auch gute Seiten: Die Äpfel schmecken besser. Und sie sind garantiert nicht gespritzt. Sein Blick wanderte über den Tisch zu Fenne. Auch sie hatte sich gewaschen und ihre leuchtend roten Haare 51
gekämmt. Sie trug ein Kleid, das ihr viel zu groß war. Beatrix hatte ihr es geliehen. Fenne ist auch eine gute Seite des Mittelalters, dachte Lenz. Er hörte auf zu kauen und überlegte noch einmal. Vielleicht war Fenne sogar die allerbeste Seite, die das Mittelalter zu bieten hatte. Er sah, dass Fenne ihn mit ihren blauen Augen anlächelte, und merkte erst da, dass er selbst bis über beide Ohren strahlte. »Lenz, was hast du mit deinen Ohren gemacht«, schaltete sich da Henrik ein. »Die sind ja knallrot! Hast du sie etwa mit Schweineblut gewaschen?« Lenz spürte selbst, dass seine Ohren glühten. Und als ihn nun alle ansahen, schoss ihm die Röte auch noch in den Rest des Gesichts. Danke, Henrik, dachte er. Danke, dass du immer dafür sorgen wirst, dass ich mich blamiere. Er bastelte noch an einer möglichst gemeinen Antwort, die er Henrik an den Kopf schmeißen könnte, als Dietrich den Speisesaal betrat. Der Mann setzte sich neben Lenz auf die Bank. Er wirkte hier irgendwie noch größer und breiter als er in Braunschweig ausgesehen hatte. Seine blonden Haare hatte er nach hinten gekämmt, sodass sein kräftiges Kinn noch energischer hervortrat. »Habt ihr schon besprochen, wie es weitergehen soll?« Er sah in die Runde. »Wir haben noch nicht mal das Buch«, sagte Henrik. Beatrix hob einen Sack vom Boden auf, zog ein Buch heraus und legte es auf den Tisch. »Hier ist es.« Lenz wischte sich die Finger an der Hose ab. Er schlug die erste Seite auf. »Und?«, fragte Fenne. 52
Lenz nickte. Es war deutsch. Er las die ersten Sätze vor: Ihr alle habt sicher schon davon gehört: Menelaus hat das reiche Troja zerstört. Herr Paris hat ihm die Frau weggenommen, darum ist sein Heer nach Troja gekommen. »Die schöne Helena!«, rief Fenne dazwischen. »Die Geschichte hat mir die Alte Wöhr erzählt! Menelaus hatte eine wunderschöne Frau, Helena, die ihm von einem Trojaner, der hieß Paris, gestohlen wurde.« Lenz blätterte ein bisschen weiter. Es ging nicht um Troja. Es ging um Äneas, genau wie die Alte Wöhr gesagt hatte. Anscheinend war der aus dem zerstörten Troja geflohen, aber noch ehe Lenz weiterlesen konnte, fragte Henrik dazwischen: »Warum wollen alle dieses Buch haben? Die Geschichte ist doch uralt. Was soll der ganze Aufstand?« Und das fragte sich Lenz eigentlich auch. Beatrix sah Dietrich in die Augen. Dietrich nickte stumm. »Wo soll ich beginnen?«, fragte sie mehr sich selbst als die Runde. »Habt ihr vom Streit zwischen den Staufern und Welfen gehört?« Lenz und Henrik schüttelten die Köpfe. »Die Staufer und die Welfen sind zwei große Adelsfamilien«, erklärte Beatrix. »Beide haben den Königsthron und sogar die Kaiserkrone für sich beansprucht. Friedrich Barbarossa, ein Staufer, wurde zum König gewählt und hat sich in Rom zum Kaiser krönen lassen. Aber Heinrich der Löwe, ein Welfe, wollte 53
ebenfalls den Königsthron besteigen. Heinrich hat Friedrich eine Zeit lang unterstützt, aber beim großen Hoffest in Mainz wurde es ihm zu bunt.« Beatrix nahm einen Schluck Wein. »Als Veldeke die Geschichte von Äneas zum Besten gab, hat das Barbarossa sehr gefallen.« »Logisch«, sagte Fenne. »Wieso logisch?«, fragte Henrik. Und auch Lenz kapierte nicht, was daran logisch sein sollte. »Die Geschichte von Äneas ist doch die Geschichte von Italien! Äneas ist der Vorgänger aller römischen Kaiser in Italien. Und er ist ein großartiger Held. Barbarossa ist auch römischer Kaiser. Also ist er ein Nachfolger vom großen Äneas, seit er sich in Rom hat krönen lassen. Und so fällt der Glanz des Äneas auch auf Barbarossa zurück«, erklärte Fenne. »Dass Veldeke ausgerechnet die Geschichte des Äneas erzählt, ist doch kein Zufall! Und dann auch noch bei einem Fest, bei dem alle Feinde des Barbarossa anwesend sind! Deutlicher kann Barbarossa doch gar nicht zeigen, wie mächtig er ist!« Lenz war sich nicht ganz sicher, ob er das richtig verstanden hatte. »Heißt das, dass dieses Buch sozusagen ein Zeichen von Barbarossas Macht ist? So wie das Zepter von Karl dem Großen?« Fenne nickte. Und Henrik bekam den Mund schier nicht mehr zu. »Woher kennst du denn Karl den Großen?«, stammelte er. Lenz zuckte mit den Schultern. »Aus dem Geschichtsbuch natürlich!« Nun war es an Henrik, rot zu 54
werden und verlegen auf den Tisch zu starren. Aber Lenz konnte seinen Triumph kaum auskosten, denn er hatte es noch nicht ganz verstanden. »Also hat Heinrich der Löwe das Buch gestohlen, um Barbarossa zu ärgern?« Beatrix seufzte und stellte ihr Glas zurück auf den großen Holztisch. »Ganz gewaltig zu ärgern.« Sie warf Dietrich einen Blick zu, den Lenz nicht so recht deuten konnte. Dann fuhr sie fort. »Heinrich der Löwe hat zunächst kein großes Geheimnis daraus gemacht, dass er das Buch hat. Aber als Barbarossa von ihm verlangte, er solle es dem Dichter Veldeke zurückgeben, damit dieser das Buch fertig schreiben könne, da hat Heinrich der Löwe vor versammelter Mannschaft geleugnet, das Buch zu haben. Stattdessen hat er gesagt, dass ein anderer Heinrich, nämlich Heinrich von Thüringen, das Buch gestohlen habe. Kaum war Barbarossa außer Hörweite, begann der Löwe, sich über den Kaiser lustig zu machen. Er fragte alle anwesenden Fürsten, was das denn für ein Kaiser sei, der noch nicht mal auf ein Buch aufpassen könne.« »Kapier ich nicht«, murmelte Henrik und kratzte sich am Hinterkopf. Lenz runzelte die Stirn. Was war denn mit Henrik los? Der war doch sonst nicht so begriffsstutzig. »Es ist so, als würde dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika das Flugzeug geklaut werden – und zwar von seinem Gegenkandidaten kurz nach der Wahl. Und der Mistkerl von Gegenkandidat fragt dann auch noch: Was ist das denn für ein Präsident, der noch nicht mal auf sein Flugzeug aufpassen kann?« »Das hab ich kapiert«, erwiderte Henrik. »Ich frage 55
mich nur, was diese Armgard mit der ganzen Sache zu tun hat.« Fenne nickte. »Das frage ich mich auch!« Beatrix stand von ihrem Schemel auf und begann, aufgeregt im Speisesaal der Mönche auf und ab zu gehen. »Armgard! Diese falsche Schlange!«, zischte sie. »Die wollte sich Veldekes Buch beim Fest in Mainz von Barbarossa ausleihen! Aber der Kaiser hat ihr das nicht gewährt. Daraufhin hat sie sich mit Heinrich dem Löwen zusammengeschlossen, als dieser das Buch gestohlen hatte. Aber Armgard ging es ja von Anfang an nur um den Olm.« Beatrix stockte kurz. »Wie dem auch sei: Sie lebt seitdem in Braunschweig und bewacht das Buch.« Beatrix zwinkerte den Kindern zu. »Es war ein ganz schönes Kunststück, es aus ihren Klauen zu befreien.« Ihr Blick verfinsterte sich wieder. »Aber die Frage ist, ob ihr es schaffen werdet, das Buch sicher nach Köln zu bringen.« Fenne hörte gar nicht mehr richtig zu. Sie rutschte aufgeregt auf der Bank hin und her und fragte: »Was ist mit dem Olm?« Beatrix zuckte zusammen. »Wie kommst du auf den Olm?« »Du hast gerade gesagt, dass es Armgard nur um den Olm geht. Aber was hat der mit dem Buch zu tun?«, hakte Fenne nach. »Ich hab nicht ›Olm‹ gesagt«, erwiderte Beatrix schroff. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, das sich zum Kreuzgang hin öffnete. »Wir müssen die Tafel aufheben. Die Mönche sind gleich fertig. Und der Abt will nicht, dass wir uns nach dem Abendgebet noch im Kreuzgang aufhalten und den Ordensbrüdern begegnen.« 56
Sie stellten ihre Holzschalen zusammen und räumten auch das Essen vom Tisch. Fenne nahm das Buch an sich. »Ich werde euch begleiten«, sagte Dietrich. »Geht jetzt schlafen. Wir brechen im Morgengrauen auf. Bevor Armgard auf die Idee kommt, dem Kloster einen Besuch abzustatten.« Sie verließen den Speisesaal. »Merkwürdig, sehr merkwürdig«, begann Henrik noch im Kreuzgang zu murmeln. Aber Fenne zischte ihm nur zu: »Halt die Klappe!« Erst als sie in ihrem Zimmer unter dem Dachgiebel des Gästehauses waren, sagte Fenne: »Du hast recht, Henrik. Es ist merkwürdig. Beatrix wollte mir nicht die ganze Wahrheit sagen. Aber ich weiß nicht, warum sie mir etwas verschweigt. Vielleicht traut sie euch nicht oder sie traut Dietrich nicht.« »Oder sie traut dir nicht«, sagte Lenz ganz automatisch. Denn diese Möglichkeit gab es ja auch noch. Fenne fuhr zu ihm herum. »Was willst du damit sagen?« Lenz hob entschuldigend beide Hände. »Gar nichts. Aber möglich ist es doch, oder?« Er ließ sich auf sein Lager fallen. Er war froh, endlich mal wieder ein richtiges Bett zum Schlafen zu haben, auch wenn die Matratze längst nicht so bequem war wie seine eigene zu Hause. »Was ist ein Olm?«, fragte Henrik. Auch Fenne schlüpfte in ihr Bett. Sie kroch unter die Decke und presste das Buch eng an sich. »Das erzähle ich euch – sobald ihr mir gesagt habt, was ein Flugzeug ist und wo Amerika liegt.« 57
Lenz schluckte. Was ein Flugzeug ist, war einfach zu erklären – aber Amerika würde eine harte Nuss für Fenne werden. Schließlich glaubte die vermutlich noch, dass die Erde eine Scheibe sei …
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil V Beatrix hat sich immer schon gern verplappert. Daran hätte ich eigentlich denken müssen. Aber man lernt nicht aus! Ich hatte Beatrix, als sie noch ein Kind war, auch einmal als Zeitenläuferin losgeschickt. Aber statt einen Brief nach Ägypten tu bringen, verplapperte Beatrix sich und ich war gezwungen am Ende drei andere Zeitenläufer hinterherzuschicken, die sie aus dem Gefängnis befreien mussten. Ich hätte damit rechnen müssen, dass sie Fenne vom Olm erzählen würde. Ich war ohnehin schon nicht besonders glücklich darüber, dass Beatrix erfahren hatte, wo der Olm versteckt war – aber es ließ sich nicht vermeiden. Denn abgesehen von ihrer Geschwätzigkeit war sie mir andererseits immer eine große Hilfe. Deshalb ließ ich sie auch Armgard beobachten, um so an das Buch heranzukommen. Und als sie es gefunden hatte, entdeckte sie auch bald, was Armgard wirklich im Sinn hatte.
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7. Kapitel
N
ebelschwaden waberten um die Klostermauern. Lenz streckte sich noch einmal. Die Nacht im Kloster hatte gutgetan – auch wenn er gerne noch länger geschlafen hätte. Henrik sah auch noch ziemlich zerknautscht aus, als er sich auf den Karren schwang. Dietrich hievte eine Kiste als Bock auf den Karren; eine zweite Kiste stellte er dahinter auf die Ladefläche. Er hatte den Esel gegen ein Pferd eingetauscht. »Viel Glück!«, sagte Beatrix zum Abschied. Fenne kletterte auf den Karren. »Habt ihr das Buch gut versteckt?«, fragte Friedhelm, der Abt. »O ja, das haben wir!« Fenne zwinkerte Lenz zu. Sie reichte ihm die Hand und half ihm so auf den Karren. Lenz grinste. Sie hatten einen Rucksack für das Buch gebaut: Aus einem Beutel und zwei Bändern hatten sie den zusammengeflickt. Fenne trug diesen Rucksack unter ihrem Kittel, der
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so locker fiel, dass man nicht sehen konnte, was sie versteckt am Körper trug. »Macht, dass ihr loskommt!«, mahnte der Abt und begleitete sie bis zum Tor des Klosters. »Danke für alles!« Fenne machte eine Art Verbeugung. Friedhelm winkte ab. »Kommt sicher nach Hause! Und grüßt die Alte Wöhr von mir.« Er öffnete das Tor. Dietrich hielt das Pferd am Zaumzeug und führte es aus den Klostermauern. Er schwang sich auf die Kiste, die er schon am Vorabend wie einen Kutschbock benutzt hatte, und trieb das Pferd mit einem Schnalzen an. Nebel lag über dem Land. Und dieses Land war still. Es war ganz unglaublich still. Die Reisenden tauchten in die graue Suppe ein, die sie schon nach wenigen Metern ganz umhüllte. Es wurde von Tag zu Tag kühler. Lenz musste niesen. »Du musst ein Mäuschen küssen, wenn du eine Erkältung bekommst!«, sagte Fenne. Henrik und Lenz sahen sich an. »Quatsch! Vitamin C in großen Mengen!« »Was ist das nun wieder?« Der Weg führte sie in den Wald. Hier war es zwar nicht ganz so kühl, aber dafür sahen die grauen Baumstämme im Nebel plötzlich ziemlich beängstigend aus. Und dann diese Stille – nur der Hufschlag des Pferdes, das Rattern und Quietschen des Karrens waren zu hören … Lenz sehnte den Sonnenaufgang herbei. »Vitamin C ist in Orangen, Zitronen, aber auch Kiwis.« 61
»Orangen!«, lachte Dietrich vorn auf dem Bock. »Woher kennt ihr Orangen und Zitronen?« Henrik zuckte mit den Schultern. »Aus dem Supermarkt.« Fenne gab ihm einen kräftigen Tritt. Aber es war schon zu spät. »Ihr beiden kommt nicht aus Köln, oder?«, fragte Dietrich. »Etwas stimmt doch nicht mit euch. Ihr könnt lesen, ihr redet von komischen Maschinen und fernen Ländern, seid ihr die Söhne eines Königs?« Lenz kratzte sich am Hinterkopf. »Ich bin kein Königssohn. Meine Eltern sind Schauspieler, ich glaube, ihr sagt ›Spielleute‹ dazu. Aber …« Lenz stockte und sah Fenne an. Darf-ich-ihm-endlich-die-Wahrheitverraten?, sollte dieser Blick sagen. Fenne schien ihn zu verstehen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an Dietrichs zweite Kiste und sandte Lenz einen skeptischen Wennes-unbedingt-sein-muss-Blick. Aber da machte Dietrich: »Pssst.« Dann flüsterte er: »Mein Schwert, Henrik! Aus der Kiste! Schnell!« Henrik öffnete die Kiste, die der breite Mann auf den Karren geladen hatte. Lenz staunte nicht schlecht, als er hineinguckte: Darin lag nicht nur ein Schwert, sondern auch ein Kettenhemd, ein Brustpanzer und ein Helm! Das war eine komplette Ritterrüstung! Wenn Dietrich ein Bauer ist, bin ich ein echter Königssohn, dachte Lenz. »Ganz ruhig, bleibt ganz ruhig und legt euch flach in den Wagen«, flüsterte Dietrich, ohne sich zu den Kindern umzudrehen. Er streckte die Hand nach hinten aus, Henrik gab ihm das Schwert. Dietrich zog das Schwert aus der Scheide und legte es quer über seine Knie. Er 62
reichte die leere Scheide wieder zurück an Henrik und ließ die ganze Zeit das Pferd, das schnaubte, im Schritt weiter den Waldweg entlanggehen. Lenz hielt den Atem an und merkte, dass er schon wieder pinkeln musste. Was war überhaupt los? Er legte sich flach auf den Boden des Karrens und lugte in den Wald. Er sah einen Schatten – war das ein Reiter zwischen den Bäumen? Oder war das nur eine Nebelschwade? »Henrik, gib mir Klopfzeichen, wenn du sie gezählt hast«, murmelte Dietrich aus dem Mundwinkel. Henrik war ein perfekter Späher, wie Lenz jetzt merkte. Der Junge lag reglos neben ihm auf dem Karren und klopfte unauffällig auf den Boden des Karrens. Vier Schläge. Da stoppte der Karren auch schon. Lenz hob den Kopf. Ein Mann versperrte ihnen den Weg. Er hatte ein Schwert in der Hand. »Endstation, Bauer!« Drei weitere Gestalten, die lange Mäntel mit Kapuzen trugen, traten aus dem Nebel hinzu. Auch diese drei hatten Schwerter in den Händen. »Alles aussteigen und abladen!«, sagte einer von ihnen. »Räuber!«, flüsterte Fenne. Aber da hörten sie schon das Klirren der Schwerter. Als Lenz wieder nach vorn sah, traute er seinen Augen kaum! Dietrich stand auf dem Karren und wehrte mit seinem Schwert die Schläge der vier Räuber ab! Er hieb so schnell und kräftig zu, dass es nur so krachte. Als er dem ersten Räuber das Schwert aus der Hand geschlagen hatte, verpasste er dem Kerl einen kräftigen Tritt vor die Brust, sodass der zurücktaumelte und hinterrücks ins Gebüsch stolperte. Dem zweiten schlug 63
er mit der flachen Seite des Schwertes auf den Kopf. Der Mann schrie vor Schmerz auf, ließ seine Waffe fallen und machte sich aus dem Staub. Da sprang Dietrich vom Karren und drängte auch den dritten Räuber mit kräftigen Schlägen, bei denen er das Schwert mit beiden Händen hielt, zurück in den Wald. Die vierte Gestalt, die kleiner war als die anderen, wich von allein immer weiter zurück, sprang plötzlich hinter einen Baum und kam auf einem Pferd wieder hervor. Aber statt Dietrich nun vom Pferd aus anzugreifen, nahm dieser Räuber lieber kampflos Reißaus. Er trieb sein Pferd so scharf an, dass seine Kapuze vom Wind zurückgeschlagen wurde. »Sie ist es!«, entfuhr es Lenz. Er konnte es kaum glauben! Dieser vierte Räuber war kein Mann! Es war eine Frau! Eine alte Frau, die sie alle kannten! Auch Fenne hatte erkannt, wer da im Nebel verschwand, und fauchte: »Armgard!« »Sammelt die Schwerter ein und versteckt sie in meiner Kiste! Schnell!«, rief Dietrich. Henrik sprang vom Wagen und reichte Lenz und Fenne die Waffen an. Diese Schwerter waren ziemlich schwer. »Halt das Pferd fest!«, befahl Dietrich Henrik. Dann verschwand auch er an der Stelle im Nebel, wo Armgard ihr Pferd versteckt hatte. Lenz schluckte. Jetzt waren sie ganz allein auf dem Waldweg. Die Räuber waren zwar geschlagen, aber sie streiften hier irgendwo durch den Nebel. Es kam Lenz wie eine Ewigkeit vor, ehe Dietrich wieder auftauchte. Er war nicht allein. Er führte drei Pferde mit sich. Drei 64
schöne, stattliche Pferde mit ordentlichen Satteldecken und Sätteln. »Könnt ihr reiten?«, fragte Dietrich. »Na klar!«, antworteten Fenne und Henrik wie aus einem Mund. Nur Lenz sah betreten zu Boden. Er konnte nicht reiten. Er hatte noch nie im Leben auf einem Pferd gesessen. Dietrich half Fenne in den Sattel. Dann setzte er Henrik auf ein zweites Pferd. »Was ist mit dir, Lenz?«, fragte Dietrich. Lenz schüttelte den Kopf. Er schämte sich. Alle Mädchen aus seinen sämtlichen Schulklassen konnten reiten. In Kiel hatten die Jacobis sogar neben einem Reiterhof gewohnt. Aber Lenz hatte immer das Fahrrad bevorzugt. Bei einem Fahrrad entfällt nämlich das Striegeln und Ausmisten. Außerdem können Fahrräder einen nicht treten oder beißen. Aber all diese Gedanken waren hier und jetzt im Wald, Nebel und Mittelalter natürlich so wertlos wie Bargeld auf dem Mond. »Oh Mann, Lenz! Mach schnell, schwing dich auf das Vieh, bevor die bekloppte Armgard Verstärkung holt!«, schimpfte Henrik. Danke, Henrik. Supernett von dir und echt hilfreich, dachte Lenz. Aber da spannte Dietrich schon sein eigenes Pferd aus dem Karren aus. Er holte ein paar Riemen aus der einen Kiste und schnallte mit diesen die beiden Kisten in einem atemberaubenden Tempo seinem eigenen Pferd auf den Rücken. Das Pferd schien das schon zu kennen. Jedenfalls wehrte es sich nicht. »Halt mal fest!« Dietrich drückte Lenz die Zügel der 65
beiden Pferde in die Hand. Dann schob er den Karren rückwärts vom Weg in den Wald. »Sollen wir den Karren verstecken?«, fragte Fenne. Dietrich schüttelte den Kopf. »Ich will nur nicht, dass jemand drüberstolpert. Und jetzt los!« Er zeigte auf einen umgefallenen Baumstamm. »Stell dich drauf, Lenz!« Lenz kletterte auf den Baumstamm. Nun schwang sich Dietrich auf das dritte Pferd der Räuber und ritt dicht neben den Baumstamm. Lenz hielt den Atem an, das Pferd schnaubte. »Ganz ruhig, es passiert nichts!«, sagte Dietrich. Dann packte er Lenz am Arm und sagte: »Schwing dich hinter mich! Los!« Lenz versuchte, auf den Rücken des Pferdes zu springen. Zum Glück zog Dietrich ihn zugleich mit einem kräftigen Schwung zu sich herüber, sodass er hinter ihm im Sattel landete. »Los jetzt! Sie wird bestimmt zurückkommen!« Dietrich knotete die Zügel des Lastenpferdes am Sattel fest. »Halt dich fest, Lenz!« Lenz klammerte sich an Dietrichs Gürtel fest. Dann ging es los. Sie ritten! Lenz wäre vor Angst fast gestorben! Alles wackelte und schwankte und es war ganz anders als auf einem Fahrrad! Henrik und Fenne schienen es besonders spaßig zu finden, dass Lenz sich so ängstlich festhielt. »Du siehst aus wie ein Affe auf dem Schleifstein!« Henrik grinste fett zu ihm herüber. Und Fenne kicherte wieder ihr Kichern. Lenz ärgerte sich. Dieser blöde Henrik sollte ihn nicht vor Fenne lächerlich machen! Denn er wollte nicht, dass Fenne 66
Henrik für einen ganz tollen Kerl und Lenz nur für einen Blödmann mit abstehenden Ohren hielt. Auch wenn es so war. Er wollte gerade erwidern, dass Henrik selbst so blöd aussähe wie der Geist seiner spukenden Oma, als Dietrich sagte: »Das waren keine Räuber. Diese Pferde tragen das Wappen des Löwen. Sie haben uns in Heinrichs Auftrag aufgelauert!« Er schnalzte mit der Zunge und lenkte das Pferd auf die rechte Seite des Weges, damit Fenne und Henrik neben ihm reiten konnten. »Das heißt erstens, sie wussten, wo wir waren. Und zweitens, sie wussten, dass ihr den Weg Richtung Hildesheim nehmen würdet.« »Nur mit dir haben sie nicht gerechnet«, sagte Fenne. Dietrich grinste. »Stimmt.« »Bist du wirklich ein Bauer, Dietrich?«, fragte Fenne. »Natürlich nicht!«, antwortete Henrik an Dietrichs Stelle. »Welcher Bauer hat schon eine Ritterrüstung? Und dann so ein Tempo beim Schwertkampf!« Dietrich lachte. »Euch macht so leicht keiner was vor, oder?« Er hielt sein Pferd an und lauschte. Dann trieb er es wieder an und fuhr fort. »Nein, ich bin kein Bauer. Ich bin ein Ritter in Barbarossas Diensten.« »Cool!«, entfuhr es Henrik. »Warum habt Ihr uns das nicht gleich gesagt, Herr?«, fragte Fenne. »Oh je«, stöhnte Lenz. »Müssen wir jetzt auch immer ›Ihr‹ zu dir sagen und ›Herr‹, weil wir sonst eine geknallt kriegen?« »Solange ich als Bauer verkleidet bin, könnt ihr zu mir sagen, was ihr wollt. Aber später müsst ihr, wenn 67
Fremde dabei sind, ›Ihr‹ und ›Herr‹ sagen, sonst fällt es auf.« An Fenne gerichtet fügte er hinzu: »Sollte ich euch etwa im Wirtshaus in Braunschweig, das gespickt voll war mit Heinrichs Leuten, unter die Nase reiben, dass ich im Auftrag von Barbarossa gekommen bin? Das wäre glatter Selbstmord gewesen!« Nun war es Henrik, der sein Pferd plötzlich anhielt. »Still! Ich glaube, sie kommen!« Sie horchten. Und nun hörte es auch Lenz – Pferdegetrappel kam näher. Und zwar ziemlich schnell. »Runter von den Pferden!«, befahl Ritter Dietrich und sprang vom Pferd. Dann half er Lenz beim Absteigen. Dietrich drückte Lenz den Zügel des Lastenpferdes in die Hand. »Folgt mir!« Er verließ den Weg und marschierte geradewegs in den Wald. Die Sonne brach durch die Wolken und vertrieb den Nebel. Dietrich führte sie den Hang rechts vom Weg hinauf. Das Getrappel ihrer Verfolger wurde immer lauter. »Schneller!«, flüsterte Dietrich. Der Wald wurde dichter. Umgestürzte Bäume, Ranken und von Efeu umkränzte Baumstämme säumten ihren Pfad. »Hinter die Büsche da drüben!«, keuchte Fenne. Dietrich hätte dieses Versteck glatt übersehen. Ein dichtes Gebüsch wucherte links von ihnen zwischen den Bäumen. Sie versteckten sich dahinter. »Runter!« Dietrich zwang das Pferd, sich hinzulegen. Auch sein Lastenpferd gehorchte diesem Befehl. Die Tiere von Fenne und Henrik aber schnaubten. 68
»Ruhig! Ruhig!« Fenne legte ihre flache Hand ihrem Pferd auf die Blesse an der Stirn. Das war Rettung in letzter Sekunde. Denn in diesem Augenblick sah Lenz die Verfolger unten über den Weg preschen. Lenz zählte sechs bewaffnete Reiter, angeführt von Armgard, die sich nicht mehr darum scherte, ob ihre Kapuze ihren alten Kopf noch verhüllte oder nicht. Ihr graues Haar flatterte im Wind. Sie ritten in hohem Tempo um eine Biegung des Weges und waren verschwunden. Und auch der Hufschlag verhallte nach und nach. Dietrich trat aus dem Versteck. »Hildesheim und Paderborn können wir vergessen. Sie werden uns auflauern. Ich kenne einen Müller südlich von Hildesheim. Den könnten wir in den nächsten drei Tagen erreichen, wenn wir uns beeilen.« Er zog sein Pferd hinter dem Gebüsch hervor. »Wenn ich mich nicht irre, gibt es einen zweiten, älteren Weg auf der anderen Seite dieser Anhöhe«, fügte er hinzu und führte sie den Hang aufwärts, weiter in den dichten Urwald hinein.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VI Lenz hat mir nie erzählt, ob er sich dafür verfluchte, dass er bei diesem Auftrag mitgemacht hatte. Aber er hat mir später gestanden, dass er damals kurz davor war, mich dafür zu verfluchen, dass ich ihnen diesen Auftrag angetragen hatte. Und ich konnte es dem Jungen nicht übel nehmen: Da stolpert er, nichts Böses ahnend, in ein Zeitloch und findet sich mir nichts dir nichts nicht nur von Feinden verfolgt, sondern auch noch auf dem Rücken eines Pferdes wieder. Aber immerhin lernte Lenz damals innerhalb von drei Tagen das Reiten. Das war eine reife Leistung. Selbst wenn man bedenkt, dass Dietrichs Pferd sanft wie ein Lamm war. Für Henrik sah alles ganz anders aus: Ihm gefiel der Auftrag, wie er später immer wieder betonte, von Tag zu Tag besser. Dass er nun auch noch ein Pferd hatte und sie von einem echten Ritter beschützt wurden, fand Henrik aufregend. Er bekniete Dietrich übrigens so lange und bearbeitete ihn, bis er tatsächlich versprach, ihn den Umgang mit den Waffen der Ritter (Lanze, Schwert, Bogen und Schild) zu lehren. Fenne hingegen quälten andere Fragen: Sie wollte wissen, was in dem Buch stand und was der Olm mit all dem zu tun hatte.
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8. Kapitel
K
löster sind schöner als Mühlen. Jedenfalls sind sie bequemer. Der Müller hatte keine Gästebetten und erst recht kein Gästehaus. Auch das Wasser hatte nicht mehr die Qualität von Amelungsborn. Aber Andreas, der Müller vom Schwarzbachtal, war nett. Und seine Frau Hilde schien den lieben langen Tag zu lachen – egal wie viel sie zu tun hatten. »Wenn wir schon schuften müssen, will ich mir davon nicht auch noch die gute Laune verderben lassen«, pflegte Hilde zu sagen. Die beiden hatten drei schreiende Kinder, zwei muhende Kühe, eine meckernde Ziege, einen stummen Hund und zwei Dutzend dämliche Hühner. Dass Hühner das dümmste Viehzeug aller Zeiten sind, hatte Lenz nicht gewusst. Die meisten Hühner, die er bisher gesehen hatte, waren aber auch gerupft, geköpft, ausgenommen, tiefgekühlt und in Folie eingeschweißt gewesen. So kamen sie jedenfalls normalerweise in den Einkaufswagen der Familie Jacobi. Und in dieser Form 71
hatte Lenz auch nichts an ihnen auszusetzen. Aber die lebenden Hühner, die liefen einfach überall herum, waren neugierig und strunzdumm. Sie hackten hier und kackten da und guckten sich alles an – wenn Lenz, Henrik und Fenne nicht die Klappe zum Heuboden über dem Stall, auf dem sie schliefen, schlossen, konnten sie sicher sein, dass sich irgendein dämliches Huhn auf ihr Lager verirrte. Eine Henne marschierte sogar einmal ins Haus des Müllers und stolzierte gackernd auf die Feuerstelle zu! Dietrich gönnte ihnen zwei Tage Pause bei Andreas und Hilde, damit sie sich erholen konnten. Und das taten sie! Lenz, Henrik und Fenne badeten jeden Morgen und jeden Abend in dem Flüsschen, das das große Wasserrad der Mühle antrieb. Sie spielten mit den drei schreienden Kindern im Garten zwischen den großen Obstbäumen Verstecken und halfen auch im Gemüsegarten, der sich hinter dem Stall bis zum Misthaufen vor der Mauer erstreckte. Dietrich baute mit Andreas eine Klappe in die Rückwand der Mühle, damit der stumme Hund ein- und ausgehen konnte, wie er wollte. Diese Klappe war zwar so groß geraten, dass auch ein erwachsener Mensch hindurchpasste, aber dadurch war sie auch so schwer, dass die dummen Hühner sie nicht bewegen konnten. Lenz hätte sich an das Leben in der Mühle gewöhnen können. Es war zwar nicht alles so sauber und bequem wie zu Hause (vor allem fehlten ihm ein vernünftiges Klo und eine Dusche), aber diese zwei Tage zwischen Spätsommer und frühem Herbst hier am Fluss waren für ihn trotzdem so erholsam wie ein Urlaub. – Vor allem weil Dietrich ihnen jeden Morgen und jeden 72
Abend bestätigte, dass sie hier vor Heinrichs Leuten sicher waren. Schon am ersten Abend lagen die drei auf ihrem Heuboden, und Lenz malte sich aus, wie es wäre, hier zu wohnen. Er verstand sich auch mit Henrik plötzlich besser. Bis Fenne am zweiten Abend fragte, was es eigentlich mit Henriks Oma auf sich habe. Da wurde Henrik wieder knurrig und murmelte: »Sie ist gestorben. Das hat es mit ihr auf sich.« Als Lenz das hörte, schämte er sich in Grund und Boden. Deshalb hatte Henrik so wütend reagiert, als Lenz ihn mit dem Oma-Geist aufgezogen hatte. Er entschuldigte sich bei Henrik. Und schwor sich innerlich, Henrik nie wieder auf seine Großmutter anzusprechen. Tagsüber nahm Lenz Reitstunden bei Fenne. Fenne nahm Lese- und Schreibunterricht bei Lenz, während Henrik gar nicht genug davon kriegen konnte, sich von Dietrich im Schwertkampf und Bogenschießen ausbilden zu lassen. Und Dietrich staunte nicht schlecht, als Lenz und Henrik ihm schließlich verrieten, dass sie aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert kamen und durch ein Zeitloch gereist waren. »Also gibt es sie doch, diese Löcher in der Zeit«, murmelte der Ritter nachdenklich. »Eins versteh ich noch immer nicht.« Fenne saß am Nachmittag des zweiten Tages neben Lenz auf der groben Holzbank hinter dem Haus im Garten. Vor ihnen lag Veldekes Buch auf dem Tisch. Lenz hatte versucht, Fenne alle Buchstaben in diesem Buch einmal zu zeigen, damit sie einen Überblick über das Alphabet be73
käme. Aber es waren zu viele Zeichen auf einmal gewesen und Fenne hatte gar nichts mehr verstanden. »Du hast gesagt, dass deine Eltern Spielleute sind. Warum haben sie dich dann an eine Schule geschickt, damit du lesen und schreiben lernst?« Lenz verstand die Frage nicht. »In unserer Zeit gehen alle Kinder zur Schule. So bestimmt es unser Gesetz.« »Euer König hat befohlen, dass alle Kinder zur Schule gehen dürfen?« Fenne kam aus dem Staunen nicht mehr raus. »Wir müssen zur Schule!«, rief Henrik, der mit Dietrich Bogenschießen übte, zu ihnen herüber. Die beiden hatten eine Zielscheibe an einen Apfelbaum gehängt. »Und es ist manchmal eine ziemliche Qual«, fügte Lenz seufzend hinzu. »Warum?«, fragte Fenne. Lenz überlegte. Warum war die Schule so blöd? Und wie sollte er das Fenne erklären? Alles, was ihm einfiel, musste in ihren Ohren irgendwie lächerlich klingen: schlechte Noten, Einträge ins Klassenbuch, schreiende Lehrer, blöde Mitschüler … das alles war doch harmlos im Vergleich zu dem lebensgefährlichen und anstrengenden Leben, das Fenne führte. »Ich weiß nicht«, murmelte er schließlich. »Es ist schwer zu sagen. Du müsstest es selbst mal sehen …« Da schoss Lenz ein Gedanke durch den Kopf. »Das könntest du doch echt mal machen, oder?« Denn das Zeitloch war ja in beide Richtungen offen! Er musste nur den Anker ins Loch hängen und schon könnte Fenne aus dem Zeitloch ins einundzwanzigste Jahrhundert klettern. Lenz sah das Mädchen an. 74
Fenne grinste. »Das könnte ich tatsächlich.« »Bevor ihr die nächste Reise plant, sollten wir diese hier vielleicht erst einmal zu Ende bringen.« Henrik ließ den Bogen sinken und kam zu ihnen an den Tisch. »Ich kapiere einfach nicht, was dieser Olm sein soll.« Er setzte sich auf die zweite, grobe Bank auf der anderen Seite des Tisches. »Du hast gesagt, dass der Olm wertvoller ist als alles, was es gibt. Also kann sich derjenige, der den Olm hat, alles kaufen, was es zu kaufen gibt.« Fenne nickte. »Aber wie sieht der Olm aus? Ist es eine Kiste voller Edelsteine?« Fenne zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie er aussieht. Ich weiß nur, was die Leute sagen. Angeblich ist er aus dem Schatz der Nibelungen gestohlen worden und macht seinen Besitzer unendlich reich.« Nun trat auch Dietrich zu ihnen. »Ich halte das alles für Unsinn, wenn ihr mich fragt.« »Du meinst, es ist Aberglaube?«, fragte Henrik. Der Ritter nickte. »Genau wie der ganze Schatz der Nibelungen. Den gibt es vermutlich auch nicht.« Fenne wiegte den Kopf hin und her. »Aber was hat dann Beatrix gemeint, als sie sagte, dass Armgard nur hinter dem Olm her sei?«, fragte Lenz. Diese Frage konnte auch Dietrich nicht beantworten. »Nehmen wir doch mal an, dass es den Olm tatsächlich gibt«, schaltete sich Henrik wieder ein. »Und nehmen wir an, dass Armgard ihn hat oder hatte – dann könnte es doch sein, dass sie mit dem Reichtum aus dem 75
Olm Heinrich den Löwen unterstützt. Schließlich scheint der ja extrem reich zu sein. Oder ist es etwa billig, eine Stadt wie Braunschweig zu befestigen, ein goldenes Standbild aufzustellen, Kirchen zu bauen und eine Burg zu vergrößern? Von den ganzen Rittern, Waffen und der Verpflegung in Braunschweig ganz zu schweigen.« Dietrich kratzte sich am Hinterkopf. »Da hast du recht. Woher der Löwe seinen Reichtum hat, das weiß ich auch nicht.« Henrik trommelte mit den Fingern auf den Holztisch. »Wenn wir also annehmen, dass Armgard den Olm hatte und nun hinter dem Olm her ist, dann könnte es doch sein, dass wir den Olm haben. Denn sie ist hinter uns her.« Das klang für Lenz logisch. Es klang fürchterlich logisch. Es klang fast so logisch, dass es auch logisch gewesen wäre, wenn Armgard im nächsten Augenblick durch den Gemüsegarten des Müllers zu ihnen spaziert gekommen wäre. Henrik drehte Veldekes Buch zu sich. »Vielleicht ist dieses Buch viel wertvoller, als wir bisher gedacht haben. Hat die Alte Wöhr nicht gesagt, dass es von unschätzbarem Wert für sie sei?« Henrik begann zu lesen. »Vielleicht …«, er überflog die Seiten. »… vielleicht steht in dem Buch, wo der Olm ist … oder wie man ihn findet … oder wie er funktioniert …« Aber Lenz schüttelte den Kopf. »Ich bin jetzt halb durch mit der Geschichte. Es ist einfach nur die Geschichte von diesem Äneas. Der fährt mit dem Schiff, eine Frau verliebt sich in ihn, er verlässt sie, spaziert in die Unterwelt und wieder raus, kämpft und so weiter. Von einem Olm ist darin echt nicht die Rede.« 76
Henrik blätterte weiter in dem Buch herum. »Hier muss irgendwo der Schlüssel liegen, ich bin mir sicher«, murmelte er. »Hier sind ein paar Seiten dunkler als die anderen.« Er hielt die letzten Seiten des Buches gegen das Licht. »Vielleicht ist in denen irgendwas versteckt? – Oder der Text ist verschlüsselt!« Lenz zog die Stirn kraus. »Du hast zu viel Fernsehen geguckt, Henrik. Das ist eine Abenteuergeschichte, sonst nichts.« Fenne klappte das Buch zu. »Wie auch immer! Wir müssen das Buch zur Alten Wöhr bringen. So lautet unser Auftrag. Und wenn wir den erledigt haben, wird sie uns bestimmt sagen, was es mit dem Olm auf sich hat.« Das Mädchen warf Dietrich einen strengen Blick zu. »Hast du eine neue Route für uns?« Dietrich nickte. »Andreas war heute Morgen für mich beim Pferdehändler und hat uns noch vier Pferde gekauft. Dann haben wir Ersatztiere und kommen schneller voran.« Fenne nickte. »Das ist gut. Schließlich müssen wir diese zwei Tage aufholen.« Dietrich schüttelte lachend den Kopf. »Glaub mir, Fenne, durch diese zwei Tage Ruhepause haben wir mehr als eine Woche gewonnen! Wir reiten südlich um Paderborn herum. Und unsere Verfolger haben schon jetzt keine Ahnung mehr, wo wir stecken. Armgard kennt unsere Route nicht. Sie rechnet garantiert nicht mit unserer Pause – das heißt, sie weiß nicht, wo sie zuerst nach uns suchen soll.« Er nahm einen Pfeil, legte ihn auf die Sehne und spannte den Bogen. Er zielte auf die Scheibe am Apfelbaum. »Es stehen uns ein paar anstrengende Tage bevor, aber wir können es in zehn 77
Tagen bis Köln schaffen!« Der Ritter ließ die Sehne los. Der Pfeil schoss durch die Luft und traf genau in die Mitte der Zielscheibe. »Ich nehme Euch beim Wort, Ritter Dietrich!«, sagte Fenne mit gespielter Strenge. »In zehn Tagen sind wir in Köln!« Dietrich lachte. »In zehn Tagen! Ihr habt mein Wort, meine Dame!« Da erscholl plötzlich ein Wutschrei. »Du blöde Ziege!« Alle rannten rüber zum Stall. Hilde hockte neben dem Tier und schimpfte: »Ich könnte sie würgen! Guckt euch das an! Dieses verfressene Vieh wollte sich erst nicht melken lassen und jetzt das!« Lenz konnte nicht anders. Er musste grinsen. Die Ziege hatte in ihrer Wut nach hinten gegen die Rückwand des Stalls getreten. Genau genommen hatte sie durch die Rückwand getreten. Denn der Stall war so morsch, dass das Ziegenbein ein Loch in die Wand zum Gemüsegarten gebohrt hatte. Nun steckte sie ihren Kopf durch das Loch und fraß die Kohlköpfe vom Beet. Auch Dietrich schmunzelte und sagte: »Aber vielleicht lässt sie sich jetzt melken?« Hilde musterte das Hinterteil der Ziege, stellte den Eimer unter das Euter, begann zu melken und sagte lachend: »Hast recht, Dietrich. Danke für den Tipp. Wenn sie mal wieder nicht will, gebe ich ihr einfach eine Wand, durch die sie ihren Dickschädel rammen kann.«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VII Dietrich irrte sich. Er irrte sich ganz gewaltig. Dass der Müller aus dem Schwarzbachtal gleich vier Pferde auf dem Markt kaufte, war nicht halb so unauffällig, wie der Ritter gehofft hatte. Heinrich der Löwe war mächtig. Niemand in seinem Herzogtum wagte es, sich offen gegen ihn zu stellen. Er hatte alle Fürsten unterworfen und führte sie mit seiner starken Hand und seinem unbändigen Willen. Wenn dieser Heinrich nach drei Kindern und einem Ritter suchte, dann wurden seine Leute mit mehr Informationen versorgt als irgendwer sonst. Armgard bemerkte schon bald, dass sie die Spur des Ritters verloren hatte. Dass Dietrich sich um Ersatzpferde zum Wechseln kümmern würde, war für Armgard nicht schwer zu erraten gewesen. Und so postierte sie ihre Wachen an jedem Pferdemarkt im Herzogtum.- Während Dietrich und die Kinder im Garten des Müllers die Lage besprachen und sich noch in Sicherheit wähnten, wurden sie, wie sich später herausstellte, schon längst von Armgard beobachtet.
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Kapitel 9
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ach auf! Lenz, wach auf! Es brennt!« Lenz war auf einen Schlag hellwach. Nur hatte er keine Ahnung, wo er war, wer er war und was überhaupt los war. »Wo bin ich?« »Im Mittelalter, bei Andreas, dem Müller im Schwarzbachtal!«, flüsterte Henrik. »Und wenn du nicht schnell machst, dann bist du gleich im Himmel!« Fennes Lager war schon leer. Die Hühner gackerten aufgeregt, die Pferde und Kühe brüllten und die Ziege meckerte. Erst jetzt roch auch Lenz den Rauch. Er sprang von seinem Lager auf. Das war ja alles Heu! Wenn das erst einmal Feuer fing, dann würde es lichterloh brennen! Er kletterte hinter Henrik die Leiter hinunter. 80
Henrik blieb im Türrahmen des Stalls stehen. Sein Gesicht wurde orange und rot vom Feuerschein erhellt. Lenz wollte an ihm vorbei aus dem Stall in die Nacht rennen, aber Henrik hielt ihn am Arm zurück. »Vorsicht. Es ist eine Falle!« »Aber wir müssen Andreas und Hilde warnen! Wenn es nicht schon zu spät ist!«, rief Lenz. »Halt die Klappe, Mann!« Henrik deutete mit dem Kinn nach rechts. Vor der Mauer, die das Gelände der Mühle umgab, saßen zwei Männer auf Pferden. Es waren Ritter, die das Wappen des Löwen trugen. Die beiden sahen sich in aller Seelenruhe das Feuer an, das sie vermutlich selbst gelegt hatten. Lenz trat näher an die Tür heran. Das Strohdach der Mühle brannte und warf Flammen hoch in den Nachthimmel. »Sind Andreas, Hilde und die Kleinen noch da drin?«, fragte Lenz mit bebender Stimme. »Und wo zum Kuckuck stecken Dietrich und Fenne?« »Da sind sie!« Henrik zeigte nach links auf die Hundeklappe an der Rückseite der Mühle. Jetzt begriff Lenz auch, warum Dietrich die Klappe so groß gebaut hatte: Sie war nicht nur für den stummen Hund des Müllers da – sie war auch ein Notausgang! »Fenne hat sich durch die Hundeklappe ins Haus geschlichen und die anderen gewarnt«, sagte Henrik. Die zu groß geratene Hundeklappe rettete Fenne und Dietrich das Leben. Denn während Andreas, Hilde und ihre Kinder durch die Haustür aus der brennenden Mühle flüchteten, entwischten Dietrich und Fenne durch diese Hintertür. 81
Sie huschten über den Hof zum Stall, während Andreas auf die Ritter einschimpfte. »Seid ihr des Wahnsinns?«, schrie der Müller. »Was soll das?« »Habt ihr einen Ritter und drei Kinder versteckt?«, fragte einer der Ritter. »Nein!«, hörte Lenz Andreas rufen. »Dann lass uns doch einfach noch ein bisschen warten!« Der Ritter lachte. »Wenn noch jemand im Haus ist, wird er rauskommen. Wenn niemand kommt, bauen wir dir morgen eine neue Mühle.« Lenz stand da wie vom Donner gerührt. Das war garantiert das Werk von Armgard. Sie ließ das Haus des Müllers abbrennen, nur um Fenne, Henrik und ihn aus ihrem Versteck zu jagen! Und jetzt standen Hilde, Andreas und ihre drei schreienden Kinder vor ihrer brennenden Mühle! Lenz konnte es nicht fassen. Die wunderschöne Mühle ging in Flammen auf und mit ihr verbrannte auch sein Gefühl von Sicherheit und Erholung. Und das nur für so ein beknacktes Buch! War das Buch wirklich so viel wert? Wo würden Andreas und Hilde mit ihren Kindern diese Nacht verbringen? Und würden die Ritter Wort halten und eine neue Mühle bauen, wenn niemand mehr aus dem Haus käme? »Ihnen wird nichts geschehen. Der Löwe braucht den Müller.« Lenz spürte Dietrichs schwere Hand auf seiner Schulter. Anscheinend hatte der Ritter seine Gedanken erraten. »Komm jetzt!«, flüsterte er. Fenne und Henrik hatten die acht Pferde schon losgebunden. Dietrich ging zur Rückwand des Stalls, die an den 82
Gemüsegarten grenzte. Er schob die meckernde Ziege beiseite und zog sein Schwert. Und während das Feuer prasselte und die Mühle ächzte und knackte, schlug Dietrich mit seinem Schwert auf die Wand ein. Er vergrößerte so das Loch, das die Ziege am Abend in die morsche Rückwand des Stalls getreten hatte. Der Lehm und das Gebälk spritzten nur so auseinander. »Wir müssen über den Schwarzbach«, sagte Dietrich. »Henrik, du gehst voran! Hinter dem Misthaufen stoßt ihr auf einen Trampelpfad, der führt euch zu einer seichten Stelle des Flüsschens. Am anderen Ufer lauft ihr den Hang hinauf zum Wald. Bleibt erst stehen, wenn ihr den Waldrand erreicht habt. Seid leise und so unsichtbar, wie es geht. Beruhigt die Pferde und schaut nicht zurück!« Dietrich sah von Henrik zu Fenne und ließ seinen Blick schließlich zu Lenz gleiten. »Ihr schafft das!« Henrik nahm sich die Zügel von zwei Pferden und schlich sich als Erster durch das Loch im Stall in die Nacht. Ihm folgten Fenne und Lenz. Lenz wollte sich schon umdrehen und gucken, ob Dietrich wirklich käme. Aber da spürte er, dass eines seiner Pferde am Zügel zog. Auch das noch!, dachte Lenz. Wenn ihm jetzt ein Pferd durchging, konnte er sich gleich begraben lassen. »Sei ruhig, sei bitte ruhig!«, flehte er. »Ich will lebend nach Hause. Und du ja auch!« Dann ging er weiter, quer durch den Gemüsegarten. Das Pferd hatte ihn anscheinend verstanden – jedenfalls folgten ihm die beiden Gäule brav und ruhig. Das Haus des Müllers brannte jetzt lichterloh. Sie schlichen sich im Schatten, den der Stall warf, bis zum 83
Misthaufen. Hinter dem Misthaufen war die Mauer an einer Stelle eingefallen, sodass sie das Gelände der Mühle verlassen konnten, ohne mit den Pferden die Mauer überspringen zu müssen. Hinter dem Misthaufen bogen sie rechts ab. Lenz konnte Henrik, der vorausmarschierte, nur schemenhaft erkennen. Andreas schimpfte lautstark auf die Ritter ein und stürzte schließlich in den Stall, um die Tiere zu retten. Denn die Flammen drohten auch auf den Stall überzugreifen. Lenz sah noch einmal zur Mühle. Im Feuerschein konnte er sechs Ritter ausmachen – und eine alte Frau! Armgard. Ein Schauer lief Lenz über den Rücken, als er sie für den Bruchteil einer Sekunde erblickte. Dann aber konzentrierte er sich wieder ganz auf den Weg. Der Trampelpfad, der zum Schwarzbach führte, war schmal. Lenz lief immer hinter Fenne her, die ihre Pferde rechts neben sich führte. Lenz war zum Heulen zumute. Und gleichzeitig spürte er eine Wut in sich, wie er sie noch nie gehabt hatte. Was bildete sich diese Armgard eigentlich ein? Konnte die sich alles erlauben? Gab es denn im Mittelalter keine Polizei, keine Staatsanwaltschaft, keine Richter? Und wie hatten die Ritter ihr Versteck überhaupt gefunden? So sah also die Sicherheit aus, die Dietrich ihnen beschert hatte! Plötzlich waren sie am Wasser. Lenz zögerte einen Moment und wünschte sich mal wieder Gummistiefel herbei, denn der Schwarzbach war eher ein kleiner Fluss als ein Bach. Aber es half nichts. Er lief mit seinen unbequemen Lederschuhen durch das Flussbett. Der Schwarzbach war hier etwas breiter, dafür aber tatsächlich ziemlich flach. Das Wasser reichte ihm nur 84
bis zum Schienbein, und die beiden Pferde, die er am Zügel mit sich führte, beruhigte das Wasser. Sie blieben mitten im Flüsschen stehen, um zu saufen. Am anderen Ufer ging es einen Hügel hinauf. Der Mond war hinter den Baumkronen aufgegangen und warf einen Schatten, in den sich Henrik und Fenne flüchteten. Lenz sah sie jedenfalls plötzlich nicht mehr, während er selbst im gleißenden Mondlicht auf der Wiese vor dem Waldrand stand. »Wir sind hier, Lenz«, hörte er Henrik flüstern. Er machte einen Schritt nach vorn und tauchte in das schützende Dunkel des Waldes ein. Da standen sie nun: Henrik, Fenne und Lenz mit ihren sechs Pferden und dem Buch. Sie sahen zur Mühle hinunter, die gerade krachend zusammenbrach. Lenz sah eine Gestalt auf den brennenden Stall zureiten. Es war Armgard. Sie riss eine brennende Latte aus dem Dach, ritt mit dieser Fackel wie eine Wahnsinnige durch den Garten und schien nach ihnen zu suchen. Schließlich gab sie es auf und warf ihre Fackel zurück ins Feuer. Andreas hatte inzwischen seine Not, das Vieh wieder einzufangen, das er aus dem Stall befreit hatte. Endlich kam auch Dietrich mit seinen zwei Pferden im Mondschein den Hang heraufgelaufen. »Wir sind hier!«, sagte Henrik wieder. »Gut gemacht.« Dietrich stellte sich zu ihnen und sah hinunter auf die glimmenden, qualmenden Reste der Mühle und den brennenden Stall. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er. »Den Stall hätte Andreas vor dem Winter sowieso neu bauen müssen. Der war ja noch von seinem Vater. Und 85
die Ritter werden ihm auch die Mühle wieder aufbauen, das habt ihr ja gehört.« »Glaubst du, dass diese Mistkerle von Rittern ihr Wort halten?«, fragte Lenz. »Mit Sicherheit«, sagte Dietrich. »Ich kenne ihren Anführer. Das ist Bertram von der Stelze. Der ist zwar kein Engel, aber er hält Wort.« »Und du?«, fragte Fenne mit bebender Stimme. »Hältst du auch Wort? Sind wir in zehn Tagen in Köln?« »Wir müssen uns jetzt beeilen«, sagte Dietrich, statt auf Fennes Fragen zu antworten. »Führt die Pferde noch am Zügel, bis wir auf den Weg stoßen.« Ohne sich noch einmal umzusehen, ging der Ritter voran, am Waldrand entlang, Richtung Süden. Lenz sah zum letzten Mal hinunter zur Mühle. Er hätte sein gesamtes Sparschwein gespendet, um Andreas und Hilde zu helfen. Aber was sollten zwei mittelalterliche Müllersleute schon mit den paar lausigen Euro anfangen?
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil VIII Lenz konnte nicht wissen, dass er in dieser Nacht mit seinem heimlichen Verschwinden mehr für den Müller und seine Familie tat, als sein ganzes Geld möglich gemacht hätte. Denn wenn Armgard in dieser Nacht bekommen hätte, wonach sie suchte, hätte ein fürchterlicher Krieg zwischen Welfen und Staufern das Land auf Jahre beherrscht und verwüstet. So aber kam alles ganz anders: Wie ich Jahre später durch Zufall erfuhr, stand der Ritter Bertram zu seinem Ehrenwort und baute dem Müller eine neue Mühle. Und angeblich hatte der Müller Andreas ein bisschen geschwindelt, als Bertram ihn fragte, wie viel Mehl durch das Feuer vernichtet wurde. So ergaunerte sich der Müller eine Entschädigung vom Ritter, die den Schaden bei Weitem übertraf. »Ach, was soll’s, vielleicht haben wir ja Glück und die Ritter brennen unser Haus mal wieder nieder«, soll die geschäftstüchtige Hilde angeblich immer gesagt haben, wenn sie mal wieder ein schlechtes Jahr hatten.
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10. Kapitel
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isst ihr, was ihr dringend braucht? Straßen! Richtige Straßen!« »Oder wenigstens Gummistiefel!« »Häuser mit Zentralheizung in jedem Zimmer wären auch fällig!« »Genau, und Toiletten mit Türen, Wasserspülung und Klopapier!« »Und sauberes Wasser in jedem Haus!« »Und H-Milch, die wird nicht sauer – oder ihr erfindet endlich mal einen Kühlschrank.« »Aber vor allem braucht ihr Autos. Flotte, gescheite Autos.« Es war der fünfte Tag nach ihrem Aufbruch von der Mühle und Lenz und Henrik waren sich einig: Das Mittelalter war nicht nur ein einziger Misthaufen; es war ekelhaft, unbequem, anstrengend und viel zu gefährlich. Fenne und Dietrich hingegen verstanden mal wieder kaum ein Wort. 88
»Was sind Autos?«, fragte Fenne. »Ein Auto ist so eine Art Kutsche, aber es fährt ohne Pferde«, erklärte Lenz. »Es fährt von allein?«, fragte Fenne ungläubig. Sie ritten durch einen Hohlweg. Lenz tat der Hintern weh, aber Dietrich kannte keine Gnade: Er gönnte ihnen keinen Ruhetag mehr. »Nein, das Auto fährt mit Benzin.« Lenz kratzte sich hinter dem linken Ohr. Erst in den Gesprächen mit Fenne merkte er, wie viele Dinge es gab, die für ihn selbstverständlich waren und über die er noch nie nachgedacht hatte. Fenne kannte kein Benzin. Natürlich nicht. »Was ist Benzin? Ist es ein Tier, das die AutoKutsche zieht?« Lenz seufzte. Fenne konnte es sich nicht vorstellen. Wie sollte sie auch, wenn er es nicht besser erklärte? »Also, stell dir eine Kutsche vor. Aber die Pferde sind weg. Die Kutsche hat keine Pferde, sondern einen Motor. Das ist eine Maschine. Diese Maschine treibt das Auto an. Und diese Maschine braucht Benzin. Das ist ihr Treibstoff. So wie beim Pferd das Gras.« Lenz strahlte. Das fand er einen prima Vergleich und eine echt gute Erklärung. Aber Fenne kratzte sich nur am Hinterkopf und murmelte: »Ich weiß nicht, ob eure Zeit wirklich besser ist als unsere.« Dietrich schwieg wie immer zu all dem. Der Ritter schien das, was die Jungs erzählten, nicht so recht zu glauben. »Natürlich ist unsere Zeit besser!«, rief Henrik. »Von Braunschweig nach Köln brauchen wir über die Autobahn einen halben Tag, mehr nicht!« 89
Jetzt drehte sich Dietrich zu ihnen herum. »Kein Mensch kann so schnell reisen!«, sagte er lachend. »Mein Vater kann!« Henrik setzte sich im Sattel noch aufrechter hin. »Von Köln über die Autobahn bis Braunschweig zu meiner Tante schaffen wir es in drei Stunden, wenn wir keinen Stau haben!« Lenz verdrehte die Augen. Henrik war bestimmt nicht dumm – aber manchmal dachte er einfach nicht nach, bevor er etwas sagte! Sonst hätte er sich die Bemerkung über den Stau verkniffen. Wenn sich Fenne schon Autos nicht vorstellen konnte, wie sollte Lenz ihr dann erklären, was ein Stau war? Erst gegen Abend, die Sonne stand schon tief, führte sie der Weg aus dem Wald heraus. Auf der anderen Seite des Tals erblickten sie eine Burg. Es war eine richtige Ritterburg, an deren Fuß sich ein Dorf schmiegte. Die Burg stand auf einer Anhöhe, die von einem Fluss umspült wurde. Aus den Häusern des Dorfes stieg Rauch auf. Dietrich hielt sein Pferd an. »Na endlich!« Henrik grinste. »Ich dachte schon, dass ich im ganzen Mittelalter keine Burg von innen zu sehen kriege.« Und mit einem bangen Blick in Dietrichs Richtung fügte er hinzu: »Wir dürfen doch auf der Burg übernachten, oder? Du kennst doch bestimmt den Burgherrn persönlich! Und wir kriegen endlich mal spaßiges Ritterleben vorgeführt!« Dietrich nickte. »Graf Albrecht wird uns eine Nacht auf seiner Burg gewähren, aber ich glaube nicht, dass es besonders spaßig wird!« Er seufzte. »Albrecht ist mir noch etwas schuldig, aber ich weiß nicht, wie er zu Heinrich dem Löwen steht … Also seid schweigsam. 90
Erzählt niemandem, dass wir in Braunschweig waren. Wir kommen aus Thüringen und wollen auf die Rheininsel Kaiserswerth, wo wir Barbarossa treffen wollen, einverstanden?« Fenne schüttelte den Kopf. »Kein Mensch wird uns glauben, dass wir einfachen Kinder den Kaiser sehen wollen.« Dietrich grinste. »Oh doch, das werden sie glauben.« Er zwinkerte ihnen zu und sagte: »Auf geht’s!« Sie ritten hinunter zum Fluss und überquerten ihn auf einer Holzbrücke, die so wackelig und morsch war, dass Lenz lieber gar nicht hinuntersah. Statt auf direktem Weg hinauf zur Burg zu reiten, stieg Dietrich vom Pferd und führte sie zu einem kleinen Haus am rechten Rand des Dorfes. Er schlug kräftig an die Tür. »Wer da?«, hörten sie eine Männerstimme von innen. »Siegfried, der Drachentöter!«, antwortete Dietrich. Da flog die Tür auf. Ein bärtiger Mann erschien im Türrahmen. Er hatte die Statur eines Bären, sein Bart war schwarz, seine Augenbrauen wucherten zwischen den Augen zusammen, und selbst aus den Ohren ragten Haare, die Lenz an das Gestrüpp im Garten seiner Eltern in Köln erinnerten. Dieser Bär von Mann breitete seine Arme aus und rief: »Dietrich, an mein Herz!« Er schlang seine mächtigen Tatzen um den Ritter und drückte ihn kräftig an sich. »Wie ich sehe, bist du nicht allein! Sind das deine Kinder? Hast du endlich geheiratet, alter Freund?« Dietrich schüttelte lachend den Kopf. »Lässt du uns rein, Matthias?« Matthias entschuldigte sich und bat sie in sein Haus. 91
Das Haus war eher eine Hütte. Die Türen waren niedrig, die Fenster hatten keine Scheiben. Es gab nur eine Hand voll Möbel, wie es Lenz schon aus anderen Häusern des Mittelalters kannte. Allerdings standen an der rechten Wand drei schwere Holzkisten, aus denen allerlei Stofffetzen heraushingen. »Matthias ist der beste Schneider, den ich kenne«, stellte Dietrich seinen Freund vor. Der Schneider lachte. »Kennst du denn noch einen anderen Schneider außer mir?« Dietrich antwortete gar nicht auf diese Frage. »Wir brauchen Kleider für diese Kinder«, sagte er. »Prunkvolle, schöne, gute Kleider. Denn diese Kinder sollen nicht aussehen, als wären sie die Kinder eines Bauern. Sie sollen aussehen, als wären sie die Kinder eines Ritters oder eines Fürsten!« Fenne zuckte zusammen. »Das dürfen wir nicht!«, entfuhr es ihr. Aber Dietrich winkte ab. »Lass mich nur machen, Fenne.« Matthias musterte die drei Kinder. »Drei Kinder aus dem Bauernstand, hm? Ihr seid nicht zufällig gerade noch aus Braunschweig entwischt? Und du, mein lieber Dietrich, hast dich als Bauer verkleidet, wie?« Der Schneider schmunzelte. »Hier wird so eine Geschichte erzählt, dass ein Bauer und drei Kinder den Herzog Heinrich in Braunschweig an der Nase herumgeführt haben …« Lenz bekam weiche Knie. Wie hatte sich diese Nachricht so schnell verbreiten können? War Armgard etwa schon hier? Wartete sie womöglich oben auf der Burg? 92
Dietrich zwinkerte dem Schneider zu. »Damit haben wir natürlich nichts zu tun. Wir waren nicht in Braunschweig. Wir sind aus Thüringen gekommen. Darf ich dir vorstellen?« Er legte Fenne eine Hand auf die Schulter. »Dies ist die Nichte des Friedrich Barbarossa.« Er zeigte auf Henrik: »Das ist Heinrich von Ilmenau, Sohn der Gräfin, und dies …«, er zeigte auf Lenz, »… ist mein Sohn, Laurenz. Würdest du uns nun bitte standesgemäß kleiden?« Matthias drohte Dietrich schmunzelnd mit dem Zeigefinger. »Lass dich nicht erwischen, mein lieber Freund, lass dich niemals erwischen!« Dann öffnete er seine Kleiderkisten und murmelte: »Ich denke schon, dass ich etwas Passendes für euch habe, Herrschaften …« Was Matthias da aus den Kisten zog, war die albernste Verkleidung, die Lenz je gesehen hatte: Er sollte spitze Schnabelschuhe anziehen, dazu eine enge rote Hose und ein Oberteil, das grün und orange gefärbt war. Fenne steckte in einem blau-gelben Gewand, und Henrik bekam ebenfalls Schnabelschuhe, eine dunkelgrüne Hose und ein hellblaues Oberteil, das am Kragen mit Goldfäden bestickt war. »Warum darf man eigentlich nicht einfach anziehen, was einem gefällt?«, fragte Lenz. Dietrich sah ihn streng an. »Aufpassen, mein Sohn! Oben auf der Burg stellst du solche Fragen bitte nicht!« Und etwas milder fügte er hinzu: »Irgendwie muss man doch einen Bauern von einem Edelmann unterscheiden können. Deshalb ist es den Bauern verboten, bunte Kleidung zu tragen.«
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Dann ging es endlich los. Sie verließen das Haus des Schneiders, nahmen ihre Pferde an den Zügeln und schritten durch die Gassen des Dorfes. »Woher kennst du den Schneider?« Fenne bewegte sich noch etwas steif in ihrem ungewohnten Gewand. »Ich habe ihm einmal gegen ein paar Räuber beigestanden, die ihm auf einer Reise aufgelauert haben.« Dietrich bog rechts auf einen breiteren Weg ab. »Das ist aber schon lange her.« Sie kamen ans Burgtor. Eine Wache hielt sie auf. »Ich bin Dietrich vom Bärenbach und bitte Graf Albrecht um Quartier«, sagte Dietrich. Beim Klang seines Namens zuckte die Wache zusammen. »Seid willkommen, Herr!« »Die scheinen dich ja gut zu kennen!«, flüsterte Lenz. »Das tun sie, mein Sohn! Das tun sie.« Sie schritten auf den Burghof. Ein paar Knechte kamen herbei und führten ihre Pferde in den Stall. »Seid schweigsam!«, schärfte Dietrich ihnen noch einmal ein, dann stieg er die Treppen hinauf zum Hauptgebäude der Burg. Die Tür stand offen. Sie traten in eine dunkle Halle. Albrecht schien nicht gerade der reichste Graf aller Zeiten zu sein. Seine Burg hätte jedenfalls eine Heizung vertragen. Denn in den dicken Mauern war es auch jetzt schon kühler als in den Hütten, in denen die Kinder bisher übernachtet hatten. »Dietrich! Du kommst wie gerufen!« Ein bunt gekleideter, schmaler Mann kam ihnen entgegen. Er stockte, musterte Fenne, Henrik und Lenz und murmelte: »Du bist doch nicht in Schwierigkeiten?« 94
Dietrich sah ihn verdutzt an. »Schwierigkeiten? Im Gegenteil!« Sie gingen durch die Halle in einen großen Saal, dessen Wände mit Teppichen behängt waren. »Mein lieber Albrecht, ich bin der glücklichste Mann der Welt! Darf ich dir meinen Sohn vorstellen?« Der Bitter packte Lenz an der Schulter und schob ihn vor. »Das ist Laurenz vom Bärenbach!« Der Burgherr schien Lenz mit seinen kleinen Knopfaugen regelrecht zu durchleuchten. »Schlägt eher nach der Mutter, was?« Dann deutete er auf Fenne und Henrik. »Und die beiden? Dein Neffe und deine Nichte?« »Nein, Neffe und Nichte des Kaisers«, sagte Dietrich, aber es klang nicht so recht überzeugend, fand Lenz. Und das fand Albrecht anscheinend auch. Er trat dicht an Dietrich heran und sagte leise: »Gut, so wollen wir es vor den Dienstleuten spielen, Dietrich. Aber mir machst du nichts vor. Du warst in Braunschweig und hast dem Löwen das Buch gestohlen, oder?« Er rieb sich grinsend die Hände. »Das habt ihr gut gemacht! Jeder, der es wagt, gegen den Löwen zu Felde zu ziehen, ist mein Gast, mein Freund, mein Bruder! Seid willkommen!« Er rief einem Diener zu, dass er endlich das Essen auftischen solle. Dann zog er Dietrich an eines der glaslosen, offenen Fenster, von denen aus man einen schönen Blick über die Dächer des Dorfes, den Fluss und den Wald hatte. »Heinrich rüstet zum Krieg gegen Barbarossa! Du musst Kaiser Barbarossa warnen! Wir Fürsten von 95
Sachsen und Bayern kommen nicht allein gegen ihn an. Er wird den Landfrieden wieder brechen.« Albrecht zog seine kleinen Augen zu Schlitzen zusammen. »Du hast Braunschweig ja selbst gesehen. Dieses Standbild! Hast du dieses Standbild gesehen?« Albrechts Stimme wurde lauter. »Der Streit zwischen den Welfen und Staufern ist noch nicht entschieden! Zumindest nicht für Heinrich.« Und leiser fügte er hinzu: »Wenn du mich fragst, strebt der Löwe nach dem Thron des Königs! Wenn Barbarossa es wünscht, werden wir Landesfürsten des Herzogtums Sachsen den Löwen anklagen. Dann kann Barbarossa richten und ihn in die Verbannung schicken.« Dietrich nickte ernst. »Es ist gut, dass wir hier sein dürfen, Albrecht. Aber sag zu niemandem ein Wort von unserem Treffen.« »Ahh, da kommt ja meine Liebe!«, rief Albrecht unvermittelt und eilte einer Frau, die einen unglaublich hohen Hut trug, entgegen. Nach und nach füllte sich der Saal. Die lange Tafel wurde mit einem Tischtuch bedeckt. Sie nahmen auf den Holzbänken davor Platz. Dann wurde von den Dienstleuten das Essen aufgetragen. Seit Tagen gab es das erste Mal wieder Fleisch für Lenz, Henrik und Fenne. Die Ritter von Albrecht hatten allerdings nicht gerade die besten Tischsitten. Was sie nicht mehr mochten, schmissen sie einfach hinter sich. Wenn ihnen das Stück, das sich der Nebenmann genommen hatte, gefiel, grabschten sie einfach danach. Gabeln kannten die Ritter und Damen auch noch nicht. Sie holten sich das Fleisch mit den Händen von der Platte, legten es auf das Brett vor sich und schnitten mit dem Messer Stücke ab. Gegessen wurde auch mit den Händen, die dann am 96
Tischtuch abgewischt wurden. Es wurde gerülpst, und der Mann, der neben Lenz saß, ließ sogar mehr als einen Furz knattern! So hatte sich Lenz das Leben der Edelleute nicht vorgestellt! Dass Matthias ein wirklich guter Schneider war, merkten Lenz, Henrik und Fenne nach dem Abendessen. Als die Nacht hereinbrach, wurde es noch kälter in der Burg. Aber die Kleider, die Matthias ihnen gegeben hatte, waren gefüttert und hielten sie angenehm warm. Sie gingen früh in ihr Zimmer. So schön wie im Kloster Amelungsborn waren die Betten in der Ritterburg nicht. Es waren Pritschen, auf denen Strohsäcke lagen. Aber wenigstens bekamen die Kinder warme Decken, unter denen sie nicht frieren würden. Und sie hatten eine Kammer für sich. »Oh Mann, ich mag diese Burgen nicht!«, murmelte Fenne, als sie sich in die Decke kuschelte. »Ich find’s cool«, sagte Henrik. »Kalt, nicht cool, kalt ist die Burg«, verbesserte Lenz. »Ich will nicht wissen, wie es hier im Winter zugeht.« »Lenz, du bist ein Jammerlappen!«, sagte Henrik und blies die Kerze aus. »Henrik, du bist ein Angeber«, antwortete Lenz und schloss die Augen. »Meinst du, wir dürfen die Schnabelschuhe mit nach Hause nehmen?« Henrik kicherte. »Die find ich nämlich auch cool.« Lenz versuchte, sich vorzustellen, wie seine Eltern und Henriks Vater wohl aus der Wäsche gucken würden, wenn sie in Schnabelschuhen und mittelalterlichen 97
Gewändern aus dem Keller hochkämen. Sie würden so blöd gucken wie Autos im Stau. Er nahm sich fest vor, dass er Fenne ein Spielzeugauto ins Zeitloch werfen würde, wenn er wieder zu Hause wäre. Denn dann könnte sie sich besser vorstellen, wie so ein Ding aussieht, dachte er noch. Aber dann schlief er erschöpft ein.
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil IX Graf Albrecht war einer der Fürsten, die sich nicht festlegen ließen. Mal hielt er zu Barbarossa, mal zu Heinrich, und ich habe nie begriffen, warum er immer wieder die Seite wechselte. Jedenfalls war er einer der Fürsten, die die Anklage gegen Heinrich den Löwen anstrengten. Was das hieß, konnten Lenz und Henrik nicht verstehen. Denn sie wussten nicht, dass der Kaiser nicht nur Kaiser war, sondern zugleich auch der oberste Richter. Wenn ich die Jungs richtig verstanden habe, dann sind diese Ämter im einundzwanzigsten Jahrhundert getrennt und werden von verschiedenen Personen ausgeübt. Das ist sicherlich eine der guten Veränderungen, die die Zeit mit sich gebracht hat. Denn zu meiner Zeit war es einem Landesherrn noch leicht möglich, gegen das Gesetz zu verstoßen – schließlich war er selbst ja der Richter!
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11. Kapitel
D
ie nächsten Tage und Nächte waren eine einzige Tortur: Sie ritten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Sie übernachteten im Freien, in die Decken gehüllt, die Dietrich von der Burg mitgenommen hatte. Sie aßen Beeren, Kräuter und die Kaninchen, die Dietrich und Henrik erlegten. Und ihre Schnabelschuhe und edlen Kleider hatten sie auch wieder gegen die bäuerliche Tracht eingetauscht. Am achten Tag nach ihrem Aufbruch von der Mühle erreichten sie die Ruhr. Dietrich verkaufte sieben Pferde und behielt nur sein eigenes. Sie fuhren die Ruhr hinunter bis zur Mündung. Dann ging es rheinaufwärts bis Neuss, das sie noch vor Sonnenuntergang erreichten. Dietrich quartierte sie in einem Wirtshaus ein. In ihrem Zimmer im ersten Stock stand ein großes Bett, in dem die drei Kinder schlafen sollten. Fenne schnallte sich den Rucksack mit dem Buch vom Rück-
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en. Sie legte das Buch auf einen Tisch, der rechts vom Bett unter dem Fenster stand, und schlug es auf. Lenz hatte die Geschichte inzwischen durchgelesen. Es war ein seltsames Buch: Manchmal fand er es langweilig, dann wieder wurde es richtig spannend, zum Beispiel als Äneas in die Unterwelt spazierte, um seinen toten Vater zu besuchen. Außerdem gab es ziemlich gruselige und brutale Stellen – nur von einem Olm war nicht die Rede gewesen. Während Dietrich noch einmal hinunter in die Wirtsstube ging, übten Lenz und Fenne Lesen und Schreiben. Fenne konnte inzwischen ihren Namen lesen und schreiben, außerdem die Namen von Henrik und Lenz. Jetzt übten sie das schwierige Wort »Dietrich«. »Morgen sind wir in Köln.« Henrik streckte sich auf dem breiten Bett aus. »Dann geben wir der Alten Wöhr das Buch und es geht zurück nach Hause, Lenz!« »Freut ihr euch drauf?«, fragte Fenne. »Na klar!«, sagte Henrik wie aus der Pistole geschossen. »Es ist natürlich aufregender, im Mittelalter zu leben, aber in unserer Zeit ist das Leben einfach bequemer und irgendwie lässiger.« Lenz überlegte. Henrik hatte recht. Vor allem konnte Lenz auf den anstehenden Winter im Mittelalter verzichten. Andererseits tat es ihm auch leid, Fenne einfach zurückzulassen. Außerdem fing er gerade an, sich an das Leben hier zu gewöhnen – die überwürzten Speisen, das Wasser und die Milch, die man immer abkochen musste, irgendwie würde ihm das fehlen. Aber auf eine warme Dusche freute er sich. Auch nach seinen Turnschuhen sehnte er sich sehr! Und seine Eltern hatte er seit vier Wochen nicht gesehen. Als er an 101
sie dachte, überkam ihn das erste Mal seit Tagen wieder das Heimweh. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: »Was haben unsere Eltern wohl in der Zwischenzeit gemacht? Die haben doch bestimmt die Polizei gerufen und lassen nach uns suchen, oder?«, fragte er. Fenne schüttelte den Kopf. »Für eure Eltern seid ihr gar nicht verschwunden.« »Aber wir sind doch seit fast einem Monat von zu Hause weg!« Lenz runzelte die Stirn. Henrik setzte sich im Bett auf. »Sag bloß, du hast es noch immer nicht kapiert, Lenz!« Er ließ sich mit viel Schwung zurück in die Kissen sinken und murmelte: »Das gibt’s doch nicht.« Lenz wurde wütend. »Aber du hast es kapiert, ja? Mister Superklug!« Er hätte Henrik mal wieder würgen können. Warum musste der Kerl sich immer so aufplustern? »Dann erklär es mir doch bitte!« Henrik richtete sich wieder im Bett auf. »Wir sind am Freitag um ungefähr Viertel nach sechs Uhr am Abend in das Zeitloch gesprungen. Und genau zu der Zeit werden wir auch wieder rausklettern. Das ist alles.« »Nicht ganz«, sagte Fenne. »Ihr werdet zu der Zeit wieder rausklettern, zu der ihr den Anker ins Zeitloch gehängt habt.« Und mit einem etwas unsicheren Blick fügte sie hinzu: »Das habt ihr doch, oder?« Henrik und Lenz nickten. »Also kommen wir eben um zehn nach sechs aus dem Zeitloch gekrochen. Als Nächstes wird deine Mutter im Keller erscheinen, um uns zu fragen, was wir denn so lange machen. Verstehst du? In ihrer Zeit haben wir ja gar nicht gefehlt!« 102
Lenz nickte. Das verstand er. »Aber wir sind doch jetzt einen Monat älter. Unsere Haare und Fingernägel sind gewachsen und wir selbst auch – schrumpfen wir im Zeitloch wieder ein?« Fenne schüttelte den Kopf. »Nein, die Zeit, die ihr erlebt habt, könnt ihr nicht zurückdrehen. Wenn deine Mutter dich vor der Reise durch das Zeitloch genau gemessen hat (oder dir gerade erst die Fingernägel geschnitten hat), könnte sie das auch merken.« Lenz nickte. Er war sich nicht ganz sicher, ob er es wirklich verstanden hatte. Aber irgendwie würde es schon glattgehen. Ein Rumpeln auf der Treppe ließ sie verstummen. Fenne versteckte blitzschnell das Buch unter ihrem Kittel. Lenz wollte gerade die Kerze ausblasen, als sich die Tür auch schon öffnete. Es war Dietrich. »Mann, hast du uns erschreckt!«, fuhr Fenne den Ritter an. Aber Dietrich legte den Zeigefinger an die Lippen und sah zurück auf den Flur. Dann erst schloss er die Tür und flüsterte: »Dieses Quartier ist mir nicht ganz geheuer. Ihr fahrt morgen früh mit dem Schiff nach Köln. Ich lenke unsere Verfolger ab und komme später nach.« Er breitete seinen Mantel aus und legte ihn direkt vor die Türschwelle. »Willst du etwa auf dem Boden schlafen?«, fragte Lenz. Der Ritter nickte. »Irgendwer schleicht hier durch die Flure. Aber versucht trotzdem zu schlafen.« Na prost Mahlzeit, dachte Lenz. Das mit dem Schlafen konnte er jetzt natürlich vergessen. Bei jedem 103
Knacksen der Holzbalken zuckte er zusammen. Und während Dietrich, Henrik und sogar Fenne leise vor sich hinschnarchten, wälzte sich Lenz die ganze Nacht im Bett hin und her und tat kein Auge zu. Erst gegen Morgen war die Müdigkeit größer als seine Angst und er fiel in einen kurzen, traumlosen Schlaf. Das Schiff legte schon früh von Neuss ab. Es wurde von Pferden rheinaufwärts gezogen. Ein langes Seil war am Schiff befestigt, ein Mann am Ufer trieb vier Pferde an, die auf einem Weg neben dem Rhein Schritt für Schritt vorwärtsmarschierten. Dietrich konnte sein Versprechen nicht ganz halten. Das Schiff kam nicht am zehnten Tag an. Sie mussten noch einmal übernachten und erblickten erst am späten Vormittag des elften Tages nach ihrem Aufbruch von Andreas’ Mühle im Schwarzbachtal die Stadtmauern, die Kirchtürme und die vielen Baustellen von Köln. Sie gingen an Land. Lenz hätte gerne noch zugesehen, wie die Kaufleute ihre Waren an Land brachten, aber Fenne und Henrik drängelten: »Hör auf zu träumen, Lenz!« Sie spazierten durch eines der Stadttore. Die Wachen waren ganz und gar mit den Händlern und ihren Waren beschäftigt. Für drei Kinder interessierte sich hier keiner. Das Gedränge in den Straßen kam Lenz noch enger vor als beim ersten Besuch. »Ist das einfach noch voller geworden oder bin ich nur nichts mehr gewohnt?«, fragte er. »Es ist Markttag«, antwortete Fenne. »Da ist immer mehr los als sonst.« Aber dann hielt sie Lenz und Henrik an ihren Ärmeln zurück. »Da sind sie!« 104
Tatsächlich kamen ihnen drei Männer entgegen. Einen von ihnen erkannte Lenz direkt wieder: Das war dieser Bertram von der Stelze, der Ritter, der Andreas’ Mühle angezündet hatte! Dummerweise erkannte nicht nur Lenz den Ritter – der Ritter entdeckte auch die drei Kinder. Er marschierte grinsend auf sie zu. »Mir nach!«, murmelte Fenne. Sie machte noch einen Schritt auf den Ritter zu, dann drehte sie sich plötzlich um und rannte los. Lenz konnte gar nicht so schnell gucken. Wenn Henrik ihn nicht am Arm gepackt und mitgezerrt hätte, hätte Bertram ihn garantiert geschnappt. »Lenz, schneller!«, keuchte Henrik. »Oder willst du dich erwischen lassen?« Nein, allerdings nicht. Lenz legte einen Zahn zu. Sie rannten über den Alten Markt, zwischen den engen Marktständen hindurch immer hinter Fennes leuchtend rotem Haarschopf her. Aber der war plötzlich verschwunden. »Wo ist sie?«, fragte Lenz. Auch Henrik blieb stehen. »Pssst!«, machte es da im Stand eines Glasbläsers. Fenne hockte unter dem Verkaufstisch. »Runter mit euch!« Die Jungs krochen zu ihr unter den Verkaufstisch. »Ich muss mal«, flüsterte Lenz. »Jetzt nicht!«, antwortete Henrik. Und während der Glasbläser seine Gläser anpries und versuchte, den Töpfer, der den Stand neben ihm hatte, zu übertönen, sah Lenz die Füße von drei Männern vor seiner Nase auftauchen. 105
Es juckte in Lenz’ Nase. Es juckte ganz fürchterlich. Jetzt nicht!, dachte er noch, aber es war nichts zu machen: Er musste niesen! Und er nieste. Henrik und Fenne sahen ihn an, als wollten sie ihn erwürgen. »Ach, da steckt ihr!« Es war Bertram von der Stelze persönlich, der sich unter den Verkaufstisch bückte und Fenne am Arm packte. Seine Gefolgsleute schnappten sich Lenz und Henrik. »Es tut mir leid, es tut mir leid!«, murmelte Lenz immer wieder. Er hatte es versaut. Er hatte alles versaut! Die drei Männer schoben sie vor sich her, über den Markt und durch die engen Gassen, bis sie schließlich vor dem Haus eines Radmachers hielten. Sie führten sie durch die Werkstatt, stießen eine niedrige Tür auf und schubsten die Kinder hinein. »Lenz, du bist ein Vollidiot! Du bist die größte Pfeife des Mittelalters und der Neuzeit! So was von dämlich, das gibt es nicht noch mal!«, schimpfte Henrik direkt los. Aber Fenne machte nur: »Pssst.« Der Raum war dämmerig und roch muffig. Irgendwo in einem Nebenzimmer schien eine der stinkenden Talgkerzen zu brennen. Der Boden bestand nur aus gestampftem Lehm. Das Fenster war mit einem Holzladen verschlossen. Nur durch die Ritzen fiel etwas Licht in den Raum. »Redet ruhig weiter«, sagte da die fürchterlichste Stimme, die Lenz in der letzten Zeit gehört hatte. Es war die Stimme einer Frau. Einer alten Frau. Die Kin106
der drehten sich um. Und da saß sie hinter ihnen in einer Nische an einem Tischchen: Armgard! Erst jetzt holte sie die stinkende Talgkerze aus einer Mauernische heraus. Sie stellte das Licht auf den Tisch und erhellte so den Raum. Es war etwas wie die Abstellkammer des Radmachers. Hinter ihnen standen allerlei Räder, gebrochene und ganze und jede Menge Holz. Aber das alles interessierte Lenz, Henrik und Fenne im Augenblick nicht die Bohne. Sie hatten nur Augen für die alte Frau am Tisch. Die streckte kühl lächelnd ihre runzlige Hand aus und sagte: »Wollt ihr mir nicht einfach zurückgeben, was mir gehört?«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil X In unserem schönen, großen Köln war in jenen Tagen viel los. Die neue Stadtmauer war fast fertig, aber noch immer wurde und wird an manchen Kirchen gebaut -vom Dom ganz zu schweigen. Seit Rainald von Dassel die Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln gebracht hatte, kamen zudem immer mehr Pilger in die Stadt. Aber vor allem wurde gemunkelt, dass Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Weg nach Kaiserswerth wäre und in Köln Station machen wollte. Die Nachricht darüber, dass er aus Italien zurückgekehrt wäre, hatte uns schon Tage vorher erreicht. Nur wusste niemand, wohin der Tross des Kaisers unterwegs war. Henrik und Lenz berichteten mir später, wie unverständlich ihnen das zunächst war, da es in ihrer Zeit Staatsgebilde mit einer festen Hauptstadt gibt, von der aus regiert wird. Erst Fenne klärte sie darüber auf, dass Kaiser Friedrich I. Barbarossa zwar die Kaiserkrone hatte, aber kein »richtiges Reich«. Es gab keine Hauptstadt, von der aus die Regierungsgeschäfte erledigt wurden. Barbarossa reiste umher, immer von einer Pfalz – also einer Art Burg, die auf Land steht, das dem König gehört – zur anderen. Seine Untertanen kamen nicht zu ihm, er kam zu ihnen, um sie zu beherrschen, Geschenke zu verteilen und Recht zu sprechen.
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12. Kapitel
S
ie tobte. Sie schrie. Dann wurde sie plötzlich wieder ganz ruhig. Aber nur um Kraft für den nächsten Zornesausbruch zu sammeln. Sie tanzte um Fenne herum. Sie zwickte sie in die Wange. Sie zog sie an den Haaren, aber was sich Armgard auch einfallen ließ, Fenne schwieg. Sie sagte kein Wort. Sie sagte nicht, wo das Buch war. Sie verriet auch nicht, wo die Alte Wöhr wohnte. Armgard riss die Tür auf und holte Bertram und seine Männer herein. »Durchsucht sie! Und lasst nichts aus!«, befahl sie barsch. Die Männer untersuchten Fenne, Lenz und Henrik, aber das Buch fanden sie nicht. Lenz schluckte, als ihm klar wurde: Auch Fenne hatte das Buch nicht mehr! Was war passiert? Hatte sie es im Gewimmel der Köl109
ner Gassen verloren? Oder etwa noch in Neuss? Aber das hätte Fenne doch sicher bemerkt gehabt. »Ich bringe euch zum Reden!« Armgard kniff die Augen zusammen. Sie musterte Henrik. Dann sah sie sich Lenz genauer an. »Wie wäre es, wenn wir deinen Freunden hier die Daumenschrauben anlegen würden?« Die alte Frau lachte hämisch. Plötzlich wurde sie wieder ernst und deutete mit ihrem krummen Zeigefinger auf Lenz. »Nehmt ihn zuerst!« Lenz wurde von zwei Männern gepackt. Er machte sich fast in die Hose vor Angst. Wollten sie ihn etwa wirklich foltern? Hatten die denn noch alle Tassen im Schrank? Schreckte diese Armgard vor gar nichts zurück? Und was war mit Bertram? Angeblich war der doch ein Ritter! War es etwa ritterlich, einen zehn Jahre alten Jungen zu foltern? Aber da flog die Tür auf. Der Radmacher steckte seinen Kopf herein und murmelte: »Er kommt! Ihr müsst sofort verschwinden!« Armgard schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Kerze wackelte. »Sobald er Köln verlassen hat, werden wir wiederkommen!« Sie sah Fenne scharf in die Augen. »Wir sprechen uns noch!« Fenne hielt dem Blick der Alten stand und schwieg. »Pass gut auf sie auf!«, fauchte die Alte den Radmacher an. Dann rauschte sie, gefolgt von Bertram und seinen Leuten, aus dem Zimmer und warf die Tür zu. Sie hörten noch, wie die Tür von außen verriegelt wurde. Henrik zögerte keine Sekunde. Er lief zum Fensterladen und lachte. »Tja, Frau Armgard, da hast du wohl etwas vergessen!« Der Fensterladen war mit einem 110
einfachen Holzriegel von innen verschlossen. Henrik hob den Riegel an und öffnete das Fenster. »Jetzt aber nichts wie weg hier!« Das ließen sich Lenz und Fenne nicht zweimal sagen. Sie kletterten aus dem Fenster, rannten durch den Garten des Radmachers, kletterten über die Mauer am Ende des Gartens und gelangten so auf eine Gasse. »Was ist eigentlich los?« Lenz keuchte. »Warum ist Armgard plötzlich abgehauen?« »Barbarossa«, keuchte Fenne. »Barbarossa kommt.« Sie deutete nach links. »Hier lang, die Breite Straße runter!« »Das soll die Breite Straße sein?«, fragte Henrik. »Was ist so gefährlich an Barbarossa, dass Armgard gleich die Stadt verlässt?« Lenz hatte Mühe, hinter Fenne und Henrik herzukommen. Die beiden rannten in einem Affentempo die Straße hinunter. »Barbarossas Leute kennen Armgard. Und sie wissen, dass sie sich mit Heinrich dem Löwen verbündet hat.« Fenne blieb plötzlich stehen. Sie sah sich um. »Werden wir verfolgt?« Henrik ließ seinen Blick über die Hüte und Hauben der Leute schweifen. Er schüttelte den Kopf. Auch Lenz konnte keine verdächtige Gestalt erkennen. Sie rannten weiter, die Ehrenstraße hinunter auf eines der neuen Stadttore zu. »Aber wo ist das Buch jetzt?«, fragte Lenz. War etwa die ganze Reise umsonst gewesen? Diese wochenlangen Strapazen? War Andreas’ Mühle umsonst in Rauch aufgegangen? Hatten sie das Buch verloren? Fenne zwinkerte Lenz zu: »Das Buch ist in Sicher111
heit.« Und mit einem plötzlichen Stirnrunzeln fügte sie hinzu: »Hoffe ich.« Sie bogen in die schmale Kettengasse ein. Erst jetzt fiel Lenz auf, dass diese knapp vor der neuen Stadtmauer lag. Wahnsinn. Seine Eltern waren mit ihm in das Haus der Alten Wöhr gezogen – und in der Neuzeit gehörte die Kettengasse zum Zentrum von Köln. Jetzt aber war es der Stadtrand! Fenne sah sich noch einmal um, dann klopfte sie an die Haustür der Alten Wöhr. Die Tür flog auf, die Alte zog sie zu sich herein und nahm sie in die Arme. Alle drei. »Ihr habt es geschafft! Ihr habt es tatsächlich geschafft!« Sie strahlte die drei Kinder an. Dann wurde sie plötzlich ernst und fragte: »Ist euch jemand gefolgt?« Fenne und Henrik schüttelten die Köpfe. »Kommt rein, kommt rein!« Die Alte Wöhr führte sie in ihre Stube im Erdgeschoss. Hier brannte ein Feuer im offenen Kamin. Davor stand ein Holztisch mit zwei Bänken. Auf einer der Bänke saß ein Mann, der Lenz irgendwie bekannt vorkam. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er ihn wieder: Es war der Glasbläser, unter dessen Markttisch sie sich versteckt hatten! Auf dem Tisch lag der Rucksack, den Lenz für Fenne genäht hatte. Der Rucksack, in dem das Buch des Heinrich von Veldeke steckte. »Danke, Onkel Oswald!«, sagte Fenne. Der Mann stand auf und nahm Fenne herzlich in die Arme. »Jederzeit wieder, meine liebe Nichte, jederzeit!« Er schüttelte auch Henrik und Lenz die Hände. »Jetzt muss ich aber los. Wenn das Gerücht stimmt, 112
kann Barbarossa jeden Augenblick am Hafen ankommen.« Er lief aus dem Haus und wäre fast mit einem Mann zusammengestoßen, der gerade eintreten wollte. »Das Gerücht stimmt nicht«, sagte der Mann, der das Haus der Alten Wöhr betrat. Er trug das Gewand eines Edelmanns, sah müde aus und hatte vermutlich seit zwei Tagen nicht geschlafen. Es war Dietrich. »Woher weißt du das?«, fragte Fenne. Dietrich grinste. »Weil ich selbst das Gerücht gestreut habe.« Er ließ sich auf eine der Bänke fallen. »Ich war Bertram auf den Fersen, aber er hat mich in die Irre geführt und schließlich abgehängt. Da bin ich, so schnell ich konnte, nach Köln geritten. Aber ich war zu spät: Ihr ward schon gefangen gesetzt.« Er nickte Fenne matt zu. »Aber zum Glück ist Bertram auch hier kein Unbekannter, so war es leicht, das Haus des Radmachers zu finden. Einfach immer den Leuten nach, die einen Edelmann mit drei Kindern gesehen hatten! – Kaum war ich in der Gasse des Radmachers, habe ich überall herumerzählt, dass Barbarossa jeden Augenblick ankommt.« Er grinste. »Diese Nachricht hat sich genauso schnell verbreitet, wie ich gehofft hatte.« Die Alte Wöhr nickte anerkennend. »Das hast du gut gemacht, Dietrich! Ich danke dir für deine Hilfe.« Sie verteilte Becher und schenkte jedem einen kräftigen Schluck von ihrem ekelhaften Brennnesseltee ein. »Jetzt will ich aber endlich die ganze Wahrheit wissen«, entfuhr es Henrik. »Was ist der Olm? Und warum ist das Buch so wichtig, wenn es doch nur eine blöde Heldengeschichte ist?« Die Alte Wöhr lächelte. »Setzt euch, Freunde, setzt euch.« Sie selbst nahm mit dem Rücken zum Feuer 113
Platz. Rechts von ihr saß Dietrich, links Fenne. Ihm gegenüber setzte sich Henrik auf die Bank und Lenz nahm gegenüber von Fenne Platz. Dann packte sie endlich das Buch aus dem Rucksack aus. Sie strich über die Seiten. »Habt ihr die Geschichte gelesen?« Lenz nickte. »Vorgestern habe ich die letzten Seiten gelesen. Die sind irgendwie seltsam, kein richtiger Schluss und so …« Die Alte Wöhr sah ihn mit ihren grauen, warmen Augen an. »Veldeke hat das Werk noch nicht vollendet, hatte ich euch das nicht gesagt?« Henrik trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum. »Die ganze Wahrheit bitte!« Die Alte lächelte wieder. »Ihr sollt sie erfahren. Aber behaltet sie für euch, diese Wahrheit. Das Buch beinhaltet tatsächlich nicht nur Äneas’ Geschichte. In ihr ist auch der Olm versteckt.« Sie schlug die letzten Seiten des Buchs auf. »Seht ihr diese sechzehn Blätter? Sie sind dunkler.« Lenz nickte. Dass die letzten Seiten dunkler waren, hatte Henrik ja auch schon bemerkt. »Auf diesen Seiten steht, wie ihr zu unendlichem Reichtum kommt.« Die alte Wöhr stand auf, holte einen kleinen Kessel vom Bord, legte eine Hand voll Metallplättchen hinein und sah in das Buch. »Der Text ist verschlüsselt. Seht gegen das Licht, dann könnt ihr sehen, dass hier zwei verschiedene Tinten verwendet wurden. Die eine Tinte ist dicker, glänzender als die andere.« Lenz bückte sich über den Tisch und sah schräg auf das Buch. Es stimmte! Einige Buchstaben in jeder Zeile waren in einer glänzenden Tinte geschrieben! 114
Die Alte Wöhr fuhr mit dem Finger über die Zeilen. »Ihr dürft nur die glänzenden Buchstaben lesen. Denn sie beschreiben, wie man aus wertlosem Metall wertvolle Münzen macht.« »Also doch ein verschlüsselter Text!«, rief Henrik. Die Alte Wöhr nickte. Und während sie die Zutaten, wie im Buch beschrieben, in den Topf legte und das Ganze auf dem Feuer zum Kochen brachte, erzählte sie den Kindern und dem staunenden Dietrich, wie sie an dieses Geheimnis gekommen war. »Diese letzten sechzehn Seiten des Buches nennt man den Olm. Sie wurden schon vor langer Zeit aus dem Schatz der Nibelungen gestohlen, noch ehe der Rest des Schatzes von den Burgunden im Rhein versenkt wurde. Auf verschlungenen Wegen schaffte es mein Lehrmeister, Granwolf, die Seiten an sich zu bringen.« Lenz seufzte. Irgendwie glaubte er schon jetzt kein Wort mehr. Das klang alles nur noch nach Märchen. Die Alte Wöhr lief wie eine Kräuterhexe zwischen Buch, Gewürzregal und Kessel hin und her und warf Zutaten hinein, zog andere wieder heraus und erzählte diese unglaubliche Geschichte. »Ehe Granwolf starb, gab er mir den Olm und bat mich, ihn gut zu verstecken. Das tat ich: Ich gab die Seiten einem Dichter, den ich gut kannte.« »Heinrich von Veldeke«, warf Fenne ein. »Richtig. Ich trug ihm auf, die Lücken zwischen den Buchstaben mit einer Geschichte zu füllen.« Die Alte Wöhr rührte noch einmal im Kessel, schlug die letzte Seite des Buches auf und setzte sich schließlich wieder hin. »Das hat er getan. So steht hier nun für jeden, der 115
es nicht weiß, einfach eine Geschichte. Aber für Eingeweihte ist der Olm noch zu erkennen.« »Und Armgard wusste um den Olm?«, fragte Dietrich. Die Alte Wöhr seufzte. »Ja. Sie hat es unserem Lehrmeister Granwolf nie verziehen, dass er mich und nicht sie zu seiner Nachfolgerin bestimmt hat. Sie hat den Olm gesucht. Und sie kam mir auf die Schliche. Auf dem Hoffest in Mainz war es schließlich so weit. Sie wollte sich das Buch von Barbarossa erst ausleihen. Als dieser sich aber nicht darauf einließ, tat sie sich mit Heinrich dem Löwen zusammen.« »Also hat Heinrich der Löwe das Buch in Armgards Auftrag geklaut?«, fragte Lenz. Die Alte Wöhr schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, Herzog Heinrich hatte keine Ahnung. Er hat das Buch nur gestohlen, um Barbarossa zu ärgern. Aber der Löwe und Armgard sind sich offenbar schnell einig geworden, denn unser Kaiser Friedrich Barbarossa ist beiden ein Dorn im Auge. – So hat Armgard mit dem Olm dafür gesorgt, dass Heinrich der Löwe das nötige Kleingeld bekam, um sich für den Krieg gegen Barbarossa zu rüsten.« Die Alte Wöhr drehte sich zum Kessel, nahm ihn vom Feuer und fischte mit einer Zange die Metallplatten heraus. – Es waren keine Metallplatten mehr. Es waren Münzen. Richtige goldene und silberne Münzen! »Wenn Heinrich der Löwe und Armgard den Olm noch ein paar Monate länger gehabt hätten, wäre die Armee des Löwen auf eine unvorstellbare Größe angewachsen«, überlegte Dietrich. »Schon jetzt dürfte es 116
schwer werden, Braunschweig einzunehmen, falls es nötig sein sollte.« »Warum hast du uns nicht gesagt, wonach wir wirklich suchen?«, fragte Fenne. Aber ehe die Alte Wöhr antworten konnte, sagte Henrik, der die Augen gar nicht mehr von den Goldstücken lassen konnte: »Könnte ich mir diese Seiten mal ausleihen? Ich bringe sie auch zurück, ich will nur schnell damit ins einundzwanzigste Jahrhundert und mache mir eine Fotokopie.« Die Alte Wöhr sah Henrik ernst an. »Darum, Fenne. Genau darum habe ich es euch nicht gesagt. Ich kannte Henrik und Lenz nicht gut genug. Ich wusste nicht, ob einer von ihnen versuchen würde, mit dem Olm zu verschwinden. Es ist ja auch verlockend.« Sie nahm ein Messer und schnitt die sechzehn dunkleren Seiten aus dem Buch. »Aber der Olm hat genug Unheil gestiftet.« Sie warf die Seiten ins Feuer des Kamins. »Nein!«, entfuhr es Henrik. »Was tust du?«, rief auch Dietrich. Die Alte Wöhr sah mit ernster Miene zu, wie die Flammen das Pergament verzehrten. »Das hätte ich schon viel früher tun sollen.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Der Olm ist zu gefährlich, wenn er in die falschen Hände gerät. Habt ihr das nicht selbst gesehen?« »Aber wenn Barbarossa ihn hätte …«, begann Dietrich. Da lachte die Alte Wöhr den Ritter schallend aus. »Glaubst du denn im Ernst, dass dein Herr besser damit umginge als Heinrich der Löwe?«
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Aus den geheimen Lebens erinnerungen der Alten Wöhr Teil XI Selten war ich mir so sicher gewesen, endlich das Richtige getan zu haben, wie an dem Tag, an dem ich den Olm in die Flammen warf. Hätte ich Barbarossa den Olm in die Hand gegeben – was wäre geschehen? Der Kaiser strebte selbst nicht minder nach Macht als Heinrich der Löwe. Er führte gerade einen Krieg gegen den norditalienischen Städtebund. Und obendrein war er auch noch drauf und dran, zu einem Kreuzzug aufzubrechen. Man stelle sich vor, die Kreuzritter hätten auch noch über unendliche Geldmittel verfügt! Nein, es gab keine andere Möglichkeit für mich, als den Olm diesmal so zu verstecken, dass er niemals wieder in falsche Hände gelangen konnte. Da die Prozedur so kompliziert war, dass selbst ich sie mir nicht auswendig merken konnte (und ich sicher war, dass Armgard keine Kopie des Olm angefertigt hatte, denn sonst hätte sie niemals so viel Zeit und Kraft darauf verwendet, das Buch wiederzufinden), war es das Beste, den Olm zu vernichten. – Es fiel mir nicht leicht, denn auch mir war klar, dass unendliche Geldmittel, wenn man sie richtig gebrauchte, auch zum Wohl der Menschheit verwendet werden könnten. Aber die Gefahr, dass der Olm doch nur wieder Kriege ermöglichen würde, schien mir zu groß. Und noch etwas machte ich damals richtig: Lenz und Henrik erwiesen sich als zwei großartige Zeitenläufer. Vielleicht wird sich sogar eines Tages erweisen, dass einer von beiden das Zeug dazu hat, mich zu beerben. Aber das verriet ich ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht. Noch nicht.
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13. Kapitel
I
m Abschiednehmen hätte Lenz eigentlich Profi sein müssen. Schließlich verabschiedete er sich alle paar Jahre von einer ganzen Schulklasse und einer Stadt mit all den Freunden und Feinden, die in ihr lebten. Aber er war kein Profi. Er war ein blutiger Anfänger. Und irgendwie wurde es mit jedem Abschied schlimmer. Als sie von Freiburg wegzogen, hatte Lenz einen solchen Kloß im Hals gehabt, dass er keinen Ton herausbrachte, als er sich verabschieden sollte. Noch nicht einmal zu Susi, seiner allerbesten Freiburger Freundin, hatte er irgendetwas sagen können. Sie hatte ihm noch ein Geschenk gemacht – er hatte mit leeren Händen dagestanden. Und in Weimar und Kiel war es auch nicht viel besser gewesen. Deshalb hatte Lenz schon weiche Knie, als sie in den Keller stiegen. Es war völlig verrückt: Er stieg die Kellertreppe hinunter, die er in wenigen Momenten wieder hinaufsteigen würde – am selben Ort, nur zu einer komplett anderen Zeit! Wie sollte man da Abschied nehmen? Was sollte man sagen? Und würde 119
Fenne wirklich einmal zu ihm ins einundzwanzigste Jahrhundert kommen? »Hier sind eure Sachen.« Die Alte Wöhr hatte ihre Kleider schon bereitgelegt. Lenz’ zerrissene Hose hatte sie so sauber genäht, dass man es kaum sah. Wochen war es her, dass sie in diese Zeit gekommen waren. Es kam Lenz wie eine Ewigkeit vor. Und er war sich nicht ganz sicher, ob er nicht am Ende doch noch etwas vermissen würde. Diesmal kicherte Fenne nicht, als die Jungs sich umzogen. Im Gegenteil: Sie starrte vor sich auf den Boden und schwieg. »Ihr habt eure Sache gut gemacht, Jungs!«, sagte die Alte Wöhr. »Habt ihr eure Fingernägel geschnitten?« Henrik und Lenz nickten. Sie hatten sich von Kopf bis Fuß gründlich gewaschen und alle Nägel gekürzt, damit niemandem auffiel, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Die Alte Wöhr schnaufte durch die kurze Nase. »Ich würde euch gerne wieder rufen, wenn ich darf.« Lenz und Henrik sahen sich an. Ein Grinsen lief über ihre Gesichter: »Heißt das, dass wir jetzt richtige Agenten werden?«, fragte Henrik. »Zeitenläufer«, verbesserte die Alte Wöhr ihn lachend. »Super!«, rief Henrik. Und auch Lenz freute sich darüber. Obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob seine Nerven mehr als ein Abenteuer von diesem Kaliber pro Monat mitmachen würden … »Also dann: Auf bald! Ihr werdet von mir hören, wenn ich euch brauche.« Die Alte Wöhr drückte Lenz die Hand. 120
Lenz schluckte und murmelte: »Bis dann.« Die Alte Wöhr lächelte. »Bis später, mein Freund!« Dann kam Fenne herüber zu Lenz. Lenz streckte ihr seine Hand entgegen, aber sie nahm ihn einfach in den Arm und drückte ihn ganz fest an sich. »Wir bleiben Freunde, auch wenn uns tausend Jahre trennen, oder?« Lenz hatte plötzlich wieder seinen Abschiedskloß im Hals. So etwas Nettes hatte ihm ja noch nie jemand gesagt. Und ein Mädchen schon gleich zweimal nicht. Und so ein hübsches, nettes, mutiges und tolles Mädchen mit so wasserblauen Augen wie Fenne schon gleich dreimal nicht! Er konnte nichts sagen. Er konnte nur nicken. Dann stieg er auf die Kleiderkisten und streckte die Hand nach dem Zeitloch aus. »Mach schon, Lenz!«, sagte Henrik. »Ich will endlich nach Hause!« Aber Lenz konnte nicht ins Zeitloch steigen. Denn jemand hielt sich am Anker fest. Von innen. Ein Kopf kam aus dem Loch. »Salve!« »Silvester, sei mir gegrüßt und willkommen!«, rief die Alte Wöhr. Lenz musste noch einmal von der Kiste heruntersteigen, um dem Jungen Platz zu machen, der da aus dem Zeitloch gekrabbelt kam. Er trug eine weiße Tunika, die an den Hüften mit einem Gürtel zusammengehalten wurde. Und da tauchte hinter ihm noch ein Mädchen aus dem Zeitloch auf, ebenso seltsam gekleidet. »Darf ich vorstellen?« Die Alte Wöhr deutete auf die 121
beiden. »Das sind Cornelia und Silvester, sie kommen aus Rom.« »Aus der Antike?«, fragte Lenz. »Meinst du mit ›Antike‹ die Zeit des Cicero, Cäsar und Pompeius?«, fragte die Alte Wöhr. Lenz nickte. »Ja, das ist unsere Heimatzeit«, sagte Silvester. »Fenne kennt ihr ja«, sagte die Alte Wöhr. »Und das sind Henrik und Lenz. Sie kommen aus der fernen Zukunft.« Cornelia musterte Henrik und Lenz neugierig. »Was bringt ihr mir?«, fragte die Alte Wöhr. Silvester holte eine kleine Schriftrolle aus seiner Tunika. Die Alte Wöhr setzte sich auf die Steinbank in der Ecke. Sie las das Schreiben, schüttelte den Kopf. Sie las wieder und schüttelte wieder den Kopf. »Wenn ich es recht verstehe, dann brauen sich in Rom unglaubliche Schwierigkeiten zusammen.« Sie nickte Silvester und Cornelia zu. »Reist zurück und richtet dem Scaevola aus, dass ich seiner Bitte nachkommen werde!« Silvester nickte und wollte sich schon zurück ins Zeitloch stürzen, als die Alte Wöhr sagte: »Moment, die Jungs waren zuerst dran, sonst kommt alles durcheinander.« Sie sah zu Lenz und Henrik herüber. »Macht, dass ihr nach Hause kommt. Und erholt euch schnell von dieser Reise! Es könnte sein, dass ich euch schon bald wieder gebrauchen kann!« »Jederzeit!«, sagte Henrik. Die Alte Wöhr lachte. »Jeder-Zeit – das ist gut!« 122
Lenz kletterte auf die Kiste, griff nach dem Rand des Lochs, hielt sich am Anker fest und rutschte mit den Füßen zuerst hinein. Er sah noch einmal zurück zu Fenne. »Bis bald!« Dann verschwand er ganz im Loch und ließ den Anker los. Was passiert eigentlich, wenn ich jetzt in die falsche Richtung falle?, fragte sich Lenz. Woher wusste das Zeitloch, dass er und nicht Silvester unterwegs war? Denn Silvesters Anker hing ja irgendwie in römischer Zeit … Au Backe, wenn das mal nicht schiefgeht, dachte Lenz. Er wollte die Alte Wöhr fragen, ob er etwas falsch machen könne und versuchte mit den Händen, den Anker zu erreichen, aber der war schon weg. Er ruderte wie verrückt mit den Armen. Schließlich bekam er den Anker zu packen, zog sich aus dem Loch und guckte – in den Keller seiner Eltern! »Glück gehabt!«, murmelte Lenz. Er hatte noch nicht mal seine Hose zerrissen! Er zog sich aus dem Loch, setzte sich auf den Rand und betrachtete den Keller. Der Raum sah genauso aus wie zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihn verlassen hatten: Das Loch in der Wand, das Henrik geschlagen hatte, war da, und die Pappkartons, die sein Vater in den Keller getragen hatte, standen auch noch unter dem Zeitloch. Die steinerne Eckbank der Alten Wöhr war ebenso verschwunden wie die Alte Wöhr selbst und auch Fenne, Silvester und Cornelia. »Mach Platz, Mann!« Henrik zwickte ihn in den Hintern. »Geht das schon wieder los?«, rief Lenz. »Hast du etwa in den letzten achthundert Jahren nichts dazugelernt?«, motzte Henrik. 123
Lenz sprang vom Rand des Lochs auf den Boden. Henriks Kopf erschien. »Jungs, was ist? Wo bleibt der Apfelsaft?«, hörte Lenz seine Mutter von oben rufen. »Schnell! Hol den Anker aus dem Loch!«, sagte Lenz. »Quatsch, den lassen wir drin!«, erwiderte Henrik. »Sonst kann Fenne uns doch nicht besuchen.« Lenz nickte. Daran hatte er nicht gedacht. Er schnappte sich eine Flasche Apfelsaft und eine Flasche Sprudelwasser aus der Plastikkiste. Plastikkiste – so was Verrücktes, dachte er. Er hatte seit einem Monat kein Stückchen Plastik in der Hand gehabt. Er öffnete die Kellertür. Das Erste, was Lenz auffiel, als er aus dem Keller kam, war der Lärm. Das Rauschen der Autos, das man von der Hahnenstraße bis hierher hörte. »Alles klar, Jungs?« Henriks Vater saß noch immer im Sessel. »Klar«, sagte Henrik. »Wie alt ist das Haus denn eigentlich?«, fragte Lenz. Henriks Vater hob entschuldigend die Hände. »Ganz genau kann das keiner sagen. Hier oben sind die ältesten Teile aus dem sechzehnten Jahrhundert. Aber der Keller ist vermutlich älter.« »Vermutlich«, murmelte Lenz. Henriks Vater musterte Lenz. »Wie?« »Lenz, willst du Henrik nicht mal dein Zimmer zeigen?« Anna Jacobi musterte Lenz. »Und du musst unbedingt mal wieder zum Friseur, mein Sohn.« »Dürfen Henrik und ich ein paar Bücherkisten auspacken?«, fragte Lenz. 124
»Au ja, Bücherkisten pack ich gern aus!«, sagte Henrik. Anscheinend hatte er Lenz’ Gedanken sofort erraten. Henriks Vater und Lenz’ Eltern sahen sich an. Dann schüttelten sie die Köpfe. »Geht’s euch gut?«, fragte Lenz’ Mutter. »Euch ist doch im Keller kein Gespenst begegnet, oder?«, fragte Henriks Vater. Aber Lenz und Henrik waren schon auf dem Weg in den ersten Stock des Hauses, wo Lenz’ Eltern ihre kleine Haus- und Hofbibliothek einrichten wollten. Die Regale standen zwar schon an den Wänden, aber sie waren alle noch leer. »Auf geht’s!«, sagte Lenz und öffnete einen Pappkarton. »Irgendwo haben sie Handbücher über die Geschichte der Menschheit!« »Oder einfach ein gescheites Lexikon!«, murmelte Henrik und öffnete ebenfalls eine Kiste. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe sie fanden, was sie suchten. Aber dann hielten sie es endlich in der Hand: das große Lexikon in vierundzwanzig Bänden. »Was zuerst?«, fragte Lenz. »Heinrich der Löwe!«, antwortete Henrik und zog den Band mit der Nummer 9 heraus. Lenz guckte unter »Alte Wöhr« nach, fand aber nichts. Dann griff er nach Band 7 und schlug unter »Friedrich I., Barbarossa« nach. »Dieser Graf Albrecht, oder wie der hieß, hat Wort gehalten«, sagte Henrik schließlich. »Die haben Heinrich den Löwen echt angeklagt. Aber der Löwe ist zum Gerichtstermin einfach nicht erschienen. Dann gab es doch noch einen Krieg: Barbarossa hat Braunschweig 125
belagert. Der Löwe musste sich geschlagen geben und ist in die Verbannung nach England gegangen.« Lenz runzelte die Stirn. »Haben wir jetzt echt was bewirkt?« Henrik zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon. Wenn Heinrich der Löwe Barbarossas Armee geschlagen hätte, wäre er bestimmt auch noch König oder Kaiser geworden. Und so wie der Typ drauf war, hätte er vermutlich keinen Krieg ausgelassen, um immer mächtiger zu werden.« Lenz schlug das Buch zu. »Warum steht eigentlich in keinem Geschichtsbuch, ob Ritter Bertram die Mühle von Andreas und Hilde wieder aufgebaut hat?« Henrik nickte. »Das würde mich auch interessieren. Und was aus dieser blöden Ziege von Andreas geworden ist, die uns das Leben gerettet hat, weil sie sich nicht melken lassen wollte.« Lenz schmunzelte. »Dieser Ziege müsste man ein Denkmal setzen! Nicht so einem Heini wie Heinrich dem Löwen.«
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… lieferten sich Kaiser Friedrich Barbarossa (»Barbarossa« bedeutet auf Deutsch: »Rotbart«) und Heinrich der Löwe (Herzog von Bayern und Sachsen) zwischen 1176 und 1181 einen heftigen Machtkampf. Dieser ließ die Rivalität zwischen den beiden Adelsfamilien, den Staufern und Welfen, denen die beiden angehörten (Friedrich Barbarossa war Staufer, Heinrich der Löwe war Welfe), erneut aufflammen. Heinrich der Löwe war Herzog von Bayern und Sachsen. (Das Gebiet, das damals »Sachsen« genannt wurde, umfasste etwa die Gebiete vom heutigen Westfalen, von Niedersachsen und Holstein.) Heinrich versuchte seinen Machtbereich im Norden und Osten auszudehnen. Dabei geriet er in Konflikt mit den Landesfürsten, die zum Teil auch bewaffnet gegen ihn kämpften. Diese Landesfürsten fanden Unterstützung bei Kaiser Friedrich Barbarossa. Der war zunächst noch mit seinen eigenen Kämpfen in Italien beschäftigt gewesen. Nachdem er aber 1177 im Frieden von Venedig einen Waffenstillstand mit dem norditalienischen Städtebund und Sizilien vereinbart hatte, kehrte Barbarossa nach Deutschland zurück. In seinem Bemühen, den zum mächtigsten Landesfürsten Deutschlands aufgestiegenen Heinrich zu entmachten, verbündete er sich mit den unzufriedenen Reichsfürsten. Diese erhoben gegen Heinrich Klage. Da es im Mittelalter noch keine »Gewaltenteilung« 128
gab, war Barbarossa als oberster Herrscher auch oberster Richter. Aber zum Gerichtstermin 1179 erschien Heinrich der Löwe gar nicht erst. Wer trotz Vorladung nicht erschien, wurde damals für ein Jahr »geächtet«. Geächtet zu sein hieß: Der Geächtete durfte von jedermann erschlagen werden, er hatte kein Eigentum (d.h. auch keine Länder oder Burgen), seine Frau zählte als Witwe, seine Kinder als Waisen und er hatte keine Rechte mehr (der Geächtete konnte also auch gegen seine Ächtung keinen Einspruch erheben). Ein Jahr später war erneut ein Gerichtstermin anberaumt, zu dem Heinrich aber wieder nicht erschien. Daraufhin wurde im Jahr 1180 die »Aberacht« ausgesprochen: Die Ächtung galt ab da nicht nur für ein Jahr, sondern unbegrenzt. Barbarossa vergab die Güter und das Herzogtum von Heinrich an andere. Aber Heinrich der Löwe widersetzte sich diesem Urteilsspruch und begann 1180 den Krieg gegen Barbarossas Reichsheer. In diesem Krieg, der bis zum November 1181 dauerte, wurden große Teile Sachsens verwüstet. Die meisten Fürsten des sächsischen Adels wechselten auf Barbarossas Seite. Nur ein sehr starkes Heer und ungeheure Geldmengen hätten nun Heinrichs Niederlage noch verhindern können. Da er aber über beides nicht verfügte, war er im November 1181 schließlich zur Aufgabe gezwungen und unterwarf sich auf dem Reichstag von Erfurt dem Kaiser. Dadurch fand dieser verheerende Krieg ein rasches Ende. Heinrich der Löwe musste in der Folge für drei Jahre in die Verbannung nach England gehen. 129