Immer wird sie genannt als die Mutter Maurice Utrillos, und sie selbst steht im Schatten des berühmten Sohnes: Suzanne V...
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Immer wird sie genannt als die Mutter Maurice Utrillos, und sie selbst steht im Schatten des berühmten Sohnes: Suzanne Valadon. Ein neues Buch erzählt die Geschichte dieser Frau, die, vor dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 als Kind armer Leute geboren, auf ungewöhnlichem Weg Künstlerin wurde. Die Autorin dieser Biographie, die unter dem Titel „Montmartre“ erschien, fragt: Wie kam es, daß Suzanne Valadon an sich glaubte? Warum verzweifelte sie nicht, als
sie mit siebzehn schwanger war und nicht wußte, wie sie ein Kind ernähren sollte? Wir heute, die wir soviel von Selbstverwirklichung reden und schreiben und immer noch zu wenig davon verstehen, könnten von dieser Person etwas lernen, obwohl sie vor mehr als hundert Jahren geboren wurde, oder gerade darum . . . Rechts: Die Achtzehnjährige, wie sie sich auf dem frühen Selbstporträt sah
Modell und Malerin Von Ursula Sigismund
Montmartre
„Straßenpflaster? Das gab es kaum im damaligen Montmartre, das ländlich und ärmlich war und noch nicht die vielen Treppen hatte wie heute, man kletterte hinauf oder
hinunter, und im Winter und im Frühling hielten sich die Bewohner auf den Trampelpfaden in Schnee und Matsch. Man ging zu Fuß. Pferdeäpfel von den Gäulen der Lieferwagen und den sehr viel selteneren Droschkengäulen waren kostbar und wurden gesammelt, um die Gärten zu düngen. In langen Reihen standen die Gipsmühlen, das sausende Geräusch ihrer Flügel teilte die Richtung der Winde mit, niedrige Häuser, mit Walmdächern oder einfach mit Teerpappe gedeckt, hockten zwischen Grünhügeln, die gegen Straßen und Gehsteige mit Mauern abgestützt waren. Hühner und Hauskaninchen hinter selbstgebastelten Holzzäunen. Wildkaninchen, Mäuse, Schnecken und Ratten.“ Suzanne Valadon war auf dem Montmartre seit Kindertagen zu Hause, auch die gewaltige Basilika von SacreCœur, die seit 1875 in über vierzigjähriger Bauzeit entstand, hat sie mehrfach gemalt. Ursula Sigismunds Buch über Suzanne Valadon ist auch ein Buch über den Montmartre (unten: Moulin de la Galette); ob darum der Verlag auf den Titel „Montmartre“ setzen mußte statt den Namen Suzanne Valadon — das allerdings ist wieder eine andere Frage
»Das blaue Zimmer« Eines der „ungewöhnlichsten und mutigsten“ Gemälde Suzanne Valadons aus der Z,eit nach dem Ersten Weltkrieg: Porträt einer Prostituierten
Lust am Leben Nature morte nennen die Franzosen ihre Stilleben — tote Natur —, aber auf die Stilleben der Valadon paßt dieser Ausdruck nicht. Bei ihr gibt es nichts Totes. Wenn sie Obstkörbe, Blumenvasen, Kannen und Leuchter malte, wenn sie schöne Gegenstände mit Stoff dekorierte, Farbzusammenstellung und Spiegeleffekte erfand, dann waren diese Dinge lebend und strahlend. Links: „Stilleben mit
Die Familie
Drei Jahrzehnte nach dem Selbstbildnis der Achtzehnjährigen entstand das „Familienbildnis: Maurice, die Großmutter, Suzanne Valadon und Andre Utter“. Sie hat sich „nach ihrem Geschmack stilisiert: sie trägt noch immer den Mittelscheitel, hat aber das Haar weich über die Ohren gelegt und hält die rechte Hand, die Malerhand, mit gespreizten Fingern vor die Brust gedrückt. Eine Pose. Nicht störend. Die Hand gehört auf das Bild. Andre Utter, der noch nicht lange zur Familie gerechnet wurde, sieht etwas statuarisch aus, und sein Halbprofil, links oben in
der Ecke, wirkt so, als habe Suzanne zum ersten Mal den Versuch gemacht, ihn in der Gemeinschaft unterzubringen.“ Unten rechts Maurice Utrillo, damals knapp dreißigjährig, schon in früher Jugend dem Alkohol verfallen. Das Foto oben links zeigt ihn mit etwa 25 Jahren, das Bleistiftporträt neben der Skizze zu dem Familienporträt zeigt den spanischen Journalisten und Kritiker Miguel Utrillo, der den siebenjährigen Maurice als seinen Sohn anerkannt und ihm seinen Namen gegeben hatte. Bis an sein Lebensende signierte dieser: „Maurice Utrillo V.“
Das Leben der Suzanne Valadon 1865 (23. 9.) Marie-Clementine Valadon geboren, in Bessinessur-Gartempe 1870 (oder kurz vorher) Ankunft in Paris 1874 erste Zeichnungen 1880 Modell von Puvis de Chavannes, Toulouse-Lautrec, Renoir u. a. 1883 (26.12.) Geburt des Sohnes Maurice 1893 Begegnung mit Eric Satie. Erste Gemälde 1894 Ausstellung im Salon de la Nationale 1896 Heirat mit Paul Moussis. Maurice Utrillo beginnt zu malen 1909 Scheidung. Verbindung mit Andre Utter 1911 Erste Einzelausstellung, bei Clovis Sagot 1914 Heirat mit Andre Utter, der zur Armee eingezogen wird 1915 Tod der Mutter 1919 Erste große Ausstellung Maurice Utrillos 1923 Kauf des Chàteau de SaintBernard (Ain) 1928 Valadon-Monographie von Adolphe Basler; Ausstellungen im Ausland 1933 Taufe Utrillos (mit fünfzig Jahren) 1934 Trennung von Utter. Begegnung mit dem Maler Gazi 1935 Heirat Lucie Pauwels' mit Maurice Utrillo 1938 Tod Suzanne Valadons Nach: Yves-Bonnat, Valadon, Club d'Art Bordas, 1968 (Ausstellungskatalog)
Die Zeichnungen „Sie hatte zu wenig Zeit, sie hatte zu wenig Geld für Papier und Stifte, und ihre strenge Mutter wollte nicht, daß sie sich mit der Kritzelei vertat“ — als Suzanne Valadon noch anderen Malern Modell stand. Freundin ToulouseLautrecs, Renoirs, Degas', wurde sie dennoch zur Zeichnerin, hat unzählige Skizzen und Zeichnungen geschaffen, immer wieder den spontanen, lebendigen Augenblick und Gestus festgehalten. Links: Montmartre, Rue Cortot 12, das Haus, in dem sich heute das Museum des alten Montmartre befindet, gegenüber von Suzanne Valadons Atelier
I
hr Name ist mir im Lexikon aufgefallen, als ich etwas ganz anderes suchte — Val — einen Ausdruck aus der Chemie. „Valadon, Suzanne, eigentlich Marie-Clementine, französische Malerin, geb. Bessines bei Limoges am 23. 9. 1865, gest. in Paris am 19.4.1938, Mutter von Maurice Utrillo, war Putzmacherin, Akrobatin, dann Modell und kam, von E. Degas, H. ToulouseLautrec, A. Renoir und anderen gefördert, zur Malerei. Sie malte Akte, Figurenbilder, Landschaften und Stilleben von herber Art, durch kraftvolle Linienführung bestimmt.“ Ich schrieb den kurzen Text heraus, um die Entdeckung nicht zu vergessen, fand den Zettel gelegentlich wieder und dachte, wie wenig Malerinnen es um die Jahrhundertwende in Europa gegeben hat. Gab es sie nicht oder machten sie nicht von sich reden? Zwar Käthe Kollwitz und Gabriele Munter sind bekannt und anerkannt, und Paula Becker-Modersohn, auch sie ist eine Zeitgenossin dieser Suzanne. Die viel zu jung verstorbene Paula schrieb an ihren Mann über ein Pariser Atelier, in dem sie arbeitete: „Sie (die Französinnen) malen wie vor hundert Jahren, als ob sie die Malerei von Courbet an nicht miterlebt hätten.“ Wie arbeitete Suzanne Valadon? Berühmte Impressionisten waren ihre Freunde. Das kleine Bild neben dem Text im Brockhaus, eine dörfliche Landschaft, machte mich nicht besonders neugierig auf ihre Kunst — ihr Leben interessierte mich mehr, wohl wegen der Reizworte Putzmacherin, Akrobatin, Malermodell. Sie lebte in Montmartre, das damals kein Touristenziel, sondern Heimat
Schwarz und Rot
Suzanne Valadon, wie sie sich mit fünfzig sah, im Jahr 1916, während der „schrecklichen, monatelangen Schlacht an der Somme... Die Welt um sie her brennt. Es gibt viel zu trauern. Schwarz und Rot sind die einzig möglichen Farben, und auch das Rötliche ihrer Haut sieht aus wie der Widerschein von Feuer“
der Künstler war. Gestorben ist sie ein Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg. Ich hätte sie kennen können. Über den berühmten Sohn, den Suzanne mit 18 Jahren bekommen und als Halbwüchsigen zum Malen angeregt hat — auch das steht im Lexikon gibt es eine Menge Literatur; seine Stadtlandschaften von Montmartre hängen in unzähligen Museen, wurden kopiert und nachgeahmt. Maurice war, so heißt es, schon in seiner Jugend dem Alkohol verfallen, und seine Mutter arbeitete mit ihm, um ihn vom Trinken zu heilen. Später, wenn er signierte, hängte er an seinen klingenden Namen aus Liebe und Dankbarkeit immer ein V. Nach und nach wurde ich so neugierig auf das Künstlerleben dieser beiden, daß ich mir Monographien und Ausstellungskataloge besorgte und nicht mehr aufhörte, nachzuforschen. Es war wie ein Sog. Durch den Sohn erfuhr ich manches über die Mutter, und durch sie immer wieder vom Sohn. Wie schwierig er war, wie süchtig, wie begabt. Wie sie ihn liebte, und wie stolz sie auf ihn war. „Mein Sohn ist ein Genie!“ rief sie, wenn er sich wieder mal unmöglich gemacht hatte. Sie hat ihn gezeichnet und gemalt, und sie mußte ihn, so heißt es, stets dazu überreden oder überlisten. Das „Portrait de Familie“ — Suzanne, Maurice, Andre und die Grand-mere (Abb. S. 41) - hat meine Neugier beflügelt. Wie kam diese Familie zustande? Andre Utter ist jung, er kann der Vater des Maurice nicht gewesen sein, die Grand-mere dagegen wirkt so alt, daß nicht zu erkennen ist, wessen Großmutter sie war, ihre oder seine. Eine romantisch anmutende, zärtliche Profilzeichnung von Andre Utter machte mir deutlich, daß Suzanne ihn liebte. Später malte sie ihn als korsischen Fischer, auf einem Bild gleich dreimal seinen muskulösen Akt beim Einholen eines Netzes, lebensgroß, Öl auf Leinwand. Und viel später, gleichzeitig mit ihrem letzten Selbstbildnis, entstand ein Porträt von Andre mit seinen Hunden, auf dem der einst so schöne kaum wiederzuerkennen ist: derb, steif und ein bißchen bäurisch sitzt er auf einem Baumstamm, blickt bei-
seite und hält den Spazierstock zwischen den Händen. Das könnte das Ende einer Liebe gewesen sein. Suzanne zeichnete und malte, was sie lebte und täglich sah: Das Gesicht ihrer alten Mutter und ihr eigenes, ihren Sohn als Kind und Heranwachsenden, ein Kind von nebenan, die Porträts ihrer Freunde, sehr unterschiedlich in der Ausführung, ihre Hunde und die Lieblingskatze Raminou, die überall sitzen durfte, selbst auf einem Seidenfauteuil. Sie malte Blumen und Früchte auf ihren Tischen, die Landschaften ihrer Reisen in der Bretagne, auf Korsika, in den Pyrenäen und immer wieder Frauenakte, ihre Freundinnen und sich selbst, oft in barocker Pose und mit ,draperie'. Keine Gestalt aus der Geschichte, nichts Klassisches, Akademisches oder Mythologisches — ihr Leben bot dieser Malerin genügend Motive. Die Texte der Kunstschriftsteller zu ihren Bildern haben mir unzufriedenstellende Auskünfte gegeben; ungenau, oft phrasenhaft und in blumiger Sprache gehalten, haben sie mich einerseits enttäuscht und andererseits zum Nachforschen angeregt. Marie-Clementine, uneheliche Tochter einer verwitweten Schneiderin, hat eine armselige, wilde, ungeschützte Kindheit in Montmartre gehabt. Sie war fünf Jahre alt, als Paris von der preußischen Armee überwältigt wurde. Bei den Nonnen des Quartiers lernte sie notdürftig Lesen und Schreiben und mußte mit zwölf Jahren Geld verdienen — eine Gestalt aus dem Märchenbuch. Wie hat sie es geschafft, ohne Hilfe, ohne Ausbildung etwas aus sich zu machen? Sie erlebte Armut, Krieg und Nachkriegselend, wuchs auf im Industriezeitalter, ohne es zu durchschauen, und wurde Künstlerin aus eigensinnigem, ihr selber vielleicht unerklärlichem Drang. Eine Frau in diesem Milieu - Toulouse-Lautrec hat das in unzähligen Phasen dargestellt — brauchte all ihre körperlichen und seelischen Kräfte, um sich durchzusetzen, und wurde von manchem Mann dennoch nur aus künstlicher Ritterlichkeit anerkannt. Gewiß, Suzanne wurde begehrt und geliebt und verstand es, sich das
zunutze zu machen. Einer, der sie verehrte, als er Pariser Kunststudent und sie schon eine alte Dame war, hat einfühlsam über sie geschrieben und ist, glaube ich, der Wahrheit oft nahe gekommen. Er mühte sich, ihr Anekdoten zu entlocken, Typisches aus ihrer Vergangenheit, Ansichten über Zeitgenossen, und man spürt, sie hat ihm gern etwas erzählt, sich auch mal lustig über ihn gemacht und ihm einen Bären aufgebunden. Er nennt sie eine bedeutende Künstlerin zwischen Impressionismus und Fauvismus, eigenständig, keine Epigonin. Sicher ist: Sie war eine Emanzipierte, die das heute so strapazierte Wort nicht gekannt hat. Identifizieren kann ich mich nicht mit ihr, ich darf es nicht. Sie ein vaterloses französisches Gassenkind — ich eine Deutsche aus bürgerlichem Hause, behütet, mit guter Schulbildung. Zwischen unseren Geburtsdaten 47 Jahre und zwei Kriege, in denen unsere Länder einander haßten und bekämpften. Da kann nichts nachempfunden werden, ernsthaft mußte ich untersuchen, wie ein Mensch, eine Frau, vorwiegend eine Frau, in ihrem Land und ihrer Zeit etwas aus sich machen konnte, und woher sie den Mut nahm. Was war helfend, was störend? Was war zu erreichen, was war unmöglich? Was ergab der Gegensatz zu Künstlern aus wohlhabenden Familien, die Schulen besuchten und erzogen wurden? Wie konnte sie den unehelichen Sohn fördern, für den sie sich allein verantwortlich fühlte? Ihr Maurice wurde berühmt. Schwer zu ergründen, wieweit das ihr Verdienst war, und ob es richtig war, daß sie keinen seiner möglichen Väter gelten ließ, nicht einmal Miguel Utrillo, den hochbegabten, sympathischen Katalanen, der dem Jungen freiwillig seinen Namen gab. Suzanne muß vital und tüchtig gewesen sein, schlau und von schneller Auffassungsgabe, egoistisch und herrschsüchtig, aber auch liebevoll und verstehend. Sie war leidenschaftlich und sinnlich, konnte leichtsinnig sein aus Lebenshunger und vernünftig aus Einsicht und Sensibilität. Einige spätere Selbstbildnisse runden den Eindruck ab. Sie kümmerte sich nicht darum, was über sie geredet
wurde, und war so kraftvoll, mit vierzig den zwanzig Jahre jüngeren Andre Utter zu heiraten. Sie konnte großzügig und aufrichtig sein, aber auch von Herzen trotzig, und sie hat Andre aufgegeben, als sie merkte, daß sie ihn nicht mehr halten konnte. Das Malen gab sie niemals auf. Sie soll selten in Museen gegangen sein und von keinem ihrer Malerfreunde Rat angenommen haben, und Degas, der stets ihre „boshaften und geschmeidigen Zeichnungen“ lobte, hat sie wegen ihres Eigensinns ,,terrible Maria“ genannt. Toulouse-Lautrec, nur ein Jahr älter als sie, war schon ein Könner, als sie sein Modell wurde und mit ihm arbeitete. Gezeichnet hat sie, wie sie in Interviews gesagt hat, „schon immer“, aber heimlich, weil ihre Mutter dagegen war. Für nichts interessierte sie sich so wie für den nackten Menschen, in jeder Pose, auch in lächerlicher, auch verkrampft oder gelöst oder spielend, auch selbstvergessen oder schlafend oder sich die Zehen abtrocknend, ein Novum bei einer Künstlerin der Belle Epoque.
Ein weiblicher Toulouse-Lautrec war sie nicht Das gefiel Toulouse-Lautrec, und er hat sie zum Malen mit Öl angeregt und hat viel für sie getan — so steht es in einem der vielen Bücher über ihn —, sie aber habe ihn „schamlos ausgenützt“. Der unglückliche kleine Mann, der Häßlichkeit so wunderbar darstellen konnte, war selber häßlich und litt schwer, weil er nicht geliebt wurde. Nicht, wie er es wünschte. Suzanne wird da wie viele andere gewesen sein: eine Frau, die ihn mochte, seine Kunst bewunderte und nicht bei ihm blieb. Ein weiblicher Toulouse-Lautrec war sie nicht, auch keine folgsame Schülerin von Puvis de Chavannes, dem so viel älteren, dem sie manches verdankte. Ihre Erfahrungen, ihre Wandlungen, ihre Fehler wollte sie für sich allein machen. Sie war nicht ,groß', und nach all meinen Bemühungen, sie zu verstehen, weiß ich
bis heute nicht, ob ihr daran gelegen war, eine große Künstlerin zu sein. Möglicherweise nicht. Degas, der Intellektuelle, der Grandeur überflüssig fand, mag sie darin beeinflußt haben. Außerdem'wollte sie sich von ihrer Kunst nicht abhalten lassen, zu leben, zu lieben und zu genießen, und wollte dennoch nicht etwa aufhören zu malen. Niemals. Sie beendete ihr letztes Bild im April 1938, kurz bevor sie starb. Suzanne ist nicht ihr Leben lang arm gewesen. Mit dreißig heiratete sie einen Bankier, der ihr ein Landhaus baute und ihr mit Maurice und Grand-mere ein Leben im Wohlstand verschaffte. Paul Moussis, über den sehr wenig bekannt ist, außer daß er reich, freundlich und gutmütig war und Suzanne liebte, ließ sie dennoch gehen, ohne es ihr allzu schwer zu machen, als sie begriff, wie wenig sie zur Bankiersgattin taugte. Sie soll nie über ihn gesprochen haben, obwohl sie später gern aus ihrem abenteuerlichen Leben erzählte; Freunde, Kunstschriftsteller und Journalisten haben eine Menge sehr unterschiedlicher Anekdoten überliefert. Sie erzählte nach Lust und Laune und schmückte aus. was ihr in Erinnerung gerade lebendig wurde. So das Geheimnis um ihre Herkunft: Ein begabter Mann ist er jedenfalls gewesen, der große Unbekannte, der mich erzeugte! Oder die Geschichte, wie sie vierzehnjährig in einem kleinen Zirkus als Akrobatin auftrat, eine Geschichte, von den Freunden bestaunt und mit Variationen weitererzählt. Oder die Story, wie sie mit siebzehn zur Schwangerschaft gekommen sei: In irgendeiner Tanzdiele habe es gebrannt, und sie sei in die Arme irgendeines Malers geflohen, der betrunken war und ihr nicht besonders sympathisch . . . Ein buntes Leben. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts verdiente sie zusammen mit Maurice und Andre so viel, daß sie sich in der Nähe von Lyon ein altes Schloß kaufen konnten, wo sie im Sommer wohnten, arbeiteten und feierten. Viel Beaujolais grand cru ist da geflossen, es gab Krebse und Forellen aus den Wildbächen und getrüffelte Jagdfasane, und die Gemüse, das Obst und den
Käse der Bresse. Pariser Künstler, Kunstfreunde und Kunsthändler und selbst der Ministerpräsident Edouard Herriot kamen zu den Festessen der „Duchesse Suzanne“, die sich nun teure Garderobe leistete, ihre Lieblingshündin auf dem Astrachanmantel schlafen ließ und sich einen Wagen mit Chauffeur hielt, um zwischen Montmartre und Saint-Bernard hin und her zu fahren. Solche Mitteilungen haben mich zunächst verwirrt, sie paßten nicht in mein Konzept. Ich fand sie in zeitgenössischen Berichten und dem biographischen Roman eines Amerikaners mit dem deutschen Namen Storm. Dieser Journalist, mir sympathisch wegen seiner Genauigkeit und seiner offensichtlichen Liebe zur Pariser Kunstwelt, hat ernsthaft recherchiert und viele Leute befragt, die die Valadon noch gekannt haben. Auch darum nahm ich mir vor, nach Paris zu fahren, Hauptziel Montmartre, um den einst spektakulären, relativ unbekannten Spuren einer interessanten, nicht weltberühmten Malerin nachzugehen. Auf der ,,Butte“, ganz nahe an der Sacre-Coeur, gibt es ein kleines Hotel, vor etwa hundert Jahren Wohnhaus einer wohlhabenden Familie. Die Patronne, klein, flink, freundlich und verständnisvoll, bringt mir nicht nur das Frühstück ans Bett, sondern auch einen Ortsplan des Quartiers mit Hinweisen und Pfeilen und erzählt mir viel zu schnell, was ich wissen soll, und ist so geduldig, mir alles zum zweiten Mal zu erklären, etwas langsamer. Sie sagt mir, wie ich in die Rue Cortot komme, einfach um die Kathedrale herum, dann rechts und dann links, dort hat die Valadon viele Jahre lang ihr Atelier gehabt, auch später noch, als sie die Duchesse Suzanne gewesen ist. Beklommen drehe ich den Türknauf des Holztors in der Rue Cortot Nr. 12 und bin in einem Hof, der sich seit damals nicht sehr verändert zu haben scheint. Die Concierge (nicht unfreundlich und nicht schlampig) fragt mich, wen ich suche. Suzanne Valadon? Die gibt es längst nicht mehr. Madame Vertex, die schon lange das Atelier bewohnt, hat sie noch gekannt, aber die wird
Sie nicht hineinlassen, Madame, es tut mir leid. Warum nicht? Sie ist ein bißchen schwierig geworden, sagt die Frau vorsichtig, und sie hat zu viele Mitbewohner dort oben - zwei Hunde, drei Katzen, eine Eule und eine einbeinige Ringeltaube . . .
Ich beschließe, meine Phantasie in Gang zu setzen Wirklich, ich komme nicht hinein, auch ein andermal nicht, und nicht das dritte Mal. Vergebens schleiche ich die schmalen, steilen Holztreppen hinauf, klingle und klopfe vergebens. Ich gehe wieder und beschließe, meine Phantasie in Gang zu setzen, in der Kindheit und Jugend der MarieClementine, als sie selbst noch nicht wußte, was aus ihr würde. Da habe ich in Gedanken das heutige Montmartre von Touristenomnibussen, Andenkenkitsch und Snackbars befreit und das damalige Dorf mit einfachen Leuten bevölkert, mit Marktfrauen, Kutschern und kleinen Gastwirten, die so oft anschreiben und Betrunkene rauswerfen mußten, mit Gassenkindern und ihren Müttern, die von früh bis spät für die Familie schufteten, mit Midinetten und verrückten Künstlern, die hintereinander her waren und Samstags tanzen gingen zum Moulin de la Galette. Von der Valadon habe ich die ersten originalen Bilder gesehen, als ich mit ihrer Gestalt schon längst vertraut war. Indirekt hat sie mich schließlich in die Galerie Petrides geführt, von der ich eigentlich vermutet habe, es gäbe sie nicht mehr. Paul Petrides, Grieche von Geburt und Wahl-Pariser, gelernter Herrenschneider und geborener Kunsthändler, hat als junger Einwanderer Suzanne kennengelernt und zu Suzannes 100. Geburtstag 1965 das Vorwort zum Ausstellungskatalog geschrieben. Zu meiner Begeisterung fand ich nicht nur die Galerie Petrides in der Innenstadt von Paris, sondern auch eine Sammlung von Valadons und Utrillos, wie erträumt, und einen
Œuvre-Katalog meiner Malerin, der zum Staunen ist — 649 Zeichnungen und Ölbilder sind darin beschrieben, und alle sind abgebildet. Auf Bütten. In nachtblauem Ledereinband. Ich bin keine Fetischistin und war doch ungewöhnlich angerührt. Noch dazu habe ich außer Petrides, der jahrelang mit Suzanne und Maurice befreundet gewesen ist, auch seine Mitarbeiterin, Jeannette A., kennengelernt, Valadon-Freundin wie ich und somit auch meine Freundin. Viele Abende reden wir über Suzanne, ihre Kunst, ihren Charakter und ihren wunderbaren Eigensinn, und wir suchen gemeinsam oder umschichtig nach Material, schreiben Briefe und telefonieren, wundern uns manchmal über unsere eigene Hartnäckigkeit und sagen uns immer wieder: es lohnt sich bestimmt. Wir lassen nicht locker. Am 2. November 1980, am Sonntag Allerseelen, an dem die Pariser ihre Friedhöfe schmü cken, stellen wir eine goldgelbe Chrysantheme auf Suzannes ansonsten verwahrlostes Grab, geben ihr Wasser, stehen frierend ein paar Minuten da und sind froh. Nein, wir sind nicht fertig mit dieser Malerin. WVf Zu den Abbildungen: S. 33 Suzanne Valadon (1865-1938), Selbstbildnis, 1883. Pastell, 45 x 32 cm. Musees Nationaux, Service de documentation photographique de la Reunion des musees nationaux; S. 35 Sacre-Cceur. 1916. Öl/Lw., 63 x 53 cm. Musees Nationaux, Paris. Service de documentation; S. 37 Das blaue Zimmer, 1923. Öl/Lw., 90x116 cm. Centre Pompidou Paris. Foto: Bulloz, Paris; S. 39 Stilleben mit Geigenkasten. 1923. Öl/Lw., 81 x 100 cm. Musees Nationaux, Paris, Musee d'Art Moderne. Foto: Bulloz, Paris; S. 40 Familienporträt, (Detail). Zeichnung, 80 x 61 cm. Galerie Petrides; Miguel, 1891. Rötelzeichnung, 26,5 x 17 cm. Galerie Petrides; S. 41 Familienporträt, 1912. Öl/Lw., 97 x 73 cm. Musees Nationaux. Foto: Bulloz, Paris; S. 42 Garten Rue Co rtot Nr. 12, 1922. Öl/Lw., 1 1 7 x90cm. Galerie Petrides; Foto: Daniel Gely; S. 43 Das Bad, 1908. Rötel und Bleistift, 30 x 29 cm. Galerie Petrides; S. 44 Selbstbildnis, 1916. Öl/Lw., 46 x 38 cm. Galerie Petrides. Foto: Daniel Gely; Schwarzweißfotos: Galerie Petrides, Archiv der Autorin Zsolnav \'erlag. Bildrechte bei Galerie Petrides, Paris, und SPA DEM, Paris, sowie Cosmopress, Genf. Die Zitate in den Bildlegenden sind dem Buch ,,Montmartre - Das Le ben Suzanne Valadons, der Mutter Utrillos“ entnommen, das beim Paul Zsolnay Verlag, Wien Hamburg, erschien (226 S.. teils farbige Abb., Linson 31,50 DM).