Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 1
S
ie waren Brüder und zugleich eine eingesch...
16 downloads
437 Views
682KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 1
S
ie waren Brüder und zugleich eine eingeschworene Gemeinschaft. Parsus, der älteste, ging auf die fünfzig zu. Sein Körper zeigte sich groß. Er besaß breite Schultern, einen fast rechteckigen Kopf, schmale Augen mit vollen Brauen, eine breite Nase und volle Lippen. Das glatte schwarze Haar hielt er stets zum langen Zopf geflochten. Elonar, fünf Jahre jünger, sah ihm etwas ähnlich. Nur seine Augen wirkten wacher, zeigten sich nicht so schmal. Der jüngste von ihnen, man nannte ihn Ferdenes, war weniger kräftig. Er stand in seinem neununddreissigsten Jahr und obwohl er genau wie seine Brüder hart in der Ölmühle arbeitete, die sie vom Vater erbten, blieb seine Haut doch weniger rissig und seine Hände weich. Die Brüder spotteten oftmals gutmütig, weil er sich mit dem gewonnenen Öl pflegte. Sie leisteten harte Arbeit. Ihre Mühle stand etwas abseits der kleinen Siedlung Clys. Wenige Wegstunden entfernt begannen die Mangrovensümpfe, wo arme Leute in mühseliger Arbeit die klebrigen, ölhaltigen Samen der immergrünen Bäume ernteten; stets gefährdet durch blutsaugende Sumpffliegen oder lauernde Aligatoren, die nur darauf hofften, daß einer der Menschen von einem Ast stürzen möge. Leicht gaben die Früchte ihr Öl nicht frei, zumal ihre Schale fast hart wie Stein den kostbaren Kern umgab. Und doch bildete das Mangrovenöl eine Hauptgrundlage der Ernährung im Königreich Moras. Die Brüder verdienten nicht schlecht an ihrer Mühle, wenngleich sie nie auf Reichtum hoffen durften. Doch sie hatten einen Traum! Schon der Vater träumte von nichts anderem, als einmal einen Flammenden Kristall zu besitzen und dann dessen Geheimnis zu erfahren. Abends saßen die Brüder oft lange beim düsteren Schein einer Harzkerze und sprachen darüber. Manchmal aber war Ferdenes des Träumens müde. "Es würde gar nichts nützen, einen Flammenden Kristall zu haben," klagte er dann, "sein Geheimnis kennt allein Amarra. Unser Volk würde kaum diese Kristalle an die Priesterinsel verkaufen, wenn es einen Weg gäbe, sie selbst zu erwecken." "Warum sollte uns unmöglich sein, was Amarra kann?" wollte Elonar dann regelmäßig wissen. Und immer war es Parsus, der den kleinen Bruder dann in einer langatmigen Rede
belehrte: "Vor etwas mehr als dreihundert Jahren war Amarra nichts weiter als eine zwar schöne, aber machtlose Insel, auf die sich Spinner und Eigenbrötler zurückzogen, um dort nur ihren Göttern zu leben und möglichst keine Arbeit zu tun. Es gelang ihnen dann irgendwie, einen der ihren als den stärksten Geist der Menschen glaubhaft zu machen. Sie nannten ihn den 'Than', huldigten ihm wie einem Gott und bewogen die Herrscher der sieben Reiche, sich diesem Mann völlig zu unterwerfen. Seither sind alle Könige auch Priester, dienen Amarra und wagen es nicht mehr, Kriege zu führen und auf Eroberung zu gehen; aus Furcht, der Than könne sie dafür bestrafen. Nur Moras begehrte zunächst auf. Es war wohl ein Zufall, daß unser damaliger Herrscher einen Sumpfkristall bei sich hatte, als er auf Amarra mit dem ersten Than rechtete. Der nahm ihm den Kristall ab und am folgenden Tag gab er ihn zurück. Aber nun war es nicht mehr nur ein schöner Stein, sondern ein Flammender Kristall, der einen gleichmäßigen Lichtschimmer verbreitete. Moras Herrscher unterwarf sich dem Than. Seither trotzt unser Volk unter Lebensgefahr die Kristalle den bösartigen Sumpflöchern ab, verkauft sie billig nach Amarra und ist damit zufrieden. Auf eine Art, die mir nicht bekannt ist, werden die Steine dort erweckt. Plötzlich sind sie sehr wertvoll und werden für Unsummen an die Reichen der Länder verkauft." "Das weiß ich ja alles," wehrte sich Ferdenes, "aber ich weiß auch, daß nur auf Amarra das Licht in die Steine gebunden werden kann. Ich habe gehört, daß es besonders erwählte Priesterinnen der höchsten Gottheit Antares, der Göttin des Lichts, seien, die diese Aufgabe vollbringen. Man sagt sogar, daß sie Jungfrauen sein müssen." "Vater meinte immer, daß jeder Mensch die Kristalle erwecken könne, wenn er nur die richtigen Formeln weiß," murmelte Elonar nachdenklich, "und wenn man die Art des Lichtes versteht, die in den Steinen ist." "Er hat mir viel darüber beigebracht," versicherte Parsus, "ich bin davon überzeugt, daß es möglich ist. Aber wir müssen erst einmal einen erweckten Kristall haben, um die Art seines Lichtes zu begreifen. Versteht doch, Brüder! Sobald wir selbst diese Kristalle erwecken können, sind wir reich. Und nicht nur das: wir werden auch angesehen sein. Der König wird uns in seine Burg holen, wo unser Leben endlich angenehmer sein wird. Ich habe keine Lust, bis ans Ende meiner Tage diese verdammten Ölsamen aufzubrechen." "Ich auch nicht," versprach Ferdenes sofort, "ich würde alles tun, um hier wegzukommen. Ich wäre schon froh, wenn ich wenigstens einmal eine richtige Stadt sehen könnte. Clys ist doch wirklich ein verfluchter Ort."
G
enau dieser Ansicht war auch ein anderer Mann. Er kam vor nicht ganz vier Jahren in diese kleine Siedlung, trug abgetragene, leicht zerrissene Kleidung und war völlig mittellos. Er wurde in Moras geboren, allerdings viel weiter östlich. Aber er fühlte sich nicht mehr heimisch in diesem Land. Ehe er nach Clys kam, lebte er zwölf
Jahre im Königreich Nodher; doch niemand wußte davon. Es war ihm verboten, von Vergangenem zu sprechen. Als er in Clys ankam, ging er zielstrebig zum Haus des Arztes Mernaos und bot diesem seine Dienste an. Mernaos war damals fünfundzwanzig Jahre alt; zwanzig Jahre jünger als er selbst. Er neigte zur Fettsucht, trank zuviel, versah seine Aufgabe mehr als nur mangelhaft und forderte doch unverschämte Preise für seinen Dienst. Der Fremde beantwortete ihm keine Fragen nach seiner Herkunft. "Mein Name ist Orales," erklärte er selbstbewußt, "mehr braucht ihr über mich nicht zu wissen. Ich kenne die heilkräftigen Pflanzen und weiß manche Krankheit zu bekämpfen. Wollt ihr meinen Dienst, bekommt ihr ihn sehr billig. Ich fordere für mich nichts weiter als eine Kammer zum Schlafen, Nahrung und, wo erforderlich, Kleidung." Mernaos nahm dieses Angebot sofort an. Zunächst übertrug er Orales nur die Pflege und Heilung von kranken Frauen. In Moras galten Frauen im allgemeinen nicht sehr viel und wenn der Fremde hierin versagte, war das nicht weiter schlimm. Doch er leistete gute Arbeit und so konnte ihm Mernaos nach und nach jede Aufgabe übertragen. Der junge Arzt, der diesen Namen kaum verdiente, arbeitete bald gar nichts mehr. Er trieb lediglich noch den Lohn für Orales' Bemühungen ein, den er dann für zu fette Speisen und alkoholische Getränke ausgab. Orales erhielt von ihm nie auch nur einen einzigen Solar und nicht selten mußte er sich mit den Überresten der Speisen zufrieden geben, die Mernaos trotz seiner Gier nicht mehr in sich hinein stopfen konnte. Doch Orales beklagte sich nie darüber. Oft wurde ihm sein Dienst fast zuviel, fand er doch nicht selten kaum ausreichend Schlaf. Vor allem während der Zeit der heißen Nebel gab es für ihn keine Ruhe. Das Sumpffieber forderte seinen Tribut und jeder Heiler in Moras arbeitete dann bis zur Erschöpfung. Im Moment war es etwas ruhiger. Die kalten Nebel endeten erst und die Arbeit Orales' beschränkte sich auf Geburtshilfe und die Behandlung von Alterskrankheiten. Er stand neben der Tür des Arzthauses und starrte blickleer vor sich hin. Es herrschte völlige Dunkelheit. In den Nebelreichen kannten die Menschen keine Gestirne. Ihre Welt blieb eingehüllt von undurchdringlichem Nebel, der sich bei Tage weit hob und freie Sicht gewährte; bei Nacht hingegen das Land völlig einhüllte und ihm zugleich so alle notwendige Feuchtigkeit brachte. Es gab weder Regen noch Gewitter, doch die Reiche erhielten durch den ewig pulsierenden Nebel alle Fruchtbarkeit. Orales liebte diese dunkle Stunde. Reglos stand er, vom feuchten und noch kühlen Nebel eingehüllt. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Einst war er ein Priester, ein hoher Eingeweihter des Lichtes. Er herrschte als Falla, als oberster Herr, im Lichttempel dieses Reiches über mehr als dreihundert Menschen. Sein Weg führte ihn dann nach Nodher, wo er die Liebe und Freundschaft König Aristons gewann, den er selbst zu den priesterlichen Weihen führte. Er seufzte beim Gedanken an den fernen Freund. Orales verzehrte sich in der Sehnsucht nach Ariston und dessen Gemahlin Cynesta, die er beide liebte und von denen er sich geliebt wußte. Er dachte auch an Gerrys, den Falla des dunklen Gottes Raaki, der in Nodhers Schwarzem Tempel herrschte.
Vor knapp vier Jahren geriet Gerrys in die Hände von Magiern, die sein Leben bedrohten. Zusammen mit Ariston machte sich Orales auf den Weg, um den Freund im Königreich Sion zu befreien. Sie gingen fehl, suchten an falschem Ort. Ein telepathischer Befehl des Than wies damals Orales an, nicht weiter nach Gerrys zu suchen, sondern dessen Bruder Attor, der ebenfalls, wenn auch aus anderem Grund, gefangen lag, zu Hilfe zu eilen. Orales verweigerte damals dem mächtigsten Mann der Reiche den Gehorsam! Gerrys fand Rettung durch den Than Nymardos selbst und als Orales dem Than begegnete, wurde er für seine Weigerung hart verurteilt. Der Than sperrte ihm die Weihen, nahm ihm jede priesterliche Macht und begrenzte darin die Kraft seines Geistes. Er verbannte ihn in diese Siedlung, befahl ihm, Mernaos zu dienen und verbot ihm, über Vergangenes auch nur zu sprechen. Seit fast vier Jahren ertrug Orales nun jede Demütigung, arbeitete er wie ein Sklave und nahm er sogar die Hiebe hin, die Mernaos ihm manches Mal gab. Und seine Buße endete erst nach weiteren sechs Jahren. Er stöhnte. Orales war kein Schwächling. Von kräftiger Statur und breitem Körperbau taugte er durchaus auch zu schwerer Arbeit. Er verstand es, den Degen zu führen, war belesen und gebildet. Sein kantiges Gesicht zeigte sich tief gebräunt; die schmalen Lippen und schmalen Brauen ließen ihn fast edel erscheinen. Das braune Haar trug er gebunden. In den Nebelreichen durften nur Menschen der Macht ihr Haar offen tragen. Als Falla stand ihm dies zu, auch als Pala, als vertrautester Freund von Nodhers Herrscher. Doch nun besaß er keine Macht mehr. Er fühlte sich verlassen, einsam, verloren. Ob die Freunde noch an ihn dachten? Und wenn, würden sie ihn nach zehn Jahren Verbannung noch willkommen heißen, noch lieben, ja, noch erkennen? Doch er haderte nicht mit seinem Schicksal. Er hatte gegen den Than aufbegehrt und dieses Urteil verdient. Im Grunde verwirkte er damals sein Leben und wenn er seine jetzige Existenz auch nicht wirklich als Leben bezeichnen wollte, so konnte er doch immerhin noch für manche Menschen nützlich sein. Das mußte ihm genügen. "Komm' ins Haus," rief ihn Mernaos mit seiner immer wässerigen, fast weinenden Stimme aus seinen Gedanken, "ich langweile mich. Lies mir ein wenig vor." Und als Orales sich ihm fügte, meckerte er darüber, daß sein Gehilfe so faul sei. "Du bist dein Futter nicht wert," klagte er in selbstmitleidigem Bedauern, "es sind kaum mehr Wundsalben da. Rühre welche an und vergiß nicht, die Tinkturenvorräte zu ergänzen. Träumen kannst du ein anderes Mal." Orales fügte sich wortlos seinen Anweisungen. Es lag ein gewisser Sinn darin, ausgerechnet diesem verweichlichten Schlemmer dienen zu müssen. Der Than sagte ihm bei seiner Verurteilung, daß Mernaos in jeder Beziehung nichts tauge und er unterstellte ihn diesem Mann, dem er nun noch weitere sechs Jahre zu gehorchen hatte. Es wäre fürwahr einfacher gewesen, dem Than Folge zu leisten. Der Than Nymardos war nun vierunddreissig Jahre alt, und in jeder Beziehung ein aufrechter Mann, der seine Macht nicht unverdient erhielt. Ihm zu dienen, war schuldige Pflicht; vor allem aber nie demütigend oder sinnlos. Mernaos' Befehle hingegen besaßen selten Sinn. Orales rührte Wundsalben an, obwohl diese durch Lagerung an Heilkraft
verloren und filtrierte Tinkturen in dem Wissen, daß dies bedeutend sinnvoller wäre, wenn auf das Aufblühen neuer Kräuter gewartet würde.
Z
wei Tage später kam der Besitzer der Ölmühle zu Mernaos und verlangte ärztliche Hilfe für seinen Bruder Elonar, der in die Hände von Wegelagerern fiel und verwundet wurde. Der Arzt befahl Orales, zur Mühle zu gehen, da er sich gerade nicht sehr wohl fühle. In Wirklichkeit war er betrunken, doch er fand stets Gründe, die Arbeit Orales zu übertragen. Elonar stierte wie im Fieber zur Decke des kleinen Raumes, in den er gebettet lag. Vorsichtig zog Orales die Decke fort. Eine kleine, doch tiefe Wunde in der Seite des Mannes hatte sich schon entzündet. Eitriger Gestank erfüllte die Luft; durchs geöffnete Fenster sirrten winzige, blautsaugende Fliegen herein. "Fenster zu," befahl Orales sofort, "schlagt die Biester tot. Wenn sie an die Wunde gelangen, ist euer Bruder verloren. Es sieht ohnehin übel aus." "Befiel mir nichts," fauchte Parsus, "du wirst für deine Arbeit bezahlt." Orales sah ihn finster an, doch er verschloß selbst das Fenster und vernichtete die Insekten. Elonar stöhnte auf. Da hieb Parsus dem Arzthelfer die Faust in die Magengrube. "Tu' endlich 'was!" schrie er. "Ich bringe dich um, wenn er stirbt." Orales beherrschte den Impuls, Parsus die gebührende Antwort zu geben. Er war hier, um gedemütigt zu werden und er hatte solche Behandlung zu dulden. Sollte er gegen sein Schicksal aufbegehren, das versprach ihm der Than mit deutlichen Worten, fand er den Tod. "Ich brauche Feuer," sagte er darum in mühsam bewahrter Gelassenheit, "ich muß die Wunde ausbrennen." "Das wirst du nicht tun," widersprach Parsus sofort, "dabei krepieren die meisten. Hast du keine Salben dabei?" Orales sah auf. Er überragte Parsus um halbe Haupteslänge und wirkte mit einem Mal sehr stark. "Wenn ihr besser wißt, was eurem Bruder hilft, dann tut, was euch beliebt." Er wandte sich um und ging zur Tür. "Warte," hielt ihn Parsus rasch zurück, "ich hole eine Kerze." "Ich brauche mehr Feuer," lehnte Orales ab, der sich wieder über den Verletzten beugte, "bringt mir ein Becken mit Torffeuer und viel Feuervorrat. Ich brauche Hitze, nicht Wärme. Das Ausbrennen der Wunde ist nur dann tödlich, wenn die Klinge nicht völlig durchglüht wird." Parsus gab ihm nach, entfernte sich und besorgte das Verlangte. Inzwischen kam Ferdenes ins Zimmer. Er wurde blaß, als er den mit dem Tode ringenden Bruder sah.
Fast verzweifelt sah er Orales an. "Kannst du ihm helfen?" Orales hob die Schultern ein wenig an. "Ich weiß es nicht," gab er zu, "die Wunde ist entzündet und außerdem sehr tief. Wenn die Lunge verletzt wurde, ist eurer Bruder nicht mehr zu retten." "Verdammtes Räuberpack," flüsterte Ferdenes hilflos. Orales schwieg. In Clys galt sein Wort und seine Ansicht nichts. Er blieb ein Außenseiter, dessen Dienst man zwar annahm, dem man aber weder Achtung noch Respekt entgegen brachte. Parsus und seine Brüder lebten für die Verhältnisse hier fast wie reiche Menschen und wurden sehr geachtet. Gegen ihr Wort konnte das seine nie etwas gelten. Doch Orales machte sich seine Gedanken. Die Wunde wurde weder von einem Dolch noch von einem Säbel verursacht, sondern von einem Degen. Und in allen Reichen trugen nur einflußreiche Menschen den Degen; Offiziere, Herrscher, Menschen der Macht oder solche, die zumindest das Wohlwollen der Mächtigen besaßen. Wer immer Elonar verletzte, es konnte kein gewöhnlicher Räuber gewesen sein. Orales nahm an, daß Elonar einen Reisenden überfiel, aus irgendeinem verborgenen Grund, und daß dieser sein Leben so teuer wie möglich verkaufte. Es war kein Problem, im Königreich der Sümpfe einen Leichnam auf immer verschwinden zu lassen. Was die Sumpflöcher, von denen es eine Unmenge hier gab, besaßen, das gaben sie freiwillig nicht mehr her. Elonar schrie bestialisch auf, als Orales' glühende Klinge die Wunde ausbrannte. Dann fiel er bewußtlos zurück. Orales hustete. Der Gestank des verbrannten Fleisches raubte ihm fast den Atem. Dies besserte sich erst, als er wohlriechendes Harz ins Feuer streute, dessen Duft den Raum reinigte. Er wünschte, noch immer im Besitz seiner priesterlichen Kraft zu sein. Dann wäre es ein Leichtes, diesen Mann zu retten und die Heilungsenergien seines Körpers zu der Wunde zu lenken. So aber mußte er sich mit den mangelhaften Hilfsmitteln zufrieden geben, über die er verfügte. Er salbte die Wunde und legte einen straffen Verband an. "Euer Bruder sollte sich nicht bewegen," erklärte er Parsus dann, "haltet weiterhin das Fenster geschlossen. Gebt ihm nur leichte Nahrung, möglichst in flüssiger Form. Ich lasse euch Kräuter hier, aus denen ihr ihm Tee brauen müßt. Morgen komme ich wieder und erneuere den Verband." "Überlebt er?" "Bittet Minosante, den Gott der Kraft, darum. Die Zukunft eures Bruders wird sich in etwa drei Tagen entscheiden." "Welchen Lohn bekommst du?" Orales grinste nachlässig. "Ich stehe im Dienst Mernaos'," erwiderte er, "fragt ihn danach." Nach kurzem Gruß verließ er die Brüder.
P
arsus jubelte auf. Er packte Ferdenes bei den Schultern und wirbelte ihn im Raum herum. Daß Elonar mit dem Tode rang, schien ihn nicht weiter zu bekümmern. "Wir haben es geschafft," jauchzte er, "Brüderchen, wir haben gewonnen. Elonar hat uns einen Flammenden Kristall gebracht." Ferdenes löste sich heftig von ihm. "Er stirbt und du freust dich," klagte er, "ist so ein verdammter Stein diesen Preis wert?" "Er kommt schon durch," hoffte Parsus. "Bleib' du bei ihm und kümmere dich um ihn, ja? Ich werde versuchen, den Kristall zu verstehen." "Wie willst du das machen?" Parsus lachte. "Ich probiere der Reihe nach alle Möglichkeiten durch, die Vater in Erwägung zog. Störe mich nicht dabei, Ferdenes. Ich muß mich sehr konzentrieren." Als sich am Morgen die Nebel langsam hoben, hatte Parsus aber das Geheimnis des Lichtes in dem Kristall noch immer nicht ergründet.
A
m folgenden Tag stand die Mühle still. Parsus kämpfte um ein Verstehen; sprach magische Formeln, zeichnete seltsame Symbole um den Stein, spiegelte ihn in Feuerschein und tauchte ihn in verschiedene Essenzen. Völlig übermüdet schlief er bei seinem Tun ein. Seine Stirn fiel auf den Flamenden Kristall, dessen nicht sehr intensives Licht in des Tages Helligkeit unterging. Der Kristall besaß Faustgröße, zeigte sich als monoklines Prisma. Er gehörte zweifellos zur unteren Preisgruppe, denn sein Licht übertraf das einer Kerze kaum; nur war es gleichmäßiger und sanfter. Daß Elonar einen Mann tötete, um diesen Stein zu bekommen, störte Parsus nicht. Er war der Verwirklichung seines Traumes endlich näher. Erschöpft gestaltete sich sein Schlaf sehr unruhig; Schatten spukten in ihm, dröhnender Lärm erfüllte seinen Geist. Dann verebbte dies und kurz tauchte ein Bild in ihm auf. Er sah die Lichtgöttin Antares als wunderschöne Frauengestalt, deren goldfarbenes Haar bis weit über ihre Hüfte fiel. Sie trug keine Kleidung und strahlte eine majestätische Kraft aus. Als schreite sie in einen Badesee, so ruhig ging sie in den Flammenden Kristall hinein, der sie aufnahm, ihr Bild verwischte und sogleich in strahlendem Licht aufleuchtete. Es ging sehr schnell, blieb völlig geräuschlos. Parsus erwachte verwirrt. Das Bild, das er empfing, suchte, sich seinem Bewußtsein zu entziehen, in die Dunkelheit des Vergessens zu sinken. Parsus zitterte, als er es gewaltsam festhielt. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Doch er vergaß dieses Traumbild nicht, hielt es in sich fest und ahnte nun die Lösung seiner Fragen. Er rief den Bruder zu sich. "Ferdenes," erklärte er, "ich weiß jetzt, wie die Kristalle erweckt werden. Und du hattest recht, Bruder. Man braucht eine Jungfrau dazu."
Ferdenes verstand nicht sofort. Parsus erzählte ihm seinen Traum, schmückte ihn aber dabei aus und gestaltete ihn zugleich als magische Handlung. Das beeindruckte Ferdenes. Plötzlich begeisterte auch ihn die Idee, die Erweckung der Kristalle nicht mehr Amarra zu überlassen. Seine dunklen Augen glühten wie in einem wahnsinnigen Feuer. "Woher nehmen wir eine Jungfrau, Parsus?" "Du wirst heiraten," entschied der Bruder, "deine Frau ist dann das Medium, über das wir das Licht erreichen." "Du bist verrückt," wehrte Ferdenes schwach ab, "wenn sie meine Frau ist, ist sie doch keine Jungfrau mehr." "Du rührst sie nicht an," bestimmte Parsus, "keiner tut es. Aber als deine Frau kann sie sich uns nicht widersetzen. Sie wird uns in allem gehorchen müssen. Außerdem," er grinste, "sie könnte uns auch den Haushalt versorgen. Kennst du Sittyra?" "Das ist doch noch ein Kind," erinnerte sich Ferdenes an das Mädchen, "sie trägt ja noch nicht einmal eine lange Tunika. Ich glaube, sie ist dreizehn Jahre alt, höchstens vierzehn." "Dreizehn," bestätigte Parsus, "und vor allem hat sie sehr langes, blondes Haar." "Bist du sicher, daß sich die Kristalle auch mit einem Kind erwecken lassen? Was ist, wenn Sittyra noch keine Blutung hatte? Vorher kann sie kaum als Jungfrau gelten?" "Es gibt Mittel, kleine Mädchen vor der Zeit bluten zu lassen," ließ Parsus diesen Einwand nicht gelten. "Und wenn ihr Vater sie mir nicht gibt, was dann?" Parsus lachte schallend. Seine Stimme klang nun sehr gemein und hinterhältig: "Er schuldet uns noch sieben Solare für die Ölgewinnung," sagte er, "eine Summe, die er nie auftreiben kann. Er wird froh sein, so billig seine Schulden loszuwerden. Ich gehe morgen zu ihm und übermorgen wirst du heiraten." "Und wenn ich nicht will, Parsus?" "Sei nicht dumm," bat der Bruder nun etwas sanfter, "du bist der Jüngste von uns und daher am ehesten zur Ehe tauglich. Wenn wir alles erreicht haben, läßt du dich von der Kleinen scheiden. Du verlierst nichts und wir gewinnen alle drei sehr viel." "Du weißt doch, daß ich in Clys ein Verhältnis habe." "Na und? Diesen Spaß verbietet dir doch keiner, Ferdenes. Im Gegenteil. Wenn du deine eigene Frau nicht anrühren darfst, wirst du häufiger zu deiner Hure gehen müssen. Am Geld soll es nicht liegen." "Einverstanden," gab Ferdenes nach, "dann spiele eben meinen Brautwerber. Aber vergiß nicht, daß du noch einen unerweckten Kristall auftreiben mußt, um Versuche anstellen zu können. Wo willst du den hernehmen?"
"Kein Problem," behauptete Parsus, "es gibt in Clys genug arme Schlucker, die ihr Leben riskieren werden, um über einen Kristall an ein paar Solare zu gelangen. Du wirst sehen: in Kürze konkurrieren wir mit Amarra selbst."
S
ittyras Vater überschlug sich vor Höflichkeit, als Parsus in seine Hütte kam. Obwohl ein armer Mann, bewirtete er diesen Gast doch mit allem, das er besaß. Er dienerte auf unterwürfigste Art und Weise und jammerte dabei unentwegt, da es ihm unmöglich war, seine Schuld zu begleichen. "Ich könnte dich vors Tribunal zerren und in Schuldarbeit zwingen lassen," drohte ihm Parsus hart. Der Mann warf sich vor ihm nieder, umklammerte seine Knie und bat verzweifelt um Gnade. Parsus kostete dieses Gefühl der Macht aus, demütigte den anderen und gab sich unbarmherzig, bis der sich so weit erniedrigte und ihm die Füße küßte. Parsus ließ ihn in dieser Lage. "Ich streiche vielleicht deine Schulden," meinte er dann in herablassendem Ton, "vorausgesetzt, Sittyra ist noch Jungfrau." Der Mann sah auf. In Moras war es nicht ganz ungewöhnlich, wenn die Frauen durch sogenannte Liebesdienste die Schulden ihrer Männer bezahlen mußten. "Rufe sie herein," befahl Parsus. Wenig später stand das Mädchen vor ihm. Sie wirkte hübsch, doch auf kindliche Weise. Ihr rundes Gesicht mit den großen Augen verstärkte den Eindruck absoluter Unschuld. Sittyra war recht klein, sehr schlank und auffallend blaß. Das blonde Haar wellte sich, nur lose gebunden, auf ihrem Rücken. Parsus betrachtete sie wie ein Stück Vieh, das er zu kaufen beabsichtigte und es störte ihn keineswegs, daß das Mädchen ihn fürchtete. Das Mädchen trug eine schmutzige, knielange Kindertunika, deren weiter Schnitt ihre Figur nicht gerade betonte. Parsus erkannte totzdem, daß ihr schmales Becken sie kaum zur Mutter einer großen Kinderschar bestimmte. Ihre kleinen, noch knospenden Brüste konnte er kaum erahnen. Doch er brauchte keine Bettgespielin, sondern einfach eine Jungfrau für ein magisches Werk. "Hatte sie schon eine Blutung?" wollte er von ihrem Vater wissen. Der Mann nickte heftig. "Letzte Woche die erste," erwiderte er rasch und anbiedernd, denn erst nach diesem Zeitpunkt galten die Mädchen als alt genug für sexuellen Verkehr. "Es war aber noch kein Mann bei ihr." "Du auch nicht?" forschte Parsus weiter, der durchaus wußte, wie gern in Moras die Väter ihre Töchter selbst entjungferten. "Nein, Herr," rief der Mann beschwörend, "überzeugt euch doch davon." Dazu ließ sich Parsus nicht zwei Mal auffordern. Er winkte Sittyra herbei, die
zögernd und angstvoll gehorchte. Das Mädchen schrie schmerzerfüllt auf, als er mit hartem Griff die Rechte an ihren Schoß legte und sich von ihrer Unberührtheit überzeugte. Parsus grinste. "In Ordnung," stellte er fest, "wir können ins Geschäft kommen." "Wie lange wollt ihr sie haben?" erkundigte sich der Mann vorsichtig. "Ich will sie gar nicht," erklärte Parsus nachlässig, "sie soll meinen Bruder Ferdenes heiraten." Sittyras Vater wich einen Schritt zurück. Er schüttelte abwehrend den Kopf. Seine Tochter war sein einziges Kapital und er hoffte, sie teurer zu vermählen. "Schuldarbeit oder sie," beharrte Parsus, "entscheide dich schnell." "Ich will nicht," flüsterte Sittyra nun, "ich mag nicht." Parsus lachte und versetzte ihr zugleich eine schallende Ohrfeige. "Du wirst nicht gefragt," entschied er. "Morgen früh versammeln sich hier die Dorfältesten und vor ihnen wirst du beschwören, Ferdenes aus freiem Willen zu nehmen und ihm den Liebeseid leisten." Sittyra erbleichte. Der Liebeseid nahm jedem, der ihn schwor, die Möglichkeit der Scheidung. Wer sich durch Liebe band, konnte die Verbindung nicht mehr lösen; während ohne diesen Schwur jede Ehe in den Nebelreichen sehr leicht gelöst werden konnte. Parsus erhob sich, ging zur Tür. Ehe er die Hütte verließ, drohte er noch: "Du würdest für die Kleine ohnehin nie mehr als drei Solare bekommen. Ich biete dir sieben, Mann. Morgen früh bist du deiner Schulden ledig - oder ich vernichte dich."
S
ittyra warf sich vor dem Vater auf die Knie und bat ihn um Gnade. Sie wußte zwar nicht, was sie von einem Gatten zu erwarten hatte, doch der schmerzhafte Griff Parsus' an ihren Schoß ließ sie alles Leid befürchten. In Moras wählten nach geltendem Recht, wie überall, die Frauen selbst, wem sie sich öffnen oder vermählen wollten. Doch Sittyra wußte nicht, wie sie dieses Recht einklagen konnte. Daß nur acht Wegstunden entfernt der Tempel der Weisheit stand, wurde ihr zwar einmal erzählt. Doch daß die Tempel auch für das Recht eintraten, ahnte sie nicht einmal. "Du fügst dich," verlangte der Vater traurig, "oder ich weise dich aus dem Haus." Diese Drohung hingegen begriff das Mädchen sehr genau. Bei Tage konnte sich in Moras jede Frau völlig frei bewegen; doch wenn die Nebel sanken, mußte sie in einem geschlossenen Raum sein oder jedem Mann sich ergeben, der sie fand. Wies sie der Vater fort, erwartete sie ein übles Schicksal. Das Mädchen weinte. Und Sittyras Furcht wurde nicht geringer, als die Mutter sie am Abend beiseite nahm und ihr erklärte, wie sie sich ihrem Mann zu fügen habe und was sie auf seinem Lager erwartete.
S
ittyra fürchtete sich sehr. Sie stand mitten in der kleinen Hütte und trug noch immer die kurze Tunika. Die Ältesten von Clys betrachteten sie schweigend. Man wartete. Es dauerte lange, bis Ferdenes den Raum betrat. Er sah gut aus, trug eine bestickte, lange Tunika und weiche Stoffschuhe. Lächelnd trat er neben Sittyra. Das Mädchen sah ihn wohl schon einige Male, doch sprach sie nie mit ihm. Für sie war er nur ein großer, fremder und auch alter Mann. Er legte die glatte Hand unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht und schaute in ihre blauen Augen. Sittyra preßte die Lippen zusammen und sah ihn angstvoll an. "Nun mußt du dich mir angeloben," sagte er freundlich, "die Zeugen warten darauf. Sprich die Formel, Kind." Sittyra zitterte ein wenig. Ihre Stimme klang unsicher und schwach. Jeder hier wußte, daß sie in die Ehe gezwungen wurde, doch niemand scherte sich weiter um das Wollen eines kleines Mädchens. "Aus freiem Willen binde ich mich an Ferdenes," log sie mit zitternder Stimme, "als dessen Weib ich künftig gelten will." Sie fühlte seine Hand in ihrem Nacken, spürte, wie er mit festem Druck den Liebeseid forderte. Flüsternd fügte sie darum hinzu: "Ich habe aus Liebe ihn gewählt und werde ihn in Liebe halten." Zwei Tränen rannen ihr dabei über die Wangen. Sein Griff lockerte sich, als er nun versicherte, Sittyra freiwillig zu nehmen und ihre Kinder stets als die seinen anzuerkennen. Aber von Liebe sprach er nicht. Ferdenes wollte diese Ehe auflösen, sobald Sittyra nicht mehr gebraucht wurde. Was dann aus ihr werden mochte, interessierte ihn nicht. Nachdem er nun als ihr rechtmäßiger Gemahl galt, neigte er sich zu ihr hinab und küßte sie auf die Stirn. Damit galt die Ehe als geschlossen. Die Zeugen erwarteten zu Recht nun festliche Bewirtung, doch Ferdenes zog das Mädchen mit sich und überließ ihrem Vater die Gäste.
I
n der Mühle erneuerte Orales den Verband des verwundeten Elonar, der das Bewußtsein bisher nicht wieder erlangte. Der Mann fieberte nun, schlug heftig um sich. Orales band ihm Hände und Füße am Lager fest. "Wenn er morgen noch lebt, wird er gesund," versprach er Parsus, "verhindert nur, daß er ins Dunkel abgleitet." "Was muß geschehen?" "Hüllt ihm Stirn, Brust und Waden abwechselnd in sehr heiße und sehr kalte Tücher," verlangte der Arzthelfer, "unterbrecht dieses Tun nicht bis zum Morgen. Wechselt euch mit eurem Bruder ab dabei." "Ferdenes hat eben geheiratet," erzählte Parsus, "seine Frau wird auch helfen können. Warum bleibst du nicht und sorgst selbst für Elonar?"
"Ich werde in Clys bei einer Geburt gebraucht." "Ist ein Weib bei der Niederkunft wichtiger als mein Bruder?" schimpfte Parsus. Orales schluckte eine zornige Antwort hinunter und sagte scheinbar gelassen: "Vielleicht gebärt sie einen Sohn. Wenn das Weib auch nichts gilt; ein männliches Kind tut es gewiß. Ihr braucht mich jetzt nicht." So verbrachte Sittyra die erste Nacht im Haus ihres Gemahls am Lager Elonars, dessen Körper sie wie befohlen in heiße und kalte Tücher hüllte. Als Orales am folgenden Morgen die Mühle betrat, schickte er das völlig erschöpfte Mädchen zur Ruhe und als Parsus aufbegehrte, fuhr er ihn so zornig und machtbewußt an, daß er Gehorsam erlangte. "Euer Bruder wird überleben," erklärte Orales dann, "in einigen Wochen ist er ganz gesund." Die Brüder atmeten auf bei dieser guten Nachricht. Parsus drückte Orales sogar einen halben Solar in die Hand. "Betrachte es als Lohn für deine Mühe." Orales lehnte ab. "Den Lohn fordert mein Herr Mernaos, mir steht keiner zu. Behaltet euer Geld." "Mernaos muß nichts davon erfahren." "Ich verzichte," blieb Orales stur. "Brauchst du kein Geld?" wunderte sich Parsus. "Woher kommst du, Mann? Du bist doch nicht immer Arzthelfer gewesen." "Jetzt bin ich es," lehnte Orales jede Erklärung ab. "Behaltet euer Geld, Parsus, denn ich habe wirklich keine Verwendung dafür. Ich hätte nicht einmal die Zeit, es auszugeben. Mernaos erwartet mich." Parsus sah ihm lange nach. Dieser Mann gab sich dienstbar und gefügig, doch ganz verbergen konnte er ein anderes Sein nicht. Flüchtig dachte Parsus sogar daran, Orales in seine Pläne einzuweihen. Der Fremde schien gebildet und mochte ihm nützen können. Doch rasch verwarf er diesen Gedanken wieder. Er brauchte keine weitere Hilfe mehr, nachdem Sittyra sich in seiner Hand befand. Nicht mehr lange, und Amarra verlor den Anspruch, allein das Licht zu beherrschen.
Ende Kapitel 1
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 2
D
ie Flammenden Kristalle wuchsen ausschließlich am Grund bestimmter Sumpflöcher, die sich rein äußerlich nicht von anderen Sumpfstellen unterschieden. Man sagte, daß dort, wo die wertvollen Steine wuchsen, in manchen Nächten ein unheimliches, seltsames Licht erglühe und dann auch ein stechender Geruch in der Luft hinge, der den Atem behindere. Dann, so hieß es, tanzten die Geister des Sumpfes über den Steines des Lichts. Wehe dem Menschen, der sie erblickte: sein Geist umnachtete sofort und er verfiel für alle Zeiten dem Wahnsinn. Doch bei Nacht reisten die Menschen nicht und so wußte keiner, ob diese Sage der Wahrheit entsprach. Unweit von Clys aber gab es ein fast kreisrundes Sumpfloch, das von einer dünnen Grasschicht überwachsen wurde und darum den Menschen verborgen blieb. An seinem Rand wuchs mannshoch der Schachtelhalm. Die morastige Umgebung überzog sich mit Moorgras und Sumpfmoos. Es gab hier keinen Weg. Undurchdringlicher Nebel hüllte das Land ein. Irgendwo schrien gespenstisch die Tiere der Nacht. Eine braune Schlange glitt durch den Wald aus Schachtelhalm, hielt inne. Ein frisch geschlüpfter Aligator, dessen Mutter das Ei nach ihrer Art im Süßwasser verbarg, zappelte noch ein wenig, ehe die Schlange ihn packte. Über dem den sumpfigen Morast verbergenden Gras glühte es bläulich auf. Ein leises Blubbern bewies aufsteigende Gasblasen, die sich im Sauerstoff der Luft entzündeten und geruchlos verbrannten. Und doch stank die Gegend nun, wenn auch nicht durch das Gas, sondern durch die aufgebrochene Oberfläche des von Verwesung erfüllten Sumpfes. Nicht weit entfernt lagerten zwei junge Männer, beide noch keine zwanzig Jahre alt. Sie waren Freunde. Sordas und Ralinas kamen aus Clys. Ralinas verwaiste früh und wurde von Sordas' Eltern wie ein Sohn aufgezogen. Bisher verdienten sie ihren Unterhalt durch das Brennen von Tratta, einem starken, klaren Schnaps. Doch viel ließ sich damit nicht verdienen und so lebten sie und Sordas' alte Eltern doch immer in Armut. Als sie hörten, daß Parsus zehn Solare für einen unerweckten Sumpfkristall bezahlen wollte, verließen sie die Siedlung. Sie wollten sich dieses Geld verdienen, das eine ungeheure Summe darstellte. Sie brauchten vierzig Tage harter Arbeit, um so viel Geld zu verdienen und hofften, nun schneller daran zu gelangen. Der durchdringende Schrei des großen, schwarzen Nachtvogels riß sie aus unruhigem Schlaf. Die Geräusche der Nacht ängstigten sie. Furchtsam starrte Ralinas, der
jüngere, ins Dunkel. "Hast du das gehört?" fragte er leise. "Ein Nachtvogel," beruhigte ihn Sordas, der unbehaglich an die Geschichten über die Sumpfgeister dachte, "nur ein Tier. Schlafe noch ein wenig." "Ich kann nicht," flüsterte der Freund, "mir ist, als lauern überall Gefahren." Sordas lachte leise. "Kennst du Orales?" wollte er wissen. "Den Arzthelfer? Natürlich kenne ich ihn. Er hat deinen Vater vom Fieber geheilt im letzten Jahr." "Er sagte zu mir, daß Angst das Leid anziehe," erklärte Sordas, "er meinte, Gedanken besäßen formende Kraft und würden das Gefürchtete erschaffen. Er verbot mir, damals an Vaters Tod zu denken. Ich glaube, er ist ein sehr besonderer Mann." "Dann würde er sich kaum von Mernaos so knechten lassen," meinte Ralinas abwertend, "ich habe gesehen, wie er sich ohne Gegenwehr von dem Arzt verprügeln ließ. Mir kommt er komisch vor." "Mir auch," gab Sordas zu. "Niemand weiß, woher er kommt und was er hier will. Er lebt wie ein Asket, nimmt nicht einmal eine Frau, die er haben kann. Trotzdem glaube ich nicht, daß er grundlos in Clys ist." "Und was will er da?" "Keine Ahnung. Er wird seine Gründe haben, denke ich. Jedenfalls wäre mir wohler, wenn er hier wäre." Ralinas lachte leise. "Mir wäre wohler, wenn wir nicht hier wären," stellte er fest. "Es ist kalt und der Nebel scheint mir heute besonders dicht zu sein." Sordas rückte näher zu ihm. Angstvoll starrte er nach vorn. "Was hast du?" erkundigte sich Ralinas besorgt. "Nichts," wehrte Sordas halbherzig ab, "ich dachte, ich hätte Sumpfgeister gesehen." "Wo? Dort vorn?" Sordas nickte nur. Da ergriff Erregung den Jüngeren. Er packte Sordas bei den Schultern, schüttelte ihn und rief: "Wo genau? Zeig' es mir!" "Glaubst du etwa auch, daß dort die Kristalle sind?" "Warum nicht?" wollte Ralinas wissen. "Laß uns hingehen." "Man sieht keinen Schritt weit." "Und wenn schon. Wir kriechen eben vorwärts! Hast du Angst, Sordas? Bedenke
doch: zehn Solare für jeden Kristall! Das ist leicht verdientes Geld und wir können es wahrhaftig brauchen." Sordas gab noch. Auf Händen und Füßen krochen sie vorwärts. Nicht lange danach schimmerte im Nebel vor ihnen das bläuliche Licht des Sumpfgases und Verwesungsgestank würgte in ihren Eingeweiden. Ralinas übergab sich. Irr vor Angst starrte er den Schein an, unfähig, sich zu regen oder die Augen zu verschließen. Sordas schlug ihm die flache Hand ins Gesicht, brachte ihn zur Besinnung. Dann lagen sie beide flach am Boden, deckten die Köpfe mit den Unterarmen und beteten um einen baldigen Morgen.
L
angsam hoben sich die Nebel. Einzelne Schwaden wehten noch über der trostlosen Landschaft. Die beiden Jünglinge hoben die Köpfe. Vor ihnen schien eine Wiese zu liegen, rechts und links wuchs hoher Schachtelhalm, dessen Stämme sich armdick und stark zeigten. Nicht weit entfernt wuchs ein wilder Mesa-Strauch, doch ohne Knospe oder Blüte. Scheu sahen die Jungen zu der Pflanze. Sie wußten, daß in den Wurzeln der Mesa die Onik nestete; die giftigste Viper der Reiche. Doch sie erblickten das hellgrüne Tier mit dem goldfarbenen Zackenband nicht und hofften, unbehelligt zu bleiben. Sordas riß ein Stück Büschelgras aus, warf es vorwärts. Mit schmatzendem Laut fiel es auf das Grasstück, versank dann langsam. "Hier war das Licht," flüsterte Sordas fast andächtig, "unter dem Gras ist ein Sumpfloch und ich schwöre dir, daß darin Kristalle wachsen." "Und wie holen wir sie raus?" Aufgeregt richtete sich Ralinas auf. Die Aussicht auf baldigen Reichtum bewegte ihn sehr. "Es gibt nur einen Weg," erwiderte Sordas düster, "einer von uns muß im Sumpf versinken. Hole das Seil, Ralinas." Der Ziehbruder gehorchte sofort. Wenig später band sich Sordas das dicke Seil um die Brust. "Wenn der Sumpf über meinem Kopf zusammen schlägt, hältst du den Atem an," verlangte er von Ralinas, "und du mußt mich heraus gezogen haben, ehe mir die Luft ausgeht. Wenn du das Gefühl hast, daß deine Lungen platzen, dann zieh', so stark du kannst." Mit einem Mal erschien Ralinas der Lohn nicht mehr ausreichend. Sordas wagte sein Leben; wie jeder, der die Sumpfkristalle barg. Aber er ließ keinen Einwand gelten. "Jetzt sind wir so weit," entschied er, "da müssen wir es auch versuchen. Es kann überhaupt nichts geschehen, wenn du mich rechtzeitig aus dem Sumpf ziehst." Ralinas wollte widersprechen, doch Sordas sprang schon vorwärts. Einen Augenblick lang sah es so aus, als trüge ihn das dünne Graspolster; dann sanken seine Füße ein und er kippte zur Seite. Ganz langsam versank er. Der Sumpf umklammerte seine
Füße, seinen Unterleib; zog ihn unbarmherzig in die Tiefe. Sordas starrte Ralinas an, als die braune Masse ihn bedeckte. Er sank langsam, viel zu langsam und versuchte, durch heftige Bewegungen rascher den Grund zu erreichen. Doch die zähe Masse umschloß ihn, behinderte ihn dabei. Wenn das Sumpfloch sich tiefer als zwei Meter erweisen sollte, konnte er den Grund lebend zwar erreichen, doch die Oberfläche nicht mehr erlangen. Seine Füße verspürten Widerstand, als er langsam wieder nach oben gezogen wurde. Völlig erschöpft lag er bald danach neben Ralinas. Er keuchte, rang mühsam nach Atem. Endlich stieß er Worte hervor, mühsam noch und abgehackt: "Ich war unten, Ralinas. Wir können es schaffen." "Ruh' dich aus," bat der Freund, "der Tag hat doch erst begonnen. Selbst die Männer, die nichts anderes machen als Kristalle erbeuten, können nicht mehr als vier oder fünf Mal am Tag tauchen. Laß dir Zeit, Sordas, wir haben keine Eile." Sordas fürchtete sich davor, wieder in den Sumpf zu springen. Als die zähe Masse nach ihm griff, fühlte er sich verloren, bangte er um sein Leben. Ihn interessierte das Geld auch nicht sonderlich. Doch es gab einen Grund, noch einmal alles zu wagen. Ralinas hatte sich in die Tochter eines Papiermachers in Clys verliebt und wenn er sie heiraten wollte, mußte er ihrem Vater etwas bieten können. Zehn Solare konnten den Freund glücklich machen und nur darum ließ sich Sordas auf dieses Wagnis ein. Der Sumpf umklammerte ihn wieder, zog ihn unbarmherzig in die Tiefe. Dieses Mal schaffte er es, den Grund zu erreichen. Seine Hände schoben sich mühsam über den Schlick, während seine Lungen sich anspannten. Da! Er verspürte Widerstand, griff zu. Das Seil zog an ihm. Sordas lag flach auf gewachsenem Grund, der ihn wie ein Vakuum festhielt. Der Zug wurde stärker. Sordas versuchte, sich abzustemmen. Sein Fuß stieß gegen einen scharfkantigen Gegenstand. In seinem Kopf dröhnte das Rauschen des eigenen Blutes und doch schob er die freie Hand auf diesen Gegenstand zu, umklammerte auch ihn. Unendlich langsam wurde er der tödlichen Masse entzogen. Sordas öffnete auf halbem Weg den Mund, stieß die verbrauchte Luft aus. Vor seinen geschlossenen Augen explodierten unzählige Lichtpunkte. Der Schlamm drang ihm in die Kehle. Seine Finger krallten sich um die Beute. Er versuchte noch, sich Ralinas' Freude über die Steine vorzustellen, doch es gelang ihm nicht mehr. Dunkelheit umwehte seinen Geist. Als Ralinas ihn an die Oberfläche zog, lebte er schon nicht mehr.
I
n den Nebelreichen gab es einen Begriff für hinterhältige Bosheit: Swaga! Ein Swaga war ein keineswegs seltener hörnchenähnlicher Kletterer mit braunem, weichen Fell und spitzen langen Zähnen. Als völliger Vegetarier lebte er ausschließlich von Früchten und Baumsamen, liebte er die Süße und die Wärme. Während der kalten Nebel schlief er in einer ins Erdreich gegrabenen Höhle. Die Kinder beobachteten ihn gern, denn er war ein drolliger Geselle, der mit seinesgleichen ausgelassen tollte und spielte. Unerklärlich blieb seine Neigung, sich
grundlos auf große Tiere oder Menschen fallen zu lassen und diese bis aufs Blut zu beißen. Kein Swaga trank das Blut. Es schien ihm lediglich Freude zu bereiten, andere zu verletzen. Niemand vermochte, einen Swaga endgültig zu zähmen. Ein solches Tier turnte in dem Wald aus Schachtelhalm. Als es verzweifeltes, menschliches Weinen vernahm, hielt es inne. Posierlich wirkte es, als es mit den kleinen Pfoten seine Barthaare bestrich. Dann kletterte es geschickt weiter. Unter dem Swaga lag Ralinas über dem toten Freund, hilflos weinend. Der Swaga ließ sich einfach fallen, krallte sich in den Haaren des Menschen fest, biß ihn herzhaft in den Nacken und floh dann hastig. Weit entfernt fand er große Blüten mit kostbarem Nektar. Der Swaga bekämpfte mit der Süße den für ihn ekelhaften Blutgeschmack. Ralinas schrie auf, als das Tier die spitzen Zähne in seinen Nacken schlug. Er sah den Swaga fliehen und atmete auf. Der Nager war alles andere als giftig und sicherlich würde die Wunde bald verheilen. Tränen rannen dem Jüngling über die Wangen. "Sordas," flüsterte er verzweifelt, "Sordas. Ich wünschte, wir hätten nie von Flammenden Kristallen gehört." Nun erst sah er die zu Fäusten geballten Hände des Ziehbruders. Mühsam öffnete er sie. Seine Augen wurden groß. Ungläubig sah er auf den Schatz, der nun ihm gehörte. Sordas erbeutete zwei Kristalle. Beide zeigten sich als hexagonales Prisma; der eine von der Länge einer Hand, der andere nur halb so groß. Doch weder Größe noch Gestalt der Steine beeinflußten ihre Lichtfülle. Es gab in den Reichen sehr kleine Flammende Kristalle, deren Licht doch jenes der größten Funde übertraf. Ralinas erinnerte sich, von Lebenden Kristallen gehört zu haben. Er wußte nicht, ob es sie wirklich gab, doch man erzählte, daß starke Priester in ihnen ihren eigenen Geist zentrieren konnten und so willentlich das Licht der Steine beeinflußten. Ralinas betrachtete die unerweckten Kristalle. Die lebenden Steine waren unbezahlbar und standen nie zum Verkauf. Ihre Seltenheit bewirkte, daß sie als persönliches Eigentum des Than galten, der sie dann verdienten Menschen für die Dauer ihres Lebens übereignete. Ralinas zweifelte an deren Existenz. Ein fahrender Händler hatte vor zwei Jahren erzählt, er habe einen solchen Lebenden Kristall gesehen. Er behauptete, in Nodhers Schwarzem Tempel seine Waren zum Kauf angeboten zu haben und dort dem Falla begegnet zu sein, der einen solchen Stein an einer Kette um den Hals trug. Dieser kleine, kaum fingerlange Stein sollte, so behauptete der Mann, mehr Licht beinhalten als jeder andere Stein, den er je sah. Ralinas glaubte ihm kein Wort und doch spielte er mit dem Gedanken, wie es sei, wenn er einen solchen Lebenden Kristall besäße. Er seufzte. Unerweckt sahen sich die Steine alle ähnlich; wirkten sie fast wie milchiges Quarz und nichts an ihnen verriet ihre Fähigkeit, Licht einzuschließen. Sie besaßen so auch nicht viel Wert. Zum ersten Mal fragte sich Ralinas nun, was Parsus mit unerweckten Kristallen wollte. Aber es war ihm egal. Sordas starb für diese Steine. Der Schmerz übermannte den Jüngling von neuem. Weinend warf er sich wieder über den geliebten Ziehbruder. Als die Nebel sanken, lag er noch immer reglos, mit seinem Schicksal hadernd und alles andere als zufrieden. Ralinas schlief ein. Er bemerkte nicht, wie winzige Fliegen
sich sirrend der Wunde seines Nackens näherten. Er verspürte den Einstich ihrer hohlen Rüssel nicht. Sie tranken sein Blut, berauschten sich daran und legten ihre Eier unter seine Haut. Er wußte nichts davon. Am andern Morgen übergab er die Leiche des Freundes dem Sumpf, der sein Leben forderte. Dann machte er sich auf den Rückweg. Am späten Mittag erreichte er die Ölmühle. Er wunderte sich flüchtig über Sittyras Anwesenheit hier, doch er fragte nicht danach. Er wollte nur den versprochenen Lohn. Ralinas sehnte sich nach Schlaf; fühlte sich matt und elend. Morgen, so dachte er, wollte er die Geliebte aufsuchen und sie ihrem Vater abkaufen.
P
arsus behandelte Ralinas sehr freundlich. Eingehend betrachtete er die beiden Kristalle, ehe er dem Jüngling zwanzig Solare übergab. "Du bist verschwenderisch," grollte Ferdenes, als er mit dem Bruder allein war, "wir haben nicht mehr viel Geld." Parsus grinste. "Bald haben wir mehr als genug davon," behauptete er, "bald ist uns das Licht untertan. Ich hoffe, du hast Sittyra nicht angerührt?" "Natürlich nicht," fauchte Ferdenes, "was soll ich mit diesem schmalbrüstigen, unterentwickelten Kind, das zittert, wenn ich es nur anschaue?" "Schon gut," lenkte Parsus ein. "Es macht dir doch Spaß, daß sie dich fürchtet. Wenn sie Angst hat, ist sie wie gelähmt und genau das brauchen wir. Wie geht es Elonar?" "Würdest du dich ein bißchen um ihn kümmern, müßtest du mich nicht fragen," schimpfte Ferdenes zornig. "Er ist ziemlich schwach und hat schlechte Laune, weil er nicht aufstehen darf." "Er muß aufstehen," bestimmte Parsus, "ich brauche ihn." "Wofür? Er ist verletzt, Menschenskind!" Parsus lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Geringschätzig betrachtete er den Bruder, als er ruhig fragte: "Kennst du die Geschichte, die berichtet, wie die ersten Kristalle erweckt wurden?" Ferdenes schüttelte den Kopf. In den Jahren, in denen der Vater Parsus in diese Dinge einweihte, arbeiteten er und Elonar bis zur Erschöpfung in der Mühle. Nur der Älteste hatte Teil an des Vaters Wissen. "Erzähle es mir," verlangte Ferdenes, der sich nun ebenfalls setzte. Parsus schenkte sich und dem Bruder Tratta in kleine Schalen. Er trank, genoß die alkoholische Wärme und erzählte dann die Legende des Lichtes: "Bevor es die Nebelreiche in dieser Form gab, so erzählt man in den Tempeln,
herrschten die ungebändigten göttlichen Kräfte auf der Welt. Die Götter liebten und bekämpften sich. Tabalke, der Gott des Schweigens, vermählte sich mit Liara, der Göttin des Friedens. Die Kinder, die sie ins Leben riefen, gelten als die Urväter der Menschheit. Damals verliebte sich Raaki, der dunkle Gott, in Antares, die Göttin des Lichtes. Aber er nahte ihr nicht, fürchtend, seine Dunkelheit könne sie verletzen und außerdem hielt er sich ihrer wohl auch nicht für ebenbürtig." "Kindergeschwätz," unterbrach ihn Ferdenes. "Natürlich," gab Parsus gelassen zu, "solche Geschichten stimmen nie wörtlich. Sie umschreiben nur magische Wahrheiten und mystische Tatsachen. Höre also weiter: Saake, die Gottheit der Weisheit, die weder Mann noch Frau oder meinetwegen auch beides in einem ist, liebte Minosante, den Gott der Kraft, der aber mit Saake natürlich nichts anfangen konnte und Antares begehrte. Er entführte die Lichtgöttin, nahm Raaki gefangen und knechtete das Licht durch bloße Macht. Da gab sich Raaki selbst den Tod, befreite sich dadurch von begrenzter Form. Er hüllte Antares ein, nahm sie mit sich und raubte sie so Minosante." "Und weiter?" "Für Minosante waren damit Raaki und Antares unerreichbar und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit Saake anzufreunden. Die Welt befand sich nun in absoluter Dunkelheit und alles Bitten bewog Raaki nicht, die Lichtgöttin wieder der Kraft zu unterwerfen. Die Menschen flehten ihre Eltern um Licht an, doch Tabalke und Liara konnten ihnen nicht helfen. Das Gejammer ihrer Kinder aber rührte sie und so begaben sie sich zu Saake und baten um den Rat der Weisheit. Saake, nicht gerade glücklich mit Minosante, hielt es für eine gute Idee, die Kraft durch einen Abglanz des Lichtes an die verlorene Liebe zu erinnern. Darum sprach Saake einen Orakelspruch und die Gottheit behauptete, wer dieses Wort verstehe und anwende, der könne das Licht auf die Welt ziehen und den Menschen die Grundlage des Lebens schenken." Ferdenes lauschte nun gespannt. Er neigte sich vor. "Wie lautet der Spruch?" wollte er aufmerksam wissen. Parsus grinste. Er schenkte sich nach, trank erneut des scharfen Schnapses und genoß des Bruders Spannung. Endlich sagte er in beschwörendem Tonfall: "Was geschaffen ist, ist Licht! Ganz Lichtloses gibt es nicht! Was die Götter selbst gezeugt, das bezwingt die Dunkelheit; sofern es rein und makellos. In Stein gebunden wird es groß. Als Wunder gilt dann überall der erweckte Sumpfkristall." Er wartete, doch als Ferdenes nicht reagierte, fuhr er fort: "Das hellste Licht, das ist die Liebe.
Diese in Kristalle schmiede! Bist von jener du verwaist, erhellt dich nur des Menschen Geist, dessen Licht die Freiheit nimmt und die Eltern gar verschlingt." Lange sah Ferdenes den Bruder an, ehe er leise fragte: "Was heißt das, Parsus? Es klingt seltsam." "Das muß es," behauptete der, "wenn es zu leicht wäre, würde jeder das Geheimnis verstehen. Im Grunde ist es ganz einfach. Du mußt nur eine Jungfrau haben und deren Geist in einen Kristall fesseln." "Dann ist sie Miska," entfuhr es Ferdenes wider Willen, der Sittyra zwar keineswegs liebte, ihr aber doch kein Leid wünschte. Und Miska, das bedeutete einen lebenden Toten, einen geistlosen Körper; einen Zustand, der schlimmer war als der Tod. "Unsinn," wehrte Parsus ab, "es ist ja nur ein Teil von ihr, der den Kristall erweckt. Vermutlich ist sie danach müde und erschöpft, aber das gibt sich. Es muß dir allerdings einleuchten, daß Sittyra zu dumm ist, um selbst einen Kristall zu erwecken. Darum müssen wir das für sie tun. Seit allen Zeiten aber braucht man mindestens drei Menschen, um ein magisches Werk zu vollbringen." "Wer sagt das?" zweifelte Ferdenes noch. "Vater sagte es und er hatte in allem Recht," erklärte Parsus, "darum muß Elonar mitmachen. Er soll aufstehen und herkommen, Ferdenes. Wir versuchen die Sache noch in dieser Nacht. Und schicke mir Sittyra. Ich will sie vorbereiten." Der Bruder gehorchte nicht gern, doch zu sehr lockte die Aussicht, endlich Clys verlassen zu können.
S
ittyra weinte und zitterte, als Parsus ihr befahl, sich zu entkleiden. Ihr kindlicher Körper erweckte seine Gier nicht einmal; lediglich ihre Angst ließ ihn eine mögliche Vergewaltigung als reizvoll vermuten. Parsus bedeckte den Tisch des Zimmers mit einem schwarzen Tuch und befahl Sittyra, sich darauf zu legen. Das Mädchen gehorchte furchtsam. "Es geschieht dir nichts," versprach Parsus mit beruhigender Stimme, "niemand rührt dich an." Er nahm ihre Füße, legte sie genau nebeneinander und fügte ihre Hände auf ihre Leisten. Dann konnte er es sich nicht versagen, kurz mit ihren Brüsten zu spielen. Als ihr Tränen in die Augen schossen, hörte er sofort auf damit. Fast pedantisch breitete er ihr blondes Haar wie einen Strahlenkranz um ihr Haupt. Es dunkelte nun schon. Parsus verschloß das Fenster. Dann nahm er fünf schwarze Kerzen aus einer Truhe. Zwei stellte er eng an ihren Hals, zwei klemmte er in ihre Achseln und die letzte
schob er zwischen die Schenkel des Kindes. Parsus zündete sie an. Er legte sehr viel Wert auf die richtige Reihenfolge. Die Kerze bei ihrem Schoß mußte zuerst entzündet werden, dann jene beiden an ihrer linken Seite. "Was habt ihr vor?" erkundigte sich das Mädchen flüsternd. "Sei still," mahnte er, noch immer sehr freundlich und seltsam behutsam, "du darfst nun nicht mehr reden. Wir leisten einen Gottesdienst und huldigen Antares. Denke du unentwegt an die Göttin des Lichts. Wenn du alles richtig machst, wirst du sie in diesem Stein sehen können." Er nahm einen der beiden unerweckten Kristalle, den er inzwischen gereinigt hatte und zeigte ihn dem Kind. Dann legte er ihn Sittyra auf den Bauch, oberhalb des Nabels. "Ich habe Angst," murmelte sie. "Still." Seine Stimme erhielt nun einen drohenden Unterton. "Kein Wort mehr, Sittyra. Willst du Antares huldigen oder wie jede gewöhnliche Frau ständig vergewaltigt werden? Entweder du gehörst der Göttin, oder mir und meinen Brüdern. Hast du verstanden?" Sittyra nickte zaghaft. "Ich will alles tun," versprach sie. "Dann halte still, schweige und warte ab," verlangte er. Ferdenes führte nun Elonar herein. Der Kranke zeigte sich noch sehr schwach, doch er gab sich Mühe, seinen Schmerz zu beherrschen. Parsus schob ihm einen Stuhl an das Fußende des Tisches. Er hatte Kissen darauf gelegt, so daß Elonar sehr hoch saß. Ferdenes mußte sich zur Linken des Mädchens aufstellen; Parsus selbst trat an ihre rechte Seite. "Ihr müßt die magischen Formeln nicht verstehen," erklärte er den Brüdern, "konzentriert euch nur auf den Kristall und stellt euch vor, wie Sittyra in ihn hineintaucht und ihn erhellt." Und dann intonierte er Silben einer nicht mehr existenten Sprache und Worte, die das Licht herbeirufen sollten. Nichts geschah! Parsus wiederholte sich deshalb. Die Kerzenflammen flackerten, doch der Kristall blieb trübe. Da nahm der Mann seinen Dolch, sprach weihende Worte. Er hob den Kristall an, ritzte in die Haut des Mädchens das Symbol der Lichtgöttin: einen Kreis mit einem Punkt in der Mitte. Er schnitt nicht tief, doch Sittyra weinte angstvoll auf. Blut sickerte aus der Wunde. Parsus legte den Kristall darauf. Wieder intonierte er diese Worte. Ungeheure Spannung entstand. Sittyra lag wie gelähmt. Sie fühlte sich nicht einmal beschmutzt oder gedemütigt, sondern nur hilflos und unendlich schwach. Sie hatte das Gefühl, als ströme ihre Lebenskraft aus der Wunde heraus. Das Mädchen stöhnte auf. Ihr Kopf rollte kraftlos zur Seite. Ohnmächtig schloß sie die Augen. Doch in dem Sumpfkristall pulsierte nun ein Licht, das jenem der fünf Kerzen durchaus ebenbürtig
war. Parsus blies die Flammen aus. Es herrschte kein Dunkel. Der Flammende Kristall erleuchtete den Raum. Im Wahn ihres Erfolges sahen die Männer nicht, daß dieses Licht keinen warmen Schein verströmte, sondern kalt und weiß krasse Schatten hervorrief. Nicht die Spektralfarbe des Tages umgab sie, sondern eine unbarmherzige Helligkeit. Sie wußten es nicht und sie fragten nicht danach. Die Augen der Männer leuchteten in fanatischem Glanz. Ferdenes, der sich rasch davon überzeugte, daß Sittyra nur schlief, lachte erleichtert. "Wir haben es geschafft," jubelte er, "es ist gelungen. Und es war ganz einfach, Parsus. Es war ein Kinderspiel!" "Redet zu keinem darüber," verlangte der Älteste mit ernster Stimme, "das ist erst der Anfang. Du, Ferdenes, wirst morgen zum Tempel der Weisheit reisen und ihnen den Kristall zum Kauf anbieten. Sie werden jede Summe bezahlen für einen Stein, der nicht aus Amarra kommt. Aber sage ihnen nicht, wo du wohnst. Biete ihnen an, künftig jeden Sumpfkristall zu erwecken, den sie besitzen. Wenn sie einen weiteren Steiin wollen, nun, wir haben noch einen. Aber dieser kostet dann tausend Solare." "Wahnsinn," murmelte Elonar, "das bezahlen die Priester nie. Amarra macht es billiger." "Natürlich," meinte Parsus grinsend, "aber sie müssen ja versuchen, zu erfahren, weshalb die Kristalle auch in Moras selbst erweckt werden können. Wir sind jetzt eine Gefahr für Amarra, Brüder. Sie werden jeden Preis bezahlen, nur um zu verhindern, daß unsere Macht bekannt wird." "Willst du das denn?" erkundigte sich Elonar, der sich zwar schwach fühlte, doch vorübergehend seine Wunde vergaß. "Vorläufig ja," bestätigte Parsus. "Wir brauchen viel Geld und bekommen es am ehesten von den Tempeln. Wenn wir reich genug sind, um Moras' Ernte an Sumpfkristallen aufzukaufen, dann sind wir eine Macht. Dann werden wir uns zu erkennen geben. Unser König wird uns schützen, denn wir bedeuten für ihn dann unermeßlichen Gewinn. Und dann," fügte er bezeichnend hinzu, "herrscht auch kein Mangel an Jungfrauen mehr."
S
ehr früh am andern Morgen brach Ferdenes zum Tempel der Weisheit auf. Er hatte sich ein Pferd gemietet, um bis zum Abend wieder zurück sein zu können. Der Besitzer des Tieres verlangte einen hohen Preis, doch da es in Clys insgesamt nur drei Pferde gab, entlohnte ihn Ferdenes ohne Feilschen. Alles, was Seltenheit besaß, war wertvoll. Ralinas sah ihn aus dem Ort reiten. Der Jüngling fieberte. Ihm war, als brannten seine Glieder. Taumelnd gelangte er zu Mernaos' Haus. Es gelang ihm noch, die Tür zu öffnen. Dann brach er zusammen. Orales bettete ihn auf den Tisch, untersuchte ihn hastig. Mernaos jammerte und zeterte und schimpfte. "Du bist unfähig, Orales," warf er seinem Helfer vor, "wehe dir, er stirbt. Mach' doch endlich 'was!"
Dabei befingerte er den Ohnmächtigen und behinderte Orales, der eben die Bißwunde im Nacken des Jünglings entdeckte. Er drehte seinen Körper auf den Bauch, betastete die Schwellung, deren graugrüne Farbe ihren Ursprung verriet. "Swaga," vermutete er, "und in der Wunde dürften inzwischen unzählige Würmer hausen; Nachkommen der Sumpffliegen." Mernaos wich zurück. "Laß sie ja nicht raus," flehte er, "die Biester sind ekelhaft und außerdem scheußlich." Orales beachtete ihn nicht. Warum kam der Junge nur nicht früher zu ihm? Jetzt hatte er kaum eine Chance mehr. Eine winzige Möglichkeit gab es noch. Orales begann, einen Brei aus verschiedenen Kräutern zu kochen. Wieder wünschte er, noch im Besitz seiner priesterlichen Kräfte zu sein, um dem Jungen wirksamer helfen zu können. Doch er hatte gefehlt und jedes Recht auf geistige Macht verwirkt. Er wollte tun, was er konnte. Es war wenig genug.
K
ymynos war nicht mehr jung. Er hatte die siebzig überschritten und in den letzten Monaten oft überlegt, ob er sein Amt nicht zurück geben und sich zur Ruhe setzen sollte. Aber immer wieder schob er die Entscheidung hinaus. Er war Falla der Weisheit und herrschte in Moras' Tempel über eine Priesterschaft von knapp zweihundert Menschen; dazu kamen unzählige Helfer und Abhängige. Nicht die Macht an sich hielt ihn fest. Die Menschen hier liebten ihn und er hatte das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Er hoffte aber, daß der Than ihn bald nach Amarra rufen würde, um ihm bei dieser Entscheidung zu helfen. Ungerufen durfte niemand zu der schönen Insel reisen. Das heißt, eine Ausnahme gab es wohl. Kymynos hörte davon, daß der Than Raakis Falla in Nodher einmal als seinen Pala bezeichnete und ihn so als seinen vertrautesten Freund und als Ergänzung seiner Seele bezeichnete. Er glaubte diese Geschichte nicht, bis vor drei Jahren. Damals weilte er auf Amarra, als er Zeuge wurde, wie dieser Falla ungerufen kam und doch mit großem Respekt empfangen wurde. Nun, für ihn galt dies nicht. Er mußte auf einen Ruf warten, um seinem Herrn begegnen zu dürfen. Kymynos war schlank und wirkte sehr zerbrechlich, wenngleich er durchaus noch ohne die Hilfe eines Stockes gehen konnte. In seinem faltigen Gesicht lebten kleine, wache Augen, die meist sehr vergnügt wirkten. Nun aber schaute er sehr ernst. Er hielt einen Flammenden Kristall in Händen, dessen weißes Licht ihm böse erschien. Er hob den Blick. "Woher hast du den Stein?" wollte er wissen. Ferdenes wich diesen wissenden Augen aus. "Er wurde in Moras erweckt," erklärte er, "und er steht zum Verkauf. Für fünfhundert Solare gehört er euch, Falla." "Gibt es mehr davon?"
"Soviel ihr wollt," versprach Ferdenes. "Es ist nicht schwer, einen Kristall zu erwecken. Wenn ihr Interesse habt, bringe ich euch einen weiteren Stein. Aber der kostet dann das Doppelte. Entscheidet rasch. Ich habe nicht die Absicht, im Tempel zu übernachten." Der Mann war nicht nur ungeduldig, sondern auch respektlos. Er hatte den Falla mit einer nur flüchtigen Verneigung begrüßt, anstatt, wie es üblich war, auf die Knie zu sinken. Er schien sich zu fürchten, aber Kymynos konnte seinen Geist nicht berühren. Es war weniger das Falkenauge, das den Falla behinderte, obwohl Ferdenes diesem Mineral die den Geist abschirmende Kraft zuschrieb. Der Stein wirkte wohl so, doch für sich allein nicht stark genug, um einen Falla zu behindern. Etwas anderes schirmte Ferdenes noch ab und dieses andere kannte weder der Fremdling noch der Falla. Doch es war böse und undurchdringlich. Es wirkte wie eine dämonische Kraft; wie sich manifestierendes Unheil. "Du bekommst dein Geld," entschied Kymynos, "und du wirst auch für einen zweiten Stein die geforderte Summe erhalten." Ferdenes strahlte förmlich bei diesen Worten. "Wann?" erkundigte er sich lauernd. "Warte ein wenig." Der alte Falla verließ den Raum, in dem er Ferdenes empfing und besorgte die Solare. Zugleich befahl er zwei jungen, kräftigen Priestern, dem Fremden nachher heimlich zu folgen und seinen Aufenthalt zu erkunden. Kymynos zahlte Ferdenes aus. Den Flammenden Kristall mit dem weißen, kalten Licht sandte er nach Amarra. Ferdenes indes bemerkte seine Verfolger. Er lachte. Die Priester schienen rechte Tölpel zu sein. Es gelang ihm ohne Mühe, sie abzuschütteln und unbeobachtet den Heimweg zu beginnen.
O
rales kämpfte vergeblich um das junge Leben unter seinen Händen. Die Schwellung im Nacken Ralinas' ging nicht zurück. Als die Nebel sanken, hauchte der Jüngling sein Leben aus, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Orales rief Männer des Dorfes herbei und befahl ihnen, den Leichnam sofort zu verbrennen. Nur so konnte er sicher sein, daß die in dem toten Fleisch hausenden Insekten nicht ganz Clys überfielen und eine Katastrophe herauf beschwörten. Mernaos trank schon den ganzen Tag hindurch. Nun war er nicht mehr Herr seiner Sinne. "Du taugst nichts," schrie er Orales an, "du hast ihn umgebracht! Du bist ein Mörder!" Er bedachte seinen billigen Helfer mit allen Schimpfnamen, die er kannte und zugleich hieb er unentwegt mit einer kurzen Peitsche auf den großen Mann ein. Orales kauerte in einer Ecke des Zimmers und ertrug auch dies. Seinen Kopf deckte er mit den Händen, während die Lederriemen ihm das Gewand und die Haut zerfetzten. Tränen des Schmerzes drangen ihm aus den Augen, doch nicht solche des
Körpers, sondern jene der Seele. Er hatte alles erreicht in seinem Leben und dann alles verwirkt in einem unbedachten Augenblick sinnlosen Aufbegehrens. Irgendwann torkelte Mernaos erschöpft zu seinem Lager, wo er niederfiel und laut schnarchend seinen Rausch ausschlief. Orales wusch sich die Wunden aus, salbte sie und suchte danach selbst die Ruhe. Doch er fand keinen Schlaf. Er hatte fast vier Jahre entsetzlicher Demütigungen überstanden und noch war sein Geist ungebrochen. Doch er bezweifelte, weitere sechs Jahre so ertragen zu können, ohne der geistigen Umnachtung zu verfallen. Es hätte ihm nichts ausgemacht, nach Amarra zu reisen, sich vor dem Than zu demütigen und ihn um Gnade anzuflehen. Doch er wußte, daß er die Insel nicht einmal betreten durfte und keine Chance hatte, den Mächtigen auch nur zu erreichen. Er war kein Priester mehr! Im Besitz seiner Weihen hätte er Ralinas retten können. So blieb er hilflos. Er hatte auf seine eigene Kraft vertraut und dem Than den Gehorsam verweigert. Nun mußte er aus seiner eigenen Kraft leben und er fühlte sich hilflos und schwach. Er konnte Clys verlassen; konnte versuchen, woanders weniger gedemütigt zu leben. Doch der Than bedrohte ihn im Fall des weiteren Ungehorsams mit dem Tod. Orales wußte, daß es in allen sieben Nebelreichen keinen Ort gab, an dem er nicht von diesem Mann gefunden werden konnte. Nein, er hatte keine andere Möglichkeit, als diese Buße gänzlich zu leisten. In mehr als sechs Jahren würde er frei sein! Orales weinte still. In mehr als sechs Jahren mochte er frei sein; doch ein Mann war er dann nicht mehr; kein ungebrochener Geist; kein selbstbewußtes Ich. Nodhers König Ariston würde ihn wohl nicht verstoßen deshalb, sondern aus Mitleid und im Gedenken an ihre frühere Liebe pflegen. Doch diese Aussicht bildete keine Hoffnung, sondern eine Bedrohung für ihn. Orales dachte an Gerrys. Sein Urteil galt zunächst unbeschränkt. Er verdankte es diesem Freund, daß der Than die Buße auf zehn Jahre begrenzte und doch kam es letztendlich auf dasselbe heraus. Zehn Jahre endloser Demütigungen in dieser vergessenen Siedlung würden von dem, was er war, nichts mehr übrig lassen. Die Wunden, von den Peitschenhieben hervor gerufen, schmerzten. Doch viel mehr peinigte ihn die Angst, von den Freunden vergessen zu sein und einsam seine Tage erleiden zu müssen. Er dachte täglich an sie, so oft ihm seine Pflicht ein Abschweifen der Gedanken eben erlaubte. Sie aber lebten ihr Leben; Ariston als Herrscher über das Nordreich, Gerrys als Falla des Schwarzen Tempels. Nach vier Jahren durfte er nicht mehr hoffen, daß die Freunde seiner mit Sehnsucht gedachten. Vielleicht war das auch ganz gut so. Sie beide sollten nicht leiden wie er. Und doch, seine Einsamkeit erschien Orales mehr und mehr unerträglich zu sein.
Ende Kapitel 2
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 3
O
rales erschiene sein Schicksal bedeutend erträglicher, wüßte er, wie intensiv die Freunde seiner noch gedachten. Nodhers Herrscher dachte voll Sehnsucht an ihn und auch Rakkis Falla Gerrys vergaß ihn nicht. Das Wissen um die schwere Bürde des Freundes schweißte diese Männer mehr zusammen. War einst ihre Freundschaft nicht von zu großer Nähe getragen, so änderte sich dies in den vergangenen vier Jahren. Der Herrscher suchte den Schwarzen Tempel nicht mehr, wie zuvor, nur einmal im Jahr auf, sondern kam so oft, wie seine Zeit es gestattete. Auch in den ersten warmen Tagen dieses Jahres weilte er als gern gesehener Gast und Priester, weniger als Herr, im Tempel. In den Stunden vertrauten Gespräches gab es nur ein Thema: Orales. Ariston hoffte noch immer, daß Gerrys den Than milde stimmen könne und eine Begnadigung des Freundes erwirken. Es fiel ihm schwer, diese harte Strafe zu akzeptieren. "Deinen Bruder Attor verurteilte der Than für ein schlimmeres Vergehen nur zur Sklavschaft," klagte der König, "und er ließ ihn in deiner Hand, Gerrys. Attor lebt doch wie ein freier Mann als Verwalter deiner Sajik-Plantage. Von Strafe kann dabei wahrlich keine Rede sein." "Mag sein," gab Gerrys zu, "doch ist mein Bruder kein Priester, sondern ein Mann des Volkes. Daß er vor dem Than die Waffe zog, damals in Sion, wiegt schwer. Aber der unnachgiebige Ungehorsam eines Priesters, der die höchsten Weihen besitzt, kann im Grunde nicht vergeben werden. Ich versichere dir, Orales ist gesund und bis jetzt erträgt er seine Buße. Mehr kann ich dir nicht sagen." "Und woher weißt du das?" "Der Than vergaß ihn nicht, Ariston. Er überprüft ihn auf geistigem Weg und er weiß, was mit Orales geschieht. Betrachte es so: Attor hat er vergessen und das bedeutet ja wohl, daß mein Bruder, ob frei oder nicht, in diesem Leben nicht mehr viel Sinn finden wird. Auf Orales achtet Amarra noch immer und solange dies der Fall ist, ist es verfrüht, den Freund verloren zu geben." Doch alle Worte vermochten nicht den Ausdruck des Schmerzes aus dem markanten Gesicht des Herrschers zu bannen. Nodhers König blieb drei Tage im Tempel und als er zum Aufbruch rüstete, versprach er dem Falla, ihm bald seinen Sohn und Erben auf
einige Zeit zu senden. Der Knabe hielt sich gern in diesem Tempel auf, betrachtete Gerrys als seinen Freund und zeigte sich dem Falla gegenüber ausgesprochen fügsam; während er ansonsten die Macht, die ihn erwartete, gern benutzte, um sich verfrühten und ungerechtfertigten Respekt zu erheischen. Gerrys begleitete Ariston und sein Gefolge ein Stück des Weges.
N
och vor Mittag kehrte er zurück. Er hatte den raschen Ritt genossen, der ihn an vergangene Zeiten erinnerte. Er wurde ja nicht zum Priester geboren. Früh verwaist durchlebte er eine entbehrungsreiche Kindheit und Jugend, doch er verwirklichte seinen Traum und wurde des Königs Gardist. Wenige Wochen hindurch stand er sogar im hohen Rang des Adlatus; eine Beförderung, die er Orales verdankte. Dabei entsprach sein Äußeres keineswegs dem Bild eines Kämpfers. Gerrys war nicht sehr groß, besaß einen schlanken, schmalen Körper und verfügte über nur begrenzte Muskelkraft. Sein Gesicht wirkte immer bleich, gerade so, als sei er eben von schwerer Krankheit genesen. Dieser Eindruck verstärkte sich durch sein außergewöhnlich helles, dünnes Haar, dessen Blond schon ins Weiße überging. Die blassen, dünnen Lippen und die schmalen Brauen ließen ihn unsicher erscheinen. Doch ein Blick in seine wasserhellen, klaren Augen genügte, um das Gegenteil zu erkennen. Vor zehn Jahren begegnete er dann dem Than. Gerrys fühlte sich zu dem etwa gleichaltrigen Mann sofort hingezogen; vertraute ihm von Anfang an ohne jede Beschränkung. Er wurde Priester; sehr rasch Raakis Falla und es sah nicht so aus, als würde diese Berufung ein Ende finden. Nun stand er in seinem fünfunddreissigsten Jahr und er hatte alles erreicht, was ein Mann in den Nebelreichen sich nur wünschen konnte. Er besaß alle Weihen und wußte um die Kraft seines Geistes. Mit dem Than, dem mächtigsten Mann, verband ihn eine innige Freundschaft; sein König liebte und schätzte ihn und die Priesterschaft, über die er gebot, zusammen mit den Helfern des Tempels inzwischen weit mehr als dreihundert Menschen, stand voll Vertrauen zu ihm. Er hatte allen Grund, glücklich zu sein. Und er war es! Ein Priesterschüler nahm ihm das Pferd ab und brachte es fort, um das Tier zu versorgen. Gerrys trug eine einfache schwarze Kluft; die in diesem Tempel vorherrschende Kleidung. Doch er mußte nicht das prachtvoll schimmernde Gewand seines Amtes tragen, um erkannt zu sein. Das helle Haar entdeckte ihn schon aus der Ferne. Der große, breitschultrige Mann, der im Garten auf ihn wartete, kam rasch zu ihm. Seine Augen strahlten voll Hingabe, wie immer, wenn er den Falla sah. Er überragte Gerrys um mehr als Haupteslänge und als er vor ihm niederkniete, wirkte er noch immer sehr groß. "Ich freue mich, dich zu sehen, Rhagan," begrüßte ihn der Falla. "Bringst du Nachricht von der Plantage?" "Ja, Herr. Attor braucht eure Erlaubnis, um einen Teil der alten Pflanzen zu roden, deren Ertrag zu gering ist. Er hat alles notiert."
Rhagan überreichte Gerrys ein Schreiben, das der Falla nun aber nicht besah. Er steckte es ein. "Wartest du schon lange?" wollte er wissen. "Ich kam früh," gab Rhagan zu, "doch ich wollte nicht stören, solange der König bei euch war. Die Priesterin Shuny vertrieb mir die Zeit." Er lächelte unbeholfen dabei, gerade so, als gestehe er ein Unrecht. Gerrys verstand ihn. "Wo ist sie?" "Im Tempel, Herr. Es ist die Stunde der Kraft und sie nimmt an Minosantes Ritual teil." "Komm' mit mir, Rhagan. Ich lade dich zum Mahl." Der große Mann folgte ihm gern, ungeachtet der Tatsache, daß er keinen Rang besaß und darum eigentlich nicht in Gesellschaft eines Fallas speisen sollte. Da aber Gerrys sich nur wenig um Normen kümmerte, deren Sinn er nicht einsah, tat Rhagan es auch nicht. Er wirkte wie ein Riese. Sieben Jahre jünger als Gerrys verehrte er den Falla über die Maßen. Er wurde als Sklave im Königreich Thara geboren und lebte dort, seinem Stand gemäß, dicht an der Grenze von Miska; ohne Wünsche, Hoffnungen, ohne eigenen Willen und jenseits von Furcht oder Freude. Eine fast zufällige Begegnung mit Gerrys veränderte ihn. Der Falla berührte seinen Geist, erweckte ihn so. Damals hieß er noch Rha, denn in den Nebelreichen durften die Sklaven nur einsilbige Namen tragen. Er kam in Attors Hände, nicht sehr lange danach, und Attor war es, der sein aufkeimendes Selbstbewußtsein stärkte und diesen Sklaven zu einem aufrechten Mann formte. Vor vier Jahren änderte sich dann vieles. Attor bedrohte den Than und wurde versklavt, und er, der Sklave, erhielt seine Freiheit. Doch Rhagan blieb weiterhin in Attors Nähe, unterstützte ihn bei seiner Arbeit und versuchte, ihm ein guter Freund zu sein. Aber Attor duldete keine wirkliche Nähe, zumindest nicht von einem Mann. Sein Ideal von Stärke und Kraft erlaubte nicht das Eingeständnis von Liebe und Zuneigung. Er hielt ein Tempelkind wie seine Tochter und diese liebte er; und er genoß auch die Nähe der Falla Seryna, die ihm sehr zugetan war. Gerrys bedauerte Rhagan, der vergeblich um die Liebe des Bruders warb. Doch er mischte sich nicht ungebeten ein. Rhagan litt nicht dabei, sondern lebte gern hier. Er erhielt einen kleinen Lohn für seine Arbeit und besaß durchaus mehr, als er brauchte. Vor allem aber freute er sich über Shunys Freundschaft. Damals, vor vier Jahren, besaß auch Shuny die Freiheit noch nicht, doch sie lebte schon als Priesterschülerin unter Leitung der Falla Seryna. Der Erbe des Königsreiches Sion verliebte sich in sie, begehrte sie zum Weib. Das Mädchen, inzwischen vierundzwanzig Jahre alt, erwiderte zwar seine Liebe, doch sie vereinte sich nie mit ihm. Als Sklavin wurde sie zu oft vergewaltigt, um sich nun einem Mann öffnen zu können. Vor wenigen Tagen kam ein Bote aus Sion, der Shuny holen wollte. Sie bat wiederum um Bedenkzeit und versprach, sich
bis zur heißen Lichtwende zu entscheiden. Im Grunde wunderte sich Gerrys ein wenig über die Ausdauer von Sions jungem König Thylenon. Doch er kannte ihn und vermutete, daß sein Stolz es nicht zuließ, von einer einstigen Sklavin abgewiesen zu sein. "Herr," riß ihn Rhagan aus seiner Betrachtung, "es ist schon spät. Darf ich in einem der Gasthäuser übernachten?" Gerrys lächelte. "Wenn du ein paar Tage im Tempel bleiben willst, habe ich nichts dagegen, Rhagan. Und du brauchst auch keinen Vorwand, um zu kommen, wann immer es dir beliebt. Du bist in allem frei und als ein Helfer des Tempels überall in diesem Bereich zu Hause." Der große Mann senkte den Kopf. "Es gefällt mir ohnehin nicht, wie du Attor den Großteil seiner Arbeit abnimmst. Ich weiß, daß du ihn liebst. Doch was immer du tust, Rhagan: Liebe läßt sich nicht beweisen; vor allem Attor nicht. Versäume nicht dein eigenes Leben." "Ihr seid mir böse, Herr?" "Ein wenig," gab Gerrys mit sanfter Stimme zu. "Wenn ein Mensch die Chancen, die ihm geboten werden, nicht nützt, darf er nicht die Achtung jener erwarten, die ihr Leben selbst gestalten. Du bist kein Sklave mehr. Du könntest viel lernen und manche sinnvolle Arbeit tun. Statt dessen gibst du dich damit zufrieden, Attors Werk zu leisten. Das ist für euch beide kein Gewinn." Rhagan schwieg betreten. Der Vorwurf traf ihn tief, zumal der Falla eben das aussprach, was er zwar wußte, sich jedoch nicht eingestehen wollte. "Welche Arbeit wäre sinnvoll, Herr?" erkundigte er sich zögernd. "Jede, die dich befriedigt und dir das Gefühl gibt, im Leben wichtig zu sein." Rhagan sah auf. Seine dunklen Augen betrachteten den Falla forschend. "Ich bin Raakis Kraft begegnet, Herr," sagte er mit fester Stimme, "zwei Mal schon. Aber was könnte ich tun, um dem dunklen Gott zu dienen? Nur ein solches Werk würde mir auf Dauer gefallen." Gerrys lehnte sich zurück. Er wußte dies, denn er kannte den Geist Rhagans. "Prüfe dich genau," schlug er vor, "denn Raaki duldet keinen halben Dienst. Willst du dem dunklen Gott leben, und dazu mußt du fürwahr kein Priester werden, dann findet sich ein Werk für dich. Komm' zu mir, wenn du dich entschieden hast und übereile nichts."
D
er Falla leitete in der Stunde vor Mitternacht das Ritual seines Gottes und verweilte noch ein wenig allein in der dem dunklen Gott geweihten Halle des kreisrunden, sechsstöckigen Tempelbaus. Als er seine zu ebener Erde liegenden Gemächer innerhalb des eigentlichen Tempelbaus aufsuchen wollte, sah er zu seinem
Erstaunen Shuny, die, mit einer Kerze in der Hand, auf ihn wartete. Die Priesterschaft bewohnte kleine Häuser mit flachem Dach, die verstreut im weiten Tempelgarten errichtet wurden. Nur die Fallas lebten ständig in dem heiligen Bau. Shunys Anwesenheit zu dieser nächtlichen Stunde verwunderte Gerrys, doch sehr deutlich empfing er die Signale ihrer Scheu und der Furcht, getadelt zu werden. So lächelte er sie freundlich an. "Bitte erlaubt mir, mit euch zu reden," stammelte die junge Priesterin, die vor kurzem die zweite Weihe empfing und nun nicht mehr unter der Leitung der Falla stand. Gerrys lud sie in seine Räume, erleuchtete mit seinem Lebenden Kristall das Zimmer. Fragend sah er sie an. "Es ist wegen Thylenon," murmelte Shuny unsicher, "ich weiß einfach nicht, was ich Sions Herrscher sagen soll." "Ist das so schwer?" erkundigte er sich freundlich. "Wenn du ihn liebst und begehrt, sagst du Ja und wirst seine Frau. Wenn nicht, ist die Antwort noch leichter." "Aber wenn ich doch nicht weiß, was ich will!" rief sie gequält. "Ich habe ihn sehr gern, immer noch, obwohl wir schon so lange getrennt sind. Es ist aber so, daß ich mir nicht vorstellen kann, mit ihm zu leben." "Ein Problem, das du eher mit einer Priesterin als mit mir besprechen solltest," nahm Gerrys an. Shuny wollte etwas erwidern, doch sie schwieg, errötete und senkte den Blick. Behutsam berührte Gerrys da ihren Geist und sehr rasch erkannte er, was in ihr vorging. Seit sie vor Jahren in seinen Tempel kam, öffnete sie sich keinem Mann mehr. Die unzähligen Vergewaltigungen während ihrer Sklavschaft, die damals noch kein Gesetz verbot, blockierten die junge Frau und nahmen ihr die Fähigkeit, den sexuellen Akt körperlicher Einheit auch nur zu wollen. Auch Thylenon, Sions König, der lange hier als Priester lebte, durfte sie nur küssen und ein wenig liebkosen. Mehr gestattete sie nicht. Gerrys erinnerte sich an jene Nacht, als sie vor Jahren zu ihm kam und sich nackt neben ihn legte, hoffend, durch ihn zu lernen, die körperliche Vereinigung mit einem Mann ertragen zu können. Damals rührte er sie nicht an und trotzdem begann ihr Trauma danach, milder zu wirken. Gerrys wußte, daß Shuny vor vier Jahren in Sion kurz von dem Than empfangen wurde und er zweifelte nicht daran, daß der mächtige Freund ihre seelischen Wunden verschloß. Was Shuny seither hinderte, lag nicht mehr so tief. Ihr fehlte nur das Vertrauen darauf, daß ein Mann behutsam sein könne und zärtlich in sie eindringen. Der Falla trat nahe zu ihr. Er blies die Flamme ihrer Kerze aus, nahm sie ihr aus der Hand und legte sie beiseite. Gerrys sah sie lange schweigend an. Ihr hellbraunes Haar glänzte matt. Shuny besaß nicht mehr die kindlich weichen Züge, sondern hatte sich zur durchaus hübschen Frau entwickelt. Als er mit einem Finger zärtlich über ihre Lippen strich, erbebte sie ein wenig. "Du bist schön," versprach er, "und durchaus begehrenswert. Aber du willst nicht
begehrt sein und das ist gut so. Du weißt, wie sehr Schönheit vergänglich. Ist. Warum bist du hier?" "Ihr wißt es doch," hoffte sie. "Du hast immer noch Angst," stellte Gerrys fest. "Ich werde immer Angst haben," erwiderte sie da überraschend fest, "zumindest solange, bis ich es einmal als schön und gut erlebt habe. Versteht ihr nicht, daß ich das nicht von Thylenon erfahren kann? Wenn ich seine Frau bin, bin ich auch an ihn gebunden. Und ich kann mich weder für noch gegen ihn entscheiden, solange meine Gedanken die Stunde der Einheit fürchten. Ich will bei euch sein, Herr." "Warum?" erkundigte er sich sanft. "Weil ihr mich nicht besitzen wollt," erklärte Shuny in einem Ton, der langes Nachdenken über all dies verriet. "Ich teilte schon einmal euer Lager und ihr habt nichts getan, das mich verletzen konnte. Ich fühle mich sicher bei euch und weiß, daß ihr euch beherrschen könnt. Wenn ich es nicht ertrage, irgendwann, während es geschieht - ihr könntet euch zurückhalten. Ich bin sicher, daß ihr mich nicht vergewaltigen werdet. Herr, ich..." Da nahm Gerrys ihr Gesicht in seine Hände und unterbrach ihre Rede durch einen verhaltenen Kuß. Shuny schlang die Arme um ihn. Ihre Augen wurden feucht. "Ihr schickt mich nicht fort," begriff sie. "Ich darf bei euch bleiben." Er küßte sie sanft. Dann schob er sie ins angrenzende Schlafgemach. Er ließ ihr Zeit. Er entkleidete und wusch sich und überprüfte dabei seine eigenen Motive. Er wollte ihr durchaus helfen, doch er brachte ihr kein Opfer. Shuny reizte ihn seit langem. Die Macht, die er hier ausübte, verhinderte meist, daß er sich den Frauen seiner Wahl nahte; denn er wollte sie nicht unterjochen. Aber das war auch nicht nötig. Frauen besaßen ein sicheres Gespür dafür, ob ein Mann sie begehrte und genug Selbstsicherheit, um frei zu entscheiden. Steif wie ein Brett lag Shuny dann neben ihm; bereit, alles zu ertragen. Er streichelte ihre weiche Haut, liebkoste mit den Lippen ihr Gesicht, ihre Brüste. Sie reagierte aber nicht, ließ es nur geschehen. Da legte er den Arm um sie, bettete ihren Kopf an seine Brust und sagte: "So nicht, Shuny. Was du erwartest, das ist eine Vergewaltigung und die wirst du von mir nicht bekommen. Schlafe nun. Du wirst sehen, daß wenigstens ein gemeinsam geteiltes Lager und sich berührende warme Haut sehr angenehm sind." "Ihr seid böse?" "Nein, das bin ich nicht. Es ist alles in Ordnung. Mach' dir keine Vorwürfe und denke nicht darüber nach. Du wolltest mir vertrauen. Nun tu' es und schlafe." Shuny lag ganz still. Sie lauschte lange seinen regelmäßigen Atemzügen, ehe sie selbst in Schlummer fiel. Als Gerrys früh am Morgen erwachte, hatte sich Shuny ihm zugewendet. Sie lag halb auf ihm und betrachtete sein Gesicht. Nun senkte sie den Kopf und küßte seinen Mund, doch nicht verhalten, sondern bittend, fast fordernd. Er
hielt sie fest, verstärkte ihr schwaches Aufkeimen von Leidenschaft. Shuny blieb jetzt nicht mehr teilnahmslos und duldend. Sie wollte es wissen, heute, jetzt. Es dauerte lange, bis sie freiwillig und aus eigenem Antrieb die Schenkel spreizte, doch sie wollte sich mit ihm vereinen und ergab sich fast erstaunt einer in sich nie erahnten Begehrlichkeit. All ihre Ängste erloschen ins Nichts, als ihr eigener Körper zu fordern begann. Bisher erschienen ihr die Männer brünstig in ihrem wollüstigen Begehren. Und nun erlebte sie in sich selbst ein gieriges Verlangen und ein sinnliches Erbeben, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Im ekstatischen Sinnestaumel höchster Erregung erlebte sie ein Glück, das sie zu zersprengen drohte und als sie sich erschöpft in seine Arme schmiegte, fühlte sie sich heil in ihrem ganzen Wesen. Sie wollte etwas sagen, doch Gerrys schüttelte sacht den Kopf. Einige Zeit verharrten sie in der Wärme der Zweisamkeit, reglos genießend. Noch immer überwältigt von dem Geschehen, flüsterte Shuny dann: "Das habe ich nicht erwartet, Herr. War es sehr schwer für euch? Mußtet ihr euch sehr zurückhalten?" Gerrys schaute sie verblüfft an. Er küßte sie sacht, ehe er ihr ehrlich versprach: "Es war wundervoll, Shuny. Und ich habe mich zu keiner Zeit beherrscht, ganz im Gegenteil." Lange danach gestand sie: "Herr, ich möchte den Tempel verlassen." Eilig fügte sie hinzu: "Ich bin sehr glücklich in eurem Tempel und möchte nicht wirklich fort. Aber ich kann an diesem Ort nicht erkennen, ob ich zu Thylenon gehöre oder nicht. Alles erinnert an ihn. Wir waren hier zu oft beisammen. Wenn er mir erlaubt hätte, einige Zeit in Burg Sion zu leben, ehe ich mich entscheiden muß, dann wäre das kein Problem. Aber er will mich nur als seine Gemahlin oder gar nicht sehen. Ich brauche eine fremde Umgebung, die mich nicht ablenkt; brauche Ruhe und Zeit." "Das klingt sehr vernünftig," stellte Gerrys fest. "Wohin möchtest du gehen?" "Ich weiß nicht, welcher Tempel mich aufnehmen würde." "Aber ein Tempel soll es sein, Shuny?" "Ja, Herr." "Nun, ich möchte dir nicht Wyla empfehlen, weil die Frauen in jenem Reich sehr anders sind als in anderen Ländern. Sion auch nicht, was du sicherlich verstehst. Es gibt in Nodher Tempel, wohin du gehen kannst." Sie schüttelte den Kopf, überlegte. "Ich möchte nach Moras," erklärte sie entschieden. "Ich glaube, Thylenon würde mich so behandeln, wie es in Moras den Frauen geschieht. Das will ich sehen und verstehen. Danach erkenne ich meinen Weg vielleicht." Gerrys gefiel dieser Vorschlag gar nicht, doch er gestand ihr das Recht zu, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Also gab er nach. "Du kannst aber nicht allein reisen," erklärte er ihr, "in Moras sind des Nachts
allein reisende Frauen vogelfrei. Ich gebe dir einen Priester zur Begleitung mit." "Wen?" "Du hast die Wahl," versprach er, "wen möchtest du?" "Ich müßte ihm vertrauen können, Herr. Muß es ein Priester sein?" Gerrys lächelte verstehend. Rhagan vertraute er sie gern an, denn der Riese besaß ein sanftes Gemüt und, obwohl er beachtlich zu kämpfen verstand, lag ihm doch nichts an Gefahr. Er würde Shuny sicher geleiten. Außerdem trennte ihn dies für einige Zeit von Attor und das mochte ihm helfen, sein eigenes Leben zu überdenken. "Wann willst du reisen?" "Heute noch, wenn ich darf." "Hast du es so eilig, aus meiner Nähe zu entkommen?" forschte er zärtlich. Sie schmiegte sich an ihn, streichelte seine Haut. "Ich fühle mich frei und glücklich," versprach die Priesterin, "erfüllter als jemals zuvor. Ich komme wieder, Herr. Vielleicht bleibe ich nicht, aber was immer ich tun werde, ihr sollt es erfahren." Sie blieben noch einige Zeit beisammen. Shuny genoß dieses Gefühl zärtlicher Geborgenheit; die Freiheit von Angst; das Wissen um ihre eigene Weiblichkeit.
S
päter rief Gerrys Rhagan zu sich und erklärte ihm die Aufgabe, die er ihm zudachte. Sichtlich erfreut stimmte Rhagan sofort zu. Gerrys reichte ihm eine Karte, skizzierte ihm den sichersten Reiseweg und klärte ihn über die grundlegend verschiedenen Sitten der beiden Reiche Nodher und Moras auf. Er beschrieb dem Tempelhelfer die ihm bekannten gefährlichen Tiere des Sumpfreiches; zeichnete ihm giftige Pflanzen auf und beschrieb jene Grasarten, die bodenlosen Grund bevorzugten. Rhagan staunte. "Ihr seid nie in Moras gewesen, wie ich hörte," murmelte er ungläubig, "wie kommt es, daß ihr dieses Reich so gut kennt?" Gerrys lachte leise. "Die Gesetze der Reiche zu kennen, ist meine Pflicht," erklärte er, "ihre Pflanzenwelt mein Interesse und die Tiere, die ich dir nannte, sind jedem, der auch in der Heilkunst unterwiesen wird, bekannt. Geleite Shuny sicher zum Tempel der Weisheit und bestelle dort dem Falla Kymynos meine Grüße. Du wirst ihm als Gast willkommen sein." "Wenn wir bald reiten," überlegte Rhagan, "erreichen wir bis zum Abend die Plantage. Ist es unklug, wenn ich mich von Attor verabschiede?" "Keineswegs, wenn du es möchtest. Nur laß dich nicht von ihm halten, Rhagan. Ich vertraue dir eine Priesterin an und ich hoffe, du enttäuschst mich nicht."
"Nicht, wenn diese Priesterin Shuny ist, Herr," versprach Rhagan sofort. "Sie ist eine kluge und schöne Frau und ich möchte nicht, daß sie jemand begleitet, der vielleicht weniger gut auf sie achtet. Ich hoffe, das klingt nicht zu überheblich." "Ich kenne deine Vergangenheit," erinnerte ihn Gerrys, "und weiß, daß du mit Attor viele Abenteuer bestanden hast. Du bist fähig, Shuny sicher zu geleiten und sie, wo nötig, zu beschützen. Es beruhigt mich sehr, dich an ihrer Seite zu wissen." "Ich danke für euer Vertrauen," versicherte Rhagan ernst, "ich werde es nicht enttäuschen, Herr."
O
bwohl sich Shuny und Rhagan seit Jahren immer wieder sahen und auch miteinander sprachen, herrschte doch eine gewisse Scheu zwischen ihnen. Daß sie beide als Sklaven geboren wurden und in diesem Tempel ihre Freiheit erhielten, verband sie. Doch er lebte einen knappen Tagesritt entfernt, arbeitete als Helfer und besaß keinerlei Ausbildung. Shuny war Priesterin; in mancherlei Dingen unterwiesen, die er nicht kannte. Sie erschien ihm wunderschön und fast zerbrechlich. Rhagan bewunderte ihre Reitkunst, ihre anmutigen Bewegungen, das Wissen, das er in ihr mehr vermutete als wußte. Sie hatte sich seit gestern sehr verändert, was ihn über die Maßen erstaunte. Shuny sprach freier mit ihm, wich seinem Blick nicht mehr aus und schien stärker und selbstbewußter zu sein. Er forschte aber nicht nach dem Grund, so wenig wie nach dem Anlaß ihrer Reise. Unablässig dachte er jedoch über sie nach. Rhagan hoffte, daß sie seine Gesellschaft ertragen würde. Er fühlte sich häßlich und plump neben ihr. Tatsächlich war er keine Schönheit. Sein glattes, schwarzes Haar wirkte immer ein wenig fettig; die buschigen Brauen ließen ihn düster erscheinen; die spröden, vollen Lippen schienen kein Lachen zu kennen und die etwas zu breite Nase wirkte in seinem gebräunten Gesicht fast unförmig. Shuny hingegen bemerkte diese scheinbaren Nachteile gar nicht. Unbewußt verglich sie ihn mit Thylenon, dem Mann, der sie zum Weib begehrte. Er sah besser aus als Rhagan, wirkte geschmeidiger und edler. Doch er ließ sich von einem gewissen Hochmut leiten, zeigte sich stolz und teilweise auch überheblich. Rhagan behandelte sie äußerst zuvorkommend, blieb bescheiden, doch selbstbewußt und stets aufrichtig. Shuny schüttelte nachdenklich den Kopf. Nein, mit Thylenon wäre sie nicht auf eine lange Reise gegangen. Rhagan konnte sie vertrauen. In seiner Größe und Körperkraft wirkte er auf sie wie ein Berg im Sturm, unerschütterlich und fest. Sie lächelte ihm zu und ahnte nicht, wie glücklich er sich dabei fühlte. Sie übernachteten im Haupthaus der Sajik-Plantage, die zum Schwarzen Tempel gehörte. Hier lebten und arbeiteten nicht nur Helfer, sondern auch Priesterschüler sowie Männer und Frauen, die ihre Weihen schon besaßen. Der Wein war gut und sein Ertrag sicherte zum großen Teil den Unterhalt des Tempels. Bisher jedenfalls blieb Gerrys nie einen Solar der Abgaben an König Ariston und Amarra schuldig. Seit Attor diesen Besitz verwaltete, blühte das Geschäft. Hierin leistete er, wenn auch nur widerwillig, hervorragenden Dienst. Obwohl um seine Handgelenke breite
Kupferreifen geschmiedet wurden, die ihn für jeden sichtbar als Sklaven auswiesen, mußte er doch keine Demütigungen ertragen. Er empfing sogar ein gewisses Maß an Achtung und dies galt durchaus ihm selbst und seinem Werk; nicht der Tatsache, daß er des Fallas Bruder und diesem äußerlich sehr ähnlich war. Seine Entscheidungen, seine Berechnungen und Planungen erwirkten den Gewinn der Plantage; körperliche Arbeit hingegen scheute er und gern ließ er diese, wo sie eigentlich seine Aufgabe war, von Rhagan verrichten. Als sich sein einstiger Sklave am folgenden Morgen von ihm verabschiedete, tobte er in wildem Zorn. Er nannte Rhagan undankbar, egoistisch und treulos, da er ihn verließ und bedachte ihn mit ungerechtfertigten Vorhaltungen. Shuny wartete draußen bei den Pferden, doch sie hörte erschreckt sein Schimpfen. Rhagan blieb gelassen. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen neben der Tür, hörte Attor eine Weile an und unterbrach ihn schließlich: "Schreibe dir den Rest deiner Beschimpfungen auf und lies sie mir nach meiner Rückkehr vor," meinte er gelassen. "Ich habe jetzt nicht die Zeit, dir weiter zuzuhören. Ich weiß, daß du nicht wirklich wütend bist, jedenfalls nicht auf mich. Dich ärgert doch nur, daß du an diesen Ort gefesselt bist, während ich mich auf eine Reise begeben kann und Neues erleben. Früher taten wir das gemeinsam, Attor. Und es war trotz aller Kämpfe, die wir ausfochten, eine gute Zeit." Attor starrte auf das Kupfer an seinen Armen. "Ohne diese Dinger würde ich dich begleiten," brummte er. "Und Maike verlieren," erwiderte Rhagan ernst. Attor nickte. Er liebte Maike wie eine Tochter. Sie war ein Tempelkind; von Priestern in Trance gezeugt und bestimmt, Priesterin zu werden. Er hatte kein Recht an ihr, obwohl er sie seit ihrer Geburt umsorgte. Doch er durfte nur so lange als ihr Vater gelten, wie er beständig das nun neunjährige Kind umsorgte. Auch die Freiheit hätte ihm keine Reise und kein Abenteuer erlaubt. Er wußte es und er haßte den Zwang, dem er sich unterworfen fühlte. "Kommst du wieder?" wollte er von Rhagan wissen. "Liegt dir daran?" Die Frage klang spöttisch. "Du gibst dir nicht sehr viel Mühe, meine Anwesenheit zu schätzen, Attor. Im Tempel werde ich freudiger gelitten als hier. Ich komme wieder. Doch ob ich bleibe, das weiß ich noch nicht." "Was könntest du schon tun? Du hast kein Handwerk gelernt, kannst nichts. Sei froh, wenn du hier Arbeit findest und dein Auskommen hast." Rhagan betrachtete ihn nachdenklich. War dieser Mann all die Jahre der Treue und der unerwiderten Liebe wirklich wert? Seine Stimme klang fast überheblich: "Du sagst es, Attor. Ich kann nichts. Aber ich kann alles lernen. Lebe wohl." Er wartete keine Antwort ab, sondern verließ das Haus und eilte zu seinem Pferd. Shuny sah ihn scheu an, doch als er lächelte, erkannte sie erleichtert, daß dieser Streit ihn nicht sehr tief verletzte.
A
ls sie nordwärts zogen, zügelten auf einem nahen Hügel drei Reiter ihre Pferde und sahen ihnen nach. Weder Rhagan noch Shuny bemerkten sie. Der Jüngste von ihnen sprang aus dem Sattel. Es war Prinz Ilkonys; Aristons Sohn und Nodhers Erbe. Ihm stand das Recht zu, das Haar offen zu tragen. Braune Locken umrahmten sein fröhliches, glattes Kindergesicht. Er war zehn Jahre alt und fühlte sich sehr erwachsen. Nach einem heftigen Streit mit der Mutter, die ihn noch immer wie ein kleines Kind behandelte, hatte er zornig erklärt, daß er zu Gerrys reiten würde, um einige Zeit Achtung zu erfahren und dann wutentbrannt die Burg verlassen. Er trug ein weißes, mit feinen Borten besetztes Hemd, enge Reithosen und knöchelhohe, weiche Lederstiefel. Über den schmalen Schultern lag ein dünner Umhang; nicht Schutz vor Kälte, sondern nutzlose Zierde, in der er sich sehr wichtig vorkam. Es bereitete Ilkonys geradezu Vergnügen, die Soldaten abzuschütteln, die ihm folgten und deren Pflicht der Schutz seines Lebens war. Werdyn und Philmor durften ihn begleiten. Werdyn mochte er recht gern. Der dreizehnjährige leistete ihm Pagendienste und ließ sich leicht in jedes Spiel locken. Er lachte gern und oft und nahm ohne Kränkung jeden Spott hin, mit dem Ilkonys ihn hin und wieder bedachte. Der Knabe hielt sein Haar zum Zopf geflochten und das verstärkte den schlacksigen Eindruck des großen Jungen sehr. Anders Philmor! Sein Vater hieß Hector, war des Königs Teju und damit oberster Offizier. Früh lehrte er den Sohn den Umgang mit Fechtwaffen und bemühte sich, einen tapferen Soldaten aus ihm zu machen. Philmor haßte den Vater, seit der ihn vor Jahren zwang, eine Ziege zu schlachten, um sich an den Anblick von Blut zu gewöhnen. Und es behagte ihm gar nicht, als er vor wenigen Wochen dem Erben der Macht als Gefährte und Leibwächter zugewiesen wurde. Er war kein Weichling, doch er fühlte sich in dieser Aufgabe haltlos überfordert, zumal Ilkonys ihm nie ein gutes Wort gab. Ariston mochte Philmor, der mit seinen fünfzehn Jahren durchaus schon verantwortungsbewußt schien. Dem König gefiel der Gedanke, seinem Erben einen so jungen Beschützer zu geben; weniger, weil er Philmor als dieser Aufgabe gewachsen betrachtete, sondern mehr, weil er den Sohn nicht nur mit Erwachsenen umgeben wollte. Aber Ilkonys verachtete die Protektion durch den Teju und das ließ er Philmor auch spüren. Immerhin mußte er ihm gehorchen, auch wenn er größer und stärker war. "Das ist Rhagan," erkannte der Prinz den fernen Reiter. "Wohin er wohl zieht? Und die Frau kenne ich auch." Er überlegte lange, dann erinnerte er sich an Shuny. Er lachte fröhlich und in Erwartung eines gelungenen Streiches. "Wir folgen ihnen." Philmor neigte sich im Sattel vor. "Verzeiht, Gebieter," wagte er einen Einwand, "die Reiter entfernen sich vom Schwarzen Tempel, der euer Ziel ist." "Na und? Es ist doch egal, ob wir heute oder erst in ein paar Tagen den Tempel erreichen. Gerrys wartet ja nicht auf mich und meine Eltern sind davon überzeugt,
daß ich dort in Sicherheit bin." "Es wäre trotzdem klüger, nicht ins Ungewisse zu reisen," beharrte Philmor unsicher. Ilkonys starrte ihn an. "Wenn du keine Lust hast, mit mir zu kommen, dann reite eben nach Nodher und sage dem König, daß du seinen Erben im Stich gelassen hast. Ich bin nur froh, wenn ich dich nicht sehen muß." Philmor preßte die Lippen zusammen und schwieg. Man hatte ihm befohlen, stets in der Nähe des Prinzen zu sein und daran mußte er sich halten. Fehlte er, erwartete ihn nicht nur des Königs Strafe, sondern vor allem des Vaters Zorn und der gestaltete sich zweifellos grausamer. Ilkonys stieg in den Sattel. "Kommst du nun mit oder nicht?" wollte er wissen. Werdyn fürchtete sich immer ein wenig, wenn Ilkonys so zornig reagierte. Er trieb sein Tier neben den Erben der Macht und versicherte eifrig: "Er kommt schon, Herr. Ihr hattet so gute Laune bisher und ich finde es schade, wenn ihr jetzt streitet." Ilkonys lachte vergnügt. "Mit dir streite ich ja nicht," versprach er, "du bist nicht so aufsässig. Reiten wir also. Aber paßt ja beide auf, daß die andern uns nicht bemerken. Wir halten erst mal Abstand und warten ab, wohin sie wollen." "Müssen wir im Freien übernachten?" erkundigte sich Werdyn ängstlich. "Na klar," freute sich Ilkonys darauf, "das macht Spaß. Es ist richtig aufregend, du wirst sehen. Sei nicht so feige, Werdyn. Eine Nacht in den Nebel ist immer toll." "So mutig wie ihr bin ich nun mal nicht," murrte der Knabe, "ich werde bestimmt nicht schlafen können." "Pah," wehrte Ilkonys spöttisch ab, "wir haben doch Philmor, um uns zu beschützen." Werdyn atmete erleichtert auf bei diesem Gedanken. "Muß er uns bewachen?" hoffte er. "Versprochen," erwiderte Ilkonys, "er kann ja bei Tage im Sattel schlafen. Dann hält er wenigstens seinen Mund." Es bereitete ihm Vergnügen, während des Rittes nun mit Werdyn über Philmor zu lästern und den Jüngling so zu kränken. Als am Abend die Nebel sanken, lagerten sich die Jungen in sicherer Entfernung von Shuny und Rhagan ins Gras. Philmor grub ein paar Süßwurzeln aus, die sie lustlos verzehrten. Werdyn, müde vom langen Ritt, legte sich bald nieder. Der Schrei eines Nachtvogels ließ ihn angstvoll auffahren. Furchtsam klammerte er sich an Philmor. "Was war das?" forschte er.
"Bloß ein Vogel," murmelte Ilkonys schlaftrunken. "Leg' dich wieder hin und sei still." Doch Werdyn starrte entsetzt in den undurchdringlichen Nebel. Jedes Geräusch der Nacht schien ihn zu bedrohen. Er jammerte und wollte jedes Knacken und nächtliche Flüstern erklärt haben. Philmor versuchte, ihn zu beruhigen, doch vergeblich. Auch er fühlte sich nicht wohl, doch nie wollte er das zugeben. Ilkonys hingegen fand dieses Abenteuer zwar aufregend, doch keineswegs gefährlich. Im Sommer begleitete er den Vater stets auf seiner Reise zu allen sechs Haupttempeln des Reiches und da übernachteten sie oft im Freien. Ariston zeigte dem Sohn die Wunder des Lebens, auch jene der Nacht. Der Knabe kannte keine Furcht vor nur vermuteten Gefahren und er ängstigte sich auch nicht durch törichte Vorstellungen. Aber allmählich fühlte er sich durch Werdyns Gejammer doch sehr gestört. Böse fauchte er seinen jungen Diener an: "Wenn du nicht still bist, dann reite ich mit Philmor allein weiter." "Ich kann nicht schlafen," klagte Werdyn. "Dann laß wenigstens mich und Philmor in Ruhe," forderte Ilkonys mitleidlos. "Wir sind müde." "Aber ihr habt gesagt, daß Philmor wach bleiben muß und uns beschützen." Ilkonys setzte sich auf. Im dichten Nebel erkannte er seine Begleiter nur als Schemen. "Wenn Werdyn jetzt nicht still ist," verlangte er von dem Ältesten, "bindest du ihm den Mund zu. Wir jedenfalls schlafen jetzt." Angstvoll schwieg der Junge nun. Es beruhigte ihn keineswegs, als er bald darauf die gleichmäßigen Atemzüge seiner Gefährten vernahm. Er fühlte sich allein und verlassen. Doch irgendwann übermannte auch ihn die Müdigkeit und er schlief bald darauf tief, fest und traumlos.
N
icht weit entfernt bewachte Rhagan den Schlaf der Priesterin. Vorsichtig, um sie nicht zu stören, breitete er die Satteldecken über sie. Ihre Nähe tat ihm gut. Sie murmelte unverständliche, doch sehr zufriedene Silben im Schlaf, zog unbewußt die Decken näher an sich. "Schlafe," flüsterte Rhagan zärtlich, "ich wache über dich. Ich werde dich sicher nach Moras geleiten. Es droht dir keine Gefahr, Shuny. Sei ganz unbesorgt." Er war bereit, es mit jedem Mann der Reiche aufzunehmen, um sie zu beschützen und er besaß durchaus die Kraft, mit einer ganzen Horde Wegelagerer siegreich zu kämpfen. Doch er konnte nicht ahnen, daß am Ziel ihrer Reise ein Gegner wartete, der nicht mit Schwert und Kraft bezwungen werden konnte. Rhagan hatte Shuny sehr gern, ohne sie jedoch zu begehren oder sie als Geliebte, geschweige denn als Gemahlin zu wünschen. Er war jetzt alles andere als ein
Jüngling, doch in den Jahren seiner Unfreiheit gab es für ihn keine Gelegenheit, einer Frau zu nahen und nun, da ihm diese Möglichkeit offen stand, verbot er sich selbst solche Gedanken. Er fürchtete sich ein wenig davor und er wollte nicht von unerreichbaren Dingen träumen. Rhagan wußte, daß Sions Herrscher diese Priesterin begehrte. Sie war ihm unerreichbar und das akzeptierte er ohne jede Bitterkeit. Daß sie ihm Leben und Sicherheit auf dieser Reise anvertraute, das erfüllte ihn mit Stolz. Ihm schien, als habe er nie zuvor eine wichtigere Aufgabe übernommen und er wollte über sie wachen. Rhagan rollte sich, einen Schritt von ihr entfernt, zusammen. Sein Schlaf gestaltete sich sehr leicht. Jedes nahende Geräusch mußte ihn aufwecken. Doch solange sie sich noch in Nodher befanden, drohte keine Gefahr. Darauf vertraute er und darum gestaltete sich in dieser Nacht sein Schlaf tiefer als zu anderen Zeiten. Ende Kapitel 3
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 4
S
ittyra fühlte sich ausgebrannt und hohl. Apathisch lag sie tagelang auf ihrem Lager, unfähig, zu reden, zu empfinden oder auch nur zu denken. Im letzten Jahr litt sie an Sumpffieber, das sie ähnlich wehrlos hielt. Doch damals ertrug sie ihre Krankheit nur schwer, zeigte sich ungeduldig und kämpfte gegen die Schwäche an. Nicht jetzt. Sittyra ergab sich rückhaltlos diesem seltsam leeren Zustand und nahm ihre Umgebung kaum wahr. Parsus fluchte. Der Tempel der Weisheit erklärte sich bereit, die unverschämte Summe von eintausend Solaren für einen weiteren erweckten Kristall zu bezahlen und das Mädchen, das er für dieses Werk brauchte, blieb geistesabwesend und kam einfach nicht zu Kräften. Zwar versuchte er sein Ritual dennoch, erlangte aber mit dem halb ohnmächtigen Kind keinen Erfolg. Es blieb ihm nichts anders übrig, als zu warten. Vor Orales, der täglich nach dem Bruder Elonar schaute, verbarg er sie jedoch. Ferdenes verstand ihn nicht. Weshalb sollte der Heiler sich nicht um das Mädchen kümmern. Als Parsus ihm erklärte, daß ihr Zustand keine Krankheit, sondern Folge der Magie sei, erschrak Ferdenes. Daß die Sache gefährlich sein könne, kam ihm bisher nicht in den Sinn. Nun gefiel ihm der Gedanke an die
Erweckung weiterer Kristalle gar nicht mehr. Auch Elonar erlangte seine alte Kraft nicht. Schwächer als vor dem Ritual schlief er zu lange, zu unruhig, zu viel. Er aß kaum. Bleich lag er auf seinem Lager, als Orales seinen Verband wechselte. Der Arzthelfer redete beruhigend auf ihn ein, behauptete sogar, daß er bald gesund sei. Danach aber rief er Parsus mit vor das Haus. "Habt ihr euch an meine Anweisungen gehalten?" erkundigte er sich mit ernster Stimme. "Selbstverständlich," log Parsus aufgebracht, "ich spiele nicht mit dem Leben meines Bruders. Was bist du für ein Mann, da Elonar unter deiner Pflege eher schwächer denn kräftiger wird? Taugen deine Wundsalben nichts?" "Die Wunde verheilt gut," wehrte Orales nachdenklich ab, "es ist auch kein Brand in ihr. Ich hatte den Eindruck, als habe euer Bruder sich sehr erregt; jedenfalls wirkt er seelisch sehr erschöpft. Er braucht Ruhe, Parsus. Achtet darauf, daß er sie hat." "Was vermutest du?" Lauernd sah Parsus ihn an. Seine Hand umschloß das Heft seines Dolches. Sollte Orales die Wahrheit auch nur ansatzweise erkennen, mußte er sterben. Nichts sollte ihn jetzt noch aufhalten. "Euer Bruder hat sich vor einigen Tagen vermählt," antwortete Orales gelassen. "Seine Frau ist sehr jung und ihm vermutlich ergeben. Es ist nicht klug, wenn er Sittyra jetzt schon mit Elonar teilt." Parsus atmete auf und entspannte sich. Wenn sich geistige und sexuelle Erschöpfung ähnelten, blieb die Wahrheit wenigstens verborgen. Er lächelte zufrieden. "Ich sorge dafür, daß Sittyra nicht bei Elonar liegt," versprach er. "Bist du jetzt zufrieden?" Orales überging diese Frage, versprach, am andern Tag wieder zu kommen und verabschiedete sich. Ein ungutes Gefühl aber blieb, dessen Ursprung er nicht zu ergründen verstand.
G
edankenverloren betrachtete Parsus den verbliebenen, noch unerweckten Kristall. Wie milchige Nebelschwaden schimmerten die Einlagerungen in dem teilweise durchsichtigen Quarz. Er fühlte sich gut an, glatt und angenehm. An einer Ecke zeigte sich ein winziger Haarriß, doch so wenig tief, daß keine Gefahr bestand, der Stein könne sich spalten. Parsus überlegte, ob Sittyra vielleicht beim Anblick des Kristalles reagierte. Er brauchte das Mädchen und er wurde ungeduldig. Nun, ein Versuch konnte nicht schaden. Er erhob sich entschlossen. Wenig später packte er wutentbrannt den jüngeren Bruder und schleuderte ihn zornig in eine Ecke des kleinen Zimmers. "Bist du von Sinnen?" brüllte er Ferdenes an, der sich langsam erhob.
Nackt stand er Parsus gegenüber. Es paßte ihm gar nicht, daß der Bruder gerade jetzt kam, da er das Mädchen mit Gewalt nehmen wollte. Es ging Parsus auch nichts an. Sittyra gehörte ihm, hatte sich ihm anvermählt. Es war sein Recht, bei ihr zu liegen! "Sie ist doch nur noch Miska," wehrte er sich, "sie kann keinen Kristall mehr erwecken." "Bist du in sie eingedrungen?" "Nein," fuhr ihn Ferdenes an, "du kamst zu früh. Und jetzt verschwinde, damit ich es nachholen kann." Parsus hob die Faust, bereit, den Bruder zu schlagen. In diesem Moment aber setzte sich das Mädchen auf. Verschämt hielt es die Decke vor die kleinen Brüste. Angstvoll sah sie die Männer aus feuchten Augen an. "Bitte nicht," flüsterte sie. Parsus wirbelte herum. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Sittyra war wieder bei Sinnen! Innerlich jubelte er. Endlich, endlich konnte der zweite Kristall erweckt werden. "In einer Stunde kannst du sie haben," bot er Ferdenes an, "dann sind wir tausend Solare reicher." "Du willst es jetzt tun?" "Sofort, Brüderchen. Wir haben lange genug gewartet auf diesen Augenblick. Hole Elonar. Ich bereite wieder alles vor. Es wird so leicht sein wie beim letzten Mal." "Elonar ist krank." "Das war er vor Tagen auch," ließ Parsus diesen Einwand nicht gelten. Ferdenes nickte. Der große Bruder hatte ja Recht. Es geschah nichts wirklich Schlimmes dabei. Sittyra und Elonar wurden geschwächt durch ihr Ritual, doch sie erholten sich ja wieder davon. Vermutlich ging es den Priesterinnen auf Amarra bei diesem Werk nicht anders.
S
ittyra fürchtete sich. Parsus legte sie wieder nackt auf den schwarz verhüllten Tisch, stellte die Kerzen auf und legte das Messer bereit, mit dem er ihre Haut ritzen wollte. Sie erinnerte sich kaum an das erste Ritual; wußte nur noch, daß sie ein seltsamer Sog berührte und sie danach das Bewußtsein verlor. Doch immerhin erschien es ihr besser, ohne Bewußtsein Ferdenes zu ertragen, als unter seiner groben und gierigen Art zu leiden. Wenn der Stein, den Parsus eben liebkoste, ihr Wissen und ihren Willen ausschalten konnte, so wollte sie sich dagegen nicht wehren. Sie nannten es zwar einen Antares verehrenden Gottesdienst, doch das Mädchen glaubte ihnen nicht. Was hier geschah, war böse und unheilschwanger. Doch was immer es sein mochte, sie nahm sich vor, es zu ertragen. Elonar stöhnte, als Ferdenes ihn aufrichtete und er wehrte sich kurz gegen das
Ansinnen, trotz seiner Schwäche an dem Ritual teilnehmen zu müssen. Aber die Aussicht auf tausend Solare reizte ihn sehr. Er wollte es hinter sich bringen und dann nur noch schlafen, am liebsten Tage hindurch. Der hohe Lohn rechtfertigte seine Mühe. Er mußte sich zwar konzentrieren, obwohl ihm danach gar nicht zumute war, doch er wollte den letzten Rest seiner Kraft aufwenden, um einen Teil vom Sein des Mädchens in den Stein zu bannen. Ferdenes grinste lüstern, als er den nackten Mädchenkörper auf dem Tisch sah. Die Kleine reizte ihn nicht wirklich, nur war sie eben hier und leicht zu erreichen. Er wollte sie schon nicht mehr. Seiner Meinung nach stellte sie einen Kapitalwert dar. Solange sie keine andere Jungfrau für diese Arbeit hatten, sollte Sittyra nur dafür zur Verfügung stehen. Er wollte morgen den neu erweckten Kristall zum Tempel bringen. Dann würde der hochmütige Falla begreifen, daß er etwas vermochte. Und dann mußte ihn die Priesterschaft dort mit mehr Respekt und Achtung behandeln. Ferdenes konzentrierte sich. In diesem Stein sollte so viel Licht als nur irgend möglich erscheinen. Er dachte an nichts anderes mehr. Parsus sorgte für das blutige Lichtsymbol, legte behutsam den Stein auf den Bauch des Mädchen. Seine Lippen formten Silben, aus seiner Kehle drangen gutturale Laute. Fasziniert spürte er als erster das Nahen des Erfolges. Dieser Stein bedeutete ihm nicht sehr viel. Er sollte lediglich einer von vielen sein, die in ihrer Summe ihm Reichtum, Macht und Einfluß gaben. Eines Tages würde auch er sein Haar offen tragen dürfen und sich vor niemandem mehr neigen müssen. Es konnte nicht mehr lange dauern. Sein Blick fraß sich in dem Kristall fest, als die Kerzenflammen unruhig zu flackern begannen.
F
ast spürbar pulsierte ungeheure Spannung in dem kleinen Raum unter dem Mühlendach. Es war, als verströme der unerweckte Kristall ein gieriges Fordern; als griffe der Stein nach den Menschen, die ihn gebannt anschauten. Sittyra fühlte brennenden Schmerz in der verwundeten Bauchdecke. Sie sah nicht, wie das zuvor kaum heraussickernde Blut nun machtvoll strömte. Sie spürte es auch nicht, denn ihre Sinne umkreisten unablässig den Sumpfkristall; ob sie es nun wollte oder nicht. Elonar erfaßte ein Schwindelgefühl. Er glaubte, zu fallen, hielt sich impulsiv an den Füßen des Mädchens fest und schloß krampfhaft die Augen. Doch das Bild des Steines blieb in voller Lebendigkeit in ihm. Ferdenes hob abwehrend ein wenig die Hände. Parsus brachte sein wie in irrem Wahnsinn verzerrtes Gesicht näher an den Kristall. Sie alle atmeten heftig, doch in unheimlich gleichartigem Rhythmus. Und Parsus intonierte weiter die das Licht in den Kristall zwingende magische Formel.
E
in Lebender Kristall war eine kostbare Seltenheit. Äusserlich unterschied er sich in nichts von den am Grund der Sumpflöcher wachsenden Kristallen; entsprach ihnen in Form und Farbe zur Gänze. So wenig wie die Geistigkeit eines Menschen in Bezug
zu seinem Äußeren steht, so wenig konnten die inneren Fähigkeiten eines Kristalles mit bloßem Auge erkannt werden. Ein sehr wacher Geist vermochte wohl, die Ahnung der Andersartigkeit zu verspüren, ohne diese jedoch rational begründen zu können. Auf Amarra lebten drei Priesterinnen des Lichts, deren einzige Aufgabe darin bestand, die unerweckten Sumpfkristalle auf ihre innere Matrix hin zu überprüfen. Bestand auch nur der geringste Zweifel, ob ein solcher Stein zur Gruppe der Lebenden gehörte, durfte er nicht erweckt werden, bis Gewißheit bestand. Denn in die Flammenden Kristalle wurde auch auf Amarra Geist gebunden, eine Spur der menschlichen Quintessenz; doch immer so, daß die dieses Werk vollbringenden Priesterinnen keinen Schaden dabei erlitten und auch nichts von sich gaben als bewußte und überströmende Kraft. Anders verhielt es sich mit den Lebenden Kristallen. Es hieß, sie besäßen ein amorphes Bewußtsein dämonischer Struktur, dessen verzehrende Gier in unersättlicher Vernichtung ganze Landstriche entvölkern könne. Diese Steine wurden auf Amarra zwar erweckt, doch nicht gespeist durch menschliche Kraft oder Vitalität. Sie leuchteten aus sich selbst heraus, verzehrten ihr eigenes Bewußtsein und blieben bald danach zurück als winziger Schimmer, kaum geeignet, die Fläche zwischen zwei hohlen Händen zu erhellen. Dann erst konnte ein starker, menschlicher Geist sich in dem Kristall zentrieren und aus seinem eigenen Sein heraus gefahrlos die benötigte Fülle des Lichtes willentlich bewirken. Es lauerte! Es hatte nicht auf diese Stunde gewartet, denn Es existierte in einem Bereich jenseits der Zeit, wo nichts anderes wehte als Es selbst. Es wußte sich angerührt, von Kraft umgeben, von einer lebendigen Schwingung gespeist. Es griff zu, gierig, rückhaltlos, aggressiv. Es wollte die Fülle dieser Kraft, denn es entsprach seinem Wesen, alles aufzusaugen und zu assimilieren, das Es erreichte. Gleißendes, weißes Licht tauchte den kleinen Raum in blendende Helligkeit. Ein Zittern durchlief den Körper des Mädchens, während ein gurgelnder Laut über ihre Lippen drang. Elonar verkrallte sich in ihre Füße, stierte blicklos vor sich hin. Ganz langsam kippte er nach vorn. Hart schlug sein Kopf auf die Tischplatte. Als dieses Licht aufleuchtete, reagierten Ferdenes und Parsus impulsiv und gleichzeitig. Der Jüngere warf sich angstvoll zu Boden und flehte die Gottheit der Dunkelheit, Raaki, um Hilfe an. Zitternd in wahnsinniger Furcht blieb er liegen. Parsus riß sich gewaltsam von dem Stein los, doch nicht angstvoll, sondern im Bewußtsein des Sieges. Heller als je ein Kristall in den Reichen leuchtete, so zeigte sich der Stein durch die Beeinflussung seiner Magie! "Geschafft," jauchzte er. "Der ist mehr als tausend Solare wert. Dieser Kristall kann eine ganze Siedlung erhellen!" In sprachloser Enttäuschung sah er aber dann, wie das weiße Licht in sich zusammenfiel. Nur ein kaum wahrnehmbarer Schimmer blieb zurück, mehr erahnt denn gesehen. Parsus nahm den Stein in die Hand. Er verstand nicht, was hier geschah. Und er wußte nicht, daß Es lauernd wartete, bis Es neue Nahrung erhielt. Ferdenes erhob sich taumelnd. "Was war das?"
Parsus hob den Blick, schüttelte in völligem Nichtverstehen den Kopf. "Ich weiß es nicht, Brüderchen. Immerhin ist der Kristall erweckt. Schau genau hin, er leuchtet etwas. Am besten, du reitest sofort zum Tempel und verkaufst ihn." Ferdenes sah auf Sittyra, die ruhig auf dem Tisch lag, mit geöffneten Augen, doch ohne wirkliches Schauen. Und er sah auf Elonar, dessen regloser Körper seltsam verkrümmt wirkte. "Ich kümmere mich um die beiden," versprach Parsus mit drängender Stimme. "Nimm den Stein und beeile dich. Wenn wir das Geld haben, verlassen wir Clys und reisen zur Burg des Königs." "Tausend Solare für diesen Schimmer?" zweifelte Ferdenes. "Der Falla des Tempels wird mich verlachen." "Das ist nicht anzunehmen," widersprach Parsus streng, "denn die Priester kaufen ja nicht wirklich das Licht, sondern nur das vermeintliche Schweigen über die Tatsache, daß wir Kristalle erwecken können. Sie wollen, daß Amarra allein das Geschäft macht. Und das ist jeden Preis wert." Das leuchtete Ferdenes ein. Doch er empfand vor diesem seltsamen Kristall nun erhebliche Scheu; wagte es nicht, ihn in die Hand zu nehmen. Ferdenes warf dem Bruder einen Beutel zu und sagte: "Pack' den Kristall ein. Ich ziehe mich um." Wenig später verließ er die Mühle, um in Clys wiederum ein Pferd zu mieten und damit zum Tempel der Weisheit zu reiten.
P
arsus wartete nur darauf, daß der Bruder das Haus verließ. Dann neigte er sich über Elonar, hob vorsichtig dessen Kopf an. Er sah in gebrochene Augen! Es dauerte einige Zeit, bis er begriff, daß Elonar nicht mehr lebte und auch danach wollte er es noch nicht glauben. Er löste Elonars Finger von Sittyras Füßen, trug den Bruder in dessen Zimmer und bettete ihn so vorsichtig, als könne er ihm noch Schmerz bereiten, auf sein Lager. Lange blieb er bei ihm. Sittyra interessierte ihn nun nicht. Das Mädchen mochte auf dem Tisch liegen, bis er Zeit fand, nach ihr zu sehen. Parsus weinte nicht, doch er trauerte durchaus. Elonar stand ihm immer näher als Ferdenes. Der Tote wußte, um was es bei dieser Sache ging. Er raubte den Flammenden Kristall, der Parsus den rechten Weg wies; tötete sogar dafür und gönnte sich trotz seiner Verwundung keine Ruhe, bis dieser Kristall Parsus gehörte. Und nun opferte er sich für ihren gemeinsamen Traum. Parsus nahm an, daß die durch die Verwundung verursachte Schwäche den Bruder überforderte und er darum die ungeheure Anspannung bei der Erweckung des Kristalles nicht ertrug. Er ahnte nicht, daß das gleißende Licht, das er sah, die Flamme war, die den Geist seines Bruders verbrannte! Nach Stunden erst ging Parsus zu Sittyra. Sie hatte sich nicht bewegt bisher und sie
rührte sich auch nicht, als die fünf niederbrennenden Kerzen ihre Haut versengten. Rasch blies er die Flammen aus. Er nahm ihren Kopf in die Hände, erleichtert feststellend, daß ihre Augen nicht gebrochen waren. Die Pupillen zeigten sich zwar unnatürlich geweitet und ohne jede Reaktion, doch das Mädchen atmete und lebte also. Er holte den von Elonar erbeuteten Flammenden Kristall, erleuchtete den Raum. Nach einiger Zeit gab er das sinnlose Unterfangen auf, Sittyra durch Zärtlichkeit und Schläge aufzuwecken. Achselzuckend trug er sie in Ferdenes' Zimmer, bettete sie nieder und bedeckte sie. Was ging ihn dieses Mädchen an? In ein paar Tagen würde sie wieder bei Sinnen sein und sei es, daß wieder ein Schock, hervorgerufen durch sexuelle Gewalt, nachhelfen mußte.
W
ährend Ferdenes dem Tempel zuritt, kam Orales wieder in die Mühle. Er konnte nur noch den Tod Elonars bestätigen. "Sagte ich euch nicht, daß er sich schonen muß?" fuhr er Parsus an. "Ihr wolltet das Mädchen von ihm fern halten." "Sittyra war nicht bei ihm," wehrte sich der Mann heftig, "denkst du, ich kann auf meinen Bruder nicht achten? Sittyra ist selbst krank und unfähig, einen Mann zu erregen. Es werden verdorbene Wundsalben sein, die Elonar töteten!" Orales erbleichte bei diesem Vorwurf. Er wußte zwar selbst, daß die ihm zur Verfügung stehenden Salben nicht von bester Qualität waren, doch schädlich wirkten sie nicht. "Wo ist das Mädchen?" wollte er wissen, zum Teil aus Interesse und zum Teil, um von sich abzulenken. Parsus konnte sich einer ärztlichen Untersuchung nun nicht widersetzen, ohne zugleich Orales' Vermutung zu bejahen. Unwillig führte er den Arzthelfer in Ferdenes' Zimmer. Besorgt untersuchte Orales das ohnmächtige Mädchen. Er bemerkte natürlich die fünf Brandstellen der Kerzenflammen und er sah auch das in die Bauchdecke geschnittene Lichtsymbol. Doch er schwieg darüber. Was immer Sittyra geschehen war, sie litt nicht an einer Krankheit, sondern an magischer Auszehrung. Und ihm wurden die Weihen gesperrt. Als starker Priester hätte er, vielleicht, helfen können. So konnte er gar nichts tun. Er richtete sich auf. "Sie stirbt," erklärte er mit dunkler, trauriger Stimme, "sie wird nicht wieder erwachen." "Was ist mit ihr?" Orales sah ihn lange an, ehe er leise erwiderte: "Sie hat mit Kräften gespielt, die sie nicht beherrschen kann und die sie nun verzehren." "Blödsinn," fauchte Parsus, "woher willst du das wissen? Du bist nur unfähig und willst die Schuld an deinem Versagen anderen geben. Verschwinde, Orales. Laß dich
nie wieder in der Mühle sehen, du Taugenichts. Ich rede mit Mernaos über dich. In Clys hast du keine Zukunft mehr." Wortlos ging Orales hinaus. Nachdenklich, sehr langsam schritt er der Siedlung zu. Er wurde verurteilt, hier zehn Jahre zu dienen und seit einigen Tagen entwickelten sich die Dinge so, daß ihm dies unmöglich wurde. Es begann mit dem unvermeidlichen Tod des jungen Ralinas, der ihm hinter vorgehaltener Hand angelastet wurde. Wenig später verblutete eine gebärende Frau unter seinen Händen und bald darauf war es ihm unmöglich, einen von Aligatoren schwer verletzten Familienvater zu retten. Vor zwei Tagen starb ein kleines Kind an Rachenbräune und nun lag Elonar tot auf seinem Lager. Morgen würde Sittyra sterben. Diese Häufung der Todesfälle brachte ihn in Verruf. Es gab schon viele, die seine Hilfe ablehnten und stur nach Mernaos verlangten. Ihm, dem ausgebildeten Arzt, verziehen die Leute hier jedes Versagen. Doch der Fremde, Orales, konnte unbarmherzig verachtet werden. Daß Mernaos zur Peitsche griff, wenn Orales versagte, ertrug der große Mann leichter als das Wissen um dessen nachlässige Arbeit. Orales besuchte noch einige Kranke, die so arm waren, daß sie seinen kostenlosen Dienst nicht ablehnen konnten. Er berichtete Mernaos nicht von all seinem Tun und erlaubte ihm nicht in jedem Fall, einen Preis zu fordern. Als er spät in der Nacht das Haus des Arztes betrat, schlief dieser schon.
F
erdenes mußte im Tempel nicht warten. Der Falla empfing ihn sofort in der heiligen Halle des Schweigens. Als er den erweckten Kristall aus dem Beutel nahm, schloß er für einen Moment die Augen. "Fühlt ihr euch nicht wohl?" erkundigte sich Ferdenes, doch mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse. "Ich bin nicht mehr jung," antwortete Kymynos langsam. "Hast du diesen Stein auch selbst erweckt?" "Ich bin nicht allein, doch erweckt wurde der Kristall in Moras und nicht auf Amarra. Ihr kennt den Preis. Es ist zwar kaum Licht in dem Stein, aber dafür ist er durch und durch einheimisch. Wollt ihr ihn haben?" Kymynos nickte lächelnd. Er drückte Ferdenes einen Beutel in die Hand und schob ihn zur Tür. "Die Summe stimmt," versprach er, "nun geh'. Wenn du wieder einen Kristall erweckt hast, laß es mich wissen." Es verwirrte Ferdenes, daß der Falla ihn so hastig verabschiedete und ihn dieses Mal auch nicht beschatten ließ.
K
ymynos eilte in seine eigenen Räume, verbot jede Störung und betrachtete dann
fasziniert den Stein. Er hielt einen Lebenden Kristall in Händen! Der törichte Bursche, der ihn verkaufte, wußte es nicht und doch war dies das seltenste Mineral der Nebelreiche. Es gab bisher insgesamt nur zehn Lebende Kristalle. Kymynos wußte es. Einige davon hatte er selbst schon gesehen, wenn er auf Amarra deren Trägern begegnete. Den größten dieser Steine besaß der Than; drei von ihnen gehörten Männern in Khyon; eine Frau in Wyla besaß einen; in Sarai gab es angeblich zwei; ein Lebender Kristall befand sich in Sion und einer war im Besitz von Nodhers dunklem Falla. Der zehnte Stein blieb in Amarra. Anscheinend hatte der Than bisher keinen Menschen gefunden, der ihm verdient genug erschien, diesen zu besitzen. Und nun hielt er, Kymynos, einen Lebenden Kristall in Händen. Kein Geist zentrierte in ihm. Der Stein war frei, konnte von jedem starken Geist durchleuchtet werden. Kymynos rebellierte nicht gegen das Gesetz, daß alle Lebenden Kristalle dem Than gehören mußten. Er fühlte sich zu alt, um für sich selbst diese Kostbarkeit zu wollen und er blieb Amarra zu ergeben, um an Raub auch nur zu denken. Lange, sehr lange betrachtete er den Kristall. Nie zuvor sah er einen freien Lebenden Kristall und darum konnte er die Andersartigkeit seines Glühens auch nicht erkennen. Er durfte dieses Kleinod keinem Boten anvertrauen. Kymynos beschloß, den Rapport mit dem seinen Tempel bewahrenden Priester auf Amarra zu schließen. Er wollte auf telepathischem Weg darum bitten, nach Amarra gerufen zu werden, um selbst diese Kostbarkeit dem Than zu überbringen. Vor zwei Jahren weilte er zuletzt auf der schönen Insel, die ständig von warmen Meeresströmungen umspült wurde; auf der es keine kalten Nebel gab und die sich darum wie ein phantastischer, überreich blühender Garten gestaltete. Damals sah er den Than nicht einmal, sondern nahm von dessen Pala Caryll alle Weisungen entgegen. Aber nun würde der Than Nymardos ihn empfangen. Kymynos verehrte seinen Herrn und schon der bloße Gedanke, Nymardos sehen zu dürfen, erfüllte ihn mit glücklicher Freude. Der alte Falla lächelte vor sich hin. Er würde Amarra sehen, seinen Herrn sprechen und dessen Segen hören dürfen. In dieser Nacht fand Kymynos lange keinen Schlaf. Auf sein Lager gebettet hielt er den Lebenden Kristall auf der nackten Brust; sich hingegeben dem schwachen Glühen halb öffnend. In Gedanken spielte er immer wieder die Szene durch, in welcher der Than ihm freundlich für das Überbringen des Kristalles dankte. Es wußte um die Gegenwart eines starken Geistes und Es brauchte einen solchen, um selbst zu erstarken. Elonar und Sittyra waren schwach, sehr schwach und verbrannten zu schnell im weißen Licht. Ferdenes verfügte über noch weniger Geisteskraft; ihn rettete nur seine rasche Flucht in Angst und Gebet. Parsus hingegen wollte Es nicht besitzen, wissend, daß auch dieser Mensch das Licht nicht ertrug. Es hätte ihn verbrennen können, doch Es wollte ihn noch verwenden. Parsus gehörte seiner Gier und darin konnte Es ihn leicht lenken. Dieser Mensch mochte noch von Nutzen sein. Nun aber umgab Es ein starker Geist, der im Licht verlöschen, aber nicht verbrennen würde. Dann besaß es eine reaktive Form, durch die sich Nahrung erlangen ließ. Es lockte, Es rief, Es begann, den alten Mann unmerklich zu beeinflussen. Kymynos fragte sich, wie es wohl sei, das Licht eines Lebenden Kristalles zu beeinflussen. Ob dies nach der Zentrierung des Geistes noch Kraft erforderte;
gespannte Aufmerksamkeit? Zeigte es sich als erhebendes Gefühl? Wirkte es beglückend? Er hielt ja einen Lebenden Kristall in Händen und er war stark genug, um seinen eigenen Geist darin zu zentrieren. Kymynos beschloß nach langer Zeit, einen Versuch zu unternehmen. Er wollte nur dieses Gefühl verspüren. Danach, so entschied er, wolle er sich aus dem Stein zurückziehen und ihn frei und leer dem Than übergeben. Der alte Falla begann, seinen Geist auf den Kristall auszurichten. Das schwache Glühen darin pulsierte nun, als sei es ungeduldig. Kymynos tauchte in den Stein ein! Wie gieriges Lecken umgab ihn eine bösartige Schwingung, noch ehe er sein Werk beendete. Kymynos ahnte rechtzeitig die Gefahr. Als ausgebildeter Priester verfügte er über genügend Geisteskräfte, um sich nun zu wehren, zu schützen, zu retten. Nicht ganz ergab er sich dem Lebenden Kristall. Kymynos konnte verhindern, daß Es sich seiner ganz bemächtigte. Er verbrannte auch nicht in dem weißen Licht, denn sein Geist zeigte sich nicht kraftlos nach allen Seiten geöffnet; duldete kein völliges Eindringen unerwünschter Schwingungen. Aber er konnte sich auch nicht ganz befreien. In den Nebelreichen fingen die Kinder im Sommer die Punktkäfer, deren schwaches Glimmen die Weibchen ihrer Art zur Paarung lockten; sperrten sie in kleine Gefäße und freuten sich über das eingefangene Licht. Als sei auch sein Geist nicht mehr als ein Punktkäfer, so wußte sich Kymynos von dem Lebenden Kristall gefangen, wenn auch nicht besessen. Er wurde nicht zu Miska, nicht zum lebenden Toten - aber er ähnelte nun sehr dieser Seinsform. Als die Priester ihn am Morgen fanden, lag er ruhig auf seinem Lager. In Händen hielt der für sie unerreichbare Falla, dessen Geist umschattet schien, einen Flammenden Kristall, dessen Licht dem einer Kerze gleichkam. Es hatte keine Form gefunden; doch Es fing sich Licht, das Es nicht verzehrte, aber doch zur eigenen Stärkung verwendete. Und Es wußte sich in einer Umgebung, in der es mehr dieser Kraft gab. Es wirkte im Tempel der Weisheit! Innerhalb eines Tages und einer Nacht nahm Es alles Sein der Priester gefangen; leuchtete nun machtvoll und wartete weiter auf eine reaktive Form.
M
ernaos verprügelte Orales nicht. Er schrie zwar, als er von Elonars Tod erfuhr, gab seinem Helfer auch alle Schuld daran und machte ihm üble Vorhaltungen. "Ich brauche dich nicht mehr," erklärte er dann nachlässig, "verschwinde von hier. Clys ist kein Ort für dich, Orales. Die Leute wollen, daß du die Siedlung verläßt - für immer. Geh' fort, sonst meiden sie mich auch noch. Am besten ist es, wenn du Moras verläßt. Für Leute wie dich ist nirgendwo Platz." "Ich diente euch vier Jahre hindurch ohne jeden Lohn," erinnerte ihn Orales, "ich will nun nicht damit aufhören. Clys ist der Ort, an dem ich bleiben muß." Mernaos versuchte ein schiefes Lächeln.
"Noch eine Leiche, und die Männer hier lynchen dich," offenbarte er. "Willst du das wagen?" Orales wußte um den realen Hintergrund dieser Drohung. Was aber geschah, wenn er seine Buße abbrach und ohne entsprechenden Befehl diese Siedlung verließ? Der Than nannte ihm mit deutlichen Worten für diesen Fall die Todesstrafe. Er wollte leben. Orales weigerte sich, zu glauben, daß sein Leben schon zu Ende sei. Er hoffte noch immer auf eine sinnerfüllte Zukunft, auch wenn sie sehr fern lag. Er verschuldete diese Situation nicht selbst; konnte für eine Verbannung aus Clys nicht getadelt werden. Oder doch? Noch lebte Sittyra, aber das mußte sich in den nächsten Stunden ändern. Man würde ihm den Tod des jungen Mädchens anlasten und dann hatte er kaum eine Chance, lebend die Siedlung zu verlassen. Er mußte gehen!
O
rales übernachtete eine Wegstunde von Clys entfernt. Er fand keinen Schlaf, sondern grübelte unentwegt über sein Verhalten nach. Er überprüfte, ob er wirklich einen Teil der Schuld an dem Sterben der Menschen trug, doch er konnte sich kein Fehlen und keine mangelhafte Pflege vorwerfen. Das beruhigte ihn. Doch was entschuldigte sein unerlaubtes Verlassen dieser Siedlung? Ihm blieb zwar keine Wahl, doch war der Than nicht der Mann, der irgendwelche Ausflüchte hinnahm. Nach langem Grübeln entschloß er sich, zum Tempel der Weisheit zu gehen. Diesen Ort konnte er in einem Tag erreichen. Es war ihm verboten, von Vergangenem zu reden und er durfte sich nicht als entweihten Priester entlarven. Aber er hoffte, daß der Falla als weiser Mann seinen gesperrten Geist berührte und die Wahrheit ohne Worte erfuhr. Dann durfte er ihn bitten, den Rapport nach Amarra zu schließen, damit er neue Weisung erhielt. Orales wollte seine Buße ableisten; wollte sich dem Than völlig unterwerfen und nie wieder gegen ihn aufbegehren. Was immer der mächtigste Mann der Reiche über ihn entschied, er wollte es annehmen und ertragen. Nie wieder, so schwor er sich, wollte er gegen seinen Herrn aufbegehren. Lieber wollte er sterben, als den Than erneut herausfordern. "Ich bin nicht Amarras Feind," murmelte er vor sich hin. Er war überzeugt davon, denn er ahnte nicht, wie leicht sich das ändern konnte. Ende Kapitel 4
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 5
U
nmerklich nur veränderte sich zunächst das Bild der Landschaft. Hie und da zeigten sich nun Sumpfgräser und manchmal war aus der Ferne der Ruf der typischen Tiere eines weiten Feuchtgebietes zu hören. Shuny und Rhagan verließen Nodher, ohne die unauffällige Grenzmarkierung, einen gravierten, halb überwachsenen Stein, auch nur zu bemerken. Es herrschte ja Frieden und offener Handel zwischen den Reichen; Grenzposten und Zölle gab es nicht. Man nannte Moras das Reich der Sümpfe, doch gab es ausreichend festen Grund und auch befestigte Straßen. Sie sorgten sich nicht. Inzwischen kamen sie sich näher, sprachen unbefangener miteinander und überwanden jede anfängliche Scheu. Zum ersten Mal befand sich Shuny so lange in der Gesellschaft eines einzelnen Mannes. Sie fühlte sich sehr wohl. Rhagans Größe und imposante Körperkraft flößten ihr keine Furcht ein, im Gegenteil. Sie fühlte sich sicher und geborgen. Der Riese bedrängte sie zu keiner Zeit. Shuny spürte, wie sehr sie ihm gefiel und sie staunte darüber, wie bemüht er blieb, ihr dieses zu verbergen. Noch seltsamer aber erschien ihr sein Freimut, mit dem er ihr auch seine Schwächen gestand. Rhagan versuchte nicht, Eindruck auf sie zu machen. Lagerten sie nahe beieinander, so erzählte er ihr aus seinem Leben. Gleichmütig berichtete er von seinen Jahren im Königreich Thara, als er emotionslos und ohne jeden Anspruch alles tat, was man ihn hieß. "Tharas Sklaven, sagt man," fiel ihr dabei ein, "sind die besten." Schon tat es ihr leid, von seinem früheren Stand gesprochen zu haben. Sie wollte ihn nicht verletzen, doch er lachte sie nur fröhlich an. "Das sind sie," behauptete er, "denn sie werden von Geburt an auf der Stufe von Miska gehalten. Tharas Sklaven sind keine richtigen Menschen, Shuny. Damals war ich nur ein funktionierender Körper und ich wäre es noch, wenn nicht unser Falla Gerrys meinen Geist erweckte." "Du liebst ihn sehr?" Rhagan schüttelte den Kopf.
"Nein," wehrte er ab, "ich liebe seinen Bruder Attor. Gerrys bin ich sehr dankbar, ich verehre ihn wohl auch. Liebe ist etwas anderes, Shuny. Liebe macht gleichwertig. Gerrys ist mir zu fern, zu hoch, zu fremd. Attor hingegen fühle ich mich verbunden." "Ich hörte euren Streit, ehe wir die Plantage verließen. Ich glaube, er ist ein harter und böser Mann." Rhagan sah sie lange an, ehe er leise antwortete: "Er ist weder das eine noch das andere, Shuny. Ich verdanke ihm alles, das ich bin. Ich war Jahre hindurch sein Sklave und ich sage dir, es gibt keinen besseren Herrn für Tharas geistlose Diener. Attor behandelte mich mit unendlicher Geduld. Damals aß ich nur Molnüsse, die einzige Nahrung, die Tharas Sklaven erlaubt ist. Es dauerte Monate, ehe ich andere Nahrung zu mir nahm; mehr als ein Jahr, bis sich mein Körper umstellte und jede Speise vertrug. Attor schlug mich nie. Damals sprach ich kaum ein Wort, denn in Thara ist die Rede den Sklaven verboten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mühsam ich mich nur änderte und wie schlimm diese Zeit für Attor war. Unzählige Male entschloß er sich, mich zu verkaufen, weil er nicht mehr hoffen wollte, daß ich ihm einen zuverlässigen Gefährten abgebe. Und doch behielt er mich und formte mich weiter." Er starrte in unsichtbare Fernen. "Er war ein Abenteurer, ein Kämpfer. Er suchte damals schnelles Geld, Bewährungsproben, aufregende Tage. Er hielt mich an seiner Seite und behandelte mich immer wie einen Freund, wie einen frei geborenen Gefährten. Es war ein unglücklicher Tag, als er dem Than begegnete und seine Freiheit verlor." "Aber er bedrohte ihn mit der Waffe," wandte Shuny ein. "Er war wütend und unbeherrscht," entschuldigte Rhagan seinen einstigen Herrn, "er wollte sich einfach nicht demütigen vor ihm." "Du solltest nicht traurig sein," versuchte Shuny einen hilflos schwachen Trost, "Attor gehört Gerrys und er leidet nicht. Er lebt wie ein freier Mann." Rhagan schüttelte den Kopf. "Manchmal starrt er stundenlang auf das um seine Handgelenke geschmiedete Kupfer, das ihn als Sklaven ausweist. Er leidet in dem Bewußtsein seiner Unfreiheit. Das ruhige Leben erträgt er kaum. Wäre nicht die Falla Seryna ihm so in Liebe zugetan, könnte er sein Leben wohl nicht ertragen. Doch wir reden zuviel, Shuny. Die Nebel hängen noch hoch. Ein paar Stunden können wir noch reiten." Sie beendeten ihre Rast und nahmen den Weg erneut auf. Shuny begriff mit Erstaunen ihr Hoffen, daß ihr Ziel und damit die Stunde des Abschieds von Rhagan noch fern liegen möge.
I
lkonys genoß diese Tage unbegrenzter Freiheit. Zum ersten Mal überwachten ihn keine Diener des Vaters. Niemand umgab ihn mit übertriebener Fürsorge, keiner machte ihm Vorschriften, nicht ein Mensch achtete auf sein Benehmen. Er lachte,
tollte und spielte mit Werdyn, der die dunklen Nächte ertrug, seit er nahe bei Ilkonys schlafen durfte. Alles erschien Aristons Sohn aufregend und neu. Er bestaunte die Sumpfpflanzen ebenso wie den abseits der Straße beginnenden morastigen Boden. Leicht verzichtete er auf die Annehmlichkeiten eines Lebens in Reichtum. Ilkonys empfand es nicht als Mangel, sich von Wildpflanzen zu ernähren und nur Wasser oder Tee zu trinken. Einmal hatte er Philmor befohlen, kleines Wild zu jagen, weil er Fleisch essen wollte. Der große Junge mit dem eher weichen Gemüt weigerte sich zunächst und gehorchte erst, als Ilkonys ihm drohte, ihn vor dem König zu verklagen. Philmor blieb lange fort und als er wiederkam, brachte er ein gefangenes, aber noch lebendes Murro mit sich. Und dann vermochte keiner der Knaben, das Tier zu töten. Sie gaben ihm die Freiheit zurück. Der zähe, trockene Rindenbast, den sie statt des kleinen Nagers verzehrten, schmeckte an diesem Tag fast gut. Auch Werdyn fand Freude an diesem Abenteuer. In Noders Burg mußte er Ilkonys wie einen Herrn behandeln, fühlte er sich immer beobachtet und auf seltsame Art befangen. Nun aber durfte er mit dem Prinzen spielen und scherzen. Natürlich bediente er Ilkonys weiterhin, doch nun vertrauter und heiterer. Nur Philmor behagte die Reise nicht. Ihm wurde die Verantwortung für Ilkonys' Leben aufgezwungen und er empfand die fremde Umgebung als Bedrohung. Mehr noch aber bedrückte ihn die offene Verachtung des Prinzen, der ihn von allem ausschloß, das sich vergnügt und angenehm gestaltete. Je herrlicher Ilkonys und Werdyn diese Tage empfanden, desto bedrückter und stiller wurde Philmor.
D
ie Straße wurde schmaler und verwandelte sich nach und nach in einen teilweise sehr engen Pfad. Rechts und links zeigte sich feuchter, zum großen Teil sehr sumpfiger Boden. Abgestorbene Bäume verwandelten die Landschaft in eine Gegend des Todes. So früh im Jahr blühten nur wenige Pflanzen, doch das zarte Grün keimender Vegetation ließ schon reiche Fruchtbarkeit erahnen. Unaufhörlich quakten nun die riesigen Sumpfkröten voll Paarungsbereitschaft. Die Reisenden erblickten immer wieder frisch geschlüpfte Aligatoren, deren Eier die kalten Nebel über im Sumpf ruhten. Die Vögel begannen mit dem Nestbau und die Schlangen warteten gierig auf deren erste Eier, die sie als Köstlichkeit gern raubten. "Eine unheimliche Gegend," flüsterte Shuny bedrückt. "Nur fremd," beruhigte sie Rhagan, der mit Attor einst viele Reisen unternahm und alles Neue eher als Herausforderung denn als Bedrohung empfand, "sei ohne Furcht. Die Nebel sinken schon. Wir wollen einen Rastplatz suchen." Er sprang vom Pferd und prüfte den Untergrund. Nach kurzer Zeit fand er einen weiten Platz, dessen Vegetation trockenen Grund versprach. Die Pferde zupften die ersten Blätter der Büsche, während Rhagan ein Feuer entzündete. Er fand keine wohlschmeckenden Pflanzen hier, doch er wollte der Priesterin eine gute Mahlzeit bieten. "Das ist köstlich," lobte sie ihn später, während sie ein weiteres Stück des
gebratenen Fleisches nahm. "Was ist das, Rhagan?" "Sumpfschlange," erklärte der gleichmütig. Shuny würgte und spie das Fleisch aus. Ungläubig sah sie ihn an, von Ekel erfüllt die Hände abwehrend erhoben. Rhagan lachte vergnügt. "Iß weiter," forderte er sie auf, "es ist besser, wir verspeisen die Biester als umgekehrt." "Sie sind doch giftig!" "Wenn man ihnen den Kopf abschneidet, dann nicht mehr," erklärte Rhagan, "ihr Fleisch ist zart und auch ohne Gewürze sehr wohlschmeckend. Ich hätte dir auch einen Aligator gebraten, aber ich fand nur ganz junge und an denen ist nicht viel dran." Shuny aß rasch. Es war ihr lieber, wenn Rhagan sich nicht mit den riesigen Tieren beschäftigte. Lieber wollte sie Schlangen und anderes ekelhafte Getier verzehren, als ihn in Gefahr zu wissen. Als er sie aufmerksam betrachtete, errötete sie, ahnend, daß er ihre Gedanken erkannte.
D
er Schein des Feuers und der Duft des gebratenen Fleisches durchdrang die Nebel und lockte zwei Jäger herbei. Sie grüßten laut und traten ins Licht. Shuny erschrak bei ihrem Anblick. Sie wirkten ungepflegt, schmutzig und rauh. Rhagan erhob sich, sprach ein paar nichtssagende Willkommensworte und setzte sich wie zufällig näher zu der Priesterin. "Es ist noch Fleisch übrig," bot er an, "nehmt und stärkt euch." Sie dankten und folgten rasch der Einladung. Einer von ihnen reichte Rhagan als Gegenleistung seinen Lederschlauch. Rhagan trank höflich, doch er nahm nur wenig des scharfen Schnapses zu sich. Angespannt wartete er ab. Doch die Männer schienen nicht bösartig zu sein. Sie plauderten höflich mit ihm. Shuny übergingen sie dabei völlig; lediglich unverschämt begierige Blicke warfen sie ihr zu. Endlich fragte einer: "Nachtbeute?" Rhagan verstand. Reiste in Moras des Nachts eine Frau allein, so durfte sie jeder Mann als willkommene Beute unter seinen Willen zwingen. Tagsüber war sie sicher, doch sobald die Nebel sanken, mußte sie sich in geschlossenen Räumen aufhalten. "Sie ist meine Frau," antwortete er mit fester Stimme, "wir sind vermählt." Shuny senkte den Kopf. Rhagan stellte keinen Anspruch, wollte sie nur beschützen und doch klang seine Stimme nun so, als sei sie nichts wert. "Du bist nicht von hier?" "Nein, ich komme aus Nodher," erwiderte Rhagan scheinbar gelassen. "Und wohin willst du?"
Rhagan überlegte nur kurz. Den Tempel als Reiseziel zu entdecken, erschien ihm nicht klug. Diese Männer machten nicht den Eindruck, als würden sie die Götter und deren Diener sehr hoch achten. Er kannte aber nur einen anderen Ort in Moras, von dem er hörte. "Ich will nach Clys," sagte er darum, "dort wohnt ein Freund von mir." "Wie heißt er?" Diese Frage klang lauernd. Anscheinend kannten diese Männer jene Siedlung. "Sein Name ist Orales," behauptete Rhagan noch immer sehr freundlich. "Kennt ihr ihn?" Die Jäger tauschten einen raschen Blick. Rhagan lächelte grimmig. Seine Lüge wurde also geglaubt. Der ältere der beiden sah wieder zu Shuny. "In Moras ist es üblich, zu teilen," verlangte er. Rhagan legte der Priesterin den Arm um die Schultern. Sie zitterte dabei ein wenig, doch er durfte darauf nun keine Rücksicht nehmen. "In Nodher teilen wir nur mit Freunden," wehrte er mit scheinbar freundlicher Stimme ab. "Keine Nachtbeute?" Rhagan schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Beweise es," forderte der ältere nun, "wenn sie wirklich dir gehört, duldet sie dich gern. Wenn nicht, dann lügst du und sie gehört uns allen." Angespannte Stille herrschte nun. Shuny vermochte kaum mehr, ihre Angst zu verbergen. Mußte sie denn bis ans Ende ihres Lebens männlicher Gier willenlos ausgeliefert sein? Sie dachte an Thylenon. Sions Herrscher würde nie dulden, daß ein anderer als er bei ihr lag. Das mochte keine Freiheit sein, doch immerhin das mindere Übel. Rhagan faßte nach ihrem Haar, drehte ihr Gesicht dem seinen zu. Sie blickte in seine Augen und erkannte darin denselben Schmerz, den sie selbst empfand. Er preßte seine Lippen auf ihren Mund. Shuny ließ es geschehen, wissend, daß es besser war, von ihm als von diesen Fremden vergewaltigt zu werden.
U
ndurchdringlich hüllte der Nebel das Land ein. Geräuschlos schlich Ilkonys mit seinen Gefährten dem Feuer zu. Er wollte Rhagan ein wenig belauschen und sich danach vielleicht sogar entdecken. Er kannte ihn nicht näher, sah ihn lediglich hin und wieder im Schwarzen Tempel. Ilkonys wußte aber, daß Rhagan Gerrys sehr mochte und darum empfand er so etwas wie Sympathie für den Riesen. Im Schein des Feuers sahen die Kinder, wie sich der große Mann über die zarte Frau schob. Werdyn reckte den Hals, um besser sehen zu können. Das gefiel ihm. Er hörte zwar schon davon, doch nie zuvor sah er, wie sich ein Mann und eine Frau vereinten. Philmor
hingegen sah beschämt weg. Er hatte schon eine Freundin in Nodhers Burg. Das Mädchen erlaubte ihm bisher nur einen flüchtigen Kuß und einmal, da durfte er auch ihre Brüste sehen. Für Philmor waren die Frauen noch sehr geheimnisvoll, aber auch kostbar und liebenswert. Was hier geschah, das spürte er, konnte nicht gut sein. Ilkonys hingegen betrachtete die Szene nüchterner. Solange war es noch gar nicht her, als er ohne Anmeldung ins Schlafgemach seiner Mutter stürmte und bei ihr auch den Vater fand. Verwirrt und beschämt wollte er gehen, doch der Vater rief ihn an seine Seite. Danach sprach er lange mit seinem Sohn und erklärte ihm das Geschehen auf eine Art, die Ilkonys verstehen konnte. Plötzlich wollte der Prinz sich nicht mehr entdecken. Sich liebende Menschen waren gern allein und er wollte nicht stören. Geräuschlos zog sich Ilkonys zurück. Philmor folgte ihm gern, Werdyn mehr widerwillig. "Wir reiten heim," entschied Ilkonys.
R
hagan bemerkte mit Entsetzen Shunys grenzenlose Angst. Glaubte sie denn wirklich, er könne ihr Schmerz bereiten? Hielt sie es für möglich, daß er ihr Gewalt antat? Wußte sie denn nicht, was sie ihm bedeutete? Er öffnete ihr Hemd, weil ihm keine andere Wahl blieb. Die beiden Jäger lachten. Sie kamen näher, um sich nichts entgehen zu lassen. "Die heult ja," stellte einer von ihnen fest. "Doch Nachtbeute," begriff der andere. Rhagan griff nach seinem Gürtel, tat, als wolle er ihn öffnen. Doch dann schnellte er auf, das gezogene Kurzschwert in der Hand. Und während er die beiden Fremden bekämpfte, kroch Shuny angstvoll ins Dunkel. Morastiger Untergrund ließ sie innehalten. Am Boden gekauert wartete sie ab. Sie sah Rhagan im Feuerschein. Er hielt das Schwert, als sei er mit der kurzen Waffe verwachsen. Die beiden Jäger trugen Säbel und hätten ihm eigentlich überlegen sein müssen. Doch Rhagan zeichnete sich durch Wendigkeit aus und durch Schnelligkeit. Nicht lange dauerte es, bis seine Gegner ihr Leben verloren. Rhagan atmete heftig, doch nicht erschöpft. Einige Zeit sah er auf die Leichen hinab. Er wollte nicht töten und er empfand keinen Stolz über seinen Sieg. Immerhin zog er es vor, zu vernichten, als vernichtet zu werden und Shunys Angst rechtfertigte in seinen Augen jede Maßnahme, um sie zu schützen. Er hob die Körper auf, trug sie zugleich einige Schritte ins Dunkel und legte sie ab. Die Tiere des Reiches mochten sich um sie kümmern. Dann suchte er Shuny. Sie antwortete nicht auf sein Rufen. Mit einem brennenden Ast beleuchtete er die Umgebung, doch es dauerte lange, bis er die Priesterin fand. Sie starrte ihm angstvoll entgegen, wehrte sich aber nicht, als er den Ast fortwarf, sie aufhob und zum Feuer trug. Erst, als er ihr etwas Tratta einflößte, wich ihre Erstarrung. Shuny schlug die Hände vors Gesicht und weinte haltlos. Rhagan wollte sie tröstend in die Arme schließen, aber sie schlug nach ihm und da setzte er sich an die andere Seite des Feuers. Hilflos hörte er ihr Weinen. Rhagan fühlte sich schuldig, da er sie
bedrängte. Vielleicht hätte er auch ohne diese List eine Chance gegen die Gegner gehabt. Es war zu spät, um dies zu erfahren. "Es tut mir leid," versprach er beklommen. "Bitte, Shuny, verachte mich nicht zu sehr. Ich wollte dir nicht weh tun." Shuny schluchzte, sah ihn an. "Wo sind die Männer?" fragte sie angstvoll und leise. "Sie sind tot," versicherte er rasch, froh darüber, daß sie überhaupt wieder mit ihm sprach. "Niemand rührt dich mehr an." Sie schwieg einige Zeit und kämpfte mit sich. Dann erst kam sie an seine Seite, setzte sich mit nur wenig Abstand neben ihn. Mit tonloser Stimme berichtete sie ihm jetzt aus ihrem Leben und erklärte ihm so ihre Angst vor jeder Vergewaltigung. Zögernd nahm der große Mann ihre Hand, hielt sie mit sanftem Druck. "Das wußte ich nicht," bekannte er, "ich erschrak nur, als ich deine Angst bemerkte und dachte, daß du mich fürchtest. Shuny, ich hab' dich gern. Aber ich würde dir nie weh tun. Als ich mich über dich legte, so nur, um die Jäger zu täuschen. Ich hatte nie die Absicht, dich zu verletzen. Glaubst du mir?" Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. "Ich vertraue dir, Rhagan," versprach sie mit zitternder Stimme. "Ich bin froh, daß du bei mir bist." "Wirklich?" Erfreut sah er sie an. Da erst bemerkte Shuny seine eigene Unsicherheit, seine Furcht, sein Unbehagen. "Du warst noch nie bei einer Frau," stellte sie erstaunt fest. "Du hast ja selbst Angst." Rhagan senkte den Kopf. Attor spottete früher oft über seine Enthaltsamkeit. In Thara gab es für die Sklaven keine Möglichkeit zu geschlechtlicher Vereinigung, ausgenommen für die wenigen, welche sich dieses Privileg verdienten. Und als er Attor gehörte, konnte er sein anerzogenes Wesen so leicht nicht verleugnen. Später führte ihm Attor eine käufliche Frau zu, doch Rhagan versagte bei ihr und kam sich seither in dieser Hinsicht leicht minderwertig vor. Attor versuchte zwar, ihm Mut zu machen und ihm zu erklären, daß dieses einmalige Versagen nichts bedeute und auf der prekären Situation beruhe, doch Rhagan weigerte sich standhaft, erneut einer Frau zu nahen. Shuny war das erste Weib, das er je wirklich begehrte. Er stellte sich oft vor, wie es sei, bei ihr zu liegen und dann schämte er sich dieser Gedanken, weil sie Sions Herrscher gehörte und ihm unerreichbar blieb. Doch herrschten diese Gedanken in ihm nicht vor. Er versprach dem Falla, sie sicher zum Tempel der Weisheit zu bringen und genau das wollte er tun. Daß sie nun so nahe bei ihm saß und ihm ihre Hand ließ, beglückte ihn. "Du darfst nie wieder Angst vor mir haben," bat er leise. Sie hielt nun seine Hand fester.
"Dich fürchte ich doch gar nicht," versprach Shuny, "wäre es anders, hätte ich nicht deine Begleitung gewollt. Ich vertraue dir, Rhagan. Vorhin, da dachte ich eben, du würdest den Männern beweisen wollen, daß ich zu dir gehöre." Tränen drangen aus ihren Augen. "Weine nicht, Shuny. Ich hatte keine Ahnung, daß dir das so weh tut. Ist es immer so schlimm?" Sie verstand seine unsichere Frage. Ein wenig wehmütig lächelte sie nun, als sie zaghaft gestand: "Ich lag bei Gerrys und da war es sehr schön." Irgendwie erwartete sie einen Vorwurf, zumindest einen versteckten Tadel. Doch Rhagan schien aufzuatmen. "Der Falla ist ein sehr besonderer Mann," meinte er. "Es freut mich, daß er deine Angst bezwang." Unwillkürlich dachte sie da an Thylenon, der auf dieses Geständnis sicher mit Eifersucht und Zorn reagieren würde. Neben ihm konnte sie nie so nahe in der Einsamkeit weilen, obwohl er sich beherrschte. Doch sie wußte da immer, wie schwer es ihm fiel. Rhagan genoß ihre Nähe, ohne mehr zu wollen und gab ihr darin ein Gefühl von Wert. Gemeinsam schweigend sahen sie ins verglühende Feuer, sich einander sehr verbunden fühlend. "Morgen erreichen wir den Tempel," murmelte Rhagan. Shuny nickte nur. Der Gedanke, sich von ihm trennen zu müssen, gefiel ihr gar nicht. Doch sie hatte um diese Reise und die Möglichkeit des Bedenkens gebeten. Thylenon erwartete ihre endgültige Antwort und sie durfte Sions Herrscher nicht länger hinhalten. Es gab so viel, über das sie sich im Klaren werden mußte. Und nun gehörte auch Rhagan dazu! Shuny schlief in dieser Nacht nur sehr wenig. Sie lag eng an Rhagan gekuschelt. Sie teilten die Decken und wärmten sich gegenseitig. Der große Mann hielt sie im Arm und schlief zufrieden und fest. Sie aber genoß seine Nähe und lauschte ihrem eigenen Empfinden von Geborgenheit und Glück nach. Seine Nähe bedrückte sie nicht, im Gegenteil. Er sagte, daß er sie gern habe und sie spürte, wie froh ihn nun ihre auch körperliche Nähe machte. Wieder dachte sie an Thylenon. In Sion erwartete sie ein Leben in Reichtum und Annehmlichkeit. Sie würde dort nicht viel gelten, denn seinen Erben zeugte der Herrscher der Sitte gemäß auf Amarra; sich wie dessen Mutter dabei in Trance befindend. Die Mächtigen kamen ohne Leidenschaft und Liebe ins Leben. Sie würde die Gemahlin eines Herrschers sein, nicht aber Herrscherin. Shuny vermochte nicht, sich dieses Leben vorzustellen. Ein wenig glaubte sie noch immer, daß zwischen ihr und Thylenon dieselbe Achtung dann herrschen würde, wie sie sie zwischen Nodhers König Ariston und dessen Gemahlin Cynesta schon sah. Doch ihre Falla Seryna erklärte ihr einmal, daß sie damit nicht rechnen dürfe. Ariston liebte seine Frau und teilte mit ihr auch seine Macht. Thylenon konnte nicht teilen, am wenigsten aber Macht und Herrschaft. Halb unbewußt fuhr Shuny über Rhagans bartloses Gesicht. Tharas Sklaven rupften sich
von Jugend an so lange jedes sprießende Barthaar aus, bis sich dessen Wuchs einstellte. Sie beide verband eine ähnlich gelagerte Vergangenheit. Nur diese? Shuny ahnte mehr und mehr, daß noch etwas anderes, durchaus Gegenwärtiges zwischen ihnen wogte. Voll Unruhe gestand sie sich ihre Zuneigung zu diesem großen, starken Mann ein. Ein ganz ähnliches Gefühl verband sie mit Thylenon. Und doch war dies anders, weil Sions Herrscher sie begehrte und ihr weniger Freiheit ließ als Rhagan. Als Shuny endlich einschlief, war sie froh, daß nicht Thylenon an ihrer Seite lag.
D
ie Nebel hingen noch sehr tief, als Rhagan erwachte. Nur als Schemen erkannte er Shunys Gesicht. Ihr Kopf ruhte an seiner Achselhöhle. Sie sah sehr glücklich aus. Fast krampfhaft unterdrückte er den Impuls, sie zu küssen. Die Schläferin sah den Ausdruck des Schmerzes in seinen dunklen Augen nicht. Sie war ihm so nah und doch durch den Anspruch eines Herrschers unendlich fern. Ein wehmütiges Lächeln überschattete seine Züge. Auch ohne Thylenons Anspruch blieb sie für ihn unerreichbar. Rhagan arbeitete zwar viel und hart, doch wie alle Tempelhelfer durfte er keinen anderen Lohn erwarten als die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse. Daß man ihm wenige Solare ausbezahlte, war die Ausnahme und bereicherte ihn nicht. Rhagan gab alles an Attor ab, um ihm so wenigstens ein wenig das Gefühl von Freiheit und Wert zu vermitteln. Ohne die Möglichkeit, Seryna hin und wieder beschenken zu können, ertrüge er deren Liebe wohl nicht. Rhagan konnte Shuny nichts bieten und dies betrübte ihn nun. Solange er als Helfer im Tempelbereich blieb, konnte er keine Familie ernähren. Zwar stand es ihm frei, zu gehen, wann immer er wollte, doch dachte er darüber nie nach. Er wollte Attor nicht verlassen. Für Shuny könnte er es vielleicht tun, aber sie ging nach Moras, um sich auf ihre Ehe mit Sions Herrscher vorzubereiten. Er verstand das nicht, doch er akzeptierte es. "Dies ist Tabalkes Stunde. In den Tempeln werden jetzt die heiligen Rituale der Gottheit des Schweigens ausgeführt," murmelte Shuny, die eben erwachte und ihn mit diesen Worten aus seinen Gedanken riß. "Woher weißt du das?" "Ich weiß es nicht genau," gab sie zu, noch immer eng an ihn geschmiegt, "ich vermute es nur. In den Tempeln sind die rituellen Stunden leicht zu erkennen." Fragend sah er sie an, und so fuhr sie fort: "Jede Gottheit besitzt ihre eigenen edlen Steine, Rhagan. Tabalke den Smaragd; Liara, die Göttin des Friedens, den Türkis; Saake, die Gottheit der Weisheit, den Aquamarin; der Gott der Kraft, Minosante, den Malachit; der dunkle Gott Raaki den roten Granat und Antares, die Göttin des Lichts, den schillernden Opal. Die Götter sind Kräfte und in ihren Steinen herrschen gleichartige Kraftströme vor. Wer nun bestimmt ist, das kommende Ritual zu halten, der erhält den dieser Gottheit geweihten Stein und verspürt dann das Zunehmen dieses Kraftstromes, sobald die Stunde dieses Gottes naht. Nach jeder Weihe muß ein Priester lernen, diese
Kraftströme genau zu erkennen und es ist eigentlich ganz einfach mit ein bißchen Übung. Ich bin seit Jahren auf die rituellen Stunden eingestimmt, darum ahne ich auch ohne solche Zeitsteine eine heilige Stunde. Die Nebel werden sich bald heben. Ach, Rhagan, jetzt klang ich bestimmt sehr belehrend." "Aber nein," wehrte er zärtlich ab, "ich weiß von diesen Dingen nichts. Du bist eine sehr kluge Frau, Shuny." Das klang bewundernd, doch sie verspürte einen wehen Schmerz im Gedanken an Thylenon, der Frauen kein Wissen zubilligte, sondern nur Unterordnung. "Ist das schlimm für dich?" fragte sie leise. Erstaunt hob er die Brauen. "Nein, Shuny. Frauen müssen, glaube ich, klug sein." "Würdest du denn eine kluge Frau wollen?" Er dachte ernsthaft nach, ehe er erwiderte: "Ich habe nicht viel gelernt," gab er dann zu. "Ich kann nicht einmal lesen und weiß nur wenig. Arbeiten kann ich und wenn es sein muß, auch kämpfen. Wenn ich eine Frau hätte, dann würde ich mir wünschen, daß sie mir von all den vielen Dingen erzählen kann, die ich nicht kenne. Sie müßte wissen, was wichtig ist und was nicht und sie müßte auch entscheiden können über unser Leben und unsere Kinder. Ich glaube, die Frau, die ich liebe, müßte ich auch bewundern können. Das klingt dumm, nicht wahr? Keine gescheite und kluge Frau würde mich ungehobelten Kerl wollen." Shuny richtete sich ein wenig auf. "Sag' das nicht," bat sie rasch, "das klingt so minderwertig. Du bist sehr liebenswert, Rhagan." Sie errötete ein wenig und fügte hastig hinzu: "Ich wünsche dir, daß du einmal die Frau findest, die das erkennen wird."
A
m späten Mittag erreichten sie ihr Ziel. Rhagan betrachtete staunend den großen Bau. Er hatte schon manchen Tempel gesehen. Die Haupttempel der Reiche glichen sich alle in ihrer Form; sechsstöckig in mächtigem Rund errichtet. Im allgemeinen umgab sie eine Mauer und ein äußeres Tor führte in den weiten Tempelgarten, in dem die kleinen Häuser der Priesterschaft und der Helfer errichtet wurden. Eine Ausnahme bildete der Schwarze Tempel in Nodher, der kein äußeres Tor kannte und dessen Garten sich ohne Grenze ins Land erstreckte. Moras' Tempel hingegen wurde von einer drei Meter hohen massiven Mauer geschützt und der Eintritt durch ein mächtiges Tor verwehrt. Wie eine Festung lag er vor ihnen. "Das muß so sein," erklärte Shuny ihrem Begleiter, "wie sonst könnten die Priesterinnen ungefährdet die nächtlichen Rituale aufsuchen? Nur eine Mauer schützt sie vor Fremden. Wir sind nicht mehr in Nodher." "Auf mich wirkt das bedrohend," gab Rhagan zu.
"Nur von außen," wehrte sie ab, "von innen ist diese Mauer beschirmend." Finster starrte er auf das Tor. Rhagan empfand ein ungutes Gefühl und ihm war, als sei Shuny hier gefährdet. Er zögerte lange, ehe er vom Pferd sprang und an das Tor pochte. Nichts regte sich. "Es ist heller Tag," wunderte sich die Priesterin, "weshalb ist das Tor verschlossen. Das ist nicht üblich." "Laß uns heimreisen," bat er sie. Shuny schüttelte den Kopf. Wenn sie noch ein paar Tage allein mit ihm reiste, konnte sie sich nicht mehr frei entscheiden. Sie wußte es und darum wollte sie bleiben. Es half ihr nichts, wenn sie sich an Rhagan verlor, zumindest nicht, ehe sie erkannte, ob sie zu Thylenon gehörte. Die hohe Mauer und das verschlossene Tor versprachen ihr jene Einsamkeit, die sie brauchte, um sich selbst zu erforschen. Und doch wurde ihr unheimlich zumute. Rhagan pochte heftiger, voll Ungeduld. Nach langer Zeit erst öffnete sich in Augenhöhe eine kleine Klappe. "Was begehrt ihr?" erkundigte sich eine unfreundliche Männerstimme. "Einlaß natürlich," fauchte Rhagan, "wir haben einen weiten Weg hinter uns und erwarten die gebührende Gastfreundschaft." "Wer seid ihr?" "Ich bin Rhagan, Helfer in Nodhers Schwarzem Tempel. Mein Falla Gerrys sendet mich mit einer Botschaft an euren Falla Kymynos. Bei mir ist die Priesterin Shuny, die in diesem Tempel Aufnahme begehrt." "Wartet." Die Klappe wurde geschlossen. Zornig ballte Rhagan die Hände zu Fäusten. In den vier Jahren, die er nun im Bereich eines Tempels lebte, war ihm nie solche Unfreundlichkeit begegnet. Gäste wurden im Schwarzen Tempel stets sofort willkommen geheißen und erhielten zumindest die Möglichkeit der Erfrischung und Ruhe, wenn sie nicht sogleich angehört werden konnten. Shuny trat zu ihm. "Mir ist, als sei hier etwas nicht in Ordnung," bekannte sie zögernd. "Wir sollten nicht bleiben," stimmte Rhagan zu, "das ist kein Ort für dich." Sie lächelte zaghaft. "Ich bin Priesterin. Jeder Tempel ist für mich ein geeigneter Ort," widersprach sie. Die Klappe wurde erneut geöffnet und die unfreundliche Männerstimme erklärte: "Unser Falla ist krank und kann niemand empfangen. Die Priesterin mag eintreten." "Und was ist mit mir?" erkundigte sich Rhagan barsch. "Wir wünschen eine gute Heimreise," kam die kalte Antwort, als sei damit alles gesagt. "Was ist los bei euch?" fuhr Rhagan auf. "Hier stimmt doch etwas nicht! Es ist nicht üblich, daß bei Tage die Tempeltore verschlossen sind und es ist nicht Sitte, daß
Gäste der Tür verwiesen werden." "Bei uns ist es Sitte," widersprach diese Stimme, "wir sind nicht in Nodher. Reite heim, Rhagan." "Wer bist du?" "Ein Tempelhelfer wie du, der seine Pflicht erfüllt." Irritiert sah Rhagan zu Shuny. Der Empfang von Gästen oblag nicht den Helfern, sondern den Priestern. Die Helfer der Tempel arbeiteten wohl, doch sie genossen keine Privilegien und waren im Grunde mehr geduldet als erwünscht. Sie lebten hier, weil sie woanders, aus welchen Gründen auch immer, kein Auskommen fanden - in Freiheit entlassene Sklaven, körperlich oder geistig behinderte Menschen, Waisen und Verarmte, entlassene Sträflinge oder verachtete Wesen. Nur wenige leisteten diesen Dienst aus Liebe zu den Göttern, deren Weihen sie nicht erreichen konnten. Sie waren nicht zur Priesterschaft berufen und glichen diesen empfundenen Mangel durch untergeordneten Dienst in den Tempeln aus. "Es ist gut," entschied Shuny nun, "ich gehe hinein." Rhagan schüttelte den Kopf, griff hastig nach ihren Armen und hielt sie fest. "Ich gehe," beharrte sie, "in einem Tempel kann mir keine Gefahr drohen." "Und wenn doch?" "Sei nicht töricht," bat sie ihn mit weicher Stimme. "Beruhigt es dich, wenn ich dir sage, daß ich dir morgen Nachricht gebe?" Er nickte zögernd und ließ sie los. "Ich warte hier vor dem Tor," schwor er, "und wenn du mir nicht bis Mittag Nachricht gibst, daß alles in Ordnung ist, breche ich das Tor auf. Ich hole dich da heraus, Shuny, wenn dir eine Gefahr droht." Sie lächelte dankbar und beruhigend zugleich. "Bis morgen," raunte sie ihm zu. Dann ging sie zum Tor, das einen Spalt weit geöffnet wurde. Sie warf einen letzten Blick zurück, ehe sie hineinschlüpfte. Rhagan sah, wie sich das Tor schloß und er hörte, wie ein starker Balken vorgelegt wurde.
R
hagan lagerte vor dem verschlossenen Tor. Er entzündete am Abend ein Feuer, kochte sich Tee und aß einige ausgegrabene Süßwurzeln. Finster starrte er das Tor an. Rhagan überlegte ernsthaft, wie dieses Tor zu sprengen sei. In dieser Nacht schlief er nur wenig und wenn, dann sehr leicht und oberflächlich. Am Morgen wunderte er sich darüber, während der Nacht keinen Ruf zum heiligen Ritual vernommen zu haben. In diesem Tempel schien nicht mehr Amarras Geist zu wehen. Wie sonst war zu erklären, daß die heiligen Rituale nicht vollzogen wurden? Die Krankheit des
Fallas erklärte gar nichts, da jeder Priester ein Ritual leiten konnte. Was mochte hier geschehen sein? Rhagan grübelte. Vor allem wartete er auf eine Nachricht von Shuny. Er begann, sich um die Priesterin zu sorgen. Je länger er wartete, desto mehr steigerte sich diese Sorge zur Angst und als der helle Tag seinen Höhepunkt überschritt und noch immer nur die gespenstische Stille den Tempel umgab, wußte Rhagan, daß Shuny hinter dieser hohen Mauer verloren war. Ende Kapitel 5
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 6
A
ls Orales den Tempelbereich betrat, empfand er seltsames Unbehagen. Zunächst wehrte er sich gegen dieses Gefühl. Seit Jahren mußte er die heiligen Orte der Kraft meiden und nun wollte er nichts weiter als die hier für gewöhnlich herrschende Atmosphäre von Frieden und Freundlichkeit genießen. Daß sich der weite Tempelgarten menschenleer zeigte und nirgendwo fröhliches Lachen oder auch nur angeregtes Geplauder erscholl, fiel ihm kaum auf. Der Garten zeigte sich herrlich gepflegt. Überall knospete es; in Gruppen wuchsen die ersten Blüten des Jahres und malten bunte Flecke auf das dunkle Grün des Rasens. Orales ging langsam, wie versunken. Hier erst fühlte er mit Gewalt, was er vor Jahren verlor. Mehr als sonst erschien ihm sein Leben sinnlos und leer. Zwar lebte er auch zuvor nicht in einem Tempel. Es gab eine Zeit, da herrschte er als Falla des Lichts in diesem Reich. Das lag lange zurück. Doch noch als Pala des Königs im Reich Nodher blieb er, was er war: Priester. Orales vermißte nicht so sehr das durch Tempelrecht geregelte Leben von einst. Das Priestertum der Nebelreiche gestaltete sich nicht wie ein Beruf oder eine erlernbare Arbeit, sondern zeichnete sich durch geistige Fähigkeit aus; durch Freiheit des Seins und durch das, je nach Weihe, mühelose Erreichen gewisser geistiger Bereiche, in denen ein Mensch mehr als nur im Körper Harmonie erlangen konnte, inneren Frieden, auch Weisheit und Kraft. Als der Than ihm die Weihen sperrte, nahm er ihm keine äußeren Möglichkeiten, sondern legte eine Klammer um seinen Geist, die ihm all dies verschloß. Orales fühlte sich mit einem Mal sehr alt. Nach geraumer Zeit gelang es ihm nicht mehr, dieses seltsam fremde Gefühl zu ignorieren, das in ihm wehte. Er wurde aufmerksamer. Nun registrierte er die fast
gespenstische Stille des Gartens, das Fehlen der Menschen und sogar die Tatsache, daß nirgendwo Tempelkinder spielten. Langsam näherte er sich dem inneren Tempeltor, das in den hohen Bau führte. Es war verschlossen. Kopfschüttelnd wandte er sich um. Seine Schultern strafften sich. Etwas in diesem Tempel konnte nicht in Ordnung sein und wenn er sich auch nicht mehr als Priester bezeichnen durfte, so fühlte er sich den Bewohnern dieses Bereiches doch verwandt. Er wollte versuchen, die Ursache dieser lastenden Stille zu erkunden. Vielleicht konnte er helfen. Er dachte dabei nicht an Amarra, nicht an den Than. Für ihn spielte es keine Rolle mehr, ob seine Hilfe hier gewünscht wurde oder nicht. Er war hier und er hielt es für seine Pflicht, seine Hilfe zumindest anzubieten. Wenn er jemandem damit einen Dienst erweisen wollte, so nur sich selbst, der er sich mit jeder Faser seines Seins nach diesem Leben noch immer, und nun sehr bewußt, sehnte. Wie in jedem Haupttempel der Reiche befanden sich auch hier im ganzen Garten verteilt mobile Stellwände, hinter denen die Menschen ihre Notdurft verrichten, sich aber auch waschen und umkleiden konnten. Orales reinigte sich, bürstete sein Haar und ordnete seine Kleidung. Danach ging er zielstrebig zum Haus der Priesterschüler. Diese Häuser sahen überall gleich aus; flache, große Gebäude mit vielen kleinen Zimmern. Das Haus war leer. Orales machte dieselbe Feststellung im Kinderhaus, im Küchenbau und in den kleinen Häusern der Priesterschaft. Er umrundete den Tempel. An dessen Rückseite lagen, eng aneinander gedrängt, die kleinen Hütten der Tempelhelfer. Auch hier herrschte Stille! Fast wütend stieß er eine Tür auf. Orales erstarrte. Eng aneinander gekauert hockten in diesem winzigen Raum mehrere Frauen und Kinder. Angstvoll sahen sie ihn an, gerade so, als stelle er eine Bedrohung dar. "Mein Name ist Orales," stellte er sich vor, wobei er versuchte, seiner Stimme einen sehr freundlichen Klang zu verleihen. "Habt keine Furcht vor mir. Was ist in diesem Tempel geschehen? Herrscht eine Krankheit hier?" Er erhielt keine Antwort. Reglos sahen die Menschen ihn an. "Wo sind die Priester?" erkundigte er sich scheinbar gelassen. Schweigen. Achselzuckend ging er hinaus. Im nächsten Gebäude fand er drei halbwüchsige Jungen. Auch sie wirkten verängstigt und starrten ihn mißtrauisch an. "Verschwinde." Orales fuhr herum. Der Mann, der ihn dazu aufforderte, stand hinter ihm. Er war alt und schien gebrechlich, doch er hielt einen Dolch umklammert und versuchte mit der Waffe, diesen Mangel auszugleichen. "Ich bin kein Feind," versprach Orales, "doch sehr in Sorge um die Priesterschaft dieses Tempels." "Sie sind krank." Der Alte sagte es abweisend. Er hob die Waffe ein wenig an. Orales lächelte. Gleichzeitig holte er mit der Rechten aus und schlug mit kräftigem Hieb dem Alten den Dolch aus der Hand. Der Mann zitterte nun furchtsam. Orales griff nach seinen Schultern. Eindringlich sprach er:
"Ich bin kein Feind, Mann. Ich kam, weil ich mir hier Amarras Rat erhoffte. Mein Name ist Orales. Ich habe viele Tempel gesehen und weiß, daß hier etwas nicht stimmt. Also sage mir, was geschah. Vielleicht kann ich helfen." "Die Priester sind alle krank," sagte nun einer der Jungen, "die Männer und die Frauen. Sogar die Tempelkinder wurden angesteckt. Nur wir Helfer blieben gesund." "Was für eine Krankheit ist es?" "Miska sind sie geworden," stieß nun der Alte hervor, "innerhalb eines Tages und einer Nacht. Wir brachten sie in die heiligen Hallen und pflegen ihre geistlosen Körper. Wird Amarra Hilfe senden?" "Gewiß," versprach Orales überzeugt. Sollte diese Schilderung hier der Wahrheit entsprechen, konnte Amarra das Geschehen nicht verborgen sein und dann mußte von der schönen Insel Hilfe kommen. "Zeigt mir die Priester." Orales zweifelte daran, Miska zu finden. Ein Körper konnte ohne Geist nicht leben, er verweste. Miska blieb die Ausnahme, nicht die Regel. Miska entstand durch Magie, manchmal durch Schock, ganz selten durch Krankheit. Doch diese Art des geistlosen Körpererhalts betraf immer nur einzelne, es gab keine Möglichkeit der ansteckenden Übertragung. Verlor die Priesterschaft eines ganzen Tempels die Freiheit des Geistes, so mußte es dafür einen gewichtigen Grund geben. Krankheit jedenfalls blieb die falsche Bezeichnung.
D
ie Helfer lagerten die Leiber der Priester in der ebenerdigen Halle des Schweigens; jene der Priesterinnen darüber in der Halle des Friedens und die der Kinder im dritten Stock in der Halle der Weisheit. Orales sah die Menschen nur kurz an. Miska mochte zumindest eine sehr treffende Bezeichnung sein. Er erschauerte. Schweigend sah er sich die Kinder an, dann die Frauen und die Männer. Nein, Miska traf hier nicht zu. Wer Miska war, konnte unter Anleitung noch einfache Aufgaben ausführen, reagierte immerhin ein wenig, wenn auch ohne jede Emotion und ohne eigenen Willen. Wurde Miska befohlen: 'Wasche dich', so gehorchte dieser geistlose Leib und reinigte sich so lange, bis er einen anderen Befehl erhielt. Die Priesterschaft hier reagierte nicht. Diese Menschen waren nicht einmal mehr in der Lage, feste Speisen zu sich zu nehmen. Mühsam flößten die Helfer diesen Menschen Säfte ein, um sie am Leben zu erhalten. Orales hatte den Eindruck, einer Massentrance zu begegnen. Was immer hier geschah, der Geist der Menschen existierte noch, schien aber gefangen und von einem fremden Sein überlagert. Der Alte begleitete Orales und beobachtete jede seiner Bewegungen, behinderte ihn aber nicht. Endlich schien ein Mann gekommen, der wußte, was geschehen sollte. Die Helfer fühlten sich ja alle sehr hilflos und waren froh, die Verantwortung dem Fremden übertragen zu können. "Wer erkrankte zuerst?" erkundigte sich Orales nachdenklich, der Ursache des Geschehens nachgrübelnd.
"Kymynos," erwiderte der Alte sofort, "der Falla des Tempels. Wir fanden ihn in diesem Zustand auf seinem Lager. Danach griff die Krankheit sehr rasch auf alle Priester über." "Wo ist der Falla? In dieser Halle?" "Nein, Herr. Kymynos ist in seinen Gemächern und wird von einem Knaben gepflegt, der auch sonst immer um ihn weilte." "Führe mich zu ihm." "Ja, Herr." Die Antwort klang sehr ergeben. Orales konnte sich gegen ein kurzes Gefühl der Verbitterung nicht wehren. Eine solche Anrede stand ihm nicht mehr zu. Er war nicht mehr Herr, sondern nach dem Willen Amarras ein Verlorener; vergessen von seinem Richter und vielleicht sogar von den Freunden. Er erwartete nichts anderes, und doch empfand er tiefe Betroffenheit, als er den alten Falla ebenso apathisch fand wie die übrige Priesterschaft des Tempels. Ohne Worte scheuchte er die Helfer hinaus. Lange betrachtete er danach Kymynos. Der Than wählte jeden Falla persönlich aus und berief nur sehr starke Geister in diesen Dienst. Kymynos strahlte keine Kraft mehr aus, wirkte eher wie ein Sterbender. Orales wußte es nicht, doch er spürte mit letzter Gewißheit, an der Quelle des Unheils zu weilen. Er sah sich um. Sein Blick fiel auf einen kleinen, runden Tisch. Hier lag, fast unbeachtet, ein Flammender Kristall. Seiner Weihen beraubt, vermochte Orales nicht, die Art des Steines zu erkennen und doch besaß er noch seine Erfahrung und einen fast untrüglichen Instinkt. Er sah manchen Flammenden Kristall und kannte deren Licht und ihm entging die Kälte nicht, die den Schein dieses Steines begleitete. Er streckte die Hand aus, wollte den Kristall nehmen. Doch Orales hielt inne, wie zögernd einem inneren Warnton lauschend. Gierig schien das weiße Licht nach ihm zu greifen.
E
s erkannte die Anwesenheit eines starken Geistes und Es wollte noch immer eine reaktive Form gewinnen. Die Priesterschaft dieses Tempels ließ sich zwar überrumpeln und gefangen nehmen, doch nicht besiegen. Diese Menschen verbrannten nicht in der Kraft des Steines, doch sie bildeten immerhin eine beständige Nahrungsquelle; eine Grundlage des Leuchtens. Es wollte wachsen, mehr dieser Nahrung finden. Und dazu brauchte Es eine gehorsame Form. Es wollte einen Geist besitzen, der sich ihm unterordnete und Es dahin brachte, wo es alles im Überfluß fand. Der unausgebildete Geist eines Menschen ohne Weihen hielt ihm nicht stand, erlosch wie eine Kerzenflamme und spendete kaum Licht. Was nun in diesem Raum weilte, war anderer Art. Der Geist schien stark und von seiner Anlage her zielgerichtet und machtvoll. Und doch wußte Es, daß kein Priester nach ihm griff. Dieser Mensch hier bildete eine Ausnahme: stark wie die Priester und doch unfähig, diese Stärke zu verwenden. Die vollkommene reaktive Form weilte hier - aber sie war feindlich gesinnt!
O
rales begriff sehr schnell. Dieser Flammende Kristall mochte sehr viel Licht beinhalten; doch er konnte nicht aus Amarra stammen und blieb seiner Grundstruktur nach zerstörerisch. Das weiße Licht in ihm pulsierte schwach, gerade so, als atme der Kristall. Reglos stand Orales, an seinem eigenen Verstand zweifelnd. Konnte es wirklich möglich sein, daß ein Sumpfkristall einen ganzen Tempel besiegte? Durfte er annehmen, daß ein Mann wie Kymynos diese Gefahr nicht erkannte? Orales schüttelte wie irre geworden den Kopf. Er wollte es nicht glauben und doch gab es keine andere Erklärung als diese: der Stein nahm den Geist jedes einzelnen Priesters gefangen und leuchtete aus der Substanz seiner Beute heraus. Aber warum rührte er ihn und die Helfer nicht an? Auch dafür gab es eine einfache Erklärung: Menschen ohne Weihe und ohne priesterliche Berufung waren zu schwach, um dem Wesen in dem Kristall standzuhalten. Vermutlich mußten die Leiber der Priesterschaft gepflegt werden, da deren Tod auch die Freiheit oder den endgültigen Untergang ihres geistigen Seins bedeutete. Solange aber der Körper bestand, konnte sein Geist die irdische Sphäre nicht verlassen und mußte dem Stein ausgeliefert bleiben. Orales ergriff eine schwere Schale aus poliertem Achat, wog sie nachdenklich in der Hand. Dann spannten sich seine Muskeln. Er wollte den Flammenden Kristall zerstören. Wenn es sein mußte, war er bereit, den Stein zu Staub zu zermahlen, um seine Kraft zu brechen. Die Quelle des Unheils mußte zerstört werden! Er hob mit beiden Händen die Schale hoch. Es glühte nun mächtiger in dem Kristall, wie lockend und rufend. Aber Orales dachte ausschließlich an die verlorene Priesterschaft. Nicht eine Faser seines Geistes öffnete sich dem Kristall und darum blieb er für Es unerreichbar. Weit hob er den schweren Achat über sein Haupt. Was dann geschah, hätte Orales in den vergangenen vier Jahren zum glücklichsten Menschen der Reiche gemacht; nicht aber in diesem Augenblick. In ihm tauchte ein Wollen und Wissen mit solcher Vehemenz auf, als explodiere es förmlich in seinem Geist. "Zerstöre nicht den Stein, sondern ergib dich seiner Wesenheit." Orales taumelte ein wenig. Achtlos ließ er die Achatschale zu Boden fallen. Verzweifelt schlug er die Hände vor das Gesicht. Er kannte diesen Ruf und wußte um dessen Absender. Amarra rührte ihn an! Es bestand kein Rapport zwischen ihm und dem Than, aus dessen Verbindung ein so deutlicher Ruf hätte erfolgen können. In der längst vergangenen Zeit verspürte er hin und wieder den Ruf seines Herrn und dann öffnete er seinen Geist dieser Forderung. Nun, seiner Weihen beraubt, vermochte er nicht mehr, sich zu öffnen oder zu verschließen. Ein wenig verwunderte ihn die Tatsache, daß der Than Nymardos sich seiner Existenz überhaupt noch erinnerte, mehr noch aber der Inhalt dieser Botschaft. Orales als Nichtpriester war nicht fähig zu einem konkreten Gedankenaustausch. Er vernahm wohl die Botschaft in sich, doch er konnte nichts erwidern. Vielleicht mochte dies gut für ihn sein. Der Than konnte immerhin jede Frage und jede Bitte um Erklärung als Beleidigung empfinden. Einmal
verweigerte er dem mächtigsten Mann der Reiche den Gehorsam und dafür büßte er wahrhaft hart. Wenn er nun noch einmal in Dienst und Pflicht genommen wurde, konnte das eine Chance für ihn sein. Orales schloß die Augen. Nein, es gab keine Möglichkeit eines sinnerfüllten Lebens mehr für ihn. Der Than forderte nicht seinen Dienst, sondern sein Leben als ein Opfer. Der Stein besaß eine Wesenheit, war also ein Lebender Kristall und bösartig auf Zerstörung ausgerichtet. Ergab er sich diesem Wesen, so fand er keine Rettung mehr. Trotzdem zögerte Orales nur kurz. Sein Leben gestaltete sich leer und hoffnungslos und es erschien ihm besser, wenigstens in einem sinnvollen Opfer zu verglühen, als verachtet und gedemütigt seine Tage zu fristen. Der Than forderte sein Leben und ihm stand dieses Verlangen durchaus zu. Die unbeschränkte Macht dieses Mannes erlaubte ihm jeden Befehl und kein Mensch in den Nebelreichen durfte sich ihm widersetzen. Orales nahm den Flammenden Kristall in die Hände, hob ihn nahe vor sein Gesicht und konzentrierte sich auf dessen pulsierendes Licht. Eisige Kälte durchströmte seinen Geist und seine Seele mit solch realer Kraft, daß sich die Poren seiner Haut weiteten, als fröre er. Unmerklich begann er, im Takt der Lichtimpulse zu atmen. Mehr und mehr stellte er sich willentlich auf den Stein ein, öffnete er sein Wesen diesem fremden Sein, das gierig wie Feuerflammen in ihm hochleckte, ihn einhüllte und ihn nach und nach immer mehr durchdrang. Orales erwartete seinen leiblichen Tod, zumindest das Erlöschen seines Geistes. Nichts dergleichen geschah! Sein Bewußtsein blieb klar, allerdings veränderten sich dessen Inhalte. Der Stein erschien ihm nun schön und wertvoller als alles, das es gab. Er gehörte ihm! "Nach Amarra!" Machtvoll drang dieser Ruf zu ihm als das letzte Zeichen, daß er der menschlichen Rasse angehörte. Danach blieb sein Geist unerreichbar für jeden. Nicht einmal der Than konnte ihn nun mehr berühren. Und doch wirkte dieser letzte menschliche Gedanke in Orales. "Nach Amarra," murmelte er mit seltsam veränderter, nun fast tonloser Stimme ohne jede Nuancierung, "damit alle Bewohner der Insel zu Licht werden und dieser Schein die Reiche durchdringt. Nach Amarra, damit ich allein herrsche."
D
em alten Helfer erschien es seltsam, daß der Fremde so lange allein bei dem Falla blieb. Er betrat das Gemach und erkannte sofort die Veränderung in Orales. Der breitschultrige Mann wirkte nun größer. Er hielt den Flammenden Kristall in den Händen und starrte den Alten aus unnatürlich geweiteten Augen an. Ein böses Grinsen umspielte seine Lippen, als er verlangte: "Bring' Kymynos in die Halle zu den anderen Priestern. Ich wohne jetzt hier." Der Alte begriff nicht, was geschah, doch er spürte genau, daß dieser Fremde eine Herrschaft verlangte, die ihm nicht zustand. Zornig riß er seinen Dolch vom Gürtel.
Orales lachte dröhnend, als der Flammende Kristall in seinen Händen machtvoll aufleuchtete. Der Helfer schrie nur kurz, ehe er tot zu Boden sank. "Fort mit ihm," verlangte Orales von dem Jüngeren, der ängstlich im Türrahmen stand, "fort auch mit Kymynos. Sorge dafür, daß ich geachtet werde und laß mir erlesene Speisen bringen." Der Jüngling lief eilends davon. Wenig später aber kam er mit einigen Tempelhelfern zurück, die Kymynos und die Leiche des Alten forttrugen.
P
arsus konnte den Flammenden Kristall nicht vergessen, den er selbst erweckte. Daß Ferdenes um Elonar und Sittyra klagte, bekümmerte ihn nicht. Er träumte von einem Leben in Reichtum und Macht und genau dies wollte er auch erreichen. "Es war ein Fehler, diesen Stein zu verkaufen," erkannte er endlich, "er ist der Beweis unserer Fähigkeit. Wir müssen zum Tempel und ihn uns holen. Dann erst wird der König uns glauben und uns alles geben, was wir wollen und brauchen." "Ich bin froh, den Stein los zu sein," wehrte sich Ferdenes zwar, doch wie immer fügte er sich auch jetzt den Wünschen des älteren Bruders. Sie staunten beide, als die Tempelhelfer sie sofort und ohne viele Fragen in den heiligen Bau führten und sie scheu anwiesen, die Räume des Falla allein zu betreten. Ferdenes fürchtete sich, doch Parsus lachte nur. "Kymynos ist ein alter Mann, dem wir leicht überlegen sind." Er stieß die Tür auf und trat ein. Ferdenes folgte ihm langsam. Orales saß in einem hohen, tiefen Sessel, die Füße auf einen niederen Hocker gelegt. An seiner Seite kniete ein Mädchen, eine junge Helferin, die zitternd und angstvoll seine Fingernägel beschnitt. Die zerrissene Kleidung verriet sehr deutlich, daß sie Orales auch in anderer Hinsicht gefällig sein mußte. Parsus starrte den Mann an, den er als Arzthelfer kannte. Von einem Lederriemen gehalten hing der Lebende Kristall vor der Brust des Mannes. "Parsus und Ferdenes," erkannte Orales die Besucher, "gekommen, ihrem Stein zu dienen. Zu Boden mit euch!" Ferdenes warf sich verwirrt nieder. Parsus aber rührte sich nicht. Der Arzthelfer besaß seinen Stein und das wollte er nicht dulden. Daß es keinen Unterschied mehr gab zwischen dem Flammenden Kristall und dem verachteten Mann, das wußte Parsus noch nicht. Er erfuhr es aber sehr schnell. Orales bewegte sich nicht, als der Stein etwas mehr aufglühte und Parsus das Gefühl heftigen Schmerzes empfand. Er warf sich nieder. In diesem Moment zog sich das Licht wieder etwas mehr in den Stein zurück und die Gefahr verebbte. "Das ist mein Stein," behauptete Parsus, der es aber nicht wagte, sich wieder zu erheben.
Orales lachte schallend. "Ich bin der Stein," widersprach er, "und du gehörst mir, nicht umgekehrt. Komm' näher, Parsus. Küsse meine Füße und huldige mir. Ich erlaube dir, mir zu dienen." Parsus hob unwillig den Kopf. "Bist du von Sinnen, Orales?" fauchte er. Der Stein schien mehr zu pulsieren und Orales legte eine Hand auf ihn, als wolle er ihn beruhigen. "Ferdenes, auf dem Tisch liegt eine Peitsche. Nimm sie und lehre deinen Bruder den mir schuldigen Respekt." In dem Jüngeren herrschte bloße Angst. Besser als Parsus begriff er, daß es keinen Orales mehr gab, jedenfalls nicht so, wie sie ihn kannten. Zitternd und furchtsam erhob er sich und nahm die Peitsche. Sie wurde nicht gefertigt, um Menschen zu quälen. Ihr kurzer Schaft mündete in fünf einfachen Lederriemen, die, zu Raakis ritueller Stunde geschwungen, einen Knall erzeugten, der die Kraft des dunklen Gottes rufen sollte. Keiner der Anwesenden aber kümmerte sich darum, daß ein rituelles Werkzeug hier entweiht wurde. Ferdenes weinte, als er Orales gehorchte, doch er schlug mit aller Kraft auf den Bruder ein. Das alles gefiel Orales: die Tränen Ferdenes', die schmerzerfüllten Laute Parsus' und dessen Blut und auch die zitternde Furcht des Mädchens, das er grob und gierig befingerte. Parsus gelang es endlich, Ferdenes die Peitsche zu entreißen. Zornbebend sprang er zu Orales, der aber zeitgleich aus dem Sessel schnellte und, noch ehe ein Hieb ihn traf, einen gezielten Faustschlag in Parsus' Gesicht landete. Sein Gegner stürzte zu Boden. Orales trat unbeherrscht nach ihm, stieß ihm den Schuh in die Seite, ins Gesicht, in den Unterleib. Parsus krümmte sich vor Schmerzen, doch er gab nicht auf. Als er versuchte, Orales' Bein zu greifen, um ihn zu Fall zu bringen, bückte sich dieser, packte seinen Gegner mit brutalem Griff am Haar und zerrte dessen Gesicht gewaltsam in Brusthöhe. Wie rasend stieß Orales Parsus' Gesicht immer wieder gegen den kantigen Kristall, dessen Licht wieder mehr aufglühte und ihm körperliche wie seelische Pein bereitete. Als Orales den Mann wie angewidert von sich stieß, hatte er ihn bezwungen. Parsus kroch am Boden zu ihm, preßte sein blutverschmiertes Anlitz gegen die Füße Orales' und küßte dessen Schuhe voll Hingabe. "Ich diene euch, Herr," schwor er mit bebender Stimme, "ich gehöre euch mit Leib und Seele." Orales sah zu Ferdenes und der, unbezwungen, doch beherrscht von grenzenloser Angst, tat es dem Bruder gleich. "Besorgt oder baut eine Sänfte," befahl Orales da. "Ihr habt mich gerufen und werdet mich tragen." "Wohin, Herr?" erkundigte sich Parsus sehr vorsichtig. "Wohin erlaubt ihr uns, euch zu geleiten?"
"Nach Amarra natürlich, von wo aus ich herrschen werde über jeden unwürdigen Menschengeist. Von nun an bin ich euer Herr, euer Meister und euer Gott." Parsus küßte erneut seinen Schuh. "Alles wird sein, wie ihr es wollt," gelobte er. "Erlaubt mir nur, euch künftig in allem zu dienen, Herr." "Gehorche jetzt. Morgen reise ich. Bereite du alles vor." Parsus entfernte sich rückwärts kriechend und Ferdenes folgte ihm rasch. Kaum, daß sie die Tür schlossen, verlangte Ferdenes: "Laß uns fliehen, Parsus. Je schneller und weiter wir fort sind, desto sicherer werden wir sein." "Bist du irre?" rief Parsus mit begeisterter Stimme. "Wir werden mit dem mächtigsten Mann der Reiche zusammen sein und an seiner Macht teilhaben. Er wird Amarra besiegen und nicht vergessen, daß wir ihn ins Leben riefen." "Orales ist nicht unser Werk," wehrte sich der Jüngere. "Orales ist tot, ebenso wie Elonar," erklärte Parsus heftig, "es ist nur sein Leib. Aber in ihm lebt der Geist des Kristalles. Verstehst du denn nicht, Brüderchen? Wir haben einen Lebenden Kristall erweckt und damit eine Macht gerufen, die unbesiegbar ist." "Wunderbar," spottete Ferdenes, "und dafür werden wir wie Sklaven behandelt." "Unsinn," schimpfte Parsus, "es ist eine Ehre, einem Gott zu dienen und diese Ehre wird uns zuteil." Ferdenes seufzte. "Selbst die leichteste Sänfte ist, wenn Orales drin liegt und sich wie ein Gott behandeln läßt, verflucht schwer. Ich denke nicht daran, ihn zur Küste zu schleppen." "Nur bis zur Küste," beruhigte ihn Parsus, "danach werden wir ein Schiff kaufen. Ich jedenfalls diene lieber wirklicher Kraft, als daß ich mich unserem König unterwerfe und von ihm Vergünstigungen erbetteln muß. Begreife doch: wenn er mit unserem Dienst zufrieden ist, wird er uns auch erhöhen. Was macht es schon aus, sich dafür vorübergehend demütigen zu lassen?" Ferdenes wehrte sich noch lange, doch dann verfügte er über keine weiteren Argumente mehr. So gab er nach, obwohl er dabei ein ungutes Gefühl empfand.
O
rales durchstreifte den Tempel. Lange hielt er sich in den unteren Hallen auf, in denen die Leiber der Priesterschaft auf den blanken Boden gebettet lagen. Im vierten Stockwerk, in der Halle der Kraft des Gottes Minosante, schlug er aus purem Spaß gegen den mächtigen Gong, der ansonten nur zum heiligen Ritual rufen sollte. Das Dröhnen gefiel ihm, zumal es in den Helfern Angst erweckte. Er stieg aufs Dach und
genoß den weiten Rundblick. In der darunter liegenden Halle des Lichtes ließ er sich bewirten, aß und trank und keine Erinnerung in ihm rührte an die vergangenen Zeiten, in denen er der Göttin Antares diente. Endlich betrat er auch die Halle des dunklen Gottes im fünften Stock des Temeplrunds. Dunkelrote Granaten bildeten am Boden das Siegel des Gottes, ein Pentagramm. Genau darüber wurde aus kleineren Flammenden Kristallen dasselbe Zeichen gefügt. Ein Helfer betrat zögernd den Raum, warf sich nieder und wartete ab, bis Orales ihn erblickte. "Was willst du?" "Großmächtiger Herr," stammelte der, "draußen sind Reisende, die Einlaß begehren." "Wer sind die Leute?" "Der Mann nennt sich Rhagan und behauptet, Helfer zu sein in Nodhers Schwarzem Tempel. Die Frau heißt Shuny und ist Priesterin, die hier Aufnahme begehrt," kam die rasche, doch halb geflüsterte Antwort. Der Stein am Hals Orales' pulsierte stärker. Priester bildeten seine Nahrung und nun nahte ein neues Opfer. "Die Priesterin bring' zu mir, den Mann verjage," entschied Orales. Eilig entfernte sich der Helfer, froh darüber, dieser bedrohenden Nähe entkommen zu sein.
S
huny wunderte sich über vieles. Daß sie dem Falla begegnen sollte und nicht der obersten Priesterin dieses Tempels, erschien ihr höchst seltsam. Zwar befand sie sich in Moras und damit in einem Reich, in dem die Frauen nicht sehr viel galten, doch in den Tempeln herrschte Amarras Recht, das solche Unterschiede nicht duldete. Die Stille hier wirkte beängstigend und die Tatsache, daß sie nirgendwo Glieder der Priesterschaft sah, verunsicherte sie zunehmend. Eine Helferin begleitete sie; eine hinkende, ältliche scheue Frau mit verkniffenem Gesicht, die kaum sprach. Shuny wusch sich auf ihr Geheiß hin und legte die Reisekleidung ab. Die lila Tunika, die sie nun trug, wies sie als Priesterin des zweiten Grades aus, welche die Weihe der Friedensgöttin Liara besaß. Voll Sehnsucht dachte sie flüchtig an Nodhers Schwarzen Tempel, in dem auf Gerrys' Befehl hin in mancher Beziehung andere Sitten herrschten. Der Falla verlangte nicht von der Priesterschaft, durch unterschiedliche farbliche Gewandung den Grad geistiger Reife beständig zur Schau zu stellen. Er selbst besaß die höchste Weihe, jene des Lichtes, doch nie sah sie ihn in der ihm zustehenden weißen Gewandung. Gerrys kleidete sich nach wie vor in das Schwarz seines Gottes und erlaubte jedem Menschen der Priesterschaft diese Farbe, unabhängig vom Grad seiner Weihen. Hier aber mußte Shuny die lila Tunika tragen und sie wußte, daß sie jedem über ihr stehenden Priester Gehorsam schuldete. "Unser Herr erwartet dich in Raakis Halle," erklärte die Helferin, ehe sie Shuny verließ.
Die junge Priesterin fühlte sich mit einem Mal sehr verlassen. Die Art, wie die Helferin von dem Falla sprach, zeugte von Furcht. Shuny verstand das nicht. Kymynos galt als gütiger alter Mann, dem leicht zu vertrauen war. Und weshalb wartete er in einer der heiligen Hallen auf sie? Noch wurde sie ja nicht aufgenommen in den Tempel und eigentlich stand ihr das Betreten dieser Hallen darum gar nicht zu. Sie dachte an Rhagan und fühlte sich wohler. Der treue Freund wartete vor dem Tempeltor und wenn sie hier keine Aufnahme fand, so würde er sie sicher nach Hause begleiten. Shuny lächelte versonnen. Nach Hause, das klang so vertraut und gut. War sie denn im Schwarzen Tempel wirklich zu Hause? Und wenn ja, wie konnte sie dann überlegen, ob sie dieses Daheim gegen Sions Burg eintauschen wollte? Ein Mensch, der einen Platz besitzt, gibt diesen nicht so leicht auf. Nun, sie wollte mit Kymynos reden und würde dann vielleicht sehr rasch wissen, was sie wirklich wollte. Die Nebel senkten sich schon, doch kein Ton rief die Priesterschaft zum heiligen Ritual der Weisheit. Tapfer schritt Shuny durch die gespenstische Stille des Tempels. Ein offener Säulengang umrundete den Bau, führte hinauf zu den heiligen Hallen. Zaghafter wurde der Schritt der Priesterin, je näher sie Raakis Halle kam. Die Tür stand weit offen. Shuny nahm all ihren Mut zusammen und trat ein, kniete dann rasch mit gesenktem Haupt nieder. Kein Wort erklang. Unsicher hob sie den Kopf. Ihre vor der Brust gekreuzten Hände verkrampften sich, als sie Orales erblickte, der inmitten den Zeichens stand und nachdenklich die Flammenden Kristalle in der Decke betrachtete. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Shuny kannte diesen Mann, wenn auch nur flüchtig. Als Gerrys vor Jahren Sions Schwarzen Tempel weihte, reiste auch Orales mit König Ariston in dieses Land. Sie waren Tage hindurch zusammen und sie kannte Orales als freundlichen Mann, der leicht seine Macht verleugnete. Sie hatte die Liebe gesehen, die ihn mit Ariston verband und war Zeuge seiner Abneigung gegen Thylenon gewesen, der sich damals sehr hochmütig verhielt. Damals begehrte er gegen den Than auf und wurde nach Moras verbannt. Nun sah sie ihn in der heiligen Halle stehen, gekleidet in eine schimmernde Tunika von weißer Farbe, gerade so, als sei er noch immer - oder schon wieder - ein Eingeweihter des Lichtes. Als er aber das Haupt wandte und sie ansah, erschrak sie zutiefst. Nein, das konnte nicht Orales sein. Die großen Pupillen wirkten starr und die Züge des Mannes zeigten sich verhärtet. Er hatte keine Gnade erlangt, sondern die Macht an sich gerissen. Keinesfalls herrschte er hier im Einverständnis Amarras. Auch Orales erkannte sie. "Sei willkommen, Shu," grüßte er. Sie preßte die Lippen zusammen. Früher trug sie diesen einsilbigen Namen. Damals war sie Sklavin gewesen. Orales konnte ihren neuen Namen nicht kennen. "Ich kam, um Aufnahme in diesen Tempel zu erbitten," sagte sie endlich, "ich bin Priesterin zweiten Grades und heiße nun Shuny, Herr. Bisher diente ich unter eurem Freund Gerrys in Nodhers Schwarzem Tempel." Orales schob die Unterlippe vor. Angestrengt versuchte er, sich des Inhalts dieser
Worte zu entsinnen. Es gab also einen Gerrys und angeblich waren sie Freunde. Er schüttelte den Kopf. Dies betraf ein anderes Leben und konnte nicht mehr wichtig sein. Er winkte sie näher herbei und umfaßte mit hartem Griff ihre Schultern, als sie vor ihm stand. In ihm wogte ein Kampf. Shuny war schön und er wollte sich an ihr befriedigen, zugleich aber besaß sie einen ausgebildeten Geist, der eine Nahrungsquelle bildete. Er konnte sie nicht auf beide Arten besitzen und jener Wille in ihm, der nur nach ihrem Geist gierte, erwies sich als stärker. Es beherrschte seine reaktive Form und fügte sich deren leiblichen Wünschen nicht bedingungslos. Zwar war es angenehm, wenn diese Form sich durch sexuelle Aktivität erschöpfte und damit seine eigene, zwar nicht wirksame, doch vorhandene geistige Kraft schwächte; doch durfte dies Es nicht behindern. Shuny empfand entsetzliche Angst. Es gelang ihr nicht, den Blick von Orales' Augen zu lösen und sie spürte seine Gier und Lüsternheit. In diesem Moment erkannte sie klar, daß sie nicht zu Thylenon gehörte. Sie wollte keinem Mann vertrauen, der sie auf diese Art zu mißbrauchen trachtete. Es gab keinen großen Unterschied zwischen Thylenon und Orales, jedenfalls nicht für sie. Beide begehrten ihren Leib und versuchten nicht einmal, ihre Seele zu erkennen. Sie dachte an Rhagan, voll Sehnsucht und mit mehr als nur einer Spur von Liebe. Sie würde Orales ertragen, sie wußte es. Danach aber wollte sie sich Rhagan anvertrauen und seinem Schutz ausliefern. Tränen traten ihr in die Augen, so fest und schmerzhaft hielt Orales ihre Schultern umklammert. Sie senkte ergeben den Kopf. Da fiel ihr Blick auf den Lebenden Kristall und innerhalb weniger Momente geriet ihr Geist in ein kaltes, undurchdringliches Gefängnis. Ihr letzter Gedanke, den zu denken sie in der Lage war, galt Rhagan. Wie eine Tote sank sie zu Boden. Orales kniete nieder, öffnete ihr Gewand und streichelte ihre Brüste. Doch ihre Leblosigkeit wirkte sehr ernüchternd auf ihn. Miska wollte er nicht haben. Eine der Tempelhelferinnen würde den Verlust ausgleichen. Er beachtete Shuny nicht weiter, sondern wandte sich wieder den Flammenden Kristallen zu. Später rief er nach Parsus und Ferdenes und befahl ihnen, seine Sänfte mit diesen Kristallen zu schmücken. Die Männer begannen das mühsame Werk, die Steine aus der Decke zu brechen. Orales nahm jeden einzelnen zur Hand. Ein Gefühl von Trauer überkam ihn. Sie waren wie er gewesen; ruhend auf dem Grund der Sümpfe in einem zeitlosen Sein. Auch wenn sie nicht zur Gruppe der Lebenden gehörten, so fühlte er sich ihnen doch verwandt. Darum sollten sie ihn begleiten auf seiner Reise zur Macht. Das Licht in ihnen mochte anderer Natur sein, wärmer und sanfter. Ohne menschlichen Eingriff wären sie ihm gleich. Was diese Kristalle erweckte, das sollte durch ihn vernichtet werden. Er grinste, als er sich Saakes Lichtorakel entsann, das von ihm sprach, als es prophezeite: "Dessen Licht die Freiheit nimmt und die Eltern gar verschlingt." Genau dies war seine Aufgabe: jeden menschlichen Geist seiner Freiheit zu berauben und alles, das stark und rein war, zu verschlingen.
K
urz vor Mitternacht, noch war erst die Hälfte der Flammenden Kristalle erbeutet, hatte Orales für einen Moment das untrügliche Gefühl, als wehe ein fremder Geist in der Halle. Doch noch ehe er sich darauf einstellen konnte, zog sich dieser Geist schon zurück und entfernte sich in unerreichbare Weiten. Woher kam dieser Geist und was wollte er? Orales erschien er seltsam vertraut und doch zugleich fremd und geheimnisvoll, dabei stark und wissend. Amarra konnte es nicht gewesen sein. Er befand sich in Raakis Halle. Sollte der dunkle Gott seinen Frevel bemerken und so tadeln wollen? Als habe er eine Warnung empfangen, drängte Orales nun zur Eile. So bald als möglich wollte er diesen Tempel nun verlassen. Ende Kapitel 6
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 7
R
hagan versuchte vergeblich, Einlaß zu erlangen. Auf sein Pochen hin öffnete sich zwar kurz die Klappe im Tor und ein Helfer erklärte ihm unfreundlich, daß er verschwinden solle, danach aber reagierte niemand mehr auf sein Rufen und zorniges Schlagen gegen das Tor. Seine Angst um Shuny wuchs. Der Hüne nahm die Pferde und verbarg sie in einiger Entfernung, hoffend, daß keine Diebe sie fänden. Dann umrundete er die Tempelmauer. Es dauerte lange, bis er einen geeigneten Platz fand, um sie zu übersteigen. Hier wuchs ein kahler, schon abgestorbener Baum, der sich leicht erklettern ließ. Von einem überhängenden Ast aus sprang Rhagan auf die Mauer. Geduckt lief er weiter. Doch der Tempelgarten zeigte sich menschenleer und bald bewegte er sich unbesorgter. Rhagan sprang von der Mauer, schaute sich lauernd um. Stille herrschte. Ein einzelner Vogel sang irgendwo ein trauriges Lied. Hier war kein Ort des Friedens. Rhagan hatte zusammen mit Attor zu viele Abenteuer erlebt, um Gefahr nicht förmlich zu erspüren. Er widerstand seinem Fluchtinstinkt im Gedenken an Shuny, der er Hilfe versprach. Da sie ihm keine Nachricht sandte, konnte sie nicht in Sicherheit sein. Was immer hier geschah, es bedrohte die Priesterin. Sie fürchtete nichts so sehr wie eine Vergewaltigung und Rhagan nahm an, daß ihr genau dies
widerfuhr. Aber welcher Mann konnte Befriedigung empfinden, wenn er eine so zarte, schwache Frau peinigte? Rhagan würde sie jedenfalls rächen. In Gedanken zerstückelte er ihre Peiniger, bis ihm sein niederes Denken selbst bewußt wurde. Er schämte sich ein wenig dafür. Nein, er wollte nicht Rache üben, sondern Shuny befreien und sie zu Gerrys bringen. Der Falla würde die Wunden ihrer Seele gewiß heilen. Systematisch durchsuchte er die Häuser im Tempelgarten, ehe er sich den Hütten der Helfer zuwandte. Hier fand er allein in einem winzigen Raum ein Mädchen, kaum zwölf Jahre alt, das ihn so furchtsam anstarrte, daß er sich fast schuldig fühlte. "Ich tue dir nichts," versprach er rauh, "hab' keine Angst vor mir." Das Kind wich bis an die Wand zurück und hob abwehrend die Hände. "Ich bin noch keine Frau," stammelte es, "ich hatte noch keine Blutung." Rhagan verstand. Dieses Mädchen fürchtete tatsächlich, er könne es vergewaltigen wollen. Befand er sich wirklich in einem Tempel, an einem heiligen Ort? Er kniete vor dem Kind nieder und schloß es trotz dessen Gegenwehr fest in die Arme. Seine Stimme klang bewegt: "Hab' keine Furcht," bat er, "ich brauche deine Hilfe. Gestern kam eine fremde Priesterin hier an. Ich suche sie, weil ich fürchte, daß ihr ein Leid geschah." Das Kind wehrte sich noch immer und da ließ er es los. Zu seinem Erstaunen überzeugte diese Geste das Mädchen mehr von der Lauterkeit seiner Absichten, als seine Worte es vermochten. Das Mädchen erzählte ihm nun von der unheimlichen Krankheit der Priesterschaft und von Shuny, die in Raakis Halle dem Herrn des Tempels begegnete. Rhagan erfuhr auch, daß dieser Herr kein Falla war, sondern ein böser, gieriger Mann, der die Helferinnen knechtete und sich wie einem Gott huldigen ließ. Rhagan bedankte sich für die Auskunft, ehe er die Hütte verließ und in den Tempelbau eindrang. Ein paar Helfer begegneten ihm, hielten ihn aber nicht auf. Er betrat Raakis Halle. In Nodher waren ihm diese heiligen Räume verboten, da er keine priesterliche Ausbildung besaß und diese auch nicht anstrebte. Doch als Gerrys Sions Tempel weihte, erlaubte ihm der Than, der Zeremonie beizuwohnen. Rhagan durfte damals im Tempel weilen und nie vergaß er jene Stunde, in der er göttlicher Kraft begegnete. Als er nun sah, wie diese Halle entweiht wurde und ihrer Flammenden Kristalle beraubt vor ihm lag, überkam ihn heftiger Grimm. "Raaki, ich schwöre dir," flüsterte er bewegt, "sobald Shuny in Sicherheit ist, kehre ich hierher zurück und räche diesen Frevel." Er verließ die Halle, eilte zurück. Ein Helfer begegnete ihm, wollte ausweichen. Rhagan ergriff ihn beim Hemd, zog ihn nahe heran. "Wo sind die Priesterinnen?" verlangte er herrisch Auskunft. Der Mann zitterte furchtsam. "In Liaras Halle," erwiderte er rasch. Rhagan ließ ihn los, eilte davon. Wenig später sah er mit Betroffenheit die leblosen
Frauenkörper. An die achtzig Priesterinnen lagen hier, dicht nebeneinander, reglos, wie tot. Eine Helferin wollte Rhagan aufhalten, doch er stieß sie von sich und beachtete sie nicht weiter. Langsam ging er durch die Halle. Sein Sinnen galt allein Shuny. Er hoffte, sie hier zu finden und zugleich fürchtete er sich davor. Was sollte, was konnte er tun, wenn sie wie diese Frauen so leblos war? Auch er kannte Miska und er wußte, daß diese Menschen nicht wirklich ihren Geist verloren. Schlimmeres schien hier geschehen zu sein. Er rief leise den Namen der geliebten Priesterin, doch wie erwartet erhielt er keine Antwort. Endlich sah er sie. Shuny lag am Rand der Halle. Ihr lila Gewand war über der Brust geöffnet. Wurde sie doch vergewaltigt? Rasch neigte er sich über sie. Seine Augen wurden feucht, als er ihren Zustand erkannte. Hilflos sah er sich um. Eine jüngere Helferin trat zu ihm. Sein Kummer rührte sie, die nie zuvor einen Mann um eine Frau weinen sah. "Amarra wird bestimmt Hilfe senden," versuchte sie einen schwachen Trost. "Ich lasse sie nicht hier," murmelte Rhagan, "ich habe ihr meine Hilfe versprochen. Amarra, sagst du? Ich warte nicht, bis der Than Hilfe sendet. Ich werde Shuny zu ihm bringen." "Du bist kein Priester und darfst darum die Insel nicht betreten. Der Than wird dich nicht anhören," warnte die Frau mit leiser Stimme. Rhagan hob den Kopf, sah sie an. "Ich bin ihm vor Jahren begegnet," offenbarte er, "der Than ist stark und weise und er ist gewiß nicht hochmütig." "Du kennst ihn wirklich?" Rhagan nickte. "Ja, ich sprach mit ihm und verdanke ihm vieles. Er wird Shuny helfen, dessen bin ich gewiß." Die Frau kniete nun nieder und flößte Shuny einen nahrhaften, gelben Saft ein. Gequält sah Rhagan, wie die Priesterin aus reinem Reflex heraus schluckte. "Woher kommst du?" wollte die Helferin wissen. "Aus Nodher," erwiderte Rhagan, "ich bin Tempelhelfer Raakis und hatte den Auftrag, Shuny sicher hierher zu bringen. Mein Falla nannte Kymynos einen gütigen Mann." "Kymynos ist krank wie alle Priester hier. Ein Fremder herrscht im Tempel, der sich Orales nennt und die Macht an sich riß. Er ist grausam und böse." "Orales?" Rhagans Stimme klang verwundert. "Ich weiß von einem Mann, der diesen Namen trägt. Doch der ist kein Priester und lebt in Clys in Verbannung." "Dieser Mann ist es." "Er ist ein Freund meines Fallas und kein Feind der Tempel." Ernst sah ihn die Frau an.
"Das mag er gewesen sein, doch nun trifft dies nicht mehr zu. Wir alle freuen uns auf die Stunde, da er den Tempel verläst. Er will noch heute abreisen. Achte darauf, ihm nicht zu begegnen. Er hat zwei Diener, die alles tun, was er will." "Woran erkenne ich die Männer?" "Orales trägt lichtweißes Fallakleid und seine Diener haben sich in Leder gekleidet." Rhagan dankte für die Warnung und die Auskunft. Dann nahm er Shuny auf die Arme. Sie erschien ihm sehr leicht. Mühelos trug er sie durch die weite Halle und hinaus aus dem Tempel. Doch dann hörte er den befehlenden Ruf: "Tötet diesen Mann!" Rhagan sah sich um. Vor dem inneren Tempeltor stand Orales. Parsus, Ferdenes und Helfer des Tempels kamen nun gelaufen. Sie alle trugen Waffen, Dolche und Säbel. Rasch bettete Rhagan die Priesterin ins Gras. Er zog sein Kurzschwert und wartete. Einen Kampf fürchtete er nicht. Aber die Übermacht bedrängte ihn hart. Rhagan verlor an Boden, wich immer mehr zurück. Da rief Orales: "Tötet auch die Priesterin!" Rhagan wirbelte herum. Niemand sollte es wagen, Shuny auch nur anzurühren. Nun ging es nicht mehr um ihn und sein Leben, sondern um Shuny, deren Sicherheit ihm anvertraut wurde. Er wollte Gerrys nicht enttäuschen und noch weniger wollte er dulden, daß ihr Leben vernichtet wurde. Rhagan verwandelte sich vom vorsichtigen Kämpfer zur wahren Kampfmaschine. Mit einer Schnelligkeit, die fast in Widerspruch zu seinem massigen Körper stand, bewegte er sich nun. Sein Schwert fand immer wieder ein Ziel. Nicht lange dauerte es, bis einzelne Helfer flohen. Orales kam nun näher.
E
s wußte um seine Unsterblichkeit und kannte keine Furcht vor Vernichtung und Tod. Es lebte in seiner erbeuteten Form, ohne sich an diese zu verlieren. Mächtiger pulsierte das Licht in dem Stein, doch Es konnte Rhagans Geist nicht erreichen. Ein ausgebildeter Priester mochte sich vielleicht dieser Kraft verschließen können, doch nicht ein Freigelassener wie Rhagan. Und doch wirkte der Geist dieses Mannes abgeschirmt. Rhagan dachte nur einen einzigen Gedanken und dieser schützte ihn nun: Shuny sollte leben. Orales wollte mit bloßen Händen nach ihm greifen. Da hieb Rhagan zu und er verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, daß sein Gegner ein Freund seines Fallas und seines Königs war. Das scharfe Kurzschwert trennte den kleinen Finger von Orales' linker Hand. Der Schmerz seiner Form berührte Es kaum, doch Es begriff nun, daß diese Form sterblich und zerstörbar war. Orales zog sich überrascht und verwundert etwas zurück. Seine Kraft mußte er auf die Wunde konzentrieren. Ungläubig sah Rhagan, wie der Blutfluß verebbte und fast augenblicklich eine Heilung begann. Auch Parsus, Ferdenes und die verbliebenen Helfer starrten auf Orales' Hand. Ihnen allen wurde unheimlich zumute. Rhagan hielt
sich nicht lange auf, sondern nutzte den Moment der Nichtbeachtung. Er hob Shuny hoch, legte sich ihren leblosen Leib über die Schulter und eilte zum Tempeltor. "Er flieht!" rief Parsus. "Laß ihn," befahl Orales, "er ist keine Gefahr. Mag er die Frau haben und gehen. Hol' die Sänfte, ich will nun reisen. Amarra wartet schon auf mich."
R
hagan hörte diese Worte noch, dachte aber noch nicht darüber nach. Erst, als er bei den Pferden ankam, überlegte er. Orales schien besessen zu sein, zumindest wirkte in ihm eine größere als nur menschliche Kraft. Und er wollte nach Amarra. Diese Insel war auch sein Ziel. Er mußte nun entscheiden, wie er reisen wollte. Nach kurzer Überlegung kam Rhagan zu dem Schluß, daß es klug sein mußte, Orales in gehörigem Abstand zu folgen. Diesen Feind wollte er lieber vor sich als in seinem Rücken wissen. Andererseits hielt er es für wichtig, Amarra vor Orales zu warnen. Dazu mußte er vor ihm die Insel erreichen. Doch Rhagan gewann die Überzeugung, daß dem Than das Geschehen in diesem Tempel nicht verborgen sein konnte und seine Warnung so wichtig nicht war. Nein, er wollte Orales folgen. Sollte sich eine Möglichkeit ergeben, diesen Mann zu töten, würde er sie nützen. Vorrangig aber blieb für ihn die Verpflichtung, Shunys Leib zu versorgen und sie zu dem Mann zu bringen, dem er als einzigem die Kraft zur Hilfe zutraute. Der Than war in seinen Augen allmächtig. Gewiß konnte er Shuny heilen.
S
orglos reiste inzwischen Nodhers Erbe mit seinen beiden Begleitern durch das fremde Land. Er hatte Philmor befohlen, vorauszureiten und den Weg zu suchen und folgte ihm nun mit einigem Abstand. Vergnügt plauderte er mit Werdyn, dem er mit begeisterter Stimme von Gerrys' Tempel erzählte und den schönen Tagen, die dort auf ihn warteten. Plötzlich zügelte Werdyn sein Pferd. "Swaga, Herr," rief er fasziniert, "schaut nur, wie sie spielen!" Der junge Page erlebte die aufregendsten Tage seinen bisherigen Lebens. Diese Reise offenbarte ihm eine solche Fülle an Neuem und Schönen, daß er auf kein Ende hoffte. Zuvor kannte er nur sein Elternhaus und die königliche Burg. Nun sah er die Schönheiten der Natur. Das posierliche Spiel der hörnchenartigen Nager begeisterte den Knaben. Die beiden Swagas tollten in dünnem, noch unbelaubten Geäst; jagten einander und putzten sich, sobald sie einander erreichten, gegenseitig das Fell. Sie entfernten sich dabei. Werdyn folgte ihnen langsam im Sattel. "Bleib' lieber hier," warnte Ilkonys, "ich will Philmor nicht verlieren." Werdyn lachte fröhlich. "Der traut sich ohne euch nicht weit," versprach er vergnügt, "Philmor wartet bestimmt."
Achselzuckend folgte Ilkonys dem Kameraden. Sie kamen beide nicht sehr weit. Einer der Swaga verbarg sich hinter einem starken Stamm, lugte vorsichtig auf den Menschen unter sich. Aus unerfindlichem Grund sprang das Tier dann hinab. Es krallte sich in den Hinterbacken des Pferdes und biß herzhaft zu. Das Tier wieherte laut auf, scheute und jagte dann in scharfem Galopp davon. Der Swaga floh erschrocken. "Nein!" Ilkonys hörte Werdyns gellenden Ruf. Er wußte, daß sein Page kein besonders guter Reiter war und fürchtete, er könne abgeworfen sein. Rasch folgte er Werdyn. Dann sah er mit Entsetzen das Pferd des Kameraden. Es stak schon bis zum Sattel im Sumpf und je mehr es trat, um festen Grund zu finden, desto rascher versank es. Das Tier wieherte in Todesfurcht. Auch Werdyn schrie um Hilfe. "Beweg' dich nicht," rief Ilkonys, während er aus dem Sattel sprang und sich vorsichtig dem Rand des Sumpfloches näherte, "du mußt ganz still halten." "Helft mir doch," jammerte Werdyn, der verzweifelt versuchte, auf der Oberfläche des Morastes zu bleiben. Ilkonys sah sich gehetzt um. Nicht weit entfernt stand ein Baum, unter dessen weit hinausreichendem Ast Werdyn um sein Leben bangte. Ilkonys handelte ohne Zögern und auch ohne Überlegung, als er den Baum erkletterte und sich langsam auf dem morschen Ast vorwärts schob. Er hielt inne, als ein gefährliches Knacken ihn warnte. Doch zu spät erkannte er seinen Fehler. Der Ast brach. Auch Ilkonys stürzte in den Sumpf, der sofort umklammernd nach ihm griff. "Philmor!" Ilkonys rief laut. Werdyn schluchzte nun und jammerte. Er versuchte, sich zu dem Prinzen zu bewegen und erreichte nichts anderes, als daß er schneller sank. Kaum einen Schritt entfernt von Ilkonys sank er tiefer und tiefer. Der Prinz schrie ihn an, befahl ihm, reglos zu bleiben. Doch Werdyn in seiner grenzenlosen Angst versuchte weiter, sich mit heftigen Bewegungen gegen den Tod zu wehren, den er so schneller herbei rief. Ilkonys empfand dieselbe Angst. Er war jünger als Werdyn, doch er handelte überlegter und lieferte sich keiner Panik aus. Er lag auf dem Morast und versuchte krampfhaft, jede Bewegung zu vermeiden. Trotzdem sank auch er immer tiefer ein. Das Pferd Werdyns riß den Kopf zurück, wieherte noch einmal schrill. Dann legte sich der Morast über das Tier und der Sumpf zog sein Opfer auf den Grund. Werdyn brüllte hysterisch auf, als er dies sah.
P
hilmor hörte die Rufe und wendete sofort. Er sah das Pferd versinken und erkannte augenblicklich, daß er Werdyn nicht helfen konnte. Der Knabe befand sich zu weit vom Rand des Sumpfes entfernt. Auch der Prinz blieb unerreichbar. Philmor kleidete sich rasch aus, knotete Hose und Hemd zusammen und warf Ilkonys das Ende des Stoffes zu.
"Ich will nicht," schimpfte der Prinz, "hilf zuerst Werdyn. Er ist schon viel weiter drin." "Ich kann ihn nicht erreichen," rief Philmor verzweifelt, "bitte, greift zu." Der Sumpf hielt Ilkonys schon bis zur Brust umklammert und packte auch einen Arm. Angst schnürte dem Jungen die Kehle zu. Werdyn befand sich genau vor seinen Augen, bis zum Hals im Morast steckend und tiefer sinkend. Werdyn schrie nun ohne Unterlaß. Schlamm drang in seinen Mund. Er hustete, spuckte, doch er konnte nun nicht mehr rufen. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Er starrte Ilkonys mit einem Ausdruck grenzenloser Todesfurcht an. Dann versank er. Ilkonys hatte das Ende der Stoffbahn schon ergriffen. Seine Hand klammerte sich darum, doch er fand nicht die Kraft, sich nun aus dem Sumpf zu ziehen. Philmor brach der Schweiß aus. Er zog aus Leibeskräften, erreichte aber nichts anderes, als daß der Stoff einriß. Er gab diesen Versuch auf. Ilkonys, wie beträubt durch den Tod des Kameraden, nahm kaum wahr, daß Philmor sich um ihn ängstigte. Der Junge halfterte das Pferd des Prinzen ab, warf ihm ein Ende des Zügels zu. Er band den Lederriemen am Sattel seines Pferdes fest. Mehrmals mußte er Ilkonys dann aber auffordern, den Stoff loszulassen und statt dessen nach dem Lederriemen zu greifen. Die Hand des Kindes war schon zu verkrampft, als daß ihm ein anderer Griff leicht fallen konnte. Er sank tiefer, mehr und mehr. Es war blanke Todesfurcht, die ihn bewegte, den Bitten Philmors zu entsprechen. "Ich kann mich nicht mehr halten," klagte Ilkonys. "Ihr müßt," rief Philmor, "versucht es." Er führte sein Pferd etwas nach vorn. Ilkonys schrie vor Schmerz, denn er empfand ein Ziehen in seinen Gelenken. Ihm war, als wolle der Sumpf ihn nicht mehr frei geben. Philmor weinte verzweifelt, da er diesen Schmerz nicht verhindern konnte. Wieder führte er sein Pferd ein Stück. Ilkonys wurde ein wenig angehoben. Es dauerte sehr lange, bis er endlich seine zweite Hand einsetzen und auch diese um den Lederzügel schlagen konnte. Danach ging es etwas leichter und schließlich lag der Prinz auf sicherem Grund. Er regte sich nicht, nur sein Atem ging heftig. Philmor neigte sich besorgt über ihn. "Geh' weg," rief Ilkonys gequält, "geh' fort. Ich will dich nie mehr sehen. Du hast nicht einmal versucht, Werdyn zu helfen. Du konntest ihn nie leiden." Philmor schüttelte den Kopf. "Nein, Herr," widersprach er, "das stimmt nicht. Aber ich kam zu spät und Werdyn war so weit weg. Ich konnte nichts für ihn tun." Ilkonys rappelte sich auf. Zornig sah er seinen Begleiter an und böse schimpfte er: "Du lügst! Du taugst nichts, Philmor. Verschwinde endlich!" Der ältere Junge starrte ihn an. Er rettete Ilkonys das Leben und erhielt nichts als Vorwürfe und Zorn zum Lohn. Der junge Prinz schleuderte ihm seine Verachtung entgegen. Er schlug sogar nach Philmor, ohrfeigte ihn mehrmals. Philmor ballte die Hände zu Fäusten, aber er wagte es nicht, sich zu wehren. Ilkonys war eines Königs
Sohn und unantastbar. Den von Todesangst erfüllten Blick des Kameraden konnte Ilkonys nicht vergessen. Er wollte diesen Eindruck verwischen, nicht mehr daran denken. Der Zorn lenkte ihn ab. Wütend hieb er auf die Hinterhand von Philmors Pferd. Das Tier erschrak und floh. Ilkonys rannte zu seinem eigenen Tier. "Hoffentlich versinkst du auch in Moras," rief er Philmor zu, als er in den Sattel stieg, "hoffentlich sehe ich dich nie, nie wieder." Seine Hände krallten sich in die Mähne des Tieres. Ohne Zügel ritt er an und ließ Philmor verzweifelt, bestürzt und allein zurück. Unablässig rannen Ilkonys die Tränen über die Wangen. Er achtete nicht auf seinen Weg, überließ sich ganz dem Tier, das gemählich vor sich hin trottete. Ilkonys weinte. Werdyn stand ihm sehr nahe. Er liebte den schlacksigen Burschen, mochte seine Scherze, auch seine Unbeholfenheit, die Art, in der er so leicht verlegen wurde. Daß er nie wieder sein Lachen hören sollte, niemals mehr ihn necken durfte, das erschien dem Knaben unvorstellbar. Der Tod war ihm nicht mehr fremd. Er sah schon zuvor Menschen sterben, doch nie betraf ihn dies persönlich. Ilkonys schluchzte. "Werdyn." Leise stammelte er den Namen des Kameraden. Eingehüllt in seine Trauer kam ihm die eigene Verlassenheit nicht zu Bewußtsein. Erst am Abend, als die Nebel sanken und er müde ins Gras glitt, fühlte er sich allein. Nein, nach Philmor sehnte er sich nicht. Der irrte irgendwo durch die weite Sumpflandschaft und vermutlich fand er keinen Heimweg. Ilkonys interessierte sich nicht dafür. Philmor verschuldete Werdyns Tod und dafür sollte er leiden. Doch daß er nun so allein war, keinen Menschen in seiner Nähe wußte, das ängstigte ihn zunehmend. Der Schlaf mied den Knaben und wenn ihn auch die Geräusche der Nacht nicht erschreckten, so fühlte er sich doch sehr unwohl. Voll Sehnsucht dachte er kurz an die Eltern. Dann schüttelte er diese Gedanken rasch ab. Er befand sich ohne Erlaubnis in diesem Land und gewiß würde der Vater sehr zürnen, wüßte er um das Geschehen. Womöglich machte er ihm sogar Vorwürfe und lastete ihm Werdyns Sterben an. Ilkonys weinte haltlos und verzweifelt. Kein Mensch hielt zu ihm, niemand verstand ihn. Er schluchzte. Wenn doch nur Gerrys hier wäre. Dem Falla vertraute der Knabe. Gerrys war immer freundlich zu ihm, behandelte ihn nie wie ein kleines Kind, das nichts verstand. Er sah ihn nicht oft, doch immer freute er sich auf die Besuche im Schwarzen Tempel, wo er sich so wohl und geborgen fühlte. Gerrys würde ihn verstehen, ihn trösten, ihn umarmen. Irgendwann fiel das Kind im Gedanken an den fernen Freund in unruhigen Schlummer.
A
m andern Tag hingen die Nebel sehr hoch und erlaubten weite Sicht. In der Ferne sah Ilkonys einen Tempel aufragen. Er wußte seinen Weg nicht mehr, kannte kein Ziel. Aber wenn es ihm gelang, den Tempel zu erreichen, dann fand er dort bestimmt Hilfe. Er mußte nur sagen, wer er war und sicherlich brachten die Priester ihn dann nach Nodher. Hoffnung keimte in dem Knaben auf, trieb ihn vorwärts. Als er ein
klares Gewässer fand, wusch er seine schlammverkrustete Kleidung aus und stillte seinen Durst. Er kam nur langsam vorwärts, da er dem Pfad nicht traute und jedes Sumpfloch fürchtete. Oft ging er zu Fuß, da er sich nicht dem Instinkt des Tieres überlassen wollte. Deutlich zeichneten sich auf dem feuchten Untergrund Hufspuren ab. Ilkonys hielt inne. Er überlegte, wie lange er schon unbewust dieser Spur folgte. Wer mochte vor ihm sein? Allein in dem fremden Land fühlte er sich hilflos. Kurz entschlossen zerrte er ein dünnes Band aus seinem Bündel und wand es um sein Haar. Vielleicht war es klug, nicht als ein Sohn der Macht erkannt zu werden. Mit gebundenem Haar sah er aus wie jeder andere Junge auch und er wollte nicht unbedingt auffallen. Langsam ritt er weiter. Entsetzt schrie er auf, als ein Mann aus einem Gebüsch sprang, seinen Fuß packte und ihn aus dem Sattel wuchtete. Ehe Ilkonys reagieren konnte, deutete schon blankes Metall auf seinen Hals. Wie erstarrt blieb das Kind liegen. "Tu' mir nichts," bat der Knabe furchtsam, "bitte nicht." Der Mann steckte sein Kurzschwert ein. "Wer bist du?" wollte er wissen. Ilkonys hob das Gesicht. Wieder weinte er, doch nun aus Freude. Er stand rasch auf. "Kennst du mich nicht mehr?" fragte er, "ich bin's doch, Rhagan. Du mußt mich doch noch kennen." Der Hüne zögerte und überlegte. Ilkonys zerrte das Band aus dem braunen Haar und nannte leise seinen Namen. Irgendwie fürchtete er, der einstige Sklave könnte sich nun vor ihm erniedrigen und ihn wie einen Herrn behandeln. Rhagan aber ahnte das Leid und die Furcht des Kindes. Ilkonys mochte eines Königs Sohn sein, im Moment wirkte er wie ein hilfloses und verstörtes Kind. Der große Mann ging in die Hocke, zog den Knaben an sich und hielt ihn fest an seine breite Brust gepreßt. Ilkonys schmiegte sich an ihn und weinte Tränen der Erleichterung. "Ach, Rhagan, ich bin ja so froh, daß du da bist," gestand er schließlich, "ich war so allein." "Wie kommst du denn nach Moras?" Rhagan wußte, daß er die falsche Anrede wählte, doch es erschien ihm richtig, das Kind ganz als solches zu behandeln. Ilkonys fiel dies kaum auf. Stockend berichtete er von dem Streit mit der Mutter, von seinem Ritt zum Schwarzen Tempel und seiner Idee, Rhagan und Shuny zu verfolgen. Als er dann von Werdyns Tod sprach, schluchzte er haltlos, unterbrach sich mehrmals dabei und fand kaum Worte, sein Grauen zu schildern. Rhagan fuhr ihm begütigend übers Haar. "Weine nicht mehr," bat er, "ich bin ja bei dir. Wo mag Philmor sein?" Ilkonys tat einen Schritt zurück. "Das ist doch egal," fauchte er, noch immer zornig auf den älteren Jungen, "der ist doch nicht wichtig." Rhagan erhob sich.
"Mag sein," erwiderte er, und seine Stimme klang seltsam hart dabei, "aber er hat dein Leben gerettet und deinen Zorn nicht verdient." "Bist du böse mit mir?" "Ja," antwortete Rhagan knapp, "was du Philmor tatest, das ist sehr übel, Junge. Findet er in Moras den Tod, so ist das dein Versagen. Leider haben wir kaum eine Chance, ihn zu finden und jede Suche nach ihm wird sinnlos sein." "Nimmst du mich nicht mit?" erkundigte sich Ilkonys mit einem Mal sehr furchtsam. "Ich kann dich nicht hier allein lassen," wehrte Rhagan ab, "obwohl mir das lieber wäre. Komm' mit." Er nahm Ilkonys bei der Hand und führte ihn mit sich. Als der Knabe Shuny sah und deren Zustand erkannte, fürchtete er sich sehr. Rhagan verschwieg ihm, daß Orales dies verschuldete. Es war nicht auszuschließen, daß der Knabe sich noch an des Vaters Freund erinnerte und er wollte ihn nicht noch mehr beschweren. Doch er erklärte, daß auf dem Weg vor ihnen ein böser Mensch in einer Sänfte reiste, der nach Amarra wollte und er erzählte auch, daß er auf dieser großen Insel Shunys Rettung erhoffte. Ilkonys leuchtete dies ein. Wenn überhaupt jemand der Priesterin helfen konnte, dann nur der Than, dessen Macht überall gerühmt wurde. "Ist es weit bis zur Küste?" wollte er wissen. Rhagan zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht," gab er zu. "Der Mann, der das verschuldet hat, reist nach Norden. Im Westen ist das Meer sehr nahe, aber die Küste dort ist flach und es finden sich dort kaum richtige Schiffe. Wie weit im Norden die Küste liegt, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht wäre es besser, nach Nodher zu reiten." "Wegen mir?" Rhagan nickte. "Ich störe dich bestimmt nicht," versprach der Knabe ernsthaft, "und du mußt auch nicht auf mich aufpassen. Ich mach' alles, was du sagst, Rhagan. Bitte, nimm mich mit. Wenn Shuny wegen mir nicht gesund wird, dann bist du mir bestimmt sehr böse. Ich versprech's dir, Rhagan: ich werde dir ganz gewiß gehorchen." Rhagan vergaß, daß dieses Kind ein Erbe der Macht war und ihm, nicht Ilkonys, der Gehorsam zukam. Doch auch Ilkonys schien zu vergessen, daß er ansonsten so gern befahl, obwohl der Vater ihm dieses Recht nur sehr begrenzt zugestand. Er ordnete sich dem großen Mann willig unter und erfüllte ihm jeden Wunsch ohne Zögern. Es machte ihm nichts aus, für Feuerholz zu sorgen, eßbare Wurzeln zu graben oder den Saft aus Kräutern zu pressen. Rhagan verübelte ihm seinen Zorn auf Philmor und ließ daran keinen Zweifel entstehen. Ein wenig empfand Ilkonys nun auch ein schlechtes Gewissen darüber. Er wollte Rhagan nicht reizen. Er fürchtete den großen Mann nicht, doch er erstrebte dessen Achtung. Im allgemeinen interessierte Ilkonys sich nicht dafür, was andere über ihn dachten.
Rhagan war eine Ausnahme, nicht nur, weil er ihn nun brauchte. Doch der Hüne wirkte so stark, auch selbstbewußt und trotz seines Kummers um Shuny sehr beherrscht. Für Ilkonys war er fast ein Vorbild. In der Nacht hielt Rhagan die Priesterin im Arm, wärmte ihren Leib und manchmal redete er leise auf sie ein. Ilkonys hielt sich abseits, verlegen und scheu. "Hast du Angst vor mir?" "Nein, hab' ich nicht, Rhagan. Ich denke bloß, daß ich dir sehr lästig bin." Rhagan lächelte wehmütig. "Das bist du," gab er unumwunden zu, "aber da die Götter uns zusammen geführt haben, wollen wir beide deshalb nicht grollen. Komm' her, Junge." Erfreut legte sich Ilkonys an seiner Seite nieder und er fühlte sich sehr geborgen und fern jeder Gefahr, als er im Arm des großen Mannes einschlief.
Ende Kapitel 7
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 8
E
in herrlicher Frühlingstag ließ die Knospen der Bäume und Sträucher anschwellen. Unzählige Insekten summten durch den weiten Tempelgarten, an den bunten Blüten der ersten warmen Tage Nektar sammelnd. Die Nebel hingen sehr hoch und der Wind ging nur mäßig, doch von angenehmer Wärme. Die Menschen fühlten sich frei und fröhlich. Überall erklang ihr Lachen, ihr argloses Geplauder. Die Kinder spielten voll Vergnügen und die Erwachsenen erfreuten sich an ihrem Tun. Es war ein Tag unbeschwerten Seins. Nur ein Mann empfand eine seltsame Unruhe in sich, ein rastloses Lauschen nach innen, eine scheinbar grundlose Erregung. Allein streifte er durch den Garten, in Gedanken versunken. Er wirkte so unnahbar, daß ihn niemand anzusprechen wagte, obwohl er doch für alle ein offenes Ohr besaß. Nach langer Zeit erst begann er den Rückweg. Vor ihm lag im hellen Tageslicht der
Schwarze Tempel. Hier in Nodher herrschte er als Falla dieses Tempels. Das war sein Daheim, hier war sein Platz, seine Aufgabe. Woher nur kam diese innere Unruhe? Gerrys grübelte, fand aber keine Antwort. Mehr als sonst kreisten seine Gedanken um die fernen Freunde; um König Ariston und dessen Sohn Ilkonys, um den Than Nymardos, aber auch um Orales, der fern in Verbannung lebte. Ihm war, als spüre er Gefahr, doch er vermochte nicht, deren Ursache zu ergründen. Er zwang sich dazu, seine Pflicht zu erfüllen, doch an diesem Tag fiel es ihm sehr schwer.
I
n der Nacht, eine Stunde vor der Tageswende, rief er seine Priesterschaft zu Raakis heiligem Ritual. Gerrys wurde nun ruhiger. Er verehrte diesen Gott nicht nur, er liebte ihn geradezu, wenngleich er ihn nie vermenschlichte. Die Götter galten in den Nebelreichen als kosmische Kräfte, doch durchaus angetan mit Bewußtheit und dadurch einem Wesen gleich. Dreihundert Jahre hindurch besaß Raaki keinen eigenen Tempel. Nun wurde er verehrt, wenn auch zunächst nur in Nodher und Sion. Er, Gerrys, wurde einst von Raaki selbst berufen. Als erster Falla des dunklen Gottes mußte er lange um die Anerkennung durch die anderen Tempelherren ringen. Es hieß, daß der Than ihn protegierte und er nicht wirklich berufen sei. Doch das lag lange zurück. Inzwischen anerkannte jeder Priester seine Weihen und man begann, ihn um seine tiefe Freundschaft zum Than zu beneiden. Seit Nymardos ihn vor vier Jahren in Sion seinen Pala und damit seine größte Liebe und seinen vertrautesten Freund nannte, wandten sich die Menschen nicht selten an ihn, wenn sie nicht wagten, ihr Anliegen dem Than vorzutragen. Gerrys stammte aus einfachen Verhältnissen und wurde nicht zur Macht erzogen. Hier in seinem Tempel fühlte er sich wohl, wußte er sich an seinem Platz. Er kannte die Menschen hier ebenso wie sie ihn. Einmal im Jahr reiste er nach Amarra und dort erschrak er immer vor der Verehrung, die ihm unverdient zuteil wurde. Er liebte den Than, doch der teilte seine Macht mit keinem. Ihre Freundschaft bestand im ständigen Bemühen, zwischen dem Amt und dem Mann zu trennen. Außenstehende vermochten dies nicht und darum huldigten sie Gerrys oft so, als begegne ihnen in ihm auch Nymardos. Selbst Ariston, der es besser wissen müßte, hoffte noch immer, Gerrys könne bei Nymardos etwas für Orales erreichen. Orales! Gerrys empfand wieder diese ferne Ahnung einer Gefahr. Er wollte jetzt nicht daran denken, sondern sich ganz auf sein Werk konzentrieren. Umsichtig leitete der Falla das Ritual bis zu seinem Höhepunkt und wie immer, wenn er dies tat, verspürte er nun einen inneren Ruf ins Zentrum der Kraft. Diese Bezeichnung umschrieb das Symbol des Gottes: das aus Granaten gebildete Pentagramm auf dem Fußboden der heiligen Halle. Es galt als lebensgefährlich, während des Rituals ungerufen in dieses Zeichen zu treten. Der vorige Herrscher in Sion starb bei diesem Versuch. Gerrys hingegen kannte kein Zögern. Er wußte sich von seinem Gott erkannt und gehorchte gern diesem Drängen. Und als er in die exakte Mitte des Fünfsterns trat, leuchteten die Flammenden Kristalle in der Decke hell auf. Ein Vorhang aus dunkelrotem Licht vereinte die beiden Symbole und schirmte den Falla vor den Blicken der anderen ab.
In allen Tempeln der Nebelreiche wurden die heiligen Rituale zu genau derselben Stunde ausgeführt. Das verband die Priesterschaft über Grenzen und Entfernungen hinweg, vereinte und stärkte sie. Diese Einheit konnte durchaus erspürt werden. Es war für Gerrys völlig normal, diese Verbundenheit sehr intensiv zu erleben. Ungewöhnlich jedoch war, was in dieser Nacht geschah. Astrale Projektionen vermochte er willentlich herbei zu rufen, nie aber überraschten sie ihn. Gerrys stand, verborgen durch Raakis Licht, unbeweglich. Wie immer, so kannte er in der Nähe seines Gottes nur ein Ausharren, ein schweigendes, doch sehr intensives Sein. Mit weit geöffnetem Geist ergab er sich der dunklen Kraft, als er jenes astrale Bild empfing, das ihn so erschütterte, daß er fast das Ritual enden wollte. Er beherrschte sich, hielt still. Sein Geist empfing das Bild einer heiligen Halle. Erschaudernd sah Gerrys zwei Männer, die mit brutaler Rücksichtslosigkeit die Flammenden Kristalle aus der Decke des Raumes brachen. Raakis Bereich wurde geschändet! Aber er sah noch mehr. Shuny lag wie tot am Boden und vor ihr stand, gierig die Steine betrachtend, Orales. Das Bild erlosch rasch und der Falla führte das Ritual zu Ende, ließ es langsam ausklingen und widmete sich danach noch einige Zeit den Anliegen der anwesenden Priesterschaft. Endlich blieb er allein zurück. Erneut trat Gerrys ins Zentrum der Kraft und wiederum schloß ihn, obwohl Raakis Stunde schon endete, das undurchdringliche Licht ab. So geschützt konnte der Falla seinen Geist auf Reisen senden. Sein Körper blieb wohl verwahrt zurück. Zuvor empfing er ein Bild; nun aber begab er sich in diese Projektion hinein und das statische Geschehen wurde lebendige Wirklichkeit. Gerrys erkannte Orales wohl, doch er vermochte nicht, dessen Geist zu berühren. Er versuchte es nur kurz. Eine bösartige Schwingung schirmte den Freund ab, duldete kein Eindringen, kein Erkennen. Als sich Geist und Körper des Fallas vereinten, hatte er mehr Fragen als Antworten empfangen. Seryna hörte Gerrys aufmerksam schweigend zu. Sie war Falla dieses Tempels, herrschte über die weibliche Priesterschaft und teilte mit ihm Pflicht und Arbeit. Sie liebten einander, zärtlich und zurückhaltend, doch durchaus eingestanden. Das Gesetz verbot die Vereinigung der Fallas eines Tempels und so durften sie keine Erfüllung finden. Sie respektierten das und litten nicht darunter. Seit Attor, der Bruder des Falla, im Tempelbereich lebte, hatte Seryna ja auch einen treuen Gefährten gefunden. Er sah Gerrys sehr ähnlich, doch nicht nur deshalb liebte sie auch ihn. "Was willst du tun?" erkundigte sie sich sanft, als er endete. Gerrys lächelte etwas hilflos. "Sagte ich denn, daß ich etwas zu tun gedenke?" antwortete er mit einer Gegenfrage. "Ich bin unruhig und weiß nicht, was ich von alledem halten soll." Er schwieg einige Zeit, ehe er fortfuhr: "Mir ist, als habe Raaki selbst mir die Schändung seiner Halle gezeigt. Wenn das stimmt, bin ich auch aufgefordert, einzugreifen." "Und du bist sicher, Orales gesehen zu haben?" "Seinen Körper," schränkte Gerrys rasch ein, "seinen Geist konnte ich nicht berühren. Ich habe den Eindruck, als beherrsche ihn eine fremde Kraft."
Bittend sah Seryna den Freund an. "Begib' dich nicht in Gefahr. Was immer in Moras geschieht, Amarra wird es wissen und das Richtige entscheiden. Überlasse diese Sache dem Than." Langsam schüttelte Gerrys den Kopf. "Ich kann nicht," gab er zu, "nicht, wenn wirklich Raaki mich rief. Nein," fügte er in plötzlichem Entschluß hinzu, "es ist meine Aufgabe, nach Moras zu reisen. Shuny ist meine Priesterin, für die ich verantwortlich bin. Rhagan ist vielleicht tot, womöglich die ganze Priesterschaft dort. Ich darf nicht zögern, Seryna." "Du darfst auch nicht ohne die Erlaubnis Amarras reisen," erinnerte sie ihn. Wann immer in dieser Betonung von Amarra gesprochen wurde, meinte man den Than, der dort regierte. Serynas Einwand besaß durchaus seine Berechtigung. Gerrys vermochte zwar, eine geistige Verbindung mit dem Freund herzustellen und so Wissen und Wollen auszutauschen, doch er scheute sich davor, es aus diesem Grund zu tun. Seryna erkannte seine Gedanken und meinte: "Du fürchtest, daß er dir diese Reise verbietet?" Gerrys nickte nur. Dann lächelte er wieder. "Ich verlasse morgen den Tempel," entschied er, "in wenigen Tagen werde ich in Moras sein. Ich muß dem Ruf meines Gottes Folge leisten." "Du bist Amarra verpflichtet," schimpfte sie halbherzig, "dein Platz ist hier." Ihr plötzlicher Zorn verunsicherte ihn. Tatsächlich band ein Eid jeden Priester, vor allem aber jeden Herrscher und jeden Falla an Amarra, zwang zu bedingungslosem Gehorsam und absoluter Treue. Es gab keine Ausnahme! "Es sei," willigte er da ein, "ich werde die geistige Brücke nach Amarra schlagen und um Order bitten." Seine Stimme klang betrübt. "Und wie entscheide ich, wenn mein Than anderes befiehlt als mein Gott?" Er wartete keine Antwort ab, sondern verließ sie nun. An einer goldenen Kette baumelte vor seiner Brust ein Lebender Kristall, nicht größer als ein Finger seiner Hand. Doch die Lichtfülle des Steines erhellte ihm den Weg und erleuchtete seine Gemächer, bis er durch seines Geistes Kraft den Schein dämpfte.
Z
u seiner Verwunderung gelang ihm die geistige Verbindung nach Amarra nicht sofort. Der Freund war ihm unerreichbar. Gerrys wußte nicht einmal, ob Nymardos seinen Ruf vernahm. Gegen Morgen aber wurde sein unruhiger Schlummer gestört. Die Verbindung kam zustande. Weit öffnete Gerrys seinen Geist und übermittelte so das Geschehen während der rituellen Stunde sowie seine Reiseabsicht. "Bleibe an deinem Platz," empfing er die Weisung des Than, "das Geschehen ist mir bekannt und jede Handlung obliegt mir allein. Orales ist verloren."
"Verloren? Wie das? Was geschieht in Moras?" "Nichts, das du jetzt schon wissen solltest. Dein Freund ist besessen von einer fremden, nichtmenschlichen Wesenheit, deren Trachten auf Zerstörung ausgerichtet ist." "Und ich kann nichts tun?" "Stürze dich nicht ohne Grund in große Gefahr, Geliebter. Du bist zu wichtig, um sinnlos dein Leben aufs Spiel zu setzen." "Und doch empfing ich durch Raakis Kraft das Wissen von alledem. Ich bitte dich, Freund, zürne nicht, wenn ich nun beharrlich bin. Ich will nicht mit dir rechten und dir nicht widersprechen, doch ich diene einem Gott und bin ihm untertan. Sage mir, daß nicht Raaki mich in diese Sache rief, und ich gehorche gern und bleibe, wo ich bin." Gerrys empfing keine Botschaft. Er wußte sehr wohl, daß Widerspruch von Amarra nicht geduldet wurde, doch er sorgte sich nicht. Sein Geist wurde von dem des mächtigen Freundes berührt und sehr intensiv abgetastet. Der Than überprüfte ihn über diese Entfernung hinweg. Seine geistige Kraft kannte kein Hindernis. Die Macht, die er ausübte, wurde ihm nicht unverdient zuteil. Er galt als der stärkste Geist der Nebelreiche und derzeit war er es auch. Eines Tages würde ihn ein Stärkerer ablösen, doch bis dahin durfte er unbedingten Gehorsam fordern. "Raaki rief dich," erfuhr er endlich, "es ist dieselbe Kraft, die dich schon manches Mal geleitet hat." "So darf ich reisen?" "Geh' nach Moras. Die Priesterschaft vom Tempel der Weisheit ist gefangen von der verzehrenden Kraft eines durch magische Praxis erweckten Lebenden Kristalles. Die Bewußtheit dieses Kristalles ist jener deines Gottes nicht unähnlich. Tatsächlich unterstehen Raaki die Lebenden Kristalle, während die gewöhnlichen Flammenden Steine Antares gehören. Begib dich zum Tempel der Weisheit und lausche in dich, ob du dort weitere Weisung erfährst. Doch ich bitte dich sehr, Gerrys. Suche nicht den Kampf mit Orales. Du würdest unterliegen." "Er ist mein Freund." "Er war es. Nun gehört er dem Kristall und kennt dich nicht mehr. Solltest du ihm begegnen, so sei sehr vorsichtig. Der Mann, den du liebst, ergab sich einem fremden Wesen und existiert jetzt nicht." "Diesen Eindruck hatte ich auch, als ich geistig den Tempel aufsuchte. Es erschüttert mich, dies auch von dir zu erfahren. Ich danke dir aber, weil du mir die Reise nicht verwehren willst." "Ich habe dir nie einen Wunsch versagt, der erfüllt werden konnte und werde es auch künftig nicht tun. Ich will dich sehen, sobald es deine Zeit erlaubt." "Du rufst mich nach Amarra, Nymardos?" "Nein, Freund, auch dies gehört zu den Dingen, die nie geschehen werden. Du
kommst freiwillig zu mir oder gar nicht. Ich weiß jedoch, wie gern du kommen willst und warte auf dich. Nun achte auf meine Weisung: gelingt es dir in Moras, einen der gefangenen Geister der Priesterschaft zu befreien, so verbinde dich sofort mit mir und vermittle mir das Bild dieses Menschen. Sein Geist darf bis dahin keine Ablenkung erfahren und keinem andern Menschen begegnen. Ich weiß noch nicht alles, was dort geschah, werde es aber so erfahren." "Es wird geschehen, wie du es willst." "Die Götter sind mit dir, Gerrys." Die Verbindung erlosch und die Unruhe, die den Falla seit dem vergangenen Tag beschäftigte, gewann neue Kraft.
G
egen Abend erreichte er die Sajik-Plantage seines Tempels. Ein Priester eilte herbei, nahm ihm das Pferd ab und versorgte das Tier. Andere nahten, stellten Fragen, suchten Rat. Gerrys ergab sich ganz den ihm anvertrauten Menschen. Es schien, als habe er keine Eile. Gerrys sah sich um. Sein Bruder verwaltete den Besitz vorzüglich, alles schien gepflegt und sorgsam beachtet. Er kam nicht oft hierher. Attor mochte ihn nicht sonderlich und legte keinen Wert auf seine Gegenwart. Doch die Plantage lag auf dem Weg nach Moras und Gerrys zog es vor, noch einmal in einem Haus zu nächtigen, als sich vorzeitig den feuchten Nachtnebeln zu ergeben. Die kleinen Häuser hier wurden aus Holz gefertigt und mit geflochtenen Grasmatten gegen die nächtliche Feuchtigkeit geschützt. Lediglich das große Haupthaus besaß Wände aus Stein und auch ein leicht geneigtes Dach. Wie alle Häuser in den Reichen, das Königreich Sarai war hierbei die Ausnahme, wurde auch dieses flach erbaut, besaß kein oberes Stockwerk und auch keine Kellerräume. Im allgemeinen blieben die Fenster unverglast; lediglich einige Räume im Haupthaus wiesen Scheiben aus Muskovit auf. Gerrys sah wohl, daß Attor ihn beobachtete und er wunderte sich leicht darüber, daß der Bruder ihn nicht begrüßte. Das änderte sich erst, als Maike zu dem Falla kam. Maike war die Ziehtochter des Bruders, an der er eigentlich kein Recht besaß. Sie wurde als Tempelkind gezeugt. Attor fand ihre Mutter, eine Priesterin auf Reisen, half bei der Geburt und nahm, da die Frau starb, das Neugeborene an Kindes Statt an. Sie stand nun in ihrem neunten Jahr und war, neben Seryna, Attors einzige Liebe. Das Kind sprach arglos mit dem Falla, dessen Macht es noch nicht erkannte oder zu verstehen in der Lage war. Gerrys ging lächelnd auf Maikes Fragen ein. Da trat Attor vor die Tür und rief das Kind zu sich. Maike verabschiedete sich höflich von Gerrys, ehe sie dem Vater Folge leistete und sich von ihm in die Obhut einer Priesterin senden ließ. Gerrys lachte leise. "Was willst du erreichen, indem du mir Maike fern hältst, Bruder?" Attor sah ihn finster an. "Ich weiß wohl," warf er dem Bruder vor, "daß du sie zu einer Priesterin machen willst. Du sollst sie nicht beeinflussen können."
"Immerhin bist du ehrlich," stellte Gerrys vergnügt fest. Er wollte dem Bruder die Hand zum Gruß reichen, doch dieser übersah willentlich diese Geste. "Maike ist ein Tempelkind, geboren, um die Weihen zu erlangen. Eines Tages wird sie dieses Recht einfordern und erhalten." "Jetzt jedenfalls noch nicht." "Nein, noch ist sie ein Kind, Attor. Ich habe nicht die Absicht, sie dir zu nehmen." "Und warum bist du hier? Gibt meine Arbeit Anlaß zur Klage? Hast du Grund, mich zu überprüfen?" Gerrys ignorierte den aggressiven Tonfall des Bruders. Wortlos betrat er das Haus. Attor folgte ihm zögernd. "Laß mir ein Mahl und etwas Wein bringen," bat der Falla. Wenig später servierte ihm Attor selbst das Gewünschte. Abwartet blieb er stehen, während Gerrys sich stärkte. Schweigend verzehrte der Falla sein Mahl. Es gefiel ihm nicht, von seinem eigenen Bruder dergestalt abgelehnt zu sein, doch er akzeptierte Attors Ansicht. In den Augen des Bruders war er ein Schwächling, ein weibischer Mann mit unverdienter Macht. Attor verübelte es ihm, daß er seine Freiheit verlor. Als Kinder wurden sie getrennt und vor vier Jahren fanden sie sich in Sion wieder. Damals griff Attor den Bruder an und versuchte durch Hinterlist, ihn zu töten. Auch gegen den Than zog er die Waffe und Nymardos verurteilte ihn dann zur Sklavschaft. Attor gehörte Amarra, auch wenn er Gerrys zu dienen hatte. "Ich bin nicht deinetwegen hier," erklärte ihm Gerrys endlich, "sondern befinde mich auf der Durchreise. Morgen reite ich weiter." "Nach Amarra?" Das klang etwas zugänglicher, wenig abweisend. Da Attor sich nun nicht kritisiert wußte, gab er seine ablehnende Haltung auf. Gerrys freute sich darüber, obwohl er es nicht zeigte. "Ich reite nach Moras." Attor wurde nun hellhörig. "Rhagan ist dort." "Ich weiß es." "Wirst du ihn treffen?" "Weshalb ist das wichtig für dich, Attor? Ich nehme an, daß Rhagan dir den Sinn seiner Reise entdeckte." Zögernd setzte sich Attor auf einen Stuhl. In der Gegenwart des Bruders kam ihm seine Unfreiheit sehr zu Bewußtsein. Er wußte nie, wie er sich verhalten sollte und ob es ihm erlaubt war, sich wie ein freier Mann zu benehmen. Als Sklave durfte er in Gegenwart seines Herrn nicht sitzen, doch Gerrys achtete kaum auf Normen und schwieg darüber.
"Rhagan sagte mir, daß er vielleicht nicht wieder kommt," gestand Attor und seine Stimme klang nun sehr betrübt. "Gerrys, ich brauche ihn. Ich will nicht, daß er in deinem Tempel lebt." Der Falla lehnte sich zurück. Seine Stimme klang ernst: "Das ist allein Rhagans Entscheidung. Er ist fähig, anderen, besseren Dienst zu leisten und wenn er das will, werde ich ihn unterstützen. Er nicht mehr dein Sklave." "Ich behandle ihn auch nicht so," wehrte sich Attor. "Nein?" Gerrys Stimme klang fast belustigt. "Wie einen Freund behandelst du ihn jedenfalls nicht. Er leistet deine Arbeit und nimmt dir, sofern er kann, jede Mühe ab. Außerdem gibt er dir die wenigen Solare, die ich ihm ausbezahle. Er behält nichts für sich, aber dich interessiert das nicht. Du kümmerst dich überhaupt nicht um ihn, Attor. Vor einigen Monaten kam er zu mir und bat mich um eine neue Tunika. Es ist deine Aufgabe, für jeden Arbeiter auf der Plantage zu sorgen und genau das tust du auch, außer, wenn es Rhagan betrifft. Er ist dir zu selbstverständlich." Attor preßte die Lippen zusammen und schwieg. Diese Verwürfe trafen ihn, doch er wollte es nicht eingestehen. "Ich bin dein Sklave," murmelte er, "ich arbeite ohne Lohn. Wenn Rhagan mir Geld gibt, so verwende ich es nicht für mich." "Auch das weiß ich," erklärte Gerrys ernst, "du kaufst den fahrenden Händlern sinnlose Geschenke für Seryna ab." "Ich liebe sie!" rief Attor da. "Es ist natürlich, wenn ich sie beschenken will." "Es ist töricht," wehrte Gerrys ab, "Seryna entbehrt nichts. Du hast keinen Anlaß, deine Liebe beweisen zu müssen und hättest du ihn, so wäre dies der falsche Weg. Liebe ist nicht käuflich, Bruder. Und sie konzentriert sich auch nicht auf einen einzigen Menschen, wenn sie wahr ist. Wie kannst du Seryna und Maike lieben, wenn du zugleich Rhagan mißachtst." "Rhagan ist ein Mann!" "Deshalb weniger liebenswert?" "Du weißt, was ich meine," schimpfte Attor erbost, "Liebe unter Männern ist anders, weniger nahe, weniger zärtlich und keineswegs begleitet von körperlicher Nähe." "Du hast ihn nie umarmt? Ihm nie gesagt, was er dir bedeutet? Ihn nie im Kummer getröstet oder in der Freude geküßt? Attor, glaubst du wirklich, diese Dinge bedeuten Männern weniger als Frauen? Wir sind doch alle Menschen!" Attors Züge verhärteten sich. Es arbeitete in ihm. Gerrys spürte, wie er sich überwinden mußte, um offen zu sein. "Männer, die bei Männern liegen, sind weibisch. Rhagan ist es nicht." "Aber du meinst, ich sei es?"
Attor nickte nur. Er wollte Gerrys nicht wirklich kränken, doch er mochte auch nicht lügen. "Wahrscheinlich hast du recht," gab Gerrys zu seinem Erstaunen sehr offen zu, "mir bedeutet die Nähe der Menschen, die ich liebe, tatsächlich sehr viel. Es ist mir einerlei, welchem Geschlecht sie angehören und wenn ein Freund Kummer hat, so suche ich ihn durch Nähe zu trösten, auch dann, wenn es ein Mann ist." "Auch sexuell?" fauchte Attor. "Darum geht es nicht," wehrte Gerrys gelassen ab. "Nur triebhafte Narren meinen, jede körperliche Nähe müßte auch in körperlicher Einheit enden. Wenn es sich ergibt, dann mag es sein. Alles, was durch Liebe bewirkt wird, ist gut." "Du liebst Männer? Du machst keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern?" "Warum sollte ich, Attor? Eine Umarmung, ein Kuß, jeder Ausdruck von Liebe bereichert mich. Warum sollte ich mich begrenzen?" "Und was hast du davon?" "Soll ich mich mit dir vergleichen, Bruder? Du weißt sehr genau, daß ich auch in dieser Hinsicht reicher bin als du. Ich werde nie einsam sein, weil treue Freunde zu mir stehen; Männer und Frauen. Sie suchen meine Nähe und fliehen sie nicht. Rhagan wird vor dir fliehen." "Ich will, daß er bei mir bleibt. Es ist deine Entscheidung, Gerrys. Er ist zwar frei, doch innerhalb des Tempelbezirks untersteht er deinem Befehl." "Er wird seinen Weg selbst erkennen und dann, mit meiner Hilfe, auch gehen." "Und wenn ich dich bitte?" Gerrys schüttelte den Kopf. "Du verachtest mich, Attor. Verleugne nicht deine eigenen Gefühle. Doch auch, wenn es anders wäre, könntest du mich nicht dazu bewegen, eines Menschen Weg zu beschweren." "Und wenn er bei mir bleiben will?" "Es ist allein seine Entscheidung." "Wann kommt er zurück? Ich will mit ihm reden," erklärte Attor heftig. Gerrys gab ihm keine Antwort. Daß Rhagan nicht bei Shuny im Tempel weilte, verwirrte ihn etwas und bisher fand er nicht die Ruhe, um seinen Tempelhelfer im Geist zu suchen. Attor wurde aufmerksam. "Ist er in Gefahr?" forschte er. "Es ist möglich," gab Gerrys langsam zu. "In Moras geschehen seltsame Dinge." Nun bedrängte ihn Attor mit Fragen so hart, daß er dem Bruder endlich Auskunft gab. Mit knappen Worten schilderte er das wenige, das er wußte. Attor sprang auf. Erregt stand er vor dem Bruder, voll Sorge um Rhagan.
"Nimm mich mit," drängte er, "du kannst nicht allein reisen, Gerrys. Es wird zum Kampf kommen und, entschuldige, du bist kein Kämpfer, sondern..." Er brach ab. "Sondern?" "Sondern ein verweichlichter Schwächling," brauste Attor auf. "Du wirst nicht zum Mann nur dadurch, daß du Reitkleider anlegst und einen Degen umschnallst. Um Töten zu können, muß man stark sein und, wenn es sein muß, rücksichtslos. Ich kann kämpfen, Gerrys. Ich habe jahrelang meinen Lebensunterhalt mit der Waffe verdient, Verbrecher gejagt und Schurken erlegt." "Ich reise nicht, um zu töten," wehrte Gerrys ab, "werde es aber, wo nötig, durchaus können." Attor lachte höhnisch auf. "Vielleicht, aber nur dann, wenn sich dein Gegner nicht wehrt. Du brauchst mich, Gerrys. Nimm mich mit." Er neigte sich halb über den Bruder. Gerrys lächelte sacht, denn er spürte, wie Attor mit seinem eigenen Stolz rang. Fast überwand er sich zu einem Kniefall, doch er ballte die Hände zu Fäusten und regte sich nicht. Ohne Attors Wissen berührte Gerrys dessen Geist, forschte in ihm nach. Der Falla erkannte rasch, daß nicht Blutgier oder Sorge um den Bruder Attor beschäftigte, sondern Angst um Rhagan. Attor gestand sich diese Angst wohl selbst nicht ein, doch sie bildete das Motiv seines Wunsches. Er liebte Rhagan, auch wenn er unfähig blieb, dies sich selbst oder dem Freund zu gestehen, geschweige denn, zu zeigen. "Ich nehme dich mit," versprach Gerrys gelassen, "doch ich stelle Bedingungen." Attor warf ihm einen mißbilligenden, doch zugleich auch fragenden Blick zu. "Du wirst dich mir in allem unterordnen und, wenn ich es verlange, ohne Widerspruch oder Zögern die Rückreise beginnen. Und wenn wir Rhagan begegnen sollten, wirst du ihn nicht drängen, bei dir zu bleiben, sondern ihm die volle Freiheit gewähren." Attor trat einen Schritt zurück. "Ich muß dir gehorchen," keuchte er, "ich bin dein Sklave, daran mußt du mich nicht erinnern. Aber Rhagan ist allein meine Sache." Gerrys sah ihn nur an, still abwartend und gelassen schweigend. Er hatte nicht die Absicht, mit seinem Bruder zu rechten und überließ es ihm, zu bejahen oder nicht. Schließlich gab Attor nach. "Ich füge mich," versprach er unwillig.
F
rüh am Morgen wartete Gerrys im Sattel auf Attor, der als Verwalter der Plantage noch einige Anordnungen für die Zeit seiner Abwesenheit traf. Als er aus dem Haus kam, trug er Reitkleidung; enge Hosen, ein festes Wams und kniehohe Stiefel aus glattem Leder. Gerrys neigte sich vor.
"Nimm die Manschetten von den Armen," verlangte er, "du hast kein Recht, dein Kupfer zu verbergen." Attor warf den Kopf zurück. Er hielt, im Gegensatz zu Gerrys, der Sitte gemäß das Haar gebunden, doch er wollte nicht zu offen zeigen, welche Kluft ihn von dem Bruder trennte. Widerwillig riß er die Manschetten ab und schleuderte sie zu Boden. "Zufrieden?" fauchte er, da nun die breiten Kupferarmreifen ihn für jeden sichtbar als Sklaven auswiesen. "Nicht ganz," schränkte Gerrys ein, "denn es ist dir auch verboten, den Säbel am Gürtel zu tragen; ebenso den Dolch. Nimm die Waffen ab." "Kein Gesetz verbietet Sklaven die Bewaffnung!" rief Attor aufgebracht. "Der Than verbot es dir, als er dich versklavte," erwiderte Gerrys mit freundlicher Stimme, "sein Wort gilt in jedem Reich als Gesetz." "Vor allem dir," murrte Attor, doch er gehorchte und hängte den Waffengurt an den Sattelknauf seines Tieres. "Du bist diesem Mann geradezu hörig." Gerrys lachte leise. "Ich liebe ihn," gab er zu, "und da er eines jeden Menschen Herr ist, gehorche ich ihm auch. Dasselbe erwarte ich von dir, Attor." Der Bruder schwang sich ärgerlich in den Sattel und ritt ohne weiteres Wort an. Fast eilig strebte er von der Plantage fort. Gerrys folgte ihm gemächlicher. Zwar fühlte er die Dringlichkeit seiner Mission wie eine gewichtige Ahnung, doch er wußte um den weiten Weg und wollte sein Pferd nicht vorzeitig und unnötig ermüden. Es dauerte auch nicht lange, bis Attor langsamer ritt und sich schließlich an seiner Seite hielt. Er ertrug das Schweigen des Fallas nicht und erzählte darum von den Belangen seiner Arbeit. Fast krampfhaft vermied er es, von dem Werk des Bruders zu sprechen. Ihm waren die Götter mehr oder weniger suspekt, zumindest bezweifelte er deren reale Wirksamkeit. Wenn Gerrys behauptete, daß Raaki ihn nach Moras sandte, so klang dies in Attors Ohren eher unglaubhaft. Er ahnte nicht einmal, wie deutlich Gerrys jeden seiner Gedanken empfing.
S
ie nächtigten irgendwo im Freien. Attor ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der Gerrys ihm jede Arbeit überließ; ihm die Sorge für Feuer und Nahrung und die Pflege der Pferde auftrug. Der Bruder wirkte dann oft abwesend, so, als träume er. Doch Gerrys erkundete im Geist sein Ziel, ohne sich jedoch wirklich von seinem Körper zu lösen dabei. Jede Störung konnte in diesem Fall gefährlich sein und er traute es Attor einfach nicht zu, dies zu begreifen und ihm die nötige Ruhe zu gewähren. So empfing er nur undeutliche astrale Bilder, doch auch diese beunruhigten ihn sehr. "Euer Mahl, Herr," störte Attor seine Gedanken.
Gerrys sah auf und lächelte. "Ich bin wohl kein guter Unterhalter," gab er zu, "es tut mir leid." "Das bezweifle ich," spottete Attor, "es ist dir gleichgültig, ob ich hier bin oder nicht." "Du wolltest es so."
T
ief in Moras verließ Gerrys die befestigte Straße und wählte einen kaum sichtbaren Pfad. Attor protestierte vergeblich. Gerrys kannte die Pflanzen, welche auf Sumpflöcher hinwiesen und fand mit Leichtigkeit immer sicheren Grund. Attor mußte sich dicht hinter ihm halten und diese nicht ganz ungefährliche Abkürzung akzeptieren. Früh in der Nacht erwachte Attor durch Kampflärm. In der nebeldichten Dunkelheit fand sein Auge kein Ziel, doch rasches Tasten bestätigte seine Befürchtung. Gerrys schlief nicht in seiner Nähe, also focht er nicht weit entfernt um sein Leben. Ein schwacher Schimmer wies Attor den Weg, den er langsam und vorsichtig, immer in Furcht vor tödlichen Sumpflöchern, ertastete. Nach geraumer Zeit erst sah er den Bruder. Er hielt den Degen fest in der Hand und wehrte sich gegen drei Männer, die mit dem Säbel durchaus umzugehen vermochten. Zu seinem Erstaunen beherrschte Gerrys jedoch die Situation. Die Männer schienen sich vor ihm zu fürchten. Der Lebende Kristall vor seiner Brust strahlte hell und wies ihn mehr als das offene Haar als Mann der Macht aus. Gerrys sprang einen Schritt zurück. "Ihr könnt jetzt weiterhin kämpfen oder verschwinden," bot er an, "es ist eure Wahl." Sie drangen wieder auf ihn ein, lehnten das Angebot des Waffenstillstandes ab. Attor nahm seinen Säbel fester in die Hand und trat zu seinem Bruder. Sie tauschten nur einen kurzen Blick des Einverständnisses. Dann fochten sie Seite an Seite und es dauerte nicht sehr lange, bis ihre Gegner die Flucht begannen. Attor wollte ihnen nach, doch Gerrys hielt ihn zurück. "Laß sie," verlangte er, "diese Männer sind im Recht." "Wie meinst du das?" Gerrys deutete zu einem Strauch. Erst jetzt gewahrte Attor den Schemen der dort kauernden Gestalt. Er ging darauf zu, doch ein klagender Laut wehrte ihn ab. Gerrys ergriff ihn bei der Schulter und hielt ihn zurück. Seine Stimme klang nun sehr freundlich, fast werbend: "Fürchte nichts, Mädchen," bat er, "es geschieht dir kein Leid. Komm' zu mir." Er ging in die Hocke und wartete. Was Attor nicht für möglich hielt, geschah. Das Mädchen, das eben noch angstvoll am Boden kauerte, stürzte sich in die Arme des Bruders und weinte haltlos seine Angst hinaus. Gerrys ergriff ihre Hand und führte sie mit sich zum Lagerplatz. Betreten folgte ihnen Attor. Er sah fast verlegen zu, wie Gerrys dem Mädchen Nahrung und Trank gab und leise, behutsam und beruhigend
auf sie einredete. Sie mochte dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt sein und wirkte sehr kindlich. Attor kannte die Sitten dieses Landes und wußte, daß eine des Nachts allein reisende Frau jedem Mann, dem sie begegnete, zu Willen sein mußte. Darin wurzelte des Mädchens Furcht vor ihm. Was er aber nicht begriff, das war die Tatsache, daß sie vor Gerrys keine Scheu hegte und sich vertrauensvoll an ihn schmiegte. "Natürlich schuldest du mir keine Erklärung," murrte er, als das Mädchen in des Bruders Armen einschlief. "Ihre Familie wohnt nicht weit entfernt," erwiderte der Bruder mit leiser Stimme, um den Schlaf des Mädchens nicht zu stören, "sie hat sich verlaufen und fand nicht heim. Die Männer haben sie als Nachtbeute betrachtet und forderten ihr Recht. Ich empfing die Ausstrahlung ihrer entsetzlichen, stummen Angst und half ihr. Das ist alles, Attor." "Du hast dein Leben riskiert, um zu verhindern, daß das Gesetz dieses Landes zur Auswirkung kommt. Ist es nicht wichtiger, unser Ziel zu erreichen?" Ernst sah Gerrys den Bruder an. "Ich diene Raaki," sagte er fest, "maße dir kein Urteil an. Es wäre Schuld, die Vergewaltigung dieses Kindes zu dulden und jede Schuld trennt von göttlichem Wirken. Ich kann es mir nicht erlauben, belastet zu sein, denn ich muß annehmen, daß ich die dunkle Kraft sehr bald in ihrer Fülle benötige." "Geschwätz." Gerrys erwiderte nichts. Sanft streichelte er das Mädchen, das sich im Traum unruhig bewegte. Sie wurde rasch ruhiger. Gerrys legte sich neben sie, hielt sie umschlungen und schlief an ihrer Seite. Attor betrachtete ihn lange, obwohl der Kristall nun kaum Licht verströmte und sein Blick so gehindert blieb.
O
hne ein Wort des Unwillens nahm Gerrys am kommenden Tag den Umweg hin, der nötig wurde, um das Mädchen nach Hause zu geleiten. Er beachtete Attor nicht dabei, sondern widmete sich ausschließlich dem Mädchen, sprach mit ihr und verströmte dabei gleichbleibende Freundlichkeit. Er wirkte sehr zufrieden, als er danach mit Attor sein eigentliches Ziel anstrebte. Der Bruder suchte die Versöhnung. "Habe ich dich gestern gekränkt, als ich deine Worte als Geschwätz abtat? Das wollte ich nicht, Gerrys. Nur meine ich eben, es ist übertrieben, wie du von deinem Gott redest." "Wie willst du das beurteilen?" "Mein Verstand sagt es mir," behauptete Attor, "auch Raaki ist, wenn es ihn überhaupt so gibt, nur eine Kraft und als solche unpersönlich und neutral. Ich wundere mich nur darüber, daß die Kleine keine Angst vor dir hatte."
"Warum sollte sie? Ich habe ihren Geist berührt und so ihrem innersten Sein jede Furcht genommen." "Ich versteh's nicht. Das klingt nach Magie, nach Zauberei und irgendwie geheimnisvoll." Gerrys lachte leise. "Warum so vorsichtig, Bruder? Du willst damit doch nur sagen, daß du mir nicht glaubst. Doch dies ist deine Sache und betrifft mich nicht. Nimm es als gegeben hin, wie das Kommende auch. Morgen erreichen wir den Tempel der Weisheit und vielleicht ist unsere Reise dann schon zu Ende." "Ich dachte, wir suchen Rhagan. Was ist, wenn er sich nicht im Tempel befindet?" "Er ist nicht dort," versprach Gerrys, der sicher wußte, daß Shuny in Gegenwart Rhagans nichts hätte geschehen können, "du wirst bald froh darüber sein. Was wir dort finden, ist keinem Freund zu gönnen." "Und was wirst du tun?" "Ich plane nicht," gab Gerrys zu, "sondern warte auf Weisung." "Aus Amarra?" "Auf Weisung meines Gottes," erklärte der Falla mit entschiedener Stimme, "danach aber werde ich auch den Than um Weisung bitten, wenn es nötig ist." Attor schwieg nun. Jedes weitere Wort mußte zwangsläufig zu einer Diskussion über das Priestertum führen und damit zum Zwist. Den wollte er vermeiden. Sollte sich Gerrys aber weigern, für Rhagans Sicherheit einzustehen, dann mußte ein Streit unvermeidlich sein. In den letzten Tagen wuchs Attors Sorge um den Freund beständig und er fürchtete aus unerfindlichem Grund um dessen Leben. Zwar gelobte er dem Bruder Gehorsam, doch er war bereit, sein Wort dann zu brechen, wenn seine Treue zu Rhagan dies erforderte. Womöglich verlor er die Nähe des Hünen und dies würde er ertragen müssen. Ihn in einer Stunde der Gefahr allein zu lassen, das aber widerstrebte Attor. Unruhig fragte er sich in Gedanken, ob er seinen einstigen Sklaven etwa liebe. Gerrys empfing diese Signale und lächelte schweigend. Attor befand sich auf dem richtigen Weg und darüber freute er sich. Vielleicht brachte diese Reise nichts als Gefahr und Verlust für ihn. Dem Bruder mußte sie aber nützen, da er nun solche Gedanken in Erwägung zog. Sollte er wirklich die Freiheit erlangen, sein Empfinden ungehindert zu bejahen, bedeutete dies großen Gewinn. Dann, so überlegte Gerrys nachdenklich, gab es vielleicht auch noch eine Möglichkeit für ihn, Attor nahe zu kommen und trotz aller Unterschiede, die sie trennten, eine gemeinsame Basis aus gegenseitiger Achtung und, eines Tages vielleicht, auch aus Liebe zu gründen. Ende Kapitel 8
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 9
A
ls sich die Nebel hoben, konnten die Reisenden den Tempel der Weisheit hinter einem lichten Auwald aufragen sehen. Attor entzündete ein kleines Feuer und briet zum Frühmahl einen großen Pilz, von denen es in den Nebelreichen unzählige gab, deren Ausmaße eine ganze Reisegruppe zu sättigen vermochten. Sie aßen schweigend. Gerrys wirkte sehr angespannt, wie mühsam beherrscht. "Bist du wütend auf mich?" erkundigte sich Attor vorsichtig, dessen im Grunde eher ausgelassenes Wesen den Ernst des Bruder mißdeutete. "Aber nein," versprach Gerrys freundlich, "wenn ich abweisend wirke, so gilt das nicht dir. Ich spüre jedoch die hier wehende Gefahr sehr deutlich und sorge mich um die Priesterschaft des Tempels dort." "Was ist mit den Leuten?" Gerrys hob den Blick. Lange betrachtete er den Bruder, ehe er leise antwortete: "Wir werden nur leblose Hüllen finden. Wer eine Weihe empfing oder auch nur für sie bestimmt ist, befindet sich in einem Zustand, der Miska sehr ähnelt. Der Geist dieser Menschen ist gefangen." "Von wem?" Gerrys' Hand schloß sich um seinen Lebenden Kristall, hielt ihn wie bewahrend fest. "Wir Priester wissen, daß alles Geschaffene eine ihm eigene Art von Bewußtheit ist. Hier in Moras wurde durch Magie ein Lebender Kristall erweckt, ohne daß die oder der Magier imstande waren, die Bewußtheit des Steines zu vertreiben oder in den Dienst des Lichtes zu stellen." Ungläubig sah Attor den Bruder an, doch auch fragend und verwirrt. "Diese Bewußtheit, dieses Wesen nährt sich durch menschlichen Geist und tötet dabei." "Du sagtest aber, die Priester seien wie Miska, also noch am Leben." "Ihr Geist ist geschult und stark. Er wird zwar nicht so leicht vernichtet, doch gefangen in diesem Wesen ist er unfähig zum Sein. Er wird zur Energiequelle. Ich weiß nicht, ob er auf Dauer dabei nicht doch vernichtet wird." "Angenommen, das stimmt," meinte Attor, "dann kannst du doch gar nichts tun. Du kannst schließlich nicht mit einem reinen Geistwesen kämpfen."
"Der Than warnte mich davor," gab Gerrys zu, "er ließ mich wissen, daß ich unterliegen würde. Allerdings befindet sich dieses Wesen nicht mehr im Tempel und wir werden ihm also kaum begegnen." Attor begann, das Feuer zu löschen. "Begegnen?" spöttelte er. "Geist ist doch unsichtbar." Gerrys erhob sich. "Die Bewußtheit des Steines hat sich mit einem Menschen verbunden und verwendet seine Form als Möglichkeit der Reaktion und der Bewegung." "Dann ist es leicht," vermutete Attor. "Ein Mensch ist sterblich und kann getötet werden." "Dieser Mensch ist Orales!" Überrascht hielt Attor inne. Erst jetzt erkannte er den Kummer des Bruders, seine Sorge um den verlorenen Freund. "Das tut mir leid," gestand er impulsiv, "ich weiß, daß er dir einmal viel bedeutet hat. Nun ist es gut, daß ich bei dir bin. Du hättest nie die Kraft, ihn zu töten." Gerrys nahm sein Bündel, öffnete es und begann, sich umzukleiden. Seine Stimme klang sehr ruhig, während er sprach: "Orales' Tod befreit dieses Wesen nur aus der Form und vernichtet es nicht. Das wäre kein Gewinn, Attor. Wo nötig, werde ich Orales' Körper sogar schützen, nur um zu verhindern, daß dieses Wesen nicht länger begrenzt ist. Ich sorge mich nicht nur um das Leben meines Freundes, sondern auch um das Sein seines Geistes. Es gibt schlimmeres als den Tod. Doch was immer geschehen muß, ich werde es nicht entscheiden. Dies ist allein Sache des Than." "Er wird nicht viel Rücksicht nehmen auf deine Gefühle oder Orales' Existenz," nahm Attor an. "Menschen bedeuten ihm nicht sehr viel." "Der einzelne Mensch darf nichts bedeuten, wenn es um das Wohl aller geht," stand Gerrys dem Freund bei.
A
m späten Vormittag standen sie vor dem verschlossenen Tempeltor. Gerrys trug nun das Gewand seines Amtes: eine lange, schwarze Tunika, durchzogen mit metallisch schimmernden schwarzen Fäden. An seinem breiten, bestickten Gürtel hingen zwei Berlocken, offensichtliche Ziergehänge, die jedoch auch wertvolle Substanzen bargen. Die kurze rituelle Lederpeitsche trug er an der Seite. Sie war ganz schwarz. Auch der Schulterkragen zeigte sich fein bestickt. In dieses völlige Schwarz gekleidet wirkte er noch blasser als sonst und sein ungewöhnlich helles Haar stand im krassen Gegensatz zu seinem Gewand. Attor schien es, als sei der wasserhelle Blick des Bruders nun tiefer geworden. Hierin erlag er keiner Täuschung. Je mehr sich Gerrys dem Tempel nahte, desto tiefer fühlte er sich ergriffen von jener Kraft, der
man den Namen Raaki gab. Der Falla ahnte, daß seine Mission erst begann. Attor klopfte heftig gegen das Tor, doch es erfolgte erst nach geraumer Zeit eine Reaktion. Die kleine Sichtklappe wurde geöffnet und die Stimme eines Tempelhelfers verlangte in barschem Tonfall: "Zieht eurer Wege und belästigt uns nicht." Hart wurde die Klappe geschlossen. Attor wollte erneut klopfen, doch Gerrys hielt ihn mit einer knappen Handbewegung zurück. Laut sagte er: "Verweigert der Tempel der Weisheit Raakis Falla in Nodher den Zutritt? Ich bin Gerrys, Pala des Than, und fordere sofortigen Einlaß." Stille. Attor sah den Bruder von der Seite an. Gerrys wirkte nun sehr machtbewußt und, da er sich den vertrauten Freund des Than nannte, auch seltsam stolz und unnahbar. Unwillkürlich trat Attor einen Schritt zurück. Wenig später wurde das breite Tor ganz geöffnet. Gerrys trat ein. Er sah sich nicht einmal nach Attor um, der die Pferde in den Tempelbezirk führte. Die Helfer warfen sich zu Boden und grüßten so unterwürfigst den Falla. Zwei Männer schlossen rasch das Tor hinter ihnen und legten einen schweren Schließbalken vor. Gerrys betrachtete die Menschen zu seinen Füßen, nicht nachdenklich aber, sondern forschend. Zwölf Männer und sieben Frauen grüßten ihn hier. Gerrys trat auf einen Jüngling zu, der leicht erzitterte und krampfhaft sein Gesicht gegen den Boden preßte. "Zeige meinem Begleiter die Stallungen," verlangte Gerrys und fuhr, an Attor gewandt, fort: "Sorge du selbst für die Pferde und entferne sie nicht zu weit von unserem Gepäck. Der Junge bringt dich später zu mir." Er sah sich wieder um, berührte den Geist der Menschen und suchte sich jenen, von dem er sich die meiste Hilfe versprach. "Steh' auf." Die junge Frau erhob sich, kreuzte die Hände vor der Brust und wartete mit gesenktem Haupt auf Anweisungen. Ihr heftiger Atem verriet ihre Erregung, doch sie fürchtete sich nicht. Als Gerrys ihr befahl, ihn zu führen, ging sie ihm zögernd voraus. Ihrem Geist entnahm Gerrys das Wissen um Rhagan, der Shuny befreite und mit sich führte, um sie nach Amarra zu bringen. Auch von Orales und seinem Wirken hier im Tempel erfuhr er, ebenso von dessen Abreise. Da die Frau keine Angst empfand, konnte er leicht in sie dringen und unbemerkt von ihr jede gewünschte Information erhalten. Schweigend ging Gerrys dann durch die Halle von Saake und grimmig sah er die leblosen Körper der Tempelkinder. In der Halle des Friedens musterte er die Priesterinnen, danach im untersten Stockwerk jene der Priester. Sehr rasch erkannte er die Unmöglichkeit, den Geist dieser Menschen zu erreichen und fast wollte er resignieren. Doch er wußte sich gerufen und glaubte fest, daß seine Reise nicht sinnlos bleiben konnte. "Wo ist Kymynos?" "Wir brachten ihn in seine Gemächer zurück, nachdem der Fremde uns verließ," antwortete die Frau rasch, die immer wieder seinem Blick auswich. "Ich führe euch,
Herr." Attor folgte Gerrys seit geraumer Zeit. Betroffen sah auch er die leblosen Körper. Er verspürte ein Gefühl grausigen Entsetzens beim Gedanken daran, daß geistige Wahrheiten so real zu wirken vermochten. Unbehaglich beobachtete er den Bruder. Gerrys wirkte weder bedrückt noch ohnmächtig. All das Leid hier schien ihn gar nicht zu berühren. Es war, als wisse er genau, was er zu tun habe. Er neigte sich über Kymynos, untersuchte den alten Mann fast nachlässig und schickte dann die Helferin fort. Nahe trat er zu Attor. "Nimm deinen Säbel in die Hand und warte vor der Tür," verlangte er, "verhindere jede Störung, wie immer sie geartet sein mag. Nichts und niemand darf zu mir vordringen, egal, was hier drinnen oder da draußen geschieht. Hast du verstanden?" Er sprach mit solchem Ernst, daß Attor sich unwillkürlich etwas duckte. "Was hast du vor?" "Gehorche!" donnerte ihn Gerrys da an. "Wenn du dich nicht augenblicklich fügst, schicke ich dich nach Nodher zurück. Hinaus!" Attor verließ ihn verwirrt. Nie zuvor hörte er Gerrys so ungeduldig sprechen, nie zuvor sah er ihn so selbstsicher und stolz. Er schloß die Tür hinter sich und wartete ab. Kein Laut drang aus dem Zimmer zu ihm.
G
errys umfaßte mit beiden Händen seinen Lebenden Kristall. Reglos stand er am Lager des Falla, im Geist Amarra suchend. Dieses Mal kam die Verbindung rasch zustande. "Ich bin in Moras und befreie nun Kymynos. Halte dich bereit, um seinen heimkehrenden Geist durch mich zu berühren. Verbinde dich aber noch nicht mit mir, Nymardos, denn Kymynos ist so fern, daß ich eine größere Kraft in mir wirken lassen muß." "Handle durch die Weisheit deiner Intuition. Ich bin bereit für dich." Gerrys endete diese Verbindung und öffnete seinen Geist zu völliger Freiheit. Die Kraft, die ihn seit langem überschattete, nahm zu und wuchs in ihm; überlagerte sein bewußtes Sein, durchdrang seinen Geist, vereinte sich fast völlig mit ihm und führte ihn so in Fernen, die er nicht kannte. Gerrys sah und hörte nichts mehr. Äußerlich glich er Kymynos nun sehr, wirkte ebenso leblos und verloren. Doch Kymynos' Geist lag gefangen, während jener von Gerrys sich freiwillig in ein größeres Sein ergab und durch dieses in Bereiche eindrang, in denen menschlicher Geist allein nicht zu bestehen vermag. Der Lebende Kristall des Falla glühte machtvoll auf. Sein Licht pulsierte. Nie zuvor geschah dieses und nun gab es keine Augenzeugen. Gerrys ahnte nichts davon. Umgeben von einer beschirmenden, dunklen Kraft trotzte er der bösartigen Schwingung, die seinen Geist zurückwies und ihn bedrohte. Ein zähes, unwirkliches Ringen begann.
A
ttor hörte einen fallenden Körper und geriet in Sorge um den Bruder. Da auf dem breiten Gang kein Mensch zu sehen war, wagte er es, seinen Posten zu verlassen. Leise öffnete er die Tür. Gerrys lag ohnmächtig am Boden. Attors Augen weiteten sich angstvoll. Wurde nun auch Gerrys ein Opfer dieser fremden Wesenheit? Geräuschlos und vorsichtig trat er näher. Er beugte sich über den Bruder, wollte ihn aufheben und seinen Körper betten. Doch der Lebende Kristall, den Gerrys' Hände noch immer umschlossen, leuchtete stärker auf und sein Licht drang in pulsierendem Zucken zwischen den schmalen Fingern des Fallas hervor. Es zeigte nun aber nicht die helle Farbe des Tages, sondern wirkte bedrohlich in dunklem Rot. In seinem Widerschein sahen Gerrys' Züge verzerrt aus, völlig fremd und maskenhaft. Attor überwand sein Zögern, streckte die Hand aus. Das Licht schoß auf ihn zu, schleuderte ihn wie eine materielle Kraft quer durch das Zimmer. Hart stürzte er neben der Tür nieder. Dem Wahnsinn nahe sah er, wie dieses Licht den Bruder einhüllte und ihn in einer blutfarbenen, durchsichtigen Wolke barg. Attor wagte es nun nicht mehr, sich Gerrys zu nahen. Auf Händen und Füßen kroch er aus dem Raum. Er atmete erst auf, als die Tür geschlossen das Geschehen seinen Blicken verbarg. Er dachte an Flucht, an Hilferufe, doch er blieb reglos sitzen und versuchte nur in sinnlos krampfhaftem Bemühen, dieses Erlebnis vor sich selbst zu verleugnen. Das durfte einfach keine Wahrheit sein! Er träumte! Doch er wußte, daß hinter ihm in diesem Zimmer etwas geschah, das sein Begreifen überstieg und er hütete sich, darüber nachzudenken.
G
errys wußte sich beschirmt, doch er ahnte nicht, daß dieser Schutz auch seinem Körper galt und sich nicht auf geistige Bereiche beschränkte. Seine Leiblichkeit drang nun nicht in sein Bewußtsein vor. Alles, das er von sich wußte, war die Tatsache, daß er als bloßes Sein gegen eine starke Strömung ankämpfte, die ihn wegzuschwemmen drohte. Sein Gegner bestand aus Abwehr und Aggression, doch versuchte dieses Wesen nicht, ihn zu besitzen. Und dies lag nicht an der Stärke des Fallas, sondern an der beschirmenden Gegenwart der dunklen Kraft. Gerrys kannte sie und erschrak nicht vor dem dunklen Freund. Er fühlte sich geborgen und angenommen. In diesem Wissen lag seine Stärke.
S
ie nannten diese Kraft Raaki und gaben ihr den Namen 'Gott des Todes', da in seinem Bereich alles Ichbezogene abstarb und verwehte. Raaki kannte Gerrys, wie er um manchen Menschen wußte. Der Großteil dieser Lebenswoge blieb ihm verborgen, bewegte sich auf gänzlich anderen Seinsebenen. Doch einige schwangen sich bis zu ihm auf, hielten seiner Schwingung stand und wenn sie auch nicht auf Dauer zu verweilen vermochten, so reiften sie doch darin. Unter diesen starken Geistern war Gerrys dennoch eine Ausnahme. Er kam nicht aus eigener Kraft, sondern wurde von
Raaki berufen und gezogen und ergab sich dem dunklen Gott seit vielen Jahren rückhaltlos. Acht Jahre waren vergangen, seit der Falla Raaki seinen Leib opferte und ihm diese Hülle als reaktive Form zur Verfügung stellte. Damals war dieses Opfer notwendig gewesen, um die polare Einheit von Licht und Dunkelheit zu erhalten. Nun ging es nicht um polare Kraft, sondern um die Integrität der dunklen Kraft an sich. Und wieder wählte Raaki jene Form in seinen Dienst, die ihm schon einmal half. Für Raaki bestand Gerrys nur aus Geist, aus erweckter und zielgerichteter Kraft. Alles Materielle war dem dunklen Gott fremd. Doch wo Kraft im materiellen Bereich wirksam wurde, fand der Gott des Todes auch hier seine Auswirkung. Der Lebende Kristall 'seines' Falla verband mit ihm, denn in diesen Steinen wirkte Raaki. Nun erhob sich die Bewußtheit eines solchen Steines wider die gegebene Ordnung, erstrebte Eigenständigkeit und bewirkte darin Zerstörung und Tod. Die Wesenheit des Steines bildete einen Teil der Ganzheit Raakis. Unbesiegt zerstörte sie den dunklen Gott, der nur allumfassend wirken konnte. Darum mußte sie in ihm aufgelöst werden oder eben gänzlich vernichtet. Sie begrenzte sich selbst in einer reaktiven Form, schloß sich darin ein und kettete sich daran. Raaki wählte die Form seines Falla, ohne sie als Gefängnis zu dulden. Gerrys diente ihm ergeben und beengte ihn nicht. Er konnte diesen Menschen nach Belieben überschatten und verlassen. Raaki blieb frei. Nun vereinte er sich mit dem Geist des Menschen und trieb ihn vorwärts, hüllte ihn zugleich ein, schützte ihn vor den negativen Schwingungen jener Kraft, die durchaus ein Teil seines Selbstes war.
G
errys geriet in einen astralen Wirbel, der ihn mit solcher Macht erfaßte, daß er die bewußte Verbindung zu seinem Körper unterbrechen mußte. Wie zerrissen durchfuhr er fremde Seinsbereiche, unwirkliche Schmerzen empfindend und erfüllt von unaussprechlichem Entsetzen. Nicht Bilder, doch sehr faßbares Wissen stürmte auf ihn ein; ein grenzenloses Ausmaß an Leid, Furcht, Unfreiheit, Gier und Brutalität. Ganz kurz nur erkannte er den Geist Orales', der genüßlich in all diesem badete und es als angenehm und schön empfand. Der Wirbel zog ihn weiter, tiefer hinein in das Entsetzen. Gerrys vergaß sein Ziel, seine Aufgabe. Doch er ergab sich nicht. Eine ihm wohl bekannte dunkle Kraft trug ihn weiter, führte ihn in diesem Sog. Er fand Kymynos und verband sich mit ihm, noch ehe der Wirbel ihn von dem Geist des alten Mannes trennen konnte. Gerrys schirmte Kymynos ab, trug ihn in sich mit und ließ sich selbst von Raaki tragen.
A
ls Gerrys die Augen öffnete, erlosch das rötliche Leuchten seines Steines und wich dem gewohnten warmen Schein. Der Falla erhob sich. Die Erschütterungen, die Gefahr und der Schmerz wirkten nicht auf seinen Körper ein, da all dies in geistigen Regionen geschah, die er von seinem Leib gelöst aufsuchte. Gerrys fühlte sich keineswegs ermattet. Er beugte sich über Kymynos, der ruhig auf seinem Lager lag
und ihn erstaunt, verwirrt und etwas ängstlich betrachtete. Er wollte etwas sagen, doch Gerrys schüttelte den Kopf; befahl ihm mit einer stummen Geste, nun zu schweigen. Rasch schloß er die Verbindung nach Amarra und der ferne Freund vereinte sich mit seinem Geist. Noch hielt Gerrys den Geist des alten Mannes umfangen und so konnte der Than in Raakis Falla auch Kymynos berühren und in ihm alle Informationen lesen, die er begehrte. "Gehorche meinem Pala," übermittelte der Than seine Weisung durch Gerrys dann an Kymynos. Gerrys verstand durchaus. Er löste sich von dem alten Falla, um allein dem Freund verbunden zu bleiben. "Du hast viel vollbracht," empfing er ein Lob, "und wahrhaft Großes geleistet. Versuche nun aber nicht, die Priesterschaft zu befreien. Es überfordert deine Kraft." "Was soll ich tun?" "Befiehl Kymynos, die Helfer bei der Pflege der geistlosen Leiber anzuleiten und verbiete ihm jede geistige Exkursion. Er muß sich abschrimen, bis die Wesenheit des Steines vernichtet ist, da er sonst leicht wieder ihr Opfer wird. Er hat versagt, da er eigenmächtig seinen Geist in einem Lebenden Kristall zentrieren wollte und dadurch dieser Wesenheit mehr Kraft verliehen, als sie haben sollte." "Wirst du ihm die Weihen sperren?" "Nein, doch seines Amtes ist er enthoben. Ein anderer Falla wird bald Amarra verlassen, um in Moras' Tempel der Weisheit zu herrschen. Er möge ihm dienen." "Und was befiehlst du mir?" "Du hast dein Teil getan, Gerrys, und kannst in deinen Tempel gehen. Wehre dich nicht, mein Freund. Noch überschattet dich die dunkle Kraft, doch kannst du dich nicht darauf verlassen, daß Raaki dich als sterblich erkennt und zu beschützen weiß." "Ich diene und gehorche dir. Doch erlaube mir eine Bitte, Nymardos. Rhagan irrt mit Shuny durch Moras und ich habe Grund zur Annahme, daß er zu dir will. Gestatte mir, ihn zu suchen. Ich will nicht, daß er Orales begegnet und zu Schaden kommt. Mit deiner Erlaubnis will ich beide finden und nach Nodher bringen und, so ich kann, auch Shunys Geist befreien. Ich bitte dich darum." "Rühre ihren Geist nicht an, Gerrys. Ein zweites Mal läßt dieses Wesen sich durch dich nicht berauben. Es muß vernichtet sein, um Freiheit für die Gefangenen zu erwirken. Die Menschen deines Tempels aber magst du suchen und nach Hause geleiten." "Ich danke dir, Geliebter. Ich komme bald zu dir." "Mit dir sind die Götter, Gerrys."
K
ymynos setzte sich in seinem Lager auf. In seinen wachen Augen stand
Betroffenheit. Er wußte nicht viel von dem Vergangenen, erinnerte sich aber an den Stein und seine geistige Gefangenschaft. "Wer ist euer Rapportbruder?" erkundigte er sich bei Gerrys, als dieser seine Aufmerksamkeit auf ihn richtete. "Ich stehe nicht in zwingender Verbindung," wehrte Gerrys gelassen ab. "Der Than läßt euch folgendes sagen: ihr seid eures Amtes enthoben und werdet eurem Nachfolger dienstbar sein. Haltet euren Geist abgeschirmt und vermeidet jede priesterliche Handlung, auch geistige Exkursionen. Wartet auf den neuen Falla. Bis zu dessen Eintreffen seid ihr gehalten, die Tempelhelfer bei der Pflege der Priesterschaft anzuleiten." "Pflege der Priesterschaft? Was ist mit den Menschen hier geschehen?" Kymynos erschrak sichtlich. Er wußte in Gerrys einen Freund seines Gebieters und hielt seine Anwesenheit für kein gutes Zeichen. Wenn Amarra einen so wichtigen Mann sandte, war vieles nicht so, wie es sein sollte. Gerrys berichtete ihm von den Ereignissen, die nach seiner Geistesabwesenheit eintraten. Unruhig erhob sich Kymynos. Der alte Falla kniete vor Gerrys nieder und sah fast ehrfürchtig zu ihm auf. "Ich trage die Verantwortung für alles," gestand er, "ich wollte diesen Stein beherrschen. Ihr aber, Pala des Than, wie habt ihr mich befreien können? Wie stark muß euer Geist sein, um in jene Regionen vorzudringen." Gerrys wandte sich ab. Seine Stimme erhielt nun einen seltsam dunklen Klang. "Ich bin Falla des dunklen Gottes, Kymynos, und habe in seiner Kraft gehandelt. Ihr seid Saakes Falla und eure Weisheit hätte euer Handeln verhindern müssen. Dann wäre das meine nicht nötig gewesen." "Ich bitte euch, bleibt hier und befreit auch meine Menschen aus diesem grausamen Kerker." Gerrys drehte sich langsam um. Abweisend schüttelte er das Haupt, als er erklärte: "Raaki beherrscht mich, nicht ich meinen Gott. Ich diene der dunklen Kraft, Kymynos, aber ich erwarte nicht, daß sie mir dient. Allein kann ich gar nichts tun und ich fordere meinen Gott nicht unbedacht zum Wirken heraus. Nicht ich habe in dieser Sache zu handeln, sondern Amarra wird es tun. Bescheidet euch darin. Mögen die Götter mit euch sein." Er ging zur Tür. Kymynos hielt ihn zurück, stellte Fragen, erbat weitere Aufklärung. Gerrys ging mit knappen Worten auf ihn ein, verabschiedete sich dann nochmals und verließ Kymynos danach.
A
ttor starrte fast entsetzt auf den Bruder, der ihm freundlich zunickte und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Schweigsam ritt er neben Gerrys. Er stellte keine Fragen, doch scheu sah er immer wieder den Bruder an. Unbemerkt berührte Gerrys seinen
Geist. Danach wurde er sehr nachdenklich und immer wieder betrachtete er seinen Lebenden Kristall, dessen sanftes Licht keinen rötlichen Schimmer aufwies. Und doch mußte es dasselbe Licht sein, das er sonst nur zu der rituellen Stunde Raakis sah, das auch in diesem Kristall verborgen lag und ihn vor Attors unbedachtem Handeln schützte. Er wollte nicht darüber sprechen, doch als sie zu später Stunde im Freien lagerten, hielt sich Attor nicht weiter zurück. "Ich fürchtete, daß auch du zu Miska geworden seist," gestand er. Gerrys lag schon auf seiner Decke und rührte sich nicht. Seine Stimme klang sehr unpersönlich: "Ich verbot dir, in das Zimmer zu kommen. Du hattest mir Gehorsam gelobt." "Ich wollte dir helfen," murmelte Attor. "Ohne Raakis Schutz hättest du mich getötet." Attor erschrak. "Woher weißt du...?" "Deine Gedanken sind mir nicht verborgen, Bruder. Ich überlege nun, ob es nicht klüger ist, dich nach Nodher zu senden." Rasch erhob sich Attor, der wie immer in einigen Schritten Entfernung lagerte. Zögernd legte er sich neben Gerrys nieder, hielt nur wenig Abstand. "Wirst du Rhagan suchen?" Gerrys nickte nur. "Dann nimm mich mit," bat Attor, "wenn er in Gefahr ist, muß ich zu ihm. Er half mir so oft. Es ist meine Pflicht, jetzt zu ihm zu stehen. Gerrys, es kommt nicht wieder vor. Ich verspreche es dir. Künftig füge ich mich all deinen Anweisungen." "Ohne Zögern und Vorbedingung?" "Ich schwöre es, Gerrys." Da gab der Falla nach und erlaubte dem Bruder die weitere Begleitung. Attor überwand sich zu anderen Fragen, wollte nun wissen, was im Tempel geschah. Doch im Grunde hoffte er nur auf eine Erklärung des roten Lichtes und der Kraft, die ihn durch das Zimmer schleuderte. "Raaki ist eine Kraft und Kraft als solche ist doch unsichtbar und nicht stark genug, um einen Körper zu schlagen," klagte er verwirrt. "Jede Kraft ist auch eine Schwingung und hat die Möglichkeit, sich innerhalb ihrer Grenzen zu manifestieren," erwiderte Gerrys geduldig, "auch dein Geist, dein innerstes Sein besteht aus purer Kraft. Kraft kann Kraft überwältigen. Das ist keine Frage der Stärke, sondern des Vermögens, Kraft zielgerichtet zu zentrieren. Die Stärke, die du so rühmst, ist zum großen Teil auch zielgerichtete Kraft: Zorn, Haß, Gier. Aber es ist auch verschwendete Kraft, weil sie anderes ausschließt und sich begrenzt. Auch deine Angst um mich wirkte begrenzend und dadurch konntest du
zum Spielball einer umfassenderen Kraft werden." "Aber das klingt ja gerade so, als habe Raaki ein Bewußtsein!" rief Attor bestürzt. Gerrys lachte leise. "Verspottest du mich?" forschte Attor unbehaglich. "Nein, ich dachte nur an eine längst vergangene Episode. Vor Jahren habe ich genau wie du gedacht und geredet. Der Gedanke, die Götter könnten Bewußtsein haben, erschreckte mich. Nymardos nahm das recht erheitert hin und erklärte mir dann den Unterschied. Du und ich, wir haben Bewußtsein. Das ist immer begrenzt auf ein einzelnes Individuum und beherbergt einen Ich-Gedanken. Göttliches Sein ist Bewußtheit. Es ist in jedem seiner Aspekte völlig entwickelt und umschließt alles zu dieser Kraft gehörende. Wenn du so willst, dann ist Antares, die Göttin des Lichts, in jeder Manifestation des Lichtes vollkommen konkret. Und Raaki ist es eben in jeder Form seiner Kraft. Bewußtheit begrenzt sich nicht, wohl aber Bewußtsein." Attor grübelte. "Ich dachte oft, daß du deinen Gott liebst, Gerrys. Aber Liebe ist doch nur durch Ich-Gedanken möglich. Liebt Raaki dich also nicht?" "Nein," gab Gerrys unumwunden zu, "nicht in der Art, wie wir Liebe verstehen. Eine kosmische Kraft kennt kein Gefühl, sondern nur ein Sein und darin allerdings auch Einheit. In unserer Vorstellungswelt ist Einheit der höchste Ausdruck der Liebe und darum wenden wir dieses Wort auch auf göttliche Kräfte an." "Bedeutet das, daß sich heute im Tempel Raaki mit dir vereinte?" "Nicht mit meinem Leib," schränkte Gerrys ein, "wohl aber mit meinem Geist. Ich habe das schon einmal erlebt, wenn auch weniger tief und auf andere Art. Daß Raaki aber auch meinen Körper schützte, verwirrt mich wie dich und es läßt mich manches befürchten." "Was meinst du?" Gerrys schloß die Augen. "Möglich, daß Raaki die Form meines Leibes noch braucht. Möglich, daß ich kämpfen muß, Bruder." "Geistig?" Gerrys lächelte vor sich hin. "Sei nicht so argwöhnisch," bat er, "alles ist möglich. Und nun schlafe, Attor. Du mußt all dies nicht verstehen und wirst es auch nicht können. Glaube einfach, daß ich sehr wohl weiß, was ich tue und was ich will." "Ich versuche es," versprach Attor, "aber du bist mir sehr fremd, Gerrys. Ich wünschte, ich hätte die letzten vier Jahre besser genützt und mehr deine Nähe gesucht." "Warum?"
"Als wir uns in Sion kennenlernten und ich von den verschiedenen Welten sprach, in denen wir leben, da sagtest du, daß wir Brücken bauen könnten dazwischen, um einander zu begegnen. Ich habe alle Brücken eingerissen und wollte dich nie verstehen. Ich weiß nichts von dir und deinem Leben. Ich habe Angst, Gerrys." "Um Rhagan?" "Was geschieht, wenn er Orales begegnet? Der Gedanke, ihn so wie die Priesterschaft des Tempels zu finden, quält mich. Du wirkst sehr gelassen, gerade so, als könne gar nichts geschehen. Woher nimmst du diese Sicherheit?" "Ich bin nicht sicher," wehrte Gerrys ab, "ich sehe nur keinen Gewinn in vorzeitiger Sorge, die schwächt und klares Denken verhindert." "Aber wo sollen wir ihn suchen?" fragte Attor erregt. "Im Norden," erwiderte Gerrys sofort, "auf dem Weg zur Küste. Ich könnte ihn im Geist finden." Attor richtete sich abrupt auf. "Warum tust du es dann nicht?" Gerrys sah ihn nicht einmal an. "Jede astrale Reise ist gefährlich und eine geistige Auskörperung darf nur in völliger Abschirmung geschehen. Ich habe es im Tempel getan und ohne Raakis Hilfe hättest du mich getötet. Ich traue dir nicht, Attor. Du bist zu impulsiv und unbedacht, als daß ich mein Leben in deine Hände legen würde." Attor packte seine Hand. "Ich schwöre dir..." "Nein," unterbrach ihn Gerrys mit ruhiger Stimme, "das Risiko ist zu groß. Solche Dinge dürfen nur in völliger Einsamkeit oder unter dem Schutz vertrauenswürdiger Freunde geschehen." Beleidigt errichtete Attor seine Lagerstatt in einiger Entfernung. Er schimpfte leise vor sich hin und wirkte zornig. Seine Gedanken aber kreisten um Rhagan und er machte sich heftige Vorwürfe, weil er fürchtete, daß sein Versagen im Tempel nun auch den Freund gefährden könne. Er zürnte Gerrys nicht wirklich, sondern sah dessen Bedenken bis zu einem gewissen Maß durchaus ein.
A
ls er fest und traumlos schlief, erhob sich Gerrys leise und entfernte sich weit. Im undurchdringlichen Nebel verborgen errichtete er eine magische Sperre um seinen Leib, um astrale Angriffe abzuhalten und entkörperte sich dann. Zunächst überprüfte er nur die nähere Umgebung, um menschliche Störenfriede aufzuspüren. Als er sich gesichert wußte, suchte er seinen Tempelhelfer. Im astralen Bereich konnte er nicht wirklich Körper finden, sondern nur deren seelisches Gegenstück. Hier hinderte kein Nebel die Sicht und die Nacht wirkte weniger tief. Gerrys fand Rhagan, der im
Schutz einiger Sträucher schlief. Im Arm hielt er Shuny, eng an sich gepreßt. Zu seinen Füßen schlief ein Kind. Mit Verwunderung erkannte Gerrys Ilkonys, Nodhers Erben. Einige Zeit blieb er um die drei Schläfer, ehe er deren Umgebung erkundete. Orales weilte nicht weit entfernt. Ihm nahte Gerrys nicht. Es gab diesen Freund nicht mehr. Das Wesen, das ihn beherrschte, konnte seinen ungeschützten Geist zu leicht bezwingen. Gerrys zog sich rasch zurück. Nun kannte er seinen Weg und mußte ihn nicht mehr mühsam suchen.
S
ehr früh am Morgen weckte er Attor auf und drängte ihn zur Eile. Den Hunger stillten sie reitend mit eßbaren Knospen. Gerrys verließ bald die Straße und wählte wieder einen schmalen Pfad entlang des Sumpfes, um den Weg abzukürzen. Er ritt nun langsamer. Nach einiger Zeit wurde der Pfad breiter und Attor konnte an seiner Seite reiten. "Du hast es eilig," stellte er fest. "Warum achtest du nicht auf Spuren? Sie sind der sicherste Hinweis, wenn du jemanden verfolgst." Gerrys lachte leise und vergnügt. "Ich bin kein Jäger," bekannte er. "Ich weiß, wohin ich will. Heute Nacht erkundete ich unseren Weg und nun reite ich ihn. Spurensuche hält unnötig auf." "Du hast doch im Geist nach Rhagan gesucht? Hast du nicht geschlafen?" "Wenig," gab Gerrys zu, "doch ich bin nicht müde. Das Ganze ähnelt einem gesteuerten Traum, in dem der Körper durchaus Ruhe finden kann. Der Geist ermüdet nicht, Attor. Rhagan ist dicht hinter Orales, der wohl ebenfalls zur Küste will." "Dann müssen wir uns beeilen!" rief Attor besorgt. "Das tun wir," bestätigte Gerrys, "wir kürzen den Weg ab und erreichen sie noch vor den Mangrovensümpfen. Rhagan ist übrigens nicht allein." "Ich weiß, daß er Shuny bei sich hat. Wenn sie Miska ist, was will er dann mit ihr?" "Er plant, sie nach Amarra zu bringen, hoffend, daß sie dort Hilfe und Heilung erfährt." Attor lachte spöttisch auf. "Er ist kein Priester und nur solche dürfen dieses Inselreich betreten. Er wird den Than nicht einmal sehen, geschweige denn, daß er mit ihm reden dürfte." "In Sion sprach der Than mit ihm und erlaubte ihm sogar, an der Tempelweihe dort teilzunehmen. Nymardos wird sich an ihn erinnern. Rhagan verehrt den Than, im Gegensatz zu dir. Sein Gedankengang ist sehr logisch." "Möglich, aber trotzdem töricht. Ich werde den Than nie verehren. Ich fürchte ihn. Er hat mir die Freiheit genommen und ohne deine Fürsprache hätte er mich wohl getötet."
Gerrys grinste. "Ich habe nicht für dich gebeten. Du warst nie ein Thema zwischen uns," bekannte er. "Der Than urteilt, ohne eine Beeinflussung zu dulden. Er herrscht souverän. Aber es ist nicht nur Shuny bei Rhagan." "Wer noch?" forschte Attor, sofort sehr aufmerksam. "Ilkonys." "Der Erbe unseres Königs? Das ist unmöglich, Gerrys. Wie sollte der Knabe nach Moras kommen? Wo der kleine Prinz ist, dort müssen auch Soldaten sein." "Ilkonys ist allein, ohne Begleitung. Vermutlich weiß Ariston nicht, wo sich sein Sohn aufhält und nimmt an, er sei bei mir im Tempel. Jedenfalls ist der Junge bei Rhagan und dies ist mit ein Grund, warum ich zur Eile dränge." "Orales wird ihn töten," fürchtete Attor, der Ilkonys zwar schon hin und wieder sah, ihn aber nicht näher kannte. "Nodhers Erbe ist ein Tempelkind und zur Priesterschaft bestimmt," widersprach Gerrys, "begegnet er Orales, droht ihm daselbe Schicksal wie der Priesterschaft im Tempel der Weisheit. Ich möchte ihm das ersparen. Halte dich nun dicht hinter mir. Der Pfad wird sehr schmal und ist gesäumt von tödlichem Morast. Zügle dein Tier sehr kurz, denn wenn es ausbricht, ist es verloren." Attor gehorchte sofort. Blasen von Sumpfgas platzten rechts und links des Weges an der schmutzigen Oberfläches des trüben Morastes. Attor fühlte sich bedroht und unbehaglich, doch Gerrys ritt unnachgiebig quer durch Moras und verschwendete weder Zeit noch Gedanken an Sicherheit. Er wollte Rhagan noch vor der Küste einholen und er wußte, daß dies nur möglich sein konnte, wenn er den kürzesten Weg wählte. Je mehr er aber diesem Ziel nahte und damit auch Orales, desto intensiver überschattete ihn wieder die dunkle Kraft, die nun nicht mehr ganz von ihm wich.
Ende Kapitel 9
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 10
P
hilmor irrte allein und verzweifelt durch dieses ihm fremde Land. Er fürchtete den Sumpf und wagte es kaum einmal, seinen Fuß fest aufzusetzen. Immer und immer wieder dachte er an Werdyn, der vor seinen Augen starb. War es wirklich seine Schuld gewesen? Ilkonys hielt ihm ein Versagen vor, doch der Jüngling wußte, daß er Werdyn nicht retten konnte. Er versank ja außerhalb seiner Reichweite und überdies blieb auch keine Zeit für einen Rettungsversuch. Er mußte doch Ilkonys helfen! Aber Nodhers Erbe lastete ihm den Tod des Pagen an. Philmor weinte oft deshalb. Er fühlte sich schuldig, obwohl er nicht anders handeln konnte. Nun mußte er sein Leben als Ausgestoßener fristen. Philmor wagte es nicht einmal, an den Heimweg zu denken, abgesehen davon, daß er sich inzwischen haltlos verirrte. Doch er fürchtete Burg Nodher. Der Prinz würde ihn dort vor dem König verklagen. Sollte Ariston ihn gnädig verurteilen, so mußte er doch des Vaters Zorn hinnehmen. Niemals würde der Teju des Königs seinem einzigen Sohn verzeihen, daß er sich mit Ilkonys überwarf. Nein, er besaß keine Heimat mehr. Vielleicht suchte man ihn in Nodher schon wie einen Schwerverbrecher. Werdyns Tod wollte er nicht verantworten. Was sollte er auf Fragen zu seiner Rechtfertigung anführen? Das Wort des Prinzen stand wider das seine und sicherlich glaubte ihm so keiner. Und durfte er Ilkonys einer Lüge zeihen? Philmor fühlte sich verloren, der Einsamkeit ausgeliefert und hoffnungslos.
Z
unächst versuchte er, sein Pferd zu finden. Doch bald gab er dieses aussichtslose Unterfangen auf. Dann folgte er kurz Ilkonys' Spur. Erst, als ihm bewußt wurde, daß er Nodhers Erben nicht mehr begegnen durfte, wählte er einen anderen Pfad. Und nun wußte er nicht, wo er sich befand und wohin er gehen könnte. Er ernährte sich von
Wurzeln und Pilzen, trank aus klaren Rinnsalen und schlief, wo immer ihn die Müdigkeit überkam. Nach Tagen sah er in den sich hebenden Nebeln der ersten Tagesstunden das Leuchten mehrerer Flammender Kristalle. Wer immer solche Steine besaß, war reich und nicht selten auch mächtig. Philmor verbarg sich sorgsam, schlich geräuschlos näher. Sein Blick fiel auf eine breite Sänfte, aus leichtem Holz gefertigt, mit einem Dach aus festem, gewobenen Stoff. An ihm schimmerten diese wertvollen Steine. Zwei Männer trugen die Sänfte langsam vorwärts. In ihr lag, auf viele Kissen gebettet, ein Mann, bei dessen Anblick Philmor erschrak. Er kannte ihn! Dieser Mann lebte früher in Nodhers Burg, galt als des Königs vertrautester Freund, herrschte als dessen Pala. Philmor sah ihn früher oft, ohne daß er je mit ihm sprach. Der Vater nannte ihm Orales stets als das große Vorbild. Innerhalb weniger Jahre stieg er vom Soldaten zum Teju auf, wurde dann des Königs Pala und erwarb so Macht und Reichtum. Warum er vor Jahren Nodher verließ, wußte Philmor nicht. Aber es war ein bekanntes Gesicht und es gehörte einem Menschen, über den Philmor nie etwas Übles hörte. Im Gegenteil galt der Pala des Königs als durchaus freundlich und keineswegs unnahbar. Der Jüngling schöpfte aufatmend neue Hoffnung.
E
s begann inzwischen, mit dieser reaktiven Form vertraut zu werden; deren Bedürfnisse zu erkennen und zum eigenen Vorteil zu schüren oder zu stillen. Es hielt Orales' Geist ja nicht gefangen wie jene der Priesterschaft. Da bestand ein gewichtiger Unterschied. Dieser Mensch öffnete seinen Geist für Es, vereinte sich freiwillig und nun wurde er zwar unnachgiebig umfaßt, doch nicht mißbraucht. Es wollte diesen Geist nicht zerstören, sondern, da die Form nur durch den Geist bestand, diesen umwandeln und dem eigenen Sein gleich gestalten. Keine Schwierigkeit bereitete dies im Tempel, da sich dieser Geist in Gier, Brutalität und Bösartigkeit gegenüber anderen Menschen, vornehmlich Frauen, selbst schwächte. Es begriff durchaus, daß in dieser Form dieselben Kanäle die geistige wie die sexuelle Kraft transportierten. Solange diese Kanäle durch beständig befriedigte Gier überlastet wurden, blieb der Geist ruhig, fast untätig. Seit aber die Form den Tempel verließ und keine Frau mehr zur Verfügung stand, begann der Geist, sich eines anderen, eines menschlichen und zugleich geistigen Seins zu entsinnen. Eine Zeit lang fand Orales Befriedigung in der Furcht, die Ferdenes empfand; in der Pein, die er ihm bereiten konnte. Doch auf Dauer genügte ihm dies nicht. Als nun ein hübscher Jüngling aus den Büschen trat, hielt Es sich zurück und verlangte nicht nach der Nahrung, die in dessen Geist bestand. Denn Orales' Aufmerksamkeit wurde erregt und es erschiem dem Kristallwesen vorteilhaft, die Form abzulenken und zu beschäftigen.
P
hilmor überwand seine Furcht und entdeckte sich. Er trat aus dem Gebüsch,
kniete neben der Sänfte nieder und senkte den Blick. Die Männer, die Orales trugen, standen sofort still. "Verschwinde," fauchte Parsus. Orales lachte leise, doch nicht freundlich, sondern sehr anzüglich und herablassend. "Du hast mich zu tragen und nicht zu befehlen," wies er Parsus mit kalter, emotionsloser Stimme zurecht. "Ich bitte demütigst um Verzeihung, Meister," entschuldigte der sich sofort. Orales ignorierte ihn. Er sah nur Philmor an, doch seine Pupillen blieben dabei unnatürlich geweitet und wirkten starr, fast gebrochen. "Wer bist du?" "Ich heiße Philmor, Herr," antwortete der Jüngling sogleich. "Ich habe mich verlaufen und weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich habe kein Heim, kein Ziel. Bitte, nehmt mich mit." "Steh' auf." Nachdem Philmor gehorchte, musterte ihn Orales mit unverhohlener Gier. Er streckte die Hand aus. Zögernd legte Philmor die Seine hinein. Orales hielt sie fest. "Weiter," befahl er seinen Trägern. Parsus und Ferdenes schleppten ihn weiter gen Norden und Philmor ging neben der Sänfte her. Orales gab seine Hand nicht frei, zog ihn näher heran. Er hielt den Kopf in die Linke gestützt und ließ keinen Blick von Philmor, der mit gesenktem Haupt neben ihm ging. Der Jüngling fürchtete sich, doch zugleich empfand er Erleichterung, da er nun nicht mehr allein sein mußte.
E
s wurde Abend. Sie lagerten am Rand eines kleinen, schmutzigen Weihers. Ferdenes gelang es, einige kleine Fische zu fangen, die sein Bruder am Feuer briet. Orales inzwischen nahm ein Bad, verlangte von Philmor Gesellschaft dabei. Der Junge schämte sich entsetzlich, als er seine Kleider abstreifte und Orales ihn in seiner Nacktheit so offen musterte. Und als der große, breitschultrige Mann danach während des Essens seinen Leib betastete und ihn streichelte, da wäre Philmor am liebsten fortgelaufen. Doch er fand nicht den Mut dazu. Ihm war, als sei er an Orales gefesselt. Er wußte nicht, daß Es ihn festhielt. Er mußte sich zum Schlafen neben Orales legen, der ihn unablässig befingerte. Sie lagen beide in der Sänfte. Parsus und Ferdenes lagerten sich wenige Schritte entfernt, hielten abwechselnd Wache und taten beide so, als sähen sie stur in andere Richtungen. Orales umfaßte den Kopf des Knaben. Dann küßte er ihn, doch nicht sanft oder freundschaftlich, sondern fordernd und gierig. "Leg' dich auf den Bauch," befahl er kalt. Philmor gehorchte angstvoll. Grauenhafter Schmerz durchzuckte den Jüngling, der
nun brutal vergewaltigt wurde. Als Orales sehr viel später einschlief, lag sein schwerer Leib auf dem des Jungen. Philmor weinte lange, erstickte in den Kissen sein Schluchzen. Er fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Doch seine Folter begann erst, denn von nun an mußte er mit seinem Peiniger in der Sänfte reisen und Orales befriedigte seine haltlose Gier an ihm, ungeachtet der Tageszeit und ohne Rücksicht auf des Jünglings weinendes Flehen.
P
hilmor sann auf Flucht. Er ertrug diese Schmerzen, diese Demütigungen und diese Erniedrigungen nur schwer. Orales zwang ihn, ihm auf jede erdenkliche Art Befriedigung zu verschaffen und lachte nur, wenn der Jüngling sich sträubte. Doch Parsus ließ Philmor nicht aus den Augen. Er behandelte das Spielzeug seines Herrn zwar mit ausgesuchter Höflichkeit, doch er achtete zugleich darauf, daß er Orales erhalten blieb. Immerhin verhielt sich sein Meister ihm und Ferdenes gegenüber nun weniger bösartig und Parsus erschien es weitaus besser, daß Philmor litt, als daß er oder sein Bruder gequält wurden. Der Jüngling bekam keine Chance, sich von Orales zu entfernen.
I
lkonys inzwischen vergaß Philmor sehr rasch. Er litt noch um Werdyn, doch Rhagan half ihm, die bösen Träume zu überwinden. An seiner Seite fühlte sich das Kind geschützt und geborgen. Nichts konnte ihm geschehen, solange Rhagan über ihn wachte. Er sah wohl den Kummer des Hünen, der sich um Shuny sorgte und er litt mit dem großen Mann. Ilkonys tat widerspruchslos alles, was Rhagan ihn hieß; sorgte sogar für Feuerholz und sammelte Pilze oder grub nach Wurzeln. Er kochte Tee, bereitete Nachts das Lager und versuchte, so nützlich als möglich zu sein. Rhagan ließ ihn zwar wissen, wie sehr er ihm den Zorn auf Philmor verübelte, doch zugleich versuchte er auch, das Kind alles Leid vergessen zu lassen. Ilkonys vertraute ihm. Das Kind staunte über die Sanftheit des Riesen, wenn er Shuny Nahrung einflößte. "Du hast sie sehr lieb, nicht wahr?" "Das habe ich," gab Rhagan leise zu, "ich hoffe sehr, daß der Than ihr helfen kann." "Aber du hast doch gesagt, daß sie Sions Königin wird. Warum hilfst du ihr denn, wenn sie nicht bei dir bleibt?" Rhagan warf ihm einen ernsten Blick zu. "Ich liebe sie zu sehr, um ihr befehlen zu wollen," erklärte er dem Kind. "Du wirst lernen, daß Liebe jede Macht ausschließt." "So wie zwischen Vater und Gerrys?" "Genau so, Ilkonys."
Das Kind starrte lange vor sich hin. "Ich glaube," meinte der Knabe endlich, "dann hab' ich nicht sehr viele Menschen lieb. Mutter und Vater schon, auch Gerrys und," er zögerte, "und dich auch, Rhagan. Ist das schlimm?" "Was sollte daran schlimm sein?" Verlegen wandte sich Ilkonys ab. Intensiv schürte er das Feuer, als er beschämt sagte: "Du bist doch ein Sklave gewesen und ich bin ein Prinz. Ich werde einmal König sein. Manchmal hab' ich richtig Angst davor, Rhagan. Dir macht das ja nicht viel aus, aber die meisten Leute möchten mich nicht in ihrer Nähe haben und tun so, als ob ich gar kein richtiger Mensch wäre. Werdyn war es auch egal." Er weinte wieder im Gedenken an seinen Pagen. Rhagan bettete Shuny rasch nieder, kniete neben das Kind und schloß es tröstend in die Arme. "Sei ruhig," bat er sehr zärtlich, "niemand muß einsam sein. Wenn du die Menschen lieb hast, werden auch sie dich lieben." Doch besorgt fragte er sich, ob Nodhers König solche Geste und Rede wohl dulden würde. Als Freigelassener durfte er einem Erben der Macht nicht so vertraut nahen, sondern hatte ihm Respekt und Achtung zu erweisen. Als ob dies dem Kind in diesem Land helfen könnte.
E
ines Tages lagerten sie inmitten des Moores. Feuerholz gab es kaum in der Nähe und so befahl Rhagan dem Knaben, bei Shuny zu wachen, während er sich entfernte, um trockene Hölzer zu sammeln. Der Boden zeigte sich hier so weich, daß er es nicht wagte, den Knaben zu senden. Die Gefahr der tödlichen Sumpflöcher blieb allgegenwärtig. Als er zurückkehrte, lag Shunys Leib verkrümmt am Boden. Ihre Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, ihr Atem ging stoßweise und es war, als wolle der leblose Leib zu Husten beginnen. Rhagan ließ das Holz fallen, stürzte bei ihr nieder. Er riß ihren Mund auf, griff hinein. Shuny hustete nun, übergab sich. Gelber Schleim quoll zwischen ihren Lippen hervor und dann edlich ein Stück getrocknetes Fleisch. Ilkonys weinte. "Ich war's nicht," stammelte er angstvoll. Rhagan wirbelte herum. Ehe er sich über sein Handeln Rechenschaft ablegte, schlug er das Kind schon ins Gesicht. Mehrmals hieb er seine schwielige Hand auf Ilkonys' Wange. Das Kind weinte nun sehr heftig. "Ich wollte ihr doch bloß 'was zu essen geben," jammerte Nodhers Erbe. "Sie kann keine feste Nahrung zu sich nehmen," fuhr Rhagan den Jungen an. "Du hast sie fast getötet." "Trotzdem darfst du mich nicht schlagen," rief Ilkonys. Rhagan atmete tief durch.
"Das darf ich wirklich nicht," gab er zu, "doch ich ertrage keine Lügen. Wenn du willst, lasse ich dich in der nächsten Siedlung zurück." Ilkonys schluchzte, wischte sich die Tränen vom Gesicht. "Ich will bei dir bleiben," murmelte er unsicher, "ich werd' auch nicht mehr lügen. Bestimmt nicht, Rhagan. Aber du darst mich auch nicht mehr schlagen." Rhagan sah auf ihn hinab. Verklagte ihn der Prinz nun vor seinem Vater, verwirkte er sein Leben. Doch es war nicht die Stunde, darüber zu reden. Zuerst mußte Shuny nach Amarra kommen. Was danach geschah, besaß nicht dieses Maß an Wichtigkeit. "Das kann ich dir nicht versprechen," sagte er. "Ich kann dich auf dieser Reise nicht wie einen Erben der Macht behandeln, weil ich mich um Shuny kümmern muß. Ich kann dich aber auch nicht wie meinesgleichen behandeln, weil das Gesetz mir das verwehrt. Es ist besser, wir trennen uns." Zaghaft griff Ilkonys nach seiner Hand. "Rhagan," fragte er leise, "nimmst du mich mit, wenn du mich jeden Tag schlagen darfst?" Das klang so ernst und überlegt, daß der Hüne wider Willen lächelte. Er hockte sich auf seine Fersen und schloß den Jungen in die Arme. "Ich will dich nicht schlagen," versprach er, "es tut mir sehr leid, Ilkonys. Ich war zornig und unbeherrscht und bitte dich um Verzeihung. Ich weiß, du hattest es gut gemeint mit Shuny. Aber sie ist sehr krank und ich sorge mich um sie. Hab' keine Angst, mein Junge. Ich lasse dich in diesem fremden Land nicht allein." "Wirklich?" "Ich verspreche es dir." Da schlang der Knabe seine schlanken Arme um den breiten Hals des Hünen und küßte fest dessen Wange. "Ich hab' dich sehr lieb, Rhagan. Es tut auch schon gar nicht mehr weh. Ich hab' dich fast so gern wie Gerrys." Rhagan hielt Nodhers Erben fest, der ihm eben das ihm größtmögliche Kompliment machte und er dachte an seinen Falla und wünschte sich nichts anderes, als daß der ihm zu Hilfe käme.
E
ndlos dehnte sich der Weg. Es gab hier keine Hügel und nur kleine, sehr lichte Wälder. Die Landschaft wirkte mehr und mehr eintönig, je näher sie der Küste kamen. Vereinzelt wuchsen schon Mangroven und das Wasser nahm einen leichten Salzgeschmack an. Trotzdem atmete Rhagan auf. Die Gefahr, in ein tödliches Sumpfloch zu geraten, wurde nun geringer. Der Boden blieb zwar tückisch, doch gab es von nun an Rettung, wenn er den Weg verfehlen sollte. Endlich kamen sie zum Mangrovensumpf. Amphibisch lebende Fische huschten vor ihnen in sichere
Deckung. Es wimmelte nur so von Krabben und wehrhaften Wattwürmern, deren feuerrote Behaarung vor jeder Berührung warnte. Diese Tiere erreichten gigantische Ausmaße, manche wurden über einen Meter lang. Sie lebten im Schlick und wehe der Krabbe, die sie für nahrhaft hielt. Rhagan mußte sich umstellen. Er kannte weder die Tier- noch die Pflanzenwelt dieser Region und wußte kaum, wovon sie leben sollten. Zumindest gab es viele Wasserschlangen hier und wenn diese auch nicht sonderlich schmackhaft waren, so konnten sie doch leicht erlegt werden und immerhin stillten sie den Hunger. Ilkonys murrte bei dieser ungewohnten, ihm ekelhaften Kost, aber er beschwerte sich nicht ernstlich, sondern schluckte tapfer hinunter, was Rhagan ihn hieß.
D
er Weg wurde nach und nach immer schlammiger. Sie erreichten einen Steg. Ilkonys ließ sich aus dem Sattel gleiten und betrachtete erstaunt das seltsame Bauwerk. Bis weit hinter den Horizont führte es in gerader Richtung. "Was ist denn das?" wunderte er sich. "Vor uns liegt ein weites Brackwassermoor," erklärte ihm Rhagan. "Dieser Steg führt bis zur Küste. Vermutlich endet er nicht weit vom Hafen entfernt, womöglich oberhalb von Klippen. Das würde mich jedenfalls nicht wundern, zumal wir seit einiger Zeit hin und wieder Felsbrocken sahen." "Aber da kann man doch unmöglich drauf reiten," vermutete der Knabe, "ich trau' mich das nicht." "Der Steg wurde auch nicht für Pferde erbaut. Schau nur, wie naß es überall ist. Ich nehme an, daß die Bewohner dieser Gegend ihre Ware auf Flöße packen und sie den Steg entlang ziehen. Nicht weit von hier ist eine Stadt, Junge. Dies ist der kürzeste Weg zur Küste." Ilkonys sah ihn skeptisch an. "Müssen wir den nehmen?" fragte er. Rhagan schüttelte den Kopf. Auch ihm war dieses Bauwerk nicht geheuer. Es bestand ausschließlich aus rohen, armdicken Stämmen, die durch Seile miteinander fest verbunden waren. Diese lange, schwankende 'Brücke' ruhte auf dem Schlick. sie wurde für Fußgänger erbaut, nicht für Reiter. Hier fand ein Pferd keinen Halt. Dazu kam, daß ihre Tiere aus Nodher stammten und beschlagene Hufe besaßen. Es konnte möglich sein, daß ein Pferd aus Moras, das keine Hufeisen trug, diesen Steg betrat. Ihre Tiere würden sich weigern, ausbrechen und so sich und die Reiter gefährden. "Der Mann, der Shuny so verletzte, ist vor uns," murmelte er, "er ist irgendwo auf dieser Brücke. Ich will ihm nicht begegnen und lege keinen Wert darauf, ihn einzuholen. Schau, Ilkonys, dort drüben scheint ein fester Pfad zu sein. Es ist ein Umweg, aber er führt uns bestimmt auch bis zur Küste. Hoffen wir, daß wir dann rasch ein Schiff nach Amarra finden, das uns mitnimmt."
"Hast du denn kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen? Wenn man bezahlen kann, darf man auch fordern." Rhagan lachte. "Ich bin Tempelhelfer, Junge. Ich besitze keinen einzigen Solar." "Bist du arm?" "Nein, Ilkonys, ich habe nur kein Geld. Arm ist jemand, der Mangel leidet." Der Knabe deutete auf sein Bündel. "Ich hab' Solare bei mir," offenbarte er, "ziemlich viel sogar. Es sind bestimmt zwanzig Stück. Meinst du, das reicht für die Überfahrt?" Die Summe entsprach etwa dem durchschnittlichen Monatslohn eines fleissigen Arbeiters. Rhagan staunte ein wenig darüber, daß ein Kind solch ein Vermögen bei sich trug. "Es ist dein Geld," wehrte er zögernd ab, "du wolltest dir gewiß etwas dafür kaufen." "Ach wo," lachte Ilkonys, "außerdem hat Vater genug davon und gibt mir bestimmt neues, wenn ich heimkomme. Eigentlich wollte ich Gerrys 'was schenken, aber ich wüßte eh nicht, was. Er hat doch alles. Nimm es nur, Rhagan. Wenn es Shuny hilft, dann bin ich froh." Rhagan neigte sich im Sattel vor. Mit der einen Hand hielt er die Priesterin vor sich, mit der anderen fuhr er dem Knaben durch das Haar. "Ich danke dir," versprach er mit ernster Stimme, "dieses Geschenk vergesse ich dir nicht. Ich werde dir die Summe wohl nie erstatten können." "Das macht nichts," meinte Ilkonys, der nun wieder in den Sattel kletterte, "ist ja bloß Geld. Du, ich freu' mich auf Amarra. Ich war noch nie dort. Vater sagt, es sei die schönste Insel, die es gibt. Dort ist es immer warm und die Blumen sind viel größer und bunter als bei uns." Rhagan lächelte wehmütig beim Gedanken daran, daß er das Inselreich nicht betreten durfte. Er war nicht zur Priesterschaft bestimmt. Doch Ilkonys als Tempelkind war es erlaubt, dieses Wunder zu schauen. Er ritt an und wählte den Pfad, der um das Moor herum führte.
D
er Hüne irrte sich nicht. Auf dem schwankenden Steg vor ihm befand sich Orales. Seinen Sänftenträgern brach der Schweiß es. Es war sehr schwierig, auf den schwankenden Balken das Gleichgewicht zu bewahren und zugleich die Sänfte sicher zu bewegen. Orales kümmerte sich nicht darum. Er vergnügte sich an Philmor, erschöpfte sich in seiner Gier und wurde so mehr und mehr zum willenlosen Werkzeug des ihn beherrschenden Wesens. Der Jüngling weinte nicht mehr, seit Tagen nicht. Still ertrug er das Leid, das ihm widerfuhr. Der Schweiß des Mannes,
seine Erregung, sein heftiger Atem und seine grobe Sexualität stießen ihn ab, doch er nahm es hin wie einen wehen Schmerz, gegen den keine Medizin half. Philmor stand unter Schock. Die Gegenwart berührte ihn kaum und sein eigenes Leid erschien ihm fast fremd, wie etwas, das nur in Träumen geschieht und mit dem wirklichen Leben keine Gemeinsamkeit besitzt. Das schmutzige Wasser neben und unter dem Steg veränderte sich, wurde nach und nach immer mehr morastig und dehnte sich in schier endlose Weiten. Hie und da sahen sie einen abgestorbenen Baum, selten nur eine Schwimmpflanze. Hier sangen keine Vögel, summten kaum Insekten. Sie befanden sich in einem toten Bereich. Fingerdick überzogen Algen das Holz, verwandelten den Steg in eine schmierige Bahn. Ferdenes rutschte aus, stürzte auf die Knie und nur mühsam gelang es ihm, die Sänfte im Gleichgewicht zu halten. Orales fluchte derb. Endlich kam das Ende des Steges in Sicht. Dicke Seile verankerten das Holz an mächtigen Felsen. Tief unter denen rauschte die Brandung. "Halt!" Parsus und Ferdenes gehorchten dem Befehl ihres Herrn sofort und freuten sich still über die Rast. Sie stellten die Sänfte ab. Das Gewicht, das sie schleppen mußten, überforderte sie ohnehin. Seit Tagen schmerzten ihre Arme. Vor allem der schwächere Ferdenes litt darunter. Er haßte Orales, auch wenn er bemüht blieb, dies zu verbergen. Wie Parsus hoffte auch er auf reichen Lohn, auf Macht und Einfluß. "Ferdenes!" Er trat sofort an die Seite der Sänfte. Es blieb kein Raum, um zu knien. So senkte er nur ergeben das Haupt. "Bist du müde?" Die Frage klang spöttisch, doch Ferdenes erschien sie besorgt. Endlich wurde er von dieser Macht beachtet! "Ja, Meister," erwiderte er demütig, "doch ich trage euch, wohin ihr wollt und danke für die Ehre, in eurem Dienst zu stehen." Orales grinste böse. Fast nachlässig hob er ein wenig die Hand. Fernes neigte sich zum Kuß darüber. Innerlich jubilierte er, da er sich nun höher geachtet glaubte als Parsus. Als seine Lippen den Handrücken seines Herrn berührten, ballte Orales die Hand zur Faust und stieß sie nach vorn. Ferenes schwankte kurz, suchte festen Tritt und glitt auf den Algen aus. Er stürzte in den Morast. "Parsus! Hilf mir!" In Todesangst schrie er auf. Parsus starrte ihn an. Langsam sank Ferdenes tiefer. Philmor preßte beide Hände vor sein Gesicht. Nicht noch einmal wollte er einen Menschen so sterben sehen. Orales' höhnisches Gelächter dröhnte in den Ohren der Menschen. Ferdenes starrte ihn an. Sein Blick wurde irr, dann brach er. Noch ehe der Morast den Mann besiegte, hatte Es seinen Geist schon verschlungen. Der Lebende Kristall vor Orales' Brust flammte kurz machtvoll auf, als Es seine Nahrung verzehrte. Orales sah lauernd zu Parsus, der unbeweglich stand.
"Das war dein Bruder," erinnerte er den Mann. "Er hat euch nie geliebt, Meister," erwiderte Parsus ungerührt, "und nicht er hat euch erweckt, sondern ich." Es kannte keine Dankbarkeit, kein Gefühl, keine Regung. Es bestand aus bloßem Sein, unvermögend, Vergangenes und Gegenwärtiges zu trennen. Es war! Das betraf Parsus nicht, denn Es bestand schon vor ihm. Und Es brauchte ihn nicht mehr. Auch Orales brauchte diesen Mann nicht. Er hatte Philmor zur Befriedigung seiner Lüste und vor ihm lag das Meer. Er brauchte keine Träger mehr. Sein Ziel, Amarra, konnte zu Fuß nicht erreicht werden. Dort gab es Nahrung für Es, das nicht analysierte, weshalb Orales zu dieser Insel wollte. Orales wußte es selbst nicht. Sein letzter menschlicher Gedanke galt dieser Insel und darum strebte er unbewußt dorthin, als könne er nur so sein Sein erfüllen. "Spring'!" Parsus erzitterte. Er kniete am Kopfende der Sänfte nieder. "Meister," jammerte er, "ich diene euch. Ihr braucht mich, Herr." Orales lag auf Philmor, den er nun nicht beachtete. Er stützte sein Kinn auf die Hände und sah Parsus nur an. Das Licht seines Kristalles wuchs langsam. Parsus spürte die Bedrohung. Angst überfiel ihn, nackte Todesangst. Er sprang auf. Dann rannte er der Küste zu. Orales dröhnendes Gelächter verfolgte ihn. Ihm war, als sei er nicht allein, als sei ein unsichtbares Wesen an seiner Seite. In irrer Panik sah er zurück und im selben Moment schwankte der Steg. Parsus stürzte, wie zuvor sein Bruder, in den Morast und er fand denselben endgültigen Tod wie dieser. Sein Leib starb, doch zuvor verglühte sein Geist in dem kalten Licht. Philmor weinte. "Ich will nicht sterben," flüsterte er. Orales neigte den Kopf. Sein Gesicht befand sich nahe vor dem des Jünglings. Er grinste, dann küßte er den Mund des Jungen. "Du bleibst bei mir," versprach Orales, doch es klang nicht beruhigend, sondern wie eine Drohung, "du wirst mir weiterhin dienen." "Ja, Gebieter," hauchte Philmor angstvoll. Bald darauf folgte er Orales auf dem schwankenden Steg. Er hatte ein Tuch um seine Hüften geschlungen und trug ein kostbares Bündel: die Raaki geraubten Flammenden Kristalle aus dem Tempel der Weisheit. Die Menschen aus Moras hatten einen stufenförmigen Abstieg in die Klippen geschlagen. Fast bequem erreichten Orales und Philmor die Küste.
I
m Hafen lagen einige Schiffe; Segler verschiedener Größe und von unterschiedlicher Bauart. Die meisten dienten dem Fischfang, einige nur dem Handel. Doch die Inseln der Nebelreiche lagen nicht zu weit voneinander entfernt. Man
segelte zumeist den Küsten entlang. Hochseetüchtige Schiffe gab es nicht; sie wurden auch nicht benötigt. Einige Galeeren gab es und natürlich unzählige kleine Ruderboote. Ilkonys fand kein Ende mit Schauen. Das alles war neu für ihn, aufregend und faszinierend. Er plapperte unaufhörlich und stellte Rhagan zahllose Fragen, die der Hüne geduldig zu beantworten suchte. Mit einem Mal hielt der Knabe inne. Er vergaß die Anwesenheit seines großen Beschützers. Achtlos gab er den Zügel seines Pferdes aus der Hand. Dann rannte er los. "Orales!" rief er erfreut. "Hallo, Orales. Ich bin es!" "Zurück!" brüllte Rhagan, doch Ilkonys achtete nicht auf ihn und lief weiter. Er hatte des Vaters Freund gesehen und wollte zu ihm. Obwohl weit entfernt, erkannte er doch den Mann, den er in den Tagen seiner frühen Kindheit so sehr liebte. Er sah ihn vier Jahre hindurch nicht, doch er konnte ihn auch nicht vergessen. In Nodher verging kein Tag, an dem nicht von Orales gesprochen wurde. Ilkonys freute sich auf diesen Freund. Philmor erschrak. Nodhers Erbe beschimpfte und verklagte ihn, dennoch galt er ihm als Herr und fühlte er sich nach wie vor für den Knaben verantwortlich. Er sprang vor Orales und schrie: "Flieht, Ilkonys. Lauft um euer Leben, lauft fort!" Orales packte ihn grob am Haar und schleuderte ihn zu Boden. Er sah Ilkonys entgegen. Es wartete auf neue Nahrung, griff schon nach dem Geist des Kindes. Ilkonys hatte keine Wahl mehr. Ob er wollte oder nicht, er mußte zu Orales laufen. Kein Wille herrschte mehr in ihm, auch keine Freude. Fast mechanisch lief er weiter, zwar langsamer nun, doch unaufhaltsam. Rhagan hielt Shuny auf den Armen. Ihm war, als stünde er vor einer unsichtbaren Mauer, die jeden Schritt verbot. Er konnte Nodhers Erben nicht helfen. Philmor lag in hilfloser Furcht am Boden. Orales stand auf seinem Hals, hielt ihn an der Erde fest und beengte seinen Atem. Er konnte nicht rufen, nicht mehr warnen. Und Nodhers Erbe lief weiter, seinem sicheren Verderben entgegen.
Ende Kapitel 10
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 11
G
errys und Attor kamen sich während der Tage ihres Rittes langsam näher. Indem sie sich unterhielten und alle Zeit miteinander teilten, lernten sie sich auch mehr kennen. Sie wurden ja schon als kleine Kinder voneinander getrennt und auf Attors Wunsch hin konnte auch in den vergangenen vier Jahren keine Nähe entstehen. Nun aber vergaß Attor fast, daß er die Freiheit verlor und im Grunde seinem Bruder zu dienen hatte. Doch nach wie vor blieb der Falla in den Augen des jüngeren Bruders ein Mann von schwächlichem Gemüt. Dies wurde sehr deutlich, als die Brüder an ein einsames Gehöft kamen. Hier lebte eine Witwe mir ihren fünf kleinen Kindern. Sie besaß nicht viel, doch litt sie keine Not. Die Frau erwies sich als sehr gastfreundlich. In der Nacht dann erwachten die Brüder, die auf dem Fußboden des Wohnraumes schliefen, durch das klagende Gebrüll eines Madigg. Diese kleinen, ziegenähnlichen Tiere lieferten den Menschen die Milch und überdies ließ sich ihr seidiges Fell zwei Mal im Haar scheren und zu weichen Stoffen verarbeiten. Die Witwe kam bald in den Raum und sah angstvoll zur Tür hinaus. Der Nebel verbarg den Blick auf den nahen Stall. "Was fehlt dem Tier?" erkundigte sich Attor. Gerrys gab die Antwort: "Es klingt nach Geburtswehen, Attor. Vermutlich hat das Madigg Schwierigkeiten beim kitzen." "Dann braucht es Hilfe," entschied der Bruder impulsiv, dabei schon nach seinen Stiefel greifend. Die Frau schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Leise erklärte Gerrys dem Bruder: "Sie kann nicht mit dir hinaus. Die Nacht befiehlt Moras' Frauen in geschlossene Räume." Fast ungläubig hob Attor den Blick. Der Falla versuchte, die Frau zu beruhigen. "Wir sind fremd in deinem Land, doch wir achten die Gesetze hier. Sei aber ohne Furcht, denn wir werden Moras' Rechte nicht in Anspruch nehmen. Das Madigg braucht Hilfe und wir können sie geben." Sie zögerte noch, gab aber schließlich nach. Auch Gerrys wollte sich ankleiden, doch Attor wehrte ab. "Schlaf' du nur," verlangte er, "das ist nichts für dich. Eine Geburt ist nun einmal nichts für zarte Gemüter. Mir macht das nichts aus." Gerrys wollte widersprechen, doch Attor wehrte nachdrücklich ab. Schließlich schimpfte er ungeduldig: "Ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern, wenn du den Anblick nicht erträgst. Also bleib' hier."
Gerrys gab nach. Das Tier schrie nun so entsetzt und qualvoll auf, daß er ihm schnelle Hilfe wünschte und auf jeden weiteren Wortwechsel verzichtete. Und während Attor dem Madigg Geburtshilfe leistete, beruhigte er die Kinder seiner Gastgeberin, welche durch den Lärm erwachten. Strahlend vor Freude berichtete Attor später von der Geburt des Jungtieres. Während die Brüder wieder auf den Schlaf warteten, sprach er von der Witwe, die ihm tapfer half. "Sie wirkt sehr stark und sehr zufrieden mit ihrem Schicksal." "Was erstaunt dich daran?" "Wie kann in Moras eine Frau glücklich sein?" wunderte sich Attor. "Sie hat hier doch keine Rechte." "Du urteilst vorschnell," mahnte Gerrys leise, "du kennst weder das Land noch seine Sitten. Es stimmt, daß die Frauen hier des Nachts im Nebel vogelfrei sind, doch bei Tage haben sie keinen Mann zu fürchten. Außerdem sind sie als Mütter in ihren Familie mehr geachtet, als dies in andern Reichen der Fall ist und, was dich verwundern mag, innerhalb ihres Bereiches sehr einflussreich." "Trotzdem..." "Nein, Attor, Moras' Frauen sind in mancher Hinsicht geachteter als jene anderer Reiche. Hier wird kein Mann seine eigene Frau vergewaltigen, weder bei Tag noch bei Nacht. Kein Mann schlägt seine Frau oder behandelt sie wie eine Dienstmagd." "Aber als Nachtbeute muß sie froh sein, wenn sie nicht getötet wird," schimpfte Attor. Gerrys verneinte wieder. "So ist es nicht. Sie kennt diese Sitte und weicht der Nacht aus. Wo, aus welchem Grund auch immer, dennoch eine Frau im Dunkeln einem Mann begegnet, wird sie seinen Trieb befriedigen und von ihm sehr sanft behandelt werden. Es ist hier so üblich. Du kannst fremde Sitten nicht mit deinen Gewohnheiten messen, ohne den Fremden dadurch Unrecht zu tun. Aber nun schlafe. Unser Weg ist noch weit."
D
en folgenden Tag hindurch versuchte Attor, den Bruder vor Gefühlen der Minderwertigkeit zu bewahren. Fast tröstend entschuldigte er dessen vermeintliche Schwäche, doch gleichzeitig erzählte er von der Natürlichkeit von Schmerz und Leid bei einer Geburt. Gerrys versuchte mehrmals, ihm zu erklären, wie wenig nötig solche Rede sei. Attor verstand ihn nicht oder wollte ihn nicht verstehen. Er fühlte sich nun freier, stärker; wie ein Mann, der etwas leistete. Attor gewann die Sicherheit, Gerrys nicht unterlegen zu sein und das erleichterte ihm den offenen Umgang mit dem Bruder. Sorgsam aber vermied er jedes Gespräch über Amarra oder den Dienst des Bruders.
S
ie kamen gut voran. Dann aber stürzte Attors Tier und lahmte. Sie befanden sich wieder einmal abseits der gewohnten Wege und fern von Siedlungen. Ohne ein Wort des Vorwurfs nahm Gerrys den Zeitverlust hin, der durch das lahmende Pferd entstand. Attor wurde schweigsamer. Er fühlte sich schuldig und sorgte sich wieder mehr um Rhagan. Oft füchtete er nun, den Hünen vor der Küste nicht mehr zu erreichen. Dann erreichten auch sie den schwimmenden Steg. Gerrys suchte den Boden ab. "Du findest keine Spuren," murrte Attor, "die andern haben einen viel zu großen Vorsprung." Es ärgerte ihn, als Gerrys wenig später doch Hinweise auf die Verfolgten fand und mit sehr sicherer Stimme sogar behauptete, daß deren Vorsprung nicht sehr groß sein könne. Dann sattelte der Falla wortlos sein Tier ab und schulterte sein Bündel. Das Sattelzeug beachtete er nicht weiter. "Was hast du vor?" "Pferde verweigern diesen Weg," erklärte Gerrys, "sie könnten ihn auch nicht gehen. Da sie aber an Menschen gewöhnt sind, werden sie bald neue Eigentümer finden. Nun komm', Bruder. Es eilt." Er wartete nicht auf Attor, sondern betrat den Steg und ging, zunächst vorsichtig, bald aber sicherer auf dem schwankenden Pfad. Nach einiger Zeit holte ihn Attor ein. Bald kam er außer Atem. Da blieb Gerrys stehen und lachte. "Du bist ein guter Reiter," meinte er vergnügt, "aber sehr schlecht zu Fuß." "Ich bin solche Märsche nicht gewöhnt," keuchte Attor. Heiter erwiderte Gerrys: "In Nodher ziehe ich auch den Sattel vor. Aber auf Amarra gibt es keine Pferde und wer dort den Than begleiten will, der muß zügig gehen können." "Dazu habe ich nicht die Absicht," fauchte Attor, "außerdem nützt die Eile ohnehin nichts. Wir werden Rhagan nicht einholen." "Jammere nicht, sondern lauf'," schlug Gerrys fast gemütlich vor, "soll ich dich etwa für verweichlicht halten?" Er ging weiter und Attor mühte sich um dieselbe Geschwindigkeit. Vor dem Bruder wollte er stark erscheinen; mit Beschämung sah er dessen Ausdauer und Körperkraft.
M
it Entsetzen sah Attor dann das Geschehen unterhalb der Klippe. Er ahnte die Identität Orales' und er erkannte den laufenden Ilkonys. Er wollte rufen, doch Gerrys sprach ihn hastig an: "Wie gut gehst du damit um?"
Er deutete dabei auf die Wurfmesser, die Attor am Stiefelschaft trug. "Ich treffe Orales zwischen die Augen," versprach der Bruder sofort. "Nein," entschied Gerrys mit herrischer Stimme, "du mußt Ilkonys aufhalten. Verwunde den Knaben." Attor erbleichte und schüttelte abwehrend den Kopf. "Er ist Nodhers Erbe," stammelte er. Die Zeit drängte. Gerrys durfte nicht lange diskutieren. Er nahm eines der Wurfmesser und wog die ungewohnte Waffe in der Hand. "Du triffst nicht," rief Attor. "Wenn es sein muß, töte ich ihn," erwiderte Gerrys grimmig, während er nun die Entfernung mit den Augen maß. Da riß ihm Attor das Messer aus der Hand. Er zielte nur kurz und schleuderte die Waffe dann in die Tiefe. Bis hinauf auf die Klippe hörten sie den Schmerzensschrei des Kindes, das ins Bein getroffen zu Boden sank. "Das nehme ich dir übel," fuhr Attor den Bruder an, "daß du mich dazu gezwungen hast, das vergesse ich dir nicht." Doch Gerrys hörte ihm gar nicht zu. Er begann den Abstieg und lief rasch die in den Fels gehauenen Stufen hinab. Attor folgte ihm nur widerwillig.
R
hagan preßte Shuny fester an sich. Er sah Ilkonys fallen und gewahrte dessen Blut, fühlte sich hilflos und fürchtete Orales' Aufmerksamkeit. Dann sah er Gerrys nahen und atmete auf. Wenn der Falla kam, konnte nichts mehr geschehen. Auch Ilkonys sah den Freund und richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. All sein Sinnen galt nun Gerrys, mehr aber noch dem verheerenden Schmerz der Wunde. Ein paar im Hafen weilende Menschen wurden aufmerksam, kamen näher. Orales starrte sie aus leeren Augen an. Es erkannte Nahrung, fand Opfer. Zwei Menschen starben sofort, die andern flohen entsetzt. Da war Gerrys heran. Er neigte sich kurz über Ilkonys, gewahrte aufatmend dessen unberührten Geist und befahl dann Attor mit herrischer Stimme: "Bring' ihn zu Rhagan." Attor wollte widersprechen, doch der Bruder sah ihn so wütend und ungeduldig an, daß er sich fügte. Nun erst richtete der Falla seine Aufmerksamkeit auf Orales. Er erschrak. Den Freund kannte er seit Jahren, doch nie zuvor sah er ihn so verwahrlost und verdreckt. Orales schabte sich seit langem den Bart nicht mehr, obgleich dies Handeln nur Ausgestossenen entsprach. Seine Kleidung zeigte sich verfleckt, das offene Haar wirr und ungepflegt. Der Kristall vor seiner Brust aber erglühte machtvoll und ließ alles andere vergessen. Gerrys schirmte seinen Geist ab. Orales' Kristall begann, ganz schwach einen rötlichen Schimmer zu zeigen; kaum merklich
aber, sondern mehr erahnt. Fast dunkelrot hingegen glühte nun der Kristall des Falla. Gerrys sah dies zum ersten Mal. Er wunderte sich nicht darüber, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt nun Philmor, der noch immer am Boden lag. Der Falla berührte den Geist des Jünglings und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Dann hob er den Blick. Er sah Orales an, doch nicht wie einen Freund, sondern so, wie eine gefährliche Bestie belauert wird. Orales grinste. Wenige Schritte nur trennten die beiden Männer.
E
s besaß eine reaktive Form und Es kannte den Geist, dem sie gehörte. Dieser aber erkannte Gerrys nicht. Sein einziger Gedanke galt Amarra. Dorthin wollte er gehen. Es begriff in dem Falla einen starken Priester, dessen abgeschirmter Geist kein Eindringen erlaubte. Und Es begriff das rote Licht, das zu diesem Menschen hielt. Das war ein Teil von seiner Kraft, etwas, das ihm entsprach und zu ihm gehörte. Es suchte die Vereinigung.
G
errys verspürte eine unangenehme, körperliche Vibration und ahnte die Berührung des Kristallwesens. Sein eigener Stein glühte machtvoller, umhüllte sich mit einer fast greifbaren Wolke aus rotem Licht. Fassungslos sahen Rhagan, Attor und Ilkonys, wie aus Orales' Kristall ebenfalls rötliches, doch schon in seiner Farbe kraftloses Licht strömte; wie Gerrys' Stein nun pulsierend immer dichtere Lichtwolken aussandte und wie diese beiden sichtbaren Manifestationen größerer Kräfte sich einander näherten. Gerrys' Leib erzitterte. Er vermochte kaum mehr, diesem vibrierenden Ergriffensein standzuhalten.
O
rales liebte jene Wesenheit, die ihn beherrschte. In ihr geborgen fand er ein nie gekanntes Gefühl des Einssein, das Vollkommenheit versprach. Obwohl seine Augen leblos und starr blieben, vermochte er doch zu sehen. Und er schaute ebenfalls auf das Lichtgeschehen. Die Wesenheit, der er seinen Körper schenkte, suchte die Vereinigung mit dem anderen Stein. Er wollte nicht verlieren! Er erkannte sehr klar die größere Kraft des anderen Kristalles und wußte mit letzter Sicherheit, daß die erstrebte Vereinigung ihm Verlust bedeuten würde. Gerrys wußte es auch. Ebenso wurde ihm klar, daß die Berührung der Lichtwolken Orales töten mußte und es keinen Weg mehr gab danach, die gefangenen Geister der Priesterschaft zu befreien. Was - vielleicht - diesem einzelnen Kristall dort noch entrissen werden konnte, das blieb in Raaki selbst für jeden Menschen unerreichbar. Und doch wollte er lieber unter der ihn beherrschenden Kraft zerstrahlen, als weitere Opfer hinnehmen.
E
s erkannte die größere Kraft des dunkleren Lichtes und zuckte zurück. Es wollte sich vereinen, doch nicht, um darin aufzugehen, sondern, um stärker, größer, bewußter und kraftvoller zu werden. Es mußte die Form der anderen Kraft zerstören! Begrenzt in menschliche Form zentrierte sie sich, wurde dadurch effektiver, unbesiegbarer. Ohne sie blieb ihr nur der Lebende Kristall, der, von keines Menschen Geist mehr erhellt, als gebundene Form nicht taugte. Dann verströmte diese andere, größere Kraft wieder. Es durfte sich mit ihr nicht vereinen, wenn Es bestehen wollte. Darum mußte Es sie bekämpfen und zwingen, formlos wehend kraftlos zu sein.
G
errys sank auf die Knie. Seine Beine trugen ihn nicht mehr, seine körperlichen Kräfte erschöpften. Die Schwingungen in ihm änderten ihren Charakter, wurden kälter, bedrohender, dumpfer. Das konnte nicht mehr Raaki sein! Zu spät erkannte er, daß er, indem er sich seinem Gott ganz öffnete, damit auch der Bewußtheit in Orales Zugang verschaffte zu seinem eigenen Sein. Wahnsinnige Schmerzen durchzuckten ihn. Sein Geist blieb abgeschirmt. Er konnte von der Wesenheit des Kristalles nicht erreicht und nicht gefangen werden. Doch seine Leibesform blieb dennoch verletzlich und zerstörbar. Konvolsives Zucken wälzte seinen Körper in seltsamen Verkrümmungen am Boden.
A
ttor starrte Orales an. Den Todeskampf des Bruders lastete er diesem Mann an, der reglos stand und keinen Blick von dem Falla ließ. Attor nahm eines seiner Wurfmesser. Da legte ihm Rhagan die Hand auf den Arm. "Greif' nicht ein," mahnte er, "wir wissen nicht, was dort geschieht." "Gerrys stirbt," murmelte Attor erschüttert, der kaum den wehen Schmerz begriff, den dieser Gedanke in ihm belebte. Ilkonys weinte lauter. Er hockte am Boden, drückte ein Tuch auf seine Wunde und sehnte sich nach den Eltern. Gerrys' Leiden ertrug er nicht. Der Knabe preßte sein tränennasses Gesicht gegen Attors Bein, als sei alles, was er nicht sah, schon deshalb auch nicht Wirklichkeit.
D
ie Kraft, die Raaki hieß, spürte das Vergehen der geliehenen Form, in der sie nicht herrschte. Raaki vereinte sich ja nicht ganz mit Gerrys, überschattete nur dessen Geist und nahm den Raum ein, den dieser Mensch seinem Gott freiwillig überließ. Was Gerrys hier bedrohte, kam nicht aus den Regionen seiner Lebenswoge, durfte nicht menschlich, nicht einmal irdisch genannt werden. Es gehörte zu Raaki und die dunkle Kraft mußte ihren Falla vor sich selbst bewahren. Diese Form durfte nicht
unbrauchbar werden, da sie allein die Möglichkeit bot, in einer Welt der Formen faßbar zu reagieren.
G
errys kannte einen, der stark genug war, ihm jetzt noch helfen zu können. Der Than Nymardos auf Amarra besaß die Kraft, über Entfernungen hinweg im Geist zu handeln. Doch Gerrys wagte es nicht, den Freund auf telepathischem Weg um Beistand zu bitten. Er hielt seinen Geist abgeschirmt. Jede noch so geringe Öffnung lieferte ihn dem Kristallwesen aus und schlug ihn, wie die anderen Priester, in ein verheerendes Gefängnis ein. Es erschien ihm besser, jetzt und hier den körperlichen Tod zu erleiden, als ein geistiges Erlöschen zu riskieren. So verlor er nur ein Leben, anders aber jede Möglichkeit der Entwicklung.
A
us dem lebenden Kristall des Falla schoß mit einem Mal ein machtvoller Lichtstrahl, kurz nur und kaum wahrnehmbar. Orales taumelte, wie von einem machtvollen Hieb getroffen, zurück. Es interessierte sich nicht dafür. Seine reaktive Form mochte schmerzempfindlich sein, doch Es kannte kein Leid. Es wollte Gerrys nicht loslassen, sondern vernichten. Doch Orales' Geist hielt nun nicht mehr still. Todesangst griff nach ihm und dieser Urinstinkt zwang zur Flucht. Es wollte bleiben, doch Es beherrschte diese reaktive Form noch nicht vollkommen. Orales rannte zu den Schiffen und Es, an ihn gebunden, entfernte sich so mehr und mehr von jener Kraft, die ihm zwar entsprach, die Es aber doch fürchtete.
G
errys lag wie betäubt. Die grauenhaften Schmerzen endeten schlagartig, das Zucken verebbte und die bösartigen Schwingungen klangen aus. Zurück blieb nicht einmal die spürbare Kraft des dunklen Gottes. Sein Lebender Kristall schimmerte sacht in dem gewohnten, warmen Schein des Tages. Philmor rappelte sich auf. Er sah Orales nach, unfähig, sich über seine eigene Freiheit jetzt schon zu freuen. Er begriff kaum, daß sein Peiniger ihn vergaß. Auch Gerrys verfolgte Orales mit Blicken. Er suchte ein Schiff, er wollte fort. Dann sah er zu Philmor. Seine Lippen verwandelten sich in schmale Striche, seine wasserhellen Augen schimmerten gequält. Trotzdem tat er, was er für nötig erachtete. Welchen Kampf ihn dies kostete und welche innere Überwindung, das konnte ihm nicht angesehen werden. Erneut berührte er den Geist des Jünglings. Wenig später sprang Philmor auf. Er rannte Orales hinterher. "Herr, nehmt mich mit!" rief er dabei. "Bitte, Meister, laßt mich nicht hier." Orales inzwischen duldete ein weiteres Opfer des Kristallwesens, raubte dessen kleinen Segler und sprang an Bord. Grinsend erlaubte er Philmors Begleitung. Kurz darauf segelte er aus dem Hafen.
I
lkonys starrte mit finsterem Blick schweigend auf die Wurfmesser in Attors Stiefel. Gerrys hatte seine Schmerzen besiegt und die Wunde übertrieben stark verbunden. Sogar einen Gehstock schnitzte der Falla für den Jungen. Der kam sich bei alledem sehr wichtig vor. Sie saßen auf großen Felsblöcken, sahen der Brandung zu und tranken, was der Wirt der Herberge ihnen brachte. Ein reichhaltiges Mahl lag schon hinter ihnen. Rhagan weilte im Hafen. Seit er Gerrys in seiner Nähe wußte, sorgte er sich weniger um Shuny. Gern ließ er die Priesterin in der Obhut des Fallas zurück. "Das war dein Messer," murmelte Ilkonys endlich vorwurfsvoll, "das sag' ich Vater." Attor senkte den Kopf. Was sollte er Nodhers Erben darauf auch antworten? Der König würde entscheiden, welche Strafe ihn erwartete. Attor preßte die Lippen zusammen. Ariston konnte gar nicht anders urteilen. Wer das Leben eines Erben der Macht bedrohte, fand den Tod. "Wie kommst du überhaupt nach Moras?" erkundigte sich Gerrys bei dem Kind. Arglos erzählte ihm Ilkonys von Rhagans Verfolgung, von den Abenteuern während seiner Reise und als er dann von Werdyns Tod sprach, traten ihm Tränen in die Augen. Er stürzte sich in die Arme des Freundes und weinte haltlos. Gerrys hielt ihn fest. "Willst du deinem Vater auch erzählen, was du Philmor antatest?" Ilkonys schluchzte. "Den kann ich nicht leiden," erklärte er, nun wieder etwas Abstand haltend, "außerdem ist er mit Orales fort. Gerrys, sag', ist Orales böse? Er ist doch unser Freund. Vater sagt immer, daß es keinen besseren Mann gibt." "Er ist unser Freund," bestätigte Gerrys mit ernster Stimme, "aber er ist nun sehr krank. Er weiß nicht, was er tut. Eine fremde Kraft beherrscht ihn und zwingt ihn dazu, andere Menschen zu quälen oder zu töten." "Das verstehe ich nicht." "Hast du nie im Traum etwas Übles getan?" Ilkonys überlegte, errötete und gestand: "Ich hab' mal geträumt, daß ich Vater schlagen würde. Aber das war doch bloß ein Traum, Gerrys. Ich hab' Vater doch lieb." Gerrys lächelte wehmütig. "Orales träumt einen sehr schlimmen Traum, mein Junge. Vermutlich wird er nie mehr aufwachen." "Und immer so böse sein?" Gerrys nickte.
"Solange er lebt," befürchtete er. "Wohin fährt er denn?" "Nach Amarra. Dort wird sein Traum enden." Ilkonys grübelte. Dann hellten sich seine Züge auf und er sagte voll Zuversicht: "Ich hab' Philmor gar nichts angetan. Er ist auch böse, wenn er mit Orales geht." Gerrys ergriff den Knaben bei den Oberarmen und zog ihn nahe zu sich heran: "Philmor ist ein feiner Kerl," sagte er mit fester Stimme, "er verdient deine Achtung. Er hat dein Leben gerettet und wurde von dir zum Dank verstoßen. Es ist deine Schuld, daß er nun unter Orales leidet." "Wieso rannte er ihm dann nach?" "Das verstehst du noch nicht," wies ihn Gerrys zurecht. Ilkonys senkte den Kopf. Zum ersten Mal hielt ihm der Freund das Alter vor und sprach ihm aus diesem Grund Verständnis ab. Bisher fühlte er sich ausschließlich von Gerrys ganz und immer als Mensch akzeptiert. "Erklär's mir doch," flüsterte er gekränkt. Gerrys erhob sich abrupt, ging unruhig einige Schritte und setzte sich dann wieder. "Philmor ging mit Orales, weil ich es so wollte," gestand er nun, "nicht aber, weil er es sich wünschte. Orales quält ihn, peinigt und vergewaltigt ihn und zwingt ihn unter seinen Willen. Philmor leidet entsetzliche Schmerzen, hat Angst und fühlt sich verlassen und verloren." "Geschieht ihm recht," behauptete Ilkonys. Da hob Gerrys die Hand und schlug das Kind ins Gesicht. Ilkonys weinte auf, doch mehr erschrocken als schmerzerfüllt. Attor zuckte überrascht zusammen. "Laß ihn," warnte er. "Wenn Ilkonys von mir wie ein Prinz behandelt werden will," lehnte Gerrys zornig ab, "dann soll er es sagen." Trotzig hob der Knabe den Kopf. "Das geht dich gar nicht an," wies er Attor hochmütig zurecht, "Gerrys ist mein Freund. Du hast das Messer nach mir geworfen." "Weil ich es ihm befahl," erklärte Gerrys sofort, "er tat es, weil er es kann. Sonst hätte ich geworfen und dich vielleicht getötet. Attor half dir, Junge. Wärest du zu Orales gelangt, würde das deinen Tod bedeuten." Fragend hob Attor den Blick. "Das Kristallwesen nimmt jeden menschlichen Geist, den es erreichen kann," beantwortete Gerrys die unausgesprochene Frage, "es tötet den unausgebildeten Geist und nimmt den eines Priesters gefangen. Ilkonys ist zwar ein Tempelkind, doch öffnete er sich dem vermuteten Freund so weit, daß jede Begegnung tödlich enden
müßte. Es ging nicht nur um sein Leben, sondern auch um seine geistige Existenz." "Wird der König das verstehen?" erkundigte sich Attor besorgt und etwas furchtsam. "Ja," erwiderte Gerrys nur. Nun kam Rhagan zurück. Er kniete vor Gerrys nieder, reichte ihm dessen Beutel und erklärte: "Ich konnte einen kleinen, doch sehr wendigen Segler erwerben, Herr. Zwar habe ich nicht gelernt, ein Schiff zu führen, doch ließ ich mir die notwendige Arbeit zeigen und hoffe, euch sicher an euer Ziel bringen zu können." "Wo willst du hin?" erkundigte sich Attor. "Ich muß Orales verfolgen. Ich gab Philmor in seine Hand und will alles tun, um den Jungen zu retten. Gelingt mir das nicht, habe ich alles verloren." Er sprach so ernst, daß Attor betroffen seinem Blick auswich. Mit unsicherer Stimme fragte er: "Wird dich der Than dann deines Amtes entheben?" Gerrys zuckte nur mit den Schultern. "Warum tatest du es denn?" "Orales' Geist ist wie gelähmt unter diesem fremden Einfluß," antwortete Gerrys langsam, "er weiß kaum mehr um seine menschliche Existenz. Diese aber erkennt er, wenn er die Kanäle, welche die geistige Kraft transportieren, gereinigt und stark vorfindet." "Ich hörte, daß dies dieselben Kanäle seien wie jene, in denen sexuelle Kraft fließt. Du wolltest, daß er Philmor weiterhin vergewaltigt?" Gerrys nickte gequält. "Besinnt er sich auf sein eigenes Sein, wird er gegen die fremde Kraft ankämpfen und dann muß diese ihn töten." Attor sprang auf. Wie angewidert trat er einen Schritt zurück und stammelte: "Du opferst einen halbwüchsigen Jungen, um deinen Freund zu retten?" "Die Bewußtheit des Steines muß in einer Form zentriert bleiben, um angreifbar zu sein. Amarra hätte es so gewollt." "Dann trifft euch von dort auch kein Urteil," mischte sich Rhagan zaghaft ein. "Wohl nicht," gab der Falla zu, "doch ich werde mir mein eigenes Wollen nicht vergeben können, wenn Philmor verloren ist. Ich muß Orales verfolgen; ihr könnt nach Hause gehen." Still griff Ilkonys da nach seiner Hand. Rhagan senkte ergeben das Haupt, doch er sagte mit fester Stimme: "Ich werde euch gehorchen, Herr. Dennoch bitte ich euch, meine Begleitung zu dulden. Ich muß auch nach Amarra."
Flehend sah er den Falla an. Gerrys legte ihm die Hand auf die Schulter. "Es kann gefährlich werden, Rhagan, aber ich weiß, wie wenig dich das schreckt. Ich danke dir für alles, was du für mich tun wirst." Er erhob sich. Attor wollte Shuny tragen, doch Rhagan kam ihm zuvor und wies ihn mit einem einzigen Blick fort. Der Hüne trug die Priesterin, zeigte Gerrys das Schiff. Attor und Ilkonys folgten ihnen. "Ich wollte euch nicht töten, Herr," murmelte Attor dabei, "und es tut mir leid, daß ich euch verletzen mußte." Ilkonys sah staunend zu dem Mann auf. Das war Gerrys' Bruder und er sprach ihn so fremd und scheu an. Natürlich begriff er die Bedeutung der Kupferreifen. Doch er hatte sich so an den vertrauten Umgang mit Rhagan gewohnt, daß ihm diese Anrede seltsam erschien. "Gerrys hat gesagt, daß es so richtig war und ich glaube ihm. Mach' dir keine Sorgen deshalb, Attor. Es tut schon fast nicht mehr weh. Ist es schwer, so gut mit dem Messer zu werfen?" "Es erfordert viel Übung, Herr," antwortete Attor mit unsicherer Stimme. "Werdet ihr mich vor eurem Vater verklagen?" "Das geht doch gar nicht," wunderte sich Ilkonys über dessen Nichtbegreifen, "wenn Gerrys es so wollte, dann ist es doch gut. Gerrys ist mein Freund." "Darf er euch deshalb schlagen?" Ilkonys blieb stehen und starrte zu Boden. Dann lachte er leise und meinte: "Rhagan hat's auch getan und ich mag ihn trotzdem. Aber ich glaub' nicht, daß die zwei das wieder machen. Und überhaupt, Vater würde gar nicht wollen, daß ich mich beklage. Ich bin ja freiwillig hier." Er humpelte weiter. "Kannst du Rhagan nicht leiden?" "Ich habe ihn sehr lieb," entfuhr es Attor, noch ehe er den Sinn dieser Worte erwägen konnte. "Warum sprichst du dann nicht mit ihm? Ich finde, er ist ein toller Mann und ich will, daß er auch mein Freund ist." Attor starrte auf den breiten Rücken des Hünen. "Ich auch," gab er zu.
S
ie segelten an Moras' Küste entlang. Rhagan hatte Shuny auf Decken gebettet und erklärte Ilkonys nun die Segel und jeden Teil des Schiffes. Attor trat zu Gerrys an den Bug des Einmasters. "Der Prinz nimmt dir den Hieb nicht übel," sagte er leise, "er wird dich wohl nicht einmal vor dem König verklagen, Bruder."
"Das hätte auch wenig Sinn," erwiderte Gerrys lächelnd, "sorge dich nicht darum. Ich betrachte Ariston als Freund und bin mir dessen Treue sicher." "Fürchtet Ilkonys seinen Vater?" Gerrys sah ihn voll an. "Er liebt ihn, aber Ariston behandelt ihn manches Mal sehr streng. Seine unerlaubte Reise nach Moras wird gewiß Folgen für ihn haben. Bedenke, daß Ilkonys ein Tempelkind ist und solche nicht bei ihren Eltern leben. Ariston trotzte dem Than seinen Erben förmlich ab und nun will er beweisen, daß er seinen Sohn nicht schlechter erzieht, als dies die Tempel täten. Darum erlaubt der König den großen Einfluß, den ich auf seinen Sohn ausübe und darum ist er bemüht, jedes Aufkeimen von falschem Stolz oder Überheblichkeit in dem Knaben sofort zu unterbinden. Auch dich erwartet von Ariston keine Strafe." Attor sah zu Rhagan, der eben lachend zusah, wie Ilkonys das Ruder kaum zu halten vermochte. "Sie duzen sich," murmelte er. "Das ist Ilkonys' Entscheidung," meinte Gerrys gleichmütig, "sie ist erstaunlich, aber akzeptabel. Rhagan versteht den Umgang mit Halbwüchsigen." Attor nickte nur. Er ließ den Gefährten den ganzen Tag hindurch nicht aus den Augen. Er sah dessen vergnügten und offenen Umgang mit Ilkonys, gewahrte seine Sorge um Shuny und sah Rhagans Sanftheit, wenn er ihren Leib pflegte. Am meisten aber erstaunte ihn die fast ehrfürchtige Weise, in der Rhagan dem Falla begegnete, die doch zugleich frei von aller Scheu oder Unterwürfigkeit blieb.
A
uch am Abend hielt Attor unnötigen Abstand. Das Schiff ankerte nun, da in der nebeldichten Dunkelheit jede Fahrt gefährlich blieb. Gerrys lagerte bei Rhagan an der Reling, aß ein wenig von den Vorräten, die der Hüne besorgte und unterhielt sich mit ihm. Sein Lebender Kristall spendete ihnen ausreichend Licht. Attor stand entfernt und beobachtete sie. Ihre Worte konnte er nicht verstehen. Rhagan erzählte von seiner Sorge um Shuny, doch auch ganz offen von seinen Gefühlen für die Priesterin. Verzweifelt klagte er sich an, weil er sie vor diesem Zustand nicht bewahrte. Gerrys machte ihm keinen Vorwurf, versuchte im Gegenteil, den Tempelhelfer zu trösten und zu beruhigen. Er nährte des Hünen Hoffnung, daß Amarra helfen könne. Dann gestand Rhagan seinen Zwist mit Ilkonys und seinen unbedachten Hieb und wieder entschuldigte ihn Gerrys. Rhagan hatte irgendwann während des Redens seine Hand ergriffen, hielt sie schon lange fest. Später standen sie an der Reling, sahen in die Dunkelheit. Rhagan überragte den Falla um weit mehr als Haupteslänge und kam sich doch sehr klein und unwichtig vor. Es gab so viel, das er seinem Herrn berichten mußte. Er gestand, Orales einen Finger abgeschlagen; Helfer im Tempel der Weisheit im Kampf verletzt, vielleicht sogar getötet zu haben. Es tat ihm gut, alles gestehen zu dürfen und nichts verschweigen zu müssen. Und als ihm Gerrys dann berichtete,
welche Sorge Attor um seinetwillen hegte, lauschte er erfreut den Worten. "Herr," forschte er dann aber mit rauher Stimme, "denkt ihr denn, daß ich Attor etwas bedeute? Das wäre schlimm für mch, denn ich werde ihn verlassen. Ich will nicht mehr nur ihm dienen, sondern meinem Leben einen eigenen Sinn verleihen." "Das muß euch nicht trennen," erwiderte Gerrys freundlich, "das kann euch auch verbinden. Manchmal ist zu große Nähe hinderlicher als räumliche Ferne. Du weißt, daß du einen Platz im Tempel finden kannst. Niemand wird dich dann hindern, oft die Plantage aufzusuchen. Sei unbesorgt, Rhagan, die Götter sind mit dir." Er verabschiedete sich und suchte die Ruhe. Gerrys empfand keine Müdigkeit, trachtete nicht nach dem Schlaf. Doch er wußte, daß er seine Kraft nicht vergeuden durfte. Überdies tastete er im Geist wieder einmal Burg Nodher ab, beruhigt feststellend, daß dort niemand um Ilkonys sorgte. Seinen Kristall nahm er mit sich.
I
n der nun herrschenden Dunkelheit näherte sich Attor dem Gefährten. Einst war er Rhagans Herr gewesen, doch schon damals galt ihnen beiden das nicht sehr viel. Im Gegenteil, sie fühlten sich da weit mehr verbunden als nun. "Störe ich dich?" erkudigte sich Attor vorsichtig. Rhagan verneinte und begrüßte Attor mit freundlichen Worten, die zwar ehrlich gemeint, dennoch aber nichtssagend waren. "Ich bin froh, daß dir nichts geschah," bekannte Attor unruhig, "ich fürchtete, du würdest mit Orales kämpfen. Um Shuny tut es mir sehr leid." Rhagan horchte auf. Diese letzten Worten bewiesen ihm, daß Attor ihn nicht halten, sondern loslassen wollte und ihm jede Freiheit und jedes Glück gönnte. "Ich glaube," meinte er langsam, "wir sollten uns unterhalten, Attor. Es ist zu vieles ungesagt zwischen uns." "Vieles? Nein, bestimmt nicht. Es ist sehr wenig, was ich nie sagen wollte." Er kämpfte mit sich. "Ich verschwieg dir stets, was du mir bedeutest und wie sehr ich dich brauche, Rhagan. Es ist nicht wichtig, ob du auf der Plantage lebst oder nicht. Wichtig ist nur, warum du gehen wirst. Ist es meinetwegen?" "Nein," wehrte Rhagan spontan ab, "ich will nur meinen eigenen Weg finden und tun, was ich am besten kann. Ich will gar nicht fort von dir und wäre froh, wenn wir uns oft sehen würden. Willst du das?" Attor bejahte rasch. Sie sprachen nun sehr lange und offen miteinander. Es herrschte wohl weiterhin eine gewisse Scheu zwischen ihnen, eine Furcht vor Berührung, ein Vermeiden jeder impulsiven Geste; doch sie öffneten sich ihre Seelen und kamen sich näher als je zuvor. Ende Kapitel 11
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 12
D
er Einmaster Orales' fand mit erstaunlicher Sicherheit die richtige Richtung. Das Segel wurde nicht gesetzt, doch die Strömung - oder eine andere, unfaßbarere Kraft trieb das Boot immer weiter. Der Mann darin kümmerte sich nicht darum. Sein einziges Sinnen galt Philmor. Er erfand immer neue Methoden, den Jungen zu quälen. Er berauschte sich am Leid des Halbwüchsigen, der ihm in allem zu Willen sein mußte. Philmor gehorchte seinem Peiniger widerspruchslos; nährte ihn mit selbst gefangenen Fischen und spielte, zwar gedemütigt, doch anhaltend, den zärtlichen Geliebten. Sein Verhalten hatte sich verändert. Da er sich freiwillig in Orales' Hände begab, suchte er nicht mehr nach einer Möglichkeit zur Flucht und ergoß er sich nicht weiter in sinnlosem Selbstmitleid. Seine einzige Chance auf Freiheit hatte er vertan. Manchmal, wenn Orales schlief, grübelte er darüber nach. Warum folgte er diesem Mann? Und weshalb tat er es genau in dem Moment, als sein Blick auf den des Fremden traf? Er wußte doch genau, was ihn an Bord des Seglers erwartete! Philmor litt ja nicht nur unter den derben und gierigen Vergewaltigungen seines Peinigers; unter dessen brutaler Zärtlichkeit und der pausenlosen Überwachung, sondern mehr noch unter dem Wissen der empfangenen Verachtung. Er galt Orales ja nichts, wurde von ihm kaum als Mensch wahrgenommen, sondern diente ihm nur als Mittel zur Befriedigung seiner grenzenlosen sexuellen Gier. Und irgendwie konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe der Fremde genau dies gewollt. Aber dann war er ja ein Opfer! Seine Überlegungen verhinderten die Auswirkung des Schocks, unter dem er seit langem stand. Eines frühen Morgens nahm Orales das Ruder des Schiffes und steuerte von Moras' Küste fort. Philmor stand, wie immer, neben ihm. Furchtsam starrte er auf das sich entfernende Land. Seine Stimme klang sehr leise: "Meister, wohin fahren wir?" Orales sprach kaum mit ihm. Jetzt krallte sich die Hand des Mannes in die Schulter des Halbwüchsigen. "Ich habe ein Ziel," erwiderte er mit emotionsloser Stimme, "weißt du nicht, was hinter den Wellen liegt?"
Philmor erschrak sichtlich. Fast jammernd erkundigte er sich mit klagendem Unterton: "Herr, ihr könnt nicht nach Amarra wollen! Man kennt euch dort. Was wollt ihr dort tun?" "Dort wird meine neue Heimat sein. Ich werde die Welt der Menschen regieren und alle, alle werden mir huldigen." "Aber die Priester!" rief Philmor entsetzt. Orales brach in ein dröhnendes, bösartiges Gelächter aus. Wie irr schien er sich über einen köstlichen Scherz zu amüsieren. Doch dann erklärte er: "Bald gibt es keine Priester mehr." Philmor wich ungläubig einen knappen Schritt zur Seite. "Und der Than?" flüsterte er. Orales lachte wieder. Seine Hände umfaßten mit einer zärtlichen Geste den Lebenden Kristall vor seiner Brust. In seinen dunklen ausdruckslosen Augen glomm ein seltsames Feuer. "Er ist nicht unbesiegbar," antwortete er hart. "Habt ihr ihn nicht geliebt, Meister?" Diese Frage wäre besser ungestellt geblieben, denn sie erinnerte Orales an die Wonnen der Lust. Mit festem Griff packte er den Jungen, zog ihn an sich und zwang ihn, seine Gier zu befriedigen.
W
ährend das Boot in der Nacht trieb, versank Moras hinter dem Horizont. Früh am Morgen befahl Orales seinem Gefangenen, das Segel zu setzen. Danach beachtete er Philmor nicht weiter, sondern konzentrierte sich nach vorn. Viele Stunden später stand er noch immer unbeweglich und hielt seinen Blick fest auf das in der Ferne sichtbare Land geheftet. Fast schon konnte die schöne Insel in ihrem satten Grün erahnt werden. Auch Philmor sah nach Amarra, doch weniger froh. Er erwartete fast das Auftauchen einer Kriegsflotte, welche den Einmaster versenken würde. Zwar wußte er, daß Amarra keine Kampfschiffe, ja, noch nicht einmal große Segler besaß, doch erschien ihm der Gedanke unvorstellbar, ein Feind könne ungehindert das Herz der Nebelreiche betreten. Vor dem Horizont erschienen in diesem Moment zahlreiche weiße Punkte, die sich im Näherkommen als Katamarane erwiesen. Die Mehrzahl der kleinen Boote trug nur einen einzelnen Menschen. Philmor erkannte in ihnen Frauen und Männer, deren Kleidung ihren hohen priesterlichen Rang auswies. Orales schien die Leute gar nicht zu bemerken. Erst, als sie in weitem Bogen seinen Einmaster umsegelten, wurde er auf sie aufmerksam. Ein böses Grinsen umspielte seine Lippen und der Kristall vor seiner Brust begann in pulsierendem Licht zu strahlen. Es spürte die Anwesenheit der Priester und Es begehrte nach deren Kraft. Doch diese
Menschen kannten ihren Feind. Jeder von ihnen hielt seinen Geist vollkommen abgeschirmt und verhinderte so das Eindringen einer fremden Macht. Amarra lag in greifbarer Nähe, doch Es ahnte nun die Vergeblichkeit seiner Reise. Orales aber kannte keinen Vorbehalt. In ihm wirkte nur ein einziger Gedanke, nämlich jener, der zuvor als letztes menschliches Denken in ihm Gestalt besaß. Dies trieb ihn nach Amarra, obwohl er darin keinen logischen Sinn sah. Und Es hielt wohl den Geist seiner reaktiven Form gefangen, war jedoch zugleich dessen Bewegen in der materiellen Welt ausgeliefert. Orales wollte sich von den kleinen Booten nicht aufhalten lassen, doch es stellte sich ziemlich bald heraus, daß Amarras Priester ihn nicht auf die Insel lassen wollten. Als er versuchte, seinen Kurs beizubehalten, formierte sich der Großteil der Katamarane zwischen ihm und der Küste. Es spürte nun die Gefahr für die von ihm erwählte Form. Die Priesterschaft errichtete eine Mauer aus starken, negativen Schwingungen. Sollte Orales in dieses Kraftfeld eindringen, mußte es seinen Tod bedeuten. Unter dem Einfluß des Kristallwesens änderte Orales seinen Kurs. Doch wieder schnitten ihm die Menschen Amarras den Weg ab und wieder errichteten sie vor ihm diese undurchdringliche Schranke. So oft er versuchte, seinen Kurs aufs freie Meer zu nehmen, scheiterte er an dieser imaginären, doch durchaus wirksamen Sperre. Als sich die Nebel senkten, war er Amarras Gefangener. Die tödliche Mauer schloß ihn von allen Seiten ein. Es herrschte nun völlige Windstille; der Einmaster schaukelte still auf dem ruhigen Meer.
A
ußerhalb der geistigen Begrenzung wehte ein frischer, doch stetiger Wind, der das Boot der Verfolger rasch näherbrachte. Seit einiger Zeit ignorierte Gerrys seine Begleiter. Er sorgte sich um Philmor und hoffte inständig, nicht zu spät zu kommen, um den Jungen aus der Gefahr zu retten, in die er ihn zwang. Attor versuchte mehrmals, mit ihm ins Gespräch zu kommen, gab es dann aber auf. Endlich sahen sie Orales' Schiff. Einer der Katamarane segelte längs ihres Einmasters. "Im Namen Amarras: Verlaßt dieses Gewässer," befahl ein Priester mit unfreundlicher Stimme. Gerrys neigte sich über die Reling. Sofort erkannte ihn der Priester, kreuzte die Hände vor der Brust und neigte das Haupt. Dann warf er dem wartenden Rhagan die Halteleine zu und kletterte geschickt an Bord. Meisterhaft verbarg er sein Erstaunen über die ungewohnte Kleidung des Fallas, der noch immer einfache Reisekleidung trug. Nach tiefer Verneigung erstattete er Bericht: "Wir halten den Feind in einer starken Sperre gefangen und verhindern so sein Entkommen. Unser Herr wird ihn selbst vernichten. Von eurem Kommen wurden wir nicht unterrichtet." "Bei Orales befindet sich ein halbwüchsiger Knabe, der gerettet werden muß. Was weißt du von ihm?" erkundigte sich Gerrys. "Ist der Junge in Gefahr?" "Darüber bin ich nicht informiert und ich bezweifle, daß die Größe dieser Sache
Rücksicht auf ein einzelnes Leben duldet. Ich bitte euch, ändert euren Kurs und umschifft unsere Segler in weitem Bogen." Gerrys ignorierte diese Aufforderung. "Wann wird der Than hier erwartet?" Ein erstaunter Blick traf ihn. "Vergebung," stammelte der Mann unsicher, "unser Gebieter informiert die Priesterschaft nicht über seine Pläne. Er wird kommen, wann er es will. Es ist unsere Aufgabe, den Feind solange festzuhalten - niemand fragt, wie lange dies dauern wird." Gerrys lächelte beim Gedanken daran, daß das Verweigern jeder Erklärung eine der Eigenheiten des mächtigsten Mannes der Reiche war. Nur wenigen Menschen entdeckte er seine Gedankengänge; gewiß nicht der ihm dienenden Priesterschaft. So dankte er für die Informationen und entließ den Priester. Kurz überlegte er, ob er das weitere Geschehen und damit Philmors Schicksal Amarra überlassen sollte. Dann aber trat er zu Rhagan. "Bette Shuny unter Deck und nimm Ilkonys mit. Lege einen starken Riegel vor." Er sah Attor an. "Jetzt wird es wirklich gefährlich. Ich stelle es dir frei, unter Deck oder auf ein Boot der Priester zu gehen." "Warum fragst du nicht Rhagan?" fuhr Attor erbost auf. "Denkst du, ich sei ein Feigling?" Gerrys schüttelte den Kopf. "Ich zweifle nicht an deinem Mut, wohl aber an deiner Besonnenheit. Rhagan wird mir gehorchen." "Ich auch, das versprach ich dir schon einmal." "Ein Versprechen, das nicht gehalten wird, besitzt keinen Wert. Ich warne dich: Wenn du so nahe an Amarra versagst, ist dein Leben verloren." "Das ist mein Risiko," murrte Attor. "Was hast du vor?" Gerrys gab Rhagan einen Wink und sofort befolgte der Hüne seinen Befehl. Nachdem er Shunys leblosen Körper und Ilkonys unter Deck einsperrte, kam er wieder. Gerrys wirkte nun sehr ernst; sie sahen ihm an, daß er sich jetzt auf keine Diskussion mehr einlassen wollte. Mit entschiedener Stimme erklärte er: "Wir durchbrechen die Sperre der Priester und segeln so nahe als möglich an Orales' Boot. Ich werde mit Rhagan das Schiff entern. Während ich Orales ablenke, wird Rhagan Philmor von Bord bringen." "Und was soll ich bei alledem?" wollte Attor wissen. "Du bleibst hier an Bord," befahl Gerrys, "und bist für das Leben von Shuny und Ilkonys verantwortlich. Versuche, nicht an Orales zu denken. Vielleicht bleibt dein Geist auf diese Weise abgeschirmt; versprechen kann ich es dir nicht. Was immer geschehen wird; du haftest mir für unsere Pasagiere. Und du, Rhagan, kümmerst dich
nur um Philmor, nicht um mich. Das Durchbrechen der Sperre wird für euch unangenehm sein, aber nicht wirklich schmerzhaft." Er sah über das Meer, als suche er etwas. "Der Than ist noch nicht hier," stellte er fest, "warten wir nicht länger." Die frische Brise trieb den Einmaster rasch voran. Rhagan lenkte mit sicherer Hand das Boot zwischen den Katamaranen der Priesterschaft hindurch. Sie hörten warnende Rufe, doch sie achteten nicht darauf. Attor presste die Fäuste gegen die Schläfen. Ihm schwindelte und für einen Moment fühlte er sich unendlich geschwächt. Rhagan klammerte sich an das Steuerruder. Er empfand die Ahnung einer großen Gefahr. Doch zu rasch verklang das unangenehme Empfinden, als daß es die beiden Männer wirklich bedrohen könnte. Gerrys registrierte die Sperre zwar, doch nahm er sie als gegeben hin. In ihm wirkte sie weder unangenehm noch sonderlich störend. In der künstlichen Begrenzung, in der die Windstille herrschte, verlor das Boot rasch seine Fahrt. Langsam driftete es weiter, bis es endlich in einiger Entfernung vom Ziel ruhig auf den Wellen schaukelte. Ohne ein Wort sprang Gerrys über Bord. Mit kraftvollen Zügen schwamm er dem Boot des einstigen Freundes zu. Rhagan folgte ihm nach kurzem Zögern.
O
rales schlief, halb auf Philmor liegend, im Heck des Schiffes. Es aber wachte! Es spürte das Nahen eines Feindes und lauerte. Orales wurde unruhig. Er erhob sich. Sein Blick krallte sich an dem gegnerischen Einmaster fest. Die Schwimmer konnte er nicht sehen. Seine Rechte tastete nach dem Lebenden Kristall vor seiner Brust, dessen Licht nun immer größere Gewalt gewann. Der Stein schien förmlich zu glühen; sein kaltes, weißes Licht erstrahlte in einem bösartigen Glanz. Attor sah es mit Entsetzen. Wie einen feurigen Lichtspeer schleuderte der Kristall seine verzehrende Macht gegen den Feind. Instinktiv warf sich Attor auf die Planken. Das Licht wischte über ihn hinweg, traf auf den Fuß des Mastes. Im Nu entzündete sich das Segel! Attor versuchte, das brennende Tuch herunterzureißen. Ein weiterer Lichtstrahl traf den Bug des Schiffes. Gierig leckten die Flammen an dem trockenen Holz. Verzweifelt suchte Attor mit den Augen nach dem Bruder, der sich in diesem Moment nicht weit von Orales entfernt über die Reling schwang. Nun hörten die Angriffe auf. Doch die Gefahr war nicht vorüber. Das Schiff brannte lichterloh und unter Deck waren zwei Menschen eingeschlossen. Er trug die Verantwortung für ihr Leben. Mühsam bekämpfte er den Impuls, einfach über Bord zu springen und dem Flammenmeer zu entkommen. Hustend und mit vom Rauch tränenden Augen drang er ins Innere des Schiffes. Nur leise vernahm er Ilkonys' Rufe. Die Stimme des Kindes schien schon geschwächt; vermutlich litt es unter dem Rauch. Der Knabe hämmerte mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür. Attor riß den Riegel weg, zog die Tür auf. Eine Wolke von dunklem Qualm kam ihm entgegen. Keuchend rang Attor nach Atem. Ilkonys zog und zerrte an seinem Wams. "Du mußt Shuny tragen," verlangte er, "beeil' dich doch."
Attor hob ihn hoch. "Zuerst bringe ich euch hinaus," entschied er, nach Atem ringend. Ilkonys strampelte, entwand sich seinem Griff und schrie ihn böse an: "Soll sie verbrennen, nur weil du Rhagan nicht leiden kannst? Hast du vergessen, daß du nur ein Sklave bist? Du machst jetzt genau das, was ich dir sage. Nimm Shuny und schwimm' mit ihr zu den Katamaranen." Die Flammen leckten schon an den Wänden hoch. Es passte Attor gar nicht, von einem Kind an seinen Stand erinnert zu sein, doch er fügte sich ohne Widerwort. Er nahm den Körper der Priesterin auf seine Arme und trug sie hinauf. Das Feuer schloß ihn oben von allen Seiten ein. Der Mast brach in dem flammenden Inferno, stürzte krachend auf Deck. Er streifte Attor an der Schulter, riß ihn nieder. Wie betäubt blieb er liegen. Seine Kleidung fing Feuer! Ilkonys stand schon an der Reling, wandte sich nun um und versuchte, die Flammen zu ersticken. "Du mußt weiter," drängte er, "spring' ins Wasser! Du mußt mit Shuny ins Wasser springen." Attor rappelte sich auf. Mehr taumelnd als gehend schleppte er die Priesterin zur Reling, ließ sie über Bord gleiten. Kraftlos brach er zusammen. Ilkonys rollte seinen Leib unter der Reeling hindurch, sprang ihm dann hinterher. Das kühle Wasser des Meeres brachte den Mann zur Besinnung. "Shuny!" rief er, doch er konnte die Priesterin nirgendwo sehen. Verzweifelt tauchte er, immer und immer wieder. Der Bruder vertraute ihm das Leben dieser Priesterin an. An die Folgen eines Versagens wollte er gar nicht denken. Er glaubte, seine Lungen würden bersten, doch er schaffte es, die Sinkende zu ergreifen und zur Oberfläche zu bringen. Nach Atem ringend ließ er sich treiben, dabei den Kopf der Priesterin haltend. Die Kraft, nun in Sicherheit zu schwimmen, besaß er nicht mehr. Ilkonys hielt sich an seiner Seite und sprach ihm unaufhörlich Mut zu. "Du darfst jetzt nicht aufgeben," riet er. Er spuckte das über seine Lippen gedrungene Wasser aus und fuhr fort: "Gerrys würde nie aufgeben. Du bist doch sein Bruder und kannst nicht so viel schwächer sein als er. Schwimme endlich, na los doch." Das Salzwasser wirkte schmerzhaft in Attors verbrannter Haut. Er ärgerte sich über die Tränen, die wider Willen in seine Augen traten und hoffte, der Knabe würde sie für Tropfen des Meeres halten. "Ich kann nicht mehr," keuchte er. Ilkonys versuchte, ihm Shuny tragen zu helfen. Der Mut und die Kraft des Knaben beschämten Attor, der seine letzten Kraftreserven mobilisierte und auf Hilfe wartete. Ihr Boot begann, zu sinken. Es schien unendlich lange zu dauern, bis ein größerer Katamaran sie erreichte und starke Hände die Schiffbrüchigen aus dem Wasser zogen.
O
rales stand Gerrys genau gegenüber; wenige Schritte trennten sie voneinander. Ihrer beider Kristalle flammten in machtvoll pulsierendem, rötlichem Schein. Sie belauerten sich. Gerrys hielt den Degen umklammert. Er wußte, daß er sich auf keinen geistigen Kampf mehr einlassen durfte. Schon einmal verlor er dabei fast sein Leben, dieses Risiko wollte er nicht nochmals eingehen. Es war auch nicht seine Aufgabe, die Wesenheit des Kristalles zu bezwingen. Es mußte ihm nur gelingen, Orales so lange abzulenken, bis Philmor in Sicherheit war. Dazu schien ein Waffengang das geeignete Mittel, wenngleich Orales ihm hierin überlegen sein mußte; war er doch vor Jahren Gerrys' Lehrmeister gewesen. Es erschreckte ihn, daß der alte Freund ihn nicht einmal erkannte. Mit bösem Lachen hob Orales die Klinge. Es schien ihm geradezu Freude zu bereiten, auf einen körperlichen Gegner zu treffen. Mit wütenden Hieben drang er auf Gerrys ein. Der Falla hatte dieser fast übermenschlichen Kraft nichts entgegenzusetzen. Zwar parierte er die Hiebe, doch verlor er rasch an Boden. Unaufhaltsam trieb ihn Orales dem Bug zu. Beim Mast stolperte Gerrys über eine Seilrolle. Er stürzte. Mit lautem, triumpfierenden Geheul sprang Orales vor, den Degen zum tödlichen Stich erhoben. Im letzten Moment rollte sich Gerrys beiseite; seine Klinge blockte den Hieb ab. Orales trat ihm mit brutaler Gewalt in die Seite. Der Falla krümmte sich vor Schmerz. Einen Augenblick lang vermochte er nicht, sich auf seinen Gegner zu konzentrieren. Orales' Degen durchbohrte seine rechte Schulter. Er hob die Waffe erneut zum tödlichen Stich.
P
hilmor kauerte angstvoll im Heck, klammerte sich an die Reling und ließ Gerrys nicht aus den Augen. Weshalb kämpfte dieser Mann jetzt gegen Orales? Was wollte er erreichen? Er war es doch, der ihn in die Hand seines Peinigers zwang! Philmor verstand nicht. Rhagan hatte sich inzwischen an Bord geschwungen. Er sah das brennende Schiff. Kurze Zeit lähmte ihn die Sorge um Shuny. Doch nun konnte er der Geliebten nicht helfen und mußte auf Attors Handeln hoffen. Er suchte Philmor. Der Junge schrie erschrocken auf, als sich der fremde Mann über ihn beugte. "Ruhig, Junge," brummte der Hüne gutmütig, "wir sind gekommen, um dir zu helfen. Du mußt weg hier." Behutsam löste er die verkrampften Finger des Halbwüchsigen vom Geländer. Philmor schüttelte wie irr den Kopf. "Der da," schluchzte er und deutete dabei wie angewidert auf Gerrys, "der will mir nicht helfen." Rhagan hob den schmächtigen Knaben mühelos hoch. "Schwimm' zu den Booten dort," riet er, ehe er Philmor in weitem Bogen über Bord schleuderte. Prustend kam der Junge an die Oberfläche. Er sah den Katamaran, auf dem sich auch Ilkonys befand. Obwohl dieses Boot sich in relativer Nähe befand, schwamm er in
eine andere Richtung. Dem Prinzen wollte er gewiß nicht begegnen; dessen Vorwürfe ertrug er nun einfach nicht. Es gab genug Boote hier. Ihn würde ein anderes aufnehmen.
R
hagan wollte schon weisungsgemäß dem Befehl seines Herrn folgen, als er die tödliche Gefahr erkannte, in der Gerrys schwebte. In seiner Nähe stand ein leeres Wasserfaß. Der Hüne wuchtete es hoch über sein Haupt, schleuderte es machtvoll von sich. "Spring!" schrie Gerrys da. Orales wirbelte herum. Diesen Mann kannte er. Er erinnerte sich an Rhagan, der ihm im Tempel die Hülle einer Priesterin raubte, ihn bekämpfte und seine linke Hand verstümmelte. Das war ein Feind! Dicht neben ihm zerschellte das Faß, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Rhagan hechtete nach backbord. Gerrys' Warnung kam zu spät. Ein Lichtpunkt schoß aus Orales' Kristall. Gerrys konzentrierte sich auf Rhagan. Es gelang ihm, den Geist des Hünen noch abzuschirmen. Dann aber griff die Wesenheit des Kristalles nach dem Tempelhelfer, umschloß ihn als willkommene Beute. Reglos stand Rhagan. Dann kippte sein schwerer Körper vornüber. Hart schlug er auf den Planken auf; blieb gleich einem Leichnam liegen.
G
errys lag wie gelähmt. Der Schmerz der Wunde erschien harmlos im Vergleich zu der tödlichen Kälte, die seinen Rhagan abschirmenden Geist streifte. Sein Kristall verströmte dunkelrotes Licht, hüllte ihn beschützend ein. Raaki vermochte es wohl, seinen Falla vor rein geistiger Kraft zu retten, doch gegen eine blanke Klinge wirkte der dunkle Gott nicht. Orales aber stach nicht zu. Er warf seinen Degen achtlos beiseite. Seine breiten Hände umschlossen Gerrys' Hals. Er drückte unbarmherzig zu, kniete dabei auf dem Unterleib seines Opfers. Gerrys rang verzweifelt nach Atem. Seine Augen wurden groß, schienen aus den Höhlen treten zu wollen. Orales beugte sich vor. Er wollte den Tod kommen sehen; diesen Tod, den er selbst, nicht das Wesen in ihm, rief. Sein Lebender Kristall baumelte vor seiner Brust; er achtete nicht darauf. Gerrys hielt die Handgelenke seines Gegners umklammert, nicht mehr fähig zu logischer Überlegung. Doch in ihm wirkte noch immer die dunkle Kraft. Sie hüllte ihn nun ganz ein, vermittelte ihm, ungeachtet des körperlichen Schmerzes, ein unsagbares Gefühl grenzenloser Geborgenheit. Die Angst vor dem Tod entschwand. Gerrys drohten die Sinne zu schwinden. Da wurde sein Blick wieder klar. Er sah den Lebenden Kristall Orales', sah ihn ganz nahe. Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven. Irgendwie gelang es ihm, mit dem Oberkörper zu rucken, sich kurz etwas aufzubäumen. Die beiden Kristalle berührten sich, kurz nur und nicht sehr intensiv. Doch die Wirkung war überraschend. Orales brüllte auf vor Schmerz, sprang dabei einen weiten Satz zurück. Der Stein schien seinen nackten Oberkörper zu versengen, denn er umklammerte das Lederband und hielt den Kristall von seiner
Haut entfernt. Gerrys versuchte, sich aufzurichten, doch seine Beine knickten einfach weg. Auch er wurde von einer machtvollen Schmerzwelle erfaßt, geschüttelt und überwältigt. Er stöhnte auf. Schwärze umgab ihn, wollte ihm die Sinne rauben. Er kämpfte dagegen an, mühsam nur, kaum mit Aussicht auf Gewinn. Doch die ihm vertraute dunkle Kraft wich nicht von ihm, hielt ihn weiter umschlungen und bewahrte ihn vor Selbstaufgabe und Bewußtlosigkeit. Orales brüllte noch immer wie ein verwundetes Tier. Er riß sein Messer vom Gürtel, schleuderte es machtvoll und verfehlte nur knapp sein Ziel. Diese Gefahr brachte Gerrys immerhin zur Besinnung. Torkelnd erhob er sich, noch immer den Degen umklammernd. "Komm' schon her," keuchte er. "Hast du etwa Angst bekommen?" Die Wunde seiner Schulter verbot ihm den Waffengang, doch er nahm den Degen in die Linke und wartete. Er verhöhnte Orales, forderte ihn heraus. Es blieb ihm keine Wahl, denn er mußte verhindern, daß der Besessene sich wider den wehrlosen Rhagan wandte. Orales tobte vor Zorn und Haß. Er hob ein dickes Tau auf, schwang es über seinem Haupt und schleuderte dessen knotiges Ende gegen Gerrys. Der Hieb riß dem Falla das Wams auf. Ein blutiger Striemen zeichnete sich auf seiner Brust. Orales setzte zum nächsten Hieb an. Da sprang Gerrys hinter den Mast. Das Tau schlang sich um das Holz und ehe Orales es wieder an sich ziehen konnte, war Gerrys schon bei ihm. Er stieß zu. Seine Waffe bohrte sich in Orales' Seite; Blut schoß aus der Wunde. Gerrys wich zurück. Er wollte, er durfte Orales nicht töten, denn es bedeutete keinen Gewinn, wenn die Wesenheit in ihm ihrer Form beraubt wurde. Orales' Hand preßte sich auf die Wunde und der Blutfluß ließ nach, verebbte. Er lachte höhnisch. Nun hinderte ihn nichts mehr, seinen Degen wieder aufzunehmen und erneut den ehemaligen Freund mit der Waffe zu bedrohen. Sie fochten miteinander, doch Gerrys, ungeübt in der Handhabung der Waffe mit der linken Hand, besaß nun weniger Chancen als je zuvor. Er wehrte Orales noch ab, doch es gab für ihn keine Möglichkeit mehr, auf einen Sieg auch nur zu hoffen.
I
n diesem Augenblick blähte eine starke Windböe das Segel auf. Orales, der eben zu einem tödlichen Hieb ansetzte, hielt inne. Wie witternd hob er den Kopf. Dann stieß er ein triumpfierendes Geheul aus. Sein Schiff gewann an Fahrt; die Sperre der Priesterschaft bestand nicht mehr. Niemand zwang ihn weiter, hier vor der Küste Amarras auszuharren. Das Meer stand ihm offen! Gerrys nützte die Gunst der Stunde. Unter größter Mühe gelang es ihm, den schweren Körper des Tempelhelfers von Bord zu rollen. "Du bleibst!" schrie Orales und sprang ihn an. Er riß Gerrys zu Boden. Wütend rangen sie miteinander und wieder vermochte der Falla nichts gegen die Kraft des anderen. Ein fairer Kampf bedeutete seinen sicheren Tod. Da stieß er Orales zwei Finger gegen die Augen. Der Schmerz lenkte den Gegner ab. Gerrys kam auf die Füße. Das alles ging sehr schnell. Er hielt nun seinen
Lebenden Kristall umfaßt, dessen dunkelrotes Licht ein bedrohendes Ausmaß gewann. Orales rieb sich die schmerzenden Augen. Gequält warf ihm Gerrys einen letzten Blick zu, ehe er ins Wasser sprang. Er hatte diesen Mann geliebt, liebte ihn noch. Es schmerzte ihn, Orales als Amarras Feind zu finden und ihn verloren zu wissen. Das Salzwasser brannte in seinen Wunden. Mit letzter Kraft hielt Gerrys Rhagan über Wasser. Er sah dem sich entfernenden Einmaster des Feindes nach. Er durfte eigentlich gar nicht hier sein. Hatte ihm nicht der Than verboten, mit Orales zu kämpfen? Der Freund wußte, daß er unterliegen würde und er irrte sich nicht. Wie sollte er ihm den Ungehorsam erklären, wie sein Verzeihen erringen? Beschämung, Schmerz und Erschöpfung forderten ihren Tribut. Gerrys verlor das Bewußtsein, ergab sich dem wogenden Meer und kämpfte nicht weiter gegen das Gefühl der Ohnmacht an. Ende Kapitel 12
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 13
E
ine Frau zog Philmor auf ihr kleines Boot. Die Priesterin stellte ihm keine Fragen, gab ihm aber auch keine Erklärungen. Ihre Stimme klang jedoch sehr freundlich, als sie ihm riet, sich ruhig zu verhalten und keine Furcht zu hegen. "Was immer du erlitten hast, Junge, es ist vorüber. Ich bringe dich bald auf ein größeres Schiff und dort wirst du alles zu deiner Bequemlichkeit finden." Philmor kauerte sich schweigsam nieder, machte sich so klein wie möglich und ergab sich seinem Schicksal. Was immer kam, es konnte nicht schlimmer als das Vergangene sein. Er fühlte sich sehr verloren, fern der Heimat und so nahe der wundervollen Insel, die zu betreten er kein Recht besaß. Nach Amarra durften nur Priester. Ihn würde man sicherlich zurück nach Nodher bringen. Aber das wollte er nicht. Er fürchtete den Vater und er fühlte sich auch Ilkonys unterlegen. Doch er dachte nicht lange an die Zukunft. Er sah Gerrys mit Orales ringen und die Erinnerung an das vergangene Leid überwältigte ihn. Seine Augen blieben tränenleer, doch seine Sinne litten unsagbare Qual. Die Priesterin sah ihn aus wissenden Augen an. Sie verstand, was in ihm vorging und darum nahm sie Rücksicht und lenkte ihren Katamaran nicht zu jenem, auf dem Ilkonys, Attor und Shuny weilten.
Ein weißes Schiff tauchte auf. Ruhig lag es auf den Wellen. Es besaß kaum Tiefgang, zeigte sich von flacher, windschnittiger Bauart. Philmor riß die Augen auf. Dieser Eineinhalbmaster besaß nicht die üblichen Luggersegel, die es bei den kleineren Schiffen und auch den Katamaranen gab, sondern war mit Gaffel- und Stagsegel ausgestattet und wurde dadurch um einiges besser manöverierfähig. Das Schiff besaß keine Laderäume; zwischen den Masten aber gab es einen Kabinenaufbau, in dem drei oder vier Räume Platz finden mochten. Holz und Segel zeigten sich in weißer Farbe. Philmor schluckte. "Sorge nicht," bat die Priesterin, "das Schiff unseres Gebieters wird dich aufnehmen." Er schüttelte den Kopf, schwieg aber. Es leuchtete ihm ja durchaus ein, daß er nicht auf dem Katamaran bleiben konnte. Was immer man über ihn entschied, er mußte gehorchen. Sein Wille zählte so wenig wie seine Furcht. Er sah Ilkonys an Bord des Schiffes klettern, sah, wie Attor ihm folgte und wie Shunys Leib an Bord gebracht wurde. Er wollte dort nicht hin. Gewiß würde ihn Nodhers Erbe auch vor dem Than verklagen. Philmor wußte wenig von diesem Mann. Er stellte ihn sich als Greis vor, dessen weißes Haar im Wind wehte und dessen graue Augen jeden Menschen durchleuchten konnten. Er fürchtete ihn, denn seine Macht kannte keine Beschränkung. Doch zunächst blieb er unbeachtet. Orales floh aus dem Kreis der Priesterschaft. Einige Katamarane eilten zu Gerrys, zogen ihn und Rhagan aus dem Wasser, brachten die beiden zu dem weißen Schiff. Später erst segelte die Priesterin an dessen Seite. Philmor mußte, ob er wollte oder nicht, an Bord. Hilfreiche Hände ergriffen ihn. Jemand reichte ihm einen Becher mit heißem Tee. Philmor trank in kleinen Schlucken, stand dabei zitternd und hilflos auf den Planken. Ilkonys beobachtete ihn mit abfälligem Grinsen. Der Knabe trug nicht mehr seine nasse Kleidung, sondern hatte eine weiche Decke um seinen Leib geschlungen. Er trat näher. Unruhig wich Philmor seinem Blick aus. "Du mußt vor mir knien," verlangte Ilkonys hochnäsig. Da stellte sich ein etwa gleichaltriger Knabe neben den Halbwüchsigen. Er legte Philmor mit beruhigender Geste die Hand auf den Unterarm. Seine Stimme klang kindlich hell: "Dieses Schiff gehört Amarra und auf Amarra knien wir nur vor einem Mann," erklärte er. Philmor regte sich nicht. Das Kind an seiner Seite flößte ihm Kraft ein, half ihm durch diese kleine Geste des Beistandes. Ilkonys starrte den Jungen an. Sie waren etwa gleich groß. Es mußte ein Priesterschüler sein, denn der Knabe trug die auf Amarra übliche braune Tunika, die kaum seine Knie bedeckte. Das dichte, wellige, goldblonde Haar hielt er mit einem Wollfaden gebunden. Seine Züge wirkten sehr kindlich, das Gesicht rund, die Lippen voll, die Wimpern lang und seidig. Die blauen Augen hielten Ilkonys' bösem Blick gleichmütig stand. "Ich bin Nodhers Erbe," schimpfte der Prinz nun, "mein Name ist Ilkonys und Philmor ist mein Diener."
Der Knabe lächelte ihn strahlend an. "Auf Amarra dienen wir alle nur einem," beharrte er jedoch auf seiner Meinung. "Hier bist sogar du nur ein Diener, kein Herr." Ilkonys ballte die kleinen Hände zu Fäusten. "Wie heißt du? Sag' mir deinen Namen, damit ich dich vor dem Than verklagen kann." Der Junge lächelte noch immer, doch tiefer nun und weniger herzlich. "Ich bin Seymas," erwiderte der Knabe freundlich, "ein Tempelkind wie du." "Mein Vater ist Nodhers König," rief Ilkonys zornig. "Ist das dein Verdienst? Er erwarb sich das Recht zur Herrschaft, du hingegen hast noch nichts geleistet." Seymas ergriff Philmors Hand. "Komm' mit mir. Du mußt die nassen Kleider ablegen und willst sicherlich ein wenig schlafen." Er beachtete Ilkonys nicht weiter, sondern führte Philmor auf die andere Schiffseite und entzog ihn so den Blicken des Prinzen. Philmor empfand für diesen Knaben eine spontane Zuneigung und fügte sich ganz dessen Willen. Das blonde Kind durchbrach mühelos seine Mauer der Einsamkeit. Es dauerte nicht lange, bis Philmor endlich haltlos weinen konnte. In verzweifeltem Schluchzen wurde sein Körper auf den weichen Decken, die ihm Seymas als Lager anbot, geschüttelt. Der Knabe blieb bei ihm. Philmor schämte sich seiner Schwäche nun nicht. Zwar zuckte er wie unter einem Hieb zusammen, als das Kind zaghaft tröstend über seine Wange fuhr, doch dann duldete er jede Berührung und weinte sich an der Schulter Seymas' aus. Viel später befürchtete er stockend: "Ilkonys wird dich verklagen. Hast du keine Angst?" "Aber nein," erwiderte Seymas gelassen, "wovor denn? Der Than ist ein gerechter und gütiger Mann, der den Zorn eines Kindes nicht unbedacht stillt." "Kennst du ihn gut?" erkundigte sich Philmor, den Knaben aus tränennassen Augen anschauend. Seymas zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Wer kennt ihn schon?" meinte er. "Denke nicht darüber nach, Philmor. Glaub' mir einfach, daß er weder dir noch mir schaden wird." Philmor starrte vor sich hin. "Ich habe Hunger," gestand er beschämt. Seymas lachte leise. Er sprang auf, lief fort und brachte ihm gleich darauf ein bescheidenes, doch schmackhaftes Mahl. Wenig später schlief Philmor ein. Seymas blieb noch eine Weile bei ihm. Als er sah, daß keine bösen Träume den Jungen quälten, entfernte er sich leise.
A
ttor wurde in eine Kabine des Schiffes gebracht. Er sah Shunys Leib auf ein weiches Lager gebettet. Ihre Kleidung war versengt, auch ein Teil ihres Haares, doch ansonsten geschah ihr nichts. Ein Priester löste behutsam die verbrannten Stoffteile von Attors Haut. Die Brandwunden schmerzten sehr. Er stöhnte leise, als der Mann eine kühlende, heilende Salbe auf die Wunden strich. Gehorsam trank er einen bitteren Heilsaft. Er fühlte sich deplaciert und keineswegs wohl. "Wo ist Rhagan?" fragte er bang. Der Priester sah auf. "Raakis Falla und sein Tempelhelfer sind gerettet," erwiderte er knapp, Attor so vorhaltend, daß seine Sorge sich nicht auch auf den Bruder bezog. Vier Männer trugen nun Rhagans Leib herein, betteten ihn neben Shuny. Attor schrie leise auf. Ein Blick genügte, um ihm zu enthüllen, was dem Gefährten widerfuhr. Rhagan befand sich im selben Zustand wie Shuny! Er warf sich über ihn, rief seinen Namen. Der Priester, der seine Wunden behandelte, legte ihm die Hand auf die Schulter. "Er hört dich nicht. Sein Geist ist gefangen in einer fremden Kraft. Es dringt nichts zu ihm vor." Attor sah ihn klagend an. "Warum hat Gerrys das nicht verhindert?" Die Züge des Priesters verschlossen sich. "Diese fremde Kraft hält mehr als zweihundert Menschen gefangen. Du klagst um diesen einen und erübrigst keinen Gedanken für jene, die schuldlos gefangen sind. Raakis Falla hat drei Mal sein Leben gewagt, um gegen diese Kraft zu kämpfen. Was hast du getan?" Er wandte sich um und verließ den kleinen Raum. Attor blieb grübelnd zurück.
A
ls Gerrys zu sich kam, fand er sich in einer der Kabinen auf ein bequemes Lager gebettet. Ihn quälten keine Schmerzen, er fühlte sich ausgeruht wie nach langem Schlaf. Seine Hand tastete nach der Schulter. Er fand die Wunde nicht. Auch der Striemen über seiner Brust fehlte. Gerrys schloß die Augen. Er wußte, was dies bedeutete. Der mächtigste Mann der Reiche war nicht nur ein starker Priester, sondern auch ein ausgezeichneter Arzt. Seine geistige Heilkraft galt als unübertrefflich. Unter seinen Händen schlossen sich kleinere Wunden sehr schnell. Gerrys richtete sich auf und sah sich um. Unweit seines Lagers saß eine Priesterin in einem tiefen Sessel. Sie lächelte ihm zu. Ihre Hände ruhten über ihrem gespannten Leib. Die Frau mußte kurz vor der Niederkunft stehen. Gerrys erinnerte sich daran, diese Priesterin bei seinem letzten Besuch auf Amarra gesehen zu haben. Sie lebte im
inneren Tempelbezirk. "Ruht euch aus, Falla," mahnte sie nun, "ihr seid in Sicherheit. Mein Name ist Masira. Sagt es mir, wenn ihr irgendwelche Wünsche habt." Er legte sich zurück. "Ich habe keine Wünsche, aber viele Fragen," erwiderte er offen. "Lebt Rhagan?" "Euer Tempelhelfer ist in der Gewalt des Kristallwesens, sein Leib jedoch unversehrt," erzählte sie sofort, "euer Bruder und Nodhers Erbe sind frei und gesund. Ihr befindet euch auf dem Schiff des Than, Falla. Er gab Orales frei, um euch zu retten und folgt nun seinem Boot. Die Nebel senken sich; wir werden ihn erst morgen einholen." Gerrys schloß die Augen. Es gab noch eine Frage, doch er zögerte, diese der fremden Priesterin zu stellen. Dann überwand er sich. "Zürnt er mir sehr?" Sie lächelte sanft. "Nymardos sorgte sich um euch und als er eure Wunden verschloß, geschah dies aus Liebe und nicht im Zorn. Seid ihr euch seiner Zuneigung so wenig sicher, daß ihr darüber sorgen könnt?" "Er verbot mir den Kampf mit Orales," murmelte Gerrys. "Sagte er euch nicht, daß ihr unterliegen würdet? Er hat euren Geist berührt und weiß, was geschah. Ihr habt erst Ilkonys und dann Philmor gerettet. Die Wesenheit des Kristalles habt ihr nicht unbedacht bekämpft." "Aber es ist mein Versagen, daß Orales nun ungehindert auf dem Meer segelt," klagte sich Gerrys an. Masira erhob sich schwerfällig, ließ sich am Rand seines Lagers nieder. "Nymardos würde mehr für euch wagen," versprach sie. Erst jetzt fiel es Gerrys auf, daß sie den Than beim Namen nannte. Aufmerksam sah er sie an. Es gab nur wenige, die dies wagten. Der Than erlaubte dies seinem Pala Caryll und ihm, Raakis Falla. Alle anderen nannten ihn ihren Herrn und Gebieter. Masira aber sprach seinen Namen aus und sie tat es mit weicher Stimme voll Zuneigung. Gerrys fühlte sich dieser Frau nun sehr verbunden. Wenn sie dem Freund nahe stand, so wollte er sie um dieser Nähe willen lieben. Nymardos' Macht zwang ihn in eine seelische Einsamkeit, die er nicht durchbrechen konnte. Masira aber liebte ihn, ungeachtet seiner grenzenlosen Macht und ohne Scheu vor der Kraft, die von ihm ausging. Gerrys setzte sich auf. Er nahm die Hand der Priesterin, zog sie an seine Lippen und küßte sie. Masira ließ es geschehen. Als er dann seine Hand auf ihren gespannten Leib legte, lächelte sie nur. "Wessen Kind ist es?" wollte Gerrys wissen. Erstaunt hob sie die Brauen.
"Wer fragt danach?" "Verzeiht," bat er rasch, "ich war nicht sicher, ob es ein Tempelkind ist." Sie lachte leise. Ihre Augen strahlten vor Glück. "Es ist ein Kind der Liebe," wehrte sie ab, "Nymardos sagt, daß es ein Mädchen ist." Gerrys fühlte die Bewegung des ungeborenen Kindes. "Sprecht nicht darüber," bat ihn Masira. "Ich will nicht, daß jemand den Namen des Vaters weiß. Man würde unsere Tochter in sinnlosen Ansprüchen überfordern, wüßte man, daß Nymardos sie zeugte." Gerrys verstand dies durchaus. Natürlich würde die gesamte Priesterschaft aller Reiche von einem Kind des Than besondere Leistungen und Fähigkeiten erwarten und ihm womöglich eine Verehrung entgegen bringen, die ihm nicht zustand. Dieses Mädchen war kein Tempelkind, kam nicht zwangsläufig als Priesterin, sondern gerufen durch die Kraft der Liebe, die zwei Menschen verband. "Aber ihr müßt den Namen des Vaters nach der Geburt nennen," meinte er, "die Sitte erfordert es." "Es ist seine Entscheidung," beharrte sie jedoch, "es geschieht alles nach seinem Willen. Er mag das Kind anerkennen oder nicht, es ist nicht wichtig für mich." Es klopfte an der Tür. Eine junge Priesterin trat ein. "Du mußt dich schonen, Masira," mahnte sie vorwurfsvoll, "du solltest ruhen." Masira warf Gerrys einen warnenden Blick zu. Der Falla verstand sofort, daß niemand die Nähe zwischen der Priesterin und dem Than ahnte. Sie hielten ihre Liebe verborgen und er dachte nicht einmal daran, sie zu entdecken.
K
aum allein, erhob er sich. Zu seiner Verwunderung fand er ein schwarzes Gewand seines Amtes vor. Diese Tunika war neu und ungetragen. Hatte der Freund mit seinem Kommen gerechnet? Wußte er, daß sein Verbot mißachtet wurde? Gerrys fühlte sich trotz Masiras beruhigender Worte unbehaglich. Er kleidete sich an, bürstete sein Haar und verließ dann die Kabine. Draußen sanken die Nebel, hüllten das Meer in einen milchigen Schleier. Das weiße Schiff segelte mit unverminderter Kraft weiter. Im Bug stand der Than. Gerrys hätte den Freund auch ohne dessen prachtvolle, weiße Gewandung erkannt. Der Schnitt seiner Tunika ähnelte jener von Raakis Falla, doch trug Nymardos einen bodenlangen Umhang darüber, ebenfalls weiß und bestickt mit silbern schimmernden Fäden. Das braune Haar wellte sich offen bis über die Schultern hinab. Er wandte Gerrys den Rücken zu. Sein Blick ruhte auf dem Meer. An seiner Seite knieten drei Priester. Sie sprachen leise mit ihm. Gerrys wartete ab. Niemand kam ungerufen zum Than, keiner trat unaufgefordert zu ihm. Doch die Tage der Scheu zwischen ihnen lagen weit zurück. Gerrys empfand die
Macht des Freundes nicht als bedrückend, aber er wollte nicht unbedacht stören. Mit einer fast flüchtigen Handbewegung entließ der Than die Priester. Er wandte sich um, sah Gerrys an. Ein Lächeln umspielte seine weich geschwungenen Lippen, doch seine Augen blickten ernst. Gerrys ergriff seine Hände. Es war üblich, den Than am Boden liegend zu grüßen; eine Geste, die zwischen ihnen schon lange nicht mehr galt. Gerrys wollte niederknien, doch der Than hielt ihn fest. "Ich weiß, daß du ein schlechtes Gewissen hast," sagte er leise, "es ist unnötig, dies den anderen zu demonstrieren." Ihre Blicke trafen sich. "Immerhin habe ich dir den Gehorsam verweigert." Nymardos' Lächeln erlosch. Seine Stimme klang dunkel: "Ich hatte dir erlaubt, Rhagan zu folgen und ich wußte stets, was du tust, Freund. Zweifelst du an meiner Fähigkeit, dich, wo nötig, am Handeln zu hindern? Um Nodhers Erben zu retten, mußtest du kämpfen. Und als du Philmor in Orales' Hand zwangst, hast du mir einen Dienst erwiesen." "Aber nicht dem Jungen," murmelte Gerrys. Nymardos hielt seine Hände fester. "Du hast seinem Leid größere Dauer aufgezwungen, aber nicht größere Tiefe." "Ich mußte ihn von Orales trennen," erwiderte Gerrys mit beschwörender Stimme, "ich durfte seinen eventuellen Tod nicht hinnehmen. Aber ich bedauere sehr, daß Orales dir dadurch entkam. War es klug, die geistige Sperre aufzuheben?" "Willst du mich tadeln?" erkundigte sich Nymardos belustigt. "Dein Leben ist dieses kleine Opfer durchaus wert. Morgen stelle ich Orales und vernichte ihn." Gerrys tat an seine Seite, starrte ins Meer. Er dachte daran, wie sehr er Orales liebte; nicht den Besessenen, sondern den Mann, der er vordem war. Nymardos sprach von seiner Vernichtung so gleichgültig, daß es ihn erschreckte. "Was wirst du tun?" "Ich werde Orales die gesperrten Weihen wieder öffnen," erwiderte der Than gelassen, "dadurch erstarkt sein Geist. Die Bewußtheit des Steines nimmt jeden abgeschirmten Geist gefangen, da sie ihn nicht bezwingen kann. Den unausgebildeten Geist verbrennt sie. Auf Orales treffen beide Möglichkeiten nicht zu, da er trotz allem Priester ist. Öffne ich ihm den Zugang zu den Weihen und damit zu allen Ebenen des Geistes, wird der Kristall ihn verbrennen und zugleich sich selbst dabei vernichten. Es müßte mir gelingen, in diesem Moment einzugreifen und die gefangenen Priester zu befreien. Das Risiko ist gering." Gerrys nickte nachdenklich. Ihm leuchtete diese Erklärung durchaus ein, doch ihre Konsequenz erschütterte ihn. Orales fand dabei nicht nur den körperlichen Tod, sondern wurde auch als geistiges Wesen vernichtet. "Wie konnte sich Orales dem Stein ergeben?" flüsterte er. "Er muß doch die
Bösartigkeit des Kristalles erkannt haben! Ob Priester oder nicht, ein Mensch spürt Gefahr." Nymardos legte die Hand auf die des Freundes. "Er erkannte dies," erzählte er, "und er wollte den Stein zermalmen. Doch zu diesem Zeitpunkt befand sich bereits die Priesterschaft vom Tempel der Weisheit in der Gewalt dieser Bewußtheit und die Zerstörung des Steines hätte auch sie vernichtet. Darum befahl ich Orales, sich dem Kristall zu öffnen und rief ihn nach Amarra." Gerrys wich einen Schritt beiseite. Er starrte den Freund ungläubig an. "Du hast Orales so geopfert?" stammelte er. Nymardos ignorierte sein Entsetzen ebenso wie den Vorwurf, der darin lag. Er würdigte Gerrys nicht einmal einer Antwort und verwies den Falla so stumm in seine Schranken. "Es gab wohl keinen anderen Weg," lenkte Gerrys da ein, "und vermutlich wußte Orales, daß er zum Opfer bestimmt wurde. Du kannst nichts für ihn tun?" "Du würdest alles für ihn wagen, nicht wahr?" erwiderte Nymardos nachdenklich. "Du hast sogar für Philmor dein Leben riskiert. Ich werde für Orales tun, was ich kann - um deinetwillen. Genügt dir das?" Gerrys zögerte. "Ich liebe Orales nicht mehr als dich," erwiderte er dann, "aber ich liebe ihn." Unvermittelt wechselte Nymardos das Thema. "Hast du mit Masira gesprochen?" Gerrys sah auf. Er umarmte den Freund, ungeachtet der Zeugen, die abseits standen. Sie wurden beide genau beobachtet, auch wenn niemand ihre Worte verstand. "Ich freue mich für dich über dieses Glück," sagte Gerrys fest, "ich hatte keine Ahnung davon." Nymardos löste sich von ihm. Er lächelte. "Niemand weiß es," gab er zu, "nicht einmal mein Pala Caryll ist informiert. Gerrys, ich brauche einen Vater für meine Tochter." Er fügte keine Bitte an, stellte keine Forderung und hegte keine Erwartung. Es war genug, die Tatsachen zu nennen. "Wenn Masira einverstanden ist, hast du ihn," antwortete Gerrys gelassen, "wer anderes als ich könnte es sein? Ich bin oft genug auf Amarra, um in Frage zu kommen und die Liebe, die uns verbindet, rechtfertigt deine Fürsorge für Masira und das Kind. Wie wirst du unsere Tochter nennen?" Nymardos lachte leise, als Gerrys das Mädchen als ihrer beider Kind bezeichnete. Er wirkte erleichtert. "Ihr Name ist Cyprina," antwortete er, "sie kommt in wenigen Tagen ins Leben.
Nun komm', ich möchte, daß du noch jemanden kennenlernst." Er führte Gerrys zum Mittelschiff. Die Priesterschaft verneigte sich tief, wo immer sie an ihnen vorbei kamen. Die Huldigung galt nicht allein dem Than, sondern auch dem Mann, den er in aller Offenheit als seinen vertrautesten Freund bezeichnete. Gerrys wußte durchaus, daß sein Handeln jede Strafe herausforderte. Daß Nymardos ihm so leichthin seinen Ungehorsam verzieh, erstaunte ihn. Im allgemeinen ging der Than keine Kompromisse ein. Doch jedes weitere Wort darüber wäre müßig gewesen.
I
lkonys sah den Freund und wollte zu ihm. Dann erkannte er den Than an dessen Seite und verhielt den Schritt. Scheu beobachtete er den mächtigsten Mann der Reiche, vor dem sich sogar der Vater neigen mußte. Er hatte keine Lust, sich vor ihm niederzuwerfen und zog es vor, ungesehen zu bleiben. Seymas trat zu den beiden Männern, kniete nieder und grüßte sie artig, doch ohne jede Scheu. Ilkonys empfand ein nagendes Gefühl der Eifersucht, als Gerrys so freundlich mit dem Priesterschüler sprach. Nymardos setzte sich auf eine auf den Planken verankerte Bank, winkte Gerrys neben sich und forderte den Jungen auf, ihnen etwas Wein zu holen. Seymas beeilte sich, dienstbar zu sein. "Wer leitet ihn?" erkundigte sich Gerrys, der mit Erstaunen sah, welche Zuneigung Nymardos für den Jungen empfand. "Seymas steht noch nicht unter Leitung," erwiderte der Freund, "obwohl er durchaus schon zu einer priesterlichen Ausbildung befähigt ist. Aber mir erscheint es wichtiger, wenn ein Knabe von neun Jahren noch nicht zu sehr in Pflicht genommen wird." "Ein Tempelkind?" Nymardos quittierte diese Frage mit einem höchst erstaunten Blick, dann lachte er leise. Seymas kam wieder und enthob ihn so einer Antwort. Der Junge reichte ihnen kniend die Achatpokale, in denen der schwere, süße Wein Amarras seinen Duft verströmte. Gerrys trank mit Genuß. Nodhers Wein blieb herb und besaß weniger Geschmack als dieser. Seymas ließ ihn nicht aus den Augen. "Was möchtest du sagen?" munterte ihn Gerrys auf. "Herr," antwortete das Kind sofort, "Philmor fürchtet Ilkonys. Ich möchte euch bitten, ihn vor dem Zorn des Prinzen zu schützen. Er ist sehr verletzt." "Gab es Streit?" Seymas berichtete ausführlich und wahrheitsgemäß und er ließ keinen Zweifel daran, wie wenig ihm Ilkonys' Verhalten gefiel. Er schien Gerrys rückhaltlos zu vertrauen. "Ein Priester ist bei Philmor und verhindert, daß er jetzt belästigt wird," versprach Nymardos.
Seymas warf ihm einen dankbaren Blick zu. Gerrys wunderte sich darüber, denn dieser Knabe empfand keinerlei Scheu vor dem Than. "Solange wir auf dem Schiff sind," entschied Nymardos nun, "wirst du Raakis Falla in allem gehorsam dienen, Seymas. Sorge für seine Bequemlichkeit und erfülle ihm jeden Wunsch." Das Kind nickte ernsthaft. "Ich weiß, daß ihr ihn lieb habt, Gebieter," antwortete Seymas leise. "Ich hoffe, er ist zufrieden mit mir." Nymardos erhob sich. Er nannte Gerrys jene Kabine, in der er erwachte, als Quartier. Dann ging er wieder zum Bug des Schiffes. Die Nebel hüllten nun alles in einen undurchdringlichen Schleier ein. Gerrys ging in den ihm zugewiesenen Raum, erhellte ihn mit seinem Kristall. Seymas brachte ihm ein Mahl und als der Falla ihn einlud, mit ihm zu speisen, zierte sich der Junge nicht. Er setzte sich zu Gerrys, aß mit ihm und erzählte auf seinen Wunsch hin von Amarra. Später brachte er eine Schüssel mit Waschwasser. Während sich Gerrys auf die Nacht vorbereitete, betrachtete der Knabe fast ehrfürchtig den Lebenden Kristall des Falla, dessen warmer Schein keine Spur des unheimlichen roten Lichtes verriet. "Woran denkst du?" erkundigte sich Gerrys. Seymas löste den Blick nicht von dem Stein. "Sie sagen, daß ein solcher Kristall Amarras Feind sei," erwiderte er langsam, "und daß seine Kraft die Priester bedroht. Ich verstehe es nicht." Gerrys trat zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und erklärte: "Vieles ist schwer zu verstehen. In den Lebenden Kristallen wirkt Raakis Kraft, mein Junge. Orales' Stein wurde durch Magie erweckt, durch Eigennutz und Machtgier. Kraft ist immer nur zielgerichtet wirksam. Was in negativem Sinnen erwacht, muß negativ wirken." "Ist es dennoch Raakis Kraft, Herr?" "Ich habe nichts dagegen, wenn du mich beim Namen nennst, Junge. Ja, es ist Raakis Kraft; doch sie wirkt nicht im Willen des dunklen Gottes." Seymas wollte etwas erwidern, doch da öffnete sich die Tür und Ilkonys trat ein. "Schick' ihn weg, Gerrys," bat er, "ich kann nicht schlafen und will bei dir sein." Seymas verkrampfte sich ein wenig. Gerrys spürte es mit Erstaunen. So leicht, fast unmerklich war zwischen ihm und dem Jungen eine vertraute Nähe entstanden! Er mochte Seymas und er wußte, daß auch der Junge sich zu ihm hingezogen fühlte. Es bedurfte keiner Phantasie, um in Seymas einen Schützling des Than zu erkennen. Doch nicht allein dieses Wissen zog Gerrys zu dem Knaben hin. Es war auch die Art seines Denkens und die Weise, wie er versuchte, die Welt zu verstehen, was dem Falla gefiel. "Der Than befahl Seymas an meine Seite," sagte er darum, "ich habe keinen Anlaß,
ihn aus meinem Dienst zu entlassen." Ilkonys bekam große Augen. "Magst du mich nicht mehr?" "Darum geht es nicht, Ilkonys," wehrte Gerrys ab, "und das weißt du auch. Du bist nicht hier, weil du meine Gesellschaft brauchst, sondern weil du eifersüchtig bist und mich von Seymas trennen willst." Tränen des Zorns schossen dem Knaben in die Augen. "Kannst du den denn leiden?" Gerrys hielt Seymas fester. "Ja, Ilkonys," erwiderte er ernst. "Dann bist du nicht mehr mein Freund!" Gerrys trat rasch zu ihm und ergriff ihn bei den Oberarmen. "Ein Mann kann mehr als nur einen Freund haben und je mehr echte Freunde er findet, desto reicher wird er. Du bist nicht der Mittelpunkt allen Geschehens, mein Junge. Stelle mich nie vor die Wahl, ob ich dich oder einen anderen lieben will. Du würdest immer verlieren." Ilkonys riß sich los. Er starrte erst Gerrys, dann Seymas böse an, wandte sich um und rannte hinaus. Gerrys schloß die Tür. "Wollt ihr ihm nicht nachgehen, Herr?" erkundigte sich Seymas unsicher. "Er muß lernen, daß Liebe nur in Freiheit bestehen kann," wehrte Gerrys ab. Seymas sah zu Boden. In ihm arbeitete es lange, ehe er sehr leise fragte: "Dann seid ihr nicht böse, weil ich dem Than näher bin als ihr?" Gerrys hockte vor ihm nieder, zog ihn an sich. "Dummkopf," schalt er freundlich, "ich wünsche Nymardos nichts mehr als die Nähe echter Freunde. Ich bin nur selten auf Amarra und gerade darum ist es wichtig, daß er nicht nur mich liebt. Wenn du ihm treu ergeben bist, erweist du auch mir einen Dienst damit." Seymas schlang seine dünnen Arme um den Hals des Mannes. "Er hat gesagt, daß euch das freut, aber ich hab's nicht geglaubt," gab er zu. Gerrys hielt den Knaben fest und wunderte sich darüber, daß Nymardos mit einem Kind über solche Dinge sprach.
G
errys fand lange keine Ruhe. Seymas stellte ihm viele, durchaus verständige Fragen nach der Wesenheit des Kristalles und dem Geschehen in Moras. Auch die Begegnungen mit Orales ließ er sich schildern, obwohl er sie nicht wie spannende
Abenteuergeschichten aufnahm. Seymas wurde sehr nachdenklich dabei. "Orales ist euer Freund, Herr?" Gerrys bejahte. "Liebt ihn auch der Than?" "Nein, Seymas, das wohl nicht. Aber er achtet bestimmt die Liebe, die ich empfinde. Es ist schlimm, daß er Orales vernichten muß, für ihn vermutlich nicht weniger als für mich. Ich hoffe nur, daß er nicht in Gefahr gerät." Sehr viel später schlief Seymas in seinen Armen ein. Gerrys lauschte lange den ruhigen Atemzügen des Kindes. Für ihn bedeutete es eine neue Erfahrung des Glückes, einen Knaben an seiner Seite zu wissen, dessen Duft zu atmen und dessen Vertrauen so zu spüren. Er neigte sich vor und küßte das Kind sacht auf die Stirn. Die Strapazen der Reise wurden ihm in diesen Stunden mehr als reichlich belohnt.
F
ast jeder Mensch auf dem weißen Schiff schlief nun. Nur im Bug wachte ein Mann. Sein Blick schien die Nebel zu durchdringen. Nicht sehr weit entfernt wachte Orales auf seinem Boot. Er spürte die Verfolger und er rüstete sich zum Kampf. Er wollte Amarra bezwingen und dann die Nebelreiche beherrschen.
Ende Kapitel 13
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 14
E
s war Tabalkes Stunde. Nun herrschte der Gott des Schweigens. Niemand dachte daran, daß sich in einer Stunde die Nebel heben würden, denn so genau wurden die heiligen Zeiten nur in den Tempeln erkannt. Auf dem weißen Eineinhalbmaster herrschte Stille. Nymardos stand noch immer im Bug. Einige Schritte entfernt schliefen ein paar auserwählte Priester am Boden. Der Than ließ den Umhang von seinen Schultern gleiten. Die Bewacher würden an diesem Zeichen erkennen, daß er nun nicht gestört werden durfte. Für ihn begann die Zeit des Handelns. Er löste seinen Geist von seinem irdischen Bewußtsein, suchte Orales. Der Einmaster des
Gegners segelte nicht weit entfernt, doch verborgen in den nächtlichen Nebeln. Es gab eine Möglichkeit, diesen Mann und die gefangenen Menschengeister zu retten! Der Than hatte sie Gerrys nicht genannt, nicht einmal angedeutet, denn sie erforderte ein Opfer. Ein sehr starker Geist mochte in der Lage sein, die Bewußtheit des Kristalles in sich aufzunehmen und sie zu absorbieren. Das befreite die gefangene Priesterschaft, das befreite auch Orales. Nymardos empfand die Kälte des Kristallwesens. Er hatte kein Recht, Orales zu opfern, wenn es noch einen anderen Weg gab. Der Than wußte, daß sein Geist stark genug blieb, um in dieser Kraft nicht zu verglühen. Doch die Verbindung zu seinem Körper würde darin verbrennen. Es gab keinen Rückweg mehr. Dieses eine Leben mußte er opfern und es bedeutete nicht all zu viel, darauf zu verzichten. Die Unsterblichkeit des Geistes würde sich neue Lebensformen erschaffen und wieder inkarnieren, solange, bis die Fülle aller möglichen Erfahrungen sein eigen war.
D
as Wesen glich einer Amöbe in luftleerem Raum, dessen Protoplasma aus der Substanz gefangener Menschengeister bestand. Es zerfloß und fügte sich zu immer wieder neuer Form, sandte Scheinfüße aus und schwebte auf der Suche nach neuen Opfern durch rein geistige Regionen. Seine begrenzte Reichweite verhinderte die Gefährdung unschuldiger Menschen an Land. Das weiße Schiff wurde von der Priesterschaft völlig abgeschirmt; es existierte im Bewußtsein des Kristallwesens gar nicht. Der Geist des Than wirkte hier wie ein Zellkern, statisch, doch erfüllt von aller Kraft des Lebens. Die 'Amöbe' näherte sich; suchte, sich über dieses Opfer zu schieben, es in sich aufzunehmen und aus seiner Kraft neue Stärke zu gewinnen. Nymardos wich aus. Anders als diese Wesenheit kam er aus einer dreidimensionalen Welt, kannte er Materie, Bewegung und Zeit. Er tauchte unter der Wesenheit hinweg, lockte sie, forderte sie heraus. Es mußte ihm gelingen, den 'Zellkern' der 'Amöbe' zu treffen, um die Bewußtheit des Kristalles in sich aufzunehmen. Verfehlte er dieses Ziel, verglühte sein Geist mit seinem Gegner. Es erkannte den Feind als sich durchaus ebenbürtig und nahm die Herausforderung an. Eine größere Fülle des Lichts Es konnte es nirgendwo finden und Licht war alles, wonach Es trachtete. Fast gelang es dem Kristallwesen, des Menschen Geist gefangen zu nehmen. Doch der Than erkannte die Gefahr, vereinte sich mit der dunklen Kraft und sein Gegner zuckte wie schmerzerfüllt zurück. Es wollte nicht Raaki begegnen! Doch noch ehe Es sich zurückziehen konnte, vereinte sich der Than mit Antares, der Göttin des Lichts. Es sah seinen Gegenpol, die andere Seite der Dunkelheit. Sich mit dieser zu vereinen, das bedeutete Unsterblichkeit, Ewigkeit, Fülle. Es näherte sich wieder, ließ sich locken und suchte intensiver nach dem Sieg. Nymardos befand sich nun über ihm. Die Bewußtheit des Steines begriff noch immer nicht das Wirken der dritten Dimension; bewegte sich nun auch nicht in der geraubten, reaktiven Form. Der Than gewahrte in dunklem, rötlichen Schein das Zentrum der gegnerischen Kraft. Er näherte sich, verband sich dabei erneut mit dem dunklen Gott. Gleich einer gewaltigen Explosion wurde sein Geist wie die
Bewußtheit des Steines bei der Berührung erschüttert. Zu spät erkannte Nymardos, daß sein Opfer keinen wirklichen Gewinn brachte. Die Wesenheit des Kristalles würde ihn vernichten und dabei selbst unbeschadet weiterhin wirken. Die irdische Ebene mochte ihm danach verschlossen sein, doch was dies bedeutete, konnte kein Mensch auch nur erahnen. Da warf sich ein anderer Geist dazwischen. Er nahm seinen Teil der Erschütterung an sich. Nymardos erkannte, daß dieser Geist sich nicht vollkommen abschirmte und begriff, daß hier ein Mensch freiwillig den körperlichen Tod, wenn auch nicht das geistige Erlöschen auf sich nahm.
S
eymas schreckte schreiend aus dem Schlaf auf. Gerrys wurde aus einem wirren Traum gerissen. Er sprang auf und eilte hinaus. Priester verwehrten ihm den Zugang zum Bug. Unbeweglich stand der Freund dort. Er hörte den klagenden Schrei einer Priesterin, wandte sich um und rannte zu dem Kabinenaufbau. Vom Lärm erwacht, nahte auch Attor. Er sah den Bruder, folgte ihm. Gerrys stieß eine Tür auf. Sein Kristall erhellte den Raum. Masira lag auf ihrem Lager, eine Priesterin hielt ihren Kopf. Tränen rannen ihr über die Wangen. Mit tonloser Stimme klagte sie: "Sie ist tot. Masira ist tot." Gerrys schob sie beiseite, kniete neben der Frau nieder. Doch auch er fand kein Lebenszeichen mehr. Ruckartig sprang er auf. "Hinaus, alle," befahl er herrisch. Die Priesterin gehorchte ihm zitternd. Nur Attor blieb stehen und sah Gerrys an. "Wer ist die Frau?" Gerrys betastete den gespannten Leib des Leichnams. Es blieb nicht viel Zeit, um das zu tun, was ihm beim bloßen Gedanken daran einen eisigen Schauer kalten Entsetzens durch die Glieder jagte. Er durfte nicht zögern und er durfte weder Schmerz noch Mitleid empfinden. "Dein Messer!" Er hielt Attor die Hand entgegen. Der Bruder wich bis zur Tür zurück. "Du bist wahnsinnig," stammelte er, "das kannst du nicht machen." "Dein Messer," wiederholte Gerrys, dessen Stimme nun einen sehr unpersönlichen, doch fast drohenden Unterton gewann, "dann schließe die Tür. Wenn du dazu zu schwach bist, dann verschwinde." Attor fühlte sich höchst unbehaglich. Er gab Gerrys seinen Dolch und er schloß auch die Tür, aber von innen. Dann aber blieb er unbeweglich stehen und starrte entsetzt auf den Bruder. Nie zuvor sah er Gerrys so hart, so emotionslos, so gänzlich verschlossen. Ihm wurde übel, als der Bruder nach kaum merklichem Zögern die Bauchdecke der Toten öffnete und er übergab sich, als mit Blut gemischtes Fruchtwasser aus der klaffenden Wunde schoß. Würgend und speiend sank er vor der
Tür zu Boden, unfähig, den Blick zu wenden. Jemand wollte herein, doch Attors Körper verhinderte jeden Zutritt. "Was geschieht hier?" rief eine ängstliche Frauenstimme. "Fort mit euch," donnerte Gerrys die Antwort, "keine Störung jetzt." Schritte entfernten sich. Der Falla merkte kaum, wie sein nackter Leib beschmutzt wurde. Er dachte auch nicht an sich. Er wollte nur eines: dieses Kind, so irgend möglich, ins Leben holen. Dann hielt er ein kleines Bündel Mensch in Händen. Die Nabelschnur pulsierte schon nicht mehr. Er nahm einen Faden, band sie ab. "Glühe die Klinge aus," befahl er Attor und warf ihm das Messer zu. Der Bruder regte sich nicht. Gelähmt von Abscheu nahm er nicht einmal die Waffe an sich. Gerrys achtete nicht auf ihn. Er preßte seine Lippen auf den Mund des Mädchen und blies ihm seinen Atem ein, nachdem er den Mundinnenraum mit dem Daumen säuberte. Er kämpfte förmlich um dieses Kind. Ein leise quäkender Ton erlöste ihn endlich von der Spannung, unter der er handelte. Er hielt sich das Kind an die Brust, wärmte es mit seinem Körper. Nun erst sah er zu Attor. "Wenn du nicht augenblicklich tust, was ich sage, wirst du diese Nacht verfluchen," drohte er. "Ich bin schon versklavt," begehrte Attor voll Abscheu auf, "du kannst mich nicht schlimmer bestrafen." "Ich gebe dich nach Thara." Diese Drohung wirkte. Attor kannte das Bergland und er wußte, daß in keinem anderen Reich die Sklaven so wenig Achtung erfuhren, schlimmeres Leid erlebten und bis zur seelischen Abstumpfung getrieben wurden. Er nahm die Klinge, glühte sie über einer Kerzenflamme aus. Seine Hand zitterte, doch er schnitt die Nabelschnur des Säuglings durch. Das Kind atmete nun regelmäßig. Attor wandte sich ab. Beschämt dachte er daran, daß er Gerrys nicht einmal zutraute, bei der Geburt eines Madigg zu helfen. Und nun holte der Bruder auf grausige, doch notwendige Weise einen Menschen ins Leben, dessen Tod schon vor seiner Geburt beschlossen schien. "Bedecke Masira und entfernte die Spuren des Blutes," befahl Gerrys, ehe er durch die Tür ins Freie trat. Eine ältere Priesterin kam sofort zu ihm. Sie sah den Säugling, streckte wortlos die Hände aus und nahm Gerrys das Kind ab. Er nickte ihr flüchtig zu, ehe er wieder zum Bug des Schiffes ging. Ein Priester legte einen Umhang über seine Schultern, sagte jedoch nichts. Niemand hinderte ihn, zum Than zu gehen.
D
ie Gewalt der Erschütterung schleuderte Nymardos aus der Nähe seines Gegners, schwächte ihn zugleich und verbot ihm so, sofort die Wesenheit des Kristalles durch
die Öffnung von Orales' Weihen zu vernichten. Er kehrte in sich selbst zurück. Mit geschlossenen Augen und reglosen Zügen stand er weiter unbeweglich. Gerrys hob seinen Umhang auf, legte ihn dem Freund um und hielt seine Schultern fest. Er fand keine Worte, um zu berichten. "Ich will sie sehen," murmelte Nymardos. Gerrys hielt ihn fester. "Verzichte darauf," bat er rasch, "quäle dich nicht mit diesem Anblick." Nymardos wandte ihm das Gesicht zu. Er wirkte sehr beherrscht. Gerrys öffnete ihm seinen Geist, erlaubte dem Freund, in ihm zu lesen. Unmerklich schwankte Nymardos, doch sofort hatte er sich wieder ganz in der Gewalt. Er nickte nur zustimmend. "Begleite mich," bat er leise. Mit lauter Stimme befahl er, den Kurs des Schiffes nicht zu ändern und ihn zu rufen, sobald Orales in Sichtweite kam. Sein Schritt wirkte sehr fest, als er seine Kabine aufsuchte und niemand sah ihm an, ob und welches Leid er empfand. Gerrys fürchtete, der Freund würde zusammenbrechen, sich haltlos der Trauer ergeben. Doch er irrte. Nymardos trank, ein wenig zu hastig, einen Becher Wein. Dann legte er sich nieder. Gerrys setzte sich an seine Seite. Mit leiser, doch fester Stimme berichtete ihm Nymardos nun, was geschah. "Ich wußte sofort, daß Masira mich rettete," endete er, "und ich begriff auch, warum sie den Tod wählte. Hielte sie ihren Geist abgeschirmt, wäre sie Gefangene des Kristallwesens geworden; Cyprina aber, mit ihr verbunden, in dieser Kraft verglüht." Gerrys zog schweigend seine Hand an die Lippen. "So schrecklich ist der Tod nicht," vermutete Nymardos, "sie kam wohl in dieses Leben, um Cyprina zu rufen und um mich zu retten. Trauer empfinden nur die Unwissenden." "Ich habe sie kaum gekannt," widersprach Gerrys, "doch ich empfinde tiefe Trauer." Nymardos streichelte seine Haut. "Man muß die Menschen gehen lassen, wenn ihre Zeit erfüllt ist," sagte er nachdenklich, "Liebe hält nicht fest. Masira ist unserer Region noch zu nahe, um nicht von Jammer und Kummer berührt zu werden. Sie leidet nicht, mein Freund. Form bedeutet immer auch Begrenzung; der Tod und damit das Ende der Form Befreiung. Du hast Cyprina gerettet und damit Masiras Opfer über das Maß mit Sinn erfüllt. Ich bin dir dankbar, denn ich weiß, daß dir dieses Werk nicht leicht gefallen ist." Gerrys preßte die Lippen zusammen. Es hatte wenig Sinn, mehr darüber zu sagen und er wollte den Freund auch nicht lehren, über den Tod der Geliebten dem Leid zu verfallen. Vor allem aber durfte er nicht vergessen, daß die Bewußtheit des Kristalles
noch immer unbesiegt wirkte. Der Kampf fand noch kein Ende. Nymardos erriet seine Überlegungen. "Auch Orales wurde bei alledem erschüttert. Er wird ein paar Stunden brauchen, um neue Kraft zu schöpfen. Solange muß ich warten, denn ich will diese Kraft in ihm wissen." "Dann ruhe ein wenig," riet Gerrys, "du hast die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen." Nymardos lächelte nur. Er brauchte sehr wenig Schlaf und der Freund wußte dies. Doch ein wenig Ruhe konnte ihm nur von Nutzen sein.
G
errys suchte die Priesterin, die ihm das Kind abnahm und stellte ihr seine Kabine zur Verfügung. Sie wehrte sich dagegen, doch er beharrte darauf. Da gab sie nach. Unsicher gestand sie dann: "Masira nannte den Namen des Vaters nicht. Als Kind der Schande kann das Mädchen nicht nach Amarra kommen." Sie hielt den Säugling dabei aber so liebevoll, daß kein Vorwurf in ihren Worten liegen konnte. Gerrys strich mit einem Finger über die Wange des Kindes. "Ich holte Cyprina ins Leben und anerkenne sie als meine Tochter," erklärte er mit fester Stimme. "Sie ist kein Tempelkind, doch Tochter einer Priesterin und eines Priesters." Die Frau kniete nieder. "Vergebt mir, Herr," bat sie, "es lag mir fern, das Recht eures Kindes zu bezweifeln." Gerrys nickte ihr versöhnlich zu und ging weiter. Er wollte mit Ilkonys reden. Doch Attor vertrat ihm den Weg. Er wirkte unsicher und verlegen. Er beugte die Knie vor dem Bruder. Bisher tat er dies nie freiwillig. Erstaunt sah ihn Gerrys an. Er hob Attor auf. "Erinnerst du dich an die Nacht auf dem einsamen Gehöft in Moras?" fragte Attor. "Ich habe dir nicht zugetraut, ein Zicklein ins Leben zu holen. Ich traute dir bisher überhaupt nicht sehr viel zu." "Hat sich daran etwas geändert?" erkundigte sich Gerrys etwas nachlässig. "Ist es so wichtig, um darüber reden zu müssen?" "Das ist es," versicherte Attor überzeugt. "Bitte, Gerrys, gib mir eine Chance. Ich habe mich in dir geirrt und sehe es ein. Es tut mir leid." Gerrys ergriff seine Hand und drückte sie fest. "Wenn es so ist," meinte er, "müssen wir nicht darüber sprechen. Ich halte dir nichts vor und trage dir nichts nach. Ich mußte Cyprina helfen und konnte es nur auf
diese Art tun." "Es handelt sich nicht nur um das Baby. Du hattest auch Mut, als du ein Messer nach Ilkonys schleudern wolltest und als du Orales begegnet bist. Gerrys, was geschah mit Rhagan? Versteh' mich recht: ich werfe dir nichts vor. Aber ich wüßte gern, weshalb er zu Miska wurde." "Er hat mir das Leben gerettet," erklärte Gerrys freimütig, "dadurch wurde er ein Opfer. Ich konnte zwar seinen Geist abschirmen und seinen Tod verhindern, doch mehr vermochte ich nicht. Hoffen wir, daß es Nymardos gelingt, die gefangenen Menschen zu befreien." "Dazu muß er Orales töten?" Gerrys nickte. Zu seinem Erstaunen suchte Attor einen Ausweg. Er grübelte und meint dann: "Es müßte einen Weg geben, ihm zu helfen. Ich erinnere mich kaum an den Mann, aber ich halte ihn für einen tapferen, ehrlichen Burschen. Unser König und du, ihr liebt ihn. Gerrys, was ist Besessenheit? Wirkt das so ähnlich wie ein Rapport?" "Nein, in keiner Weise. Ein Rapport ist eine geistige Verbindung, welche die so Verbundenen zwingt, die gegenseitigen geistigen Rufe zu hören. Besessenheit ist sehr einseitig. Orales wird von einer fremden Bewußtheit beherrscht." Sie gingen nun nebeneinander. "Also ein einseitiger Rapport?" grübelte Attor. "Wenn du es so nennen willst, dann ja. Obwohl diese Beschreibung so nicht stimmt." Attor sah ihn nicht an. In seinen Zügen arbeitete es. "Vor Jahren versuchte König Ariston einmal, einen Rapport mit mir zu halten," erinnerte er sich, "doch ich fürchtete, er könne die Geheimnisse meines Leben entdecken. Diese Furcht zerbrach den Rapport mehrmals. Könnte nicht Angst, meinetwegen Todesangst, Orales von diesem fremden Wesen lösen? Würde ihn das nicht retten?" "Du hast nicht ganz Unrecht," gestand ihm Gerrys zu, "nur hilft das nicht viel. Wir würden Orales so befreien, aber die gefangenen Menschen verlieren - auch Rhagan. Auch das Leben eines Freundes wiegt so viele andere nicht auf." "So gibst du ihn verloren?" Das klang traurig, irgendwie betrübt. "Er ist es, sobald Nymardos dies tut," erwiderte Gerrys ernst. "Der Than versuchte, ihn auch zu retten. Das mißlang. Ich sehe keine Möglichkeit mehr für Orales." Sie redeten noch ein wenig. Dann verabschiedete sich Attor, um Shuny und Rhagan zu pflegen.
G
errys wurde durch Lärm aufmerksam und näherte sich rasch dem Heck. Er sah Ilkonys wütend mit Seymas ringen. Die beiden Knaben wälzten sich am Boden und schlugen aufeinander ein. Ein paar Priester umstanden sie, sahen zu. Gerrys griff nicht ein, wie diese Männer auch. Streit unter Kindern mußte nicht zwangsläufig das Eingreifen von Erwachsenen bewirken. Ilkonys drehte Seymas den Arm auf den Rücken, hielt ihn so am Boden fest. "Na, gibst du jetzt auf," rief er triumpfierend. Seymas wehrte sich trotz der Schmerzen. Mit der freien Hand packte er Ilkonys beim Haar, zog ihn vornüber und befreite sich so aus dem harten Griff. Erneut rangen sie miteinander. Ilkonys trug nun wieder seine Reitkleidung, obwohl sie an manchen Stellen vom Feuer leicht versengt wurde. Dies verschaffte ihm mehr Beweglichkeit, als Seymas in seiner Tunika besaß. Als es aber so aussah, als würde nun Seymas ihn doch bezwingen, tastete er nach seinem Dolch. Da trat Gerrys vor. Noch ehe Ilkonys die Waffe ziehen konnte, trat ihm der Falla fest auf die Brust. Seymas sprang auf. Ilkonys kniff die Lippen zusammen und schloß beschämt die Augen. Gerrys hob ihn auf. Er sagte kein Wort des Vorwurfs, übersah den Knaben jedoch willentlich. "Was gab es, Seymas?" Der Junge ordnete sein Haar, wischte sich den Staub von der Kleidung. Er hegte keine Schuldgefühle. "Ilkonys wollte zu Philmor," erklärte er, "und ich verbot es ihm. Da wurde er böse." "Niemand darf mir befehlen," schimpfte Ilkonys zornig. "Wirklich niemand?" Unbemerkt war Nymardos hinzugetreten und belustigt stellte er diese Frage. Die Priester warfen sich vor ihm nieder; Seymas ging auf die Knie, legte sich dann aber auch längs hin. Ilkonys stand noch trotzig aufrecht. Da packte ihn Gerrys im Nacken und zwang ihn, dem Than in der vorgeschriebenen Weise zu huldigen. "Philmor ist mein Diener," murrte er trotzdem. "Er ist krank in der Seele," erwiderte Nymardos. "Du hast ihn verstoßen. Philmor machte sich um Amarra verdient und ist vom Dienst an dir befreit. Weiche ihm aus, Ilkonys, und bleibe künftig im Heck des Schiffes." "Ja, Gebieter," preßte der Knabe hervor. Gerrys ging mit dem Than und die Priester entfernten sich ebenfalls. Seymas grinste. "Jetzt war er fast böse," stellte er fest, "wir haben Glück gehabt." Ilkonys sah ihn lange an. "Es tut mir leid - wegen dem Messer," entschuldigte er sich. "Du bist gar nicht so übel." Seymas lachte ihn an.
"Du auch nicht. Aber ich finde es schlimm, wie zornig du auf Philmor bist." "Du hast ja keine Ahnung," behauptete Nodhers Erbe. Die beiden Knaben saßen beisammen. Ilkonys erzählte Seymas nun von Werdyn und der Stunde seines Todes, doch er berichtete auch davon, daß er Philmors Dienst nie wollte und der Halbwüchsige diese Ehre nur der Protektion seines Vaters verdankte. "Weißt du, was ein Musk ist?" wollte Seymas da wissen. "Na klar, das ist ein Esel." Seymas strahlte ihn förmlich an. "Dacht' ich's mir doch, daß jeder seine Verwandten kennt." Ilkonys starrte ihn einen Moment lang wütend an, dann begriff er den Scherz und lachte. Seymas sprang auf. "Komm'," lud er Ilkonys ein, "fangen wir ein paar Fische. Kannst du angeln?" "Klar doch. Aber du mußt mir dann auch sagen, warum du mich einen Musk genannt hast." Bald darauf plauderten sie miteinander, als seien sie die besten Freunde. Und Ilkonys begriff langsam, daß er Philmor Unrecht tat.
F
rüh am Morgen nahm der Wind zu. Das Schiff erreichte atemberaubende Geschwindigkeit. Die Männer refften die Segel, ehe der aufkommende Sturm sie zerreißen konnte. Auf hohen Wellen taumelte das weiße Schiff ziellos über das Meer. Der Wind peitschte die Wellen über das Deck. Gerrys sperrte Philmor zu Attor in die Kabine, überzeugte sich davon, daß der Großteil der Frauen sich ebenfalls unter Deck befand. Es war Ilkonys verboten, das Heck zu verlassen und er sorgte sich um den Jungen. Doch grundlos, wie sich bald herausstellte. Die beiden Knaben hatten sich gegenseitig am Schiff festgebunden. Sie empfanden keine Angst. Das Abenteuer des Sturmes begeisterte sie. Nur wenige Menschen befanden sich auf Deck und diese sicherten sich mit Seilen, um nicht von einer Böe oder einer Sturmwelle über Bord geschleudert zu werden. Ein kräftiger Priester legte Gerrys die Hand auf die Schulter. "Unser Gebieter erwartet euch, Falla." "In seiner Kabine?" Sie mußten schreien, um das Tosen des Sturmes zu übertönen. "Er ist im Bug," brüllte der Mann, "seine Kabine ist überfüllt. Ich helfe euch." "Nicht nötig," wehrte Gerrys ab, "tut eure Pflicht." Er zog sich an der Reling vorwärts. Die Gischt drohte ihn mehrmals, von Bord zu spülen, doch er hangelte sich weiter, bis eine starke Hand ihn ergriff und der Freund ihn an seine Seite zog. Die Bugplanken zeigten sich nicht sehr hoch und boten kaum Schutz, doch der Sturm tobte von vorne und die von ihm aufgeworfenen Wellen
zerteilten sich, ehe sie die Männer trafen. Nymardos zog Gerrys zu Boden. Sie duckten sich ein wenig. Nun reichten nur noch ihre Köpfe über das Holz hinaus. "Keine Sorge, wir sinken nicht," rief Nymardos gegen den Lärm des Sturmes an, "ich hoffe nur, auch Orales' Boot trägt ihn durch." "Er gewinnt Vorsprung." "Nicht zu ändern. Der Sturm wird nicht lange dauern und mit etwas Glück verliert er die Richtung." "Fürchtest du, daß er noch immer nach Amarra will?" "Er kann nichts anderes wollen, Freund." "Das wäre eine Katastrophe!" "Nein, das nicht. Caryll wacht und mit ihm sind starke Priester. Er kann nicht an Land. Meine Leute sind in Sicherheit, doch ich möchte nicht, daß Orales' Leib etwas geschieht." Eine große Woge überflutete sie. Sie hätte Gerrys mitgerissen, hielte ihn nicht Nymardos mit starker Hand fest. "Bleib' hier," rief er scherzend, "ich brauche dich noch. Das ist nicht die passende Zeit für ein Bad." Der Sturm ließ bald nach. In diesem Teil des Meeres blieb er selten und wirkte nie sehr lange. Ein Priester kam zum Bug, warf sich nieder und berichtete: "Das Schiff ist unversehrt, Gebieter. Alle Menschen hier sind wohlauf. Sollen wir Segel setzen?" "Noch nicht," wehrte Nymardos ab, "warte, bis ich dir die Richtung nenne." Der Mann entfernte sich. Nymardos sah Gerrys nur kurz an. Der Falla verstand ihn ohne Worte. Im Geist suchten sie beide das Meer ab. Es ging nun ein sanfter Wind, der Wärme brachte und ihre Kleider trocknete.
O
rales' Segel wurde vom Sturm zerfetzt. Sein Boot trudelte, kippte fast zur Seite. Der Mann aber empfand keine Angst. Er lag in der Kabine des Einmasters und starrte auf seinen Lebenden Kristall, dessen machtvoll pulsierendes Licht ihm jedes Denken verbot. Amarra konnte nicht weit sein. Bald würde er die Bewohner der Insel vernichten und grenzenlose Macht gewinnen. Als der Sturm endete und er an Deck ging, sah er ringsumher nur Wasser. Nirgendwo ließ sich eine Küste erahnen. Eine starke Strömung trieb sein unversehrtes Boot vorwärts. Er wußte nicht, daß er sich im Osten Amarras befand, weit draußen auf See, wohin die Menschen der Nebelreiche nicht segelten. Unendlich dehnte sich die Wasserwüste vor ihm. Ende Kapitel 14
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 15
P
feilschnell glitt das weiße Schiff zielsicher über das weite Meer. Sie hatten alle Segel gesetzt und folgten dem Kurs, den ihnen ihr Herr anwies. Man fuhr in jenen Tagen auf Sicht, orientierte sich an den Küsten und für die kurze Zeit, in denen diese hinter dem Horizont versanken, am Flug der Vögel. Doch hier fehlte jeder Hinweis auf nahes Land. An Bord befanden sich dreizehn Priesterinnen und fünfzehn Priester aus Amarra. Die Endlosigkeit des Meeres wirkte bedrückend auf diese Menschen; doch sie vertrautem ihrem Gebieter, der ihnen selbstsicher die Richtung nannte. Gerrys stand bei Nymardos im Bug des Schiffes. Trotz der Gefahr, die sie suchten, genoß er die Nähe des Freundes. Zu selten sahen sie sich. "Ängstigt auch dich die Weite des Meeres?" erkundigte sich der Than. "Ein wenig," gab Gerrys unumwunden zu. "Was mag an seinem Ende liegen." Nymardos lachte leise. "Eine Küste," erwiderte er, "ein fernes, fremdes Land mit unbekannten Menschen und uns unverständlichen Sitten. Doch sei unbesorgt, so weit segeln wir nicht. Kein Schiff durchmißt alle Fernen." "Und wie fern ist Orales noch?" "Nicht fern genug, um zu entkommen." Der kräftige Priester, der Gerrys während des Sturmes zum Than rief, servierte ihnen kniend ein Mahl. Er entfernte sich eilig. Überlegend blickte ihm Gerrys nach. "Kennst du ihn nicht mehr?" wollte Nymardos da wissen. Gerrys schüttelte den Kopf. "Er kommt mir bekannt vor, doch ich finde die Erinnerung an ihn nicht und scheue mich, seinen Geist zu berühren." "Das ist Sathor." Überrascht unterbrach der Falla sein Mahl. Das lag weit zurück. Acht oder neun Jahre mochte es her sein, daß ihm dieser Mann als Leiter zu den Weihen verhalf. Gerrys leistete ihm damals Leibdienste, denn es war üblich, daß ein Chela auf diese Weise
seinem Lehrer dankte. Sathor hatte sich sehr verändert in dieser Zeit. Damals wirkte er übermütig, laut; er schien nichts ernst zu nehmen. Gerrys mochte ihn, zumal er seinen Schüler in allem wie einen Kameraden behandelte.
S
athor neigte sich tief, als Gerrys zu ihm trat. Einen Moment lang befürchtete der Falla von ihm dieselbe Scheu, die er von anderen Menschen auf Grund seiner Freundschaft zu Nymardos empfing. Doch Sathor richtete sich wieder auf und sah ihn mit offenem Blick an. Um seine spröden Lippen spielte ein etwas unsicheres Grinsen. "Ich bedauere, daß ich dich nicht sofort erkannte," entschuldigte sich Gerrys, "bitte glaube nicht, daß ich vergaß, was ich dir verdanke." Sathor lächelte befreit. "Mir, Falla? Was immer euch widerfuhr, verdankt ihr unserem Gebieter. Ich hatte nie einen gelehrigeren Schüler." Gerrys lachte leise. "Genug der Komplimente," schlug er vergnügt vor, "erzähl' mir, wie es dir erging und wie sich dein Dienst und Weg gestaltet." Sathor führte ihn einst zur dritten Weihe, jener der Weisheit. Niemand kann einen Menschen weiter führen, als er selbst gegangen ist. Inzwischen besaß der kräftige Mann auch die Weihe der Kraft und bereitete sich auf die Ebene des dunklen Gottes vor. Zwischen den Worten des Priesters hörte Gerrys dessen Unbehagen heraus. Noch immer galt Raaki als der Gott des Todes, der mehr gefürchtet denn geliebt wurde. Sathor konnte diese Weihe nicht erringen, solange er die dunkle Kraft nicht gern in sich wirken ließ. "Wer leitet dich?" erkundigte sich Gerrys. Sathor nannte ihm den Namen eines starken Priesters, an dessen Befähigung es keinen Zweifel geben konnte. Wenn Sathor diese geistige Ebene nicht erreichte, lag die Ursache hierfür allein in ihm. "Es ist ein Teil von Raakis Kraft, die in Orales wirkt," begriff Sathor durchaus, "und es ist eine verheerende, tödliche Kraft." Einen Augenblick lang dachte Gerrys an jene Zeit, in der er die ausschließlich für gut gehaltene Kraft des Lichtes bezwingen mußte, da sie, ungehindert wirkend, den Fortbestand allen Lebens gefährdete. Damals war er bereit, sein eigenes Leben wie das der Freunde zu opfern, um die Freiheit des menschlichen Geistes zu bewahren. Erst jetzt bejahte er, im Gedenken an jenen Kampf, aus ganzem Herzen das Opfer, zu dem Nymardos den Freund bestimmte. "Es ist eine tödliche Kraft," bejahte er, "denn Kraft ist immer wirksam. Sie kann destruktiv sein oder Nutzen bringen. Dieselbe Kraft vernichtet und rettet; entscheidend ist die Richtung, in die sie gelenkt wird. Auch Feuer richtet Schaden an,
ohne deshalb als dämonisch zu gelten. Orales öffnete sich der Bewußtheit des Kristalles; zog die Kraft auf die Ebene seines Geistes. Das ist schlimm, Sathor. Es ist unsere Aufgabe, unseren Geist auf die Ebene göttlicher Kräfte zu erheben. Dort empfangen wir Stärkung; im umgekehrten Fall erwirken wir Vernichtung. Wir reden später noch darüber. Es liegt mir viel daran, daß du Raakis wahres Wesen begreifen lernst." Unbewußt legte er bei diesen Wort die Hand um seinen Lebenden Kristall, in dem er erst seit kurzem die Kraft seines Gottes wußte. Sathor aber entging diese Geste nicht. Orales und Gerrys trugen Steine derselben Art, auch der Than tat dies. Das Verhängnis konnte nicht im Stein an sich begründet liegen. Sathor überlegte weiter und kam zu dem Schluß, daß die negative Auswirkung der dunklen Kraft dann doch im menschlichen Geist begründet lag. Von nun an ließ er Gerrys nicht mehr aus den Augen, denn er wollte wirklich verstehen.
G
errys hatte sich lange mit Seymas unterhalten, des Kindes verständige Fragen beantwortet und sich über des Knaben Interesse an geistigen Dingen gewundert. Sie schlenderten dabei über Deck. Nun sahen sie Nymardos. Der Than saß auf einer Bank am Kabinenaufbau. Gerrys verhielt den Schritt. Der Freund hatte zum ersten Mal seine Tochter zu sich genommen. Er hielt den Säugling im Arm und ließ ihn an seinem kleinen Finger saugen. Gerrys beunruhigte sich zunächst darüber, daß sich an Bord des Schiffes weder eine Amme noch Milch befand, doch die ältere Priesterin, die Cyprina versorgte, versicherte ihm glaubhaft, daß das Mädchen keinen Mangel litt und durchaus auch mit ausgeschleimtem Getreidebrei gesund blieb. "Er mag das Baby," stellte Seymas fest. Gerrys klopfte dem Jungen leicht auf den Rücken. "Bist du eifersüchtig?" Seymas lachte fröhlich. "Höchstens," behauptete er, "weil ich schon zu groß bin, um in seinem Arm zu liegen." Er empfand es als Auszeichnung und fühlte mächtigen Stolz, als Nymardos ihm das Kind anvertraute und ihm auftrug, es zu der Priesterin zu bringen. Behutsam, als könne das kleine Wesen zerbrechen, trug Seymas das Mädchen mit sich. Nymardos lächelte versonnen. "Sobald wir uns Orales nähern, wird die Frau Cyprinas Geist abschirmen," versprach er, "auch Attor und Ilkonys werden so geschützt." "Seymas nicht?" "Er braucht diese Hilfe nicht. Sein Geist ist auch ohne Ausbildung stark genug, um sich zu schützen."
"Also doch ein Tempelkind?" Der Than warf ihm wieder jenen erstaunten Blick zu, mit dem er Gerrys schon bedachte, als dieser das erste Mal danach fragte. Da ertönte der Ruf: "Schiff voraus!"
O
rales wurde von Stunde zu Stunde unruhiger. Sein Schiff trieb auf der Strömung voran. Ohne Segel war es ihm unmöglich, Einfluß zu nehmen auf Geschwindigkeit oder Richtung. Überdies wußte er nicht, wo er sich befand und wie fern die nächste Küste lag. Sein Wasservorrat ging zur Neige und sein Proviant erschöpfte sich. Vor allem aber war er allein. Er vermißte Philmor! Nicht, daß er einen Menschen brauchte, doch es gab nun keine Möglichkeit, diesen Leib, seinen Körper zu spüren und sich selbst als materiell zu empfinden. Einige Zeit hindurch fand er Gefallen an der Selbstbefriedigung, doch der Orgasmus erschöpfte lediglich und ermattete ihn, ohne ihn jedoch zu ermüden. Er wurde unruhig wie ein gefangenes Tier und genau so benahm er sich auch. Er rannte auf Deck hin und her und stieß dabei bestialische Urlaute aus. Er war der Sprache weiterhin mächtig, doch er fühlte sich grunzend und schnaubend wohler. Als er dann das weiße Schiff sah, brüllte er heulend auf. Sie verfolgten, jagten ihn! Sie gaben keine Ruhe, suchten den Sieg und damit seine Vernichtung. Dort an Bord wußte er Menschen, doch sie schirmten ihren Geist ab und ließen sich nicht gefangen nehmen. Philmor war dort; dieses wimmernde, hilflose Wesen mit dieser Ausdünstung von Angst und Entsetzen, die ihn mehr als bloße Fleischlichkeit befriedigte. Und der andere mußte dort sein, jener Mann, in dem die dunkle Kraft wahrhaft Gestalt annahm, um ihn zu verschlingen. Auch dieses weiße Wesen, das sich mühelos mit Licht und Dunkelheit verband, ganz so, wie es ihm sinnvoll erschien; das in Bereiche aufstieg, in denen die Formen nicht existierten und dort einen endgültigen Sieg erstrebte. Orales tobte! Mit riesigen Sätzen sprang er ins Heck. Seine breiten Hände umklammerten das Steuerruder. Gutturale Laute drangen über seine Lippen; Beschwörungsformeln, die er in seinem bewußten Leben nicht einmal kannte. Die Kräfte der Elemente rief er an - Wind und Wasser. Sein Boot gewann entgegen den Naturgesetzen an Fahrt, raste bald auf das weiße Schiff zu. Wenn er seine Feinde schon nicht bezwingen konnte, so wollte er sie wenigstens töten und aus der Welt der Formen stürzen.
N
ymardos befand sich nahe am Bug und zeichnete mit roter Kreide ein Symbol auf die Planken. Er sah auf und nickte befriedigt, als Gerrys verstand. "Orales will uns rammen," schrie eine Priesterin angstvoll auf.
"Schirme dich ab," herrschte Nymardos sie an. Sie warf sich vor ihm nieder und gehorchte. Der Than strahlte nun keine Freundlichkeit mehr aus, war ganz ein Mann der Macht. Er winkte Sathor zu. Der Priester eilte ins Heck, ergriff das Steuerruder und starrte gebannt auf Orales' Schiff. "In die Kabinen oder ins Heck!" befahl der Than knapp. Sie gehorchten sofort. Vom Hauptmast bis zum Bug blieb das Schiff menschenleer. Gerrys' Kristall glühte sacht in rötlichem Schein auf. Nymardos sah es, stutzte und betrachtete aufmerksam den Freund. Dann schüttelte er den Kopf. "Greife ihn nicht an," verlangte er nachdrücklich, "nicht hier draußen. Wir müssen näher zur Küste, denn es besteht die Gefahr, daß er unser Schiff zerstört." Gerrys nickte zögernd. "Ich weiß nicht, ob ich dir nun gehorchen kann," bekannte er leise. "Ich will es, Nymardos, doch ich fürchte, wenn ich mich ganz öffne, schaltet Raaki meinen Willen aus." "Dann öffne dich nicht," fuhr ihn der Than an, "du bist stark genug, um das Maß der Überschattung zu beeinflussen." Gerrys preßte die Lippen zusammen und wandte sich ab. Die Zeugen des Wortwechsels sahen betreten beiseite. Nymardos trat nahe zu dem Freund, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte leise: "Greife nicht ein, Gerrys. Ich will dich nicht verlieren. Ich weiß, daß du die Wesenheit des Kristalles in dich ziehen kannst. Damit wäre Orales frei; du hingegen verloren." "Ich suche nicht mehr nach einer Möglichkeit, Orales zu retten," wehrte Gerrys mit halblauter Stimme ab. "Doch ich bin es gewohnt, die dunkle Kraft nicht zu behindern. Du zwingst mich, zwischen dem Gehorsam zu dir und meinem Gott zu wählen." "Ja," antwortete der Than knapp, "und bedenke, daß ich dich hindern kann, geistige Ebenen zu erreichen." Gerrys verstand diese Drohung. Tatsächlich war der Than stark genug, um ihm diese durch die Weihen zugänglichen Bereiche auf Zeit oder auch für immer zu sperren. Sein Kristall glühte stärker.
O
rales befand sich schon in unmittelbarer Nähe. Sathor löste mühsam den Blick von seinem Boot, schaute nur noch zu seinem Gebieter. Nymardos wartete. Im letzten Moment hob er die Hand. Sathor riß das Steuerruder herum. Orales' Boot schrammte an dem weißen Segler entlang. Seite an Seite trieben die Schiffe. Die Wucht des Aufpralls schleuderte einige der Menschen zu Boden. Orales heulte triumpfierend auf. Er konnte das feindliche Schiff nicht versenken, doch er verschaffte sich Zugang. Mit einem gewaltigen Satz wechselte er die Schiffe, sprang an Bord und stand sodann
breitbeinig, mit ausgebreiteten Armen. Der Kristall vor seiner nackten Brust strahlte kalt, doch stark. "Unterwerft euch und huldigt mir," verlangte er herrisch, "ich bin nun euer Herr und Gebieter." Wenige Schritte nur trennten ihn von den Menschen. Gerrys' Kristall schimmerte nun dunkelrot. Der Falla spürte die Kraft seines Gottes und wehrte sich gegen diese Beeinflussung. Sein ohnehin bleiches Gesicht wurde fast weiß. Er tastete nach Nymardos' Arm, krallte sich darin fest. "Treibe ihn in den Bug," befahl ihm der Than ruhig. Gerrys trat nach vorn. Orales erkannte ihn, seinen Stein. Er heulte auf. "Wirf ihn weg!" schrie er. "Schmeiß' ihn ins Meer!" "Sind wir nicht Brüder?" erwiderte Gerrys, doch keineswegs freundlich oder im Gedenken an die frühere Liebe zwischen ihnen. "Beide Steine nähren sich aus einer Kraft und wollen sich vereinen." Langsam ging er vorwärts und Orales wich Schritt um Schritt zurück. "Warum wehrst du dich? Kehre zurück zur Quelle deiner Kraft." "Ich will nicht!" brüllte Orales. "Geh' weg. Fort mit dir. Du bist mein Feind." Wie eine Wolke umschwebte das dunkelrote Licht Gerrys' Kristall. Jeder sah es, aber keiner begriff dies. "Wie in Raakis Halle zu ritueller Stunde," stammelte Sathor. "Die Kraft des dunklen Gottes ist hier." Er vergaß ganz, daß er eben diese Kraft fürchtete. "Gerrys!" rief Nymardos den Freund mit scharfer Stimme. Die wasserhellen Augen des Fallas verengten sich zu schmalen Schlitzen. Seine Wangenknochen traten hart hervor. Es kostete ihn Mühe, die dunkle Kraft in sich zurückzuhalten und eine Berührung der Steine zu verhindern. Orales wich weiter zurück. Er überschritt das Symbol, stand dann im äußersten Bug. Nun heulte er auf, denn er sah das Zeichen. In roter Farbe flammte ihm Raakis Symbol entgegen: das Pentagramm. Der Fünfstern deutete mit einer Spitze auf ihn. Unbemerkt konnte er von der anderen Seite dieses Zeichen überschreiten, doch den Rückweg verhinderte diese Spitze. Gerrys ging weiter. Sie spürten, daß diese beiden Kristalle sich nicht berühren durften; sie lasen es aus Orales' Angst und Gerrys' Entschlossenheit. Sathor wollte den Falla aufhalten, doch Nymardos befahl: "Keiner rührt ihn an! Seine Schwingungen sind zu erhöht, als ihr sie ertragen könntet." Sathor hielt inne. Er spürte körperlich die Kraftausstrahlung seines einstigen Schülers. Langsam wich er zurück. Da ergriff Nymardos den Freund am Arm, hielt ihn fest. Auch er brauchte Kraft, um diese Schwingungen zu ertragen, doch niemand sah ihm dies an. Ganz langsam schwächte das rote Licht in Gerrys' Kristall ab.
N
ymardos hatte einen anderen Kurs befohlen und nun segelte das weiße Schiff Amarra zu. Orales fühlte sich sicher, da ihn jetzt niemand bedrohte. Er wußte, wohin die Reise ging und empfand Zufriedenheit. Amarra war stets sein Ziel gewesen! Gerrys stand unbeweglich, an den Mast gelehnt und ihn ausdauernd betrachtend. Sie maßen sich mit Blicken. Gerrys sah nur den Feind, den verwahrlosten, schmutzigen Gegner. Orales aber ahnte eine Erinnerung. Dieser schmächtige Mann mit dem ungewöhnlich hellen Haar und den bleichen Zügen, dessen Aussehen in krassem Gegensatz zu seiner schwarzen Gewandung stand, begegnete ihm doch schon früher; zu einer Zeit, in der er ein anderes Wesen hatte. Orales grübelte. Nymardos stand neben Gerrys und beobachtete den Freund. Er wollte ihn hindern, sich der dunklen Kraft zu ergeben, doch er mochte ihm nicht die Weihen sperren. "Er wird sich erinnern und sich seines Menschseins entsinnen," erkannte Gerrys voll Sorge. Nymardos sah über die Schulter zurück. "Holt Philmor her," befahl er. Leise fügte er, an Gerrys gewandt, hinzu: "Wenn sich Orales erinnert, vernichtet ihn das Kristallwesen. Das darf nicht geschehen. Es wird schwer sein, die verwundete Seele des Jungen danach zu heilen." Gerrys schwieg. Er wußte, daß dem Freund diese Entscheidung nicht leicht fiel. Worte änderten nichts an Notwendigkeiten. Nymardos bewachte auch ihn nicht gern, doch wenn er nicht verhinderte, daß sich Gerrys seinem Gott ergab, dann wurde die Bewußtheit des Kristalles in der dunklen Kraft aufgelöst, ohne daß die gefangenen Menschen Freiheit erhielten. Es würden nur die wenigen unbeschadet überleben, welche Raakis Weihe besaßen und seine Kraft ertrugen. Und Gerrys spürte machtvoll das Verlangen der dunklen Kraft in ihm nach ihrem abgesplitterten Teil, der in Orales wirkte.
P
hilmor befand sich bei Attor in der Kabine. Ihn erschreckten die leblosen Leiber von Shuny und Rhagan, doch zugleich beruhigte ihn deren Harmlosigkeit. Sie konnten ihm nichts tun. Attor hingegen war ein lebendiger Mann und dem wich der Jüngling aus. Attor ließ ihn gewähren, bedrängte ihn nicht und nötigte ihm auch kein Gespräch ab. Dadurch wurde Philmor ruhiger. Nun holten sie ihn ins Freie. Er sah Orales und schrie angstvoll auf. Der große Mann wurde aufmerksam. Er streckte die Hände aus. "Komm' zu mir," befahl er rauh, "komm' her und diene mir. Ich werde auch ganz sanft sein." Seine Augen leuchteten lüstern. Er befeuchtete mit der Zunge die Lippen, begann zu schwitzen und vibrierte in freudiger Erwartung der kommenden Erregung. Philmor wollte zurück, doch hinter ihm standen Attor und einige Priester und duldeten kein
Entkommen. Verzweifelt sah er sich um. Ilkonys näherte sich, was seine Angst noch vergrößerte. Dann sah er Gerrys. Dieser Mann war an allem Schuld. Er zwang ihn, Orales zu folgen und also mußte er auch die Macht haben, ihm zu helfen. Focht er nicht um seine Befreiung? Philmor stürzte sich vor Gerrys nieder, umklammerte dessen Füße und flehte um Gnade und Rettung. Ilkonys starrte schockiert auf die Szene. Er mochte Philmor nie, doch so verletzt, so verzweifelt und gequält kannte er ihn nicht. Es war seine Schuld, daß Philmor litt. Seymas hatte es ihm bewiesen. Er schluckte schwer. Ilkonys kannte Orales fast nicht wieder, doch er erinnerte sich durchaus an den Freund des Vaters und die vielen schönen Stunden, die er mit ihm verbrachte. Nymardos konzentrierte sich eben auf Philmor, um ihm seinen Willen aufzuzwingen, als Ilkonys entschlossen zum Bug rannte. Orales packte ihn an den Oberarmen, hob ihn hoch. "Du bist genauso hübsch wie er," gab er sich zufrieden, "du wirst mir denselben Spaß bereiten." Er ließ ihn etwas ab und küßte verlangend des Kindes Mund. Dann stellte er Ilkonys auf die Beine. Der Knabe wischte sich die Lippen ab. Trotzig sah er Orales an und mit verschlossenem Gesicht ließ er sich dessen gieriges Streicheln gefallen. "Hilf ihm," forderte Gerrys angewidert den Freund auf, "es muß nicht auch noch er verwundet werden." Orales hockte nun auf den Planken, hielt Ilkonys neben sich und begann, ungeachtet der Zeugen, den Leib des Jungen zu liebkosen. Seine Erregung steigerte sich. Er vergaß die anderen Menschen völlig. Gerrys ertrug dies nicht, hätte auch nicht zusehen können, wie Philmor unter seinen Augen vergewaltigt wurde. Er zog hastig seine rituelle Peitsche, ließ mit lautem Knall ihre fünf dünnen Lederriemen aufeinander prallen. Dieser Ton verstärkte im Tempel zur rituellen Stunde das Kraftfeld des dunklen Gottes. Orales schrie auf, als hätten ihn die Lederriemen berührt. Ein böses Grinsen umspielte Gerrys' Lippen. Nun, da er den Weg kannte, auf dem Orales körperlichen Schmerz empfand, konnte er auch verhindern, daß dieser Mann andere peinigte. Der Schmerz würde dieselbe Wirkung zeitigen wie sexuelle Erregung: Orales blieb in seinem Körper gebunden, unfähig, größere geistige Aktivität zu entfalten und sich an sein wirkliches Wesen zu erinnern.
I
n dieser Nacht schlief Gerrys nicht. Er beobachtete Orales und beschützte Ilkonys. Der Besessene gab den Knaben nicht frei, doch er erlaubte es sich auch nicht mehr, seinen Gegner zu vergessen. Angewidert, von Ekel erfüllt, ließ sich Ilkonys jede Berührung lautlos gefallen, auch wenn sie derb und schmerzhaft war. Solange Gerrys ihn bewachte, würde ihm nicht wirklich etwas geschehen können. Darauf vertraute er und daraus schöpfte er Hoffnung. Seymas war gekommen, hatte Philmor aufgehoben und ihn mit einem leisen 'Komm' mit sich geführt. Er hatte Gerrys und Nymardos ein Mahl gebracht und es später
unberührt wieder fortgetragen. In den wogenden Nebeln wirkte das Licht der drei Lebenden Kristalle gespenstisch. Orales' Stein schimmerte in zartem Rosa; der von Gerrys glühte dunkelrot und jener des Than verströmte machtvoll den gewohnten Schein des hellen Tages. Nur wer genau hinsah, erkannte die veränderte Farbe, die von einem kaum wahrnehmbaren Gelbschleier herrührte. Seymas hockte mit angezogenen Beinen am Boden und ließ keinen Blick von den beiden Priestern. Sathor lagerte neben ihm. "Der Falla wird mir langsam unheimlich," murmelte der kräftige Priester. Seymas aber wehrte ab: "Ich find's faszinierend," meinte er. "Sie stehen beisammen, als müsse es so sein und ihre Steine strahlen ganz seltsam. Licht und Dunkelheit, Antares und Raaki! Ihr sagt doch immer, dies seien die polaren Kräfte einer Einheit. Und wir sehen diese Kraft, wie sie gemeinsam um die Einheit kämpft." "Wer hat dich das gelehrt, Junge?" Seymas hob den Kopf. "Weiß das nicht jeder?" wunderte er sich. "Es ist doch klar, daß die Einheit unzerstört sein muß. Sonst würden die Nebelreiche wohl nicht lange bestehen. Es wundert mich nur, daß Raaki so sichtbar ist." "Antares erstaunt dich nicht?" "Ach wo, Sathor, wir sind es doch gewohnt, daß sich die göttlichen Kräfte alle in unserem Gebieter zeigen. Was würde wohl geschehen, wenn sie gemeinsam das Kristallwesen in sich aufnehmen könnten?" Sathor erwiderte nichts. Er hatte kaum zugehört, denn er bedachte die Erkenntnis des Jungen von Raakis Sichtbarkeit.
N
ymardos und Gerrys hatten beide diese Worte vernommen und sahen nun erstaunt zu Seymas. Der Junge bemerkte es nicht. Er beobachtete Ilkonys, bewunderte dessen Mut und hoffte, daß ihm kein wirkliches Leid widerfuhr. "Ein ungewöhnliches Kind," stellte Gerrys leise fest, "Seymas wird ein starker Priester werden." Nymardos nickte. Sehr leise, keinem Lauscher vernehmbar, bekräftigte er: "Der stärkste!" Gerrys hielt bei dieser Eröffnung den Atem an. Er vergaß Orales. Sein Kristall glühte sofort mächtiger und nahm ihm die Wache ab. Der Falla wußte, was diese Eröffnung bedeutete. Nicht die Besonderheit einer Geburt oder einer Abstammung, sondern allein die Kraft des Geistes bestimmte einen Menschen zum Than; zum absoluten Beherrscher aller Nebelreiche. Wen die Fallas aller Tempel vereint als stärksten Geist erkannten, der mußte herrschen und man wartete mit der Suche nach einem Stärkeren
nicht auf den Tod des regierenden Than. Nymardos' Macht endete in der Stunde, in der ein stärkerer Geist erkannt wurde. Gerrys tastete nach der Hand des Freundes, hielt sie voll Zuneigung. Nymardos erkannte vor allen anderen seinen Nachfolger und zog ihn sich heran, bildete ihn wohl auch selbst aus und erleichterte dessen Weg. Er selbst hatte keine Hilfe empfangen. Gerrys wußte, daß er wie alle anderen Tempelkinder in Amarra aufwuchs. Er empfing seine Weihen und suchte nichts anderes als die Vervollkommnung seines Geistes. Mit neunzehn Jahren erkannte man ihn als Than, huldigte ihm und legte ihm grenzenlose Macht und damit auch unbeschränkte Verantwortung auf. Er wurde darin haltlos überfordert, denn nie dachte er an diese Möglichkeit. Allein auf einsamer Höhe herrschte er über alle Menschen, die ihn verehrten und fürchteten, ihm jedoch Liebe und Nähe versagten. Es hatte lange gedauert, bis Nymardos sich offen zu ihrer Freundschaft bekennen konnte; bis er an die Möglichkeit eines ganz normalen, irdischen Glücks glaubte. Dies wollte er Seymas ersparen. Sein Nachfolger sollte nicht unvorbereitet mit absoluter Macht und grenzenloser Herrschaft konfrontiert werden. "Ich liebe dich," murmelte Gerrys verhalten. Nymardos drückte seine Hand zur Antwort. Niemand durfte wissen, welche Bestimmung auf Seymas wartete, doch er mußte den Freund nicht um Stillschweigen bitten. Gerrys würde dieses Geheimnis sicher verwahren.
Ende Kapitel 15
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 16
E
s herrschte ein klarer, heller Tag. Die Nebel hingen sehr hoch und die Luft war erfüllt von angenehmer Wärme. Ein Seevogel kreischte hoch über ihnen. Da wußten sie, daß sie der schönen Insel nahten. Amarra! Das war kein kleines Eiland, sondern
ein Reich, größer als das Königtum Khyon. Warme Meeresströmungen umspülten Amarra. Dort gab es keine kalten Nebel, blühten das ganze Jahr hindurch die Pflanzen. Gerrys liebte diesen Ort. Am Horizont tauchten grüne Hügel auf. Unzählige Vögel begleiteten bald das Schiff. "Wir nähern uns dem Sandstrand," erklärte Nymardos, "das Wasser wird bald seichter. Es wäre töricht, Orales noch näher zur Insel zu bringen. Sollte er schwimmen wollen, vernichte ihn, ungeachtet der Opfer, die dies erfordert." Gerrys nickte nur. Sie durften kein Risiko eingehen und Orales nicht mehr frei geben.
E
s begriff kaum die Nähe der Insel und die Erreichbarkeit der Menschen. Für Es zählte nur Gerrys; weniger aber der Mann, sondern mehr die Kraft, die ihn umgab. Berührten sich die Lebenden Kristalle, die Manifestationen dieser Kraft, oder deren gesandtes Licht, wurde Es vernichtet. Doch vereinte Es sich auf rein geistiger Ebene mit ihr, mußte es erstarken und unbesiegbar sein. Es wollte wachsen und darin gewinnen. Der Geist dieses Menschen zeigte sich nicht ganz abgeschirmt, denn er blieb der dunklen Kraft ergeben und geöffnet, wiewohl er das Maß der Überschattung bremste. Doch diesen Geist zu fangen, das bedeutete zugleich, die dunkle Kraft in sich zu saugen und unter deren Macht zu zerbersten und zerstrahlen. Überdies befand sich jener, der in sich die Kraft des Lichts trug, neben Gerrys und ihm zu nahen bedeutete für Es die Vernichtung. Es mußte diese Menschen und ihre Aufmerksamkeit füreinander trennen. Wenn es sich dann der bloßen Kraft Raakis vereinte, ohne des Menschen Geist dabei auch nur zu berühren, konnte es wachsen. Vielleicht bedeutete dies den Verzicht oder einen Wechsel der reaktiven Form, doch was bedeutete schon Orales! Auf pure Form nahm es keine Rücksicht. Es brauchte sie, um in der materiellen Welt beweglich zu sein. Sobald Es aber die Fülle der Kraft besaß, bedurfte Es keiner Hilfsmittel mehr. Es lernte! Und Es lernte rasch! Er begriff, daß die dunkle Kraft aus eigenem Antrieb bis in die menschliche Ebene drang. Raaki kettete sich nicht an Gerrys, sondern gebrauchte ihn, ohne an ihn gebunden zu sein. Was Es nicht erkannte, war, daß es als Teil des Ganzen nicht unabhängig von der dunklen Kraft zu planen vermochte. Und so wußte Es um keinen Zusammenhang, als Gerrys' Kristall nun wieder mehr zu glühen begann.
N
ymardos nannte vor Gerrys einst die dunkle Kraft den gütigsten der Götter und er irrte nicht. Raaki überschattete Gerrys wohl, doch er zwang seinen Mittler, seinen Falla nicht. Wenn Gerrys sich seinem Gott nicht freiwillig ergab, blieb er frei von dessen Wirken. Ruckartig wandte sich Gerrys dem Freund zu: "Handle rasch," bat er, "denn ich werde meinem Gott nicht mehr lange widerstehen." "Du wirst mir gehorchen," warnte Nymardos, "und die dunkle Kraft bezwingen."
"Ich diene ihr," rief Gerrys laut, "ich beherrsche sie nicht und will es auch nicht. Ich spüre ihr Wirken und widersetze mich nicht auf Dauer." "Du wirst dich nicht für Orales opfern," fuhr ihn der Than an. "Das habe ich auch nicht vor," fauchte Gerrys, "aber ich bin Falla und meinem Gott geopfert." Nymardos packte mit hartem Griff seine Hand. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Gerrys wußte, daß er ihm nun die Weihen sperren wollte und ihn damit der Möglichkeit berauben, Raakis Kraft zu ertragen. Attor stürzte sich an die Seite des Bruders, zog ihn gewaltsam auf die Knie. "Sei still," rief er beschwörend, "widersetze dich ihm nicht. Er hat Orales' Leben zerstört, auch das meine. Willst du ihn nun zwingen, dich zu vernichten? Unterwirf dich, Gerrys, ich bitte dich." Die Stimme des Falla klang seltsam dunkel: "Kraft wird nur durch Kraft bezwungen - Licht durch Licht und Dunkelheit durch Dunkelheit. Hindert mich nicht weiter." Sein Kristall glühte nun so machtvoll, wie es nie zuvor geschah. Nymardos griff nach Attors Wams und schleuderte den Mann weit von sich. Er blieb liegen, das Gesicht den Planken zugewandt. "Vergebt mir, Gebieter," stammelte er, "Gerrys ist mein Bruder. Ich wollte ihm helfen." Attor fürchtete den Than und bangte um sein Leben, da er sich unaufgefordert einmischte und dabei seinen Stand vergaß. Nymardos musterte ihn aber nur kurz, wandte sich dann Gerrys zu und hob ihn auf. "Die Menschen von Bord," rief der Falla ohne sichtbare innere Bewegung. Der Than nickte nur. Er wußte, was geschah und da er es nicht hindern konnte, suchte er daraus den Nutzen zu ziehen. Er winkte Sathor herbei, erteilte seine Befehle. Das Land war nun nahe genug, um schwimmend erreicht zu werden. Rasch, fast geräuschlos leerte sich der Eineinhalbmaster. Zuletzt blieben nur Seymas und Sathor zurück. Scheu sah der kräftige Priester seinen Gebieter an. "Herr, was wird aus dem Falla? Er hat sich euch widersetzt, nicht wahr?" Noch immer stand Nymardos neben dem Freund, der nun aber sehr fremd und fern wirkte. Seine Stimme klang weich: "Das hat er nicht, Sathor. Gerrys verglich die dunkle Kraft stets einer Liebesflut. Wie lange kann ein Mensch dem werbenden Locken der Liebe widerstehen? Er hatte keine andere Möglichkeit, als sich seinem Gott zu ergeben. Das ist gut so, wie könnte er sonst Falla sein! Nun geh' an Land." "Und Ilkonys?" wollte Seymas wissen. Er wartete keine Antwort ab. Orales stand lauernd im Bug. Ilkonys befand sich neben ihm. Nur leicht ruhte die Hand des Mannes auf der Schulter des Knaben. Seymas
spurtete los, hechtete Ilkonys an und riß ihn mit sich über Bord. "Hast du dir weh getan?" rief er dann prustend. "Nein, das nicht. Aber ich will bei Gerrys bleiben." "Der Than befiehlt uns an Land. Also komm'! Warst du schon 'mal auf Amarra?" Ilkonys schwamm neben ihm und ließ sich überreden, mit dem neu gewonnenen Freund die schöne Insel zu erstreben. Sie wateten durch das seichte Wasser, als Nodhers Erbe an die anderen dachte. Er sah sich um. "Wo sind Philmor, Rhagan und Attor? Die dürfen doch nicht auf die Insel. Das sind keine Priester." Seymas lachte. "Denkst du, wir lassen sie auf einem Katamaran? Das kann länger dauern und so wenig gastfreundlich sind wir hier gar nicht. Weiter oben sind kleine Inseln Amarra vorgelagert. Es stehen sogar Häuser auf einigen von ihnen. Deinen Freunden geht es dort gut und sie finden alles, was sie brauchen." "Das sind nicht meine Freunde," fauchte Ilkonys, in seinem Stolz getroffen, "Attor ist ein Sklave, Rhagan war es 'mal und Philmor mag ich ohnehin nicht." "Selbst schuld," meinte Seymas leichthin und tauchte dann nach einer Muschel.
E
s durfte nicht länger warten, denn nun traf ein, worauf Es hoffte. Der Geist des Menschen wirkte nicht mehr autonom. Die dunkle Kraft beherrschte ihn, nahm ihm sein Bewußtsein. Wenn Es sich diesem Menschen nun vereinte, erstarkte es in dessen Kraft. Doch zuvor mußte der andere fort. Er versuchte schon, sich im Geist mit dem Freund zu vereinen. Hierin irrte Es. Nymardos wußte aus Erfahrung, daß Gerrys' Geist in diesem Zustand unerreichbar blieb für jeden Menschen. Er vergewisserte sich lediglich, daß Gerrys von der dunklen Kraft ganz überschattet war. Da er seinen Geist weit öffnete, durfte er nicht ungeschützt bleiben. Doch er brauchte die Abschirmung des Freundes nicht. Er nahm ihn jetzt auch nicht wahr. Für Gerrys existierte nur noch der dunkle Freund, der ihn umgab, und jene Wesenheit, die ihn zerriß, indem sie sich aus seiner Ebene zu entfernen trachtete. Dies wollte er verhindern.
O
rales lachte dröhnend. Noch immer bannte ihn das Pentagramm im Bug fest. Er konnte es nicht auslöschen, seine Wirkung nicht aufheben. Aber seine Macht bestand in Raakis Kraft und ein Teil dieser Kraft wirkte in ihm. Er durfte sich gefahrlos mit diesem Symbol verbünden. Winzige Flammen fraßen die rote Kreide, züngelten weiter auf den trockenen Planken. Katamarane umsegelten schon das Schiff. Die Priester darauf warteten auf die Befehle ihres Herrn.
"Du willst uns trennen, wie?" meinte Nymardos. Er sah Orales dabei an, richtete seine Worte jedoch an das Wesen in diesem Mann. "Hast du noch immer nicht begriffen, in welcher Region wir leben? Du kettest dich in Form und darin wird deine Reichweite begrenzt. Wir sind Form, gekettet an geistiges Wirken." Er wußte, daß jene Wesenheit ihn nicht verstand, den Sinn seiner Worte nicht einmal erahnte. "Ein Boot für den Falla," befahl er laut. Wortlos verließ Gerrys das weiße Schiff. Der Katamaran, den man ihm zur Verfügung stellte, war klein - ein schmales Kanu mit weitem Ausleger, dazwischen ein Mast mit Luggersegel. Der Priester, der es brachte, wechselte auf einen anderen Segler über. Der Wind regte sich kaum. Gerrys trieb auf den sanften Wellen, entfernte sich nur wenig von seinem Gegner. Nymardos verließ ebenfalls das Schiff. Es war Sathor, der ihn auf einem Katamaran aufnahm. "Du hast das Recht auf Ruhe," mahnte der Than, "es waren anstrengende Tage für dich." "Verzeiht, Gebieter, doch mit eurer Erlaubnis will ich bleiben. Der Falla lehrt mich ohne Worte mehr, als ich ihm je geben konnte." Nymardos nickte sein Einverständnis. "Halte Abstand von ihm, so viel als möglich. Was nun immer geschieht, du magst Zeuge sein, doch jedes Eingreifen ist dir verboten." Sathor verneigte sich tief, ehe er nach der Steuerleine des Segels griff. Er verstand durchaus. Das Kristallwesen fügte sich zwar in feste Form, war mit ihr jedoch nicht identisch. Es konnte materiell nicht bezwungen werden. Jedes bewußte geistige Erleben aber erforderte von dem, der es erstrebte, eine mehr oder weniger deutliche Loslösung von seinem eigenen Körper. In diesem Zustand war er dann sehr verletzlich. Selbst kleinste Störungen konnten zu Schock oder Tod führen. Sathor betrachtete es als die Auszeichnung, die es war, daß der Than seine Nähe duldete. Und er war reif genug, um zu wissen, wie er sich verhalten mußte, damit von ihm keine Gefährdung ausging.
D
ie Flammen züngelten höher auf dem weißen Schiff. Orales betrachtete sie fasziniert. Ihn berauschte diese Zerstörung. Daß er sich selbst gefährdete, begriff er nicht, denn das Wesen in ihm hielt ihn geblendet für objektive Tatsachen. Vor ihm lag Amarra. Dort wollte er hin, um Tod und Vernichtung zu bringen. Haß flammte in ihm auf; grenzenloser Haß gegen alle Menschen. Sie wollten ihn nicht haben, bekämpften ihn, stießen ihn aus ihrer Gemeinschaft aus. Er würde sich grausam rächen. Orales ging langsam nach backbord. Neben ihm leckten gierig die Flammen hoch. Noch erreichten sie ihn nicht. Er sah den kleinen Katamaran, sah Gerrys darin stehen und ergab sich der Woge des Hasses wider diesen Mann. All seine Sinne richteten sich gegen den Falla, jedes Gefühl, dessen er mächtig war. Dieser Feind sollte sterben,
durch alle Äonen hindurch vernichtet sein! In Orales' Lebendem Kristall tanzten Lichtwirbel.
E
s wußte sich am Ziel. Nun konnte keines Menschen Geist mehr verhindern, daß Es sich der dunklen Kraft verband, deren Fülle in diesem Menschen dort wehte. Lichtfontänen traten aus dem magisch erweckten Stein, vereinten sich schwebend über Gerrys. Sein Kristall erglühte, umgab den Falla mit einer großen Wolke aus dunkelrotem Schein. Es zögerte. Da geriet die Wolke in Rotation, drehte sich schneller und schneller um seine Achse, die aus dem Körper des Falla bestand. Eine trichterförmige Vertiefung entstand und wie von mächtigem Sog wurde Es in diese Wolke gezogen. Doch die gefürchtete, vernichtende Berührung der Lichtimpulse fand dabei nicht statt. Orales brüllte auf. Er fühlte sich innerlich zerrissen und litt bestialischen Schmerz. Was ihn beherrschte, wirkte nicht mehr allein in ihm, sondern teilte sich und spaltete sich ab, drang in den anderen Menschen, den Feind. Das Feuer griff nach Orales' Hose, versengte seine Haut. Zu dem geistig-seelischen Schmerz gesellte sich mit unerwarteter Deutlichkeit die körperliche Pein. Er rannte über das Deck, schrie, brüllte. Irre Laute erfüllten die Luft. Bis zum Ufer konnten diese Urschreie deutlich verstanden werden. Amarra! Dort waren Menschen und die Menschen trugen die Schuld an seiner Pein. Er würde sich rächen und die Kraft des Schmerzes in Grausamkeit verwandeln. Orales hechtete über Bord. Das warme Meerwasser löschte die Flammen, doch dessen Salzgehalt brannte in den Wunden, als sei das Feuer auch ohne Flamme weiterhin wirksam. Mit kraftvollen Zügen strebte Orales an Land. Nymardos stand wie unbeteiligt. Das Kristallwesen befand sich nun in zwei Formen und er konnte nicht zugleich an zwei Fronten kämpfen. Er mußte Es in eine Region drängen. Priester eilten dem Strand zu. "Laßt ihn gehen!" Die Stimme des Than hallte machtvoll über das Meer. "Greift Orales nicht an und behindert ihn nicht! Doch überall soll Raakis Ton erschallen!"
O
rales watete aus dem seichten Wasser, rannte über den hellen Sandstrand. Er schlug zwei Priester nieder, die zu spät die Weisung ihres Gebieters verstanden und ihm den Weg verstellten. Er hastete weiter. Zunächst wollte er nur fort von den Feinden, die ihn so lange bedrängten. Dann, aus dem Hinterhalt, sollte sie alle seine Rache treffen. Orales hetzte die Düne hinauf, spurtete über eine blühende Wiese und tauchte ins Unterholz eines lichten Wäldchens. Ein Peitschenknall erfüllte die Luft. Orales krümmte sich wie unter einem Hieb, hastete weiter. Wieder dieser Ton! Von allen Seiten erklang nun der Knall von rituellen Peitschen, mal fern und mal nahe. Zuckend warf er sich zu Boden. Die Schmerzen schienen kein Ende zu finden. Amarra quälte ihn und fand anscheinend Gefallen daran.
E
s befand sich inmitten der Quelle seiner Kraft, doch nicht mit ihr vereint; sie nicht einmal berührend. Es wußte sich nun unangreifbar und stark. Hierher konnte keines Menschen Geist dringen, doch von hier aus vermochte Es zu wirken. Orales Schmerzen zerstörten wie Lärmwellen die Ruhe, die Es hier wußte. Diese Form taugte nicht viel. Sie war schwach, vergänglich und unbeständig. Da löste es sich aus der erwählten reaktiven Form, zog sich mehr in die dunkle Kraft zurück. Für Es bedeutete dies keinen Verlust. Geborgen in der Quelle seines Seins und geschmiedet in den erweckten Kristall wirkte es unvermindert weiter. Gerrys erschauerte. Eine unvorstellbare Kälte strahlte in seinen Gliedern, in der er abzusterben drohte. Doch er wehrte sich nicht. Was in ihm wehte, was ihn umgab, das bedeutete ihm mehr als dieser ihm fremd erscheinende Leib.
O
rales lauschte. Seine Schmerzen verebbten bis auf jene, welche die Brandwunden an den Beinen bewirkten. Noch immer ertönten die Peitschenlaute, doch diese erregten ihn nicht. Er sprang auf. Wütend riß er einen Priester zu Boden, hieb er einer Frau in den Unterleib, schlug und trat er sich seinen Weg frei. Wie von Sinnen rannte er durch den Wald, über die sanften Hügel dahinter. Der Kristall vor seiner Brust schimmerte ganz sacht; spendete viel weniger Helligkeit als eine brennende Kerze. Orales achtete nicht darauf. Er rannte ohne Überlegung, ohne Plan und Ziel, getrieben von einer unbestimmten Furcht, handelnd aus reinem Reflex heraus. Es war sein Körper, der lief. Der Wille des Mannes wirkte nicht in jenen Stunden.
S
athors Blick glitt zwischen Gerrys und dem Than hin und her. Die rote Wolke um den Falla erschütterte ihn, denn er sah den Mann darin wie durch einen Schleier. Gerrys stand am Mast, seine Hände krampften sich um das Holz. Seine Muskeln schienen völlig verspannt zu sein. Sollte sich diese Verkrampfung lösen, mußte der Falla zwangsläufig ins Meer stürzen. Sathor sorgte sich um ihn, zumal ihm ein großer Abstand zu dessen Katamaran befohlen war. Der Than stand in dem schwankenden Boot, als habe er festen Grund unter den Füßen. Seine Züge wirkten seltsam starr, doch nicht hart oder verbittert. Völlige Konzentration ging von ihm aus. Er befand sich nicht mehr in fester Verbindung mit seinem körperlichen Bewußtsein. Nymardos verband sich mit der Kraft des Lichtes; ließ Antares in sich wirken, gab aber dabei sein eigenes Wesen nicht auf. Anders als Gerrys blieb er der Handelnde, Wollende, Bestimmende. Wieder fand er das Kristallwesen, das einer Amöbe gleich im inmateriellen Raum schwebte, nun aber umgeben von einer hier unsichtbaren Wolke aus Kraft. Die trichterförmige Öffnung nach oben existierte noch. Nymardos stand es frei, mit sich die Macht des Lichtes in dieses Kraftfeld zu tragen und so die Wesenheit des Kristalles zu vernichten. Dies aber bedeutete nicht nur Gerrys' Tod,
sondern auch jenen der gefangenen Priesterschaft. Er näherte sich langsam. Er war bereit, jedes Opfer zu bringen, um weiteren Schaden von der Menschheit abzuwenden. Begab er sich als Licht in Raakis Kraft, gab es auch für ihn keinen Rückweg mehr.
D
ie Legende erzählte, daß Raaki die Göttin des Lichts liebte und sie umhüllend einschloß. Ihre Ebene als höchste erreichbare geistige Klarheit konnte nur durch Überwinden der dunklen Kraft gewonnen werden. Wer sich Raaki aber ergab, starb seinem vorigen Leben ab. Er blieb nicht derselbe, der er zuvor war. Der Gott des Todes zwang niemanden in seinen Bereich, doch wer freiwillig kam, wurde durch die dunkle Kraft verändert. Wenn schon menschliches Bewußtsein durch die kurzzeitige Berührung mit dieser Kraft während einer Weihe eine tiefe Verwandlung erfuhr, die danach allerdings langsam, aber unaufhörlich geschah, so mußte eine Begegnung in dem Zustand, in welchem Nymardos sich befand, viel weitreichendere Folgen haben. Das mindeste, was geschah, war ein Zerreißen der Verbindung zu seinem Körper. Diese Verbindung glich von dieser Ebene aus einer sehr dünnen Silberschnur, die nur ein gewisses Maß an Belastung und Energie zu ertragen vermochte.
A
ls Nymardos in den Trichter sinken wollte, verschloß sich dieser Zugang. Raaki erlaubte sein Opfer und sein Handeln nicht. Er umwehte das dunkle Kraftfeld, suchte einen Weg in diese rotierende Energie. Doch völlig abgeschlossen blieb das Kristallwesen umhüllt. Der Than konnte auch den Geist des Freundes nicht erreichen, nicht einmal finden. Er kehrte in sich selbst zurück. Ein Weg blieb ihm noch; ein schmaler, gefährlicher Pfad. Er konnte sich selbst der dunklen Kraft vereinen, Gerrys so erreichen und dadurch vielleicht wirken. Dies bedeutete aber, daß er sich dem Falla unterordnete, seinen Geist dem des Freundes ergab, sich ihm anglich und so ein Maß an Einheit erschuf, das nicht nur durch viele künftige Inkarnationen sie aneinander band, sondern auch in diesem Leben schon wirkte. Danach konnte er, zumindest für diesen Menschen, nicht mehr Herr und Gebieter sein. Was immer danach Gerrys betraf, fiel auf ihn zurück und wenn der Freund dadurch Schaden erleiden sollte, lag die Verantwortung und die karmische Auswirkung bei ihm. Sathor bemerkte nicht, daß sein Gebieter wieder bei ihm weilte und er sah auch nicht das verhaltene Lächeln, das Nymardos' Lippen umspielte. Es fiel ihm nicht schwer, auf jeden Herrschaftsanspruch gegenüber Gerrys zu verzichten. Nach Masiras Tod stand ihm kein Mensch näher. Zwischen ihm und dem Freund herrschte ohnehin eine tiefe Liebe, die auch manches Mal in ganzer Vereinigung, körperlich wie seelisch, ihren Ausdruck fand. Geistige Einheit war unter dieser Voraussetzung gewiß zu erreichen. Gerrys hatte bisher die spürbare Kraft seines Gebieters stets voll Gleichmut ertragen, er würde unter der Einheit nicht zerbrechen. Und ihre Liebe band sie ohnehin durch viele Leben hindurch aneinander. Das Risiko war also gering.
Verzichtete er auf dieses Wagnis, blieb Gerrys als Medium seines Gottes dazu bestimmt, die abgespaltene Kraft zu umhüllen und damit seinem Menschsein verloren. Unmerklich löste er sich wieder aus seinem Leib. Es gab nun keine Überlegenheit mehr gegenüber dem Geist des Menschen, durch den Raaki sich begrenzend wirkte. Nymardos war nicht mehr als ein Teil der Kraft, die Gerrys sich ihm vereinend umgab. Es herrschte auch kein Erkennen, kein bewußtes Wissen. Gerrys spürte wohl dieses andere Sein, doch nicht als fremd oder losgelöst, sondern eher wie ein eigenes Gefühl, über das er willentlich bestimmen konnte. Aber es war ein vertrautes, angenehmes Gefühl; eine Empfindung von Ganzheit und allumfassender Behaglichkeit. Es gab keinen Grund, dieses Gefühl nicht ganz in sich aufzunehmen, es zu genießen und festzuhalten. Gerrys war sich nicht bewußt, doch er empfand sich als ganzes Sein. Alles war gut, wie es war. Ewigkeiten hindurch mochte dies währen. Nymardos wußte sich im Freund gefangen und brauchte die Fülle seiner Kraft, um sich aus dieser wie umarmenden Einheit so weit zu lösen, um Freiheit erstreben zu können. Und Gerrys ließ dieses angenehme 'Gefühl' ausklingen.
O
rales kauerte zwischen den über das Erdreich hinausragenden Wurzeln eines mächtigen Pejuk-Baumes. Sein Atem ging schwer, sein Blick irrte unstet. Er lauschte. Niemand hatte ihn bisher bemerkt. Nicht sehr weit entfernt gingen ein paar Priesterinnen auf einem schmalen Pfad. Irgendwo ertönte ein Kinderlied. Wie kam er hierher? Wo befand er sich überhaupt? Vorsichtig seine Deckung wahrend sah er sich um. Unweit erblühte eine Mesa. Mehr als kindskopfgroß schillerte die prachtvolle Blüte des Raaki geweihten Strauches. Er sah das samtige Rot der Tama-Blüten in gewaltiger Fülle; spürte die feuchtwarme Luft. Orales erschrak. Das konnte nur Amarra sein! Doch wie kam er auf die Insel? Er zermartete sich, fand aber keine Erklärung. Seine letzte Erinnnerung betraf Moras, den Tempel der Weisheit dort. Er wollte einen Lebenden Kristall zerstören. Orales zuckte zusammen, als er diesen Stein an sich entdeckte. Was war mit ihm geschehen? Was tat er in der Zwischenzeit? Und wie, bei allen Göttern, kam er nach Amarra? In einer Geste der Verzweiflung fuhr er sich über das Gesicht. Ungläubig betastete er seinen wirren Bart und nun fiel ihm auch sein verwahrlostes Äußeres auf. Ein sinnierender Priester nahte. Rasch verbarg sich Orales hinter dem Stamm des Baumes. Er atmete auf, da er nicht bemerkt wurde. Er durfte nicht hier sein. Als seiner Weihen beraubter Priester mußte er am Ort seiner Verbannung ausharren. Wie kam er nur nach Amarra? Orales fürchtete, wahnsinnig zu werden. Etwas Unglaubliches mußte geschehen sein, etwas Böses. Er mußte fort von hier. Wurde seine Anwesenheit auf Amarra entdeckt, verklagte man ihn gewiß vor dem Than. Vorsichtig, jede Deckung ausnutzend, schlich er davon. Er wollte zum Meer und er hoffte, dort ein Schiff zu finden, das ihn zurück nach Moras brachte. "Zerstöre den Kristall!" Wie ein Ruf, wie ein Befehl formierte sich dieses Wissen in ihm, machtvoll, drängend
und deutlich. Er begriff nicht sofort, erkannte dann aber voll Unbehagen, wer ihn rief. Orales starrte auf den Stein, sah dessen schwaches, kraftloses Glimmen. Dann strafften sich seine Schultern. Der Than wußte also genau, wo er sich befand und er erteilte ihm nun auf geistigem Weg einen Befehl. Orales blickte um sich, fand einen handlichen Felsbrocken. Er zögerte nicht. Orales setzte seine ganze Kraft ein. Voll Wucht schmetterte er den Fels auf den Lebenden Kristall. Das Mineral zerbrach in mehrere scharfkantige Stücke. Orales keuchte. Unwillkürlich hielt er diese glimmenden Kristallstücke für gefährlich. Wieder und immer wieder schlug er den Felsbrocken auf diese Kristallteile, zermalmte sie wie rasend und endete nicht eher, als bis er völlig erschöpft zu Boden sank.
E
s verlor seine natürliche Form! Als der Kristall zerstört wurde, wußte Es sich wider Willen gefangen in der dunklen Kraft. Es gab keinen Rückweg, keine Zuflucht mehr. Und Es wehrte sich. Die dunkle Kraft, die es umgab, näherte sich nun, um Es zu absorbieren. Ein Zittern durchlief Gerrys' Körper. Sollten sich diese Energien berühren, bedeutete dies seinen Tod. Nymardos wußte es, so, wie er in der Einheit mit Gerrys das richtige Handeln wußte. Wieder vereinte er sich mit Antares und er hoffte, die nun autonome Wesenheit des Kristalles als Licht berühren und verbrennen zu können. Geschah dies durch Raaki, vernichtete es die von diesem Wesen berührten Menschen; das Licht aber bedeutete Freiheit und Leben. Es wurde ein zäher, mühsamer Kampf. Nymardos suchte Zugang zum Kern des dunklen Kraftfeldes und dieses wich ihm beständig aus. Das Gleichgewicht der Kraft erforderte es, daß nicht das Licht die Dunkelheit umschloß, sondern umgekehrt. Indem Nymardos ein Umschließen der dunklen Kraft erstrebte, forderte er sie heraus, ihn ihrerseits zu umfassen. Das aber brachte den Zugang zum Kristallwesen mit sich und dies entsprach nicht Raakis Ziel. So belauerten und umschlichen sich diese polaren Kräfte in beständigem Ringen. Die körperliche Rückverbindung der beiden diesem Kampf ausgelieferten Männer drohte zu zerbrechen. Es gab nur eine Möglichkeit, dies zu verhindern. Was auf geistiger Ebene geschah, mußte auch im materiellen Bereich stattfinden. Gerrys erwachte aus seiner Erstarrung. Er lenkte seinen Katamaran, steuerte Nymardos zu. Und dann wechselte er das Boot und griff den Freund an. Sathor biß sich die Lippen blutig, so schwer fiel ihm die Selbstbeherrschung. Es war seine Pflicht, den Than zu schützen; zugleich aber hinderte ihn ein Verbot an jedem Eingreifen. Die beiden Männer rangen in dem relativ schmalen Kanu miteinander und ihr Kampf war kein Spiel. Nymardos hielt Gerrys' Haar umklammert, donnerte dessen Kopf gegen das Holz und der Falla biß ihn wütend in die Schulter, befreite sich aus dem Griff und drosch mit den Fäusten auf seinen Gebieter ein. Nymardos besaß einen kräftigen Körper und verfügte über einiges an Muskelkraft. In einem gewöhnlichen Kampf hätte Gerrys nicht lange gegen ihn bestehen können. Doch der Falla focht nicht aus eigenem Antrieb. Eine andere, größere Kraft überschattete ihn und lieh ihm ihre Stärke. Gerrys zwang Nymardos auf die Planken, kniete auf seinen Oberarmen und
umklammerte den Hals des unerkannten Freundes. Unnachgiebig drückte er ihm die Kehle zu.
I
n sinnlosem Ringen belauerten sich die polaren Kräfte von Licht und Dunkelheit. Sie bildeten doch eine Einheit, schlossen einander nicht aus. Was in der anderen Seite dieses Einseins erlosch, konnte nie Verlust bedeuten. Es war, als begriffe die dunkle Kraft diese Logik. Sie wich dem Licht nicht mehr aus, sondern tauchte in es hinein, durchdrang es und umschloß es dann von allen Seiten. Doch im Moment des Durchdringens, im Augenblick der Einheit, verlor die Bewußtheit des nun zerstörten Kristalles ihr autonomes Sein. Ob Es im Licht erlosch oder in der dunklen Kraft aufging, ließ sich nicht unterscheiden.
G
errys' unpersönlicher Blick veränderte sich. Erst nun erkannte er sein Handeln, seine Absicht, seinen Gegner. "Was tue ich da?" stammelte er verwirrt. Der Griff seiner Hände lockerte sich. Nymardos rang nach Atem. Es dauerte einige Zeit, bis er zu sprechen in die Lage kam, dann aber meinte er: "Du bist und bleibst ein wunderlicher Kerl, Gerrys. Wirst du nie lernen, auf deine eigene Kraft anders als irritiert und verstört zu reagieren?" "Wollte ich dich töten?" fragte Gerrys zögernd. "Wir haben um den Bestand der polaren Einheit gerungen," erwiderte der Than, noch immer unter dem Freund liegend, "und wir haben gewonnen - beide." Forschend sah der Falla in die dunklen Augen seines Herrn, gerade so, als müsse er sich vergewissern, daß keine Feindschaft zwischen ihnen bestand. Und dann umfaßte er erleichtert das Gesicht dieses Mannes, den er so liebte, und küßte ihn lange und voll Hingabe. "Würde es dir sehr schwer fallen, mich von deinem Gewicht zu befreien?" erkundigte sich Nymardos amüsiert. "Ich befinde mich nicht gerade in vorteilhafter Lage." Betroffen richtete sich Gerrys auf. Er half dem Freund auf die Beine und murmelte dabei: "Verzeih'. Ich..." Nymardos schnitt ihm die Rede ab. "Es gibt nichts zu verzeihen, Gerrys, im Gegenteil. Wir sind uns nie so nahe gewesen." "Mir ist, als..."
"Erkläre nichts," unterbrach ihn der Than rasch, "ich weiß, was du empfindest. Und du irrst dich auch nicht, mein Freund. Die Einheit, an die du denkst, war Wirklichkeit." An Sathor gewandt, fuhr er fort: "Sprich nicht darüber, zu keiner Zeit. Was hier geschah, verwahre in dir. Nun segle der Küste entlang, bis ich dir sage, wo wir an Land wollen." Sathor stand, sich mit ausgestreckter Hand am Mast festhaltend, auf dem Ausläufer des Katamarans balancierend und nur dieser unsichere Halt hinderte ihn daran, sich vor seinem Gebieter und dessen Vertrautem zu neigen. Ende Kapitel16
Zyklus der Nebelreiche - Band 5 ein Roman von Renate Steinbach
Kapitel 17
P
hilmor hockte wie geistesabwesend vor der Hütte, in der Attor bei dem geistlosen Freund weilte. Rhagans Zustand veränderte sich nicht; er reagierte weder auf Worte noch Berührungen. Von dieser kleinen Insel aus konnte Attor das Geschehen auf dem Meer nicht sehen und so blieb ihm nichts weiter übrig, als an der Seite des Gefährten hoffend zu warten. Er stand unter der geöffneten Tür und sah gedankenverloren hinaus. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. Attor schrie erschrocken auf und wirbelte herum. Noch ehe er etwas begriff, hatte ihn Rhagan schon in die Arme geschlossen und an seine breite Brust gezogen. "Wehe, du wehrst dich," drohte der Hüne. Doch Attor hielt still und genoß diese menschliche Nähe, die er bis vor kurzem für Schwäche hielt. Daß Rhagan sich bewegte, daß er wieder sprach und sein Bewußtsein erlangte, das beglückte Attor so tief, wie er es selbst kaum erwartete. Und dann hatten sie sich so viel zu erzählen, daß ihnen die Einsamkeit ihres Exils als Geschenk erschien. Rhagan fehlte jede Erinnerung an die Zeit seiner geistigen Gefangenschaft. Immer neue Fragen beschäftigten ihn. Attor gab Auskunft, so gut er konnte. Doch über Shuny wußte er nichts. Rhagan wollte unbedingt an Land und dort die Geliebte
suchen. Es kostete Attor Mühe und viel Überredungskunst, ihn daran zu hindern. Am andern Morgen näherte sich ein kleines Ruderboot. Nun gab es kein Halten mehr. Rhagan stürmte aus der Hütte, rannte zum Meer und schloß beglückt, ohne Nachdenken und ohne Zögern, die Priesterin in die Arme. Dann erst erinnerte er sich daran, daß sie die Braut eines andern war. "Entschuldige," murmelte er verlegen und ließ sie los, "ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin nur so glücklich, dich gesund zu sehen." "Sie sagten mir, daß du mich aus dem Tempel der Weisheit befreit hast und mich nach Amarra bringen wolltest. Sie sagen, du habest dein Leben für mich gewagt. Rhagan, als ich dort im Tempel Orales begegnete, da sehnte ich mich nach dir. Bitte, laß mich bei dir bleiben." Zaghaft, sehr behutsam nahm er ihre Hände in die seinen. "Du wirst Sions Königin," murmelte er verlegen. Shuny drängte sich an ihn. "Ganz Sion bedeutet mir nicht so viel wie du. Willst du mich nicht, Rhagan?" Sie zitterte ein wenig und auch der Hüne erbebte. Er liebte, er begehrte sie. Doch er konnte ihr nichts bieten. Und er war so groß und kräftig, sie hingegen so zart und klein. Unzählige Vorbehalte tauchten in seinem Denken auf; Überlegungen der Vernunft, nicht der Liebe. "Und ob er will, Shuny," mischte sich nun Attor ein, der langsam näher kam, "ihm fehlt nur der Mut, das zuzugeben." Er lachte vergnügt. "Soll ich erzählen, was du seit Moras redest? Soll ich ihr sagen, wie du sie umsorgt und gepflegt hast, Rhagan?" "Schweig' still," fuhr ihn der Hüne an. Da lachte Attor herzlich. Rhagan errötete wider Willen, aber er wehrte sich nicht, als sich Shuny auf die Zehenspitzen reckte und ihn küßte. Er hielt sie fest und gestand ihr leise stammelnd seine Liebe. Attor entfernte sich zufrieden. Immer fürchtete er, Rhagan an einen anderen Menschen zu verlieren, doch nun empfand er selbst so etwas wie Glück dabei. Vielleicht lag im Loslassen doch der größere Gewinn.
S
athor legte in einer kleinen Bucht an und half seinem Gebieter an Bord. Dann richtete er seinen Blick auf Gerrys. "Sehe ich euch wieder, Herr?" "Das hoffe ich," antwortete Gerrys freundlich, "wie ich auch hoffe, dich bald als Raakis Priester begrüßen zu können, Sathor." Unerwartet warf sich da der kräftige Mann längs vor Gerrys nieder. Er breitete die Arme aus und huldigte ihm so in einer Haltung, wie sie nur vor dem Than angebracht sein konnte, zumindest in dessen Gegenwart. Sathor Stimme klang sehr beherrscht und überlegt:
"Ich bitte euch, Falla, seid ihr mein Leiter." Gerrys wollte impulsiv ablehnen. Dieser Mann besaß einen hervorragenden Lehrer, den abzulösen es keinen Anlaß gab. Dann aber dachte er daran, wie sich Sathor überwand. Es fiel diesem Mann bestimmt nicht leicht, seinen Kampf mit Nymardos zu dulden. Vor Jahren leistete ihm Sathor eben diesen Dienst. Er konnte, er durfte sich nicht sträuben. Auf seinen fragenden Blick hin nickte Nymardos sein Einverständnis. "Steh' auf, Sathor. Ich werde dich leiten und dir Raakis Fülle zeigen." Dankbar küßte der Priester seinen Fuß. Wie stets, so empfand Gerrys auch jetzt diese Verehrung als unangenehm. Doch Sathor huldigte ihm nicht unentwegt, sondern benahm sich bald wie ein selbstbewußter Mann und gelehriger Schüler. Gerrys verweilte, ihm zuliebe, auf Amarra und bedauerte nur, die Zeit nicht ausschließlich mit Nymardos verbringen zu können.
O
rales lagerte an der Steilküste Amarras. Von hier aus ging es senkrecht in die Tiefe. Die tosende Brandung war nur als Rauschen zu vernehmen. Dieser Ort bot ihm Sicherheit vor zufälligen Störern und erlaubte ihm zugleich den Blick in die Hafenbucht. Sollte ein Schiff aus einem der Reiche kommen, wollte er sich an Bord schmuggeln und so heimlich die schöne Insel verlassen. Er glaubte sich unentdeckt, doch als jemand seinen Namen rief, begriff er den Irrtum. Männer rannten auf ihn zu; einige hielten Stricke in der Hand. Orales sprang auf. Er spürte die von ihnen ausgehende Feindschaft und versuchte, durch Flucht der Gefangennahme zu entkommen. Er kannte die Priester nicht und keine Erinnerung verriet ihm, daß sie ihm auf dem weißen Schiff begegneten oder auf Katamaranen eine geistige Sperre um ihn errichteten. Orales hastete vorwärts. Das Gelände in diesem Teil der Insel war ihm unbekannt. Doch für ihn gab es ohnehin nicht wirklich ein Ziel. Plötzlich blieb er stehen. Nein, er konnte nicht entkommen. Wo immer er sich verbergen wollte, der Than vermochte durchaus, ihn auf geistigem Weg aufzuspüren. Orales ergab sich in sein Schicksal. Ohne Gegenwehr ließ er sich von den Männern binden. Sie fesselten ihm die Hände auf den Rücken, schlangen Seile um seine Brust, seinen Leib; führten ihn dann mit sich wie ein gefangenes Tier. Sie sprachen nicht mit ihm, wichen seinem Blick aus, ignorierten seine Worte. Orales dachte an seine Freunde. Wenn wenigstens Ariston oder Gerrys hier wären. Er kam sich recht verloren vor. Auf dem Weg wurde ihm ganz langsam klar, daß nicht lohender Haß die Priester bewegte. Sie fürchteten ihn. Orales grübelte verzweifelt darüber nach, warum diese Männer ihn, einen seiner Weihen beraubten und damit machtlosen Priester fürchteten. Er wußte, daß sie ihn zum Tempel brachten. Er mußte dem Than begegnen und sein Urteil hinnehmen. Doch dies beunruhigte ihn weit weniger, als die Ungewißheit, die in ihm herrschte und das Fehlen jeder Erinnerung an die vergangene Zeit. Sie übernachteten in einer Siedlung, wobei sie Orales an die Säule eines Vordaches fesselten und ihn abwechselnd bewachten. Früh schon führten sie ihn weiter. Dann
kam der Tempel in Sicht. Sie gingen rascher, als wollten sie ein gefährliches Gut möglichst schnell abliefern. Am späten Mittag rasteten sie kurz im Tempelgarten. Die Priester belauerten Orales, stillten ihm aber weder Hunger noch Durst noch fragten sie nach seinen Bedürfnissen. Ein neunjähriger Knabe näherte sich langsam dem Gefangenen, betrachtete ihn aufmerksam. Orales schämte sich unter dem wachen Kinderblick. Er sah nicht nur verwahrlost und schmutzig aus. Da die Häscher nicht auf ihn reagierten, hatte er keine andere Wahl gehabt, als seine Blase in die zerrissene Hose zu entleeren. Ein stechender Geruch umgab ihn. Orales fühlte sich vor dem Kind seltsam gedemütigt. Es konnte nichts schlimmer sein, als so vor dem Than erscheinen zu müssen. Seymas kannte keine Furcht. Wenn der Than ihm sagte, daß Orales nun nicht mehr gefährlich war, dann stimmte das einfach. Ilkonys hatte ihm viel von diesem Mann erzählt. Seymas empfand Mitleid. Er füllte eine Schale mit Wasser und ging auf Orales zu. Warnend sagte einer der Priester: "Bleib' weg von ihm." Aber Seymas gehorchte nicht. Er hielt Orales die Schale entgegen. Der große Mann mußte auf die Knie sinken, um das begehrte Wasser trinken zu können. Gierig nahm er es in sich auf. "Mehr," bat er und Seymas füllte die Schale erneut. "Ich danke dir, Junge," versprach Orales dann, "ich danke dir sehr. Wie heißt du?" "Mein Name ist Seymas. Bringen sie euch zu unserem Gebieter, Orales?" Er nickte; wunderte sich nicht einmal darüber, daß der Junge seinen Namen kannte. Jeder schien ihn hier zu kennen - und zu fürchten. "So?" erkundigte sich der Knabe staunend. Er sah die Priester an. "Soll er so unserem Herrn begegnen? Ich finde das nicht richtig." "Verschwinde," schlug ihm einer der Priester gutmütig vor, "das geht dich alles nichts an." Seymas zögerte. Er hatte den Priestern zu gehorchen. Es gab für ihn keine Ausnahmen. Dann aber kam ihm eine Idee. Er lachte fröhlich und rannte davon.
C
aryll, der Pala des Than, dessen Wort auf Amarra so viel galt wie jenes Nymardos', mochte Seymas sehr. Der Junge belebte seinen Alltag, kannte vor ihm keine Scheu und verhehlte seine Zuneigung nicht. Darum verzieh ihm Caryll wortlos das ungebührliche Benehmen, als der Knabe ohne Zeichen und ohne Anmeldung in sein Haus drang und ihn sofort mit Bitten für Orales bestürmte. "Langsam," unterbrach er schließlich dessen Redestrom, "worüber ereiferst du dich? Der Than hat nach Orales gerufen und wird ihn sehen. Es hat doch alles seine Ordnung."
"Eben nicht," rief Seymas, "ihr wißt ja nicht, wie er aussieht. Wenn ich 'mal ungewaschen in den Tempel will, schimpft jeder. Aber Orales ist nicht bloß schmutzig, er hat auch fast nichts an und er stinkt. Sein Bart sieht scheußlich aus und außerdem hat er Hunger und Durst." "Und du meinst, das sei nicht richtig?" Seymas war verunsichert. "Erst sagt ihr, daß ein böses Wesen Orales beherrschte und jetzt tut ihr so, als sei er doch selbst der Verbrecher. Was stimmt denn nun, Pala? Zu mir war er vorher ganz nett. Ich glaub' nicht, daß er böse ist." Caryll lachte amüsiert. "Deine Meinung ist natürlich sehr wichtig," spöttelte er liebevoll. Seymas überlegte, dann strahlte er Caryll an. "Ihr habt den Than sehr lieb, nicht wahr?" Der Pala nickte nachdrücklich. Seymas atmete auf und dann erklärte er Caryll seinen Gedankengang: "Und der Than hat Raakis Falla lieb und der mag Orales. Darum werdet ihr dem Mann aus Moras helfen, ich weiß es. Das ist dann das gleiche, als ob ihr unserem Gebieter helfen würdet." Caryll lachte schallend bei dieser kindlichen Logik, die trotz ihrer Widersprüchlichkeit einen gewissen Sinn aufwies. Er nahm Seymas bei der Hand und forderte ihn auf, ihm den Weg zu zeigen. Orales' Häscher knieten vor dem Pala des Than nieder, nachdem sie ihren Gefangenen zu Boden gestoßen hatten. Caryll betrachtete den Mann nur kurz. Er erinnerte sich durchaus an Orales, der einst als Falla des Lichts auf Amarra weilte. Er mochte ihn nicht sonderlich, doch er achtete ihn als vordem starken Priester. "Ich muß mich bei dir entschuldigen, Seymas," meinte er freimütig, "das ist wirklich kein Anblick für unseren Herrn. Bringt Orales in ein Gasthaus," befahl er dann, "er soll baden, speisen und sich umkleiden." Orales sah auf und so sprach er ihn direkt an: "Und schab' dir den Bart, Mann." "Ich danke euch," versicherte Orales erleichtert, doch er sah dabei zu Seymas und schloß den Knaben in diesen Dank mit ein.
I
n der weiten Empfangshalle im Tempel versammelten sich die Männer und Frauen, die auf die eine oder andere Art in das Geschehen verwickelt waren. Auch Ilkonys durfte, von Seymas begleitet, diesen einen Tempelraum betreten. Aufgeregt sah er sich um. "Bleib' neben mir," raunte ihm Seymas zu, "gleich kommt der Than. Wehe dir, wenn du dich falsch benimmst." "Da kommt Gerrys."
Seymas hielt ihn am Ärmel fest. Der Prinz trug nun, wie er, eine knielange braune Tunika. In Nodher hätte er sich geweigert, Kinderkleidung zu tragen, aber auf Amarra war eben alles anders. Nymardos, in silbern schimmerndes Weiß gekleidet, trat ein und nahm auf dem etwas erhöhten Thron am Ende der Halle Platz. Die Menschen warfen sich vor ihm nieder, breiteten die Arme aus, zeigten ihre Ergebenheit. Ilkonys kam sich sehr wichtig vor, als er es ihnen gleichtat. Bestimmt wäre der Vater nun sehr stolz auf ihn. Mit ruhiger Stimme erklärte der Than der Priesterschaft dann, was geschah. Er wählte seine Worte mit Bedacht, entschuldigte Orales und berichtete vom Endkampf, ohne sein oder Gerrys' Handeln darin auch nur zu erwähnen. Sie knieten jetzt vor ihm, mit Ausnahme von Gerrys, der an seiner Seite stand. Sathor hörte aufmerksam zu. Er wußte mehr, als die anderen nun erfuhren und er lauschte, um zu erkennen, wieviel seines Wissens geheim bleiben sollte. "Bringt mir Orales," forderte der Than dann. Eine Priesterin nahe der Tür erhob sich, eilte hinaus. Wenig später führte Caryll Orales in die Halle. Er blieb stehen und verneigte sich. Orales schritt allein nach vorn. Sein Haar hielt er nun fest gebunden, sein glattes Kinn ließ ihn den Menschen hier fremd erscheinen. Er trug eine lange, braune Tunika. Priesterliche Gewandung stand ihm nicht zu. Er war froh, seinem Gebieter wenigstens äußerlich angemessen begegnen zu dürfen. In der kurzen Zeit, die er brauchte, um die Halle zu durchqueren und sich vor Nymardos niederzuwerfen, berührte der Than unbemerkt seinen Geist, erforschte sein Inneres und nahm seine Unruhe und Verwirrung ebenso wahr wie das Fehlen jeder Erinnerung. Er erhob sich. Orales rechnete mit einer Verurteilung und empfindlicher Strafe, ohne sein Verbrechen zu kennen. Er war bereit, alles hinzunehmen, was über ihn verfügt wurde. Nymardos trat einen knappen Schritt nach vorn und erlaubte ihm so, sich auf die Knie zu erheben. Orales wartete mit gesenktem Haupt. "Amarra hat dich wieder gewonnen, Orales," sagte der Than mit lauter Stimme, "denn du hast gelernt, den schuldigen Gehorsam zu leisten. Ich gab dir zwei Befehle, deren Sinn dir verborgen lag und du hast nicht gezögert, dich meinem Wunsch zu fügen. Es gibt keinen Anlaß mehr, dich in Verbannung zu zwingen. Du bist frei, Orales, und kannst deinen Weg selbst bestimmen. Ich stelle es dir anheim, nach Nodher zu gehen. Auf Amarra magst du verweilen, bis Raakis Falla dich in ein anderes Reich bringen wird." Orales dachte an seine gesperrten Weihen, doch er wagte nicht, danach zu fragen. Nymardos aber empfing diesen Gedanken und fuhr, darauf eingehend, fort: "Der Sinn verschütteter Erinnerung liegt manchmal darin, das Leben erträglich zu halten. Du bleibst deiner Weihen beraubt, da die Öffnung geistiger Ebenen alles Wissen mit sich bringt. In dem Maß, in dem du erstarkst und die Wahrheit als lebendige Erinnerung zu tragen vermagst, gebe ich zurück, was du durch Rebellion verlorst." Orales sah gequält zu Gerrys. Was, bei allen Göttern, hatte er getan? Was wurde ihm verheimlicht. "Raakis Falla wird dir nach Gutdünken auf der Reise deine Fragen beantworten. Bis dahin sei Amarras Gast und forsche nicht nach." Nun wandte er sich an die versammelte Priesterschaft: "Begegnet ihm mit Achtung und
bedrängt ihn nicht. Er ist mein Gast." Unmerklich nickte er Caryll zu, ehe er die Halle durch den rückwärtigen Eingang verließ. Gerrys folgte ihm. Verwirrt erhob sich Orales. Er begriff gar nichts. Nur eines verstand er: er durfte heim. Nodhers Burg war seine Heimat und niemand verbot ihm mehr, dort zu verweilen. Eine Kinderhand schob sich in seine. Seymas strahlte ihn an. "Der Pala des Than hat mir erlaubt, euch ein Gasthaus zu zeigen," erklärte er eifrig. "Ihr dürft nicht im Tempel bleiben." Orales ließ sich führen. Er sah Ilkonys, der scheu seinem Blick auswich und empfand ein schlechtes Gewissen, ohne den Grund dafür zu ahnen. Er freute sich, als Seymas noch ein wenig bei ihm blieb und ihn von seinen schweren Gedanken ablenkte.
G
errys blieb Wochen auf Amarra. Er leitete Sathor zur fünften Weihe, genoß die Stunden vertrauter Zweisamkeit mit dem Freund und die Schönheit der Natur. Dann aber kam der Tag der Abreise. Er ging zu Nymardos, um sich zu verabschieden und fand den Freund mit Cyprina im Arm. Gerrys hatte das Mädchen offiziell als seine Tochter anerkannt. "Nimm sie mit dir," bat Nymardos, "sie darf nicht bei mir bleiben. Ich will mein Kind in deinen Händen wissen." "Willst du das wirklich?" "Deine Tempelkinder leben bei mir. Es ist ein guter Ausgleich, Gerrys. Vor allem aber wird Cyprina in deinem Tempel ihre Bestimmung leichter erkennen. Ich weiß, daß du auf sie achten wirst. Ich habe hier keine Möglichkeit, mich um sie zu kümmern. Muß ich dich bitten?" Gerrys umarmte ihn herzlich. "Das mußt du nicht, Freund. Ich bin froh, einmal dir einen Dienst erweisen zu können. Ich werde Cyprina wie ein eigenes Kind lieben. Wir sind uns so nahe, daß sie es irgendwie ja auch ist." Es gab nicht mehr viel zu bereden. Die Priesterin, die das Kind als Amme nährte, erklärte sich gern bereit, nach Nodher zu gehen. Sie nahm Cyprina an sich und begab sich mit ihrem Zögling zum Hafen. Nymardos begleitete Gerrys auf dem schmalen, von üppiger Blütenpracht gesäumten Pfad zur Küste. "Deine Begleiter sind schon alle auf dem Schiff," versprach er. "Kümmere dich um Philmor, heile seine Seele und achte auf seinen Weg. Er ist nicht zum Soldaten bestimmt. Ariston ist verständigt und wartet ungeduldig auf seinen Sohn und Orales. Warum hast du Attors Begleitung geduldet?" Nymardos sprach zum ersten Mal von Gerrys' Bruder. "Ich hoffte, ihn für mich zu gewinnen," gab der Falla freimütig zu, "seine Vorbehalte zu zerstreuen und die Fremdheit zwischen uns zu überwinden."
"Das ist dir gelungen," meinte der Than lächelnd, "dein Bruder hat viel gelernt. Wenn du in deinem Tempel bist, steht es dir frei, ihm die Freiheit zu geben." Gerrys lächelte den Freund an. Worte des Dankes waren zwischen ihnen überflüssig. "Hast du Rhagans Geist berührt?" erkundigte er sich. Nymardos verneinte. "Nicht in diesen Tagen. Ich habe ihn nicht gesprochen, Gerrys. Doch ich kenne ihn von meiner Begegnung mit ihm in Sion her. Warum fragst du?" "Er sucht eine Aufgabe. Ich würde ihn gern im Tempelbereich halten, wo er bei der Erziehung der Knaben helfen könnte. Ich habe gesehen, wie er mit Ilkonys umging und halte ihn für befähigt. Aber er ist kein Priester und da wäre es etwas ungewöhnlich." Nymardos lachte herzlich. "Was, Gerrys, ist bei dir schon dem gewohnten Maß entsprechend? Handle nach freiem Willen. Ich werde stets zu deinen Entscheidungen stehen."
S
eymas hatte viel Zeit mit Orales verbracht und sich von dessen freundlichem Wesen, seiner Beherrschtheit und liebevollen Art überzeugt. Er stritt nun mit Ilkonys, der die Demütigungen nicht vergaß und unsicher jeder Begegnung mit dem Freund des Vaters auswich. Ilkonys wollte sich nicht überzeugen lassen. Seymas sah Nymardos und Gerrys kommen. Wie überlegend murmelte er da: "Ob der Than gesehen hat, daß du mich mit dem Messer angegriffen hast?" "Das gilt nicht," rief Ilkonys erschrocken, "du hast doch gesagt, daß du mir nicht böse bist. Ich war doch nur wütend und wollte nicht verlieren. Es ist gemein, wenn du ihm das erzählst." Seymas lachte. "Bist du nun ein Feigling, der nicht verlieren kann oder hat dich nur dein Zorn beherrscht?" "Ich bin nicht feige!" "Siehst du, aber deine eigene Wut läßt dich Dinge tun, die du gar nicht willst. Und Orales war von 'was Fremdem beeinflußt. Das auf dem Schiff, das war er ja gar nicht selbst. Das war ein anderes Wesen. Wenn du ihm deshalb böse bist, dann bist du entweder entsetzlich dumm oder beleidigt wie ein kleines Mädchen." Ilkonys starrte ihn zornig an. Beide Möglichkeiten gefielen ihm nicht. Plötzlich lachte er befreit auf. "Wenn Gerrys Orales noch mag, tu' ich es auch," schob er die Entscheidung dem Falla zu. "Bist du jetzt zufrieden?" "Und wie," versicherte Seymas. "Du bist ganz in Ordnung. Ich freu' mich schon
drauf, wenn du 'mal wieder nach Amarra kommst." Er schickte Ilkonys an Bord und wartete. Dann tat er zu Gerrys und meinte: "Ich glaube, Falla, ihr habt nie einen schlechteren Diener gehabt. Ich hätte wohl mehr in eurer Nähe bleiben müssen. Zürnt ihr mir?" Gerrys sah, wie Ilkonys zögernd zu Orales ging und wie er die Umarmung des großes Mann erst nur duldete, danach aber voll Freude und Zuneigung erwiderte. "Es gibt viele Möglichkeiten, einem Menschen zu dienen," erwiderte er bewegt, "ich weiß, daß du mehr für mich getan hast, als durch Leibdienst möglich wäre." "Kommt ihr wieder, Falla?" "Gewiß. Ich weile oft auf Amarra." "Ich würde euch bei eurem nächsten Besuch gern dienen, aber ich glaube, daß ich dann einen Leiter habe und ihm gehorchen muß. Aber wenn ich größer bin und Raakis Kraft begegnen soll, dann möchte ich gern, daß ihr mein Lehrer seid. Ich bin froh, daß ich euch kenne." Überrascht sah Gerrys zu Nymardos. So ganz konnte er nicht vergessen, daß dieser Knabe einmal der mächtigste Mann der Reiche werden sollte. Seymas zu seiner eigenen Kraft zu verhelfen, erschien ihm wie eine Auszeichnung. "Wenn die Zeit dafür gekommen ist," wandte sich der Than an den Knaben, "dann magst du Raakis Falla um diesen Dienst bitten." Seymas ergriff Gerrys' Hände, zog sie an seine Lippen. Dann lief er eilig davon. Die Freunde verabschiedeten sich nun rasch. In vier oder fünf Tagen würde Burg Nodher erreicht sein.
P
hilmor wich Orales beständig aus, doch er suchte Rhagans Nähe und fühlte sich an der Seite des Hünen beschützt. Seine Wunden mußten bald zu heilen beginnen. Orales ertrug die Ungewissheit nicht länger. Er bat Gerrys, ihm endlich alles zu erzählen. Sie zogen sich in eine Kabine zurück. Dort berichtete ihm Gerrys mit schonungsloser Offenheit, was geschah, als die Wesenheit eines magisch erweckten Kristalles im Körper eines Menschen wirkte. Orales wurde sehr still dabei. Noch immer herrschte ein Dunkel in ihm, das jedes Erinnern verbot. Der Bericht glich der Erzählung aus dem Leben eines Fremden. "Ich werde einige Zeit brauchen, um das zu verdauen," erkannte er. "Ich bin jetzt ganz froh, daß ich mich nicht erinnern kann. Glaubst du, ich werde meine Weihen jemals wieder erhalten? Sei ehrlich, Gerrys, beschönige nichts. Werde ich wieder Priester sein?" "Das wirst du gewiß," versprach der Falla, "Nymardos gab dich nie auf. Er wird erkennen, wann du lebendige Erinnerung ertragen kannst. Er straft dich nicht weiter, Freund. Jetzt schützt er dich, um dir zur rechten Zeit deine ganze Kraft
zurückzugeben. Denke nicht beständig darüber nach. Ariston wartet auf dich. Ist das nicht ein viel besserer Gedanke?" "Es gibt keinen besseren," erwiderte Orales versonnen. Und er dachte daran, daß ein Mensch, der einen Freund besitzt, nie wirklich verloren sein kann. Der Einzelne mochte untergehen als Spielball größerer Kräfte, doch der Geliebte fand immer Hilfe und Halt. Es gab wirklich keinen besseren Gedanken als jenen an die Menschen, die Liebe gaben und empfingen. Orales wußte, daß sein Leben in Ordnung kam. Er fühlte sich gut. Bald würde er den geliebten Freund wieder sehen, ihn in die Arme schließen und an seiner Seite die schwere Zeit der vergangenen Jahre vergessen lernen. Und dann konnte er es üben, auch die Zeit seiner Besessenheit zu bejahen, um danach wieder als Priester ein sinnerfülltes Leben zu führen.
Ende des fünften Bandes